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German Pages 404 [408] Year 2020
Heidi Hein-Kircher
Lembergs „polnischen Charakter“ sichern Kommunalpolitik in einer multiethnischen Stadt der Habsburgermonarchie zwischen 1861/62 und 1914
Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung | 21 Geschichte Franz Steiner Verlag Franz Steiner Verlag
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contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte
Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung Herausgegeben von Christoph Bernhardt (geschäftsführend), Beate Binder, Harald Bodenschatz, Sybille Frank, Tilman Harlander, Martina Heßler, Wolfgang Kaschuba, Friedrich Lenger, Dieter Schott und Clemens Zimmermann Band 21
Lembergs „polnischen Charakter“ sichern Kommunalpolitik in einer multiethnischen Stadt der Habsburgermonarchie zwischen 1861/62 und 1914 Heidi Hein-Kircher
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des von der DFG geförderten SFB/TRR 138 „Dynamiken der Sicherheit. Formen der Versicherheitlichung in historischer Perspektive“
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Druckerei Steinmeier GmbH & Co. KG, Deiningen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12694-6 (Print) ISBN 978-3-515-12696-0 (E-Book)
Johannes, Johanna und Elisabeth
Vorwort Bücher haben ihre eigene Geschichte. So auch dieses, das im November 2017 als Habilitationsschrift unter dem Titel Lemberg sichern. Kommunalpolitische Praktiken, Strategien und Visionen in einer multiethnischen Stadt der Habsburgermonarchie von dem Fachbereich 06 Geschichte und Kulturwissenschaften der Philipps-Universität Marburg angenommen worden ist. War der Wunsch, in der „Stadt der verwischten Grenzen“ ( Joseph Roth) wissenschaftlich zu arbeiten, bereits Anfang der 2000er Jahre im Rahmen einer von mir für das Historische Seminar V – Osteuropäische Geschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Lehrstuhl von Hans Hecker) organisierten Exkursion entstanden, so waren für die Fertigstellung dieses Projektes mehrere Impulse notwendig. Zentral für die Entwicklung meines Ansatzes waren die Debatten im Rahmen des Marburg-Gießener SFB/TRR 138 „Dynamiken der Sicherheit. Formen der Versicherheitlichung in historischer Perspektive“, an dem ich gemeinsam mit Peter Haslinger seit 2014 ein Teilprojekt zu „Versicherheitlichung und Diskurse über Rechte von Minderheiten und Mehrheiten in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert“ leite. Dem SFB/TRR 138 danke ich für die Finanzierung des Lektorats dieses Bandes. Die notwendigen Freiräume, für diese Arbeit zu recherchieren und sie niederzuschreiben, waren von großer Wichtigkeit. Da die Studie während meiner Tätigkeiten am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft (Marburg) entstanden ist, hätte ich ohne die Unterstützung durch dessen Vorstand, Wissenschaftlichen Beirat und Kuratorium diese Arbeit aus zeitlichen Gründen nicht zu Ende bringen können. Daher gilt diesen mein aufrichtiger Dank! Mein besonderer Dank gilt Peter Haslinger, dem Direktor des Herder-Instituts, der mich in diesem und weiteren wissenschaftlichen Vorhaben immer unterstützt hat und mit dem ich über die Befunde der Studie diskutieren konnte. Weiterer Dank gebührt dem Deutschen Historischen Institut Warschau, durch dessen Stipendien ich meine Forschungsaufenthalte in der Ukraine und Polen finanzieren konnte. Herzlich gedankt sei Eckart Conze (Philipps-Universität Marburg), der mich seitens des Fachbereichs 06 immer hilfsbereit und konstruktiv als Habilitandin unterstützte. Ohne das Engagement von Tatjana Tönsmeyer (Bergische Universität Wuppertal), die mich in ihrer Funktion als Herder-Chair während der einjährigen Schreibphase als
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Vorwort
Mentorin mit ihren stets konstruktiv-kritischen Anmerkungen immer begleitete und ermutigte, wären viele ‚Hürden‘ im ‚Endspurt‘ dieser Studie nicht genommen worden. Daher gilt ihr mein besonderer Dank. Die Entwicklung der Städte des östlichen Europas in der Moderne ist vielfältig verlaufen, nicht zuletzt wegen der multiethnischen Gemengelage ihrer Bevölkerung. Weder „rückständig“ noch „peripher“, trugen sie zu einer spezifischen Ausprägung europäischer Urbanität bei. Um dies exemplarisch zu zeigen und sie in eine gesamteuropäische Perspektive zu integrieren, ist die Reihe der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung sicherlich der geeigneste Ort. Dass die ‚Zielgerade‘, die Drucklegung in dieser Reihe, erreicht wurde, verdanke ich stellvertretend für die Herausgeber/innen Christoph Bernhardt (Erkner) und Katharina Stüdemann vom Franz Steiner Verlag. Vielen engagierten Mitarbeiter/innen der Archive und Bibliotheken sei ebenfalls gedankt, ebenso wie zahlreichen Kolleg/innen, die mir durch ihre Ratschläge und Hinweise wichtige inhaltliche Ansatzpunkte für meine Studie lieferten. Hier sei stellvertretend Christoph Mick (Warwick), Jaroslav Hrycak und Vasyl′ Rasevyč (beide L′viv), Pieter M. Judson (Florenz) und Mark Cornwall (Southampton) gedankt, ebenso wie Jana Osterkamp (München) und Aleksander Łupienko (Warschau), die mir wichtige Hinweise für die Drucklegung gaben. Besonderem Dank für ihre freundschaftlich-kollegiale Unterstützung bin ich Ragna Boden und Otfried Krafft (Berlin/Marburg) verpflichtet, die mich immer wieder anspornten, das Buch zu einem Ende zu führen, sowie Eszter Gantner, die leider das Erscheinen dieses Buches nicht mehr miterleben durfte, und Christian Lotz (beide Marburg), die mich in der Schreibphase intensiv mit ihren kritischen Anregungen begleiteten. Gedankt sei auch Wiebke Rohrer (Heilbronn) für das exzellente Lektorat sowie Erika Eigen, Ingeborg Hein und Ruth Hanten (alle Mettmann), die die erste Fassung korrigierten. Ohne die stets liebevolle Unterstützung meiner Familie, insbesondere meines Mannes Johannes Kircher, und meiner Eltern, Renate und Klaus Hein, wäre es nicht gelungen, mit zwei kleinen Kindern eine solche Studie zu verfassen. Ihnen gilt daher, wie auch meinen Töchtern Johanna und Elisabeth, die mir stets mit ihrem Lächeln die notwendige Kraft gespendet haben, meine tiefste Dankbarkeit. Mettmann, im November 2019
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Konzeptionell-methodische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Heuristische Zugänge: „Modernisierung“ und „Sicherheit“ als Leitbegriffe der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Methodische Zugänge: Versicherheitlichung und Kulturgeschichte der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Aufbau und Quellen der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
Von der kommunalen Vermögensverwaltung zur beginnenden Politisierung der Gemeindeangelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Einflussverlust und Unterstellung: Inkorporation in die Habsburgermonarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Polnisches Verlangen: aufkeimende Forderungen nach lokaler Einflussnahme seit 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die habsburgische Gemeindegesetzgebung nach 1862 als Grundlage der städtischen Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Die Arena erobern und sichern: kommunale Autonomie als Resonanzraum des polnischen Führungsanspruches. . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Ringen um das Statut: die „jüdische Frage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Stabilisierung der polnischen Arena: rechtliche Mittel und Praktiken der Machtsicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Durchsetzung des Polnischen als Amtssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Verleihung von Heimatrecht und Bürgerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Wahlordnung als Garant für Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 18 30 33 37 42 49 52 58 68 74 76 98 98 108 112
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Inhaltsverzeichnis
3.3 Verteidigung der Arena gegen Demokratisierungstendenzen und die „ruthenische Gefahr“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.3.1 Die Festigung polnischer Führungsansprüche durch Kommunalwahlen . . . . . 124 3.3.2 Verhinderung der Wahlordnungsreform als Abwehr ruthenischer Partizipationsforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4
Die Vision umsetzen: Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.1 Das „schöne Lemberg“ als kommunales Leistungsversprechen und Vision . . . 148 4.2 Investitionspolitik anstelle patrimonialer Sparsamkeit als Voraussetzung . . . . . 152 4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik. . . . . . . . . . . . . . 159 4.3.1 Die „moderne“ Stadt als prioritäres Anliegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4.3.2 Die „gesunde“ Stadt als unumgängliches Leistungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 4.3.3 Die „versorgende“ Stadt als sozialpolitische Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 198 5
Den polnischen Charakter stärken: städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Polnische Schulen als Instrumente der Nationalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Die Förderung der Universität als „Sanktuarium“ nationaler Ambitionen . . . 5.2 Auf- und Ausbau polnischer Kulturinstitutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Das Städtische Theater als Ausdruck der mission civilisatrice . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die Städtische Galerie als „Arsenal polnischer Kultur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Das Historische Museum als Ausweis der historischen Mission . . . . . . . . . . . . 6
214 215 219 237 241 241 257 261
Die multiethnischen Traditionen marginalisieren: städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 6.1 Polnische Geschichte und Kultur im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 6.1.1 Straßenamen als Markierung des öffentlichen Raumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 6.1.2 Denkmäler als visualisierte Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 6.1.3 Feierpolitik zwischen imperialer Loyalität und nationalem Anspruch. . . . . . . 287 6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 6.2.1 Die Allgemeine Landesausstellung 1894 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 6.2.2 Die Festschrift Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895 als Chronik und Autobiografie des Stadtrates. . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 6.2.3 Darstellungen der Stadtgeschichte und der Gegenwart als genormte Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 6.3 Der Kern des „polnischen Charakters“: Modernität, „Bollwerk gen Osten“ und mission civilisatrice . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
Inhaltsverzeichnis
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7 Lembergs „polnischen Charakter“ sichern. Ein Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 7.1 Emerging and nationalizing city. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 7.1.1 Polnisch getönte Modernität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 7.2 ‚Ferne‘ der Landesverwaltung und Loyalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 7.3 Selbstthematisierung durch Dramatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 7.3.1 Marginalisierung und Exklusion nationaler Nationalitäten . . . . . . . . . . . . . . . 336 7.3.2 Polonisierung als ‚sicherheitspolitisches‘ Ziel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 7.4 Dynamisierung des Nationalitätenkonflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Karte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Abkürzungs- und Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Archivbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Gedruckte Quellen und Werke zeitgenössischer Autoren und Autorinnen bis 1939. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Sach-, Institutionen- und Zeitungsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
1 Einleitung Die Vertretung der Stadt Lemberg schuf und schafft keine Hindernisse zur Befriedigung der grundlegenden kulturellen Bedürfnisse der ruthenischen Nationalität in Lemberg. Aber auf der anderen Seite wird sie mit ganzer Entschlossenheit, wie bisher, weiterhin über die Polonität der Stadt Lemberg wachen.1
Diese Resolution des Lemberger Stadtrates, die unter Bravorufen der Ratsherren verabschiedet wurde, kritisierte Ende Februar 1914 den galizischen Landtag, der am gleichen Tag über die Konsequenzen des Galizischen Ausgleichs debattierte. Dessen Ergebnis war, dass vor allem über eine reformierte Wahlkreiseinteilung den Ruthenen größere politische Mitsprachemöglichkeiten gegeben werden sollte. Die Lemberger Resolution fasste sehr plakativ und euphemistisch die Haltung des Lemberger Stadtrates zusammen, der sich „immer als polnisch, immer als demokratisch, immer als unabhängig“2 empfunden hatte, weil er über die Polonität3 (polskość) Lembergs gewacht habe und weiterhin wache. Diese Resolution verwies auf das stets vom Stadtrat postulierte Bedrohungsszenario, wonach der „polnische Charakter“ der Hauptstadt des 1772 im Zuge der ersten Teilung Polens ins Habsburgerreich inkorporierten Kronlandes Galizien und Lodomerien durch die Ruthenen gefährdet werde und daher ‚gesichert‘ werden müsse. Sie beinhaltete zugleich eine verzerrte Wahrnehmung, wenn nicht gar eine Lüge, weil der Text behauptete, dass der Rat die „Befriedigung der grundlegenden kulturellen Be-
1
2 3
„Reprezentacja m. Lwowa nie czyniła i nie czyni żadnych przeszkód w zaspokojeniu uzasadnionych potrzeb kulturalnych narodowości ruskiej we Lwowie, a z drugiej strony jednak z całą stanowczością, jak dotąd, tak i nadal stać będzie na straży polskości miasta Lwowa“, Gazeta Lwowska (Lemberger Zeitung, GL) v. 28.2.1914. Ebenso euphemistisch war es, dass sich der Rat als „frei von jeglichem Chauvinismus“ („wolno od wszelkiego szowinizmu“, ebd.) bezeichnete. „zawsze polska, zawsze demokratyczna, zawsze niezależna“, Słowo Polskie (Polnisches Wort, SP) v. 16.2.1899. Zur Begrifflichkeit dieser nur holprig übersetzbaren Bezeichnung: Katrin Steffen, Jüdische Polonität, Ethnizität und Nation im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918–1939, Göttingen 2004, S. 11 f.
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1 Einleitung
dürfnisse“ der Ruthenen, von immerhin ca. 15 Prozent der städtischen Bevölkerung, nicht behindert habe und weiterhin nicht behindern werde. Tatsächlich verfolgte der Stadtrat eine Polonisierungspolitik. Damit verband er eine strikte Politik einer weitestgehenden Marginalisierung bzw. Exklusion von Juden und Ruthenen aus den städtischen Angelegenheiten, die, so eine grundlegende These, letztlich zu der Verhärtung des Nationalitätenkonfliktes vor dem Ersten Weltkrieg in besonderer Weise beitrug. Dies führte dazu, dass der Stadtrat als eine rein polnische Arena und Kommunalpolitik als rein polnische Angelegenheit aufgefasst wurden. Im historischen Sozialraum Stadt treten gesamtgesellschaftliche Entwicklungen frühzeitig und in verdichteter Weise in Erscheinung, sodass sich zahlreiche Diskurse entwickeln, die über das rein Lokale hinausweisen. Daher trägt die Analyse von kommunalpolitischen Prozessen ausgehend von dem allgemeinen Verständnis stadthistorischer Forschung von ‚Stadt als Labor‘ über die jeweils behandelte Stadt hinaus auch zum Verständnis von Werten, Ordnungskonzepten etc. von (sich nationalisierenden) Gesellschaften und von der in der Forschung bisher kaum berücksichtigten Rolle der Städte beim Auf- und Ausbau moderner Staatlichkeit der multiethnischen Imperien bei. In der betrachteten Epoche erhielt Kommunalpolitik darüber hinaus als „Schule der Demokratie“4 eine besondere Funktion, weil sich moderne demokratische Verfahren und parlamentarische Institutionen zu entwickeln begannen. Des Weiteren beeinflusste sie als Bestandteil der nationalitätenpolitischen Forderungen seit der Revolution 1848/49 bis zum Ersten Weltkrieg in spezifischer Weise die Nationalisierungsprozesse in den multiethnischen Regionen Ostmitteleuropas, nicht zuletzt, weil Partizipation auf lokaler Ebene eine besondere Möglichkeit eröffnete, die nationale Markierung und Aneignung des öffentlichen Raumes zu steuern, und einen wichtigen Schritt in Richtung der geforderten Teilhabe am Staatswesen bedeutete. Hieraus ergibt sich als erste von zwei grundlegenden Leitfragen diejenige nach den politischen Akteuren und deren Handlungszielen. Durch welche Praktiken entwickelte sich die Kommunalpolitik zu einer rein polnischen Arena und wie gelang es in diesem Prozess, Juden und Ruthenen zu marginalisieren bzw. zu exkludieren? Wie wurde diese Arena für die polnischen Ansprüche gesichert? Wie begründeten die Ratsherren diese nationalisierende Politik, welche Strategien und Visionen verfolgten sie, um dieser gerecht zu werden? Daraus ergibt sich wiederum die Frage, welche Aufgabengebiete bzw. Themenfelder für die Stadtentwicklung und gewünschte Modernisierung zentral waren und welche Ziele der Stadtrat daraus entwickelte. Diese der Lemberger Kommunalpolitik zugrunde liegende, die übrigen Nationalitäten zumindest marginalisierende Haltung war nicht erst in dem seit der Jahrhundertwende intensivierten Nationalitätenkonflikt aufgekommen. Bereits in den 1860er
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Ebd., S. 245. Vgl. auch Hans Georg Wehling, Kommunalpolitik, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, Bonn 1991, S. 284–291, hier: S. 285.
15
1 Einleitung
Jahren hatte sich im Zuge der sich entwickelnden politischen Mitsprachemöglichkeiten des Stadtrates dessen exkludierende politische Haltung gegenüber den übrigen Ethnien in Lemberg, insbesondere zunächst gegenüber den Juden, dann gegenüber den griechisch-katholischen Ruthenen, angedeutet, obwohl diese Gruppen knapp die Hälfte der städtischen Bevölkerung ausmachten. Tab. 1 Konfessionelle und sprachliche Verhältnisse in Lemberg in Prozent5 röm.- griech.- jüdisch evang. andere Poln. Ruthen. kath. kath. Konf.
Jiddisch
Deutsch
andere Sprachen
–
–
1869 53,2
14,2
30,2
k. A. 2,4
–
–
–
1886 53,4
15,9
28,2
k. A. 2,4
85,2
5,8
s. Deutsch
8,3
0,6
1890 52,59
17,1
28,2
1910 51,2
19,2
27,8
1,6
6
0,3
82,8
7,2
s. Deutsch
9,6
0,4
k. A. 1,77
88,8
8,7
2,3
2,3
0,2
Als legitimierendes Argumentationsmuster dramatisierten die Akteure den Einfluss von Juden und Ruthenen auf die kommunalen Belange und entwickelten daraus ein Bedrohungsszenario mit der Hauptaufgabe, dass der Stadtrat „sich vor allem um die Erhaltung des polnischen Charakters Lembergs sorgen muss.“8 Gerade die fortschreitende Entwicklung und die Forderungen der ruthenischen Nationalbewegung, die schließlich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts etwa in Bezug auf die Universitätenfrage seit 1901 und beim Attentat auf den Statthalter Andrzej Potocki (1908) in Gewalt umschlugen, aber auch der – faktisch nur geringfügig – steigende ruthenische Bevölkerungsanteil führten zu einer zunehmenden Dramatisierung dieser Bedrohungslage in den Diskursen des Stadtrates. Deren Darstellung ist geradezu als leitmotivisch für die kommunalpolitischen Diskurse, Praktiken und Visionen zur Schaffung eines „schönen“ Lemberg zu kennzeichnen, weil nahezu in jeder größeren Debatte, insbesondere bei der Prioritätensetzung im Rahmen von Budgetdebatten, das Szenario von seiner Bedrohung thematisiert wurde. Die Diskurse über Bedrohung und Sicherung des „polnischen Charakters“ der Stadt dynamisierten somit seit den 1860er Jahren die lokalen Nationalisierungs- und Modernisierungsdiskurse und -praktiken.
5
6 7 8
Unter „andere“ werden im Wesentlichen armenisch-orthodoxe und protestantische Christen erfasst, vgl. Christoph Mick, Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt Lemberg 1914–1947, Wiesbaden 2010, S. 30 (Mick hat für 1869 die Militärbevölkerung einbezogen); WStStK 24 (1910), H. 3, S. 20 f.; WStStKr 12, 1890, S. 16–19, S. 17 ff.; Rocznik statystyki Galicyi [Statistisches Jahrbuch Galiziens], 1, 1886 (1887), S. 17 ff. Vgl. auch Stanisław Pazyra, Ludność Lwowa w pierwszej ćwierci XX w. [Die Lemberger Bevölkerung im ersten Viertel des 20. Jh.], Lwów 1931. Gemäß der habsburgischen Gepflogenheiten bei den Volkszählungen wurde die jiddische Sprache unter „Deutsch“ subsumiert. Hierunter wird auch die evangelische Konfession erfasst. „ponad wszystko powinno się bać o utrzymaniu polskiego charakteru Lwowa“, GL v. 2.3.1912.
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1 Einleitung
Auch wenn etwa Malte Rolf am Beispiel von Warschau (Warszawa), das zum russländischen Weichselgouvernement gehörte, festgestellt hat,9 dass eine urbane Modernisierung durchaus ohne kommunale Selbstverwaltung stattfinden konnte, so ist gerade der autonome Status Lembergs ein wesentlicher Faktor für die Stadtentwicklung: Der Charakter als Statutarstadt und die ebenfalls polnisch dominierte Autonomie auf Landesebene wirkten wechselseitig als eine Art Resonanzraum und Verstärker aufeinander, weil die Kommunalpolitik gerade in zentralen Bereichen des Nationalitätenkonflikts einen großen Gestaltungsfreiraum erhielt. Kommunalpolitik führte vor allem zur Politisierung von Ethnizität und zur nationalen Aufladung lokaler Aufgabenfelder, auch weil es, so der Befund von Anna Veronika Wendland und Andreas R. Hofmann, ingesamt eine wesentliche Aufgabe städtischer Öffentlichkeiten war, die nicht vorhandene nationale Öffentlichkeit zu ersetzen.10 Kommunalpolitik als ein wesentlicher Grundpfeiler des Nationalitätenkonflikts ist dabei aber bislang ebenso unzureichend betrachtet worden wie die Verbindung von Modernisierungs- und Nationalisierungsdiskursen auf lokaler Ebene. Dass Modernisierungs- und Nationalisierungsdiskurse dynamisch – je nach argumentativem Bedarf – mit Versicherheitlichungsdiskursen durch die kommunalpolitischen Akteure im multiethnischen Lemberg (s. Tab. 1) verknüpft wurden, stellt aber keinesfalls einen Einzelfall innerhalb der ‚aufstrebenden Städte‘ (emerging cities) in der Habsburgermonarchie und darüber hinaus in ganz Ostmitteleuropa dar, auch wenn ihre Entwicklung wegen der Gewalteskalationen ein besonders sichtbares Beispiel ist. Die emerging cities konnten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts (wieder) als regionale Metropolen positionieren, wobei ihre – unterstellte – Rückständigkeit zu einer besonderen Handlungsressource für ihre ambitionierte und dynamische, zugleich auch national aufgeladene Stadtentwicklungspolitik vor dem Hintergrund eines stetigen demografischen Wachstums wurde. Diese basierte auf einem intensiven Wechselspiel von Wissenstransfer in den verschiedenen lokalen Handlungsfeldern, von politischer, sozio-ökonomischer und kultureller Modernisierung und nicht zuletzt von den Dynamiken, die sich aus den nationalen Bewegungen innerhalb der Städte ergaben.11 Daher stellten die Modernisierungs- wie auch Nationalisierungsprozesse besondere Handlungsressourcen dar, weil die lokalen politischen Akteure eigene, jeweils besonders akzentuierte Handlungsstrategien 9 10
11
Vgl. Malte Rolf, Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915), Berlin etc. 2015, S. 183–282. Andreas R. Hofmann / Anna Veronika Wendland, Stadt und Öffentlichkeit. Auf der Suche nach einem neuen Konzept in der Geschichte Ostmitteleuropas. Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest, Stuttgart 2002, S. 9–23, hier: S. 22. Zum Konzept der emerging cities vgl. Eszter Gantner / Heidi Hein-Kircher, „Emerging Cities“. Knowledge and Urbanization in Europe’s Borderlands 1880–1945 – Introduction, in: dies. (Gasthrsg.), Special Issue Emerging Cities. JUH 43, 2017, H. 4, S. 575–586.
17
1 Einleitung
Tab. 2 Übersicht über die Bevölkerungsentwicklung in Lemberg 1773–191312 Ende 16. Jh.
17–20.000
1773
22.545
1785
25.324
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an der Schnittstelle von nationalen, lokalen und europäischen Trends entfalten konnten. Verbunden war diese Positionierung mit der diskursiven Konstruktion von Bedrohungsszenarien durch andere nationale Gruppen, um die eigenen Machtansprüche zu legitimieren. Hierdurch konnten die lokalen Akteure ‚ihre‘ Stadt auch zu einer Hochburg der jeweiligen Nationalbewegung entwickeln. Die zweite grundlegende Leitfrage dieser Studie bezieht sich daher auf die hier exemplarisch zu diskutierende Wechselwirkung von Nationalisierungs- und Modernisierungsprozessen mit Versicherheitlichungsdiskursen im lokalen Raum, also von Prozessen, die jeweils bestimmte politische Wert- und Zielvorstellungen implizieren. 12
Ohne Militärangehörige: [Michał Wiesiołowski,] Rys statystyczno-geograficzny Galicyi Austrjackiej [Statistisch-geografischer Bericht des österreichischen Galizien], Poznań 1842, S. 75; Ignacy Chodynicki, Historya stołecznego królestw Galicyi i Lodomeryi miasta Lwowa od założenia jego aż do czasów teraznieyszych [Geschichte der Hauptstadt der Königreiche Galizien und Lodomerien von der Gründung bis zur gegenwärtigen Zeit], Lwów 1829, S. 460 f. rundet die Zahlen auf; Kurzgefasste Zusammenstellung statistischer Daten über die königl. Hauptstadt Lemberg im Kronlande Galizien, Lemberg 1851, S. 10 f.; Ignacy Drexler, Wielki Lwów [Groß-Lemberg], Lwów 1920, S. 14. Die Zahlenangaben weichen teilweise um einige Hundert voneinander ab.
18
1 Einleitung
Hieraus ergeben sich die Fragen, inwieweit diese sich wechselseitig bedingen, sowie ob und inwieweit von „Sicherheit“ abgeleitete Wertvorstellungen ein argumentatives Fundament bilden für die ihnen entstammenden Praktiken und Strategien nicht nur der Stadt-, sondern auch der Gesellschaftsentwicklung. Und nicht zuletzt: Gibt „Sicherheit“ (und in welchem Verständnis?) sich nationalisierenden und modernisierenden Gesellschaften Sinn und Orientierung, und ist diese Wertvorstellung für die Entwicklung auch für die Nationalisierungs- und Modernisierungsprozesse im lokalen Raum zentral? Diese gilt es in der Studie Lembergs „polnischen Charakter“ sichern exemplarisch nachzuvollziehen, da solche Wechselwirkungen paradigmatisch am Beispiel der Stadtentwicklung Lembergs analysiert werden können. Dort, wie auch in den anderen multiethnischen Städten, war eine Stadtentwicklung ohne versicherheitlichende Nationalisierungsdiskurse nicht denkbar. Diese stellten eine legitimierende Strategie und letztlich auch Vision der jeweils politisch dominierenden nationalen Gruppe dar, die Stadt ihren Vorstellungen gemäß zu modernisieren, das Erreichte auf Dauer zu erhalten und weiterzuentwickeln. Diese Politik führte vor allem zu einer Dynamisierung und Verschärfung der nationalen Gegensätze bis 1914 und eben nicht zu den „verwischten Grenzen“13 zwischen den Nationalitäten, wie Joseph Roth das Leben in Lemberg vor 1914 aus der Perspektive der 1920er Jahre verklärt hatte. 1.1 Forschungsstand Die vorgenannten Fragen werden nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Forschungsstandes und offener Desiderate in Bezug auf die Stadtgeschichte Ostmitteleuropas diskutiert. Im Gegensatz zu den deutlich reicheren Forschungstraditionen zu Städten in Mittel- und Westeuropa14 hat sich die moderne Stadt- und Urbanitätsgeschichte als Teildisziplin in Ostmitteleuropa bis heute nur ansatzweise entwickelt, auch wenn durchaus positivistische, oftmals populärwissenschaftlich angelegte und durch Detailfülle charakterisierte lokalhistorische Studien zu einzelnen Städten vorliegen. Abgesehen von einem häufig lokalhistorisch begründeten Forschungsanliegen, waren die Städte für die jeweiligen nationalen Historiografien aus mehreren Gründen wenig interessant: Zunächst spielt(e) eine Rolle, dass die traditionellen stadthistorischen Ansätze auf die Rechtsentwicklung fokussiert waren, was es nicht erlaubte, die Entwicklung
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Joseph Roth, Lemberg, die Stadt, in: ders., Werke, Bd. 3, Köln 1956, S. 836–840 (Frankfurter Zeitung v. 22.11.1924). Überblicke über die ältere Forschung: Friedrich Lenger, Urbanisierungs- und Stadtgeschichte – Geschichte der Stadt. Verstädterungsgeschichte oder Geschichte in der Stadt?, in: AfS 26, 1986, S. 429–479; Otto Borst, Historische Stadtforschung 1980–1990, in: Die Alte Stadt 2, 1991, S. 198–211.
1.1 Forschungsstand
19
der jeweiligen Nationalität in Gänze nachzuvollziehen. Ein weiterer Grund für dieses Desinteresse liegt in der Gründung der Städte nach Deutschem Recht und in dem dort ansässigen, privilegierten deutschsprachigen Bürgertum, das zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, teilweise sogar bis zum Ersten Weltkrieg, dominierend war. Die Städte wurden daher als „deutsch“ empfunden und standen nicht im Mittelpunkt des auf die konationalen Gruppen und die Nation als Ganzes gerichteten Forschungsinteresses, das der Nationalgeschichte einen Vorrang zuschrieb. Schließlich interessierten sich sozialhistorische Studien, insbesondere jene, die unter Einfluss der nach 1945 vorherrschenden marxistisch-leninistischen Leitlinien standen, nur für die (unteren) sozialen Schichten, weil die Urbanisierungsprozesse auf die – ideologisch abzulehnende – bürgerliche Stadtgesellschaft zurückgeführt wurden.15 Die moderne, insbesondere deutsch- und englischsprachige Ostmitteleuropaforschung hat nicht nur den Paradigmenwechsel in den Geschichtswissenschaften16 aufgegriffen, sondern hat ihn auch am Beispiel vor allem der Großstädte der Region für die Stadt- und Urbanitätsgeschichte fruchtbar gemacht. Sie hat inzwischen schwerpunktmäßig zur Stadtgeschichte Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert zahlreiche, auch für die Forschung zu Städten im westlichen Europa, innovative Ansätze entwickelt. Hierbei wird Stadtgeschichte als Möglichkeit erkannt, als fokussierte Mikrogeschichte Aufschluss zu geben über soziale, politische und kulturelle Entwicklungen, über lokale und regionale Bindungen sowie über Loyalitäten und Identitäten.17 Erst der Paradigmenwechsel des cultural turn eröffnete die Möglichkeit, die im Vergleich zu den Metropolen des Westens angenommene Rückständigkeit aufgrund der ausbleibenden (Groß-)Industrialisierung als spezifischen Ausgangspunkt für die Stadtgeschichte in dieser Region zu werten. Ein wesentliches Ergebnis dessen ist die Bilanz neuerer Forschungen, dass Urbanisierung und Modernisierung ohne (intensive) Industrialisierung18 erfolgen konnten. Wegen des in der Forschung immer noch vorherrschenden Rückständigkeitsparadigmas fehlen jedoch einschlägige Studien zu 15
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Vgl. hierzu etwa Roman Czaja, Urban History Research in Poland, in: Heidi Hein-Kircher / Ilgvars Misāns (Hrsg.), Stadtgeschichte des Baltikums oder baltische Stadtgeschichte? Annäherungen an ein neues Forschungsfeld zur baltischen Geschichte, Marburg ²2016, S. 43–59; Heidi Hein-Kircher, Der Blick von außen: Schwerpunkte und Desiderate in der Stadt- und Urbanitätsgeschichte der gegenwärtigen Ostmitteleuropaforschung, in: ebd., S. 21–42, hier: S. 25 ff. Vgl. entsprechende generelle Einschätzungen etwa bei Adelheid von Saldern, Stand und Perspektiven der Stadtgeschichts- und Urbanisierungsforschung, in: ImS 1, 2002, S. 54–62; vgl. auch: Andreas R. Hofmann / Anna Veronika Wendland (Hrsg.), Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest, Stuttgart 2002. Vgl. Hein-Kircher, Blick, S. 1–20. Vgl. hierzu: Maciej Janowski, Galizien auf dem Weg zur Zivilgesellschaft, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VIII Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, Teilbd. 1 Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation, Wien 2006, S. 805–858. Zur generellen Einschätzung der Rolle der Industrialisierung bei der Urbanisierung: Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19.
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1 Einleitung
den älteren Forschungsschwerpunkten wie etwa zur Infrastrukturgeschichte, während eine Bürgertumsgeschichte aus den genannten Gründen und einer grundsätzlich geringeren Bedeutung des Bürgertums für die Entwicklung der Nationalgesellschaften nicht geschrieben wurde. Somit lässt sich insgesamt ein Gefälle in der Stadtgeschichtsforschung zu den „europäischen Städten“19 im Westen des Kontinents konstatieren: Im Vergleich etwa zur deutschen Geschichte liegen erheblich weniger Studien zu Aspekten der Stadtgeschichte in der Habsburgermonarchie20 vor, und hier werden vor allem die Metropolen Wien21, Budapest und Prag22, aber etwa auch die „deutscheste Stadt der Monarchie“ Graz23 thematisiert, während die Geschichte der Städte in der Peripherie, also Lemberg und andere regionale Metropolen wie Triest (Trieste)24 oder Laibach (Ljubljana)25 sowie auch kleinere Städte26, erst durch kulturwissenschaftlich inspirierte Ansätze untersucht wurde.
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Jahrhunderts, München 2009, S. 366–370; Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S. 51–74. Zu den durchaus auch normativ besetzten Stadttypologien vgl. Heidi Hein-Kircher / Ilgvars Misāns, Stadtgeschichte des Baltikums oder baltische Geschichte? Bestandsaufnahme und Versuch eines Impulses, in: dies. (Hrsg.), Stadtgeschichte des Baltikums oder baltische Stadtgeschichte? Annäherungen an ein neues Forschungsfeld zur baltischen Geschichte, Marburg ²2016, S. 1–20. Als Überblick: Wolfgang Maderthaner, Urbane Lebenswelten: Metropolen und Großstädte, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. IX Soziale Strukturen, Teilbd. 1 Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft, Teil 1 Lebens- und Arbeitswelten in der Industriellen Revolution, Wien 2010, S. 493–538; Werner Ogris, Die Stadt in der österreichischen Gemeindegesetzgebung des 19. Jahrhunderts, in: Helmut Naunin (Hrsg.), Städteordnungen des 19. Jahrhunderts. Beiträge zur Kommunalgeschichte Mittel- und Osteuropas, Köln etc. 1984, S. 103–134. Exemplarisch: Gerhard Melinz / Susan Zimmermann (Hrsg.), Wien – Prag – Budapest. Blütezeit der Habsburgermetropolen. Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867– 1918), Wien 1996; Susan Zimmermann, Prächtige Armut. Fürsorge, Kinderschutz und Sozialreform in Budapest. Das „sozialpolitische Laboratorium“ der Doppelmonarchie im Vergleich zu Wien 1873–1914, Sigmaringen 1997; dies. / Gerhard Melinz, Über die Grenzen der Armenhilfe. Kommunale und staatliche Armenhilfe in Wien und Budapest in der Doppelmonarchie, Wien etc. 1991; Elisabeth Lichtenberger, Wien – Prag. Metropolenforschung, Wien etc. 1993; Peter Csendes / András Sipos (Hrsg.), Budapest und Wien. Technischer Fortschritt und urbaner Aufschwung im 19. Jahrhundert, Budapest etc. 2003. Etwa Cathleen M. Giustino, Tearing Down Prague’s Jewish Town. Ghetto Clearance and the Legacy of Middle-Class Ethnic Politics around 1900, Boulder/CO etc. 2003. Z. B. William H. Hubbard, Auf dem Weg zur Großstadt. Eine Sozialgeschichte der Stadt Graz 1850– 1914, Wien 1984; Heidemarie Uhl, Cultural Strategies of National Identity Politics in Graz around 1900, in: Moritz Csáky / Elena Mannová (Hrsg.), Collective Identities in Central Europe in Modern Times, Bratislava 1999, S. 137–158. Beispielsweise Eduard Winkler, Wahlrechtsreformen und Wahlen in Triest 1905–1909. Eine Analyse der politischen Partizipation in einer multiethnischen Stadtregion der Habsburgermonarchie, München 2000. Marion Stromberger, Stadt. Kultur. Wissenschaft. Urbane Identität, Universität und (geschichts) wissenschaftliche Institutionen in Graz und Ljubljana um 1900, Innsbruck 2004. Z. B. Christoph Augustynowicz, Grenze(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772–1844, Wien 2015; Börries Kuzmany, Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert, Wien etc. 2011; Kazimierz Karolczak / Peter Koval′ / Konrad Meus (Hrsg.), Miasto w
1.1 Forschungsstand
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Auch kann man feststellen, dass sich lediglich neuere Studien nicht zuletzt unter dem Eindruck der post-colonial studies27 und transnationaler28 Perspektiven ausführlich mit der größtenteils multiethnischen und -konfessionellen Prägung der Städte auseinandersetzen. Es ist jedoch auffallend, dass die vorhandenen, teilweise älteren stadthistorischen Studien diesen Charakter und die damit verbundenen besonderen kommunalen Aufgaben etwa im Bildungsbereich – wenn überhaupt – nur ansatzweise oder oberflächlich behandeln,29 während die jeweilige Stadtgeschichte immer nur aus der Perspektive einer nationalen Gruppe diskutiert wird. Außerdem fehlen auch neuere verwaltungs- und rechtshistorische Studien mit kulturwissenschaftlichem Ansatz zur Geschichte der habsburgischen Städte im 19. Jahrhundert,30 zumal die besonderen Herausforderungen durch die Nationalbewegungen in diesem Kontext nicht diskutiert worden sind. Vor diesem allgemeinen historiografischen Hintergrund ist die Erarbeitung von Aspekten der Geschichte Lembergs, der „doch so faszinierende[n] Stadt Ostmitteleuropas“31, erst in den letzten Jahren intensiviert worden, auch weil die Geschichtsschreibung zu Galizien generell eine Konjunktur erlebt hat.32 Gerade die auch im Vergleich
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Europie Środkowo-Wschodniej. Procesy modernizacyjne [Die Stadt in Ostmitteleuropa. Modernisierungsprozesse], Kraków 2016. Vgl. insbesondere Jan Surman / Klemens Kaps (Hrsg.), Galicja postkolonialnie. Możliwości i granice. Themenheft Historyka [Galizien postkolonial. Möglichkeiten und Grenzen]. Historyka. Studia metodologiczne 42, 2012; Hans-Christian Maner, Zwischen „Kompensationsobjekt“, „Musterland“ und „Glacis“: Wiener politische und militärische Vorstellungen von Galizien von 1772 bis zur Autonomieära, in: ders. (Hrsg.), Grenzregionen der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Ihre Bedeutung und Funktion aus der Perspektive Wiens, Münster 2005, S. 103–122. Jedoch traditionell politikgeschichtlich: Harald Binder, Galizien in Wien. Parteien, Wahlen, Fraktionen und Abgeordnete im Übergang zur Massenpolitik, Wien 2005. So Anna Veronika Wendland, Neighbors as Betrayers: Nationalization, Remembrance Policy, and the Urban Public Sphere in L′viv, in: Christopher Hann / Paul R. Magocsi (Hrsg.), Galicia. A Multicultured Land, Toronto etc. 2005, S. 139–159; Christoph Mick, Die Nationalisierung in einer multiethnischen Stadt. Interethnische Konflikte in Lemberg 1890–1920, in: AfS 40, 2000, S. 113–136. Jeremy King, Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848– 1948, Princeton/NJ 2002, bezieht sich nur teilweise auf die kommunale Selbstverwaltung. Er sieht die Nationalisierung als bottom up-Prozess, der zu nationalen Konflikten der Deutschen führte. Vgl. auch ders., The Municipal and the National in the Bohemian Lands, 1848–1914, in: Austrian History Yearbook 42, 2011, S. 89–109. Jiří Klabouch, Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848–1918, München etc. 1968 (mit Schwerpunkt auf Böhmen); ders., Die Lokalverwaltung in Cisleithanien, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII Verfassung und Parlamentarismus, Teilbd. 2 Die regionalen Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 270–305; Werner Ogris, Die Entwicklung des österreichischen Gemeinderechts im 19. Jahrhundert, in: Wilhelm Rausch (Hrsg.), Die Städte Mitteleuropas im 19. Jahrhundert, Linz 1983, S. 83–101. Isabel Röskau-Rydel, Kultur an der Peripherie des Habsburger Reiches. Die Geschichte des Bildungswesens und der kulturellen Einrichtungen in Lemberg von 1772 bis 1848, Wiesbaden 1993, S. 1. Z. B. zur nationalen Bewusstseinswerdung bei der bäuerlichen Bevölkerung: Keely Stauter-Halsted, The Nation in the Village. The Genesis of Peasant National Identity in Austrian Poland, 1848–1914, Ithaca/NY 2004.
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1 Einleitung
zu anderen Städten Ostmitteleuropas besonders eskalierende Konfliktlage zwischen Polen und Ruthenen in Galizien und in dessen Hauptstadt Lemberg hat in den vergangenen rund zweieinhalb Jahrzehnten ein deutliches Forschungsinteresse insbesondere hinsichtlich des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm) geweckt. Zuvor ist Lemberg trotz seiner Rolle als Landeshauptstadt des „elenden“33 Galizien im Gegensatz zur ehemaligen polnischen Krönungsstadt und zum kulturellen Zentrum Krakau34 (Kraków) nicht als führende Metropole wahrgenommen worden, zumal das landläufig als ‚Armenhaus der Monarchie‘ bezeichnete Galizien kaum auf ein allgemeines Forschungsinteresse für die Geschichtsschreibung weder zur Habsburgermonarchie noch zum geteilten Polen bis etwa zur Jahrtausendwende gestoßen ist. Nachdem Lemberg in Folge der Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg und der anschließenden Bevölkerungsumsiedlung für die polnischen Historiker tabuisiert worden war, erhielten sie lange Zeit keinen oder nur beschränkten Zutritt zu den Archiven, wodurch auch der polnische Anteil an der Geschichte der Stadt ausgeblendet wurde. Zugleich waren bzw. sind für die im Exil lebenden polnischen Historiker und Publizisten und auch für die heutige polnische Lemberg-Historiografie die Verteidigung Lembergs gegen die Ukrainer nach dem Ersten Weltkrieg, die Jahre der Zweiten Republik sowie die Jahre des Zweiten Weltkriegs von erheblich größerer Bedeutung.35 Insgesamt verdient lediglich eine geringe Zahl polnischsprachiger stadtgeschichtlicher Studien zu Lemberg das Attribut „wissenschaftlich“. Nur vereinzelt behandeln sie den hier interessierenden zeitlichen Rahmen. Sie sind größtenteils in der Zeit der galizischen Autonomie und der Zwischenkriegszeit entstanden36 und konzentrieren
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Diese Wahrnehmung prägend: Stanisław Szczepanowski, Nędza Galicji w cyfrach i program energicznego rozwoju gospodarstwa krajowego [Das galizische Elend in Zahlen und das Programm einer energischen wirtschaftlichen Entwicklung des Landes], Lwów 1888. Beispielsweise: Simon Hadler, Das Image Krakaus und der Umgang mit dem öffentlichen Raum um 1900, phil. Diss. Wien 2012; Nathaniel D. Wood, Becoming Metropolitan. Urban Selfhood and the Making of Modern Cracow, DeKalb/IL 2010; Wojciech Bałus, Krakau zwischen Traditionen und Wegen in die Moderne. Zur Geschichte der Architektur und der öffentlichen Grünanlagen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2003; Hanna Kozińska-Witt, Krakau in Warschaus langem Schatten: Konkurrenzkämpfe in der polnischen Städtelandschaft 1900–1939, Stuttgart 2008; dies., Die Krakauer jüdische Reformgemeinde 1864–1874, Frankfurt/Main etc. 1999; Jacek Purchla, Krakau unter österreichischer Herrschaft 1846–1918. Faktoren seiner Entwicklung, Wien etc. 1993; Celina Bąk-Koczarska, Juliusz Leo twórca Wielkiego Krakowa [Der Schöpfer Groß-Krakaus Juliusz Leo], Wrocław 1986. Mit einem besonderen Fokus auf die Sepukralkultur und die politischen Totenfeiern Kathrin Krogner-Kornalik, Tod in der Stadt. Religion, Alltag und Festkultur in Krakau 1869–1914, Göttingen 2015. Forschungsüberblick: Helena Madurowicz-Urbańska, Lwów – stolica Galicji. Stan badań nad demograficznym, gospodarczym i cywilizacyjnym rozwojem miasta doby autonomicznej w świetle polskiej historiografii [Lemberg – Hauptstadt Galiziens. Forschungsstand bezüglich der demografischen, wirtschaftlichen und zivilisatorischen Entwicklung der Stadt in der Zeit der Autonomie im Lichte der polnischen Historiografie], in: Studia austro-polonica 5, 1997, S. 167–172. Hier sei beispielsweise verwiesen auf: Stanisław Hoszowski, Ceny we Lwowie w latach 1701–1914 [Die Preise in Lemberg in den Jahren 1701–1914], Lwów 1934; ders., Ekonomiczny rozwój Lwowa
1.1 Forschungsstand
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sich auf die polnische Geschichte in Lemberg. Die bis heute grundlegende Synthese der Lemberger Geschichte verfasste Fryderyk Papeé am Ende des 19. Jahrhunderts ohne eigene Quellenrecherche als Auftragsarbeit des Stadtrates (s. Kap. 6.2.3).37 Die kurze Stadtgeschichte Lembergs im 19. Jahrhundert von Józef Białynia Chołodecki38 (1928) würdigt aus der Perspektive polnischer Unabhängigkeit dagegen die kommunale Autonomie mit nur wenigen Zeilen, während die positivistische Arbeit Leszek Podhoreckis39 (1993) ohne analytische Durchdringung verbleibt. Wenn die Rolle Lembergs als galizische Hauptstadt in Darstellungen zur galizischen Geschichte thematisiert wird, werden rechts-, politik-, sozial- und kulturhistorische40 Aspekte behandelt, wobei auch diese Studien meist positivistisch-faktografisch angelegt sind.41 In der gegenwärtigen polnischsprachigen stadthistorischen Forschung arbeiten vor allem der Krakauer Historiker Łukasz Tomasz Sroka42 sowie in vergleichender Perspektive der
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w latach 1772–1914 [Die wirtschaftliche Entwicklung Lembergs 1772–1914], Lwów 1935; Mieczysław Opałek, Obrazki z przeszłości Lwowa [Bilder aus der Vergangenheit Lembergs], Lwów 1932; Carl Wilhelm Rasp, Beiträge zur Geschichte der Stadt Lemberg, in: Archiv für österreichische Geschichte 42, 1870, S. 373–505. Fryderyk Papée, Historya miasta Lwowa w zarysie [Geschichte der Stadt Lemberg im Abriss], Lwów 1894 (²1924). Eklatant deutlich bei: Peter Fässler / Thomas Held / Dirk Sawitzki (Hrsg.), Lemberg – Lwów – Lviv. Eine Stadt im Schnittpunkt europäischer Kulturen, Köln etc. 1993. Bereits Józef Skoczek, Dotychczasowy stan badań nad historią Lwowa [Der bisherige Forschungsstand zur Geschichte Lembergs], in: Kwartalnik Historyczny 39, 1925, S. 336–350, beklagte das Fehlen einschlägiger Forschungsarbeiten; vgl. auch Łucja Charewiczowa, Historiografia i miłośnictwo Lwowa [Historiografie und Liebhaberei Lembergs], Lwów 1938. Józef Białynia Chołodecki, Lwów w XIX stuleciu [Lemberg im 19. Jh.], Lwów 1928. Leszek Podhorecki, Dzieje Lwowa [Geschichte Lembergs], Warszawa 1993. Etwa zur Architekturgeschichte: Jacek Purchla (Hrsg.), Architektura Lwowa XIX w. / Die Architektur Lembergs im 19. Jahrhundert, Kraków 1997; Yuri Biryulov, Lvov’s Municipal Buildings during the Autonomy Period (19th – Early 20th Century), in: Jacek Purchla (Hrsg.), Mayors and City Halls. Local Government and the Cultural Space in the Late Habsburg Monarchy, Cracow 1998, S. 227–232. Ohne expliziten kommunalpolitischen Bezug: Urszula Jakubowska, Lwów na przełomie XIX i XX wieku [Lemberg an der Wende vom 19. zum 20. Jh.], Warszawa 1991; dies., Życie polityczne we Lwowie na przełomie XIX i XX wieku [Das politische Leben in Lemberg an der Wende vom 19. zum 20. Jh.], in: Włodzimierz Bonusiak / Józef Buszko (Hrsg.), Galicja i jej dziedzictwo [Galizien und sein Erbe], Bd. 1 Historia i polityka [Geschichte und Politik], Rzeszów 1994, S. 83–98. So z. B. die Studie über die Haltung der Polen zu den verfassungsrechtlichen Neuerungen in der Monarchie: Stanisław Pijaj, Między patriotyzm a habsburskim lojalizmem. Polacy wobec przemian ustrojowych monarchii habsburskiej (1866–1871) [Zwischen Patriotismus und Habsburger Loyalismus. Polen gegenüber dem Strukturwandel der Habsburgermonarchie (1866–1871], Kraków 2003. Mit einem traditionellen sozialhistorischen Ansatz: Łukasz Tomasz Sroka, Rada Miejska we Lwowie w okresie autonomii galicyjskiej 1870–1914. Studium o elicie władze [Der Stadtrat in Lemberg im Zeitraum der Autonomie Galiziens 1870–1914. Studie über die Machtelite], Kraków 2012; Ewa Rutkowska, Wyznania i narodowości we Lwowie w latach 1857–1939 na tle ogólnej struktury demograficznej miasta [Die Bekenntnisse und Nationalitäten in Lemberg 1857–1939 vor dem Hintergrund der allgemeinen demografischen Struktur der Stadt], in: Polish Population Review 6, 1995, S. 176–191; vgl. auch Łukasz Tomasz Sroka, Historia i kultura Żydów lwowskich w XIX wieku. Stan badań i postulaty [Geschichte und Kultur der Lemberger Juden im 19. Jh.], in: Krzysztof Pilar-
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1 Einleitung
Warschauer Historiker Aleksander Łupienko43 zur Lemberger Stadtgeschichte. Die Masse der vorliegenden polnischsprachigen Literatur über Lemberg besteht aus Erinnerungen, popularisierenden Darstellungen44 und umfasst eine Vielzahl von Reisehandbüchern und Bildbänden45, die den (polnischen) Bollwerk-Charakter46 darstellen und Ergebnis einer polnischen kresy-(Ostgebiets-)Nostalgie sind. Aus diesem Grunde sind auch zahlreiche ältere Schriften gerade aus der Vor- und Zwischenkriegszeit, wie die Reihe der Biblioteka Lwowska (Lemberger Bibliothek, s. Kap. 6.2.3), im Reprint erschienen. Ukrainische Historiker konnten ebenfalls nicht unabhängig über die Geschichte der seit 1945 westukrainischen Stadt forschen und mussten eine nach den Vorgaben des marxistisch-leninistischen Weltbildes gestaltete Interpretation vorlegen. Daher liegt der Schwerpunkt der ukrainischsprachigen Geschichte Lembergs47 auf der sowjetischen Zeit. Da die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als „kapitalistische“ und „imperialistische“ Periode interpretiert wurde, wurde die Diskussion bürgerlich geprägter Autonomie der Stadt in den Darstellungen marginalisiert.48 Für die postsozialistische
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czyk (Hrsg.), Żydzi i judaizm we współczesnych badaniach polskich [Die Juden und das Judentum in der gegenwärtigen polnischen Forschung], Bd. V, Kraków 2010, S. 197–211; ders., Der Einfluss Wiens auf die polnisch-jüdischen Beziehungen in Galizien im 19. Jahrhundert, speziell in Lemberg und Krakau, in: Rudolf Wichard (Hrsg.), Kreuzwege. Kulturbegegnung im öffentlichen Raum, Krakau etc. 2010, S. 89–101. Aleksander Łupienko, Rivers, Public Hygiene and Urban Feelings. The Case of the Pełtew River in Lviv before 1914, in: Biuletyn Polskiej Misji Historycznej / Bulletin der Polnischen Historischen Mission 14, 2019, S. 363–382; ders., Some Remarks on the Birth of Modern City Planning in the Polish Territories (1850–1914). The Impact of the Hygienic Movement, in: Mĕsto a Dejiny 5, 2016, S. 18–34; ders., Tożsamość polskiego Lwowa w XIX wieku [Polnisches Bewusstsein in Lemberg im 19. Jh.], in: Lechosław Lameński / Elżbieta Błotnicka-Mazur / Marcin Pastwa (Hrsg.), Sztuka pograniczy. Studia z historii sztuki [Kunst der Grenzregion. Studien aus der Kunstgeschichte], Lublin etc. 2018, S. 315–330. So etwa: Mykola Habrel / Elżbieta Kobojek (Hrsg.), L′viv and Łódź at the Turn of the 20th Century. Historical Outline and Natural Environment, Łódź 2013. So z. B. der Band über den Łyczaków-Friedhof: Stanisław Nicieja, Cmentarz Łyczakowski we Lwowie w latach 1786–1989 [Der Łyczaków-Friedhof in Lemberg 1786–1989], Wrocław ²1989. Beispielsweise: Michał Klimecki, Lwów 1918–1919 [Lemberg 1918–1919], Warszawa 1998; Barbara Mękarska-Kozłowska, Lwów. Twierdza Kultury i Niepodległości [Lemberg. Festung der Kultur und Unabhängigkeit], Londyn 1991. Uljana Jaroslavivna Jedlin′ska u. a. (Hrsg.), Istorija L′vova v dokumentach i materialach. Zbirnyk dokumentiv i materialiv [Geschichte Lembergs in Dokumenten und Materialien. Sammlung von Dokumenten und Materialien], Kyïv 1986, die beispielsweise keinerlei Quellen zur kommunalen Autonomie umfasst. Vgl. auch: Oleksandr Šyška, Istoriografija L′vova 1852–1944. Krytyka sučasnoho stanu [Die Historiografie zu Lemberg 1852–1944. Eine Kritik des gegenwärtigen Standes], in: Visnyk Ukraïnoznavstva 296, 1995, S. 138–142; Istorija gorodov i sel Ukrainskoj SSR [Geschichte der Städte und Dörfer der Ukrainischen SSR], Bd. 3 L′vovskaja oblast′ [Der Lemberger Oblast], Kiev 1978. Istorija L′vova: korotkyj narys [Geschichte Lembergs: Kurzer Abriss], L′viv 1956. Gemäß des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes wurden besonders die Folgen der Revolution von 1905 diskutiert, ebd., S. 129–146, die Diskussion der Autonomie erfolgt jedoch auf knapp einer halben Seite (ebd., S. 84 f.). Vgl. auch Jaroslav P. Kis′, Promyslovist′ L′vova u period feodalizmu, 13.–19.
1.1 Forschungsstand
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Geschichtsschreibung war zudem die städtische Autonomie wegen der polnischen Prägung im Gegensatz zur ruthenischen (Nationalbewegungs-)Geschichte nicht attraktiv.49 Erst das durch österreichische Privatinitiative und -mittel im April 2004 gegründete Lemberger Centr Mis′koï Istoriï Central′no-Schidnoï Jevropy (Zentrum für Stadtgeschichte Ostmitteleuropas) trug zu einem erwachenden Interesse an der Stadtgeschichte bei, das angesichts neuerer politischer Entwicklungen derzeit wieder nachlässt. Gerade jüngere, an ausländischen Universitäten wirkende ukrainische Historiker wie Tarik Cyril Amar50 und Markian Prokopovych51 haben in den vergangenen Jahren einen erheblichen Beitrag zur Erforschung der Lemberger Stadtgeschichte geleistet. Wie angedeutet, interessiert sich die westliche Forschung erst seit dem geschichtswissenschaftlichen Paradigmenwechsel für die Lemberger Stadtgeschichte, zumal sie ebenfalls den genannten Zugangsschwierigkeiten unterlag. Daher entstanden zunächst Sammelbände mit Überblicksartikeln, die weniger auf ausführlichen eigenen Recherchen der Autoren beruhen.52 Besonders die Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert rückte auch unter einer verflechtungshistorischen Perspektive in das Forschungsinteresse, nicht zuletzt, weil Lemberg einen besonderen demografischen Wandel durch deutsche Besatzung, sowjetische Bevölkerungsdeportationen und -austausch 1944– 1946/47 sowie Gewaltexzesse erfuhr, welche die Studie Christoph Micks53 in Bezug auf die Kriegserfahrungen und die daraus resultierenden Veränderungen der städtischen Strukturen diskutiert. Können die genannten Studien von Christoph Mick und Tarik Cyril Amar als grundlegende Standardwerke zur Stadtgeschichte im „Zeitalter der Extreme“ gelten,
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st. [Das Gewerbe in Lemberg in der Periode des Feudalismus, 13.–19. Jh.], L′viv 1968, und V. Ju. Malančuk / Petro T. Tronko (Hrsg.), Istorija mist i sil Ukraïns′koi RSR [Geschichte der Städte und Dörfer der Ukrainischen SSR], Bd. 26 L′vivs′ka Oblast′ [Der Lemberger Oblast], Kiev 1968. Z. B. Jurij O. Birjul′ov, (Hrsg.), L′vivščyna. Istoryko-kul′turni ta krajeznavči narysy. Do 130-littja zasnuvannja tovarystva „Prosvita“ [Das Lemberger Gebiet. Historisch-kultureller und landeskundlicher Abriss. Zur 130-jährigen Gründung der Gesellschaft „Prosvita“], L′viv 1998; Ihor Zhuk, The Architecture of Lviv from the Thirteenth to the Twentieth Century, in: John Czaplicka (Hrsg.), Lviv. A City in the Crosscurrents of Culture, Cambridge/MA 2005, S. 95–130; zur jüdischen Geschichte: Vladimir Melamed, Evrei po L′vove (XIII – pervaja polovina XX veka) [ Juden in Lemberg (13. Jh. – erste Hälfte des 20. Jh.)], L′vov 1994. Tarik Cyril Amar, The Paradox of Ukrainian Lviv. A Borderland City between Stalinists, Nazis, and Nationalists, Ithaca 2015. Markian Prokopovych, Habsburg Lemberg. Architecture, Public Space, and Politics in the Galician Capital, 1772–1914, West Lafayette/IN 2009. Der Autor konzentriert sich nur auf diejenige Architektur, die positiv auf das habsburgisch geprägte Lemberg einwirkte. Jedoch blendet er etwa den Bau der Zitadelle in den 1850er Jahren und die Errichtung des polnisch-national konnotierten Mickiewicz-Denkmals aus. Ders., Lemberg (Lwów, L′viv) Architecture 1772–1918. If Not the Little Vienna of the East, or the National Bastion, What Else?, in: East Central Europe 36, 2009, S. 100–129, plädiert für eine auf die Multiethnizität Lembergs ausgerichtete Forschungsperspektive. Neben Fässler/Held/Sawitzki, Lemberg, etwa auch John Czaplicka (Hrsg.), Lviv. A City in the Crosscurrents of Culture, Cambridge/MA 2005. Mick, Kriegserfahrungen.
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1 Einleitung
so hat die neuere Forschung zu Lemberg in einigen umfassenderen monografischen Studien (im Wesentlichen neben Markian Prokopovych: Philipp Ther54, Isabel Röskau-Rydel55 sowie die unveröffentlichte Studie von Hugo Lane56) gerade zu Einzelaspekten der Kultur- und Bildungsgeschichte im 19. Jahrhundert beigetragen. Darüber hinaus sind die Theatergeschichte Lembergs in theaterwissenschaftlichen Studien57, die in Gewalt eskalierende Universitätsfrage58 und das Lemberg-Bild als Teil des Galizien-Mythos59 thematisiert werden. Im Gegensatz zu diesen Arbeiten verfolgt Łukasz Tomasz Srokas60 Studie über die „Machteliten“ des Lemberger Stadtrates einen klassischen sozialhistorischen Ansatz, indem er deren wirtschaftlichen Status ebenso untersucht wie Glaubens- und Nationalitätenverhältnisse und daraus Karrierewege ableitet. Er zeigt somit, dass sich für ein Ratsmandat Personen aus dem (im Wesentlichen polnischen) Establishment bewarben oder zumindest diejenigen, die dahin aufsteigen wollten. Daher dient dieses Werk als Grundlage für die vorliegende Studie zur Diskussion bestimmter Aspekte. Da Sroka einen Schwerpunkt auf die Stadtpräsidenten legt, können sie in dieser Studie als einzelne höchst einflussreiche Akteure erscheinen, ohne dass ihnen ein eigenes biografisch-analytisches Kapitel gewidmet werden müsste. In der Zusammenschau der vorhandenen Literatur wird klar, dass eine die ver54
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Philipp Ther, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, Wien 2006, vgl. hier das vierte Hauptkapitel: Das polnische Theater in Lemberg, S. 181–258. So sprachlich wie gedanklich anregend diese Schrift auch ist, basiert das Kapitel über die Lemberger Oper größtenteils auf der Wiedergabe von Forschungsergebnissen. Vgl. auch ders., Die Bühne als Schauplatz der Politik. Das Polnische Theater in Lemberg 1842–1914, in: ZfO 52, 2003, S. 543–571; ders., War versus Peace. Interethnic Relations in Lviv during the First Half of the Twentieth Century, in: John Czaplicka (Hrsg.), Lviv. A City in the Crosscurrents of Culture, Cambridge/MA 2005, S. 251–284. Röskau-Rydel, Kultur. Hugo Lane, State Culture and National Identity in a Multi-Ethnic Context. Lemberg 1772–1914, PhD University of Michigan 1999. Jerzy Got, Das österreichische Theater in Lemberg im 18. und 19. Jahrhundert. Aus dem Theaterleben der Vielvölkermonarchie, 2 Bde., Wien 1997; Lidia Kuchtówna (Hrsg.), Teatr Polski we Lwowie [Das polnische Theater in Lemberg], Warszawa 1997; Agnieszka Marszałek, Lwowskie przedsiębiorstwa teatralne lat 1872–1886 [Die Lemberger Theaterunternehmen 1872–1886], Kraków 1999. Jan Surman, Universities in Imperial Austria, 1848–1918. A Social History of a Multilingual Space, West Lafayette/IN 2019; Adrian Mitter, National and Transnational Implications of a Local Conflict: The Struggle for a Ukrainian University of L′viv (1900–1914), in: Anna Hanus / Ruth Büttner (Hrsg.), Galizien als Kultur- und Gedächtnislandschaft im kultur- und sprachwissenschaftlichen Diskurs, Frankfurt/Main etc. 2015, S. 57–82. Maria Klańska, Lemberg. Die „Stadt der verwischten Grenzen“, in: Zeitschrift für Germanistik 3, 1993, S. 33–47; Heidi Hein, The Idea of Lviv as a Bulwark against the East, in: Christian Emden / Catherine Keen / David Midgley (Hrsg.), Imagining the City, Bd. 2 The Politics of Urban Space, Oxford 2006, S. 321–338; zum Galizien-Mythos: Dietlind Hüchtker, Der Mythos Galizien. Versuch einer Historisierung, in: Michael G. Müller / Rolf Petri (Hrsg.), Die Nationalisierung von Grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen, Marburg 2002, S. 81–107; Kerstin S. Jobst, Der Mythos des Miteinander. Galizien in Literatur und Geschichte, Hamburg 1998. Sroka, Rada Miejska.
1.1 Forschungsstand
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schiedenen Facetten der Stadtentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammenfassende Perspektive fehlt, zur der diese Studie beitragen soll. Angesichts der jeweiligen Schwerpunkte in den Historiografien erstaunt es letztlich nicht, dass außer Srokas sozialhistorischer Studie zur „Machtelite“ keine neuere Arbeit zur Zeit der städtischen Autonomie Lembergs vorliegt.61 Gerade in der populärwissenschaftlichen Literatur wird häufig (fälschlicherweise) suggeriert,62 dass diese von der Autonomie Galiziens abgeleitet sei, sodass sie gerade in der polnischen Literatur als Besonderheit herausgestellt wird. Zugleich wird die Funktion als polnische „Ersatzhauptstadt“ betont, während eine Kontextualisierung mit der habsburgischen Reichsgemeindegesetzgebung nicht erfolgt ist. Die in diesem Rahmen erfolgende Verortung der kommunalen Autonomie in der Reichsgemeindegesetzgebung stellt bereits eine wichtige Perspektivenkorrektur für die Lemberger Stadtgeschichte dar. Die aus der Nationalisierung und Modernisierung gleichermaßen entstandenen Dynamiken sind ohne wesentliche Impulse der Kommunalpolitik und -verwaltung nicht denkbar. Gerade diese beiden Bereiche sind auch in der Stadtgeschichtsforschung zu westlichen Städten über rechtshistorische Studien hinausgehend in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive bisher kaum analysiert worden. Dies liegt an dem immer noch vorherrschenden Desinteresse an kommunalpolitischen Fragen in der Historiografie und zugleich daran, dass (auch gerade kommunale) Verwaltungsgeschichte grundsätzlich als „wenig lohnende, wenig zukunftsträchtige oder erfolgversprechende Aufgabe“63 gilt. Den Studien insbesondere der vergangenen rund 35 Jahre vor allem zur deutschen Stadtgeschichte ging es darum, verschiedene Aspekte der Kommunalpolitik64 entspre-
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Die einzigen vorliegenden Arbeiten sind: Kazimierz Ostaszewski-Barański, Rozwój król. stoł. Miasta Lwowa (1848–1895) [Entwicklung der Königl. Hauptstadt Lemberg (1848–1895)], Lwów 1895, s. auch Kap. 6.2.2. Es liegt lediglich eine Studie zur Lokalverwaltung in der Zwischenkriegszeit vor: Grzegorz Mazur, Życie polityczne polskiego Lwowa 1918–1939 [Das politische Leben Lembergs 1918–1939], Kraków 2007. Auch etwa Srokas Untertitel „Studium o elicie władzy“ [Studie über die Machtelite] deutet dies an (vgl. Sroka, Rada miejska), ebenso Dominika Hołuj, Samorząd miejski Krakowa i Lwowa w okresie autonomii galicyjskiej [Die städtische Selbstverwaltung Krakaus und Lembergs während der galizischen Autonomie], in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Ekonomicznego w Krakowie 917, 2013, S. 89–108. So Anett Müller, Modernisierung in der Stadtverwaltung. Das Beispiel Leipzig im späten 19. Jahrhundert, Köln etc. 2006, S. 12. Als Desiderat benannt bei: Lutz Niethammer, Stadtgeschichte in einer urbanisierten Gesellschaft, in: Wolfgang Schieder / Volker Sellin (Hrsg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Göttingen 1986, S. 113–136. Beispielsweise Wilfried Ehbrecht (Hrsg.), Verwaltung und Politik in Städten Mitteleuropas. Beiträge zu Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit in altständischer Zeit, Köln etc. 1994; Charlotte Bühl-Gramer, Nürnberg 1850 bis 1890. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und Selbstverwaltung im Zeichen von Industrialisierung und Urbanisierung, Nürnberg 2003; Bettina Tögel, Die Stadtverwaltung Berns, Zürich 2004; Michael Hühner, Kommunalfinanzen, Kommunalunternehmen und Kommunalpolitik im Deutschen Kaiserreich, Münster 1998; Helmut Croon / Wolfang Hofmann / Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung im Zeitalter der
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1 Einleitung
chend der jeweils vorherrschenden Paradigmen zu analysieren.65 Dabei wurden die städtischen (bürgerlichen) Eliten durch die Bürgertumsforschung in den Vordergrund gestellt.66 Sieht man von Studien zur rechtsgeschichtlichen Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung67 ab, bleiben für die Habsburgermonarchie noch zahlreiche diesbezügliche Desiderate offen.68 Es ist dabei aber grundsätzlich zu berücksichtigen, dass in den Kronländern mit slawischer Bevölkerung ein Bürgertum nach mitteleuropäischem Verständnis überhaupt in nur geringem Umfang entwickelt war.69 Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Aufgabe der Stadtverwaltung als „Daseinsvorsorge“70 (Ernst Forsthoff) und damit einhergehend die moderne städtische Selbst-71 und Leistungsverwaltung72 als Interessengebiet historischer
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Industrialisierung, Stuttgart 1971; Felix Czeike, Liberale, christlichsoziale und sozialdemokratische Kommunalpolitik (1861–1934) dargestellt am Beispiel der Gemeinde Wien, München 1962. Neben Fallstudien etwa Friedrich Lenger, Großstädtische Eliten vor den Problemen der Urbanisierung, in: GG 21, 1995, S. 313–337; Georg-Christoph von Unruh, Bürgermeister und Landräte als Gestalter kommunaler Leistungsverwaltung, in: Hans Heinrich Blotevogel (Hrsg.), Kommunale Leistungsverwaltung und Stadtentwicklung vom Vormärz bis zur Weimarer Republik, Köln etc. 1990, S. 43–55; Wolfgang Hofmann, Oberbürgermeister als politische Elite im Wilhelminischen Reich und in der Weimarer Republik, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Oberbürgermeister, Boppard 1981, S. 17–38. Zur deutschen Forschung wegweisend: Lothar Gall (Hrsg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990; Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3. Bde, München 1995. Beate Herget, Die Selbstverwaltung Krakaus 1866–1915. Ein rechtshistorischer Beitrag zur Bedeutung der Statutarstädte in der Habsburger Monarchie, Regensburg 2004; Klabouch, Gemeindeselbstverwaltung; ders., Lokalverwaltung. Mit einem Fokus auf kommunalpolitische Entscheidungen im zu Ungarn gehörenden Kaschau: Frank Henschel, „Das Fluidum der Stadt …“. Urbane Lebenswelten in Kassa/Košice/Kaschau zwischen Sprachenvielfalt und Magyarisierung 1867–1918, Göttingen 2017, insb. S. 55–106. Etwa Oliver Kühschelm, Das Bürgertum in Cisleithanien, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. IX Soziale Strukturen, Teilbd. 1 Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft, Teil 2 Von der Stände- zur Klassengesellschaft, Wien 2010, S. 849–907; Ernst Bruckmüller / Ulrike Döcker / Hannes Stekl (Hrsg.), Bürgertum in der Habsburgermonarchie, Wien etc. 1990; Hannes Stekl / Peter Urbanitsch / Ernst Bruckmüller (Hrsg.), „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit“, Wien etc. 1992. Vgl. zu Galizien auch Claudia Kraft, Das galizische Bürgertum in der autonomen Ära (1868–1919). Ein Literaturüberblick, in: Peter Heumos (Hrsg.), Polen und die böhmischen Länder im 19. und 20. Jahrhundert. Politik und Gesellschaft im Vergleich, München 1997, S. 81–110. Konzeptionelle Grundlage des Begriffs: Ernst Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart 1938. Beispielsweise: Dieter Langewiesche, „Staat“ und „Kommune“. Zum Wandel der Staatsaufgaben in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: HZ 248, 1989, S. 621–635; Peter Schröber, Kommunale Selbstverwaltung. Die Idee der modernen Gemeinde, Stuttgart 1991; Berthold Grzywatz, Staat und Gemeinde im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 34, 1995, S. 30–54. Etwa: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beiträge zur Geschichte der „Sozialstadt“ in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1995; Horst Matzerath, „Kommunale Leistungsverwaltung“. Zu Bedeutung und politischer Funktion des Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hans Heinrich Blotevogel (Hrsg.), Kommunale Leistungsverwaltung und Stadtentwicklung vom Vormärz bis zur Weimarer Republik, Köln etc. 1990, S. 3–24. Exempla-
1.1 Forschungsstand
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Forschung. Wegen des vorherrschenden Modernisierungsparadigmas in der Stadtgeschichtsschreibung wurden Urbanisierung73 und Modernisierung nur als Ergebnis einer (erfolgreichen) Industrialisierung und von dieser abhängigen Urbanisierung verstanden, sodass insbesondere das städtische Sozial- und Gesundheitswesen74, aber auch technische Infrastrukturen75 Aufmerksamkeit erhielten. Die lokalen administrativen und politischen Strukturen sind somit bislang über die reine Verwaltungs- und Rechtsgeschichte hinausgehend praktisch – und dies nicht nur zu Städten Ostmitteleuropas76 – ausgeblendet worden, obwohl diese Bereiche das Zusammenleben in der Stadt wesentlich steuerten und damit Einfluss auf die städtischen Repräsentationsformen, die jeweilige gesellschaftliche Entwicklung und die politische Kultur in der jeweiligen Stadt hatten. Wenngleich die Entwicklung hin zu einem sich um die „Daseinsvorsorge“ kümmernden Gemeinwesen eng mit der Grundsicherung der Bevölkerung (‚soziale Sicherheit‘ als Ziel) verbunden ist, ist sie bislang mit der Frage nach Sicherheit im lokalen Raum und daraus resultierenden Versicherheitlichungsdiskursen (‚Stadt und Sicherheit‘) nicht verknüpft worden. Lediglich implizit werden in medizinhistorischen Arbeiten
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rische Fallstudie: Andrea Fischer, Kommunale Leistungsverwaltung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main unter Mumm von Schwarzenstein 1868–1880, Berlin 1995. Vgl. auch Jiří Kuděla / Jaroslav Láník, Die Tätigkeit des Prager Stadtrates zwischen 1784 und 1882, in: Brigitte Meier / Helga Schultz (Hrsg.), Die Wiederkehr des Stadtbürgers. Städtereformen im europäischen Vergleich 1750 bis 1850, Berlin 1994, S. 321–344; Armin Sipper, Der Grazer Gemeinderat und seine Bürgermeister 1850 bis 1919. Von den Anfängen der Gemeindeselbstverwaltung zu den ersten freien Wahlen. Ein Beitrag zur Geschichte der Kommunalpolitik, Graz 2010. Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Historische und geographische Aspekte, Köln etc. 1983; Horst Matzerath (Hrsg.), Städtewachstum und innerstädtische Strukturveränderung. Probleme des Urbanisierungsprozesses im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984. Z. B. Wolfgang Hofmann / Andreas Ludwig, Soziale Stiftungen und ihr Beitrag zur Gestaltung der sozialen Daseinsvorsorge im 19. und frühen 20. Jahrhundert (am Beispiel Charlottenburgs), in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beiträge zur Geschichte der „Sozialstadt“ in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1995, S. 281–324; Peter Münch, Stadthygiene im 19. und 20. Jahrhundert. Die Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallbeseitigung unter besonderer Berücksichtigung Münchens, Göttingen 1993; Beate Witzler, Großstadt und Hygiene. Kommunale Gesundheitspolitik in der Epoche der Urbanisierung, Stuttgart 1995; Jörg Vögele / Wolfgang Woelk (Hrsg.), Stadt, Krankheit und Tod. Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der epidemiologischen Transition (vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert), Berlin 2000; Jörg Vögele, Sozialgeschichte städtischer Gesundheitsverhältnisse während der Urbanisierung, Berlin 2001. Beispielsweise Dieter Schott, Energie und Stadt in Europa / Energy and the City in Europe, Stuttgart 1997; ders., Die Vernetzung der Stadt. Kommunale Energiepolitik, öffentlicher Nahverkehr und die „Produktion“ der modernen Stadt, Darmstadt – Mannheim – Mainz 1880–1918, Darmstadt 1999; Hans-Liudger Dienel (Hrsg.), Stadt und Verkehr. Themenheft ImS, Berlin 2006. Ausnahme: Sabina Rejman, Działalność samorządów gminnych w zakresie bezpieczeństwa i porządku publicznego w znaczniejszych miastach zachodniogalicyjskich w latach 1889–1914 [Die Tätigkeit der Gemeindeselbstverwaltungen im Bereich der Sicherheit und öffentlichen Ordnung in den bedeutenderen westgalizischen Städten in den Jahren 1889–1914], Rzeszów 2013.
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Fragen wie z. B. der Schutz vor Epidemien behandelt, die über die öffentliche Sicherheit und Ordnung hinausgehen. Im Gegensatz zu diesen Problemstellungen ist insbesondere in der historischen Ostmitteleuropaforschung die Frage nach Nationalisierungsprozessen im öffentlichen städtischen Raum im Rahmen der Analyse von kulturellen Repräsentationen breiter diskutiert worden.77 Hat gerade die neuere, kulturwissenschaftliche Nationalismusforschung diese Fragestellung durchaus intensiv und anhand zahlreicher Beispiele beforscht, so sind Modernisierungs-, Nationalisierungs- und Versicherheitlichungsprozesse noch nicht zusammengeführt analysiert worden. Ein solcher Ansatz würde vor allem ‚ethno-kulturelle‘ resp. ‚national-kulturelle‘78 Sicherheit bzw. die Sicherung des ‚eigenen Nationalen‘ als weiteren Aspekt von Sicherheitsverständnissen in die Fachdiskurse einbringen, zugleich aber auch zu einem erweiterten Verständnis beitragen, warum Nationalismus so fruchtbar bei Vergemeinschaftungsprozessen wirkte und wirkt. Fallstudien wie diese können daher zeigen, dass es vor Ort durchaus auch andere Handlungslogiken und nuancierte(re) Erklärungsmuster gab, sodass sie insgesamt die hier benannten Desiderate füllen und vorliegende Ergebnisse zu Teilaspekten verifizieren, konkretisieren oder auch korrigieren können. Der im Weiteren zu erläuternde konzeptionelle Rahmen und der methodische Ansatz greifen daher zusammenfassend in mehrfacher Hinsicht die benannten Forschungslücken auf, die exemplarisch am Beispiel Lembergs erarbeiten werden können, die über das Desiderat einer modernen, alle Nationalitäten berücksichtigenden Stadtgeschichte zu Lemberg in der zweiten Hälfte des „langen“ 19. Jahrhunderts hinausgehen. 1.2 Konzeptionell-methodische Zugänge Ausgehend von den zugrunde liegenden Leitfragen und Prämissen, befindet sich diese Studie an der Schnittstelle verschiedener konzeptionell-methodischer Zugänge, durch welche anhand der emerging city Lemberg das dynamische Wechselverhältnis von Modernisierungs- und Nationalisierungsprozessen und deren Verschränkung mit Versicherheitlichungsdiskursen dargestellt wird. Hier wird Kommunalpolitik als zentraler Zugang zur Analyse herangezogen, sodass die Studie sich auf diejenigen lokalen Akteure fokussiert, die im Stadtrat vertreten waren.
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Hein-Kircher, Blick, S. 33 ff. Da der Begriff der „nationalen Sicherheit“ im gegenwärtigen Sprachgebrauch mit „staatlicher Sicherheit“ konnotiert wird, werden umschreibend Behelfskonstruktionen gewählt, um Sicherheit als Wertvorstellung von ethnischen resp. nationalen Gruppen und ihren sprachlich-kulturellen Eigenheiten zu umschreiben.
1.2 Konzeptionell-methodische Zugänge
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Wie skizziert, ist Kommunalpolitik für die moderne Stadt bislang kaum als analytischer Zugang genutzt worden.79 Kommunalpolitik wird in dieser Studie als vielschichtiger Zielfindungs-, Verhandlungs- und Entscheidungsprozess im lokalen Raum verstanden, der die Lebenswelten des Einzelnen und von sozialen Großgruppen umfassend prägt und der – wie in der Politik auf gesamtstaatlicher Ebene – durch Machterwerb, -behauptung und das Bestreben zur Durchsetzung partikularer Interessen der städtischen politischen Eliten geprägt wird.80 Kommunalpolitik ist daher wie jede andere Form von Politik soziales Handeln und in ein „Netz von Bedeutungen, Symbolen, Diskursen, in dem – oft widersprüchliche – Realitäten konstruiert“81 werden, eingebunden. Sie dient daher auch dazu, vor Ort neben Machtansprüchen Wertvorstellungen in der Gesellschaft zu implementieren.82 Im 19. Jahrhundert setzte sich mit der zunehmenden Politisierung kommunaler Angelegenheiten schrittweise die Vorstellung von einer notwendigen Mehrheitsfindung und damit verbunden von Opposition durch, wie auch in Lemberg nachzuvollziehen ist: Erst nach der Jahrhundertwende fand in Lemberg eine Unterscheidung nach modernen Parteien in Wahlkämpfen und in den Debatten im Stadtrat statt. Erst mit Einzug der Sozialisten in den Stadtrat wurde von einer „Opposition“ gesprochen, während bis dahin lose Interessengruppierungen vorherrschten. Hieraus ergeben sich die grundlegenden Prämissen für diese Fallstudie: Anders als im Reichsrat oder im Landesparlament mit ihren geringen Anzahlen von Abgeordneten, war Kommunalpolitik eine Möglichkeit für eine vergleichsweise große Zahl von Personen, politisch zu partizipieren und politische Handlungsformen und -logiken zu erlernen, sodass sie auch zur Rekrutierungsquelle für weiteres politisches Personal wurde. Jedoch konnten nicht nur die gewählten 100 Repräsentanten im Lemberger Stadtrat, sondern auch bei mehrfach im Monat stattfindenden Ratssitzungen die anwesenden Zuhörer „auf der Galerie“ bei der Politikgestaltung, bei Zielfindungs- und Entscheidungsprozessen durch Zwischenrufe, Plakate, Applaus etc. mitwirken oder sie zumindest ‚hautnah‘ erleben. Politik wurde hierdurch selbst für die von der Wahl Ausgeschlossenen erlebbar und beeinflusste auch deren Haltungen. Daher wird in der 79
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Vgl. als Überblick in Bezug auf Deutschland: Georg-Christoph von Unruh, Ursprung und Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung im frühkonstitutionellen Zeitalter, in: Thomas Mann / Günter Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Berlin etc. 2007, S. 57–71; Wolfgang Hofmann, Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung von 1848 bis 1918, in: ebd., S. 73–91. Nach der Definition von Karl Rohe, Politikbegriffe, in: Wolfgang Mickel (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, Bonn 1986, S. 349–352, hier: S. 351. Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: GG 28, 2002, S. 574–606, hier: S. 605. Bernhard Löffler, Moderne Institutionengeschichte in kulturhistorischer Erweiterung. Thesen und Beispiele aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Hans-Christof Kraus / Thomas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, S. 155–180, hier: S. 175.
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Darstellung immer wieder darauf hingewiesen, dass die Zuhörer durch gezielte Reaktionen durchaus die Ratspolitik zu beeinflussen versuchten. Nicht zuletzt spielten die Wahlkämpfe zu den Stadtratswahlen, die ein „prädestinierter Ort für die Aushandlung von Macht und von Themen“83 waren, eine wesentliche Rolle für das Verstehen und Erlernen von demokratischen Prinzipien, obwohl in Lemberg bis 1914 nur ca. 7 Prozent84 der städtischen Bevölkerung wahlberechtigt waren. Durch sie wurde die Wählerschaft sowie über einen zunehmend intensiven Straßenwahlkampf auch die gesamte Bevölkerung politisiert und mobilisiert. Aus diesem Grunde zeigt diese Fallstudie auch, wie eine solche Kompetenzverlagerung in die Städte, insbesondere in die Statutarstädte, auf die Modernisierungs- und Urbanisierungsprozesse in der (cisleithanischen) Provinz und deren Durchstaatlichung wirkte. Gerade in diesen Bereichen konnten sich die lokalen resp. nationalen Eliten profilieren, was die Ableitung ihres Führungsanspruchs ermöglichte. Die Realität des autonomen Status Lembergs lag somit weniger in der Gesetzesform begründet, sondern vielmehr in dessen ‚gelebter‘ Form.85 Insgesamt wird Kommunalpolitik als ein wichtiger Baustein des politischen Mobilisierungs- und des – wenn auch nur schrittweise und ansatzweise verlaufenden – gesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses gesehen, der 1918 letztlich auch zur Alternativlosigkeit einer demokratischen Staatsform beitrug. Da die Kommunalpolitik in Lemberg im Wesentlichen von polnischen Ratsherren als polnische Angelegenheit betrieben wurde, trug sie schließlich grundlegend zur Nationalisierung des öffentlichen Raums und damit auch zur Dynamisierung, Verhärtung und schließlich zur Eskalation des Nationalitätenkonflikts bei. Lemberger Kommunalpolitik war ein zentrales polnisches Instrument im Ringen mit den Ruthenen um Aneignung und Sicherung der polnischen Dominanz im öffentlichen Raum. Daher können anhand dieser Fallstudie Politikfelder aufgezeigt werden, die allesamt an der Schnittstelle der verschiedenen Herausforderungen von Modernisierungs-, Nationalisierungs- und diskursiven Versicherheitlichungsprozessen lagen. Die Praktiken, Strategien und Visionen des Lemberger Stadtrates waren somit wegen der zunehmenden Eskalation des Nationalitätenkonfliktes ein sehr eklatantes, aber letztlich nicht untypisches Beispiel für diese Verbindung von politischen Prozessen in der zweiten Hälfte des „langen“ 19. Jahrhunderts in multiethnischen Räumen Ostmitteleuropas. Das schlussendlich überall auszumachende Ziel war es, aus der Urbanisierung, der (notwendigen) Modernisierung, aber auch aus den Nationalisierungsprozessen
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Thomas Mergel, Wahlkampfgeschichte als Kulturgeschichte. Konzeptionelle Überlegungen und empirische Beispiele, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, S. 355–376, hier: S. 355. Vgl. Tab. 3. Zur allgemeinen Bedeutung der Umsetzung im Vergleich zum Gesetzestext: Mergel, Überlegungen, S. 602.
1.2 Konzeptionell-methodische Zugänge
33
den bestmöglichen Weg für die Stadtentwicklung zu finden. Hierbei nutzten die Kommunalpolitiker bewusst Traditionalität und empfanden die unterstellte und empfundene Rückständigkeit und Multiethnizität als wichtige (Handlungs-)Ressourcen. Durch diese Schnittstelle wird deutlich, was das „Versprechen der modernen Stadt“ in einer multiethnisch und multikulturell geprägten Region bedeutete: Artikulierte, sich gegenseitig bedingende Ziele der Ratspolitik waren es daher, Lemberg zu modernisieren, aber zugleich auch zu nationalisieren. Eine Modernisierung ohne Nationalisierung und vice versa war somit in Lemberg, aber auch in anderen multiethnischen Städten Ostmitteleuropas, nicht denkbar. Ihren Ausdruck fand diese Vision in einem ‚Sicherheitsversprechen‘, das sich nicht auf den Schutz vor Kriminalität und Gewalt in der Stadt beziehen konnte, weil die Lemberger Selbstverwaltung nach den Regelungen des Statuts keine Funktion als Polizeibehörde innehatte. Es bezog sich vor allem auf zwei miteinander verwobene Aufgabenbereiche: Zunächst betraf es die Aufgaben der Daseinsvorsorge, die in den Quellen unter „Ordnung“ und dem Ziel eines „schönen Lembergs“ geführt werden. Für den multiethnischen Kontext sich nationalisierender Gesellschaften war die zweite Ebene des Sicherheitsversprechens (fast) noch bedeutsamer: Es ging einerseits um die Sicherung von Lembergs „polnischem Charakter“ angesichts der Selbstzuschreibung, dass Lemberg eine „Ersatzhauptstadt“-Funktion im geteilten Polen einnähme, und andererseits angesichts des Faktums, dass die Stadt auch zum Zentrum der ruthenischen Nationalbewegung, zu deren „Piemont“, geworden war. In den Ratsdebatten und sonstigen Verlautbarungen wird deutlich, dass das „Gemeinwohl“ leitmotivisch beide Bereiche zusammenband und somit letztlich auch synonym für das Lemberger kommunalpolitische Sicherheitsversprechen genutzt wurde. 1.2.1 Heuristische Zugänge: „Modernisierung“ und „Sicherheit“ als Leitbegriffe der Analyse In historischer Perspektive bezieht sich „Modernisierung“86 allgemein auf den Prozess der Entwicklung hin zu denjenigen sozialen, ökonomischen und politischen Systemen, die sich in Westeuropa und Nordamerika zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert herausbildeten und die sowohl in andere europäische Länder als auch global verbreitet wurden. Die verschiedenen Ausgangspositionen der Gesellschaften führten zu unterschiedlichen Variationen von „Moderne“, die Shmuel Eisenstadt pointiert als
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Vgl. Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: ders. / Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 203–232, hier: S. 204.
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1 Einleitung
„multiple modernities“ zusammenfasste.87 Dagegen versteht die Stadtgeschichte in einem traditionellen Sinn unter „Modernisierung“ vor allem die zunehmende technisch-infrastrukturelle Ausstattung der Städte im Zuge der Industrialisierung. Dieses Verständnis unterstützt jedoch das Rückständigkeitsparadigma in Bezug auf die Städte im östlichen Europa,88 zumal mit einigen wenigen Ausnahmen (etwa Lodz/Łódź) eine namhafte Industrialisierung der Städte ausblieb und auch der Urbanisierungsgrad nicht mit dem im westlichen Europa vergleichbar war.89 Unter kulturtheoretischer Perspektive bezieht sich „Modernisierung“ somit auf „einen Komplex miteinander zusammenhängender struktureller, kultureller, psychischer und physischer Veränderungen […]“ und ist „ein Knäuel miteinander verwobener Umwandlungsprozesse […]“90, sodass sie Differenzierung bedingt. Je nach historischer Ausgangslage entwickelten sich unterschiedliche Modernitätsverständnisse und -pfade. Wenn aber unter „Modernisierung“ ein dynamischer Prozess einer vielfältigen Diversifikation verstanden wird, ergibt sich eine neue Sicht auf die Stadtentwicklung im östlichen Europa. Jede Stadt musste wegen ihres besonderen politischen und ökonomischen Kontextes, aber auch wegen ihrer spezifischen ethno-konfessionellen Struktur ein eigenes Entwicklungsmodell finden. Neben dem intensiven Wechselspiel von politischer, sozio-ökonomischer und kultureller Modernisierung und den aus den nationalen Bewegungen entstehenden Dynamiken spielte ein tiefgehender Wissenstransfer in den emerging cities eine wichtige Rolle. Die Akteure konnten sich an best practice-Modellen etwa in Bezug auf Infrastrukturen der Versorgung orientieren und solche Musterlösungen den jeweiligen Bedingungen entsprechend adaptieren.91 Nicht obwohl, sondern weil die Städte Ostmitteleuropas im „Hinterhof der Moderne“92 lagen, entwickelte sich insgesamt ein eigenes Verständnis von Modernität
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Vgl. Shmuel Eisenstadt, Vielfalt der Moderne. Ein Blick zurück auf die ersten Überlegungen zu den „multiple modernities“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, URL: http://www.euro pa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__113/mid__11428/40208214/de-fault.aspx (1.7.2019); vgl. auch Bianka Pietrow-Ennker, Einführung in die Thematik, in: dies. / Carsten Goehrke (Hrsg.), Städte im östlichen Europa. Zur Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2006, S. 7–32, hier: S. 8–13. Vgl. auch: Peter Stachel, Grundprobleme urbaner Kulturen in Zentraleuropa um 1900, in: ders. / Cornelia Szabo-Knotik (Hrsg.), Urbane Kulturen in Zentraleuropa um 1900, Wien 2004, S. 15–36. Vgl. Gantner/Hein-Kircher, Emerging Cities. Vgl. z. B. Lenger, Metropolen, S. 50–53, insb. S. 73; Karl Schlögel, Bürgergesellschaft, neue Urbanität, und die Zukunft der Stadt in Osteuropa, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 2, 2004, S. 394–410; Guido Hausmann, Osteuropäische Stadt oder Stadt in Osteuropa? Ein Beitrag zur Diskussion um „die europäische Stadt“ im 20. Jahrhundert, in: Thomas M. Bohn / Marie-Janine Calic (Hrsg.), Urbanisierung und Stadtentwicklung in Südosteuropa vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, München etc. 2010, S. 29–66, hier: S. 31 ff. Hans van der Loo / Willem van Reijen, Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992, S. 11, vgl. auch S. 12 und 45. Vgl. Gantner/Hein-Kircher, Emerging Cities. Jörg Gebhard, Lublin. Eine polnische Stadt im Hinterhof der Moderne (1815–1914), Köln etc. 2006.
1.2 Konzeptionell-methodische Zugänge
35
und Urbanität.93 Von Bedeutung hierfür ist, dass Modernität und damit verbunden Europäizität als Ausweis nationaler Leistungsfähigkeit interpretiert wurden. „Modernisierung“ bzw. „Modernität“ wurden daher als zentrale Leitkategorien kommunalpolitischen Handelns genutzt.94 Hierdurch wurde „Modernisierung“ zum Ziel und Leistungsversprechen der Kommunalpolitik und damit zur Vision und Legitimationsbotschaft der städtischen politischen Eliten. Wie am Beispiel Lembergs zu zeigen ist, spielte sich die Modernisierung auf mehreren Ebenen und unter dem auch überall in Europa auffindbaren Slogan der „schönen“ Stadt ab, so in der Entwicklung einer modernen Daseinsvorsorge und damit im Aufbau einer Leistungsverwaltung, aber auch in Bezug auf die Entwicklung eines öffentlichen Kommunikationsraumes und der nationalen (polnischen) Repräsentationen. Diese kommunalpolitische Vision wurde mit dem Versprechen von Sicherheit verbunden. „Sicherheit“ bezieht sich zunächst auf ein anthropologisches Grundbedürfnis, den (Ideal-)Zustand der Unversehrtheit von Leib, Leben und Eigentum. Dieser Begriff beschreibt also den Schutz vor höchst unterschiedlichen Bedrohungen, beispielsweise vor der Bedrohung durch Armut, Hunger sowie durch Epidemien/Krankheit („soziale Sicherheit“)95 und nicht zuletzt vor Kriminalität, Gewalt und Krieg („innere“ und „äußere Sicherheit“).96 Da das „Projekt der Moderne doch unter anderem darauf [abzielt], durch soziale Sicherungssysteme Lebensrisiken zu reduzieren“,97 wird „Sicherheit“ zu einem „Kernelement“98 der Kontingenzbewältigung in der Moderne. „Sicherheit“ ist demnach sozial konstruiert, sodass Sicherheits- und damit auch Unsicherheits-/Bedrohungsvorstellungen und -wahrnehmungen je nach sozialem Zusam-
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Etwa Wood, Becoming Metropolitan. Vgl. Jan C. Behrends / Martin Kohlrausch (Hrsg.), Races to Modernity: Metropolitan Aspirations in Eastern Europe 1890–1940, Budapest etc. 2014, S. 3; Nathaniel D. Wood, Not Just the National: Modernity and the Myth of Europe in the Capital Cities of Central and Southeastern Europe, in: Emily Gunzburger Makaš / Tanja Damljanović Conley (Hrsg.), Capital Cities in the Aftermath of Empires. Planning in Central and Southeastern Europe, London 2010, S. 258–269. Im Rahmen der Industrialisierung begann sich der Sicherheitsbegriff von der bisherigen staatsbezogenen Konnotation zu erweitern, indem „soziale Sicherheit“ zu einem Leitmotiv politischen Handelns wurde. Vgl. Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, Stuttgart 1984, S. 831–862, hier: S. 856 ff. Zum erweiterten Sicherheitsbegriff vgl. etwa Emma Rothschild, What is Security?, in: Daedalus 124, 1995, S. 52–98. Tatjana Tönsmeyer / Annette Vowinckel, Sicherheit und Sicherheitsempfinden als Thema der Zeitgeschichte: eine Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History – Online-Ausgabe 7, 2010, H. 2, URL: http://zeithistorische-forschungen.de/16126041-Editorial2-2010 (1.7.2019). Ebd., vgl. auch Udo Zelinka, Sicherheit – ein Grundbedürfnis des Menschen?, in: Ekkehard Lippert / Andreas Prüfert / Günther Wachtler (Hrsg.), Sicherheit in der unsicheren Gesellschaft, Opladen 1997, S. 43–58; Christoph Kampmann, Sicherheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11, Stuttgart 2010, Sp. 1143–1150, hier Sp. 1143 f.
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1 Einleitung
menhang veränderlich sind.99 Folglich stellt „Sicherheit in modernen Gesellschaften […] ein soziokulturelles Wertsystem“100 dar und verweist auf eine gewandelte Wahrnehmung politischer Probleme. Da sich kollektive Sicherheitsvorstellungen also auf einen Ist- und einen angestrebten Sollzustand (Sicherheit als Ziel) einer Gesellschaft beziehen, entsteht daraus politisches, soziales und kommunikatives Handeln mit dem Ziel, „Unsicherheit“ zu vermeiden und ein „sorgloses“ (lat. securus) Leben zu ermöglichen, sodass „Sicherheit als Aufgabe und Funktion politischen Handelns in modernen Gesellschaften“101 gesehen werden muss. Damit wird sie auch zu einem „Schlüssel […] für das Verständnis und die Erklärung individueller und kollektiver Orientierungen und Verhaltensmuster“102, sodass „Sicherheit beziehungsweise Versicherheitlichungsprozesse wichtige Mittel – auch sprachlich-narrativ – der symbolischen Integration von Gesellschaften“ werden und „identitätsbildend oder identitätsverstärkend“103 wirken. Über die bisherige Forschung hinausgehend wird anhand dieser Studie deutlich, dass sie eine solche Bedeutung auch für Nationalitäten bzw. Nationalbewegungen annahm/annimmt: Für diese ist die eigene ethno-kulturelle Sicherheit, also der Schutz vor Assimilation und Akkulturation, ebenso eine zentrale, identitäts- und gruppenbildende sowie -erhaltende Wertvorstellung, wie das Beispiel des „polnischen Charakters“ Lembergs zeigt. Deutlich wird dieser Zusammenhang in Pieter M. Judsons Verständnis von politischem Nationalismus, der zu sehen ist in Habsburg central Europe as a product of imperial structures and regional traditions, not as sui generis expressions of transhistorical ethnic groups the way that nineteenth century activists argued.104
Für dieses Konstrukt ist es bedeutsam, dass die Gemeinschaft durch Selbstbezüge und durch Abgrenzungen von anderen Kollektiven ‚imaginiert‘ wird, etwa indem sie auf spezifische ‚erfundene‘ Traditionen rekurriert.105 Judson verweist in diesem Verständnis implizit auf Versicherheitlichungsdiskurse: Ausführlich: Wolfgang Bonß, Die gesellschaftliche Konstruktion von Sicherheit, in: Ekkehard Lippert / Andreas Prüfert / Günther Wachtler (Hrsg.), Sicherheit in der unsicheren Gesellschaft, Opladen 1997, S. 21–42. 100 Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 53, 2005, S. 357–380, hier: S. 362; vgl. auch ders., Securitization. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz?, in: GG 38, 2012, S. 453–467. 101 E. Conze, Sicherheit als Kultur, S. 380. 102 Ebd., S. 380 und 358, wobei sich E. Conze auf das 20. Jahrhundert bezieht. 103 Zitate: ders., Securitization, S. 466. 104 Pieter M. Judson, The Habsburg Empire. A New History, Cambridge/MA etc. 2016, S. 9. Vgl. auch Philipp Ther, Die Nationsbildung in den multinationalen Imperien als Herausforderung der Nationalismusforschung, in: Andreas Kappeler (Hrsg.), Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung, Köln etc. 2011, S. 37–50. 105 Eric Hobsbawm / Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1993; Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, London 1983. 99
1.2 Konzeptionell-methodische Zugänge
37
Nations mattered most to people when it appeared that their fundamental cultural rights were under threat (usually by another nation). But before they could matter, nationalists had to explain these rights, make them relevant to local social life, and warn when they were threatened.106
Diese These Judsons und die Befunde von Lembergs „polnischen Charakter“ sichern führen somit zum Postulat, den Sicherheitsbegriff auch in dieser Hinsicht zu erweitern, wodurch auch ein Beitrag zu einem vertieften Verständnis von Nationalismus geleistet wird. Gesellschaftliche, politische und soziale Modernisierung verband sich also in den Augen der Zeitgenossen mit dem Ziel, die individuelle und vor allem die kollektive Sicherheit herzustellen. Teile dieser Zielsetzung, des Sicherheitsversprechens, sind letztlich mit der Verlagerung resp. Übertragung von Aufgaben an die untergeordneten Ebenen der staatlichen Hierarchie delegiert worden, sodass den Städten – insbesondere den habsburgischen Statutarstädten – eine besondere Aufgabenmatrix übertragen wurde. Städtische Daseinsvorsorge wurde somit nicht nur zu einem Projekt der technisch-infrastrukturellen und administrativen Modernisierung, sondern in erheblichem Maße auch der „sozialen Sicherheit“ und, wie das Beispiel Lembergs zeigt, in multiethnischen Kontexten zugleich auch der „ethno-kulturellen“ Sicherheit. 1.2.2 Methodische Zugänge: Versicherheitlichung und Kulturgeschichte der Politik Da „Sicherheit“ sich grundsätzlich als (neuere) Analyseperspektive für die Politikgeschichte eignet, die internationale, innerstaatliche und innergesellschaftliche Entwicklungen verklammert,107 kann unter dieser Perspektive auch die enge Verzahnung von Nationalisierungs-, Modernisierungs- und Sicherheitsdiskursen in multiethnischen Kontexten am prägnanten Beispiel der Lemberger Kommunalpolitik nachvollzogen werden. Das Verständnis von „Modernisierung“ und „Sicherheit“ mit ihren vielschichtigen Bedeutungsebenen bedingte das politische Handeln der Lemberger Kommunalpolitik: Sie waren handlungs- und kommunikationsleitende Motive, um die Stadt in erster Linie politisch-national, aber durchaus auch technisch-infrastrukturell den Vorstellungen der politischen Eliten entsprechend zu entwickeln. Damit sieht diese Studie „Modernisierung“ und „Sicherheit“ als zwei grundlegende, sich gegenseitig
106 Judson, Habsburg Empire, S. 10. 107 Vgl. E. Conze, Sicherheit als Kultur, S. 359 und 379. An dieser Stelle ist E. Conze zu erweitern, weil er sich lediglich auf die Zeitgeschichte bezieht. Vgl. Tönsmeyer/Vowinckel, Sicherheit. Zur Analysekategorie: Cornel Zwierlein / Rüdiger Graf, The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History, in: Historical Research 35, 2010, H. 4, S. 7–21, hier: S. 13–17.
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1 Einleitung
bedingende Ziel- und Wertvorstellungen für die polnisch-national konnotierte Stadtentwicklung. Da diese immer wieder in den Diskursen der Entscheidungsfindung mitschwangen, bietet es sich an, die Lemberger Kommunalpolitik unter dieser forschungsleitenden Perspektive mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen einer Politikund Institutionengeschichte zusammenzuführen, um zu einem Verständnis zu kommen, welchen Herausforderungen sich Kommunalpolitik in einer multiethnischen Stadt der Habsburgermonarchie stellen musste und konnte, und welche Praktiken, Strategien und Visionen sie daraus ableitete. Einen heuristischen wie auch methodischen Anknüpfungspunkt und theoretischen Rahmen bietet „Versicherheitlichung“ (securitization108), die einen (komplexen) sozialen Interaktionsprozess in Bezug auf die Wahrnehmung und Darstellung von Sicherheit bzw. Sicherheitsproblemen mit dem Ziel, „Sicherheit“ herzustellen, bezeichnet. Hierbei wird ein Sicherheitsproblem ausgewiesen und in gesellschaftlichen Kommunikations- und Handlungszusammenhängen verbal („Sprechakt“) und nonverbal (etwa durch Praktiken, Routinen, Symbole) verhandelt dargestellt. Durch die inhärente Dramatisierung der Lage erhält es für die Gesellschaft eine hohe Relevanz, wodurch die Akteure über eine entsprechende Politik Gegenmaßnahmen ergreifen: „securitization combines the politics of threat design with that of threat management.“109 Ein politisches Problem wird somit zu einem Sicherheitsproblem, wenn die Akteure resp. Eliten es mit „Sicherheit“ verbinden, kommunizieren und dieses als solches auch von den jeweiligen Adressaten (audience) rezipiert wird. Ein solcher „akteursgesteuerter kommunikativer Prozess“110 ist ebenso wie das dahinterliegende Sicherheitsverständnis als gesellschaftliches Konstrukt historisch wandelbar, sodass Versicherheitlichungsprozesse auch in historischer Perspektive über politische Diskurse und Praktiken gleichermaßen untersucht werden können. Eine „Sicherheitsgeschichte“111 kann daher eine „integrierende Perspektive auf den Wandel von Sicherheit als einen Prozess, der die nationale und internationale Gesell-
108 Zum Kopenhagener politologischen Ansatz der securitization, der in den 1980er Jahren angesichts der Spätphase des Kalten Kriegs formuliert und anschließend weiterentwickelt wurde: Ole Wæver, Securitization and Desecuritization, in: Ronnie D. Lipschutz (Hrsg.), On Security, New York 1995, S. 46–86, hier: S. 54–57; Ronnie D. Lipschutz, On Security, in: ebd., S. 1–23. 109 Thierry Balzacq / Sarah Léonard / Jan Ruzicka, „Securitization“ revisited: theory and cases, in: International Relations 2015, S. 494–531, hier: S. 495. DOI: https://doi.org/10.1177/0047117815596590 (4.7.2019), S. 3; Thierry Balzacq, A Theory of Securitization. Origins, Core Assumptions, and Variants, in: ders. (Hrsg.), Securitization Theory. How Security Problems Emerge and Dissolve, London etc. 2011, S. 1–30, hier: S. 15, betont, dass dies kein rationaler Prozess sein muss. 110 E. Conze, Securitization, S. 457. 111 Cornel Zwierlein, Sicherheitsgeschichte. Ein neues Feld der Geschichtswissenschaften, in: GG 38, 2012, S. 365–386, wonach (ebd., S. 382) auch das Verhältnis „Sicherheit/Staat, Kommune, kleinere Kollektive“ betrachtet werden sollte.
1.2 Konzeptionell-methodische Zugänge
39
schaft produziert, reproduziert und transformiert“112, lenken. Somit definieren die Gestalter von Politik ihr Sicherheitsverständnis auf Grundlage eines „set of assumptions regarding vital interests, plausible enemies, and possible scenarios“113 und nicht durch eine objektive Analyse einer Bedrohung. Dies führt dazu, dass in naming a certain development a security problem, the ‚state‘ can claim a special right, one that will, in the final instance, always be defined by the state and its elites.114
Bezieht sich Ole Wæver hier auf die Staatsebene, so ist jedoch aufgrund der Funktion von „Sicherheit“ als normativem Wert- und Leitbegriff davon auszugehen, dass analoge Mechanismen in anderen Großgruppen und damit etwa auch im lokalen Raum funktionieren, wie am Beispiel der Lemberger Kommunalpolitik auszuführen ist. Die Historizität und Wandelbarkeit des Sicherheitsverständnisses führen dazu, dass sich „zentrale politische Debatten und gesellschaftliche Auseinandersetzungen als Versicherheitlichungsprozesse fassen“115 lassen. Einen Zugriff bietet hierfür die unter dem Einfluss kulturwissenschaftlicher Ansätze entwickelte „neue Politikgeschichte“116, durch die Konzepte wie die „Kulturgeschichte der Politik“117 (Thomas Mergel) resp. des „Politischen“118 (Barbara Stollberg-Rilinger) entstanden sind. Eine Frageperspektive, die Macht und Herrschaft als konstruierte politische Handlungsressourcen sieht, bietet sich als (nicht alleiniger) methodischer Anknüpfungspunkt an, weil sie potentiell alle Felder des Politischen erfassen will, nämlich das „politische Handeln in seinen Vollzügen, politische Institutionen in ihrem Funktionieren, die Konstruktionen politischer Strukturen und Prozesse, aber auch den permanenten Konflikt darum, was eigentlich als ‚politisch‘ (also: wichtig) gelten kann.“119
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Christopher Daase, Sicherheitskultur. Ein Konzept zur interdisziplinären Erforschung politischen und sozialen Wandels, in: Security and Peace 29, 2011, S. 59–65, hier: S. 59. Lipschutz, On Security, S. 10. Wæver, Securitization, S. 54. E. Conze, Securitization, S. 464. Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach / Günther Lottes (Hrsg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 152–164; vgl. auch Birgit Schwelling, Der kulturelle Blick auf politische Phänomene. Theorien, Methoden, Problemstellungen, in: dies. (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004, S. 11–29. Mergel, Überlegungen, dessen Ansichten aus ders., Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf ³2012, resultieren. Zur Kritik vor allem seitens der Sozialgeschichte: Hans-Ulrich Wehler, Kommentar, in: Thomas Mergel / Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 351–366, insb. S. 353. Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005; Andreas Suter, Kulturgeschichte des Politischen. Chancen und Grenzen, in: ebd., S. 29–55. Thomas Mergel, Kulturgeschichte der Politik, Version 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, URL: https://docupedia.de/zg/Kulturgeschichte_der_Politik_Version_2.0_Thomas_Mergel
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1 Einleitung
Ein solcher Ansatz legt den Schwerpunkt auf die Rolle von Kommunikation(sprozessen)120 und untersucht auf diese Weise die prozessual verlaufende und zu vermittelnde Produktion von Ordnungen sowie deren Veränderung, Erhaltung oder gar Abschaffung. Somit stellt er letztlich, so Andreas Reckwitz mit Bezug auf Michel Focault, „ein Analyseprogramm der Gouvernementalität“ dar, das „ein Ensemble von Techniken, von Praktiken des Regierens“ untersuchen will.121 Politische Institutionen wie beispielsweise auch lokale Repräsentationen wirken unter dieser Perspektive als Sozial- und Sozialisationsraum, weil in ihnen in spezifischer, verdichteter Weise untereinander kommuniziert und ausgehandelt wird und sich somit ein besonderes institutionelles und auch ‚soziales‘ Gedächtnis entwickeln kann. Grundsätzlich ergibt sich eine nach spezifischen Mustern verlaufende verbale und nonverbale Kommunikation nach innen, etwa in Verhandlungen über bestimmte Probleme, sowie eine nach außen auf eine audience, auf die Öffentlichkeit, gerichtete. Als Ort von Konfliktaustragungen spiegeln gerade parlamentarische Vertretungen verschiedene gesellschaftliche Haltungen wider, wobei die jeweiligen Gruppierungen häufig auch von informellen Netzwerken geprägt werden. Wie beispielsweise auch im Lemberger Stadtrat entsteht hierdurch eine besondere Gemeinschaftsvorstellung unter den Angehörigen, aber auch in der Außenbetrachtung, sodass die Ratsherren etwa in der Öffentlichkeit als eine besondere Gruppe („der Rat“) wahrgenommen wurden. Diese „Gemeinschaft der Entscheider“122 bedingt auch, dass eigene sprachliche Muster, Codes und Formen der Konfliktaustragung entwickelt werden.123 Unter einer solchen umfassenden Perspektivierung erscheint Kommunalpolitik als ein Kommunikations- und Handlungsraum mit eigenen Codes und kann so auch als ‚Brennglas‘ für gesellschaftliche Haltungen und Werte gesehen werden.
(1.7.2019), S. 3 f.; vgl. Gerhard Göhler, Symbolische Politik – Symbolische Praxis. Zum Symbolverständnis in der deutschen Politikwissenschaft, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, S. 58–69. 120 Vgl. Rudolf Schlögel, Interaktion und Herrschaft. Probleme der politischen Kommunikation in der Stadt, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, S. 115–128. 121 Andreas Reckwitz, Die Politik der Moderne aus kulturtheoretischer Perspektive: Vorpolitische Sinnhorizonte des Politischen, symbolische Antagonismen und das Regime der Gouvernementalität, in: Birgit Schwelling (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004, S. 33–56, hier: S. 45. 122 So der plakative Titel: Thorsten Bonacker, Die Gemeinschaft der Entscheider. Zur symbolischen Integration im politischen System, in: Kai-Uwe Hellmann / Karsten Fischer / Harald Bluhm (Hrsg.), Das System der Politik. Niklas Luhmanns politische Theorie, Wiesbaden 2003, S. 62–79. 123 Vgl. Gerhard Göhler, Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation, in: ders. (Hrsg.), Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken, Baden-Baden 1997, S. 11–64, hier: S. 17–21. Allgemein zu den konzeptionellen Grundlagen dieses Verständnisses: Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt/Main 1984; ders., Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/Main 2000.
1.2 Konzeptionell-methodische Zugänge
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Kommunalpolitik wird infolgedessen als Arena, also als zentrales Handlungsfeld und damit als Ort der lokalen politischen Inszenierung verstanden. „Arena“ wird somit als „‚Ort‘ geregelter Konfliktaustragung und institutionalisierter Problemlösung, aber auch als ein ‚Kampfplatz‘ gesehen, auf dem die jeweiligen Akteure nicht nur ihre widerstreitenden Interessen durchsetzen, sondern auch die prozeduralen Rahmenbedingungen zu verändern trachten“.124
Hierdurch können die spezifischen Interessen sowie Handlungs- und Deutungsmuster der Akteure erklärt und dadurch der Aufstieg, aber auch das „Obenbleiben“ politischer Eliten gezeigt werden.125 In der Arena Lemberger Stadtrat wurden – auch die in informellen Absprachen bereits getroffenen – Entscheidungen und Haltungen zu bestimmten Themen für die Ratskollegen und die Zuschauer argumentativ dargestellt und begründet. Hierdurch können die beteiligten Akteure, die Verfahrensregeln für den Problemlösungsprozess und ebenfalls die Öffentlichkeit (audience) berücksichtigt werden. Sie inkludiert auch die Rolle von Berichterstattern (Medien), von sozialen und politischen Interessengruppen, die in Lemberg z. B. als Zuhörer „auf der Galerie“ vertreten waren, und nicht zuletzt die nicht direkt am Konflikt beteiligten öffentlichen Institutionen. Die Studie liegt mit dieser Herangehensweise im Schnittfeld verschiedener Ansätze und methodischer Herangehensweisen. Hierbei basiert sie auf einem erweiterten Verständnis von Kommunalpolitik, da die Studie weder eine traditionelle rechtshistorische Interpretation des Statuts und des Status als autonome Stadt vornehmen noch eine Infrastrukturgeschichte, eine Geschichte von Stadtimaginationen oder der Entwicklung von Modernisierung und Urbanität in einer als rückständig empfundenen Stadt schreiben will. Sie behandelt vielmehr die polity, also das institutionelle Normengefüge und die sich daraus ergebenden politischen Verfahren und Ordnungen, indem sie die Lemberger Entwicklung in die habsburgische (Gemeinde-)Gesetzgebung, die Position des Rates und der Stadtverwaltung als dessen „Exekutive“ vornimmt. Gleichermaßen beschreibt sie auch die lokalen politics als den „aktiven, durch Verhandlung und Tausch, durch Konflikt und Konsens gezeichneten Prozess der politischen Gestaltung“126, d. h. die Art und Weise, wie der Stadtrat die lokale Politik ‚machte‘. Zugleich behandelt die vorliegende Arbeit die policy des Stadtrats, also den auf die inhaltlichen, 124 Walther Müller-Jentsch, Theorien der industriellen Beziehungen, in: Industrielle Beziehungen 3, 1996, S. 36–63, hier: S. 58 f. 125 Vgl. Karsten Holste / Dietlind Hüchtker / Michael G. Müller, Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, in: dies. (Hrsg.), Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, Berlin 2009, S. 9–21, hier: S. 10. 126 Lemma Politics, in: Klaus Schubert / Marina Klein, Das Politiklexikon. Begriffe – Fakten – Zusammenhänge, Bonn 52011, hier: S. 227.
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1 Einleitung
sachbezogenen Problemlagen bezogenen Willensbildungsprozess, und damit, unter welchen politisch-ideologischen Prämissen er Entscheidungen herbeiführte.127 Grundlegend hierfür ist die Prämisse, dass die Selbstverwaltung in Lemberg aufbauend auf dem Fundament des Statuts durch eine spezifische Form kommunalpolitischer Kultur geprägt wurde. Sie gestaltete die „kulturell bedingte[n] Denkformen und Deutungsmuster der sozialen Wirklichkeit“128 ebenso wie Wert- und Rechtsvorstellungen, „cultural continuities“129 und die traditionellen, ungeschriebenen Regeln des Zusammenlebens sowie vielschichtiger Kommunikationspraktiken. Insgesamt lenkt die Studie den Blick auf verhandelte lokale Themenfelder, zugleich berücksichtigt sie Konstellationen und Beziehungen und auch die Umsetzung, wodurch eine Neubewertung von Maßnahmen, also des Entscheidungs- und Verfahrensprozesses (sofern nachvollziehbar auch des informellen), möglich wird. Hierbei ist nicht nur der Beschluss an sich, beispielsweise über die Assanierung130 von bestimmten Stadtbezirken, von Bedeutung, sondern auch die verbalen und nonverbalen Faktoren der Kommunikation, welche die Beschlussfassung und deren Realisierung begleiteten. Dies ist relevant, da die Aushandlung von Sachfragen auch von sozialer Macht geprägt wird, was sich etwa in der Redeordnung oder in den Reaktionen der Ratsherren und des Publikums zeigt. Eine solche Perspektive auf die Lemberger Geschichte des Kommunalpolitischen gibt Hinweise auf das Selbstverständnis der „Entscheider“ und die vermittelten Werte in Lemberg, die das multiethnische Zusammenleben beeinflussten: Die visionäre „Botschaft“ der Kommunalpolitik eines „polnischen schönen“ Lembergs entwickelte sich nur im Zusammenspiel von autonomen Handlungsspielräumen des Rates, seiner Praktiken, Strategien und der Kommunikation über das, was man als handlungsleitende „Mission, Lemberg für die polnische Nation zu sichern“ zusammenfassen kann. 1.3 Aufbau und Quellen der Studie Diese Botschaft fand ihren Widerhall in kommunalpolitischen Praktiken und Strategien, die jedoch erst seit der Erlangung kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit und der damit einhergehenden Politisierung der Gemeindeverwaltung möglich wurden.
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Vgl. Wehling, Kommunalpolitik, S. 287. Otto G. Oexle, Geschichte als historische Kulturwissenschaft, in: Wolfgang Hardtwig / Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 14–40, hier: S. 15. Vgl. Löffler, Institutionengeschichte, S. 162; vgl. auch Wolfgang Reinhardt, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 18–21, 93, 125–140. Da der Begriff in den Quellen verwendet wird, wird er im Weiteren in dieser Studie anstelle des heute üblichen Terminus „Sanierung“ genutzt. Als zeitgenössische Definition vgl. Attilio Rella, Die Assanirung der Städte in Oesterreich-Ungarn 1848–1898, in: Zeitschrift des Oesterreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereins 51, 1899, H. 17, S. 273–282, hier: S. 273.
1.3 Aufbau und Quellen der Studie
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Daher soll keine histoire totale der Lemberger Geschichte zwischen 1848/49 und 1914 geschrieben werden, genauso wenig wie über diese Perspektive Stadtpräsidenten und Ratsherren oder etwa auch Vereine und Parteien als einzelne (sozial-)historisch fassbare Gruppe besonders fokussiert werden. Es sollen vielmehr Schneisen durch zentrale Themenfelder geschlagen werden, durch welche die grundlegenden Diskurse und Praktiken, Strategien und Visionen sowie Wertvorstellungen der Lemberger kommunalpolitischen, vor allem polnischen Akteure sichtbar gemacht werden können. Da Kommunalpolitik als polnische Arena ‚gesichert‘ wurde, müssen in dieser Studie weitere, noch tiefergehend zu beforschende Aspekte lokaler (Teil-)Öffentlichkeiten, insbesondere der ruthenischen und jüdischen Bevölkerungsgruppen, weitestgehend ausgespart bleiben. Die Studie konzentriert sich hierbei auf die Epoche der sich entwickelnden und festigenden kommunalen Autonomie zwischen den 1860er Jahren und dem Beginn des Ersten Weltkriegs, der die entsprechenden Prozesse wegen der russischen Besatzungsherrschaft und der anschließenden habsburgischen Militärverwaltung beendete. Zunächst zeichnet das historisch einordnende zweite Kapitel die Entwicklung Lembergs seit seiner Inkorporation in die Habsburgermonarchie 1772 und das Aufkeimen von polnischen Forderungen nach Partizipation während der Revolution 1848/49 nach, die durch grundlegende Vorschriften der habsburgischen Gemeindegesetzgebung weiter forciert wurden. Dabei schafft dieses Kapitel die Voraussetzung, um Lembergs differentia specifica zu anderen Städten der Monarchie aufzuzeigen. Die polnischen städtischen Eliten nutzten die rechtlichen Möglichkeiten, die Arena Stadtrat als Resonanzraum für ihren Führungsanspruch auszubauen, die im dritten Kapitel analysiert werden. Daher fokussiert dieses die Entwicklung und die Praxis der rechtlichen Regelungen, wodurch die polnischen politischen Eliten ihren Einfluss gegenüber Juden und Ruthenen sichern und sich den Partizipationsforderungen insbesondere nach 1907 vor allem der ruthenischen Kräfte entgegenstellen konnten. Der in den Augen des Rates durch die rechtlichen Regelungen resp. die Rechtspraxis manifest gewordene und zu sichernde „polnische Charakter“ der Stadt wurde als argumentative Grundlage für die kommunalpolitischen Praktiken und Zielvorstellungen genutzt, nicht zuletzt für die Stadtentwicklungspolitik, die im vierten Kapitel hinsichtlich wesentlicher Problemfelder analysiert wird. Das ‚Herzstück‘ des Bestrebens, den „polnischen Charakter“ Lembergs zu sichern, war die städtische Bildungs- und Kulturpolitik, die im anschließenden fünften Kapitel diskutiert wird. Durch sie versuchten die Ratsherren, ihre nationalen und sprachpolitischen Vorstellungen in der Bevölkerung zu implementieren und hierdurch den eroberten „polnischen Charakter“ der Stadt zu stärken und zu verteidigen. Das letzte Hauptkapitel greift nochmals dieses Bestreben auf, indem es dessen Verankerung im Geschichtsbewusstsein und die daraus resultierende mission civilisatrice131
131
Vgl. zum Begriff Kap. 6.3.
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1 Einleitung
des Stadtrates diskutiert. Ziele waren, die Leistungen des Stadtrates herauszustellen, den polnischen Führungsanspruch zu legitimieren und die notwendige, unbedingte Loyalität zum Herrscherhaus zu artikulieren, was zugleich zu einer Marginalisierung der multiethnischen Traditionen der Stadt führte. Das Fazit führt schließlich die verschiedenen Aspekte kommunalpolitischer Praktiken und Diskurse zusammen, aus denen sich Handlungsstrategien als Leistungsziele und Visionen ergaben, indem das Fazit den „polnischen Charakter“ als Essenz des Zusammenspiels von Versicherheitlichungsdiskursen, Modernisierungs- und Nationalisierungspolitik betrachtet. Um die aufgeworfenen Leitfragen und die daraus abgeleiteten Schwerpunkte dieser Studie vor der Folie des Forschungsstandes zu Lemberg, zur Stadtgeschichte (Ostmitteleuropas) sowie zur Geschichte der Habsburgermonarchie und der grundlegenden konzeptionellen Überlegungen analysieren zu können, müssen vor allem jene Quellen herangezogen werden, die über die kommunalpolitischen Entscheidungen, Praktiken und nicht zuletzt Diskurse Aufschluss geben, die wiederum durch einen Rückbezug auf die vorliegende Forschungsliteratur überprüft werden müssen. Daher werden zur Analyse der ‚polnischen Arena‘ im Wesentlichen (polnischsprachige) Quellen herangezogen, die über die Intentionen der wichtigsten kommunalpolitischen Akteure, also der vorwiegend polnischen Ratsherren, Aufschluss geben. In erster Linie sind dies die Bestände im Deržavnyj Archiv L′vivs′koï Oblasti (Staatsarchiv des L′viver Oblast, DALO), insbesondere der Fond 3 „Magistrat“, der sich nach einer Reorganisation Ende der 1990er Jahre in einem eher desolaten Zustand befindet. Um jedoch nicht ausschließlich auf Haltungen und Interpretationen von kommunalpolitischen Diskursen und Praktiken aus Sicht des Stadtrates zurückzugreifen, wird diese Perspektive ‚gegengelesen‘ durch die Überlieferungen im Central′nyj Deržavnyj Istoryčnyj Archiv Ukraïny, m. L′viv (Zentrales Historisches Staatsarchiv, Stadt L′viv, CDIAL), insbesondere des großen Fonds 146 „Statthalterei“ und in geringerem Maße der Reichsverwaltung des Inneren132 (Österreichisches Staatsarchiv, ÖStA, in Wien), sowie kleinere Aktenbestände im Archiwum Akt Nowych (Archiv der Neuen Akten, AAN, Warschau) und des Archivum Główne Akt Dawnych (Hauptarchiv der Alten Akten, AGAD, Warschau). Aufgrund des teilweise schlechten Zustands des Magistratsbestandes nach der unvollständigen Reorganisation Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre war die Konsultation der örtlichen Presse zwischen 1848 und 1914 notwendig. Die Zeitungen, die größtenteils in den verschiedenen digitalen polnischen Bibliotheken, insbesondere der Jagiellonischen Digitalen Bibliothek sowie in den Angeboten der Österreichischen
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Die Überlieferung des Städtewesens gehört zu den teilweise vernichteten oder erheblich beschädigten „Brandakten“ des Jahres 1927.
1.3 Aufbau und Quellen der Studie
45
Nationalbibliothek zu recherchieren sind,133 sind für die Rekonstruktion des Verlaufs von Ratssitzungen von Relevanz, zumal sie ausführlicher als die überlieferten Ergebnisprotokolle berichten konnten. Sie sind auch in Bezug auf die Berichterstattung über hier interessierende Wahlkämpfe, relevante Sitzungen des Landtags (sejm krajowy) und für die Stadtentwicklung von Bedeutung, da sie einerseits an die Öffentlichkeit als audience gerichtet und andererseits meist Sprachrohr bestimmter politischer Richtungen waren. Besonders bedeutsam ist die von der Statthalterei als kombiniertes Nachrichten- und Amtsblatt herausgegebene Gazeta Lwowska134 (Lemberger Zeitung, GL), die teilweise sehr genau den Verlauf und die Beschlussfassung der Ratssitzungen wiedergab, und des Dziennik Lwowski (Lemberger Amtsblatt, DzL) als Amtsblatt der Stadtverwaltung, der zwischen 1906 und 1914 sämtliche Protokolle und Entscheidungen der Stadtverwaltung zusammenfasste. Für die Analyse wurde diese Berichterstattung durch eine punktuelle, ereignisgerichtete Durchsicht weiterer Tageszeitungen überprüft, die bestimmte politische Richtungen und Bevölkerungsgruppen repräsentierten.135 Wegen des starken lokalen Bezugs sind die Periodika der Lemberger Liberalen von Bedeutung, die seit der Jahrhundertwende in der polnischen Nationaldemokratie aufgingen: des zunächst fortschrittlichen, aber zu nationaldemokratischem Gedankengut tendierenden Dziennik Lwowski (Lemberger Tageszeitung, DL – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Amtsblatt DzL) sowie des liberal-demokratischen Słowo Polskie136 (Das Polnische Wort, SP), das die erste moderne Zeitung in Galizien war. Mit der Änderung der Besitzverhältnisse änderte sich die jeweilige Ausrichtung der Periodika, da nationalde-
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Jagiellońska Biblioteka Cyfrowa, URL: http://jbc.bj.uj.edu.pl/dlibra; ANNO/AustriaN Newspapers Online, URL: http://anno.onb.ac.at (1.7.2019). Sie war daher zu einer gewissen „gelenkten“ Objektivität und Landesperspektive verpflichtet und berichtete, wenn auch in einem trockenen Stil, kompetent und sehr informiert über die kommunalpolitischen Ereignisse wie auch über Verlautbarungen des Magistrats. Sie erschien bis 1867 in deutsch- (Lemberger Zeitung, LZ) und polnischsprachigen Ausgaben (Gazeta Lwowska) und nahm eine zentrale Rolle zur Informationsvermittlung in Galizien ein, zumal sie seit den 1870er Jahren den Nachrichtenteil zunehmend ausbaute. Für sie arbeiteten zahlreiche bekannte Publizisten und Intellektuelle wie Karol Szajnocha und Józef Szujski. Vgl. Marian Tyrowicz, Prasa Galicji i Rzeczypospolitej Krakowskiej 1772–1850. Studia porównawcze [Die Presse Galiziens und der Krakauer Republik 1772–1850. Vergleichende Studien], Kraków 1979, S. 43; Jerzy Jarowiecki, Prasa lwowska w dobie popowstaniowej [Die Lemberger Presse in der Zeit nach dem Aufstand], in: ders. (Hrsg.), Kraków – Lwów. Książki, czasopisma, biblioteki XIX i XX w. [Krakau – Lemberg. Bücher, Zeitungen, Bibliotheken im 19. und 20. Jh.], Kraków 1996, S. 98–116, hier: S. 102; ders., Dzieje prasy polskiej we Lwowie do 1945 roku [Geschichte der polnischen Presse in Lemberg bis 1945], Kraków etc. 2008, S. 71, nennt eine Auflagenhöhe von 2.500. Vgl. die Überblicke: ebd., S. 45–118; Harald Binder, Das polnische Pressewesen, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VIII Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, Teilbd. 2 Die Presse als Faktor der politischen Mobilisierung, Wien 2006, S. 2037–2090. Vgl. Jarowiecki, Dzieje, S. 81.
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1 Einleitung
mokratische Herausgeber 1902 das Blatt erwarben.137 Im zweimal täglich erscheinenden und eine Auflage von bis zu 20.000 erreichenden Słowo Polskie publizierten seitdem die wichtigen nationaldemokratischen Ideologen Jan Popławski und Roman Dmowski,138 sodass seine Analyse die Haltungen der Nationaldemokraten zu bestimmten Problemen der Kommunalpolitik deutlich widerspiegelt. Es wurde aber nicht nur von der nationaldemokratischen Inteligencja gelesen. Um die Positionen des linken Parteienspektrums zu überprüfen,139 wird vor allem auf den seit 1883 erscheinenden Kurjer Lwowski140 (Lemberger Kurier, KL) rekurriert, der zunächst als radikalste polnische Zeitung galt, sich aber seit den 1890er Jahren zunehmend die Position der galizischen Bauernpartei (Stronnictwo Ludowe) zu eigen machte. Dagegen gab es keine auf Lemberg ausgerichtete sozialdemokratische Zeitung, die bezüglich kommunalpolitischer Fragen konsultiert werden könnte. Ähnliches gilt etwa für den jüdischen, polnischsprachigen Izraelita (Der Israelit, 1866–1915) und jiddischsprachige Blätter. Zentral hingegen ist die Analyse des ruthenischsprachigen Dilo (Die Tat)141, da dessen Artikel Aufschluss über die Haltung der in Lemberg lebenden Ruthenen aus Perspektive der ruthenischen Nationaldemokraten geben und nicht nur als Korrektiv der polnischen Darstellung, sondern auch als scharfe Kritiker der von den polnischen Eliten betriebenen Kommunalpolitik wirkten. Darüber hinaus sind noch für die interne Verwaltung wie auch für eine Öffentlichkeit bestimmte Drucksachen des Magistrats, Gesetzessammlungen und rechtliche Abhandlungen etc. von grundlegender Bedeutung, da sie Aufgabenbereiche und Haltungen der Verwaltung sowie das Wechselspiel mit dem Stadtrat widerspiegeln; hinzugezogen werden zudem statistische Erhebungen und weitere Publikationen wie Rechenschaftsberichte mit amtlichem Charakter. Die hier behandelte Zeit zeichnet
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Vgl. ebd., S. 77–80. Auflagenhöhe nach Jarowiecki, Dzieje, S. 71: durchschnittlich von 11.000 Exemplaren. Vgl. ebd., S. 113–118. Im Text wird der polnische Begriff inteligencja verwendet, um auf die besondere Struktur dieser Personengruppe aufmerksam zu machen: Ihr sind Funktions- und Bildungseliten gleichermaßen zuzurechnen, die unterschiedliche Berufe ausüben und unterschiedlichen Klassen entstammen, aber mehr oder weniger gebildet ihr Einkommen selbst verdienen und sich dem Dienst an der polnischen Nation verpflichtet sehen, sodass ihre Angehörigen zu den Trägern der nationalen Bewegung wurden. Vgl. die Definition bei Jerzy Jedlicki, Foreword, in: Maciej Janowski, Birth of the Intelligentsia, 1750–1831. A History of the Polish Intelligentsia, Part 1, Frankfurt/ Main 2014, S. 7–25, hier: S. 11. 140 Auflagenhöhe ab 1863 nach Angelique Leszczawski-Schwerk, „Die umkämpften Tore zur Gleichberechtigung“. Frauenbewegungen in Galizien (1867–1918), Wien etc. 2005, S. 186: 1.200 bis 7.000; Jarowiecki, Dzieje, S. 71 nennt eine Höhe von 4.000 Exemplaren. 141 Vgl. ebd., S. 185. Auflage ab 1899 nach Leszczawski-Schwerk, „Die umkämpften Tore“, S. 186: 3.000 bis 6.000 Exemplare. Dilo war die auflagenstärkste und einflussreichste ruthenische Zeitung, insbesondere für die ruthenischen Eliten, vgl. Mick, Kriegserfahrungen, S. 57; Lane, State Culture, S. 311. Vgl. auch Harald Binder, Das ruthenische Pressewesen, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VIII Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, Teilbd. 2 Die Presse als Faktor der politischen Mobilisierung, Wien 2006, S. 2091–2116.
1.3 Aufbau und Quellen der Studie
47
sich durch eine zunehmende kommunalpolitische Mobilisierung aus, sodass neben gedruckten ausführlichen Ratsvorlagen bzw. den fachlichen Stellungnahmen der zuständigen Ausschüsse entsprechend Memoranden, Pamphlete, (Wahlkampf-)Broschüren, Plakate etc. in meist geringer Auflagenhöhe publiziert wurden, die teilweise im Selbstverlag oder im Verlag der Tageszeitungen erschienen. Sie sind vor allem in der CDIAL-Bibliothek und in den beiden Lemberger wissenschaftlichen Bibliotheken (L′vivs′ka Nacional′na Naukova Biblioteka Ukraïny imeni Vasylja Stefanyka / Universitäts- und Nationale Wissenschaftliche Stefanyk-Bibliothek der Ukraine in L′viv, BS) sowie insbesondere im Polnischen Nationalinstitut Ossolineum (Zakład Narodowy im. Ossolińskich, ZNiO) in Breslau (Wrocław) überliefert. Interessant ist schließlich die Feststellung, dass in den zahlreichen Autobiografien, Memoiren und anderen Egodokumenten die Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung überhaupt nicht thematisiert wird. Selbst bei führenden Kommunal- und Landespolitikern wird sie allenfalls am Rande erwähnt, so etwa bei dem im ZNiO liegenden Bestand des Vizestadtpräsidenten Tadeusz Rutowski oder in den Tagebüchern des ersten Stadtpräsidenten der Autonomiezeit und späteren Ministers für Galizien, Florian Ziemiałkowski.142 *** Abschließend sei in Bezug auf die angewandte Terminologie angemerkt, dass in der Darstellung der Stadtname Lemberg und nicht polnisch Lwów oder ukrainisch L′viv (mit Ausnahme der Bezeichnungen von gegenwärtigen Institutionen) aus zwei Gründen verwendet wird: Es wird die Geschichte der Stadt während der österreichischen Herrschaft behandelt, sodass die territoriale Zugehörigkeit im Untersuchungszeitraum die Verwendung dieses Namens genauso rechtfertigt wie eine leichtere Lesbarkeit für den deutschsprachigen Leser, zumal Lemberg als Ortsname eine allgemein gebräuchliche deutsche Namensversion ist. Entsprechend wird in der Darstellung die lokale, zumeist unierte griechisch-katholische Bevölkerung Lembergs (und Galiziens) in der in dieser Studie benutzten habsburgischen Diktion als „ruthenisch“ resp. „Ruthenen“ bezeichnet, sofern sich der Text auf die Zeit vor 1914 bezieht. Hiermit wird der
142 Vgl. Floryan Ziemiałkowski, Pamiętniki [Erinnerungen], 4 Bde., Kraków 1904; Zbigniew Fras, Florian Ziemiałkowski (1817–1900). Biografia polityczna [Florian Ziemiałkowski (1817–1900). Politische Biografie], Wrocław etc. 1991, S. 137–144, verdeutlicht, dass das Amt des Stadtpräsidenten nur eine Durchgangsstation auf der Karriereleiter war, sodass der Verfasser Ziemiałkowskis kommunalpolitische Tätigkeiten nicht analysiert. Ders., Demokraci w życiu politycznym Galicji w latach 1848–1873 [Die Demokraten im politischen Leben Galiziens in den Jahren 1848–1873], Wrocław 1997, widmet sich auch nicht ihrer Rolle in den Städten.
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1 Einleitung
offizielle habsburgische Terminus, der von der latinisierten Form der Rus′ abgeleitet wurde, zur Bezeichnung der in der Donaumonarchie lebenden Ostslawen verwendet.143 In pragmatischer Weise wird mit gängigen Namen resp. Bezeichnungen verfahren: Hier werden die im behandelten Zeitraum aktuellen Straßennamen und Bezeichnungen von Institutionen verwendet, sofern es wie beim „Städtischen Theater“ / „Teatr miejski“ keine eingängige adäquate deutsche Form gibt. Häufig finden sich in den Quellen und in der Literatur unterschiedliche Schreibweisen der Eigennamen, mögliche Varianten werden daher durch eckige Klammern im Register ergänzend aufgeführt. Um alle im Text vorkommenden fremdsprachigen Bezeichnungen besser kenntlich zu machen, werden sie im Fließtext kursiv gesetzt und bei der erstmaligen Erwähnung übersetzt; zum besseren Verständnis wird nach längeren Passagen eines selten verwendeten Begriffes nochmals die deutsche Übersetzung genannt. Bei zitierten Titeln wird der in der Titelei angegebene Ortsname verwendet; Datumsangaben in der ruthenischen Zeitung Dilo werden – wie damals üblich – mit den Tagesangaben alten und in Klammern neuen Stils vermerkt. In Zitaten und Titeln wird die ursprüngliche, heute teilweise veraltete Orthografie belassen. Bei den Übersetzungen von Zitaten wurde versucht, möglichst nah an den damaligen Begrifflichkeiten zu bleiben, sodass gerade in Bezug auf die jüdische Bevölkerung die jeweilige Wortwahl entsprechend übersetzt wird: z. B. „starozakonny“: „altgläubig“, „izraelita“: „Israelit“. Notwendige Ergänzungen zur Erklärung bestimmter Begrifflichkeiten wurden in eckigen Klammern von der Autorin eingefügt. Sofern es amtliche, publizierte oder zeitgenössische deutschsprachige Übersetzungen144 gibt, werden diese zitiert, was aus den bibliografischen Angaben erkennbar ist; ansonsten stammen alle Übersetzungen von der Verfasserin.
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Erst im Ersten Weltkrieg ging die Staatsverwaltung allmählich zur Bezeichnung „Ukrainer“ über, während in der Vorkriegszeit „ukrainisch“ resp. „Ukrainer“ ein politisches Bekenntnis beinhaltete, nämlich zu einer eigenen „ukrainischen“ Nation zu gehören. 144 Da Gesetzestexte bzw. Verordnungen und Kundmachungen nicht nur für den inneren galizischen Gebrauch veröffentlicht wurden, sondern auch für die übrigen Behörden lesbar sein mussten, gab es immer eine offizielle deutschsprachige Fassung, (s. ALEX – Historische Rechts- und Gesetzestexte Online, URL: http://alex.onb.ac.at). Ebenfalls mussten alle offiziellen Schreiben, die an die politischen Behörden auf Reichsebene gerichtet wurden, auf Deutsch verfasst werden.
2 Von der kommunalen Vermögensverwaltung zur beginnenden Politisierung der Gemeindeangelegenheiten Wie im Laufe von Lembergs „polnischen Charakter“ sichern zu zeigen ist, vertrat der Stadtrat den Anspruch, dass Lemberg „immer“ eine polnische Stadt gewesen sei.1 Daher fügte er etwa dem Statutentwurf 1866 zahlreiche Abschriften von Privilegierungen Lembergs und der dort lebenden Polen aus der Zeit der Adelsrepublik bei, als er ihn dem Landtag zur Genehmigung überstellte. Hiermit wollte er mit historischen Belegen den polnischen Anspruch auf die Stadt rechtfertigen. Auch bei den weiteren kommunalpolitischen Diskursen und Praktiken, insbesondere hinsichtlich der Geschichtspolitik, bezog sich der Rat auf die Vergangenheit Lembergs als polnisches „Bollwerk“ (s. Kap. 6.3). Daher ist es für ein besseres Verständnis wichtig, zunächst die Eckpunkte der Geschichte Lembergs als Grundlage der weiteren Ausführungen zu skizzieren, durch die deutlich wird, wie fragil dieses Postulat war. Nachdem Lemberg um 1250/55 von einem Abkömmling der im ostslawischen Raum weitverzweigten Kiewer Rjurikidendynastie, dem Fürsten von Halyč Danylo Romanovyč, gegründet worden war, wurde es von dessen Sohn Lev 1264 zur fürstlichen Residenz bestimmt. Hatte sich Lemberg bereits während dieses Zeitraums zu entwickeln begonnen, so erhielt es drei Jahre nach der endgültigen Eroberung durch den polnischen König Kazimierz Wielki im Jahr 1353 das Magdeburger Stadtrecht verliehen, wodurch eine städtische Selbstverwaltung eingerichtet wurde. Spätestens seitdem Lemberg Residenzstadt unter Lev geworden war, siedelten sich neben den ruthenischen Adligen und Würdenträgern auch Deutsche, Polen, Armenier, Tataren und Juden2 sowie später auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Bedeutung
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Diese befinden sich im CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856. Heidemarie Petersen, Judengemeinde und Stadtgemeinde in Polen. Lemberg 1356–1581, Wiesbaden 2003. Zu den ethnischen Gruppen: Myron Kapral′, Nacional′ni hromady L′vova XVI–XVIII st. (social′no-pravovi vzaemyny) [Nationale Gemeinschaften in Lemberg, 16.–18. Jh. (sozial-rechtliche Beziehungen)], L′viv 2003.
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2 Von der Vermögensverwaltung zur Politisierung der Gemeindeangelegenheiten
der Stadt Italiener, Engländer und Schotten an. Durch das Magdeburger Stadtrecht konnte sich die städtische Selbstverwaltung der privilegierten Deutschen und damit ihr zentraler Einfluss auf die Stadt3 entwickeln, während die Armenier zwar eine eigene Selbstverwaltung hatten, in Gerichts- und Verwaltungsangelegenheiten aber wie die Ruthenen den katholischen Stadtbehörden unterworfen waren. Am Ende des 16. Jahrhunderts lebten ca. 20.000 Einwohner in der Stadt, von denen ca. 50 Prozent Polen und Deutsche sowie je ca. 20 Prozent Ruthenen und Juden und ca. 10 Prozent Armenier waren. Die Armenier und Ruthenen besaßen nur begrenzte Bürgerrechte ohne Stimm- und Wahlrecht, auch die Juden blieben von der städtischen Selbstverwaltung ausgeschlossen. Sie nahmen jedoch eine Sonderstellung ein, weil sie überwiegend in der Krakauer Vorstadt lebten und dem königlichen Starosten unterstanden. In religiösen und wirtschaftlichen Angelegenheiten privilegiert, waren die Juden Mitte des 15. Jahrhunderts nach einem Vergleich zwischen Stadtrat und dem zuständigen Starosten als Konkurrenz der Zünfte zurückgedrängt worden. Nachdem die Juden erstmals durch einen zwischen ihrer Gemeinde und dem Stadtrat geschlossenen Vertrag 1581 in wirtschaftlicher Hinsicht zumindest partiell in die Stadtgesellschaft integriert worden waren, gewann die jüdische Bevölkerung an Wirtschaftskraft. Diese Entwicklung führte seit dem 17. Jahrhundert immer wieder zu antijüdischen, teilweise durch den Jesuitenorden geschürten Ausschreitungen. Im Zuge des wachsenden Einflusses des Adels auf die Stadt seit dem 16. Jahrhundert akkulturierten sich schrittweise Teile der Bevölkerung zur polnischen Kultur: Die noch 200 bis 300 ansässigen Armenier wurden, wie bereits die Deutschen während des 17. Jahrhunderts, im 18. Jahrhundert ‚polonisiert‘, behielten aber ihre eigene Konfession bei und spielten keine bedeutende Rolle hinsichtlich der Gemeindeverwaltung. Die unter König Zygmunt II. erfolgte rechtliche Gleichstellung der Ruthenen ignorierte der Stadtrat. Es gelang den Ruthenen erst 1745 nach mehreren Prozessen gegen ihre selbst im Vergleich zu den Armeniern untergeordnete Stellung, Zugang zu den städtischen Ämtern gewährt zu bekommen. Die multiethnische Bevölkerungsstruktur führte dazu, dass Lemberg Sitz gleich mehrerer Bischöfe resp. Erzbischöfe war: des armenischen (1365), des römisch-katholischen Erzbischofs von Halyč (1375) und nicht zuletzt des ruthenischen orthodoxen, seit 1700 griechisch-katholischen Bischofs (1539, seit 1808 als Metropolit).4 Im Unterschied zu anderen polnischen Städten wie etwa Krakau oder Posen (Poznań) konnte sich der Protestantismus in Lemberg nicht durchsetzen – es wurde zur urbs 3 4
Isabel Röskau-Rydel, Galizien, in: dies. (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas. Galizien, Bukowina, Moldau, Berlin 1999, S. 15–212, hier: S. 15, betont, dass selbst die ruthenischen Fürsten die Stadt als „Lemburg“ [sic!] bezeichneten. Isabel Röskau-Rydel, „Die Stadt der verwischten Grenzen“. Die Geschichte Lembergs von der Gründung bis zur ersten Teilung Polens (1772), in: Peter Fässler / Thomas Held / Dirk Sawitzki (Hrsg.), Lemberg – Lwów – L′viv. Eine Stadt im Schnittpunkt europäischer Kulturen, Köln etc. ²1995, S. 18–45, hier: S. 37.
2 Von der Vermögensverwaltung zur Politisierung der Gemeindeangelegenheiten
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catholicissima trotz der übrigen in der Stadt ansässigen Konfessionen.5 Insgesamt liefen bereits während jener Zeit die rechtlichen und religiösen Segregationen mit den sozialen parallel. Polen, Juden und Armenier führten die Handwerks- und kleineren Handelsbetriebe, während die Ruthenen sich fast ausnahmslos als Gesinde oder sonstiges Dienstpersonal verdingten.6 Lemberg, an der Kreuzung von West-Ost- und Nord-Süd-Handelsstraßen gelegen, konnte durch das im 14. Jahrhundert verliehene Stapelrecht zu der Metropole des Osthandels aufsteigen.7 Veränderungen im Fernhandelsnetz im 16. und 17. Jahrhundert führten schließlich dazu, dass die Bedeutung Lembergs sank.8 Durch insgesamt vierzehn Belagerungen von Tataren und Osmanen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts und insbesondere des Kosakenheeres unter Hetman Bohdan Chmel′nyc′kyj im Jahr 1648, die durch Freikäufe beendet worden waren, verstärkte sich der wirtschaftliche Niedergang der Stadt. Von herausragender Bedeutung für das Lemberger Geschichtsbewusstsein war die erfolgreiche Abwehr der Schweden 1656 (sog. Potop/Sintflut), für die der polnische König Jan II. Kazimierz Lemberg 1659 auszeichnete. Der „Ruhm einer nie eroberten Festung“9 schwand aber durch die schwedische Eroberung im Nordischen Krieg 1704, wodurch sich der Bedeutungsverlust Lembergs noch mehr beschleunigte. Diese Entwicklung verstärkte sich durch eine grundsätzliche, zunehmende Schwäche der polnischen, dem König oder Adel gehörenden Städte der polnischen Adelsrepublik (Rzeczpospolita szlachecka), da im Gegensatz zu den Herrschern im westlichen Europa die polnischen Könige keine protektionistische Wirtschaftspolitik zugunsten der Städte betrieben, auch wenn sie versuchten, ihre Städte zu reformieren. Durch die allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen zerbrach zudem die traditionelle städtische Rechts- und Wirtschaftsordnung.10 In allen Städten der Rzeczpospolita verlor das Bürgertum zugunsten des Adels, insbesondere der Magnaten, zunehmend an Einfluss, sodass Lemberg, Krakau, Wilna (Wilno/Vilnius), Kamieniec Podolski (Kam′janec′-Podil′s′kyj) und Lublin ihre ablegati (Vertreter) immer seltener zur Königswahl und zu Sejmsitzungen schickten, was wiederum ihren politischen Einfluss noch weiter sinken ließ.
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Röskau-Rydel, Galizien, S. 21–25. Rudolf A. Mark, „Polnische Bastion und ukrainisches Piemont“. Lemberg 1772–1921, in: Peter Fässler / Thomas Held / Dirk Sawitzki (Hrsg.), Lemberg – Lwów – L′viv. Eine Stadt im Schnittpunkt europäischer Kulturen, Köln etc. ²1995, S. 46–74, hier: S. 49. Papée, Historya, S. 22–43; knappe Skizze: Grzegorz Rossolinski, Einführung in die Geschichte der Stadt mit verwischten Grenzen, in: Lutz Henke / Grzegorz Rossolinski / Philipp Ther (Hrsg.), Eine neue Gesellschaft in einer alten Stadt. Erinnerung und Geschichtspolitik in Lemberg anhand der Oral History, Wrocław 2007, S. 24–40. Papée, Historya, S. 63–69, 117–13; Röskau-Rydel, Stadt, S. 27. Jecheskiel Caro, Geschichte der Juden in Lemberg: Von den ältesten Zeiten bis zur Theilung Polens im Jahre 1792 aus Chroniken und archivalischen Quellen, Lemberg 1894, S. 93. Röskau-Rydel, Stadt, S. 38 ff.
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Dies führte insgesamt zu einer Spirale des Niedergangs: Im 18. Jahrhundert verarmte die Bevölkerung Lembergs, insbesondere das Bürgertum, beständig. Immer mehr Einwohner wanderten deswegen ab, sodass die städtischen Selbstverwaltungsorgane und das Patriziat an Einfluss sowie die Stadt an Selbstständigkeit verloren und der Adel nun das öffentliche und kulturelle Leben der Stadt dominierte. Im Gegensatz zum regen Bau von Palais, Klöstern und Kirchen, sorgte sich der Adel weniger um den Erhalt der Stadtmauern, der Straßen und Wege in der Stadt.11 Als die österreichischen Truppen nach einer kurzen Belagerung am 19. September 1772 Lemberg aufgrund des Teilungsvertrags mit dem Russländischen Reich und Preußen vom 5. August des Jahres in Besitz nahmen, habe sich ihnen nicht nur eine leere Stadtkasse, sondern nach Fryderyk Papées Schilderungen aus dem Jahr 1894 auch das Bild einer verwahrlosten, heruntergekommenen Stadt12 geboten. Geradezu charakteristisch für den Zustand der Stadt sei gewesen, dass Josephs II. Kutsche bei seinem ersten Besuch in der Stadt im Morast der Straßen stecken geblieben sei.13 2.1 Einflussverlust und Unterstellung: Inkorporation in die Habsburgermonarchie Mit der Inkorporation in die Habsburgermonarchie wurde Lemberg trotz dieses Zustandes zur Haupt- und Residenzstadt des neuen Kronlandes erhoben, weil es in dem neu dazugewonnenen Gebiet die einzig namhafte Stadt war, während die ehemalige Krönungsstadt Krakau noch zur Rzeczpospolita gehörte. Zunächst zeigte sich der Stadtrat widerspenstig und verweigerte bis Ende Dezember 1773 den Treueid.14 Für die Inkorporation dieser Gebiete berief sich das Kaiserhaus auf alte Rechtsansprüche der Stephanskrone, gliederte sie aber nicht als ungarische Provinz, sondern als eigenes Kronland ein. Das durch die Teilungen erworbene Territorium, das den größten und bevölkerungsreichsten Anteil an der ehemaligen Rzeczpospolita darstellte und seit dem 19. Jahrhundert zunehmend als „Armenhaus Europas“15 empfunden wurde, wurde mit Bezug auf das Fürstentum Halyč-Volhyn′ (Wolhynien) als „Galizien und Lodomerien“
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Auch im westlichen Europa dominierte in jener Periode der Adel sichtbar den städtischen Raum, jedoch unterschied sich das politische System und vor allem die Position des Adels in der Rzeczpospolita erheblich. Papée, Historya, S. 168. Mark, Bastion, S. 47 f.; Überblick aus der Perspektive der Selbstverwaltung: Aleksander Czołowski, Pogląd na organizację i dzialałność dawnych władz miejskich do 1848 r. [Blick auf die Organisation und Tätigkeit der alten städtischen Behörden bis 1848], in: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lwów 1896, S. XXI– LXXXIV. Papée, Historya, S. 176 ff.; Röskau-Rydel, Galizien, S. 34. Mark, Galizien, S. XI.
2.1 Einflussverlust und Unterstellung: Inkorporation in die Habsburgermonarchie
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‚erfunden‘16 und in der nachnapoleonischen Zeit zum Königreich erhoben, um mit der Entwicklung im russischen Teilungsgebiet Schritt halten zu können.17 Durch die Inkorporation wurden die traditionellen Rechte und Institutionen abgeschafft und an die österreichischen angepasst, wobei es aber noch zahlreiche Ausnahmen gab, etwa in der Gerichtspflege, in der bis in die 1840er Jahre das polnische Recht galt.18 Bis 1787 blieb noch die auf dem Magdeburger Recht basierende städtische Autonomie erhalten, wobei sie unter die Oberaufsicht des neuen Lemberger Kreisamtes und der Oberpolizeidirektion gestellt wurde.19 Die nun entstehenden Ämter und Funktionen wurden analog zu denjenigen der anderen Hauptstädte des Reiches geschaffen. Seit dieser frühen Phase habsburgischer Herrschaft über Lemberg veränderten sich mehrmals die Größe, Struktur und Zuständigkeiten von Magistrat und städtischer Repräsentanz.20 Bis in die 1830er Jahre blieben die Bürger nun von faktischen Partizipationsmöglichkeiten abgeschnitten. Erst 1837, dann nochmals 1845, wurde der Wirkungskreis des Bürgerausschusses (Wydział miejski) erweitert, was auch sofort zur ‚Anregung‘ des Gemeingefühls führte.21 Da es gerade Maria Theresia ein Anliegen war, Galizien und damit dessen Hauptstadt Lemberg zu „habsburgisieren“22, wurden rasch Maßnahmen eingeleitet, die das Gesicht Lembergs veränderten,23 etwa die 1777 begonnene Schleifung der Festungsanlagen, aus deren Überresten Straßen und auch Kanalisationen gebaut wurden. Allein unter Joseph II. wurden von rund 95 Kirchen und Klöstern ca. 30 abgerissen oder in Schulen, Theater oder Verwaltungsgebäude überführt. Auch die Händler mussten ihre Stände und Buden vom Markt weg verlegen, weil dies dem gewünschten hauptstädtischen Stadtbild nicht entsprach.24 Anstelle des baufälligen Rathauses wurde zwischen 1827 und 1835 ein kasernenartiges monumentales Gebäude errichtet. Bedeutsam war 16 17
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Larry Wolf, Inventing Galicia. Messianic Josephinism and the Recasting of Partitioned Poland, in: Slavic Review 63, 2004, S. 818–840; vgl. ders., The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Political Culture, Stanford/CA 2010. Jean Béranger, L’intégration de la Galicie dans la Monarchie autrichienne, in: Jacques Le Rider / Heinz Raschel (Hrsg.), La Galicie au temps des Habsbourg (1772–1918). Histoire, société, cultures en contact, Tours 2010, S. 59–84. Ausführlicher: Hans-Christian Maner, Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert, München 2007, S. 27–105; ein Überblick aus habsburgischer Zeit: Abraham J. Brawer, Galizien. Wie es an Österreich kam, Leipzig etc. 1909. Maner, Galizien, S. 66; ausführlich: Horst Glassl, Das österreichische Einrichtungswerk in Galizien (1772–1790), Wiesbaden 1975. Zur imperialen Verwaltung in Galizien vgl. auch Iryna Vushko, The Politics of Cultural Retreat. Imperial Bureaucracy in Austrian Galicia, 1772–1867, New Haven/CT 2015. Czołowski, Pogląd, S. 57. Rasp, Beiträge, S. 491 f.; Sroka, Rada miejska, S. 43. Ebd. So erhielt er das Recht zur Prüfung städtischer Rechnungen, von Vertragsabschlüssen und Materialübernahmen und seit 1845 zur Ausübung von Patronatsrechten bei geistlichen Pfründen. Ausführlich zu den neuen Regelungen: Papée, Historya, S. 178–186. Hoszowski, Ceny, S. 17 ff. Mark, Bastion, S. 49. Maria Theresia hatte bereits bei der Inbesitznahme (vergeblich) verlangt, dass die Polen sich „französisch“ und nicht „polnisch“ kleiden sollten.
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2 Von der Vermögensverwaltung zur Politisierung der Gemeindeangelegenheiten
Abb. 1 Das Lemberger Rathaus am Marktplatz (Rynek), Postkarte vor 1914 (Herder Institut, Bildarchiv 728516)
auch, dass das Gubernium, Provinzial- und Kreisämter in Lemberg sowie militärische Einrichtungen angesiedelt wurden, die mit ihren Funktionsgebäuden das Gesicht der Stadt nachhaltig prägten. Für deren Funktionieren war ein umfassender bürokratischer Apparat notwendig, den weder die Stadt noch das Kronland stellen konnten, zumal der Adel als unzuverlässig galt.25 Daher wurden als bislang dort unbekannte einkommensstärkere Bevölkerungsschicht zahlreiche meist deutsch- und tschechischsprachige Beamte, Angestellte und Amtsdiener, aber auch Militärs nach Lemberg versetzt. Außerdem zogen wieder Kaufleute und Handwerker nach Lemberg. Lemberg wurde zum Zentrum der galizischen politischen und sozialen Eliten, zum Dienstleistungs- und Verwaltungszentrum des Kronlandes, ohne dass es zu einer nennenswerten Frühindustrialisierung gekommen wäre. Gründe für diese waren die Rohstoffarmut der Region, die unzureichende Kapitalausstattung, die geringe Qualifikation der Bevölkerung, das Erlahmen des überregionalen (Ochsen-)Handels und nicht zuletzt die imperiale Wirtschaftspolitik. Nach der Eingliederung in das habsburgische Zollgebiet 1784 war nicht nur ein massiver Konkurrenzkampf mit österreichischen und böhmischen Produkten entstan-
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Ebd., geht davon aus, dass 1787 1.160 Beamte (mit Familien 4.640 Personen) und 1830 sogar 2.860 Beamte (11.520) in Lemberg lebten.
2.1 Einflussverlust und Unterstellung: Inkorporation in die Habsburgermonarchie
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den, sondern Galizien wurde auch als Markt für diese gesehen,26 was die städtische Wirtschaft weiter schwächte. Zwar konnte sich die Lemberger Wirtschaft durch den Bevölkerungszuzug, vor allem aber durch die Kontinentalsperre ein wenig erholen, allerdings ohne dass sie nachhaltig erstarkte. Vor allem waren die Vorstädte, die mit dem Stadtkern zusammenwuchsen, immer noch von Not und Armut, insbesondere der jüdischen Bevölkerung, geprägt. Diese ambivalenten Entwicklungen schlugen sich im Stadtbild nieder, so entstanden etwa im Zentrum neu gestaltete Straßenzüge mit klassizistischer Architektur. Lemberg erlangte seine Bedeutung als urbanes Zentrum der Region wieder und wurde bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine der blühendsten und bevölkerungsreichsten Städte der Monarchie angesehen.27 Das städtische Leben wurde hierbei ‚germanisiert‘, sodass ein deutscher Reisender der 1830er Jahre in der Einschätzung des Historikers Yaroslav Hrytsak ein vollkommen ‚deutsches‘ Erscheinungsbild vorgefunden habe, das dem anderer deutscher Städte entsprochen habe.28 Bereits 1785 war Deutsch Amtssprache geworden; es war Unterrichtssprache an den Schulen und wurde schließlich 1824 auch an der 1784 gegründeten Universität29 anstelle des Lateinischen als Unterrichtssprache eingeführt. Polnisches kulturelles Leben konnte zunächst nur in den Salons und Veranstaltungen des polnischen Adels sowie in besonderen Vorstellungen des deutsch-polnischen Theaters stattfinden. Jedoch sollte gerade der Adel 1826 durch die Einrichtung von zwei polnischen Lehrstühlen an der Universität und 1827 durch die Zulassung des 1817 als Volksbibliothek von Józef Maksymilian Ossoliński gegründeten polnischen Nationalinstituts Ossolineum ruhiggestellt werden. Spätestens seit den 1830er Jahren verfuhr die Regierung nach einer Doppelstrategie, da einerseits der materielle und geistige Wohlstand gestärkt und andererseits restriktive Maßnahmen ergriffen wurden, um Aufstandsbestrebungen gerade innerhalb des Adels einzudämmen.30 Bereits in jener Zeit liegen die Wurzeln für den entstehenden polnisch-ruthenischen Gegensatz, weil die Reichsregierung nach dem divide et impera-Prinzip in Galizien agierte, auch um über eine Gleichstellung der Ruthenen ihre Loyalität zu gewin26 27 28
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Ebd., S. 42 f.: 1817 umfasste die gesellschaftliche Elite ca. 7 Prozent der Stadtbevölkerung (darunter 172 Geistliche, 770 adlige Grundbesitzer, 922 Beamte und 1.195 „bedeutendere“ Bürger). Ebd., S. 51; Rys statystyczno-geograficzny Galicyi Austrjackiej, Poznań 1842, S. 75; Röskau-Rydel, Galizien, S. 57. Yaroslav Hrytsak, Lviv. A Multicultural History through the Centuries, in: John Czaplicka (Hrsg.), Lviv. A City in the Crosscurrents of Culture, Cambridge/MA 2005, S. 47–74, hier: S. 55. Vgl. auch die knappe Skizze Marcin Sepiał, Die Entwicklung der Stadt Lemberg im 19. Jahrhundert, in: Jacek Purchla (Hrsg.), Architektura Lwowa XIX w. / Die Architektur Lembergs im 19. Jahrhundert, Kraków 1997, S. 17–29. Franz I. verlegte die Universität nach Krakau und beließ in Lemberg lediglich ein Lyzeum. Mark, Bastion, S. 52; Maner, Galizien, S. 70 f. Überblick: Piotr Wandycz, The Poles in the Habsburg Monarchy, in: Andrei S. Markovits / Frank E. Sysyn (Hrsg.), Nationbuilding and the Politics of Nationalism. Essays on Austrian Galicia, Cambridge/MA 1982, S. 68–93.
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2 Von der Vermögensverwaltung zur Politisierung der Gemeindeangelegenheiten
nen. Daher konnte sich in der ersten Jahrhunderthälfte Lemberg auch zum Zentrum des erwachenden ruthenischen kulturellen und politischen Lebens entwickeln, das von einer heranwachsenden Intelligenzschicht geprägt und seit den 1840er Jahren von der Gubernialverwaltung unterstützt wurde.31 Obwohl 1793 und 1795 die Ansiedlung von Juden in der Juden-, Serben- und Ruthenischen Gasse sowie in der Krakauer und Żółkiewer Vorstadt ebenso wie der Immobilienbesitz derjenigen Juden, die über weniger als 30.000 Gulden verfügten, beschränkt wurden,32 entwickelte sich Lemberg zwischen 1815 und 1840 zu einem Zentrum der jüdischen Aufklärungsbewegung (Haskalah). Auch die Reformen im Schulwesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielten hierbei eine Rolle.33 Die habsburgische Politik hatte also mit einer Art ‚Zuckerbrot‘ die polnischen, die weltlichen jüdischen und die sich formierenden ruthenischen Eliten für sich gewinnen können. Diese Politik wirkte sich bereits während der napoleonischen Kriege aus, indem sich der Adel – abgesehen von der einmonatigen Besetzung Lembergs durch polnisch-napoleonische Truppen im Mai 1809, während der kurzzeitig Hoffnungen auf die Unabhängigkeit Polens zu keimen begannen – loyal gegenüber der Monarchie verhielt.34 Das mit den erwähnten kulturpolitischen Zugeständnissen nach 1815 gesetzte Signal eines polenfreundlicheren Kurses hatte dazu geführt, dass Galizien trotz einiger Sympathien des Adels vom durch die Adligen und Teile der Inteligencja initiierten Novemberaufstand 1830/31 in Kongresspolen nicht erfasst wurde, zumal die bürgerlichen Kreise kaum mit den Aufständischen sympathisierten.35 Insgesamt erlangten die galizischen Polen in dieser Zeit aufgrund der Kompetenzkonflikte innerhalb der österreichischen Behörden vergleichsweise große Handlungsspielräume.
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Überblick: Ivan L. Rudnytsky, The Ukrainians in Galicia Under Austrian Rule, in: ebd., S. 23–67. Zur Bedeutung der Unierten Kirche bei der ruthenischen Nationalbewegung John-Paul Himka, The Greek Catholic Church and Nation-Building in Galicia, 1772–1918, in: Harvard Ukrainian Studies 8, 1984, S. 426–452; ders., The Greek Catholic Church and Ukrainian Society in Austrian Galicia, Cambridge/MA 1986. Majer Bałaban, Dzielnica żydowska. Jej dzieje i zabytki [Das jüdische Viertel. Seine Geschichte und Sehenswürdigkeiten], Lwów 1909, S. 52. Vgl. hierzu Dirk Sadowski, Haskalah und Lebenswelt. Herz Homberg und die jüdischen deutschen Schulen in Galizien 1782–1806, Göttingen 2010, sowie Łukasz Tomasz Sroka, In the Light of Vienna. Jews in Lviv – Between Tradition and Modernisation (1867–1914), Berlin etc. 2018. Józef Białynia Chołodecki, Lwów w czasie wojen Napoleona Wielkiego w latach 1809–1814 [Lemberg zur Zeit der Kriege Napoleons des Großen in den Jahren 1809–1814], Lwów 1927, S. 3–13; Bronisław Pawłowski, Lwów w 1809 roku [Lemberg im Jahre 1809], Lwów 1909, S. 27 ff. Röskau-Rydel, Galizien, S. 49, vgl. zur Entwicklung der polnischen Inteligencja: Maciej Janowski, Birth of the Intelligentsia, 1750–1831. A History of the Polish Intelligentsia, Part 1, Frankfurt/Main 2014; Jerzy Jedlicki, The Vicious Circle 1832–1864. A History of the Polish Intelligentsia, Part 2, Frankfurt/Main etc. 2014; Magdalena Micińska, At the Crossrads 1865–1918. A History of the Polish Intelligentsia, Part 3, Frankfurt/Main etc. 2014.
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Allerdings lähmte die große Choleraepidemie 1831 die städtische Entwicklung,36 da knapp 10 Prozent der Bevölkerung, also etwas mehr als 5.000 Personen, erkrankten, von denen 2.600 starben. Diese Epidemie brannte sich in die Erinnerung der Stadt ein, sodass die Auseinandersetzung mit der Cholera im gesamten 19. Jahrhundert zu einem Leitmotiv in den Hygiene- und Assanierungsdebatten wurde.37 Die Stadt erholte sich rasch, auch in demografischer Hinsicht (s. Tab. 2), weil sich im Vormärz die Wirtschaft günstig entwickelte, u. a. durch die Etablierung der Landeskreditanstalt (Towarzystwo Kredytowe Ziemskie, 1843) und einer Landessparkasse (Galicyjska Kasa Oszczędności, 1844). Jedoch waren auch die gesamtgalizischen Probleme und politischen Entwicklungen spürbar. Die nach der Niederschlagung des Novemberaufstandes 1831 aus Kongresspolen nach Galizien emigrierten Aufständischen bewirkten die weitere Politisierung des Adels und der Studenten, die in kleineren, nicht erfolgreichen Verschwörungen mündete.38 Nachdem der Lemberger Polizeidirektor Leopold von Sacher-Masoch bereits 1843 den Kern von Verschwörern zerschlagen und bis Mitte der 1840er Jahre wohl ca. 460 weitere Personen inhaftiert hatte, blieb die Stadt 1846 vom gescheiterten Aufstandsversuch des Adels in Galizien praktisch verschont.39 Wegen der Bauernunruhen des gleichen Jahres, der sog. Rabacja (Raub, Plünderung), näherten sich konservative, adlige Kreise rasch wieder an die österreichische Teilungsmacht an und entwickelten eine kooperative Haltung, obwohl als Folge der Ereignisse des Jahres 1846 die verbliebenen nationalen und politischen Freiheiten weiter eingeschränkt wurden. Jedoch waren sie als „revolutionäre[r] Auftakt und erste[r] Akt des europäischen Revolutionsdramas“40 insofern von Bedeutung, als sich an ihnen zeigte, dass das Militär dem Ausbruch der Stadtrevolution anfänglich unentschlossen gegenüberstehen und dass einzelne Befehls36 37 38 39
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Zitate: Philipp Schlesinger, Erinnerung an Seine fürstlichen Gnaden dem Herrn August Longin Fürsten von Lobkowitz. Seinen Freunden und Verehrern gewidmet, o. O. [Wien] o. J. [1842], S. 19 ff. Vgl. Kap. 5.3.2. Röskau-Rydel, Galizien, S. 52–56. Nur kurzfristig beteiligten sich daran auch Ruthenen, vgl. Jan Kozik, Ukraiński ruch narodowy w Galicji w latach 1830–1848 [Die ukrainische Nationalbewegung in Galizien 1830–1848], Kraków 1989, S. 81 ff. Stefan Kieniewicz, Konspiracje galicyjskie [Galizische Konspirationen], Warszawa 1950, S. 218 f.; zur Bewertung vgl. die Beiträge im Sammelband: Michał Śliwa (Hrsg.), Rok 1846. Ludzie, wydarzenia, tradycje. Zbiór studiów [Das Jahr 1846. Leute, Ereignisse, Traditionen. Sammelband], Kraków 1997; Antony Polonsky, The Revolutionary Crisis of 1846–49 and Its Place in the Development of Nineteenth-Century Galicia, in: Zvi Gitelman / Lubomyr Hajda / John-Paul Himka u. a. (Hrsg.), Cultures and Nations of Central and Eastern Europe, Cambridge/MA 2000, S. 443–469. Zum „Rabatz“ Kai Struve, Bauern und Nation in Galizien. Über Zugehörigkeit und soziale Emanzipation im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 78–85. Hans Henning Hahn, Die polnische Nation in den Revolutionen 1846–49, in: Dieter Dowe / Heinz-Gerhard Haupt / Dieter Langewiesche (Hrsg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 231–251, hier: S. 237–240, Zitat S. 237; vgl. auch Michał Śliwa, Galizien 1846 und die polnische Revolution von 1848, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Die europäische Revolution 1848/49 in Polen und Österreich und ihre Folgen, Frankfurt/Main 2001, S. 27–41.
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haber eine entscheidende Rolle spielen würden. Die Ereignisse ließen nicht erahnen, dass die im März 1848 ausbrechende Revolution in Lemberg auf eine große Resonanz stoßen und den polnisch-ruthenischen Gegensatz aufbrechen sollte, und dass polnische Forderungen nach städtischer Autonomie artikuliert werden würden. Der „Völkerfrühling“ brachte daher langfristig gesehen wichtige Veränderungen für die lokale Selbstverwaltung mit sich, die wegen der Reaktionsphase des Neoabsolutismus erst nach den Reformen der beginnenden 1860er Jahre in Lemberg konkretisiert wurden.41 2.2 Polnisches Verlangen: aufkeimende Forderungen nach lokaler Einflussnahme seit 1848 Bereits im Vormärz waren auch in den Ländern der Habsburgermonarchie die Entwicklung des kommunalen Selbstverwaltungsgedankens, beispielsweise des englischen self-government, die habsburgisch-norditalienischen (lombardischen)42 und die süddeutschen Ansätze, sich aus dem französischen Einfluss entwickelnde liberale Ideen einer städtischen Selbstverwaltung, rezipiert worden. Diese war zu einem „Dogma der bürgerlichen liberalen Ideologie in Mitteleuropa“43 und damit auch zu einer bis 1848 ausgereiften, programmatischen Forderung in der Habsburgermonarchie geworden.44 Gerade in den Kreisen der Radikalen war die Forderung einer Gemeindeselbstverwaltung mit dem liberalen Konstitutionalismus verbunden worden. Dies
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Röskau-Rydel, Galizien, S. 91. Zu Begriff und aktueller Diskussion des „Neoabsolutismus“ als Epochenbegriff allgemein: Harm-Hinrich Brandt (Hrsg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien etc. 2014; insbesondere ders., Verwaltung als Verfassung – Verwaltung und Verfassung? Zum historischen Ort des ‚Neoabsolutismus‘ in der Geschichte Österreichs, in: ebd., S. 11–34; Helmut Rumpler, Der österreichische Neoabsolutismus als Herrschafts- und Regierungssystem, in: Dušan Kováč / Arnold Suppan / Emilia Hrabovec (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie und die Slowaken 1849–1967, Bratislava 2001, S. 9–20. Carl Czoernig, Die lombardische Gemeindeverfassung nach ihrer Entstehung und Ausbildung, ihrem Verfalle und ihrer Wiederherstellung, Heidelberg 1843. Klabouch, Gemeindeselbstverwaltung, S. 13–15, Zitat S. 15; allgemein Georg Seiderer, Verfassungspolitik und Verwaltungsreform im österreichischen Neoabsolutismus unter Alexander Bach 1849– 1859, Wien 2015. Julius Hatschek, Die Selbstverwaltung in politischer und juristischer Bedeutung, Leipzig 1898, S. 13. Ausführliche rechtshistorische Darstellung: Josef Redlich, Geschichte der österreichischen Gemeindegesetzgebung und die Entstehung des Reichsgemeindegesetzes von 1862, in: Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte, Bd. 6 Österreich, Leipzig 1907, S. 51*–88*; vgl auch: Paula Friedjung, Die Geschichte der Gemeindegesetzgebung von 1849–1859, phil. Diss. (masch.-schriftl.) o. O. [Wien] o. J. [1926]. In jüngerer Zeit haben sich im Wesentlichen epochal übergreifende rechtshistorische Graduierungsschriften mit der österreichischen Gemeindeautonomie beschäftigt: David Nagiller, Die historische Entwicklung der Gemeindeautonomie in Österreich. Eine Betrachtung auf überregionaler Ebene, Dipl.-Arb. Innsbruck 2004; Gerhard Köstner, Der eigene Wirkungsbereich der Gemeinde, Dipl.-Arb. Graz 1995.
2.2 Polnisches Verlangen: aufkeimende Forderungen nach lokaler Einflussnahme seit 1848
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galt insbesondere für die Städte, in denen sich ein neues wirtschaftlich und gedanklich vergleichsweise homogenes Bürgertum entwickelt hatte. Als deutlich wurde, dass die kommunale Selbstverwaltung eine Möglichkeit für politische Partizipation war, nutzten die jeweiligen nationalen Eliten diese in Konkurrenz zueinander als Arena ihrer eigenen Forderungen.45 Daher trafen sich die liberalen Forderungen nach kommunaler Selbstverwaltung in der Jahrhundertmitte mit Tendenzen ‚von oben‘, die kommunale Selbstverwaltung als zweites Gleis der Staatsverwaltung zu verstehen und Verwaltungsaufgaben dorthin auszulagern. Diese Ideen artikulierten sich auch während der ersten revolutionären Ereignisse und im Laufe der Revolution in den nichtdeutschsprachigen Kronländern.46 Durch die revolutionären Dynamiken in den Städten waren verschiedene provisorische Regelungen getroffen worden, zu deren fundamentalen Bestandteilen die Öffentlichkeit der Sitzungen und das Prinzip der Wählbarkeit der lokalen Repräsentanten gehörten. Sie ergaben sich aus den jeweiligen faktischen Machtverhältnissen und führten zur Bildung von entsprechenden Gremien mit Selbstverwaltungsanspruch47 – so auch in Lemberg, wo das polnische Bürgertum seine Chance erkannte. Wenige Tage nach Ausbrechen der Revolution in Wien am 9. März 1848 entwickelten sich auch in Lemberg Unruhen zwischen Einwohnern und Behörden. So brachten die ersten Revolutionstage u. a. die Forderung nach einer „Erneuerung ihrer [der Bürger] Repräsentation“48 hervor. Der Sturz Metternichs am 13. März provozierte die Demokraten Florian Ziemiałkowski, Franciszek Smolka und Tomasz Kulczyński zu einer im „nationalen, autonomistischen und demokratischen Geiste“49 verfassten Petition an den Kaiser, die am 19. März 1848 von 12.000 Personen unterzeichnet wurde.50 Diese Lemberger Adresse forderte daher in ihrem siebten Punkt auch die „Ertheilung
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Florian Kitzmantel, Die oberösterreichischen Statutarstädte, Linz 1994, S. 1. Zu deren Wurzeln und dem Bezug zur Städteordnung Steins: Friedjung, Geschichte, S. 40–46; Holste/Hüchtker/Müller, Aufsteigen, S. 15. Klabouch, Gemeindeselbstverwaltung, S. 15 ff.; Peter Urbanitsch, Die Gemeindevertretungen in Cisleithanien, in: ders. / Helmut Rumpler (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII Verfassung und Parlamentarismus, Teilbd. 2 Die regionalen Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 2199–2281. Klabouch, Gemeindeselbstverwaltung, S. 20 f. Zitate: „Gdy słońce wiosenne z r. 1848 lody absolutyzmu stopiło i jutrzenka swobód konstytucyjnych chociaż na krótko zaświatała […] nie mogli obywatele Lwowa pozostać za innymi“; „odnowienia reprezentacyi swojej“: Magistratsrat Gregorowicz zit. nach: Kazimierz Ostaszewski-Barański, Ustawa Prowizoryczna (1848–1870) [Die Provisorische Vorschrift (1848–1870)], in: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870– 1895], Lwów 1896, S. 1–52, hier: S. 5. „w duchu narodowym, autonomicznym i demokratycznym“, ebd., S. 209, vgl. ebd., S. 209–217. „12 przeszlo tysięcy“, Ziemiałkowski, Pamiętniki, Teil 1, S. 8; vgl. auch Michał Śliwa, Rok 1846 w Galicji i późniejsza rewolucja 1848 [Das Jahr 1846 in Galizien und die spätere Revolution 1848], in: Władysław Wic (Hrsg.), Rok 1848. Wiosna Ludów w Galicji. Zbiór studiów [Das Jahr 1848. Der Völkerfrühling in Galizien. Sammelband], Kraków 1999, S. 7–20, hier: S. 17.
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einer Munizipalverfassung auf den ausgedehntesten Grundlagen“, da die „übermäßige Bevormundung der städtischen Gemeinden und die Beschränkung der Bürger in allen städtischen Angelegenheiten […] unter die Haupthindernisse [gehören], welche dem Aufblühen der Städte im Wege stehen.“51 Die maßgebliche Beteiligung an der städtischen Selbstverwaltung war zu einer zentralen Forderung des polnischen Bürgertums geworden, was zur Demission des seit 1842 amtierenden Bürgermeisters Emil Gerard von Festenburg und zur Auflösung des bisherigen Bürgerausschusses führte, der sich als dessen „Werkzeug“ sah. Daraus entwickelten sich rasch Forderungen nach Unabhängigkeit. Es gründeten sich in der Folge in ganz Galizien lokale Komitees, Nationalgarden und in Lemberg ihr politisches Zentralorgan, der Zentrale Nationalrat (Rada Narodowa Centralna).52 Jedoch wurde die Petition in Wien nicht weiterbearbeitet, da in den Augen der Regierung die meisten Forderungen durch die Konstitution vom 25. April 1848 erfüllt worden waren. Der 1847 zum galizischen Gouverneur berufene Graf Franz Seraph von Stadion war nicht zu größeren Zugeständnissen bereit, begrüßte aber die Entsendung einer Delegation nach Wien, wodurch er die Wortführer der Revolution außer Landes komplementieren konnte. Nachdem Stadion Anfang April den galizischen Landtag für den 26. April einberufen hatte, beschlossen die Lemberger Demokraten um Smolka, einen Nationalrat (Rada Narodowa) als politische Vertretung zu gründen, der ihre Forderungen mit dem Krakauer Nationalrat abstimmen sollte. Während nach dem Bombardement durch Regierungstruppen Krakau noch im April kapitulierte, konnten sich in Lemberg die Revolutionäre bis zum November 1848 halten. Sie boykottierten den Landtag, woraufhin Stadion den Nationalrat auflöste und sie dadurch in den Untergrund drängte. Mit der Gründung einer polnischen Nationalgarde kam es in Lemberg immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen ihr und dem österreichischen Militär. Ende Oktober und Anfang November besetzte schließlich das österreichische Militär zentrale Punkte, sodass die Lage eskalierte. Der Kommandierende General William Friedrich von Hammerstein-Equord befahl, die Stadt zu bombardieren, wobei insgesamt 78 Personen getötet und das alte Theatergebäude, der Rathausturm und die Universitätsbibliothek zerstört wurden.53
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Zitate: Lemberger Petition vom 18. März 1848, in: Horst Dippel (Hrsg.), Constitutions of the World from the late 18th Century to the Middle of the 19th Century. Sources on the Rise of Modern Constitutionalism / Verfassungen der Welt vom späten 18. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Quellen zur Herausbildung des modernen Konstitutionalismus, Bd. 5 Polish Constitutional Documents 1790–1848 / Polskie dokumenty konstytucyjne, München 2008, S. 265, ähnlich die Adresse der Polen aus Galizien und dem Krakauer Kreise an Seine k. k. apostolische Majestät Ferdinand, in: ebd., S. 275–284. Zu dessen Tätigkeit Stefan Kieniewicz / Franciszka Ramotowska (Hrsg.), Protokoły posiedzeń Rady Narodowej Centralnej we Lwowie (14 IV–29 X 1848) [Protokolle der Sitzungen des Zentralen Nationalrats in Lemberg (14.4.–29.10.1848)], Warszawa 1996. Papée, Historya, S. 214–217.
2.2 Polnisches Verlangen: aufkeimende Forderungen nach lokaler Einflussnahme seit 1848
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In Lemberg, wie in anderen Städten aller nichtungarischen Länder auch, hatte sich bereits in der Frühphase der Revolution ein Bürgerausschuss parallel zum Magistrat konstitutiert.54 Gleichzeitig versuchte die Deputation in Wien, ihre bereits am 6. April vorgebrachten Forderungen durchzusetzen. Ein wesentlicher Punkt hierbei war, dass sie den Polen die dominierende Rolle in der zukünftigen Politik Galiziens zusprach. Infolge dieser Ereignisse kam es zum Bruch von polnischer und ruthenischer Nationalbewegung, weil gerade die radikalen Demokraten um Ziemiałkowski eine ruthenische Nation nicht anerkannten. Die Ruthenen hatten bereits im April ein eigenes politisches Programm entworfen, weswegen sie Anfang Mai 1848 den Ruthenischen Hauptrat (Holovna Rus′ka Rada55) quasi als ruthenische Antwort auf den polnischen Nationalrat gründeten. Auf ruthenischer Seite nahm der Kampf gegen den robot, die zu leistenden Dienstbarkeiten gegenüber dem Grundherrn, und damit gegen die sozio-ökonomische Unterdrückung der Ruthenen durch die polnische Oberschicht immer stärker nationalemanzipatorische Züge an, wodurch sich auch die Basis der bislang von der ruthenischen Intelligenz getragenen Nationalbewegung verbreiterte. Die habsburgischen Behörden provozierten und instrumentalisierten die sich entwickelnden nationalen Auseinandersetzungen, indem beispielsweise der pragmatisch agierende Graf Stadion, der den Polen nunmehr als „Erfinder der Ruthenen“56 galt, den Ruthenischen Hauptrat als Gegengewicht zu den Polen genehmigte. Die Ruthenen suchten wiederum bei den Vertretern der Staatsmacht Unterstützung gegen die Polen, da sie in ihnen die einzige Kraft sahen, die sich den Polen widersetzen konnte.57 Die durch die revolutionären Wirren provozierte Handlungsunfähigkeit der lokalen Behörden bot den polnischen Revolutionären eine Möglichkeit, sich die Stadtverwaltung (in ihrem Verständnis: wieder-) anzueignen. Nachdem die polnischen Eliten in den ersten Jahrzehnten habsburgischer Herrschaft den politischen Einfluss in der Stadt verloren hatten, gelang es ihnen nun, sich wieder als dominierende Kraft zu positionieren und auch, wie vor 1772, die lokale Selbstverwaltung zu übernehmen. Der Bürgerausschuss konstituierte sich wieder und berief weitere Personen, um eine neue
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Thomas Kletečka, Zur Genese der Gemeindeordnung von der Revolution 1848/49 bis zum österreichisch-ungarischen Ausgleich, in: Jan Janák (Hrsg.), Ústřední moc a regionální samospráva. XXIII. Mikulovské sympozium. IV. Sympozium „Spojující a rozdělující na hranici“. 5.–7. října 1993 / Zentralmacht und regionale Selbstverwaltung. XXIII. Mikulov-Symposium. IV. Symposium „Verbindendes und Trennendes an der Grenze“. 5.–7. Oktober 1993, Brno 1995, S. 247–251, hier: S. 247. Oleh Turij (Hrsg.), Holovna Rus′ka Rada 1848–1851. Protokoly zasidan′ i knyha korespondenciï [Der Ruthenische Hauptrat 1848–1851. Sitzungsprotokolle und Korrespondenzbuch], L′viv 2002. „wynalazca Rusinów“, Papée, Historya, S. 211. Zur ruthenischen Nationalbewegung in Galizien vgl. etwa: Jan Kozik, The Ukrainian National Movement in Galicia, 1815–1849, Edmonton 1986; Martha Bohachevsky-Chomiak, The Spring of a Nation. The Ukrainians in Eastern Galicia in 1848, Philadelphia 1967. Vgl. zur Rolle der Juden Artur Eisenbach, Das galizische Judentum während des Völkerfrühlings und in der Zeit des Kampfes um seine Gleichberechtigung, in: Studia Judaica Austriaca 8, 1980, S. 75–92.
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Gemeinde- und Wahlordnung auszuarbeiten.58 Gegen das Handeln „unserer Ausschussmänner“ regte sich heftiger Protest in der Bevölkerung.59 Ein Beitrag der vom Lemberger Nationalrat herausgegebenen Gazeta Narodowa (Nationalzeitung) betonte im April 1848, dass Lemberg bereits vor 1848 eine polnische Stadt gewesen sei, in der es kaum 300 deutsche Bürger gegeben habe, die aber fast ausschließlich die Plätze im Bürgerausschuss eingenommen hätten, während nur einige Polen dort vertreten gewesen seien.60 Daher bildeten einige Mitglieder des bisherigen Bürgerausschusses, Mitarbeiter des Magistrats und weitere Bürger, Rechtsanwälte und Juristen eine Kommission, die mit der Ausarbeitung einer „Provisorischen Vorschrift zur Reorganisation des bürgl. Ausschußes für die k. Hauptstadt Lemberg“ (Ustawa prowisoryczna do reorganizacyi Wydziału miejskiego dla król. stoł. Miasta Lwowa) beauftragt wurde.61 Sie wurde anschließend weiteren Honoratioren, Korporationen und wissenschaftlichen Institutionen, deren Einwände in die Endredaktion der Kommission einflossen, vorgelegt und am 20. Juli 1848 beschlossen. Der Text wurde nicht nur in deutscher, sondern auch in polnischer Sprache verfasst, was auf die erstarkenden polnischen Ansprüche hinweist, Magistrat und Bürgerausschuss als städtisches Repräsentationsorgan zu übernehmen. Aufgabe des Bürgerausschusses, der nicht den Bürgermeister als Vorsitzenden des Magistrates wählte, war hiernach die Interessenwahrnehmung der Stadt, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten, die Munizipalität zu reorganisieren und ein entsprechendes Gesetz vorzulegen, schließlich das Einkommen und die Güter der Stadt zu verwalten (§§ 25–27). Von wesentlicher Bedeutung für den Charakter des Bürgerausschusses und dessen Aufgabenwahrnehmung war vor allem seine Zusammensetzung. Daher legte Paragraf 1 fest, dass sich der sog. Bürgerausschuss (in der polnischen Diktion: Wydział miejski = städtischer/Gemeindeausschuss) aus 100 Personen, davon 85 Christen und 15 Juden („Altgläubige“/„starozakonni“) mit 30 Vertretern, davon 5 Juden, zusammensetzen solle.62 Ohne Unterschied zwischen den Religionen führte der 58
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Dies entsprach dem Verfahren in den übrigen Städten der Monarchie, vgl.: Ernst Mayrhofer’s Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern mit besonderer Berücksichtigung der diesen Ländern gemeinsamen Gesetze und Verordnungen, Bd. 2, Wien 51896, S. 429. „naszych ausszusmenerzy“, Rada Narodowa Nr. 14, 1848. Gazeta Narodowa (Nationalzeitung, GN) Nr. 59, 1848; vgl. Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 6 f. So der genaue deutsche Titel dieser „Vorschrift“, in: CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1848, B. 125; polnisch: Ustawa prowisoryczna do reorganizacyi Wydziału miejskiego dla król. Stoł. Miasta Lwowa, Lwów 1848, zit. in: Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 9–12, der darauf hinweist, dass dieses Gesetz bereits 1896 nicht mehr in den Ratsakten auffindbar war, dass er es aber aus den persönlichen Unterlagen des Vizepräsidenten Tadeusz Romanowicz habe abschreiben können (ebd., S. 9, in den Akten der Statthalterei ist der deutsche Text erhalten). Die Feststellung Klabouchs, Gemeindeselbstverwaltung, S. 22, dass es nirgends Versuche gegeben habe, die bisherigen Institutionen zu ersetzen, ist daher nicht zutreffend, zwar blieb die Bezeichnung Bürgerausschuss/Wydział miejski erhalten, aber seine Zusammensetzung erfolgte nach einem geänderten Zensus. § 1 der Provisorischen Vorschrift zur Reorganisation des Bürgerausschusses, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1858, B. 115. Vgl. die knappe Darstellung der Lemberger Entwicklung bis 1870 in: Heidi
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zweite Paragraf einen hohen, im Vergleich zu den Bedingungen vor der Revolution jedoch erweiterten Wahlzensus ein, der die Wählerschaft auf Basis von Grundeigentum, Steuerleistung, der Funktion als Kleriker aller Konfessionen und von einem höheren Bildungsgrad definierte. Hierbei konnte entweder schriftlich oder mündlich per Diktat gewählt werden. Diese Regelungen bedeuteten einen erheblichen Fortschritt im Vergleich zu den vorrevolutionären Wahlvorschriften, nicht nur weil der Bürgerausschuss erheblich erweitert worden, sondern das Verhältnis von diesem und dem Magistrat zugunsten des Ersteren festgelegt worden war. Zudem wurden Kriterien für das Wahlrecht (ab 24 Jahren) und die Wählbarkeit (ab 30 Jahren) erweitert und schließlich, so der ‚Stadtchronist‘ Kazimierz Ostaszewski-Barański 1896 euphorisch im Rückblick, auch der „Grundsatz der Toleranz“ gegenüber den Juden eingeführt.63 Griff die Provisorische Vorschrift der allgemeinen Entwicklung im Reich voraus, so zerschlug sie aber die 1848 geweckten revolutionären, egalitären Hoffnungen. Ihre Paragrafen 28 und 29 legten fest, dass der Bürgerausschuss bei der Verabschiedung eines Kommunalgesetzes zurücktreten, oder, falls dies nicht innerhalb eines Jahres erfolge, lediglich maximal ein Jahr amtieren und dann von Jahr zu Jahr neu gewählt werden solle. Obwohl der polnische Nationalrat es für nicht mit dem Geist der Verfassung vereinbar hielt, wurde er schließlich überzeugt, die auf der Provisorischen Vorschrift basierende Wahl eines Bürgerausschusses zu unterstützen. Dieser sollte dann ein Wahlgesetz erarbeiten, das den revolutionären Forderungen vom 18. März und 6. April 1848 entsprach. Im September 1848 fanden die Wahlen zum Bürgerausschuss statt, der sich am 14. Oktober konstituierte64 und den späteren Stadtpräsidenten Dr. Michał Gnoiński zum Ersten Vorsitzenden wählte. Eine der wenigen Aktivitäten des Bürgerausschusses war die Solidaritätsadresse des „ganzen freiheitsliebenden polnischen Volkes“ mit den Wiener Aufständischen vom 6. Oktober 1848, da er nach der Kapitulation der Stadt sowie der anschließenden Verhängung des Belagerungszustandes mit Wirkung vom 23. November durch General von Hammerstein-Equord aufgelöst wurde. Gerade die vorausgegangene Zerstörung des Rathausturms durch die Bombardierung der Stadt
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Hein-Kircher, Die Entwicklung der Lemberger Selbstverwaltung im Rahmen der habsburgischen Gemeindeordnung von der Revolution 1848 bis zur Verabschiedung des Statuts 1870, in: Markus Krzoska / Isabel Röskau-Rydel (Hrsg.), Stadtgeschichte in Polen. Ausgewählte Beiträge zur Stadtgeschichtsforschung in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, S. 83–106. „zasadę tolerancyi“, Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 12. Die Quotierung jüdischer Mitglieder im Bürgerausschuss war ein Ergebnis der Revolution und griff einer abschließenden politischen Emanzipation voraus, war daher trotz dieser Begrenzung zu diesem Zeitpunkt durchaus sehr fortschrittlich. Bericht des mit der Erarbeitung des Statuts beauftragten städtischen Komitees über den Entwurfsprozess des Statuts seit 1848 vom 28.11.1866, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 856, Bl. 49; Obwieszczenie dn. 11 sierpnia 1848 / Kundmachung v. 11.8.1848, Lwów/Lemberg 1848.
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2 Von der Vermögensverwaltung zur Politisierung der Gemeindeangelegenheiten
nahm symbolische Bedeutung für die Aufhebung der eben erst errungenen Selbstverwaltung durch die wiedererstarkende Monarchie an. Nach der Thronbesteigung Franz Josephs im Dezember 1848 beauftragte der Lemberger Bürgerausschuss den Superintendenten Adolf Theodor Haase, eine Huldigungsadresse an den Kaiser im Namen aller Nationalitäten Lembergs zu entwerfen. Sie bezeichnete die Bombardierung als die „trübste[n] Tage in der Geschichte Lembergs“ und erklärte die Bereitschaft der Lemberger Bevölkerung, dem Kaiser trotzdem Treue zu zeigen und sich bei der Neugestaltung der Verhältnisse unter einer neuen Verfassung einzubringen. Zugleich forderte sie aber, dass der Belagerungszustand aufgehoben und eine „bürgerliche Leitung“ eingesetzt werden würde, um zu verhindern, dass „eine neue Glut in dem staatlichen Organismus die Entfremdung erweitere, welche uns von dem Mittelpunkt trennt.“65 Insgesamt hatte die Lemberger Dynamik die der Reichsebene zunächst überholt, da die Regierung nach wie vor an Angelegenheiten der Lokalverwaltung wenig Interesse zeigte. Seit dem Frühjahr 1849 wurde die Lemberger Entwicklung erneut mit der des übrigen Reiches parallelisiert, indem die Gemeinde wieder in die Abhängigkeit von der politischen Verwaltung gedrängt wurde. Daher wurde unter von Hammerstein-Equord, der nun auch als Bürgermeister fungierte, die Verwaltung straff reorganisiert. Die von ihm eingesetzte vierzigköpfige Kommission amtierte bis Mitte Mai 1849, als der Mitte Februar neu gewählte Bürgerausschuss erstmals zusammentrat.66 Charakteristisch für die beginnende Reaktion war, dass das Provisorische Gemeindegesetz vom März 1849 nicht in Galizien in Kraft gesetzt wurde, sodass die vorrevolutionären Verhältnisse in der Lemberger Verwaltung restauriert wurden. Jedoch wurden seine Bestimmungen grundsätzlich angewendet. Die Amtseinführung des Lemberger Bürgerausschusses fand aufgrund eines Erlasses zur „Activirung des Bürgerausschußes“67 zu einem Zeitpunkt statt, als erste russische Einheiten, die sich an der Niederschlagung der Revolution in Ungarn beteiligen sollten, durch Lemberg marschierten.68 Lemberg wurde unter Polizeiaufsicht gestellt. Ständig fanden Durchsuchungen und Verhaftungen statt, u. a. von den bekannten Revolutionären Florian Ziemiałkowski und Franciszek Smolka. Das Lemberger Bürgertum wurde, so Kazimierz Ostaszewski-Barański am Ende des 19. Jahrhunderts, wieder unter das „deutsche Joch“69 gestellt: Während des sog. Belagerungszustandes in Galizien wurden die 65 66
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Röskau-Rydel, Galizien, S. 96 f. DALO, f. 3, op. 1, spr. 1323, Bl. 24–30 (Tätigkeitsbericht). Zur Amtseinführung des neuen Bürgerausschusses am 16. Mai vgl. GL v. 26.5.1849; zu dessen Aufgaben nach dem Protokoll der Sitzung vom 16. Mai vgl. GL v. 12.7.1849 und Obwieszczenie/Kundmachung v. 24.1.1849, Lwów/Lemberg 1849. ALGuRBl. Nr. 302/1849. Wahlergebnis: DALO, f. 3, op. 1, spr. 12323, Bl. 6. Klabouch, Gemeindeselbstverwaltung, S. 38 f. Die Einquartierung und Verpflegung der Einheiten trugen zur verschlechterten Finanzlage der Stadt erheblich bei. „pod jarzmem niemieckiem“, Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 19.
2.2 Polnisches Verlangen: aufkeimende Forderungen nach lokaler Einflussnahme seit 1848
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Kompetenzen des Bürgerausschusses schrittweise eingeschränkt und seine Amtszeit verlängert, hätten doch Neuwahlen ein Signal in Richtung Selbstverwaltung bedeutet. Obwohl das Dekret des Innenministers vom 12. April 1849 noch die Öffentlichkeit der Ausschusssitzungen angeordnet hatte,70 durfte der Bürgerausschuss in Lemberg bis 1861 nicht öffentlich tagen. Grundsätzlich stellte er aber eine wesentliche Weiche für die weitere Entwicklung der Lemberger Selbstverwaltung, da er sich seit Beginn seiner Tätigkeit – dem Beispiel anderer Städte folgend – für die Erarbeitung eines Statutes einsetzte.71 Nicht nur diese Maßnahmen, sondern auch die folgenden weiteren Einschränkungen der während der Revolution etablierten Ansätze kommunaler Selbstverwaltung führten in Lemberg, wie allerorts, dazu, dass das kaum erwachte Interesse an der Selbstverwaltung als Repräsentanz der Einwohnerschaft rasch wieder nachließ und nach Auffassung Ostaszewski-Barańskis einer „langjährigen Lethargie“ wich.72 Da wegen des Belagerungszustandes in Galizien das Provisorische Gemeindegesetz nicht eingeführt worden war, wurden überall fällige Neuwahlen der Bürgerausschüsse unterbunden und die Amtszeit der Gemeindevertretungen bis zur Verabschiedung eines neuen Gemeindegesetzes verlängert.73 Im April 1854 wurde durch die Reorganisation der Lokalverwaltungen nach neoabsolutistischen Gesichtspunkten Lemberg direkt der Statthalterei unterstellt. Nach acht Jahren Amtszeit waren im Lemberger Bürgerausschuss 1857 anstelle der 100 gewählten und 30 vertretenden Mitglieder insgesamt nur 84 übrig geblieben, weshalb er als „stummer Bürgerausschuss“74, der nicht zurücktreten würde, vom Lemberger Bürgertum kritisiert wurde.75 Daher reichte der Bürgerausschuss im Mai 1857 eine Petition beim Statthalter mit der Bitte ein, Neuwahlen auszuschreiben und die Mindestgröße des Bürgerausschusses festzulegen. Wie
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ALGuRBl. Nr. 302/1849. Die Erteilung der Sanktion wurde seitens des Bürgerausschusses bereits für 1850 erwartet, vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 1323, n. pag., LZ v. 1.10.1850; vgl. auch Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 19–23. „długoletniego letargu“, so der Rückblick der Statutskomission vom 28.11.1860, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, s. auch ÖStA, AVA, MdI Präs. 11, K. 423 in genere mit Klagen von Statthaltern über das mangelnde Engagement der Bürgerausschussmitglieder verschiedener Städte; vgl. auch Urbanitsch, Gemeindevertretungen, S. 2205. ARGuRBl. Nr. 440/1849; ALGuRBl. Nr. 567/1849; RGBl. Nr. 46/1854; LRBl. Nr. 118/1854 sowie Nr. 11/1856 und Nr. 15/1856. Vgl. zur allgemeinen Entwicklung Georg Seiderer, Das Ringen um die Kommunalverfassung 1849 bis 1859, in: Harm-Hinrich Brandt (Hrsg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien etc. 2014, S. 281–305. „niemy Wydział“, Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 22. In dieser Haltung ist eine durchaus bewusste Analogie zum „Stummen Sejm“ (Niemy Sejm) nicht zu übersehen; als „stumm“ wurden diejenigen Reichstage 1717, 1768, 1773 und vor allem 1793 bezeichnet, bei denen der Sejm jeweils eine erhebliche Einmischung des Russländischen Reiches in innere Angelegenheiten ohne Aussprache sanktionieren musste. Aus dieser Haltung heraus ist auch die häufige Beschlussunfähigkeit des Bürgerausschusses zu deuten, DALO, f. 3, op. 1, spr. 1320.
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wenig die Landesbehörden daran interessiert waren, zeigte sich daran, dass lediglich mit einem ministerialen Dekret geantwortet wurde, wonach die Zahl der Ausschussmitglieder nicht unter 60 fallen solle.76 Wurde in Lemberg noch ein kollektiver Rücktritt des Bürgerausschusses zur Erzwingung von Neuwahlen diskutiert, schränkte ein ministerieller Erlass im August 1858 dessen Kompetenzen noch weiter ein, indem der Magistrat vollkommen unabhängig von diesem agieren konnte und mit Angelegenheiten der Gemeinde, der Ortspolizei und der politischen Verwaltung sowie mit Strafangelegenheiten betraut wurde. Dem Bürgerausschuss blieb lediglich ein eingeschränktes Beratungsrecht bei der Ernennung von einigen Beamten und Räten der Kämmerei (nicht jedoch deren Leitungspositionen) sowie das Recht zur Beratung des Magistrats erhalten. Erst die Ende der 1850er Jahre nicht zuletzt wegen der zerrütteten Staatsfinanzen einsetzenden Reformtätigkeiten auf Reichsebene, die der ehemalige galizische Statthalter Graf Agenor Gołuchowski als Innenminister beeinflusste, führten zur schrittweisen Revision der bisherigen Haltung der Reichsregierung in Bezug auf die kommunale Selbstverwaltung. Das Kübeck’sche Gemeindegesetz77 vom 24. April 1859 bedeutete einen wichtigen Schritt in diese Richtung, zumal seit November des Jahres in Galizien begonnen wurde, ein Landesgemeindegesetz78 zu erarbeiten. Die mit dem Oktoberdiplom 1860 beginnende Konstitutionalisierung der Monarchie revidierte schließlich die bisherige Gemeindepolitik und brachte eine Rückbesinnung auf das Gemeindegesetz von 1849 mit sich.79 Jedoch blieb es zunächst bei diesen Ansätzen, die Florian Ziemiałkowski pointiert zusammenfasste, wonach das Februarpatent von 1861 „auf dem Papier Freiheit und Selbstverwaltung im Grundsatz, in der Praxis aber Unfreiheit und Zentralisation“80 bedeute. Vor diesem Hintergrund entwickelte der Lemberger Bürgerausschuss 1859 wieder erste eigene Aktivitäten, indem er eine Kommission damit beauftragte, das seit 1849 angestrebte Statut zu erarbeiten. Die Lemberger liberal-demokratischen Bürger kritisierten dieses Vorgehen vor allem deswegen, weil der Bürgerausschuss zu sehr in seinen Routinen gefangen sei. Sie verlangten, dass neue Kräfte ohne ängstlichen Blick auf die Regierung das Statut ausarbeiten sollten, welche die Belange und Interessen der 76 77 78 79
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Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 22 f. RGBl. Nr. 58/1859. Ein wichtiger Punkt des Gemeindegesetzes war die Wahlordnung, wonach das Wahlrecht auf juristische Personen ausgedehnt wurde. GL v. 18. und 19.11.1859. So die bis zum Erlass eines neuen Gemeindegesetzes gültigen Verordnungen RGBl. Nr. 261/1860 (26. November), Nr. 38/1861 (29. März). Zur einsetzenden Föderalisierung: Thomas Simon, Die Föderalisierung des Kaisertums Österreich nach 1860 und der Gedanke der Selbstverwaltung, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht. Beiheft 19: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit, Berlin 2010, S. 257–283. „wolnością na papierze i samorządem w zasadzie a niewolą i centralizacją w praktyce“, zit. nach Ostaszewski-Barański, Rozwój, S. 25.
2.2 Polnisches Verlangen: aufkeimende Forderungen nach lokaler Einflussnahme seit 1848
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Gemeinde sowie ihres Repräsentativorgans besser verstünden und berücksichtigten. Schließlich forderte eine von 240 Bürgern unterzeichnete Eingabe an die Landesbehörden im März 1861, Neuwahlen des Bürgerausschusses aufgrund des ihrer Ansicht nach „rechtskräftigen und nicht ausgeführten Statuts für die Stadt Lemberg vom 20. Juli 1848“81 auszuschreiben. Insgesamt verfolgte der Bürgerausschuss im Vergleich zu denjenigen in anderen Städten der Monarchie eine andere Taktik, um Neuwahlen zu erlangen, denn beispielsweise in Graz und Innsbruck demissionierten Bürgerausschüsse in corpore und versuchten, über diese Form der Handlungsunfähigkeit Neuwahlen zu erzwingen. Der Lemberger Bürgerausschuss beantragte dagegen im April 1861 beim Statthalter die Ausschreibung von Wahlen. Die Behandlung dieses Beschlusses verdeutlicht die Abhängigkeit des Bürgermeisters und des Magistrats von der Statthalterei, denn erst am 11. Juli gab der seit 1857 amtierende Bürgermeister und Statthaltereirat Franciszek Kröbl die bereits einen Monat zuvor erteilte Zustimmung des Statthalters zu Neuwahlen bekannt, wonach der Bürgerausschuss wiederum aufgrund der „Provisorischen Vorschrift zur Reorganisation des bürgl. Ausschußes für die k. Hauptstadt Lemberg“ für eine unbegrenzte Zeit gewählt werden sollte. Gemäß des ministeriellen Reskripts vom 12. April 1859 durften sein Aufgabenbereich und dessen Verhältnis zu Bürgermeister und Magistrat nicht verändert werden, was laut Protokoll zu Unmutsäußerungen führte, da sich die Hoffnungen auf mehr Selbstverwaltung nicht erfüllten.82 Der Bürgerausschuss konstituierte sich kurz nach den Wahlen am 31. Oktober 186183 und beschloss direkt die Öffentlichkeit der Sitzungen. Bereits während dieser Sitzung betonte der amtierende Bürgermeister Kröbl, dass Hauptaufgabe des Bürgerausschusses die Erarbeitung eines eigenen Gemeindegesetzes sei. Ziemiałkowski, der als Sprecher fungierte, unterstützte ihn, indem er betonte, dass das Gremium sich als Provisorium verstünde, dass aber auch eine neue Geschäftsordnung notwendig sei.84 Die nächsten Sitzungen waren für die zunehmende Politisierung der Gemeindeangelegenheiten von erheblicher Bedeutung, weil die Ausschussmitglieder ihren Anspruch auf die Führung derselben überaus deutlich machten. Symbolisch schüttelten sie in der Sitzung am 12. Dezember die mit „Bürgerausschuss“ implizierte politische Geltungslosigkeit ab und benannte sich in „Rat der Stadt Lemberg“85 (Rada miasta Lwowa) um. Die hierzu kontrovers geführten Debatten über die genaue Nomenklatur lassen auf das Selbstverständnis, aber auch auf die Entwicklung des Politikverständnisses der städtischen Repräsentanten schließen, die Lemberg nicht als bloße Gemeinde, sondern als bedeutende „Stadt“ mit einem Anspruch auf ein eigenes Statut
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„prawomocnego ale niewykonywnego statutu dla m. Lwowa z 20 lipca 1848“, ebd., S. 25. Urbanitsch, Gemeindevertretungen, S. 2207, vgl. auch RGBl. Nr. 261/1860. Ausschreibung in GL v. 22.8.1861, wonach die Wahlen für die Zeit vom 10.–12.10.1861 geplant waren. DALO, f. 3, op. 1, spr. 2179 und f. 3, op. 1, spr. 2226. GL v. 15.1.1862 und v. 30.1.1862.
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sahen.86 Dieses Selbstverständnis drückte sich auch in der Debatte über die Bezeichnung ihres Amtes aus.87 Schließlich entschied sich der Stadtrat für die Bezeichnung der Mandatsträger als „Rat/Ratsherr“ („radny“), was sie auch damit begründeten, dass er als Terminus in der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791 zu finden sei.88 Dieser Beschluss verweist auf den polnischen Führungsanspruch in der Stadt, nicht nur das städtische Vermögen zu verwalten, sondern die lokalen Angelegenheiten aktiv zu gestalten, sowie auf den Anspruch, an die polnische Tradition anzuschließen. Infolge der revolutionären Ereignisse konnte langfristig der polnische Führungsanspruch auf der lokalen Ebene erstarken und zu einem Austausch der bisherigen politischen deutschsprachigen Eliten führen. Das Vorgehen im neu gewählten Bürgerausschuss/Stadtrat hinsichtlich der Nomenklatur, die anschließend in der neuen Geschäftsordnung fixiert wurde, zeigt darüber hinaus, wie selbstbewusst die städtischen politischen Eliten den Bezug zu den polnischen Traditionen nutzten, um ihren Führungsanspruch in Lemberg zu demonstrieren. Das aufgekeimte polnische Verlangen nach politischer Dominanz in der Stadt hatte durch diese Maßnahmen einen ersten wichtigen Meilenstein für die Festigung des Führungsanspruches erreicht. 2.3 Die habsburgische Gemeindegesetzgebung nach 1862 als Grundlage der städtischen Autonomie Für den Lemberger Stadtrat war ein eigenes Statut zunächst Hauptziel, weil er dadurch hoffte, endlich über die Geschicke der Stadt autonom entscheiden zu können. Dies bedurfte eines langwierigen Weges seit der Revolution 1848/49, der erst 1870 seinen Abschluss fand. Um das weitere Handeln der Kommunalpolitik erfassen und in den Kontext von Kronland und Reich gleichermaßen einordnen zu können, sollen nun zunächst die Grundzüge der hierfür notwendigen rechtlichen Grundlagen auf Reichsund Kronlandebene skizziert werden, auf die in den weiteren Kapiteln rekurriert wird. Das 1862 in Kraft getretene Reichsgemeindegesetz stellte eine „fundamentale Zäsur der Gemeindeentwicklung“89 und einen wichtigen Schritt für die Entstehung eines 86 87 88 89
Protokoll in GL v. 30.1.1862. „niewłaściwem“, „nieparlamentarnem“, GL v. 1.2.1862. Diese Behauptung trifft nicht zu, denn im Verfassungstext wird „rada“, nicht aber „radny“ verwendet. Vgl. Ustawa Rządowa z 3 maja 1791 r., URL: http://www.polishconstitution.org/KonstytucjaPL.html (4.1.2019). Martin P. Schennach, Das Provisorische Gemeindegesetz 1849 und das Reichsgemeindegesetz 1862 als Zäsur? Reflexionen zum österreichischen Gemeindebegriff im 19. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 120, 2012, S. 369–390, hier: S. 382. Zur Bedeutung der Städtestatuten vgl. Heidi Hein-Kircher, Von Instrumenten der Durchstaatlichung zu Instrumenten des Nationalitätenkonflikts. Zur nationalitätenpolitischen Bedeutung von Städtestatuten am Beispiel des Lemberger Statuts, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 8, 2018, S. 63–80.
2.3 Die habsburgische Gemeindegesetzgebung nach 1862
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konstitutionellen Staates dar. Dieser Weg war bereits durch die Forderungen und Maßnahmen in den Revolutionsjahren, insbesondere durch das Provisorische Gemeindegesetz aus dem Jahr 1849, eingeschlagen worden.90 Die Gemeindegesetzgebung auf Reichsebene während der Reformära der beginnenden 1860er Jahre war ein Versuch, die trotz der starken Zentralisierung des Staates äußerst heterogenen Verhältnisse zu vereinheitlichen.91 Sie muss daher im Zusammenhang mit dem zentralisierenden, „zweigleisigen“ Staatsausbau gesehen werden, der auch dazu diente, sich kostenträchtiger und nur vor Ort lösbarer Aufgaben zu entledigen. Diese mehrschichtige Zielsetzung sowie die damit verbundenen politischen Erwartungen an das Gemeindegesetz wurden auch in den langwierigen Debatten insbesondere im Abgeordnetenhaus des Reichsrates deutlich.92 So war auch für Ministerpräsident Schwarzenberg die „erste und dringendste Aufgabe bei dem großen Werke der Neugestaltung der staatlichen Verhältnisse der Monarchie […] die Organisirung des Gemeindewesens.“93 Hierzu griff die Regierung auf das während der Revolutionszeit erlassene Provisorische Gemeindegesetz vom 17. März 1849 zurück, das Innenminister Graf Stadion aufgrund seiner Erfahrungen als Gouverneur in den Österreichischen Küstenlanden (1841–1847) und in Galizien94 (1847/48) erarbeitet hatte und das für sämtliche Kronländer außer den ungarischen Gebieten galt. Wegen der allgemeinen politischen Entwicklung des Neoabsolutismus
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Christian Vasold, Das Reichsgemeindegesetz 1862 – Entstehung, Bedeutung und Inhalte, Dipl.-Arb. Graz 2011, URL: http://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/215440 (1.7.2019), S. 80– 88. Vgl. auch Redlich, Geschichte. MHpVD, S. 418; vgl. Sonja Pallauf, Salzburgs Landgemeinden auf dem Weg in die Eigenständigkeit 1848–1867, phil. Diss. Salzburg 1999, S. 11 f.; Josef Redlich, Das Wesen der österreichischen Kommunalverfassung, Leipzig 1910, S. 17, betont den progressiven Charakter des Gesetzes, weil Preußen erst 1891 eine Landgemeindeordnung erließ; vgl. auch ders., Grundzüge des geltenden österreichischen Gemeinderechtes, in: Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte, Bd. 6 Österreich, Leipzig 1907, S. 89*–142*. Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses des Reichsrates, 1. Session, 11.–50. Sitzung, Wien 1862, S. 284 und S. 1162 f. Allterunterthänigster Vortrag des treu gehorsamen Ministerrathes betreffend die Erlassung eines provisorischen Gemeindegesetzes, in: Wiener Zeitung v. 20.3.1849. Vgl. John Deak, Forging a Multi-National State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War, Stanford 2015; Wilhelm Brauneder, Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848 bis 1918, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII Verfassung und Parlamentarismus, Teilbd. 1 Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 69–237, hier: S. 132 ff. Parallel zur städtischen Ebene wurde unter Gouverneur Graf Stadion im Mai ein Gemeindegesetz für Galizien entwickelt, das auch als Grundlage für das Provisorische Gemeindegesetz auf Reichsebene 1849 diente. Zu den Grundlagen und insbesondere zur Übernahme von Gedanken aus der Paulskirchenverfassung (Art. 11 § 184) vgl. Alfred Schachner-Blazizek, Gemeinderecht und Gemeindeverwaltung. Die 100 Jahre von 1848–1948, Graz 1995, insb. S. 16–23. Dennoch gilt es als „höchst originäre Schöpfung“ (ebd., S. 18). Vgl. auch Deak, Forging, S. 84–86. Vgl. auch die zeitgenössische Interpretation: Ern[e]st May[e]rhofer, Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst bei den Landes-, Kreis- und Bezirksbehörden im Kaiserthum Oesterreich, Wien 1856, S. 930–938.
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war es nur zwischen 1849 und 1850 gültig. An diesen Maßnahmen zeigt sich, dass die Umgestaltung der Gemeindeverhältnisse insgesamt als prioritär für die Reorganisation des Verwaltungssystems angesehen wurde.95 Der Staat sollte nicht mit zu viel Verantwortung belastet werden, sodass die Autonomie der lokalen Selbstverwaltung formuliert wurde, die in Artikel 1 des Provisorischen Gemeindegesetzes als Leitprinzip festgelegt wurde: „Die Grundlage des freien Staates bildet die freie Gemeinde“96, wodurch die Gemeinden Selbstverwaltungsrechte im Rahmen des „natürlichen“ oder „eigenen Wirkungskreises“ erhielten; zugleich sah es für die größeren und bedeutenderen Städte eigene Stadtstatuten vor.97 Diese als „doktrinäre Schrulle belächelte Erklärung“ sei, so der Verfassungs- und Verwaltungsjurist Josef Redlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als ein „lebendiger Protest gegen den ‚Staat‘ ins Leben gerufen worden.“98 Wegen der politisch selbstständigen Bedeutung des Bürgerausschusses für die Gemeindeverwaltung hatte das neoabsolutistische Regime das von den Intentionen her durchaus antiliberale Provisorische Gemeindegesetz und die Gemeindeselbstverwaltung als „wesentliche Errungenschaft der Revolution in der Gemeindegesetzgebung“ schrittweise zurückgenommen.99 Erst die militärischen Niederlagen und die wirtschaftliche und innenpolitische Krise Anfang der 1860er Jahre leiteten die schrittweise Entwicklung eines konstitutionellen Systems ein und beschleunigten dadurch die Entwicklung der Gemeindegesetzge-
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Vasold, Reichsgemeindegesetz, S. 11 f. ARGuRBl. Nr. 170/1849, ALGuRBl. Nr. 227/1849, auch in: DALO, f. 3, op. 1, spr. 1323, Bl. 50–71; vgl. Konstanty Grzybowski, Galicja 1848–1914. Historia ustroju politycznego na tle historii ustroju Austrii [Galizien 1848–1914. Geschichte der politischen Verfassung vor dem Hintergrund der Geschichte der Verfassung Österreichs], Kraków etc. 1959, S. 229–234 (im Duktus des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes). Die Herausnahme der größeren Städte aus der allgemeinen Gemeindegesetzgebung mithilfe eigener Statuten verstieß gegen den postulierten Gleichheitsgrundsatz aller Ortsgemeinden. Dass sie direkt den politischen Zentralbehörden unterstellt wurden, ist als weiteres Anzeichen für den antidemokratischen und -liberalen Charakter der kaiserlichen Politik zu werten. Insgesamt blieb das oktroyierte Stadion’sche Gemeindegesetz hinter den demokratischen Forderungen zurück, denn mit der Einführung eines Dreiklassenwahlrechts wurde der Adel als Machthaber in den Städten zugunsten einer kleinen reichen Bürgerschicht abgelöst. Vgl. Herget, Selbstverwaltung, S. 11 f.; Karl Ucakar, Demokratie und Wahlrecht in Österreich. Zur Entwicklung von politischer Partizipation und staatlicher Legitimationspolitik, Wien 1985, S. 103–106; Ogris, Entwicklung, S. 87. Redlich, Geschichte, S. 60. Vgl. Herget, Selbstverwaltung, S. 12; MHpVD, S. 418; Klabouch, Gemeindeselbstverwaltung, S. 31; als ein konziser Überblick: Peter Urbanitsch, Functions and Tasks of the Municipal Government in the Monarchy, in: Jacek Purchla (Hrsg.), Mayors and City Halls. Local Government and the Cultural Space in the Late Habsburg Monarchy, Cracow 1998, S. 11–24; zu Galizien: Stanisław Grodziski, The Organization and Role of Galician Municipal Government at the Turn of the Century, in: ebd., S. 25–33. In Galizien, der Bukowina und Dalmatien wurde das Gesetz aus politischen Gründen nicht angewendet. Zur Entwicklung in Ungarn: Károly Vörös, Die Munizipalverwaltung in Ungarn im Zeitalter des Dualismus, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII Verfassung und Parlamentarismus, Teilbd. 2 Die regionalen Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 2345–2382. ARGuRBl. Nr. 197/1850; Nr. 2–4/1852, 11/1850; Nr. 4/1852, 17/1852 und 67/1852.
2.3 Die habsburgische Gemeindegesetzgebung nach 1862
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bung. Außerdem waren durch das Februarpatent von 1861 die Länder zu, wenn auch in begrenztem Maße, autonomen Selbstverwaltungskörpern geworden, die für die Ausführungs- und die Vollziehungsgesetzgebung bezüglich der Gemeinden zuständig waren. Zunächst hatte Staatsminister Gołuchowski Neuwahlen der Gemeindevertretungen auf Grundlage des Provisorischen Gemeindegesetzes für das Frühjahr 1861 angeordnet. Zuvor hatte er im Oktober 1860 eine Denkschrift mit den Leitlinien der zukünftigen Gestalt des Reichsgemeindegesetzes vorgelegt, in der er auf die Ideen des Provisorischen Gemeindegesetzes rekurrierte. Dieses ist daher als ein Resultat der politischen Entwicklungen und als ein „Spagat zwischen Festhalten am bürokratisch organisierten Obrigkeitsstaat und Verwirklichung der liberalen Reformbewegung“100 zu werten. Es ging Gołuchowski vor allem darum, den bisherigen Verwaltungsaufwand zu reduzieren und begrenzte Aufgaben aus dem Verantwortungsbereich der Regierung herauszunehmen und zu delegieren. Das Resultat dieser Entwicklung stellte das am 5. März 1862 in Kraft getretene Reichsgemeindegesetz101 (RGG) dar. Es verstand sich als vereinheitlichendes Rahmengesetz; die entsprechenden Landesgesetze wurden bis 1866 verabschiedet. Die grundlegenden Bestimmungen des RGG und der Landesgemeindeordnungen sind mit einigen Ausnahmen in die Städtestatuten aufgenommen worden, wobei die Galizische Landesgemeindeordnung (gLGO) und die Gemeindewahlordnung vom 19. März 1866102 die Position der Hauptstadt Lemberg und der Stadt Krakau als Statutarstädte bestätigten. Wie im Provisorischen Gemeindegesetz von 1849 erhielten im RGG und in den Ländergemeindeordnungen die als besonders wichtig gesehenen sog. Statutarstädte103 (Art. XXII–XXIV RGG) aufgrund von politischen Überlegungen eine herausgehobene gesetzliche Sonderstellung, um einen besseren Zugriff auf ihre Verwaltung zu haben.104 Grundsätzlich waren Statutarstädte landesunmittelbar, d. h. sie 100 Vasold, Reichsgemeindegesetz, S. 20; vgl. auch Urbanitsch, Gemeindevertretungen, S. 2207. 101 RGBl. 18/1862; Das Gemeindegesetz vom 5. März 1862 sammt den Gemeindeordnungen für alle Kronländer, mit allen Nachtragsgesetzen sowie den einschlägigen Verordnungen, den Erkenntnissen des Reichsgerichtes und des Verwaltungsgerichtshofes, Wien 91895; ausführlicher Kommentar: MHpVD, S. 434–437. Im ungarischen Reichsteil wurde 1870 ein eigenes Gemeindegesetz erlassen; Budapest erhielt im Rahmen des Zusammenschlusses der zuvor selbstständigen Städte Ofen (Buda), Alt-Ofen (Óbuda) und Pest 1873 ein eigenes Gesetz. Vgl. Attila Pók, Neue Staatsstruktur des Habsburgerreiches – neues Verwaltungssystem nach dem ungarischen Ausgleich in Ungarn, in: Ferenc Glatz / Ralph Melville (Hrsg.), Gesellschaft, Politik und Verwaltung in der Habsburgermonarchie 1830–1918, Wiesbaden etc. 1987, S. 189–203, hier: S. 196; Vörös, Munizipalverwaltungen. 102 LGuVBl. Nr. 19/1866. 103 Karl Brockhausen, Städte: Statutargemeinden, in: ÖStWB, Bd. 4, S. 451. 104 Abriss der Vorschriften: Redlich, Grundzüge, S. 134–142. Eine Besonderheit des Wiener Statuts vom 19.12.1890 verdeutlicht, wie begrenzt die Autonomie der Statutarstädte war, da die §§ 52–53 dem Landtag in „besonders wichtigen“ Gemeindeangelegenheiten ein direktes Entscheidungsrecht vorbehielten, falls ein Sechstel der anwesenden Ratsmitglieder gegen einen Beschluss protestiert hätte. Nach § 102 blieben Aufgaben des eigenen Wirkungskreises auch der Einwirkung und
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2 Von der Vermögensverwaltung zur Politisierung der Gemeindeangelegenheiten
waren unabhängig von den Mittelinstanzen, den politischen Behörden erster Instanz und den Bezirks- oder Kreisvertretungen: Sie wurden „aus der territorialen Organisation der inneren Verwaltung innerhalb der einzelnen Kronländer völlig eximiert“105 und erhielten einen erheblich vergrößerten Wirkungskreis, zugleich aber mussten sie diese Aufgaben selbst finanzieren, obwohl sie deutlich unterfinanziert waren.106 Um nicht die Kontrolle über das politische Leben aufzugeben, schränkte das RGG die Autonomie der Statutarstädte dadurch ein, dass in vielen Statutarstädten – in Tradition des Provisorischen Gemeindegesetzes – eigene staatliche Behörden mit einem Teil der Lokalpolizei betraut wurden und die Statutarstädte auch nicht zur Dienstbehörde der Gendarmerie wurden, obwohl sie grundsätzlich Funktionen als Bezirksbehörde wahrnahmen.107 Eine wichtige Besonderheit und weitere Einschränkung der Autonomie stellte in den Statutarstädten die notwendige kaiserliche Bestätigung der gewählten Gemeindevorsteher dar (Art. XXII).108 Letztlich konnten die Statutarstädte nur hinsichtlich des „eigenen Wirkungskreises“, also in der Stadtplanung und auf kultur- und teilweise auf bildungspolitischem Gebiet, autonom handeln. Sie waren auch grundsätzlich berechtigt, eine der bestehenden Landessprachen als Amtssprache zu wählen.109 Zudem erhielten sie die vermögendsten Schichten bevorzugende Wahlordnungen.110 Insgesamt richteten die sie entwerfenden Stadträte die Regelungen nach den jeweiligen ethno-sozialen Spezifika aus. Die Räte wurden in der Regel durch drei Wahlkörper gewählt, wenn man von der Einteilung in vier Wahlkörper in Wien und Triest und der noch zu diskutierenden Lemberger Regelung, nur einen Wahlkörper zu bilden (s. Kap. 3.2.3), absieht.111 Das ursprünglich vorbildliche und auch im Ausland bewunderte RGG hatte zwar den Selbstverwaltungsgedanken als Mittel zur administrativen Aufgabenbewältigung
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Kontrolle der Regierung dort vorbehalten, „wo sie es für nöthig findet“, Landesgesetzblatt für Niederösterreich Nr. 45/1890. Redlich, Wesen, S. 42. Brockhausen, Statutargemeinden, S. 452 f. Obwohl die Statuten jeweils an die geltenden Landesgemeindeordnungen angelehnt wurden, entwickelten sich darin innerhalb eines Kronlandes deutliche Unterschiede, weil die Städtestatuten häufig nicht an die einschlägigen Novellen der Landesgemeindeordnungen angepasst wurden. Daher entstanden insbesondere in den Landeshauptstädten neben den Kommunalämtern landesfürstliche, der Statthalterei unterstellte Polizeidirektionen. ÖStWB, S. 455 f. und § 3 des Gendarmeriegesetzes vom 25.12.1894, RGBl. Nr. 1/1895. Zum Beispiel Laibach/Ljubljana: s. Anm. 19 im Fazit. Die Reform der gLGO von 1907 bestätigte ausdrücklich die Vorschriften der Städtestatuten von Lemberg und Krakau, vgl. LGuVBl. Nr. 21/1907. Hiernach konnte die als Amtssprache festgelegte Sprache nur durch Mehrheitsbeschluss verändert werden. Eingaben konnten aber nicht nur in Polnisch, sondern auch in Ruthenisch oder Deutsch getätigt werden, wobei es keine Garantie gab, in welcher Sprache die Eingabe erledigt wurde. Faktisch sanktionierte das Gesetz die Dominanz der polnischen Sprache in den autonomen galizischen Behörden. Urbanitsch, Gemeindegesetzgebung, S. 2211. ÖStWB, S. 340.
2.3 Die habsburgische Gemeindegesetzgebung nach 1862
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und -verlagerung nach dem Prinzip des divide et impera genutzt, damit aber auch ein Instrument des Nationalitätenkampfes entwickelt, wie im Folgenden am Lemberger Beispiel auszuführen ist. In der Kommune bewege sich nämlich, so Josef Redlich, das „Kräftespiel der sozialen, nationalen und parteimäßigen Bewegungen und Gegenbewegungen der Völker“ frei, das nur durch den „weitumspannenden, schmalen, wenn auch festen Reifen der Oberaufsicht der Staatsbehörden und des Verwaltungsgerichtshofes“112 zusammengehalten würde. Die den gesetzlichen Regelungen und die ihnen zugrunde liegenden politischen Entwicklungen auf Reichs-, Landes- und städtischer Ebene hatten dazu geführt, dass die kommunalen Aufgaben nicht mehr als reine Vermögensverwaltung wahrgenommen wurden, sondern zunehmend als politische Angelegenheiten der Bürgerschaft. Wie national dominante Gruppen in den übrigen Statutarstädten auch, hatten die Lemberger polnischen politischen Eliten diese gesetzlichen Regelungen als Chance erkannt, nicht nur mehr Einfluss auf kommunaler Ebene zu fordern, sondern sich auch rasch den Stadtrat als politisches Führungsorgan und Arena anzueignen. Auf diese Weise war die Gemeindegesetzgebung zu einem rechtlichen Instrument der Lemberger Polen geworden, ihre national motivierten Forderungen nach politischer Autonomie durchzusetzen und die übrigen ethnischen Gruppen von politischen Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der Stadt auszuschließen.
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Redlich, Wesen, S. 52, der dies als Vor- und Nachteil gleichmaßen erkannte.
3 Die Arena erobern und sichern Kommunale Autonomie als Resonanzraum des polnischen Führungsanspruches Aus Sicht der polnischen Akteure hatte der sich nun als Stadtrat bezeichnende Bürgerausschuss der Stadt Lemberg zum Jahreswechsel 1861/62 seine Befugnisse wiedererlangt, weil er sich auf die städtischen Traditionen der ehemaligen Rzeczpospolita bezog. Jedoch beruhte diese Position des Stadtrates auf dem habsburgisch-imperialen rechtlichen Rahmen des RGG. Daher speiste sie sich aus einer anderen Rechtsquelle als die galizische Landesautonomie, die nicht rechtlich abgesichert, sondern nur schrittweise und de facto entstanden war. Durch diese rechtliche Position konnte er in besonderer Weise seinen Führungsanspruch artikulieren, durch die Nomenklatur zum Ausdruck bringen und in der Folge in einem eigenen Statut fixieren. Jedoch bedurfte es hierfür weiterer Schritte, um den Stadtrat und damit die kommunale Selbstverwaltung als polnische Arena endgültig zu erobern und anschließend zu sichern. Diese fanden jedoch erst durch das Inkrafttreten des Statuts nach dem Ende der Konstitutionalisierungsperiode durch die Dezembergesetze 1867 und parallel zur entstehenden faktischen Autonomie Galiziens1 im cisleithanischen Reichteil ihren Abschluss. Der Auf- und Ausbau der Arena erfolgte somit im Rahmen der Gemeindegesetzgebung, durch welche die verschiedenen Mittel und Praktiken der Machtsicherung entwickelt werden konnten. Dieser Prozess wurde von inhärenten Versicherheitlichungsdiskursen begleitet, ging es doch darum, die eigene dominierende Position zu sichern 1
Zur galizischen Autonomie: Christoph Marschall von Bieberstein, Freiheit in der Unfreiheit. Die nationale Autonomie der Polen in Galizien nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867. Ein konservativer Aufbruch im mitteleuropäischen Vergleich, Wiesbaden 1993; Harald Binder, „Galizische Autonomie“. Ein streitbarer Begriff und seine Karriere, in: Lukáš Fasora / Jiří Hanuš / Jiří Malíř (Hrsg.), Moravské vyrovnáni z roku 1905. Možnosti a limity národnostního smíru ve střední Evropě [Der Mährische Ausgleich von 1905. Möglichkeiten und Grenzen für einen nationalen Ausgleich in Mitteleuropa], Brno 2006, S. 239–266. Zum Verhältnis zur Reichsregierung vgl. Karlheinz Mack (Hrsg.), Galizien um die Jahrhundertwende. Politische, soziale und kulturelle Verbindungen mit Österreich, Wien etc. 1990.
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und das städtische Gemeinwohl zu schützen. Diese Diskurse wurden nicht nur mit dem nationalen polnischen Interesse verbunden, sondern waren auch von einer Dramatisierung geprägt, wonach der postulierte polnische Charakter der Stadt gefährdet sei – auch hierbei beriefen sich die Akteure, wie insbesondere in Kap. 6 gezeigt wird, auf vormalige Traditionen. Erste Schritte für den Auf- und Ausbau der polnischen Arena wurden parallel zu deren ‚Eroberung‘ bereits in der Ratssitzung am 5. Dezember 1861 eingeleitet, indem der Rat zunächst beschloss, dass ab 1. Januar 1862 alle Gemeindeämter der Stadt Lemberg Fomulare für den Behördenverkehr, die sog. Manipulationsdrucke, ausschließlich in polnischer Sprache gebrauchen dürften und diese nur noch auf Polnisch auszufüllen seien.2 Dieser Beschluss war ein wichtiger Schritt zur Polonisierung der Stadtverwaltung, sodass die neue Geschäftsordnung, deren Entwurf in der gleichen Sitzung eingebracht wurde, direkt in der „Volksprache“ vorgelegt wurde und nicht – wie die alte – in einer aus dem Deutschen übersetzten Form. Damit auch die einschlägigen bisher deutschen Verwaltungsbegriffe „verpolnischt“ resp. „rein polnisch“3 wurden, wurde eigens hierfür eine entsprechende Kommission zur Redaktion eingesetzt. Konsequent war auch die eindeutige Regelung in der erst am 16. Oktober 1862 genehmigten Geschäftsordnung: „Die Beratungen finden ausschließlich in polnischer Sprache statt.“4 Hiermit löste der Stadtrat nicht nur die deutsche Amtssprache ab, sondern etablierte den Vorrang des Polnischen gegenüber dem Ruthenischen. Er demonstrierte in der gesamten Geschäftsordnung seinen politischen Anspruch, die Stadt zu repräsentieren, zu regieren und damit auch sein Verlangen, sich über den Magistrat zu stellen. Ziemiałkowski, Hauptautor des Geschäftsordnungsentwurfs, begründete es damit, dass wir als Stadtrat der Hauptstadt die Verpflichtung haben, ein Vorbild für andere Gemeinden zu sein. Deshalb müssen wir in erster Linie auf Grundlage der im Oktoberdiplom durch den Monarchen verliehenen Autonomie dafür eintreten, dass eine möglichst weitestgehende Selbstverwaltung wirklich eingeführt wird.5
Bei diesem handstreichartigen Vorgehen versuchte der Stadtrat, den auf Reichsebene vorhandenen Reformwillen und die sich daraus ergebenden politischen Spielräume auszunutzen und dabei die noch gültigen Rechtsetzungen zu ‚übersehen‘. Jedoch hatten die Ratsherren ihren Spielraum gegenüber der Statthalterei, die ihrerseits einen 2 3 4 5
GL v. 18.1.1862. „w ludowym języku“, „przepolszczenie“, „czysto polskie“, GL v. 30.1.1862. „Rozprawy odbywają się wyłącznie w języku polskim“ (§ 34), Geschäftsordnung für den Rat der königlichen Hauptstadt Lemberg vom 16. Oktober 1862, DALO, f. 3, op. 1, spr. 2226; GL v. 12.2.1862 betonte, dass dieser Punkt ohne Diskussion verabschiedet worden sei. „Jako Rada gminna stołecznego miasta […] mamy obowiązek być wzorem dla gmin innych. Dlatego w pierwszym rzędzie winniśmy na podstawie nadanej przez Monarchę dyplomem październikowym autonomii, upomnieć się o rzeczywiste wprowadzenie samorządu najobszerniejszego.“, GL v. 30.1.1862.
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3 Kommunale Autonomie als Resonanzraum des polnischen Führungsanspruches
zunächst deutschsprachigen Entwurf erstellen ließ, überschätzt, weil der Entwurf der Geschäftsordnung keine Zustimmung seitens der Landesbehörden fand.6 Zu diesem Zeitpunkt sahen diese den Magistrat noch als unterstes Glied der Staatsverwaltung und nicht als Vollzugsorgan des Stadtrates an. Die Landesbehörden wollten daher den Einfluss des Magistrats auf den Stadtrat aufrechterhalten, sodass nicht die sprachlichen Regelungen grundsätzlich zur Disposition standen, sondern das vom Rat vorgeschlagene Verfahren, wie die Tagesordnung der Sitzungen aufgestellt und die Verteilung der Zuständigkeiten der Sektionen (Ausschüsse) durch die Mitwirkung des Ratsbüros festgelegt werden sollte.7 Trotz allem war es der polnischen Oberschicht im Wesentlichen gelungen, den mit den ersten revolutionären Bürgerausschusswahlen 1848 (aus ihrer Sicht: wieder-) erlangten politischen und seitdem postulierten Führungsanspruch deutlich zu demonstrieren, was sich insbesondere durch die Regelungen in Bezug auf die kommunale Amtssprache deutlich ausdrückte. Dieses Ziel wurde sogar schon zu einem Zeitpunkt erreicht, zu dem die neue reichsrechtliche Regelung noch nicht eingeführt worden war. Außerdem war es gelungen, den Stadtrat als ihre politische und als polnische Arena (wieder) zu erobern. Von dieser Position aus konnten die polnischen politischen Eliten zur Ausarbeitung eines Sondergesetzes für die Stadt Lemberg als dem nächsten Schritt zur rechtlichen Absicherung ihrer Ansprüche übergehen. 3.1 Das Ringen um das Statut: die „jüdische Frage“ Ein eigenes Statut und damit verbunden ein autonomer Status der Stadt wurden zu einem ersehnten Ziel der sich entwickelnden Kommunalpolitik im Lemberg der 1860er Jahre, das Zentrum der polnischen Liberalen in Galizien war.8 Ausgangspunkt hierfür war der Beschluss des Bürgerausschusses von Anfang Mai 1850, ein Komitee von 25 Personen einzusetzen, das mit der Ausarbeitung eines eigenen Gemeindegesetzes betraut wurde, d. h. ein Statut für die Hauptstadt Lemberg (Ustawa gminna dla głównego miasta Lwowa) unter Berücksichtung der „tatsächlichen Verhältnisse“ der Regelungen des Provisorischen Gemeindegesetzes und der Lemberger Provisorischen Vorschrift zu entwerfen.9 1850 agierte der Bürgerausschuss ohne Mandat des Provisorischen Gemeindegesetzes, berief sich aber auf Bestrebungen anderer Städte der Monarchie, 6 7 8 9
Der hiergegen erhobene Rekurs seitens des Rates wurde vom Staatsministerium am 2.7.1862 abgelehnt. Vgl. Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 31. GL v. 26.2.1862; vgl. Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 31 f.; Geschäftsordnung: DALO, f. 3, op. 1, spr. 2226. Jedlicki, Vicious Circle, S. 260 ff. „właściwych stosunków“, Bericht des mit der Erarbeitung des Statuts beauftragten städtischen Komitees über Entwurfsprozess des Statuts seit 1848 vom 28.11.1866, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 49–69; GL v. 10.6.1850 und 14.6.1850.
3.1 Das Ringen um das Statut: die „jüdische Frage“
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ein eigenes Statut zu erhalten.10 Federführend entwickelte der spätere Stadtpräsident Michał Gnoiński im Mai 1850 den Entwurf. Es scheint, so ein Bericht des mit der Erarbeitung beauftragten Bürgerausschusskomitees aus dem Jahr 186011, am 15. Oktober 1850 sogar der Gesetzesentwurf im Innenministerium abschließend beschlossen worden zu sein,12 der aber aufgrund von in den Quellen nicht genauer benannten Gründen nicht sanktioniert wurde.13 Als Ursache sind aber die sich verstärkenden restaurativen Tendenzen und die Verhängung des Belagerungszustandes über Galizien zu vermuten. Eine Reihe von Artikeln in der halbamtlichen Gazeta Lwowska (Lemberger Zeitung) Anfang Juni 1850 über die allgemeinen Aufgaben des Bürgerausschusses begleitete diesen Prozess und spiegelte sowohl das amtliche als auch das Selbstverständnis des 1849 gewählten, größtenteils von Polen besetzten Bürgerausschusses in Lemberg wider: Danach war er der Wächter und Verteidiger der freien Gemeinde […], da ihm das Gesetz die Aufsicht über die Verwaltung und den Besitz der Gemeinde zuschrieb, ihn mit der Interessenvertretung aller Mitglieder [der Gemeinde] betraute, sodass er daher über das Wohl der ganzen Kommune wachen muss.14
Die Wortwahl impliziert ein Bedrohungsszenario, nämlich die Bedrohung des Gemeindebesitzes – und damit der eigenen Lebenswelt der Ausschussmitglieder – von außen, also durch den Staat, aber auch die Bedrohung durch andere soziale und, im 10
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Übersicht: Karl Brockhausen / Richard Weiskirchner (Hrsg.), Oesterreichische Städteordnungen. Die Gemeindeordnungen und Gemeindewahlordnungen der mit eigenen Statuten versehenen Städte der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder mit den Nachtragsgesetzen, sowie den einschlägigen Judicaten des Reichsgerichts und Verwaltungsgerichtshofes, Wien 1895. DALO, f. 3, op.1, spr. 2145, n. pag. Nach dem Protokoll der Bürgerausschusssitzung vom 27.5.1850 (GL v. 14.6.1850) hat Höpflingen-Bergendorf am 12.5.1850 den Lemberger Entwurf dem Landespräsidium zukommen lassen, den vor allem Michał Gnoiński ausgearbeitet hatte und der in 30 Sitzungen in der Sektion diskutiert wurde, bei denen die Erwartung formuliert wurde, dass die Gemeinde „konstitutionell-frei“ („konstytucyjno-wolnej“) wirken könne. Der Zustand der Rechtsunsicherheit war auch in wirtschaftlicher Hinsicht von Bedeutung. So wird in dem Protokoll der Sitzung vom 6.6. d. J. (GL v. 14.7.1850) betont, dass erst dann das Bürgerrecht verliehen werden könne, wenn es ein geltendes Gemeinderecht gäbe. Das Bürgerrecht war Voraussetzung für die Verleihung von Meisterbriefen, sodass der Gemeinde erhebliche Gebühren in Höhe von 100 fl. entgehen würden. Daher beschloss der Bürgerausschuss, bei einzelnen Anträgen demnächst eigenmächtig darüber zu entscheiden, etwa wurden im Dezember zwölf Bürgerschaften verliehen (GL v. 13.12.1850). Vgl. den Bericht des mit der Erarbeitung des Statuts beauftragten städtischen Komitees über den Entwurfsprozess des Statuts seit 1848 vom 28.11.1866, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 49 b; DALO, f. 3, op. 1, spr. 1323, n. pag.; GL v. 1.10.1850, wonach der Bürgerausschuss mit der Sanktion rechnete, da er von Neuwahlen ausging. Hierfür habe er eine Broschüre mit seinen Leistungen und einer Rechtfertigung über den derzeitigen Zustand der Stadt vorbereitet, wodurch er auch seine Loyalität gegenüber dem Kaiser herausstellen wollte. „On jest stróżem i obrońcą wolnej gminy […], to jemu przypisała ustawa dozór nad administracyą i majątku gminy, jemu powierzyła zastępstwo interesów wszystkich członków, czuwać zatem musi nad dobrem całej komuny“, GL v. 4.6.1850.
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3 Kommunale Autonomie als Resonanzraum des polnischen Führungsanspruches
galizischen Kontext, ethno-konfessionelle Gruppen. Diese Vorstellung sollte leitmotivisch immer wieder in den Ende der 1850er Jahre einsetzenden Debatten um ein eigenes Lemberger Statut mitschwingen und teilweise explizit argumentativ verwendet werden. Erst ein knappes Jahrzehnt später konnte der Bürgerausschuss die Ausarbeitung eines Statutes fortsetzen, als sich insbesondere durch das Oktoberdiplom politische Spielräume eröffneten. Das Reichsgemeindegesetz produzierte schließlich mit der Vorgabe, dass alle Landeshauptstädte ein eigenes Statut (Art. 22) besitzen müssten, eine weitere Dringlichkeit. Jedoch sollten noch fast neun Jahre vergehen, bis das herbeigesehnte Statut Lemberg den autonomen Status brachte.15 Ein Grund lag im zweieinhalbjährigen Belagerungszustand, der nach dem Ausbrechen des Januaraufstandes in Kongresspolen 1863 verhängt wurde und jegliche politische Tätigkeit verbot, um eine Ausweitung des Aufstandes nach Galizien zu verhindern. Der wesentlichste Grund für die Verzögerung lag aber in der in den Quellen als „jüdische Frage“16 bezeichneten fehlenden Konformität mit der Reichsgesetz- und Landesgesetzgebung.17 Hierbei ging es um die institutionelle Sicherung der politischen Vorherrschaft der christlichen, d. h. vorwiegend römisch-katholischen und polnischen Honoratioren. Bereits 1850 habe, so Franciszek Smolka 1868 im Rückblick, das damalige Gemeindeausschussmitglied Kornel Krzeczunowicz18 diese „unglückliche Vermögensfrage“ und damit „jenen Zankapfel unter die Juden und Christen gewor-
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Chronologischer Abriss: Wasyl Kisełycznyk, Nadanie statutu samorządowego dla miasta Lwowa w 1870 roku [Der Erhalt der städtischen Selbstverwaltung in Lemberg 1870], in: Henryk Żaliński / Kazimierz Karolczak (Hrsg.), Lwów. Miasto, społeczeństwo, kultura [Lemberg. Stadt, Gesellschaft, Kultur], Bd. 2, Kraków 1998, S. 125–132. „kwestia żydowska“, erstmals: GL v. 13.12.1862; dann etwa auch Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 32. Zur Behandlung der „jüdischen Frage“ in der polnischen politischen und historischen Publizistik des 19. Jahrhunderts vgl. Alix Landgrebe, „Wenn es Polen nicht gäbe, dann müsste es erfunden werden“. Die Entwicklung des polnischen Nationalbewußtseins im europäischen Kontext von 1830 bis in die 1880er Jahre, Wiesbaden 2003, hier: S. 255–271. Vgl. auch Heidi Hein-Kircher, Jewish Participation in the Lemberg Local Self-Government: The Provisions of the Lemberg Statute of 1870, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts / Simon-Dubnow-Institute Yearbook 10, 2011, S. 237–254; dies., Polityczna integracja w mieście wieloetnicznym. Podstawy prawne i ich wpływ na sytuację Żydów we Lwowie po roku 1870 [Die politische Integration in einer multiethnischen Stadt. Rechtliche Grundlagen und ihr Einfluss auf die Lage der Juden in Lemberg nach 1870], in: Res gestae. Czasopismo Historyczne 2016, S. 29–42, URL: http://resgestae.up.krakow.pl/issue/view/233 (9.1.2019). Vgl. Wilhelm Feldman, Stronnictwa i programy polityczne w Galicyi 1846–1906 [Parteien und politische Programme in Galizien 1846–1906], Bd. 2, Kraków 1907, S. 271 ff. Weder die Gründe noch diese Verzögerung an sich sind für die Stadtchronisten mit Ausnahme von Ostaszewski-Barański, Ustawa, bemerkens- und erwähnenswert: Papée, Historja, S. 222 f.; ders., Historia (1894), S. 194 f.; Rasp, Beiträge, S. 130 f.; Podhorecki, Dzieje, S. 126. Als Landtagsabgeordneter und podolischer Adliger war er als Gegner der Emanzipation der Juden bekannt und galt als Repräsentant der Krakauer Konservativen, vgl. Filip Friedmann, Die Judenfrage im galizischen Landtag, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 72, 1928, H. 4, S. 379–390, H. 5, S. 457–477, hier: S. 382.
3.1 Das Ringen um das Statut: die „jüdische Frage“
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fen“19, durch den sich die kaiserliche Sanktion des Statuts so lange verzögerte. Obwohl allen klar war, dass die dringlich erwünschte Sanktion hierdurch auf sich warten ließ, wurden die Debatten über die „jüdische Frage“ erbittert und vor allem mit versicherheitlichenden Argumentationslinien geführt.20 Den Anstoß für die Arbeiten am Statut gab am 10. November 1859 die mit der Erarbeitung des Landesgemeindegesetzes beauftragte Kommission des Landesausschusses, indem sie anstrebte, die „Moralität“ und Bildung in den Gemeinden zu heben. Sie begründete dieses Ziel damit, dass allein die historischen Rechte der Städte, wie auch ihre bisherige selbstständige Verwaltung die Notwendigkeit einer besonderen Regelung für die Städte aufzeigen, und [dieses Ziel auch] in Anbetracht dessen [notwendig sei], dass die Bürger der Stadt ausgebildeter und zivilisierter sind, und dass sie sich schließlich in einem bedeutenden Teil aus Israeliten [ Juden] zusammensetzen, welche man notwendigerweise berücksichtigen muss.21
Daraufhin verfasste der seit 1849 amtierende Lemberger Bürgerausschuss eine Petition an den Innenminister mit der Bitte, die Genehmigung zur Erarbeitung eines Gesetzes auf Basis des nicht sanktionierten Entwurfs von 1850 zu erhalten.22 Der am 20. November 1860 beschlossene Statutentwurf wurde den politischen Behörden zur Entscheidung vorgelegt, aber der Aktenlage nach wurde er dort nicht weiter diskutiert. Auch wenn genaue Gründe hierfür nicht genannt werden, so wird dennoch deutlich, dass sich der Bürgerausschuss grundsätzlich dafür ausgesprochen hatte, dass nur ein neugewählter Bürgerausschuss dazu legitimiert sei, die finale Fassung vorzulegen. Ende 1862 kam es bei den Verhandlungen über einen Statutentwurf zu einem ersten, wegweisenden Eklat im Stadtrat, der vorhandene Ressentiments und Spannungen zwischen Polen und Juden aufdeckte. Die vorbereitende Ratskommission hatte mehrheitlich beschlossen, dass das Eigentum der Stadt Lemberg ausschließlich christlich sei und unterschied es wie die gLGO vom jüdischen Gemeindebesitz:23 Hiermit wur-
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Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde (Hrsg.), Die Debatten über die Judenfrage in der Session des galizischen Landtags vom J. 1868, Lemberg 1868, S. 90; vgl. ebd., S. 105 f.; Filip Friedmann, Die galizischen Juden im Kampfe um ihre Gleichberechtigung (1848–1868), Frankfurt/Main 1929, S. 162–188. Beispielsweise in der Ratssitzung am 9.10.1865, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 107. Bereits die ersten Beratungen führten zu einem „ungeheuren Aufsehen“ im In- und Ausland, so Friedmann, Judenfrage, S. 463. „moralność“, „Same już historyczne prawa miast, jako też ich dotychczasowa samodzielna administracya wykazują potrzebę osobnego regulaminu dla miast, a zważywszy nadto, że mieszkańcy miast są więcej oświeceni i ucywilizowani, że zresztą w znacznej części składają się z izraelitów, których koniecznie należy uwzględnić“, GL v. 19.11.1859. CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 49 b. § 114 „Das Vermögen der Stadt Lemberg ist Eigentum der christlichen Lemberger Gemeinde“ („Majątek miasta Lwowa jest własnością chrześcijańskiej gminy lwowskiej“), Entwurf vom 4.1.1866, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 102; in der Paraphrase der Gazeta Lwowska: „Das Ver-
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3 Kommunale Autonomie als Resonanzraum des polnischen Führungsanspruches
de den Juden ein jeglicher Anteil am kommunalen Vermögen abgesprochen. Darüber hinaus legten der Paragraf 34 des seit 1862 intensiv diskutierten, am 4. Januar 1866 endgültig verabschiedeten Entwurfs24 eine Maximalzahl von 15 jüdischen Ratsherren fest, während der Paragraf 116 einen christlichen Administrationsrat vorschrieb, der sich aus den „Ratsmitgliedern christlicher Religion […] mit dem Bürgermeister an der Spitze“ zusammensetzen sollte. Er sollte in den zuvor definierten speziellen christlichen Angelegenheiten „eine solche Macht [haben], wie dem Stadtrat in den allgemeinen Angelegenheiten der Stadt zukommt.“25 Auch musste der Bürgermeister christlicher Konfession sein.26 Mit diesen Festlegungen schuf der von der Kommission vorgelegte Statutentwurf eine zweite Entscheidungsebene, auf die alle zentralen Fragen hätten ausgelagert werden können, d. h. alle jüdischen Ratsherren wären in relevanten Fragen, die finanzielle Folgen gehabt hätten, nicht entscheidungsbefugt gewesen.27 Nach dieser Vorlage erklärten die jüdischen Stadträte Marek Dubs, ein Großindustrieller, jüdischer Kultusgemeindevorsteher und Landtagsabgeordneter, sowie die Advokaten Dr. Juliusz Kolischer und Dr. Oswald Hönigsmann,28 dass sie angesichts dieses Beschlusses nicht mehr an den Beratungen der Kommission teilnehmen könnten, weil sie es für ihre „heilige Pflicht“ hielten, auf den Rechten ihrer Konfession zu beharren.29 Der Rat beschloss mehrheitlich die Nachwahl dieser drei Sitze in der Kommission; jüdische Ratsherren waren nicht mehr in ihr vertreten. Die Debatte um das Statut wurde Ende Januar 1863 intensiviert,30 als sich eine „christliche“ Minderheitsmeinung herauskristallisierte, welche die Gleichberechti-
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mögen der Stadt Lemberg ist ausschließlich christlich“ / „majątek miasta Lwowa jest wyłącznie chrześcijański“, GL v. 13.12.1862. Projekt statutu król. Stoł. Miasta Lwowa [Entwurf des Statuts für die königliche Hauptstadt Lemberg], Lwów 1866. „członkowie rady miejskiej religii chrześcijańskiej […] z burmistrzem na czele stanowią radę administracyjną chrześcijańską, która […] ma taką władzę, jaka przysłuża radzie miejskiej w ogólnych sprawach miasta“. § 119 bezog sich auf den jüdischen Administrationsrat, der über die zuvor definierten jüdischen Angelegenheiten zu entscheiden hatte, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 100 ff. Protokollauszug (undatiert, wohl November oder Dezember 1865), ebd., Bl. 129 b. Dies betonte § 122 des Entwurfs, in: ebd., Bl. 103. Józef und Juliusz Kolischer (Ratsmitglieder bis 1879), Marek Dubs (Abgeordneter zum Landtag, 1861–1869) und Filip Zucker (1871–1888) waren Gründungsmitglieder der Gesellschaft der Israeliten zur Verbreitung der Bildung und Staatsbürgerlichkeit unter den galizischen Juden (Towarzystwo Izraelitów ku szerszeniu oświaty i obywatelskości pomiędzy Żydami galicyjskimi), vgl. Katarzyna Kopff-Muszyńska, „Ob Deutsch oder Polnisch“ – przyczynek do badań nad asymilacją Żydów we Lwowie w latach 1840–1892 [„Ob Deutsch oder Polnisch“ – Anmerkung zu den Forschungen zur Assimilation der Juden in Lemberg in den Jahren 1840–1892], in: Andrzej Paluch (Hrsg.), The Jews in Poland, Bd. 1, Kraków 1992, S. 187–203, hier: S. 193 f. „za święty obowiązek“, GN v. 13.12.1862; vgl. auch Majer Bałaban, Dzieje Żydów w Galicyi i w Rzeczypospolitej krakowskiej 1772–1868 [Die Geschichte der Juden in Galizien und der Krakauer Republik 1772–1868], Lwów 1914, S. 193–196. Zusammenfassung und Vergleich mit Entwurf zur gLGO: GL v. 27.1., 30.1.1863. Der Kommentator der Gazeta Lwowska hofft darauf, dass noch ein Weg gefunden werde zur Einigung in diesem „fürwahr heiklen Gegenstand“ („w drażliwym zaiste przedmiocie“).
3.1 Das Ringen um das Statut: die „jüdische Frage“
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gung der Juden befürwortete.31 Hierdurch wurden die der Beschlussfassung zugrunde liegenden Haltungen explizit ausgetauscht. Den Minderheitenantrag bezeichnete der ihn vortragende Ratsherr Dr. Rodakowski selbst zwei Tage später als „ziemlich gewagt“, betonte aber, dass Kühnheit eine polnische Tugend sei und im „Lichte des Fortschritts“ betrachtet werden solle. Jedoch werden in seinen Ausführungen auch utilitaristische Hintergedanken deutlich, indem er zunächst hervorhob, dass die jüdische Haltung in Galizien immer gegenüber der „polnischen Sache wohlwollend“ verhalten habe. Gegenwärtig würden die Juden im Königreich wie die Polen unterdrückt, wo auch sie ihr Blut und Gut für die nationale Sache, nämlich im Januaraufstand, geben würden. So wie die Aufständischen in Warschau diesen Zeitgeist verstanden hätten, so solle Lemberg auch aus den Juden „gute Bürger der Stadt und des Landes“32 machen. Neben dem auch in anderen Sitzungen und von anderen jüdischen Ratsherren bemühten „Zeitgeist“33 argumentierte der Minderheitenantrag mit der Politik der österreichischen Bürokratie, die sich bemühte, die Nationalitäten und Konfessionen „immer zu unseren [der Polen] Ungunsten“ zu unterscheiden, sodass – anspielend auf die divide et impera-Politik gegenüber den Ruthenen und Polen – es [durchaus] passieren könnte, dass, wenn wir [Polen] nicht freiwillig die vollkommene Gleichberechtigung geben, es dann die Regierung macht, wodurch sie auf unsere Kosten die Sympathien der jüdischen Gesellschaft erlangt […]. Und wenn wir selbst neue Rechte fordern, dann bleibt uns nur der Weg des Fortschritts, der Weg, den unsere Nationalparole vorgibt: Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!34
„Im gleichen Geist“, so der Bericht der Gazeta Lwowska35 über die Ratsdebatte, argumentierte Kolischer, dass der Entwurf „ungerecht“ sei, nicht nur weil er die Zahl der Juden auf 1536 begrenze, obwohl sie ein Drittel der Bevölkerung Lembergs ausmachten, sondern vor allem, weil die Juden von jeglicher Teilhabe an der Vermögensverwaltung der Stadt ferngehalten würden. Marceli Madejski argumentierte dagegen, dass niemand den Juden die Gleichberechtigung abspreche, dass sie aber in keinerlei Verbindung mit dem Vermögen der Gemeinde stünden, welches aufgrund alter königlicher 31 32 33 34
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Unterstützt wurde er von vier weiteren Ratsherren, darunter Florian Ziemiałkowski. Vgl. Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 34. „zbyt śmiały“, „w światłem [sic!] postępu“, „dla sprawy polskiej przychylne“, „z żydów dobrych obywateli miasta i kraju“, alle Zitate: GL v. 5.2.1863. „duch czasu“, so etwa Hönigsmann am 26.10.1865, Protokollauszug, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 122. „zawsze na naszą niekorzyść“, „Zadarzyć się więc może, że gdy nie damy dziś dobrowolnie zupełnego równouprawnienia, to zrobi to rząd, zyskując sobie kosztem naszym sympatye społeczeństwa żydowskiego […] że zaś się sami praw nowych domagamy, tedy tylko jedna nam droga postępowania pozostaje, droga wskazana naszem hasłem narodowem: Wolność! Równość! Braterstwo!“, zit. nach Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 34; vgl. auch Bałaban, Dzieje Żydów, S. 194 ff. „w samym duchu“, „krzywdzącym“, GL v. 26.1.1863. § 34, Entwurf des Statuts in der Fassung vom 4.1.1866, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, n. pag.
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3 Kommunale Autonomie als Resonanzraum des polnischen Führungsanspruches
Privilegien christlich sei. Er gestand ein, dass „einzig“ die Vorschrift des Paragrafen 66, wonach der Bürgermeister und sein Stellvertreter christlich sein müssten, beleidigend sei. Sie sei aber dennoch richtig, da es bezüglich der Nationalität immer noch einen zu großen Unterschied zwischen den Juden und der polnischen Bevölkerung gäbe, und dass infolgedessen die Stadt Lemberg als unbestritten christliche und polnische Stadt nur einen Bürgermeister, der Christ und Pole sei, haben könne. Dubs griff diese Haltung durch den Hinweis an, dass die Juden an diesem Zustand keine Schuld trügen, sondern die Geschichte des (polnischen) Volkes und seiner Gesetze, die „in allen Belangen die Juden einschränkten“.37 Nachdem ein erfolgloser Gegenantrag der jüdischen Ratsherren zur genauen Definition des städtischen Besitzes als dem Territorium, das von „zwei separaten Gemeinden, d. h. von der christlichen und der altgläubigen [jüdischen] Gemeinde bewohnt wird“38, gescheitert war, merkte Dubs kryptisch-drohend an, dass die Juden dann die Rechte von anderen (also von der Reichsregierung) erhalten würden, was ein „wahres Gewitter“ im Ratssaal auslöste.39 Dieser Beitrag schien alle Hemmungen zu brechen, so unterstellte beispielsweise Ratsherr Gnoiński „den Juden“, sie wollten sich um die Bedingungen mit dem polnischen „Volk prügeln“, obwohl sie eigentlich den Polen nur dankbar sein sollten, welche sie (vor Jahrhunderten) bedingungslos im Land aufgenommen hätten, ohne ihre Religion und Sitten anzutasten. Weitere Redebeiträge bezogen sich noch deutlicher auf die den Entwurf prägenden Vorbehalte und Stereotypen: Es gehe den Juden nicht um „gesellschaftliche Gleichberechtigung“, sondern einfach nur um den Besitz der Christen.40 Diese kontroversen Auseinandersetzungen hatten in der Sitzung vom 29. Januar 1863 insofern Konsequenzen, als vier jüdische Ratsherren dem Bürgermeister eine von allen jüdischen Ratsherren unterschriebene Erklärung überreichten: Sie sähen sich gezwungen, die weiteren Beratungen zu boykottieren, wollten aber gegen alle Beschlüsse Protest einlegen, die der jüdischen Bevölkerung schaden könnten. Die christlichen Ratsherren reagierten mit Drohungen, etwa dass eine solche Haltung keine Sympathien „unserer Bevölkerung“ hervorrufen würde.41 Zugleich verfolgten sie weiterhin die Strategie, sich inhaltlich nicht mit der jüdischen Kritik auseinanderzusetzen. Dieses verdeutlicht der Ratsbeschluss vom Februar 1863, wonach die Erklärung der jüdischen Ratsherren, nicht aber der eigentliche Text ihres Protestes gegen die Beschlüsse verlesen wurde. Diese Strategie demonstriert auch die verkürzte Darstellung im Protokoll,
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„tylko to jedno“, „we wszystkim ograniczała żydów“, GL v. 26.1.1863. „osiedlone przez dwie gminy odrębne polityczno-administracyjnie, t. j. przez gminę chrześcijańską i gminę starozakonną“, zit. nach Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 35. „prawdziwa burza“, ebd. „zlać z narodem“, „socyalne równouprawnienie“, GL v. 5.2.1863. „naszej ludności“, zit. nach Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 36.
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bei der die Ermahnung des Bürgermeisters fast wichtiger erscheint, dass sie, wie im Statut vorgeschrieben, bei der nächsten Sitzung zu erscheinen hätten.42 Nach der Aufhebung des Belagerungszustandes konnten die Debatten um das Statut erst Mitte 1865 fortgeführt werden. Hierbei mussten auch die neuen Regelungen zum Heimatrecht eingearbeitet werden (s. Kap. 3.2.2). Daher beschloss der Rat aufgrund der Dringlichkeit, das Statut zu verabschieden, nur noch die Paragrafen zu ändern, die das Gesetz vom 3. Dezember 1863 über das Heimatrecht betrafen.43 Nachdem die jüdischen Ratsherren die entsprechenden Tagesordnungspunkte boykottiert hatten, inszenierte Hönigsmann Mitte Oktober eine „Sensation“ und trat, weil sich die Zeiten geändert hätten und sich die Juden den Christen annähern wollten,44 vom Protest aus dem Jahre 1863 im Namen aller jüdischen Ratsherren zurück, was jedoch nicht zu einem Einlenken seitens der polnischen Ratsmehrheit führte. Der 125 Paragrafen umfassende Entwurf des Statuts wurde schließlich am 4. Januar 1866 in dritter Lesung beschlossen und zwei Wochen später in Form einer Petition an den Landtagsabgeordneten Franciszek Smolka übergeben. Dieser brachte ihn in den Landtag ein, da der Lemberger Beschluss von Landtag, Landesausschuss und dem Statthalter bestätigt werden musste, um überhaupt die Sanktion des Kaisers erhalten zu können. Die Sanktion dieses Entwurfs verweigerte der Kaiser Mitte 1866.45 In der dem Beschluss vorhergehenden Ratsdebatte wird die enge Verbindung zu den einsetzenden Beratungen des Landtags über die galizische Gemeindeordnung deutlich.46 Indem Hönigsmann die Frage der Begrenzung jüdischer Ratsmandate auf 15 beanstandete47 und an die für beide Seiten schädlichen Äußerungen zu Beginn der Debatten erinnerte, kritisierte er die damaligen „für die Juden feindseligen Beschlüsse“. Er sah darin zumindest eine „Gedankenlosigkeit gegenüber den Zeichen des Zeitgeistes“.48 Jedoch habe sich gezeigt, dass nun ein „anderer Wind wehe“. Daher habe er, als mehrheitlich von den Ratsherren für die Stadt Lemberg gewählter Landtagsabgeordneter, einen Antrag im Landtag gestellt, sämtliche Beschränkungen für die Juden aufzuheben. Hönigsmann drohte mit der Feststellung, dass ihre Beschränkungen gegenüber dem Zeitgeist nicht
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GL v. 26.2.1863. GL v. 24.6.1865, 19.10.1865, 21.10.1865; CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 109–115 b; Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 36. „senzację“, GN v. 20.10.1865, vgl. auch v. 24.3.1866; Bałaban, Dzieje Żydów, S. 203. Bericht der Kommission des Landtags für Städtestatuten, L. 277/S. (1866), CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1858, Bd. 143. Überblick über die Verhandlungen im Landtag bezüglich der „jüdischen Frage“: Friedmann, Judenfrage; vgl. auch ders., Die galizischen Juden. Im Paragraf 34 des Entwurfs vom 4.1.1866 heißt es: „aus 85 Christen und 15 Altgläubigen [ Juden]“ / „z 85 chrześcijan i 15 starozakonnych“, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 81. Dieser Entwurf legte in den Paragrafen 116 bis 119 die Aufgaben eines vorgesehenen christlichen und jüdischen Administrationsrates fest. „uchwał nieprzychylnych dla żydów“, „zobojętnieniu umysłów na wskazówki ducha czasu“, GL v. 8.1.1866. Vgl. auch Neue Freie Presse v. 9.1.1866.
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standhalten würden, der an „unserer [der Juden] Seite“ sei. Die Konzessionen, die „wir“ [die Juden] erhielten, würden „wir“, so Hönigsmann, sonst von jemand anderem erhalten und nicht von „Euch“, den polnischen Ratsherren, sodass „wir“ jemand anderem dafür dankbar sein würden. Hiermit spielte er darauf an, dass die Juden sich deswegen loyal zur Reichsregierung und nicht zu den Polen verhalten könnten. Abschließend rief er dazu auf: „Befreit Euch von Eurem Widerstand!“49 Angesichts dieser „unerwarteten Mahnung“ antwortete der polnische Ratsherr und Schustermeister Aleksander Grzyszecki in einer längeren Rede, dass es nicht um „wohltätige Gaben“ der christlichen für die jüdischen Bürger gehe, die immer ein Drittel der Mandate50 forderten, während sie nicht „fünf von uns“ einen Sitz im „ihrem“ Kahal überlassen würden. Diese Rede habe nur Gelächter im Rat ausgelöst, kommentierte die Gazeta Lwowska die Beiträge.51 Als Hönigsmann in der abschließenden Debatte Anfang Januar 1866 aufgefordert wurde, einen Antrag zu stellen, antwortete er nur trotzig, dass er keinen stellen werde, weil dieser doch abgelehnt würde, sodass er ihn eben woanders (d. h. im Landtag) stellen werde.52 Diese kurze, aber heftige Debatte im Rat schuf eine Klammer zu den anfänglichen Debatten über das Statut und zeigte die teilweise tiefen, auf antijüdischen Stereotypen basierenden Gräben zwischen polnischen und jüdischen Ratsmitgliedern auf. Sie verwies auf eine spezifische Lemberger Form zeitgenössischer Diskurse über die Positionierung der Juden innerhalb Galiziens. Deutlich wurde, dass der Rat in seiner „christlichen“, also polnischen Mehrheit sich in seinen politischen und wirtschaftlichen Interessen bedroht sah, die am „christlichen Besitz“ festgemacht wurden. Unmissverständlich formulierte diese Haltung der ausführliche Bericht der mit der Erarbeitung des Statuts beauftragten Kommission vom 22. November 1866. Sie rechtfertigte den vorgelegten Statutentwurf gegenüber dem Landtag, weil – in Anlehnung an das Provisorische Gemeindegesetz – eine „gut verwaltete Gemeinde die Grundlage für einen gut verwalteten Staat, also des konstitutionellen Staates“53 sei. Gleichermaßen ist es eine unbestrittene Wahrheit, dass der Hausherr in seinem Hause frei und unabhängig sein soll – weil dort, wo es viele Hausherren gibt, eine schwache Wirtschaft vorherrscht.54
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„inne wiatr powiał“, „Zwolnijcie ze swego oporu!“, GL v. 8.1.1866. Am 26.10.1865 hatte Dubs ein Verhältnis von 70 christlichen zu 30 jüdischen Ratsmitgliedern beantragt, vgl. Protokollauszug der Ratssitzung, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 122, während Hönigsmann (ebd., Bl. 122) ein Verhältnis von 80:20 ins Spiel brachte, andere wiederum eine Lösung von 67:33, was dem jüdischen Bevölkerungsanteil am genauesten entsprochen hätte (ebd., Bl. 122 f.). In dieser Sitzung wurde aber das Verhältnis 85:15 beschlossen. „przypomnienie niespodziewane“, „składek dobroczynnych“, „pięciu z naszych“, GL v. 8.1.1866; vgl. auch Neue Freie Presse v. 9.1.1866. Vgl. GL v. 8.1.1866. „Dobrze urządzona gmina jest podstawą dobrze urządzonego Państwa, a mianowicie Państwa konstytucyjnego“, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 50 b. „Jest to prawda niezaprzeczona, że gospodarz w swoym domu powinnien być wolny i nie zawisły – bo gdzie wiele gospodarzy, tam liche gospodarstwo“, ebd.
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Dies führe zur „moralischen und materiellen Gefährdung der Interessen der Bürger“55. Daher solle die „Gemeinde der Herr in ihrem Haus sein“56. Auch wenn sich die Kommission zur vollkommenen Gleichberechtigung der Konfessionen bekenne, so sähe sie die Gemeinde nicht als „rein gesetzgeberisches Organ“. Daher müsse das Statut Vorschriften zur Vermögensverwaltung der Gemeinde enthalten und definieren, was der Gemeindebesitz sei. Da bisher die christliche und die jüdische Gemeinde eigene Körper[schaften] bildeten, die eigenes Vermögen hatten, fiel […] die Entscheidung, dass die heutige Stadtgemeinde Lemberg nach dem Titel der [Stadtrechts-] Verleihung und nach ihrer Herkunft ein rein christliches Vermögen ist. Daher darf die israelitische Gemeinde kein Miteigentum und kein Recht auf die Verwaltung dieses Vermögens haben, so wie die christliche Gemeinde keinen Einfluss auf die Verwaltung des ausschließlich der israelitischen Gemeinde gehörenden Vermögens haben darf und nicht haben sollte.57
Diese größtenteils historisch bzw. rechtshistorisch58 argumentierende Begründung verweist auf das Kernanliegen: Es ging um die Aufrechterhaltung des eigenen Einflusses und die Begrenzung des ‚anderen‘, jüdischen Einflusses, wobei hier traditionelle antijüdische Ressentiments genutzt wurden, die Dubs mit „Misstrauen“59 und der Landtagsabgeordnete Michał Koczyński als „veraltete Vorurteile, die aus dem Grabe
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„na szwank moralne i materyalne interesa obywateli“, ebd. „Gmina powinna być Panem w swoim domu“, ebd., Bl. 51. „organem czysto ustawodawczym“, „ponieważ dotychczas gmina chrześcijańska i izraelicka stanowiły osobne ciała mających odrębne majątki, wypadało orzec […] iż majątkiem dzisiejszego gmina miasta Lwowa, według tytułu nadania i według swego pochodzenia jest majątek czysto chrześcijańskim, że zatem gmina izraelicka do współwłasności i zarządu tego majątku tak nie ma prawa, jak gmina chrześcijańska nie ma do majątku wyłącznego gminy izraelickiej i nie powinna mieć wpływu na zarząd tego majątku“, ebd., Bl. 53. Vgl. auch die wohl im Zuge des Kommunalwahlkampfes verfasste Schrift: Radny miasta Lwowa [Ratsherr der Stadt Lemberg], Czego naszego miastu potrzeba. Dla użytku obywatelstwa [Was benötigt unsere Stadt? Für den staatsbürgerlichen Gebrauch], Lwów 1877, S. 44: Die christliche Bevölkerung sei stets im Vollbesitz der staatsbürgerlichen Rechte gewesen, während die jüdische Bevölkerung nicht gleichberechtigt gewesen sei, daher habe sie nach wie vor keinen Anspruch auf alle städtischen Einkünfte und Besitz. Vgl. auch die Antwort: Tadeusz Kulczycki, O wniosku postawionym w radzie miejskiej dnia 24 Maja 1877 [Über den im Stadtrat am 24. Mai 1877 gestellten Antrag], Lwów 1877. Ausführliche historische Begründung etwa in dem Bericht der Kommission vom 22.11.1866, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 6 ff.: „Die Juden gehörten nicht zur Gemeinde der Stadt Lemberg, Stadtbürgerrechte hatten sie nicht; außerdem hatten sie an der Verleihung der Privilegien und des Besitzes der Stadt Lemberg keinen einzigen Anteil“ („Nie należeli żydzi do gminy miasta Lwowa, praw obywateli miejskich nie mieli; zatem w nadaniach przywilejach i majątku miasta Lwowa nie mieli żadnego udziału“, ebd., Bl. 67). Vgl. undatiertes Ratsprotokoll (wohl Herbst 1865), CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 131 b, mit der gleichen Argumentation. Wegen dieser historischen Argumentationen findet sich in CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 115 eine Reihe von Abschriften mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Privilegierungen, auf die man sich in den Debatten berief (s. Einleitung zu Kap. 2). „nieufność“, Protokollauszug der Ratssitzung vom 26.10.1865, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 122.
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gezerrt werden“60, umschrieben. Eine ebenso große Rolle spielte das, was Hönigsmann mit „Zeitgeist“61 andeutete: Es ging, wie es in der Debatte formuliert wurde, um die Gleichberechtigung der Juden als „einen der Hauptgrundsätze der neuzeitlichen gesellschaftlichen Verfassung.“62 Die kommunalpolitischen Debatten wurden nach der Beschlussfassung im Stadtrat in den Landtag verlagert. Hierbei war von Bedeutung, dass es personelle Überschneidungen der Hauptakteure gab, weil die maßgeblich an den Ratsdebatten beteiligten Personen (Gnoiński, Dubs und Hönigsmann) auch Landtagsabgeordnete waren. Letztere versuchten, den Ratsbeschluss auf Landesebene zu heilen. Die Debatten im Landtag wurden vor dem Hintergrund der Landesgemeindeordnung und möglichen weiteren Städtestatuten, insbesondere dem Krakauer Statut, geführt. Hierdurch wurden die Argumentationslinien nun noch stärker auf die allgemeinen Entwicklungen bezogen, sodass die „sehr stürmischen“ Beratungen umso „heikler“63 wurden, als sie um die Sprachenfrage erweitert wurden. Durch die Frage, welche Sprache in der Gemeindeverwaltung zur Anwendung kommen sollte, wurden zusätzlich noch ruthenische Forderungen ins Spiel gebracht. Ausgehend von dem Rückständigkeitsparadigma der Juden verhandelte daher der Landtag das „Projekt der Gleichberechtigung der Juden als Ganzes“64, dem nach Tim Buchen auch ein „kolonialer“ Elitendiskurs inhärent war, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen des positivistischen Konzepts der Organischen Arbeit, der Arbeit an den ‚nationalen Wurzeln‘ entstanden ist.65
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In Bezug auf die Frage einer Trennung des Gemeindebesitzes in Krakau: 33. Sitzung der 3. Session des galizischen Landtages am 13. Februar 1866, in: Außerordentliche Beilage zur Lemberger Zeitung Nr. 78/1866, S. 397. So auch in einem deutschsprachigen Schreiben der jüdischen Ratsmitglieder an den Statthalter vom 10.4.1866, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1855, in dem sie um eine Rückverweisung des Entwurfs an den Stadtrat bitten, weil darin Haltungen und Prinzipien enthalten seien, die nicht „dem Zeitgeiste nach den wirklichen Forderungen der Gegenwart entsprechen“. „jedną z głównych zasad nowożytnego ustroju społecznego“, 24. Sitzung der IV. Session am 29. Dezember 1866, in: StBgalLt 1866, S. 457; poln. Minderheitenbericht der Kommission, L. 288/S. (1866), CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1858, Bl. 142. „bardzo burzliwej“, „drażliwszą“, so das Urteil über die Landtagsdebatten: Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 37. Tim Buchen, Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um 1900, Berlin 2012, S. 63–96; vgl. auch Józef Buszko, The Consequences of Galician Autonomy after 1867, in: Polin 12, 1999, S. 86–99, hier: S. 88 f. Die Organische Arbeit entwickelte sich als Reaktion auf die niedergeschlagenen Aufstände des polnischen Freiheitskampfes und gelangte in allen Teilungsgebieten zur Wirkung. Ziel war es, sich vor allem durch die Bildung der Massen und die Steigerung der Wirtschaftskraft der Germanisierungs- und Russifizierungspolitik zu widersetzen und eine moderne polnische Nation zu formen. Zum Konzept: Halina Kozłowska-Sabatowska, Ideologia pozytywizmu galicyjskiego 1864–1881 [Die Ideologie des galizischen Positivismus 1864–1881], Wrocław 1978; Balázs Trencsényi / Maciej Janowski / Mónika Baár u. a., A History of Modern Political Thought in East Central Europe, Bd. 1 Negotiating Modernity in the „Long Nineteenth Century“, Oxford 2016, S. 346 ff., vgl. auch Helga
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In den Beratungen der Landtagssektion, in welcher der Lemberger Ratsherr und Hauptredakteur des Statutentwurfs Gnoiński Berichterstatter war, hatten Dubs und Dr. Szymon Samelson, Abgeordneter aus Krakau, beantragt, die Paragrafen über das Verhältnis von Juden und Christen in Lemberg zu streichen. Zunächst standen in diesem Verfahren wieder zwei Aspekte im Mittelpunkt, die bereits zuvor im Rat diskutiert worden waren, nämlich die Paragrafen 34 (Begrenzung der jüdischen Ratsmandate) und 56 (Wählbarkeit von Juden zum Bürgermeister und dessen Stellvertreter). Auf den Antrag Gołuchowskis hin, der im Landtag eine realpolitische, aber durchaus konservative Gruppe66 repräsentierte, maximal 33 der 100 Mandate für Juden zu öffnen67, verteidigte Gnoiński den Ratsbeschluss im Landtag mit historischen Argumenten: Die „Israeliten“ [ Juden] würden sich nicht um Beweise bemühen, dass sie sich den Christen und dem Land annähern wollten, und immer noch würde trotz allen Wohlwollens dieser jahrhundertealte „Kastengeist“ herrschen und nur das eigene Interesse ohne Berücksichtigung des Gemeinwohls verfolgt werden. Der Rat würde nicht von „Rassenneid“ und „Widerwillen gegenüber den Juden“ geleitet, was das Faktum zeige, dass der Rat gerade einem Juden ( Jakub Beiser) die Ehrenbürgerschaft wegen seines staatsbürgerlichen und philanthropischen Engagements angetragen habe.68 In den Paragrafen 118 bis 126 über die Trennung des Gemeindebesitzes betonten Gegner einer Gleichstellung, dass die Juden 1848 nur vorübergehend rechtlich gleichgestellt, aber nie zu Miteigentümern des Gemeindevermögens geworden seien. Es sei in „polnischer Zeit“ verliehen und in österreichischer Zeit bestätigt worden.69 Nachdem sämtliche Änderungswünsche vom Landtag mit Ausnahme der acht jüdischen Stimmen abgelehnt worden waren,70 entsandten die jüdischen Abgeordneten eine Delegation mit einer Denkschrift zum Staatsminister Richard Graf von Belcredi nach Wien,71 um über diesen Weg den Beschluss zu beanstanden.
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Schultz, Wirtschaftsnationalismus in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Forschungsbericht, Frankfurt/Oder 2006. Friedmann, Judenfrage, S. 382. Protokoll der Landtagssitzung vom 22. März 1866, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1854, Bl. 49. „duch kastowy“, „dobro ogołu“, „zawiść rasowa“, „niechęć do żydów“, Protokoll der 58. Sitzung der 3. Session des galizischen Landtags am 22. März 1866, in: Außerordentliche Beilage zur Lemberger Zeitung Nr. 187/1866, S. 1031. Die jüdischen Abgeordneten Dubs und Samelson argumentierten gegen eine Quotierung, weil diese verdeutlichen würde, dass die Israeliten nicht mit dem Volke und der Stadt verschmolzen seien; vgl. ebd. „za czasów polskich“, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 61, auch Bl. 140 und Bl. 150 b. Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 40. Denkschrift an S-e Exzellenz den kk Staatsminister Herrn Grafen Belcredi, überreicht von der Lemberger israelit. Kultusgemeinde, anlässlich des vom galizischen Landtag beschlossenen Gemeindestatuts für Lemberg, Wien 1866 (nur als Abschrift), CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1855, Bl. 1–31 b; vgl. Bałaban, Dzieje Żydów, S. 205; Artur Eisenbach, Emancypacja Żydów na ziemiach polskich 1785–1870 na tle europejskim [Die Judenemanzipation in den polnischen Ländern 1785–1870 vor dem europäischen Hintergrund], Warszawa 1988, S. 539 ff.
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Diese Trennung zwischen christlichem und jüdischem Besitz findet sich darüber hinaus im Krakauer (1866), dem Brünner (1850) und Prager (1850) Statut, nicht aber in den übrigen, seit 1866/67 genehmigten Städtestatuten, während die Quotierung von Ratsmandaten ein Lemberger und für kleinere galizische Gemeinden ein vorübergehendes Spezifikum bis zur ersten Revision der gLGO infolge der Dezembergesetze 1868 war.72 Daher ist davon auszugehen, dass die Regelungen dem Verständnis der polnischen politischen Eliten in Galizien gegenüber den Juden entsprachen. So enthielt etwa auch der gescheiterte Antrag der Stadt Tarnów, ein Statut zu erlassen mit gewisse[n] Verwahrungen in Bezug auf die Mitbürger mosaischen Religionsbekenntnisses, da das Vermögen der Stadt rein christlichen Ursprungs ist und es aus den Privilegien der Könige und der Eigenthümer der Grafschaft Tarnow fließt.73
Da das Lemberger Statut 1865/66 gemeinsam mit der gLGO und dem Provisorischen Statut für Krakau im Landtag verhandelt wurde,74 zeigt sich in den Debatten, wie richtungsweisend die Lemberger Regelung wahrgenommen worden war. Sich auf den „gründlichen“ Statutentwurf für Lemberg berufend, betonten die Landtagsabgeordneten, dass es notwendig sei, der „Stadt Krakau ihren polnischen Anstrich zu bewahren, den Anstrich einer katholischen Stadt [zu geben]“75. Indem der Abgeordnete Ludwik Kapiszewski (Wadowice) diesen rechtfertigte, wurden die antijüdischen Intentionen nochmals hervorgehoben. Er betonte, dass diese Bestimmung [über den christlichen Gemeindebesitz] einen tiefen Grund verbirgt, wir sehen nämlich, daß darüber ungemein viel in dem Bürgerausschuss debatirt wurde, als man das christliche Merkmal dieser Stadt erhalten wissen wollte.76
Der Landtag stimmte dem Lemberger Entwurf zu. Die ersehnte kaiserliche Sanktion wurde dagegen nicht erteilt, weil im Wesentlichen Kritik an dem vorgesehenen einen 72
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Die Formulierungen im Lemberger Statut und in der ersten Fassung der gLGO sind wortgleich, analoge Formulierungen finden sich im Provisorischen Statut Krakaus (§§ 119–123, LGuVBl. Nr. 7/1866). Gegen die Regelung der gLGO äußerte aber Staatsminister Belcredi Bedenken, die Gołuchowski jedoch widerlegen konnte, sodass sie die Sanktion 1866 erhielt. Vgl. Friedmann, Judenfrage, S. 466. Die erste Revision der gLGO Ende 1868 (LGuVBl. Nr. 30/1868) musste die Emanzipationsgesetze und damit die politische Gleichstellung der Juden berücksichtigen, woraufhin die Quotierung von jüdischen Ratsmandaten gestrichen wurde. 19. Sitzung der 3. Session des galizischen Landtages am 11. Jänner 1865, in: Außerordentliche Beilage zur Lemberger Zeitung Nr. 24/1865, S. 162. So wird auch bezüglich des Krakauer Statutentwurfs argumentiert, vgl. 33. Sitzung der 3. Session des galizischen Landtages am 13. Februar 1866, in: Außerordentliche Beilage zur Lemberger Zeitung Nr. 78/1866, S. 395–407. Der Bericht der Kommission für die Städtestatuten in der 24. Sitzung der IV. Session am 29. Dezember 1866, in: StBgalLt 1866, S. 457, machte deutlich, dass der Lemberger Statutentwurf einige aus der gL60 übernommene Paragrafen beinhaltete. 30. Sitzung der 3. Session des galizischen Landtages am 9. Februar 1866, in: Außerordentliche Beilage zur Lemberger Zeitung Nr. 67/1866, S. 339. Ebd., S. 340. Der Krakauer Entwurf enthielt die Unterscheidung nicht.
3.1 Das Ringen um das Statut: die „jüdische Frage“
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Wahlkörper (anstelle der in der Regel vorgesehenen drei) geäußert wurde, da die Bevorzugung der Höchstbesteuerten, die das RGG vorschrieb (Art. 11) hierdurch nicht gegeben sei.77 Wie die folgende Debatte in Lemberg zeigt, war diese Regelung auch geschaffen worden, um jüdischen Einfluss auf die Kommunalpolitik zu verhindern. Nach der Verweisung des abgelehnten Statutentwurfs in den Stadtrat widersprach die zuständige Ratssektion einstimmig der kaiserlichen Kritik, weil durch den vergleichsweise hohen Zensus dieses Interesse durchaus gewahrt werde78, zumal das Wahlverfahren mit nur einem Wahlkörper seit 1848 angewendet werde. Ratsherr Madejski verwies dabei auf „unsere speziellen Verhältnisse, für die die Einführung von Wahlkörpern damals [1848] geradewegs schädlich gewesen wäre.“79 Hiermit spielte er darauf an, dass über eine Differenzierung in unterschiedliche Wahlkörper gerade die Stimmen der jüdischen Höchstbesteuerten in einer möglichen ersten Kurie ein stärkeres Gewicht erhalten hätten. Mit diesen von den imperialen Vorgaben abweichenden Beschlüssen vom 22. Dezember 1866 wandte sich der Stadtrat, in dem die übrigen Themen nicht mehr diskutiert wurden, an den Statthalter mit der Bitte, diese Regelungen in Wien so zu unterstützen.80 Da die vorgesehene einzige Wahlkurie dem RGG widersprach, war sie unter Gebrauch von versicherheitlichenden Argumentationen ein Angelpunkt der weiteren Beratungen geworden: Bereits die Belcredi überreichte Denkschrift hatte betont, dass der Rat die Einführung von drei Wahlkurien vermeiden wollte, weil in einer ersten Kurie die Zahl jüdischer höher Besteuerter die Zahl der christlichen übertroffen hätte und auf diese Weise der polnisch-christliche Einfluss reduziert worden wäre.81 Hierdurch erscheint die auf den ersten Blick
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CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1857, Bl. 126. Paragraf 2 der Provisorischen Regelung zur Reorganisation des bürgl. Ausschusses von 1848 (CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1858, Bl. 125) beinhaltete nur die Vorschrift, dass neben Immobilienbesitzern, graduierten Doktoren aller Fakultäten, Professoren und Lehrern aller Lemberger Lehranstalten und der höheren Geistlichkeit aller christlichen Konfessionen und des Judentums diejenigen wahlberechtigt sein sollten, die eine direkte Steuer bezahlten. Daher konnte etwa bereits die Kommission im Bericht vom 22. November 1866, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 52 f. und Bl. 57 ff., Bl. 62–69 argumentieren, dass der Entwurf von 1860 5 fl. Steuern verlangt habe. Der angesetzte Steuersatz würde auch auf das Interesse an den Gemeindeangelegenheiten der Stimmberechtigten hinweisen, der Zensus sei aus „utilitaristisch-politischen Gründen“ (Bd. 62) so gestaltet worden. Ähnlich: Bericht der Ratskommission vom 30. September 1865, ebd.; ebenso der Bericht der Landtagskommission für die Städtestatuten L. 2354/S. (1866, vermutlich erste Jahreshälfte), CDIAL, f. 148, op. 4, spr. 1858, Bl. 149 f. Der Bericht der Landtagskommission für die Städtestatuten L. 277/S. (1866, undatiert, lt. Landtagsprotokoll 29.12.1866), CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1858, Bl. 143 f., betonte, dass seit 18 Jahren so gewählt werde und selbst aus den Reihen der Höchstbesteuerten keine anderen Wünsche geäußert würden. Sie empfahl dennoch, Wahlkörper einzurichten, damit die Sanktion erteilt werden könne. „specyalne nasze stosunki, dla których wprowadzenie kół wyborczych byłoby podówczas wprost szkodliwem“, Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 44. Ebd. CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1855, insb. Bl. 27. Vgl. auch Friedmann, Judenfrage, S. 467 f.; vgl. Stanislaus Kutrzeba, Grundriß der polnischen Verfassungsgeschichte, Berlin 1912, S. 313.
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fortschrittliche Regelung der Wahlordnung als Sicherungsinstrument gegenüber zu hohem jüdischem Einfluss. Argumentativ konnte diese antijüdische Haltung jedoch mit dem Verweis ‚verpackt‘ werden, dass der Stadtrat hierdurch keine Trennung der Interessen, sondern lediglich ihre Konsolidierung und „Vereinigung“ erreichen wolle,82 was etwa die Vorlage der mit der Revision beauftragten Landtagskommission verdeutliche. Diese beschloss eigenmächtig die Einführung weiterer Wahlkörper, was aber der Landtag in seiner Sitzung Ende Dezember 1866 nicht mittrug, weil dies nicht der Lemberger Haltung entspräche, auch wenn er im Grunde mit dem Paragrafen des RGG kollidiere.83 In den Debatten über die Vorlage wurde das Verhältnis zwischen Landtag und Stadt sowie das Selbstverständnis der Akteure deutlich, die einen Vorrang der kommunalen Selbstverwaltung sahen. So betonte etwa der als Pragmatiker bekannte Ratsherr und Landtagsabgeordnete Ziemiałkowski, dass die Verhältnisse in Lemberg anders als in Wien seien, dass es hier keine so großen Einkommensunterschiede gäbe wie dort, zumal der Zensus voraussetze, dass die angesetzten 8 Gulden Steuern jährlich bereits entrichtet worden seien.84 Insofern seien die (bisherigen) Wahlen „ohne üble Folgen“ geblieben, weil bislang im Rat alle Interessen und „Leute aus verschiedenen Schichten“ vertreten gewesen seien, sodass man weitere „Vermögenskasten“ nicht künstlich schaffen müsse.85 Der Abgeordnete und spätere Krakauer Stadtpräsident Mikołaj Zyblikiewicz kritisierte das Vorgehen der Landtagskommission für die Statuten der Städte, das radikal86 gegen den Willen des Lemberger Rates gerichtet gewesen sei: „Städte dürfen aber nicht als sehr minderjährig behandelt werden“87, so Zyblikiewicz, der gegen die Einschränkung des Willens und der Autonomie der Stadt argumentierte. Er betonte, dass der Lemberger Rat sich möglicherweise lieber „der Gefahr der Verweigerung aussetze, als ein Statut anzunehmen, welches es [sic: er] nicht will.“88 Ziemiałkowski betonte, dass die bisherige Regelung ein „Reifezeugnis der Stadt“ gewesen sei.89 82 83
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„zjednoczenie“, Gmina (Die Gemeinde) v. 3.6.1868. StBgalLt 1866, S. 477–480, zeigt, dass bei einer Untergliederung in drei Wahlkörper im ersten „kaum 120 oder 115 Wähler“ vorhanden seien, sodass die Kommission eine Untergliederung in zwei Wahlkörper (bis 185 fl. und darüber) vorschlug. Die weiteren Ausführungen verdeutlichen die Problematik einer Fokussierung auf die Höchstbesteuerten: Bei drei Wahlkörpern würde auf diese Zahl von Höchstbesteuerten nochmals die eineinhalbfache Zahl von unbesteuerten Wählern dem ersten aufgrund anderer Qualifikationen (Vermögen, Bildungs-/Berufsstand) zugeordnet. Nach dem Kommissionsvorschlag von zwei Wahlkörpern würden ca. 560 Höchstbesteuerte in den ersten Wahlkörper sowie ca. 280–300 unbesteuerte Personen aufgrund ihres Vermögens kommen, in den zweiten Wahlkörper würden auf 4.039 Besteuerte 1.900 unbesteuerte Personen kommen. StBgalLt 1866, S. 466 f. Ebd., S. 478, S. 456 f. „kast majątkowych“, ebd., S. 466. Ebd., S. 471. Ebd., S. 458. Ebd. „dojrzałości dowód“, ebd., S. 468, 478.
3.1 Das Ringen um das Statut: die „jüdische Frage“
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Nachdem der Landtag Ende Dezember 1866 dem Lemberger Ratsbeschluss gefolgt war, verweigerte der Kaiser Ende März 1867 wiederum die Sanktion.90 Daraufhin wurde das Statut wieder an den Stadtrat verwiesen, dessen Beratungen sich über ein Jahr hinzogen,91 und durch die Dezembergesetze 1867 nochmals erschwert wurden, weil durch sie die volle politische Gleichberechtigung für die Juden eingeführt worden war.92 Die Begrenzung jüdischer Ratsmandate und der Ausschluss von Juden vom Bürgermeisteramt stand nun der Reichsgesetzgebung entgegen.93 Der Rat beschloss dennoch mehrheitlich, die Quotierung der Ratsmandate nur zu verändern, indem er ein Verhältnis von mindestens 80 christlichen zu maximal 20 jüdischen Ratsherren vorsah; auch konnte sich der Rat nicht dazu durchringen, die Vorbehalte gegenüber Juden hinsichtlich des Bürgermeisteramtes aufzugeben.94 Da sich der Statthalter weigerte, diesen unrechtmäßigen Ratsbeschluss im Landtag zu unterstützen, beantragte Smolka Ende August 1868 im Landtag, das Statut zu beraten. Dessen zuständige Sektion begann erst nach Erledigung anderer Angelegenheiten daran zu arbeiten; hierbei wurde es intensiv und emotional zusammen mit der notwendigen Revision95 der gLGO beraten.96 Zuvor hatte die Verfassungskommission des Landtags kritisiert, dass die vorliegende Fassung des Lemberger Statuts eine „Anomalie in der Gemeindegesetzgebung unsers Landes“97 sei. Während dieser Verzögerung in den Beratungen wären Neuwahlen des Rates notwendig geworden, weil keine Ersatzmänner mehr zur Verfügung standen und der Rat nur noch 98 Mitglieder umfasste.98 Obwohl auszuschreibende Wahlen nach den Vorschriften des Gesetzes vom 20. Juli 1848 hätten durchgeführt werden müssen, verdeutlichte Innenminister Carl Giskra am 11. April 1869, dass der 1867 eingeführte Gleichberechtigungsgrundsatz angewendet werden müsse. Daher sah der Stadtrat von Neuwahlen ab und legte zunächst einen gesetzmäßigen Statutentwurf vor, in dem zwar die Trennung von jüdischem und christlichem Gemeindebesitz erhalten blieb, aber alle übrigen Restriktionen gegenüber den Juden auf den ersten Blick gekippt
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Protokollauszug der Ratssitzung vom 10. Juni 1868, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1857, Bl. 120. Vgl. Friedmann, Judenfrage, S. 467. Bereits im Sommer 1867 setzten die Beratungen wieder ein, vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 1242, Bl. 8–14 b. Vgl. Hannelore Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, Wien 2014, S. 82 f. GL v. 12.6.1868; vgl. auch Gmina v. 6.6. und 13.6.1868 mit einer scharfen Kritik an diesem Beschluss, der den Grundsatz der Gleichberechtigung unberücksichtigt ließ. GN v. 11.6. und 27.6.1868; GL v. 12.6. und 27.6.1868. Analoge Vorschriften gab es in der gLGO, vgl. LGuVBl. Nr. 30/1868: Änderung des § 15 Abs. 2, der §§ 28 und 35 der Gemeindewahlordnung sowie des § 46 des Statuts für die Stadt Krakau vom 1.4.1866; Aufhebung der Wahlordnung für Brody vom 14.3.1867 (LGuVBl. Nr. 8/1867). Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde. Ebd., S. 2; so auch Smolka in seiner Rede vom 8.10.1868, in: Beilage zum DL v. 10.10.1868. Ratsbeschluss ohne Diskussion vom 18. März 1869, GL v. 19.3.1869.
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wurden. Der zweite Blick zeigt, dass es einen ‚Fallstrick‘ für den Fall der Wahl eines Juden zum Bürgermeister oder zu dessen Stellvertreter99 gab. Es sollte ein christlicher zwanzigköpfiger Administrationsrat berufen werden, der die „speciellen Angelegenheiten der christlichen Bevölkerung“ zu verwalten habe und damit die gleichen Befugnisse erhalten hätte wie der Stadtrat, dessen Kompetenzen durch ihn ausgehöhlt worden wären. Beibehalten wurde auch die Quotierung der Ratsmandate, indem sich der Stadtrat zunutze machte, dass die anhängende Wahlordnung zwar Rechtscharakter hatte, aber formal gesehen nur ein Anhang zu einem Gesetz war.100 In deren Paragraf 97 wurde die Quotierung ‚versteckt‘, indem vorgeschrieben wurde, dass mindestens 80 von 100 „Räthe[n] christlicher Religion“ vorhanden sein sollten. Dieses entspräche nach mehrheitlicher Ansicht des Rates „vollkommen den Bedürfnissen der ganzen Stadt“, weil ein Übergewicht jüdischer Ratsherren nur einen „schädlichen Einfluss“ auf das Gemeinwohl nehmen würde.101 Deutlich wird auch wieder, dass die Gefährdung des „christlich“-städtischen Eigentums und damit auch indirekt der polnischen Vorherrschaft in den Debatten geradezu dramatisch beschworen wurde. Mit dem Argument, „christliches Eigentum“ schützen zu müssen, konnten diese Vorschriften also genutzt werden, um stärkeren Einfluss jüdischer Ratsherren auf die Stadt auszuschalten. Über diesen ‚Umweg‘ war es schließlich gelungen, die diskriminierenden und zugleich versicherheitlichenden Haltungen in das Statut einzuführen. Diese wie auch die früheren Argumentationen gegen eine Gleichstellung der Juden im Statut sind schließlich im Kontext der allgemeinen Debatten um die Gleichberechtigung102 und Assimiliation der Juden in Galizien zu bewerten.103 Die mehrheitliche Haltung des Lemberger Stadtrates entsprach der des Landtages, die insgesamt auf Kri-
99 Protokollauszug der Ratssitzung vom 10.6.1868, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1857, Bl. 128 f. 100 Wie das Statut ist auch sie stark an den Gesetzestext der Landesgemeindeordnung angelehnt; zahlreiche Passagen sind identisch. Wahlordnung mit Ausnahme Wahlkörper nach gLGO, 24. Sitzung der IV. Session am 29. Dezember 1866, in: StBgalLt 1866, S. 465. 101 „zupełnie odpowiada interesom miasta całego“, „szkodliwy wpływ“, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1857, Bl. 124 b ff. 102 Vgl. Friedmann, Judenfrage, S. 385 ff.; Wacław Wierzbieniec, The Processes of Jewish Emancipation and Assimilation in the Multiethnic City of Lviv during the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: John Czaplicka (Hrsg.), Lviv. A City in the Crosscurrents of Culture, Cambridge/MA 2005, S. 223–250; Małgorzata Śliż, Galicyjscy Żydzi na drodze do równouprawnienia 1848–1914. Aspekt prawny procesu emancypacji Żydów w Galicji [Die galizischen Juden auf dem Weg zur Gleichberechtigung 1848–1914. Der rechtliche Aspekt der Judenemanzipation in Galizien], Kraków 2006. 103 Vgl. die gLGO vom 12.8.1866 in der Wahlordnung (§ 28, LGuVBl. Nr. 19/1866), die vorschreibt, dass „zwei Drittheile der von jedem Wahlkörper gewählten Gemeinderähte [sic!] und Ersatzmänner Christen sein müssen“, während das Provisorische Statut für Krakau vom 1.4.1866 (LGuVBl. Nr. 7/1866) lediglich vorschrieb, dass „kein jüdischer Bürgermeister“ gewählt werden dürfe. Zur galizischen Gemeindeordnung vgl. Rejman, Działalność, S. 27–45, mit einem Fokus auf die größeren Städte in Westgalizien, die keinen Status als Statutarstadt erhielten.
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tik auf Reichsebene stieß, so etwa in der Wiener liberalen Neuen Freien Presse in Bezug auf den „Sturmlauf gegen die Reichsgesetzgebung“ im galizischen Landtag.104 Den Stadtrats- und Landtagsdebatten über das Statut waren also sehr unterschiedliche Interpretationen der Assimilationstendenzen der Juden und der daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen inhärent,105 wobei jede Richtung versicherheitlichende Argumentationen nutzte. Die Liberalen erkannten in der Gleichberechtigung der Juden eine Chance, sie als polnische Patrioten und als ‚nützlichen‘ Teil der Gesellschaft zu gewinnen.106 Hing die Assimilation an die deutsche Kultur mit Hoffnungen auf das persönliche Fortkommen zusammen, so legten polnisch konservative und nationalistische Redner sie als Gefahr aus: Sie sahen sich nicht nur durch aufstrebende assimilierte Juden in ihrer politisch führenden Position bedroht, sondern vor allem auch die polnische Kultur als gefährdet an. Dies verdeutlichte etwa auch – in Anlehnung an gängige Ressentiments – der Bericht der Ratskommission vom 22. November 1866, als er auf die „fortschreitende Zunahme der altgläubigen [jüdischen] Bevölkerung“ in Lemberg hinwies, während durch Aushebungen, Krankheiten und andere „schädliche Zusammenhänge“ die christliche Bevölkerung zurückginge.107 So war die Hoffnung, „die Juden für unser [das polnische] Lager zu gewinnen, und an ihnen ein Material für unseren Mittelstand, für den Handelstand zu haben“ nach der durchaus charakteristischen Ansicht des Landtagsabgeordneten und Vertreters des podolischen Adels Franz Torosiewicz (Brzeżany/ Berešany) in Anspielung auf die Landtagswahlen 1864 trügerisch, denn „leider haben die Juden nach 30 Jahren diese wohlwollenden Gesinnungen unserer Nation nicht mit Gegenseitigkeit vergolten.“108 Als einer der Hauptredner in der Debatte um die Landesgemeindeordnung bediente er sich gängiger Stereotype und Ängste, um die Gleichberechtigung zu kritisieren: Als „fremdes Element“, betonte Torosiewicz, würden die Juden
104 Neue Freie Presse v. 25.3.1866. 105 Bis in die 1880er Jahre assimilierte sich die jüdische Intelligenz in Lemberg anders als etwa in Krakau zur deutschen Kultur, was sich mit einem utilitaristischen Verhalten wegen der Funktion Lembergs als Hauptstadt mit einer deutschsprachigen Beamtenschicht und der österreichischen Nationalitätenpolitik erklären lässt. Konziser Überblick bei Antony Polonsky, The Jews in Poland and Russia, Bd. 2, Oxford etc. 2010, S. 113–146; vgl. Marcin Soboń, Polacy wobec Żydów w Galicji doby autonomicznej w latach 1868–1914 [Die Polen gegenüber den Juden in Galizien während der Autonomie 1868–1914], Kraków 2011; Kopff-Muszyńska, Ob Deutsch. Zur Entwicklung einer galizischen jüdischen Identität: Joshua Shanes, Diaspora Nationalism and Jewish Identity in Habsburg Galicia, New York etc. 2012. 106 Maciej Janowski, Polska myśl liberalna do 1918 roku [Das polnische liberale Denken bis 1918], Kraków 1998, S. 132; vgl. auch Olena Arkuša, Pol′s′ki polityčni seredovyšča L′vova ta Krakova na zlami XIX–XX stolit′: sproba porivnjannja [Polnische politische Zirkel in Lemberg und Krakau an der Wende vom 19. zum 20. Jh. Versuch eines Vergleichs], in: Mar′jan Mudryj (Hrsg.), L′viv. Misto – suspil′stvo – kul′tura: Zbirnik naukovych prac′ [Lemberg. Stadt, Gesellschaft, Kultur. Sammelband], Lviv 1999, S. 362–377. 107 „przyczyny szkodliwe“, Zitate: Bericht der Ratskommission vom 30. September 1865, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 156, Bl. 70. 108 Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde, S. 4.
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in den grösseren Städten [Christen] in jeder Richtung und aus jeder Stellung verdrängen, während sie die kleinen Städte fast ausschliesslich occupiren, und so ihre Entwicklung in municipaler und nationaler Beziehung hemmen, ja dieselbe unmöglich machen; […] verdrängen sie zugleich die Nationalität und nationale Civilisation, und schaden unserer Literatur und Journalistik […,] seine [des Judentums] Ziele sind immer abgesondert, vielleicht weil es auch eine besondere nationale Mission hat. Unter der gefährlichen Standarte der Loyalität […] haben die Juden es verstanden[,] sich einen überwiegenden Einfluss sogar bei den Regierungen, bei den Cabinetten und bei der Diplomatie zu verschaffen […;] um wie viel mehr haben wir dieses Element zu fürchten, welches bei uns den fünften Theil der Bevölkerung ausmacht, ein Bevölkerungstheil, der aber auch einen besonderen in sich abgeschlossenen nationalen Kreis bildet; diese Besorgnis wird noch dadurch erhöht, dass bei den Juden ihre Vermehrung ein Glaubensdogma ist. […] Wir [Polen] fürchten uns um den Andrang des Germanismus und vergessen, dass das Judenthum in seinem Schosse das gefährlichste fremde Element birgt.109
Daraus resultierte seine rhetorische, aber durchaus die soziale Lage der Polen dramatisierende Frage, ob „wir [Polen] das Loos unserer Stadtbevölkerung einer jüdischen Obrigkeit anvertrauen und gleichgiltig zusehen, wie unsere Bevölkerung zu Parias und Bettlern herabsinkt?“110 Er schließt daraus, „jede weitere Concession wäre mehr als eine politische Concession, sie wäre ein Attentat auf unsere soziale Freiheit“111. Befürworter der Gleichberechtigung sahen – in Tradition der aufklärerischen „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden – dagegen in der „Niederreissung der [rechtlichen] Schranken“ ein wichtiges Ziel, da sie „aus den Juden eine für die Gesellschaft schädliche Kaste“ geschaffen hätten. Sie argumentierten, dass ein „das Vertrauen der Christen verdienender Jude“ wegen der mit einem Amte verbundenen Verantwortlichkeit ein solches wohl besser wahrnehmen könne als ein „minder würdiger Christ“.112 Daher werde wohl kaum „die Sicherstellung der Christen vor der Rivalisation der Juden zur Hebung des Bürgergeistes unter den Städtlern beitragen.“113 Carl Rogawski, Abgeordneter für den kleinen Grundbesitz im Landtag und Mitglied des Abgeordnetenhauses des Reichsrates, wollte die Juden gegen die Ruthenen instrumentalisieren, sodass er die „jüdische“ vor allem als eine soziale Frage interpretierte. Er folgerte, dass uns [Polen] also nicht Anderes übrig [bleibt], als ihnen [den Juden] die politischen Rechte zu ertheilen, und aus ihnen Polen zu machen, damit sie eins werden mit dem ganzen Lande, dasselbe lieben, und zusammen mit uns dasselbe schützen. […] wenn wir [Polen] daher die Juden an den Bürgerrechten nicht Theil nehmen lassen, werden sie sich unter 109 110 111 112 113
Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd., S. 11 f. Ebd., S. 14.
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einander in eine Parthei drängen, wie sie es bis jetzt thun, und werden nicht ein Theil unserer Nation, sondern bloss wie bis jetzt, eine Parthei in unserer Nation bilden.114
Diese Haltung impliziert auch die Befürchung, dass die Juden sich als eigene politische Kraft zu Lasten der Polen etablieren könnten.115 Dubs, Abgeordneter Lembergs und dort Ratsmitglied, betonte im gleichen Sinne, wenn die polnischen Abgeordneten wünschten, dass die Juden treue Landeskinder seien, müssen Sie [die polnischen Abgeordneten] sie [die Juden] durch andere Mittel als durch Ausschließung für die Nationalsache gewinnen; Sie müssen ihnen Vertrauen zeigen, denn auf Mißtrauen wird mit gleichem Mißtrauen geantwortet.116
Auch Smolka, der in dieser Phase mit national-autonomistischen Anträgen seine politische Karriere zu befördern versuchte, erkannte in der Gleichstellung der Juden eine Chance für die polnische Nation, weil die „Pandorabüchse, welche aus dem Schosse des Judaismus so viel Unglück über die Nation und das Land ausgeschüttet“ habe, geschlossen werden könne, wenn die „Juden angesichts der uns zuerkannten nationalen Rechte ihren für uns und das Land schädlichen Separatismus aufgeben werden.“117 Er stellte fest, dass „den eigentlichen Hass das Bürgerthum gegen die Juden hegt“118, was ein Ausfluss sei des Brodneids und der Furcht, dass die Juden die Stadtbürger einmal im Erwerb und in den der Bürgerklasse eigenthümlichen Beschäftigungen überflügeln werden.119
Smolka traf den Kern dieser Haltung, denn will man nämlich Jemanden bei der schwächsten Seite packen und ihn für seine Meinung gewinnen, so ist wohl eines der wirksamsten Argumente, zu sagen, dass seine Tasche in Gefahr ist […] und es fällt dann schwer ihm diese Ueberzeugung zu nehmen.120
Er nahm an, dass „kaum 10 Juden im Gemeinderate sitzen“121 würden, eine Aufhebung der Beschränkung würde dem Land und der polnischen Nation größere Vorteile brin114 115
Ebd., S. 27 f. Ebd., S. 80. Rachel Manekin, Politics, Religion, and National Identity: The Galician Jewish Votes in the 1873 Parliamentary Election, in: Polin 12, 1999, S. 100–119, skizziert ein anderes Szenario: eine jüdisch-ruthenische Wahlallianz für die Wahlen zum Landtag 1873. Auf diese kurzzeitige und wenig erfolgreiche Allianz spielten die Ratsherren später immer wieder an, um für eine Politik zu werben, welche die jüdischen Interessen nicht ganz außer Acht lassen sollte. 116 Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde, S. 32 f. 117 Ebd., S. 78. 118 Ebd., S. 84. 119 Ebd. 120 Ebd., S. 90. 121 Ebd., S. 98.
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gen122, „weil wir [Polen] […] sie sonst in die Arme der Fremden werfen, und wir selbst sie zu Fremden machen würden.“123 Betrachtet man die Zusammensetzung der Stadträte bis 1914, so wird deutlich, dass die durch die Wahlordnung festgelegte Maximalzahl an jüdischen Stadträten nie erreicht wurde.124 Dies zeigt, wie sehr der unterstellte jüdische Einfluss auf die städtischen Angelegenheiten überschätzt wurde. Schließlich hatte der Stadtrat 1869 noch eine wichtige Änderung in der Nomenklatur eingeführt: Weil Krakau sowie alle anderen berühmten Städte Polens „Stadtpräsidenten“ und keine „Bürgermeister“ hatten, beschloss der Stadtrat, diese Amtsbezeichnung in das Statut aufzunehmen, wodurch auch die Funktion des Bürgermeisters als „Oberster der Stadt“ deutlicher hervorträte.125 Diese Änderung zeigt, dass sich der Stadtrat auch an den anderen polnischen Städten orientierte, um diesen in nichts nachzustehen; zugleich impliziert diese Bezeichnung eine bewusste Abgrenzung zu den vormaligen Bürgermeistern, die der Landesverwaltung unterstellt waren. Nachdem zum dritten Mal die Sanktion des im Oktober 1869 vom Landtag verabschiedeten Statuts im März 1870 wegen eher redaktioneller Monita verweigert126 worden war und diese fraglichen Formulierungen im Sommer geändert worden waren, erfolgte die kaiserliche Sanktion schließlich am 14. Oktober 1870.127 Trotz aller Widerstände hatte der Rat es mit einer gewissen Hartnäckigkeit und auch Ignoranz gegenüber den Reichsvorschriften geschafft, seine Definition der Arena Stadtrat durchzusetzen, indem er die „jüdische Frage“ zu einer existenziellen Bedrohung der polnischen Kultur Lembergs stilisierte.128 Nachdem dieses zähe, nicht weniger leidenschaftliche Ringen um das Statut den polnischen Anspruch, Lemberg zu regieren und vor jüdischem Einfluss zu sichern, verdeutlicht hatte, wurde er schließlich durch das Statut sanktioniert. 122 Ebd. 123 Ebd., S. 104. 124 Dies betont auch Amar, Paradox, S. 27. In den 1890er Jahren waren immer nur fünf oder sechs Juden im Stadtrat vertreten, 1914 schließlich 15, was ein Zeichen erfolgreicher Assimilation sei. 125 „naczelnik miasta“, SprstRgalSK Kadencja II, S. 398 f. Die Stadtpräsidenten waren zwischen 1871 und 1914: Florian Ziemiałkowski (1871–1873), Aleksander Jasiński (1873–1880), Michał Gnoiński (1880–1883), Wacław Dąbrowski (1883–1887), Edmund Mochnacki (1887–1896), Godzimir Małachowski (1896–1905), Michał Michalski (1905–1907), Stanisław Ciuchciński (1907–1911), Józef Neuman[n] (1911–1914). 126 Hierbei ging es nicht um die bisherigen strittigen Punkte, sondern um einige unzureichende Entscheidungen in Bezug auf den Verlust des städtischen Bürger- und Ehrenbürgerrechts und um unklare Formulierungen der §§ 1 und 2 in der zum Statut gehörigen Wahlordnung. CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1858, Bl. 40–46; DALO, f. 3, op. 1, spr. 2594, n. pag. 127 Schreiben des Rates an den Statthalter vom 15.8.1870, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1858, Bl. 124. Gesetz: LGuVBl. Nr. 79/1870; als Druck: Statut für die königliche Hauptstadt Lemberg, Lemberg 1870. 128 Genaue Gründe, warum der Kaiser die Sanktion trotz der problematischen Rechtslage erteilte, sind nicht erkennbar. Vermutlich spielte es aber eine Rolle, dass durch die Sanktion die Bedeutung der Hauptstadt des Kronlandes gestärkt werden sollte, ebenso könnte die do ut des-Politik gegenüber den polnischen Politikern eine gewisse Rolle gespielt haben.
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Abb. 2 Stadtpräsident Florian Ziemiałkowski, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag.
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Abb. 3 Stadtpräsident Michał Gnoiński, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag.
In diesem Ringen wird auch das gegenseitige Verhältnis von der Stadt- und Landesverwaltung gleichsam in paradigmatischer Weise deutlich. Bereits vor der kaiserlichen Sanktion des Statuts versuchten die Landesbehörden, sich weitestgehend aus den städtischen Anlegenheiten herauszuhalten und duldeten daher sogar einen Widerspruch in den Regelungen des Statuts zu den reichs- und landesrechtlichen Vorgaben. Diese landesbehördliche Distanzierung zu den Angelegenheiten der „reifen“ Städte, d. h. zu deren autonomen Handlungen, wurde auch in dem Umgang mit den ruthenischen Partizipationsforderungen und in allen kommunalpolitischen Themenfeldern deutlich. Die Regelungen des Statuts und der anhängenden Wahlordnung sanktionierten schließlich die Eroberung der Arena durch die polnischen städtischen Eliten und deren Sicherung, da sie über die Zusammensetzung des Stadtrates entschieden. Daher wird in charakteristischer Weise das Verhältnis zu den Juden deutlich. Die Regelungen des Statuts fixierten die in den Debatten geäußerten Vorstellungen von der Bedrohung des „polnischen Charakters“ der Stadt durch jüdische Ratsherren, indem der Rat besondere rechtliche ‚Schutzmechanismen‘ in das Statut einbaute, welche die Arena vor zu starkem jüdischem Einfluss absichern sollten. Diese hatten bis zum Ersten Welt-
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3 Kommunale Autonomie als Resonanzraum des polnischen Führungsanspruches
krieg Bestand, auch wenn es seit der Jahrhundertwende vor allem darum ging, sich der ruthenischen Forderungen nach Partizipation zu erwehren. 3.2 Stabilisierung der polnischen Arena: rechtliche Mittel und Praktiken der Machtsicherung Hatte das Statut den Status der Juden hinsichtlich der Ratsarbeit definiert, so galt es während der Zeit der städtischen Autonomie, die zunehmenden ruthenischen Ansprüche auf Partizipation in der Kommunalpolitik und -verwaltung zurückzudrängen. Nach Inkrafttreten des Statuts zum 1. Januar 1871 musste daher diese polnische Arena durch weitere rechtliche Maßnahmen stabilisiert werden. Der Rat nutzte dafür geschickt bereits im Statut und im Heimatrecht vorhandene Ansatzpunkte, um dieses Ziel dauerhaft zu sichern. 3.2.1 Durchsetzung des Polnischen als Amtssprache Ein grundsätzlich konfliktträchtiges Problem für die Nationalbewegungen war die Sprachenfrage, die entsprechend auch in Lemberg politisiert, aber innerhalb der polnischen politischen Elite konsensual vertreten wurde. Das Prinzip, dass Deutsch als Amtssprache und lingua franca innerhalb der österreichischen Bürokratie und des Militärs fungierte, wurde bereits im Juli 1860 durch Innenminister Gołuchowski aufgeweicht, indem er empfahl, im Verkehr mit den Bürgern in der jeweiligen Sprache zu kommunizieren; Deutsch blieb jedoch noch bis 1869 als innere Amtssprache weiterhin vorgeschrieben.129 Wie die handstreichartige Einführung des Polnischen als Sprache des Stadtrates 1861/62 zeigte, war es ein prioritäres Anliegen des Stadtrates, im Zuge der Autonomiebestrebungen die Sprachenfrage in seinem, d. h. polnischem Sinne zu lösen und das Ruthenische als Amtssprache auszuschließen.130 Eine erste quasi logische Konsequenz war es daher auch, Polnisch als Amtssprache im dem im Landtag eingereichten Statutentwurf (§ 32) endgültig festzuschreiben.131
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131
Bieberstein, Freiheit, S. 39, 89. Porządek czynności dla Rady król. Stoł. Miasta Lwowa [Geschäftsordnung für den Rat der königl. Hauptstadt Lemberg], Lwów 1863 (§ 34); vgl. auch die im Folgenden beschlossenen Geschäftsordnungen: Porządek czynności dla Rady król. Stoł. Miasta Lwowa [Geschäftsordnung für den Rat der königl. Hauptstadt Lemberg], Lwów 1873; Porządek czynności dla Rady król. Stoł. Miasta Lwowa [Geschäftsordnung für den Rat der königl. Hauptstadt Lemberg], Lwów 1896; Porządek czynności dla Rady król. Stoł. Miasta Lwowa [Geschäftsordnung für den Rat der königl. Hauptstadt Lemberg], Lwów 1905 (§ 38). Bereits in dem Entwurf von 1863 war diese Formulierung enthalten, vgl. GL v. 27.1.1863. Bei der
3.2 Rechtliche Mittel und Praktiken der Machtsicherung
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Hierzu hatte es im Stadtrat der Quellenlage nach niemals eine Debatte gegeben, obwohl offenbar vier Ruthenen vertreten waren. Diese vier – wie auch die jüdischen Ratsherren hinsichtlich der „jüdischen Frage“ – hatten wohl erkannt, dass sie in ihrer Haltung vollkommen unterlegen waren. Deshalb hofften sie, dass über den Landtag eine andere Beschlusslage herbeigeführt werden könne. Die Austragung des Konfliktes um die Amtssprache in Lemberg verlagerte sich folglich in den Landtag. Dass dieser Konflikt dort überhaupt ausgetragen werden konnte, lag an der graduell unterschiedlichen ethnischen Zusammensetzung des Landtags im Vergleich zum Stadtrat. So musste der Landtag diese Frage aufgreifen, weil es gerade den ruthenischen Abgeordneten der Landgemeinden, die sich auch des Ruthenischen132 in den Debatten bedienten, ein Anliegen war, dieses Problem zu thematisieren und die Sprachenregelung infrage zu stellen. Dagegen sahen sich die jüdischen Lemberger Abgeordneten nicht bemüßigt, sich für die Ruthenen einzusetzen. Weil die Landtagssitzung am 19. März 1866 die einzige umfangreichere Debatte über die Amtssprache in der Lemberger Stadtverwaltung war, müssen im Folgenden die wesentlichen Redebeiträge diskutiert werden. In dieser Regelung liegt schlussendlich eine der Wurzeln für die erfolgreiche Machtsicherung der Polen und die Exklusion der Ruthenen von der politischen Partizipation auf kommunaler Ebene, was den Konflikt mit den Ruthenen befeuerte, weil diese in der Sprachenfrage weiter auf ihren Rechten beharrten. Der ruthenische Priester und Abgeordnete Teofil Pavlikiv (Brzeżany/BerešanyPrzemyśl) hatte das Problem der Amtssprachen bereits bei den Debatten um die gLGO auf die Tagesordnung gebracht, indem er den schließlich mit „großer Majorität“ verabschiedeten Antrag stellte, das Gemeindegesetz sowohl in polnischer als auch ruthenischer Sprache zu verabschieden, da es „eine Lebensfrage“ bilde.133 Während der nur wenige Tage später stattfindenden Debatte über den Lemberger Statutentwurf beantragte der ruthenische Schriftsteller und Publizist Ivan Hušalevyč (Dolina/Dolyna-Bolechów/Bolechiv-Rożniatów/Rošnjativ) eine Korrektur des Paragrafen 32, der die polnische Sprache als Amtssprache festlegte, und begründete dies damit, dass Lemberg eine ruthenische Stadt sei.134 Der griechisch-katholische Geistliche und Lemberger Ratsherr Jakiv Švedyc′kyj (poln. Jakiw Szwedyćkyj, Jakób Szwedzicki) konkretisierte dies ebenfalls auf Ruthenisch, indem er beantragte, den Entwurf des Paragrafen 32 über die innere Amtssprache um die Formulierung „und
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Debatte über die einzelnen Paragrafen im Stadtrat (Protokollauszug der Sitzung vom 19.10.1865, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1856, Bl. 159) wurde der Text nicht verändert. In den polnischsprachigen stenografischen Berichten über die Landtagssitzungen wird das Ruthenische transliteriert wiedergegeben, die deutschsprachigen Ausgaben weisen in Klammern „(ruth.)“ darauf hin. 53. Sitzung der 3. Session des galizischen Landtages am 19. März 1866, in: Außerordentliche Beilage zur Lemberger Zeitung Nr. 175/1866, S. 887. Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 38.
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Ruthenisch“ zu erweitern.135 „Nicht zum ersten Male müssen wir [Ruthenen] in diesem hohen Hause in Vertheidigung unserer Sprache auftreten“, da diese den ersten Platz unter „unseren angeborenen Rechte[n]“ einnehme und das Ruthenische „von der Oberfläche des ruthenischen Landes verschwindend“ gemacht werden solle. Der Paragraf 32 sei, so Švedyc′kyj weiter, „für uns ein neuer schmerzlicher Schlag“, weil die polnische Sprache als die amtliche angenommen, die ruthenische dagegen überhaupt nicht erwähnt werde. In seiner weiteren Rede stellte er die polnischen Besitz- und Hegemonialansprüche sehr deutlich infrage: Die Stadt Lemberg, welche vom Fürsten Leo oder seinem Vorgänger gegründet wurde, ist eine ruthenische Stadt, es regierten in derselben russische Fürsten, sprachen die ruthenische Sprache, und wenn auch diese Stadt im [sic!] Folge ungünstiger Verhältnisse und unglücklicher Schicksale so zu sagen ein buntes Aussehen angenommen hat, so hat sie dennoch nicht aufgehört eine ruthenische Stadt, das Herz und der Mittelpunkt Rutheniens zu sein.136
In seinen weiteren Ausführungen wies er darauf hin, dass die Stadt nicht nur von ruthenischen Ortschaften umgeben sei, sondern in Lemberg auch 12.000 Seelen [lebten], welche nach ihrem Ritus Gott loben, Ruthenen sind, Ruthenen sein werden, und ihre Rechte ohne sich zu versündigen nicht auslassen werden.137
Als weitere Argumente führte er die Verbrüderungsäußerungen zu Beginn der Revolution 1848 und die bestehenden ruthenischen Institutionen und Korporationen an, die beweisen würden, dass die Ruthenen in der Hauptstadt Galizien[s] einen gewissen Standpunkt einnehmen, daß sie genug Lebenskraft haben und daß ihre angeborenen Rechte berücksichtigt werden sollen. […] Man kann nämlich von einem Volke, welches seine Kraft fühlt, nicht verlangen, dass es in einer fremden Sprache antworte.138
Mögliche Gegenargumente widerlegte er, indem er betonte, dass das Ruthenische eine „Volkssprache voller Kraft“ und imstande sei,
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„i rus′ku“, Protokoll der 28. Sitzung des Landtags vom 22. März 1866, in: CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1854, n. pag. (so die damalige Transliteration). Zum besonderen Einfluss der griechisch-katholischen Geistlichkeit für die nationale Bewusstseinsbildung der Ruthenen vgl. Bernadetta Wójtowicz-Huber, Väter der Nation – Die griechisch-katholische Geistlichkeit im Nationalisierungsprozess der galizischen Ruthenen (1867–1918), Hamburg 2015. 58. Sitzung der 3. Session des galizischen Landtages am 22. März 1866. Außerordentliche Beilage zur Nr. 187 der Lemberger Zeitung 1866, S. 1023. Die Gazeta Lwowska vom 27.3.1866 berichtet nur in einem kurzen Absatz über diese Debatte. 58. Sitzung der 3. Session des galizischen Landtages am 22. März 1866. Außerordentliche Beilage zur Nr. 187 der Lemberger Zeitung 1866, S. 1024. Ebd.
3.2 Rechtliche Mittel und Praktiken der Machtsicherung
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alle Begriffe auszudrücken, sie ist eine reine Volkssprache, welche uns unsere ruthenische Mutter lehrte. Daher soll man sie nicht Gemisch nennen, wie wir es oft hören und in neueren Zeitungen lesen.139
Handelt es sich hierbei zunächst um den allgemeinen Vorwurf, dass das Ruthenische als Hoch- resp. Literatursprache nicht ausgebildet sei, so versuchte Švedyc′kyj anschließend, den möglichen Vorwürfen einer Orientierung am Russländischen Reich vorzubeugen: Unsere Mutter, welche uns diese Sprache lehrte, hat die Sprachlehre weder in Moskau noch in Petersburg erlernt, sondern unter der hell leuchtenden galizischen Sonne.140
Er drohte noch implizit den Polen: Bauet nicht auf diesen Augenblick, in welchem euch die Sonne warm und angenehm scheint, darauf, daß hier euere Rennbahn ist, in welcher ihr euch willkührlich beweget […]. Die Geschichte ‚ist das Weltgericht‘, sie wird das Urtheil über euch fällen.141
Abschließend fand er aber eher versöhnliche Worte: „bedenket, daß oft ein Sturm die Wärme dieser Sonne kühlen kann, und wie erwünscht es ist, in trauriger Lage einen treuen Freund zu haben.“142 Der ruthenische Abgeordnete Josip [Osyp] Lozyns′kyj ( Jaworów/Javoriv-Krakowiec/Krakowec′)unterstützte diesen Antrag, indem er das Lemberger mit dem Krakauer Statut verglich, das keinen entsprechenden Paragrafen enthielt. Anders als in Krakau schien es seiner Ansicht nach im Lemberger Fall notwendig zu sein, eine solche Vorschrift aufzunehmen, um so die geforderte Gleichberechtigung der Sprachen zu vermeiden. Dies widerspreche den „angeborenen Rechte[n] Rutheniens“ und verstoße gegen den Willen des Kaisers, weil in „allen k. k. Ämtern und Gerichten die Gleichberechtigung zuerkannt wurde.“143 Auch er argumentierte mit der Geschichte: Lemberg ist durch fünf Jahrhunderte die Hauptstadt des galizischen Rutheniens [gewesen] und dieser Paragraph beabsichtigt, den alten ruthenischen Charakter dieser Stadt zu verwischen […]. Der ruthenischen Sprache der Hauptstadt Lemberg zu benehmen, hieße das Volksrecht Rutheniens zu verletzen und nichts ist bleibend, was mit fremdem Schaden erworben wurde und wird gerächt werden [….]. Lemberg ist die Hauptstadt, der Mittelpunkt, das Herz Rutheniens, führt Jemand gegen dasselbe den Schlag der Polonisierung, so verletzt er das Herz selbst, des ganzen ruthenischen Volkes.144
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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 1024 f. Ebd., S. 1025. Ebd.
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Anschließend prangerte Lozyns′kyj die „Herrschsucht“ der Polen an, die alle „übrigen Gefühle derselben betäubt“145 hätten, verwies aber auch auf die Vorbildrolle Lembergs, das für die anderen Städte ein Beispiel der Eintracht und Gerechtigkeit sein solle. Anschließend wurde Julian Szemelowski gehört, der sich als Abgeordneter Lembergs und Bürger der Stadt verpflichtet fühlte, Stellung zu beziehen, weil sich kein anderer Abgeordneter der Stadt gemeldet habe.146 Er kritisierte, dass es charakteristisch sei, dass die Abgeordneten der Landgemeinden das Wort ergriffen und beantragen würden, was im Stadtrat geschehen solle, während die Lemberger Ratsherren, darunter nach seinen Worten vier Ruthenen (Mychajlo Tovarnic′kyj, Švedyc′kyj, Mychajlo Tustanovs′kyj, Mychajlo Dymet), sich im Rat nicht zu Wort gemeldet hätten. Er könne daher nicht verstehen, „wie es dazu kommen konnte, daß sich der Stadtrath Lembergs Regeln von Vertretern der Landgemeinden vorschreiben ließe.“147 Er behauptete anschließend, dass gegenwärtig die ruthenische Sprache nicht Amtssprache in Lemberg sein könne, weil im Lande der Grundsatz angenommen worden sei, dass die herrschende und amtliche Sprache die „Büchersprache“ sein solle, „und dies ist die polnische.“148 Nur sie sei die ausgebildete Landessprache, auch weil „wir Ruthenen der polnischen als Büchersprache mächtiger sind, als der ruthenischen.“149 Abschließend argumentierte der Berichterstatter der Kommission und Lemberger Ratsherr Gnoiński für das Polnische als einzige Amtssprache, indem er betonte, dass in dieser Angelegenheit nur der Wille der Stadt ausschlaggebend sei und – scheinbar rein sachlich – eine zweisprachige Amtsführung die ämtliche Manipulation ungemein erschweren, unvermeidliche Verwirrungen verursachen und die Kosten vermehren würde […] ohne den geringsten Nutzen und […] Nothwendigkeit […] weil das Reskript des Ministeriums vom Jahre 1860 ausdrücklich bestimmt, daß die Gemeinden diese Sprache, welche ihnen beliebt, als ämtliche annehmen können.150
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Ebd. Ebd., S. 1026. Er war 1869–1871 Bürgermeister Lembergs. Ebd. Ebd., S. 1027. Ebd. Diese assimilationistische Haltung kritisierte der folgende ruthenische Redner Ščepan [Szczepan] Kaczala, waren doch gerade die ruthenischen Oberschichten zur polnischen Kultur hin akkulturiert. Ebd. Hiermit bezog er sich auf einen Erlass an die Gemeinden des Lemberger Bezirks vom Januar 1860, der wiederum auf eine Verordnung vom 20.10.1850 Bezug nahm, wonach die Kommunikation mit den politischen Behörden auf Deutsch stattzufinden hatte, aber es sonst den Gemeinden für den internen Gebrauch freigestellt blieb, in den „Landessprachen“ („języki krajowe“), zu kommunizieren, sei es Polnisch oder sei es Ruthenisch. Da die Kyrilliza jedoch im Land nicht so weit verbreitet sei, solle das Ruthenische in lateinischen Buchstaben geschrieben sein. Vgl. Przegląd Powszechny v. 21.1.1860 mit einer Konkretisierung: Antworten auf Eingaben sollten in der Sprache verfasst sein, in der die Eingaben verfasst worden seien, Protokolle in der Sprache, in der die Parteien sie verstehen würden, sonstige Schreiben in der Sprache, die der Adressat im Alltag nutze. Ein Erlass des Justizministeriums vom 21.4.1861 dagegen verpflichtete zur Nutzung der Kyrilliza bei
3.2 Rechtliche Mittel und Praktiken der Machtsicherung
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Auch er hob hervor, dass kein ruthenischer Ratsherr sich während der Beratungen des Stadtrats diesbezüglich zu Wort gemeldet und das Ruthenische als Amtssprache verlangt habe. Bei der anschließenden Abstimmung wurde der Änderungsantrag auf Ergänzung des Paragrafen 32 „Die Amtssprache der Gemeinde ist die polnische Sprache“ um „und die ruthenische“ abgelehnt,151 worin wiederum deutlich wurde, dass sich die Landesverwaltung insgesamt nicht in die städtischen Angelegenheiten einmischen wollte, auch wenn dies aufgrund der Rechtslage notwendig gewesen wäre. Der Lemberger Rat scheint im Gegensatz zu einigen Landtagsabgeordneten daraufhin bei allen notwendigen Revisionen des Entwurfs dieses Thema für erledigt gehalten zu haben, weil es keine weiteren Diskussionen mehr gab. Schließlich ergänzte der Landtag im Oktober 1869 den Paragrafen 32, wonach auf ruthenische Eingaben auf Ruthenisch geantwortet werden müsse.152 Die hier skizzierte Diskussion offenbart aber nicht nur das vorhandene Konfliktpotential dieser Regelung, sondern auch erste ruthenische Ansprüche, in Lemberg die Kommunalpolitik mitzugestalten, die seitens der polnischen Ratsherren als Bedrohung wahrgenommen wurden. Neben der hohen symbolischen Bedeutung der Frage, welche Sprache im Stadtrat und in den Ämtern gebraucht werden durfte, hatten die Regelungen deutliche praktische Auswirkungen. Insgesamt gibt es in den durchgesehenen Akten des Magistrats kaum ruthenische Eingaben, die, wenn überhaupt, meist nur in Transliteration, d. h. in lateinischen Buchstaben, und nicht in der Kyrilliza beantwortet wurden.153 Diese Regelungen wurden den Quellen nach erst wieder nach der Jahrhundertwende durch ruthenische Kräfte, insbesondere durch das ruthenisch-nationaldemokratische Blatt Dilo (Die Tat), öffentlich infrage gestellt, indem sie über das Bestreben des Magistrats berichteten, möglichst kein Ruthenisch zwischen Beamten und in den Geschäftsgängen zuzulassen. Um 1900 scheint sich, so der Eindruck aus der Lektüre des Dilo, die Konfliktlage auch auf der städtischen Ebene verschärft zu haben. Dies ist im Zusammenhang mit dem insgesamt anwachsenden Nationalitätenkonflikt und auch mit der zunehmenden Orientierung der polnischen Lemberger liberalen Demokraten an den Nationaldemokraten zu sehen, während Dilo besonders Stadtpräsident Godzimir Małachowski ad
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ruthenischen Eingaben; den Magistraten und Gemeinderäten wurde gestattet, sich der Kyrilliza zu bedienen. Vgl. Die ruthenische Sprach- und Schriftfrage in Galizien, Lemberg 1861, S. 282. „Językiem urzędowym gminy jest język polski“, CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1855, Bl. 80. Protokollauszug aus der 19. Sitzung der 3. Session der 2. Kadenz am 19. Oktober 1869, in: CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 1858, Bl. 103 f. Ausführlich: SprstRgalSK Kadencja II, S. 402. Im Statut § 32, LGuVBl. Nr. 79/1870. Daher auch die Formulierung in: Porządek czynności dla Rady król. Stoł. Miasta Lwowa [Geschäftsordnung für den Rat der königl. Hauptstadt Lemberg], Lwów 1876: § 10, wonach die Aussprachen ausschließlich in polnischer Sprache stattfinden durften. Dass die Zweisprachigkeit im Landtag funktionierte, zeigt die Debatte zu diesem Punkt, was Smolka aber ‚übersah‘. Jedoch waren teilweise amtliche Dokumente dreisprachig (Deutsch, Polnisch, Ruthenisch) als Vordruck verfasst, so ein Heimatschein, der einem gewissen 16-jährigen Leopold Bogochwalski am 29.4.1876 ausgestellt wurde. Vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 3564, n. pag.
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Abb. 4 Stadtpräsident Godzimir Małachowski, Quelle: Pamiętnik IV. Zlotu Sokolstwa Polskiego we Lwowie w dniach 27–29 czerwca 1903 [Festschrift der IV. Zusammenkunft der polnischen Sokolverbände in Lemberg vom 27.–29. Juni 1903], S. 55.
personam dafür verantwortlich machte. So kritisierte Dilo 1901, dass alle Schreiben und Kundmachungen der Stadtverwaltung auf Polnisch und damit nicht mehr zweisprachig wie zumindest noch in den ersten Jahren nach der Revolution verfasst würden. Diesbezüglich sei sogar eine ruthenische Delegation mit einer Petition nach Wien geschickt worden.154 Dagegen behauptete der nationaldemokratische Dziennik Polski (Polnische Tageszeitung) noch 1903, dass der Magistrat selbstverständlich der Vorgabe des Statuts folgen (und auf Ruthenisch antworten) würde, sofern nicht das erste Schreiben vom Magistrat ausgehen würde, weil dieser dann der Anweisung des Statuts folgen und polnisch schreiben müsse.155 Diese Bevorzugung des Polnischen schien dazu zu führen, dass die Ruthenen nur dann, wenn sie des Polnischen nicht mächtig waren, das Ruthenische in der Kommunikation mit der Stadtverwaltung nutzten, nicht zuletzt um möglichen Diskriminierungen zu entgehen. Dilo folgerte daraus, dass auch deswegen das Ruthenische durch die Ruthenen nicht geschätzt, d. h. genutzt, würde.156 154 155 156
Dilo v. 27.9.(10.10.)1901; über deren Erfolg lag zum Zeitpunkt des Berichts kein Hinweis vor. DzP v. 16.10.1903. Dilo v. 3.(16.)5.1901.
3.2 Rechtliche Mittel und Praktiken der Machtsicherung
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Erstmals intervenierte die Statthalterei 1903 in Bezug auf die Verletzung des Paragrafen 32 des Statuts.157 Hierin wird deutlich, dass die Landesbehörden nur bei eklatanten Verstößen gegen die Landesgesetze und erst nach Anzeigen durch die Ruthenen gegen die Lemberger Stadtverwaltung aktiv wurden. Während der Dziennik Polski, der einen übertriebenen Ton bei der Kritik an der Landesverwaltung anschlug, einen durch eine ruthenische Eingabe hervorgerufenen Erlass des Staatsministeriums als Anlass für dieses Interesse der Statthalterei an der Lemberger Sprachenfrage angab,158 erwähnten Dilo, Słowo Polskie (Das Polnische Wort) und die Gazeta Lwowska (Lemberger Zeitung) lediglich, dass die Statthalterei am 3. Oktober tätig geworden sei.159 Anlass sei gewesen, dass die ruthenische Versicherungsgesellschaft Dnistr (Dnister/Dniester) einige Wochen zuvor gegen den Nichtgebrauch des Ruthenischen im Magistrat protestiert habe, wonach die Statthalterei diesem empfohlen habe, alle Schreiben an Dnistr auf Ruthenisch zu verfassen.160 Den kritisch-negativen Reaktionen in der polnischen Presse und auch den Äußerungen im Stadtrat nach zu urteilen, hatte die Statthalterei dem Magistrat befohlen, dass bei Angelegenheiten, welche die hoheitlichen Aufgaben erster Instanz, also den übertragenen Wirkungskreis, beträfen und an ruthenische Institutionen und Personen gerichtet seien, das Ruthenische benutzt werden müsse.161 In der Ratssitzung, in der über die Landesintervention informiert wurde, protestierten die Räte heftig. So interpretierte der spätere Vizepräsident und jüdische Ratsherr Tobiasz Aschkenase (Aszkenase) diese Anweisung als Angriff der Statthalterei auf die städtische Autonomie.162 Der nationaldemokratische Dziennik Polski beklagte diese Eingabe Dnistrs als „sichtbar neue separatistische Ambitionen der Ruthenen“163 und damit den „erneuten ruthenischen Anschlag auf die Rechte der Stadtgemeinde Lemberg“164. Er kritisierte u. a., dass die Statthalterei das vom Kaiser sanktionierte Statut zu leichtgenommen habe. „Noch schlimmer!“ sei, dass die (polnischen) Ministerialreferenten in „unsere“ (die städtischen) inneren Angelegenheiten ein „Wirrwar“ bringen würden. Er folgerte, dass
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DzP v. 23.10.1903 kommentierte, dass der ausschließliche Gebrauch kein Verstoß gegen geltendes Recht darstelle, da dies so im Statut festgelegt sei. 158 DzP v. 16.10.1903. 159 So auch SP v. 16.10.1903 und v. 29.10.1903, das erwähnt, dass sich die Statthalterei auf einen Erlass des Innenministers aus dem Jahr 1860 beziehen würde. 160 GL v. 17.10.1903, wonach Małachowski berichtet habe, dass der Magistrat über einen Rekurs diskutieren würde. Der Stadtrat beschloss demgegenüber einmütig, die Angelegenheit bei der nächsten Sitzung näher zu erörtern. 161 Dilo v. 13.(26.)10.1903; DzP v. 23. und 24.10.1903. 162 SP v. 16.10.1903: „nie pozwoliła na zakusy namiestnictwa na naszą autonomię“. 163 „widocznie separatystyczne ambicje nowych Rusinów“, DzP. v. 16.10.1903. 164 „nowego zamachu ruskiego na prawa gminy m. Lwowa“, DzP v. 24.10.1903; ähnlich bereits SP v. 16.10.1903: „neuer Anschlag auf die Rechte der polnischen Sprache“ („nowy […] zamach […] na prawa języka polskiego“).
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wir im Herzen des Landes Beamte haben, die mit einem Federstrich eine unüberlegte Gereiztheit und Empörung auf Seiten der riesigen Mehrheit der Einwohner der Hauptstadt provoziert
hätten. Er berichtete weiter, dass die Ruthenen sich darüber nicht freuen könnten, denn die Ratsherren seien solidarisch gegen diese Attacke aufgestanden, um sie „mannhaft“ zu erwidern.165 So beschloss die Rechtskommission des Rates, beim Staatsministerium gegen die Anordnung der Statthalterei zu protestieren und dem Magistrat zu empfehlen, sich nach den Vorschriften des Statuts und nicht denjenigen der Statthalterei zu richten. Zum Vollzug dieses Aufbegehrens kam es nicht, da eine Konferenz mit Mitgliedern der Kommission und Referenten der Statthalterei einberufen wurde, um das Problem einvernehmlich mit den Vertretern der Stadt zu lösen.166 Als Konsequenz dieses Kompromisses zog Statthalter Potocki die Anordnung mit Bezug auf das Statut zurück und verwies darauf, dass nur auf Ruthenisch verfasste Eingaben auf Ruthenisch zu beantworten seien.167 Dieser Kompromiss zeigt nicht nur, dass der Stadtrat sich mit seiner unversöhnlichen Haltung durchsetzen konnte, sondern auch, dass die polnische Landesverwaltung bemüht war, der Stadtverwaltung weitestgehend entgegenzukommen und die Lemberger Autonomie möglichst nicht einzuschränken. Die Quellen zeigen deutlich, wie der Rat versuchte, Polnisch als Amtssprache in den Alltagsgeschäften durchzusetzen. Die höheren Beamten mussten neben des Polnischen auch notwendigerweise des Deutschen mächtig sein, was ein gewisses Bildungsniveau voraussetzte. Diese notwendigen Sprachkompetenzen führten zu Assimilationstendenzen aus utilitaristischen Gründen zumindest im öffentlichen Sprachgebrauch. Dies war bereits in den Debatten über den Paragrafen 32 des Statuts (Polnisch als Amtssprache) sehr deutlich geworden, da die Redner herausstellten, dass gut ausgebildete Ruthenen168 derart mit der polnischen Sprache und Kultur vertraut, wenn nicht gar assimiliert seien, dass sie das Ruthenische als Hochsprache ablehnten. Daher stellte Dilo169 missbilligend fest, dass ruthenische Industrielle zu Hause und aus beruflichen Gründen, etwa in den Kanzleien, ausschließlich das Polnische und nicht das Ruthenische benutzten.170
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„Tem gorzej!“, „zamęt“, „w sercu kraju mamy urzędników, którzy jednym zamachem pióra wywołują niebacznie rozdrażnienie i oburzenie ze strony olbrzymiej większości mieszkańców stolicy“, „mężnie“, DzP v. 17.10.1903. DzP v. 24.10.1903 hofft, dass es zu einer einvernehmlichen Lösung ohne Proteste und Konflikte komme. Vgl. SP v. 29.10.1903; Dilo v. 16.(29.)10.1903; ein sehr kurzer Hinweis: GL v. 31.10.1903; der DzP v. 31.10.1903 betont, dass der Rat dies mit Beifall aufgenommen habe. V. V. Sekretarjuk (Hrsg.), Istorija L′vova [Geschichte Lembergs], Kyїv 1984, S. 89, definiert die ukrainische Bourgeoisie: Händler, Hausbesitzer und Unternehmer. Dilo v. 3.(16.)5.1901. Dilo v. 30.6.(12.7.)1892.
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In den Quellen sind ruthenische Beamte höherer Ränge nur selten und in den höchsten Rängen gar nicht feststellbar.171 Darauf deuten auch die ständigen Verlautbarungen von Dilo hin, dass die Stadtverwaltung alles ignoriere, was ruthenisch sei.172 Eine Zäsur hierfür stellte für das Blatt der Amtsantritt von Godzimir Małachowski 1897 dar, da seitdem der Chauvinismus in der Verwaltung vorherrsche. Dilo betonte auch, dass es nur wenige angestellte Ruthenen in niedrigen Rängen im Magistrat gab.173 Diesem Vorwurf widersprach 1907 eine polnische nationaldemokratische Wahlkampfschrift174 mit dem Hinweis, dass über 50 Prozent der Stellen in Magistrat, in der Feuerwehr und im Straßenbahnbetrieb durch Ruthenen besetzt seien. Schließlich sah sich Stadtpräsident Józef Neuman[n] gezwungen, Vorwürfe von Dilo und dem ebenfalls ruthenischen Blatt Novo Slovo (Das neue Wort) zu dementieren, die über Korruption, über Terror gegen die griechisch-katholischen städtischen Bediensteten und von 58 zur Konversion genötigten Familien berichteten. Neuman betonte, dass gegenwärtig etwa 55 ruthenische Angestellte im Magistrat beschäftigt seien.175 Ein halbes Jahr später monierte Dilo in einem Artikel über „Chauvinismus in der Stadtverwaltung“, dass der Stadtpräsident und seine Stellvertreter die „Ruthenisierung“ der Stadtverwaltung problematisiert hätten. Anlass sei die Erkenntnis gewesen, dass die Bediensteten, insbesondere die Feuerwehrmänner, sich auf Ruthenisch unterhielten. Der Amtsleiter wurde daraufhin angewiesen, die ruthenische Sprache unter den Bediensteten zu verbieten und keine weiteren Ruthenen mehr in die Feuerwehr aufzunehmen.176 Eine Höhepunkt der Provokationen seitens der Stadtverwaltung stellten für Dilo schließlich die Ratswahlen 1911 dar. Obwohl die Stadtverwaltung ursprünglich eine ruthenische Wahlliste auf Ruthenisch angekündigt hatte, verzichtete sie darauf, weil sie der Ansicht war, dass es sich nicht lohnen würde, für 40.000 Ruthenen eine Liste in der Kyrilliza zu drucken.177 Die Magistratsbeamten behaupteten nach Berichten Dilos häufig, das Ruthenische nicht zu verstehen. So berichtete das Blatt etwa auch, dass einige Mitarbeiter des Amtsgerichts sich nicht rechtmäßig gegenüber den Ruthenen verhielten, etwa indem
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Eine solche Ausnahme war wohl nach WstML 10, 1905, S. 284, etwa der Konzipient Roman Kluczenko, worauf dessen polonisierter Name hinweist; ebenfalls sind nur wenige jüdische Namen zu identifizieren. In den statistischen Berichten der Stadt gibt es keine Hinweise auf die tatsächliche ethnische Situation in der Stadtverwaltung. Dilo v. 9.(22.)9.1900, v. 3.(16.)5.1901. Dilo v. 3.(16.)5.1901, v. 13.(26.)10.1903. Wybory do Rady miasta Lwowa i rządząca grupka mieszczańska zwana „Strzelnicą“ [Die Wahlen zum Stadtrat Lemberg und die regierende bürgerliche Gruppe genannt „Strzelnica“], Lwów 1907, S. 4. Dilo v. 6.(20.)3.1914 und GL v. 11.3.1914, außerdem seien nach Neumans Worten im Wasserwerk 26, im Elektrizitätswerk 198, bei den städtischen Gespannen 45, bei der Stadtreinigung 10, im Bauhof 24 sowie als Schulhelfer 16 Ruthenen beschäftigt; zudem gebe es zahlreiche unqualifizierte ruthenische Arbeiter. „šovinizm v l′vovs′kom magistrati“,„rutenizatsiya“, Dilo v. 7.(20.)9.1900. Dilo v. 5.(18.)1.1911.
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eine Beglaubigung einer Geburtsurkunde verweigert worden sei, weil der Beamte die ruthenische Sprache nicht verstanden habe.178 Die Klagen über ein feindseliges Auftreten der Magistratsangestellten den Ruthenen gegenüber nahmen insgesamt seit der Jahrhundertwende zu, was Dilo u. a. immer wieder hervorhob. Hiernach würde das Verhalten des Magistrats von dem Verbot der ruthenischen Sprache bis zur Beseitigung der Ruthenen von ihren Dienststellen changieren.179 Selbst wenn man berücksichtigt, dass Dilo wegen seiner antipolnischen Haltung das Gebaren der Stadtverwaltung besonders aufmerksam und kritisch verfolgte und dieses sehr prägnant, wenn nicht häufig reißerisch darstellte, so weisen diese Berichte deutlich darauf hin, dass der Magistrat und der Rat die Frage der Amtssprache immer in ihrem Sinne auslegten und das Ruthenische im Amtsgebrauch vollkommen zu verdrängen versuchten. Dies war ein Hebel, die Stadtverwaltung weiter zu polonisieren und die Ruthenen von den kommunalen Angelegenheiten selbst als Angestellte in niederen Rängen auszuschließen, wodurch die polnische Arena weiter gefestigt werden sollte. 3.2.2 Die Verleihung von Heimatrecht und Bürgerrecht Ein weiteres Machtinstrument und Mittel, den eigenen Einfluss zu sichern, stellte das Heimatrecht dar, dessen grundsätzliche Regelungen teilweise durch das Reichsgemeindegesetz bereits vorgezeichnet worden waren.180 Nach dem zweiten Hauptstück des Statuts (§§ 3–18), das auf dem Heimatrechtsgesetz vom 3. Dezember 1863181 basierte, wurde zwischen Gemeindemitgliedern und Auswärtigen unterschieden, ohne dass es einen Rechtsanspruch auf die Verleihung des Heimatrechtes gab.182 1869 waren 38 Prozent, 1890 56,8 Prozent und 1910 53,7 Prozent der Einwohner nicht heimatberechtigt.183 178 Dilo v. 3.(15.)1.1881. 179 Dilo v. 3.(16.)5.1901. 180 So in den Art. II (Heimatberechtigung), III (Ausweisungsrecht gegenüber nicht Heimatberechtigten) und V (Armenpflege) des RGG. 181 RGBl. Nr. 105/1863. 182 Vgl. Gerhard Melinz, Heimatrecht im Konflikt zwischen Zentralstaat und kommunaler Selbstverwaltung in Cisleithanien (1880–1914), in: Jan Janák (Hrsg.), Ústřední moc a regionální samospráva. XXIII. Mikulovské sympozium. IV. Sympozium „Spojující a rozdělující na hranici“. 5.–7. října 1993 / Zentralmacht und regionale Selbstverwaltung. XXIII. Mikulov-Symposium. IV. Symposium „Verbindendes und Trennendes an der Grenze“. 5.–7. Oktober 1993, Brno 1995, S. 229–236; Waltraud Heindl / Edith Saurer (Hrsg.), Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867, Wien etc. 2000. 183 Im Vergleich zu anderen Städten war dieser Prozentsatz gering: In Wien waren 65,2 Prozent der Einwohner nicht heimatberechtigt, in Marburg/Drau 85,7 Prozent, in Prag und Laibach 75 Prozent, in Olmütz 80 Prozent, Brünn und Bielitz 68 Prozent und in Krakau 60 Prozent. Vgl. Głąbiński, Finanse, S. 9 f.; Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 66; Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 17; Me-
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Die Gruppe der Gemeindemitglieder unterteilte sich in Gemeindeangehörige, also diejenigen, die in Lemberg heimatberechtigt waren, und in nicht heimatberechtigte Gemeindegenossen, die aber eine Immobilie innerhalb der Stadtgrenzen besaßen oder aufgrund eines selbstständig betriebenen Gewerbes oder von einem Einkommen eine direkte Steuer an die Stadtgemeinde zahlten. Diese Regelung führte dazu, dass auch Korporationen, Anstalten, Stiftungen oder Gesellschaften als Gemeindegenossen betrachtet wurden. Alle übrigen Bewohner waren im Sinne des Paragrafen 3 Auswärtige. Der anschließende Paragraf bestimmte noch, dass das Heimatrecht, also die Aufnahme in den Gemeindeverband, von der Gemeinde über einen Ratsentscheid verliehen wurde und dass die Prätendenten dafür eine Gebühr, die 30 Gulden nicht übersteigen durfte, zu entrichten hatten. Die aus dem Jahr 1896 stammende, erst 1901 wirksam gewordene Novelle184 hob nicht die Notwendigkeit auf, das Heimatrecht durch „ausdrückliche Aufnahme“ (§ 1) durch einen gebührenpflichtigen Verwaltungsakt zu erwerben. Jedoch wurden die Qualifikationsmöglichkeiten hierzu erweitert, indem jeder nach zehn Jahren ununterbrochenen Aufenthalts in der Gemeinde die Berechtigung hierzu durch Ersitzen erhielt, sofern er nicht der Armenhilfe anheimgefallen war.185 Faktisch war die Neuregelung für sozial stabile Bevölkerungsgruppen wie Facharbeiter wirksam, während untere Schichten hiervon ausgeschlossen blieben.186 Während das Heimatrecht auch an Frauen erteilt werden konnte,187 konnte das Bürgerrecht nur durch Ratsbeschluss, gegen den keine Rechtsmittel eingelegt werden konnten, an in Lemberg heimatberechtigte Männer verliehen werden. Voraussetzung hierfür war, dass der Bewerber über sich und sein Vermögen frei bestimmen konnte, einen „tadellosen Lebenswandel“ führte und nicht zuletzt Eigentümer oder Lebtagsbesitzer (Nießbraucher) einer Immobilie war, ein der Erwerbssteuer unterliegendes Unternehmen besaß oder über anderweitige „hinreichende Mittel“ zum Unterhalt linz/Zimmermann, Armenhilfe, S. 10–13, 32 ff., die auf die Problematik des sog. Schubwesens hinweisen, also das Abschieben nichtheimatberechtigter Armer, die wegen Betteln oder Vagabundage gegen das Gesetz verstoßen hatten. Vgl. hierzu auch: Harald Wendelin, Schub und Heimatrecht, in: Waltraud Heindl / Edith Saurer (Hrsg.), Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867, Wien etc. 2000, S. 173–346. 184 Die Gesetzesnovelle legte 1896 eine zehnjährige Aufenthaltsdauer fest, wobei der Stichtag rückwirkend zum 1.1.1891 eingeführt wurde. Hierdurch wurde das Gesetz erst 1901 wirksam. Vgl. Melinz, Heimatrecht, S. 233. 185 § 2, RGBl. Nr. 222/1896. 186 Melinz, Heimatrecht, S. 233. Zur sozialpolitischen Bedeutung vgl. Kap. 4.3.3. 187 Da nach der Heimatrechtsreform eine Zunahme von Anträgen festzustellen war, wurde eine spezielle Kommission für Heimatrecht berufen, welche die Anträge aufbereitete und anscheinend auch abschließend darüber zu beraten hatte; während das Bürgerrecht nach wie vor durch den Stadtrat verliehen wurde. DzL Nr. 19/1908; vgl. auch die zeitgenössische juristische Interpretation des Heimatrechts bei Ludwig Spiegel, Das Heimatrecht und die Gemeinden, in: Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte, Bd. 6 Österreich, Leipzig 1907, S. 10–49.
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seiner Familie verfügte.188 Bedeuteten gerade die letzten beiden Punkte einen Ansatz für die Entscheidung des Rates, so legte der Paragraf 6 des Heimatrechtsgesetzes fest, dass der Betreffende eine Taxe (Gebühr) zu entrichten habe, die der Gemeinderat von „Zeit zu Zeit“ festlege und erst nach Entrichtung an die Gemeindekasse das Bürgerrecht erworben habe.189 Diese Forderungen stellten erhebliche Hürden für die unteren einkommensschwachen Schichten dar, das Heimatrecht zu erwerben. Eine weitere faktische Restriktion stellte die Sprache des Antrags gerade für die des Lesens und Schreibens nur in geringem Maße kundigen Unterschichten, insbesondere die ruthenischen, dar, da er auf Polnisch gestellt werden musste: So wurde einem Lehrer der Lemberger evangelischen Schule 1879 die Aufnahme in den Gemeindeverband erst gewährt, nachdem er glaubhaft versichern konnte, dass er nicht gewusst habe, dass der Antrag auf Polnisch und nicht auf Deutsch als Reichssprache zu stellen sei.190 Ausschließlich Gemeindemitglieder191 konnten sich aktiv und passiv an Wahlen beteiligen. Nur ihnen war es erlaubt, im Falle einer Arbeitsunfähigkeit oder Verarmung nach Maßgabe der jeweiligen Institutionen Unterstützung zu erhalten.192 Im Gegensatz zu den Gemeindemitgliedern hatten die Gemeindegenossen nur das Recht des ungestörten Aufenthalts in der Gemeinde, „solange sie der öffentlichen Mildthätigkeit nicht zur Last fallen“, während den Auswärtigen dieser nur erlaubt war, solange „dieselbstn sammt ihrer Familie einen unbescholtenen Lebenswandel führen und der öffentlichen Wohlthätigkeit nicht zur Last fallen.“193 Bei den jeweiligen Vorgängen im Stadtrat über die Verleihung des Heimat- oder Bürgerrechts wird deutlich, dass die Stadtverwaltung und anschließend der Rat in öffentlicher Sitzung die jeweilige Persönlichkeit genauestens prüften.194 Beispielsweise 188 189
§ 5, RGBl. Nr. 222/1896. Die Paragrafen 8 und 9 (ebd.) legten die Voraussetzungen für den (ggf. nur vorübergehenden) Verlust des Bürgerrechts fest, u. a. wenn der Person wegen strafrechtlicher Vergehen das Wahlrecht entzogen würde, wenn sie aus Gewinnsucht nach einem Disziplinarverfahren des Amtes enthoben würde, aber auch wenn sie eine Handlung absichtlich zum Schaden der Gemeinde verübt habe oder ohne hinreichenden Grund ihr Amt oder ihren Posten innerhalb der Gemeinde nicht wahrnehmen würde. 190 GL v. 7.11.1879. 191 Bezüglich dieser Bezeichnung gibt es unterschiedliche Fassungen in den amtlichen Stücken: „Gemeindeglieder“ und „Gemeindemitglieder“. 192 § 12, RGBl. Nr. 222/1896; Paragraf 13 verweist darauf, dass nur die Bürger das Recht haben, die Stiftungen und Anstalten zu nutzen, die ausschließlich für Bürger bestimmt sind, während Paragraf 15 die Verpflichtung von Bürgern behandelt, öffentliche Ämter anzunehmen. 193 § 16, ebd. Dieser Aspekt spielt eine wichtige Rolle, beispielsweise bei dem jüdischen Krämer Jona Körner, der bereits eine Heimatberechtigung in Sambor hatte, sich nun aber um die in Lemberg bewarb und der nach Auskunft der Verwaltung zukünftig finanziell nicht in der Lage sein würde, alle Bedürfnisse zu befriedigen (Verfahren am 7.8.1887, DALO, f. 3, op. 1, spr. 3361, Bl. 9). 194 Beispielsweise legte der Rat für das Bürgerrecht 1910 eine Taxe von 120 kr. fest (10 Aufnahmen, 3 Ablehnungen im September 1910), während die Gebühren bei der Heimatrechtsverleihung variierten: bei den fünf an diesem Tag verliehenen Berechtigungen zwischen 20 und 60 kr. Bei denjenigen, die das Bürgerrecht erwarben, handelte es sich um neun Handwerksmeister und einen
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beantragte 1894 ein gewisser, nicht weiter bekannter Maurermeister Antoni Barszczewski, der seit 1891 selbstständig war, in Lemberg das Bürgerrecht, wofür er auch ein („moralisches“) Führungszeugnis vorlegen musste. In dem Antrag betonte er, dass er zusätzlich noch Einkünfte erhielt und daher fähig sei, zum Wohle der Gemeinde zu handeln. Der Verwaltungsbericht erklärt genauestens seine Familienverhältnisse (verheiratet, vier Kinder jeweils mit Alter und Namen) und schlussfolgert, dass seine Verhältnisse günstig und seine Moral gut seien, sodass es nicht zu erwarten sei, dass er jemals der Stadt zur Last fiele.195 Angesichts der raschen Urbanisierung und der Tatsache, dass insgesamt über ein Drittel der städtischen Bevölkerung in Cisleithanien nicht heimatberechtigt war, wurde das Gesetz seit seinem Inkrafttreten kritisiert. Diese Vorschrift galt nicht für diejenigen, die den Zensus wegen ihrer persönlichen Stellung erfüllten, weil ihre Steuerleistung als Grundlage herangezogen wurden.196 Für „Auswärtige“ bestand hingegen die Gefahr, bei Zuwiderhandlungen das Aufenthaltsrecht in Lemberg zu verlieren. Das Heimatrecht war eine Art Druckmittel, das aber angesichts der Überlastung des Magistrats im Zuge des hohen Bevölkerungsanstiegs sein Drohpotential verlor. Jedoch blieb es der Auslegung der Stadtverwaltung und des Rates überlassen, wer als Gemeindemitglied ausgewählt wurde.197 Für die hier interessierenden Fragen sind diese Regelungen zentral – und dies nicht nur wegen der potentiell vorhandenen Möglichkeit, bei nicht ‚tadellosem‘ Lebenswandel etwa wegen politischer Agitation das Aufenthaltsrecht zu verlieren. Dass der Stadtrat die Verleihung von Heimat- und Bürgerrecht rigide handhabte, ist in den Quellen nachvollziehbar – jeder dieser Akte wurde zu einem politischen Beschluss.198 Hierdurch stellten die kommunalpolitischen Vertreter bzw. der ihnen
Kaufmann; abgelehnt wurde es bei einem Handwerksmeister und einer Person, die eine Schankerlaubnis besaß. In den Gemeindeverband aufgenommen wurden zwei Ingenieure, ein Mitbesitzer eines Lemberger Fotografengeschäfts sowie eine Frau, vgl. DzL Nr. 18/1910. 195 „świadectwo moralności“, DALO, f. 3, op. 1, spr. 3904; in der Akte zahlreiche weitere Beispiele, die jedoch nur Polen betreffen. Für Barszczewski wurde eine hohe Gebühr von 60 fl. festgelegt. Ähnliche Verfahren in weiteren Akten, etwa DALO, f. 3, op. 1, spr. 4954. 196 Zitate: Heinrich Rauchberg, Zur Kritik des österreichischen Heimatrechtes, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung 2, 1893, S. 59–99, hier: S. 75; insgesamt wird in dem Beitrag deutlich, dass gerade durch die Urbanisierung mehr als ein Drittel der gesamten städtischen Bevölkerung nicht heimatberechtigt war (ebd., S. 83). Melinz, Heimatrecht, S. 230 f., kommt auf einen Prozentsatz von 54 Prozent der ortsanwesenden Personen, in den Statutarstädten sei insgesamt die Zahl der „Fremden“ gegenüber den „Einheimischen“ dominierend gewesen. 197 Überwiegend erhielten Personen mit polnischem Namen die Berechtigung, in geringerer Zahl Juden, beispielsweise ein gewisser Izaak Samuel Kalb, Händler an der Żółkiew-Straße (ulica Żółkiewska), vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 3361, Bl. 32–64, während in den exemplarisch ausgewerteten Akten kaum ruthenische Namen zu finden sind. 198 Relativiert wurde diese Bedeutung nach der Heimatrechtsnovelle, da die Verleihung des Heimatrechts nun als reiner Verwaltungsakt Anwendung fand.
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unterstellte Magistrat einerseits die Gruppe derjenigen zusammen, die in erster Linie von den kommunalen Wohltätigkeitseinrichtungen profitieren konnten.199 Wichtig ist, dass sie andererseits über die Aufnahme in den Gemeindeverband auch in einem gewissen Grade die Wählerschaft beeinflussen konnten – auch in dieser Hinsicht bildete das Heimatrecht eine Möglichkeit zur „präventive[n] Abschottung“.200 Die Regelungen stellten somit sicher, dass über die Verleihung des Bürgerrechts potentielle Amtsträger ausgesucht wurden, so etwa im Falle des späteren Stadtpräsidenten Michał Michalski, der im November 1878 gegen eine hohe Gebühr von 100 Gulden das Bürgerrecht hielt.201 Es war daher ein Instrument des Stadtrates, die elitäre Gruppe der Wahlberechtigten und Wählbaren in sozialer und ethnischer Hinsicht zu definieren, zu festigen und vor unerwünschten Personen zu schützen. Folglich bildete dieses Reichsgesetz ein wichtiges Instrument der nationalen und sozialen Exklusion von der politischen Partizipation. 3.2.3 Die Wahlordnung als Garant für Stabilität Die Wahlordnung wie auch die Durchführung der Gemeinderatswahlen war für die Machtsicherung der kommunalen Eliten von besonderer Bedeutung, weil hierdurch die Gruppe der Wähler, aber auch der zu Wählenden, als verbindlicher Anhang des Statuts festgelegt wurde. Damit stellte die Wahlordnung einen weiteren wichtigen Baustein für die Arena Kommunalpolitik und ihre Festigung und damit für die Exklusion insbesondere der Ruthenen dar. Hinsichtlich der Wahlordnung gab es in Lemberg, wie beim „Ringen um das Statut“ in Kap. 3.1 erläutert wurde, zumindest ein Spezifikum innerhalb der Städte der Habsburgermonarchie und innerhalb der lokalen, auf einem Zensuswahlrecht beruhenden Wahlordnungen in Europa202: In Lemberg wurde nur eine Wahlkurie für die Stadtratswahlen geschaffen. Auf den ersten Blick kann daher die Wahlordnung insgesamt im Vergleich zu denjenigen der cisleithanischen Statutarstädte und den Vorschriften der galizischen Landesgemeindeordnung als liberal gekennzeichnet werden, wurde eben nicht die Wählerschaft durch verschiedene Kurien unterschieden, sondern de-
199 Nur so erklärt sich etwa die lange Liste von 17 Ablehnungen gegenüber 20 Aufnahmen Anfang Januar 1908: Von den 17 waren 15 bereits woanders heimatberechtigt (was bedeutete, dass ggf. die dortige Gemeinde für ihre Versorgung aufkommen musste), vgl. DzL Nr. 2/1908. 200 Melinz, Heimatrecht, S. 231, in Bezug auf die sich aus dem Heimatrecht ableitenden Armenversorgungsansprüche. 201 DALO, f. 3, op. 1, spr. 2993, Bl. 31. 202 Eine allgemeine Gleichheit der Stimmen gebe es nur in Frankreich, wie die Gazeta Lwowska im Rahmen der Debatten um eine Reform der lokalen Wahlordnung 1910 feststellte; eine Wahlkurie gehöre selbst in „sehr kultivierten Staaten“ („bardzo kulturalnych państw“) zu den Ausnahmen, GL v. 3.12.1910.
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ren Stimmen gleich gewichtet. Auf den zweiten Blick war dies eine antijüdische Maßnahme: Beabsichtigt wurde damit, das Stimmgewicht der sonst in der ersten Kurie verorteten Juden zu neutralisieren. Diese Regelung hatte wiederum eine andere Seite: Hierdurch wurde die Position der mittleren Vermögensklassen innerhalb der Wählerschaft gestärkt, während sie die unteren Schichten ausschloss.203 Nach der dem Statut anhängenden Wahlordnung waren österreichische Staatsbürger wahlberechtigt, wenn sie Bürger oder Ehrenbürger der Stadt waren, ebenso wie die Gemeindeangehörigen und Gemeindegenossen nach Paragraf 3 des RGG, sofern die Person innerhalb der Lemberger Gemarkung a) als Eigentümer oder Lebtagsbesitzer eine ererbte oder seit wenigstens einem Jahr erworbene Immobilie (Realität) besaß, die einer Grund- oder Gebäudesteuer unterlag; b) einer Beschäftigung mit mindestens 8 Gulden jährlicher direkter Steuerleistung (ohne Zuschläge) nachging, c) seit einem Jahr mindestens 12 Gulden an direkter Steuer (ohne Zuschläge) „aus was immer für einem Titel“ zahlte. Daneben konnten Beamte, Geistliche aller Bekenntnisse, Angehörige der Freien Berufe, vom Staat oder von der Gemeinde besoldete Professoren und Lehrer sowie nicht mehr aktive Offiziere wählen. Wahlberechtigt waren auch Industrielle, Vereine und Gesellschaften mit Sitz in Lemberg, wenn sie jährlich mindestens 50 Gulden direkter Steuer ohne Zuschläge zahlten. Darüber hinaus waren noch Staats-, Landesbehörden und Korporationen, Anstalten und öffentliche Fonds bzw. Stiftungen mit Sitz in Lemberg wahlberechtigt, wenn sie wenigstens 250 Gulden direkte Steuern ohne Zuschläge zahlten.204 Falls eine Frau aufgrund der Besitztitel auch wahlberechtigt war, mussten ihre gesetzlichen Vertreter, der Gatte oder ein anderer Bevollmächtigter, die Wahl vornehmen.205 Ausdrücklich ausgeschlossen vom Wahlrecht waren aktiv dienende Offiziere sowie den Mannschaften angehörende Militärpersonen, Dienstboten, Tage- und Wochenlöhner, durch öffentliche Fonds unterhaltene Personen und strafrechtlich verurteilte Personen.206 Der prozentuale Anteil der Wahlberechtigten an der
203 Sroka, Rada miejska, S. 114. 204 LGuVBl. Nr. 79B/1870, § 1. Wahlordnung für die Gemeinde der königlichen Hauptstadt Lemberg. 1911 waren 42 Prozent der Wahlberechtigten in der Gerichts-, Steuer-, Postverwaltung sowie in anderen Organen der öffentlichen Verwaltung tätig, vgl. Henryka Kramarz, Samorząd Lwowa w czasie pierwszej wojny światowej i jego rola w życiu miasta [Die Selbstverwaltung Lembergs in der Zeit des Ersten Weltkriegs und ihre Rolle im städtischen Leben], Kraków 1994, S. 11, 14. Das Wahlverhältnis der Wähler hinsichtlich ihrer Qualifikation als Steuerzahler oder Grundbesitzer lag 1913 bei 9.382 zu 6.424, vgl. WstML 15, 1912–1922, S. 86. 205 § 4, LGuVBl. Nr. 79B/1870; dieser Paragraf eröffnete die Möglichkeit, dass die Immobilien- und Firmenbesitzer ebenfalls einen Bevollmächtigten ernennen konnten, wenn sie in einer anderen Gemeinde ansässig waren. 206 §§ 2–8, ebd. Laut GL v. 14.2.1886 waren 9 Geistliche unterschiedlicher Konfessionen, 30 Juristen, Vertreter der freien Professionen und Professoren sowie 33 Handwerker und Hauseigentümer im Stadtrat vertreten.
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3 Kommunale Autonomie als Resonanzraum des polnischen Führungsanspruches
Tab. 3 Übersicht der Entwicklung der absoluten Zahlen an Wahlberechtigten und tatsächlichen Wähler bei den Kommunalwahlen im ersten Wahlgang207 Wahlen
Einwohner
Wahlberechtigte
1849 1861 1869 1871 1874 1877 1880 1883 1886 1889 1892 1893 1896 1899 1902 1905 1908 1911 1913
70.369 (1848) k. A. 87.109 k. A. k. A. k. A. 109.746 k. A. k. A. 119.352 (1890) 131.129 132.722 k. A. 149.544 (1900) k. A. 177.906 (1906) 184.036 211.245 k. A.
1.378 k. A. k. A. 6.357 5.661 6.089 6.153 6.150 k. A. 6.722 7.058 k. A. 8.368 9.894 10.912 12.517 13.496 15.454 15.606
Anteil an der Bev. in % (gerundet) 2,0 – – 7,3 6,5 7,0 5,6 5,6 k. A. 5,63 5,3 k. A. 7,1 6,6 7,2 7,1 7,3 7,3 7,3
Wähler 1.034 k. A. k. A. 2.783 2.729 1.605 2.767 3.701 k. A. 4.010 4.633 4.371 5.070 6.081 5.659 7.688 8.113 10.953 11.452
207 Ostaszewski-Barański, Ustawa, S. 19; Sroka, Rada miejska, S. 161; GL v. 18.2.1871, v. 21.2.1874; GL v. 25.1.1877 (bei 952 nicht zugestellten Wahlkarten und 958 ungültigen Stimmgaben); GL v. 16.2.1880 (bei 439 nicht ausgehändigten Wahlkarten); GL v. 22.3.1883; 1886: k. A. zu Wahlbeteiligung, GL v. 25.1.1889; Sprawozdanie komisyi sprawdzającej akt wyboru członków Rady miejskeij król. stoł. miasta Lwowa na peryod trzechletni od 1892–1894 r. [Bericht der Wahlprüfungskommission zur Wahl der Stadtratsmitglieder der königl. Hauptstadt Lemberg für die dreijährige Periode von 1892–1894], o. O. [Lemberg], o. J. [1894], S. 6; GL v. 28.1.1893; GL v. 23.2.1896 (erster Wahlgang, es wurden insgesamt vier weitere Wahlgänge notwendig, um alle 100 Ratsmitglieder mit der jeweils notwendigen absoluten Mehrheit der Stimmen zu wählen, vgl. GL v. 29.5.1896); GL v. 3.2. und 2.3.1899. Stichwahlen für 3 Mandate mit 2087 Wählern (GL v. 6.6.1899). Die Wahlen 1899 fanden erstmals aufgrund des 1896 revidierten Statuts (Verlängerung der Kadenz von drei auf sechs Jahre) statt; GL v. 26.2.1902 und 1.3.1902; ÖStB 1904, S. 1087; GL v. 2.3.1905 und 2.5.1908; an den notwendigen Nachwahlen für 16 Ratsherrn beteiligten sich 5.075 Wähler (GL v. 19.5.1908; ÖStB 1908, S. 739 mit einer Wiederwahl 25 Ratsherren); ÖStB 1911, S. 377; Dilo v. 8.(21.)1.1911; GL v. 15.4.1911. Laut WStML 15, 1912–1922, S. 87: 11.452 Wahlberechtigte; GL v. 17.1.1913 und 18.2.1913; vgl. insgesamt WStML 6–15, 1895–1912/22. Für die prozentualen Angaben wird die jeweils zuletzt genannte Bevölkerungszahl zugrunde gelegt, da die Quellen nur die wahlberechtigte Bevölkerung in absoluten Zahlen, nicht aber die jeweils aktuelle Zahl der Gesamtbevölkerung nennen.
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Bevölkerung stieg von ca. 2 Prozent 1869 auf ca. 7,5 Prozent 1913.208 Dies verweist auf einen, wenn auch geringfügigen, prozentualen Anstieg der städtischen Mittelschichten. Mit Verweis auf den niedrigeren Zensus von 6 Gulden in Krakau sah es Dilo 1899 als ungerecht an, dass in Lemberg unabhängig vom hohen Steuerzensus der Besitz als eine weitere mögliche Qualifikation galt. Die Zeitung betonte, dass beispielsweise ein Hausbesitzer in Lemberg wählen dürfe, obwohl er nur 1 Gulden Steuern zahle und damit nicht den eigentlichen Steuerzensus erfülle, während ein Besteuerter von 3,5 Gulden Einkommenssteuer dies nicht dürfe.209 Dass insbesondere Dilo diese Vorschrift kritisierte, ist deshalb verständlich, weil von den Restriktionen besonders die ruthenischen Unter- und unteren Mittelschichten betroffen waren. Zugleich schränkte ein hoher Steuer-, Besitz- und Bildungszensus die Wählbarkeit ein. Im Gegensatz zu den Gemeindegenossen besaßen das passive Wahlrecht alle über 30-jährigen männlichen Gemeindemitglieder, sofern sie nicht zu den Beamten der vorgesetzten politischen Behörden und der landesfürstlichen Polizeibehörde zählten oder Gemeindebeamte oder -angestellte waren, mit der Gemeinde im Rechtsstreit standen, Schuldner oder Pächter der Gemeinde waren sowie sich nicht im Konkursverfahren befanden, nach einem Disziplinarverfahren aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden waren, gegen die wegen strafbarer Handlungen ermittelt wurde oder die bereits verurteilt worden waren. Über den hohen und damit restriktiven Bildungs-, Berufsund vor allem über den Steuerzensus wurden folglich die Gruppen definiert, die als Wähler über die personelle Zusammensetzung des Stadtrates entschieden und die als
208 Judson, Habsburg Empire, S. 343, spricht für die Gesamtmonarchie von „somewhere between 10–20 percent of the local population in the 1860 s and 1870 s.“ 1914 hätten zwischen 10 und 20 Prozent an den Kommunalwahlen teilnehmen können, was weniger sei als zu den Landtagswahlen. Selbst bei dieser sehr pauschalen Angabe wird deutlich, wie restriktiv der Lemberger Zensus war, sodass seine Einschätzung, dass „the empire’s liberal communal autonomy laws had already produced something of a social revolution in local political relations“ (ebd., S. 341) für Lemberg nicht zutreffend ist. Zu überprüfen wäre etwa dieser Befund in einem tiefergehenden Vergleich mit den übrigen Statutarstädten und mit Städten ohne Sondergesetz. Hieraus ergibt sich die Frage, ob hinsichtlich der sozialen Entwicklung der Wählerschaft einer Statutarstadt ein Statut nicht viel hemmender wirkte als das RGG und die Landesgemeindeordnungen für die übrigen Gemeinden. Die Angaben in Alojzy Zielecki, Struktura ludności miast galicyjskich w XIX i na początku XX wieku [Die Bevölkerungsstruktur der galizischen Städte im 19. und beginnenden 20. Jh.], in: Zbigniew Beiersdorf / Andrzej Laskowski (Hrsg.), Rozwój przestrzenny miast galicyjskich położonych między Dunajcem a Sanem w okresie autonomii galicyjskiej [Die räumliche Entwicklung der zwischen dem Dunajec und dem San gelegenen galizischen Städte während der galizischen Autonomie], Jasło 2001, S. 79–96, hier: S. 86–92, bestätigen diese generalisierten Angaben Judsons in Bezug auf die größeren Städte Galiziens (außer Lemberg und Krakau). Nach Maren Seliger, Privilegienwahlrecht – allgemeines Wahlrecht. Zur Entwicklung des Kommunalwahlrechts in Wien 1848–1918/19, Wien 1989, S. 8, stieg der Anteil der Wahlberechtigten in Wien von 3,5 Prozent (1861) über 6,6 Prozent (1890), 14 Prozent (1900) auf 18,15 (1912). 209 Dilo v. 30.12.1899; 11.1.1900. Vgl. WstML 15, 1912–1922, Lwów 1926, S. 86: von den 15.606 Wahlberechtigten waren 9.382 wahlberechtigte Steuerzahler und 6.424 Wähler aufgrund anderer Qualifikationen.
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potentiell Wählbare überhaupt den Rat bilden konnten. Im Zuge zunehmender Forderungen nach politischer Partizipation rief dies Kritik hervor.210 Die Vorschriften zur Wählbarkeit und auch die Dauer des Ratsmandats deuten auf einen mehr oder minder geschlossenen Zirkel kommunalpolitisch engagierter Lemberger Bürger hin. Durchschnittlich waren die Ratsherren acht Jahre im Stadtrat vertreten, einige über 30 Jahre, wie Jakub Beiser, Stanisław Ciuchciński, Teofil Ciesielski, einer sogar 40 Jahre (Bronisław Radziszewski).211 Dennoch war der gesellschaftliche Wandel auch in der Honoratiorengruppe bemerkbar, weil zunehmend akademisch gebildete Söhne als Vertreter der Handwerkerfamilien dorthin aufstiegen. Trotz der quantitativen Zunahme der Wähler kam es wegen der Zensusvorschriften insgesamt bis 1914 nicht zu einem grundlegenden Austausch der lokalen politischen Eliten, lediglich zu einem Generationenwechsel in den 1890er Jahren. In dieser Zeit wurden die älteren Ratsherren, die ihre politischen Aktivitäten teilweise bereits in den Revolutionsjahren begonnen hatten, von einer jüngeren aufstrebenden, zugleich explizit national denkenden Generation abgelöst, die auch vom sich entwickelnden Parteienwesen beeinflusst wurde. Diese Entwicklungen machten das möglich, was Łukasz Tomasz Sroka in seiner sozialhistorischen Studie über die Lemberger „Machtelite“ als Flexibilisierung der politischen Eliten beschreibt, die sich etwa auch an der sozialen Herkunft der Stadtpräsidenten zeigte.212 Obwohl die Vorschriften der Wahlordnung zunächst auf eine sozio-ökonomische sowie eine Bildungselite abzielen, verrät ein vertiefender Blick durchaus auch ethnisch-nationale Konsequenzen für diese Gruppen: Im Wesentlichen korrespondierten innerhalb der Lemberger Bevölkerung die sozialen mit den ethnischen Grenzen. Dies bedeutet, dass die Ruthenen und Juden, die in ihrer großen Mehrzahl vor allem den Unter- und unteren Mittelschichten angehörten, daher nicht wahlberechtigt waren. Ein Indiz hierfür sind die Stimmabgaben, auch wenn man nach Dilo von einem 210
211 212
LGuVBl. Nr. 19/1866, § 11, ebd. SP v. 16.1.1905 betonte kritisch, dass in allen anderen Städten das Gemeindewahlrecht breitere Bevölkerungsschichten umfasse als zum Abgeordnetenhaus des Reichsrates, nur in Lemberg nicht. Das Wahlrecht für den Reichsrat verlange für Angehörige der dritten Kurie eine Steuerleistung von 8 kr., während für die Wahlberechtigung zum Stadtrat ein Zensus von 16 kr. (berufliche) Einkommenssteuer oder 24 kr. aus persönlichen Einkünften gefordert würden. Eine Wahlrechtsreform sei notwendig, da die städtische Selbstverwaltung eine „Schule des öffentlichen Lebens“ („szkoła życia publicznego“) sei. KL v. 15.1.1905 unterstrich, dass in Lemberg der Zensus für die Stadtratswahlen vier Mal höher sei als zum Abgeordnetenhaus des Reichsrates. Die restriktive Funktion des Zensus wurde auch in der Debatte 1910 deutlich: Hiernach waren in anderen Städten bis zu 25 Prozent der Bevölkerung zu den Gemeindewahlen berechtigt. SP v. 22.11.1910; KL v. 15.1.1910. Ähnlich waren aber die Verhältnisse in Krakau: Während dort 16.000 Personen zum Abgeordnetenhaus wahlberechtigt waren, waren es für den Stadtrat nur 7.000, vgl. den sozialistischen Naprzód v. 14.3.1909. Sroka, Rada miejska, S. 242 ff. Ebd., S. 168, 218, 242, 251 ff.; so war beispielsweise Stadtpräsident Wacław Dąbrowski Handwerker (und Hauseigentümer). Letztlich unterschieden sich die Räte Krakaus und Lembergs in der sozialen Zusammensetzung (ebd., S. 253) nicht grundlegend.
3.2 Rechtliche Mittel und Praktiken der Machtsicherung
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großen Prozentsatz ruthenischer Wahlberechtigter ausgehen muss, die nicht wählten: So erhielt die „Ruthenische“ Liste bei den Wahlen 1899 bei einer Wahlbeteiligung von 6.081 Wählern nur 207 Stimmen und bei den Wahlen 1902 von 5.861 Wählern nur 176.213 1899 wurde, unterstellte Dilo, ein Ruthene, der Advokat Josyp Levyc′kyj, nur pro forma gewählt, weil die Polen gewusst hätten, dass er als Abgeordneter nach Wien gehen würde und dann kein Ruthene mehr im Rat der „ruthenischen Stadt“ vertreten sei.214 Dilo führt einerseits die fehlende Repräsentanz ruthenischer Bevölkerung auf ein planmäßiges polnisches Vorgehen zurück, denn das polnische Ziel sei es, keinen einzigen Ruthenen im Stadtrat zu haben, daher würden die Juden bevorzugt.215 Andererseits machte Dilo immer wieder deutlich, dass die Ruthenen auch selbst Schuld hätten, weil zuvor Ruthenen im Rat gesessen, aber nichts bewegt hätten, sodass etwa die wahlberechtigte ruthenische Bevölkerung ihre Pflicht am 28. Februar 1899 nicht erfüllt habe.216 Diese Bemerkung weist darauf hin, dass es nicht gelungen war, die Ruthenen für die Kommunalwahlen zu mobilisieren. Durch die Wahlordnung wurde genau definiert, wer überhaupt die ‚Arena Kommunalpolitik‘ betreten und dort aktiv werden durfte; eine Veränderung lag nicht im Interesse der städtischen Honoratiorenschicht. Insgesamt bildete der Lemberger Stadtrat in sozialer und damit auch ethnisch-nationaler Hinsicht eine vergleichsweise geschlossene, homogene Gruppe. Die wenigen gewählten Juden217 waren Vertreter der dünnen Schicht der jüdischen Intelligenz und wirtschaftlich Erfolgreichen sowie zur polnischen Kultur hin Assimilierten.218 Analoges galt auch für die wenigen Vertreter der Ruthenen im Rat. Die Lemberger Kommunalpolitik wurde daher im Wesentlichen nicht nur zu einer Angelegenheit der städtischen sozio-ökonomischen und Bildungseliten, sondern zugleich auch der polnischen und der zur polnischen Kultur assimilierten Bevölkerung. Um diese Homogenität zu erhalten, nutzten die Ratsherren seit den ausgehenden 1890er Jahren verstärkt die Durchführung der Wahlen, um über die Unzulänglichkeiten der Wahlordnung und vor allem der notwendigen Logistik die Ergebnisse in ihrem Sinne zu manipulieren. Zur Vorbereitung der Wahlen, die der Präsident mindestens drei Wochen vor Termin ausschreiben musste, musste der Magistrat die Wählerlisten erstellen und von einer durch den Präsidenten, drei Ratsmitglieder und drei Wähler zusammengestellten Kommission überprüfen lassen. In der Praxis kam es zu erheblichen Fehlern und zu 213
„rus′ka“, GL v. 2.3.1899; GL v. 1.3.1902 und Dilo v. 13.(26.)5.1902, wonach überhaupt keine ruthenische Liste bei den Nachwahlen gewählt worden sei. 1905 waren es bei 7.688 abgegebenen Stimmen nur 41 für die ruthenischen Listen, GL v. 2.3.1905. 214 „rus′ke misto“, Dilo v. 22.5.(3.6.)1899. 215 Dilo v. 28.5.(9.6.)1899. 216 Ebd. 217 Die in der Wahlordnung vorgesehene Maximalzahl von 20 jüdischen Ratsherren wurde nie erreicht. 218 Friedmann, Judenfrage, S. 348.
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bewusst in Kauf genommenen Unregelmäßigkeiten. Hinsichtlich der hier interessierenden Vorschriften der Wahlordnung gab es nur zwei wesentliche Revisionen. 1894 wurde der Bildungszensus geringfügig gelockert; 1896 wurde die Kadenz der Mandatsträger auf sechs Jahre erweitert; alle drei Jahre sollten 50 Ratsherren neu gewählt werden.219 Entsprechend verlängerte sich auch die Wahlperiode für den Präsidenten und seine Stellvertreter auf sechs Jahre.220 Der Hauptgrund für die Revision lag vor allem darin, dass sich eine dreijährige Wahlperiode als zu kurz erwiesen hatte, um sich ausreichend in die Ratsaufgaben einzuarbeiten. Auch wurde die gleichzeitige Wahl von 100 Ratsherren als „reine Komödie“ kritisiert, weil die Wähler die langen Namenslisten kaum wahrnehmen würden, während sie bei nur 50 Namen (hoffentlich) kritischer wählen würden.221 Die Wahlen sollten öffentlich stattfinden und die Wähler nach „freier Ueberzeugung und unabhängig von allen Nebenrücksichten“ ihre Stimme für so viele Kandidaten abgeben, wie Mandate zu vergeben waren, „wie es nach ihrem besten Wissen und Gewissen das Gemeinwohl erfordert.“222 Gewählt war derjenige, der die absolute Mehrheit der jeweiligen Stimmen erhalten hatte, ansonsten mussten Nachwahlen mit der doppelten Kandidatenzahl ausgeschrieben werden.223 Wenn aber nicht mindestens 80 christliche Gemeinderäte gewählt worden wären, hätte der Präsident aufgrund des für die vorhergehenden Wahlen aufgestellten Verzeichnisses der christlichen Wähler Nachwahlen für die fehlenden Mandatsträger christlicher Konfession ansetzen müssen.224 Bereits die Vorbereitungen zu den Ratswahlen boten die Chance zur Manipulation – die berüchtigten „galizischen Wahlen“225 fanden auch in der galizischen Hauptstadt und anlässlich deren Ratswahlen statt. Aufgrund der erheblichen quantitativen Veränderung der Wählerbasis und der Veränderungen im Heimatrecht war bereits die Aufstellung der Wählerlisten durch den Magistrat nach den Zensusrichtlinien fehleranfällig und für Manipulationen geeignet, zumal den Betroffenen Fehler wegen der 219
LGuVBl. Nr. 23/1896. Bei der ersten nach dieser Regelung anstehenden Wahl sollten 50 Räte per Losentscheid ausgewählt werden, die neu gewählt werden sollten. Ebd., § 20. 220 Ebd., § 23. Eingeführt wurde ein Gehalt für den Präsidenten und den ersten Vizepräsidenten (§ 26), während der neue zweite Vizepräsident ehrenamtlich tätig war. 221 „czysta komedia“, GL v. 11.11.1895. 222 LGuVBl. Nr. 23/1896, § 16. 223 Ebd., § 22. 224 Ebd., § 24. 225 „Galizische Wahlen“ standen bereits für die Zeitgenossen für Wahlfälschung, Korruption etc. Hierzu Maner, Galizien, S. 149–157. Zu den Abläufen der Wahlen aus Sicht des konservativen Zentralen Wahlkomitees zum Landtag: Magdalena Semczyszyn, Galicyjskie wybory. Działalność Centralnego Komitetu Wyborczego w Galicji Wschodniej w latach 1867–1906 [Galizische Wahlen. Tätigkeit des Zentralen Wahlkomitees in Ostgalizien 1867–1906], Warszawa 2014. Einen zeitgenössischen Überblick über die galizische Parteienlandschaft (ohne Fokus auf die Kommunalpolitik) bieten: Wilhelm Feldman, Stronnictwa i programy polityczne w Galicyi 1846–1906 [Parteien und politische Programme in Galizien 1846–1906], 2 Bde., Kraków 1906–1907; ders., Geschichte der politischen Parteien in Polen seit dessen Teilungen (1795–1914), München etc. 1917.
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knappen Fristen häufig kaum auffielen. Insgesamt war die Führung der Wählerlisten nicht transparent.226 Ein größeres, nicht allein logistisches Problem stellte in diesem Zusammenhang auch die Zustellung der Wahlberechtigungskarten dar, auch wenn hier wiederum ein Rekurs auf den Nichterhalt möglich war. So berichtete etwa die Gazeta Lwowska 1874, dass von insgesamt 5.661 Wahlberechtigten 498 Wahlkarten (ca. 8,8 Prozent) und 1877 von 6.089 Wahlberechtigten 952 Karten (ca. 15,6 Prozent) nicht ausgehändigt worden seien.227 1911 waren bei 15.500 Wahlberechtigten nur 9.384 Wahlkarten (ca. 60,5 Prozent) an die Wähler ausgehändigt worden, was der linksliberale Kurjer Lwowski (Lemberger Kurier, KL) als „Wahlraub“ scharf kritisierte228 – faktisch bedeutete dies, dass eine große Zahl von etwa radikal eingestuften Wählern über diesen Weg ausgeschlossen werden konnte. Die fehlerhafte oder nicht erfolgte Zustellung der Wahlberechtigungskarten öffnete daher den Weg für erhebliche Manipulationen, nicht zuletzt, weil die nicht zugestellten Wahlberechtigungskarten teilweise an andere Personen verteilt wurden.229 Auch kam es aufgrund des euphemistisch von der Gazeta Lwowska als „Schlendrian im Magistrat“ bezeichneten Vorgehens häufiger zu doppelten Stimmabgaben.230 Wie etwa ein Protest gegen die Ratswahl 1902 verdeutlicht, gaben auch nicht in die Wählerlisten eingetragene Personen Stimmen ab oder wählten für Frauen, obwohl sie nicht deren Bevollmächtigte waren.231 Wie wichtig die Wahlkarten für die Manipulationen waren, zeigte sich in der Weigerung des Rates 1905, die zurückkommenden Wahlkarten an eine eigene, unabhängige Kommission auszuhändigen. Befürworter, die sich als Mitglieder des Bürgerlichen Wahlkomitees (Komitet Wyborczy Obywatelski) bezeichneten, argumentierten mit dem „Interesse des guten Rufes der Stadt“, „im Namen des öffentlichen Wohls, im Namen der Reinheit der Wahlen und der Moral des bürgerlichen Lebens“, zumal die „Augen
226 Es ist aber der Quellenlage nach nicht möglich zu eruieren, in welcher Höhe Personen bei der Aufstellung der Wählerlisten nicht berücksichtigt worden sind. So stellte die GL v. 21.2.1874 etwa einen solchen Fall vor. Beispielsweise wurde die Bekanntmachung bezüglich der Wählerlisten auf den 10.1.1911 datiert, eine Widerspruchsfrist von 14 Tagen wurde aber nur vom 16. bis 19. d. M. einberaumt, vgl. die Bekanntmachung in DzL Nr. 2/1911 (31.1.1911). Zur Kritik etwa SP v. 7.3.1911. Nach Paragraf 13 der Wahlordnung war es theoretisch möglich, Korrekturen bis eine Woche vor Beginn der Wahlen einzufordern. 227 GL v. 21.2.1874 und v. 27.2.1877. Die Gazeta Lwowska verwies am 26.2.1902 darauf, dass bis zu diesem Tag diejenigen, die keine Wahlkarte erhalten hätten, sich im Magistrat melden müssten, zuvor war jedoch kein Hinweis in ihr erfolgt. 228 „rabunek wyborczy“, KL v. 28.2.1911. 229 So kam es zu doppelten Stimmabgaben: Obwohl 1911 nur 9.384 Wahlkarten ausgeteilt worden waren, wurden insgesamt 10.926 Stimmen abgegeben (KL v. 1.3.1911). 230 „szlendrjan magistracki“, GL v. 4.3.1905. 231 GL v. 15.7.1902, aber etwa auch 1905, vgl. GL v. 18.3.1905, mit Berichten über Manipulationen des Stimmzettels. Zu den Manipulationen etwa auch KL v. 1.–24.3.1902 mit Berichten über die Wahlprüfung.
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ganz Europas“ auf diese Stadtratswahlen gerichtet seien.232 „Eine wahrhaftige Schande für die Hauptstadt des Landes“ urteilte daher der Kurjer Lwowski, und weiter: „Niemand in Lemberg glaubt an die Reinheit der Wahlen.“233 Dennoch hinderte diese Kritik die Komitees nicht, die Wahlen weiterhin zu manipulieren – allen voran die regierende Gruppe der Bürgerlichen Schützengesellschaft (Mieszczańskie Towarzystwo Strzeleckie), die nach ihrer Zusammenkunft auf dem Schützengelände kurz „Strzelnica“ genannt wurde und bei den Wahlen als Liste Städtisches Komitee (Komitet miejski) antrat.234 Für die kandidierenden Gruppen scheint Wahlkorruption ein gängiges Mittel gewesen zu sein, denn insbesondere Dilo berichtete über eine starke Agitation und offene Wahlkorruption vor dem Rathaus. Personen ohne großen Enthusiasmus für die Wahlteilnahme „werden in die Kneipe eingeladen und überzeugt“235. Während der Lebensmittelknappheit wurden „Wahlwürste“ zu einem effektiven Überzeugungsinstrument, sodass der Rat 1913 für das Verteilen kostenloser „Wahlwürste“ am Wahltag 200 Kronen Strafe androhte, nicht jedoch für ihr Verteilen am Vortag236 – diese Art der Beeinflussung war gerade deshalb sehr erfolgreich, weil Fleisch selbst für die Mittelschichten aufgrund der Teuerung immer unerschwinglicher wurde.237 Auch die hohe Zahl der zu Wählenden (100 resp. 50) war für Słowo Polskie ein Ansatz für Manipulationen, da „sich jeder Bürger bei der Wahl der Kandidaten auf die Meinung des Komitees [des Wahlvorstandes] verlassen muss.“238 Durch das Verfahren hatten also die Wahlvorstände, die ebenfalls als Wahlkomitees bezeichnet wurden, über die ‚Beratung‘ der Wähler großen Einfluss auf die zukünftige Zusammensetzung des Rates. Sie wurden ebenso wie die Wahlprüfungskommission aus Ratsherren und externen Personen, die für den Ablauf der Wahlen zuständig waren, vor jeder Wahl vom amtierenden Rat bestimmt, sodass vor allem die regierende Gruppierung ihre Anhänger dorthin delegieren und über diese auch die Stimmabgabe für bestimmte Kandidaten beeinflussen konnte. Die mündliche oder schriftliche Stimmabgabe zog eine langwierige, oft mehrere Wochen dauernde Stimmzählung und -prüfung nach sich.239 Bei einer mündlichen 232
233 234 235 236 237 238 239
„w interesie dobrej sławy miasta“, „w imię dobra publicznego, w imię czystości wyborów i moralności życia obywatelskiego“, „oczy całej Europy“, GL v. 17.2.1905. GL v. 2.3.1905 berichtet von Manipulationen, etwa dass der Name des Kandidaten Löwenheck von der Oppositionsliste insgesamt 50 Mal mit einem Stempel ausgestrichen worden sei, wofür ein Mitglied der Wahlprüfungskommission, ein Schankwirt, verantwortlich gemacht wurde, der daraufhin die Kommission verließ. Diese Stimmen seien dann ungültig gemacht worden, GL v. 18.3.1905. „prawdziwą hańbę dla stolicy kraju“, „we Lwowie nikt nie wierzy w czystość wyborów“, KL v. 16.2.1905, der auch die Vorbildfunktion Lembergs für das Kronland herausstellte. KL v. 16.3.1905, der die mangelnde „Reinheit der Wahlen“ („czystość wyborów“) anprangert. Dilo v. 14.(27.)2.1902. Lwów na granicy dwóch epok [Lemberg an der Schwelle zweier Epochen], Lwów 1934, S. 60. Vgl. Kap. 4.3.3. „Każdy więc obywatel przy wyborze kandydatów musi polegać na opinii komitetów“, SP v. 16.1.1905. Jeder Wähler hatte pro zu vergebendem Sitz eine Stimme; die Sitze wurden jeweils mit absoluter Mehrheit vergeben. Dadurch wurden häufig ein oder mehrere Nachwahlgänge notwendig, um alle Ratsmandate zu besetzen.
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Abstimmung, einer galizischen Besonderheit aufgrund der hohen Analphabetenrate, wurden die 100 resp. 50 zu wählenden Ratsherren aufgezählt und bei der schriftlichen auf einem Zettel verzeichnet; die darüber hinaus genannten Namen wurden nicht gewertet.240 Sowohl die mündliche Stimmabgabe, bei der die Wahlkommissionsmitglieder nicht mehr rückverfolgbar Namen eintragen konnten, als auch die schriftliche Wahl, bei der Namen durchgestrichen wurden und häufig sogar mit Stempeln ersetzt wurden, boten entsprechend Ansätze für Wahlfälschungen. Nicht nur die Wahlvorstände, sondern auch die Wahlprüfungskommissionen manipulierten Ergebnisse, wie ein Bericht des Kurjer Lwowski aus dem Jahr 1905 zeigt.241 Das Wahlverfahren bot daher eine vielfältige Grundlage für umfangreiche Manipulationen, die nach den ausgewerteten Quellen bereits seit Anfang der 1880er Jahre üblich waren, sich jedoch seit den 1890ern intensivierten.242 1892 kam es erstmals zu größeren, systematischen Manipulationen, an denen sich auch die Wahlprüfungskommission beteiligt hatte, was schließlich zum Rücktritt von 38 Ratsherren führte. Hierdurch war der Rat nicht mehr beschlussfähig für die Wahl des Stadtpräsidenten. Dennoch fanden die Neuwahlen nicht wie vorgeschrieben innerhalb der nächsten sechs Wochen, sondern erst Anfang 1893 statt.243 Es wird deutlich, dass es auch bei den Manipulationen nicht nur darum ging, dass bestimmte Wahllisten die Mehrheit erhielten, sondern dass auch versucht wurde, ‚kritische Geister‘ auszuschließen, wie z. B. den Schuldirektor Jan Soleski 1896.244 Gegen die zunehmenden Wahlmanipulationen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde teilweise heftig in der Presse und durch die unterlegene Gruppierung protestiert. In jener Zeit beteuerte der Rat – fast schon doppelzüngig – immer wieder, wie notwendig die regelgerechte Durchführung der Wahlen sei. Aber erst 1911 sah sich der Rat nach umfangreichen Manipulationen bereits im Vorfeld der Ratswahlen genötigt, einige Regularien nochmals explizit zu formulieren, u. a. dass gestempelte Namen in den Wahlscheinen für ungültig erklärt werden müssten.245 240 LGuVBl. Nr. 23/1896, § 18. 241 KL v. 18.3.1905. 242 Dies wird an veröffentlichten Protesten deutlich: „Offener Brief eines einfachen Mannes in der Angelegenheit der Stadtratswahl“ (List otwarty symplicyusza w sprawie wyborów do rady miejskiej), in: BS, Zbiór plakatów 1880, n. pag.; Wiadomości o wyborach do Rady Miasta Lwowa podane przez „Związek“ połączonych komitetów [Nachrichten über die Ratswahlen der Stadt Lemberg unternommen durch den „Verband“ der vereinigten Komitees], Lwów 1889. Vgl. auch DALO, f. 3, op. 1, spr. 4188–4190 (vor allem mit Berichten der Wahlkomissionen). 243 Sprawozdanie komisyi sprawdzającej akt wyboru członków Rady miejskiej król. stoł. miasta Lwowa na peryod trzechletni od 1892–1894 r. [Bericht der Wahlprüfungskommission zur Wahl der Stadtratsmitglieder der königl. Hauptstadt Lemberg für die dreijährige Periode von 1892–1894], o. O. [Lwów] o. J. [1894]; GL v. 21.4.1893, 16.6. und 17.6.1893, 29.6.1892; Dilo v. 9.(21.)5.1892 gibt 278 gefälschte Wahlzettel an. 244 GL v. 25.6.1896, der Schuldirektor kündigte daraufhin seine Stellung und zog das Ratsmandat vor. Vgl. auch GL v. 15.7.1896. 245 DzL Nr. 3/1911.
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Auch wurde die Wahlprüfungskommission ausdrücklich beauftragt, den Verbleib der Wahlkarten zu überwachen bzw. den Umgang mit ihnen zu überprüfen.246 Schließlich wurde die Bearbeitung der Einsprüche gegen nicht zugestellte Wahlkarten, von denen gerade Frauen betroffen waren, verzögert, da sie nur von einer Person bearbeitet und die Karten den Wartenden aushändigt wurden. Da trotz der Anfechtungen die Wahlen durchgeführt wurden, kam es zu weiteren Protesten von Bürgern, aber etwa auch von Vereinigungen wie dem Verband der Gleichberechtigung der Frauen (Związek Równouprawnienia Kobiet), von „Wacław Radziszewski und Genossen“ sowie der ruthenischen Versicherungsgesellschaft Dnistr. Bei der die Proteste aufgreifenden, „sehr langen und erregten Diskussion“ im Rat sei deutlich geworden, dass 510 längst verstorbene Personen ins Wählerverzeichnis aufgenommen worden waren und laut diesem gewählt hatten247 – eine Praxis, die zumindest in den vorausgehenden Wahlen bereits angewendet worden war.248 Schließlich wurden am 20. Dezember die Proteste vor dem Verwaltungsgerichtshof in Wien verhandelt, da die Versicherungsgesellschaft Dnistr gegen die Praxis der unzureichenden Wahlkartenverteilung geklagt hatte. Ein grundsätzliches Bedauern über die Wahlfälschungen wurde in dem ganzen Verfahren nicht deutlich, denn „der Lemberger Spießbürger ist sich sicher, dass der Wahlbetrug gerechtfertigt ist und eine Strafe für diesen nicht erfolgen wird“249, wie sich das von Demokraten (Liberalen) geführte populäre Blatt Wiek Nowy (Das neue Jahrhundert) ausdrückte. Schließlich erklärte Mitte Juni 1912 der Verwaltungsgerichtshof die Wahlen für ungültig, weil ein großer Teil der Wählerschaft von den Wahlen abgehalten worden war.250 Aber erst Ende Juni 1912 traten 85 Ratsmitglieder „als Ausdruck des Protestes gegen die nichtautonome Tat gegen uns“ zurück, die deshalb „nichtautonom war, weil die vom Stadtrat vollzogene Wahlprüfung entgegen der Meinung des Stadtrates und entgegen dem faktischen Stand der Dinge nicht gebilligt worden ist“251, vermutlich um einem Einschrei-
246 GL v. 18.2.1911. 247 DzL Nr. 10/1911. 248 So etwa Dilo v. 8.(21.)1.1911, das süffisant anmerkte, dass zu den Wahlen 1908 einige Personen zurückgekehrt seien. 249 „ta pewność kołtuna lwowskiego, że oszustwa wyborcze są uprawnione i żadna kara nie może za nie nastąpić“, Wiek Nowy v. 14.6.1912. 250 KL v. 16.6.1912. Die Urteilsbegründung (ebd.) verdeutlicht, dass der Stadtrat für die Kommunalwahlen zwar entscheidend, aber nur eine Verwaltungs- und nicht eine legislative Instanz war. Jedoch behielten alle in der Zwischenzeit getroffenen Ratsentscheidungen ihre Gültigkeit. Mit dem weiteren Verlauf der Wahlen beschäftigte sich der Verwaltungsgerichtshof erst gar nicht, sah er bereits in der mangelhaften Zustellung der Karten einen Grund für die Auflösung des Rates. 251 „wyraz protestu przeciwko nieautonomicznemu postępkowi wobec nas“, „dlatego, że nie zatwierdzono dokonanej przez Radę miejską weryfikacyi wyborów, wbrew opinii Rady miejskiej i wbrew faktycznemu stanowi rzeczy“, Rede Präsident Neuman in der Ratssitzung am 27.2.1913, DzL Nr. 4/1913.
3.3 Verteidigung der Arena gegen Demokratisierungstendenzen und die „ruthenische Gefahr“
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ten durch die Landesbehörden zuvorzukommen. Der Statthalter löste schließlich den Stadtrat am 6. Juli 1912 formal auf.252 Gerade das letztere Beispiel verdeutlicht wiederum, dass die Landesbehörden nur dann zuungunsten der Stadt Lemberg aktiv wurden, wenn ihre Vertreter sich in eklatanter Weise unrechtmäßig verhalten hatten und ein Einschreiten für die Landesbehörden unausweichlich war. Dieses Exempel veranschaulicht ebenfalls die (uneinsichtige) Haltung der Ratsmitglieder, die eine Überprüfung der Wahl von außen als unrechtmäßigen Angriff auf ihre Autonomie werteten. Der Rat versuchte nicht nur die stets bei den Kommunalwahlen anstehenden Manipulationen zu verhindern, sondern deckte sie auch zumindest. Dies und die Tatsache, dass er nicht bereit war, die Regularien der Wahlordnung zu ändern, zeigen, wie sehr die Ratsherren auf dieses Instrument der Machtsicherung angewiesen waren, zumal seit der Jahrhundertwende durch das Erstarken der Sozialisten und insbesondere der ruthenischen Nationalbewegung zunehmend Partizipationsansprüche und Forderungen nach Wahlrechtsänderungen ihre Position gefährdeten. 3.3 Verteidigung der Arena gegen Demokratisierungstendenzen und die „ruthenische Gefahr“ Die Regelungen des Statuts und die es ergänzenden Vorschriften entwickelten sich zu den wichtigsten rechtlichen Instrumenten, die den Machterhalt der polnischen Eliten sicherten. Hierbei ging es nicht nur um Einflusssicherung in sozialer, sondern vor allem in nationaler Hinsicht. Diese Regelungen mussten sich insbesondere angesichts Demokratisierungs- und Partizipationsforderungen bewähren, die in Lemberg ebenso wie in anderen Städten um 1900 aufkamen. Gerade die Wahlkämpfe und Wahlen führten zur politischen und nationalen Mobilisierung von Polen und Ruthenen gleichermaßen, wodurch sich nicht nur der Nationalitätenkonflikt dynamisierte, sondern auch die Exklusivität der ‚polnischen Arena‘ zunehmend infrage gestellt wurde, sodass die Frage einer Reform der Wahlordnung für alle Seiten von existenzieller Bedeutung wurde.
252 Darauf verweist ein Bericht über die Haltung einiger Ratsmitglieder, in: Wiek Nowy v. 14.6.1912; vgl. auch KL v. 21.6.1912; GL v. 28.6.1912. Der Statthalter wurde nach § 112 des Statuts darüber offiziell informiert, GL v. 6.7.1912, DzL Nr. 15/1912. Der Kurjer Lwowski interpretierte den Vorgang dahingehend, dass der Rat sich selbst aufgelöst und der Statthalter dies nur formal bestätigt habe (KL v. 10.7.1912, vgl. auch KL v. 11.–16.7.1912). Sroka, Rada miejska, S. 220, misst daher dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs nur noch formale Bedeutung zu; es ist demgegenüber davon auszugehen, dass die Ratsherren sich erst unter dem Druck einer drohenden Auflösung zum Rücktritt gezwungen fühlten.
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3.3.1 Die Festigung polnischer Führungsansprüche durch Kommunalwahlen Die Ratswahlen seien zu einem grundlegenden Produkt der entstehenden Demokratie geworden und hätten wiederum ihre lokale Entwicklung beeinflusst, wie Łukasz Tomasz Sroka feststellt,253 der die massiven Wahlmanipulationen nicht erwähnt oder gar analysiert. Zunächst stellten sich in den Anfangsjahren der städtischen Autonomie aus beruflichen und ständischen Interessengruppen gebildete und daher sehr sachorientiert wirkende „Komitees“ zur Wahl, die ihre Listen bei den Wahlversammlungen aufstellten. So erstellten die Techniker (Komitet Techników, z. B. 1889), die Immobilienbesitzer (Komitet realnościowy, 1880) oder das Komitee der Kaufleute und Industriellen (Komitet kupców i przemysłowców, 1902) eigene Listen, auf denen aber nicht ausschließlich Berufskollegen vertreten waren. Die bei mehreren Wahlen der 1880/90er Jahre kandidierende Gruppe Eintracht! Zusammengehörigkeit! Wahlliste der Immobilienbesitzer, Kaufleute und Kunsthandwerker (Zgoda! Łączność! Lista wyborcza właścicieli realności, kupców i rękodzielników, 1880) versuchte etwa, unterschiedliche Interessen bürgerlicher Kräfte zu bündeln. Dabei ging es zunächst weniger um ethno-konfessionelle als um ökonomische Ziele und Vorstellungen, daher kandidierten Juden auf national-katholischen Listen und Ruthenen auf den überwiegend polnisch besetzten Listen. Die zahlreichen Listen suggerierten eine soziale Vielfalt,254 aber ein genauerer Blick macht deutlich, dass in allen Kommunalwahlen größtenteils die gleichen Personen auf mehreren Listen kandidierten. Daher waren zahlreiche Persönlichkeiten auf vielen Listen vertreten. Ein extremes Beispiel hierfür ist die Kandidatur des Stadtpräsidenten Ciuchciński 1911, der auf 22 von 24 Listen kandierte.255 Wegen des Wahlverfahrens war es für die Kandidaten notwendig, sich für die unerlässliche absolute Stimmenmehrheit auf mehreren Listen aufstellen zu lassen. Dies führte zu inhaltlichen Kompromissen und Zugeständnissen der Kandidaten, aber auch zu einem übergreifenden Minimalkonsens in Sachfragen und zugleich zu einer gewissen Durchlässigkeit der Listen. Dilo bewertete dieses Verfahren sehr kritisch, da die Komitees die Namen der Kandidaten in unterschiedlichster Weise kombinieren würden, weil jedes Komitee nur wenige oder einige Dutzend zu Wählende aufweisen könne, die es in den Stadtrat entsenden wolle. „Die Wahlen werden zu einem Spiel, über dessen Resultate die Geschicklichkeit der Partner und daher nicht der Wille der wahlberechtigten Bürger
Sroka, Rada miejska, S. 219. Jedoch geht Sroka (ebd., S. 217–264) nur auf die Mobilisierung und die soziale Zusammensetzung der Wähler ein. 254 Sroka, Rada miejska, S. 236, interpretiert daher die soziale Zusammensetzung des Rates als vielfältig, woraus sich auch zahlreiche Konflikte ergeben hätten. Deutlich wird jedoch, dass es sich aufgrund des Zensus nur um eine relativ schmale, sich selbst regenerierende Gruppe aus den städtischen oberen Mittel- und Oberschichten handelte. 255 SP v. 1.3.1913. 253
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entscheidet“256, lautete etwa auch ein kritisches Fazit des Słowo Polskie im Jahr 1905 über das Wahlverfahren. Für die Aufstellung der Listen versammelten sich die Gruppierungen („Komitees“) vor allem im Ratssaal, aber auch auf dem städtischen Schützengelände, und hielten programmatische Reden, sodass die Komitees durchaus auch lokale Frühformen des sich ab den ausgehenden 1880er Jahren entwickelnden Parteiensystems in Galizien darstellten. Dieses Prozedere veränderte sich auch nicht, als um die Jahrhundertwende die Parteien die Bedeutung der Kommunalpolitik für sich entdeckt hatten und die Aufstellung der Listen immer stärker nach parteipolitischen Gesichtspunkten beeinflussten.257 Galten, wie bei den Parteien des übrigen Europa auch, die kommunalen Angelegenheiten zunächst als nicht politisch, so veränderte sich ihr Verhältnis zur Kommunalpolitik, als man in ihr das Potential erkannte, dort nicht nur lokal beschränkte Interessen durchsetzen, sondern durchaus auch eigene politisch-ideologische Überzeugungen vermitteln und auf der lokalen Ebene eine wichtige Basis für die weitere Agitation errichten zu können. Die mit diesem veränderten Verständnis einhergehende politische Mobilisierung durch die Wahlkämpfe und Ratswahlen äußerte sich darin, dass die Zahl der kandidierenden Interessengruppen stieg. Auch wenn ihre Anzahl schwankte (1871: 2; 1889: 14; 1899: 6), stieg die Zahl auf lange Sicht beständig: 1911 kandidierten noch 24 verschiedene Listen, obwohl die parteiliche Blockbildung abgeschlossen war. Bereits um 1900 war der Einfluss auf die Wahlgruppierungen durch das sich entwickelnde Parteienwesen258 zu erkennen, sodass etwa 1902 neben einem Komitee der Bauernpartei (Stronnictwo Ludowe) ein „katholisch-nationales“ (Komitet Katolicko-Narodowy), das der Polnischen Demokratischen Partei (Stronnictwo Polsko-Demokratyczne) sowie das der Fortschrittlich-Demokratischen Partei (Stronnictwo Postępowo-Demokratyczne) eigene Listen aufgestellt hatten.259 Nach der Jahrhundertwende waren nach parteipolitischen Strömungen differenzierende Blöcke klar erkennbar. Zunächst war noch die 256 „Wybory stają się grą, o której rezultacie zręczność partnerów rozstrzyga nie zaś wola obywateli, uprawnionych do głosowania“, SP v. 16.1.1905. 257 Dies forderte etwa die Nationaldemokratie, KL v. 26.1.1911. Vgl. auch die Plakatsammlung: AAN, Miejskie rady narodowe w Galicji. 258 Einen Überblick über die Entwicklung in Galizien (ohne tiefergehende Hinweise auf die kommunale Ebene): Teresa Stochel-Nabielska, Das polnische Parteienspektrum in Galizien vor 1914. Eine Bestandsaufnahme der Bemühungen um die Demokratisierung des Landes, phil. Diss. Wien 2008; über die liberale Bewegung: Maciej Janowski, Inteligencja wobec wyzwań nowoczesności. Dylematy ideowe polskiej demokracji liberalnej w Galicji w latach 1889–1914 [Die Inteligencja und die Herausforderungen der Moderne. Ideologische Dilemmata der polnischen liberalen Demokratie in Galizien in den Jahren 1889–1914], Warszawa 1996, der zwar mit Tadeusz Romanowicz und Tadeusz Rutowski wichtige Persönlichkeiten auch der Lemberger Kommunalpolitik behandelt, diese aber lediglich streift. Zur in Lemberg wenig erfolgreichen sozialistischen Bewegung: John-Paul Himka, Socialism in Galicia. The Emergence of Polish Social Democracy and Ukrainian Radicalism (1860–1890), Cambridge/MA 1993. 259 GL v. 29.2.1902.
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pragmatische Strzelnica die einflussreichste Gruppierung, in der sich Handwerker, Unternehmer und Personen unterschiedlicher sozialer und auch nationaler Herkunft versammelten und sich für als Schlüsselprojekte empfundene Maßnahmen einsetzten. Deswegen warfen ihr etwa 1907 die Nationaldemokraten vor, ein „nationales Verbrechen“ zu begehen, weil sie sich mit Ruthenen und Zionisten verbünden würde. Demgegenüber riefen die Nationaldemokraten zur „Verteidigung der Ehre der Stadt und [ihrer] Polonität“ auf.260 Da die Vertreter der Nationaldemokratie eher kleinbürgerlicher Herkunft waren, gelang es ihnen nicht, die privilegierten Wählerschichten anzusprechen. Erst die aus taktischen Gründen eingegangene Koalition mit der Strzelnica ermöglichte es ihr, ab 1908 zunehmend Einfluss zu gewinnen und sich anschließend von ihr abzugrenzen.261 1911 stellten schließlich das Wahlkomitee der Frauen (Komitet Wyborczy Kobiet) im Zuge der Frauenwahlrechtsdebatten eine eigene Liste mit Vertretern des Reformklubs und weiteren „anständige[n] und fähige[n] Männern“262 sowie vier jüdische Komitees eigene Listen auf.263 Die Versammlungen der Wahlkomitees waren wiederum Frühformen von Wahlkampfveranstaltungen, aber zugleich auch allgemeine, offene Informationsveranstaltungen über die aktuellen kommunalen Belange und Interessen, die in einer größeren Öffentlichkeit artikuliert wurden.264 Da sie jedermann offenstanden, führten sie zu einer Mobilisierung und Politisierung auch breiterer Bevölkerungskreise über denjenigen der
260 „zbrodnia narodowa“, „obrona honoru miasta i polskości“, Wybory do Rady, S. 4, 11 f. Ebd., S. 5, nennt eine Zahl von 320 Mitgliedern eines der Strzelnica nahestehenden Zusammenschlusses von Kaufleuten und Industriellen sowie des Bürgerlichen Verbandes (związek mieszczański). 261 Sroka, Rada miejska, S. 235. 262 Felice Nossig, Die Frauenbewegung in Galizien, in: Zeitschrift für Frauen-Stimmrecht 1, 1911, Nr. 7, S. 3–4, hier: S. 3. „Natürlich hatte sie [diese Liste] keinen Erfolg, da sie ja nicht unter der Firma irgendeiner Partei erschien. Und ebenso natürlich war es, dass die meisten tätigen Politiker, die ja eine Kritik nicht gut vertragen, in ihren Organen und Versammlungen die Frauenliste verspotteten und sie als Beweis der politischen Unreife hinstellten“ (ebd.). Der Verband der Gleichberechtigung der Frauen (Związek Równouprawnienia Kobiet) unterstützte dagegen die Liste des Reformklubs. Diese Spaltung der polnischen Frauenbewegung erklärt Nossig (ebd.) mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen. Vgl. Leszczawski-Schwerk, „Die umkämpften Tore“, S. 161 f.; dies., Frauenbewegungen im Spannungsfeld regionaler, transnationaler und internationaler Netzwerke am Beispiel Lembergs (1867–1918), in: Jacques Le Rider / Heinz Raschel (Hrsg.), La Galicie au temps des Habsbourg (1772–1918). Histoire, société, cultures en contact, Tours 2010, S. 281–296; vgl. auch Jadwiga Petrażycka-Tomicka, Związek Równouprawnienia Kobiet we Lwowie. Przyczynek do historji równouprawnienia kobiet w Polsce [Verband der Gleichberechtigung der Frauen in Lemberg. Anmerkung zur Geschichte der Gleichberechtigung der Frauen in Polen], Kraków 1931, S. 7–24. 1913 rief der Verband die Bevollmächtigten der wahlberechtigten 2.000 Frauen auf, nur die Befürworter des kommunalen Frauenwahlrechts zu unterstützen. Vgl. Sprawozdanie Klubu Radnych (Centrum) z czynności w Radzie miasta Lwowa za trzechlecie 1905–1908 [Tätigkeitsbericht der Ratsfraktion (Centrum) für den Dreijahreszeitraum 1905–1908], in: AAN, Miejskie Rady Narodowe, S. 10, betont, dass die liberalen Kräfte sich für das persönliche Frauenwahlrecht einsetzen würden. 263 KL v. 9.2.1911. 264 GL v. 27.1.1877 und 7.1.1888.
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maximal rund 7,3 Prozent Wahlberechtigten hinaus.265 So waren bereits in den 1880er Jahren Versammlungen mit weit über 100 Personen keine Seltenheit, beispielsweise berichtete bereits die Gazeta Lwowska über die Sitzung des Komitees Eintracht! 1880 im Ratssaal, dass dieser vollkommen überfüllt gewesen sei und die Zuschauertribüne wegen der großen Zahl an Zuhörern geschlossen werden musste.266 Da die Veranstaltungen der Wahlkomitees zunehmend Massenveranstaltungen wurden, auf denen auch die Interessen der einzelnen Bezirke diskutiert wurden, fanden seit der Jahrhundertwende die Sitzungen der Komitees häufig in den einzelnen Bezirken mit eigenen Schwerpunkten statt; teilweise gab es sogar eigene Kandidatenlisten der jeweiligen Bezirke.267 Aber nicht nur das Zuschauerinteresse, sondern auch die Inhalte und die sich verschärfende Sprache der Wahlagitation veranschaulichen die steigende Bedeutung, die der Kommunalpolitik beigemessen wurde. Hierzu wurden alle gängigen Medien genutzt, vor allem Plakate und zahlreiche Broschüren sowie Flugblätter, die auf Straßen und Plätzen verteilt wurden. Eine nicht unerhebliche Rolle hierbei spielte die Verquickung von Politikern resp. Parteien mit den örtlichen Zeitungen, da sie den Parteien bzw. Parteivertretern gehörten oder zumindest ihnen nahestanden und den politischen Diskurs entsprechend beeinflussten. Ein weiterer Grund hierfür lag darin, dass sie der politischen Entwicklung in der Hauptstadt eine gewisse Vorbildrolle zusprachen. Hinzu kam, dass die Redakteure nicht nur politischen Einfluss nahmen, sondern häufig auch die Redaktionsbüros selbst als örtliche Parteizentralen fungierten. Insgesamt wurde hierdurch die politische Atmosphäre aufgeheizt, sodass immer weniger sachorientierte Fragen als vielmehr ideologisch unterlegte Haltungen im Mittelpunkt der Wahlkämpfe standen.268 Das Erstarken und die innere Differenzierung der ruthenischen Nationalbewegung schlugen sich in der Zusammensetzung eigener Kandidatenlisten nieder. Erstmals findet sich in den Quellen zur Kommunalwahl 1896 ein eigenes Wahlkomitee, das sich an alle ruthenischen Wahlberechtigten wendete und die Bedeutung der Kommunalwahlen für sie als bislang schwach vertretene Gruppe herausstellte. Alle in Dilo abgedruckten Aufrufe zu den folgenden Wahlen zeigen, dass die ruthenischen Kräfte erkannt hatten, dass auch die Kommunalpolitik wichtig für ihre Nationalbewegung war. Daher betonten die Artikel immer die Notwendigkeit, „im Stadtrat das rutheni-
265 Dies zeigen etwa auch die Plakatesammlungen: AAN, Miejskie rady narodowe, und BS, Zbiór Plakatów 1880. 266 GL v. 7.1.1880. 267 So etwa 1911, vgl. z. B. KL v. 20.2.1911 mit den Forderungen des Komitees des III. Bezirks, vgl. auch ZNiO, PR, 13403, n. pag. 268 Vgl. etwa GL v. 7.1.1880; so etwa Sprawozdanie Klubu Radnych (Centrum) z czynności w Radzie miasta Lwowa za trzechlecie 1905–1908 [Tätigkeitsbericht der Ratsfraktion (Centrum) für den Dreijahreszeitraum 1905–1908], in: AAN, Miejskie Rady Narodowe, Bl. 10, ebd., Bl. 27, mit Verweisen auf jüdische und liberale Ratskandidaten, ebd., Bl. 58, zweisprachig in Polnisch und Jiddisch für die Demokratische Partei (Stronnictwo Demokratyczne).
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Abb. 5 Wahlplakat Unterstützungsaufruf der „oppositionellen Liste“ durch Wiek Nowy (vermutl. 1908), Quelle: ZNiO, PR, 13389/III
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sche Interesse besser zu vertreten.“269 Dass diese Aufrufe kaum Erfolg hatten, wurde 1911 deutlich, als Dilo zum wiederholten Mal betonte, dass es endlich Zeit werde, dass die Lemberger Ruthenen sich endlich organisierten und ihre Kraft sammelten.270 Wie oben beschrieben, waren stets nur einige wenige Ruthenen im Rat vertreten und nahmen den höchst kritischen Darstellungen von Dilo zufolge eher Alibifunktionen ein. Zugleich betonte die Zeitung immer wieder, dass insgesamt nur wenige Ruthenen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten.271 Besonders deutlich wurde dies bei den zur Erreichung der vorgeschriebenen Zahl an Ratsmitgliedern notwendigen Nachwahlen. Ihre Vorbereitungen stellten damit immer ein besonderes Forum für Dilo dar, durch Boykottaufrufe gegen die Wahlordnung zu protestieren: Da die ruthenischen Listen meist bereits in den ersten Wahlgängen nicht erfolgreich gewesen seien, hätten ihre Kandidaten bei Nachwahlen überhaupt keine Chance mehr. Wie sehr die nationalistische Agitation von Dilo den ruthenischen Kräften schadete, wird daran deutlich, dass 1908 noch ruthenische Kandidaten auf polnischen Listen vertreten waren, die jedoch allesamt durchfielen, weil sie nun für die Masse der polnischen Stimmberechtigten nicht mehr wählbar erschienen.272 Dass der Misserfolg auch letztlich der sich entwickelnden parteipolitischen innerruthenischen Ausdifferenzierung geschuldet war, zeigt sich etwa auch daran, dass gleichzeitig eine Liste des Ruthenischen Wahlkomitees (Lïsta Rus′koho Vyborčoho Komitetu) und eine Liste des Ruthenischen Bürgerkomitees (Lïsta Rus′koho Miščan′skoho Komitetu) kandidierten und sich so gegenseitig wichtige Stimmen wegnahmen.273 Der Berichterstattung von Dilo ist insgesamt zu entnehmen, dass die kommunalen Wahlen gerade wegen des ständigen Misserfolgs seit der Jahrhundertwende explizit zur nationalen Agitation und politischen Mobilisierung der Ruthenen genutzt wurden, sodass auch etwa die eigenen, nicht optimalen Wahlkampagnen, wenn auch leise, kritisiert wurden.274 Für Dilo wog der Misserfolg der Kandidaten umso schwerer, als jüdische Kandidaten in den Rat eingezogen waren. Es schwangen daher in seinen Kommentaren stets antisemitische Äußerungen mit. 1880 etwa behauptete Dilo, dass die Juden versuchen würden, die wichtigen Positionen in der Stadt zu besetzen.275 Seit 1899 wurden Polen und Juden gleichermaßen dafür verantwortlich gemacht, dass die Ruthenen kommunalpolitisch nicht partizipieren konnten. Den Polen wurde vorge-
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Dilo v. 13.(25.)2.1899; vgl. Dilo v. 18.(30.)12.1898. Dilo v. 4.(17.)1.1911. Dilo v. 6.(19.)5.1902, 13.(26.)5.1902; ähnlich Dilo v. 12.(25.)1.1905 und 29.(16.)5.1905. KL v. 11.2.1911, der jedoch anmerkte, dass der russophile Kandidat fast die notwendige Mehrheit erhalten hätte. 273 AAN, Miejskie Rady narodowe, Bl. 24; ZNiO, PR, 13403, n. pag. (Plakat in lateinischen Buchstaben). Auf beiden Listen waren auch polnische und jüdische Liberale und Sozialisten aufgestellt worden, so wie etwa Tobiasz Aschkenase, Jakub Beiser [Bajzer] und der Sozialist Józef Hudec als Kandidaten des Ruthenischen Bürgerkomitees. 274 Dilo v. 3.(16.)5.1901. 275 Dilo v. 16.(28).1.1880, 27.2.(10.3.)1880; ähnlich Dilo v. 27.2.(10.3.)1880.
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worfen, die Juden zu Lasten der Ruthenen zu bevorzugen, um zu erreichen, dass es keinen einzigen Ruthenen im Stadtrat geben würde. Daher diffamierte Dilo den Rat häufig als „polnisch-jüdisch“.276 Die Kommentare im Dilo zeigen, dass seine Journalisten die Regelungen des Statuts nicht als diskriminierend empfanden, sondern dass sie sich ebenfalls der gängigen Ressentiments gegen die Juden bedienten. Die polnische Seite nahm das zunehmende ruthenische kommunalpolitische Interesse und daraus erwachsende Ansprüche auf Partizipation sensibel wahr und interpretierte sie als einen eindeutigen Angriff auf die polnischen Ansprüche und die ‚polnische Arena‘.277 So agitierte das von den Nationaldemokraten initiierte Allgemeine Bürgerliche Komitee (Powszechny Komitet Obywatelski) gegen die nach Lemberg eindringende „ruthenische Gefahr“.278 Um dieser begegnen zu können, forderten die Nationaldemokraten schließlich im Kommunalwahlkampf 1911 eine langfristige Zusammenarbeit aller polnischen „nationalen“ Parteien, denn „in nationalen Angelegenheiten soll der Stadtrat solidarisch nach außen auftreten.“279 Das Misslingen einer solchen antiruthenischen Koalition wurde daher als „nationaler Verrat“280 interpretiert. Die zunehmenden ruthenischen Forderungen nach kommunalpolitischer Partizipation wirkten schließlich als Katalysator auf die polnische parteipolitische Blockbildung in Lemberg, die spätestens mit den Ratswahlen 1911 abgeschlossen war:281 Auf der einen Seite verbanden sich die nationalen, auf der anderen Seite die reformorientierten, liberaleren Gruppierungen,282 die Słowo Polskie 1911 als „nationalen“ und „antinationalen“ Block283 und Dilo zusammenfassend 1913 als „verfeindete Blöcke“284 bezeichneten. Unter dem „antinationalen Block“ verstand Słowo Polskie insbesondere den noch einflussreichen liberalen reformorientierten „fortschrittlichen“ Klub der Reform (Klub Reformy).
276 „pol′sko-žydivskyj“, Dilo v. 3.(15.)6.1899, v. 28.5.(9.6.)1899 sowie vom 29.3.(6.10).1905. 277 Dilo v. 13.(25.)2.1899 und 17.(29.)2.1899. 278 „rus′ku nebezpek“, Dilo v. 29.01.(11.2.)1911. In der Berichterstattung über die Sitzung im Kurjer Lwowski wird weder die Rede Grabskis noch das o. g. Zitat erwähnt, ebenso wenig die „ruthenische Gefahr“, obwohl dieser Ausdruck dem Duktus der widergegebenen Debattenbeiträge entspricht. Ob dies in dem grundsätzlich abwägenden Bericht des Kurjer Lwowski v. 11.2.1911 aus Gründen einer vorgeblich neutralen Berichterstattung nicht erwähnt wurde, oder ob Dilo die Sitzung zu stark interpretierte, kann aus den Quellen nicht erschlossen werden. 279 „narodowe“, „w sprawach narodowych Rada miejska powinna postępować na zewnątrz solidarnie“, KL v. 9.1.1911. 280 „zdrada narodowa“, KL v. 18.2.1911; vgl. auch KL v. 9.2.1911. 281 KL v. 9.1.1911, über die Wahlversammlung der nationaldemokratischen Beamten. 282 GL v. 26.2.1911 und 7.2.1913, die eine Gruppe wurde 1913 als „nationaler Block“ („blok narodowy“), die andere nur als „Kandidaten der Reform“ („kandydaci reformy“) bezeichnet. Vgl. auch KL v. 18.2.1911 mit einer genauen Aufstellung der Kompromisse zwischen den Komitees, die zwar dennoch eigene Listen ins Feld führten, die aber zumeist identisch waren oder nur geringe Unterschiede aufwiesen (KL v. 16.1.1913). 283 „narodowy“ und „antinarodowy blok“, SP v. 21.2.1911. 284 Dilo v. 4.(17.)1.1913.
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Es diffamierte diese Richtung, weil sie mit den „der Polonität feindlichen Elementen“ und „ihren Verbündeten“ der polnischen Nation Gespräche führten.285 Für das nationaldemokratisch orientierte Słowo Polskie war klar, dass hierdurch die „ukrainischen“ [sic!] und zionistischen separatistischen Ansprüche so groß geworden seien, die besonders deutlich im Terror an der Universität durch die „freimaurerisch-sozialistisch-ruthenisch-zionistische Front“ zu erkennen seien, dass eine für die Polen dramatische Bedrohungslage vorläge. Daher müsse, so die versicherheitlichende Argumentation, der Nationale Block zur Verteidigung der „bedrohten Polonität“ Lembergs unterstützt werden, damit nicht die jüdischen Separatisten sich mit den Ukrainern zusammenschlössen.286 Einer der nationaldemokratischen Vertreter mahnte bei einer Versammlung über die Bildung eines „nationalen Blocks“ an, dass die gesamte Gesellschaft sich im Kampf vereinen müsse, damit es keine „nationale Unsicherheit“ gebe, denn nur im Falle einer hohen Wahlbeteiligung der Polen bleibe der Stadtrat polnisch.287 Dabei agierten die Nationaldemokraten gegen die „feindselige“ Haltung der Ruthenen und zugleich gegen Juden, deren Massen teilweise durch die Zionisten fanatisiert worden seien, sodass alle Kraft für die „Verteidigung“ des polnischen Charakters der Landeshauptstadt aufgewendet werden müsse.288 Die massive Politisierung und Mobilisierung der Bevölkerung über die vergleichsweise schmale Gruppe der Wähler hinaus ist vor allem auf den zunehmend eskalierenden nationalen Konflikt mit den Ruthenen zurückzuführen. Auf diesen wirkten die Ermordung des galizischen Statthalters Andrzej Potocki 1908 durch einen Ruthenen, deren Billigung durch die ruthenischen Parteien sowie die als revolutionärer Übernahmeversuch gebrandmarkten Ausschreitungen im Kampf um eine ruthenische Universität und nicht zuletzt die gewaltsamen ruthenischen Obstruktionen im Landtag als Katalysatoren ein.289 Daher wurde beispielsweise in einer nationaldemokratischen Wahlversammlung 1911 gefordert, dass „in erster Linie der Stadtrat den polnischen Charakter der Stadt verteidigen muss.“290 So wurden die Wahlen 1911 zu einem Höhepunkt des politischen Kampfes der Nationalitäten in und um Lemberg stilisiert. Hierbei wurden vor allem Bedrohungsszenarien argumentativ genutzt: Insgesamt sei der Wahlkampf wie eine „Orgie“ verlaufen, weil auch noch massiv vor den Rathaustüren, wo die Wahllokale untergebracht waren,
285 „żywiołów wrogich Polskości“, „ich sojusznikami“, SP v. 27.2.1911. 286 „falangi masońsko-socjalistyczno-rusko-syjońskiej“, „zagrożonej polskości“, SP v. 24.2.1911. Durch die Wortwahl wurde den Ruthenen bereits ein illoyales Verhalten unterstellt. 287 „niebezpieczeństwa narodowego“, „nieprzyjazne“, „obrona“, SP v. 21.2.1911. 288 SP v. 24.2.1911. 289 KL v. 11.2.1911. 290 „W pierwszym rzędzie Rada m. bronić musi polskiego charakteru miasta“, KL v. 9.1.1911. Daher forderte SP v. 24.2.1911, dass die wahlberechtigten Frauen ihre Vollmachten an die „nationalen Organisationen“ abgeben sollten.
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agitiert wurde.291 Vor diesem nationalitätenpolitischen Hintergrund und angesichts der innerpolnischen Blockbildung lassen sich die geschilderten massiven Wahlmanipulationen damit erklären, dass sie vor allem verhindern sollten, dass der Rat durch ruthenische oder zumindest proruthenische Kräfte übernommen werden würde. Tatsächlich wurde kein Ruthene gewählt.292 Die ebenfalls manipulierten Neuwahlen des Stadtrates fanden entgegen der Vorschrift des Statuts, solche spätestens nach sechs Wochen anzusetzen, erst Mitte Januar 1913 statt, wobei die Auszählung erst einen Monat später abgeschlossen war. Alle Kandidaten des Nationalen Blocks gewannen mit fast 80 Prozent der Stimmen.293 Die Rede Präsident Neumans zur Eröffnung der neuen Ratskadenz im Februar 1913 verdeutlicht, dass der Rat „fast in der gleichen Zusammensetzung [gewählt worden war], weil es nur gewisse kleine Veränderungen gab“294 – faktisch waren die liberalen, auf Ausgleich mit den Ruthenen bedachten Politiker wie Tobiasz Aschkenase nicht wiedergewählt worden. Dies stellte Neuman als solidarische, ostentative Haltung der „Gesamtheit der Wähler“ und „vollkommene Genugtuung“ dar. Diese Worte des Stadtpräsidenten deuten an, dass die erzwungene Auflösung des Rates zu einem ‚Ruck‘ und Zusammenrücken innerhalb der polnischen Wählerschaft geführt hatte: Das „ganze polnische Lemberg hat Euch [die Ratsherren] entsandt“295. Der Rat und die Kommunalpolitik waren endgültig in die Hände des Nationalen Blocks unter Führung der chauvinistischen Nationaldemokraten gelangt. Insgesamt erfolgte durch die Wahlkämpfe und Wahlen eine erhebliche politische und nationale Mobilisierung der Bevölkerung, die über den engen Kreis der Wählerschaft hinausging. Hierdurch wurden versicherheitlichende Argumentationen intensiv in die Öffentlichkeit vermittelt. Angesichts des wachsenden ruthenischen Interesses an der ‚Arena Stadtrat‘ und zunehmender Partizipationsforderungen wurde die Bedeutung des „polnischen Charakters“ und die Darstellung seiner Gefährdung für die polnischen politischen Kräfte beider Blöcke zum Hauptargument für ihre jeweiligen Ambitionen. Diese Entwicklung führte nicht nur zu einer stärkeren Politisierung kommunaler Themen und zur Festigung des Parteiwesens auf lokaler Ebene, sondern auch zu einer Verfestigung der Stereotypen durch die Dramatisierung der unterstellten Bedrohung des „polnischen Charakters“ der Stadt, wie sich auch in den Debatten um einen ‚Lemberger Ausgleich‘ zeigen sollte.
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„orgia“, KL v. 18.2.1911; KL v. 28.2.1911. Ukrainische Rundschau Nr. 5/6, 1911, S. 137 f. GL v. 18.2.1913. Kramarz, Samorząd, S. 15–19, geht von 70 Prozent wiedergewählten Ratsherren aus. „niemal w tym samym składzie, – bo tylko z pewnemi małemi zmianami“, DzL Nr. 4/1913. Zugleich gab es nach KL v. 19.1. und 10.3.1911 Proteste von Frauen, die ein Wahlrecht zum Stadtrat forderten. 295 „ogół wyborców“, „zupełne zadośćuczynienie“, „wysłał cały polski Lwów“, DzL Nr. 4/1913.
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3.3.2 Verhinderung der Wahlordnungsreform als Abwehr ruthenischer Partizipationsforderungen Unter Einfluss der sich seit der Jahrhundertwende durch die parteipolitischen Polarisierungen und nationalen Entwicklungen aufheizenden Stimmung im Stadtrat brachte die Frage nach einer Reform der lokalen Wahlordnung weiteres, erhebliches Konfliktpotential mit sich. Es ging darum, ob – und unter welchen Bedingungen – politische Partizipation nicht nur maximal 7,3 Prozent der städtischen Bevölkerung, sondern allen (männlichen) Einwohnern ermöglicht werden solle. Seitens der Gegner wurde die mögliche Demokratisierung des Wahlverfahrens zur existenziellen Bedrohung des „polnischen Charakters“ der Stadt stilisiert, weil von der Erweiterung des Wahlrechts vor allem die Ruthenen profitiert hätten. Anstoß hierzu gaben die Wahlrechtsreformen auf Reichsebene und die Debatten um eine Wahlrechtsreform auf Ebene des Kronlandes. Auf Reichsebene war bereits 1873 durch die Taaff ’sche Wahlrechtsreform der Zensus auf 5 Gulden herabgesetzt und 1896 in der Badenischen Wahlrechtsreform eine neue fünfte Wahlkurie mit allgemeinem Männerwahlrecht beschlossen worden; schließlich wurde 1906/07 das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt und das Kuriensystem abgeschafft.296 Nach lediglich kleineren Korrekturen am Kurienwahlrecht wurde in Galizien seit dem Ende der 1900er Jahre intensiviert ein Ausgleich zwischen den Nationalitäten gefordert, der die Abänderung des Wahlrechts und insbesondere der Wahlkreiseinteilung zum Ziel hatte. Im Februar 1914 als Landesgesetz verabschiedet, erschien er den Abgeordneten als letzte Möglichkeit, den eskalierenden Konflikt zwischen Ruthenen und Polen einzuhegen.297 296 Zu den mit der Wahlreform verbundenen Impulsen: Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918, Bd. 2 Ideen und Pläne zur Reichsreform, Graz ²1964, S. 225–232. 297 Im Zuge der fortschreitenden Nationalisierungsprozesse galten innerhalb der Habsburgermonarchie nach dem Vorbild des Ausgleichs mit Ungarn Ausgleiche als Möglichkeit, das zunehmend angespannte Verhältnis der Nationalitäten untereinander innerhalb eines Kronlandes zu regeln. Im Gegensatz zu den übrigen betraf das galizische Ausgleichsgesetz nur das Wahlrecht. Durchweg sind Ausgleiche als Versicherheitlichungsmaßnahmen zu kennzeichnen, um den inneren Frieden zwischen den Nationalitäten zu erhalten, vgl. hierzu: Heidi Hein-Kircher, Der Galizische Ausgleich als Beitrag zur inneren Sicherheit. Zu den Intentionen und zur Rolle der galizischen Abgeordneten bei den Landtagsverhandlungen 1913/14, in: Carola Westermeier / Horst Carl (Hrsg.), Sicherheitsakteure. Epochenübergreifende Perspektiven zu Praxisformen und Versicherheitlichung, Baden-Baden 2018, S. 183–196. Vgl. Börries Kuzmany, Der Galizische Ausgleich als Beispiel moderner Nationalitätenpolitik?, in: Elisabeth Haid / Stephanie Weismann / Burkhard Wöller (Hrsg.), Galizien. Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie?, Marburg 2013, S. 123–144; vgl. auch die außenpolitisch orientierte Interpretation von Klaus Bachmann, Ein Herd der Feindschaft gegen Russland. Galizien als Krisenherd in den Beziehungen der Donaumonarchie mit Rußland (1907–1914), Wien 2001, S. 173–195, wonach dieser Ausgleich auch als casus belli gegenüber dem Russländischen Reich interpretiert wird. Vgl. zum Nationalitätenkonflikt seit 1867 in Galizien Alexey Miller, Galicia after the Ausgleich. Polish-Ruthenian Conflict and the Attempts of Reconci-
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Jedoch zeigen die Quellen eine Rückwirkung der lokalen Verhandlungen mit der galizischen Wahlrechtsreformdebatte: Je stärker das Thema im Landtag diskutiert wurde und je weiter die Verhandlungen dort voranschritten, desto häufiger wurde in den Ratsdebatten diese Entwicklung zum Anlass genommen, bezüglich des Standes der Wahlordnungsreform in Lemberg nachzufragen. Innerhalb des Lemberger Stadtrates stießen diese Beschlüsse von Februar 1914, wie noch zu zeigen ist, keinesfalls auf Anklang, hätte ein ‚Lemberger Ausgleich‘ doch bedeutet, die Wahlordnung so zu verändern, dass die Ruthenen mehr Mandate hätten erringen können.
Abb. 6 Das Landtagsgebäude, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag.
In Lemberg war 1894 der Wählerkreis durch Veränderungen im Bildungszensus – wie erwähnt nur geringfügig – erweitert worden,298 ohne dass grundsätzlich an dem hohen Bildungs-, Besitz- und Steuerzensus gerüttelt worden wäre. Genausowenig standen liation, in: History Department Yearbook 1993, S. 135–144; Adam Świątek, Gente Rutheni, natione Poloni. Z dziejów Rusinów narodowości polskiej w Galicji [Gente Rutheni, natione Poloni. Aus der Geschichte der Ruthenen polnischer Nationalität in Galizien], Kraków 2014. Vgl. auch Dariusz Maciak, Próba porozumienia polsko-ukraińskiego w Galicji w latach 1888–1895 [Versuch einer polnisch-ukrainischen Verständigung in Galizien 1888–1895], Warszawa 2006. 298 LGuVBl. Nr. 31/1894. Aufgenommen wurden in den Wählerkreis in der Monarchie diplomierte Techniker und Notariats-Kandidaten mit österreichischer Staatsbürgerschaft. S. Kap. 3.3.2.
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der Zensus oder dessen Lockerung sowie die Limitierung jüdischer Ratsmandate zur Disposition.299 Erstmals hatte bereits der für die katholisch-nationale Liste kandidierende Prof. Maksymilian Thullie, Bauingenieur an der Technischen Hochschule, 1898 die Ungleichbehandlung in einer Anfrage thematisiert. Aber erst Anfang 1900 setzte der Stadtrat dieses Problem nach einem erneuten Antrag Thullies auf die Tagesordnung und beschloss, eine Kommission mit der Untersuchung dieser Angelegenheit zu beauftragen, in der alle im Rat vertretenen Komitees anwesend sein sollten.300 Dies bedeutete allerdings nicht, dass sie tatsächlich mit der Ausarbeitung einer neuen Wahlordnung beauftragt worden wäre. Dieser Beschluss veranlasste jedoch Dilo zu der Hoffnung, dass endlich die Ungerechtigkeiten behoben und das Wahlrecht erweitert werden würden. Hierbei ging es Dilo weniger um soziale Gerechtigkeit als darum, dass es hoffte, dass hierdurch mehr Ruthenen das Wahlrecht erhalten sollten.301 Die erste Phase der Debatten um eine Wahlordnungsreform wurde aber noch durch Initiativen von reformorientierten liberalen und insbesondere der sozialdemokratischen302 Ratsherren geprägt. In dieser Phase ging es im Wesentlichen um eine Ausweitung des Wahlrechts auf die unteren sozialen Schichten. Die entsprechenden Anträge zur Wahlordnungsreform behandelte der Rat bzw. die damit beauftragte Kommission eher dilatorisch; dagegen wurde sie im folgenden Wahlkampf zum Gegenstand der Auseinandersetzungen. Selbst nach vier Jahren war diese Kommission noch nicht eingerichtet worden, sodass der Sozialdemokrat Józef Hudec in einer Grundsatzrede 1904 ihre Berufung forderte. Hierauf habe es stürmischen Beifall und zehn Minuten Lärm auf der Zuschauertribüne gegeben.303 Hudec war es, der im Januar des Folgejahres die Reform wieder auf die Tagesordnung brachte und ein „kurzes, aber gewaltsames Gewitter“304 auslöste. Insbesondere die galizischen Sozialdemokraten forcierten die Debatte um die Wahlrechtserweiterung auch auf lokaler Ebene, was sich im Engagement 299 CDIAL, f. 165, op. 2, spr. 407; vgl. LGuVBl. Nr. 23/1896. Drei Jahre nach der nächsten Wahl wurde ausgelost, wer aus dem Rat auszuscheiden hatte. 300 GL v. 12.1.1900. 301 Dilo v. 30.12.1899 (11.1.1900). 302 1902/3 bis 1908 war eine eigene sozialdemokratische Liste im Stadtrat vertreten, danach nur noch Sympathisanten, die auf einer anderen Liste kandidierten. Vgl. Kramarz, Samorząd, S. 20 f.; Kerstin S. Jobst, Zwischen Nationalismus und Internationalismus. Die polnische und ukrainische Sozialdemokratie in Galizien von 1890 bis 1914. Ein Beitrag zur Nationalitätenfrage im Habsburgerreich, Hamburg 1996, S. 27–31, verweist darauf, dass sich aufgrund der geringen Industrialisierung die sich formierende sozialdemokratische Bewegung in Galizien im Vergleich zu derjenigen im westlichen Europa von einem anderen Ausgangspunkt aus entwickelte: Eine umfassende Industrialisierung hemmende sozio-ökonomische Faktoren waren etwa die fehlende bzw. nur geringe Arbeiterschaft der Großindustrien und die grundsätzlich industrialisierungs- und modernisierungsfeindliche Haltung der polnischen Elite. Jobst verdeutlicht, dass die polnische und ruthenische sozialistische Bewegung von Anfang an durch nationales Gedankengut geprägt waren. 303 GL v. 24.3.1904. 304 „krótka, ale gwałtowna burza“, SP v. 13.1.1905.
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und Verhalten von Hudec und seiner Anhängerschaft zeigte.305 Deshalb entsandten sie im Oktober 1905 eine Deputation von 30 Mann aus 17 galizischen Städten zum Statthalter, um diesen zu überzeugen, sich für die Erweiterung des lokalen Wahlrechts einzusetzen.306 Hudec argumentierte damit, dass die bisherige Wahlordnung ungerecht sei und dass durch eine Ausweitung des Wahlrechts die vorhandene Korruption im öffentlichen Leben beseitigt werden könne.307 Sein Antrag wurde, so die Schilderung im Pressebericht, von einer lautstarken Demonstration auf der Galerie begleitet: Seine sozialdemokratische Anhängerschaft hatte nicht nur die Galerie mit roten Fahnen ‚eingefärbt‘, sondern kommentierte die Ablehnung des Antrags auf die Ausarbeitung einer Reform innerhalb von drei Monaten lautstark mit „Schande“-Rufen. Dem Stadtpräsidenten gelang es weder, Ruhe herzustellen, noch zu verhindern, dass einige hundert Karten von der Galerie geworfen wurden, welche die Aufschrift trugen: Das einzige gerechte und ehrliche Wahlrecht ist das allgemeine Wahlrecht. Die Wahlordnung der Gemeinde Lemberg ist Ursache und Fundament der Korruption, die im öffentlichen Leben herrscht.308
Als begonnen wurde, den Saal gewaltsam zu räumen, verließen die meisten Demonstranten auf Anweisung von Hudec hin, die sozialistische Hymne Czerwony Sztandar („Rote Standarte“) und andere sozialistische Lieder singend, den Saal. In der anschließenden Debatte empfahlen auch reformorientierte Ratsherren wie z. B. Tobiasz Aschkenase, rasch eine Reform zur Erweiterung des Wahlrechts in der Kommission beraten zu lassen.309 Jedoch verfolgten die zuständige Kommission310 und die Verwaltung weiterhin ihre dilatorische Linie.311 Bei der leidenschaftlichen Debatte im März 1906 scheute sich der Vizepräsident und spätere Präsident Ciuchciński nicht, im Namen seiner Partei festzustellen, dass sich die Strzelnica keinesfalls mit der Reform beeilen würde, um nicht
305 So planten sie eine Versammlung zum Thema. Als Versammlungsort war der Rathaushof beantragt worden, weil die letzte Versammlung aber gewaltsam – mit „Terror“ der Demonstrierenden – geendet hatte, wurde sie nicht genehmigt. GL v. 10.3.1906. 306 GL v. 24.10.1905. 307 Dilo v. 31.12.1904 (15.1.1905); SP v. 13.1.1905. Um die Wählbarkeit praktisch möglich zu machen, schlugen die Sozialdemokraten eine Entschädigung für die Ratsherren vor, da die Ratsarbeit viel Zeit in Anspruch nähme und sich bislang nur wohlhabende Personen ein kommunalpolitisches Engagement leisten könnten. 308 „jednym sprawiedliwym i uczciwem prawem wyborczem jest powszechne prawo głosowania. Lwowska gminna ordynacja wyborcza jest przyczyną i podwaliną korupcji, panującyej w życiu publicznym“, GL v. 15.1.1905, Aussage gleichlautend in SP v. 13.1.1905. 309 Ebd. 310 Laut Dilo v. 5.(18.)11.1905 hatte die Kommission bislang nur einen Punkt der Wahlordnung beraten. 311 Etwa: GL v. 27.1.1906.
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Selbstmord an sich selbst zu vollziehen. Das vieradjektivische Wahlrecht begeistert seine [Ciuchcińskis] Partei ganz und gar nicht, weil es für die Stadt nachteilig wäre. Indem schließlich die Lemberger Bürger größere Lasten tragen, sollten sie auch mehr Rechte haben, als dies der Fall ist.312
Gerade dieses Zitat verdeutlicht, dass das aufgebaute und vermittelte Bedrohungsszenario dem Machterhalt einzelner Gruppierungen diente. Diese dilatorische Haltung der Strzelnica teilten nicht alle Ratsherren, so hatte Dr. Edward Lilien (Klub der Reform / Klub Reformy) mit einigen anderen Ratsherren eigenständig einen Reformvorschlag erstellt. Hiernach sollten alle über 24-jährigen Männer das Wahlrecht erhalten, die länger als ein Jahr in Lemberg lebten. Je ein Fünftel der Mandate sollte in jedem der fünf Stadtbezirke gewählt werden. Da die Ruthenen weitaus deutlicher über alle Bezirke, wenn auch mit Schwerpunkten um die St.-Georgs-Kathedrale und um das Stauropigianische Institut im Bereich der Innenstadt verteilt, und die Juden vor allem in fast ausschließlich jüdischen Vierteln lebten, wäre dafür gesorgt worden, dass trotz der massiven Ausweitung der Wählerschichten eine polnische Mehrheit erhalten geblieben wäre. Aber wieder gelang es dem Magistrat mit dem Präsidium an der Spitze, eine Beratung hierüber hinauszuzögern. Vorgeschoben wurde insbesondere eine notwendige innere Verwaltungsreform, da, so die kritische Bemerkung Dilos im April 1908, die Wahlordnungsreform „für die Verwaltung nicht günstig“313 sei. Im Juni 1909 verglich die Reformkommission Regelungen in 25 anderen Städten Cisleithaniens und des Auslandes. Zunächst wurde lange grundsätzlich über die Öffentlichkeit ihrer Sitzungen debattiert, sich aber dagegen ausgesprochen. Über Ergebnisse solle lediglich der Präsident informieren dürfen.314 Dilo erkannte die Taktik und kritisierte diese Beschlüsse mit der Bemerkung, dass die Ruthenen möglichst wenig Informationen erhalten sollten.315 Im Juli gab die Reformkommission bekannt, dass alle gesellschaftlichen Gruppen, die bislang keine Vertretung im Rat gehabt hätten, eine erhalten sollten. Allerdings sollten Frauen nur dann selbst wählen, wenn sie alleinstehend waren.316 Hierbei wurde ein Junktim mit der Einführung von Wahlkurien gemacht. Jedoch verzögerte sich die Debatte hierüber bis Ende des Jahres, obwohl der öffentliche Druck stärker wurde.317 Erst im November wurde der Vorschlag im Rat
312
313 314 315 316 317
„aby nie popełnić samobójstwa na sobie samem. Czteroprzymiotnikowa ustawa wyborcza wcale jego stronnictwa nie zachwyca, gdyż byłaby dla miasta niekorzystna. Zreszta mieszczanie lwowscy, ponosząc większy ciężary, powinni mieć także większe prawa, niż je mają“, GL v. 4.3.1906. Unter dem vieradjektivischen Wahlrecht verstand die GL das allgemeine, gleiche, geheime und freie (Männer-)Wahlrecht. Dilo v. 24.4.(5.5.)1909; vgl. auch GL v. 6.3. und 6.5.1909. GL v. 27.6.1909. Selbst die Vizepräsidenten wurden nicht informiert, vgl. GL v. 24.2.1910. Dilo v. 5.(18.)11.1905. GL v. 27.6.1909. GL v. 1.10.1909.
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Abb. 7 Die griechisch-katholische St. Georgs-Kathedrale, Postkarte 1916/17 (Privatsammlung H. H.-K.)
diskutiert, der wegen der Ungleichgewichtung der Stimmen und der Stärkung der Vermögenden und Gebildeten durch Kurien abgelehnt wurde, weil – so die Begründung der Ratsmehrheit – die Wahlordnung sich im Vergleich mit anderen Städten der Monarchie wegen der nur einen existierenden Wahlkurie durch den „größten fortschrittlichen und demokratischen Geist“ auszeichne.318 Hierbei ignorierten sie die Tatsache, dass, wie beschrieben, die Lemberger Wahlordnung im Vergleich zu anderen Statutarstädten eine verhältnismäßig kleine Wählerschicht schuf. Schließlich erlahmte der Schwung, was durchaus auch mit der Einstellung des Stadtpräsidenten Ciuchciński zusammenhing.319 Im Laufes des Jahres 1910 tagte zwar die Kommission und forderte im Gegensatz zur Haltung des Magistrats, dass die Ergebnisse der Volkszählung nicht abgewartet werden sollten, um die Verhältnisse in der Stadt unter nationalen, steuerlichen und konfessionellen Bedingungen zu untersuchen.320 Diese Bemerkung der Gazeta Lwowska deutet wiederum auf eine weiterhin vollzogene Verzögerungstaktik seitens der Verwaltung hin, da sie die Volkszählung in
318 „najbardziej postępowym i demokratycznym duchem“, GL v. 18.11.1909; vgl. KL v. 15.1.1905. 319 GL v. 24.2.1910. 320 GL v. 6.3.1910, v. 22.10.1910.
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der gesamten Monarchie mit dem Stichtag 31. Dezember 1910 als Vorwand für die dilatorische Haltung nutzte.321 Während dieser Debatte versuchte Stadtpräsident Ciuchciński das Hinausschieben der Reform damit zu begründen, dass sich ohnehin eine Verzögerung dadurch ergeben würde, dass die reformierte Wahlordnung noch vom Landtag bestätigt werden müsse, dieser aber wegen der Obstruktion der ruthenischen Abgeordneten nicht entscheiden würde.322 Hiermit unterstellte er letztlich den Ruthenen, dass sie selbst für die Verzögerung verantwortlich seien. Dilo stellte daher wohl zu Recht fest, dass die Ratskommission analog zum Verhalten des Landtags gegenüber der Landeswahlordnung mit allen Mitteln versuche, die Reform der städtischen Wahlordnung zu verhindern.323 Ratsherr Jan Ihnatowicz, dem Namen nach mit ruthenischen Wurzeln, charakterisierte den bisherigen Verzögerungsprozess durch die Äußerung, dass diejenigen, die sich im Rat öffentlich am vehementesten für die Reform einsetzten, sich in der Kommission gegenüber fortschrittlichen Anträgen und dem vieradjektivischen Wahlrecht „gleichgültig“ zeigten.324 Dieser Befund deutet darauf hin, dass zumindest einige Ratsherren die Wahlordnungsreform im bevorstehenden Kommunalwahlkampf instrumentalisierten, letztlich aber gegen sie waren. Seit Mitte der 1900er Jahre verlagerten sich die Schwerpunkte in den Argumentationen gegen eine Wahlordnungsreform. Wurde zunächst die Demokratisierung des lokalen Wahlrechts hinsichtlich der Sozialisten als Bedrohung empfunden, rückten nun der Konflikt mit den Ruthenen und die daraus resultierende Gefahr für den stets postulierten „polnischen Charakter der Stadt“ und damit für die polnischen nationalen Interessen in den Vordergrund. Hierin erkannten sie eine Gefahr einer Majorisierung325 des Stadtrates durch ruthenische Kräfte, die aber wegen des tatsächlichen Bevölkerungsverhältnisses nicht gegeben war. Die Darstellung von dessen Bedrohung wurde geradezu leitmotivisch und nahm legitimierende Funktionen für alle weiteren Verhandlungen im Stadtrat sowie in den Kommentaren der Presse über die Reform der Wahlordnung in Lemberg an. Erstmals artikulierte der Lemberger Stadtrat diesen Vorbehalt, wenn auch nicht direkt in Bezug auf die lokale Wahlordnungsreform, anlässlich der den Galizischen Städtetag (Wiec miast) vorbereitenden Ratssitzung im März 1906. Er diskutierte, wie sich seine Repräsentanten bezüglich der Reichswahlrechtsreform positionieren sollten. Schließlich begrüßte der Rat die Erweiterung des Wahlrechts unter der Vorausset-
321 322 323 324 325
GL v. 29.4.1910. GL v. 22.10.1910. Dilo v. 22.2.(8.3.)1910. „obojętnie“, GL v. 22.10.1910. „charakter polski miasta“, KL v. 17.7.1909.
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zung, dass „vor allem und gleichzeitig unsere [die polnischen] nationalen Interessen bewahrt und verteidigt werden müssen.“326 Mit dem sich verstärkenden Nationalitätenkonflikt wurde dieser Vorbehalt stets wiederholt. Im Namen der Reformkommission argumentierte der spätere Stadtpräsident Józef Neuman mit einer doppelten Bedeutung für die Stadt, denn es geht ihm [dem Rat] vor allem um die Aufrechterhaltung des polnischen Charakters der Stadt. Immerhin ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Lemberg polnischer Herkunft. Lemberg sollte ferner an der Spitze der nationalen Kultur stehen, und es darf keineswegs erlaubt werden, diesen polnischen Charakter zu Fall zu bringen.327
Nach dem Bericht des Słowo Polskie begründete er diese Feststellung damit, dass der Verlust des polnischen Charakters in jeder anderen Stadt nicht so gravierend wie in Lemberg, der Hauptstadt, sein würde.328 Daher unterbreitete Neuman einen Vorschlag, nach dem fünf der 100 Ratsherren von einer neuen allgemeinen Kurie gewählt werden sollten. In dieser Kurie sollten die Stimmen aller über 24-jährigen Männer, die lesen und schreiben konnten und drei Jahre ununterbrochen in der Stadt lebten, sowie der über 24-jährigen, ebenfalls so lange ununterbrochen in der Stadt lebenden Frauen mit einem Mittelschulabschluss zusammengefasst werden. Berücksichtigt man, welche Frauen überhaupt einen solchen Bildungszensus hätten bestehen können, bedeutete dies, dass hiervon im Wesentlichen Polinnen betroffen gewesen wären. Zugleich schlug die Kommission ein Pluralitätswahlrecht (Mehrfachstimmabgabe) für diejenigen vor, die den bisherigen Bildungs- und Steuerzensus erfüllten. Schließlich einigte sich die Kommission auf einen Kompromiss, nach dem die neue Kurie zehn Mandate stellen sollte.329 Ein Drittel der Kommissionsmitglieder verfasste eine Minderheitenmeinung und kritisierte insbesondere die neue „Mini-Kurie“ (kuryjka), wodurch die gegenwärtige Ungleichheit verstärkt würde. Durch die geringe Zahl der Mandate dieser Kurie wäre der ruthenische Stimmenanteil quasi neutralisiert worden, da die überwiegende Zahl der ruthenischen Stimmen für die Mandate dieser Kurie abgegeben worden wäre. Dieser Vorschlag stellte zugleich erstmals die im Statut festgeschriebene Limitierung jüdischer Ratsmandate infrage: Man dürfe andere Minderheiten nicht von der städtischen Re-
326 „przedewszystkim i równocześnie nasze narodowe interesy mają być strzeszone i bronione“, GL v. 4.10.1906; vgl. auch GL v. 12.10.1906. 327 „idziej jej bowiem przedewszystkim o zatrzymanie polskiego charakteru miasta. Wszakże we Lwowie więcej niż połowa ludności jest rdzennie polską. Lwów jak nadal powinien przodować w kulturze narodowej i nie wolno mu tego polskiego charakteru pod żadnym warunkiem utracić.“, GL v. 23.11.1910; ähnlich SP v. 22.11.1910. 328 Ebd. 329 GL v. 19.–23.11.1910.
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präsentation ausschließen, sodass diese Unterscheidung zwischen Polen und Juden aufgehoben werden müsse. Dies sei genauso gerecht wie das Frauenwahlrecht.330 Problematisch war aber für die debattierenden Ratsmitglieder und Kommentatoren die Ausgangslage, die sich aus Lembergs „demokratischer Tradition“ mit nur einer Wahlkurie ergab. Es wäre, so Słowo Polskie, einfach, eine entsprechende Änderung der Wahlordnung vorzunehmen, wenn Lemberg bereits über eine Kurienwahlordnung verfügen würde. Aber die Einführung einer weiteren Kurie würde einen Rückschritt bedeuten, sodass der Antrag schändlich sei. Einen Ausweg böte nur die Senkung des Zensus, bis irgendwann auch dieser fallen würde. Vordringlicher als eine Wahlreform sei aber die „Sauberkeit der Wahlen“.331 Die Ratsherren führten nicht nur innerhalb des Stadtrates, sondern auch während politischer Versammlungen intensive Debatten über diesen Vorschlag. Es ging dabei immer wieder um die durchaus unterschiedlichen Wege, den „polnischen Charakter“ der Stadt zu sichern. Nicht nur weil Lemberg Verwaltungshauptstadt sei, sondern auch als kulturelle Hauptstadt dienen solle, läge es im Interesse der Stadt sowie des ganzes Volkes, dass die Wahlordnungsreform nicht die Klassen und Stände entzweie, argumentierten die Nationaldemokraten während einer für alle national orientierten Gruppierungen organisierten Versammlung über die Wahlrechtsreform, bei der außergewöhnlich viele Ratsmitglieder versammelt waren.332 Deutlich wird, dass die nationaldemokratischen Ratsherren vor allem ihre kleinbürgerliche Anhängerschaft mit dieser Aussage ansprechen wollten. Allerdings sei auch die Reform der Wahlordnung erst dann beschließbar, wenn man die nationalen Verhältnisse in Lemberg genau kenne, weil man die Stadt weder der „ruthenischen Frage“ aussetzen, noch „zweifelhaften Elementen“, womit die Sozialisten gemeint waren, Mitspracherechte zuerkennen dürfe.333 Weil der Rat dem Verwaltungskörper vorstehe, müsse ein minimaler Bildungszensus eingeführt werden. Über ein solches Minimum verfüge in der Stadt jeder mit Ausnahme jener „zufließenden höchst ungebildeten Elemente“334, mit denen die in die Stadt migrierenden ruthenischen Bauern und Juden gemeint waren, die sich angeblich auch nicht um das Interesse der Stadt kümmerten. Deswegen vertraten die Nationaldemokraten das Prinzip der Pluralität (der Mehrfachstimmabgabe), damit das allgemeine Wahlrecht den nationalen und kulturellen Interessen gemäß korrigiert wird. Diese Pluralität ist schließlich die Sicherheitsklappe, sie ist das Stadttor, das den
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GL v. 23.11.1910; Dilo v. 9.(22.)10.1910. „swojej tradycji demokratycznej“, „czystość wyborów“, SP v. 31.7.1909. SP v. 19.11.1910. „kwestia ruska“, „elementów wątpliwych“, SP v. 19.11.1910. Słowo Polskie agitierte somit gegen Ruthenen und Sozialisten gleichermaßen, indem es auch die Gefahr durch einen möglichen Zusammenschluss dieser Gruppen beschwor. 334 „najciemniejsze napływowe elementy“, ebd.
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Eingang zur Stadtverwaltung vor dem Eindringen des für das nationale Interesse schädlichen Elements verteidigt.335
Daher entschied die Versammlung sich schließlich gegen das Kurienwahlsystem, um so die „Sicherung des polnischen Charakters der Stadt“ zu garantieren. Nicht nur die Nationaldemokraten argumentierten so, sondern auch Hipolit Śliwiński, Mitbegründer der linksliberalen Fortschrittlich-Demokratischen Partei (Stronnictwo Postępowo-Demokratyczne). Er betonte im Stadtrat, dass durch die Reform die „Kluft zwischen uns und dem Proletariat“ aufgehoben würde, und dass es notwendig sei, dass die Wahlordnung „Zeugnis der Kultur und Zivilisation ablegt“336. Wenn dies nicht geschehe, würden die städtische und auch die Landesrepräsentation das nationale Interesse nicht mehr verstehen. Andere linksorientierte Ratsherren wie Dr. Michał Janik vom Reformklub (Klub Reformy) sprachen sich gegen eine so minimale Reform aus, weil sie dem nationalen Standpunkt schade, weil „Pole jeder sei, der sich als Pole fühle und für Polen arbeiten will“337, denn bereits unter (dem polnischen Aufstandshelden von 1794) Tadeusz Kościuszko hätten der „polnische Bauer“ und der „polnische Jude“ gemeinsam die Ehre Polens gerettet. Auch die 70 Prozent der polnischen Bevölkerung Lembergs, die zu den Unterschichten gehörten, seien fähig zur „stärksten Hingabe und zuverlässigen Vertretung der nationalen Interessen.“338 In den weiteren Beratungen sprachen sich vor allem Vertreter der katholisch-nationalen Partei für das allgemeine, gleiche, freie und direkte Wahlrecht auch für arme Frauen aus, weil sich dies aus dem Grundsatz ergebe, dass jeder, der öffentliche Lasten und Pflichten trage, insbesondere auch das Wahlrecht erhalten solle. Mit einem abschließenden, durch lebhaften Beifall unterstützten Zitat aus dem Eintrag des polnischen Nationaldichters Józef Ignacy Kraszewski ins Goldene Buch der Stadt, dass Lemberg durch die Arbeit seiner Kinder blühen und als Feuer das Land erleuchten möge, dessen Hauptstadt es sei,339 spielte er deutlich auf die vorbildhafte nationale und durchaus missionarisch verstandene Rolle Lembergs an. Mit Bezug auf die neuen Wahlordnungen der Städte Wien340, Brünn (Brno) und Laibach, die eine tatsächliche und keine „illusorische“ Reform durchgeführt hätten, führte Dr. Filip Schleicher vom Reform-Volksklub
335
„aby prawa wyborczego skorygować odpowiednio do interesów narodowych i kulturalnych. Pluralność ta zresztą, to jest klapa bezpieczeństwa, to są rogatki, które bronią wejścia do zarządu miasta żywiołem szkodliwym dla interesu narodowego“, ebd. 336 „przy zabezpieczeniu polskiego charakteru m. Lwowa“, „przepaść między nami i proletariatem“, „złożyć dowody kultury i cywilizacyj“, GL v. 23.11.1910. 337 „Polakiem jest każdy, kto czuje się Polakiem i chce dla Polski pracować“, GL v. 23.11.1910; vgl. auch GL v. 19.–20.11.1910. 338 „chłop polski“, „żyd polski“, „zdolni do największego poświęcenia i rzetelnego zastępstwa interesów narodowych“, GL v. 23.11.1910. 339 GL v. 8.12.1910. 340 Ucakar, Demokratie und Wahlrecht, S. 286–289.
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(Klub Reformo-Ludowy) die „Sorge um das Wohl der Stadt und des Landes“ als Grund für die notwendige Reform an.341 Vizepräsident Tadeusz Rutowski betonte, dass es aber eine nationale Verpflichtung ist, die Wahlreform nicht leichten Herzens durchzuführen und öffentliche Angelegenheiten nicht zu einem riskanten Glücksspiel verkommen zu lassen342.
Es reiche nicht aus, kritisierte er, dass man ein allgemeines Stimmrecht wie Ratsherr Schleicher fordere und leere Versprechungen mache, und dass man gleichzeitig die „Sicherheit der Polonität“ der Stadt wolle: „Man muss die Mittel für diese Sicherheit hinzugeben“343, womit er entsprechende Einschränkungen forderte. Seine Sorge begründete Rutowski damit, dass die letzte Volkszählung bereits zwischen 5 bis 9 Prozent in der Stadt lebende Ruthenen ergeben habe. Zugleich sei die Zahl der „Juden, die sich auf die Brust schlagen und rufen ‚ich bin Pole‘“ gesunken und der Prozentsatz der deutschsprechenden Juden344 zugleich „von 5 auf 9 und 13 oder vielleicht sogar 14 oder mehr Prozent“ angestiegen. Daher müsse man die Volkszählungsergebnisse abwarten, denn ich [Rutowski] möchte die Rathaustüren dem Volk öffnen, aber [nur] dem polnischen Volk, [denn] ich möchte für die Zukunft [des polnischen Lembergs] arbeiten.345
Die Angst vor Überfremdung der ‚Arena Stadtrat‘ wird in seiner Aussage noch deutlicher, indem er betont, dass der Bevölkerungszuwachs Lembergs nur in den unteren nichtqualifizierten Schichten stattfände, weil dieses Element nicht auf unserem nationalen Grund steht. […] Man muss ein Gesetz schaffen, dass garantieren wird, dass Lemberg weiterhin Arsenal und Festung für eine bessere Zukunft sein wird.346
Bronisław Łaskownicki, Vertreter des Fortschrittlichen Komitees (Komitet postępowy) und Redakteur der Zeitschrift Wiek Nowy, plädierte im Namen des nationalen Interesses für eine Gleichberechtigung der Ruthenen. Die Parole, keinen Ruthenen in den Rat zu wählen, sei aus nationalen Gesichtspunkten schädlich, weil 341 342 343 344 345 346
„iluzoryczna“, „troska o dobro miasta i kraju“, GL v. 3.12.1910. SP v. 31.7.1909 bezieht anstelle von Laibach, dessen Wahlordnung gerade erarbeitet und eine vierte Wahlkurie diskutiert werde, die Linzer Wahlordnung von 1909 mit ein. „narodowym jest obowiązkiem, aby reformy wyborczej nie robić z lekkiem sercem i nie puszczać na ryzykowne hazardy rzeczy publicznej“, ebd. „zabezpieczenie polskości“, „Trzeba podać sposoby tego zabezpieczenia“, ebd. Gemeint ist: der Jiddisch Sprechenden, denn in den Volkszählungen wurde Jiddisch unter „Deutsch“ subsumiert. Hiermit bezog er sich wiederum auf die traditionellen Ängste, dass sich die Juden eher zur deutschsprachigen Kultur assimilieren könnten als zur polnischen. „się biją tu w piersi i wołając ‚ja Polak‘“, „Zatem i on się boi trochę i radby poczekać“, „Bo chce otworzyć bramy ratusza ludowi, ale polskim ludowi, chce pracować nad przyszłością“, GL v. 3.12.1910. „nie stoi na naszym gruncie narodowym. […] Należy stworzyć ustawę, która zagwarantowałaby, że Lwów będzie nadal arsenałem i twierdzą dla lepszej przyszłości“, GL v. 3.12.1910.
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die polnische Nation als stärkere, kultiviertere und menschliche als erste [den Ruthenen] die Hand im Einvernehmen reichen soll.347
Diese Argumentation unterstrich die Haltung gerade dieser Richtung, die von der mission civilisatrice348 Lembergs und damit von einer kulturellen Überlegenheit der Polen gegenüber den Ruthenen ausging.349 Diese Haltung rekurriert auf die Argumentationen, die im Rahmen der Debatten um die Assimilation der Juden und ihrer politischen Rolle im Rat in ähnlicher Weise in den 1860er Jahren geäußert wurden, indem die Ruthenen resp. die Juden über eine Einbindung für die polnische Seite ‚gewonnen‘ werden sollten. Im Zuge der Debatten machten sich jedoch auch liberalere Strömungen wie der Klub Reformy die Forderung nach Ausweitung des Wahlrechts zu eigen, weil sie darin auch das „Glück der Gesellschaft“ und den „Geist der Zeit und des nationalen Interesses“ erkannten.350 Sie strebten durch Reformen ein „verbreitertes staatsbürgerliches Bewusstsein breiter Volksmassen“351 an und wollten die arbeitenden Klassen im Rat vertreten sehen, weil sie hofften, dass sich hierdurch die städtische Wirtschaft verbessern und die Kommunalisierung weiter ausgebaut würde. Dennoch war es auch für die Liberalen ein Dogma, dass der polnische Charakter der Stadt unantastbar sei und durch die Wahlrechtserweiterung keiner Gefahr ausgesetzt werden dürfe, sodass sie alles unternehmen würden, um diesen weiterhin zu sichern.352 Da die Debatten um die Wahlrechtsreform durch die Auflösung des Stadtrates zwischen 1911 und 1913 unterbrochen worden waren, wurde die Reform der Wahlordnung zum Schwerpunkt zahlreicher politischer Agitationen des Wahlkampfes 1913. Zündstoff hierfür bot einerseits die ruthenische Resolution, die 1911 Gleichberechtigung der Ruthenen bei den Kommunalwahlen und eine gerechte Aufteilung der Mandate zwischen Polen und Ruthenen verlangt hatte.353 Andererseits wurden sie befeuert durch die Wahlordnungsreform in Krakau, die 1913 eine Kurie für die nichtsteuerzahlende männliche Bevölkerung eingeführt hatte, und nicht zuletzt durch die Debatten um
347 „Naród polski jako silniejszy, kulturalniejszy i humanitarny powinien wyciągnąć pierwszy dłoń do zgody“, GL v. 3.12.1910. 348 Vgl. Kap. 6.3. 349 Faktisch jedoch waren hiervon nur die jüdischen Oberschichten und Teile der Mittelschichten betroffen; um die Jahrhundertwende gewann der Zionismus an Kraft. Vgl. auch Friedmann, Die galizischen Juden, S. 210 f. 350 „szczęścia społeczeństwa“, „duch czasu i interesu narodowego“, so Łaskownicki in GL v. 23.11.1910. 351 „uobywatelnienia szerokich warstw narodu“, Sprawozdanie Klubu radnych „Centrum“ z czynności w radzie miasta za trzechlecie 1908–1910 [Tätigkeitsbericht der Ratsfraktion „Centrum“ für den Dreijahreszeitraum 1908–1910], Lwów 1911, S. 9. 352 Ebd., S. 9 f. In der Forderung, den polnischen Charakter der Stadt und die Polonität zu sichern, unterschieden sich Stadtrat und Nationaldemokraten nicht, vgl. SP v. 21.2.1911. Diese warfen den Liberalen jedoch vor, ihn zu gefährden, vgl. SP v. 9.1.1913. 353 Dilo v. 10.(23.)1.1911.
3.3 Verteidigung der Arena gegen Demokratisierungstendenzen und die „ruthenische Gefahr“
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eine Reform des Landeswahlgesetzes, den sog. Galizischen Ausgleich, die ihrem Höhepunkt und Abschluss Anfang 1914 zusteuerten. Zugleich trug das Erstarken des polnischen Nationalen Blocks zu einer weiteren Polarisierung in den Debatten bei. So forderte das Komitee der Techniker (Komitet Techników) eine „Politik der Verteidigung der Polonität Lembergs“,354 weil deren Verteidigung als Vorbild für das ganze Land und als entscheidend für die Zukunft Ostgaliziens zu werten sei.355 Der neue, nationaldemokratisch dominierte Stadtrat verzögerte jedoch auch die Beschlussfassung: Im Januar 1914 wurde über die Erstellung eines Wahlkatasters zur Durchführung ‚sauberer‘ Wahlen beraten, ein im März 1914 gestellter Antrag zur Verabschiedung der Wahlreform wurde abgelehnt, während bis zur nächsten Sitzung ein Kompromissvorschlag vorgelegt werden sollte.356 Nachdem erst Anfang April überhaupt eine entsprechende Kommission einberufen worden war,357 wurde bis zur Besetzung Lembergs im September 1914 durch russische Truppen dieses Thema nicht mehr vom Rat aufgegriffen. Insgesamt bildeten die Wahlkämpfe und das vergebliche, aber leidenschaftlich geführte Ringen um eine Reform der Wahlordnung wichtige Kristallisationspunkte von versicherheitlichenden Diskursen und Praktiken, die auf eine Machtsicherung der polnischen politischen Eliten zuliefen und diese legitimierten. Die Ansprüche auf politische Partizipation wurden in diesem Sinne dramatisiert dargestellt und so ein ‚Lemberger Ausgleich‘ verhindert. Diejenigen Ansprüche auf Ausweitung des Wahlrechts, die über sozialistische Forderungen und zugleich auch über die Reform des Wahlrechts auf Reichsebene erweckt worden waren, wurden seit Mitte der 1900er Jahre zunehmend durch die immer virulenter artikulierten ruthenischen Ansprüche auf Teilhabe an der Lemberger Selbstverwaltung verdrängt, die es aus Sicht des Stadtrates mit allen Mitteln abzuwehren galt. Hierbei herrschte um 1910 eine Art Minimalkonsens zwischen den polnischen Akteuren auch außerhalb der dominierenden Strzelnica, das Wahlrecht palliativ für die teilweise Beruhigung der Forderungen eines großen Teils der breiten Bevölkerungsschichten, [als] eine Etappe zur Entwicklung der politischen Rechte358,
jedoch nur der Polen, auszuweiten. Über den einzuschlagenden Weg, wie bei einer Wahlordnungsreform diese gesichert werden sollte, bestand jedoch Dissens. Abschließend wird deutlich, dass die Ratsherren sich parteiübergreifend einig waren, dass der „polnische Charakter“ Lembergs und damit die polnische politische Hegemonie in der Stadt bedroht waren, was erklärt, warum sich fast ausschließlich polnische Rats-
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„polityka obrony polskości Lwowa“, SP v. 3.1.1913. SP v. 13.1.1913 und insbesondere v. 14.1.1913 über eine Rede Grabskis bei einer Wahlversammlung. GL v. 31.1.1914 und 7.3.1914. SP v. 3.4.1914. „paljatyw do częściowego uspokojenia żądań szerokich warstw społecznych, etap na drodze rozwoju praw politycznych“, SP v. 31.7.1909.
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3 Kommunale Autonomie als Resonanzraum des polnischen Führungsanspruches
herren an den Debatten beteiligten. Sie versuchten, die ihnen zugänglichen rechtlichen Mittel zu instrumentalisieren, um ihre Arena zu verteidigen. Hierzu entwickelten sie auf allen Gebieten des „eigenen Wirkungskreises“ entsprechende Praktiken, die von passenden Diskursen begleitet wurden.
4 Die Vision umsetzen Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen Von diesem Moment an [der Sanktion des Statuts 1870] beginnt [Lembergs] umfassende, schnelle Entwicklung in allen Bereichen des kommunalen Lebens.1
Diese Feststellung des Lemberger Landtagsabgeordneten Teofil Merunowicz, der sich in seinem publizistischen Werk häufig zu Fragen der Stadtentwicklung positionierte, greift anlässlich der Allgemeinen Landesausstellung 1894 den Kern der kommunalpolitischen Selbstdarstellung und des Geschichtsnarrativs über die vergangenen knapp 25 Jahre munizipaler Autonomie auf: Erst die Autonomie habe die Entwicklung Lembergs beginnen lassen und gefördert.2 Dass dieses Narrativ nicht zuletzt auch zukunftsweisend war, zeigt sich darin, dass hinsichtlich der städtebaulichen und infrastrukturellen Entwicklung erst in der Mitte der 1890er Jahre eine intensivierte umfassende Stadtentwicklung begonnen wurde. Im Rahmen der Stadtentwicklung entfaltete der Stadtrat verschiedene Praktiken und Strategien, die unter dem Schlagwort und der Vision des „schönen Lemberg“ prägnant zusammengeführt wurden, das daher als ‚Masterplan‘ für die weitere Entwicklung interpretiert werden kann. Als wesentliche Voraussetzungen für die hier-
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„Od tej też chwili rozpoczyna się jego wszechstronny, szybki rozwój jego we wszystkich kierunkach życia komunalnego“, Teofil Merunowicz, Rozwój Lwowa w okresie samorządu [Die Entwicklung Lembergs während der Autonomie], in: Ilustrowany przewodnik po Lwowie i Powszechnej Wystawie Krajowej [Illustrierter Führer für Lemberg und die Allgemeine Landesausstellung], Lwów 1894, S. 91–97, hier: S. 91. Vgl. auch Kazimierz Ostaszewski-Barański, Pogląd na działalność reprezentacyi król. stoł. miasta Lwowa w okresie 1871–1895 [Blick auf die Tätigkeit der Repräsentation der königl. Hauptstadt Lemberg in der Zeit von 1871–1895], in: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lwów 1896, S. 53–264, hier: S. 176: Gerade die Innenstadt habe sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. So etwa auch Albert Zipper, Führer durch die Allgemeine Landesausstellung sowie durch die Königl. Hauptstadt Lemberg, Lemberg 1894, S. 6.
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4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
zu notwendige Modernisierung sah der Stadtrat das „Schaffen“ einer „Ordnung“ in Lemberg und – damit verbunden – die Verbesserung der öffentlichen Gesundheit, nicht nur weil hierdurch die Produktivität der Bevölkerung, sondern auch die „moralische Vitalität“ und damit die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung und der Fortschritt im gesamten gesellschaftlichen Leben „unserer“ Stadt gesteigert würden.3 Daher bieten sich für die Analyse neben den Verlautbarungen und Protokollen des Stadtrates sowie Tätigkeitsberichten als weitere Quellen Selbstdarstellungen wie die 1896 erschienene Festschrift Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–18954 (Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895, s. Kap. 6.2.2) an, die das kommunale Selbstbild, die Bewertung des Erreichten und daraus abzuleitende Handlungsoptionen widerspiegeln. 4.1 Das „schöne Lemberg“ als kommunales Leistungsversprechen und Vision Zu Beginn der 1890er Jahre wurden die Diskussionen über das „schöne Lemberg“ zu einem wichtigen Faktor innerhalb der kommunalpolitischen Auseinandersetzungen, insbesondere seitdem im Kommunalwahlkampf im Januar 1892 die Stadtentwicklungsziele bis zur Allgemeinen Landesausstellung von 1894 (s. Kap. 6.2.1) in den Mittelpunkt der Debatten gestellt und intensiviert wurden. Ziel müsse es sein, dass die Besucher die „besten Eindrücke“ von Lemberg erhielten.5 Neu war das Thema jedoch nicht, so hatte etwa der Landtagsabgeordnete und Publizist Teofil Merunowicz bereits 1877 die Stadtentwicklung prägnant als Dreischritt zwischen „Ordnung schaffen“, „Ver-
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„piękny Lwów“, „uporządkowanie“, „moralna tężyzna“, Szczepan Mikołajski, Działalność w Radzie miejskiej (1905–1911) i postęp sanitarny w mieście Lwowie [Tätigkeit im Stadtrat (1905–1911) und der sanitäre Fortschritt in der Stadt Lemberg], Lwów 1911, S. 3; laut eines Hinweises auf dem Titelblatt vertrat Mikołajski das Anliegen der fünf im Stadtrat vertretenen Ärzte, die sich über das Kompetenzwirrwarr der fast 80 (!) Ratskommissionen beklagten (ebd., S. 5 ff.). Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lwów 1896. Vgl. die Tätigkeitsberichte der Stadtpräsidenten: z. B. Godzimir Małachowski, Sprawozdanie Prezydenta król. stoł. miasta Lwowa z trzechletniej działalności Reprezentacyi miejskiej i magistratu 1896, 1897 i 1898 [Tätigkeitsbericht des Präsidenten der Königl. Hauptstadt Lemberg aus der dreijähigen Repräsentation der Stadt und des Magistrats 1896, 1897 und 1898], Lwów 1899; Sprawozdanie Prezydenta król. stoł. miasta Lwowa z trzechletniej czynności Reprezentacyi miejskiej i Magistratu (1893, 1894 i 1895) [Bericht des Präsidenten der königl. Hauptstadt Lemberg über die dreijährige Tätigkeit der städtischen Repräsentation und des Magistrats (1893, 1894 und 1895)], Lwów 1895. „najlepsze wrażenia“, so bei der Gründungsversammlung der Lemberger Verschönerungsgesellschaft, GL v. 16.11.1892. Hierzu gehörte auch die lockere Artikelserie „Das schöne Lemberg“ („piękny Lwów“) in der Gazeta Lwowska, die bis 1914 erschien. Jedoch stellte die „Verschönerung“ Lembergs kein grundsätzlich neues Thema dar, da bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts darüber diskutiert wurde, vgl. Prokopovych, Habsburg Lemberg, S. 19, für das Ende des 19. Jahrhunderts ebd., S. 35 ff.
4.1 Das „schöne Lemberg“ als kommunales Leistungsversprechen und Vision
149
schönerung“ und dem „allgemeinen Anstieg des Reichtums“ gekennzeichnet.6 Jedoch nahm die Diskussion über das „schöne Lemberg“ erst in den 1890er Jahren den Charakter eines visionären Leitfadens für die umfassende künftige Stadtentwicklung an. Ausdruck dieses Bemühens um eine strategisch angelegte Stadtentwicklungspolitik war die Ende 1892 gegründete Gesellschaft zur Entwicklung und Verschönerung der Stadt Lemberg (Towarzystwo rozwoju i upiększenia miasta Lwowa), zumal sie ihr Anliegen in der (kommunalpolitisch) interessierten Öffentlichkeit stets präsent hielt. Ihre Gründung durch engagierte (polnische) Bürger wurzelte ursprünglich in einer gewissen Kritik an den bisherigen, als unzureichend empfundenen Aktivitäten des Stadtrates, weil die Repräsentanten der Stadt „untätig“ seien und der Stadtrat dies mit der „Formalität“ fehlender Mittel begründe. Der Gründungsaufruf kritisierte, dass dies eine „schlecht angewandte Sparsamkeit“ sei. Er betonte, dass weder die Wünsche der Einwohner erfüllt noch zeitgemäße Anlagen geplant seien, die dem „Fortschritt der Zeit“, den ästhetischen und materiellen Anforderungen entsprächen, welche den Aufenthalt in der Stadt angenehm machten. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass etwa in Form von „Stadt-Verschönerungs-Vereinen“ das Zusammenwirken von Bürgerschaft und Stadtverwaltung schon seit Langem in den Ländern vorkomme, die auf einer „höheren Ebene der Kultur“ stünden. Da in Warschau, Krakau, Przemyśl, Biala und anderen Städten schon längst solche Vereine gegründet worden seien, sei es zweifellos notwendig, einen solchen Verschönerungsverein auch in Lemberg zu begründen.7 Trotz und gerade wegen der Kritik an den bisherigen kommunalpolitischen Leistungen agierte diese Gesellschaft nicht losgelöst von der Kommunalpolitik (und von der Landespolitik). Deutlich wird dies darin, dass der Magistrat für die Gründungsversammlung mit über 100 teilnehmenden Personen den Ratssaal zur Verfügung stellte und die Versammlung beschloss, Ratsherren in den Vorstand zu wählen.8 Gerade diese ursprünglich – modern ausgedrückt – zivilgesellschaftliche9, von unzufriedenen Lemberger Bürgern initiierte Vereinigung traf das Interesse der lokalen (polnischen) Mittel- und Oberschichten, da sich neben zahlreichen Bürgern wie dem Eigentümer der Gazeta Narodowa, Beamten, Kaufleuten und Hauseigentümern auch Vertreter der Landes- und Kommunalpolitik beteiligten, sodass die Vereinigung
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„uporządkowanie“, „upiększenie“, „ogólny wzrost bogactwa“, Teofil Merunowicz, Rozwój miasta Lwowa [Die Entwicklung der Stadt Lemberg], Lwów 1877, S. 5, 36. Bereits seit Annexion des Landes wurde eine städtebauliche Verschönerung bei der österreichischen Verwaltung thematisiert, vgl. Markian Prokopovych, The Lemberg Garden. Political Representation in Public Parks during Habsburg Rule, in: East Central Europe 33, 2006, S. 73–99, hier: S. 79. Bereits 1871 wurde von Ratsherren die Verschönerung der Stadt gefordert, DALO, f. 3, op. 1, spr. 2640, Bl. 4; vgl. auch DALO, f. 3, op. 1, spr. 3757, Bl. 15 ff.; GL v. 28.12.1892 und v. 13.1.1893. „bezczynnymi“, „formalność“, „źle zastosowana oszczędność“, „postęp czasu“, „na wyższym szczeblu kultury“, GL v. 26.6.1892. GL v. 13.12.1892. Zur Rolle von zivilgesellschaftlichen Vereinigungen im Überblick: Janowski, Galizien.
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4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
287 Gründungsmitglieder hatte.10 Insgesamt war sie von Beginn an zu einem ‚langen Arm‘ politischer Interessenvertretung und zu einem Mittel geworden, Expertise von außen, wie etwa die des Ingenieurs und Professors an der Technischen Hochschule Julj[i]an Zachariewicz [Zacharjewicz, Zacharyewicz], aktiv in die Stadtentwicklung einzubinden und die Bürger für die Entwicklung ihrer Heimatstadt zu mobilisieren. Die Existenz und Aktivitäten des Verschönerungsvereins waren hierdurch nicht nur Ausdruck einer aktiveren Stadtentwicklungspolitik, sondern provozierten sie gleichermaßen, weil sich die im November 1892 gegründete Verschönerungsgesellschaft in der Rolle des Initiators und Beraters des Stadtrates sah. Ihr kurzfristiges Ziel war es daher, die Stadt bis zur Allgemeinen Landesausstellung zu entwickeln; langfristig war sie bestrebt, „bei den Stadtvätern den Geist des Fortschritts zu wecken […], und dass mit der Zeit eine gesunde und schöne Stadt entsteht: das schöne Lemberg.“11 Aus dieser prägnanten, aber zugleich visionären Aufgabenbeschreibung entwickelte die Verschönerungsgesellschaft u. a. als Aufgabe, neue Anpflanzungen zu fordern und alte zu schützen, Denkmäler für um Land und (polnische) Nation verdiente Männer zu errichten, den Bau von Wasserleitungen und Springbrunnen voranzutreiben, Teiche zu erweitern, Wegweiser zu errichten, den Bau von Straßenbahnen und anderer Kommunikationsmittel zu erreichen und sich für die betreibenden Aktiengesellschaften um steuerliche Ermäßigungen einzusetzen.12 Zugleich aber sah sich der Verschönerungsverein als Konservator von Gebäuden, die vor Verfall oder Zerstörung bewahrt werden mussten.13 Das Programm dieser Gesellschaft entwarf eine grundlegende Vision einer modernen, aber dennoch national-traditionsbewussten Stadt, zu der moderne urbane Elemente wie Bänke und Kioske genauso gehörten wie die nie realisierten Projekte eines zoologischen Gartens und eines Aquariums, die zu den urbanen Bildungseinrichtun-
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GL v. 16.11. und 17.12.1892. In den Gründungsvorstand berufen wurden u. a. der stellvertretende Landesmarschall Antoni Jaxa Chamiec, der stellvertretende Stadtpräsident Dr. Zdzisław Marchwicki, aber auch der Ratsherr und Landtagsabgeordnete Dr. Bernard Goldmann, der Landtagsabgeordnete Teofil Merunowicz, weitere Ratsherren, aber auch Architekten, der Maler Jan Styka, vgl. GL v. 14.4.1893. 1912 waren im Vorstand u. a. die stellvertretenden Stadtpräsidenten Dr. Tadeusz Rutowski und Leonard Stahl, Stadtarchivar Dr. Aleksander Czołowski sowie der Bauamtsleiter Ignacy Drexler vertreten, vgl. Miesięcznik artystyczny [Künstlerische Monatsschrift] 2, 1912, Nr. 7, S. 60. „budzący wsród ojców miasta duch postępu […] że z czasem powstanie miasto zdrowe i piękne: piękny Lwów“, ebd. Vgl. auch das Statut Towarzystwa rozwoju i upiększenia miasta Lwowa [Statut der Gesellschaft zur Entwicklung und Verschönerung der Stadt Lemberg], Lwów 1892. DzP v. 26.6.1892. GL v. 16.11. und 19.11.1892; vgl. etwa auch den Jahresbericht für 1911: Sprawozdanie wydziału Towarzystwa dla Upiększenia miasta Lwowa i Okolicy za rok 1911 [Bericht der Abteilung der Gesellschaft für die Verschönerung der Stadt Lemberg und Umgebung für das Jahr 1911], Lwów 1912, S. 14. Da der genannte Bericht der erste dieser Gesellschaft ist, stellt sich die anhand der Quellenlage nicht beantwortbare Frage, ob es sich um den 1892 gegründeten Verein handelt oder ob er 1911 wiederbelebt wurde.
4.1 Das „schöne Lemberg“ als kommunales Leistungsversprechen und Vision
151
gen gezählt wurden.14 Wesentliches Ziel der Verschönerung Lembergs war daher im Allgemeinen, es zu einer „großstädtischen Bedeutung“ zu führen, und als Hauptstadt „natürliche Metropole“ von industrieller, kommerzieller, wissenschaftlicher und (polnisch-)nationaler Bedeutung zu werden.15 Daher forderte beispielsweise der Jahresbericht der Verschönerungsgesellschaft für 1911 zwei grundlegende, sich gegenseitig bedingende Charakteristika gegenwärtiger Bauvorhaben sowohl bei weltlichen als auch sakralen Gebäuden ein: Alle Neubauten sollten einen modernen Stil haben und zugleich einheimisch und polnisch sein.16 Der Stadtrat machte sich diese grundsätzlichen Zielsetzungen zu eigen. Somit war es ausgesprochenes Ziel der Lemberger Kommunalpolitik, sich als polnische und zugleich europäische Stadt auf der Höhe der Zeit zu positionieren. Es ging mit Merunowicz’ Worten darum, dass die Maßnahmen zur Stadtentwicklung und des Ordnungschaffens im „wirklich europäischen Stil“ vorgenommen würden.17 Überlagert wurde dieses Bestreben von der in allen ostmitteleuropäischen Nationalbewegungen vorhandenen Vorstellung, dass gerade die Demonstration (kommunaler) Leistungsfähigkeit und die Anschlussfähigkeit an die (west-)europäische Moderne offenbaren würden, wie potent die eigene Nation sei. Ein Ausdruck dieses Bestrebens war beispielsweise 1909 der Versuch, den öffentlichen Raum nach einem europäischen Idealbild zu gestalten, indem der Magistrat anwies, dass Waren nur noch in Schaufenstern auszulegen seien, aber Güter nicht mehr durch „östliche“, „kleinstädtische“ Formen (d. h. wie in den jüdischen schtetlech) angepriesen und keine rechtwinklig an den Wänden abstehende Beschilderungen angebracht werden durften.18 Über diese Prämissen wurde die Entwicklung Lembergs auf allen Ebenen des kommunalen Lebens als genuin polnische Leistung interpretiert. Es ging den Repräsentanten der Stadt darum, den Entwicklungsvorsprung anderer Städte aufzuholen und zu belegen, dass vor allem das durch die kritischen Schilderungen Franz Kratters19 und
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Zu den zoologischen Gärten als hybride Räume der Moderne: Helen Cowie, Exhibiting Animals in Nineteenth-Century Britain: Empathy, Education, Entertainment, Basingstoke 2014. „wielkomiejskiego znaczenia“, „naturalnej metropolii“, ZNiO, PR, 13405/III, Bl. 72. Sprawozdanie wydziału Towarzystwa dla Upiększenia 1912, S. 14. Vgl. zu Zachariewicz’ Biografie und dem mit seinem Lebensweg verbundenen Wissenstransfer: Bogdan Tscherkes, Julian Sacharijewytsch und der Einfluß österreichischer Architekturvorbilder in Galizien, in: Hanns Haas / Hannes Stekl (Hrsg.), Bürgerliche Selbstdarstellung. Städtebau, Architektur, Denkmäler, Wien etc. 1995, S. 129–144. „uporządkowanie“, „w stylu prawdziwie europejskim“, Merunowicz, Rozwój Lwowa, S. 96. Diese Maßnahmen richteten sich gegen den vorwiegend jüdischen Kleinhandel. Vgl. Anna Veronika Wendland, Stadthygienische Interventionen, Wohnen und Konsum in Wilna und Lemberg 1900–1930, in: Alena Janatková / Hanna Kozińska-Witt (Hrsg.), Wohnen in der Großstadt. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich, Stuttgart 2006, S. 271–296, hier: S. 292. Franz Kratter, der 1795 Leiter der deutschsprachigen Bühne in Lemberg wurde, kritisierte in seinem schriftstellerischen Werk schonungslos, aber stereotyp die herrschenden Zustände in Galizien, die wegen dieser offenen Darstellung der Missstände Aufsehen erregten. Franz Kratter, Briefe
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4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
Stanisław Szczepanowskis20 vermittelte Bild über die ärmlichen und rückständigen galizischen Verhältnisse auf Lemberg nicht zuträfen. Daher war für alle kommunalpolitischen Akteure das „schöne Lemberg“ common sense, Ansporn, Leistungsversprechen und Vision zugleich. Das grundsätzliche, immer wiederkehrende Argument hierfür war,21 dadurch das „Gemeinwohl“ (dobro ogólne/wspólny ogół) zu fördern, d. h. ein gesundes Leben mit den Qualitäten damaliger Urbanität zu schaffen und zu sichern. 4.2 Investitionspolitik anstelle patrimonialer Sparsamkeit als Voraussetzung Die kommunalpolitischen Praktiken und Maßnahmen zur Schaffung des „schönen Lemberg“ fanden einerseits vor dem Hintergrund des stetigen demografischen Wachstums der Stadt (s. Tab. 2), andererseits im Rahmen einer sich ständig personell und hinsichtlich der Übernahme von neuen Aufgaben erweiternden Stadtverwaltung22 sowie nicht zuletzt auf Basis eines stets unausgeglichenen Budgets statt. Daher ist es an dieser Stelle angezeigt, die finanzpolitischen Grundlagen des kommunalpolitischen Handelns wenigstens knapp zu erläutern, weil sich gerade durch die Finanzpolitik wichtige Priorisierungen ergeben. Die Stadtkasse glänzt durch Leere, die Güter sind spottbillig veräußert, die Wälder sind brutal ausgeholzt und die städtischen Immobilien sind beschmutzt worden23,
fasste der revolutionäre Bürgermeister Michał Gnoiński bereits im kurzlebigen Bürgerausschuss 1848 die Finanzlage der Stadt Lemberg prägnant zusammen und verwies darauf, dass die vormalige kommunale Vermögensverwaltung durch Staatsbeamte diese ruinöse Lage herbeigeführt hatte. An dieser Stelle kann nicht diskutiert werden,
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über den jetzigen Zustand von Galizien. Ein Beitrag zur Statistik und Menschenkenntnis, Leipzig 1786. Stanisław Szczepanowski schuf mit seiner Publikation 1888 das Bild des „elenden“ Galizien, vgl. Szczepanowski, Nędza Galicji; vgl. auch Kowalczuk, Rozwój, S. 351, und Trencsényi/Janowski/Baár u. a., History, S. 348 f. Anna Mazanik, Sanitation, Urban Environment and the Politics of Public Health in Late Imperial Moscow, phil. Diss. Budapest 2015, DOI: 10.14754/CEU.2015.07 (1.4.2019), S. 5 ff., verweist auf Mary Douglas (Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo, London etc. 1996, S. 2, S. 36) und hebt die diskursive Bedeutung und symbolische Aufladung entsprechender Diskurse hervor, die allgemeine Ideen der sozialen Ordnung reflektieren. Vgl. auch Dieter Schott, Europäische Urbanisierung (1000–2000). Eine umwelthistorische Einführung, Köln 2014, S. 247, der auf die Bedeutung der „öffentlichen Gesundheit“ für die gesellschaftliche Reformdebatte hinweist. Daher bildet die spätestens jedes Jahrzehnt anstehende erneute Reorganisation des Magistrats und – davon abhängig – die Aufgabenverteilung der einzelnen Ratssektionen ein stets präsentes, an dieser Stelle jedoch nicht weiterführendes Problem. „Kasa miejska świecąca pustkami, dobra za bezcen wypuszczone, lasy brutalnie trzebione i walące się realności miejskie“, Ostaszewski-Barański, Pogląd, S. 87.
4.2 Investitionspolitik anstelle patrimonialer Sparsamkeit als Voraussetzung
153
inwiefern die veränderte Bedeutung der Städte in der Rzeczpospolita und die Stadtflucht aus Lemberg im 18. Jahrhundert ebenfalls dazu beigetragen hatten. Es kann aber festgestellt werden, dass dieser Befund Gnoińskis und sein folgender Aufruf zu einer „energischen Arbeit am Aufbau der teuren Stadt aus den Ruinen“24 geradezu leitmotivisch für die Politik des autonomen Stadtrates wurden, die finanziell desaströse Lage der Stadt aber noch verstärkten, statt sie zu verbessern. Tab. 4 Übersicht über die Steigerung des städtischen Budgets (nach Jahresabschluss) in Gulden (bis 1892) und Kronen25 Jahr
Einnahmen
Ausgaben
Höhe der Anleihen
1850
634.008
518.902
k. A.
1860
1.013.400
1.030.009
1872
790.157
817.374
1880
1.356.358
2.134.808
k. A.
1890
1.352.034
1.291.127
k. A.
1900
5.628.302
5.625.000
22.221.736
1910
7.717.249
7.723.207
k. A.
1913
10.315.496
10.303.790
46.970.932 (1913)
k. A. 1.056 (1873)
Bereits der erste autonome Haushalt wies ein Defizit von rund 230.000 Gulden auf, sodass sich bereits in jener Phase zwei haushaltspolitische Lager im Stadtrat gegenüberstanden, die bis in die 1890er Jahre die Finanzdebatten prägen sollten: Das eine wollte in Tradition der vormaligen unpolitischen kommunalen Vermögensverwaltung den städtischen Haushalt wie einen Privathaushalt führen, d. h. dieses Lager war bestrebt, einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen und möglichst keine weiteren Schulden zu machen. Mögliche Anleihen wären der „Ruin der Stadt“ und eine „wirtschaftliche Unbesonnenheit“.26 Die Gegner solcher Anleihen betonten zudem, dass dies auch ein mangelndes Vertrauen in die eigenen Kräfte hervorrufen könne, was wiederum die Entwicklung der Stadt bedeutend verzögern würde.27 Dagegen sah die zweite Gruppe die Notwendigkeit, die kommunalen Finanzmittel neben den Steuereinnahmen über hohe 24 25
26 27
„energicznej pracy nad podźwignięciem drogiego grodu z ruiny“, ebd. Stanisław Głąbiński, Finanse st. m. Lwowa i projekt budżetu [Die Finanzen der Hauptstadt Lemberg. Budgetentwurf], Lwów 1901, S. 24–30, 98, 113 f.; GL v. 21.3.1914; Podrzęcznik statystyki Galicji [Statistisches Handbuch für Galizien] 7, 1904, S. 294; 9, 1913, S. 330; Rocznik Statystyki Galicyi [Statistisches Jahrbuch für Galizien] 3, 1889–1891, S. 302; 4, 1892–1893, S. 368. Teilweise unterscheiden sich die Angaben deutlich. Die Währungsumstellung von Gulden zur Krone fand 1892 mit einem Umrechnungskurs von 1:2 statt; bis 1900 blieb der Gulden Zahlungsmittel. „ruiny miasta“, „nieprzezorność gospodarcza“, GL v. 24.9.1873. Ostaszewski-Barański, Pogląd, S. 116.
154
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
Anleihen zu vergrößern, um städtische Investitionen voranzubringen und dadurch die notwendigen Grundlagen für die Stadtentwicklung zu schaffen. Dass diese Haltung noch eine Minderheitenmeinung in der Bevölkerung war, zeigten die Wahlen 1880, da mehrheitlich Ratsherren aus der Gruppe der Gegner einer Verschuldung gewählt wurden.28 Diese Gruppe behielt bis in die 1890er Jahre die Mehrheit im Rat. Um wenige notwendige Investitionen wie den Bau des Franz-Josephs-Gymnasiums, einer Markthalle und eines neuen städtischen Schlachthofs mit kleineren Krediten überhaupt finanzieren zu können,29 beschlossen sie in jener Zeit vor allem Steuererhöhungen resp. -zuschläge,30 etwa durch die Erhöhung verschiedener, bereits erheblicher Abgaben auf Konsumgüter und auf städtische Dienstleistungen, durch die Erhebung einer kommunalen Mietzinssteuer (1874) und weitere kommunale Steuerzuschläge (188231). Allerdings musste trotz allem schließlich eine Anleihe über eine Million aufgenommen werden (1889).32 Eine erste große Anleihe über zehn Millionen Kronen (1894) hatte eine eigens eingerichtete Finanzkommission mit Vertretern aller anderen Ratskommissionen für die einstimmige Annahme im Stadtrat vorbereitet, weil schließlich klar geworden war, dass die dringend erforderlichen sechs Schulen für 4.800 Schüler und Kasernen für 12 Kompanien nicht hätten gebaut werden können. Weil die Aufnahme von Anleihen finanzpolitisches Neuland für alle Beteiligten war, hatte sich zuvor der Stadtpräsident vom Prager Bürgermeister über das Vorgehen bei einer hohen Kreditaufnahme erkundigt, um keine Ablehnung der Landes- und Reichsbehörden zu riskieren.33 Die Anlei28
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30 31
32
33
1882 war das einträgliche Recht der Propination erloschen, mit dem die Stadt eine Abgabe auf alkoholische Getränke erheben konnte. Die Akzise als vom Staat gepachtete Konsumsteuer wurde dagegen bis zum Ersten Weltkrieg erhoben. Vgl. auch den Rechenschaftsbericht von Godzimir Małachowski, Świetna Rado! [Geehrter Rat!], Lwów 1899, S. 4. Sprawozdanie z czynności Reprezentacyi i Urzędów Gminy król. stoł. miasta Lwowa w okresie wyborczym 1877 do 1879 pod prezydencją Aleksandra Jasińskiego [Tätigkeitsbericht der Repräsentation und der Ämter der Gemeinde der Königl. Hauptstadt Lemberg in der Kadenz von 1877 bis 1879 unter der Präsidentschaft von Aleksander Jasiński], Lwów 1881, S. 15. Ebd., S. 103 f. Daher ist auch Sroka, Rada miejska, S. 132, nicht zuzustimmen, der für die verspätete Kreditaufnahme die zunächst anstehende Reorganisation des Magistrats in den 1870er Jahren verantwortlich macht. Der Stadtrat beschloss einen Steuerzuschlag von 20 Prozent auf die direkten Steuern; zum Vergleich: Wien erhob 30 Prozent, Prag 10–15 Prozent und Salzburg, Graz, Laibach und Innsbruck 20 Prozent. Von den 6.230 galizischen kleineren Gemeinden erhoben 308 5 Prozent, 1.057 10 Prozent, 1.739 20 Prozent, und alle übrigen 50 und mehr Prozent Zuschläge, vgl. ebd., S. 104 ff. Haupteinnahmequellen für den Magistrat waren nach diesem Bericht (ebd., S. 115) Konsumabgaben, die Mietsteuer, Steuerzuschläge auf feste Steuern und Konsumsteuern, Maut und besondere Abgaben für Gemeindezwecke. Darüber beantragte Lemberg beispielsweise 1892 bestimmte Erleichterungen resp. Zuschüsse aus der Reichskasse, beispielsweise in Bezug auf Einquartierungen. Vgl. Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, Teil 3: Abt. 3 Das Ministerium Buol-Schauenstein 3. März 1857–29. April 1858, Wien 2014, S. 101 f. GL v. 26.6.1892. Vgl. auch DALO, f. 3, op. 1, spr. 3902, Bl. 1–14 mit einem genauen Bericht, wie Prag und Wien die Sanierung der Stadt finanzierten; Sprawozdanie komisyi budżetowej w sprawie planu inwestycyi konwersji długów i zaciągnięcia w tych celach pożyczki w kwocie 10 milionów
4.2 Investitionspolitik anstelle patrimonialer Sparsamkeit als Voraussetzung
155
he galt als „Schwelle für eine neue Ära der Entwicklung“34, auch wenn sie teilweise zur Umschuldung gedacht war, da seitdem die kommunale Verschuldung nicht mehr als kommunalpolitisches Tabu, sondern als Möglichkeit verstanden wurde, notwendige Investitionen durchzuführen, während erhöhte Steuerlasten, die nur im Konsum- und Mietbereich möglich gewesen wären, gerade die Unterschichten betroffen hätten. Seit dieser ersten umfangreichen Kreditaufnahme verfolgte der Stadtrat eine deutlich offensivere Investitionspolitik:35 Er beschloss immer wieder hohe Anleihen zur Durchführung kommunaler Investitionen,36 so wurden etwa 1908 zehn Millionen Kronen für die Erweiterung der Straßenbahn37 und weitere 14 Millionen Kronen für die Realisierung des Investitionsprogrammes wie die Erweiterung des Schlachthofes38, den Bau von Markthallen, des Leichenschauhauses, von Volksbadeanstalten, aber auch für die Erweiterung des Gaswerks und zum Bau von weiteren Schulen aufgenommen.39 Seit der finanzpolitischen Zäsur Mitte der 1890er Jahre wurde daher nur noch über die Höhe der Verschuldung debattiert, sodass die kommunale Verschuldung zu einem Mittel der aktiven Stadtentwicklungspolitik geworden war. Zur kommunalen Investitions- und Finanzpolitik gehörte es auch, dass die Stadt 1899 das Gaswerk von der Dessauer Gasgesellschaft40, den elektrischen Straßenbahnbetrieb (1896) und nicht zuletzt das von Beginn an (1894) im Eigenbetrieb geführte Elektrizitätswerk41 übernahm. Der Stadtrat sah, wie überall in Europa, in diesen Ele-
34 35 36 37
38
39 40
41
złotych czyli 20 milionów koron [Bericht der Budgetkommission in der Angelegenheit eines Investitionsplanes zur Konversion von Schulden und der für diese Zwecke aufzunehmenden 10 Millionen Gulden- oder 20 Millionen Kronen-Anleihe], Lwów 1894. „u progu nowej ery rozwoju“, ebd., S. 127. Bei dem Beschluss waren rund 6,3 Mio. für Investitionen eingeplant worden; der Rest sollte für Umschuldungen genutzt werden. Vgl. ebd., S. 125 ff. Etwa wurde 1902 die Aufnahme einer Anleihe von 20 Mio. kr. diskutiert, GL v. 10.7.1902. Z. B. LGuVBl. Nr. 68/1900. LGuVBl. Nr. 23/1908. Die Straßenbahn wurde 1907 von 8,3 km auf 10,9 km erweitert, 1910 umfasste das Netz bereits 23,6 km und 1914 24,4 km; befördert wurden 3.222.000 Passagiere im Jahr 1895, 1900 4.726.000, 1905 8.149.000, 1910 20.886.000 und 1914 24.075.000 Passagiere; vgl. Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 102 f. Bereits die Errichtung eines städtischen Schlachthofes und einer Markthalle 1876 zeigt die Orientierung der Ratsherren an anderen europäischen Städten (Ostaszewski-Barański, Rozwój, S. 150). Jedoch war spätestens seit Mitte der 1890er Jahre klar, dass dieser Schlachthof hinsichtlich der Hygiene und auch der Größe vollkommen unzureichend war. DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 3. LGuVBl. Nr. 128/1908. Gerade die Waschgelegenheiten in solchen Badeanstalten waren eine Notwendigkeit für die Körperpflege ärmerer Menschen, vgl. Mikołajski, Działalność, S. 30. GL v. 22.10.1897; die Dessauer Gasgesellschaft (Towarzystwo Dessauskie) hatte 1858 einen Betrieb zur Unterhaltung der Gasbeleuchtung in Lemberg gegründet. Etwa die GN v. 7.7.–10.7.1871 diskutierte bereits über die Vorteile städtischer Gaswerke. Jedoch ging es erst zum 1.1.1899 in städtischen Besitz über, GL v. 20.4.1899. Zu den Einnahmen durch die städtischen Güter: Dobra Gminy król. stoł. miasta Lwowa. Pogląd na ich historię, gospodarstwo i etnografię [Die Güter der Gemeinde der königl. Hauptstadt Lemberg. Blick auf ihre Geschichte, Wirtschaft und Ethnografie], Lwów 1894. Durch den Theaterbau wurde es erheblich erweitert, schließlich nochmals 1907/1910. Vgl. M. Altenberg / S. Kozłowski, Działalność elektryfikacyjna miasta Lwowa [Die Tätigkeit zur Elektrifizierung
156
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
menten des „Munizipalsozialismus“42 eine Möglichkeit, nichtsteuergenerierte Einnahmen für den kommunalen Haushalt zu erwirtschaften.43 Sroka beschreibt trotz dieser Verschuldungspolitik die Lemberger Ratspolitik um 1900 als vorsichtig und auf Sicherheit bedacht, weil im Vergleich zu anderen Städten der Monarchie die Schuldenquote relativ gering war und etwa Prag und Wien erheblich mehr und teurere kreditgestützte Investitionen tätigten.44 Der Haushalt blieb in der Regel stets defizitär, auch wenn sich der Stadtrat bei den laufenden Ausgaben äußerst sparsam verhielt, wie der Berichterstatter zur Haushaltsplanaufstellung 1904 betonte.45 Nicht nur die Aufgaben des eigenen Wirkungskreises belasteten den Haushalt (Tab. 5), sondern auch die des übertragenen, weil das Land diese Aufgaben nicht oder nur unzureichend erstattete, nicht zuletzt wegen seiner eigenen schlechten Finanzsituation. Es war wegen der Übernahme staatlicher Aufgaben ebenfalls unterfinanziert, sodass Lemberg wie alle übrigen Gemeinden auch letztlich das ‚letzte Glied‘ der ‚Administrationskette‘ war.46 Tab. 5 Ausgaben für die wichtigsten kommunalen Aufgabenfelder 1870–1914 in Kronen47 Verwaltung
Straßen, Pflaster, Gärten
Stadtreinigung Kanalisation
Wohltätigkeit Spitäler
Bildung
1870
252.993
230.218
100.100
103.116
102.620
1880
513.794
210.546
106.958
190.438
362.948
1890
679.006
276.182
144.078
221.594
624.736
1900
881.689
474.157
284.202
267.799
624.736
1910
1.431.709
535.615
632.709
678.455
1.933.092
1914
1.887.806
1.061.819
905.919
970.602
2.366.321
42
43 44 45 46 47
der Stadt Lemberg], Lwów 1937, S. 3 ff. Zu den größten habsburgischen Städten: Gerhard Melinz, Gas und Elektrizität als Elemente „städtischer Leistungsverwaltung“? Kommunalisierungsprozesse und -strategien in Wien, Prag und Budapest im Kontext von politischen und ökonomischen Interessen (1860–1918), in: Dieter Schott (Hrsg.), Energie und Stadt in Europa. Von der vorindustriellen „Holznot“ bis zur Ölkrise der 1970er Jahre, Stuttgart 1997, S. 141–168. Zum Begriff des Munizipalsozialismus: Richard H. Tilly, Städtewachstum, Kommunalfinanzen und Munizipalsozialismus in der deutschen Industrialisierung: eine vergleichende Perspektive 1870–1913, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beiträge zur Geschichte der „Sozialstadt“ in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1995, S. 125–152, hier: S. 128. Vgl. GL v. 30.5.1892, in einem Bericht über den Städtetag in Wien, wo diese Möglichkeit ausführlich diskutiert wurde. Vgl. auch Głąbiński, Finanse, S. 58, mit einer Übersicht der hierdurch generierten Einnahmen. Sroka, Rada miejska, S. 130 f. GL v. 23.3.1904. Vgl. Hans-Peter Hye, Strukturen und Probleme der Landeshaushalte, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII Verfassung und Parlamentarismus, Teilbd. 2 Die regionalen Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 1545–1592. Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 100.
4.2 Investitionspolitik anstelle patrimonialer Sparsamkeit als Voraussetzung
157
Hierin spiegelt sich grundsätzlich die Finanzlage aller österreichischen Städte wider, wie etwa auf dem Städtetag in Wien 1901 betont wurde:48 Die Unterfinanzierung des Lemberger Haushaltes basierte auf dem grundlegenden Problem, dass bereits Mitte der 1890er Jahre 82 Prozent der erledigten Aufgaben dem übertragenen und nur 18 Prozent dem eigenen Wirkungskreis zugerechnet werden mussten.49 Lemberg erhielt für erstere keine Erstattungen. 1901 betonte Ratsherr Stanisław Głąbiński als Berichterstatter der Haushaltskommission, dass die Statutarstädte dem Reich Arbeit abnehmen sollten (womit er die Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises bezeichnete). Dafür würden sie kein entsprechendes Finanzinstrumentarium an die Hand bekommen, zumal sich zwischen 1890 und 1897 die finanziellen Aufwendungen für Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises um etwas mehr als 80 Prozent vergrößert hätten. Beispielsweise musste die Stadt die staatliche Polizei in Lemberg zu 50 Prozent unterhalten, hatte aber keinerlei Weisungsbefugnis.50 Gerade die neue Generation der Lemberger Ratsherren, die in den 1890er Jahren erstmals ihr Ratsmandat angetreten hatte, zeigte ein verändertes finanzpolitisches Bewusstsein. Hierbei spielt innerhalb des Kreises städtischer kommunalpolitischer Akteure der gesellschaftliche Wandel insofern eine Rolle, als sich das patrimoniale Verständnis als „Stadtväter“ und „Hausherren“ hin zu einem modernen Verständnis dieses Amtes als politische Vertreter der städtischen Bevölkerung gewandelt hatte. Im Besonderen lässt sich diese veränderte Haltung damit erklären, dass der Stadtrat seine Position als Vorbildrolle für die übrigen Städte Galiziens und als polnische Ersatzhauptstadt auffasste, zumal die Stadt zum galizischen Sitz der wichtigsten Korporationen und Berufsverbände wie der Industrie- und Handelskammer sowie sonstiger Gesellschaften geworden war. Deshalb begründete Ratsherr Bolesław Lewicki im März 1914 die offensive Haushalts- und die Investitionspolitik damit, dass Lemberg eine besondere Bedeutung für die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Aufgaben habe.
48 49 50
GL v. 27.6.1903. Ostaszewski-Barański, Rozwój, S. 238 f. Vgl. Hołuj, Samorząd. Nach GL v. 1.12.1893: Fast 82 Prozent der Aufgaben seien dem übertragenen Wirkungskreis zuzurechnen. Głąbiński, Finanse, S. 2, 85: 1901 waren 212 Polizisten in Lemberg eingesetzt worden, davon gingen tagsüber 24 und nachts 28 Personen auf Streife, die übrigen würden Verwaltungsaufgaben leisten, wodurch die „Verteidigung der öffentlichen Sicherheit geradezu illusorisch“ („ochrona bezpieczeństwa publicznego wprost iluzoryczną“) sei. Jegliche Verbesserung würde jedoch das Budget mehr belasten, zumal die Städte, die eine eigene Polizei unterhielten, mehr dafür ausgeben würden. Die Zahl der Polizisten wurde 1913 auf 258 erhöht, vgl. Edward Strasburger, Gospodarka naszych wielkich miast. Warszawa, Łódź, Kraków, Lwów, Poznań [Die Wirtschaft unserer großen Städte. Warschau, Lodz, Krakau, Lemberg, Posen], Kraków 1913, S. 337. Ebd., S. 334 f., weist darauf hin, dass in Lemberg und Krakau die Polizei zur Militär- und nicht zur Zivilverwaltung gehörte. Dies war für den Stadtrat (GL v. 16.1.1905) gerade wegen der Zahl der Diebstähle ein erhebliches Sicherheitsproblem, in das er nicht eingreifen konnte. Nach der Jahrhundertwende bemühte er sich vergeblich, entsprechende Kompetenzen übertragen zu bekommen.
158
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
Lemberg verstand immer die riesige Verantwortung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche auf ihm liegt. So holte es auch die alten Sünden aus der vorkonstitutionellen und vorautonomen Zeit auf. Es musste mit dem Fortschritt der anderen Städte mithalten, indem es in wahnsinnigem Tempo ging und sich bemühte zu zeigen, dass es die gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgaben versteht. Man muss nicht hinzufügen, dass Lemberg seiner Tradition einer polnischen Stadt treu blieb, in der sich andere Nationalitäten (und es waren immer einige) dennoch frei entwickeln konnten. Es bemühte sich immer darum, dass alle, die in seinen Mauern wohnten, ein erträgliches Dasein hatten und alles besaßen, um die kulturellen und sozialen Bedürfnisse zu befriedigen. Hierfür vergrößerte die Stadt ständig ihre Ausgaben für Bildung, öffentliche Gesundheit, für Verkehrswegeunterhaltung, für genügend gesundes Wasser, den Bau der elektrischen Straßenbahn, die Unterhaltung von Parks und Gärten.51
Diese programmatischen Worte waren durchaus charakteristisch für das Empfinden der Ratsherren, die Modernisierung der Stadt seit 1870 erheblich vorangebracht zu haben und weiterhin voranbringen zu müssen.52 Lewickis Äußerungen zeigen aber auch das Bedürfnis nach einer weiteren Modernisierung, um zu den weiter entwickelten Städten des westlichen Europas aufschließen zu können. Sie betonten zugleich den grundsätzlich „polnischen Charakter“ der Stadt und verdeutlichen die Ignoranz der polnischen politischen Akteure gegenüber den übrigen in der Stadt lebenden Nationalitäten. Insgesamt reflektierte die Lemberger Finanz- resp. Investitionspolitik in spezifischer Weise das Konzept der Organischen Arbeit,53 der Arbeit an den nationalen kulturellen und wirtschaftlichen Wurzeln, indem die Stadt der Förderung der Bildungs- und Kultureinrichtungen, aber auch der städtischen Infrastrukturen insgesamt eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der polnischen Nation beimaß. Der Wandel in der finanzpolitischen Haltung des Stadtrates und damit der Politisierung der kommunalen Vermögensverwaltung war eine notwendige Voraussetzung dafür, die Vision einer modernen „schönen“ polnischen Stadt umsetzen zu können.
51
52 53
„Lwów zawsze rozumiał ogromną odpowiedziałność, jak ciąży na jego przeszłości, teraźniejszości i przyszłości. To też odrabiał stare grzechy z okresu przedkonstytucyjnego i przedautonomicznego, musiał nadążyć postępowi, idącemu w szalonem tempie innych miast i starał się wykazać, że rozumie nowoczesne zadania gospodarcze i społeczne. Nie potrzeba dodawać, że Lwów wiernym pozostał swej tradycyi miasta polskiego, w którem jednakże wszystkie inne narodowości, a bywało ich zawsze kilka, mogły się swobodnie rozwijać, starał się zawsze, aby wszyscy, w murach jego zamieszkali, mieli byt znośny, posiadali wszystko, aby zaspokoić swe wymagania kulturalne i społeczne. W tym celu miasto zwiększało stale swe wydatki na cele oświaty, zdrowia publicznego, na cele komunikacyjne utrzymania dróg, dostarczenia zdrowej wody, budowy kolei elektrycznej, utrzymania parków i ogrodów.“, GL v. 21.3.1914. Sroka, Rada miejska, S. 131 f. Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 59. Vgl. zur Organischen Arbeit Kap. 3.1 Fußnote 65.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
159
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik Die gerade zitierten Worte aus der Haushaltseinbringung für das Jahr 1914 verweisen auf eine bewusste Entwicklungspolitik der Stadt. Die Lemberger Stadtentwicklungspolitik baute gerade in Bezug auf die städtischen Infrastrukturen54 auf einen komplexen Aushandlungsprozess, der sich wie allerorts in Kraftfeldern aus lokalen Machtinteressen, gesundheitspolizeilichen und ‚munizipalsozialistischen‘ Erwägungen, kommunalem, urbanem und metropolitanem Prestigedenken sowie wirtschaftlichen Kalkülen55
heraus entwickelte. Indem die Debatten die Raum- und Gesellschaftsentwürfe56 des Stadtrats widerspiegelten, verwiesen sie auf seine Zukunftsvorstellungen wie auch auf sein Selbstverständnis, zumal sie die Innovationsfreudigkeit und vor allem Leistungsfähigkeit der sie Beschließenden offenbaren. Stellt der Historiker Dirk van Laak allgemein fest, dass es über den Ausbau der Infrastrukturen in der Lokalpolitik im 19. Jahrhundert zahllose Konflikte gab,57 so lassen sich in Lemberg keine über die konkrete, durchaus detailliert diskutierte Ausgestaltung der Infrastrukturmaßnahmen hinausgehenden grundlegenden Konflikte in den Protokollen der kommunalpolitischen Gremien und in der Berichterstattung finden. Aufgrund der Finanzlage diskutierte der Stadtrat in der Regel nicht ob, sondern wie die für die Stadtentwicklung und die Realisierung der Vision des „schönen Lemberg“ notwendigen Investitionen durchgeführt werden sollten, da, wie erläutert, die Vorstellungen von der Stadtentwicklung nach europäischen „modernen“ Vorbildern common sense war. Dass die Ratsherren die Maßnahmen als solche nicht infrage stellten, lässt sich einerseits damit erklären, dass sie diejenigen zur Modernisierung von anderen Städten adaptierten und diese sich daher bereits als wirksam für dieses Ziel erwiesen hatten. Wesentlicher Antrieb für diese grundsätzliche Haltung war die Erkenntnis, dass sich Lemberg im Vergleich zu anderen Städten der Monarchie bezüglich der gesundheitlichen Verhältnisse immer auf den letzten Plätzen befand und diese die Stadtentwicklung massiv bedrohten. Diese Einsicht spornte die Ratsherren an, weil sie erkannt hatten, dass sich ohne grundlegende Stadtentwicklungsmaßnahmen das Modernisie-
54
55 56 57
Zum Begriff Dirk van Laak, Infrastruktur und Macht, in: François Duceppe-Lamarre / Jens Ivo Engels (Hrsg.), Umwelt und Herrschaft in der Geschichte / Environnement et pouvoir: une approche historique, München 2008, S. 106–114; ders., Der Begriff „Infrastruktur“ und was er vor seiner Erfindung besagte, in: Archiv für Begriffsgeschichte 41, 1999, S. 280–299. Vgl. auch Marjatta Hietala, Services and Urbanization at the Turn of the Century: the Diffusion of Innovations, Helsinki 1987. Dirk van Laak, „Just in Time“. Zur Theorie von Infrastruktur und Logistik, in: Wiebke Porombka / Heinz Reif / Erhard Schütz (Hrsg.), Versorgung und Entsorgung der Moderne. Logistiken und Infrastrukturen der 1920er und 1930er Jahre, Frankfurt/Main etc. 2011, S. 13–23, hier: S. 16. Ders., Infra-Strukturgeschichte, in: GG 27, 2001, S. 367–393. Laak, „Just in Time“, S. 16.
160
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
rungsziel einer „großstädtischen Gestalt“58 nicht verwirklichen lassen würde. Wie Łukasz Tomasz Sroka feststellt, habe der Stadtrat darunter vor allem den Ausbau und die Erweiterung der städtetechnischen Infrastrukturen und Verkehrsverbindungen, aber auch die Wirtschaftsförderung verstanden.59 Hiermit greift Sroka zu kurz, denn unter dem Schlagwort des „schönen Lemberg“ und einer entsprechenden Stadtentwicklungspolitik verstanden die Ratsherren auch den Auf- und Ausbau weiterer spezieller Infrastrukturen im Bereich der Sozial- und Gesundheitsfürsorge, um die Zielvorstellung einer „gesunden“ und, eng damit verbunden, auch der „versorgenden“ Stadt zu erreichen. Es ging darum, Instrumente der städtischen Daseinsvorsorge und damit verbunden einer sich personell wie aufgabenbezogen ständig erweiternden städtischen Leistungsverwaltung60 zu entwickeln. 4.3.1 Die „moderne“ Stadt als prioritäres Anliegen Nicht nur aus den noch zu diskutierenden Gründen der öffentlichen Gesundheit war die Einhausung des Flüsschens Poltew (poln. Pełtew, ukr. Poltva), das die Gazeta Lwowska zynisch als „wichtigste Parfumfabrik“61 bezeichnete, von entscheidender Bedeutung für die Stadtentwicklung, sondern sie bot seit den 1880er Jahren die Chance, einen Teil der Innenstadt nach modernen Vorstellungen zu gestalten: So schwärmte die Gazeta Lwowska bereits in einem Bericht über den Baufortgang 1890, dass „mit jedem Jahr unsere Stadt ihre alte Physiognomie verändert, sich erweitert, erhebt und verschönert. […] bereits heute nähert sich Lemberg mit seinem inneren Anschein den großen europäischen Hauptstädten an.“62
58 59 60
61
62
„wielkomiejskiej postaci“, Michał Kowalczuk, Rozwój terytoryalny miasta [Die territoriale Entwicklung der Stadt], in: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lwów 1896, S. 299–352, hier: S. 351. Sroka, Rada miejska, S. 138. Hendrik Gröttrup, Die kommunale Leistungsverwaltung. Grundlagen der gemeindlichen Daseinsvorsorge, Stuttgart etc. 1973. Vgl. auch Hans Heinrich Blotevogel, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Kommunale Leistungsverwaltung und Stadtentwicklung vom Vormärz bis zur Weimarer Republik, Köln etc. 1990, S. XIII–XXIV. „główna fabryka perfum“, GL v. 11.7.1891. Dieses Zitat verdeutlicht die Dringlichkeit, da der Poltew als Abwasserkanal verwendet wurde und damit zu einem Herd von Krankheitserregern wurde. Die eingedeutschte Bezeichnung „Poltew“ wurde im Plan der Stadt Lemberg samt ihren Vorstädten, Lemberg 1802, verwendet. „z każdym rokiem miasto nasze zmienia dawną swą fizyognomię, rozszerza się, podnosi i upiększa. […] że dziś już Lwów zewnętrznym pozorem swoim zbliża się do wielkich stolic europejskich“, GL v. 8.8.1890. Allgemeiner Überblick bei Mykola Bevz, Urbanistyčni transformaciï central′noï častyny mista L′vova u XIX–XX st. [Urbanistische Verwandlungen des Stadtzentrums von L′viv im 19. und 20. Jh.], in: Bohdan Čerkes / Martin Kubelik / Elisabeth Hofer (Hrsg.), Architektura Halyčyny XIX–XX st. [Architektur Galiziens im 19.–20. Jh.], L′viv 1999, S. 51–70.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
161
Abb. 8 Stadtansicht von der Zitadelle, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.)
Ein wesentliches Ziel des Stadtrates war, den städtischen Raum prägend zu gestalten,63 ihn als polnischen (Gegen-)Entwurf eines „habsburgischen Lembergs“ (Markian Prokopovych) zu präsentieren. An dieser grundsätzlichen Markierung des öffentlichen Raumes änderten auch die wenigen architektonischen ruthenischen Repräsentationen wie neben den griechisch-katholischen Kirchen (insbesondere der St.-Georgs-Kathedrale und der Walachischen Kirche) das Ruthenische Nationalhaus (Narodnyj Dim, 1851–1864) und das Gebäude der Dnistr-Versicherungsgesellschaft (1905) im traditionellen ruthenischen Viertel der Altstadt nichts. An dieser Stelle muss daher betont werden, dass die polnische Markierung des öffentlichen Raumes unter dem Dach der imperialen stattfand.64 Einerseits prägte die architektonische Aufladung vor allem der Regierungsgebäude, so Markian Prokopovych, das „habsburgische Lemberg“65. Andererseits war auch, was er in seiner Darstellung ‚übersieht‘, die in den 1850er Jahren gebaute Zitadelle ein eindrückliches Zeichen 63 64
65
Vgl. Łupienko, Tożsamość, S. 315. Als theoretische Grundlage: Peter Stachel / Rudolf Jaworski (Hrsg.), Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im Vergleich, Berlin 2007; insbesondere Peter Stachel, Stadtpläne als politische Zeichensysteme. Symbolische Einschreibungen in den öffentlichen Raum, in: ebd., S. 13–60, vgl. auch Eve Blau, Die Stadt als Schaustellerin. Architektur in Zentraleuropa, in: dies. / Monika Platzer (Hrsg.), Mythos Großstadt. Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890–1937, München etc. 1999, S. 10–23. Vgl. den Titel seines Werkes: Prokopovych, Habsburg Lemberg.
162
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
der imperialen Herrschaft über Lemberg.66 Als Demonstration habsburgischer Präsenz und Macht überragte sie die gesamte Stadt, sodass sie in Verbindung mit dem auf der anderen Seite des Lemberger Talkessels liegenden Franz-Josephs-Berg auf visuell eindrückliche Weise den gesamten städtischen Raum prägte und auch nicht infrage gestellt werden konnte. Für den Entwurf eines polnischen öffentlichen Raumes und dessen Realisierung unter dem Dach imperialen Anspruchs war es neben der Markierung des öffentlichen Raumes durch ein Straßennetz mit in nationaler Hinsicht relevanten Bezeichnungen und durch Denkmäler von erheblicher Bedeutung (s. Kap. 6.1), dass das Stadtbild prägende städtische Gebäude wie Schulen (z. B. Abb. 15 und 16), die Feuerwehr und nicht zuletzt auch das Theatergebäude (Abb. 19) errichtet wurden, auch um Modernität zu präsentieren. In dieser Hinsicht war es auch politisch bedeutsam, dass der Stadtrat 1907 einen Architektenwettbewerb zur Umgestaltung des Rathauses als Symbol der Selbstverwaltung ausschrieb, um die neoklassizistische Fassade des Vormärz, die für die Germanisierung der Stadt stand, zu beseitigen und das Rathaus als „polnische Bastion“ zu gestalten.67
Abb. 9 Der Marktplatz (Rynek) mit dem Rathaus links, Postkarte 1909 (Privatsammlung H. H.-K.)
66
67
Frank Rochow, Die Lemberger Zitadelle 1850–1860. Zur Konstruktion habsburgischer Herrschaft im urbanen Raum, MA-Thesis Frankfurt/Oder 2014; ders., Die räumliche Erscheinungsform des Neoabsolutismus – Militärarchitektur in Lemberg und Wien in den 1850er Jahren, in: ZfO 58, 2019, S. 157–188. Prokopovych, Habsburg Lemberg, diskutiert sie dagegen nicht. Prokopovych, Habsburg Lemberg, S. 156. Realisiert wurde das Projekt jedoch nicht.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
163
Die ursprünglich primär aus sanitären Gründen bereits 1841 in ersten Bauabschnitten angegangene und nach der Revolution bis 1866 unterbrochene Einhausung und Tieferlegung des Poltews führte dazu, dass eine ‚neue Mitte‘ entstand: der Hetmansdamm (Wały Hetmańskie, der heutige Freiheitsprospekt/Prospekt Svobody) als moderner Boulevard. Die Einhausung des Poltews, die mit insgesamt 6,6 Mio. Gulden vom Land bezuschusst wurde, wurde somit zum Impuls für die Umgestaltung des Hetmansdamms, woraus sich als prioritäres Ziel die Erstellung eines Regulierungsplans für die Stadt entwickelte, der allerdings nur partiell erreicht wurde.68 So fehle, kritisierten die Ratsherren, die Berücksichtigung von Perspektivierungen innerhalb der Gestaltung des Stadtbildes, also etwa der visuelle Abschluss von Straßen durch repräsentative Gebäude wie Kirchen.69
Abb. 10 Der Hetmansdamm, Postkarte 1915 (Privatsammlung H. H.-K.)
Dadurch, dass dieser Boulevard die Altstadt mit dem Marktplatz (Rynek) und darauf befindlichen Rathaus tangierte, blieb die historisch-politische Bedeutung des Marktplatzes erhalten, ohne dass er aufgrund der sich verändernden Bedürfnisse umfangreich hätte umgestaltet werden müssen.70 An dieser neuen Prachtstraße, die schließlich vom 1901 eingeweihten Städtischen Theater bis zum Marienplatz (plac Maryacki) reichte, siedelten sich öffentliche Gebäude, Hotels, Kaffeehäuser und Restaurants an. 68 69 70
So der erste Beschluss der Gesellschaft, GL v. 16.11.1892. Vgl. Strasburger, Gospodarka, S. 123. Vgl. GL v. 28.12.1892. Sroka, Rada miejska, S. 146 f.
164
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
Bereits vor Baubeginn des Theaters und anderer Gebäude wurde dieser Bereich als der „am meisten großstädtische Anblick“ der Stadt bezeichnet.71 Die Gestaltung des Boulevards hatte sich wegen der Wahl des Standortes für das Theater rund ein Jahrzehnt lang im Kreis gedreht: Nicht nur die sumpfigen Flächen in der Poltew-Niederung am Gołuchowski-Platz (plac Gołuchowskich)72, die ein entsprechend aufwendiges Fundament notwendig machten,73 sondern auch die Lage am Rande des jüdischen Viertels waren Argumente für den alternativen Bauplatz am Heilig-Geist-Platz (plac św. Ducha). Dort würde aber, stellte Stadtpräsident Godzimir Małachowski 1894 kritisch fest, ein Theatergebäude die Stadtentwicklung bremsen. Dagegen könne sich nach der Niederreißung der „jüdischen Bruchbuden“ hinter dem Gołuchowski-Platz die Stadt hervorragend in Richtung Bahnhof entwickeln,74 was für die Bevorzugung der sumpfigen Poltew-Niederung sprach. Auch aus ästhetischen Erwägungen schien daher der Standort am Gołuchowski-Platz günstiger.75 Daher fiel trotz aller finanziellen Vorbehalte nach langwierigen Debatten die Entscheidung für diesen Standort und damit für die Entwicklung des Boulevards, da es vor allem um die konzeptionelle Formulierung von Stadtentwicklungszielen ging. Daher stellte der Stadtrat 1888 im Zuge des Grundsatzbeschlusses zum Theaterneubau am Gołuchowski-Platz 20.000 bis 30.000 Gulden für die notwendige Kanalisierung des Poltews am Bauplatz bereit. Diese Entscheidung lobten rund 25 Jahre später die im Rat vertretenen Ärzte als einen Wendepunkt für die Sterblichkeitsrate und damit für die öffentliche Gesundheit insgesamt.76 Die Entstehung des modernen Boulevards zeigt, dass der Stadtrat mit dem Theaterneubau nicht nur die Errichtung einer Kulturinstitution (s. Kap. 5.2.1) anstrebte, sondern durch den das erneuerte Stadtbild dominierenden Prachtbau zugleich eine bewusste Stadtentwicklungspolitik betreiben wollte. Der Theaterneubau war insgesamt ein Modernisierungsmotor, weil über die stadtplanerischen Aspekte vor allem die Kapazitäten der städtischen Elektrizitätsversorgung erheblich erweitert werden mussten.77 Durch dieses im historistischen Stil errichtete Gebäude, das sich am Mailänder Teatro alla Scala orientierte,78 wurde das Stadtbild deutlich verändert, nicht nur 71 72 73
74 75 76 77 78
„najwięcej wielkomiejski widok“, GL v. 28.12.1892. Vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 4065, Bl. 84 ff. Vgl. GL v. 8.11.1894, v. 25.1.1895. Die Debatte hierüber wurde im November 1894 zunächst in einer vertraulichen Sitzung geführt. Bei den Planungen wurde berücksichtigt, dass das einige Meter nördlich am Rande der Poltew-Niederung gelegene Skarbek-Theater auf Stelzen gebaut wurde (vgl. GL v. 22.11.1894). „ruder żydowskich“, GL v. 9.2.1894. Vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 4066, Bd. 42 f.; vgl. auch DALO, f. 3, op. 1, spr. 4065, Bl. 84 ff. Mikołajski, Działalność, S. 10. S. Tab. 8. GL v. 23.11.1899. So zumindest die Festschrift zur Eröffnung: vgl. Michał Lityński, Pamiątkowy opis teatru miejskiego we Lwowie [Denkwürdige Beschreibung des Städtischen Theaters in Lemberg], Lwów 1900, S. 5; ebd. mit einer ausführlichen architektonischen Beschreibung.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
165
weil eine Verbindung zwischen der Altstadt und den südlicheren Stadtteilen mit ihren Adelspalais geschaffen wurde, sondern weil der Hetmansdamm durch diesen Solitärbau einen prächtigen optischen Abschluss erhielten.79 In die Entwicklung der Stadtentwicklungsziele bezog der Stadtrat auch die Flächen ein, die nach dem Abtragen der Fortifikationen zwischen 1777 und 1820 frei geblieben waren. Bereits in vielen größeren Städten wie in Wien und Brüssel habe sich eine solche durchaus geplante Umringung der Altstadt als unpraktisch erwiesen, umso ungünstiger sei dies bei kleineren Flächen wie in Lemberg. Hier sei insgesamt verpasst worden, kritisierten einige Ratsherren, breite Kommunikationslinien zu schaffen.80 Dass die verantwortlichen Ratsherren sich hiermit weniger am Wiener Ringstraßenprojekt, sondern vielmehr an den Pariser und Brüsseler Entwicklungskonzepten entlang von (axial angelegten) Boulevards orientierten, wird beispielsweise auch in den die Stadtregulierung diskutierenden Artikeln der Gazeta Lwowska deutlich, die mit „impulsum, non decisionem dedisse sufficit“81 überschrieben waren. Ihre Kommentare nannten zwei Gründe für die notwendige Stadtregulierung, nämlich die Schaffung eines „schönen, modernen Stadtbildes“ sowie das bislang ungeregelte Wachstum der Stadt. Nun sei es notwendig, die Stadtentwicklung entlang von Achsen zu verfolgen. Daher wurde das Wiener Ringstraßenkonzept als Vorbild nicht für zweckdienlich erachtet, weil es nur zur Bildung des „todte[n] Viertel[s]“, des Rathausviertels, geführt habe.82 Trotz dieser Erkenntnis ließ der Stadtrat keine umfassenderen Regulierungspläne erstellen, obwohl Lemberg von Jahr zu Jahr planlos entlang der Hauptstraßen und dann entlang ihrer Abzweigungen wuchs.83 Die Regulierung der Stadt wurde außerhalb des Stadtkerns nur im Rahmen kleinerer Assanierungsmaßnahmen einzelner Häuser84 angegangen – bei diesen ging es darum, die Straßen gemäß neuester Erkenntnisse breiter und damit heller und luftiger zu gestalten.85 Anstelle eines umfassenden Regulierungsplanes fokussierte sich der Stadtrat lediglich auf Bauordnungen, die zu einer gewissen Regulierung der Stadt beitragen sollten. Sie sollten – so der Entwurf einer neuen Bauordnung 1892 – entsprechend des Zeitgeistes ein besseres, aber auch
79 80 81 82
83 84 85
Vgl. Philipp Ther, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, Wien etc. 2006, S. 215. GL v. 15.1.1893. GL v. 19.11.1892. „piękny, nowoczesny obraz miasta“, ebd. Etwa Prokopovych, Habsburg Lemberg, und Jacek Purchla, Die Einflüsse Wiens auf die Architektur Lembergs 1772–1918, in: ders. (Hrsg.), Architektura Lwowa XIX w. / Die Architektur Lembergs im 19. Jahrhundert, Krakau 1997, S. 31–53, betonen dagegen eine Orientierung vor allem an Wiener Vorbildern. Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lwów 1896, S. 345, 349 f. Beispielsweise Małachowski, Świetna Rado, S. 12 f., der alle konkreten Maßnahmen auflistet. Antoni Pawlikowski, Stosunki zdrowotne [Die gesundheitlichen Bedingungen], in: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lemberg 1896, S. 265–282, hier: S. 269.
166
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
dauerhafteres und dennoch billigeres, zugleich aber in Bezug auf die Hygiene den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechendes Bauen gewährleisten. Jedoch erfüllten sich diese Hoffnungen nicht. Bereits wenige Jahre nach ihrem Inkrafttreten 1885 hatte sich die gültige Bauordnung als unzureichend und ineffizient erwiesen.86 Entgegen aller Bemühungen blieb die Bauordnung von 188587 24 Jahre gültig, die nicht nur durch den Bauboom88 seit den 1890er Jahren und die fortschreitenden Erkenntnisse in der Hygiene längst überholt war.89 Die Tatsache, dass der Stadtrat vom ersten Entwurf90 einer revidierten Bauordnung bis zur Verabschiedung 1909 sechs Jahre benötigte,91 führte zu scharfer Kritik vor allem der Tab. 6 Zunahme der Bebauung Lembergs92 1869
1880
1890
1900
1910
Zahl der Häuser
2.545
2.942
3.322
4.409
5.395
Zahl der Wohnungen
17.371
18.649
22.532
32.226
42.292
86
87 88
89
90 91
92
CDIAL, Bibliothek, Szkic projektu ustawy budowniczej dla król. stoł. miasta Lwowa [Skizze des Entwurfs der Bauordnung für die königl. Hauptstadt Lemberg], n. pag.; Projekt. Ustawa Budownicza dla król. stoł. miasta Lwowa [Entwurf. Bauordnung für die königl. Hauptstadt Lemberg], Lwów 1882. Vgl. zur gesellschaftlichen Bedeutung von Bauordnungen: Peter-Heinz Marauschek, Graz. Strukturwandel einer Stadt im Lichte ihrer Bauvorschriften (1856–1968), phil. Diss. Graz 2010. LGuVBl. Nr. 31/1885. Dies zeigen die Häuserzahlen: 1873 gab es in Lemberg 2.594 Häuser (vor allem als Erdgeschossoder eingeschossige Gebäude), 1893 3.322, 1900 4.360 und 1913 6.043 (vor allem zwei- und dreigeschossige Häuser), vgl. Papée, Historja, S. 236; ebenso nahm die Zahl an Straßen zu: von 253 (1870) auf 487 (1913). Zur Entwicklung in Europa insgesamt: Calixte Hudemann-Simon, Die Eroberung der Gesundheit 1750–1900, Frankfurt/Main 2000, insb. S. 213–224; Jürgen Reulecke, Die Politik der Hygienisierung. Wandlungen im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge als Elemente fortschreitender Urbanisierung, in: Imbke Behnken (Hrsg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Konfigurationen städtischer Lebensweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Opladen 1990, S. 13–25. Projekt nowej ustawy budowniczej dla król. Stoł. miasta Lwowa [Entwurf für eine neue Bauordnung der königl. Hauptstadt Lemberg], Lwów 1903. Projekt nowej ustawy budowniczej dla król. Stoł. Miasta Lwowa [Entwurf für eine neue Bauordnung der Königl. Hauptstadt Lemberg], Lwów 1904. Vgl. auch Projekt ustawy budowy dla miasta Lwowa. Projekt Towarzystwa Politechnicznego we Lwowie [Entwurf der Bauordnung für die Stadt Lemberg. Entwurf der Politechnischen Gesellschaft in Lemberg], Lwów 1907; in Anlehnung an Bauordnungen anderer Städte wie Köln, Frankfurt, Berlin, München und Pest, teilte dieser Vorschlag die Stadt in vier Streifen ein: die Innenstadt, Villenviertel, die vorstädtischen Gebiete mit billigen Wohnungen und Gewerbegebiete. Tadeusz Rutowski, Projekt ustawy budowlanej dla król. stoł. m. Lwowa [Entwurf einer Bauordnung für die königl. Hauptstadt Lemberg], Lwów 1908, legte einen eigenen Entwurf vor, der sich gegen die Ausweisung verschiedener Baustreifen aussprach und sich an den Bauordnungen von Prag (1886), Brünn (1894), Krakau, Wien und Frankfurt (1905), Wiesbaden und Dresden (1902) orientierte. Das Gesetz (LGuVBl. Nr. 111/1909) beinhaltete die Einteilung in solche Baustreifen nicht, sondern verwies auf den Stadtrat, der Gebiete mit bis zu vierstöckiger Bebauung ausweisen könne. DALO, f. 3, op. 1, spr. 5418, Bl. 166 ff. (Korespondencja Ratuszowa [Rathauskorrespondenz]), zeigt aber, dass diese Baustreifen faktisch umgesetzt wurden. Nach Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 61.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
167
fortschrittlichen Kräfte im Stadtrat, die sich in Form eigener Entwürfe äußerte. Der stellvertretende Stadtpräsident Tobiasz Aschkenase kritisierte etwa 1908 in seinem Alternativentwurf die Stadtplanung als „vollkommen unreguliert und chaotisch“93. Dieser für das Gemeinwohl und die „normale“ Entwicklung der Stadt schädliche Zustand liege darin begründet, dass wie in allen älteren und größeren Städten in Mitteleuropa die einschlägigen Vorschriften nicht auf ein solch „riesiges“ und schnelles Wachstum der Städte zugeschnitten seien. Bereits 1907 hatte die Präambel des Bauordnungsentwurfs der Polytechnischen Gesellschaft (Towarzystwo Politechniczne) resignierend festgestellt, dass Lembergs Bauordnung in ihrer Entstehungsphase in einigen Punkten hinter den Bestimmungen anderer europäischer Städte zurückgeblieben sei. Sie „fessele“ daher unnötig den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt der Stadt. Weil allen Akteuren klar war, dass dieser Versuch einer Stadtregulierung absolut nicht ausreichend war, wurde bereits ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten begonnen, über eine Revision zu diskutieren.94 Dass bis 1914 jedoch kein umfassender Regulierungsplan beschlossen wurde, liegt wohl auch darin begründet, dass es nach Angaben des Magistrats aus dem Jahr 1914 keine für eine entsprechende Überplanung des Stadtgebietes notwendige einheitliche und genaue Katastralaufnahme der gesamten Stadt gab.95 In dieser Feststellung wird auch deutlich, dass es dem Stadtrat trotz aller Bemühungen um eine Reorganisation nicht gelungen war, die Ämterstruktur gerade in den technischen Bereichen wirkungsvoll zu gestalten und damit notwendige Grundlagen für eine planvolle und effiziente Stadtentwicklung zu legen. Insgesamt blieb das Stadtzentrum (V. Bezirk) am wenigsten dicht bebaut; hier befanden sich Geschäfte, Cafés usw. Mit den angrenzenden Straßenzügen entwickelte sich vom Hetmansdamm ausgehend eine ‚City‘ mit einem Schwerpunkt im Dienstleistungs-, Verwaltungs-, Kultur- und Bildungssektor.96 Bereits nach 1890 wurden die eigentlichen Stadtgrenzen überschritten, sodass die Vorstädte Kleparów, Zamarstynów
93
94
95 96
„zupełnie nieuregulowany i chaotyczny“, Tobiasz Aschkenase, Projekt noweli do ustawy budowniczej dla miasta Lwowa, o regulacyj istniejących i zakładaniu nowych ulic i placów, oraz o podziałe gruntów pod budowę przeznaczonych (parcelacyi budowlanej) w mieście Lwowie [Entwurf der Novelle der Bauordnung für die Stadt Lemberg, über die Regulierung der bestehenden und Festlegung neuer Straßen und Plätze, sowie über die Einteilung von vorgesehenem Baugrund (Bauparzellierung) in der Stadt Lemberg], Lwów o. J. [1908], S. 8. CDIAL, Bibliothek, Projekt ustawy budownicze dla król. stoł. miasta Lwowa, opracowana przez subkomitet w czasie od 21 marca do 3 grudnia 1910 [Entwurf einer Bauordnung für die königl. Hauptstadt Lemberg, erarbeitet durch das Unterkomitee in der Zeit vom 21. März bis 3. Dezember 1910]. DALO, f. 3, op. 1, spr. 5801, n. pag. Die Statthalterei verwies 1907 darauf, dass die Lage der Straßen und Plätze häufig nicht mit den Bauplänen übereinstimme, DALO, f. 3, op. 1, spr. 5187, Bl. 14. Zur Definition von „City“ als modernem Stadtzentrum: Agnieszka Zabłocka-Kos, Wohnen in der City. Die Breslauer Altstadt im 19. Jahrhundert, in: Alena Janatková / Hanna Kozińska-Witt (Hrsg.), Wohnen in der Großstadt. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich, Stuttgart 2006, S. 77–90, hier: S. 77.
168
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
und Zniesienie mit Lemberg zusammenwuchsen, aber erst nach dem Ersten Weltkrieg eingemeindet wurden.97 Da gerade diese von den Unterschichten bewohnten Vorstädte als Krankheitsherde für die städtische Bevölkerung insgesamt angesehen wurden, forderten bereits seit 1908 die in den Stadtrat gewählten Ärzte vergeblich ihre Eingemeindung, damit die Stadt sie sanieren könne.98 Trotz und gerade wegen dieser stadtplanerischen Mängel bildete die Allgemeine Landesausstellung 1894 (s. Kap. 6.2.1) zumindest im Verständnis des Magistrats einen wichtigen Impuls für die weitere rasche bauliche Entwicklung der Stadt,99 wobei es aber eher die zeitliche Koinzidenz der demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung als der alleinige Impuls der Landesausstellung war. Die Basis für dieses Narrativ war aber, dass die Stadtverwaltung nicht nur das Ausstellungsgelände mit dem angeschlossenen Vergnügungsbereich als Park für die Naherholung erhielt, sondern auch bemüht war, die Stadt für die Besucher ‚herauszuputzen‘ und möglichst zahlreiche Bauprojekte voranzubringen, sodass die Stadt selbst als Teil der Ausstellung inszeniert wurde. Von erheblicher Bedeutung für die in diesem Verständnis erwachsende „Blüte“100 der Stadt war die Errichtung moderner öffentlicher Verkehrsmittel.101 Für den Bau und Betrieb von Pferde- sowie später der elektrischen Straßenbahn stützte sich der Stadtrat auf best practices und Erfahrungen anderer Großstädte, sodass etwa ein Ingenieur 1873 zur Erkundung des Pferdebahnbaus ins Ausland und 1893 eine Delegation nach Dresden geschickt wurden, wo eine elektrische Straßenbahn bereits in Betrieb war.102 Die Eröffnung der Pferdebahn, die bereits zu Beginn der 1870er Jahre geplant worden
Ignacy Drexler, Wielki Lwów [Groß-Lemberg], Lwów 1920, hatte vor Kriegsbeginn einen entsprechenden Plan entwickelt, der aber in der geplanten Form nicht vor dem Ersten Weltkrieg realisiert worden war. Vgl. Nadja Weck, Obstacles on the Path to Urban Greatness. Competing Plans for the Creation of Greater Lviv („Wielki Lwów“), in: Eszter Gantner / Heidi Hein-Kircher (Hrsg.), Special Issue Emerging Cities. JUH 43, 2017, H. 4, S. 661–671. 98 Mikolajski, Działalność, S. 41. 99 DALO, f. 3, op. 1, spr. 5801, n. pag. 100 Maryan Ciesielski, Spór o budowę tramwaju elektrycznego we Lwowie. Odpowiedź na artykuł prof. Randy, ogłoszony po rozsądzeniu sporu przez sąd polubowny [Der Streit um den Bau einer elektrischen Straßenbahn in Lemberg. Antwort auf einen Artikel von Prof. Randa, veröffentlicht nach der Schlichtung des Streits vor dem Schiedsgericht], Lwów 1893, S. 16; vgl. auch Kowalczuk, Rozwój, S. 331. 101 Dazu gehörte auch, das Telefonnetz in Lemberg einzuführen. Dieses Thema wurde erstmals im April 1883 (GL v. 26.4.1883) im Stadtrat beraten; 1886 gab es die erste Telefonverbindung nach Lemberg. 1893 (GL v. 3.8.1893) schaffte die Stadtverwaltung die ersten sieben Apparate an. Anlass für die Beratungen war wohl, dass die Militärgarnison mit einer Telefonverbindung ausgestattet wurde, sodass die Stadt von der Verlegung der Leitung profitieren konnte, zumal sie 1893 verpflichtet wurde, die Kosten für die Leitung zu tragen. DALO, f. 3, op. 1, spr. 3992, Bl. 2. 1875 war erst eine Telegrafenverbindung geschaffen worden, vgl. Sekretarjuk, Istorija L′vova, S. 111. 102 So verwies ein Bericht über die verschiedenen Bieter auf die Konzessionsvergabe an Firmen aus dem Deutschen Reich und aus England. Zugleich schickte der Magistrat einen Ingenieur ins Ausland zur Einholung von Erfahrungen. GL v. 10.6.1873; GL v. 25.1.1893. 97
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
169
war, zog sich nach Erwerb der Konzession durch die Società Triestina Tramway 1879 noch bis 1888 hin, obwohl zunächst nur zwei Strecken mit insgesamt 5,8 km Länge103 in Betrieb genommen wurden. Das den Beschlüssen des Stadtrates inhärente Streben nach Modernität wird umso augenfälliger, wenn man sich vor Augen führt, dass die Pferdebahn nach nur wenigen Betriebsjahren vom dem Beschluss, eine elektrische Straßenbahn zu eröffnen, gleichsam überholt wurde. Für den Erfolg der Allgemeinen Landesausstellung war es nach Ansicht des Stadtrates geradezu zwingend gewesen, eine elektrische Straßenbahn als fortschrittliches Verkehrsmittel zu bauen, um die Besucher rasch vom 2,5 km vom Stadtzentrum entfernten Hauptbahnhof durch die Innenstadt zum Ausstellungsgelände zu bringen.104 Außerdem konnte die elektrische Straßenbahn mit mehreren Waggons schneller mehr Passagiere in beiden Klassen und günstiger als Pferdebahnen transportieren und war – ein nicht unerheblicher Grund – erheblich sauberer und sicherer als die Pferdebahnen.105 In der öffentlich und schließlich vor Gericht ausgetragenen Kontroverse um das Recht, in Konkurrenz zur Pferdebahn-Konzession eine weitere Bahn zu bauen,106 wurde deutlich, dass der Rat die elektrische Straßenbahn als Prestigeprojekt sah und dies unbedingt bis 1894 fertigstellen wollte. Nur dann könne sich Lemberg mit anderen Hauptstädten in Europa vergleichen; es würde in seiner Entwicklung „nicht steckenbleiben“, nicht die Hegemonie an eine andere Stadt [gemeint ist wohl Krakau] abgeben und damit „nicht hinabfallen in die Reihe von Provinz- und Kreisstädten“107 – das Motiv des Vergleichs mit den anderen Hauptstädten Europas fand sich bereits auch schon im Planungsstadium der Pferdebahn, die nach dem „Muster anderer Hauptstädte“ errichtet werden sollte.108
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106
107 108
Ihrer Eröffnung ging ein zehnjähriger Planungszeitraum im Stadtrat voraus, in dem neben technischen Gutachten etwa auch Erfahrungsberichte – auch bezüglich der Reinigung – aus Berlin, Dresden, Leipzig und Warschau oder auch aus Wien ausgewertet wurden. Vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 2516. GL v. 26.5.1893. Vgl. zur Bauplanung: Sprawozdanie w sprawie budowy kolei elektrycznej w mieście Lwowie [Bericht in der Angelegenheit des Baus einer elektrischen Bahn in der Stadt Lemberg], Lwów 1892. Sprawozdanie w sprawie budowy kolei elektrycznej, S. 7 f. Die Stadt Lemberg hatte sich verpflichtet, die Reinigung der Pferdebahntrassen, auf denen 1889 105 und 1896 140 Pferde im Einsatz waren, zu übernehmen, sodass die Unterhaltung von elektrischen Straßenbahntrassen erheblich günstiger war. Außerdem waren die elektrischen Straßenbahnen weniger laut als das Hufgeklapper der Pferde und benötigten weniger Platz. Vgl. ebd., S. 9 und Kowalczuk, Rozwój, S. 330. Vgl. Jan Szczepaniak, Tramwaj parowy we Lwowie [Dampfbetriebene Straßenbahn in Lemberg], Lwów 1890: Auch eruierte der Magistrat die Möglichkeiten, dampfbetriebene Bahnen in Betrieb zu nehmen. Schließlich endete die Auseinandersetzung vor einem Schiedsgericht, wonach beide Bahnen erhalten blieben, jedoch getrennte Trassen fuhren. Grundsätzlich war die Società nicht bereit gewesen, die elektrische Straßenbahn zu bauen, GL v. 10.6.1893; zum Streit: GL v. 30.3.1893 und v. 30.3.1894; Ciesielski, Spór. „nie utknąć“, „nie upaść do rządu miast prowincyjonalnych i powiatowych“, Szczepaniak, Tramwaj parowy, S. 28. „wzór innych miast“, GL v. 10.6.1873.
170
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
Insgesamt entstand nach der Wiener Zeitschrift für Elektrotechnik ein beispielhaftes Kommunikationsmittel: Die dortigen Temperaturverhältnisse haben es bedingt, dass sie nicht mit Boden, sondern mit Oberleitung hergestellt wurde, und es hat sich dabei ergeben, dass gegen die Säulenund Drahtanlage auch in einer Grosstadt auf Nebenlinien durchaus keine ästhetische Einwendung erhoben werden müsste. […] Den Lembergern war es übrigens nur darum zu tun, dass sie ein so bequemes, rasch verkehrendes elegantes Kommunikationsmittel sowohl zu Ausstellungszwecken als auch zu bleibendem Nutzen erhalten und das ist ihnen so vollständig gelungen, dass sich daran auch Wien ein Muster nehmen könnte.109
Nachdem die Stadt 1896 den Betrieb der elektrischen Straßenbahn übernommen hatte, ergab sich für den Stadtrat aufgrund des bestehenden Parallelbetriebs beider Bahnen die Notwendigkeit einer Fusion derselben, die erst 1906 durch den Rückkauf der Konzession für die Pferdebahn gelang.110 Die Pferdebahn deckte – anders als in den anderen großen Städten Europas – die Hauptstrecken innerhalb der Stadt ab, wodurch die elektrische Straßenbahn111 nicht so profitabel wie erwartet war. Sie wurde zunächst für zwei Jahre von der Wiener Firma Siemens & Halske betrieben und wurde trotz anfänglicher Unfälle, die von Kritikern als Sicherheitsproblem für die Bevölkerung dargestellt wurden,112 schließlich auch zu einem finanziellen Erfolg, sodass rasch nach ihrer Eröffnung über Erweiterungen diskutiert wurde. Hierbei ging der Stadtrat durchaus strategisch vor, indem er auch Baugebiete etwa eines an den Stryjer Park angrenzenden Villenviertels erschloss.113 Die elektrische Straßenbahn zeugte beispielhaft vom Willen des Stadtrates, Modernität und Urbanität zu demonstrieren und trug zum wirtschaftlichen und demografischen Wachstum (s. Tab. 2) bei, nicht zuletzt weil
109 Zeitschrift für Elektrotechnik 12, 1894, S. 344. 110 Godzimir Małachowski, Sprawozdanie Prezydenta król. stoł. miasta Lwowa z sześcioletniej działalności Reprezentacyi miejskiej, Magistratu i Zakładów miejskich w latach 1899, 1900, 1901, 1902, 1903 i 1904 [Tätigkeitsbericht des Präsidenten der Königl. Hauptstadt Lemberg für die sechsjährige Repräsentation der Stadt, des Magistrats und der städtischen Betriebe in den Jahren 1899, 1900, 1901, 1902, 1903 und 1904], Lwów 1904, S. 2; GL v. 2.3.1906. 111 Die Lemberger elektrische Straßenbahn gehörte zu den ersten im innerstädtischen Verkehr in Ostmitteleuropa. Im Süden Wiens wurde 1883 eine elektrische Straßenbahn im Dauerbetrieb errichtet, 1897 in Wien selbst, im oberösterreichischen Gmunden 1895, vgl. Eva Offenthaler, Der öffentliche Verkehr in Wien, in: Peter Csendes / András Sipos (Hrsg.), Budapest und Wien. Technischer Fortschritt und urbaner Aufschwung im 19. Jahrhundert, Budapest etc. 2003, S. 121–140, hier: S. 124. In Budapest wurde die 1866 errichtete Pferdebahn 1887 als erste in einer europäischen Innenstadt elektrifiziert; bereits 1881 wurde eine 500 m lange elektrische Straßenbahn der Firma Siemens & Halske anlässlich der Exposition d’electricité eröffnet. In Deutschland ging 1884 zwischen Frankfurt-Sachsenhausen und Offenbach die erste elektrische Straßenbahn in Betrieb. 112 Kritisiert wurden die Schlamperei bei der Wartung, aber auch Unfälle mit der Pferdebahn. Zugleich war die Bevölkerung an das Tempo der Straßenbahn noch nicht gewohnt. Vgl. DzP v. 18.6.1894. 113 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4081.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
171
hierdurch die Stadtränder und schließlich die Vorstädte in den städtischen Warenaustausch besser integriert wurden und vor allem Arbeitskräfte leichter in die Innenstadt gelangen konnten. Mindestens ebenso symbolträchtige „Orte der Moderne“114 waren die Eisenbahnlinien und die Bahnhöfe, da die Eisenbahn das Symbol für Fortschritt und Dynamik schlechthin war.115 Aber gerade in diesem Bereich konnte der Stadtrat nicht steuernd tätig werden, sondern nur über Stellungnahmen und Eingaben eingreifen, um zumindest ansatzweise eigene Vorstellungen zu artikulieren.116 Wurde Krakau bereits 1847 an das sich entwickelnde Eisenbahnnetz der Habsburgermonarchie angebunden, musste Lemberg noch bis zur Eröffnung der „k. k. privilegirten galizischen Carl Ludwigs Bahn“ 1861 warten, um diesen Anschluss an die Moderne zu erhalten. Lemberg entwickelte sich danach dank seiner Lage rasch zu einem Eisenbahnknotenpunkt zwischen Ost und West sowie zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer, da bereits Ende der 1860er Jahre drei117 und 1910 insgesamt neun Bahnlinien ihren Ausgangspunkt in der Stadt hatten, was wiederum bedeutende Rückwirkungen auf die Funktion Lembergs als Handelsstadt und auch auf die Entwicklung von Gewerbe und Industrie hatte. Neben dem Hauptbahnhof wurden noch in Podzamcze, Kleparów und Łyczaków Stationen sowie ein Güterbahnhof (der sog. Czernowitzer Bahnhof) errichtet.118 114 115
116 117
118
Alexa Geisthövel / Habbo Knoch (Hrsg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 2005; zu den Bahnhöfen: Alfred Gottwaldt, Der Bahnhof, in: ebd., S. 17–26. Hierzu und zum Folgenden vor allem Nadja Weck, Ein neuer Bahnhof für Lemberg (Lwów, L′viv) – Die symbolische Bedeutung der Eisenbahn für das Selbstbewusstsein einer modernen Stadt, in: Elisabeth Haid / Stephanie Weismann / Burkhard Wöller (Hrsg.), Galizien. Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie?, Marburg 2013, S. 31–44, hier: S. 31; dies., Die Wirkung der Eisenbahn auf die städtebauliche Entwicklung Lembergs, in: Vierteljahreszeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie, Denkmalpflege und Stadtentwicklung 44, 2017, S. 413–426; dies., Eisenbahn und Stadtentwicklung in Zentraleuropa am Beispiel der Stadt Lemberg (Lwów, L′viv), phil. Diss. Wien 2016. Vgl. auch allgemein: Ralf Roth, Einleitung: Städte im europäischen Raum – Verkehr, Kommunikation und Urbanität im 19. und 20. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Städte im europäischen Raum. Verkehr, Kommunikation und Urbanität im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2009, S. 5–22, hier: S. 16: Eisenbahn und Telegrafie seien „überzeugende Boten einer anderen Gesellschaft“. Überblick über die österreichische Eisenbahnpolitik: Markus Klenner, Eisenbahn und Politik 1758–1914. Vom Verhältnis der europäischen Staaten zu ihren Eisenbahnen, Wien 2002, S. 113–193. Erst 1913 bot sich eine Möglichkeit, diesbezügliche politische Partizipationsrechte einzufordern, indem sich der Stadtrat der Forderung der Stadt Graz anschloss, dass die Hauptstädte des Reiches im Reichseisenbahnrat vertreten sein sollten. GL v. 26.4.1913. Lemberg – Przemyśl (1861), Lemberg – Czernowitz (Czerniowce/Černivci/Cernăuţi, 1866) – Jassy (1869), Lemberg – Brody (1869), Lemberg – Stryj – Munkatsch (Munkacz/Munkačeve, 1873, k. u. k. privilegierte Erzherzog Albrecht-Bahn), Lemberg – Żółkiew (Žovkva) – Rawa Ruska (Rava-Rus′ka) – Bełzec (Hončarivka, 1887), Lemberg – Janów (Ivanivka, 1895), Lemberg – Sambor (Sambir, 1903), Lemberg – Podhajce (Pidhajci, 1908–1909) und Lemberg – Stojanów (Stojaniv, 1910). Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 57; darüber hinaus war die Ansiedlung der Eisenbahndirektion und von Werkstätten sowie der Eisenbahnergewerkschaften von Bedeutung.
172
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
Beim Bahnhofsbau119 hatten der aus der Bedeutungslosigkeit des Neoabsolutismus erwachende Stadtrat und die -verwaltung den Wert dieses „Stadttores zur Moderne“120 mit einer „örtliche[n] Kathedralenfunktion“121 zunächst ‚verschlafen‘ – sie intervenierten bezüglich der Lage erst, als das Fundament für den Bahnhof der Carl Ludwigs Bahn errichtet worden war. Einmal ‚aufgewacht‘, engagierten sich die Repräsentanten der Stadt intensiv, weil ihnen die Bedeutung für Stadtentwicklung und Versorgungslage klar geworden war. Zugleich wird grundsätzlich die Ohnmächtigkeit des Stadtrates in dieser außerhalb seines Kompetenzbereiches liegenden Frage deutlich, konnte er doch nur über Memoranden und Verhandlungen Stellung beziehen und ggf. über Subventionen oder Bürgschaften Planungen beeinflussen.122 Bereits 1865 intervenierte der Stadtrat aus „heiligste[r] Pflicht gegenüber der Einwohnerschaft“ mit einem Memorandum beim Ministerium für Handel und Volkswirtschaft und strengte Verhandlungen an, wonach das Konsortium den Bahnhof für die Bahnlinie über Brody nach Tarnopol im III. (Żółkiewer) Bezirk möglichst nahe zur Innenstadt oder zumindest eine Station mit Magazinen für Personen- und Güterverkehr errichten solle.123 Es gelang
119
Jedoch wurden nach der Intervention nochmals vier weitere Vorschläge für den Bahnhofsbau diskutiert, der schließlich aber, wie vorgesehen, in der Vorstadt Bajka errichtet wurde. Der Lemberger Eisenbahndirektor Wierzbicki nennt dafür als Gründe, dass ein näher an der Stadt liegendes sumpfiges Gelände ein teureres Fundament benötigt hätte und der Magistrat sich weigerte, das sich über eine Drainage des Geländes sammelnde Wasser in den Poltew ablaufen zu lassen, wodurch wohl die Sümpfe im Stadtzentrum verstärkt worden wären. Vgl. Ludwik Wierzbicki, Rozwój sieci kolei żelaznych w Galicyi od roku 1847 wyłącznie do roku 1890 [Entwicklung der Eisenbahnlinien in Galizien von 1847 bis 1890], Lwów 1907, S. 14 f. 120 Weck, Bahnhof, S. 34. 121 Wolfgang Kaschuba, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt/Main 2004, S. 140. 122 Wierzbicki, Rozwój, S. 63; GL v. 27.6.1903 und v. 29.12.1903. Daher beschloss der Stadtrat 1883, den Bahnbau nach Rawa Ruska und Bełzec mit der hohen Summe von 20.000 fl. zu subventionieren, und bürgte 1903 für den Bau der Bahnstrecke nach Podhajce mit 300.000 kr. unter der Voraussetzung, dass es Zugeständnisse der Bahngesellschaft zu einer günstigeren Trassenführung gäbe und die geplante Bahn nach Stojanów den Vorortbahnhof in Zniesienie mitnutzen würde. Auf diesem Weg setzte er den Bau eines Bahnhofs an der Łyczakower Rampe an der Vorortbahn nach Winniki (Vynnyky) durch. 123 Memorandum der königl. Hauptstadt Lemberg in Angelegenheit des Bahnhofs der projektirten neuen Bahnlinie Lemberg–Brody–Tarnopol, Lemberg 1865. Das Memorandum beruft sich auf das „volkswirthschaftliche Gesetz, welches gegenwärtig fast mit der Nothwendigkeit eines Naturgesetzes die Einrichtung der Verkehrsmittel beherrscht und sich bereits fast in allen grösseren Städten des Kontinents: Wien, Berlin, Dresden, München, Prag, Krakau, Laibach, Bern, Genf, Aachen usw. faktische Geltung verschafft hat. Die hinsichtlich dieser Einrichtung massgebenden allgemeinen Beweggründe werden durch die eigenthümlichen Verhältnisse der Stadt Lemberg so weit potenzirt, dass im vorliegenden Falle durch eine günstige Entscheidung das Gedeihen und der Aufschwung dieser Stadt für immer sichergestellt, dagegen mit einer ungünstigen Verfügung der Verfall der Stadt ausgesprochen wird.“, ebd., n. pag. In dem Memorandum folgt dann eine ausführliche Begründung, wie die Stadt in wirtschaftlicher Hinsicht profitieren würde. Hierbei argumentiert der Stadtrat auch mit dem Stapelrecht von 1379 als Begründung dafür, dass die Linie durch die Stadt geführt werden müsse.
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auch, einen Bahnhofsbau im Bereich Podzamcze („unterhalb des Schlosses“) durchzusetzen, der wichtige Impulse für die örtliche Wirtschaft gab. Zugleich verhinderte diese Intervention, dass die Bahnlinie mitten durch den III. Bezirk gelegt wurde, sondern vielmehr an dessen Rand, um ihn nicht zu zerschneiden.124 Jedoch störte seit der Jahrhundertwende der Bahndamm das Wachstum dieses Bezirks zunehmend.125 Als durch die geplante Erweiterung des Podzamcze-Bahnhofs 1908 auch eine Verstärkung des Bahndamms virulent wurde, intensivierte der Stadtrat seine Bemühungen, den Bahndamm einreißen und durch eine Brücke ersetzen zu lassen. Er erreichte lediglich den Bau einer Unterführung, sodass er unter der Bedingung, dass sie 20 Meter breit wurde, für den Umbau des Bahndammes 280.000 Kronen von veranschlagten zwei Millionen Kronen übernehmen wollte.126
Abb. 11 Der neue Lemberger Hauptbahnhof, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.)
Nach der Verstaatlichung der Bahnlinien 1892 artikulierten die Lemberger Kommunalpolitiker immer deutlicher den Befund, dass der Bahnhof der fortschreitenden Technik und den Ansprüchen an den Personenverkehr nicht entspräche.127 Der Beschluss, den alten, im österreichischen Kasernenstil errichteten Bahnhof abzureißen, hing zunächst mit Überlegungen einer Verlegung und der Notwendigkeit zusammen, 124 125 126 127
Vgl. GL v. 7.11.1908; Wierzbicki, Rozwój, S. 19 ff. Dies artikulierten die Bewohner auch deutlich, z. B. DALO, f. 3, op. 1, spr. 5305, n. pag. (1908). GL v. 7.11.1908 und v. 4.4.1914. Wierzbicki, Rozwój, S. 25.
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4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
als Eisenbahnknotenpunkt einen Durchfahrtsbahnhof zu errichten. Jedoch werden auch tiefer liegende Motive erkennbar,128 etwa in einem Bericht der Gazeta Lwowska über das „schöne Lemberg“. Hier wurde jenseits der Frage einer für die Stadt besseren Lage die Forderung der Kommunalpolitiker diskutiert, aus dem Bahnhof ein „wirkliches Tor der Zivilisation in unsere Stadt“ zu bauen und aus ihm eine „würdige ‚Einführung‘“129, beispielsweise über die Anlage von Alleen, zu gestalten. Schließlich konnte der Bericht der Gazeta Lwowska über den Baubeschluss auch befriedigt feststellen, dass „Lemberg endlich einen neuen, europäischen Bahnhof erhält, auf den es so lange sehnsuchtsvoll gewartet hat.“130 Diesen versuchte der Stadtrat möglich rasch, sich als symbolisches, repräsentatives131 Aushängeschild anzueignen, auch wenn er sich mit seinen Wünschen einer Verlegung nicht durchsetzen konnte. Diese symbolische Aufladung, die zugleich mit einer Loyalitätserklärung seitens der städtischen Repräsentanten verbunden wurde, verdeutlichte die Rede des Stadtpräsidenten Godzimir Małachowski während der Eröffnungsfeier des neuen Zentralbahnhofsgebäudes im März 1904. Er betonte, dass der Bahnhof für die Stadt eins der wichtigsten Gebäude für den „kulturellen Fortschritt“ und die wirtschaftliche Entwicklung von Handel und Industrie sei, zumal er nur von einheimischen Kräften in Kooperation des Architekten Alfred Zachariewicz und des Innenarchitekten Władysław Sadłowski errichtet worden sei.132 Als Repräsentant der Hauptstadt verband er diese symbolische Vereinnahmung des Bahnhofs mit einer Loyalitätsbekundung der Lemberger Stadtverwaltung gegenüber der Monarchie, die der linksliberal zu verortende Kurjer Lwowski scharf kritisierte.133 Der Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen war für den Stadtrat daher insgesamt ein wichtiges Anliegen, um die wirtschaftliche Entwicklung ebenso voranzubringen wie die bauliche, da sich entlang der Hauptverkehrswege der Ausbau der Stadt vollzog.134 Ein wiederkehrendes Thema war schließlich auch die Pflasterung der Straßen mit Steinen oder Holz,135 die kontinuierlich, aber außerhalb des Zentrums und der Hauptverkehrsstraßen erheblich weniger prioritär behandelt wurde, was neben der „ästhetischen
128 129 130 131 132 133 134
135
Auch scheint die Aussage, dass der Baugrund in der Stadt zu teuer sei, eine Ausrede gewesen zu sein, GL v. 23.4.1896. Zum Abriss und Neubau vgl. GL v. 8.8.1901. „prawdziwą bramą cywilizacyi do naszego miasta“, „godną ‚introdukcyją‘“, GL v. 26.4.1893. „Lwów otrzyma zatem nareszcie nowy, europejski dworzec, na który tak długo z upragnieniem czekał“, GL v. 5.7.1900. Ausführlich: Weck, Bahnhof, S. 36 ff. „w jego kulturalnego postępie“, GL v. 27.3.1904. Vgl. ausführlich: Weck, Bahnhof, S. 38–42. Entsprechend delegierte er Expertenkommissionen nach Dresden und in andere Städte, die aber auch entfernter liegende Lösungen etwa in London oder Chicago überprüfen sollten. Vgl. Roman Gostkowski, Kolej Gazowa [Die Gasbahn], Lwów 1893. 1893 reiste eine Delegation zur Untersuchung der dortigen elektrischen Straßenbahn nach Dresden, GL v. 25.1.1893. Etwa Berichte in GL v. 14.5., 15.6., 17.7.1874.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
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Befriedigung“ auch als kritisch für die öffentliche Hygiene gesehen wurde.136 Beispielsweise bildeten das Straßenpflaster und die Anlage von Bürgersteigen ein Thema im Wahlkampf 1880, weil etwa in der Stryjer und Gródecki-Vorstadt und im Żółkiewer Bezirk die Bewohner im Schmutz verkämen. So führte ein Teilnehmer der Wahlkampfveranstaltung der Liste Eintracht! das Beispiel der Tiefen Straße (ulica Głęboka) an, wo ein Jude sich damit Geld verdiene, Schulkinder durch den Morast in der Straße zu tragen.137 1888 waren lediglich 30,1 Prozent der Straßen gepflastert, 1894 34,9 Prozent, danach fiel der prozentuale Anteil wegen der Eröffnung zahlreicher Straßen wieder: 1905 waren es nur 25,8 Prozent und 1909 24,7 Prozent der Straßen.138 Dilo kritisierte daher 1914, dass Magistrat und Stadtpräsident nicht sehen wollten, wie schlecht der Zustand der Straßen außerhalb des Zentrums war.139 Hieran wird exemplarisch deutlich, wie kritisch kommunalpolitische Aktivitäten und Verwaltungshandeln von der nichtpolnischen, d. h. ruthenischen Presse beobachtet wurde. Solche Kritik von ‚außen‘ ‚befeuerte‘ die nationale Aufladung von städtischen Modernisierungsmaßnahmen. Eng damit verbunden, aber durchaus ein eigener Bestandteil des damaligen Verständnisses von „Verschönerung“ und Stadtentwicklung, waren Beleuchtungsinfrastrukturen. Sie wurden als ein wichtiges Element der kulturellen Urbanisierung140 verstanden, zumal zunächst die Gas-, dann die elektrischen Straßenbeleuchtungen als ein Symbol für Urbanität und Industrialisierung gesehen wurden.141 Die Ausweitung der Straßenbeleuchtung, ihre Modernisierung vom Petroleum- über den Gas- und schließlich den elektrischen Betrieb, war daher nicht nur eine Reaktion auf die zunehmende Verstädterung und das räumliche Wachstum der Stadt, sondern vermittelte auch Orientierung und Sichtbarkeit im bislang dunklen nächtlichen öffentlichen Raum, wodurch die Kontrolle der Bevölkerung gewährleistet werden konnte.142 Innerhalb der „zadowolenie estetyczne“, Mikołajski, Działalność, S. 19 ff.; L. Radwański, O kanalizacyi miast w Niemczech i sposobie ulepszenia kanalizacyi miasta Lwowa [Über die Kanalisation der Städte in Deutschland und Möglichkeiten zur Verbesserung der Kanalisation der Stadt Lemberg], Lwów 1880. 137 GL v. 7.1.1880, etwa auch GL v. 27.10.1881 und v. 9.11.1892 als Forderung im Wahlkampf, gerade mit Hinsicht auf die anstehende Allgemeine Landesausstellung. 138 Włodzimierz Berner, Stan sanitarny, ochrona zdrowia i sytuacja epidemiologiczna chorób zakaźnych we Lwowie w okresie autonomii galicyjskiej (lata 60./70. XIX w. – do 1914 r.) [Hygienischer Zustand, Gesundheitsschutz und epidemiologische Situation meldepflichtiger Krankheiten in Lemberg in der Zeit der galizischen Autonomie (1860/70er Jahre bis 1914)], in: Przegląd epidemiologiczny 61, 2007, 815–825, hier: S. 817. 139 Dilo v. 2.6.1914. 140 Ute Hasenöhrl, Die Stadt im Licht: Städtische Beleuchtung als Infrastruktur, in: ImS 1, 2015, S. 30– 41, hier: S. 31. 141 Ebd., S. 37, und Hans Heiss / Hannes Stekl, Bürgertum und gesellschaftliche Modernisierung in Österreichs Kleinstädten 1850–1914, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Kleinstadt in der Moderne, Ostfildern 2003, S. 87–118, hier: S. 93. 142 Hasenöhrl, Stadt im Licht, S. 31; GL v. 22.10.1897; Głąbiński, Finanse, S. 82, betont, dass der Ansatz im Budget für 1901 deutlich über dem von Krakau, Graz und Brünn lag. Der Ausbau des Beleuchtungsnetzes war immer ein Thema in den Kommunalwahlkämpfen, etwa GL v. 9.11.1892. 136
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4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
Lemberger Kommunalpolitik, für welche die Beleuchtung ein wichtiger Beitrag zur öffentlichen Sicherheit war, ging es dabei im Wesentlichen darum, das Beleuchtungssystem, das 1858 auf Gas umgestellt worden war,143 im Zuge der Stadterweiterungen weiter auszubauen und schließlich schrittweise auf den elektrischen Betrieb umzustellen. Dies wurde möglich, als 1892 das Elektrizitätswerk für die elektrische Straßenbahn gebaut und 1900 für den Theaterbetrieb erheblich erweitert wurde.144 Aber auch diesbezüglich war festzustellen, dass zunächst die Innenstadt, dann die ‚besseren‘, also vorwiegend von Polen bewohnten Stadtteile bevorzugt wurden. 1909 war die Stadt noch nicht flächendeckend mit einem Beleuchtungsnetz versehen.145 Obwohl der Stadtrat in den Bereichen der technischen Infrastrukturen und Vernetzung die Entwicklung Lembergs voranbringen konnte, blieb die Wirtschaftslage der
Abb. 12 Stadtansicht mit dem Blick auf den Hügel der Lubliner Union, im Vordergrund sind die wenigen Industrieanlagen der Stadt zu sehen, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.)
143 GL v. 1.10.1853, 27.2.1856 und v. 10.9.1858. 144 Vgl. zum Zusammenhang die Debatten in der in diesem Rahmen so bezeichneten „Elektrizitätskommission“ (Komisya elektryczna) der Sektion 3, die sich mit allen technischen Belangen befasste, DALO, f. 3, op. 1, spr. 3992. 145 CDIAL, f. 146, op. 8a, spr. 204, Bl. 130.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
177
Stadt wie auch der Städte in Galizien generell problematisch.146 In Lemberg fehlte eine durchgreifende Industrialisierung durch Großbetriebe,147 im Wesentlichen fand sie im kleinindustriellen Bereich statt.148 Hierbei siedelten sich die Betriebe vor allem an den nördlichen und westlichen Stadträndern an,149 was im Zusammenhang mit der Eisenbahnanbindung stand. Der Landespolitiker Teofil Merunowicz stellte daher 1907 kritisch fest, dass Lemberg weder über Voraussetzungen für ein Wirtschaftswachstum im Handel noch in der Industrie verfüge.150 Eine nach modernen Grundsätzen strategisch angelegte Wirtschaftsförderung etwa durch die systematische Ausweisung von Industrie- und Gewerbegebieten mit entsprechenden Fördermaßnahmen steckte zu jener Zeit noch in den Anfängen, etwa durch die Gründung des Industriemuseums151 und von Berufsschulen sowie die Unterstützung der Gesellschaft zur Förderung der Industrie des Landes (Towarzystwo zachęty przemysłu krajowego),152 die Zuschüsse zur Miete und finanzielle Unterstützung bei der Organisation der galizischen Industrieausstellung 1911 erhielt. Da die städtischen Repräsentanten wegen Lembergs Rang als Hauptstadt auch seine Rolle als zentraler Finanzplatz für Galizien erkannt hatten, setzte sich der Stadtrat seit 1889 für die erst 1911 vom Land genehmigte Gründung einer städtischen Sparkasse ein. Sie wurde als „Fundament unseres Wohlergehens“153 und damit als Grundlage für die Entwick146 Wilhelm Feldman, Stan ekonomiczny Galicyi. Cyfry i fakta [Der ökonomische Zustand Galiziens. Zahlen und Fakten], Lwów 1900, S. 31, bilanziert, dass Lemberg das ärmste Land der Monarchie sei und seine Bevölkerung immer mehr verarme. Vgl. den knappen Überblick: Helena Madurowicz-Urbańska, Die Industrie Galiziens im Rahmen der wirtschaftlichen Struktur der Donaumonarchie, in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego, Prace historyczne 57, 1978, S. 157–173; zu den wichtigsten Städten (ohne Lemberg und Krakau) in Galizien: Krzysztof Broński, Rozwój gospodarczy większych miast galicyjskich w okresie autonomii [Die wirtschaftliche Entwicklung der größeren galizischen Städte während der Autonomie], Kraków 2003. 147 Papée, Historja, S. 245. Es konnten sich lediglich eine Firma in der Alkoholindustrie sowie aufgrund der Erdölvorkommen bei Drohobycz (Drohobyč) drei Fabriken der Erdöl- und chemischen Industrie entwickeln, ansonsten stellte allein der grundsätzliche Wasser- und auch der Rohstoffmangel Galiziens ein erhebliches Hindernis für eine Industrialisierung dar. Außerdem gab es mit dem Baugewerbe verbundene Fabriken in Lemberg. 148 Erst nach der Jahrhundertwende siedelten sich einige wenige größere Industriebetriebe an. Vgl. Johann Bohatschewskyj, Wachstum und Wirtschaft der Stadt Lemberg, phil. Diss. (masch.-schriftl.) Wien 1944, insb. S. 125. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiteten 33 Prozent der Beschäftigten im Handel, 28,2 Prozent in der Industrie und immerhin noch 1,1 Prozent in der Landwirtschaft, vgl. Kramarz, Samorząd, S. 11. 1870 gab es 2.408 Gewerbebetriebe und 2.513 Handelsunternehmen in Lemberg, 1910 waren es 4.553 resp. 4.574, vgl. Jarowiecki, Prasa, S. 56; vgl. auch Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 70–75. 149 Vgl. Kramarz, Samorząd, S. 12. 150 Merunowicz, Rozwój Lwowa, S. 95. 151 Sprawozdanie dyrekcji miejskiego Muzeum przemysłowego we Lwowie za rok 1912 [Bericht der Direktion des städtischen Industriemuseums in Lemberg für das Jahr 1912], Lwów 1913, S. 19. 152 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4068, Bl. 98–162. 153 „fundament naszego dobrobytu“, Strasburger, Gospodarka, S. 31; Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 99. Die Sparkasse war bereits im Kommunalwahlkampf 1877 gefordert worden, vgl. Radny miasta Lwowa, S. 54, vgl. auch die Polemik gegen die Verhinderung der Gründung von Bolesław Lu-
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4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
lung von Industrie, Handwerk und Handel gesehen, weil sie der ärmeren Bevölkerung und Gewerbetreibenden Kredite vergeben konnte.154 Dagegen sollten die Allgemeine Landesausstellung 1894 und die Subventionierung der jährlichen Getreidemessen in Lemberg die galizische Wirtschaftsentwicklung insgesamt und damit auch den Wohlstand der Hauptstadt fördern.155 Bei den städtischen und den übrigen öffentlichen Bauprojekten postulierte der Stadtrat stets, dass einheimische Firmen beauftragt und einheimische Kräfte eingestellt werden sollten, wodurch die städtische Investitionspolitik auch als Wirtschaftsförderungsmaßnahme und zugleich als „Wirtschaftsnationalismus“156 im Sinne der Organischen Arbeit zu kennzeichnen ist. Besonders deutlich wird diese Haltung etwa im Rahmen des Baus des Städtischen Theaters zwischen 1898 und 1901 (s. Kap. 5.2.1). Befürworter des Theaterentwurfs von Zygmunt Gorgolewski betonten, dass eine Entscheidung für ihn auch „ökonomischen Patriotismus“157 bedeute, weil über die Bevorzugung einheimischer Kräfte die galizische resp. die Lemberger Wirtschaft gefördert werde. Ebenso zeigte sich diese Haltung immer wieder während der notwendigen Ausschreibungen im Stadtrat, der versuchte, vor allem Betriebe aus Lemberg und der näheren Umgebung, zumindest aber aus Galizien zu beauftragen,158 denn die Baustelle war auch eine Möglichkeit, viele Arbeitskräfte einzusetzen. So arbeiteten im Jahr 1897 rund 200 Personen täglich auf der Baustelle.159 Deutlich wurde aber auch, dass zahlreiche Gewerke in Lemberg nicht in der Lage waren, die erforderlichen Baumaßnahmen durchzuführen.160 Die heftige Debatte über die Vergabe der Malerarbeiten an einen nicht weiter bekannten jüdischen Maler Fleck offenbarte, dass unter „einheimisch“ nicht allein „ortsansässig“, sondern auch „polnisch“ verstanden wurde und dass häufig auch antisemitische Ressentiments in den Debatten zur tomski, Wnioski ze sprawy lwowskiej [Folgerungen in der Lemberger Angelegenheit], in: Ateneum 4, 1899, S. 409–423. 154 So zumindest die wirtschaftsfördernden und zugleich sozialpolitischen Überlegungen in der Anfangsphase des Gründungsprojektes, GL v. 24.6.1898; vgl. auch Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 99. 155 So etwa auch das Fazit von Stanisław Głąbiński, Volkswirtschaftliche Rückblicke auf die Lemberger Landesausstellung 1894, in: Österreichisch-Ungarische Revue 17, 1894, S. 1–39; Ostaszewski-Barański, Pogląd, S. 225. Insgesamt blieb Galizien bis auf die Erdölindustrie um Drohobycz (Alison Frank, Oil Empire. Visions of Prosperity in Austrian Galicia, London 2005) wenig industrialisiert und agrarisch geprägt. 156 Helga Schultz / Eduard Kubů (Hrsg.), Wirtschaftsnationalismus als Entwicklungsstrategie ostmitteleuropäischer Eliten. Die böhmischen Länder und die Tschechoslowakei in vergleichender Perspektive, Praha etc. 2004. 157 „patryotyzmu ekonomicznego“, GL v. 20.3.1896. 158 So etwa die Vergabeverfahren in der Theaterkommissionssitzung vom 28.5.1897, in: GL v. 29.5.1897, GL v. 3.6.1897. 159 Vgl. GL v. 9.11.1897. 160 So empfiehlt ein Antrag von Maksymilian Thullie im Namen der katholischen Arbeitervereine, Schlosserarbeiten an eine Lemberger Firma zu vergeben. Diese schien jedoch nicht die entsprechende Kompetenz zu besitzen, sodass eine Firma aus Sanok, Westgalizien, die mit einer Wiener Firma kooperierte, den Auftrag erhielt. Vgl. GL v. 22.1.1897; etwa auch GL v. 8.3.1898.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
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Wirtschaftsförderungspolitik mitschwangen.161 So sprachen sich die Ratsherren nicht zuletzt für den Entwurf Zygmunt Gorgolewskis und Jan Zawiejskis aus, weil „wir [die Ratsherren] auch einen ökonomischen Patriotismus benötigen.“162 Das zahlreiche Publikum unterstützte diese Aussage mit Klatschen und Bravo-Rufen. Die Theaterbaukommission wurde angegriffen, weil sie das höhere Angebot Flecks mit der Begründung angenommen habe, dass er eine längere Garantie auf die Malerarbeiten gegeben habe. So stellte Ratsherr Maurycy Jonasz etwa unter dem Beifall von Zuschauern „auf der Galerie“ die Frage, warum der Auftrag ausgerechnet einem Juden erteilt worden sei, da hierdurch gerade jene Juden von dem Bau profitieren würden, die nicht ins Theater gingen.163 Obwohl eine systematische Wirtschaftsförderungspolitik bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts fehlte, wurde das wirtschaftliche Wachstum immer als Grundbedingung der Stadtentwicklung postuliert, auch wegen der stets schlechten kommunalen Finanzlage.164 Erst um 1910 begann der Stadtrat explizit eine systematische Wirtschaftsförderungspolitik165 zu diskutieren. Diese war polnisch-national konnotiert, damit es nicht, so Ratsherr Herman Feldstein, wie in Lodz passiere, dass zwar polnische Arbeiter angestellt und mit ihnen polnisch geredet würde, aber der „Geist der Fabrik“ nicht polnisch sei. Daher müsse die Gemeinde gerade die Firmen fördern, deren Leitung in polnischen Händen liege. Der „vernünftigste [Weg] [sei], den polnischen Charakter der Industrie zu sichern“, indem die Initiative zur Unternehmensgründung von Polen käme und sie das notwendige Kapital zur Verfügung stellen würden.166 Hierin werden nicht nur antisemitische Ressentiments deutlich, sondern auch die Absicht, ganz im Sinne der Organischen Arbeit, polnische Betriebe zu unterstützen. Darüber hinaus sah der Stadtrat die Wirtschaftsförderung als Mittel zur Armutsreduktion in der Bevölkerung. Diese gefährdete in seinen Augen das Modernisierungsversprechen
Vgl. dazu etwa im Überblick Marsha L. Rozenblit, Die sozialen Grundlagen des Antisemitismus in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. IX Soziale Strukturen, Teilbd. 1 Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft, Teil 2 Von der Stände- zur Klassengesellschaft, Wien 2010, S. 1369–1418. 162 Ratsherr Karol Schayer: „nam potrzeba także patryotyzmu ekonomicznego“, GL v. 20.3.1896. 163 Vgl. GL v. 7.7.1900; DzP v. 6.7.1900. 164 GL v. 4.1.1883. 165 Erstmals lassen sich 1910 systematische Empfehlungen nachweisen. Protokół ankiety odbytej w dniu 21 września 1910 r. w sprawie popierania przemysłu przez gminę król. stoł. m. Lwowa [Protokoll der Untersuchung am 21. September 1910 in der Angelegenheit der Wirtschaftsförderung durch die Gemeinde der königlichen Hauptstadt Lemberg], Lwów 1911, S. 3 und 75, in dem betont wird, dass das zuständige Magistratsdepartement sich bisher nur in adminstrativ-polizeilichen Angelegenheiten um die örtliche Wirtschaft kümmere. Zur Organischen Arbeit vgl. Kap. 3.1 Fußnote 65. 166 „duch fabryki“, „najracyonalniejszym dla zabezpieczenia charakteru polskiego przemysłu“, ebd., S. 72. Ratsherr Ferdynand Ohly (ebd., S. 73) betonte, dass in Böhmen die Industrie in tschechischen Händen liege und es für „uns“ [Polen] notwendig sei, „eigene“ („własnych“) Arbeiter auszubilden. 161
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des „schönen Lemberg“, weil hieraus die „Unordnung“ zahlreicher Wohnquartiere und vor allem die Notwendigkeit erwuchsen, die öffentliche Gesundheit sowie die städtische Armenfürsorge und nicht zuletzt die Versorgung erheblich zu verbessern. Die soziale und hygienische Lage der Bevölkerung wurde zur größten Herausforderung für die Lemberger Kommunalpolitik, für die sehr unterschiedliche, letztlich aber unzureichende Lösungsansätze gefunden wurden. 4.3.2 Die „gesunde“ Stadt als unumgängliches Leistungsziel „Lemberg bekommt nicht jedem“,167 lautet ein altbekanntes Sprichwort, das auf die schlechten gesundheitlichen und hygienischen Bedingungen in der Stadt und damit auch auf die hohe Todesrate durch Epidemien anspielte. Maßnahmen zur ‚Gesundung‘ der Stadt waren daher ein wichtiges Ziel der kommunalen Selbstverwaltung.168 Bezieht sich der damals gängige Terminus „Assanierung“ auf die Gestaltung einer ‚gesunden‘ Stadt, sind in diesen Maßnahmen neben den grundsätzlich die Stadt reguTab. 7 Prozentualer Anteil und Zahl der an meldepflichtigen Krankheiten (Epidemien) verstorbenen Personen 1890–1914169
1890 1895 1900 1905 1910 1914
Zahl der Zahl der an Sterblichkeitsrate Prozent der durch Gestorbenen Epidemien Gestorbenen durch Epidemien Epidemien Verstorbenen in auf 10.000 Personen Bezug auf die Gesamtzahl der Todesfälle 2.978 1.022 79,9 34,3 2.610 733 54,6 30,1 3.899 1.108 69,3 28,4 4.524 1.651 95,2 36,5 3.536 957 46,4 27,1 4.156 1.184 53,2 28,5
167 „Lwów nie każdemu zdrów“. 168 Papée, Historja, S. 231; Szczepan Mikołajski, Stosunki zdrowotne Lwowa [Die Gesundheitszustände Lembergs], in: Głos Lekarzy 5, 1907, H. 6, S. 1–2, H. 7, S. 2–3, H. 8, S. 3–4; ders., Działalność, S. 52: damit der Stadtrat „Lemberg zu einer gesunden Stadt macht“ („Lwów uczyni miastem zdrowem“). Die Diskurse über die „gesunde Stadt“ sind im Zusammenhang mit dem populärer werdenden und von Alfred Grotjahn propagierten Konzept der Sozialhygiene zu sehen. Hiernach sei die Ausbreitung von Infektionskrankheiten nicht monokausal, sondern habe mehrere Gründe wie Ernährung, Hygiene, Bevölkerungsdichte; vgl. Alfred Grotjahn, Vorwort, in: Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der Sozialen Hygiene und Demographie 3, 1904, S. III–XV. 169 Für die Jahre 1895–1914 nach Berner, Stan sanitarny. Er verweist darauf, dass die Sterblichkeitsrate in Lemberg deutlich schlechter war als in Krakau.
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lierenden, planerischen Akten vor allem die Entscheidungen und Ausführungen zur Verbesserung der gesundheitlichen Bedingungen der Stadt zu verstehen.170 Die mit der Assanierung eng verbundene öffentliche Gesundheit (Public Health) war daher zu einem kommunalpolitischen Thema,171 zu einem politisch formulierten Maßnahmenkatalag geworden:172 Die sog. Städtehygiene sollte das Gemeinwesen als Individuum von irgendwelchen Unterschieden der Classen betrachten, da thatsächlich die Wohlthaten der Assanirungswerke […] jedem Einzelnen zu Gute kommen, ebenso wie die Vernachlässigung eines Theiles des Gemeinwesens zugleich die Bedrohung der Gesundheit aller übrigen Theile zur Folge haben kann.173
Um dieser Herausforderung begegnen zu können, informierte sich der Stadtrat häufig über die neuesten Entwicklungen durch Entsendung von Delegationen ins Aus- und Inland, etwa auch zur Hygieneausstellung 1883 nach Berlin174 oder zur Städteausstellung 1903 nach Dresden.175 Die schlechten hygienischen Bedingungen werden beispielsweise beim Wohnungsmarkt deutlich. 1890 hatten etwa 60,6 Prozent aller Lemberger Wohnungen nicht mehr als zwei Zimmer.176 In 26,4 Prozent dieser Wohnungen lebten zwischen 6 und 11, in immerhin noch 2,2 Prozent zwischen 12 und 20 Personen, was auf die Armut der städtischen Unterschichten verweist. Es wird auch der soziale circulus vitiosus deutlich, in
170 GL v. 16.6.1893 mit dem Antrag, eine spezielle Assanierungskommission einzusetzen, an der nicht nur Kommunalpolitiker, sondern auch externe Fachleute teilnehmen sollten. 171 Im Allgemeinen gewann die städtische Gesundheitspolitik seit den 1860er Jahren an Bedeutung für die Kommunen, insbesondere für die Stadtplanung: Łupienko, Some Remarks, S. 22; vgl. auch Jürgen Reulecke / Adelheid Gräfin zu Castell-Rüdenhausen (Hrsg.), Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit“ und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991. Grundlegend Alfred Grotjahn, Die hygienische Kultur im 19. Jahrhundert, Berlin 1902. Diese Publikation stand mutmaßlich aufgrund der transnationalen Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse zumindest auch den führenden Magistratsangestellten im Bereich der Sanitäraufgaben zur Verfügung. 172 Nach: Hans J. Teuteberg / Günter Wiegelmann, Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluss der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 59. 173 Beide Zitate: Rella, Assanirung, S. 273. 174 Ostaszewski-Barański, Pogląd, S. 216. 175 Hierzu wurde eine Delegation mit dem städtischen Physikus, dem Bauamtsleiter, dem städtischen Schulinspektor und Ratsherren zusammengestellt, GL v. 29.8.1903. So gab es etwa einen ausführlichen polnischsprachigen Bericht über den Schulpavillon: Kazimierz Bruchnalski, Szkolnictwo Ludowe na Wystawie Niemieckich Miast w Dreźnie w r. 1903 [Das Volksschulwesen auf der Deutschen Städteausstellung in Dresden 1903], Lwów 1904, in: DALO, f. 3, op. 1, spr. 4898, Bl. 1–16. 176 Berner, Stan, S. 816: 36,1 Prozent waren Einraum-, 24,5 Prozent Zweiraumwohnungen. Weitere Prozentangaben: ebd.; Hanna Kozińska-Witt, Die Krakauer kommunale Selbstverwaltung und die Frage der Kleinwohnungen 1900–1939, in: dies. / Alena Janatková (Hrsg.), Wohnen in der Großstadt. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich, Stuttgart 2006, S. 179–204, hier: S. 187, führt für 1921 an, dass 27,1 Prozent aller Wohnungen Einzimmer- und 59,4 Prozent 1- bis 2-Zimmerwohnungen gewesen seien; in Krakau waren es in diesem Jahr 35 resp. 65,4 Prozent der Wohnungen.
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dem die Mieten – auch wegen versorgungsbedingtem verteuertem Bauen177 – stark anstiegen, wodurch sich die Zahl der Personen pro Wohnung noch erhöhte.178 Problematisch war, dass die Bevölkerungsdichte in einigen Bezirken erheblich stieg. Als zentrales Mittel für die Schaffung „gesunder“ Wohnverhältnisse nutzte der Magistrat die Bauordnungen, die sicherstellen sollten, dass die jeweils neuesten Erkenntnisse bezüglich einer hellen und gut durchlüftbaren Wohnungsanlage umgesetzt wurden.179 So wurden bereits 1885 – bei neu zu errichtenden Gebäuden – Kellerwohnungen mit Ausnahme von Hanglagen (Souterrain) und auch Dachbodenwohnungen mit Ausnahme von steilen Dächern in Palästen verboten, zugleich wurden Senkgruben und Kanäle verpflichtend.180 Jedoch übten die Lemberger Magistratsangestellten die Bauaufsicht nicht genügend aus, sodass die geforderte Bauqualität häufig nicht eingehalten wurde.181 Deutlich wird die kommunalpolitisch hohe Bedeutung „gesunder“ Verhältnisse in einem öffentlichen Vortrag des jungen Professors an der Technischen Hochschule Juljan Zachariewicz, den er 1881 über die drei sich gegenseitig bedingenden Voraussetzungen der Entwicklung Lembergs hielt:182 Ausgehend von der Feststellung, dass Lemberg neben Pest (40,0) und Triest (35,5) die höchste jährliche Sterblichkeitsrate DzL Nr. 18/1908. So stellte der Kurjer Lwowski beispielsweise 1909 fest, dass im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts die Mieten um 50 Prozent gestiegen seien, KL v. 6.8.1909. 178 DALO, f. 3, op. 1, spr. 5304: Memoryal w sprawie drożyzny mieszkań we Lwowie [Memorandum in der Angelegenheit der Teuerung der Wohnungen in Lemberg], 1908. Dies wird etwa in dem Bevölkerungszuwachs in den einzelnen Bezirken zwischen 1869 und 1910 deutlich: Im I. Bezirk stieg die Zahl der Bevölkerung um 310 Prozent, diejenige der Häuser nur um 270 Prozent, im II. um 290 resp. 280 Prozent, im III. um 160 bzw. 150 Prozent, im IV. Bezirk um 250 resp. 180 Prozent und in der Innenstadt um 18 bzw. 1 Prozent (im Gesamtschnitt um 225 Prozent und 210 Prozent). Vgl. Drexler, Wielki Lwów, S. 20. Vgl. auch Urszula Jakubowska, Codzienny Lwów. Z dziejów miasta przed I wojną światową [Das alltägliche Lemberg. Aus der Geschichte der Stadt vor dem Ersten Weltkrieg], in: Stanisław Ciesielski (Hrsg.), Galicja, Polska, Europa. Pamięci Zbigniewa Frasa (1952–1998) [Galizien, Polen, Europa. Zur Erinnerung an Zbigniew Fras (1952–1998)], Toruń 2008, S. 73–80, hier: S. 74. 179 So gab es genaue Vorschriften für die Küchen (§ 35) und die Regelung, dass mindestens eine „Abortkammer“ für zwei Wohnungen zur Verfügung stehen musste. § 50 LGuVBl. Nr. 31/1885. Allgemein: Adelheid von Saldern, Wohnen in der europäischen Großstadt 1900–1939. Eine Einführung, in: Alena Janatková / Hanna Kozińska-Witt (Hrsg.), Wohnen in der Großstadt. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich, Stuttgart 2006, S. 11–38, hier: S. 12. Ein Überblick über die Lemberger Verhältnisse: Urszula Jakubowska, Lwowskie domy na początku XX w. [Die Lemberger Häuser zu Beginn des 20. Jh.], in: Zbigniew Opacki / Dagmara Płaza-Opacka (Hrsg.), Dom – spotkanie przestrzeni prywatnej i publicznej na tle przemian cywilizacyjnych XIX i XX w. [Das Haus – Zusammentreffen des privaten und öffentlichen Raums vor dem Hintergrund zivilisatorischer Veränderungen des 19. und 20. Jh.], Gdańsk 2008, S. 136–141. 180 §§ 33, 34, 51–53, 72–74, LGuVBl. Nr. 31/1885. 181 Wendland, Stadthygienische Interventionen, S. 291 f., bezieht sich auf eine Kritik aus dem Jahr 1895, wonach die Hausbesitzer zu 70 Prozent selbst die Bauleiter seien und, wenn überhaupt, nur in geringem Umfang die hierfür nötigen Kenntnisse besäßen. Dies sei mit antisemitischen Ressentiments verbunden worden, da die Bauherren als Juden identifiziert worden seien. 182 GL v. 10.3.1881. 177
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
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von 35 auf 1.000 lebende Einwohner habe, während sie in London nur 23,7, in Brüssel 24,3, in Paris 25,1 und in Berlin 31,4 betragen würde, wies er auf den ‚wunden Punkt‘ der kommunalen Selbstverwaltung hin: Die hygienischen Verhältnisse waren in der Stadt insgesamt sehr schlecht. Da die wichtigsten Grundlagen für gesunde Verhältnisse frische Luft und gutes Wasser seien, forderte er den Bau von Wasserleitungen und eine ordentliche Führung der Kanalisation; beides würde in Lemberg noch nicht einmal milder Kritik standhalten.183 Im Vergleich zu anderen Städten, wo der Wasserverbrauch zwischen 60 und 100 Liter pro Kopf und Tag liege, seien es, so Zachariewicz, in Lemberg gerade 12 Liter im Durchschnitt. Die Stadtmitte könne hierbei 25 Liter pro Einwohner, andere Stadtteile dagegen 10, 8 oder nur 5 Liter Wasser pro Einwohner und Tag nutzen. Bezug nehmend auf die Verunreinigung des Trinkwassers durch Abwässer, betonte er, dass in der Stadtmitte, wo die Kanalisation am dichtesten sei, auch die Sterblichkeit am höchsten sei. Um die Lebensbedingungen zu verbessern, müssten der Poltew in den bevölkerungsreichsten Bezirken der Stadt eingehaust, das System der Abwasserkanäle und ihrer Reinigung und schließlich auch der Abfluss der Regenrinnen geändert werden, wodurch auch Wasser für den Hausgebrauch gesammelt und die Abwasserleitungen gereinigt werden könnten. Zachariewicz benannte daher drei miteinander verwobene Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklung, durch die sich wichtige Impulse für die Ratsarbeit und die erwähnten Debatten um die Aufnahme einer Anleihe für Stadtentwicklungsmaßnahmen ergaben: 1. die Verbesserung der hygienischen Bedingungen, d. h. der öffentlichen Gesundheit; 2. die erleichterte Befriedigung des täglichen Bedarfes durch angemessene Versorgung; 3. die entsprechende Einrichtung zur Sicherung des Luxus und des angenehmen Aufenthaltes in der Stadt, d. h. die Entwicklung zu einer auch für Wohlhabendere lebenswerten Stadt.184 Wie dringlich die Verbesserung der öffentlichen Gesundheit war, zeigte sich im Reskript des Statthalters vom August 1883, in dem er eine Stellungnahme und Erläuterung der angegangen Maßnahmen anforderte.185 Grundlage hierfür war, dass der Gesundheitsschutz generell als Aufgabe der „Landeskultur“ von den autonomen Behörden in allen Instanzen betrieben wurde, beispielsweise in Form von Landeskrankenhäusern in Lemberg und Krakau.186 Stadtpräsident Wacław Dąbrowski begründete dieses un-
Selbst 1911 war die Abwasserkanalisation in Lemberg immer noch nicht ausreichend, vgl. Mikołajski, Działalność, S. 25 f. Dies bedeutete, dass auch Brunnenwasser verseucht werden konnte. 184 GL v. 10.3.1881 und v. 28.3.1881. S. auch Kap. 4.1. 185 GL v. 10.8.1883. 186 Piotr Franaszek, Zdrowie publiczne w Galicji w dobie autonomii (wybrane problemy) [Die öffentliche Gesundheit in Galizien während der Autonomie (ausgewählte Probleme)], Kraków 2002, mit einem ausschließlichen Fokus auf die Landesinstitutionen und den galizischen Gesundheitsdienst. Insgesamt ist dieser Themenbereich in Bezug auf Lemberg und andere polnische, aber auch habsburgische Städte noch nicht ausreichend erforscht. Ausnahmen bilden etwa: Iwona Janicka, Kultura higieniczna Wilna w latach 1795–1915 [Die Hygienekultur in Vilnius 1795–1915], Gdańsk 183
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4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
gewöhnliche Einschreiten damit, dass der Rat die Stadt grundsätzlich völlig assanieren wolle. Dafür bedürfe es aber erheblicher Mittel und eines längeren Zeitraums, weil die Stadtteile gegenwärtig sehr vernachlässigt seien. Angesichts dieses Zustandes, versuchte er den Statthalter zu beruhigen, unternehme der Magistrat bezüglich der Verbesserung der hygienischen Bedingungen so viel, wie er schaffe. Gerade in den letzten Monaten sei besonders viel an „stiller Arbeit“ erfolgt, die nicht ins Auge falle.187 Unvermittelt kam dieses statthalterliche Reskript nicht, denn bereits vier Jahre zuvor hatte Stadtpräsident Aleksander Jasiński sich offensichtlich wegen des Pestausbruchs im Russländischen Reich genötigt gesehen zu betonen, dass der Magistrat alles unternehme, um die Bevölkerung von der größten Sorgfalt des Magistrats hinsichtlich der sanitären Angelegenheiten zu überzeugen, damit es in der Bevölkerung „nicht die kleinste Unsicherheit gibt.“188 Diese Äußerung weist darauf hin, dass Jasiński die Ängste und die wohl berechtigten Zweifel an der Effektivität der öffentlichen Gesundheitsvorsorge in der Bevölkerung bekannt waren. Bezug nehmend auf das Reskript von 1883 betonte die Gazeta Lwowska, dass einige der grundsätzlich meldepflichtigen ansteckenden Krankheiten in Lemberg nie erlöschen und von Zeit zu Zeit zu einer Gefahr würden, auch für die umliegenden Städte. Grund hierfür sei die „schreckliche Unordnung“, also die Verunreinigung, in Häusern, Höfen und Straßen, schließlich gäbe es einen empfindlichen Mangel an Wasser für die Straßen- und Kanalreinigung und sogar für den täglichen Gebrauch der Einwohner.189 Diese Argumentationslinie ist durchaus paradigmatisch auch für andere Städte: Die Gefährdung der (öffentlichen) Gesundheit vor allem durch Cholera, aber auch durch Typhus und andere Epidemien wurde als wichtiges diskursives Argument eingesetzt, um Stadterneuerungs- und Infrastrukturprojekte voranzutreiben. Das „Ordnung schaffen“ („uporządkowanie“) als wichtiger Bestandteil der Assanierungsziele rekurrierte auf allgemeine bürgerliche Vorstellungen für die zu regulierende Stadt, die auf Ordnung und Sauberkeit sowie auf funktionale Übersichtlichkeit und nicht zuletzt auf die Vermeidung von Epidemien und anderen Infektionskrankheiten abzielten.190 Unter diesem Stadterneuerungsziel wurden – wie in anderen Städten auch – zunächst das stadtplanerische Regulieren und damit auch die Verdrängung bestimmter Einrichtungen wie etwa des Gefängnisses 2009; Ute Caumanns, Modernisierung unter den Bedingungen der Teilung. Überlegungen zur Frage strukturellen und kulturellen Wandels in Warschau am Beispiel öffentlicher Gesundheit, in: Carsten Goehrke / Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.), Städte im östlichen Europa. Zur Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2006, S. 365–391. 187 GL v. 10.8.1883. Diese Vernachlässigung hatte Merunowicz, Rozwój miasta, S. 3, bereits hervorgehoben. Merunowicz widmete diese Publikation dem Stadtrat, sodass sie den Charakter eines Memorandums annimmt. 188 „nie ma najmniejszego niebezpieczeństwa“, GL v. 28.2.1879. 189 „straszliwym nieporządku“, GL v. 10.8.1883, in der nochmals in einem gesonderten Artikel auf das statthalterliche Reskript eingegangen wird. 190 Wendland, Stadthygienische Interventionen, S. 277.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
Abb. 13 Stadtpräsident Wacław Dąbrowski, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag.
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Abb. 14 Stadtpräsident Aleksander Jasiński, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag.
und von Schlachthöfen aus der Innenstadt verstanden.191 Dazu gehörte es auch, die Plätze und Märkte zu „ordnen“, also zumindest Stände und Kioske zu beseitigen oder anders anzuordnen, damit eine größere Sauberkeit und Ordnung gewährleistet waren.192 Darüber hinaus wurden der Stryjer und Łyczakowski-Park sowie weitere Grünflächen insbesondere im Zentrum angelegt resp. neu angepflanzt, um das innerstädtische Klima zu verbessern. Auf hygienischen Erkenntnissen beruhten auch die unpopulären Schließungen von innerstädtischen Friedhöfen (Gródecki-, Stryjer und Żółkiewer Friedhof) am Ende des 19. Jahrhunderts sowie deren Erweiterung (Łyczakower) resp. Neuanlage ( Jüdischer Friedhof).193 Begleitet wurde dieses „Ordnung schaffen“ durch eine erhebliche Ausweitung der 1877 als städtischer Betrieb organi191 192 193
GL v. 26.1.1892. Vgl. etwa auch Mazanik, Sanitation, S. 128 f. Papée, Historja, S. 231. So wurde beispielsweise sehr kontrovers über die Schließung des Gródecki-Friedhofs (cmentarz gródecki) diskutiert, weil das Grundwasser dort nur zwei Ellen tief war. GL v. 30.7.1875; zur Schließung des Stryjer Friedhofs GL v. 14.1.1896. Schließlich erkannte der Stadtrat auch die Notwendigkeit, eine moderne Friedhofsverwaltung zu etablieren, wozu ebenfalls eine Delegation ins Ausland zur Untersuchung von Vorbildern gesucht wurde. Vgl. GL v. 23.5.1912.
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4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
sierten Stadtreinigung und Müll- resp. Fäkalienbeseitigung, die jedoch bis 1914 immer noch viel zu wünschen übrig ließ.194 Dies drückte etwa der – durchaus mehrdeutige – Wahlkampfslogan von 1908 „Lemberg muss sauber sein“195 aus. Insgesamt waren die Assanierung und die damit verbundene Regulierung insbesondere der Armenviertel kostenträchtige Aufgaben, die bis 1914 nur ansatzweise umgesetzt wurden. Sie brachten gerade die Notwendigkeit zu einer intensiven Überzeugungsarbeit gegenüber den Hauseigentümern mit sich. Den ersten größeren Assanierungsbeschluss, der Vorbild für weitere Beschlüsse sein sollte, stellte der Ratsbeschluss vom November 1891 dar, wonach 181 Häuser gerade im III. (Żółkiewer) Bezirk für 25 Jahre steuerliche Freistellungen vor allem bei der Hauszinssteuer erhalten sollten, wenn sie im Rahmen der Assanierungsmaßnahmen innerhalb der nächsten 15 Jahre wieder aufgebaut würden.196 Dass jedoch 1905 weitere Steuerbefreiungen für die „behufs Besserung der sanitären Verhältnisse zu demolirenden 181 Häuser“ genehmigt wurden, verdeutlicht, dass diese Assanierungsmaßnahme nur teilweise umgesetzt wurde, weil die Hauseigentümer häufig kein Interesse an Investitionen hatten,197 wohl wegen der insgesamt geringen Amortisationsrate. Alles in allem stellte sich die Assanierung bestimmter Bereiche in der Stadt nicht einfach dar, weil es Voraussetzung war, dass die Eigentümer mit Abriss oder Grundsanierung einverstanden waren oder für die Anlage ganzer Straßenzüge enteignet werden mussten.198 Erst als der Rat den Druck auf die Hauseigentümer erhöhte, wurden erste Assanierungsmaßnahmen durchgesetzt, indem etwa im November 1895 beschlossen wurde, die Regierung um die Einbringung des Prager Enteignungsgesetzes mit entsprechenden Änderungen für Lemberg zu bitten, das aber nie verabschiedet wurde.199 Wie sehr die einzelnen Schritte auf einem Minimalkonsens beruhten, wurde deutlich, als die unzureichenden Maßnahmen für die Regulierung des dicht bebauten Żółkiewer200 (III.) Bezirks beschlossen wurden: Die wichtigsten Straßen und Plätze sollten lediglich erheblich erweitert
194 Strasburger, Gospodarka, S. 135; Sprawozdanie z czynności Reprezentacyi i Urzędów, S. 51 f.; ZNiO, PR, 13403/II, Bl. 25; Mikołajski, Działalność, S. 21 f., forderte 1911 aus hygienischen Gründen eine Müllverbrennung für Lemberg sowie eine Abdeckerei. Zur Stadtreinigung gehörten auch Vorschriften, wie im Inneren der Häuser Sauberkeit zu erhalten sei; die einschlägigen Kontrollen waren jedoch nicht ausreichend, vgl. Legeżyński, Stosunki, S. 92–99; vgl. auch zur „Stadthygiene“ als grundsätzlichem Problem der Leistungsverwaltung: Münch, Stadthygiene. 195 „Lwów musi być czysty“, SP v. 12.3.1908. 196 GL v. 5.12.1891, außerdem erreichte der Stadtrat vom Finanzminister noch Steuererleichterungen für die Hauseigentümer. Sanktioniert wurde diese Maßnahme erst 1893; LGuVBl. Nr. 38/1893. 197 GL v. 7.10.1892; DALO, f. 3, op. 1, spr. 1893; LGuVBl. Nr. 10/1905. 198 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4256, Bl. 69. 199 GL v. 28.11.1895. Vgl. hierzu ausführlich die Studie von Cathleen Giustino, die bezüglich des vorangegangenen Transfers medizinischer und hygienischer Ergebnisse auf die internationale Vernetzung hinweist (Giustino, Tearing Down, S. 69–77). 200 Hier lag der Kern der außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern gegründeten jüdischen Gemeinde.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
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werden. Nach Ansicht des Kurjer Lwowski wäre es am besten komplett abgerissen worden, weil es der am stärksten vernachlässigte Bezirk mit der ärmsten Bevölkerung sei.201 Begründet wurde diese auf vier Millionen Kronen geschätzte „Anhebung“ des Bezirks sowohl mit seinem ästhetischen Aussehen als auch mit der Notwendigkeit einer „radikalen Verbesserung“ der gesundheitlichen Bedingungen, die immer noch in einem beklagenswerten Zustand seien und durch Epidemien unaufhörlich die Stadt bedrohten.202 Über die bauliche Regulierung der Bezirke hinausgehend umfasste „Assanierung“ als Stadterneuerungsprogramm die Durchführung notwendiger Infrastrukturmaßnahmen. Neben der Einhausung des Poltews wurde die Kanalisierung für Lemberg zu einer der „vitalsten“ Herausforderungen, um sich dem Ziel einer ‚gesundgemachten‘ Stadt anzunähern. Denn der Poltew hatte seine Quellen in der Stadtmitte und durchfloss diese auch, sodass durch das Flüsschen und die dazugehörigen Sümpfe nicht nur die Verbindungen zwischen den Stadtteilen erschwert wurden, sondern es vor allem einen bedeutenden Krankheitsherd darstellte.203 Die bestehende Kanalisation war weder ausreichend noch zeitgemäß, zumal zahlreiche Kanäle undicht waren.204 Der Rat intensivierte zwischen 1883 und 1905, insbesondere von 1883 bis 1892, die bereits 1841 begonnene Kanalisierung und Tieferlegung des Poltews und des zulaufenden Pasieka-Baches sowie weiterer Zuläufe und Teiche.205 Welche Bedeutung dieser Maßnahme insbesondere für den Schutz gegen die Cholera beigemessen wurde, zeigt sich darin, dass sie zu einem stets wiederkehrenden Wahlversprechen und Wahlkampfthema wurde, weil gerade hierzu fähige und fachlich ausgewiesene Ratsherren (etwa des Komitet Techników / Komitees der Techniker) gewählt werden sollten.206 Insgesamt war das Vorgehen des Stadtrates durchaus charakteristisch, weil er lokale, polnische, aber gut vernetzte Experten der Polytechnischen Gesellschaft in die Planungen ein-
KL v. 6.8.1909; vgl. auch Mikołajski, Działalność, S. 21 f. „podniesienie“, „polepszenie radykalne“, GL v. 16.3.1909. Papée, Historja, S. 230. Vgl. GL v. 10.3.1881. Größtenteils bestanden die Kanäle in den 1890er Jahren noch aus Holzrohren, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verlegt wurden. Im 19. Jahrhundert wurden die Rohre aus Ziegeln gemauert; erst seit Ende der 1870er Jahre wurden moderne Betonrohre verlegt. Vgl. W. Górecki, Sprawozdanie miejskiego urzędu budowniczego pod względem kanalizacji tegoż i zaopatrzenia w wodę [Bericht des städtischen Bauamtes hinsichtlich der Kanalisation und der Wasserversorgung], Lwów 1892 (für die Assanierungskommission); Józef Zarzycki, Objaśnienie projektu kanalizacyi miasta Lwów [Erläuterung zum Kanalisationsprojekt der Stadt Lemberg], Lwów 1904, S. 3 ff., mit genauen Erklärungen zu den deutschen und amerikanischen Systemen. Vgl. etwa auch die Budgetdebatte 1906: GL v. 10.3.1906; vgl. auch Antoni Pawlikowski, O stosunkach zdrowotnych w mieście Lwowa. Sprawozdanie za r. 1888 [Über die gesundheitlichen Bedingungen in der Stadt Lemberg. Bericht für das Jahr 1888], Lwów 1891, S. 69. 205 „najżywotniejszych“, GL v. 19.5.1881, 2.6.1885. Stolz stellte der Stadtrat im April 1893 fest (GL v. 26.4.1893), dass die Kanalisierung des Poltews selbst von Wien zum Vorbild genommen werde. 206 GL v. 10.8.1890, v. 9.11.1890, v. 18.1.1893, v. 28.9.1893. 201 202 203 204
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band,207 obwohl er sich auch die Erfahrungen auswärtiger best practices, Firmen und Ingenieure bei der Bauplanung zunutze machte. Im Gegensatz zu anderen Städten engagierte er – wohl aus nationalen Erwägungen der Organischen Arbeit heraus – keine auswärtigen, namhaften Fachleute wie William Lindley208 für die konkrete Bauausführung. Neben der Wasserentsorgung war die Wasserversorgung ein weiteres zentrales Problem. Insgesamt war Wasser aufgrund der topografischen Lage Lembergs an der europäischen Wasserscheide knapp, sodass es nicht nur für die Privatversorgung, sondern auch für öffentliche Zwecke fehlte, wie der Rat besorgt feststellte.209 Daher war es dringend notwendig, Brunnen und Hydranten für Feuerschutzzwecke und das Spülen der Abortrinnen und Kanalisation zu bauen.210 Angesichts fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnisse wurde die Verunreinigung der Wasserleitungen als ein wesentlicher Grund für die ungesunden Lebensbedingungen in Lemberg erkannt.211 So konstatierte der Rat etwa im September 1899 besorgt, dass Typhus und (fälschlicherweise) Malaria über die Wasserleitungen übertragen würden. Hierdurch wären nicht nur die Armen, sondern auch die „Intelligenten“ betroffen212 – d. h. es war den Akteuren durchaus klar, dass durch die mangelnde Infrastruktur und die daraus resultierenden katastrophalen gesundheitlichen Zustände auch die sozialen und politischen Eliten bedroht waren. Die Versorgung der wachsenden Stadt mit „gesundem Wasser“213, also mit Quellwasser, das nicht aus oberflächennahen und mehrfach im Jahr zu reinigenden Brunnen214 207 GL v. 30.4.1886. 208 Der britische Ingenieur Lindley machte sich gerade in Bezug auf die Versorgungs- und Entsorgungstechnik sowie den Wasserbau einen Namen, sodass er etwa die ersten unterirdischen Entwässerungsanlangen baute. Er zeichnete nicht nur für die Hamburger Wasserver- und -entsorgung verantwortlich, sondern war auch – zusammen mit seinen Söhnen – in Frankfurt am Main, Düsseldorf, St. Petersburg, Warschau, Budapest und Prag tätig. 209 GL v. 21.1.1877. 210 Vgl. W. Górecki, Sprawozdanie miejskiego urzędu budowniczego pod względem ogólnego położenia m. Lwowa [Bericht des städtischen Bauamtes unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage der Stadt Lemberg], Lwów 1892, S. 5; O stosunkach zdrowotnych miasta Lwowa. Sprawozdanie fizykatu za r. 1888 [Über die gesundheitlichen Bedingungen der Stadt Lemberg. Bericht des Physikats für 1888], Lwów o. J. [1889]. 211 So etwa auch wissenschaftliche Vorträge in der Gesellschaft der Freunde der Gesundheit (Towarzystwa przyjaciół zdrowia), GL v. 18.12.1891. 212 „inteligentnych“, GL v. 28.9.1899. Die Sümpfe in der Stadt förderten als Brutgelegenheit für die Mücken die Malariainfektionen. 213 Dies stellt etwa ein der Statthalterei vorgelegter Bericht 1909 fest: CDIAL, f. 146, op. 8a, spr. 202, Bl. 37. 214 Die Lemberger Brunnen und dazugehörigen Leitungen waren häufig bakteriell verunreinigt und insbesondere mit sog. Brunnenfäden (Crenothrix) befallen, die das Wasser ungenießbar machen. Vgl. Mieczysław Dunin-Wąsowicz, Woda do picia we Lwowie. Rozbiory wód wodociągowych i studziennych [Trinkwasser für Lemberg. Analyse des Wassers aus Wasserleitungen und Brunnen], Lwów 1894; vgl. auch Moritz Friedmann, Das Trinkwasser der Garnison Lemberg, Lemberg 1898. Berner, Stan, S. 817, verweist darauf, dass gerade die privaten Brunnen vernachlässigt, d. h. nicht sauber gehalten wurden. Problematisch war allgemein die Nähe von oberflächennahen Brunnen
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stammte, wurde seit Beginn der 1890er Jahre zu einem weiteren prioritären Anliegen215 und zu einer der Hauptinvestitionen der Stadt Lemberg. Bereits seit den 1880er Jahren wurden solche Frischwasserleitungen diskutiert216 und entsprechende Machbarkeitsstudien217 über verschiedene Quellen und den Leitungsbau in Auftrag gegeben. Zunächst wurde Wasser aus Quellen in der näheren Umgebung zugeleitet,218 doch dies genügte wegen des Wachstums der Stadt nicht mehr. Daher beschloss der Rat schließlich, in den 1890er Jahren eine technisch aufwendige Wasserleitung aus dem knapp 30 km entfernten nordwestlich von Lemberg gelegenen Gebiet Wola Dobrostańska zu bauen.219 Bereits von Beginn der Planungen des insgesamt 6,4 Mio. Kronen kostenden Projektes220 an arbeiteten Ärzte und Ingenieure unter Führung von Bauamtsleiter Juliusz Hochberger eng zusammen, der die Realisierung des Projektes zwischen 1899 und 1901 energisch vorantrieb.221 Hochberger wurde jedoch von einigen Ratsherren scharf kritisiert, da für ihn „die Sonne in Berlin auf- und untergeht“222. Seine Kritiker rieben sich daran, dass er sich auf die Expertise deutscher Unternehmen bei der Bauausführung verlassen wollte, was sie aus dem Gefühl einer nationalen Verpflichtung heraus ablehnten, obwohl die lokalen Firmen nicht entsprechend leistungsfähig waren.223 Die verbesserte Wasserversorgung trug erheblich zur Senkung der Sterblichkeitsrate bei.224 Als allgemeine Sicherungsmaßnahme der Daseinsvorsorge war sie wegen der zu überwindenden Distanz nicht rentierlich, obwohl eine hohe umstrittene Gebühr
zur Abwasserkanalisation, wodurch das Trinkwasser häufig verunreinigt wurde. Schott, Europäische Urbanisierung, S. 118. 215 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4403, Bl. 6 ff. In dieser Akte wird deutlich, dass die betroffene Starostei (Kreisverwaltung) nicht entsprechend über die Verlegung der Rohrleitungen durch ihr Gebiet informiert worden war. Vgl. auch GL v. 14.1.1893. 216 So etwa GL v. 14.1.1893; Pawlikowski, O stosunkach, S. 40 f., betont, dass die bisherigen innerstädtischen Wasserleitungen verunreinigt seien. 217 Etwa Józef Tuszyński, Kilka uwag technicznych w sprawie nowo żałożonego wodociągu wuleckiego [Einige technische Anmerkungen bezüglich der neu verlegten Wulka-Wasserleitung], Lwów 1886. Der Rat beschloss (GL v. 5.3.1896) etwa auch, vier Fachleute aus dem Deutschen Reich für ein Gutachten zu engagieren. 218 Hierzu stellte der Rat 1894 (GL v. 26.1.1894) 1,5 Mio. Kronen zur Verfügung. Vgl. Pawlikowski, Stosunki, S. 269. 219 Vgl. den zur Beschlussfassung führenden Bericht: Sprawozdanie komisyi Rady miejskiej o wodociągach dla miasta Lwowa [Bericht der Ratskommission über die Wasserleitungen für die Stadt Lemberg], Lwów 1898. 220 GL v. 20.12.1901. 221 Vgl. Stanisław Aleksandrowicz, Wodociąg lwowski [Die Lemberger Wasserleitung], Lwów 1902, S. 1–17. Bereits 1903 wurde geplant, die Entnahmestellen zu erweitern. Vgl. ZNiO, PR, 13405, Bl. 95; vgl. auch Strasburger, Gospodarka, S. 123–129. 222 GL v. 14.1.1899; SP v. 16.1.1899. 223 Ebd., vgl. GL v. 16.3.1899; vgl. auch GL v. 7.2.1896. 224 Strasburger, Gospodarka, S. 126 f. Vgl. auch Konrad Wnęk, Przemiany demograficzne we Lwowie w latach 1829–1938 [Demografische Veränderungen in Lemberg in den Jahren 1829–1938], in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego 1291, 2008, S. 113–127, hier: S. 116: Die Zahl oszillierte von 29,02 Prozent (1873) auf 7,34 Prozent (1891), im Mittel betrug sie 12,04 Prozent.
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von 5 Prozent der Mietsteuer erhoben wurde.225 Der mit dem Bau der Wasserleitungen verbundene Anschlusszwang brachte nicht nur wegen dieser Gebühren politische Probleme mit sich. Jeder Hauseigentümer, also ein großer Teil der Wählerschaft, wurde verpflichtet, innerhalb von drei Jahren nach Eröffnung der Wasserleitung sein Haus anzuschließen. Dagegen wehrten sich zahlreiche Immobilienbesitzer aufgrund der damit verbundenen Kosten und Abgaben, sodass einige Ratsherren der Regelung vehement entgegentraten.226 Dieser Anschlusszwang wurde schließlich vom Landtag beschlossen. Jedoch machte die Stadt in ihrer eingereichten Vorlage klar, dass es hierbei um eine Verbesserung der öffentlichen Gesundheit gehe und dies im öffentlichen Interesse „zum Wohle der Allgemeinheit der Einwohner“ liege.227 Die vergleichsweise gute Wasserversorgung dauerte nur ein knappes Jahrzehnt an. 1910 wurde von Rutowski deutlich ausgesprochen, was nach seinen Worten Fachleuten länger bekannt gewesen sei, die aber bislang nichts unternommen hätten: Die Quellen in Wola Dobrostańska schienen sich zu erschöpfen bzw. nicht genügend Wasser für den steigenden Wasserverbrauch der wachsenden Bevölkerung, der Stadtreinigung und der Gewerbebetriebe zu liefern. Die Versorgungslage war wohl derart schlecht, dass im Falle eines größeren Feuers nicht genügend Wasser zur Verfügung gestanden hätte. Darüber diskutierte der Stadtrat intensiv, der schließlich die Wiedereröffnung alter Brunnen unter Aufsicht eines städtischen Chemikers und eines Mitglieds der zuständigen Ratskommission beschloss und die Bevölkerung zum Wassersparen aufrief. 1911 entschied er, hundert neue Brunnen für Straßenreinigungszwecke und 1912, neue Wasserspeicher zu bauen, wofür er 2.000 Morgen Wald im Wassereinzugsgebiet kaufte. Das Problem des Wassermangels wurde jedoch dadurch nicht gelöst.228 So wie Juljan Zachariewicz es bereits 1881 angedeutet hatte, waren die gesundheitlichen Zustände eine durchaus reale Bedrohung der Gesamtbevölkerung Lembergs. Ins-
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Die zuständige Finanzkommission begründete dies mit den hohen Kosten von jährlich über 882.000 kr.; GL v. 7.2.1904. 226 GL v. 13. und 23.3.1900; LGuVBl. Nr. 16/1900. 1911 waren 96 Prozent der Häuser an die Wasserleitungen angeschlossen, vgl. Strasburger, Gospodarka, S. 127. Vgl. Ustawa wodociągowa dla król. stoł. miasta Lwowa [Wasserleitungssatzung für die königl. Hauptstadt Lemberg], Lwów 1902; die zuvor erfolgte Stellungnahme des Landesausschusses zur Verabschiedung des Gesetzes: Sprawozdanie Wydziału krajowego w przedmiocie petycyi gminy król. stoł. miasta Lwowa o nadanie jej ustawy wodociągowej [Bericht des Landesausschusses zum Gegenstand der Petition der königl. Hauptstadt Lemberg über die Erteilung eines Wasserleitungsgesetzes], Lwów 1903, in: ZNiO, PR, 13405, Bl. 79–91. 227 „na celu dobro ogółu mieszkańców“, GL v. 23.3.1900; DALO, f. 3, op. 1, spr. 4577, Bl. 4424–4425. Zu den Leitentwicklungen in England und Deutschland vgl. Anne I. Hardy, Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit. Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 2005. 228 GL v. 15.2.1910; GL v. 28.4.1911 und v. 24.3.1912; vgl. zum Einfluss neuester Erkenntnisse: Budowa wodociągu dla Lwowa ze szkła [Der Bau einer Wasserleitung für Lemberg aus Glas], Janów 1913. GL v. 17.1.1912 mit einem Aufruf des Magistrats, Wasser zu sparen, vgl. GL v. 28.4.1911 und v. 24.3.1912. Die Wasserversorgung stellt bis in die Gegenwart ein großes Problem der Stadt dar.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
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besondere die Tuberkulose war eine Geißel, sodass der Arzt Dr. Kazimierz Lewandowski 1909 in einer Abhandlung über die Missstände in der öffentlichen und privaten Hygiene Lemberg sogar als „Hauptstadt der Tuberkulose“ bezeichnete.229 Da Diphterie, Kehlkopfdiphterie und Bauchtyphus ständig in Lemberg auftraten und es häufig längere Epidemiezüge von Masern, Pocken, Scharlach, Keuchhusten, Fleckfieber und Ruhr gab, sei es, so der Arzt weiter, für die gesunde Hälfte der Bevölkerung der Stadt zu unsicher, sich draußen aufzuhalten, weil man nicht wisse, ob einem ein Kranker gegenüberstehe.230 Hieraus entwickelte sich für die kommunalpolitischen Akteure das Ziel einer ‚gesunden Stadt‘ mit einer entwickelten öffentlichen Gesundheit.231 Für das kommunalpolitische Alltagsgeschäft bedeutete dies, dass entsprechende Vorsorgemaßnahmen getroffen wurden und auch eine Art Notfallplan für das fast jährliche Auftreten von Epidemien erstellt wurde. Daher richtete der Stadtrat 1872 einen städtischen ärztlichen Gesundheitsdienst aufgrund des Reichsgesetzes zur Einrichtung des öffentlichen Sanitätsdienstes ein.232 Hierfür teilte er die Stadt in sechs bzw. 1887 in sieben Sanitärbezirke mit eigenen Ärzten ein, die seit der Jahrhundertwende durch städtische Armenärzte unterstützt wurden.233 Die städtischen Ärzte waren zuständig für Impfungen, Besuche von Kranken zu Hause, die Leichenschau, die Behandlung der ärmeren Bevölkerung und Kontrollen der öffentlichen Einrichtungen, z. B. der Schulen, Waisenhäuser, Zufluchtsstätten, Kasernen und Gefängnisse. Außerdem waren sie für die gesundheitliche Aufsicht über die Märkte zuständig.234 Den städtischen Ärzten vorgesetzt war der städtische Physikus, der seit 1887 nicht mehr privat praktizierte, sondern als städtischer Angestellter sein Büro im Rathaus erhielt und sich vor allem um administrative und konzeptionelle Angelegenheiten kümmerte.235 Jedoch genügte diese Ämterstruktur um die Jahrhundertwende nicht mehr. Die überfällige Reorganisation zog sich hin und wurde 1908 von der Statthalterei anlässlich
229 „stolica gruźlicy“, Berner, Stan, S. 818 ff. Jeder fünfte, in manchen Jahren jeder vierte Todesfall war auf die Tuberkulose zurückzuführen, die vor allem die körperlich arbeitende Bevölkerung betraf. 230 Kazimierz Lewandowski, Chore zęby w chorem ciele. Szkic [Kranke Zähne im kranken Körper. Eine Skizze], Lwów 1909, S. 3. 231 Zur europaweiten Bedeutung des Verständnisses: Schott, Europäische Urbanisierung, S. 223–237. 232 Reichssanitätsgesetz: RGBl. Nr. 68/1870, das Aufgaben in den Bereich des eigenen und des übertragenen Wirkungskreises definierte. Diese Regelung gehört zu den staatlichen Schritten, die Wohlfahrts- und Gesundheitsfunktionen der „policey“ aus den Polizeiverwaltungen auszugliedern und eine Spezialverwaltung zu installieren, vgl. hierzu allgemein Alf Lüdtke, Zurück zur „Policey“? Sicherheit und Ordnung in Polizeibegriff und Polizeipraxis vom 18. bis ins 21. Jahrhundert, in: Stefan Goch (Hrsg.), Städtische Gesellschaft und Polizei. Beiträge zur Sozialgeschichte der Polizei in Gelsenkirchen, Essen 2005, S. 26–35 und 428 f., hier: S. 29. 233 Dies reichte jedoch nicht aus: 1903 war in Lemberg für 31.800 Personen ein städtischer Arzt zuständig, in Krakau dagegen einer für 22.400 Personen. Vgl. Berner, Stan, S. 818; DALO, f. 3, op. 1, spr. 4949, Bl. 78 ff. 234 Berner, Stan, S. 818. Die Dienstinstruktionen in LGuVBl. Nr. 1/1894. 235 Die Ausstellung während des polnischen Ärztekongresses wurde mit 1.000 fl. und durch die Zurverfügungstellung des Ratssaales unterstützt; GL v. 25.5.1885.
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einer Scharlachepidemie explizit mit Bezug auf die Verunsicherung in der Bevölkerung angemahnt, indem sie die Anstellung von vier weiteren städtischen Ärzte forderte.236 Daher entsandte der Stadtrat im Frühjahr 1909 eine Delegation in die größeren Städte Österreichs und des Deutschen Reiches, um Erkenntnisse über die „besten Vorbilder“237 der anderen Städte für diese Reorganisation kennenzulernen. Hiernach sollte ein städtisches Gesundheitsamt eingerichtet werden, das in sanitär-administrativen Angelegenheiten völlig selbstständig arbeiten und dessen Amtsleiter im Magistrat in Gesundheitsfragen Stimmrecht und in allen übrigen Fragen beratende Funktionen haben sollte. Obwohl allen Ratsherren die Dringlichkeit bewusst war, beschlossen sie diese Reform erst 1911. Im Gegensatz zu dieser zögerlichen Haltung entwickelte der Stadtrat das 1872 eingerichtete Marktamt, durch das das alte Marktamt und die Marktpolizei fusioniert wurden, zum Hilfsamt für Handel und öffentliche Gesundheitsfürsorge weiter, weil es sich insbesondere um die „Ordnung“ der Märkte und die „Sauberkeit“ der Örtlichkeiten und Waren zu kümmern hatte. Auch wurde rasch klar, dass angesichts zahlreicher Lebensmittelfälschungen,238 die wegen der Teuerung zunahmen und für die Gesundheit der Bevölkerung bedrohlich waren, Untersuchungen der Waren durch einen Chemiker notwendig wurden. Dessen Anstellung rief 1879 noch eine Kontroverse hervor, da einige Ratsmitglieder feststellten, dass Lemberg nicht Paris sei und daher aus finanziellen Gründen die notwendigen Untersuchungen von Privatchemikern erledigt werden könnten. Die Befürworter argumentierten aber erfolgreich, dass es in allen größeren (west-)europäischen Städten angestellte Chemiker gäbe.239 Daher wurde 1881 ein eigener städtischer Chemiker für die Kontrolle von Lebensmitteln und der Wasserversorgung durch Brunnen angestellt – der erste innerhalb der Habsburgermonarchie.240 Dies zeigt, wie dynamisch letztlich die schlechte öffentliche Gesundheit auf die Professionalisierung der Stadtverwaltung und weitere Investitionsmaßnahmen einwirkte. Gerade weil Epidemien die gesamte Bevölkerung betrafen, investierte der Rat, sofern es möglich war, in prophylaktische Maßnahmen. So ordnete etwa der Magistrat während der Pockenepidemie zwischen 1881 und 1884 als erste Gemeindevertretung der Habsburgermonarchie ausschließlich Kuhpocken als Impfstoff an. Der Erfolg die-
236 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4949, Bl. 15 und spr. 5302, Bl. 4. 237 „najlepsze wzory“, GL v. 9.11.1909; GL v. 5.10., 11.10., 27.10.1908; vgl. Mikołajski, Działalność, S. 43 f. 238 Beispielsweise wurde 1894 in einer Ratssitzung ausführlich über die häufig anzutreffenden Phänomene des Milchpanschens und der Milchverlängerung sowie über ebenfalls gängige Verunreinigungen von Butter berichtet, vgl. GL v. 17.5.1894. 239 GL v. 10.1.1879. 240 Die Untersuchungen fanden bis zur Errichtung eines eigenen Labors 1887 in der Universität statt, vgl. Mieczysław Dunin-Wąsowicz, Miejskie laboratorium chemiczne [Das städtische chemische Labor], in: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lwów 1896, S. 283–298, hier: S. 287.
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ser Maßnahme blieb nicht aus,241 sodass die Sterblichkeitsrate seit 1886 deutlich sank. Besondere Aufmerksamkeit wurde nicht zuletzt der Cholera gewidmet, waren die Choleraepidemien von 1831 und 1855, die insgesamt 2.622 resp. 2.544 Todesopfer forderten, noch in deutlicher Erinnerung bei der örtlichen Bevölkerung. 1871 und 1873 trat die Cholera vor allem in den hauptsächlich von Juden bewohnten II. (Krakauer) und III. (Żółkiewer) Bezirken auf.242 Da der Ausbruch der Epidemie in Galizien bereits vor ihrer Ankunft in der Stadt bekannt geworden war, wurden insofern Vorsorgemaßnahmen getroffen, als gesonderte Krankenstationen eingerichtet und die Desinfektionen der Häuser, Kloaken und Kanäle angeordnet wurden, deren schlechter Zustand deutlich öffentlich angeprangert wurde.243 Dass „ein für alle Mal“ den Hausbesitzern die Verantwortung für den Zustand der Kloaken, Kanäle und für die Hausdesinfektionen übertragen wurde, verweist auf deren grundsätzlichen Unwillen, diese Maßnahmen (wohl aus finanziellen Erwägungen) durchführen zu lassen.244 Problematisch war der generelle Mangel an Isolierstationen für infektiöse Krankheiten; erstmals wurden 1892 hölzerne Baracken mit 92 bis 100 Betten eingerichtet, die jedoch nicht ausreichten. Insgesamt waren bis 1914 die notwendigen sanitären Einrichtungen nur ungenügend.245 Weil die Stadt Lemberg aber, wie andere galizische Städte auch, die hygienischen Zustände nicht in den Griff bekam, verfolgte die Statthalterei 1903 kurzzeitig die Idee, der Polizeidirektion unterstellte Amtsärzte einzustellen, was den eigenen Wirkungskreis der autonomen Stadt und insbesondere die Aufgaben der städtischen Ärzte eingeschränkt hätte. Daher empfahl Stadtpräsident Małachowski in seiner Stellungnahme der Statthalterei, das Projekt einzustellen. Er konnte aber nicht konkret mitteilen, wie er die sanitären Verhältnisse in Lemberg verbessern wollte. Die grundsätzlich mangelhafte Ausstattung an Einrichtungen, aber auch an Personal zeigte sich etwa auch 1905, als erneut eine Choleraepidemie drohte und der Stadtrat über die zu ergreifenden Maßnahmen beriet. Hierbei kam es zu einem heftigen Konflikt, weil eine Gruppe von Ratsherren Maßnahmen mit der Begründung vermeiden wollte, nicht nur die armen, sondern auch die „intelligenten“ Personen, also die Wähler, würden sich durch Besichtigungen der Anti-Cholerakommission schikaniert fühlen.246 In der grundsätzlichen Ablehnung einer solchen Kommission zeigt sich vordergründig eine gewisse Ignoranz gegenüber der Bedrohungslage der Bevölkerung. Sie
241 Berner, Stan, S. 822. Lediglich 1892 trat nochmals eine Pockenepidemie auf, weil es in der Stadt eine große Zahl an (kleinindustriellen, handwerklichen) Arbeitern und arbeitslosen Armen gab, die nicht geimpft waren. 242 1872 starben 170 (von 360 erkrankten) und 1873 412 Personen. 1873 brach die Cholera aber außerhalb dieser Viertel in Wulka, einem Teil des I. (Halicki-)Bezirks zuerst aus und betraf auch den IV. (Łyczakower) Bezirk. Vgl. Dunin-Wąsowicz, Miejskie laboratorium, S. 279. 243 GL v. 5.11.1873. 244 „raz na zawsze“, GL v. 30.9.1871. 245 Berner, Stan, S. 823; Mikołajski, Działalność, S. 38 f. 246 GL v. 8.9.1905 und v. 10.9.1905.
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verweist aber auch auf die Orientierung an den Wählerschichten und auf ein gewisses liberales Denken, das sich gegen (kostenpflichtige) staatliche resp. städtische Eingriffe ins Eigentum sperrte, da die Desinfektionen von den Eigentümern zu tragen waren.247 Zu den neuen Infrastrukturen, welche die ‚gesunde Stadt‘ gewährleisten sollten, gehörte auch die vermehrte Einrichtung von öffentlichen Bädern seit der Jahrhundertwende,248 da insbesondere die Arbeiter und die unteren und ärmsten Schichten, wie es der Ratsherr Jan Soleski in seinem Bericht 1903 feststellte,249 Badehäuser zur notwendigen Erhaltung der Körperhygiene aus Kostengründen nicht besuchen konnten. 1906 betonte er in der Budgetdebatte, dass öffentliche Bäder aus sanitären Gründen für die Ärmsten geschaffen werden müssten, weil, wie er zugespitzt formulierte, viele von ihnen nur zwei Mal, nämlich nach der Geburt und nach ihrem Tode, gewaschen würden.250 Dass die Wahrnehmung von „gesund“ resp. „krank machend“/„ungesund“, „arm“ und damit von „sicher“ und „unsicher“/„bedroht“251 zumindest immer implizit, teilweise auch explizit durch nationale, antisemitische Vorurteile gegenüber den Juden geprägt wurde, zeigt sich in den Debatten über den Umgang mit den Epidemien deutlich, insbesondere wenn über die Assanierungsmaßnahmen diskutiert wurde. Von diesen Regulierungsmaßnahmen waren vor allem die nordwestlichen, im versumpften Quellgebiet des Poltews liegenden Armenviertel der Stadt betroffen, die zugleich die jüdischen Viertel waren. Geradezu paradigmatisch formulierte dies bereits eine deutsch- und polnischsprachige Kundmachung des Magistrats vom Mai 1867, welche die Intentionen und Ressentiments der kommunalen Gesundheitsfürsorge (der sog. Medizinalpolicey) herausstellte: Es ist die Wahrnehmung gemacht worden, daß im Inneren vieler Häuser namentlich aber in den durch die israelische Bevölkerung überwiegend bewohnten Häusern die Unreinlichkeit derart überhand genommen hat, daß die begründete Besorgniß entsteht, damit jener Zustand, welcher schon an und für sich Keime zu manchen Krankheitsfällen in sich enthält, auf das allgemeine Gesundheitswohl der Stadtbevölkerung nicht einen schädlicheren Einfluss zumal zur Sommerszeit, welche das Entstehen epidemischer Krankheiten begünstigt, ausübe.252
247 Vgl. GL v. 22.7.1895. 248 So waren Teile verschiedener Anleihen auch zur Errichtung öffentlicher Badehäuser gedacht, vgl. etwa GL v. 2.3.1900 und v. 21.6.1908. 249 Jan Soleski, Sprawozdanie z działalności w radzie miejskiej [Bericht über die Tätigkeit im Stadtrat], Lwów 1903. 250 GL v. 4.3.1906 und v. 18.8.1910. 251 Allgemein: Alfons Labisch, Gemeinde und Gesundheit. Zur historischen Soziologie des kommunalen Gesundheitswesens, in: Bernhard Blanke / Adalbert Evers / Hellmut Wollmann (Hrsg.), Die Zweite Stadt. Neue Formen lokaler Arbeits- und Sozialpolitik, Opladen 1986, S. 275–305, hier: S. 287, betont, dass es in der Assanierungsära vor allem darum ging, die allgemeine Ansteckungsgefahr, die aus den Arbeitervierteln drohte, zu beseitigen. 252 DALO, f. 3, op. 1, spr. 2472, n. pag.
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Diese Bekanntmachung zeigt, dass es nicht philanthropische Maßnahmen waren, die zu Bemühungen um eine Verbesserung der Lebensumstände gerade in den Armenvierteln, den jüdische Vierteln, durch bauliche Regulierung und die Verbesserung der Wasserver- und -entsorgung führten, sondern sie vor allem dazu dienten, die gesamte Stadt (und damit die „intelligenten“ und reicheren Schichten) vor der Gefahr meldepflichtiger epidemischer Krankheiten zu schützen. Da die Cholera besonders intensiv in den zwei jüdischen Vierteln 1855 und auch in den 1870er Jahren aufgetreten war, wurden gerade im Rahmen der Anti-Choleramaßnahmen antijüdische bzw. antisemitische Ressentiments geäußert.253 Beispielsweise wurde in den Diskursen stets ein Zusammenhang zwischen dem Choleraausbruch und der jüdischen Bevölkerung hergestellt, der de facto sozial begründet war – in den Diskursen jedoch überwog stets der Blick auf das Jüdische, d. h. die ethnisch-religiöse Komponente. Besonders deutlich wurde dies etwa anlässlich des Ausbruchs der Cholera 1892 in Krakau und der Debatte um ihre Abwehr in Lemberg, indem die Cholera eng mit der „Ordnung“ in der Stadt, insbesondere in den jüdischen Vierteln, in Verbindung gebracht wurde, weil dort die schlimmste Unordnung herrsche254 – unter „Unordnung“ wurden somit Schmutz, nicht gereinigte Abwasserkanäle und auch höchst beengte, schlechte Wohn- und Lebensverhältnisse verstanden. Ebenso wurden die beengten Cheder-Schulen (Pl. Chadorim)255 nicht nur als ein Symbol jüdischer (kultureller) Rückständigkeit gesehen, sondern wegen ihrer Überfüllung auch für die schlechten gesundheitlichen Zustände in den armen jüdischen Vierteln und damit sehr konkret als Infektionsherd für die städtische Bevölkerung verantwortlich gemacht. Da sie zugleich eine Art Kinderbetreuung waren, entzündeten sich im Zuge ihrer möglichen Schließung bei Epidemien kontroverse Debatten. Die Schließung wurde schließlich abgelehnt, weil die Ratsmehrheit es als schädlicher ansah, dass die Eltern von ihrer Erwerbsarbeit zugunsten der Beaufsichtigung der Kinder ferngehalten würden, weil dies für die ärmsten Schichten schlicht existenzgefährdend sei.256 In
GL v. 27.8.1855, die Gazeta Lwowska benennt die konkreten Viertel nicht, sondern verweist nur darauf, dass sie geschlossen wurden. 1873 (GL v. 19.9.1873) vermittelten die Amtsärzte nochmals den Inhabern, wie Desinfektionen durchgeführt werden sollten. 254 „nieporządek“, GL v. 7.11.1892; jedoch verwies die Diskussion im dafür einberufenen städtischen Gesundheitsrat auch auf die „Unordnung“ in den Ferdinands-Kasernen. Sie beschloss, dass die Häuser, in denen „Ordnung“ herrsche, weniger häufig desinfiziert werden müssten. Außerdem wurden Importverbote von Frischwaren aus den betroffenen Regionen nach Lemberg verhängt, z. B. GL v. 27.10.1892; ähnlich: GL v. 8.9.1905. 255 1902 gab es 26 Chadorim im III. (Żółkiewer) Bezirk, drei im II. (Krakauer), einen im V. Bezirk (Innenstadt) ; vgl. Legeżyński, Stosunki, S. 213 f. 256 GL v. 4.10. und v. 11.10.1908. Insbesondere Tobiasz Aschkenase setzte sich für die Wiedereröffnung der Chadorim ein, obwohl er eine grundsätzliche Ansteckungsgefahr erkannte, es aber für wichtiger hielt, dass die Kinder beaufsichtigt würden, damit die Eltern ihrem Erwerb nachgehen könnten. 253
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den von der Epidemie betroffenen Stadtteilen wurden daher eine strenge ärztliche Aufsicht und Einzelfallentscheidungen vorgesehen. Ein weiteres Problem stellten die Isolierstationen dar, weil sie häufig nicht zwischen den unterschiedlichen Religionsangehörigen unterschieden. Im Rahmen der Scharlachepidemien 1909 und 1912 beschloss daher der städtische Gesundheitsrat aus der Erkenntnis heraus, dass Krankheitsfälle sonst nicht gemeldet würden,257 für erkrankte Juden und jüdische Kinder eigene Baracken mit koscherer Küche einzurichten. Für ihn war es auch im jüdischen Interesse, die erkrankten Personen zu isolieren und nicht zu Hause zu belassen, um eine weitere Ausbreitung der Krankheit zu vermeiden.258 In seiner auf antisemitischen Stereotypen basierenden Argumentationslinie gaben die jüdischen Traditionen der Ausschlag dafür, dass die Juden nicht bereit waren, sich den Schutzmaßnahmen unterzuordnen, sodass gerade durch diese Traditionen letztlich die Gesamtbevölkerung gefährdet würde. Somit schwangen durch die Fokussierung der Debattierenden auf die jüdischen Viertel und ihre traditionellen Cheder-Schulen wegen ihrer „Unordnung“ und Beengtheit als Krankheitsherde259 immer antisemitische Ressentiments mit.260 1908 wurde beispielsweise im Bericht des städtischen Gesundheitsrates betont, dass gerade die von Juden bewohnten Viertel, insbesondere im III. (Żółkiewer) Bezirk, ein „erstrangiger Herd jeglicher Epidemien“ seien, der erheblichen Einfluss auf die gesundheitlichen Bedingungen der ganzen Stadt und in der weiteren Konsequenz für das ganze Land habe. Daher müsse dieses Viertel dringend assaniert und reguliert werden.261 Diese Haltung wurde unterstützt, indem die beschlossenen baulichen Assanierungsmaßnahmen sich tatsächlich im Wesentlichen auf die jüdischen Viertel konzentrierten. Verbunden waren diese Beschlüsse also mit der Wahrnehmung dieser Viertel als besonders bedrohlich für die Stadt und die Gesundheit ihrer Bürger. Gerade in der Argumentationslogik, warum bestimmte Bereiche besonders assanierungsbedürftig waren, spielten teilweise implizit, teilweise explizit antijüdische Ressentiments eine wichtige Rolle. Besonders klar formulierte dies Ratsherr Dr. Wilhelm Pisek in der Budgetdebatte des Jahres 1914, also zu einem Zeitpunkt, als die antisemitischen Nationaldemokraten die Kommunalpolitik dominierten: Man müsse den III. (Żółkie-
257 So stellte Dilo v. 28.10.(10.11.)1909 fest, dass trotz der Scharlachepidemie viele Menschen nicht zum Arzt gehen würden. 258 CDIAL, f. 146, op. 8a, spr. 204, Bl. 2–4. 259 So bezeichnete die Gesundheitskommission des Stadtrates sie als eine Gefahr für die Sicherheit der Stadt, weil Epidemien gerade in dicht bevölkerten Örtlichkeiten ausbrechen würden. DALO, f. 3, op. 1, spr. 4949, Bl. 15 (1905). 260 DALO, f. 3, op. 1, spr. 5418, Bl. 151. 261 „pierwszorzędnym ognieskiem wszelkich epidemii“, Korespondencja Ratuszowa [Rathauskorrespondenz], DALO, f. 3, op. 1, spr. 5418, Bl. 84 (19.10.1908). Gerade dieser Stadtteil war für den städtischen Gesundheitsrat prioritär, vgl. CDIAL, f. 146, op. 2a, spr. 204, Bl. 25, Regulierungsakte: DALO, f. 3, op. 1, spr. 4970.
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wer) Bezirk als das „Übel“ der Stadt beseitigen, die „Krankheitsquelle“ vernichten, denn solange der Stadtrat nicht dieses Viertel in Ordnung brächte, „werden wir [Lemberger] auf dem Pulverfass sitzen.“262 Als Grund hierfür wurden nicht die sozialen Verhältnisse, sondern ethno-konfessionelle Argumente bemüht, wodurch gerade auch hinsichtlich der ‚sozialen‘, gesundheitlichen Sicherheit die Juden als ‚Gefahr‘ für die ganze Stadt dargestellt und antisemitische Haltungen gestärkt wurden. Insgesamt belegen die Daten der Todesfälle dies nicht eindeutig, weil immer deutlich mehr Christen als Juden an der Tuberkulose starben.263 Hinsichtlich der ruthenischen Bevölkerung kommt Anna Veronika Wendland zum Schluss, dass im Gegensatz zu den antisemitischen Ressentiments der polnisch-ruthenische Gegensatz in den Assanierungsdebatten nicht wirksam wurde, wohl auch weil die ebenfalls größtenteils arme ruthenische Bevölkerung viel stärker als die jüdische über alle Bezirke verteilt lebte und mit zwischen 14 und rund 20 Prozent der Bevölkerung (Tab. 1) einen erheblich geringeren Bevölkerungsanteil ausmachte.264 Obwohl die verschiedenen Maßnahmen zur Verbesserung der sanitären Lage ständig auf der Tagesordnung des Rates standen und die Sterblichkeitsrate bis 1914 sank, Tab. 8 Sterblichkeitsrate 1860–1905265 1860 1870 1875 1880 1885 1890 1895 1900 1905
auf 1.000 Einw. 31,8 36,4 34,4 34,7 32,8 33,4 30,6 27,1 26,5
ohne „Fremde“ k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. 23,3 19,8 23,9 25,8
262 „bolączka“, „będziemy siedzieć na beczce prochu“, GL v. 25.4.1914. Ähnlich bereits 1909: Korespondencja Ratuszowa [Rathauskorrespondenz], DALO, f. 3, op. 1, spr. 5418, Bl. 136 ff., Bl. 150 f., in welcher der völlige Abriss bestimmter Straßenzüge gefordert wurde. Insbesondere der III. Bezirk wurde für den ständigen Ausbruch des Bauchtyphus verantwortlich gemacht. 263 1912 im Verhältnis: 87,13:12,87, 1913: 87,15:12,85, die Todesfälle aufgrund anderer Infektionskrankheiten waren deutlich geringer, beispielsweise beim Typhus 1912: 0,5:0,49, 1913 0,55:0,33, 1914 0,63:0,54; vgl. WstML 15, 1912–1922, S. 39 ff. 264 Wendland, Stadthygienische Interventionen, S. 289 ff. 265 Wiktor Legeżyński, Stosunki zdrowotne w mieście Lwowie w r. 1905 i 1906 [Die gesundheitlichen Bedingungen in der Stadt Lemberg 1905 und 1906], Lwów 1906, S. 425 f., zum Vergleich: 1905 betrug die Sterblichkeitsrate in den 76 größten englischen Städten durchschnittlich 15,7, in den 331 größten deutschen Städten 18,5, in den 71 größten französischen Städten 20,1 und in den 70 größten österreichischen Städten 22,5 auf 1.000 Einwohner.
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wurde deutlich, dass sie nicht ausreichten.266 Dies wurde auch in der Öffentlichkeit so wahrgenommen.267 Insgesamt stellten die Assanierungsmaßnahmen während der Autonomiezeit immer ein übergeordnetes Ziel und Thema fast jeder Wahlkampfzusammenkunft dar; sie wurden auch in die Arbeitsprogramme der neu gewählten Stadtpräsidenten aufgenommen.268 Hierdurch machten die kommunalpolitischen Eliten klar, dass sie das ‚gesunde Lemberg‘ als einen wichtigen programmatischen Teil des Modernisierungszieles269 und damit als Leistungsversprechen sahen, die Bevölkerung vor Epidemien zu schützen und über das „Ordnung schaffen“ in der Stadt die öffentliche Sicherheit gerade in dieser Hinsicht zu stärken – eine davon abgeleitete Aufgabe war diejenige der „versorgenden“ Stadt, die mit dem Wachstum der Stadt und der zugleich zunehmenden prekären Lage der Bevölkerung einen eigenen Stellenwert innerhalb der sich entwickelnden kommunalen Leistungsverwaltung erhielt. 4.3.3 Die „versorgende“ Stadt als sozialpolitische Notwendigkeit Nach Lemberg kämen nur arme und ärmste Menschen, stellte der Stadtrat im Rahmen der Debatten um die Anleihe von zehn Millionen Kronen 1894 klagend fest.270 Aus „zivilisatorischer Rücksicht“ müsse daher die Stadt mehr Investitionen tätigen, zumal dieser Bevölkerungszuwachs für die Stadt nicht gesund sei.271 1901 stellte der Berichterstatter der Budgetkommission, Stanisław Głąbiński, bei der Haushaltseinbringung fest, dass die Gemeinde zu schwach sei, um die Armenfürsorge aus eigener Kraft stemmen zu können, obwohl sie ein integraler Bestandteil der „großen sozialen Frage“ sei.272 Diese Diagnosen über den Zustand der wachsenden Armut in der Bevölkerung in Lemberg und über die anstehenden, finanziell belastenden Aufgaben waren nicht neu,273 denn bereits 1851 hatte die Lemberger Zeitung festgestellt: „Es gibt wohl selten
266 267 268 269
Vgl. Tab. 7–8. GL v. 25.4.1914. Etwa GL v. 13.1.1889. Dies war ein grundlegendes Ziel aller Kommunalverwaltungen, so etwa für Rom, das seit 1865 eine entsprechende Politik vertrat: Giorgio Piccinato, Hygiene und Stadt-Umbau. Das Spannungsfeld zwischen Staat, Gemeinden und privaten Unternehmern. Rom als Beispiel, in: Gerhard Fehl / Juan Rodriguez-Lores (Hrsg.), Stadt-Umbau. Die planmäßige Erneuerung europäischer Großstädte zwischen Wiener Kongreß und Weimarer Republik, Basel etc. 1995, S. 97–115. 270 GL v. 26.1. und 27.1.1894. 271 „ze względu cywilizacyjnego“, ebd. 272 „wielkiej kwestyi społecznej“, Głąbiński, Finanse, S. 84. 273 1901 wurden 868 Männer und 1.144 Frauen in verschiedenen Wohltätigkeitseinrichtungen betreut; ausgegeben wurden hierfür insgesamt 492.082 kr., vgl. GL v. 2.7.1902.
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eine andere Stadt, die so viele Arme unterhalten muss.“274 Stadtpräsident Stanisław Ciuchciński formulierte dieses Problem 1908 pointiert, indem er sich auf „soziale Sicherheit“ als Maxime berief: „Das 20. Jahrhundert kann man als humanitäres Jahrhundert bezeichnen. […] das 20. Jahrhundert bemüht sich, die gesamte Bevölkerung vor dem Elend zu verteidigen, sie vor Leid und Mangel zu sichern.“275
Diese Bemerkungen verweisen darauf, dass die kommunalpolitischen Eliten die soziale Frage vor Ort nolens volens als Herausforderung annehmen mussten, um die soziale Sicherheit aller und damit das Gemeinwohl nicht zu gefährden, denn das Reichsgemeindegesetz hatte die öffentliche Wohlfahrtspflege in den eigenen Wirkungskreis der Städte als Kern des städtischen Leistungsangebots276 übertragen. Obwohl der Stadtrat das Problem erkannt hatte, konnte und wollte er beispielsweise 1901 nur 6 Prozent des Budgets für die Wohlfahrtspflege einsetzen, während etwa 1900/01 Triest 21 Prozent, Brünn 14 und Wien immerhin noch 8 Prozent dafür einplanten.277 Wie auch etwa in Budapest und Wien278 entwickelte sich die Lemberger Sozialpolitik vor dem Hintergrund von Städtewachstum (s. Tab. 2), Migration, ansatzweiser Industrialisierung und der sozialen Frage schrittweise und vielgestaltig im Spannungsfeld von Reform, Ausbau und Entlastungsversuchen der traditionellen Armenfürsorge. Die kommunalpolitischen Akteure entwickelten und griffen neue Ansätze städtischer Sozialpolitik auf, weil sie sich vor die Herausforderung gestellt sahen, sich zunehmend neben der öffentlichen Gesundheit auch mit den Folgen von Armut, Alkoholismus, Prostitution, der damit verbundenen Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten und der Ausweitung des Bettlerwesens als brennende soziale Probleme auseinandersetzen zu müssen.279 Wie bereits im Rahmen der Wahlordnung erläutert, war das Heimatrecht (s. Kap. 3.2.2) insbesondere bis zu seiner Reform 1896/1902 ein Instrument, mit dem sehr
274 LZ v. 17.11.1851, hiernach wurden monatlich 200 Personen unterhalten, darüber hinaus viele von ihren Familien oder Freunden. 275 „to wiek XX słusznie nazwać by można wiekiem humanitarnym. To wiek XX stara się, by całą ludność wziąć w obronę przed nędzą, zabezpieczyć ją przed cierpieniem i niedostatkiem“, ÖStA, AVA, MI, Allg. Karton 1423, Sign. 15/12, zit. nach Sroka, Rada miejska, S. 169. 276 Wolfgang Krabbe, Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1989, S. 100. Vgl. Berthold Grzywatz, Armenfürsorge im 19. Jahrhundert. Die Grenzen der kommunalen Daseinsvorsorge, in: ZfG 47, 1999, S. 583–614; Jürgen Reulecke, Von der Fürsorge über die Vorsorge zur totalen Erfassung. Etappen städtischer Gesundheitspolitik zwischen 1850 und 1939, in: ders. (Hrsg.), Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beiträge zur Geschichte der „Sozialstadt“ in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1995, S. 395–416. Zur Entwicklung in der Habsburgermonarchie vgl. insbesondere Monika Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung. Raum, Identität und Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie, Wiesbaden 2014. 277 Głąbiński, Finanse, S. 85. Graz sah jedoch nur 4,2 Prozent, Krakau nur 3 Prozent, Prag 5,8 Prozent, Linz 10 Prozent und Czernowitz nur 1,5 Prozent im Budget vor. 278 Melinz/Zimmermann, Armenhilfe, S. 3, die jedoch die Versorgungsfragen nicht als eigenes Problemfeld thematisieren. 279 Vgl. Dilo v. 28.10.(10.11.)1903; Mikołajski, Działalność, S. 41; Sroka, Rada miejska, S. 169.
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4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
restriktiv über die Zugehörigkeit zur Gemeinde Lemberg und damit auch über ein potentielles Recht auf Gemeindeunterstützung entschieden wurde, da nicht heimatberechtigte Personen keine Unterstützung beantragen konnten. Die Verleihung des Heimatrechtes diente also auch dazu, die Zahl derjenigen zu regulieren, die berechtigt waren, von der städtischen Wohlfahrtspflege zu profitieren. Besonders wichtig waren hierbei die Stiftungen. In den Aufgabenbereich der kommunalen Selbstverwaltung waren 1871 21 wohltätige Stiftungen entweder als Rechtssubjekt oder unter ihre Aufsicht und Verwaltung gelangt.280 1895 waren es bereits 29 und jährlich würden es mehr, wie die Jubiläumsschrift 1896 feststellte.281 Entschied der Stadtrat bei ihm unterstellten Stiftungen über die Vergabe der Unterstützung, so gab es auch weitere Stiftungen, in die er Vertreter entsenden musste. Unter den ersteren befanden sich etwa Fonds für arme Mädchen „bürgerlichen Standes“, für Stipendien einer genau definierten Anzahl von Söhnen Lemberger Bürger für ebenfalls definierte Schulen, für frisch verheiratete arme Paare, für das Waisenhaus, das Invalidenheim, das Taubstummeninstitut und Fonds für den Unterhalt von Waisen aus Handwerkerfamilien etc. Meist definierten die Stipendien ihre Zielgruppe nach Konfession oder wie die 1872 gegründete Ziemiałkowski-Stiftung für Handwerkslehrlinge „polnischer Nationalität, ohne Unterschied der Konfession“282; darüber hinaus gab es auch städtische Fonds für gemeindeangehörige Juden. Gerade bezüglich der Stiftungen spiegelte sich deutlich das Verständnis der im Statut verankerten Definition und Trennung des „christlichen“ resp. „jüdischen“ Gemeindebesitzes wider, sodass der Stadtrat die meisten Mittel an christliche Bewerber vergab. Wie in keinem anderen Aufgabenbereich der Lemberger Kommunalverwaltung wird daher im Armenwesen die Trennung zwischen „christlichem“ und „jüdischem“ Gemeindebesitz durch das Statut deutlich:283 In den Debatten um eine Reform des städtischen Armenwesens 1897 bis 1899 sowie des städtischen Waisenhauses284 und in den entspre280 Janina Badecka-Malkowa, Fundacje lwowskie. Szkic historyczny fundacyj i funduszów zarządzanych przez gminę miasta Lwowa [Die Lemberger Stiftungen. Historische Skizze der von der Stadtverwaltung Lembergs verwalteten Stiftungen und Fonds], Lwów 1939. 281 Karol Jakubowski, Fundacje zostające pod zarządem gminy [Die unter der Verwaltung der Gemeinde verbleibenden Stiftungen], in: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lwów 1896, S. 425–438 mit einer genauen Nennung der Stiftungen, vgl. auch allgemein Burger, Heimatrecht, S. 91 f. 282 „stanu miejskiego“, „narodowości polskiej, bez różnicy wyznania“, Jakubowski, Fundacje, S. 431. 283 Etwa auch in den Regularien zur Ausführung der Armenfürsorge in der Stadt Lemberg (Regulamin wykonywania opieki nad ubogimi we mieście Lwowie, o. O. [Lwów] 1889), § 1, die ausdrücklich feststellen, dass die Armenfürsorge für die Gemeindeangehörigen und Fremden bei der „israelitischen“ Kultusgemeinde liegt, vgl. ZNiO, PR, 13403/II, Bl. 193–222. 284 Theoretisch waren die kommunalen Waisenanstalten für Waisen aller Gruppen gedacht, faktisch waren aber in ihnen (fast) ausschließlich Christen. Mirosław Łapot, Z dziejów opieki nad żydowskim dzieckiem sierocym we Lwowie (1772–1939) [Aus der Geschichte der Fürsorge über jüdische Waisenkinder in Lemberg (1772–1939)], Gliwice 2011, S. 72. Die Trennung wird auch im Budget der Stadt sichtbar, so etwa auch in Legeżyński, Stosunki, S. 294 (Wohlfahrtspflege für 1905 und 1906).
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
201
chenden Satzungen wurde ausdrücklich Bezug auf christliche Kommissionsmitglieder genommen. Die Satzungen betonten explizit, dass es sich um Armeninstitute für Christen handelte, während diejenigen für Juden unter der Aufsicht der jüdischen Gemeinde verblieben.285 Die Lemberger kommunale Armenfürsorge wurde daher bis 1914 im Wesentlichen als „christlich“, d. h. römisch-katholisch (~ polnisch), konnotiert, auch wenn die Stadtkasse Zuschüsse für die örtliche jüdische Armenkasse gab.286 Die Lemberger Armenfürsorge, deren konkrete Maßnahmen sich nicht wesentlich von denen anderer Städte unterschieden, fand vor dem Hintergrund eines, wenn überhaupt, nur sehr knapp auskömmlich finanzierten, meist sogar defizitären Budgets statt. Es war dem Stadtrat durchaus bewusst, dass er von allen Provinzhauptstädten Cisleithaniens am wenigsten hierfür ausgab287 – und dies änderte sich bis 1914 nicht wesentlich, auch wenn die Sozialfürsorge um 1900 angesichts der größer werdenden Not in der Stadt durch die Einrichtung entsprechender Institutionen erheblich ausgeweitet wurde. Neben einer Städtischen Krankenkasse288 (1889) wurden beispielsweise nach der Jahrhundertwende Unterkünfte für männliche und weibliche Obdachlose, Badehäuser, das Beerdigungsinstitut289, durch das 1901 das Monopol der teuren privaten Bestatter gebrochen werden konnte und das vor allem den Ärmsten zugutekommen sollte, sowie Spitäler für Kinder und Erwachsene und eine Anstalt für unheilbar Erkrankte etc. eingerichtet. 1909–1911 wurden weitere Heime für Waisen290 und Findelkinder eingerichtet sowie eine Krippe für 100 christliche Kinder, wofür insgesamt zwei Millionen Kronen aufgewendet wurden.291
285 Die jüdische Armenkasse war 1888 in die Verwaltung der jüdischen Gemeinde übergegangen, vgl. Sroka, Rada miejska, S. 171, und GL v. 6.1.1899. Wie im Krakauer Fall (Kozińska-Witt, Reformgemeinde, S. 135–147) wurde über die administrativen Vorgaben, beispielsweise zur Führung der Matrikeln auf Polnisch, die jüdische Gemeinde schrittweise polonisiert. 286 Ostaszewski-Barański, Pogląd, S. 229; Łapot, Z dziejów, S. 72. 287 GL v. 29.5.1890. 288 Legeżyński, Stosunki, S. 245 f.: 1893 waren 6.987 Personen der Krankenkasse beigetreten, 1903 17.357, 1905 bereits 25.465. 289 Głąbiński, Finanse, S. 21 f. 290 Wie groß der Bedarf aufgrund zahlreicher Findelkinder und einer hohen Geburtenrate an unehelichen Kindern war, wird daran deutlich, dass es 1914 26 private und städtische Heime gab. 1840 wurde das erste christliche und 1843 das erste jüdische Heim errichtet. Vgl. Papée, Historja, S. 239; Überblick: Józef Białynia Chołodecki, Rys dziejów miejskich zakładów opieki nad dziećmi dawniej miejskiego zakładu sierot we Lwowie [Geschichtlicher Abriss der städtischen Jugendwohlfahrtseinrichtungen, des ehemaligen städtischen Waisenhauses in Lemberg], Lwów 1928. 291 Sroka, Rada miejska, S. 172. Finanziert wurden die Maßnahmen teilweise aus Aufschlägen auf die Theaterkarten: LGuVBl. Nr. 97/1905. Vgl. auch die Überblicksdarstellungen: Małgorzata Balukiewicz, Rozwój placówek opiekuńczo-wychowawczych dla dzieci i młodzieży we Lwowie [Die Entwicklung der Fürsorge-Erziehungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche in Lemberg], in: Galicja i jej dziedzictwo [Galizien und sein Erbe], Bd. 16 Opieka nad dzieckiem w Galicji [Die Fürsorge über Kinder in Galizien], Rzeszów 2002, S. 46–63; Marzena Pękowska, Opieka nad dzieckiem głuchym i niewidowym we Lwowie w XIX wieku [Die Fürsorge über das taube und blinde Kind in Lemberg im 19. Jh.], in: ebd., S. 64–93.
202
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
Allmählich veränderte sich das städtische Armenwesen auf administrativer Ebene, was 1899 in dem einstimmigen, ohne Aussprache gefassten Beschluss der Regularien für die Armenfürsorge der Stadt Lemberg (Regulamin wykonywania opieki nad ubogimi w mieście Lwowie) mündete, wonach die Stadt in fünf, den Stadtbezirken entsprechende Armenbezirke eingeteilt wurde.292 Schließlich wurde 1906 ein eigenes Departement (XI.) für Wohltätigkeit eingerichtet und auch über die Einführung des 1852/53 entwickelten sog. Elberfelder Systems293 diskutiert. Für die Erarbeitung eines Vorschlags schickte der Stadtrat Delegierte in europäische Großstädte, die dieses System praktizierten. Jedoch kam es nicht zu seiner Einführung und zur Reform des Armenwesens, wohl – ähnlich wie in Prag – aus strukturellen Gründen.294 Ob dies mit dem Unwillen der polnischen bürgerlichen Eliten (und Wählerschaft) zusammenhing, sich für die vorwiegend jüdischen und ruthenischen Unterschichten ehrenamtlich einzusetzen, kann aufgrund der ausgewerteten Quellen nicht eindeutig beantwortet werden. Da eine stetige Erwerbstätigkeit als einziger Ausstieg aus der Armut angesehen wurde, richtete der Stadtrat 1899 auf Wunsch des Stadtpräsidenten295 – unter finanziellen Opfern durch die Bereitstellung von Räumlichkeiten und drei296 Angestellten, wie
292 Diese Reform, so die Vorlage aus dem Oktober 1897, hatte vor allem administrativen Charakter. Für die Bezirkskommission sollten Geistliche beider Konfession (römisch-katholisch und griechisch-katholisch), der jeweilige Bezirkskommissar und -arzt sowie auf Vorschlag der Ratskommission für Wohltätigkeit vom Stadtpräsidenten ein „Betreuer“ („opiekun“) vertreten sein. In das Zentrale Komitee sollten ein evangelischer Pastor, drei Vertreter der örtlichen Wohltätigkeitsverbände, Repräsentanten der drei (christlichen) Konfessionen, die christlichen Vertreter der zuständigen Ratskommission, ein Magistratsrat und Vertreter der Polizei berufen werden. Vgl. GL v. 8.10.1897. 293 Dieses System war effizienzorientiert, da die kommunalen Finanzen wegen des Städtewachstums überall überfordert waren. Das 1852 in Elberfeld entworfene Modell sah ehrenamtliche Armenpfleger vor, welche die Hilfsbedürftigkeit der Armen beurteilen und die Arbeitsfähigen zur Arbeit bringen sollten. Jeder stimmberechtigte Bürger wurde verpflichtet, ein solches Amt in der städtischen Armenpflege anzunehmen. Hierdurch wurden viele Arbeitslose in den Arbeitsprozess integriert und der städtische Haushalt entlastet. Jedoch konnte eine ehrenamtliche Verwaltung die anfallenden Aufgaben auf Dauer nicht stemmen. Vgl. Jörg Bogumil / Lars Holtkamp, Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Eine policyorientierte Einführung, Wiesbaden 2006, S. 9; zum Elberfelder System vgl. Christoph Sachße / Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1 Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, Stuttgart ²1998, S. 214–221; Krabbe, Die deutsche Stadt, S. 101. 294 Małgorzata Balukiewicz, Protektoraty lwowskie. Początki i rozwój praktyki opiekuńczo-wychowawczej we Lwowie i na ziemi lwowskiej od końca XVIII stulecia do wybuchu II wojny światowej [Die Lemberger Protektorate. Der Beginn und die Entwicklung der erzieherisch-betreuerischen Praktiken in Lemberg und dem Lemberger Gebiet vom Ende des 18. Jh. bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges], Katowice 2000, S. 23–26. Ein ähnlicher Befund für Prag von Martina Niedhammer, „Weil erfahrungsgemäß unsere Armen in erster Reihe auf uns angewiesen sind.“ Das Armenwesen der Prager jüdischen Gemeinde im langen 19. Jahrhundert, in: ImS 2, 2014, S. 62–71, hier: S. 68. 295 GL v. 14.5.1898; dieser Beschluss war von anwesenden Arbeitern auf der „Galerie“ zunächst mit Beifall begrüßt wurden. Als der Stadtpräsident mitteilte, dass ab sofort noch 2.000 Arbeiter für die Einhausung des Poltews benötigt würden, verließen zahlreiche Arbeiter die Zuschauergalerie, weil sie mit dem Ergebnis insgesamt nicht zufrieden waren. 296 Hierunter fällt auch eine geringer entlohnte Angestellte zur Vermittlung von Frauen.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
203
in den Quellen betont wurde – ein städtisches Arbeitsamt ein.297 Auch wenn Łukasz Tomasz Sroka auf den grundsätzlich schlechten Ruf des Arbeitsamtes hinweist,298 so lässt sich feststellen, dass zeit seiner Existenz immer erheblich mehr Arbeitssuchende vorstellig wurden, als Angebote vorlagen, und es fast ausschließlich schlecht bezahlte Stellen vermittelte, mit denen der Lebensunterhalt nicht bestritten werden konnte.299 Insgesamt wird deutlich, dass die grundsätzlich schlechte Ausbildung der Arbeitssuchenden, die kaum des Lesens und Schreibens mächtig waren, und die geringfügige Industrialisierung in der Stadt zur prekären sozialen Lage großer, häufig zugewanderter bäuerlicher Bevölkerungsteile beitrugen. Ein direktes Ergebnis der schlechten Wirtschaftskraft der Stadt war die Lage ihrer Angestellten und Beamten. Gerade für diese Gruppe und insbesondere für die Lehrer300 war die Entlohnung angesichts hoher Lebenshaltungskosten häufig nicht ausreichend, ebenso konnten sich die Witwen oder Waisen dieser Angestellten kaum selbst von ihrem Erbe ernähren. Daher beriet der Stadtrat ständig über Zuschüsse für diese Personengruppen, die etwa wie im Falle von Lehrern in Naturalien wie Brennholz bezahlt wurden.301 Auch versuchte der Stadtrat vergeblich, die Landesverwaltung in die Pflicht zu nehmen, indem er im Februar 1914 dazu aufforderte, den Lemberger Volksschullehrern einen Teuerungszuschlag auszuzahlen.302 Er argumentierte hierbei vergeblich, dass Lemberg ein Fünftel des galizischen Steueraufkommens zahle und daher die langjährigen Bemühungen der Stadt bezüglich der Unterhaltung der Schulen gewürdigt werden müssten.303 297 Auch diesbezüglich wurden analoge Einrichtungen in anderen Städten vorher genau untersucht. DALO, f. 3, op. 1, spr. 4400, Bl. 1; ZNiO, PR, 13398/III, Bl. 435, 455 f., 470, 476–480, 489; Statut des Arbeitsamtes: ebd., Bl. 94–99, 476–480. Rutowski setzte sich als Landtagsabgeordneter sehr dafür ein, dass auch andere Städte solche Ämter erhielten. Dessen Aufgaben bestanden darin, Stellenangebote an städtische Arbeiter und Arbeiter von außerhalb („zamiejscowi“) unentgeltlich zu vermitteln, im Streikfalle jedoch wurde das betroffene Gewerk von der Vermittlung ausgeschlossen (GL v. 26.2.1899). 298 Sroka, Rada miejska, S. 175. So sei kolportiert worden, dass dort nur die schlechtesten Arbeitgeber ihre Angebote machen würden; es sei unterstellt worden, dass das Arbeitsamt nur den schlecht beurteilten Arbeitern helfen würde, die deshalb nicht von privaten Agenten vermittelt würden. 299 Ebd., S. 175 f. 300 Eine Bitte um Gehaltserhöhungen etwa in GN v. 30.12.1871; GL v. 15.10.1891; auch GL v. 4.7.1900, 28.3.1903 und v. 28.3.1904. 301 DALO, f. 3, op. 1, spr. 2680, Bl. 3: Ratsbeschluss vom November 1871 (analog in anderen Jahren), dass die Lehrer an jüdischen Schulen ebenso wie ihre katholischen Kollegen Holz in den städtischen Wäldern sammeln dürften, da sie sich wegen der Teuerung und ihres mageren Gehalts in einem sehr kritischen Zustand befänden. Da sich auch die jüdischen Schulen meist das Brennholz nicht leisten konnten, gewährte der Rat beispielsweise 1872 und 1873 kostenlose Holzlieferungen. GL v. 22.1.1892. Im Mai 1906 (GL v. 11.5.1906, dann auch v. 19.6.1906) wurde etwa auch über den Bau von billigen Wohnungen für Lehrer und Beamte im Stadtrat diskutiert. 302 GL v. 23.5.1914. 303 GL v. 28.2.1914. Diesen beschloss der Stadtrat im Mai 1914, so wie er seit 1907 für die unteren Ränge (I–III) der Verwaltung einen Zuschlag von 20 Prozent zahlte, vgl. Służba miejska we Lwowie. Ustalenie bytu i regulacya poborów służby stałej i niestałej [Der städtische Dienst in Lemberg. Existenzfestlegungen und Regulierung der Gehälter des festen und nichtfesten Dienstes], Lwów 1909, S. 1.
204
4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
Eng mit der sozialen Frage verknüpft war schließlich das Problem der Lebensmittelversorgung. Obwohl Galizien ein Agrarland war, waren die Preise für die Grundnahrungsmittel in Lemberg seit der Revolution 1848/49 sehr hoch, weil galizisches Getreide und Fleisch resp. Vieh in andere Kronländer, insbesondere aber nach Wien exportiert wurde und die zahlreichen in Lemberg stationierten Militärangehörigen und Beamten zu einer weiteren Angebotsverknappung führten.304 Tab. 9 Übersicht der wichtigsten Lebensmittelpreise (1911) in Heller305 Berlin
Dresden
Prag
Wien
Lemberg
Rindfleisch
216–264
216–240
184–200
160–240
212–266
Schweinefleisch
240–264
216–240
220–240
160–240
218
Kalbfleisch
240–263
312–384
210–220
160–240
224
Schmalz
180–204
216–240
220–240
184–216
224
Speck
216–240
180–204
220–240
176–208
218
8
8
12
12
8
k. A.
24
30–34
26–32
26
96
60–76
16–24
10–16
12
Ei Milch Kartoffeln
Aber selbst qualifizierte Arbeiter und Handwerker verfügten über eine nur eingeschränkte Kaufkraft, beispielsweise konnte ein Schriftsetzer mit seinem Wochenlohn die Ausgaben für Nahrungsmittel, Haushaltsgüter, Miete, Schulkosten und Steuern in den 1870er Jahren nicht decken; auch später waren die Löhne in Lemberg vergleichsweise niedrig.306 War die Armenversorgung grundsätzlich nur Gemeindeangehörigen vorbehalten, betraf das Problem der Teuerung nicht nur die ärmeren, sondern auch die (unteren) Mittelschichten. Bereits 1881 hatte die Gazeta Lwowska307 festgestellt, dass Lemberg zu den teuersten Städten des Kontinents gehöre und die Grundversorgung teurer sei als in London oder Paris. Die Preise in Lemberg waren auch nach der Jahrhundertwende erheblich höher als etwa in Wien; Lemberg gehörte, so die 1902 eingerichtete Versor304 Vgl. Klemens Kaps, Ungleiche Entwicklung in Zentraleuropa: Galizien zwischen überregionaler Verflechtung und imperialer Politik (1772–1914), Wien 2015; knappe Überblicke: Franz Baltzarek, Zentralistische und föderalistische Aspekte der Wirtschaftspolitik am Beispiel Galiziens, in: Uwe Müller (Hrsg.), Ausgebeutet oder alimentiert? Regionale Wirtschaftspolitik und nationale Minderheiten in Ostmitteleuropa (1867–1939), Berlin 2006, S. 59–90; Piotr Franaszek, Die wirtschaftspolitische Gesetzgebung der Wiener Regierung und die ökonomische Entwicklung Galiziens im langen 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 91–100. Ausführlich über die Rolle Galiziens als Rohstofflieferant für die Monarchie: Kaps, Entwicklung, der die innerhabsburgische Vernetzung für die verschiedenen Phasen klar aufschlüsselt. 305 DALO, f. 3, op. 1, spr. 5624, Bl. 14. 306 Kaps, Entwicklung, S. 98–119, 121–126. 307 GL v. 10.3.1881.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
205
gungskommission, zu den teuersten Städten des Kontinents, und dieses Charakteristikum blieb bis 1914 erhalten. Somit galt es, „der wachsenden Bevölkerung eine normale Lebensmittelversorgung zu gewährleisten und sie vor Spekulationen sowie vor Lebensmittelfälschung zu verteidigen.“308
Die nicht ausreichende resp. zu teure Grundversorgung wurde somit zu einem vielschichtigen Sicherheitsproblem der Daseinsvorsorge und nicht zuletzt der städtischen inneren Sicherheit. Die Teuerung und die Unzufriedenheit mit dieser prekären Lage selbst besser Ausgebildeter führten zu den ersten großen Streikwellen in Lemberg in den 1870er und 1880er Jahren.309 Sie zeigten, dass diese Problemlage eine Gefährdung des sozialen Friedens bedeutete und es auch lokale Impulse zur Entwicklung der sozialistischen Bewegung in Lemberg gab.310 Angesichts dessen nahm die Lebensmittelversorgung in Lemberg im Vergleich zu anderen Großstädten der Monarchie einen herausragenderen Stellenwert in der kommunalen Sozialpolitik ein. Insgesamt lässt sich feststellen, dass das Teuerungs- und damit das Versorgungsproblem für die städtische Bevölkerung aus einem Konglomerat unterschiedlicher Gründe entstand, das neben der allgemeinen Wirtschaftslage und der schwankenden Konjunktur resp. Produktion an Lebensmitteln auch spezifische lokale Probleme umfasste. Ein wesentlicher Grund war, dass Lemberg zu den Geschlossenen Städten gehörte,311 in denen sich die Einfuhren von Lebensmitteln über die Akzise als „Verzehrungssteu308 „rosnącej ludności normalne warunki aprowizacyjne i ochronę przed spekulacją oraz fałszowaniem środków żywności“, Leon Biegeleisen, Polityka gospodarczo-aprowizacyjna miast polskich (Warszawa i Lwów) [Die wirtschaftlich-versorgende Politik der polnischen Städte (Warschau und Lemberg)], Warszawa 1935, S. 1; ähnlich in einem Bericht über den Verkauf von „Fleisch aus der Provinz“: GL v. 18.9.1905; bereits 1877 hatte Merunowicz, Rozwój miasta, S. 3 f., das Problem der Spekulationen angesprochen. 309 Ebenso gab es Ende der 1890er Jahre Demonstrationen, die jedoch nicht derart massiv waren wie die vorherigen Streikwellen, beispielsweise während Beratungen im Stadtrat über die Versorgungslage, vgl. GL v. 14.5.1898. 310 Vgl. Malančuk, Istorija, S. 622 f.; Sekretarjuk, Istorija L′vova, S. 128–135; insbesondere zur Streikwelle 1883 Władysława Sokołowska (Bearb.), W stulecie ruchu robotniczego na ziemiach Polski [Zum 100-jährigen Bestehen der Arbeiterbewegung in Polen], in: Z pola walki 4, 1979, S. 121–142, interpretiert die Streikwelle im sozialistischen Duktus. 311 Die autonomen Städte Wien, Prag, Graz, Krakau, Brünn, Linz, Laibach, Triest und nicht zuletzt Lemberg waren Geschlossene Städte (Patent vom 25.5.1829), wonach sämtliche Waren, die in die Stadt gebracht wurden, der Akzise als Konsumsteuer unterlagen. Hierdurch zahlten die Einwohner erheblich höhere Konsumsteuern als in anderen Städten. 1890 strengte Wien eine Reform zur Steuerbefreiung der Grundversorgungsmittel, also Lebensmittel und Heizmaterialien, an, was auf einen erheblichen Widerstand der übrigen Städte stieß, hätten sie hierdurch doch wichtige Einnahmen verloren. Vgl. Głąbiński, Finanse, S. 4, 8. Damit Lemberg sich über eine höhere Steuereinnahme finanzieren konnte, wurde das Statut geändert: Erst ab einem Steueraufschlag auf die Verzehrungsteuerung von 50 Prozent sowie auf andere Steuern von 30 Prozent musste der Landesausschuss zustimmen. Vgl. LGuVBl. Nr. 90/1900. Insgesamt wird darin das Dilemma der kommunalpolitischen Akteure deutlich: Die Einnahmen aus der Akzise wurden dringend benötigt, verteuerten aber die Lebenshaltung weiter.
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4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
er“ noch zusätzlich verteuerten.312 Die Preise in Lemberg waren deutlich höher als in der galizischen Provinz, wo wiederum die Einkommen erheblich niedriger waren.313 „Das Elend in der Arbeiterklasse in Lemberg wächst ständig“, brachte Professor Juljan Zachariewicz das Problem der Teuerung bereits 1879 auf den Punkt, „während die Lebensbedingungen in der Hauptstadt wie nirgends sonst schon sehr erschwert sind, sind die Preise von Cerealien, Viktualien und Materialien ständig höher als im ganzen Land.“314
Deswegen beantragte er, eine eigene Versorgungskommission einzurichten, weil die Lebensmittelversorgung eine „Verpflichtung“ des Stadtrates sei, gerade wenn es um die Bevölkerung ginge, die zur „Beute der Beliebigkeit“ der Händler würde. Die mit einem Ratsbeschluss installierte Versorgungskommission sollte die Lebensmittelmärkte besser organisieren, vor allem aber die Qualitäts- und Gesundheitskontrollen umfassend überwachen.315 Dieser Antrag Zachariewicz’ verweist darauf, dass sich allmählich die Auseinandersetzung mit Versorgungsfragen zu spezialisieren begann, auch unter dem Einfluss lebensmittelchemischer und medizinischer Erkenntnisse. Dass trotz dieser Versorgungskommission der Magistrat nicht tätig wurde, zeigt eine Eingabe von Tadeusz Rutowski im Jahr 1902. Zu diesem Zeitpunkt war ein cisleithanisches Verbraucherschutzgesetz zur polizeilich organisierten Lebensmittelkontrolle bereits fünf Jahre in Kraft, ohne dass es zu einer Verbesserung der Lage in Lemberg geführt hatte.316 Neben der Lebensmittelversorgung stellte der Erwerb von Heizmaterialien (Holz, Torf und Kohle) durch die Teuerung ein erhebliches Problem für die Lemberger Bevölkerung dar, zumal hierdurch insbesondere die Geißel der Stadt,317 die Tuberkulose, durch unzureichendes Beheizen der Wohnungen gefördert wurde. Ein Versorgungs-
312 313
314 315 316
317
Vgl. Walter Loewenfeld, Die Ursachen der Fleischteuerung in Wien, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik 18, 1909, S. 449–482. Eine detaillierte Übersicht über die Preisentwicklung im 18. und 19. Jahrhundert bietet Hoszowski, Ceny. Sroka, Rada miejska, S. 176; vgl. Paweł Ciompa, Drożyzna w Galicyi i nędza urzędnicza [Die Teuerung in Galizien und das Beamtenelend], Lwów 1913, S. 3 f.: Preise für Rindfleisch in Heller/kg im Vergleich: 86 (1863), 90 (1875), 146 (1905), 180 (1911); Butter 170 (1863), 240 (1875), 318 (1906), 353 (1911); Brot: 24 (1863), 24 (1875), 25 (1905), 30 (1911). „kiedy nędza pomiędzy klasę pracującą we Lwowie ciągle wzrasta, kiedy warunki bytu w mieście stołecznem skądinąd już są bardzo utrudnione, ceny cerealiów, wiktualiów i materyałów we Lwowie są stale wyższe niż w całym kraju“, GL v. 28.3.1879. „obowiązkiem“, „łup dowolności“, GL v. 28.3.1879. Zur Kommission: Ostaszewski-Barański, Pogląd, S. 150. Zakład aprowizacyjny miejski we Lwowie [Der städtische Versorgungsbetrieb in Lemberg], Lwów 1916, S. 11; analog zum Deutschen Reich: Jutta Grüne, Anfänge staatlicher Lebensmittelüberwachung in Deutschland. Der „Vater der Lebensmittelchemie“ Joseph König (1843–1930), Stuttgart 1994, S. 289 f. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Lungentuberkulose als Krankheit der Städte verstanden, vgl. Teuteberg/Wiegelmann, Wandel, S. 49.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
207
betrieb für billiges, subventioniertes Brennmaterial (Zakład taniego paliwa) wurde zunächst vom Magistrat abgelehnt,318 weil dies, so die Gazeta Lwowska, zu hohe Kosten für die Verwaltung bedeuten würde. Stattdessen sei angeregt worden, die Torfmoore in der Nähe Lembergs stärker auszubeuten.319 Die nahezu unerschwingliche Grundversorgung war in der Autonomieära ein durchgängiges Problem, das im Stadtrat immer wieder auf der Tagesordnung stand. Ein Ansatz war der Versuch, eine Mindestversorgung an preiswerten Grundnahrungsmitteln für die sozial schwächeren Schichten zu gewährleisten. Diese Form von Sozialpolitik, für die der Stadtrat zahlreiche Maßnahmen beschloss, führte insgesamt nur zur Linderung, aber nicht zur Lösung des Problems.320 Nachdem die Planungen321 zur Verbesserung der Versorgungslage Anfang des 20. Jahrhunderts nur langsam vorangekommen waren und der Rat sich nicht weiter für das Problem interessiert hatte, erschütterte eine Streikwelle die Stadt.322 Diese Streiks hingen insbesondere mit der Versorgungslage der Streikenden zusammen. Nachdem sich im April 1903 diese nochmals verschlechtert hatte, endete schließlich Mitte April 1903 eine Demonstration gegen die Teuerung und Arbeitslosigkeit in blutigen Ausschreitungen – das allgemeine Klima in der Stadt wurde zunehmend rauer und gewaltbereiter.323 In Hinblick auf Stadtrat und -verwaltung führte diese durchaus kritische Lage dazu, dass sich der Stadtrat bemühte, nicht nur über eine speziell eingerichtete, nach den Ausschreitungen mit Kompetenzen erweiterte Kommission die Versorgung zu sichern, sondern auch diskutierte, einen städtischen Versorgungsbetrieb einzurichten.324 Jedoch verschlechterte sich die Versorgungslage Anfang September 1904 nochmals, auch vor dem Hintergrund, dass sich durch eine paneuropäische Teuerungswelle325 im Zuge der Agrarkrise die angespannte Marktlage weiter verschärft hatte. Die Teuerungskrise dauerte bis 1907; nach einer kurzen Erholungsphase setzte sie 1913/14 nochmals
Małachowski, Sprawozdanie, S. 44 und 55, über die – letztlich gescheiterten – Maßnahmen zum Verkauf günstiger Heizmittel im Jahr 1904. 319 GL v. 23.3.1901. Die Entscheidung kam wegen Beschlussunfähigkeit nicht zustande. 320 GL v. 28.3.1879. 321 Hierzu gehörte etwa auch der forcierte Ausbau von Lokalbahnen, über die aus der Umgebung Lebensmittel und Holz nach Lemberg geschafft werden sollten. Andererseits sollte über die bessere Verkehrsanbindung erreicht werden, dass die dort ansässige Bevölkerung nicht auch noch nach Lemberg zog und die Situation weiter verschärfte. 322 Sekretarjuk, Istorija L′vova, S. 126, die von insgesamt 33.349 Teilnehmern ausgeht. 323 Zaklad aprowizacyjny, S. 12; Leopold Lityński, Odrodzenie ekonomiczne Galicyi [Die wirtschaftliche Erneuerung Galiziens], Lwów 1902, S. 15 f.; AAN, Polska Partia Socjal-Demokratyczna Galicji i Śląska 23/3, Bl. 21 f. 324 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 6; Überblick über die Maßnahmen: Zakład aprowizacyjny, S. 8–17. 325 Christoph Nonn, Fleischvermarktung in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Nahrungsmittel und ihre Märkte im 19. und 20. Jahrhundert. Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1996, H. 1, S. 53–76, hier: S. 54–67, hält als allgemeines Problem am Beispiel der Fleischversorgung fest, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Zwischenhandel an Bedeutung gewann, wodurch wiederum Preissteigerungen hervorgerufen wurden. 318
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ein. In ganz Europa und insbesondere im Deutschen Reich hatten die größeren Städte bereits begonnen, angesichts der Teuerung und der sozialen Frage über kommunale Interventionen bei der Versorgung, aber auch bei der Herstellung von gesundem und billigem Brot und Fleisch die Preisgestaltung zu beeinflussen. Neben besonderen Verkaufsstellen für die rabattierten Lebensmittel wurden eigene kommunale Brot- und Milchfabriken gegründet, und fast alle Städte besaßen eigene Schlachthöfe.326 Diese Maßnahmen waren den Lemberger Kommunalpolitikern durchaus bekannt und dienten als Grundlage der Beratungen, indem etwa die Versorgungskommission für die Versorgung mit Brot, Gemüse und Seefisch zwei Delegierte nach Wien und Budapest entsandte, um sich über die dortigen Lösungen zu informieren.327 Insbesondere seit 1905 zeugen zahlreiche Berichte, Debatten und Maßnahmen innerhalb der Versorgungskommission328 und anschließend im Stadtrat von der Sorge vor weiteren Unruhen. Um die Lebensmittelversorgung zu verbessern, wurden allein 1907 eine zentrale Markthalle am Halicki-Platz (plac Halicki) sowie dort und auf drei weiteren Plätzen, die von allen Bezirken aus gut zu erreichen waren, Verkaufsstellen von „Fleisch aus der Provinz“ eingerichtet.329 Insgesamt führte daher der Stadtrat bis 1914 diesbezüglich umfangreiche neue Aufgabenfelder ein, deren Kern ein 1907 gegründeter städtischer Versorgungsbetrieb für die arme Bevölkerung war. Dieser Betrieb verkaufte Grundnahrungsmittel wie Fleisch, Kartoffeln, Butter, Milch und Eier sowie zu Feiertagen Seefisch, aber auch Brennstoffe mit nur einem minimalen Gewinn. Hierdurch wurde eine gewisse Preisstabilität im örtlichen Handel erreicht.330
326 Biegeleisen, Polityka gospodarczo-aprowizacyjna, S. 3. Die in Berlin herausgegebene Zeitschrift für Kommunalwissenschaften 1, 1914, Nr. 5, stellte fest, dass gerade die Fleischversorgung ein zentrales Thema für die Kommunen sei, da sich die Perioden der Unterversorgung häuften und eine Unterernährung der städtischen Bevölkerung zu befürchten sei. Der Beitrag empfahl daher, dass der Viehbestand auf Staatsdomänen vergrößert werden und die Transportkosten gesenkt werden müssten. Jedoch wären auch Grenzen für die Städte erkennbar; daher sollten sie dauerhafte Einrichtungen wie Fleischhallen und städtische Viehmästereien betreiben, außerdem nicht jede Maßnahme bei sinkenden Preisen aufgeben, sondern weiterbetreiben. Vgl. auch A. Zurhorst, Tagesfragen aus der städtischen Fleischversorgung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 70, 1913, S. 663–694. Vgl. etwa auch: Marcel Streng, Subsistenzpolitik im Übergang. Die kommunale Ordnung des Brot- und Fleischmarktes in Frankreich 1846–1914, Göttingen 2017. 327 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 10 ff. 328 Vgl. den die Untersuchungen zur Teuerung zusammenfassenden Bericht: Sprawozdanie o stosunkach drożyźnianych we Lwowie wygłoszone na posiedzeniu Komisyi aprowizacyjnej miasta Lwowa w dniu 3 kwietnia 1906 przez Władysława Lenkiewicza [Bericht über die Teuerungsbedingungen in Lemberg, vorgetragen während der Sitzung der Versorgungskommission der Stadt Lemberg am 3. April 1906 durch Władysław Lenkiewicz], Lwów 1906; ähnliche Befunde in einem Memorandum von 1908 der Versorgungskommission: DALO, f. 3, op. 1, spr. 5304. 329 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 73–76. 330 Andrzej Bonusiak, Lwów w latach 1918–1939. Ludność – przestrzeń – samorząd [Lemberg in den Jahren 1918–1939. Bevölkerung – Gebiet – Selbstverwaltung], Rzeszów 2000, S. 152 f.; Sroka, Rada miejska, S. 176.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
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Da selbst Brot331 – laut der Versorgungskommission auch wegen der Gewinne der Bäcker – größtenteils nahezu unerschwinglich wurde, wurde über die Errichtung einer öffentlichen Brotfabrik, die Brot zum Produktionspreis verkaufen sollte, ebenfalls diskutiert.332 Hierbei orientierten sich die Ratsherren an ähnlichen Maßnahmen in anderen Städten, beispielsweise die öffentliche Bäckerei in Odessa, durch die der Brotpreis dort bereits im ersten Jahr ihrer Existenz um 25 Prozent gefallen sei.333 Jedoch wurde erst 1913/14 der Bau einer städtischen Brotfabrik in Angriff genommen.334 Wegen der hohen Rohstoffpreise bedrohten Lebensmittelfälschungen die Gesundheit der Verbraucher/innen. Brot wurde mit Sägemehl gefälscht; es gelangten auch verunreinigte oder günstigstenfalls nur mit Margarine ‚verlängerte‘ Butter und gepanschte oder schlechte Milch in den Verkauf, während die städtische Lebensmittelkontrolle immer noch unzureichend war.335 Neben einer intensivierten Lebensmittelaufsicht („Lebensmittelpolizei“) richtete der Stadtrat eine städtische Molkerei und 1912 einer Verkaufsstelle für Milch336 ein und trieb die Versorgung von armen Müttern mit gesunder Milch für ihre Säuglinge und Kleinkinder voran, nicht zuletzt, um die Übertragung von Rindertuberkulose zu vermeiden.337 Daher wurden bis 1914 elf städtische Molkereien eingerichtet. Jedoch gab es trotz dieser Maßnahmen noch 1913 erhebliche qualitative und hygienische Probleme bei der verkauften Milch, auch weil die Kontrolle durch den Magistrat nicht ausreichte.338 Gerade die Versorgung mit gesundem Fleisch stellte eine besonders schwierige339 Herausforderung dar, zumal erkannt worden war, dass ein wöchentlicher Fleischkonsum gesundheitsfördernd war, sich das Fleisch aber in einer „bedrohlichen Art“ verteuerte.340 Neben den Fleischexporten341 aus Galizien gab es auch lokale Gründe. 331
1896 hatte der Rat etwa auch über eine Subvention der Bäcker diskutiert, damit diese günstiger Brot verkaufen könnten, vgl. GL v. 25.1.1896. 332 GL v. 14.5.1898. 333 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 1 f. und 36. 334 Leon W. Biegeleisen, Polityka aprowizacyjna samorządu miejskiego [Die Versorgungspolitik der städtischen Selbstverwaltung], Warszawa 1927, S. 14 ff. 335 Zakład aprowizacyjny, S. 16. 336 Milchversorgungsanstalten waren nach Vögele, Sozialgeschichte, S. 307 ff., ein wichtiger Bestandteil der sanitären Reformen. 337 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 35. Zur Aktion des „Milchtropfens“ („kropli mleka“) vgl. auch Legeżyński, Stosunki, S. 31 f. Vgl. allgemein: Ute Caumanns / Silke Fehlemann, Die Hand an der Wiege. Mütter- und Säuglingsfürsorge in vergleichender Perspektive: deutsche und polnische Verhältnisse um 1900, in: Michael Sachs / Bożena Plonka-Syroka / Fritz Dross (Hrsg.), Współpraca na polu medycyny między Niemcami i Polakami / Austausch in der Medizin zwischen Deutschen und Polen, Wrocław 2008, S. 155–177. 338 Wincenty Kolski, Handel mlekiem we Lwowie [Milchhandel in Lemberg], Lwów 1913, S. 15–23. Ähnlich für 1902: DALO, f. 3, op. 1, spr. 4660, Bl. 29. 339 Strasburger, Gospodarka, S. 35. 340 „sposob groźny“, Zakład aprowizacyjny, S. 10; vgl. auch Mazanik, Sanitation, S. 126 f. 341 Nach Kaps, Entwicklung, S. 419, waren die Exporte vor allem auf den innerhabsburgischen Binnenmarkt ausgerichtet, nur 2,7 Prozent der Exporte gingen ins Deutsche Reich (1913), während
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So kaufte das Militär günstiges Fleisch für seine Garnisonen auf, sodass dieses dem zivilen Markt nicht mehr zur Verfügung stand. Die Lemberger Versorgungskommission stellte fest, dass sich die (katholischen) Fleischer bei öffentlichen Ausschreibungen des Militärs selbst unterbieten würden, um überhaupt diese Aufträge zu erhalten, was zur Folge hatte, dass an die Bevölkerung verkauftes Fleisch teurer verkauft werden musste, um dem Konkurrenzdruck Stand zu halten.342 Dieses war somit selbst für die Mittelschichten kaum erschwinglich. Bereits 1893/94 untersuchte eine spezielle Delegation städtische Schlachthöfe im In- und Ausland, um auf dieser Basis einen eigenen leistungsfähigen Schlachthof nach neuesten Standards zu bauen.343 Schließlich ging 1901 der neue städtische Großschlachthof344 mit 40 Gebäuden nach westlichem Muster und auf dem neuesten Stand der Technik in Betrieb, inklusive einer Eisfabrik.345 Auch wurde eine gesonderte Abteilung zur Lagerung von (günstigem) „Fleisch aus der Provinz“ eingerichtet, das nach Lemberg eingeführt und noch untersucht werden musste. Zugleich wurde das bislang partiell bestehende Verbot von privaten Schlachthäusern ausgeweitet, indem der Schlachthofzwang für die örtlichen Metzger eingeführt wurde.346 Daher beschloss die Versorgungskommission 1905, in der Provinz geschlachtetes Fleisch (und dort angebautes Gemüse) vom Veterinär untersuchen zu lassen, weil bislang häufig nur schlechtes, d. h. ungesundes Fleisch nach Lemberg und nur ein Teil der besseren Qualität in den Handel gekommen war. Für die Belieferung Lembergs sollte auch über eine Reduktion der Frachtpreise der Bahn verhandelt, die Preise festgelegt
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andere Handelspartner keine Rolle spielten. Die Versorgungskommission sah gerade in den Exporten nach Preußen einen erheblichen Grund für die Teuerung, DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 14. DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 3 ff. Sprawozdanie komisyj wydelegowanej przez Reprezentacyę miasta Lwowa celem zbadania rzeźni i targowic zagranicznych [Bericht der Kommission, die durch die Repräsentation der Stadt Lemberg zwecks Untersuchung der ausländischen Schlachthöfe und Markthallen delegiert wurde], Lwów 1895. Besucht wurden zwischen dem 16.12.1893 und dem 20.1.1894 von Ratsherren, dem städtischen Veterinär und Magistratsangestellten: Wien, München, Nürnberg, Würzburg, Frankfurt, Leipzig, Halle, Breslau, Kattowitz, Krakau und das galizische Biala. Zur Bedeutung von Großschlachthöfen für die Versorgung und Lebensmittelhygiene am Beispiel des Wiener Schlachthofes St. Marx vgl. Łukasz Nieradzik, Butchering and the Transformation of Work in the 19th Century: The Viennese Slaughterhouse Saint Marx, in: International Journal of Humanities and Social Sciences 2, 2012, H. 17, S. 12–16, URL: http://www.ijhssnet.com/journal/ index/1242 (1.7.2019). Die Eisfabrik schaffte es jedoch nicht, lebensmittelhygienischen Ansprüchen zu entsprechen, zumal die Kontrolle über die Produktion laut des Berichts von Mikołajski, Działalność, S. 31, aus dem Jahr 1911 nur unzureichend sei. Vgl. auch allgemein Helmut Lackner, Ein „blutiges Geschäft“ – Zur Geschichte kommunaler Vieh- und Schlachthöfe. Ein Beitrag zur historischen Städtetechnik am Beispiel Österreich, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz, 2004, S. 805–828. Józef Wiczkowski, Lwów. Jego rozwój i stan kulturalny oraz przewodnik po mieście [Lemberg. Seine Entwicklung und kultureller Stand sowie Stadtführer], Lwów 1907, S. 57–62; Jakubowska, Codzienny Lwów, S. 78; GL v. 27.12.1900. Vgl. Małachowski, Sprawozdanie, S. 59 ff., berichtet über den eingeführten Schlachthofzwang für Großvieh.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
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und öffentlich auf Tafeln bekannt gemacht sowie schließlich das Büro des städtischen Chemikers reorganisiert werden.347 Zusätzlich wurde eine Fleischkasse nach Krakauer, Wiener und Budapester Vorbild eingerichtet, wodurch die einschlägig arbeitenden Firmen besondere Finanzierungen erhielten, um mit weniger Risiko günstiger produzieren zu können. Des Weiteren schlug die Kommission vor, auch eine Fleischbank für Pferdefleisch einzurichten und den Verkauf von Kaninchenfleisch für die ärmere Bevölkerung zu erlauben.348 Nach dem Vorbild des Wiener Aufnahmeamtes wurde ein besonderes Amt für den Direktverkauf von Großviehfleisch zuständig, das aber wegen seiner geringen finanziellen Ausstattung praktisch keinen Einfluss auf den Markt erhielt. 1913 beschloss die Kommission daher, über einen vertraglich besonders gebundenen Großhändler direkt bei den Fleischproduzenten einzukaufen.349 Auch durch Maßnahmen auf politischer Ebene probierte der Stadtrat, die Fleischversorgung zu verbessern. So versuchte die Versorgungskommission über eine Resolution des Stadtrates, sich gemeinsam mit dem Krakauer Stadtrat für die Grenzöffnung nach Rumänien350 und dem Russländischen Reich zum Viehexport und für ein Exportverbot nach Preußen einzusetzen, damit genügend Vieh nach Lemberg kommen könne.351 Da die umfangreichen Fleischexporte aus Galizien ein grundlegendes Problem für die Versorgungslage im Land selbst darstellten, setzte etwa die Versorgungskommission hoffnungsvoll auf die Einfuhr argentinischen Rindfleisches, das seit der Jahrhundertwende nach Wien gelangte. Die Lieferungen wurden ausschließlich in Wien und Prag vermarktet, was den Stadtrat zu einer Anfrage an den Minister für Galizien in Wien veranlasste, warum Lemberg nicht ebenso behandelt würde wie diese Städte.352 Trotz des zunehmenden Verkaufs an günstigerem Pferdefleisch seit 1905 veränderten sich die Rindfleischpreise nicht. Erst die Einrichtung des Direktverkaufs durch städtische Fleischbänke, wovon 1907 zunächst zwei, dann vier weitere bis 1909 eröffnet wurden, änderte die Preise, was aber wiederum zu Protesten der Metzger führ-
347 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 1 f. Gerade die Verhandlung von günstigeren Frachttarifen war ein stetiges Thema, so Strasburger, Gospodarka, S. 35. 348 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 4 ff., 14–30. 349 Zakład aprowizacyjny, S. 15. 350 Hier wird die unterschiedliche Haltung des Krakauer Stadtrates deutlich, die seine Einbindung scheitern ließ (ebd., S. 462). Erst im Oktober 1909 beschloss der Lemberger Stadtrat eine an den Statthalter und die Lemberger Abgeordneten gerichtete Resolution, sich für die Grenzöffnung für Viehimporte einzusetzen. Vgl. CDIAL, f. 146, op. 2a, spr. 204, Bl. 80. Nach Kaps, Entwicklung, S. 419 f., gab es gegen das 1882 verhängte Importverbot aus Rumänien und dem Russländischen Reich keine Interventionen aus Galizien – die Lemberger Resolution war ‚verpufft‘. 351 Die Kommission sah gerade in den Exporten nach Preußen einen erheblichen Grund für die Teuerung, DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 3; DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 14. 352 GL v. 14.9.1910. Die Rindfleischexporte aus Argentinien wurden 1911 nach einem Veto Ungarns eingestellt; danach wurden „Massen argentinischen Rindfleischs wegen des Einfuhrverbots wieder nach Italien verkauft“, Zeitschrift für Frauen-Stimmrecht 1, 1911, Nr. 10, S. 3.
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4 Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen
te.353 1913 schloss schließlich die Stadtverwaltung mit einer Produktionsgenossenschaft einen Vertrag ab, wodurch sie Großvieh günstiger als die Händler einkaufen konnte. Jedoch blieb der Erfolg dieser Einrichtungen aus, da viele Arme weiterhin bei privaten Fleischern einkauften.354 Zu vermuten ist, dass unter den Kunden privater Fleischer vor allem jüdische Arme waren, die sichergehen wollten, dass sie koscher geschlachtetes Fleisch erhielten. Im Sommer 1909 kam es schließlich zu einem Boykott des städtischen Schlachthofes durch einen polnischen Fleischer und zwei jüdische Grossisten, die den Schlachthofzwang und die Konkurrenz durch die zunehmenden städtischen (Rind-)Fleischbänke kritisierten, gegen die der Magistrat aber mit Verhängung einer Strafe scharf vorging.355 Da ein erheblicher Grund für die Teuerung in den Gewinnen der Schlachter gesehen wurde, wurde das ökonomische und soziale Problem der Versorgungslage von nationalistischen, antisemitischen Untertönen in den Diskursen über die Teuerung begleitet, ohne dass die eigentlichen Ursachen diskutiert wurden. Beispielsweise stellte die Versorgungskommission 1906 fest, dass die Großviehmast in der Stadt selbst überwiegend in jüdischen Händen liege und dass sie den örtlichen katholischen Fleischern die schlechteste Qualität verkaufen würden. Hiermit wurde für die mangelhafte Versorgung mit ‚gesundem‘ Fleisch in Lemberg dessen jüdische Bevölkerung verantwortlich gemacht.356 Darüber hinaus wurden generell die speziellen „ungesunden“ Bedingungen im Lemberger Handel, gerade auch mit Verweis auf Spekulanten herausgestellt: Hiermit verwies der Bericht der Versorgungskommission darauf, dass der Handel in Lemberg größtenteils in jüdischer Hand lag,357 woraus dann, wenn auch implizit, eine auf antisemitischen Ressentiments basierende Schuldzuschreibung für die Teuerung abzuleiten war. Die ergriffenen Maßnahmen waren zusammenfassend insofern vorbildlich, als Lemberg zu den ersten europäischen Städten mit einem solch umfassenden Programm gehörte.358 Jedoch waren sie – aus der Perspektive des Jahres 1916 – immer noch nicht ausreichend und brachten der Stadtkasse einen erheblichen materiellen
353 Zakład aprowizacyjny, n.pag, in: CDIAL, f. 146, op. 2a, spr. 204, Bl. 1. 354 Ebd. 355 Sprawozdanie Klubu radnych „Centrum“ z czynności w radzie miasta za trzechlecie 1908–1910 [Tätigkeitsbericht der Ratsfraktion „Centrum“ für den Dreijahreszeitraum 1908–1910], Lwów 1911, S. 7: 1911 gab es sieben Fleischbänke, in denen nicht nur Provinz-, sondern auch im städtischen Schlachthof geschlachtetes Fleisch verkauft wurde. Vgl. auch GL v. 1.7. und 4.7.1909. 356 DALO, f. 3, op. 1, spr. 4952, Bl. 5. 357 „niezdrowych“, Sprawozdanie o stosunkach drożyźnianych, S. 16; Zakład aprowizacyjny, S. 12; vgl. auch Andrij Bezsmertnyi, Handel lwowski w okresie międzywojennym [Der Lemberger Handel in der Zwischenkriegszeit], in: Dzieje Najnowsze 47, 2015, S. 3–19, hier: S. 4 ff.; vgl. auch Dobra gminy, S. 92 f. In den letzten Vorkriegsjahren waren über zwei Drittel der Händler Juden. Vgl. auch Dilo v. 16.(29.)10.1909 mit der Kritik am Milchhandel. 358 Zakład aprowizacyjny, S. 12.
4.3 Ziele und Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
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Schaden.359 Insgesamt bilden die Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgungslage, insbesondere der Fleischversorgung, einen engen Zusammenhang mit den lokalen Modernisierungsdiskursen und -bemühungen, um vor allem die Folgen des Wachstums der Stadt und der allgemeinen Wirtschaftsschwäche Galiziens für die städtische Bevölkerung abzufedern. Aus der Versorgungslage leiteten die Diskurse eine Bedrohung aller Lemberger Einwohner und auch der öffentlichen Sicherheit ab, weil durch die unzureichende Versorgung eine (weitere) Radikalisierung der Bevölkerung befürchtet wurde,360 und trugen nicht zuletzt zur weiteren Nationalisierung der Kommunalpolitik bei. Die Unterversorgung und der prekäre Lebensstand großer Teile der städtischen Bevölkerung schien das Modernisierungsprojekt der Stadt als Ganzes zu bedrohen, nicht nur weil erhebliche Mittel in die Versorgung der Bevölkerung fließen mussten, sondern weil hierdurch die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet schien. Daher ist davon auszugehen, dass gerade die lokalen Teuerungsdiskurse dazu beitrugen, dass die polnischen Nationaldemokraten zunehmend Anhänger innerhalb der Wählerschaft gewannen und der Antisemitismus in der Bevölkerung zunahm, weil die Ernährungsfrage doch als Grundproblem sozialer und persönlicher Sicherheit das „gemeinsame Interesse“ betraf.361 Das „schöne Lemberg“ wurde zu einem zentralen Leistungsziel und Modernisierungsversprechen des Stadtrates, das sich an zahlreichen Herausforderungen in Bezug auf die „soziale Frage“, die Versorgung der Bevölkerung allgemein und nicht zuletzt der öffentlichen Gesundheit messen lassen musste. Waren die damit verbundenen Themenfelder letztlich zwar grundlegende Probleme, die in allen (europäischen) Städten anzutreffen waren, so wurden sie in den Lemberger Diskurs national konnotiert. Ziel war, wie Pieter M. Judson es pointiert für das „Everyday Empire“ formuliert, „being modern, being European“362, also über Modernität Europäizität zu beweisen. „Modernität“ schloss daher einen polnischen Bezug nicht aus, sondern diente eher als Beleg für die Leistungsfähigkeit der polnischen Nation. Über die Vorstellung des „polnischen Charakters“ der Stadt war dies nicht nur mit Versicherheitlichungsdiskursen in Bezug auf die soziale Sicherheit – also die Sicherheit vor Krankheit, Elend und Hunger – verbunden, sondern auch in Bezug auf die polnischen Besitzansprüche und den polnischen Charakter der Stadt, die vor allem in der Bildungs- und Kulturpolitik deutlich formuliert wurden.
359 Ebd., S. 17. Der Bericht betont, dass gerade der städtische Versorgungsbetrieb während des Krieges das letzte „Rettungsbrett“ („deska ratunkowa“) für die Stadt gewesen sei. 360 Stochel-Niebelska, Parteienspektrum, S. 264, 289. 361 „wspólny interes“, Sprawozdanie o stosunkach drożyźnianych, S. 16. 362 Judson, Habsburg Empire, S. 355. Zur Bedeutung des Europa-Diskurses: Burkhard Wöller, „Europa“ als historisches Argument. Nationsbildungsstragien polnischer und ukrainischer Historiker im habsburgischen Galizien, Bochum 2014.
5 Den polnischen Charakter stärken Städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen Lemberg sei eine „rein polnische Stadt“1, stellte der Stadtrat im Zusammenhang mit der beginnenden Polonisierung des Schulwesens 1862 bereits zu einem Zeitpunkt fest, als die lokalen Angelegenheiten schrittweise politisiert wurden und in den Einflussbereich der polnischen politischen Eliten gelangt waren. Dieses Statement weist deutlich darauf hin, dass die ‚Stadtväter‘ nicht nur die multiethnische Bevölkerungszusammensetzung Lembergs vollkommen ausblendeten, sondern auch die Stadt als polnischen Besitz beanspruchten. Diese Ambitionen mussten über die Amtssprache in der lokalen Selbstverwaltung hinausgehend in der Stadt durchgängig implementiert und anschließend verteidigt werden, da Mitte der 1860er Jahre Deutsch noch die Sprache des kulturellen Lebens und des Unterrichts war, während im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend entsprechende ruthenische Ansprüche artikuliert wurden. Gerade die Bildungs- und Kulturpolitik stellten wichtige Mittel dar, um der Stadt den notwendigen ‚polnisch(sprachig)en Anstrich‘ zu geben; nur durch sie konnte der postulierte „polnische Charakter“ der (ganzen) Stadt durchgesetzt und stabilisiert werden. Da über Bildung, Kultur und nicht zuletzt Geschichte seine wesentlichsten Merkmale vermittelt werden konnten, wurden diese Politikfelder letztlich zu einem Hauptanliegen der Lemberger Kommunalpolitik, zu ihrem ‚Herzblut‘. Durch die Übertragung dieser Aufgabenbereiche in den eigenen Wirkungskreis war es für die politischen Eliten der Stadt möglich geworden, ihre national-kulturellen Vorstellungen fast widerstandslos durchsetzen und im öffentlichen Raum einschreiben zu können. Daher konnte der Wirtschaftshistoriker Stanisław Hoszowski 1935 zusammenfassend feststellen, dass die Stadt keine diesbezüglichen Ausgaben gescheut habe,
1
„miastem czysto polskiem“, GL v. 30.5.1862 und v. 18.9.1862.
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen
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weil Schulwesen und Bildung eine derartige Bedeutung für die „Erhaltung und Stärkung der Polonität Lembergs“ gehabt hätten.2 Dies geschah vor dem Hintergrund, dass für eine grundsätzlich arme, unterfinanzierte Stadt wie Lemberg gerade die kultur- und bildungspolitischen Entscheidungen und Praktiken erhebliche finanzielle Anstrengungen mit sich brachten. In den Entscheidungen werden daher Priorisierungen deutlich. Mit dem zunehmenden Selbstverständnis der Ratsherren, die Lemberg als kulturelles Zentrum und polnische Ersatzhauptstadt3 positionieren wollten, wurden ihnen gerade diese höchst defizitären Politikbereiche besonders wichtig. Ihre Haltung fasste Stadtarchivar und Museumsdirektor Aleksander Czołowski prägnant zusammen: Die kulturellen Verpflichtungen der Stadt Lemberg wuchsen als Hauptstadt des Landes, als Herd des geistigen Lebens des ganzen Teiles Polens, der in stetiger Gefahr seines nationalen Charakters ist.4
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen Schulfragen wurden in der gesamten Habsburgermonarchie zu einem wichtigen Instrument im Nationalitätenkampf und führten allerorts zu Auseinandersetzungen zwischen den Nationalitäten.5 Schulische (mutter-)sprachliche Bildung gehörte zu den wichtigsten Forderungen nationaler Bewegungen, weil durch sie neben der persönlichen auch eine soziale und nicht zuletzt nationale Emanzipation6 erreicht werden 2 3
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„Dla utrzymania i spotęgowania polskości Lwowa“, Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 57. Hierdurch wird Lemberg als Zentrum für die Reorganisation der verlorenen Staatlichkeit betrachtet. Diese Vorstellung greift auf das in der Inteligencja bekannte, in den 1830er Jahren entwickelte, liberal-demokratische Konzept des polnischen Historikers Joachim Lelewel vom „gminowładztwo“ (Gemeindeherrschaft) zurück, das als Prinzip der polnischen Geschichte interpretiert wurde. Ausführlich zum Konzept: Franciszek Bronowski, Idea gminowładztwa w polskiej historiografii [Die Idee der Gemeindeherrschaft in der polnischen Historiografie], Łódź 1969. „rosły kulturalne obowiązki miasta Lwowa, jako stolica kraju, jako ogniska życia duchowego całej dzielnicy Polski, będącej w stałem niebezpieczeństwie o swój narodowy charakter“, Aleksander Czołowski, Muzea gminy miasta Lwowa [Die Gemeindemuseen der Stadt Lemberg], Lwów 1929, S. 14. Zu seiner Biografie: Iwona Zima, Aleksander Czołowski. Luminarz lwowskiej kultury [Aleksander Czołowski. Eine Berühmtheit der polnischen Kultur], Gdynia 2011. Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985, S. 166–189; Paul R. Magocsi, The Language Question as a Factor in the National Movement, in: Andrei S. Markovits / Frank E. Sysyn (Hrsg.), Nationbuilding and the Politics of Nationalism. Essays on Austrian Galicia, Cambridge/MA 1982, S. 220–238. Judson, Habsburg Empire, S. 302 ff., betont die besonders nationalisierende Rolle der „Schoolhouse Activists“. Vgl. Svjatoslav Pacholkiv, Emanzipation durch Bildung. Entwicklung und gesellschaftliche Rolle der ukrainischen Intelligenz im habsburgischen Galizien (1890–1914), Wien etc. 2002, S. 14. Vgl. auch Jarosław Moklak, W walce o tożsamości Ukraińców. Zagadnienie języka wykładowego w
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5 Städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen
konnte. Daher verwundert es nicht, dass gerade die mit den Nationalitätenproblemen verbundenen Schulfragen ein häufiger und beliebter Gegenstand historischer Forschung zu den ostmitteleuropäischen Nationalbewegungen sind.7 Seit den Reformen Maria Theresias wurde die auf sechs Jahre angelegte Schulzeit als geeignetes Mittel gesehen, treue Untertanen beiderlei Geschlechts zu erziehen und damit die zentralisierte Staatsmacht zu festigen.8 Aufgrund des auf die schlechte Bezahlung zurückzuführenden Lehrermangels war die Einpassung Galiziens in das reichsweite Schulsystem durch die politischen Behörden, also die Landesverwaltung, nur schrittweise und teilweise erreicht worden.9 Als Konsequenz daraus stellte der Landesschulrat (Rada Szkolna Krajowa) 1868/69 „derart schädliche Auswirkungen in dem Bereich der Elementarbildung [fest], dass eine grundlegende Korrektur eine sehr lange Zeit in Anspruch nehmen wird.“10 Eine Folge des grundsätzlich schlecht ausgestatteten Schulwesens war, dass Galizien, das Armenhaus der Monarchie, eine hohe Analphabetenquote11 sowohl in den Städten als auch auf dem Land aufwies.
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szkołach ludowych i średnich w pracach galicyjskiego Sejmu Krajowego 1866–1892 [Im Kampf um das Bewusstsein der Ukrainer. Das Problem der Unterrichtssprache in den Volks- und Mittelschulen in den Arbeiten des galizischen Landtags 1866–1892], Kraków 2004. Etwa Gary B. Cohen, Education and Middle-Class Society in Imperial Austria, 1848–1918, West Lafayette/IN 1996. Neben Pacholkiv, Emanzipation, beispielsweise für Galizien: Hannelore Burger, Sprachenrecht und Sprachengerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867–1918, Wien 1995; Ann Sirka, The Nationality Question in Austrian Education. The Case of Ukrainians in Galicia 1867–1914, Frankfurt/Main etc. 1980; Czesław Majorek, Haupttendenzen in der Entwicklung des Bildungswesens in Galizien zur Zeit der Autonomie, in: Karlheinz Mack (Hrsg.), Galizien um die Jahrhundertwende. Politische, soziale und kulturelle Verbindungen mit Österreich, Wien etc. 1990, S. 69–78. Überblick: Josef Scheipl / Helmut Seel, Die Entwicklung des österreichischen Schulwesens von 1750–1938, Graz 1987; Isabel Röskau-Rydel, Die Entwicklung des Volksschulwesens in Lemberg zwischen den Jahren 1772 und 1848, in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego 121, 1996, S. 417–437. Überblick: Röskau-Rydel, Kultur, S. 63–74, daran anschließend ein Abriss der Schulformen, ebd., S. 75–234. „tak szkodliwe skutki w dziedzinie wychowania elementarnego, że gruntowa poprawa wymagać będzie bardzo wiele czasu“, Mieczysław Baranowski, Pogląd na rozwój szkół ludowych król. stołecznego miasta Lwowa w okresie autonomycznym [Blick auf die Entwicklung der Volksschulen der königl. Hauptstadt Lemberg in der autonomen Zeit], in: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870– 1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lwów 1896, S. 353–424, hier: S. 369; Überblick über die Entwicklung in Galizien: Alojzy Skoczek, Rys historyczno-statystyczny szkół ludowych w Galicyi od roku 1772 po 1867 [Historisch-statistischer Abriss der Volksschulen in Galizien von 1772 bis nach 1867], Kraków 1869; Teofil Fiutkowski, Szkolnictwo ludowe w Galicyi w dobie porozbiorowej [Das Volksschulwesen in Galizien in der Nachteilungszeit], Lwów 1913; Majorek, Haupttendenzen. 1880 waren 80 Prozent der Einwohner Galiziens Analphabeten, 1914 noch 50 Prozent. Vgl. Jerzy Jarowiecki, Typologia i statystyka prasy lwowskiej w latach 1864–1939 [Typologie und Statistik der Lemberger Presse in den Jahren 1864–1939], in: ders. (Hrsg.), Kraków – Lwów. Książki, czasopisma, biblioteki XIX i XX w. [Krakau – Lemberg. Bücher, Zeitungen, Bibliotheken im 19. und 20. Jh.], Bd. 4, Kraków 1999, S. 209–235, hier: S. 211.
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen
217
Im Rahmen der Reform des Reichsschulgesetzes 186912 wurde das Prinzip des deutschsprachigen Unterrichts13 endgültig aufgegeben und der Grundsatz vertreten, dass diejenige Sprache Unterrichtssprache sein sollte, durch die Schüler am besten gefördert werden könnten. Diese Auffassung brachte in Verbindung mit dem durch die Dezembergesetze eingeführten Prinzip der Gleichberechtigung der Nationalitäten mit sich, dass jedes Kronland die Sprachenfrage je nach Kräfteverhältnis der Nationalitäten in einem gewissen Rahmen anders regelte.14 Der Paragraf 19 des Staatsgrundgesetzes hatte einen sprachlichen Minderheitenschutz prinzipiell festgelegt, indem er die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben postulierte. Hiernach sollten in den Ländern, in welchen mehrere „Volksstämme“ wohnten, die Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein […], dass ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung seiner Sprache erhält.15
Hiermit wurden – im Prinzip – auch nichtdominanten Nationalitäten über den Gebrauch ihrer Muttersprache Bildungsmöglichkeiten gegeben. Die Sprachenpolitik im Schulwesen war durch das Reichsschulgesetz in die Hände der Landesverwaltung gelangt, die ihre Kompetenzen über den Landesschulrat ausübte. Zugleich ermöglichte das Gesetz, dass vermehrt Mittelschulen von Reichs-, Landes- und Kommunalbehörden, aber auch von Interessenvertretern und Vereinigungen eingerichtet wurden. Reichsweit gesehen verhalf diese Entwicklung immer mehr ethnischen, konfessionellen und sozialen Gruppen, auch Frauen, höhere Bildung zu erwerben, wie Gary B. Cohen am Vergleich der wesentlichen Entwicklungen in Prag und Wien darlegt.16 Jedoch behielt sich das Reich bezüglich der Unterrichtssprache an Mittelschulen ein Entscheidungsrecht vor. In Galizien wurde in Bezug auf die vom Land unterhaltenen Mittelschulen, in denen Deutsch ein verpflichtendes Fach war, Polnisch als Unterrichtssprache zumindest teil-
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Gesetz vom 14. Mai 1869 durch welches die Grundsätze des Unterrichtswesens bezüglich der Volksschulen festgestellt werden, vgl. RGBl. Nr. 62/1869. Übersicht über die Schulgesetze: Bolesław Baranowski (Hrsg.), Zbiór ustaw krajowych obowiązujących w zakresie spraw szkolnictwa ludowego w Królestwie Galicyi i Lodomeryi wraz z Wielkiem Księstwem Krakowskiem [Sammlung von Landesgesetzen über die Volksschulangelegenheiten im Königreich Galizien und Lodomerien zusammen mit dem Großherzogtum Krakau], Lwów 1895. Deutsch wurde im nachrevolutionären Schulgesetz als Unterrichtssprache zur gesellschaftlichen Modernisierung und nicht nur als Ausdruck der politischen Vorherrschaft eingeführt, vgl. Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, S. 332. Pacholkiv, Emanzipation, S. 43–46. Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, in: RGBl. Nr. 142/1867. Vgl. die o. g. Studie von Cohen, Education.
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5 Städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen
weise durchgesetzt, auch wenn in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder über die Einrichtung ruthenischer Schulen im Landtag diskutiert wurde.17 Ausnahmen bildeten hierbei der Religionsunterricht und besondere „Nothwendigkeit[en]“18 für ruthenischsprachige Vorträge über einzelne Lehrgegenstände.19 Durch das Landesschulgesetz vom Juni 1867 wurde der Grundsatz der sprachlichen Gleichberechtigung jedoch ausgehebelt. Im Gegensatz zum Polnischen als Unterrichtssprache musste Ruthenisch vom Landtag bestätigt werden. Nach Svjatoslav Pacholkiv war es angesichts der sich erst entwickelnden ruthenischen Intelligenzschicht für die ruthenische Nationalbewegung wichtig, zunächst vor allem die Ruthenisierung von Mittelschulen und nicht von Volksschulen zu fordern.20 Nach Auseinandersetzungen um die Einführung des Ruthenischen in Mittelschulen beschloss der Landtag den Grundsatz, dass mit Ausnahme des Lemberger Akademischen Gymnasiums und von Parallelklassen in Przemyśl das Ruthenische nur nach dem erwiesenen Bedarf als Unterrichtssprache genutzt werden dürfe.21 Dagegen waren die meist aus finanziellen Gründen koedukativ geführten Volksschulen Galiziens häufig utraquistisch angelegt.22 Außerhalb des Religionsunterrichts 17 18 19
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Vgl. Jarosław Moklak, Hałyczyna contra Galicja. Ukraińskie szkolnictwo średnie i wyższe w debatach Sejmu Krajowego galicyjskiego 1907–1914 [Hałyczyna gegen Galicja. Das ukrainische Mittelund Oberschulwesen in den Debatten das galizischen Landtags 1907–1914], Kraków 2013. LGuVBl. Nr. 13/187, Art. V. Zugleich legte ebd., Art. V, fest, dass in den Mittelschulen auf jeden Fall Polnisch verpflichtend zu unterrichten sei, während am II. Lemberger Gymnasium und in Brody Deutsch als Unterrichtssprache erhalten blieb. Jede Änderung der Unterrichtssprache musste laut Art. VII in den Mittelschulen vom Landtag genehmigt werden. Vgl. auch die Verhandlungen dazu: AGAD, C. K. Ministerstwo Wyznań i Oświaty, 7u, Bl. 80–98. Burger, Sprachenrecht, S. 68–73, zeichnet nach, dass über die Finanzierung der Mittelschulen durch das Reich (vergeblich) versucht wurde, die Polonisierung des Mittelschulwesens in Galizien abzumildern, wenn nicht gar rückgängig zu machen. Überblick: Józef Świeboda, Szkolnictwo ukraińskie w Galicji (1772–1918). Stan badań i potrzeby [Das ukrainische Schulwesen in Galizien (1772–1918). Forschungsstand und Desiderate], in: Czesław Majorek / Andrzej Meissner (Hrsg.), Galicja i jej dziedzictwo [Galizien und sein Erbe], Bd. 8 Myśl edukacyjna w Galicji 1772–1918 [Der Erziehungsgedanke in Galizien 1772–1918], Rzeszów 1996, S. 271–292. Bereits 1874/75 konnte Ruthenisch als Unterrichtsprache im Lemberger Akademischen Gymnasium durchgesetzt werden. In den 1880er Jahren konnte lediglich in Przemyśl die Einrichtung ruthenischer Parallelklassen erreicht werden. Vgl. Rozprawa nad wnioskiem posła Romanczuka w Sejmie galicyjskim [Aussprache aufgrund des Antrags des Abgeordneten Romanczuk im galizischen Sejm], Lemberg 1886; Pacholkiv, Emanzipation, S. 87 f. Der 1890 getroffene, jedoch nicht fixierte polnisch-ukrainische Ausgleichsversuch betraf die ruthenische Unterrichtssprache: Es wurde ein ruthenischsprachiges Gymnasium in Kolomea (Kolomyja) eingerichtet, außerdem das ostgalizische Lehrerseminar utraquisiert (d. h. zweisprachig gestaltet), ein Lehrstuhl für ukrainische Geschichte an der Lemberger Universität eingerichtet und die Ševčenko-Gesellschaft jährlich subventioniert. Vgl. ebd., S. 92, zur Lehrerausbildung: Andrzej Meissner, Spór o duszę polskiego nauczyciela. Społeczeństwo galicyjskie wobec problemów kształcenia nauczycieli [Der Streit um den Geist des polnischen Lehrers. Die galizische Gesellschaft angesichts der Probleme der Lehrerausbildung], Rzeszów 1999. Als Utraquismus wird in der Habsburgermonarchie die formale Gleichberechtigung von Sprachen in einer Institution bezeichnet. Im Schulwesen bezog sich der Begriff auf die Unterrichtssprachen der die Schule besuchenden Nationalitäten. Hierbei wurden, abgesehen vom Sprachunterricht
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen
219
wurden die Schüler verschiedener Nationalitäten gemeinsam, d. h. letztlich auf Polnisch, unterrichtet. In solchen Schulen sollte daher nach Artikel 3 des Landesschulgesetzes diejenige Sprache, die nicht Unterrichtssprache sei, innerhalb der für die „Schule angemessenen Grenzen einen obligaten Lehrgegenstand bilden“23 – wie diese definiert wurden, blieb dem Schulträger, also der Stadt Lemberg, überlassen. 5.1.1 Polnische Schulen als Instrumente der Nationalisierung Der Stadtrat – wie letztlich die Landesbehörden auch – versuchte von Beginn seiner Tätigkeit an niemals, eine angemessene Berücksichtigung des Ruthenischen zu realisieren. Dass diese ruthenischen Forderungen nicht erfüllt wurden, lag im Landesschulgesetz selbst begründet, indem trotz des oben genannten Vorbehalts grundsätzlich Polnisch anstelle des Deutschen als Unterrichtssprache in den Volks- und Mittelschulen eingeführt wurde.24 Diese Regelung bedeutete einen wichtigen Schritt für die Autonomie in Galizien, während in den übrigen Landesteilen das Wiener Unterrichtsministerium der Unterrichtssprache an Mittelschulen zustimmen musste. Schließlich enthielt auch die Reichsgemeindegesetzgebung eine Regelung, um das sog. Sprachenzwangverbot auszuhebeln. Sie hatte insbesondere die in ihrer Breitenwirkung wichtigen Volksschulen in den eigenen Wirkungskreis der Städte gelegt, sodass die politisch dominierenden nationalen Gruppen in den multiethnischen Städten25 letztlich über die Unterrichtssprache in den Volksschulen entscheiden konnten. Das galizische Landesschulgesetz von 186726 unterstützte diese Regelung durch seinen ersten Artikel: Das „Recht zur Bestimmung der Unterrichtssprache in den Volksschulen steht Denjenigen zu, welche die Schule erhalten.“27 Schließlich ermächtigte der Paragraf 30 des Lemberger Statuts den Stadtrat zur
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26 27
selbst, einzelne Fächer in unterschiedlichen Sprachen unterrichtet. Vgl. Stourzh, Gleichberechtigung, S. 179. Überblick: Karol Falkiewicz, Rozwój szkolnictwa ludowego w Galicyi 1848–1898. Pamiątka jubileuszowa 50letniego panowania cesarza Franciszka Józefa I [Die Entwicklung des Volksschulwesen ins Galizien 1848–1898. Jubiläumsschrift zum 50-jährigen Herrschaftsjubiläum Kaiser Franz Josephs I.], Lwów 1899; die wichtigsten Quellen in: Czesław Majorek (Hrsg.), Projekty reform szkolnictwa ludowego w Galicji u progu autonomii (1860–1873) [Entwürfe der Volksschulreform in Galizien an der Schwelle zur Autonomie (1860–1873)], Wrocław etc. 1980. LGuVBl. Nr. 13/1867, Art. 3. Majorek, Haupttendenzen. Vgl. etwa den Triestiner Sprachenstreit, bei Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien 2010, S. 315; vgl. auch Emil Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910, Wien etc. 1982, S. 183–202. Vgl. LGuVBl. Nr. 13/1867, im Reichsgesetz von 1869 (RGBl. Nr. 62/1869) § 7 wird dies den Landesschulbehörden zugeschrieben. Der Artikel 2 des Landesgesetzes von 1867 (LGuVBl. Nr. 13/1867) stellte fest, dass, wenn die Schule aus öffentlichen Fonds finanziert wird, die Unterrichtssprache von der Gemeinde und der
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5 Städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen
regelnde[n] Einflussnahme auf die von der Gemeinde erhaltenen Mittelschulen, dann auf die Volksschulen; die Sorge für die Errichtung, Dotierung und Erhaltung der Volksschulen, so wie die Sorge für Special- und Fachschulen.28
Dies bedeutete, dass gerade mit dem Volksschulwesen ein besonders konfliktbehafteter, zugleich auch höchst kostenintensiver Aufgabenbereich in die Entscheidungsbefugnis des Lemberger Stadtrates überging, den er wiederum für seine nationalisierende Agenda in besonderer Weise nutzen konnte. Ausgehend vom Landesschulgesetz erhielt der Stadtrat über den 1867 eingesetzten Landesschulrat landesweite Mitspracherechte bezüglich der Schulpolitik. Aufgrund der Zusammensetzung und der Vorschrift zur einfachen Stimmenmehrheit (Art. V) ergab sich eine Dominanz polnischer Vertreter im Landesschulrat, dem der Statthalter vorstand. Bereits in dieser Institution konnte der Lemberger Stadtrat die Schulpolitik Galiziens beeinflussen, weil unter den elf Mitgliedern29 auch zwei Vertreter des Lemberger Stadtrates (d. h. ca. 18,2 Prozent der Stimmen) waren, auf deren Stimmverhalten der Stadtrat über „Empfehlungen“ einwirkte.30 Seine daraus resultierende Erwartungshaltung wurde bereits 1867 deutlich, als der Dziennik Lwowski die Entsendung zweier Lemberger Delegierter mit den Worten kommentierte, dass „wir [die Redaktion] überzeugt sind, dass der Stadtrat, der immer Zeugnisse eines wirklichen Verstehens der nationalen Interessen und Unabhängigkeit […] abgelegt hat, die beste Auswahl trifft.“31
Innerhalb Lembergs konnte der Stadtrat seine Vorstellungen gerade in dem ihm unterstehenden Volksschulwesen, aber auch bei der Einrichtung von ihm finanzierter neuer Mittel- und Berufsschulen32 durchsetzen, weil er vom Landesschulgesetz ein natio-
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30 31 32
Landesschulbehörde in der Form festgelegt wird, dass die Landesbehörde die entsprechenden Gemeindebeschlüsse zu genehmigen hat. Vgl. Pacholkiv, Emanzipation, S. 86. § 30, Satz l, LGuVBl. Nr. 13/1867. LGuVBl. Nr. 13/1867. Neben dem Statthalter (oder einem von ihm bestimmten Stellvertreter), den Statthalterei-Referenten für Schulangelegenheiten, zwei Allerhöchst berufenen Geistlichen (hiermit wurde zumindest eine stark in Galizien vertretene Konfession bzw. Religion ausgeschlossen, d. h. in der Regel die jüdische), einem delegierten Landesausschussmitglied und zwei durch besondere Leistungen im Lehrfach herausragende Personen auf Vorschlag des Landesausschusses noch jeweils zwei delegierte Ratsmitglieder der Hauptstädte Lemberg und Krakau (ebd., Art. IV). Der Stadtrat gab entsprechende „Empfehlungen“, so forderte er die Delegierten auf, sich im Landesschulrat für Polnisch als Unterrichtssprache im IV. Gymnasium einzusetzen. Vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 3083, Bl. 5. „Jesteśmy przekonani, że rada miejska która tyle zawsze dała dowodów prawdziwego zrozumienia interesów narodowych i niezawisłości […] uczyni jaki najlepszy wybór“, vgl. DL v. 24.7.1867. Die Stadt richtete einerseits Berufsschulen für einzelne Gewerke ein, anderseits förderte sie zusätzlich eine berufsbildende Basisausbildung im Bereich der höheren Volksschulklassen. Hierbei orientierte sich der Stadtrat am Vorbild der schwedischen slöjd (schwed.: Handarbeit), vgl. Ostas-
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen
221
nalitätenpolitisch zentrales Aufgabenfeld übertragen bekommen hatte.33 Wichtigstes, wenn auch formal autonomes Instrument für die kommunale Schulpolitik war der Lemberger Bezirksschulrat (Rada Szkolna Okręgowa), der im Vergleich zu den Ortsschulräten der kleineren Gemeinden umfassendere Kompetenzen hatte und auch die Schulinspektoren berufen konnte. Er ersetzte die Mittelinstanz und konnte so direkt Lemberger Belange im übergeordneten Landesschulrat vorbringen. Von Bedeutung für diese nationalitätenpolitische Aufgabe war auch, dass er Schulbücher verfassen lassen konnte. So gab 1906 der Stadtrat beispielsweise Schulbücher über die Lemberger Geschichte in Auftrag (s. u.),34 wodurch er sein Geschichtsbild kanonisieren konnte. Dass es sich bei dem Lemberger Bezirksschulrat lediglich um ein formal unabhängiges Gremium handelte, wird darin deutlich, dass der Stadtpräsident den Vorsitz innehatte. Darüber hinaus setzte er sich aus drei für zwei Jahre gewählten Delegierten des Stadtrates, aus zwei Lehrern, dem ebenfalls vom Stadtrat berufenen Bezirksschulinspektor sowie aus den Vertretern der mehr als 500 Mitglieder zählenden Konfessionen und Religionen zusammen.35 Häufig waren über ihre sonstigen Ämter sogar mehr Ratsherren als vorgesehen im Bezirksschulrat vertreten, wie beispielsweise die Vertreter der jüdischen Gemeinde Dr. Juliusz Kolischer, Dr. Henryk Gottlieb und Dr. Bernard Goldmann, der evangelische Vertreter Emil Grafl und die Vertreter des römisch-katholischen Konsistoriums Michał Formaniosz und Msgr. Antoni Pawłowski.36 Nach der gesetzlichen Regelung über die Rolle der Schulräte vom Juni 1873 führte der 1871 konstituierte Lemberger Schulrat nicht nur die Aufsicht über alle zum Bezirk gehörenden Volksschulen, sondern auch über die privaten, d. h. meist von Vereinen oder Kirchen getragenen Schulen und Spezialschulen sowie über die Krippen. Nach den Schulvisitationen bestand seine wichtigste Aufgabe in der Erstellung eines Lehrplanes für die städtischen Volksschulen auf Basis der gesetzlichen Grundlagen. Es war gleichsam selbstverständlich, dass Polnisch als Unterrichtssprache nicht infrage gestellt wurde;37 Deutsch wurde ab der dritten Klasse unterrichtet. 1875 reduzierte der Bezirksschulrat den Anteil des Deutschunterrichts und stärkte im Gegenzug das Polnische.38 Insgesamt brachte die Etablierung des Lemberger Bezirksschulrates ein
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36 37 38
zewski-Barański, Pogląd, S. 134. Die slöjd-Ausbildung wurde seit den 1870er Jahren in schwedischen Schulen eingerichtet und als Modell weltweit übernommen. Baranowski, Pogląd, S. 360, der darauf hinweist, dass die Stadt 1853 lediglich knapp 5.665 fl. für die Unterhaltung von Schulen ausgab, 1860 15.400 fl. und 1867 25.020 fl., vgl. auch Tab. 10. GL v. 2.6.1906. Darüber hinaus waren seine Verwaltungsmitarbeiter im Rathaus untergebracht. Vgl. Baranowski, Pogląd, S. 413. Beispielsweise empfahl der Bezirksschulrat dem Rat, eine Lehrkraft für jüdischen Religionsunterricht in der Mickiewicz-Schule einzustellen, der diesem auch folgte (4.9.1899), DALO, f. 3, op. 1, spr. 4232, Bd. 25; oder auch zur baulichen Versorgung der Konarski-Schule mit Gaslicht, DALO, f. 3, op. 1, spr. 4448, Bl. 16 ff. Vgl. Baranowski, Pogląd, S. 362–366. An an allen städtischen Schulen bis auf die Szaszkiewicz-Schule war Polnisch die Unterrichtssprache. Vgl. ebd., S. 373.
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5 Städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen
abgestuftes politisches Beschlussverfahren mit sich, in dem dieser die Fach- und bauliche Aufsicht ausübte und über die Ratsdelegierten Anträge in Schulfragen im Stadtrat stellte. Der Stadtrat beschloss wiederum nach Stellungnahme seiner Bildungskommission die Gründung und die bauliche Erweiterung von Schulen sowie nicht zuletzt die Finanzierung der grundsätzlich schlecht bezahlten39 Lehrer an den städtischen Schulen durch das Gemeindebudget.40 Um 1870 war allgemein nicht nur der Zustand der Lehre, sondern auch derjenige der Volksschulgebäude in Galizien sehr schlecht und damit „auch in Lemberg, weil sich die Lemberger Schulen in nichts von den Provinzschulen unterschieden; und einige [Schulen] waren sogar noch schlechter.“41 1870 war noch keine Schule in einem eigenen Schulgebäude42 untergebracht. Alle Schulen befanden sich in gemieteten und baulich schlecht erhaltenen Gebäuden und waren teilweise auf mehrere Gebäude verteilt. Insgesamt gab es daher viel zu wenig Schulplätze, wodurch der vorgeschriebenen Schulpflicht43 nicht genügt werden konnte. Die bestehenden Volksschulen waren vollkommen überfüllt. Die Klassen umfassten Anfang der 1870er Jahre meist jeweils um die 100 Schüler, teilweise 120 bis 140 Schüler, während der Landesschulrat eine Klassengröße von 80 Schülern empfohlen hatte.44 Die Schulen verfügten nicht über ausreichend Lehrmaterialien und waren nach wie vor größtenteils in angemieteten Räumlichkeiten untergebracht, die wiederum baulich in sehr vernachlässigtem Zustand waren. Die Gebäude der Volksschulen sind ohne Ausnahme für die Ziele und Bedürfnisse der Schulen nicht geeignet; einige von ihnen sind sogar für die Gesundheit der Schüler und Lehrer schädlich. In einem ähnlichen Zustand befindet sich die Ausstattung45,
so das ernüchternde Fazit der Lemberger Bestandserhebung zu Beginn der Tätigkeit des Bezirksschulrates. Daher reformierte der Stadtrat Anfang 1874 die städtischen Volksschulen und richtete je fünf Mädchen- und Jungenschulen ein, denen jeweils je vier Lehrer zugeordnet wurden. Bis Ende der 1870er Jahre wurden noch zwei kirchli-
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Vgl. hierzu auch Kap. 4.3.3 und ZNiO, PR, 13042, Bl. 13 mit einer Petition der Lemberger Lehrer zur Anpassung der Gehälter an die Teuerung (21.6.1900), häufig wurden die kargen Lehrergehälter durch Naturalien (Holz) oder Geld aufgestockt, vgl. etwa auch DALO, f. 3, op. 1, spr. 3477. CDIAL, f. 146, op. 7, spr. 4553, Bl. 6. „taki we Lwowie – bo lwowskie szkoły niczem się nie różniły od prowincjalnych, a niektóre stały nawet gorzej“, Baranowski, Pogląd, S. 369; Zusammenfassung des Berichts: GL v. 25.1.–7.2.1871; außerdem Bericht von 1872: GL v. 24.–26.11.1872. WstML 7, 1896, S. 112; vgl. auch DALO, f. 3, op. 1, spr. 2608, n. pag. (Bericht der Lehrervereinigung vom 16.4.1870). LGuVBl. Nr. 250/1873. Ebd. „Zabudowania szkół ludowych są bez wyjątku do celów i potrzeb szkolnych niestosowne, niektóre z nich są nawet dla zdrowia uczniów i nauczycieli szkodliwe. W podobnym stanie znajdują się sprzęty szkolne“, Bericht des Bezirksschulrates zitiert nach Baranowski, Pogląd, S. 370.
223
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen
Tab. 10 Entwicklung des Volksschulwesens; Schulen und Schüler/innen 1870–190746 Volks- und Bürgerschulen
Von der Stadt unterhalten Schulen
Schüler
Andere Schulen
Schüler
7
k. A.
k. A.
k. A.
1870/71
11
3
1880
15
5.510
1888/89
22
3.884
21
3.183
1892/93
25
9.959
23
2.979
1900/01
29
14.879
14
2.641
1904/05
39
16.650
28
2.544
1905/06
39
17.540
30
5.273
1906/07
44
21.353
28
3.718
che Schulen aus der Innenstadt, darunter die griechisch-katholische Konarski-Schule, sowie eine jüdische Schule in den städtischen Etat übernommen. Seit den beginnenden 1870er Jahren investierte die Stadt Lemberg in das Volksschulwesen, sodass die Zahl der von ihr unterhaltenen Schulen von 11 auf 43 städtische Volksschulen mit 466 Klassen stieg. Hierbei orientierte der Stadtrat sich an Schulgebäuden in Wien, Berlin, Dresden und Posen, um die Funktionalität der Gebäude möglichst optimal zu gestalten.47 Hierzu musste die Stadt im Wesentlichen auf eigene Mittel resp. Kredite zurückgreifen. Erst 1912 stellte der Landtag der Stadt Lemberg 100.000 Kronen zum Schulbau zur Verfügung.48 Aber trotz dieser intensivierten Bautätigkeit erledigte sich das grundlegende Problem fehlender Schulgebäude nicht. 1900 wurden beispielsweise insgesamt 2.700 Schüler in Privathäusern unterrichtet, die den hygienischen und pädagogischen Standards nicht entsprachen; auch wurde 1906 festgestellt, dass die Beleuchtung der Klassenräume nicht ausreichend sei.49 So wurde beispielsweise allein 1910 der Bau von neun neuen Schulen beschlossen und dafür eine Ausschreibung unter polnischen Architekten durchgeführt.50
46 47 48 49 50
ÖStB 1888, S. 579; ÖStB 1893, S. 819; ÖStB 1904, S. 1106; ÖStB 1908, S. 751; ÖStB 1911, S. 385; Baranowski, Pogląd, S. 368. 1906 waren von den 44 Volksschulen sechs Gebäude angemietet, in die 4.905 Schüler gingen. GL vom 15.3.1870 mit den Grundsätzen, dass dies nach den neuesten Regeln der Kunst und Hygiene zu erfolgen habe. Bereits eine Woche später wurde etwa der Neubau der St.-Maria-Magdalena-Schule beschlossen (GL v. 21.3.1870). Zur Delegation in die Städte: GL v. 30.4.1870. Insgesamt unterstützte das Land den Bau von Schulen in Lemberg nur in geringem Maße, vgl. ZNiO, PR, 13402, 1907/08, Bl. 39. GL v. 13.3.1900; GL v. 27.2.1906. GL v. 21.9.1910; weitere Debatten GL v. 19.1.1911.
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5 Städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen
Abb. 15 Volksschule St. Anna, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag.
Insgesamt wurden die Neubauten nach zeitgemäßen Standards errichtet, wie beispielsweise Abb. 15 und 16 zeigen. Hierbei dominierten die neuen Schulgebäude nicht nur die städtische Architektur, sondern wurden auch in den zeitgenössischen Reiseführern entsprechend als „treffliche Gebäude“51 hervorgehoben.52 Somit hatte der Rat über die Architektur seine polnisch-nationalen Ansprüche in den öffentlichen Raum eingeschrieben. Verstärkt wurde dies durch die Benennung der Schulen: Sofern sie nicht nach Heiligen benannt wurden, wurden sie mit der Ausnahme der 1886/87 gegründeten und nach dem ruthenischen Geistlichen und Schriftsteller Markijan Šaškevyč benannten Schule53 mit den Namen polnischer geistlicher Pädagogen und wichtiger historischer Persönlichkeiten versehen, so wurden z. B. 1909 die Hetman-ŻółkiewskiSchule oder die Mickiewicz-Schule gegründet. 51 52 53
Zipper, Führer, S. 67. Biryulov, Lvov’s Municipal Buildings, S. 230. Zu den Reiseführern s. u. Kap. 6.2.3. Im amtlichen Sprachgebrauch wurde sie unter der polnischen Namensfassung Markian-Szaszkiewicz-Schule geführt.
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen
225
Die schulische Unterversorgung der Lemberger schulpflichtigen Kinder im Bereich der Volksschulen war insgesamt bis 1914 ein Problem, obwohl ständig neue Schulen gebaut wurden. Dieser Zustand wurde daher immer wieder in den Debatten und Berichten des Bezirksschulrates und des Stadtrates thematisiert. Daher konnte Stadtrat Jan Soleski 1903 betonen, dass die Analphabetenquote in Lemberg trotz aller Bemühungen sogar immer noch höher als in anderen Städten sei.54 Insgesamt war es dem Stadtrat aber gelungen, die örtliche Analphabetenquote von über 50 Prozent zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf unter 20 Prozent in den Vorkriegsjahren zu senken.55 Angesichts dieser konstatierten schulischen Unterversorgung bildete neben dem Neubau auch die ständige Erweiterung der Schulen ein wiederkehrendes Thema im Stadtrat. Wichtig war, dass die Schulen nach modernen hygienischen Erkenntnissen ausgestattet wurden.56 Um diesen Ansprüchen zu genügen, hatte der Stadtrat sich 1874 dazu verpflichtet, dass die Volksschulklassen nicht mehr als 70 (anstelle der 80 im Landesschulgesetz vorgesehenen) Schüler umfassen sollten. Diese Zielsetzung führte dazu, dass der Bedarf an Klassenräumen bzw. Schulen stetig wuchs, sodass es selbst 1909 noch 20 „wandernde“ Klassen gab.57 Auch die Umsetzung der Reform des Schulgesetzes von 1885 im Jahre 1893, wonach in den Städten anstelle von vierklassigen Schulen (die ersten und letzten Klassen umfassten jeweils zwei Schuljahre) sechsklassige Volksschulen eingeführt werden sollten, vergrößerte den Raumbedarf. Die bauliche Unterhaltung und Modernisierung auf möglichst hohem Standard waren insgesamt ein Kontinuum in der gesamten Autonomiezeit. Ein noch größeres Problem war für Lemberg der über den Zeitraum der Autonomie vorhandene Mangel an Mittelschulen, deren Existenz auch deshalb wichtig war, um dem Ziel, als Bildungszentrum wahrgenommen zu werden, entsprechen zu können. Selbst die Gründung von weiteren Gymnasien, von Real- und Berufsschulen wie der 1886 gegründeten Industrie- und Handelsschule auf Kosten der Stadt konnte diesen Mangel nicht beseitigen.58
54 55 56
57 58
Soleski, Sprawozdanie, S. 8 ff. Häufig waren die Schüler trotz Schulbesuchs nicht lesefähig. DALO, f. 3, op. 1, spr. 2465, Bl. 3. Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 56. Dieses nahm auch der Landesschulrat entsprechend wahr, s. etwa seinen Bericht aus dem Jahr 1883, CDIAL, f. 165, op. 9, spr. 47. Bezüglich der Finanzierung behalf sich die Stadt seit den 1880er Jahren etwa auch mit Steuerzuschlägen. Teilweise wurde Ende der 1880er Jahre die mögliche Steuerzuschlagsquote überschritten, was der Landesgerichtshof aber genehmigte, um die Handlungsfähigkeit der autonomen Stadt nicht zu gefährden. CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 115, Bl. 11. 1895 wurden beispielsweise 10 Prozent auf die Hauszinssteuer aufgeschlagen. GL v. 4.1. und 16.1.1874; CDIAL, f. 146, op. 8a, spr. 203, Bl. 15: Bericht vom Januar 1909, wonach es 20 „fliegende Klassen“ gab. Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 19; Leon Kulczyński, Obrady w sprawie reformy szkół średnich we Lwowie w październiku r. 1898 [Beratungen bezüglich der Mittelschulreform in Lemberg im Oktober 1898], Lwów 1899, S. 24; ZNiO, PR, 13391/III, Bl. 11 ff. Erst 1890 beschloss der Rat, für die Industrie- und Handelsschule ein eigenes Gebäude zu errichten.
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5 Städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen
Folglich nahm das Schulbudget immer eine herausragende Position im städtischen Haushalt ein,59 womit die Ratsherren wiederum ihr Engagement für Bildungsfragen begründen konnten. Daher machten die Stadträte immer wieder deutlich, dass die Stadt „vielleicht mehr leistet, als es ihre Mittel gestatteten“60 und dass sie dafür „erhebliche Opfer“ bringe.61 Die immens ansteigenden Unterhaltungs- und vor allem die hohen Investitionskosten führten schließlich bei den Haushaltsberatungen 1909 zur Feststellung der Budget-Kommission, dass der Neubau von Schulen wegen der „fatalen“ Kosten ein massiver Fehler sei.62 Diese Bewertung verweist auf ein weiteres Kontinuum der Schulpolitik des Stadtrates: Da die Kommune stets unterfinanziert war, wurden die notwendigen Investitionen immer wieder vor dem allgemeinen finanziellen Hintergrund diskutiert. Dabei ging es nicht um die Frage, ob, sondern in welcher Höhe die Stadt dafür Schulden machen solle.63 Der unzureichende Ausbau des städtischen Schulwesens gehörte folglich permanent zum festen Bestandteil der Wahlkampfauseinandersetzungen und der Tätigkeitsberichte der Stadtpräsidenten, in denen insbesondere die Frage diskutiert wurde, ob der bisherige Rat wirklich genug für die Schulen getan habe.64 Die obligatorische Unterhaltung der Volksschulen nutzte der Stadtrat für seine nationalpolitischen Zielsetzungen, indem er – anders als in der Landesgesetzgebung vorgesehen – in den Wohngebieten mit einem hohen Anteil ruthenischer Bevölkerung anstelle ruthenischsprachiger Volksschulen solche mit polnischer Unterrichtssprache gründete. Hierbei berief er sich auf einen nach dem Inkrafttreten des Landesschulgesetzes im Jahr 1867 gefassten einstimmigen Ratsbeschluss, wonach alle von der Gemeinde unterhaltenen Schulen polnischsprachig sein sollten.65 Dieser Linie treu bleibend, verweigerte er einer privaten ruthenischsprachigen Schule die Zustimmung, auch wenn einige Ratsangehörige darauf hinwiesen, dass die Stadt solche unterhalten müsse.66 Bereits Mitte der 1870er Jahre wurde das Problem der Unterhaltung von ruthenischsprachigen Schulen im Stadtrat erstmals virulent, da der Landesschulrat darauf pochte, die im Rathaus untergebrachte römisch-katholische und die griechisch-unierte Musterschule in das städtische Budget zu übernehmen. Dies wollte die Stadt Lemberg nur unter der Bedingung leisten, dass sie entsprechende
59 60 61 62 63 64 65 66
Darauf verweist etwa auch Zipper, Führer, S. 67. Ebd. „ogromne ofiary“, Soleski, Sprawozdanie, S. 8 ff.; GL v. 17.11.1901. „fatalne“, Sprawozdanie Komisyi Budżetowej Król. Stoł. Miasta Lwowa o Budżecie Gminy na rok 1909 [Bericht der Budgetkommission der Königl. Hauptstadt Lemberg über das Gemeindebudget für 1909], Lwów 1909, S. 29. Vgl. Baranowski, Pogląd, S. 406. Vgl. auch GL v. 2.6.1881 mit der Debatte um eine erste Anleihe. GL v. 15.1.1877; SP v. 17.3.1908. Auch für die Ruthenen war die Schulfrage ein wichtiger Punkt bei den Kommunalwahlkämpfen, etwa Dilo v. 30.11.(12.12.)1885. GL v. 12.9.1867. GL v. 2.7.1875.
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen
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Landeszuschüsse erhielte. Nachdem der Landesschulrat das Landeskultusministerium eingeschaltet hatte, das sich auf die Seite des Stadtrates schlug, kam es zu einem Kompromiss, wonach die Stadt beide Schulen übernehmen sollte, das Land aber für den Schulneubau ein entsprechendes Gelände (das alte, untere Castrum am Schlossberg am Rande der Altstadt) bereitstellen sollte. Für die Anstellung der Lehrkräfte gestand der Landtag der Stadt einen zwölfprozentigen Steuerzuschlag zu den direkten Steuern und eine jährliche Landesunterstützung zu. Die Stadt durfte die Schulen in Konarskiund Piramowicz-Schule umbenennen.67 Durch die Umbenennung verschwand die Bezeichnung „griechisch-ruthenische“68 Schule, während die Benennung nach dem polnischen Piaristen Stanisław Konarski letzten Endes eine Provokation gegenüber den Ruthenen darstellte. Dieser Kompromiss zeigt, dass der Landesschulrat im Gegensatz zu den übrigen Landesbehörden und der Stadtverwaltung resp. dem Stadtrat sich auch grundsätzlich zu einer gewissen Unterstützung ruthenischer Bildungsbestrebungen verpflichtet sah,69 dass er aber diese angesichts des Lemberger Widerstandes nicht vollkommen durchsetzen konnte. Deutlich wurde die schwache Position des Landesschulrates etwa auch in seiner Anfrage an den Lemberger Bezirksschulrat 1877, welche Sprache in der vormals griechisch-katholischen Konarski-Schule genutzt werden solle. Der Stadtrat beschloss daraufhin einstimmig, dass die Unterrichtssprache in der bislang ruthenischsprachigen Schule Polnisch sein solle. Er berief sich hierbei auf die gesetzliche Regelung, dass derjenige, der die Schule unterhalte, auch die Unterrichtssprache bestimmen könne.70 Diese Haltung konnte der Stadtrat nach einer Intervention des Landesschulrates und einer Klage beim Verwaltungsgerichtshof 188071 letztlich nicht aufrechterhalten. Daher beschloss der Stadtrat 1883, dass dort, wo mindestens 4072 ruthenische Schüler angemeldet seien, auf Kosten der Stadt eine ruthenischsprachige Parallelklasse eingerichtet würde. Dieser Beschluss konnte vergleichsweise leicht gefasst werden, da die Ruthenen nicht wie die Juden in mehr oder weniger geschlossenen Vierteln, sondern, wenn auch mit räumlichen Schwerpunkten, über die Stadt verstreut lebten. Die Stadträte hatten bei diesem Beschluss betont, den Verdacht ausräumen zu wollen, dass die polnische Gesellschaft ihr „Übergewicht“ ausnutze und der Stadtrat intolerant gegenüber den ca. 800 rutheni67 68 69 70 71 72
GL v. 12.1.1876. Beide Schulnamen beziehen sich auf polnische Intellektuelle und Kleriker des 18. Jahrhunderts: Stanisław Konarski war ein Piarist, Schriftsteller und Pädagoge, Grzegorz Piramowicz ein römisch-katholischer Geistlicher und Pädagoge armenischer Herkunft. Dagegen betonten die Ruthenen nur seine polonisierende Haltung, vgl. etwa Ruthenische Revue 22, 1904, Nr. 21, S. 589; 21, 1903, Nr. 9, S. 232 f., wonach die Lehrer an den ruthenischen Volksschulen dafür Sorge tragen sollten, dass sich die Schüler „korrekt polnisch ausdrücken“, ebd., S. 233. GL v. 13.4.1877. Zu dem minderheitenfreundlichen Urteil des Verwaltungsgerichtshofes vgl. Burger, Sprachenrecht, S. 125–130, die aber hervorhebt, dass das Urteil nicht umgesetzt wurde. Vgl. auch Przegląd Sądowy i Administracyjny 5, 1880, S. 50 f. Laut Dilo v. 11.(23.)6.1883 habe es in dem Schuljahr insgesamt nicht mehr als 40 ruthenische Schüler an den Volksschulen gegeben.
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schen Schülern sei. Zugleich erklärten der Stadtrat Filip Zucker und der Stadtpräsident feierlich, dass die ruthenischen Parallelklassen tatsächlich eingerichtet würden.73 Diese Äußerungen waren eine direkte Antwort auf die entsprechenden Vorwürfe von Dilo.74 Letzten Endes wurden aber im gesamten Stadtgebiet in diesem Jahr (1883) nur 43 ruthenische Schüler angemeldet, sodass es überhaupt nicht zur Bildung von Parallelklassen kam. Dass die ruthenischen Schüler aus den Schulen „vertrieben“ worden seien, wie Dilo andeutete,75 kann in den ausgewerteten Quellen nicht nachverfolgt werden. Eine entsprechende Praxis der Schulleiter, diese Schüler nicht aufzunehmen oder gar zu vergraulen, kann aber nicht ausgeschlossen werden, weil es erheblich mehr schulpflichtige ruthenische Schüler als diejenigen gab, die eine Schule besuchten. 1884 war der Bedarf an Parallelklassen derart groß, dass der Magistrat vier davon einrichtete. Aber auch hier versuchte er, eine polonisierende Politik durchzuführen, indem etwa ein Lehrer eingestellt wurde, der zwar behauptete, Ruthenisch zu können, aber Dilo zufolge nur Polnisch sprach und sich als Pole bezeichnete.76 Die Einrichtung von ruthenischen Parallelklassen war insgesamt ein wiederkehrender Beratungspunkt, so z. B. im Juli 1884, als Vertreter der ruthenischen Nationalbewegung sich mit einer Petition an den Stadtpräsidenten wandten, die auch von „einfachen“ Leuten unterzeichnet worden war.77 1885 bedankten sich die ruthenischen Ratsherren ausdrücklich für die zunächst für zwei Jahre erfolgte Einrichtung einer ruthenischen Parallelklasse an der Piramowicz-Schule.78 Ihre Geste deutet auf Versuche hin, ihre Ratskollegen versöhnlich zu stimmen, um über diesen Weg die Einrichtung weiterer ruthenischsprachiger Parallelklassen zu erreichen. Diese Beispiele zeigen, dass die Ruthenen spätestens seit den 1880er Jahren die Bedeutung ruthenischsprachiger Volksschulen erkannt und deren Gründung auf ihre politische Agenda gesetzt hatten, zumal auch jiddischsprachige Volksschulen in Lemberg eingerichtet wurden. Da die ruthenischen finanziellen Mittel79 begrenzt waren, konnten nur wenige leuchtturmartige ruthenische private Schulen, etwa ein Untergymnasium, in Lemberg gegründet werden. Die kommunalpolitischen Akteure versuchten mit allen Mitteln, weitere ruthenische städtische Schulen zu verhindern, weil sie nach Meinung Dilos für den Stadtrat unwichtig seien.80 Dieses Urteil ist allerdings falsch, da der Stadtrat vielmehr ruthe73 74 75 76 77 78 79 80
„przewaga“, GL v. 27.6.1883; vgl. auch v. 29.6.1883. Dilo v. 27.2.(10.3.)1880, der betonte, dass den ruthenischen Kindern hiermit das Recht auf Bildung entzogen würde. Zu den ruthenischen Wohnlagen vgl. Kap. 4.3.1. Dilo v. 30.8.(11.9.)1883. Dilo v. 13.(25.)9.1884 und v. 13.(25.)9.1884. Dilo v. 20.8.(1.9.)1880 und v. 3.(15.)7.1884. GL v. 5.7.1885, dennoch blieben sie erhalten. Jedoch versuchten die ruthenischen Ratsherren, diese Klassen unter Aufsicht der ruthenischen Schule zu stellen, GL v. 1.7.1888. Entsprechend forderte der ruthenische Politiker und Historiker Mychajlo Hruševs′kyj, dass anstelle eines ruthenischen Theaters besser ruthenische Schulen gebaut werden sollten, vgl. Dilo v. 8. (21.)2.1905; vgl. auch Dilo v. 27.2.1908 und v. 28.2.1908. Dilo v. 1.10.1907.
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen
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nischsprachige Schulen als für die ruthenische Nationalbewegung zentral und einer Polonisierung der Ruthenen im Wege stehend hielt, sodass er sie möglichst verhindern wollte. Der Stadtrat konnte wie im geschilderten Falle über die Lehrerwahl oder bei der Ernennung von Schulleitern, etwa eines polnischen Rektors an der Szaszkiewicz-Schule in den 1890er Jahren,81 durchaus einen polonisierenden Einfluss ausüben. Teilweise wurde noch nicht einmal ruthenischer Sprachunterricht erteilt, wie Dilo kritisierte.82 Da es seit der Jahrhundertwende keine Fortschritte bei der Gründung weiterer ruthenischsprachiger städtischer Schulen gab, stellten gerade Vertreter der Gródecki-Vorstadt sowie des Łyczakower83 und Żółkiewer Bezirks, in denen eine hohe Anzahl Ruthenen wohnte, regelmäßig wiederkehrende Petitionen an den Rat, um neue Schulen für die ca. 3.000 ruthenischen Schüler zu erreichen.84 Auch attackierten die ruthenischen Vertreter die Landesbehörden und den Stadtrat wegen der fehlenden angemessenen Ausstattung der Szaszkiewicz-Schule.85 Nicht nur in Bezug auf die räumliche Ausstattung, sondern auch auf die Unterhaltung der griechisch-katholischen Katecheten und den Religionsunterricht verfolgte der Stadtrat eine unterdrückende und provokante Linie gegenüber ruthenischen Bestrebungen, da er die Mittel für die Katecheten als Religionslehrer an öffentlichen Schulen bereitstellen musste. Ihre Entlohnung bildete seit den 1860er Jahren einen weiteren Ansatzpunkt für die Ratspolitik:86 So lehnte beispielsweise der Stadtrat bereits 1862 den Antrag auf Honorar eines griechisch-katholischen Katecheten, der an der St.-Elisabeth-Schule ehrenamtlich unterrichtete, „ein für alle Mal“ ab. Er begründete diesen Beschluss damit, dass die Pfarrei über genügend Geld verfüge, um eigene Religionsschulen zu unterhalten. Er habe sich unter dem Vorwand der Gleichberechtigung der Nationalitäten und entgegen der Pfarreivorschriften in die Schule gedrängt.87 1875 verweigerte der Rat ebenso die Bezahlung eines anderen Katecheten unter dem Vorwand, dass meist nur ein ruthenischer Schüler in der Schule vorhanden sei, der unterrichtet werden müsse. Nach öffentlicher Kritik und einer Empfehlung des Landesschulrates sah sich der Magistrat veranlasst, nochmals zu betonen, dass nicht ausreichend ruthenische Schüler vorhanden seien und dass die Katecheten nur dann ein Honorar erhielten, wenn sie insgesamt mehr als 17 Stunden arbeiten würden.88 Es gäbe daher, so eine analoge Feststellung aus dem Jahr 1904, kein Bedürfnis für einen umfangreicheren ruthenischsprachigen (d. h.
81 82 83 84 85 86 87 88
Dilo v. 10.(22.)5.1895. Dilo v. 9.(22.)9.1900. Dilo v. 7.(20.)11.1905. Als Begründung des Antrags wurde der weite Schulweg genannt. Es wurde aber auch darauf verwiesen, dass es im Viertel genügend ruthenische Schüler gäbe. Vgl. Ivan Kryp′jakevyč, L′viv. Ioho mniuvšyna i teperišnictv [Lemberg. Seine Mission und Gegenwärtigkeit], L′viv 1910, S. 57, S. 60 ff. GL v. 31.1.1910; Dilo v. 30.11.(12.12.)1885. DALO, f. 3, op. 1, spr. 3083, Bl. 60 sowie spr. 2410, Bl. 9. „raz na zawsze“, GL v. 14.4.1862. GL v. 15.10.1875.
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griechisch-katholischen) Religionsunterricht89 und für die Finanzierung von unierten Katecheten, zumal Polnisch die Unterrichtssprache sei. Auf Landesebene wurde immer wieder die hohe Quote an Schulverweigerern gerade in den unteren Schichten und der ruthenischen Bevölkerung betont. Hierin lässt sich eine Wechselwirkung zwischen dieser antiruthenischen Haltung des Stadtrates und der Schulverweigerung erkennen: Indem die Stadt keine ruthenischen Schulen unterhielt, der Stadtrat die weitere Errichtung von ruthenischen Schulen und auch griechisch-katholischen Religionsunterricht möglichst zu vermeiden versuchte, wuchs mit der Ablehnung polnischsprachiger Schulen in der ruthenischen Bevölkerung auch deren Schulverweigerung. Bei allen Ratsdebatten um griechisch-katholische Katecheten ging es daher weniger um die Konfession als um die Unterrichtssprache, weil diese Katecheten Ruthenisch sprachen und der Rat die erhebliche Bedeutung der sprachlichen Orientierung für die nationale Identität erkannte. Ruthenische Wünsche auf Einrichtung weiterer ruthenischsprachiger Schulen beschied der Stadtrat infolgedessen immer negativ, so etwa 1912 den Antrag, in die Planung neu zu gründender Schulen eine weitere ruthenische zu integrieren. Er begründete diese Ablehnung damit, dass die Piramowicz-Schule bereits seit Langem als ruthenische Schule vorgesehen sei.90 Diese Aussage nahm eine Art Alibifunktion für den Stadtrat ein, der möglichst vermeiden wollte, eine Diskussion über ruthenische Schulen (wieder) aufflammen zu lassen. Dagegen versuchte der Stadtrat, die ruthenischen Schüler über polnischsprachigen Schulunterricht an die polnische Kultur zu assimilieren. Es erstaunt nur auf den ersten Blick, dass sich der Stadtrat den jüdischen Schülern gegenüber geradezu diametral verhielt, auch wenn in den Debatten antijüdische Vorurteile zutage traten. Diese Haltung hing mit dem jüdischen Schulsystem und den bereits erwähnten Assimiliationsvorstellungen zusammen. Die traditionellen Cheder-Schulen,91 in denen Jungen eine religiöse Grundbildung erhielten, waren – nicht allein – für den Stadtrat ein Symbol des religiösen Fundamentalismus und der Rückständigkeit, aber auch der katastrophalen gesundheitlichen Zustände in den Lemberger jüdischen Vierteln (Kap. 4.3.2). Sie waren folglich für die Ratsherren ein Hauptübel in Bezug auf die mangelnde Assimilation der Juden. Wenn die Stadt jüdische Katecheten in den städtischen Schulen finanziere, so argumentierten einige Ratsherren wie der jüdische Ratsherr Filip Zucker, würden sie von erheblich mehr Juden besucht. Er merkte an, dass gegenwärtig (1875) schon deutlich mehr Juden als Ruthenen die städtischen Schulen besuchen würden. Unter einem solchen schulischen Angebot würden 89 90 91
Dilo v. 9.(22.)9.1900. GL v. 12.9.1912. Den Betrieb von Chadorim musste der Stadtrat genehmigen, der nur einen Hebel in der hygienischen und sanitären Ausstattung erkannte. Grundsätzlich entsprachen die Räume in der Regel nicht den geringsten diesbezüglichen Anforderungen. Vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 4902, Bl. 1–5. Die einen Cheder unterhaltenden Personen mussten ein Führungszeugnis beibringen. 1902 existierten 21 Chadorim, davon 17 im III. (Żółkiewer) Bezirk, vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 4541, Bl. 1 f.
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen
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dann die Chadorim aufhören zu existieren, was von Vorteil für die Juden und für das Land sei, weil die städtischen Schulen ‚gute Bürger‘ ausbildeten.92 Eine sehr ähnliche Debatte, die auf traditionelle Argumentationsmuster der aufklärerischen Idee der „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden zurückgriff, wurde 1878 geführt, nachdem die jüdische Gemeinde einen Zuschuss zum Unterhalt ihrer Schulen beantragt hatte, da die beiden jüdischen Schulen derart überfüllt seien, dass etwa in einer Klasse 274 Schüler unterrichtet würden, die jüdische Gemeinde aber nicht mehr als die bisher geleisteten 24.000 Gulden aufwenden könne. Bei der Ratsdebatte verwiesen die Redner darauf, dass die jüdischen Schüler eine städtische, d. h. polnische Schule besuchen könnten, was bereits 600 jüdische Schüler täten. Der Berichterstatter der Schulsektion des Stadtrates betonte, dass es folglich sinnvoller sei, wenn die Kinder der ärmsten jüdischen Schichten, die bislang in jüdische Schulen gingen und nicht Polnisch sprechen könnten, polnischsprachige Schulen besuchen würden. Jiddischsprachige Schulen seien daher ein malum necessarium, solange nicht alle jüdischen Schüler die polnischsprachigen Schulen besuchen könnten.93 Hieraus erwuchs schließlich der Vorschlag, in den jüdischen Vierteln Volksschulen mit polnischer Unterrichtssprache zu gründen, in denen die jüdischen Feiertage berücksichtigt würden sowie hebräischsprachiger Religionsunterricht stattfände. Der jüdische Ratsherr Zucker begrüßte diesen Vorstoß, denn wenn der Rat tatsächlich wünsche, dass auch die ärmsten jüdischen Kinder Polnisch lernten, dann müsse die Stadt diese Aufgabe übernehmen, so wie es in Krakau bereits geschehe. Nicht alle Ratsherren wurden überzeugt, nicht nur weil ein Zuschuss an die jüdische Gemeinde immer noch günstiger gewesen wäre, sondern auch, weil die jüdischen Schulen Konfessionsschulen, die städtischen Volksschulen dagegen „christlich“ seien.94 Bei der folgenden Ratssitzung betonten die Ratsherren nochmals die Notwendigkeit des Polnischunterrichts. Die „Erfahrung lehrt, dass wenn unsere [polnische] Sprache nicht gepflegt wird, dann folgt eine vollkommene Entnationalisierung“95, warnte Ratsherr Julian Czerkawski. Daher könne der Rat in Bezug auf Bildungsangelegenheiten nicht liberal sein. Die jüdischen Ratsherren sollten „uns“ [die Polen] nicht für schlecht halten, aber unter den außergewöhnlichen Bedingungen werten wir die Sprache höher als die Bildung [… Daher] wollen wir [Polen] den Israeliten in der Bildung zu Hilfe kommen, die doch kosmopolitisch ist.96
92 93 94 95 96
Einige forderten eine Bezahlung nach Leistung, was auch die ruthenischen Katecheten betroffen hätte, vgl. GL v. 3.12.1875. GL v. 11.10.1878. Ebd. „Gdzie nie pielęgnowany nasz język, tam następuje wynarodowienie zupełne“, GL v. 18.10.1878. „Cenimy wyżej język nad oświatę“, „Nie chcemy przyjść w pomoc izraelitom na cele oświaty, która jest kosmopolityczną“, ebd.
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Dem Stadtrat war nach einem Beitrag des jüdischen Ratsherren Bernard Goldmann schließlich klar geworden, dass es für eine gelingende Assimilation von Bedeutung war, Schulen mit „[jüdisch-]konfessionellen Merkmalen“,97 also mit hebräischem Religionsunterricht und mit Befolgung des jüdischen (Fest-)Kalenders, einzurichten, damit die jüdischen Schüler überhaupt in diese geschickt würden. Die hier skizzierte Debatte war eine der wenigen Gelegenheiten, bei der die Trennung von jüdischem und christlichem Gemeindebesitz außerhalb der Armenfürsorge nochmals offen im Stadtrat thematisiert wurde. Zugleich wurde mit der Diskussion über städtische Volksschulen für jüdische Kinder nicht nur die „jüdische Frage“ der Statutverhandlungen (s. Kap. 3.1), sondern auch die Gesamtheit der galizischen Assimiliationsdebatten wieder aufgerufen: So zeigte sich beispielsweise Julian Czerkawski davon überzeugt, dass sich „unsere“ Juden den Polen anschließen wollten, und sie daher auch Polnisch lernen sollten.98 Vorbehalte gegen eine städtische, säkulare jüdische Schule mit jiddischer Unterrichtssprache äußerte der Dziennik Polski dahingehend, dass solche Schulen nicht dem Zeitgeist entsprächen, weil sie „nur ein Gebiet der Germanisierung und daher archäologische Relikte aus der Zeit [der neoabsolutistischen Ministerpräsidenten] Bachs und Schmerlings“99 seien, zumal sie einen „rein“ jüdischen Charakter hätten. Dies sei für die Erziehung in den öffentlichen Schulen nicht zielführend, auch weil es katholische Schulkinder in diesem Bezirk gebe. Problematisch sei weiterhin, dass jüdische Lehrer für diese Schule aus der Provinz nach Lemberg geholt würden, sodass man zweifeln müsse, ob sie die jüdischen Schüler polonisieren könnten.100 Denn, so das Fazit des auch als Sonderdruck erschienenen Beitrags, „die Jugend soll in unseren [den städtischen] Schulen nicht nur polnisch sprechen, sondern auch polnisch denken, fühlen und handeln lernen.“101 Dieser Beitrag verdeutlicht nochmals, dass der (Volks-)Schulbildung eine polonisierende Funktion zugeschrieben wurde. Zugleich offenbart er die im-
97 98
„cechy wyznaniowej“, GL v. 19.10.1878. Ebd., vgl. auch Ezra Mendelsohn, Jewish Assimilation of L′viv: The Case of Wilhelm Feldman, in: Andrei S. Markovits / Frank E. Sysyn (Hrsg.), Nationbuilding and the Politics of Nationalism. Essays on Austrian Galicia, Cambridge/MA 1982, S. 94–110. 99 „tylko siedliskiem germanizacji, a przeto zabytkiem archeologicznym z czasów Bacha i Szmerlinga“, Szkoła etatowa miejska im. „Czackiego“ we Lwowie [Die städtische etatmäßige „Czacki“-Schule in Lemberg], Lwów 1881, S. 3 (Sonderdruck aus Dziennik Polski). 100 „czysto“, „zpolonizować“, ebd., S. 4 ff. Zusammenfassender Überblick über die jüdischen säkularen Schulen in Galizien: Kazimierz Rędziński, Żydowskie szkolnictwo świeckie w Galicji w latach 1813–1918 [Das jüdische weltliche Schulwesen in Galizien 1813–1918], Częstochowa 2000; ders., Akulturacyjna i integracyjna rola żydowskich szkół świeckich w Galicji na przełomie XIX–XX w. [Die akkulturierende und integrierende Rolle der jüdischen säkularen Schulen in Galizien an der Wende vom 19. zum 20. Jh.], in: Aleksandra Bilewicz / Ryszard Gładkiewicz / Stefania Walasek (Hrsg.), Edukacja – państwo – naród w Europie środkowej i wschodniej XIX i XX w. [Erziehung – Staat – Nation in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jh.], Wrocław 2002, S. 165–170. 101 „aby dziecię w szkołach naszych nie uczyło się tylko mówić, ale myśleć, czuć, i działać po polsku“, Szkoła etatowa miejska, S. 8; vgl. auch S. 13; ebd., S. 11 bezeichnet die Schule als „budgetierten städtischen Cheder“ („etatowy chejder miejski“).
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mer noch vorhandenen Ressentiments gegenüber einer Assimilation resp. Akkulturation der Lemberger Juden an die deutsche Sprache. In einer weiteren – dem abschließenden, sehr ungewöhnlichen Kommentar der Gazeta Lwowska zufolge sehr lange andauernden, aber ebenso interessanten und charakteristischen – Ratssitzung fasste der Stadtrat den wegweisenden Beschluss, dass der Magistrat zum kommenden Schuljahr eine Schule im mehrheitlich von Juden bewohnten III. (Żółkiewer) Bezirk einrichten sollte, in der sowohl jüdische als auch christliche Feiertage eingehalten werden sollten, die Unterrichtssprache auch für Religion und Hebräisch aber Polnisch sein solle.102 Zugleich wurde aber auch beschlossen, dass die jüdische Gemeinde für die geplante Einrichtung von fünf weiteren Klassen keine Unterstützung erhalten solle.103 Die aufgrund des Ratsbeschlusses im Juli 1879 gegründete Schule wurde nach dem polnischen Pädagogen und Wissenschaftler Tadeusz Czacki benannt; ihr Gebäude wurde aber erst 1891 fertiggestellt.104
Abb. 16 Czacki-(Volks-)Schule, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag. 102
Wie hoch der Bedarf war, zeigte sich daran, dass bereits Ende 1880 die Schule zwischen 900 und 1.000 Schüler hatte und der Rat über eine Erweiterung debattierte. GL v. 5.11.1880; DALO, f. 3, op. 1, spr. 3033, Bl. 39. 103 GL v. 25.10.1878. 104 GL v. 11.9.1891. Jüdische Ratsherren führten als Vertreter des Rates die Aufsicht über die Schule, so beispielsweise Filip Zucker und Bernard Goldmann, vgl. Kopff-Muszyńska, Ob Deutsch, S. 196.
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War der Besuch städtischer Schulen wegen des fehlenden oder nicht ausreichenden Religionsunterrichtes durchaus gerade für religiöse jüdische Jungen problematisch, so schloss der Rat 1895 die jüdische Frauenschule mangels Frequenz, weil jüdische Schülerinnen, so die Begründung, offenbar einen geringeren Anspruch an die Religiosität zeigen und daher bevorzugt städtische Schulen besuchen würden.105 Die Debatte über Schulen mit „jüdischen Merkmalen“ hatte in den 1870er und beginnenden 1880er Jahren ihren Höhepunkt erreicht und klang danach, wie auch die Assimiliationsdebatten, wieder ab. In der Folge wurden immer wieder, auch ohne größere Ratsdebatten, jüdische Religionslehrer eingestellt. So wurden etwa 1905 fünf entsprechende, etatisierte Lehrerstellen geschaffen.106 Über die Einrichtung solcher Schulen resp. Klassen, welche die jüdischen Feiertage beachteten und jüdischen Religionsunterricht auf Hebräisch hielten, versuchte der Stadtrat gerade die Chadorim ‚auszutrocknen‘ – das Ziel einer Assimilation zur polnischen Kultur wurde dabei genauso wenig aufgegeben wie bei den ruthenischen Schülern. Deutlich wurde die polonisierende Intention auch im Verhältnis zur deutschsprachigen evangelischen Schule, die von der Stadt jährliche Zuschüsse erhielt. 1879 wurde dieser unter der Bedingung gewährt, dass Polnisch Unterrichtssprache werden würde. Jedoch setzte die Schule diese Bedingung nicht um, wie bei den Debatten um die Zuschüsse 1881 deutlich wurde. Anders als bei den ruthenischen Schulen, kamen die Stadträte aber zum Ergebnis, dass die Schule ihre Schüler nicht germanisiere, da diese ohne Probleme in polnischen Mittelschulen aufgenommen würden. Daher modifizierte der Stadtrat seine Forderung dahingehend, dass Polnisch angemessen unterrichtet werden müsse; jedoch bot diese unspezifische Festlegung immer wieder Gelegenheit zur Kritik.107 Im Gegensatz zu den Forderungen nach sprachlicher und kultureller Assimilation bei Ruthenen und Juden verweist diese Haltung darauf, dass die deutschsprachige Gruppe nicht als Gefahr für den „polnischen Charakter“ der Stadt wahrgenommen wurde. Die dem polnischen Unterricht beigemessene Bedeutung erzwang es geradezu, Polnisch als Unterrichtssprache auch an den nicht von der Stadt unterhaltenen Mittelschulen durchzusetzen. Diese Haltung hatte sich bereits seit den beginnenden 1860er Jahren herauskristallisiert, als der Stadtrat versuchte, die wenigen Mittelschulen in einer Zeit, als Deutsch noch Unterrichtssprache war, zu polonisieren.108 Insbesondere stand das 1856 gegründete staatliche Franz-Josephs-Gymnasium im Mittelpunkt der
105 GL v. 17.11.1895. 106 GL v. 6.1.1905. 107 DALO, f. 3, op. 1, spr. 3667, Bl. 41 f.; GL v. 21.3.1879; GL v. 18.3.1881; GL v. 24.5.1897. Zur evangelischen Schule vgl. Rudolf Kesselring, Die evangelische Kirchengemeinde Lemberg von ihren Anfängen bis zur Gegenwart (1778–1928). Zur Feier des 150jährigen Bestehens der Kirchengemeinde im Auftrag des Presbyteriums dargestellt, T. 1, Lemberg 1929. 108 GL v. 30.5.1862 und GL v. 18.9.1862.
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Bemühungen.109 Die Forderung nach Polonisierung konnte der Stadtrat schließlich insofern durchsetzen, als dessen im ehemaligen Bernhardinerkloster untergebrachte Filiale zum Schuljahr 1879/80 als polnischsprachiges IV. Lemberger Gymnasium ausgegliedert wurde.110 Auch die Benennung dieser Schule nach dem mittelalterlichen polnischen Chronisten Jan Długosz verweist auf die damit verbundenen politischen Intentionen. Danach konzentrierte sich der Stadtrat auf die Gründung eigener Mittelschulen, zumal Lemberg als Bildungszentrum gestärkt werden konnte. Gerade die jährlich111 eingeforderten Tätigkeitsberichte der Ratsdelegierten zum Landesschulrat führten zu einer Bewertung der Schulpolitik aus kommunalpolitischer Sicht. Bereits 1905 wurde der sich verschärfende Ton deutlich, als der Stadtrat in einer zweitägigen Aussprache über den Bericht der beiden Delegierten zum Landesschulrat die nationalisierenden Aufgaben der Schulen herausstellte. Ratsherr Ernest Adam, Sprecher der Schulsektion, kritisierte, dass der Bericht kein Wort über den „nationalen Geist“ der Schule und über deren gesellschaftliche Bedeutung verliere. Ebenfalls entspreche der Stand der Mittelschulen nicht dem „Geist der Gesellschaft“, weil in ihnen seit einigen Jahren nicht mehr die Mickiewicz-Jahrestage112 gefeiert würden. Daher müssten zunächst die Mittel-, in Folge aber auch die Volksschulen diesen nationalen Geist erhalten.113 Im Anschluss an den Bericht mussten die Delegierten Rede und Antwort stehen, was sie zur „Nationalisierung der Volksschulen“114 beigetragen hätten. Aus dieser Debatte resultierte der Antrag, Lehrbücher im „nationalen Geist“ verfassen zu lassen, und die Forderung, dass die Lehrer den Schülern „nationalen Geist“ „einzuhauchen“ hätten. Obwohl der Landesschulrat nach dem Nationalitätenprinzip organisiert sei, sollten sich die Lemberger Delegierten vermehrt dafür einsetzen, dass das gegenwärtige Schulsystem nicht „schablonenhaft“ nach diesem Prinzip funktioniere, sondern den Ideen und Bedürfnissen, die in der Bevölkerung herrschten, diene – nämlich den 109 CDIAL, f. 146, op. 7, spr. 3676, Bl. 65; GL v. 1.11.1865. Das Franz-Josephs-Gymnasium wurde als vierklassiges unteres Gymnasium 1856 gegründet, sodass der Rat sich bereits Anfang der 1860er Jahre um eine Ergänzung zum achtklassigen „Voll-“Gymnasium bemühte, vgl. Gmina v. 3.12.– 21.12.1868. 1909 gab es in Lemberg neun Gymnasien (sechs polnischsprachige, ein ruthenischund ein deutschsprachiges als öffentliche sowie ein privates), vgl. Krzysztof Broński, Die kulturellen Funktionen der Provinzstädte Galiziens in der Zeit der Autonomie (1867–1914), in: Peter Stachel / Cornelia Szabo-Knotik (Hrsg.), Urbane Kulturen in Zentraleuropa um 1900, Wien 2004, S. 253–270, hier: S. 259. 110 Władysław Kucharski, Księga pamiątkowa 50lecia gimnazjum IV. im. Jana Długosza we Lwowie [Gedenkschrift zum 50-jährigen Bestehen des IV. Jan-Długosz-Gymnasiums], Lwów 1928, S. 7 f. Erst zum Schuljahr 1890/91 erhielt die Schule ein eigenes Gebäude. 111 Dilo v. 16.(28.)6.1894. 112 Adam Mickiewicz gilt als der wichtigste polnische Schriftsteller der Romantik, zumal er als Freiheitskämpfer auch Vorreiter des polnischen Messianismus war, durch den Polen als „Christus der Völker“ stilisiert wurde. 113 „duch narodowy“, „duch spółeczeństwa“, GL v. 3.11. und 5.11.1905. 114 „unarodowienie szkół ludowych“, ebd.; vgl. auch GN v. 11.11.1905.
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5 Städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen
polnisch-nationalen.115 Weil die Debatte ungewöhnlich lang gewesen sei, so die Gazeta Lwowska, wurde der Bericht in der nächsten Ratssitzung nochmals diskutiert. Wiederum stand der Mangel an ‚nationalem Geist‘ im Mittelpunkt der Kritik, obwohl gerade er wichtiger als alle anderen Aufgaben der Schule sei und den „Bedürfnissen der Gesellschaft“ genüge. Dagegen bedrohe der derzeitige Stand die Autonomie im Schulwesen. Daraus folgerten die Ratsherren, dass die Delegierten verstärkt darauf einwirken sollten, dass der „nationale Charakter“ nicht verloren gehe und dass entsprechende historische Kenntnisse, aber auch die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen vermittelt würden.116 Verhielten sich die Landesbehörden gegenüber dem kommunalpolitischen Handeln der Statutarstadt Lemberg und ihrer antiruthenischen Politik insgesamt sehr zurückhaltend, so versuchte zumindest der Landesschulrat gemäß seiner Aufgaben, wenigstens punktuell für ruthenischsprachigen Unterricht in der Landeshauptstadt einzuschreiten. Aber gerade in der antiruthenischen Schulpolitik wird deutlich, dass der Rat sich als Korrektiv der Landesschulpolitik sah, indem er polnischsprachige Schulen klar bevorzugte. Dies verdeutlichte eine Anfrage des Ratsmitglieds Wojciech Bichoński, der Auskunft darüber erhalten wollte, was die Stadt gegen den ruthenischsprachigen griechisch-katholischen Religionsunterricht im Franz-Josephs-Gymnasium unternehme. Der Stadtpräsident Michał Michalski berief sich in seiner Antwort auf ein Abkommen zwischen Stadt und Land. Dagegen versprach der Gymnasialdirektor Franciszek Tomaszewski als Landtagsabgeordneter und Ratsherr (wohl um möglicher weiterer Kritik zuvorzukommen), es nicht zuzulassen, dass der polnischen Sprache Unrecht angetan werde und dass der ruthenische Katechet nicht mehr unterrichten dürfe.117 Polnisch als Unterrichtssprache wurde als „Bedürfnis der Zeit“ deklariert, um den „nationalen Charakter“ der Schulen und damit in Konsequenz auch der Stadt nicht zu gefährden, wie die schulpolitischen Debatten gerade auch während des sich verschärfenden Nationalitätenkonflikts deutlich machten. Hiernach stellten ruthenischsprachige Schulen den Eindruck des „rein polnischen“ Charakters Lembergs, den es zu verteidigen galt, infrage.
115 116 117
GL v. 5.11.1905; SP v. 5.11.1905. In den Quellen ist nicht erkennbar, welche Schulbücher vom Bezirksschulrat in Auftrag gegeben wurden. „potrzebom społeczeństwa“, „charakter narodowy“, GL v. 11.11.1905. Das griechisch-katholische Ordinariat hatte wohl als Ausweg seine Katecheten angewiesen, dass die Exerzitien nicht zum eigentlichen Unterricht gezählt werden durften. Vgl. GL v. 3.3.1906. GL v. 17.12.1906 berichtet, dass der Katechet weiterhin in Ruthenisch unterrichte.
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen
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5.1.2 Die Förderung der Universität als „Sanktuarium“ nationaler Ambitionen Zum Status als Landeshauptstadt gehörte auch anzustreben, anstelle Krakaus zum Bildungszentrum Galiziens zu werden.118 Daher wurde die Gründung zahlreicher Fachschulen und Akademien unterstützt, von denen die 1844 als Technische Akademie gegründete Technische Hochschule die bedeutendste war.119 Eine zentrale Rolle für den Status als Hauptstadt spielte vor allem die Universität, die um 1914 die zweitgrößte Hochschule Cisleithaniens mit knapp 5.700 Studierenden war.120 Die Lemberger Universität entwickelte sich seit der Jahrhundertwende ähnlich der Prager121 zur Waffe und zum Kampfplatz des polnisch-ruthenischen Nationalitätenkonflikts, wie Jan Surman resümierend feststellt.122 Da die polnischen Landesbehörden wie auch die Universitätsprofessoren die Franzens-Universität als polnische Hochschule verstanden, wurden seit der Jahrhundertwende die polnischen Professoren zunehmend intoleranter gegenüber den Ruthenen. Nach der Jahrhundertwende entstanden im Zuge von Demonstrationen immer wieder gewaltsame Zusammenstöße123, zumal ruthenische Lehrstühle nicht wiederbesetzt und Qualifikationsarbeiten nicht anerkannt wurden.124 Bereits 1901 kam es zur Sezession, d. h. zum Verlassen der Hochschule durch die ca. 600 ruthenischen Studenten, die sich für eine eigene ruthenische Universitätsgründung einsetzten.125 Obwohl die Universität außerhalb seines Kompetenzbereiches lag, mischte sich der Stadtrat wegen ihrer hohen nationalpolitischen Bedeutung in Universitätsfragen
118
Insgesamt waren vor dem Ersten Weltkrieg über 50 Schulen und Lehranstalten in Lemberg beheimatet, vgl. Kramarz, Samorząd, S. 12. 119 Z. B. die Höhere Forstschule (Gründung 1874), das Konservatorium (1880), die Industrieschule (1891), die Handelsschule (1891), die Veterinärschule (1881). 1870 gab es insgesamt vier Mittelschulen, 1910 waren es 15 öffentliche und 18 private. Vgl. Hoszowski, Ekonomiczny rozwój, S. 56. 120 1608 wurde sie als Jesuitenkollegium gegründet und unter Joseph II. zur Universität erhoben, die nach dem Wiener Kongress als Franzens-Universität mit drei Fakultäten wiedergegründet wurde. Zwischen 1919 und 1939 trug sie den Namen des polnischen Königs Jan II. Kazimierz, seit 1940 den Ivan Frankos. 121 Vgl. hierzu Burger, Sprachenrecht, S. 182–188. 122 Jan Surman, Figurationen der Akademia. Galizische Universitäten zwischen Imperialismus und multiplem Nationalismus, in: Doktoratskolleg Galizien (Hrsg.), Galizien. Fragmente eines diskursiven Raums, Innsbruck 2009, S. 17–40, hier: S. 24–28. Zum gesamthabsburgischen Kontext vgl. Hans Lemberg (Hrsg.), Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003; Mitchell Ash / Jan Surman (Hrsg.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848–1918, London 2014. 123 Einen Höhepunkt stellten die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Januar 1907 dar: Jan Surman, De la „barbarie“ et de la „civilisation“: Le conflit entre les étudiants polonais et ruthènes en 1907 et sa construction journalistique, in: Jacques Le Rider / Heinz Raschel (Hrsg.), La Galicie au temps de Habsbourg (1772–1918). Histoire, société, cultures en contact, Tours 2010, S. 175–188. 124 Pacholkiv, Emanzipation, S. 170–173. Zeitgenössisch: Kasimir Twardowski, Die Universität Lemberg. Materialien zur Beurteilung der Universitätsfrage, Wien 1907. 125 Sirka, Nationality Question, S. 136–155.
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ein.126 So nutzten die (amtierenden resp. kandidierenden) Ratsherren in den Kommunalwahlkämpfen, insbesondere nach den gewaltsamen Ausschreitungen der ruthenischen Studenten, die Universitätsfrage zur politischen Mobilisierung. Der Wahlkampfslogan „Erinnert Euch an die Universität!“ („Pamiętajcie o uniwersytecie!“) war ein wichtiger, häufig zitierter Appell, wählen zu gehen. In diesem Sinne förderte der Stadtrat trotz der defizitären Haushaltslage immer wieder freiwillig die Lemberger Franzens-Universität, unterstützte sie aber auch durch Stellungnahmen anlässlich der gewaltsamen Ausschreitungen 1907 und der Feiern zum 250. Jahrestag ihrer Gründung. Erstmals trat der Stadtrat als Förderer der Universität bei der 1894 erfolgten Gründung einer medizinischen Fakultät hervor.127 Es war ein wichtiges Anliegen des Stadtrates,
Abb. 17 Die Medizinische Fakultät der Universität, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag.
126
127
Franciszek Jaworski, Uniwersytet Lwowski. Wspomnienie jubileuszowe [Die Lemberger Universität. Jubiläumserinnerungen], Lwów 1912, S. 10. Seit Ende des 19. Jahrhunderts war sie gleichbedeutend mit der traditionsreichen Jagiellonen-Universität in Krakau und hatte sogar eine höhere Hörerzahl. Vgl. Józef Buszko, Organisatorische und geistig-politische Umwandlungen der Universitäten auf polnischem Boden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Richard G. Plaschka / Karlheinz Mack (Hrsg.), Wegenetz europäischen Geistes. Wissenschaftszentren und geistige Wechselbeziehungen zwischen Mittel- und Südosteuropa vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Köln etc. 1983, S. 132–145, hier: S. 143; zum Konflikt: Lane, State Culture, S. 327– 345. Die medizinische Fakultät wurde während des Kaiserbesuchs 1894 eröffnet. Grundsätzlich hießen auch die Ruthenen diesen Beschluss wegen der größeren Fächerauswahl willkommen. Dilo v. 29.8.(10.9.)1894 merkte nur an, dass sie dennoch eine lange Zeit warten müssten, bis sie auf Ruthenisch in dieser Fakultät unterrichtet werden würden. Vgl. auch: GL v. 14.1.1870; v. 29.4.1875; v. 24.11.1876.
5.1 Auf- und Ausbau polnischer Bildungsinfrastrukturen
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die Landesregierung von der Bedeutung des Ausbaus zu überzeugen und ihre Zustimmung zum Universitätsausbau zu ‚erkaufen‘. Bereits 1877 hatte der Landespolitiker und Publizist Teofil Merunowicz den Stadträten empfohlen, dass die Stadt den Bau des Fakultätsgebäudes und die allgemeinen Gründungskosten vom Land übernehmen solle, um die Fakultätsgründung zu beschleunigen.128 Da sich der Gründungsprozess und die Fertigstellung des Gebäudes bis 1895 hingezogen hatten, veränderte sich die Ausgangslage, sodass der Stadtrat trotz der angespannten Finanzlage einen einmaligen Zuschuss von 30.000 Gulden und die kostenlose Übertragung des Baugrundes im Wert von 20.000 Gulden genehmigte.129 Der Stadtrat engagierte sich, weil, wie es Merunowicz 1877 formulierte, „wir [Polen] sie [die Universität] nicht vernachlässigen dürfen“, da sie zur Ehre der Stadt gereichen würde, sodass die Stadt keine Opfer scheuen dürfe.130 Dies hatte angesichts der zunehmenden Bedeutung der öffentlichen Gesundheit zunächst auch einen praktischen Hintergrund, weil so mehr (einheimische) Ärzte für die Stadt und die Provinz zur Verfügung standen. Zugleich wurde die Universität dadurch aufgewertet, was insbesondere für den Konkurrenzkampf mit Krakau131 und der dortigen Jagiellonen-Universität von Bedeutung war: Nun stand die Landeshauptstadt in Bezug auf eine Volluniversität dem traditionellen polnischen kulturellen Zentrum Krakau nicht mehr nach. Den nach der Jahrhundertwende entstehenden Nationalitätenkampf um die Universität, d. h. um die Lehre auch auf Ruthenisch, feuerte der Stadtrat durch politische Stellungnahmen und Resolutionen an.132 Zugleich verwahrte er sich vehement gegen alle Versuche zur Gründung einer eigenen ruthenischen Universität, setzte sich also gegen eine Spaltung ein.133 In der Ratsdebatte nach der gewaltsamen Eskalation der Studentendemonstrationen 1906/07 betonten die Ratsmitglieder, dass der polnische Charakter der Universität erhalten bleiben müsse. Mit „Schande“ und ähnlichen Kommentaren unterstützten sie die Einbringung eines Antrags, durch eine Resolution die polnische Universitätsleitung zu unterstützen. Hierbei warf der Redner Wojciech Biechoński den als „junge Hajdamaken“ pejorativ charakterisierten ruthenischen Studenten Vandalismus vor, weil sie nicht nur gewaltsam in die Universität eingedrungen seien und einen Professor mit einer Pistole bedroht hätten, sondern auch die Portraits
128 129 130 131 132 133
Merunowicz, Rozwój miasta, S. 28–33. GL v. 14.6.1891; weiterhin GL v. 10.3.1891; v. 21.10.1891; RGBl. Nr. 14/1894. Teofil Merunowicz, Rozwój miasta, S. 28–34, der darin auch Möglichkeiten für erhebliche Fortschritte in der öffentlichen Gesundheit Lembergs erkannte. Jan M. Malecki, Lwów i Kraków – dwie stolice Galicji [Lemberg und Krakau – zwei Hauptstädte Galiziens], in: Roczniki dziejów społecznych i gospodarczych 50, 1989, S. 114–131. Czesław Partacz, Od Badeniego do Potockiego. Stosunki polsko-ukraińskie w Galicji w latach 1888–1908 [Von Badeni bis Potocki. Die polnisch-ukrainischen Beziehungen in Galizien 1888– 1908], Toruń 1996, S. 127–154. SP v. 9.1.1913. Ein ‚Vorbild‘ war die Spaltung der Prager Universität in eine deutsch- und tschechischsprachige 1882. Vgl. hierzu etwa Lemberg, Universitäten; Ash / Surman, Nationalization.
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der Rektoren von den Wänden gerissen und Mobiliar zerstört hätten. Die Universität wurde daher in der einstimmig angenommenen Resolution als „Anschlagsopfer“ bezeichnet.134 Außerdem drückten die Ratsherren ihr Bedauern aus, dass niemand im Land in der Lage sei, diese höchste Bildungseinrichtung zu verteidigen. Der Rat selbst würde „unerschütterlich“ auf dem polnischen Charakter der Universität in der Landeshauptstadt beharren. Diese Stellungnahme zeigt, wie sehr die Ausschreitungen nicht nur als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit in der Stadt, sondern letzten Endes auch ihres polnischen Charakters wahrgenommen wurden. Wie wichtig die polnische Universität für das städtische Selbstverständnis war, machte der Stadtrat durch die finanzielle Unterstützung der Jubiläumsschrift ebenso wie der von nationaldemokratischen Kräften gewählte Präsident Józef Neuman in seiner Festrede anlässlich der 250-Jahrfeier 1914 deutlich, die im Duktus vom Nationalitätenkonflikt bestimmt wurde. Die Universität war für ihn das Sanktuarium unserer [der polnischen] historischen Mission […] wir wollen sie als Herd der polnischen Wissenschaft, und in ihrem nationalen Dienst sind wir mit ihr vereint.135
Den Willen zur intensiven Unterstützung der Universität begründete er damit, dass die Polen ihrer Staatlichkeit beraubt seien, während die Universität die Welt an die Polen erinnern, ihnen Ruhm bringen und „unsere geistigen Güter“ vermehren würde. Aus dieser Haltung heraus hatte der Stadtrat bereits 1912 beschlossen, ab dem 1. Januar 1913 einen Lehrstuhl für Geschichte des südöstlichen Europas mit polnischer Unterrichtssprache zu stiften, der mit einem polnischen Wissenschaftler besetzt werden musste. Die geografische Bezeichnung des „südöstlichen Europa“ wurde durch den Beschluss konkretisiert: In Erinnerung an die polnische Vergangenheit der Stadt sollten vor dem Hintergrund der Rzeczpospolita die Verbindungen Lembergs hinsichtlich ihrer politischen, zivilisatorischen und ihrer Handelsbeziehungen mit der „östlichen Welt“ herausgestellt werden. Daher sollte der Lehrstuhl zur Erforschung der polnischen Geschichte aus Sicht arabischer, türkischer und anderer Quellen beitragen und zugleich auch die Geschichte und Kultur sowie die Beziehungen der Völker zu Polen erforschen, die am Schwarzen Meer und auf der Balkanhalbinsel lebten.136 Die Denomination dieser Professur und deren Stellenbeschreibung verwiesen – wenn auch nur implizit – auf die zugeschriebene besondere Rolle Lembergs als Handelsstadt mit dem Osten, aber auch auf die Vorstellung einer mission civilisatrice und als „Bollwerk gen
134 135 136
„młodzi hajdamacy“, „ofiarą napadu“, „niezachwianie“, DzL Nr. 3/1907. Hajdamaken (Kosaken-Bauern westlich des Dn′epr) hatten 1768 einen gegen den polnischen Adel gerichteten, blutigen Aufstand begonnen. „naszych dóbr duchowych“, Rede Neumans zit. in: Wiktor Hahn, Pamiętnik obchodu jubileuszowego w 250 rocznicę założenia Uniwersytetu we Lwowie [Festschrift der Jubiläumsfeierlichkeit zum 250. Jahrestag der Gründung der Universität in Lemberg], Lwów 1914, S. 35 ff. „świat wschodny“, ebd., S. 7.
5.2 Auf- und Ausbau polnischer Kulturinstitutionen
241
Osten“ (s. u. Kap. 6.3), ohne dass die gegenwärtige Zugehörigkeit zur Habsburgermonarchie infrage gestellt wurde. 5.2 Auf- und Ausbau polnischer Kulturinstitutionen Die kommunalpolitischen Akteure instrumentalisierten die Bildungspolitik, um Polnisch als Unterrichts- und damit auch als Umgangssprache in Lemberg zu festigen und dadurch das Ruthenische allmählich zu verdrängen. Die Bildungspolitik war damit ein wichtiges Instrument zur Schaffung und Erhaltung des polnischen Charakters der Stadt, der auch durch Bildungs- und Kultureinrichtungen weiter gestärkt werden sollte. Entsprechende Kulturinstitutionen, die als Bildungseinrichtungen verstanden wurden, waren somit wichtige Mosaiksteine des postulierten „polnischen Charakters“ Lembergs und zugleich Instrumente, diesen zu verteidigen. 5.2.1 Das Städtische Theater als Ausdruck der mission civilisatrice Mit der Eröffnung des neuen städtischen Theatergebäudes am 4. Oktober 1900137 erhielt Lembergs Zentrum einen „wirklichen Schmuck“,138 da der Hetmansdamm als Boulevard durch den prächtigen Solitärbau einen glanzvollen Abschluss erhielt. Nicht nur in architektonischer Hinsicht hatte der Stadtrat durch den Theaterbau ein deutliches Zeichen gesetzt: Mit Errichtung der Kulturinstitution manifestierte er auch den entschiedenen Anspruch, über die administrative Hauptstadtfunktion139 hinaus als polnisches kulturelles Zentrum zu fungieren. Damit wurde ein ambitionierter künstlerischer und zugleich nationaler Anspruch verbunden: Ziel war es, als Hochburg des organisierten Musiklebens zu gelten, während die Oper in Warschau unter dem Druck der Russifizierung stand.140 Mit der Entscheidung, das Städtische Theater (Teatr miejski) zu bauen, wurde dieses zu einem zentralen „Schauplatz der Politik“141 des Rates. Es war durch seine das Stadtbild prägende Architektur und als wichtiger Treffpunkt der politischen Öffentlichkeit ein Symbol der Macht und damit ein kultureller Repräsentant des „polnischen 137
Tekst aktu pamiątkowego spisanego przy otwarciu teatru miejskiego 4.10.1900 [Text des Gedenkaktes, verfasst für die Eröffnung des Stadttheaters am 4.10.1900], o. O. [Lwów] o. J. [1900]. Der eigentliche Eröffnungstermin war verschoben worden, weil an dem ursprünglich vorgesehenen Tag die jüdischen Ratsherren wegen eines Feiertags nicht hätten teilnehmen können, vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 4474, Bl. 3. 138 „prawdziwa ozdoba“, GL v. 19.2.1888. 139 Hierauf wird im Vertrag mit Pawlikowski hingewiesen, vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 4753, Bl. 21. 140 DzP v. 19.3.1891. S. auch Abb. 4. 141 Ther, Bühne.
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Abb. 18 Der Hetmansdamm mit Blick auf das Theatergebäude, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.)
Charakters“ Lembergs geworden.142 Obwohl der Bau des neuen Städtischen Theaters die größte städtische Einzelinvestition im kulturellen Bereich und die städtische Theaterpolitik ein wichtiges Betätigungsfeld für den Rat darstellte, wird diese durch die historische Forschung im Gegensatz zu zahlreichen theaterwissenschaftlichen Studien nur in Ansätzen beleuchtet.143 Dies ist umso erstaunlicher, da Theatergeschichte nach Philipp Ther als eine „Sonde für breitere sozial- und politikgeschichtliche Zusammen-
142 Ebd., S. 544. 143 Ther, Mitte, der sich den Theatern in Lemberg, Prag und Dresden im Vergleich widmet. Sein Schwerpunkt liegt jedoch für Lemberg auf der Zeit des Skarbek-Theaters, sodass er nur in Randbemerkungen über die kommunale Theaterpolitik berichtet; ähnlich Prokopovych, Habsburg Lemberg, S. 134–156. In der Sozialgeschichte des Rates, Sroka, Rada miejska, S. 148, wird der Theaterneubau nur mit einem kurzen skizzierenden Absatz erwähnt. Vgl. auch die theaterwissenschaftlichen Überblicke: Ewa Warzenica-Zalewska, Teatr Skarbkowski we Lwowie w latach 1864– 1890 [Das Skarbek-Theater in Lemberg 1864–1890], in: Tadeusz Sivert / Ewa Heise (Hrsg.), Teatr Polski od 1863 roku do schyłku XIX wieku [Das polnische Theater von 1863 bis zum Ende des 19. Jh.], Warszawa 1982, S. 509–594; Anna Solarska-Zachuta / Jan Michalik / Stanisław Hałabuda, Teatr lwowski w latach 1890–1918 [Das Lemberger Theater 1890–1918], in: Tadeusz Sivert / Roman Taborski (Hrsg.), Teatr polski w latach 1890–1918 [Das polnische Theater 1890–1918], Bd. 2 Zabór austriacki i pruski [Das österreichische und preußische Teilungsgebiet], Warszawa 1987, S. 199–319; Anna Wypych-Gawrońska, Lwowski teatr operowy i operetkowy w latach 1872–1918 [Das Lemberger Opern- und Operettentheater 1872–1918], Kraków 1999; Kuchtówna, Teatr Polski.
5.2 Auf- und Ausbau polnischer Kulturinstitutionen
243
hänge“144 genutzt werden kann: Seit den Teilungen Polens hatte das Theater eine besondere nationale Bedeutung erhalten, die sich durch das positivistische Konzept der Organischen Arbeit noch verstärkt hatte.145 Grundlegend hierfür war die allgemeine nationale und kulturelle Bedeutung von Theatern, insbesondere von Operntheatern, die im 19. Jahrhundert in der „Mitte der Gesellschaft“146 (Philipp Ther) angekommen waren: Theater waren zu den wichtigsten Orten der politischen Öffentlichkeit und damit zu Stätten geworden, an denen sich nun auch die bürgerliche Gesellschaft traf. Da die Theater im 19. Jahrhundert zunehmend in städtische Obhut übergingen, wurden die Theatergebäude zur städtischen Selbstdarstellung und damit der Selbstrepräsentation ihrer jeweiligen Eliten genutzt. Daher war das Theater resp. Musiktheater ein Medium, um politische und nationale Botschaften zu vermitteln, sodass zwischen konkurrierenden politisch-sozialen Gruppen, d. h. zwischen Adel und Bürgertum, zugleich auch zwischen den Nationalbewegungen, um diesen Einfluss gerungen wurde. Gerade die nationalisierende Funktion war – im Vergleich etwa zu England oder Frankreich – in Ostmitteleuropa von herausragenderer Bedeutung, weil die nationalen Theater wegen fehlender politischer Partizipationsmöglichkeiten in besonderem Maße zur nationalen ‚Erweckung‘, d. h. Mobilisierung der Nationsangehörigen, instrumentalisiert werden konnten.147 Nachdem die Anfänge eines ortsansässigen Theaters eng mit der habsburgischen Herrschaftsfestigung am Ende des 18. Jahrhunderts verbunden waren und das Lemberger Theaterleben in den Einfluss des Kulturtransfers aus Wien, aber auch aus Prag und Italien gelangt war,148 konnten die Lemberger politischen Akteure das Theater im Zuge der fortschreitenden Autonomie zu ihren Zwecken instrumentalisieren. Insgesamt wurde die Entwicklung der polnischen Bühne in Lemberg – wie aller nationalsprachlichen Theater in der Monarchie – durch den Neoabsolutismus unterbrochen, während deutschsprachige Aufführungen in Lemberg wie allerorts in der Habsburgermonarchie im Sinne einer germanisierenden und die Sprachen hierarchisierenden Politik gefördert wurden. Durch die allgemeinen politischen und kulturpolitischen Veränderungen in der Phase der Konstitutionalisierung erlebte die Forderung nach einem polnischen, sich vom deutschen Theater scharf abgrenzenden Theater in Lemberg eine Renaissance: Es sei eine „Institution nicht nur von lokaler und regionaler, sondern vor
144 Ther, Bühne, S. 544 f. 145 Heidi Hein, Polnisches Theater in Warschau, Krakau, Posen als Ort polnischer nationaler Bewußtseins- und Identitätsbildung (1815–1846/48), in: ZfO 45, 1996, S. 192–220. 146 Ther, Mitte. 147 Ebd., S. 46 f. 148 Ther, Mitte, S. 545; Grundlage des folgenden historischen Überblicks: Röskau-Rydel, Kultur, S. 235–278.
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allem auch nationaler Bedeutung“149, weil „unser [der Polen] ganzer Schatz allein die Sprache ist“, und daher sei es Aufgabe des Theaters, unserer Gesellschaft die heiligen Tugenden der Ahnen beizubringen, die Volksmassen über den nationalen Bürgersinn zu unterrichten; sein Auftrag ist durchaus national.150
Insbesondere die demokratische Inteligencja Lembergs, welche die politisch dominierenden Kräfte im Stadtrat stellte, vertrat ein striktes Konzept eines polnischen Nationaltheaters. So sahen die Intellektuellen 1869, also zu einer Zeit, als die Skarbek-Stiftung noch das Theaterprivileg (1842–1892) innehatte, die Aufgabe des Theaters in Lemberg darin, als „Feuer der polnischen dramatischen Kunst, [als] Vorreiter anderer Bühnen“151 zu wirken. Insbesondere nach 1863/64, als nach dem gescheiterten Januaraufstand jegliches polnisches kulturelles Leben durch die Zensurbehörden in Kongresspolen verhindert worden war, konnte sich das Kulturleben in Galizien durch die einsetzende (kulturelle) Autonomie weitaus ungehinderter entwickeln. Daher wurde das Lemberger Theater zu einer der wichtigsten polnischen Bühnen, vor allem in Bezug auf das Musiktheater.152 Jedoch besaß der Stadtrat in dieser Phase nur wenige Kompetenzen hinsichtlich des Theaters. Nachdem das Skarbek-Theater während des Neoabsolutismus praktisch verstaatlicht worden war, wurden die Stiftung und auch das Theater in der konstitutionellen Ära als Landesinstitutionen weitergeführt, in deren Leitungsgremium lediglich ein Delegierter des Lemberger Stadtrates berufen wurde.153 Als nach einer Blütephase in den 1860er und 1870er Jahren das Theater seit Mitte der 1880er Jahre aus finanziellen Gründen zunehmend an Bedeutung verlor,154 konnte der Stadtrat über die Gewährung notwendiger Zuschüsse dieses Aufgabenfeld schrittweise ‚erobern‘. Zugleich zog sich die Landesverwaltung zunehmend zurück, auch wenn sie weiterhin das Theater anteilig subventionierte. Erstmals artikulierte sich das politische Interesse der Lemberger Öffentlichkeit in Form einer Adresse155 an den Landesausschuss, deren zahlreiche Unterzeichner nach dem Artikel der Gazeta Narodowa fast alle Stände der Lemberger
149 „instytucją […] nietylko lokalnej i prowincjonalnej, ale i narodowej wagi“, GN v. 12.6.1869; vgl. Got, Theater, Bd. 2, S. 544. 150 Dziennik Literacki Nr. 65, 1865, zit. nach: ebd., S. 720. 151 „ogniskiem sztuki dramatycznej polskiej, przodownikiem scen innych“, GN v. 12.6.1869. Graf Stanisław Skarbek ließ 1835–1842 eins der größten Theatergebäude in Ostmitteleuropa von Johannes Salzmann errichten; sein Vermögen brachte er 1843 in eine wohltätige Stiftung ein. 152 Ther, Bühne, S. 544 f. Vgl. auch Karol Cieszewski, Kilka uwag o lwowskim teatrze [Einige Anmerkungen zum Lemberger Theater], Lwów 1865, S. 5. 153 Ze sprawozdania delegata świetnej rady miejskiej za lata 1896, 1897 i 1898 [Aus den Berichten des Delegierten des vortrefflichen Stadtrates aus den Jahren 1896, 1897 und 1898], o. O. [Lwów] o. J. [1898]. 154 Ther, Bühne, S. 562 f. Hierzu wurden beispielsweise auch 1894 Operettenaufführungen zugunsten des polnischen Sprechtheaters abgeschafft. 155 Ther, Mitte, S. 207; CDIAL, f. 165, op. 5, spr. 21, Bl. 34–54.
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Bevölkerung repräsentierten. Die nicht benannten Unterzeichner forderten anlässlich einer Neuausschreibung der Direktion, dass die Bühne wegen ihrer Bedeutung umsorgt werden müsse, weil dort das „vaterländische Wort“ seinen „Zufluchtsort“ und „öffentliche Stätte“ fände.156 Eine weitere wichtige Etappe war der „Theaterkrieg“, der in der Lemberger Öffentlichkeit mit Broschüren, Flugblättern etc. heftig ausgefochten wurde, nachdem Franz Joseph 1880 eine Aufführung der Nationaloper Straszny Dwór (Das Gespensterschloss) des polnischen Nationalkomponisten Stanisław Moniuszko wegen der expliziten nationalpolnischen Anspielungen vorzeitig verlassen hatte. Diese Kontroverse über Bedeutung und Aufgaben der Bühne trugen erheblich zur weiteren gesellschaftlichen Verankerung bei.157 Das Land übertrug die Finanzierung des Theaters schrittweise der Stadt, wodurch sich wiederum das kommunalpolitische Interesse an dieser Landesinstitution verstärkte. Während Philipp Ther vor allem die finanzielle Dauerkrise des Theaters als Grund sieht,158 scheint diese mehr ein Anlass denn eine Ursache gewesen zu sein, da sich das Verständnis der Aufgaben von autonomer Stadt im eigenen Wirkungskreis und vom Kronland grundlegend verändert hatte. Das Land verknüpfte nun die Gewährung einer Subvention stets mit der Gewährung eines städtischen Zuschusses. Dieses Junktim führte wiederum dazu, dass der Stadtrat in den nächsten Jahren immer deutlicher seine Mitspracherechte einforderte und selbst Bedingungen stellte: Er wollte nicht nur einen Teil der Subventionen übernehmen, sondern auch als politisches Organ (mit-)entscheiden. Insgesamt setzte sich im Lemberger Stadtrat allmählich die Ansicht durch, dass ein Theater eine städtische Institution sei, was im Namen „Städtisches Theater“ manifestiert wurde.159 Jedoch war über die Konstruktion des Theaterprivilegs der Skarbek-Stiftung das Theater dem eigenen Wirkungskreis der Stadt entzogen. Je näher das Ende der Privilegierung des Skarbek-Theaters im Jahr 1892 rückte und je absehbarer wurde, dass dieses Privileg nicht verlängert werden würde, desto intensiver wurde über die Zukunft des Theaters und damit verbunden über einen Neubau im Stadtrat debattiert.160 Weitere Katalysatoren hierfür waren einerseits mit dem Wiener Ringstraßenbrand 156
„wszystkie prawie stany ludności lwowskiej“, „słowo ojczyste“, „przytułek“, „przybytek publiczny“, GN v. 12.6.1869. Aufgrund der Formulierung der Gazeta Narodowa ist anzunehmen, dass die Unterzeichner größtenteils zu den führenden politischen Eliten und damit wohl auch zum Stadtrat gehörten, vgl. ebd. 157 Ther, Stadt, S. 116, 119, der hierin ein Einüben demokratischer Praktiken sieht, die woanders nicht hätten ausgeübt werden können. Hierbei übersieht Ther, dass es diese Möglichkeit im Stadtrat durchaus gab. 158 Ders., Bühne, S. 563. 159 GL v. 30.12.1889 und Ratsbeschluss darüber am 28.1.1891 (GL v. 29.1.1891). 160 Letztlich wurde es doch bis zur Einweihung des neuen Theaters genutzt; vgl. GL v. 17.6.1896. Vgl. auch Hans-Christian Hoffmann, Theater und Oper in der deutschen Stadt, in: Ludwig Grote (Hrsg.), Die deutsche Stadt im 19. Jahrhundert. Stadtplanung und Baugestaltung im industriellen Zeitalter, München 1974, S. 209–222.
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1881 aufkommende Sicherheitsüberlegungen in Bezug auf das marode Gebäude des Skarbek-Theaters, andererseits beobachtete der Stadtrat aufmerksam, dass die neu entstehenden Theaterbauten in der Monarchie und darüber hinaus als städtische geplant wurden. Angesichts der Neubaupläne von städtischen Theatern in Lemberg und Krakau untersuchte der Landesausschuss, wie Städte eigenverantwortlich ein Theater betreiben konnten. Er führte dazu auch Erhebungen in der gesamten Monarchie ebenso wie in Warschau durch.161 Daher wanderte das neu zu errichtende Theater zusehends auf die Agenda von Stadtrat und Stadtpräsidenten162 und wurde regelmäßig zum Beratungsthema, während der Umgang mit dem noch über 1892 hinaus aktiven Skarbek-Theater ein Konfliktfeld mit der Landesverwaltung blieb, die noch 1896 dem Stadtrat diesbezüglich nur ein Beratungsrecht einräumte.163 Der von Philipp Ther konstatierten Verbürgerlichung164 des Theaters entsprach also die schrittweise Aufgabenübernahme der Theaterunterhaltung durch die Stadt, auch wenn das Land weiter Subventionen zahlte. Wenn Ther grundsätzlich feststellt, dass die Städte begannen, eigene Theater zur kulturellen Repräsentation zu planen, sobald sie über die 50.000 Einwohner-Marke gewachsen waren,165 so konnte in Lemberg dieser Prozess wegen des Monopols des Skarbek-Theaters nur zeitverzögert einsetzen. Jedoch begann der Rat frühzeitig, in Theaterangelegenheiten Mitspracherechte einzufordern, konnte aber erst mit Auslaufen des Privilegs tatsächlich aktiv werden. Für diesen Fall hatte der Rat bereits 1888 beschlossen, 600.000 Gulden für den Theaterbau in den Haushalt einzustellen,166 außerdem sollte der Theatersaal mindestens 48 Logen, 1.000 Sitzplätze und möglichst zahlreiche Stehplätze umfassen.167 Die weiteren Verhandlungen mit den Landesbehörden zeigten, dass das Land keine Subventionen mehr zahlen, sondern sich nach dem Krakauer Vorbild nur noch am Bau beteiligen wollte.168 Hingegen war der Stadtrat bestrebt, die mit dem Theaterneubau verbundene finanzielle Bürde auf das Land abzuschieben. Je deutlicher wurde, dass der Rat nur mit einer geringen Landesunterstützung zu rechnen hatte, desto deutlicher formulierten die Stadträte ihre Bedingungen. Sie wollten ein „polnisches Nationaltheater“ als Zweispartenhaus (Schauspiel und Oper) errichten und darüber eigenverantwortlich bestimmen. Nach langen Verhandlungen erklärte sich der Landtag 1895 zu einer jährlichen Subvention und auch zu einem Zuschuss zum Bau in Höhe von 400.000 Gulden,
161 162 163
GL v. 19.5.1890. So etwa im Rahmen der Inauguration von Stadtpräsident Mochnacki, vgl. GL v. 26.4.1888. GL v. 17.6.1896. Ziel war es wohl, das Theater so lange aktiv zu halten, bis der Lemberger Neubau eingeweiht werden konnte. 164 Ther, Stadt, S. 118. 165 Ebd., S. 99. 166 Ther, Bühne, S. 563, setzt erst das Jahr 1891 an. Vgl. jedoch die Bezugnahme auf den Ratsbeschluss in GL v. 8.11.1894. 167 GL v. 6.5.1888; GL v. 2.6.1889, v. 30.1. und 17.4.1890; vgl. z. B. GL v. 12.2.1891. 168 GL v. 1.11.1890.
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dann von 600.000 Gulden unter der Bedingung bereit, dass ein Landesvertreter ins Baukomitee delegiert würde und auch später Einfluss ausüben könne, beispielsweise falls der Pächter sich als ungeeignet erweisen würde.169 Bei diesem Limit blieb es, auch wenn die Baukosten insgesamt auf 1,25 Mio. Gulden anstiegen.170 Der Landtag betonte immer wieder, dass er einen entsprechenden Einfluss auf das Theater, d. h. auf den Pachtvertrag und das Programm, ausüben wolle, wobei es gleichgültig sei, ob die Gemeinde selbst das Theater leiten wolle.171 Knapp dreizehn Jahre nach dem Aufflammen der Ratsdiskussion über einen Theaterneubau und zahlreichen Auseinandersetzungen über den Baugrund (s. auch Kap. 4.3.1) wurde im Januar 1898 der Baubeginn beschlossen, sodass der Grundstein Ende April gelegt werden konnte. Die eigens für den Theaterbau berufene Ratskommission172 hatte zuvor noch einige wichtige Beschlüsse getroffen, etwa dass die nördlich angrenzenden Häuser des jüdischen Viertels niedergerissen werden sollten, dass der Zuschauersaal auf 1.200 Sitzplätze erweitert und keine Stehplätze vorgesehen werden sollten. Der für 750.000 Kronen geplante Theaterneubau solle nicht in „Denkmalsarchitektur“, sondern in einer geschmackvollen, dem Zweck angemessenen Architektur errichtet werden.173 Beim vorangehenden Architektenwettbewerb, an dem sich Architekten polnischer und auch ruthenischer Herkunft beteiligen konnten,174 reichten nur zwei Büros rechtzeitig Pläne ein: Ausgezeichnet wurden die Entwürfe des Direktors der Lemberger Handelsschule Zygmunt Gorgolewski und des Architekten des Krakauer Theaters Jan Zawiejski.175 Die Debatten um die finale Wahl des Bauplatzes, die Auftragsvergabe und nicht zuletzt die Architektur verdeutlichten die vom Rat verfolgten kulturpolitischen Zie169 GL v. 12.2., 12.3.1891; DALO, f. 3, op. 1, spr. 4474, Bl. 9. Bei einem städtischen Anteil von 1,18 Mio. fl. wollte das Land 400.000 fl. zahlen (vgl. GL v. 9.4.1891). Der Krakauer Theaterbau kostete laut der GL v. 7.4.1892 600.000 fl., außerdem seien weitere 250.000 fl. für den Grunderwerb notwendig gewesen. Vgl. CDIAL, f. 146, op. 7, spr. 1895. 170 Ludwik Heller, Świetna Reprezentacyo! [Geehrte Repräsentation!], o. O. [Lemberg] 26.8.1913, S. 4. CDIAL, f. 146, op. 7, spr. 4677, Bl. 1–5; zu den Verhandlungen: DALO, f. 3, op. 1, spr. 3836, Bericht der Sektion; GL v. 18.1.1895, v. 20.1.1900 und v. 6.7.1900; Tekst aktu pamiątkowego spisanego przy otwarciu. Diese Höhe des Bauzuschusses wurde schließlich erreicht, 1912 halbierte der Landtag den jährlichen Landeszuschuss. Jedoch verzichtete die Landesregierung auf eine kostenlose Loge für den Statthalter und bezahlte stattdessen eine Loge und einen Stuhl für den Theaterreferenten; sie forderte die Bestätigung der Wahl des Theaterdirektors, nicht mehr die Mitwirkung an der städtischen künstlerischen Theaterkommission und an der Auswahl der Kräfte. 171 CDIAL, f. 165, op. 2, spr. 600, Bl. 5, 16–32; vgl. auch GL v. 27.10.1898. Damit war der Zuschuss doppelt so hoch wie der zum Theaterbau in Krakau: Von den beantragten 500.000 kr. wurden nur 300.000 bewilligt. 172 Ihre technischen Berichte: DALO, f. 3, op. 1, spr. 3642; vgl. auch als gedruckte Broschüre: Sprawozdanie Komitetu budowy Nowego Teatru we Lwowie [Bericht des Baukomitees für das Neue Theater in Lemberg], o. O. [Lemberg] 1899. 173 GL v. 6.6.1895. 174 DALO, f. 3, op. 1, spr. 3641, Bl. 5. 175 GL v. 7.2.1896.
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le. Hierbei wurde explizit die mission civilisatrice176 des Theaterneubaus und generell des Nationaltheaters betont, nicht zuletzt, weil durch den Neubau der Anreiz gegeben würde, das dahinter liegende (jüdische) Viertel zu „ordnen“ und zu „reinigen“.177 Da mit der Entscheidung der Jury noch nicht die endgültige Auswahl der Architekten und der Baubeschluss getroffen worden waren, brachte die Theaterkommission nochmals das in der gesamten Monarchie tätige Architektenduo Fellner und Helmer ins Spiel, weil es „schablonenhaft“ und daher günstig baue, zumal die eigenen Architekten schlecht, wenig dauerhaft und mit erheblichen Mehrausgaben bauen würden. Anhänger Gorgolewskis betonten neben der Möglichkeit, die einheimische Wirtschaft zu fördern, dass er dafür bekannt sei, den Kostenrahmen nicht zu überschreiten und die patriotischen Vorgaben zu beachten. Während des Theaterbaus diskutierte der Stadtrat, ob das Theater verpachtet oder als städtischer Eigenbetrieb geführt werden sollte, was beispielsweise der Ratsherr Gymnasialdirektor Karol Rawer als Experiment mit Risiko kritisierte.178 Dagegen empfahl der Krakauer Theaterleiter Tadeusz Pawlikowski einen städtischen Betrieb, weil das Theater aus nationaler und künstlerischer Hinsicht unter städtischer Leitung besser funktionieren würde.179 Da schließlich weder das Land noch die Stadt selbst das Theater führen wollten, wurde es für sechs Jahre verpachtet. Insgesamt war der Stadt, aber auch dem Land, daran gelegen, möglichst großen Einfluss auf das Theater zu behalten. Nach Konsultationen der Theaterverträge in Krakau, Czernowitz (Czerniowce/Černivci), Prag, Brünn und Graz durch die Theaterkommission180 wurde ein Pachtzins von 6.000 Kronen jährlich, eine fünfzigprozentige Beteiligung am versteuerten Gewinn und zwei Benefizveranstaltungen zu Gunsten des städtischen Armenfonds pro Jahr beschlossen. Die Buchhaltung sollte von Gemeindebeamten durchgeführt werden; die entstehenden Kosten hatte der Theaterdirektor zu begleichen. Des Weiteren legte der Rat fest, dass alle Sparten bespielt werden müssten, dass der zuständigen Theaterkommission spätestens acht Tage vor Monatsbeginn der jeweilige Spielplan für den folgenden Monat vorgelegt und von dieser genehmigt werden müsse, und sie außerdem von ihr als ungeeignet bewertete Stücke streichen durfte.181 Allerdings bestell-
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„misyę cywilizacyjną“, GL v. 20.3.1896. „uporządkowanie“, „czyszczenie“, ebd.; vgl. auch Kap. 4.3.2. GL v. 13.5.1899. GL v. 12.11.1899; Bericht über das Schreiben Pawlikowskis vom 6.11.1899. Er hatte die vorherigen Verhandlungen mit der Stadt unterbrochen, weil er keine aktuellen Daten der Stadt für seine Kalkulationen erhielt; vgl. auch DALO, f. 3, op. 1, spr. 3043. 180 DALO, f. 3, op. 1, spr. 3641 mit den Ergebnissen der Umfragen und den Protokollen der Theaterkommission. 181 GL v. 14.2.1900. Der genehmigte Spielplan wurde dann an die Statthalterei weitergeleitet, vgl. für Dezember 1909: CDIAL, f. 146, op. 8a, spr. 202, Bl. 32; § 21 ff. des 1903 geänderten Vertrags mit Pawlikowski, DALO, f. 3, op. 1, spr. 4753 (Vertrag mit Pawlikowski, § 19).
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te der Rat die Theaterkommission als Wächter,182 um die dem Theater zugemessene nationale Bedeutung zu unterstreichen, zumal „sich die Bürger der Hauptstadt nicht wenig dafür interessieren.“183 Um die geforderte Mitsprache des Landes zu sichern, entsandte der Landesausschuss zwei Delegierte in die Kommission.184
Abb. 19 Das Städtische Theater, Postkarte um 1910 (Privatsammlung H. H.-K.)
Trotz der Verpachtung an einen Theaterunternehmer sah die Theaterkommission das Theater nicht als selbstständiges (privates) Unternehmen, sondern als „gesellschaftlich-nationale“ Institution.185 Bereits zu Zeiten des Skarbek-Theaters hatte der Rat die Wirkung der Bühne auf das nationale Bewusstsein und die „moralische Erziehung der Allgemeinheit“186 erkannt und entsprechend zu fördern versucht.187 Von Beginn der Bauplanungen des Städtischen Theaters an war es daher für den Rat wesentlich, dass 182
Die Einflussnahme der Theaterkommission wurde zunehmend zu einem Problem, weil sie, so die häufige Kritik, mehr oder minder zufällig zusammengewürfelt sei. 183 „Mieszkańcy stolicy nie mało interesują“, GL v. 14.2.1900. 184 CDIAL, f. 165, op. 2, spr. 600, Bl. 3. 185 „społeczno-narodową“, DALO, f. 3, spr. 3642, Bl. 106–112. 186 „do moralnego wychowania ogółu“, GL v. 14.2.1900. Vgl. auch GL v. 5.10.1900 mit dem Bericht über die feierliche Eröffnung sowie Cieszewski, Kilka uwag, S. III f. Zahlreiche Telegramme mit einem ähnlichen Tenor: DALO, f. 3, op. 1, spr. 4475, so etwa Bl. 1, Glückwünsche aus Prag, Bl. 14, Glückwünsche des Sokół in Borszczów. 187 Daher verwundert es auch nicht, dass gerade in den Sitzungen, in denen es um Unterstützung der Unternehmen, aber auch um das Repertoire ging, die Theaterkommission zu Zeiten des Skarbek-Theaters zahlreich versammelt war, so etwa am 16.3.1898 (GL v. 17.3.1898).
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es eine „Zier der Hauptstadt und des Landes“ und zugleich ein „wichtiges zivilisatorisches Element“ sein solle.188 Die feierliche Eröffnung eines der schönsten Häuser in Europa mit einer guten Akustik, so das schwärmende Urteil der Gazeta Lwowska189, wurde dazu genutzt, den Beitrag zur „polnischen Kunst“ zu betonen: Die Eröffnung sei ein „freudiger, feierlicher und sonniger“ Tag für die Stadt, die durch „jenen neuen Geist“ belebt werde, da eine neue Epoche im Leben der Stadt beginne.190 Jedoch erfüllten sich die in den Theaterneubau und die Berufung des Krakauer Theaterdirektors Tadeusz Pawlikowski gesetzten Hoffnungen nicht. Er hatte mit einem ständigen Defizit zu kämpfen,191 weil kein Stück größeren Erfolg hatte, obwohl die Truppe hervorragende Leistungen erbrachte.192 Gerade die teuren, aber beliebteren Opernaufführungen193 hatten einen erheblichen Zuschussbedarf, den nach Meinung des Stadtrates das Land decken sollte, weil die Lemberger Bühne außer der Warschauer die einzige polnische Bühne sei, auf der Opern inszeniert würden. Zugleich griffen die Ratsherren das neu etablierte private polnischsprachige Volkstheater wegen dessen günstiger Eintrittspreise als Konkurrenz an, auch weil es die beliebten „unmoralischen“ Operetten inszenierte.194 Der finanzielle Misserfolg Pawlikowskis entwickelte sich wie auch sein in künstlerischer Hinsicht ambitioniertes Programm zu einer Machtprobe zwischen Stadt und Land.195 Ging es dabei 1905 vordergründig um die Streichung von Subventionen196 188
„ozdobą stolicy i kraju“, „ważnym elementem cywilizacyjnym“, so etwa der Leiter der Kämmerei 1887 bezüglich der Baupläne: Adolf Stroner, Plan sfinansowania potrzebnego na budowę stałego teatru we Lwowie kwoty złr. 600.000 [Plan der notwendigen Finanzierung für den Bau eines festen Theaters in Lemberg in Höhe von 600.000 fl.], Lwów 1887, S. 2. 189 GL v. 23.9.1900. Das Skarbek-Theater war bereits einen Monat vor der Eröffnung des neuen Theaters geschlossen worden. 190 „sztuka polska“, „radosny, świąteczny i słoneczny“, „owego nowego ducha“, GL v. 29.9.1900. 191 Bereits in der ersten Spielzeit erwirtschaftete er ein Defizit von 108.000 kr. Vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 3644, Bl. 118–126; GL v. 31.1.1902, v. 3.4.1903 und v. 27.6.1903. Dies führte dazu, dass der Rat diskutierte, Pawlikowski durch den vormaligen Direktor des Skarbek-Theaters Ludwik Heller zu ersetzen, der im März 1903 ein entsprechendes Angebot abgab: Ludwik Heller, Prześwietna Rado! [Hochgeehrter Rat!], o. O. [Lwów] o. J. [8.3.1903]. 192 Insgesamt enthielt das Repertoire zahlreiche avantgardistische Stücke, was katholische Kreise und vor allem auch die Bauernpartei kritisierten. Vgl. Ther, Bühne, S. 566, und ders., Mitte, S. 248. 193 Solarska-Zachuta/Michalik/Hałabuda, Teatr, S. 293. 194 GL v. 20.3.1903; GL v. 16.1.1905. Ein Volkstheater wurde bereits in den 1890er Jahren als wichtiges Instrument der Volksbildung diskutiert: Vgl. auch CDIAL, f. 146, op. 7, spr. 4471. Schließlich wurde 1912 ein Neubau im Städtischen Garten genehmigt, was Präsident Neuman insofern kritisierte, als er festhielt, dass dies „geradezu gegen die patriotische Pflicht“ („wprost wbrew obowiązkowi patryotycznemu“) verstoße. GL v. 22.5.1912. 195 Bericht über Pawlikowski: DALO, f. 3, op. 1, spr. 4625; Sprawozdanie miejskiej komisyi teatralnej za czas od 1 października 1902 do 31 grudnia 1903 [Bericht der städtischen Theaterkommission für die Zeit vom 1. Oktober 1902 bis zum 31. Dezember 1903], o. O. [Lwów] o. J. [1904]; Ther, Bühne, S. 566. 196 CDIAL, f. 165, op. 5, spr. 630, Bl. 27.
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und um Mitspracherechte, so spielte das Verständnis von der nationalen Bedeutung des Theaters eine wichtige Rolle. Das moderne Repertoire Pawlikowskis mit seinen symbolistischen und naturalistischen Stücken wurde scharf als national nicht dienlich kritisiert, sodass gerade die Vertreter der Bauernpartei die eingebrachten Landesmittel lieber in den Ausbau der Dorfschulen investiert hätten.197 Trotzdem forderte der Stadtpräsident Michał Michalski nach Ablauf des Pachtvertrags 1906 Pawlikowski zu einer erneuten Bewerbung um die Theaterleitung auf, wofür der Stadtrat Michalski wegen der ständig schlechten Finanzlage198 Pawlikowskis und seiner künstlerischen Ansprüche kritisierte.199 Die Ausschreibung der Theaterleitung stieß infolgedessen auf einen großen Widerhall in der Lemberger Öffentlichkeit.200 So etwa bezeichnete das Słowo Polskie den einzigen von ursprünglich drei Angeboten verbleibenden Bewerber Ludwik Heller als malum necessarium.201 Heller hatte in finanzieller Hinsicht zwar weniger Zusagen gemacht, aber angeboten, das nationale Repertoire202 zu stärken. Die Gazeta Lwowska unterstützte ihn in der Haltung, da man nicht alles rein ökonomisch bewerten dürfe und es dem Rat und der Verwaltung um die Entwicklung der „polnischen“ Kunst gehe.203 Gerade der Zusammenschluss beider Sparten unter einer Direktion war für Heller problematisch, weil hierdurch das Ensemble nur schwerlich den hohen Qualitätsansprüchen genügen konnte.204 Daher gelang es auch Heller nicht, die Erwartungen des Rates vollständig zu befriedigen, wenn er aus finanziellen Erwägungen auf populäre nichtpolnische Stücke setzte – dies führte zur Debatte, ob sein Vertrag 1908 vorzeitig gekündigt werden solle.205 Die Wiederverpachtung des Theaters 1912 war schließlich eine erneute Gelegenheit, über die grundsätzliche Theaterpolitik der Stadt zu diskutieren. Beschlossen wurde, dass der Direktor nur noch auf besondere Einladung
197 198
199 200 201 202 203 204 205
SprstRgalSK Kadencja VIII, S. 1857 ff. So verlangte die Stadt etwa (als einzige in der Habsburgermonarchie) laut Direktor Heller 1913 eine Gebühr für den Brandschutz. Vgl. Heller, Świetna Reprezentacyo!, S. 3. Ein Problem stellte sicherlich das konkurrierende Volkstheater dar, außerdem gab es weitere für Theaterveranstaltungen geeignete Säle mit günstigeren Eintrittspreisen. Vgl. Solarska-Zachuta/Michalik/Hałabuda, Teatr, S. 300 f. GL v. 6.1.1906. So etwa Wiktor Grabczewski, List otwarty do przyjaciół opery [Offener Brief an die Opernfreunde], Lwów 1906. So etwa auch die Kritik im SL v. 31.1.1901; vgl. auch Theaterkommission (Protokolle, DALO, f. 3, op. 1, spr. 3642, n. pag.). Dies führte dazu, dass er 1908–1912 die Inszenierung von Schauspielen vorübergehend an Pawlikowski weitergab. Vgl. DzL Nr. 19/1908, S. 432, mit der Genehmigung der Theaterkommission. Ebd. Heller, Świetna Reprezentacyo!, S. 6. Vgl. Kazimierz Ostaszewski-Barański, Sprawa Teatralna [Die Theater-Angelegenheit], Kraków 1908 (Sonderdruck aus Dziennik Polski Nr. 302, 304, 306), hiernach (S. 3) hatten sich 32 Ratsherren für eine Kündigung ausgesprochen.
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des Stadtpräsidenten an den Kommissionssitzungen teilnehmen durfte.206 Heller, der als einziger Bewerber übrig geblieben war, versprach wiederum, dass er zukünftig das einheimische Schauspiel stärker fördern und ausschließlich polnische Opern aufführen wolle, um gemeinsam mit der Theaterkommission eine neue glanzvolle Zeit des Lemberger Theaters einzuleiten.207 Mit der Entscheidung des Stadtrates, ein Theater zu bauen, war insgesamt die Vorstellung verbunden, dass es „der großen Hauptstadt des Landes würdig“ sein und den „sich steigernden geistigen Bedürfnissen“ entsprechen solle. Hierdurch würde es ein Zeugnis einer „gewissen höheren Bildung“ sein und zum „Stolz der Bürger unserer Stadt“ beitragen, hieß es in der Festschrift zur Eröffnung des Theaters,208 die so durchaus prägnant die leitenden national-polnischen Interessen und Hoffnungen ausdrückte. War die Art der Finanzierung durch eine Anleihe innerhalb des Stadtrates umstritten, so wurde das grundsätzliche Anliegen, ein repräsentatives Bauwerk zu schaffen, nicht infrage gestellt. Gerade die innergalizische Konkurrenzsituation zur alten Krönungs- und ‚geistigen Hauptstadt‘ Krakau, die ebenfalls ein neues Theater (1893) gebaut hatte, spornte die Ratsherren an, für die „große Hauptstadt“ ein mindestens ebenbürtiges, tatsächlich aber überdimensioniertes Theater zu schaffen, sodass auch die Abwerbung des Krakauer Theaterdirektors Pawlikowski in dieser Hinsicht beurteilt werden muss.209 Die Festschrift wie die Formulierung „nach den Ansprüchen der Zeit“ im Vertrag mit Pawlikowski deuteten nicht nur an, dass einerseits durch die Zunahme der Inteligencja aufgrund von Lembergs administrativer Funktion ein gebildeteres Publikum erwartet wurde, sondern dass vor allem die nationalisierende Bedeutung des Theaters für die Stärkung des „polnischen Charakters“ genutzt werden sollte.210 Nicht nur die historistische Architektur, sondern auch die Anordnung der Logen und Bestuhlung durch nur angedeutete Trennwände im Zuschauerraum und die künstlerische Ausgestaltung des Inneren weisen auf die damit verbundenen kulturpolitischen Zielsetzungen hin. Es ging darum, den „demokratischen“, also bürgerlichen Charakter des städtischen Theaters ebenso zu betonen wie den polnisch-nationalen. Deutlich wurde diese nationalpolitische Intention auch nach Einweihung des Theaters, indem die Theaterkommission bei den Genehmigungen des jeweiligen Repertoires darüber wachte, dass das Theater auf einem möglichst hohen Niveau funktionierte und seine nationale
206 GL v. 2.3.1912. 207 GL v. 29.3.1912. 208 „godnym wielkiej stolicy kraju“, „zwiększonych potrzeb duchowych jej mieszkańców“, „pewnego wyższego wykształcenia uczuć estetycznych ogółu“, „chlubę mieszkańcom naszego grodu“, Lityński, Pamiątkowy opis, S. 4. 209 W 30tą rocznicę otwarcia Teatru Wielkiego we Lwowie [Zum 30. Jahrestag der Eröffnung des Großen Theaters in Lemberg], Lwów 1930, S. 11. 210 „wymaganiom czasu“, DALO, f. 3, op. 1, spr. 4753, Bl. 21.
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Mission wahrnahm.211 Daher forderte sie stets – nicht zuletzt auch in den Verträgen mit den Theaterunternehmern – ein „nationales“ Programm mit „patriotischen“ und „historischen Stücken“.212 Der Rat sah sich daher durchgängig verpflichtet, alle Anstrengungen zu unternehmen, um das künstlerische Niveau der nationalen Bühne hochzuhalten, damit das Theater „unter keinen Umständen niedriger steht als andere polnische Bühnen und insbesondere als das Krakauer Theater.“213 Diese Forderung wurde immer wieder in sehr ähnlicher Form gestellt:214„Fest steht“, betonte die Theaterkommission etwa auch in einem Bericht, dass die hauptstädtische polnische Bühne vor allem der polnischen dramatischen Literatur dienen soll und [daher] in erster Linie die Verpflichtung hat, polnische Originalwerke aufzuführen, damit sie der einheimischen dramatischen Literatur den größten Nutzen bringt.215
Infolgedessen war es den Mitgliedern der Theaterkommission ein Anliegen, die Aufführung ‚klassischer‘ polnischer Stücke wie Dziady (Totenfeier) von Adam Mickiewicz, Kordian und Balladyna von Juliusz Słowacki, aber auch ausländischer Schriftsteller zu fordern.216 Zugleich war es den Stadträten wichtig, günstige Eintrittspreise zu verlangen, um möglichst breiten Schichten den Theaterbesuch zu ermöglichen.217 So beschloss etwa der Rat auf Initiative der Theaterkommission 1908, dass in den nachmittäglichen Sonntagsvorstellungen nur noch „nationale Stücke“ und Werke polnischer Autoren gegeben werden sollten.218 Auch sollte das Lemberger Stadttheater
211 212
DALO, f. 3, op. 1, spr. 3643, n. pag. (Theaterkommission im Dezember 1899). „narodowy“, „patriotyczne“, „historyczne sztuki“, so etwa in der Kritik an Pawlikowski, DALO, f. 3, op. 1, spr. 4474, Bl. 15 f. 213 „Teatr lwowski nie może pod żadnym względem stać niżej od innych scen polskich a choćby od teatru krakowskiego.“ DALO, f. 3, op. 1, spr. 3643, Bl. 82, bezüglich der Bewerbung Pawlikowskis. 214 Z. B. Bericht der Theaterkommission vom 19.1.1911, in: Korespondencja Ratuszowa [Rathauskorrespondenz] v. 21.1.1911, CDIAL, f. 146, op. 8a, spr. 202, Bl. 32. Dieselbe Forderung gab es auch in dem 1912 gültigen Krakauer Theatervertrag mit Pawlikowski, DALO, f. 3, op. 1, spr. 3644, Bl. 139. 215 „Niezawodna jest rzecz, że stołeczna scena polska służyć powinna przedewszystkiem polskiej literaturze dramatycznej i że ma obowiązek w pierwszym rzędzie przedstawiać oryginalne utwory, ażeby swojeskiej literaturze dramatycznej przysporzyć jak najwięcej dorobku.“ Sprawozdanie miejskiej komisyji teatralnej za czas od 1 października 1902 do 31 grudnia 1903 [Bericht der städtischen Theaterkommission für die Zeit vom 1. Oktober 1902 bis 31. Dezember 1903], o. O. [Lemberg] o. J. [1904], S. 2. 216 SP v. 7.2.1902. 217 CDIAL, f. 165, op. 2, spr. 600, Bl. 5 (Beschluss der Theaterkommission vom 5.6.1901, zwei Mal wöchentlich günstige Nachmittagsvorstellungen vorzuschreiben); DALO, f. 3, op. 1, spr. 3643 mit diversen entsprechenden Anträgen und Berichten der Theaterkommission. Entsprechend griff Heller dies in seinem Angebot 1903 auf: Heller, Prześwietna Rado! 218 „sztuki narodowe“, DzP Nr. 23 8 (1908), S. 546. Die Förderung polnischer Autoren war ein Petitum, so forderte der Rat 1912 die Theaterkommission dazu auf, Sorge zu tragen, dass jährlich eine gewisse Summe als Honorar für polnische Autoren vorgesehen würde. DzL Nr. 4/1912, S. 78.
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die Tradition des polnischen nationalen Theaters fortführen,219 indem etwa zu jedem nationalen Anlass und Jahrestag eine besondere Vorstellung gegeben wurde, so am 3. Mai, dem Jahrestag der Verfassung von 1791, und zum 29. November, dem Jahrestag des Ausbruchs des Novemberaufstands 1830.220 Wegen dieser nationalen Bedeutung des Theaters nahm die Theaterkommission ihre Aufsichtspflicht sehr ernst und war daher bemüht, den Spielraum des Theaterdirektors entsprechend eng zu gestalten.221 Allerdings stellte sich heraus, dass die Forderungen nach einem „nationalen“ Repertoire ein grundsätzliches Problem für das unternehmerisch geführte Theater darstellten: Der Theaterdirektor war auf den Publikumserfolg angewiesen, sodass er stets auf die beliebtere ‚leichte Kost‘ wie Operetten222 und populäre ausländische Stücke angewiesen war. Daher inszenierten beide Direktoren entgegen ihren Zusicherungen zahlreiche nichtpolnische Stücke, so waren zwischen 1906 und 1909 von insgesamt 420 aufgeführten Werken 55,27 Prozent „fremd“.223 Dies goutierte die Theaterkommission nicht, sondern forderte, „aus dem Repertoire die verdummenden Farcen und pornografischen Operetten zu streichen, damit das Theater ein nationales wird, unter bevorzugter Berücksichtigung der neuen, klassischen Autoren.“224 Mit dieser Haltung verbunden war die Forderung, dass auf der Bühne eine „saubere“ Sprache herrsche, die sich in „guten Gewohnheiten“ niederschlage, und damit die „Liebe zum Vaterland“ vermittele.225 Die häufigen Auseinandersetzungen über das Niveau und das Repertoire des Theaters wurden in die Öffentlichkeit getragen und in umfangreichen Zeitungskommentaren sowie nicht zuletzt in kleineren Broschüren fortgeführt.226 Ihre polnisch-nationale Wächterfunktion nutzte die Theaterkommission auch hinsichtlich ruthenischer Bestrebungen aus, Bühnenwerke in eigener Sprache zu inszenie219 Hein, Polnisches Theater. 220 DALO, f. 3, op. 1, spr. 3643 mit Berichten und Anträgen der Theaterkommission, n. pag. Vgl. auch Ze sprawozdania delegata, n. pag.; Heller, Prześwietna Rado! 221 Dies verdeutlichten etwa die Debatten über das Repertoire Hellers, vgl. GL v. 4.7.1908. 222 Operetten brachten die erwünschten Einnahmen, vgl. DALO, f. 3, op. 1, spr. 3644, Bl. 95. 223 Bei den Opern war das Verhältnis noch schlechter: Polnische Kompositionen machten lediglich einen Anteil von 12 Prozent aus, vgl. Sprawozdanie dyrekcji teatru miejskiego we Lwowie za okres od 1 lipca 1906 do 30 czerwca 1909 (dyrekcja Ludwika Hellera) [Bericht der städtischen Theaterdirektion in Lemberg für den Zeitraum vom 1. Juli 1906 bis zum 30. Juni 1909 (Direktion Ludwik Heller)], o. O. [Lemberg] o. J. [1909]. Vgl. auch 1903–1910. Statystyczne porównanie w Teatrze Miejskim we Lwowie [1903–1910. Statistischer Vergleich im Städtischen Theater in Lemberg], o. O. [Lemberg] o. J. [1910], in: DALO, f. 3, op. 1, spr. 3644, Bl. 94. 224 „usunięta zostanie z repertuaru ogłupująca farsa i pornograficzna operetka, że teatr będzie narodowym, ze szczególnem uwzględnieniem autorów nowych, klasycznych“, SP v. 31.1.1902. 225 „czystość“, „dobrych obiczajów“, „miłości ojczyzny“, Protokoll der Theaterkommission, 1900: DALO, f. 3, op. 1, spr. 3643, n. pag.; vgl. auch DzL Nr. 4/1912, S. 78, 91. 226 Drexler, Wielki Lwów, und Henryk Cepnik, Dokąd dążymy?! W sprawie Teatru Lwowskiego. Głos bezstronny pod rozwagę krytyków i nie-krytyków [Wohin wollen wir?! In der Angelegenheit des Lemberger Theaters. Eine neutrale Stimme unter der Berücksichtigung von Kritikern und Nicht-Kritikern], Lwów 1909.
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ren.227 So berichtete sie im Jahresrückblick der ersten Spielzeit 1902 kritisch, dass von 111 aufgeführten Stücken im Städtischen Theater vier ruthenisch gewesen seien, die allerdings nicht durch den Theaterdirektor Pawlikowski, sondern von der Lemberger ruthenischen Truppe aufgeführt worden seien.228 Um ruthenische, aber auch vor allem italienisch-, französisch- und russischsprachige Aufführungen zu vermeiden, beinhalteten die Verträge mit Pawlikowski und Heller ein explizites Gebot, alle Vorstellungen in polnischer Sprache aufzuführen; über Ausnahmen musste der Rat entscheiden.229 So lehnte dieser etwa 1912 die Untervermietung des Theaters an eine ruthenischsprachige Truppe ab.230 Die fehlende Akzeptanz des ruthenischen Theaters durch den Stadtrat greift hierbei auf eine lange Tradition zurück,231 da es seit 1864 Bestrebungen gab, ruthenischsprachige Theaterstücke zu inszenieren, welche die Landesbehörden unterstützten.232 Beispielsweise stellte Dilo anlässlich des 25. Jubiläums des von dem Verein Rus′ka Besida (Ruthenisches Gespräch) gegründeten Ruthenischen Volkstheaters 1889 erfreut fest, dass dieses Jubiläum die ruthenische Lebenskraft beweisen würde. Während die Ruthenen das Theater stets als sehr wichtig empfunden hätten, seien die „polnischen Chauvinisten“ immer dagegen eingestellt gewesen. Ein frühes Beispiel sei, so Dilo, etwa der vom Stadtrat abgelehnte Antrag Julijan Lavrovs′kyjs aus dem Jahr 1866 für die jährliche städtische Subvention des ruthenischen Theaters von 3.000 Gulden gewesen, weil die Polen das „lebendige ruthenische Wort“ gefürchtet hätten.233 Nachdem es seit den 1890er Jahren von dem ruthenischen Bildungsverein Prosvita (Aufklärung) initiierte Sammlungen für ein ruthenisches Volkstheatergebäude gegeben hatte, wurde im Juni 1903 eine Delegation beim Stadtpräsidenten und seinem Stellvertreter vorstellig. Letztere versprachen laut Dilo, sich für einen Zuschuss zum 227 Entsprechend werden in den Jahresberichten der Theaterkommission immer wieder Statistiken mit der Herkunft der Stücke pro Sparte vorgelegt; vgl. etwa SP v. 31.1.1902. Überblick über das ruthenische Theater in Lemberg 1864–1873: Got, Theater, S. 667–682, hiermit verbanden sich zunächst noch Hoffnungen, dass sich nationale Konflikte durch das Theater abmildern ließen oder auflösen würden (ebd., S. 670). 228 Vgl. GL v. 30.1.1902; DALO, f. 3, op. 1, spr. 4626, n. pag., wonach Pawlikowski im Juli 1901 dem ruthenischen Theaterdirektor günstige Konditionen für Gastspiele anbot, weil, so dessen Begründung, man die „Mitbrüder“ („współbraciom“) empfangen solle, damit sie das polnische Theater anerkennen. Tatsächlich mag es sich aber um Bestrebungen gehandelt haben, zusätzliche Einnahmen zu generieren. Die Vereinbarung wurde auch durch die städtische Theaterkommission gebilligt. 229 DALO, f. 3, op. 1, spr. 3644, Bl. 126 und spr. 4753 (der 1903 geänderte Vertrag mit Pawlikowski, § 19). Heller ging mit seinem Angebot von 1906 noch weiter: Er wolle auch nur polnische Kräfte für die Oper beschäftigen: Ludwik Heller, Oferta [Angebot], o. O. [Lemberg] o. J. [1906]. 230 DzL Nr. 3/1912, S. 60. 231 Vgl. für die Frühphase: Stanisław Schnür-Pepłowski, Teatr Ruski w Galicji [Das ruthenische Theater in Galizien], Lwów 1883. 232 CDIAL, f. 65, op. 5a, 102, Bl. 4, das ruthenische Theater erhielt seit 1893 eine Landesunterstützung. 233 „živoho rus′koho slova“, „šovinictov′ pol′skich′“, Dilo v. 14.(26.)3.1889. Dagegen hatten die polnischen Schauspieler wohl keine Berührungsängste: Sie schickten eine Delegation und ein Geschenk zur Jubiläumsfeier. Vgl. Dilo v. 15.(27.)3.1889.
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Bau des ruthenischen Theaters einzusetzen, sofern es einen Vorschlag für einen geeigneten Bauplatz gebe.234 Die Zusage der Stadtspitze war jedoch eine halbherzige, denn als Ende des Jahres ein Grundstück gefunden worden war, führten beide Repräsentanten der Stadt keinen entsprechenden Ratsbeschluss herbei. Der Stadtrat forderte dagegen, dass für den Straßenbau um das Gelände herum 16.000 Kronen an die Stadtkasse gezahlt und Teile des Grundstücks zur Refinanzierung verkauft werden sollten. Dies kritisierte die polnische Presse scharf, weil sie in einem Grundstücksverkauf finanzielle Vorteile für die Ruthenen sah.235 Das Projekt scheiterte letzten Endes nicht allein an diesen finanziell-administrativen Vorgaben, sondern auch an Streitigkeiten innerhalb der ruthenischen Nationalbewegung und auch daran, dass es noch nicht ausreichend unterstützendes Publikum gab. Schließlich fanden Aufführungen im Ruthenischen Nationalhaus statt.236 In dem Verhalten der Theaterkommission resp. des Stadtrates wird der Versuch deutlich, die ruthenischen kulturellen Bedürfnisse zu marginalisieren, wenn nicht gar zu ignorieren. Dieser Haltung entspricht etwa auch die Innenausstattung des Städtischen Theaters, da die Ruthenen in der Innendekoration nur als Bauern, nicht aber als gleichwertige Nation dargestellt werden.237 Hatte der Stadtrat bewusst die langjährigen Versuche, ein ruthenisches Theater zu etablieren, erschwert, so zeigten sich im Theaterbau und -betrieb auch antisemitische Vorurteile. Nicht nur der erwähnte Hinweis auf die abzureißenden „jüdischen Bruchbuden“ hinter dem Theater (vgl. Kap. 4.3.1) offenbarte diese Haltung, sondern auch die erwähnte Debatte über die Vergabe der Malerarbeiten an den Juden Fleck (s. Kap. 4.3.1). Vor allem die ständig geäußerte Kritik an der Operette offenbarte antisemitische Haltungen. Grundsätzlich galten Operetten als ‚jüdisch‘, und dies nicht nur wegen der Herkunft populärer Komponisten, sondern auch wegen des zahlreichen jüdischen Publikums.238 Daher sollten, so die Erwartung des Rates 1900, zukünftig nicht mehr vier Mal wöchentlich Operetten gegeben werden, da sonst eine Familie aus der Provinz anlässlich ihres Aufenthaltes in der Stadt ihre „nationalen Töchter“ nicht mehr ins Theater ausführen könne.239 Die antisemitische Grundhaltung wurde etwa in der
234 Dilo v. 21.6.(4.7.)1903 und v. 28.7.(10.8.)1903. 235 Dilo v. 28.2.(12.3.)1904, vgl. auch Ruthenische Revue 1 (1903), Nr. 3; hiernach werde das ruthenische Theater jährlich mit 14.500 kr. unterstützt. Laut Dilo v. 6.(19.)10.1904 hatte der Landtag eine Subvention nur zugesagt, wenn ein geeignetes Grundstück vorhanden sei. 236 Ther, Bühne, S. 458; Got, Theater, Bd. 2, S. 767–782; Hugo Lane, The Ukrainian Theater and the Polish Opera: Cultural Hegemony and National Culture, in: John Czaplicka (Hrsg.), Lviv. A City in the Crosscurrents of Culture, Cambridge/MA 2005, S. 149–170, stellt dies pointiert dar, insb. S. 157–164. 237 Ther, Bühne, S. 547; Lane, Ukrainian Theater, S. 150. 238 Dieses Vorurteil entstand seit dem Erfolg Jacques Offenbachs, Franz Lehárs und Imre Kálmáns, vgl. Ther, Mitte, S. 239, S. 403. Ein grundlegendes Problem war auch, dass die Operettenlibrettos teilweise als frivol galten, weil sie häufig die gängigen Wertnormen übertraten, Wypych-Gawrońska, Lwowski teatr, S. 269. 239 „narodowych córek“, GL v. 7.7.1900.
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anonymen Flugschrift eines „Freundes der Lemberger Kunst“240 deutlich, der kritisierte, dass sich die Lemberger polnische Bevölkerung nicht ins Theater begebe. Daher würde es vor allem von der Lemberger „jüdischen Bourgeoisie“ finanziert, welche gern ins Theater ginge und sich vor allem Gesangsstücke wünsche, sodass sich Heller, aber auch jeder andere Theaterdirektor diesen Wünschen beugen müsse.241 Insgesamt betrieb der Stadtrat eine Theaterpolitik, die bestrebt war, aus dem städtischen ein polnisches Nationaltheater, ein „wirkliches Heiligtum der nationalen Kunst“242 zu machen. Bedenkt man, dass die Warschauer Bühne unter dem Druck der Russifizierung wirkte, entspricht dieses Bemühen dem von den kommunalpolitischen Akteuren gepflegten Verständnis als polnische Ersatzhauptstadt (s. Kap. 6) und dem Bestreben, in kultureller Hinsicht nicht nur zu Krakau aufschließen, sondern es zu übertrumpfen. Dass diese Bedeutung auch außerhalb Lembergs anerkannt wurde, verdeutlichen zahlreiche Glückwunschtelegramme zur Eröffnung, die betonten, wie wichtig eine Verbindung von Theater und politischen Interessen sei.243 Es ging dem Stadtrat also einerseits darum, ein weiteres Prestigeobjekt im Konkurrenzkampf mit Krakau vorweisen zu können, und andererseits darum, über die Theaterpolitik den polnischen nationalen Führungsanspruch in Lemberg zu verdeutlichen und über die Marginalisierung ruthenischer Bestrebungen auch zu festigen.244 5.2.2 Die Städtische Galerie als „Arsenal polnischer Kultur“ Dieser Führungsanspruch war eng mit dem Bestreben verbunden, als moderne Großstadt zu fungieren. Auf kulturellem Gebiet umfasste dieser Anspruch neben dem eigenen Theater schließlich auch ein Kunstmuseum, in dem polnische Kunst ausgestellt werden sollte. Obwohl bereits zu Beginn der 1860er Jahre Vertreter der Inteligencja über die Gründung einer Kunstsammlung diskutierten245, begann der Stadtrat erst un-
240 Przyjaciel sztuki lwowskiej [Freund der Lemberger Kunst], Dyrekcja teatru lwowskiego [Die Direktion des Lemberger Theaters], o. J. [wahrscheinl. nach 1906]. In dieser Schrift forderte der „Freund der Lemberger Kunst“ die Lemberger polnische Bevölkerung auf, zahlreicher ins Theater zu gehen, weil es eine „einheimische Angelegenheit“ („sprawa domowa“) sei, n. pag. 241 „burżuazja żydowska“, ebd. Relevant war, dass mit einem hohen Bevölkerungsanteil von fast einem Drittel das jüdische Publikum für die Theaterunternehmer ein wichtiger Adressat war. Jedoch schreckte der Antisemitismus dieses zunehmend von Theaterbesuchen ab. Vgl. Ther, Mitte, S. 240, 255. 242 „prawdziwą świątynią narodowej sztuki“, Ratsantrag zur Berufung Pawlikowskis im April 1900, DALO, f. 3, op. 1, spr. 3643, Bl. 82–85. 243 So z. B. die Telegramme des Vereins Sokół (Falke) in Borszczów, der Politiker Gołuchowski und Ignacy Paderewski, vgl. die komplette Akte DALO, f. 3, op. 1, spr. 4475. 244 DALO, f. 3, op. 1, spr. 3643, Bl. 82–85; Ther, Stadt, S. 108, 118 f. 245 Mieczysław Treter, Nowsze malarstwo polskie w Galeryi Miejskiej we Lwowie [Neuere polnische Malerei in der städtischen Galerie in Lemberg], Lwów 1912, S. 5.
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ter dem Einfluss der Allgemeinen Landesausstellung 1894 (s. Kap. 6.2.1) und der in ihr gezeigten polnischen Kunstwerke, sich zunehmend mit der Idee eines polnischen Kunstmuseums auseinanderzusetzen. In dem sich aus der Landesausstellung ergebenden Elan erwarb der Stadtrat trotz der schlechten Finanzlage einige Kunstwerke, darunter das letzte Gemälde des polnischen Malers Jan Matejko (Śluby Jana Kazimierza / Das Gelöbnis Johann Kasimirs, 1893), das in enger Verbindung mit der Lemberger Geschichte246 steht, und das 1894 ausgestellte Panorama von Racławice der Maler Wojciech Kossak und Jan Styka. Trotz dieser ersten Ankäufe veränderte der Stadtrat nur schrittweise seine Haltung gegenüber der Bedeutung, die einer Kunstsammlung für eine moderne Stadt zugeschrieben wurde. Der städtische Archivar Aleksander Czołowski sah daher erst in der Retrospektive im Jahr 1905 einen Wendepunkt.247 Seit der Jahrhundertwende nahm hinsichtlich einer zu gründenden Kunstsammlung das Engagement von Ratsvertretern zu und hing nicht zuletzt mit dem steigenden politischen Gewicht des Kunstliebhabers Tadeusz Rutowski zusammen, der von 1905 bis 1914 Vizepräsident der Stadt war. Unter seinem Einfluss begann der Stadtrat nach und nach, die Bedeutung von Museen als „Arsenale nationaler Kultur“ zu erkennen.248 Daher engagierten sich neben Rutowski, der nach der Eröffnung der Städtischen Galerie (Galerya miejska) Vorsitzender ihres Verwaltungsrates wurde,249 die Stadtpräsidenten und ihre Vertreter, allen voran Michał Michalski, Stanisław Ciuchciński, Józef Neuman, Marceli Chlamtacz und Leonard Stahl, besonders für kulturelle Angelegenheiten. Die Stadt Lemberg wurde so zum Kunstmäzen und konnte bis 1914 mit einer partiellen Ko-Finanzierung durch Land und Reich250 die Städtische Galerie als Kunstsammlung aufbauen, die von Lemberger Kunsthistorikern pro domo trotz aller Kritik an dem Sammlungsbestand bereits 1914 als wichtigste polnische Sammlung nationaler Kunst bezeichnet wurde.251 246 In Lemberg fand am 1. April 1656 das Gelöbnis des Königs Jan II. Kazimierz Waza unter dem Bild der Gütigen Mutter Gottes statt, das als Initial für die Rückereroberung Polens von der schwedischen „Sintflut“ (Potop) und russischen Besatzung 1655–1660 gesehen wird. 247 Czołowski, Muzea gminy, S. 14 f. 248 „arsenałów kultury narodowej“, Czołowski, Zbiory, S. 6; vgl. zu seinem Einfluss auf die Kulturpolitik Michał Rolle, Tadeusz Rutowski. Pomnożyciel kultury lwowskiej [Tadeusz Rutowski. Vermehrer der Lemberger Kultur], Lwów 1932; mit einem distanzierteren, aber dennoch durchaus wohlwollenden Urteil: Henryka Kramarz, Tadeusz Rutowski. Portret pozytywisty i demokraty galicyjskiego [Tadeusz Rutowski. Portrait eines galizischen Positivisten und Demokraten], Kraków 2001, S. 86–108. 249 CDIAL, f. 146, op. 8a, spr. 202 mit der Korespondencja Ratuszowa [Rathauskorrespondenz v. 11.11.1908], n. pag. 250 Beispielsweise hatte die Städtische Galerie im Finanzplan für 1914 ein Gesamtbudget für Ankäufe von 165.000 kr. (davon 30.000 vom Land und 20.000 vom Reich) zur Verfügung gestellt bekommen. Vgl. GL v. 30.1.1912. 251 Strasburger, Gospodarka, S. 57. Diese Haltung ist nicht nur einem gewissen Lokalpatriotismus verpflichtet, sondern liegt darin begründet, dass es einzig in Galizien möglich war, umfassend polni-
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Abb. 20 Stadtpräsident Michał Michalski, Quelle: Nowości Illustrowane vom 20.4.1907
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Abb. 21 Stadtpräsident Józef Neuman[n], Quelle: Nowości Illustrowane vom 12.7.1906
Für die Ankäufe von Kunst wurden seit 1902 trotz der Ressourcenknappheit im Budget entsprechende Positionen vorgehalten und beispielsweise 1905 erstmals eine umfassendere Sammlung mit 59 Skizzen, Zeichnungen und Gemälden polnischer Maler angekauft. Für Rutowski, der sich gleichsam als Sprecher der Kunstliebhaber im Stadtrat stilisierte, war es Hauptziel, neben dem „Nationalmuseum“, d. h. dem Historischen Museum der Stadt, eine Galerie polnischer Kunst zu etablieren, die zu einem „Gravitationspunkt“ des städtischen Lebens werden sollte.252 Mit dieser Haltung stand Rutowski nicht allein. Die Kritiker des bisherigen Zustandes der Kunstsammlung betonten, dass die Sammlungen ganz und gar nicht der Bedeutung Lembergs als Hauptstadt Galiziens gerecht würden und daher mehr Ressourcen dafür eingesetzt werden müssten. Letzten Endes verfolgte der Stadtrat aber eine eher unsystematische, daher scharf kritisierte Ankaufspolitik, die aber auch Aufschluss über ein unterschiedliches Ver-
sche Kunst mit öffentlichen Mitteln zu sammeln, und sich die Krakauer Sammlungspolitik nicht auf die zeitgenössischen polnischen Maler konzentrierte. 252 „punktem grawitacyjnem“, Tadeusz Rutowski, W sprawie Galeryi miejskiej [In der Angelegenheit der Städtischen Galerie], Lwów 1908, S. 77, 98.
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ständnis von „Patriotismus“ gibt.253 Obwohl es sein Ziel war, vor allem eine Sammlung polnischer Kunst seit der Epoche Stanisław Augusts aufzubauen, kaufte er zugleich Werke alter europäischer Meister an. Das Wachstum der Bestände verdankte die Städtische Galerie auch einer ehrgeizigen, teilweise zugleich höchst zweifelhaften Ankaufspolitik mit „Expeditionen“254 ins Russländische Reich, die sich die nachrevolutionären Wirren vor allem in Podolien und Wolhynien zunutze machten. Einen Skandal mit Diskussionen über die tatsächliche kunsthistorische Kompetenz des Stadtrates provozierte schließlich 1907 der Ankauf der Sammlung des Jan Jakowicz aus Sitkowice, das im Russländischen Reich lag. Die 225.000 Kronen kostende Sammlung mit 360 Bildern u. a. von Tintoretto, van Dyck, Rembrandt und 2.000 kunsthandwerklichen Objekten255 wurde auf Antrag Rutowskis in einer nichtöffentlichen Sitzung verhandelt. Diese Sammlung wurde durch eine kleine Kommission vor allem mit Rutowski und Czołowski vor Ort angekauft und nach Galizien geschmuggelt, aber direkt nach der ‚Einfuhr‘ in einem Katalog bekannt gemacht und vorübergehend ausgestellt, obwohl die Städtische Galerie noch kein eigenes Gebäude hatte.256 Als sich herausstellte, dass der zur Sammlung gehörende Raffael (wie wohl einige andere Werke auch) eine Fälschung war, wurde dieser Ankauf vor allem von den Lemberger Kunsthistorikern scharf kritisiert. Czołowski verteidigte den Kauf mit dem Argument, dass das Bild Raffaels zum Besitz des polnischen Königs Stanisław August gehört habe. Die Kunsthistoriker, etwa der Lemberger Kunsthistoriker, Philosoph und Künstler Marian Olszewski, warfen dem Rat vor, mit städtischen Mitteln lieber einen falschen Raffael und drei herausragende Fälschungen Rembrandts zu kaufen, als Geld für die „vaterländische Kunst“ auszugeben.257
So zumindest die Kritik in Bronisław Czarnik, A cóż dla Lwowa. Kilka uwag na czasie [Was bleibt für Lemberg. Einige zeitgemäße Anmerkungen], Lwów 1906, S. 14; vgl. Marian Olszewski, Quousque tandem … w sprawie miejskiej galeryi [Quousque tandem … in der Angelegenheit der städtischen Galerie], Lwów o. J. [1908], S. 19. 254 So die Bezeichnung der Ankaufswege durch Rutowski, vgl. Rutowski, W sprawie, S. 51–73. 255 Henryka Kramarz, Mecenat artystyczno-kulturalny samorządu miejskiego we Lwowie u schyłku czasów autonomicznych [Das künstlerisch-kulturelle Mäzenatentum der städtischen Selbstverwaltung am Ende der Autonomiezeit], in: Kazimierz Karolczak (Hrsg.), Lwów. Miasto, społeczeństwo, kultura. Studia z dziejów Lwowa [Lemberg. Stadt, Gesellschaft, Kultur. Studien aus der Geschichte Lembergs], Kraków 1995, S. 90–98, hier: S. 92. 256 1907 wurde ein provisorischer Bestandskatalog publiziert, in dem auch vor kurzem erfolgte Ankäufe in Podolien und Wolhynien (also aus den russländischen Gebieten) verzeichnet wurden. Hierbei nutzte der Stadtrat das dort entstandene Machtvakuum nach der Revolution 1905 aus: Galerya Miejska. Przewodnik tymczasowy [Die Städtische Galerie. Ein vorläufiger Führer], Lwów 1907. 257 „sztuka ojczysta“, Kramarz, Rutowski, S. 51; Aleksander Czołowski, W sprawie Galeryi Miejskiej. Odpowiedź Prof. Dr. Janowi Bołoz Antoniewiczowi [In der Angelegenheit der Städtischen Galerie. Eine Antwort auf Prof. Dr. Jan Bołoz Antoniewicz], Lwów 1907, S. 7; Olszewski, Quousque, S. 21 f. und S. 27; vgl. auch die Schilderung der Ankaufspolitik „auf Lembergische Art“ („po lwowsku“): Natala Filewicz, Do historii stworzenia Lwowskiej Galerii Obrazów [Zur Geschichte der Schaffung der Lemberger Bildergalerie], 1997, URL: www.lwow.com.pl/brama/galeria/galeria. html (1.4.2019). 253
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In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg stellte der Stadtrat wichtige Weichen für die weitere Entwicklung der rasant wachsenden Sammlung. War die Städtische Galerie zunächst im 1905 eröffneten Gebäude des Industriemuseums258 untergebracht worden, beschloss der Stadtrat nun, sie in dem Palais des Kunstsammlers, Publizisten und Historikers Władysław Łoziński gegenüber dem Nationalinstitut (Bibliothek) Ossolineum unterzubringen, nachdem eine Delegation Anregungen für ihre Errichtung in Dresden, Berlin und Wien eingeholt hatte.259 Für ihre weitere Entwicklung war bedeutend, dass der Stadtrat 1912 eine Satzungsänderung beschloss, wonach sie nun auch Gegenwartskunst sammeln sollte, während das 1879 gegründete Krakauer Nationalmuseum nur alte Meister bis zur Zeit von Jan Matejko sammelte.260 Hierdurch konnten neben dem National- und Historienmaler Matejko auch ‚neue Meister‘ wie Artur Grottger und Stanisław Wyspiański ebenso wie Werke von Franciszek Żmurko, Jacek Malczewski u. a. angekauft werden. Durch diesen Schwerpunkt wollte sich der Stadtrat im Wettbewerb mit Krakau positionieren und als fortschrittlicher stilisieren. Er konnte so auch demonstrieren, dass die Kunst in Lemberg gegenwärtig auf einem hohen, sogar höheren Niveau als früher stehe. Anlässlich der Änderung der Museumsstatuten wurde daher befriedigend festgestellt, dass die Städtische Galerie bereits 607 Werke zeitgenössischer Maler, davon 40 von Matejko besitze. Es seien Werke von 200 polnischen Meistern sowie 237 internationale und 146 Werke der polnischen „Primitiven“ bis 1850 im Sammlungsbesitz.261 Bereits 1907 wurde daher die Forderung an die Städtische Galerie formuliert, dass „sie uns [den Polen] unsere polnische Tradition in der Kunst vor Augen führen und den nationalen Charakter bewusst machen soll“262 – die Städtische Galerie war folglich die Vermittlerin der „vaterländischen Kunst“ in die städtische Gesellschaft hinein und als „Arsenal“ Verteidigerin des „polnischen Charakters“ Lembergs auf dem Gebiet der Kunst. 5.2.3 Das Historische Museum als Ausweis der historischen Mission Insgesamt sah sich der Rat als Repräsentanz der Hauptstadt verpflichtet, durch eine gezielte Förderung und Errichtung von Museen als Bildungseinrichtungen das polnische kulturelle Erbe zu vermitteln. Jedoch entwickelte er diesen Selbstanspruch im
258 Ostaszewski-Barański, Pogląd, S. 145 f. Seit 1877 war dem Industriemuseum eine Kunstgewerbeschule angeschlossen, ein Jahr später wurde es im Gebäude des Rathauses untergebracht. 259 Kramarz, Rutowski, S. 93 f. 260 GL v. 30.1.1912. 261 Treter, Malarstwo, S. 41; Kramarz, Mecenat, S. 92 ff.; GL v. 30.1.1912. 262 „winna nam stawiać przed oczy naszą polską tradycyę w sztuce, uświadamiać nam nasz narodowy charakter“, Olszewski, Quousque, S. 28.
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5 Städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen
Vergleich zu Krakau erst spät und weniger intensiv.263 So unterstützte der Stadtrat die Gründung des 1903 von der Lehrervereinigung initiierten polnischen Schulmuseums in Lemberg, indem er 1907 kostenlos Räumlichkeiten zur Verfügung stellte.264 Bereits 1882 hatte er die Gründung eines Kunstgewerbemuseums angeregt, das bis 1905 im Rathaus untergebracht war. Dagegen sollte das 1873 gegründete Industriemuseum der beruflichen Ausbildung dienen. Wurde die Städtische Galerie als ein „Arsenal“ polnischer Kunst gesehen, so galt ein historisches Museum als Ausweis von „toutes les valeurs culturelles et nationales“265, als Leistungsschau polnischer Geschichte. Daher unternahm der Stadtrat große finanzielle und organisatorische Anstrengungen hinsichtlich der Gründung des Historischen Museums. Die Anfänge der Sammlung standen in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Stadtarchivs. Die Initialzündung ging 1890 vom Historikertag in Lemberg266 aus, auf dem eine systematische Bearbeitung der älteren Geschichte Polens und eine Abkehr vom „Subjektivismus der letzten 20 Jahre der Krakauer Schule“267 gefordert wurden. Der Lemberger Historiker und Leiter der Universitätsbibliothek, Dr. Aleksander Semkowicz, regte in einem Diskussionsbeitrag über die allgemeinen Ergebnisse der Zusammenkunft eine Edition der wichtigsten Quellen des Lemberger Stadtarchivs an und appellierte an den Stadtrat, entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen, auch um die Überlieferung der vom Verfall bedrohten Quellen zu gewährleisten.268 Die fol-
263 Stefan Ciara, Archiwa a uniwersytety w Krakowie i Lwowie w latach 1877/78–1918 [Archive und Universitäten in Krakau und Lemberg 1877/78–1918], Warszawa 2002, S. 129–134. 264 CDIAL, f. 165, op. 2, spr. 601; DALO, f. 3, op. 1, spr. 4660; VII. sprawozdanie zarządu polskiego muzeum szkolnego we Lwowie za czas od 1 kwietnia 1909 do 31 marca 1910 [VII. Bericht der Verwaltung des polnischen Schulmuseums in Lemberg für die Zeit vom 1. April 1909 bis zum 31. März 1910], Lwów 1910. 265 Czołowski, Muzea, S. 44. 266 Dies war der erste Historikertag, der durch die Polnische Gesellschaft der Historiker (Polskie Towarzystwo Historyków) organisiert wurde, die 1886 in Lemberg gegründet worden war. Jedoch wurde 1890 diese Versammlung als „zweite“ deklariert, weil es 1880 bereits in Krakau eine Zusammenkunft der Historiker gegeben hatte, die von der Krakauer Akademie der Wissenschaften (Akademia Umiejętności) anlässlich des 400. Todestags des Chronisten Jan Długosz organisiert worden war. Ausführliche Tagungsberichte: GL v. 18.–22.7.1890. Vgl. auch Lidia Michalska-Bracha, Lwowskie Muzeum Historyczne. Idea – ludzie – zbiory (do 1914 r.) [Das Lemberger Historische Museum. Ideen – Leute – Sammlungen (bis 1914)], in: Kazimierz Karolczak / Łukasz Tomasz Sroka (Hrsg.), Lwów. Miasto – społeczeństwo – kultura [Lemberg. Stadt – Gesellschaft – Kultur], Bd. 7 Urzędy – urzędnicy – instytucje [Ämter – Beamte – Institutionen], Kraków 2010, S. 397– 409. 267 „odrzuca subjektywizm, utworzonej w ostatniem 20-leciu szkoły krakowskiej“, GL v. 20.7.1890. Die Historiker der Krakauer Schule, deren wichtigster Vertreter Michał Bobrzyński war, kritisierten seit den 1860er Jahren das romantisch-nationale Geschichtsbild, das vor allem von Joachim Lelewel geprägt wurde. Vgl. Landgrebe, Polen, S. 86. 268 GL v. 20.7.1890; vgl. auch Aleksander Czołowski, W sprawie umieszczenia archiwum i muzeum historycznego miasta Lwowa [In der Angelegenheit der Unterbringung des Archivs und des historischen Museums der Stadt Lemberg], Lwów 1905, S. 4; vgl. Tadeusz Rutowski, Memoryał ankiety w sprawie pomieszczenia archiwum muzeum historycznego miasta Lwowa [Memorandum der
5.2 Auf- und Ausbau polnischer Kulturinstitutionen
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genden Diskussionen der Tagungsteilnehmer zeigten, dass das seit Langem vollkommen vernachlässigte Stadtarchiv zunächst dringend reorganisiert werden müsse, bevor man zu einer solchen Edition kommen könne.269 Aus dieser Kritik erwuchs schließlich im Januar 1892 der Ratsbeschluss, das kommunale Archiv neu zu organisieren und für dessen Ausbau auch Personal einzustellen, denn bislang hatten sich in einem einzigen Raum im Rathaus alle Akten und sonstigen historischen Gegenstände angesammelt.270 Das Archiv sollte einen geeigneten Raum erhalten. Ein Archivar, der seine Schwerpunkte in der polnischen Geschichte oder Rechtsgeschichte haben sollte, und Assistenten sollten angestellt sowie eine fünfköpfige Archivkommission berufen werden. Zunächst sollte diese ein Statut für das Archiv erstellen.271 Dieser Beschluss führte dazu, dass die weitere Initiative auf den engagierten, ehrgeizigen jungen Historiker Aleksander Czołowski überging.272 Er überzeugte den Stadtrat, ein historisches Museum zu gründen, weil Lemberg bislang keine eigene Sammlung an historischen Objekten hatte. Hierdurch entstand die Konstruktion eines Stadtarchivs, das zugleich als historisches Museum diente. Czołowski begann sofort, das Archiv und relevante bibliothekarische Bestände aufzubauen, denn zuvor hatte die Sammlung des Archiv-Museums lediglich zwölf Bücher, aber kein Kunstwerk und kein museales Ausstellungsstück umfasst.273 Um weitere Verluste noch vorhandener Erinnerungsstücke und Dokumente der „ruhmvollen historischen Vergangenheit“ zu vermeiden und aus dem Archiv-Museum alsbald eine „Schatzkammer der Andenken Lembergs“ zu ma-
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Untersuchung bezüglich der Unterbringung des Archivs und historischen Museums der Stadt Lemberg], Lwów 1905; Gutachten der Lemberger Archiv- und Bibliotheksdirektoren zur Unterbringung: Kierownicy archiwów i bibliotek lwowskich [Die Leiter der Lemberger Archive und Bibliotheken], Świetna Rado miejska! [Geehrter Stadtrat!], Lwów 1905. Papée forderte, dass zur „Erklärung der historischen Wahrheit“ die „Kenntnis der schönen Traditionen der Lemberger Bürger beider Nationalitäten“ gefördert werden müsse: „poznanie pięknych tradycji obywateli lwowskich obu narodowości rozjaśni prawdę dziejową“, GL v. 20.7.1890. Zur Vernachlässigung des Stadtarchivs seit den 1860er Jahren vgl. Karol Bardecki, Archiwum miasta Lwowa, jego stan obecny, oraz potrzeby reorganizacyjne, inwentaryzacyjne i wydawnicze [Das Stadtarchiv Lembergs, sein gegenwärtiger Stand sowie Notwendigkeiten der Reorganisation, Inventarisierung und Publikation], in: Archeion 12, 1934, S. 90–109. Czołowski, Muzea, S. 14; Bardecki, Archiwum, S. 112–116; vgl. auch Stefan Ciara, Archiwa lwowskie w dobie autonomii Galicji [Die Lemberger Archive während der Autonomieperiode Galiziens], in: Jerzy Maternicki / Leonid Zaszkilniak (Hrsg.), Wielokulturowe środowisko historyczne Lwowa w XIX i XX w. [Multikulturelles historisches Umfeld Lembergs im 19. und 20. Jh.], Bd. 2, Rzeszów 2004, S. 107–120, hier: S. 114 ff. GL v. 31.1.1892. Czołowski, Muzea, S. 12, benennt bereits das Jahr 1891 als Zeitpunkt der Reorganisation. Kurze Biografie: Józef Zieliński, Aleksander Czołowski w czterdziestolecie pracy archiwalnej, konserwatorskiej i naukowej 1891–1931, in: Karol Bardecki (Hrsg.), Studia lwowskie [Lemberger Studien], Lwów 1932, S. 366–385. Czołowski, Zbiory, S. 6. 1905 waren es bereits 5.000 Bände und ca. 1.000 Kunstwerke resp. Ausstellungsobjekte, vgl. Czarnik, A cóż, S. 6.
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5 Städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen
chen, wandten sich Czołowski und Stadtpräsident Edmund Mochnacki Ende 1892 an „die patriotische Bevölkerung Lembergs und alle, denen die Entwicklung des Museums am Herzen liegt.“274 Da die stolze, historische Stadt Lemberg über Generationen ihre historischen Sammlungen vernachlässigt habe, riefen sie nun dazu auf, jedwede Form von Gegenständen, die mit der Vergangenheit Lembergs verbunden waren, den städtischen Sammlungen als Geschenk, Verkauf oder Depositum zur Verfügung zu stellen.275 Zu den ersten Objekten zählte 1891 das angekaufte Bild Jan Stykas über die Verfassung vom 3. Mai.276 Mit dem Aufbau der Sammlung wurde über Deposita anderer Museen und einiger Privatpersonen, u. a. des Vorsitzenden des Koło konserwatystów Galicyi wschodniej (Fraktion der ostgalizischen Konservativen, die sog. Podolaken) Stanisław Łoziński, aber auch über in den Büros des Rathauses gefundene Objekte begonnen. Ab 1893 war die Sammlung zunächst in den Räumlichkeiten des Stadtarchivs unter der Bezeichnung Städtisches Historisches Museum (Miejskie Muzeum Historyczne) untergebracht. Wie schleppend – im Gegensatz zu den eher euphorischen Rückblicken Czołowskis über deren Entwicklung – sich sowohl das Archiv als auch das Historische Museum entwickelten, zeigt sich daran, dass die Archivkommission erst 1897 das Statut277 erarbeitete. Auch hatte der Magistrat immer noch keine entsprechenden Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Der räumliche Zustand des Archiv-Museums war trotz Czołowskis Engagement daher beklagenswert,278 denn es war noch 1906 in zwei Erdgeschossräumen des Rathauses mit „Souterraincharakter und Kelleratmosphäre“ untergebracht.279 Selbst nach dem Umzug in das neue Industriemuseum waren die Räumlichkeiten immer noch nicht adäquat.280 Dies deutet darauf hin, dass der Stadtrat mit der eigenen Geschichte ‚fremdelte‘, auch wenn er 1905 eine Denkmal-Kommission281 berief, die sich um Baudenkmäler kümmern sollte. Seine Erinnerungspolitik bezog
274 „chlubnej, historycznej przeszłości“, „Skarbnica Pamiątek Lwowa“, „do patriotycznego obywatelstwa lwowskiego i do wszystkich, którym rozwój zawiązanego muzeum niewątpliwie leży na sercu“, GL v. 25.12.1892. 275 Aufruf in GL v. 25.12.1892; Czołowski, W sprawie, S. 4, berichtet darüber, dass der Magistrat sich im gesamten 19. Jahrhundert nicht um das Archiv gekümmert habe. 276 Czołowski, Muzea, S. 12. 277 Regulamin dla Archiwum aktów dawnych i Muzeum historycznego kr. st. miasta Lwowa [Regularien für das Archiv alter Akten und das historische Museum der königl. Hauptstadt Lemberg], Lwów 1897. 278 DALO, f. 3, op. 1, spr. 2804; die Akte berichtet über umfassende Aufräum- und damit verbundene Inventarisierungsarbeiten. Dennoch war die Stadt bemüht, die verbleibenden alten Gebäude wie das Zeughaus (Baujahr 1555) zu kaufen, um sie zu erhalten und dort ggf. städtische Institutionen unterzubringen. DALO, f. 3, op. 1, spr. 5073, Bl. 4. 279 „o charakterze suterynowym i atmosferze piwnicznej“, Czarnik, A cóż, S. 7. 280 Kritik an der schlechten Unterbringung bei ebd.; vgl. Czołowski, W sprawie, S. 8–20, mit einer ausführlichen Begründung. 281 GL v. 25.10.1905.
5.2 Auf- und Ausbau polnischer Kulturinstitutionen
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sich dagegen auf gesamtpolnische historische Ereignisse, Persönlichkeiten der Rzeczpospolita und des Freiheitskampfes (s. auch Kap. 6.1). Diese bei den übrigen Kultur- und Bildungseinrichtungen nicht zu findende Zurückhaltung des Stadtrates in Bezug auf ein historisches Museum änderte sich seit 1905 nur ansatzweise. Obwohl historische Museen und Nationalmuseen als Schaufenster der Errungenschaften von Nationen und Staaten seit Mitte des 19. Jahrhunderts als wichtige Instrumente zur historischen Bildung genutzt wurden, schien diese Funktion noch nicht tief genug im Bewusstsein der ‚Stadtväter‘ verankert zu sein. Darauf verwies etwa eine polemische Schrift A cóż dla Lwowa? (Was bleibt für Lemberg?), in welcher der Autor 1906 beklagte, dass immer noch historische Objekte aus Lemberg an Krakauer Museen verkauft würden. Lemberg solle seine historischen Sammlungen bereichern, kümmere sich aber nach wie vor nicht darum.282 Die Gründe hierfür lagen wohl weniger in den finanziellen Ressourcen, denn der Stadtrat kaufte innerhalb eines Monats rasch das Gebäude der Sobieskis (die sog. Kamienica królewska / das Königliche Gebäude) am Marktplatz aufgrund eines „patriotischen Gefühls“ an. Sie ergaben sich aber aus dem weiteren Umgang mit diesem Gebäude, indem der Stadtrat verdeutlichte, dass er nur nominell ein stadthistorisches Museum, letztlich aber eines der polnischen Nation etablieren wollte.283 Tadeusz Rutowski setzte im Rat durch, dass das Gebäude ausschließlich als Museum genutzt werden sollte. Die notwendigen, rasch durchgeführten Restaurationsarbeiten finanzierte die Stadt mit Landes- und Reichsunterstützung. Das Königliche Gebäude wurde am 12. September 1908 aus „Dankbarkeit für das erhabene Gedenken des Verteidigers Polens und der Christenheit“284 als Jan-Sobieski-Nationalmuseum (Muzeum Narodowe im. Króla Jana Sobieskiego) und als „Heiligtum nationaler Erinnerungen“285 eröffnet. Nur in der zweiten Etage wurden Objekte zur Stadtgeschichte ausgestellt, während in erster Linie Sobieski, seiner Familie und seiner Zeitgenossen, aber auch anderer polnischer Könige und Würdenträger gedacht wurde. Damit erhielt, so Czołowski in seiner Rückschau, das neu gegründete Museum „sofort“ seinen „allpolnischen Charakter“, seine „ostpolnische“ Bedeutung und Tragweite, weswegen auch ruthenische (d. h. bäuerliche), armenische und jüdische Antiquitäten gesammelt wurden, um das Leben und die Beziehungen mit den Ostgebieten der Adelsrepub-
282 Czarnik, A cóż, S. 3 f., 10. 283 „patryotycznego uczucia“. Der Ankauf war nach dem Tod des Vorbesitzers, eines gewissen Fürsten Poniński, möglich geworden. Vgl. GL v. 25.10.1905; Czołowski, Muzea gminy, S. 16 ff. Erst 1926 erhielt Lemberg ein eigenes städtisches Museum. 284 „dług wdzięczności dla szczytnej pamięci Obrońca Polski i chrześciaństwa“, GL v. 3.12.1908, ähnlich: Aleksander Czołowski, Jan III i miasto Lwów. Wspomnienie w trzechsetną rocznicę urodzin Króla [ Jan III. und die Stadt Lemberg. Erinnerungen zum 300. Geburtstag des Königs], Lwów 1929, S. 32. 285 „świątyni narodowych wspomnień“, Czołowski, Muzea gminy, S. 16.
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5 Städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen
lik vollständig widerzuspiegeln.286 Die Motive für dieses Verhalten des Stadtrates sind nicht deutlich erkennbar, zu vermuten ist aber, dass durch ein polnisches historisches Nationalmuseum der Hauptstadtanspruch betont werden sollte. Gerade über die Fokussierung auf die Sobieski-Familie und insbesondere auf König Jan III. Sobieski konnte der Stadtrat auf die Bollwerk-Funktion und damit die zivilisatorische Mission Lembergs gen Osten (s. Kap. 6.3) rekurrieren. Der polnischen Kommunalpolitik war es insgesamt gelungen, in der Bildungs- und Kulturpolitik eine Dominanz – teilweise sogar gegen die grundlegenden Vorschriften zur Berücksichtigung der übrigen Landessprachen – durchzusetzen. Sämtliche polnischen Kultur- und Bildungsinstitutionen machten das aus, was der Stadtrat als „polnischen Charakter“ bezeichnete. Zugleich war dieses Schlagwort Ausdruck einer selektiven Wahrnehmung und eines Besitzanspruches, denn eine ruthenische Schrift behauptete etwa 1910 Analoges, nämlich dass Lemberg wegen der Bevölkerung und der hier etablierten Institutionen nach 1900 einen ruthenischen Charakter angenommen habe.287 Gerade eine solche Äußerung war, ebenso wie die Forderungen nach politischer Partizipation, eine Herausforderung für die kommunalpolitischen Akteure. Aus dem Selbstverständnis der polnischen (kulturellen) Ersatzhauptstadt heraus sah sich der Stadtrat – wie eingangs bereits angedeutet – verpflichtet und gab das Leistungsversprechen, „als Herd des geistigen Lebens des ganzen Teiles Polens“ zu wirken, weil dieser „in stetiger Gefahr seines nationalen Charakters ist.“288 Die Maßnahmen in der Kultur- und Bildungspolitik waren somit Praktiken des Stadtrates, über dieses Leistungsversprechen den Charakter einer „rein polnischen Stadt“ zu stärken, sichern und zu verteidigen. Diese Haltung spiegelt sich auch in der Geschichts- und Selbstdarstellungspolitik des Stadtrates wider.
286 „odrazu“, „ogólnopolski charakter“, „kresowe“, ebd. 287 Kryp′jakevyč, L′viv, S. 57. 288 „rosły kulturalne obowiązki miasta Lwowa, jako stolica kraju, jako ogniska życia duchowego całej dzielnicy Polski, będącej w stałem niebezpieczeństwie o swój narodowy charakter“, Czołowski, Muzea gminy?, S. 14.
6 Die multiethnischen Traditionen marginalisieren Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
Wenn Du über die Schwelle unserer Stadt trittst, dann suche nicht viele Sehenswürdigkeiten und Denkmäler der Vergangenheit. Auch wenn die Stadt alt ist, trägt sie vor allem den Stempel einer neuzeitlichen Stadt. Weil sie nämlich der Repräsentant Polens ist, der am weitesten nach Osten vorgeschoben ist, fiel Lemberg zuerst den Feuern und Flächenbränden zum Opfer, welche die Horden der Türken, Tataren, Kosaken usw. mitbrachten. Dagegen ist Lemberg die Hauptstadt des Teiles Polens, der die Freiheit des Wortes und Freiheit der nationalen Bewegung erhielt und seitdem besessen hat. In der Hauptstadt müssen sich also das Leben und der Pulsschlag des freien Landes widerspiegeln.1
Diese einführenden Worte eines 1907 publizierten Reiseführers über die „Entwicklung und den kulturellen Stand“2 der Stadt, der mit der hohen Summe von 3.000 Kronen vom Stadtrat bezuschusst wurde und im Selbstverlag des Stadtrates und des Wydział gospodarczy X Zjazdu Lekarzy i Przyrodników Polskich (Wirtschaftsabteilung des X. polnischen Ärzte- und Naturforscherkongresses) erschien, sind charakteristisch für das im öffentlichen Raum vermittelte Selbstverständnis und die Selbstdarstellung der städtischen Vertretung: Zwar rekurrieren diese Worte auf die ältere Vergangenheit Lembergs und dessen historische Leistung als „Bollwerk gen Osten“, aber sie verwei-
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„Wstępując w progi naszego miasta nie szukaj wielu zabytków i pomników przeszłości. Choć miasto stare w swem założeniu, nosi jednak przeważnie piętno miasta nowożytnego. Jako bowiem jedna z placówek Polski najdalej na wschód wysunięta, Lwów pierwszy padał ofiarą ognia i pożogi, jakie wznosiły hordy Turków, Tatarów, Kozaków i t. p. Natomiast Lwów, to stolica tej części Polski, która zyskała i dotąd posiada wolność słowa i swobodę ruchu narodowego; na stolicy więc odbić się musi życie i tętno kraju wolnego“, Wiczkowski, Lwów, S. V. Ebd. Der Textteil verdeutlicht, was der Autor unter „kulturellem Stand“ subsumiert: Nach einer historischen Einführung erläutert er die bildungspolitischen und infrastrukturellen Modernisierungsmaßnahmen und Institutionen sowie polnische wissenschaftliche, industrielle und handwerkliche Vereinigungen und Kultureinrichtungen. Der eigentliche Reiseführerteil umfasst lediglich 85 von 624 Seiten.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
sen ebenso auf die politischen Möglichkeiten der Autonomiezeit und die Rolle Lembergs als polnische Ersatzhauptstadt. Die Selbstdarstellung verteidigt den „polnischen Charakter“ und damit die polnischen Führungs- und Besitzansprüche. Sie begründet und legitimiert sie mit dem Argument, dass der „kulturelle Stand“ der Stadtentwicklung als Errungenschaft der autonomen Selbstverwaltung interpretiert werden muss. Die Subventionierung des Reiseführes ist ein Beispiel dafür, dass die Akteure Geschichtspolitik und Selbstdarstellung im öffentlichen Raum bewusst und strategisch einsetzten, um die Vision des „schönen, polnischen Lemberg“ in der (polnischen) Öffentlichkeit zu verankern und ihre kommunalpolitischen Praktiken zu legitimieren. Deutlich wird dies nicht nur in den im Auftrag oder mit Unterstützung des Stadtrates publizierten Selbstdarstellungen, sondern auch in den zahlreichen Aktivitäten, die ausdrücklich oder auch nonverbal das Geschichtsbild und die eigene Leistungsschau darstellen. Im Stadtrat wurde ausführlich über die Umsetzung des polnischen Geschichts- und Kulturbildes im öffentlichen Raum debattiert; auch lässt sich diesbezüglich ein gewisser Grundkonsens finden, sodass nur über Details, weniger über grundsätzliche Maßnahmen gestritten wurde. So ist Harald Binder, wie schließlich auch rund einhundert Jahre vorher Dilo3, zuzustimmen, dass Lemberg vor der Folie der zu demonstrierenden imperialen Loyalität zu einer äußerlich polnischen Stadt mit polnischen Denkmälern und Straßennamen wurde: Der öffentliche Raum wurde in Lemberg wie in allen Städten der Monarchie zu einem Ort, in dem zwei parallele, sich überlagernde symbolische Projekte inszeniert wurden: das Reich und die (polnische) Nation. Zugleich richteten sich diese ausdrücklich gegen die Ruthenen, die möglichst aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden sollten.4 6.1 Polnische Geschichte und Kultur im öffentlichen Raum Mit der Schaffung polnischer Straßennamen und dem Bau von Denkmälern habe die Polonisierung der Stadt Lemberg und damit ihr polnischer Charakter den Anfang genommen, klagte 1901 die ruthenische nationaldemokratische Zeitung Dilo. Die Kritik traf den Kern der politischen Intentionen, denn gerade über diese Maßnahmen erfolg-
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Dilo v. 3.(16.)5.1901. Vgl. Harald Binder, Making and Defending a Polish Town: „Lwów“ (Lemberg), 1848–1914, in: Austrian History Yearbook 34, 2003, S. 57–81; Dilo v. 3.(16.)5.1901, auch wenn es Dilos Ansicht nach (noch) nicht vollständig geglückt sei, vgl. auch Harald Binder, Die Polonisierung Lembergs im 19. Jahrhundert. Konzeption und Realität, in: Markus Krzoska / Isabel Röskau-Rydel (Hrsg.), Stadtgeschichte in Polen. Ausgewählte Beiträge zur Stadtgeschichtsforschung in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, S. 107–117. Vgl. allgemein zu (nationalen) Repräsentationen im öffentlichen Raum: Richard Dennis, Cities in Modernity. Representations and Productions of Metropolitan Space, 1840–1930, Cambridge etc. 2008; Hanns Haas / Hannes Stekl (Hrsg.), Bürgerliche Selbstdarstellung. Städtebau, Architektur, Denkmäler, Wien etc. 1995.
6.1 Polnische Geschichte und Kultur im öffentlichen Raum
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te eine erste polnisch-nationale Aufladung des öffentlichen Raumes. Wie dargestellt, stand insbesondere die Bildungspolitik am Anfang der polonisierenden Kommunalpolitik, während die Markierung des öffentlichen Raumes durch polnisch-nationale Symbole und Rituale5 intensiviert erst nach Erringen der Autonomie und in Bezug auf die Denkmäler und nationalen Feiern verstärkt erst seit den 1890er Jahren durchgeführt wurde. Gerade die Umbenennung von Straßennamen und die Errichtung von Denkmälern waren die offensichtlichsten Maßnahmen im Stadtbild, die zeigten, wie die nationalen Meistererzählungen auf lokaler Ebene umgesetzt wurden,6 um ein eigenes lokales, polnisch gefärbtes Selbstbild und Identität zu schaffen. 6.1.1 Straßenamen als Markierung des öffentlichen Raumes Noch vor der kaiserlichen Sanktion des Statuts und dem Erhalt der städtischen Autonomie begann der Stadtrat im Dezember 1869 aufgrund einer Vorlage der beauftragten Kommission die Neueinteilung des städtischen Gebietes in Bezirke und diskutierte damit einhergehend eine umfangreiche Liste zur Neubenennung von Straßen. Nach einer grundlegenden Debatte im März 18677 fasste der Stadtrat zwischen Dezember 1869 und Frühsommer 1871 die entsprechenden Beschlüsse. Die Chronologie zeigt also, dass der Stadtrat bereits vor der Sanktion des Statuts begonnen hatte, den öffentlichen Raum durch polonisierende Benennungen von Straßen zu erobern, weil gerade solche Maßnahmen von hoher symbolischer Bedeutung waren (und sind). Zunächst musste die Stadt administrativ neu gegliedert werden, weil wegen des Wachstums der Stadt die Grenzziehung der Bezirke nicht mehr zweckdienlich war und die 3.284 mit Konskriptionsnummern versehenen Häuser teilweise nicht mehr leicht aufzufinden waren. Als explizites Ziel verfolgte der Rat hiermit, die Orientierung in der Stadt zu erleichtern.8 Die neue administrative Einteilung der Stadt in insgesamt fünf Bezirke (inkl. der Innenstadt) und die Schaffung von straßenbezogenen Hausnummern orientierte sich an den moderneren Verfahren in Wien und anderen europäischen Hauptstädten.9 5 6 7 8 9
Vgl. Adelheid von Saldern, Symbolische Stadtpolitik – Stadtpolitik der Symbole. Repräsentationen in drei politischen Systemen, in: dies. (Hrsg.), Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935–1975), Stuttgart 2005, S. 29–82, hier: S. 29. Allgemein ebd., S. 57. Vgl. auch dies., Einleitung, in: ebd., S. 11–28, hier: S. 11 f. DALO, f. 3, op. 1, spr. 1325, Bl. 69. GN v. 10.12.1869. DALO, f. 3, op. 1, spr. 1325, Bl. 71; die Begründung bezieht sich ausdrücklich auch auf die anderen Hauptstädte. Im Februar 1868 beschloss der Rat die Orientierung am Wiener System (ebd., Bl. 71). Vgl. auch Skorowidz król. stoł. miasta Lwowa z oznaczeniem podziału miasta, nazw ulic i placów, oliczbowania domów numerami konskrypcyjnemi i orjentacyjnemi z wymienieniem właścicieli realności – tudzież nazw i numerów dawniejszych [Verzeichnis der Königl. Hauptstadt Lemberg mit der Kennzeichnung der Einteilung der Stadt, mit Straßen- und Platzbezeichnungen, mit der
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
Diese Neuordnung brachte insbesondere mit sich, dass der Stadtrat seine Vorstellungen hinsichtlich der Markierung des städtischen Raumes durchsetzen konnte. Diese war umso bedeutungsvoller, als 1849 die habsburgische Verwaltung topografische deutsche Bezeichnungen für namenlose Straßen eingeführt hatte, wie z. B. „Gasse neben dem jüdischen Schlachthaus“.10 Die Umbenennung mit polnischen Bezeichnungen bedeutete daher vor allem eine Abkehr von den ‚germanisierten‘ Markierungen des öffentlichen Raumes. Dies erfolgte schrittweise, sodass in den 1860er Jahren die eingeführten Straßennamen zunächst zweisprachig geführt wurden, während 1866 der Stadtrat noch vergeblich versucht hatte, alleinige polnische Bezeichnungen durchzusetzen.11 Dies gelang erst nach Erreichen der städtischen Autonomie. Im Gegensatz zur relativ rasch durchgeführten administrativen Neueinteilung der Stadt war die Umbenennung der insgesamt 300 Straßen, Gassen und Plätze in Lemberg sehr zeitaufwendig. Beispielsweise wurden in der ersten hierfür vorgesehenen Sitzung nur 26 Namen und in einer Sondersitzung am 30. Dezember 1869 weitere 120 Namen diskutiert, indem jeder Straßenname einzeln aufgerufen und debattiert wurde.12 Wenn es auch in einigen Fällen zu kleineren Kontroversen kam, verliefen die Umbenennung und später auch die Benennung neuer Straßen vergleichsweise konfliktfrei, sodass von einem Grundkonsens unter den Ratsherren auszugehen ist.13 Der Stadtrat hatte die Bedeutung von Straßenbezeichnungen als politisches Symbol erkannt, wodurch bestimmte Handlungen, Leistungen und Werte der Nation symbolisch vermittelt werden konnten. In zahlreichen, insbesondere den multiethnischen Städten der Monarchie wie Prag14, aber auch in Graz15, waren solche Debatten zu finden. Die Lemberger Diskussionen fanden jedoch im Vergleich beispielsweise zu Prag, wo die Straßennamen erst 1894
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Zählung der Häuser mit Konskriptionsnummern und Hausnummern mit dem Wechsel von Immobilienbesitzern – ebenfalls der alten Namen und Nummern], Lwów 1889, der auf politische und administrative Gründe verweist. DALO, f. 3, op. 1, spr. 1325, Bl. 25 f. Ebd., Bl. 46. Vgl. GN v. 10.12.1869 und 1.1.1870. DALO, f. 3, op. 1, spr. 1325, Bl. 67. Lediglich im Falle der Umbenennung der Breiten Straße (ulica Szeroka) in St. Lazarus Straße (ulica św. Łazarza) regte sich – vergeblich – Widerstand unter den Anwohnern, der durch eine Unterschriftenaktion artikuliert wurde. Er wurde damit begründet, dass im Falle einer Umbenennung der Handel Schaden nehmen könne, der sich dort als erster Standort in einem christlichen Bezirk überhaupt entwickeln würde (DALO, f. 3, op. 1, spr. 1325, Bl. 77). Václav Ledvinka, Die Namen von Prager öffentlichen Räumen als Spiegelung des Wandels der politischen Realität im 20. Jahrhundert, in: Rudolf Jaworski / Peter Stachel (Hrsg.), Die Besetzung des öffentlichen Raums. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich, Berlin 2007, S. 337–344, hier: S. 338. Vgl. Heidemarie Uhl, Kulturelle Strategien nationaler Identitätspolitik in Graz um 1900, in: kakanien revisited 2001, URL: http://www.kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/HUhl2/?alpha=u (1.7.2019), S. 3.
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nationalisiert wurden, sehr früh statt. Dies lässt sich einerseits mit der sich entwickelnden Landesautonomie erklären, da der Statthalter die Umbenennungen genehmigen musste, anderseits mit dem Selbstbewusstsein der kommunalpolitischen Akteure und ihrer insgesamt vergleichsweise früh einsetzenden Polonisierungspolitik. ‚Natürliche‘ Straßennamen waren diejenigen, die topografische und geografische Bezeichnungen aufgriffen, wie die Theater-Straße (ulica Teatralna) die Halicki-Straße (ulica Halicka) oder auch die Krakauer Straße (ulica Krakowska). Von besonderer Bedeutung waren Bezeichnungen, die sich auf glorreiche Ereignisse und Personen der polnischen Geschichte und bekannte lokale Persönlichkeiten resp. Familien bezogen. Beispielsweise gab es die Straße des 3. Mai (ulica Trzeciego Maja) in Erinnerung an die Verfassung von 1791 sowie die nach den wichtigen Lemberger Familien Boim (ulica Boimów) und Gołuchowski (ulica Gołuchowskich) benannten Straßen. Daneben gab es die Sobieski-Straße (ulica Sobieskiego) und Straßen, die nach den bedeutenden polnischen Intellektuellen und Literaten Stanisław Staszic, Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki und Jan Nepomucen Kamiński benannt worden waren, ebenso nach dem Theatermäzen Graf Stanisław Skarbek, aber auch nach dem Adligen Tadeusz Rejtan, der 1773 versucht hatte, im Stummen Sejm die Zustimmung zur ersten Teilung zu verhindern.16 Wie bewusst der Rat die Straßenbenennungen von Beginn an für seine Geschichts- und Identitätspolitik einsetzte, wurde in der Debatte um die Armenische Querstraße (ulica Ormiańska Poprzeczna) deutlich, die in Erinnerung an den Stadtkommandanten während der Belagerungen des Chmel′nyc′kyj-Aufstandes in Grodzicki-Straße (ulica Grodzickiego) umbenannt wurde. Von „Raunen“ wurde die Rede des Ratsherren Piotr Miączyński im Stadtrat begleitet, weil ihm diese Straße zu klein und unwürdig erschien, um Krzysztof Grodzickis zu gedenken. Der Kommissionsberichterstatter Dr. Józef Milleret ging nicht direkt auf seine Argumentation ein, sondern lobte Miączyńskis Patriotismus ausdrücklich, sprach sich aber dennoch für den Kommissionsvorschlag aus. Er betonte, dass die Straßennamen der Volksbildung17 dienten, wenn aber diese „Würze“ zu häufig eingesetzt würde, würde sie alltäglich werden und die Neugier der Einwohner auf die Stadtgeschichte würde nicht mehr geweckt.18 Diskussionslos wurden die Jüdische Straße (ulica Żydowska), die Jüdische Seitenstraße (ulica Boczna Żydowska) und der Jüdische Platz (plac Żydowski) in Wechsel-Straße, Wechsel-Querstraße und Wechsel-Platz (ulica Wekslarska, przecznica Wekslarska und plac Wekslarski) umbenannt, wodurch zwar die explizite Bezeichnung „jüdisch“ verschwand, aber auf eine traditionelle Beschäftigung der Juden und ein antijüdisches Stereotyp angespielt wurde. Auch wurde in geringerem Maße auf die traditionell in der Stadt lebende armenische Bevölkerung Bezug genommen, da von ursprünglich drei Bezeichnungen, die „armenisch“ beinhalteten, nur noch die Arme16 17 18
GL v. 17.6.1871. „Nazwa ulic dla nauki ludu służy“, GN v. 3.1.1870. „pieprzyk“, „spowszednieje“, ebd.
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nische Straße (ulica Ormiańska) erhalten blieb.19 Wäre es allein nach der Kommission gegangen, wäre auch die althergebrachte Bezeichnung für die Ruthenische Seitenstraße (ulica Ruska Boczna) als eines der traditionellen Wohngebiete der ruthenischen Bevölkerung in der Innenstadt verschwunden. Aber auf den Einspruch des ruthenischen Ratsherren Mychajlo Dymet hin sprach sich der Rat, berichtet die Gazeta Narodowa in einem leicht überheblichen Ton, „mit großer Höflichkeit“ für die Erhaltung des Attributs „ruthenisch“ aus und änderte den Namen in Ruthenische Querstraße (przecznica Ruska).20 An den Stadtgründer Lev sollte nur eine schlammige Straße am Schlossberg erinnern. Dymet kritisierte dies und forderte die Benennung der St. Lazarus Straße (ulica Świetego Łazarza) nach Lev, was Milleret mit dem Argument ablehnte, dass bereits der Name der Stadt das größte Denkmal für Lev sei.21 Von besonderer symbolischer Bedeutung waren schließlich noch die Bezeichnungen, die in Verbindung mit der Habsburgermonarchie standen, weil hierdurch eine loyale Haltung demonstriert werden konnte. Der Stadtrat scheute sich aber nicht, den Ferdinandsplatz (plac Ferdynanda) mit der vormaligen Bezeichnung Marienplatz (plac Maryacki) zu versehen und die zur Altstadt hin gelegene Obere Karl Ludwig Straße (wyższa ulica Karola Ludwika) des am Poltew entstehenden Boulevards in Hetmansdamm (Wały Hetmańskie) umzubenennen, während die andere Seite des inzwischen eingehausten Poltewufers den Namen Karl Ludwigs (bis 1925) behielt und damit die letzte wichtige Straße im Innenstadtbereich war, die einen Bezug zur Dynastie herstellte.22 Durch die Bezeichnung „Hetmansdamm“ erinnerte der Stadtrat ausdrücklich an den berühmten Hetman Stanisław Jabłonowski, einen Freund König Jan III. Sobieskis, zumal dort auch sein Denkmal (s. u., Kap. 6.1.2) 1859 seinen Platz gefunden hatte.23 Dass der Ferdinandsplatz und damit der Name des handlungsunfähigen Kaisers verschwand, erscheint aus Sicht des Stadtrates konsequent, weil unter seiner Regierung endgültig die Bedeutungslosigkeit der städtischen Selbstverwaltung festgeschrieben worden war. Wie die Genehmigung der Umbenennungen durch die Statthalterei zeigt, wurde dieser Beschluss seitens der Landesverwaltung mitgetragen.24 Insgesamt wurde die Stadt mit einem sich erweiternden Netz von Straßennamen mit polnischen Bezügen überspannt, zumal ständig neue Straßen entstanden, so etwa 1885 die Straße der Veteranen (ulica Weteranów),25 wodurch auf die Aufstandsveteranen des polnischen „Freiheitskampfes“ angespielt wurde. Weitere neue Straßen erinnerten an 19 20 21 22 23 24 25
GN v. 4.1.1870. „z wielką uprzejmością“, GN v. 1.1.1870. GN v. 5.1.1870. Dagegen blieb die alte Bezeichnung Gouverneursdamm (Wały Gubernatorskie) erhalten, obwohl der Gouverneur inzwischen als Statthalter bezeichnet wurde, vgl. GN v. 4.1.1870. GN v. 4.1.1870. DALO, f. 3, op. 1, spr. 1325, Bl. 80. Die Genehmigung erfolgte am Tag der kaiserlichen Sanktion des Statuts. GL v. 29.7.1885.
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Abb. 22 Karl Ludwig Straße, Ecke Jagiellonenstraße, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.)
die Heilige (Königin) Hedwig ( Jadwiga), an die Brester Union und die Revolution von 1848 (ulica Komendy z 1848)26, an die berühmten polnischen Schriftsteller Mikołaj Rej und Eliza Orzeszkowa sowie an die Schlacht von Tannenberg 1410 (Grunwaldstraße/ulica Grunwaldzka).27 1909 behauptete Dilo anlässlich der Benennung einer Straße nach dem polnischen Künstler Stanisław Wyspiański, dass es eine – in den ausgewerteten Quellen nicht nachweisbare – Regelung gäbe, dass nur polnische Namen eingesetzt werden dürften.28 Es kann zumindest von einem stillschweigenden diesbezüglichen Einvernehmen der vorschlagenden Personen ausgegangen werden. Die Vergabe der Straßenbezeichnungen bedeutete eine Hierarchisierung der Erinnerung, indem zentrale Plätze und städtische Hauptadern Namen von bedeutenden, vor allem polnischen Personen und Ereignissen erhielten, während kleinere, schlecht ausgebaute und am Rand gelegene Straßen eine Marginalisierung des jeweiligen Topos in der lokalen Erinnerungspolitik ausdrückten. Deutlich wird daher, dass mit wenigen Ausnahmen die ruthenische und auch die jüdische, die armenische und nicht zuletzt die deutsche Vergangenheit der Stadt über die Straßenbenennungen zuguns26 27 28
Vgl. GL v. 12.1.1898. Vgl. GL v. 19.6.1906. In der mythisch verklärten Schlacht von Tannenberg (poln. Bitwa pod Grunwaldem, lit. Žalgirio mūšis) besiegte 1410 das polnisch-litauische Heer den Deutschen Orden. Dilo v. 23.10.(5.11.)1909.
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ten des Bezugs vor allem zur gesamtpolnischen, aber auch zur lokalen Geschichte verdrängt wurden, sieht man von den notwendigen, die Loyalität zur kaiserlichen Dynastie ausdrückenden Namen ab. Hierdurch wird das sich ebenfalls in der lokalen Denkmal- und Feierpolitik ausdrückende Selbstbild als polnische Ersatzhauptstadt ebenso deutlich wie der Versuch, durch ein weitgehendes Ausblenden der Lemberger Geschichte vor allem die ruthenische, aber auch die jüdische Geschichte der Stadt zu ignorieren. Daher verdeutlicht das Vorgehen den Machtanspruch und Anspruch auf Deutungshoheit des öffentlichen Raumes durch den Stadtrat, indem er das Ziel einer Polonisierung des Straßennetzes durchsetzte.29 6.1.2 Denkmäler als visualisierte Geschichte Denkmäler als Visualisierungen historischer Vorstellungen und als politische Symbole sind grundsätzlich von erheblicher Bedeutung zur nationalen Markierung des öffentlichen Raumes, was sich auch an den Lemberger Denkmälern widerspiegelt. Wie in der Benennungspolitik von Straßen und Plätzen, so wurden die Standorte bewusst gewählt.30 Nachdem der gesamte städtische Raum über das sich ständig erweiternde Netz polnischer, durchaus national konnotierter Straßenbezeichnungen ‚kartiert‘ worden war, verdichtete die Denkmalpolitik in einem weiteren Schritt diese polnische Markierung des öffentlichen Raumes vor allem im Innenstadtbereich, die etwa auch durch neue städtische Gebäude wie die das Stadtbild prägenden großen Schulgebäude zusätzlich unterstützt wurde. 1897 stellte die Gazeta Lwowska fest, dass gegenwärtig begonnen werde, die Stadt mit Denkmälern berühmter und verdienter Persönlichkeiten zu schmücken.31 Sie rekurrierte in diesem Bericht auf eine Reihe errichteter oder geplanter Denkmalprojekte für bedeutende polnische Persönlichkeiten. Sie verwies darauf, dass in Lemberg, wie etwa in Krakau und anderen Städten der Monarchie32 auch, die Hauptaktivitäten zur Errichtung nationaler Denkmäler seit den 1890er Jahren stattfinden würden, während anlässlich des 200. Jahrestags der Schlacht am Kahlenberg 1883 lediglich ein Gedenkstein aufgestellt worden sei.33
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Übersicht über die Straßenumbenennungen: Skorowidz król. stoł. miasta. So z. B. beim Denkmal für Graf Aleksander Fredro, vgl. GL v. 13.1.1893. GL v. 10.10.1897. Grzegorz Rossoliński-Liebe, Der Raum der Stadt Lemberg in den Schichten seiner Denkmäler, in: kakanien revisited 2012, URL: www.kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/grossolinski-liebe1.pdf (1.7.2019), S. 4, charakterisiert dies als „Denkmalpest“. Überblick für Lemberg: Ihor Simočkin, Pamjatnyky [Denkmäler], in: Halycka Brama 38, 1998, H. 2, S. 14 f., vgl. CDIAL, f. 146, op. 7, spr. 2243, und Rossoliński-Liebe, Raum, S. 4. Zum gesamthabsburgischen Vergleich: Werner Telesko (Hrsg.), Die Repräsentation der Habsburg-Lothringischen Dy-
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In der vorautonomen Ära hatte es in Lemberg lediglich Erinnerungsprojekte mit imperialen Bezügen gegeben wie etwa anlässlich des Kaiserbesuchs 1851 die Umbenennung des Schlossberges (Hohes Schloss, poln. Wysoki Zamek, ukr. Vysokyj Zamok) als höchstem und topografisch dominierendem Punkt der Stadt in FranzJosephs-Berg und des anschließenden, in den 1840ern geschaffenen Parkgeländes (Kaiserwald). Das erste bedeutende Denkmalprojekt in Lemberg war die von dem radikalen Demokraten und vormaligen Revolutionär, Ratsherren (1861–1879), Landtags- (seit 1861) und Reichsratsabgeordneten (1862–1863, 1867–1893) Franciszek Smolka initiierte Aufschüttung eines Erdhügels, der an die Lubliner Union 1869 erinnerte (Hügel der Lubliner Union / Kopiec Unii Lubelskiej).34 Jedoch unterschied sich dieses Projekt von den folgenden, da ihm stringente Unterstützung seitens des Stadtrats und der -verwaltung fehlte,35 obwohl sich aus den mit der ersten Aufschüttungsaktion verbundenen Feierlichkeiten eine jährliche Feiertradition entwickelte, die schließlich mit Festveranstaltungen im Ratssaal ‚abgerundet‘ wurde. Der als Franz-Josephs-Berg bezeichnete Kern der mittelalterlichen Stadtgründung bot sich für Smolka als sehr gute symbolische Möglichkeit für eine imperiale Loyalitätsbekundung an, indem er und seine Anhänger die Erinnerung an die Lubliner Union feierten. Nach einem Bericht der Gazeta Narodowa von 1871 sei es ihm darum gegangen, die Erinnerung an die Größe der Adelsrepublik mit der panslawischen Idee36 und polnischen Führungsansprüchen zu verbinden. Auf dem Grundstein wurde proklamiert, „frei zwischen Freien und gleich zwischen Gleichen – Polen, Litauen und Ruthenen im Akt der Lubliner Union am 11. August 1569“37 zu sein, jedoch wurden in
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nastie in Musik, visuellen Medien und Architektur, 1618–1918 / Representing the Habsburg-Lorraine Dynasty in Music, Visual Media and Architecture, Wien etc. 2017. Stanisław Rachwał, Kopiec Unii lubelskiej we Lwowie (1869–1919) [Der Hügel der Lubliner Union (1869–1919)], Lwów 1919. Einen „Kaiserwald“ gab es etwa auch in Laibach. Dies wird etwa darin deutlich, dass die öffentlichen Gebäude bei den ersten Aufschüttungsfeierlichkeiten 1869 nicht illuminiert wurden. Vgl. CDIAL, f. 165, op. 5, spr. 110, Bl. 8–11, 20–25, 37, 48 ff.; Markian Prokopovych, Kopiec Unii Lubelskiej: Imperial Politics and National Celebration in Habsburg Lemberg, in: ece-urban 3, 2008, S. 2–35, URL: www.lvivcenter.org/download.php?downloadid=43 (1.4.2019), hier: S. 5, 11 f. Dies betonte etwa die Gazeta Narodowa in ihrem Bericht vom 14.8.1871, zumal die Aufschüttung von Erdhügeln eine alte slawische Tradition sei. Da die panslawische Idee seitens der polnischen Inteligencja kritisch betrachtet wurde, zeigt diese Bemerkung, dass es vor allem darum ging, eine Gemeinsamkeit und keinen Konflikt zu betonen. „Wolni z wolnymi, równi z równymi – Polska, Litwa i Ruś, zjednoczone unią lubelską dnia 11 sierpnia 1569 roku“, CDIAL, f. 165, op. 5, spr. 110, Bl. 8–11; vgl. Stanisław Schnür-Pepłowski, Obrazy z przeszłości Galicyi i Krakowa (1772–1858) [Bilder aus der Vergangenheit Galiziens und Krakaus (1772–1858), Bd. 1 Lwów i Lwowianie [Lemberg und die Lemberger], Lwów 1896, S. 80, und die Beschreibung der Feierlichkeiten, ebd., S. 79–85. Eine ähnliche Formulierung fand Smolka in seinem Antrag vom 21.6.1869 an den Rat, die Aufschüttung auf dem Franz-Josephs-Berg zu genehmigen und sich zu beteiligen: DALO, f. 3, op. 1, spr. 2540, Bl. 1 (Akte zum Bau des Erdhügels).
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Abb. 23 Der Hügel der Lubliner Union, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.)
dieses Lippenbekenntnis, so Markian Prokopovychs Wertung,38 die Ruthenen immer weniger einbezogen, die sich angesichts dieser Entwicklung nicht für das Projekt begeistern ließen. Das Verhältnis des Rates und der Verwaltung zu den Aufschüttungen, den dazugehörenden Feierlichkeiten und zum Hügel insgesamt ist als ambivalent zu bezeichnen, auch weil Smolka und einige seiner Anhänger im Rat vertreten waren und sich dort für ihr Projekt einsetzten. 1869 hatte der Rat den Grund kostenlos zur Verfügung gestellt, die Aufschüttung erlaubt und noch 350 Gulden als „nationalen Beitrag“ beigesteuert.39 Ebenso waren der Stadtrat und Repräsentanten der Verwaltung bei den Feierlichkeiten anwesend und beteiligten sich wie der Bauamtsleiter Alfred Bojarski aktiv an der Aufschüttung und im Baukomitee.40 Bereits 1871 wurde ein offizieller Gottesdienst in der Kathedrale gefeiert, ein durch die Innenstadt am Rathaus vorbeiführender Fest-
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Markian Prokopovych, Kopiec Unii Lubelskiej. Imperial Politics and National Celebration in finde-siècle Lemberg. Paper for the panel „Changing Political Representation in Changing Urban Space: Central and Eastern European Cities from the late 19th Century to the Inter-war Years“, Eighth International Conference on Urban History, Stockholm 2006, URL: www.lvivcenter.org/ download.php?downloadid=79 (1.4.2019), hier: S. 5. „składka narodowa“, GL v. 30.6.1869. Vgl. CDIAL, f. 165, op. 5, spr. 110, Bl. 40–44, 69; Schnür-Pepłowski, Obrazy, S. 80.
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umzug organisiert und auch ein Festakt im Rathaus abgehalten.41 Schließlich genehmigte auch die Stadtverwaltung 1874 einen Antrag von Smolkas Anhängern, anlässlich des fünfjährigen Jahrestags des Aufschüttungsbeginns einen Löwen vom Rathaushaupteingang zu entfernen und in einer feierlichen Prozession zum Erdhügel zu bringen, um dem erlahmenden Projekt neuen Schwung zu verleihen. Verbunden mit der Aufschüttung war ein nicht per Ratsbeschluss genehmigter, aber vom Magistrat geduldeter Abriss einiger Ruinen des ehemaligen Hohen Schlosses. Der Hügel war durch das Engagement Smolkas, der eine Beteiligung zur nationalen Pflicht stilisierte,42 und seiner Anhänger zu einem öffentlichen Interesse geworden. Um nicht unpatriotisch und illoyal zu erscheinen, musste der Rat sich nicht nur nolens volens angesichts ihrer Anträge positionieren, sondern die Aufschüttung und Unterhaltung des Erdhügels auch unterstützen, zumal er polnisch-national konnotiert worden war. So beschloss er, die zum Burgberg führende Straße zu erneuern und zu erweitern. Schließlich konnte sich der Rat unter dem Einfluss von Smolkas Anhängerschaft zunehmend für dieses Monument begeistern, während die Lemberger Polizeidirektion es wegen der damit verbundenen nationalen Manifestationen höchst kritisch sah.43 Abgesehen von der Anhängerschaft Smolkas, identifizierte sich der Stadtrat nicht mit diesem Denkmalprojekt.44 Trotz der polnisch-nationalen Festumzüge und -reden haderten die kommunalpolitischen Akteure immer wieder mit diesem langwierigen, bis 1900 dauernden, kostspieligen Aufschüttungsprojekt.45 Als 1875 deutlich wurde, dass das Fundament nicht fest genug war, musste sich die Stadt erstmals finanziell engagieren. Nach Smolkas Tod 1899 fand das Aufschüttungsprojekt immer weniger Unterstützung, zumal der Glaube an die Dauerhaftigkeit des Denkmals fehlte,46 auch wenn entsprechende Werbebroschüren davon sprachen, dass auf dem Schlossberg das neue Polen mit eigenen polnischen Händen errichtet werden würde. Als 1907 der Erdhügel schließlich durch heftige Sommerregen massiv zerstört worden war, appellierte Vizepräsident Rutowski im Namen des Stadtpräsidiums vergeblich mit einer deutlich nationalen Rhetorik an die Öffentlichkeit, den auf 12.000 Kronen geschätzten Wiederaufbau
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Prokopovych, Kopiec (2008), S. 18. Vgl. auch den Bericht in GN v. 14.8.1871. Bauamtsleiter Juliusz Hochberger war der Abriss vorzeitig bekannt geworden, er duldete ihn aber. Vgl. Aleksander Czołowski, Wysoki Zamek [Das Hohe Schloss], Lwów 1907, S. 103. Prokopovych, Kopiec (2008), S. 29. Insgesamt blieb der Erdhügel sowohl in polnischer als auch in sowjetischer Zeit ein ungeliebtes Objekt und wurde entsprechend vernachlässigt. Planungen, dort ein 50 m hohes Lenin-Denkmal zu errichten, wurden nicht realisiert. Nach der ukrainischen Unabhängigkeit wurden auf dem Hohen Schloss ein Fahnenmast errichtet sowie Granitplatten mit einer ukrainischen, englischen und deutschen Inschrift über die erfolgreiche Erstürmung 1848 und den Bau einer Aussichtsplattform im Jahr 1869 (!) angebracht. Vgl. Rossoliński-Liebe, Raum, S. 9. So das Urteil von Prokopovych, Kopiec (2008), S. 33. Vgl. CDIAL, f. 165, op. 5, spr. 110, Bl. 115; Czołowski, Wysoki Zamek, S. 110. Problematisch war, dass das Projekt nicht durchfinanziert war und die Maßnahmen von Beginn an planlos angegangen worden waren. Vgl. ebd., S. 106–110.
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finanziell zu unterstützen, der nach einer Beratung des Stadtpräsidiums mit Professoren der Technischen Hochschule rasch begonnen wurde.47 Der einflussreiche Landtagsabgeordnete Teofil Merunowicz verwies in einem offenen Brief an den neuen Stadtpräsidenten Ciuchciński auf die städtische Verantwortung für dieses Projekt und machte die Ruthenen für den miserablen Zustand des Erdhügels verantwortlich.48 Ursprünglich als Ausdruck einer polnisch-ruthenischen Versöhnung intendiert, entwickelte sich der Hügel zu einem Symbol für die konfliktreichen Beziehungen beider Nationalitäten. Sieht man wie Markian Prokopovych49 und Paweł Sierżęga50 in dem Projekt eine radikale Alternative zur habsburgisch-imperialen Interpretation und dadurch ein Begehren, die Teilungen zu revidieren, so erklärt sich der bereits in der beginnenden Realisierung dokumentierte Unwille der Landes- und kommunalen Behörden, es nachhaltig zu unterstützen. Es musste diesen daran gelegen sein, im Autonomisierungprozess des Landes und während des Ringens um das städtische Statut nicht den Anschein der Illoyalität zu erwecken, was eine vorbehaltlose Unterstützung des Projektes signalisiert hätte. Die Quellen zeigen einen weiteren Grund für diese Haltung, nämlich in der von Smolka intendierten und im Grundstein festgehaltenen Botschaft des Ausgleichs zwischen Polen und Ruthenen. Sie berief sich auf einen aus dem Elan der 1848er Revolution entstandenen Nationalismus, der die übrigen Ethnien der ehemaligen Adelsrepublik und damit insbesondere die Ruthenen inkludierte, der sich aber spätestens mit der zunehmenden Virulenz des ruthenischen Nationalismus überlebt hatte. Daher ist gerade der Umgang der Kommunalpolitik mit dem Lemberger Erdhügel ein Beispiel dafür, dass mit dem autonomen Status die politische Verantwortlichkeit für den öffentlichen Raum vom Land auf die Kommune überging und sich die unter der habsburgischen Zentralmacht etablierte und gewünschte Homogenität des habsburgisch geprägten städtischen Raumes schrittweise auflöste, weil nun weitere Identifikationsangebote als das habsburgisch-imperiale präsentiert werden konnten. Zugleich ist die Geschichte des Hügels eins der seltenen Beispiele dafür, dass dem Stadtrat von Teilen der örtlichen politisch engagierten Eliten repräsentative, national konnotierte Aufgaben geradezu aufgedrängt wurden, bei denen er den ‚Spagat‘ zwischen imperialer Loyalitätsbekundung und nationalem Impetus zu bewältigen hatte und die er daher eher unwillig annahm.
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GL v. 20.6.1907. Prokopovych, Kopiec (2006), S. 6 f.; Teofil Merunowicz, List otwarty do JW Pana Stanisława Ciuchcińskiego prezydenta Lwowa [Offener Brief an den Hochwohlgeborenen Herrn Lemberger Stadtpräsidenten Stanisław Ciuchciński], in: GN v. 19.6.1907, zit. nach Prokopovych, Kopiec (2008), S. 32. Prokopovych, Kopiec (2006), S. 6 f. Paweł Sierżęga, Obchody rocznicy unii lubelskiej na terenie Galicji w 1869 roku [Die Feiern des Jahrestages der Lubliner Union auf dem Gebiet Galiziens im Jahr 1869], in: Galicja i jej dziedzictwo [Galizien und sein Erbe], Bd. 15 Działalność wyzwoleńcza [Die Freiheitstätigkeit], Rzeszów 2001, S. 146–199, hier: S. 168, 151–178.
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Diese ambivalente Haltung des Stadtrates unterschied sich diametral von der späteren Denkmalpolitik. Mit Ausnahme des nicht vollendeten Słowacki-Denkmals (s. u.) wurden die Denkmäler seitens bürgerschaftlicher Vereinigungen, insbesondere der Entwicklungs- und Verschönerungsgesellschaft der Stadt Lemberg projektiert; auch diesbezüglich unterscheidet sich Lemberg nicht grundlegend von anderen Städten. Der Errichtungsprozess bot jeweils politische Gestaltungsmöglichkeiten für den Stadtrat, etwa bei der kostenlosen Zurverfügungstellung des Bauplatzes oder bei der nationalpolitischen Aufladung des Denkmals durch die Reden zur Enthüllung, die meist durch die Stadtpräsidenten gehalten wurden.51 In Lemberg wurden auf diese Weise nicht nur die Denkmäler für den Nationaldichter Adam Mickiewicz (1904) und das nicht realisierte Słowacki-Denkmal projektiert, sondern auch eine Reihe anderer Denkmäler durch bürgerschaftliche Vereinigungen (zumindest formal) initiiert. Es handelt sich etwa um die Denkmäler zu Ehren des Kommandanten während des Kościuszko-Aufstandes Jan Kiliński (1894), für die in Lemberg hingerichteten polnischen Aufständischen von 1846 Józef Kapuściński und Teofil Wiśniowski52 (1895), für den „Vater der polnischen Komödie“ Graf Aleksander Fredro53 (1897), für König Jan III. Sobieski (1898), den galizischen Statthalter und Reichsinnenminister Agenor Gołuchowski sowie für den galizischen Publizisten und Poeten Kornel Ujejski (1901), den „Sensenmann“ (kosynier54) während des Kościuszko-Aufstandes Wojciech Bartos (Bartosz) Głowacki (1906) und Franciszek Smolka (1913),55 für die sich quasi selbstverständlich auch Ratsherren und zahlreiche Intellektuelle engagierten.56 Genauso bereitwillig unterstützten Stadtrat und Magistrat solche Projekte. Der Rat machte sich diese bürgerschaftlichen, aber eng mit den engagierten kommunalpolitischen Akteuren zusammenhängenden Initiativen für seine nationalpolitischen Zielsetzungen zu eigen57 und setzte sie als bewussten Akt zur „Popularisie-
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Uhl, Kulturelle Strategien, S. 2 f. Stanisław Nicieja / Mariusz Patelski, Rok 1846 we Lwowie. Stracenie Kapuścińskiego i Wiśniowskiego i ich kult we Lwowie [Das Jahr 1846 in Lemberg. Die Hinrichtung Kapuścińskis und Wiśniowskis und ihr Kult in Lemberg], in: Michał Śliwa (Hrsg.), Rok 1846 w Galicji. Ludzie, wydarzenia, tradycje [Das Jahr 1846 in Galizien. Menschen, Ereignisse, Traditionen], Kraków 1997, S. 77–100. GL v. 25.10.1897. Als kosynierze wurden die bäuerlichen Aufständischen bezeichnet, die mit ihren gerade geschmiedeten Sensen in den Kampf zogen. Pläne für ein Denkmal für den ermordeten Statthalter Potocki und ein Denkmal für den gerade von den Demokraten verehrten Aufstandshelden Tadeusz Kościuszko wurden dagegen nicht realisiert; vgl. Rossoliński-Liebe, Raum, S. 4; Prokopovych, Habsburg Lemberg, S. 172–181; die Gründe hierfür sind in den Quellen nicht eruierbar. Beispielsweise engagierten sich im Baukomitee des Słowacki-Denkmals auch Wissenschaftler (GL v. 31.1.1911). Dies wird in den Berichten über den 40. Jahrestag des Januaraufstandes deutlich: GL v. 22.1.1903, in denen das Ständige Komitee zur Organisation von Nationalfeiern nicht explizit als Veranstalter genannt wird. Die Veranstaltung erscheint aber als ein durch den Rat organisiertes Ereignis. Stadtpräsident Małachowskis Eröffnungrede wurde mit stürmischem Beifall gelobt. Anschließend refe-
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Abb. 24 Das Sobieski-Denkmal, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.)
rung der vaterländischen Geschichte“ ein, wie es Ratsherr Filip Zucker in der Debatte um das würdige Gedenken an König Jan III. Sobieski im Juni 1883 formulierte.58 Gerade die Errichtung des Sobieski-Denkmals ist ein wichtiges Beispiel für die gleichermaßen imperial-loyal und national angelegte Geschichtspolitik des Lemberger Rates.59 Sie spiegelt sich wider in den Planungen vor dem 200. Jubiläumsjahr des Entsatzes von Wien und des Sieges am Kahlenberg 1683 gegen die Osmanen, um dieser Sobieski allein zugeschriebenen Leistung würdig zu gedenken. Für die Vorbereitungen berief der Stadtrat eine Kommission und initiierte Spendensammlungen in der Bevölkerung. Er beschloss 1883, über zehn Jahre jährlich 1.000 Gulden für ein Denkmal anzusparen.60 Für dessen Realisierung setzte der Rat eine eigene Denkmalbaukommission ein, in der neben dem Stadtpräsidenten Godzimir Małachowski dessen Vizepräsidenten Karol Schayer und Michał Michalski ebenso vertreten waren wie neun
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rierte der Abgeordnete und spätere Vizepräsident der Stadt Tadeusz Rutowski über die historische Bedeutung des Tages. Vgl. auch SP v. 22.1.1903. „do popularyzowania dziejów ojczystych“, GL v. 24.6.1883. Abriss der Entstehungsgeschichte: Aleksander Czołowski, Jan III i jego pomnik we Lwowie [ Jan III. und sein Denkmal in Lemberg], Lwów 1898. Vgl. Tekst aktu pamiątkowego odczytanego przy odsłonięciu pomnika króla Jana III [Erinnerungsakt, verlesen bei der Enthüllung des Denkmals für König Jan III.], in: wikisource, URL: https:// wikisource.org/wiki/Akt_erekcyjny_pomnika_kr%C3%B3la_Jana_III_Sobieskiego (1.7.2019).
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weitere Stadträte, Vertreter des Bauamtes und andere Magistratsangestellte. Durch die Entscheidung von 1894, dass keine Stein-, sondern eine Bronzestatue in Auftrag gegeben wurde, verzögerte sich die Enthüllung bis 1898 und musste wegen des tödlichen Attentats auf Kaiserin Elisabeth nochmals um einige Wochen verschoben werden. Der bekannte Lemberger Bildhauer Tadeusz Barącz erbot sich, gegen die Erstattung der Kosten für Material und Helfer ein Modell anzufertigen, bei dem die „Majestät des Königs Jan III. erhalten bleibt.“61 Ziel war es, so die Rede des Stadtpräsidenten bei den Enthüllungsfeierlichkeiten62, ein dauerhaftes Zeugnis der Verehrung, Huldigung und der Dankbarkeit für den großen Verteidiger der Christenheit und Polens und zugleich Verteidiger, Betreuer und Freund Lembergs und seiner Bürgerschaft63
abzulegen. Die an der Enthüllung Teilnehmenden versammelten sich Ende November 1898 zunächst zu einer Messe, dann zu einer Prozession zum Denkmal, an der die „Honoratioren und Vertreter aller Behörden, wissenschaftlichen Institutionen und Gesellschaften“64 mit dem Statthalter, dem Landtagsmarschall, mit den örtlichen Abgeordneten zu Landtag und Reichsrat sowie den städtischen Würdenträgern an der Spitze teilnahmen. Insgesamt fielen die Feierlichkeiten weniger pompös aus als diejenigen anlässlich der Enthüllung des Mickiewicz-Denkmals65 1904. So empfing z. B. der Stadtpräsident Małachowski ca. 400 Personen in seinen eigenen Salons, während morgens nur ein Frühstück im Rathaus und nachmittags eine Sondervorstellung im Städtischen Theater stattgefunden hatte. Bei dieser erschien das Publikum wie beim Empfang des Stadtpräsidenten sowohl in der traditionellen Adelstracht (Kontusz) als auch im Frack, was die Presse als Verbrüderung und als kollektive Loyalitätsbekundung interpretierte.66 Diesen Intentionen entsprachen die Festreden des Stadtpräsidenten Małachowski und des Statthalters Kazimierz Badeni. Nach Małachowski enthält [das Denkmal] die Idee, welche in einem harmonischen Akkord alle Stämme Polens, Litauens und Rutheniens verbindet. Der Glaube und die Freiheit sind diese Idee. 61 62
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„majestat królewski Jana III był zachowany“, GL v. 4.11.1881; vgl. auch GL v. 24.6.1883. Gerade die nationalistischen Zeitungen bemerkten kritisch den Unterschied der Botschaft des Sobieski-Denkmals zu dem am gleichen Tag in Wilna enthüllten Denkmal für den russischen Staatsmann und Militär Nikolaj Nikolaevič Murav′ëv-Amurskij (GN v. 19.11.1898); Dziennik Polski v. 20.11.1898 schrieb sogar „zwei Denkmäler – zwei Zivilisationen“ („dwa pomniki – dwie cywilizacje“). „trwały dowód czci, hołdu i tradycyą uświęconej wdzięczności dla wielkiego Obrońcy Chrześcijaństwa i Polski, a zarazem obrońcy, opiekuna i przyjaciela Lwowa i jego mieszczaństwa“, GL v. 24.6.1883. Ähnliche Formulierung: DzP v. 20.11.1898. „dygnitarze i przedstawiciele wszystkich władz, instytucyj naukowych i Stowarzyszeń“, GL v. 22.11.1898. Programm: Uroczysty Obchód odsłonięcia pomnika ku czci Adama Mickiewicza we Lwowie [Die feierliche Enthüllung des Denkmals zu Ehren Adam Mickiewicz’ in Lemberg], Lwów 1904. GN v. 21.11.1898; GL v. 22.11.1898.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
[…] Der, dessen Denkmal Lemberg erhöht, war die Verkörperung, das Symbol dieser Idee. […] Und die Errichtung des Denkmals hier in der Hauptstadt der einzigen heute freien Provinz des ehemaligen Polens ist ein Zeugnis davon, dass, wie immer auch die Geschehnisse, Einflüsse und fremden Absichten sein mögen, die Polen diesen Weg nicht verlassen, welchen tausende Gräber unserer gefallenen Ahnen abstecken. Und es ist schließlich ein Akt der Dankbarkeit für den furchtlosen Oberbefehlshaber, Vorkämpfer dieser Ideen [und] König, der viele Male Polen, Österreich und die Christenheit von dem ihnen drohenden Märtyrertum erlöst hat.67
Mit diesen Worten konnte Małachowski einerseits die föderalen Traditionen der Adelsrepublik verklären und andererseits den Bogen zur Gegenwart schlagen, wo die Polen die Führungsrolle innerhalb Galiziens beanspruchten, was er mit der antemurale-Funktion Polens und Lembergs begründete. Zugleich stellte er die Zugehörigkeit zur Habsburgermonarchie nicht infrage, weil die Freiheit ja in Galizien verwirklicht sei. Die Erinnerung an Sobieskis Entsatz von Wien war daher einerseits ideal für eine Loyalitätsbekundung zur Dynastie,68 da Sobieski neben Polen auch die abendländische Christenheit und damit die Habsburgermonarchie gerettet habe. Andererseits eignete sich das Denkmal besonders durch die Visualisierung des Sobieski- und damit des polnischen antemurale-Mythos (s. u. Kap. 6.3) für die polnisch-nationale Markierung des städtischen Raumes.69 Weil die Bauinitiativen von bürgerschaftlichen Vereinigungen getragen wurden, trugen sie zur nationalen Mobilisierung der Bevölkerung bei, da sie an die nationale Pflicht jedes Einzelnen appellierten, im Rahmen von Sammlungen sein Scherflein zum Bau beizutragen.70 Ein prägnantes Exempel hierfür stellt das Mickiewicz-Denkmal (1904) dar71, welches der Literarisch-Künstlerische Kreis (Koło literacko-artystyczne) 1897 initiiert hatte und dessen Enthüllung ursprünglich zum 100. Geburtstag des polnischen Nationaldichters und wichtigsten Vertreters des frühen polnischen
67
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„wzniosła idea, która w jeden harmonijny akord łączyła wszystkie szczepy Polski, Litwy i Rusi. Tą ideą wiara i wolność. […] Ten, któremu pomnik Lwów wzniósł, był uosobieniem, symbolem tej idei; […] a wzniesienie mu pomnika to w stolicy jedynej dziś wolnej prowincji dawnej Polski, to dowód, że jakiekolwiekby były zdarzenia, wpływy i postronne chęci, Polacy nie zejdą z tej drogi, którą wytyczają mogiły tysięcy poległych przodków naszych, wreszcie to akt wdzięczności dla nieustraszonego wodza i szermierza tych idei króla, który wielokrotnie wybawił Polskę, Austryę i chrześcijaństwo od grożącej im zagłady“, SP v. 21.11.1898. Damit begrüßte die Landesregierung im März 1882 die Lemberger Pläne. Vgl. CDIAL, f. 146, op. 7, spr. 203, spr. 4255, Bl. 7. GL v. 22.11.1898. So etwa GL v. 21.5.1899 über den Entwurf der Mickiewicz-Säule; GL v. 7.10.1903 über den Stand der sich schwierig gestaltenden Erdarbeiten; Berichte von den Komiteesitzungen, z. B. GL v. 11.7.1897, 11.2.1899 und 20.8.1903, DzP v. 28.10.1904. Die Gazetten veröffentlichten ständig Spenderlisten. Aleksander Semkowicz, Kult Mickiewicza we Lwowie [Der Mickiewicz-Kult in Lemberg], Lwów 1932, S. 15 f.
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Messianismus72 1898 geplant worden war.73 Dieses Projekt verweist auch auf die enge Verquickung von kommunalpolitischen Akteuren und (zivil-)gesellschaftlichen Vereinigungen, da sich in dem berufenen Baukomitee einige Ratsherren, u. a. der Vizepräsident, und Angehörige der Inteligencja befanden. Es zeigt auch, wie sehr die Träger des Projektes darauf bedacht waren, die zugeschriebene nationale Bedeutung umzusetzen. Da der galizische Granit aus Trembowla (Trembovlja)74 als qualitativ nicht ausreichend für das monumentale Denkmal gesehen wurde, orderte das Baukomitee Granit aus Mailand, was ihm aber Vorwürfe mangelnden Patriotismus einbrachte. Für den Stadtpräsidenten wie für den Stadtrat waren die rund eine Woche dauernden Feierlichkeiten eine herausragende Möglichkeit, die politisch-nationalen Intentionen des Denkmals zu vermitteln. So wurde Konrad Wallenrod, eins der wichtigsten Werke von Adam Mickiewicz, im Städtischen Theater aufgeführt und die Stadt mit Fahnen und Mickiewicz-Bildern geschmückt. Vor allem nahm Mickiewicz’ Sohn Władysław an allen Feierlichkeiten teil, der durch seine Anwesenheit die Intentionen des Stadtrates als Erbe seines Vaters gleichsam bestätigte. „Unser großer, feierlicher nationaler Feiertag“75 war die festliche, an die Emotionen appellierende76 Enthüllung des Denkmals am 30. Oktober 1904. Nach Gottesdiensten in den vier Hauptkirchen begannen die mehrere Stunden dauernden Feierlichkeiten mit dem eineinhalbstündigen Defilee aller Schulen und Vereine, sodass über 200 Kränze am Denkmal niedergelegt wurden. Anwesend waren nicht nur der Stadtrat, den der Präsident aufgefordert hatte, möglichst zahlreich teilzunehmen,77 Landtagsabgeordnete und Vertreter der Universität, sondern auch Delegationen von Städten aus dem preußischen und russischen Teilungsgebiet.78 Weiterhin lud der den Kontusz tragende Stadtpräsident zu einer Soirée mit mehreren Hundert Teilnehmern beiderlei Geschlechts in den Ratssaal ein, an der auch der Statthalter, Abgeordnete und fast alle Ratsherren, die meisten ebenfalls im Kontusz gekleidet, teilnahmen.79 Das Tragen des Kontusz hatte durchaus demonstrativen Charakter und verwies auf den polnischen Führungsanspruch und auch auf das Selbstbewusstsein der Teilnehmer, zumal es zur ‚Habsburgisierung‘ der Stadt seit 1772
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Knapper Überblick: Landgrebe, Polen, S. 81 ff. Genauer Abriss der Baugeschichte: GL v. 30.10.–3.11.1904. CDIAL, f. 146, op. 2a, spr. 203, Bl. 50. So DzP v. 30.10.1904: „wielkie, uroczyste nasze święto narodowe“. Władysław Mickiewicz, Pamiętniki [Erinnerungen], Bd. 3 1870–1925, Warszawa etc. 1933, S. 372, charakterisierte sie als „bewegend“ („wzruszająca“), vgl. ebd., S. 372–376. DzP v. 29.10.1904. Mickiewicz, Pamiętniki, S. 372, der keine Städte anführt, damit sie unter dem „russischen und preußischen Joch“ („pod jarzmem rosyjskim i pruskim“) keine Nachteile erlitten; GN v. 1.11.1904; vgl. auch Rossoliński-Liebe, Raum, S. 11. DzP v. 1.11.1904. Ähnliche Berichte gibt es von den anderen Gedenkfeiern und von den Enthüllungsfeierlichkeiten, so z. B. auch die Aufforderung an die Teilnehmer der Soirée nach der Einweihung des Ujejski-Denkmals 1901, entweder in Ballkleidung oder nationaler Tracht (Kontusz) zu erscheinen, GL v. 8.12.1901.
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gehört hatte (s. Kap. 2.1), dass die Eliten ihn ablegen mussten. Den Führungsanspruch hatte der Stadtpräsident bereits formuliert, als er die Stadträte zu einer möglichst geschlossenen Teilnahme an den Feierlichkeiten aufforderte, weil der Stadtrat dadurch die „Rolle des Stadtherren einnehmen [kann] und […] die Feierlichkeiten so würdig wie möglich für die Stadt und vor allem für Mickiewicz ausfallen.“80 Immer wieder wurde dabei auf die „Idee Mickiewicz’“ rekurriert,81 mit welcher der polnische „Freiheitskampf “ und Messianismus umschrieben wurden. Gerade die Rede des Stadtpräsidenten Małachowski war ein pathetischer Appell, das Ziel der Einigkeit Polens nicht aus den Augen zu verlieren: Bezug nehmend auf die Mickiewicz-Denkmäler in Warschau, Posen und Krakau, wies er darauf hin, dass ganz Polen einig an seinem Gedenken gearbeitet habe, sodass „wir eins sein müssen. Und dies nicht nur in Gedanken und im Herzen, sondern vor allem in der Tat.“ Mickiewicz sei von Gott dem Volk in dem Augenblick des „schrecklichen Pogroms“, der Niederschlagung des Novemberaufstands, geschickt worden, er habe seinem Volk die „Morgenröte der Freiheit“ gezeigt.82
Abb. 25 Das Mickiewicz-Denkmal, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.)
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„objęli rolę gospodarzy gminy, tak, iżby uroczystość wypadła jak najgodniej miasta, a przedewszystkiem jak najgodniej Mickiewicza“, SP v. 28.10.1904. „idea Mickiewicza“, GL v. 21.5.1899; SP v. 29.10.1904. „strasznego pogromu“, „jutrzenka swobody“, „Musimy być jedno. Ale to nie tylko w myśli i sercu – ale i w czynie“, GL v. 1.11.1904 (Abdruck der gesamten Ansprache). Vgl. auch DzP v. 1.11.1904; GN v. 1.11.1904; SP v. 31.10.1904.
6.1 Polnische Geschichte und Kultur im öffentlichen Raum
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Neben den Enthüllungsfeierlichkeiten verweisen die jeweilige Semantik und der genaue Aufstellungsort der Denkmäler auf die mit der Errichtung verbundenen politischen Intentionen,83 zumal sich hierdurch eine Hierarchisierung der Erinnerung manifestiert. Zentrale und vielfrequentierte (Haupt-)Straßen und Plätze, aber auch Parkanlagen sind daher besonders geeignete Örtlichkeiten. Eine Platzierung abseits stark besuchter Örtlichkeiten verhindert eine intensive Wahrnehmung und die beabsichtigte Wirkung. Die einem Denkmal zugeschriebene Bedeutung wurde daher auch von Debatten innerhalb des Stadtrates, aber auch im Austausch mit den initiierenden Vereinigungen oder, wie im Falle des Gołuchowski-Denkmals, mit der Familie herausgearbeitet.84 Zur Repräsentation nationaler Helden war insbesondere der Boulevard des Hetmansdamms geeignet. Als ‚modernes Zentrum‘ (s. Kap. 4.3.1) wurde er zu einem zentralen Ort politischer Manifestationen und daher zu einem geeigneten Aufstellungsort für die Denkmäler der bedeutendsten Persönlichkeiten. Stellte bereits die Bezeichnung „Hetmansdamm“ als Erinnerung an den Hetman Sobieskis Jabłonowski eine politische Bekundung dar, so wurde sie noch deutlicher durch die Platzierung der Denkmäler der wichtigsten Romantiker und Nationaldichter, des Mickiewicz- und des Sockels des bis Kriegsbeginn nicht realisierten Słowacki-Denkmals, unterstrichen. Gerade das Mickiewicz-Denkmal wurde am Ende des Hetmansdamms am Marienplatz (plac Maryacki) zu einem zentralen Ort für nationale und politische Kundgebungen.85 Eine weitere national-polnische Aufladung dieses Boulevards wurde über das Sobieski-Denkmal erreicht. Allein die Platzierung auf diesem Boulevard führte zu einer notwendigen Hierarchisierung der Erinnerung, denn für die polnische (und Lemberger) Geschichte weniger bedeutende Persönlichkeiten erhielten andere Standorte: So wurden das Denkmal für den aus Galizien stammenden Grafen Aleksander Fredro und das Denkmal für den lokalen Dichter Kornel Ujejski (1901) an der Akademie-Straße (ulica Akademicka, heute prospekt Ševčenka / Ševčenko-Prospekt) und das Gołuchowski-Denkmal am Jesuitengarten abseits des repräsentativen Boulevards, aber immerhin noch in der Stadtmitte errichtet. Dagegen standen das Denkmal für die Aufständischen von 1846, Teofil Wiśniowski und Bartosz Głowacki, an der Ecke der Łyczaków-Straße (ulica Łyczakowska) und dem Głowacki-Park (park Głowackiego), das Kiliński-Denkmal im Stryjer Park und der Kapuściński und Wiśniowski gewidmete Obelisk an der Kleparów-Straße (ulica Kleparowska) bereits in peripherer Lage.86 Alle diese Denkma83 84 85 86
Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 133–173, hier: S. 138. Dessen Familie wünschte einen würdigeren Platz als vor der griechisch-katholischen (ruthenischsprachigen) St.-Georgs-Kathedrale, der aus nationalpolnischen Gründen für sie nicht akzeptabel war. Vgl. GL v. 15.1.1893; v. 25.10.1900; Prokopovych, Habsburg Lemberg, S. 165–170. GL v. 29.4.1908. Darüber hinaus finanzierte der Rat Grabsteine für verstorbene lokale Persönlichkeiten als Denkmäler, so etwa das Grabmal für Stadtpräsident Michalski (vgl. GL v. 26.4.1909; CDIAL, f. 146,
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lerrichtungen wurden durch den Stadtrat unterstützt, indem er neben den Kosten für die Enthüllungsfeiern den Bau des Postaments und die umliegende Bepflanzung der Anlage sowie im Falle des Fredro-Denkmals sogar die bauliche Neuordnung des Akademie-Platzes (plac Akademicki) übernahm.87 Auch die Denkmalpolitik offenbarte die Intentionen des Stadtrats, den öffentlichen Raum ausschließlich polnisch zu markieren und die Ruthenen davon auszuschließen.88 So weigerte er sich, dem Antrag der 1873 gegründeten Wissenschaftlichen Ševčenko-Gesellschaft (Naukove Tovarictvo im. Ševčenka) zu folgen und ein Denkmal zu Ehren des ruthenischen Nationaldichters Taras Ševčenko zu genehmigen, was Dilo immer wieder scharf in seinen Berichten über die polnischen Denkmalplanungen kritisierte.89 Nachdem im März 1914 der 100. Geburtstag des Dichters begangen worden war, konnte erst im Frühsommer ein denkmalpolitischer ‚Ausgleich‘ gefunden werden, indem das Nationalmuseum seinen Vorplatz zur Verfügung stellte und sich verpflichtete, das Denkmal zu pflegen. Ruthenische Architekten sollten für eine „nationale Gestaltung“ sorgen.90 Ob die am 28. Juni vorgesehene Enthüllung am Tag der Ermordung des habsburgischen Thronfolgerpaares noch stattgefunden hat, zeigen die ausgewerteten Zeitungsberichte nicht. Die städtische Denkmalpolitik ist insgesamt Ausdruck des Bestrebens, auch in kultureller Hinsicht als polnische (Ersatz-)Hauptstadt zu fungieren. Ein solches Konkurrenzdenken gerade gegenüber Krakau deutete bereits der stellvertretende Vorsitzende des Literarisch-Künstlerischen Kreises (Koło literacko-artystyczne) bei der Eröffnungsansprache anlässlich der Enthüllung des Fredro-Denkmals 1897 an, wonach endlich Lemberg eine Stadt der Denkmäler sein möchte, das Pantheon seiner berühmten und verdienten Männer. Dieses Bestreben ist wohl darüber hinaus in der Vergangenheit unserer Stadt begründet – und in ihrer berühmten Teilhabe an der Geschichte der Völker.91
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op. 2a, spr. 203, Bl. 137), einen Gedenkstein für die aufständischen Veteranen von 1863 auf dem Łyczaków-Friedhof (vgl. GL v. 4.5.1909) und auf Bitten des ruthenischen Vereins Prosvita (Aufklärung) den Grabstein des 1843 verstorbenen griechisch-katholischen Geistlichen und Schriftstellers Markijan Šaškevyč (vgl. GL v. 26.10.1893). Der Stadtrat unterhielt zudem das Grab des polnischen Malers Artur Grottger (vgl. GL v. 11.7.1900). Bei diesen Gedenksteinen ging es nur um eine besondere Würdigung von Persönlichkeiten und nicht um ein Gedenken im öffentlichen Raum. Sie ist daher als Ergänzung und Unterstützung der Errichtung von Denkmälern im Straßenraum zu sehen. GL v. 8.10.1896 und 27.10.1897. Denkmäler für Juden gab es im Straßenraum nicht. Etwa Dilo v. 27.8.(8.9.)1899; v. 17.(30.)10.1900; v. 19.2.(3.3.)1904 und v. 4.(17.)12.1909; der letzte Bericht stellt die Ratsmeinung heraus. „Man soll den Ruthenen nichts geben!“, Ruthenische Rundschau 6, 1908, S. 471–479; Christoph Mick, Die „Ukrainemacher“ und ihre Konkurrenten. Strategien der nationalen Vereinnahmung des Landes in Ostgalizien, in: Comparativ 15, 2005, S. 60–76, hier: S. 72. Dilo v. 30.5.(11.6.)1914 und GL v. 31.5.1914. „Nareszcie i Lwów zapragnął być miastem pomników, panteonem swoich mężów sławnych i zasłużonych. Ambicya ta chyba aż nadto usprawiedliwiona w przeszłości grodu naszego – w wybitnym
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Ingesamt boten gerade die Denkmäler für die Literaten dem Stadtrat eine Möglichkeit, „seinen vielfach manifestierten wirklichen Patriotismus und die heiße Liebe des Vaterlandes“92 zu demonstrieren, woraus Stadtpräsident Małachowski bei der Enthüllungsfeier des Fredro-Denkmals die „patriotische Pflicht“ zur Pflege und Unterhaltung der Denkmäler ableitete, „welche die historische Wahrheit erinnert, dass dasjenige Volk verdammt sein wird, welches seine eigenen Andenken nicht wertschätzt.“93 Diese programmatischen Worte verwiesen darauf, wie sehr der Stadtrat bestrebt war, die „Ausschmückung der Stadt“, wie es in den Quellen heißt, und damit die polnische Markierung des öffentlichen Raumes auf dem Gebiet der Stadt voranzutreiben. 6.1.3 Feierpolitik zwischen imperialer Loyalität und nationalem Anspruch Im Gegensatz zu den übrigen Gebieten der Monarchie, wo es eine umfassende Kaiserverehrung durch Denkmäler gab, wurde in Lemberg trotz seiner loyalen Haltung zur Dynastie kein Kaiserdenkmal errichtet. Die notwendigen Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Kaiserhaus wurden durch den umfangreichen, für alle Ortschaften der Monarchie zu beachtenden Veranstaltungskalender von öffentlich zelebrierten Feiern zu Anlässen, die mit der Habsburgerdynastie verbunden waren, und insbesondere durch die Choreografie während der Kaiserbesuche ausgedrückt.94 Die zahlreichen angeordneten Kaiserfeiern spielten somit im Festkalender Lembergs eine bedeutende Rolle. Als (reichs-) „patriotische Handlungen“95 musste der Magistrat finanziell für sie aufkommen. So wurden jährlich die Geburts- resp. Na-
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jego udziale w historyi narodów“, GL v. 26.10.1897. Noch deutlicher wurde dieses Konkurrenzdenken in der erwähnten Rede Małachowskis bei der Enthüllung des Mickiewicz-Denkmals. „jej wielokrotnie zamanifestowany prawdziwy patryotyzm i gorąca miłość ojczyzny“, GL v. 26.10.1897. „obowiązek patriotyczny“, „pomni tej prawdy dziejowej, że potępionym będzie naród, który swych własnych nie szanuje pamiątek“, ebd. Prokopovych, Kopiec (2008), S. 5. Überblick über imperiale und polnisch-nationale Feiern in Galizien: Adam Galos, Obchody rocznicowe na prowincji zaboru austriackiego [ Jahresfeiern in der Provinz des österreichischen Teilungsgebietes], in: ders. (Hrsg.), Studia z dziejów prowincji galicyjskiej [Studien aus der Geschichte der galizischen Provinz], Wrocław 1993, S. 89–112; vgl. auch Stanisław Grodziski, Nationalfeiertage und öffentliche Gedenktage Polens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Emil Brix / Hannes Stekl (Hrsg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien etc. 1997, S. 205–216. Daniel Unowsky, Dynastic Symbolism and Popular Patriotism. Monarchy and Dynasty in Late Imperial Austria, in: Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen (Hrsg.), Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011, S. 237–265, hier: S. 242; Andrea Blöchl, Die Kaisergedenktage, in: Emil Brix / Hannes Stekl (Hrsg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien etc. 1997, S. 117–144. Die Ausrichter der Feiern mussten die Kosten übernehmen. Beispielsweise wurde bei den Anordnungen bezüglich der Trauergottesdienste anlässlich des Todes des Kronprinzen Rudolf für alle Konfessionen ausdrücklich vermerkt, dass sie auf Kosten der jeweiligen Kommunen stattfänden: GL v. 1.2.1889.
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menstage des Kaiserpaares gefeiert, in besonderem Rahmen die Trauung und späteren „runden“ Hochzeitstage, die Thronjubiläen 1898 und 190896 und nicht zuletzt die örtlichen Trauerfeiern für den Kronprinzen Rudolf97 und die Kaiserin Elisabeth.98 Auch war es üblich, zu den besonderen Anlässen innerhalb der kaiserlichen Familie, etwa zur Vermählung der Erzherzogin Gisela, Delegationen nach Wien zu entsenden, deren Zusammensetzung der Rat beschloss und die vom Präsidenten angeführt wurden.99 Diese Festtage wurden mit feierlichen Festgottesdiensten begangen; es gab Sondersitzungen des Stadtrates mit Festreden und besonderen Verlautbarungen des Präsidenten an die Einwohnerschaft.100 Ein wichtiger Bestandteil waren auch Festumzüge, -vorstellungen und -konzerte und nicht zuletzt Illuminationen der Gebäude, wodurch zumindest ein großer Teil der städtischen Bevölkerung eingebunden wurde. Derartige Festtage waren im Allgemeinen Anlässe zu Loyalitäts- und damit eng verbundenen Dankesbekundungen, die sich im Falle Lembergs auf die konkrete Feststellung bezogen, dass die städtische Freiheit und Autonomie dem Kaiser zu verdanken seien.101 Anlässlich des 70. Geburtstages des Kaisers etwa drückte der Stadtpräsident die Dankbarkeit und „heiße Liebe in den Herzen des polnischen Volkes, der Bewohner des Landes und unserer Stadt“102 – und nicht explizit der Ruthenen – aus und forderte alle Einwohner auf, ihre Häuser zu schmücken und in der Weise zu beleuchten, wie es sich für die Hauptstadt zieme, sowie an den Gottesdiensten der lateinischen (römisch-katholischen), armenischen sowie der griechisch-katholischen Konfession (Reihung: sic!) teilzunehmen. Die ruthenische Zeitung Dilo kritisierte, dass die Ruthenen zwar ihre Häuser geschmückt und Delegationen zu den Feierlichkeiten geschickt hätten, dass aber das Stadtpräsidium diese Handlungen ignoriert hätte.103 Dieser präsidiale Aufruf, in dem allein das polnische Volk explizit aufgeführt wurde, die armenische Konfession mit einer deutlich geringeren Zahl an Gläubigen vor der griechisch-katholischen genannt wurde, weist ebenso wie das von Dilo kritisierte Verhalten der Verwaltung darauf hin, dass die kommunalpolitischen Akteure auch bei Unowsky, Dynastic Symbolism, S. 244–257. Hierbei stiftete die Stadt mit 300.000 fl. den FranzJosephs-Fonds für Unheilbare, der am 1.12.1898 eröffnet wurde, vgl. ders., The Pomp and Politics of Patriotism. Imperial Celebrations in Habsburg Austria, 1848–1916, West Lafayette/IN 2005, S. 139. 97 Er nahm u. a. auch an der Grundsteinlegung des neuen Gebäudes des griechisch-katholischen Priesterseminars teil und besuchte das überfüllte ruthenische Nationalhaus (Narodnyj Dim), Dilo v. 23.6.(5.7.)1887. 98 CDIAL, f. 146, op. 4, spr. 3131–3145; f. 146, op. 7, spr. 4215 und spr. 4433. 99 Fras, Ziemiałkowski, S. 144. 100 In der Hauptstadt organisierte vor allem die Statthalterei – anders als in der Provinz – die Hauptveranstaltungen. 101 GL v. 19.9.1880. 102 „gorące uczucia miłości w sercach narodu polskiego, mieszkańców kraju i miasta naszego“, GL v. 15.8.1900. 103 Dilo v. 5.(18.)8.1900. Die Armenier hatten zwar ihre eigene Konfession, hatten sich aber zur polnischen Kultur assimiliert: Lt. WstStkr, 1890, S. 14, waren 0,14 Prozent der Lemberger Bevölkerung armenisch-orthodoxen Glaubens. 96
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den mit dem Kaiserhaus verbundenen Feiern versuchten, die nichtpolnischen resp. die nicht zur polnischen Kultur assimilierten Ethnien der Stadt in den Hintergrund zu drängen und die Veranstaltungen als polnische Loyalitätsbekundung darzustellen. Diese Haltung wurde in einer besonderen Aktion anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Thronjubiläum Franz Josephs 1908 sehr deutlich erkennbar. Die mit der Organisation beauftragte Stadtratskommission entwickelte für ganz Galizien die Idee,104 anstelle von teuren Kerzen zur Illumination der Stadt, von der vor allem nichtgalizische Betriebe profitieren würden, die Fenster mit Transparenten zu erleuchten. Da die Aktion für ganz Galizien als Plebiszit für den Kaiser105 gedacht war, konnten die Transparente zu 1.000 Stück zum Preis von 30 Kronen bestellt und für 10 Heller pro Stück durch die lokalen Komitees verkauft werden. Ihr Erlös sollte wohltätigen Zwecken zugutekommen. Sie waren mit den Jubiläumsdaten in polnischer Sprache und einem Portrait des Kaisers mit den Kronen für beide Reichsteile bedruckt worden. Hiergegen protestierten die ruthenischen Zeitungen, die naturgemäß ruthenische Aufdrucke forderten.106 Besondere Demonstrationen der Loyalität riefen die Besuche des Kaisers 1851, 1880 und 1894107 und auch des Kronprinzen Rudolf (1887) hervor, wobei die Stadt die jeweils entstehenden Kosten für den Aufenthalt tragen musste.108 Daniel Unowsky stellt für die gesamte Monarchie fest, dass nach der Aufhebung der neoabsolutistischen Restriktionen, der Neuordnung der Monarchie 1867 und der Einführung städtischer Autonomie die imperialen Feierlichkeiten eine Renaissance erlebten. Allerdings erhielten sie neue Elemente,109 weil durch das Erreichen der Landes- und städtischen Autonomie sich der Charakter dieser Reisen veränderte. War die Kaiserreise 1851 nach Galizien als neoabsolutistische Machtdemonstration gedacht,110 so schien der Aufenthalt in Lemberg 1851 in der Retrospektive des Besuchs von 1880 allein der Bürokratie 104 Die „erschöpfenden Beratungen“ („wyczerpującym wywodzie“, DzL Nr. 23/1908, S. 547) hierzu fanden nicht öffentlich statt, was DzP v. 19.11.1908 scharf kritisierte. Weder das Ratsprotokoll im DzL Nr. 23/1908, S. 147, noch die Kritik im kurzen Ergebnisprotokoll des Dziennik Polski geben die Gründe hierfür an. Sie könnten darin liegen, dass die Absicht Vizepräsident Rutowskis, für die Feierlichkeiten einen Kredit von 6.000 bis 8.000 kr. aufzunehmen, in Zeiten höchst knapper Finanzmittel und zunehmender Verarmung in der Stadt durchaus problematisch war. 105 Unowsky, Pomp, S. 143. 106 GL v. 19.11.1908. Neben diesem wirtschaftsfördernden Ziel wurden die Erlöse für Wohltätigkeitsmaßnahmen vor allem für die Jugend und Waisen verwendet. 107 Die weiteren Aufenthalte in Galizien dienten zur Inspektion von Manövern. Ein knapper Überblick: Zbigniew Fras, Podróże cesarza Franciszka Józefa I do Galicji [Die Reisen Kaiser Franz Josephs I. nach Galizien], in: Marek Czapliński / Romuald Gelles / Krystyn Matwijowski (Hrsg.), Z dziejów Galicji, Śląska, Polski i Niemiec [Aus der Geschichte Galiziens, Schlesiens, Polens und Deutschlands], Wrocław 1994, S. 121–130. 108 So waren für den 1868 vorgesehenen Besuch 10.000 fl. eingeplant worden, s. DL v. 8.9.1868. 109 Unowsky, Dynastic Symbolism, S. 241. 110 Ders., Reasserting Empire. Habsburg Imperial Celebrations after the Revolutions of 1848–1849, in: Maria Bucur / Nancy M. Wingfield (Hrsg.), Staging the Past. The Politics of Commemoration in Habsburg Central Europe, 1848 to the Present, West Lafayette/IN 2001, S. 13–45, hier: S. 27, zu den Abläufen in Lemberg ebd., S. 29 ff.
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gegolten zu haben, während die Öffentlichkeit ausgeschlossen blieb und sich eher widerwillig verhalten habe.111 1880 besuchte Franz Joseph in einer dreiwöchigen Reise die wichtigsten Orte Galiziens. Abgesehen von einigen Programmpunkten, die der Statthalter von der Regierung auferlegt bekommen hatte, wurde das Programm vor Ort zusammengestellt. In Lemberg und Krakau gab es jedoch erhebliche Unterschiede. Während die Lemberger Bevölkerung den Anordnungen des vom Rat gewählten Vorbereitungskomitees in Bezug auf die Ausschmückung der Häuser (bei Nichtbefolgung wurden Strafen angedroht) während des viertägigen Aufenthaltes folgte und auch die Geschäfte offen gelassen wurden, widersetzte sich die Krakauer Bevölkerung mit privaten Initiativen und zahlreichen kurzfristigen Geschäftsschließungen.112 Stadtpräsident Michał Gnoiński leitete das hierzu berufene fünfundzwanzigköpfige Lemberger Komitee, das sich in sechs Unterkomitees gliederte.113 In dieses wurde aber nicht das ruthenische Festkomitee integriert.114 Anlässlich der Visite wurde die Bevölkerung durch die Aufforderung, die Stadt zu schmücken, und über den großen Festumzug einbezogen, der 6.000 Personen aus allen Lemberger Vereinigungen umfasste. Auch wurde eine Ehrenwache der Bürgerschaft berufen.115 Von wesentlicher, für die Zeit des kaiserlichen Aufenthaltes das Stadtbild prägender Bedeutung war die Errichtung eines monumentalen Triumphbogens mit den Flaggen von Reich, Land und Stadt. Hier wurde der Kaiser vom Stadtpräsidenten und dem Rat empfangen. Das Ehrenspalier, das bis zum Stadtzentrum reichte, wurde von Vertretern verschiedener Einrichtungen der Stadt gebildet, so etwa auch unter Beteiligung von jüdischen Handwerkervereinigungen, Gesellschaften und Schulen ebenso wie von Vertretern griechisch-katholischer, d. h. ruthenischer, Pfarreien.116 Diese römische Traditionen aufgreifende theatralische Form der Verehrung war der Beginn des triumphalen Herrschereinzugs in die Stadt und zugleich eine wichtige Demonstration der Ehrerweisung durch die Bevölkerung.117 Bei seinem Einzug in die Stadt lobte der Kaiser die Entwicklung und „mit Vergnügen das fortschreitende Aufblühen dieser Stadt sowie die Eintracht und Zufriedenheit ihrer Bewohner“118, was die städtischen Repräsentanten als Auszeichnung und Legiti-
111 112 113 114 115 116 117 118
Aleksander Nowolecki, Pamiątka podróży cesarza Franciszka Józefa I. po Galicyi i dwudziesto-dniowego pobytu Jego w tym kraju [Andenken an die Reise Kaiser Franz Josephs I. durch Galizien und seinen zwanzigtägigen Aufenthalt in diesem Land], Kraków 1881, S. XII. Ebd., S. 4 ff.; Unowsky, Pomp, S. 56. Komitees für Sicherheit, Unterkünfte, Dekoration, Theater, Ball und Festumzug; vgl. ebd., S. 16 ff. mit einer ausführlichen Beschreibung der Vorbereitungen. Wolf, Idea, S. 261; Die Gazetten berichteten hierüber nicht. Nowolecki, Pamiątka, S. 19 f. Ebd., S. 142 f. Ebd., S. 139 ff.; Rossoliński-Liebe, Raum, S. 3. Nowolecki, Pamiątka, S. 141 (originalsprachlich).
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mation ihrer Politik interpretierten. Jedoch ließ der überbordende polnische Patriotismus die Geduld des Kaisers auch erschöpfen: Die bereits erwähnte Festveranstaltung im Theater mit der Aufführung von Stanisław Moniuszkos Nationaloper Straszny Dwór (Das Gespensterschloss) endete in einem Fiasko für die Organisatoren, weil der Monarch die nationalpolnisch aufgeladene Vorstellung, an der auch Akteure aus dem russischen Teilungsgebiet teilnahmen, nach kurzer Zeit verließ.119 Insgesamt lässt sich bei beiden Kaiserbesuchen während der städtischen Autonomie feststellen, dass – soweit der Stadtrat Einfluss darauf hatte – die städtischerseits geplante Choreografie in Lemberg darauf abgestimmt war, die Demonstration von Loyalität und habsburgischem Reichspatriotismus120 mit dem polnischen Führungsanspruch in Lemberg und Galizien insgesamt zu verbinden.121 Die Kaiserbesuche wurden daher zur Präsentation der Errungenschaften der lokalen Selbstverwaltung genutzt, etwa durch den Besuch des Spitals des Hl. Lazarus und des städtischen Industriemuseums 1880, der Mickiewicz-Schule und der insgesamt als Leistungsschau (s. Kap. 6.2.1) intendierten Landesausstellung im Jahr 1894.122 Imperialen Charakter nahmen auch 1883 die Sobieski-Feiern anlässlich des 200. Jahrestages des Entsatzes von Wien an, weil in allen größeren Orten der Monarchie entsprechende Festveranstaltungen abgehalten wurden, so auch in Wien, Brünn, Salzburg und Graz.123 Eine besondere Bedeutung erhielten sie in Lemberg (und Krakau), obwohl, wie beschrieben, das geplante Sobieski-Denkmal in Lemberg noch nicht enthüllt werden konnte. Bei der Durchführung konnte auf eine galizische Tradition von Sobieski-Feiern aufgebaut werden. So wurde etwa bereits im Jahr 1861 an dessen siegreiche Schlacht bei Chotyn (Chocim, 1673) erinnert. 1862 hatte in Żółkiew (Žovkva), der ehemaligen Residenz Sobieskis, eine Gedenkfeier stattgefunden. Hierzu entsandte der Lemberger Stadtrat eine Delegation mit der Begründung, dass sich die Familie
119 Unowsky, Pomp, S. 67. 120 Ebd., S. 2 ff., der betont, dass es sich bei den Kaiserreisen insgesamt darum gehandelt habe, das Bild Franz Josephs als ein Symbol der gemeinsamen Identität auf eine möglichst breite Basis zu stellen. 121 Ebd., S. 5–9, 52 f.; ders., „Our Gratitude has no limit“. Polish Nationalism, Dynastic Patriotism, and the 1880 Imperial Inspection Tour of Galicia, in: Austrian History Yearbook 34, 2003, S. 145–171, hier: S. 147. 122 Jedoch besuchte der Kaiser auch das ruthenische Gymnasium und Priesterseminar sowie die St.-Georgs-Kathedrale und nahm, was von Dilo besonders hervorgehoben wurde, an der Grundsteinlegung des ruthenischen Nationalhauses (Narodnyj Dim) teil, Dilo v. 2.(14.)8.1880. 123 GN v. 13.9.1883. Ausführlich zu den Sobieski-Feiern in Galizien: Paweł Sierżęga, Obchody 200. rocznicy odsieczy wiedeńskiej w Galicji (1883 r.) [Die Feiern des 200. Jahrestages des Entsatzes von Wien (1883)], Rzeszów 2002; Simon Hadler, Od „przykrego zgiełko wokół Sobieskiego“ do wspólnego wroga na wschodzie. Stosunki polsko-austriackie i pamięć o roku 1683 [Vom „unangenehmen Treiben um Sobieski“ bis zum gemeinsamen Feind im Osten. Polnisch-österreichische Beziehungen und die Erinnerung an 1683], in: Bogusław Dybaś / Alois Woldan / Anna Ziemlewska (Hrsg.), Sarmacka pamięć. Wokół bitwy pod Wiedniem [Das sarmatische Gedenken. Über die Schlacht bei Wien], Warszawa 2014, S. 319–327.
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Sobieski bei der Schlacht vor Wien für den österreichischen Thron und die gesamte Christenheit verdient gemacht habe.124 Die imperiale Rahmung der zweitägigen Sobieski-Feiern im September 1883 brachte es mit sich, dass die bereits erwähnte Ratskommission, die mit den Planungen für die würdige Begehung des Tages berufen worden war, insgesamt nicht frei planen konnte. Es wurde ein galizisches Landeskomitee, zu dem auch Lemberger Stadträte delegiert worden waren, für die genaue Planung und die Koordination aller Maßnahmen zusammengestellt.125 In Lemberg hatte es zuvor innerhalb der Kommission Auseinandersetzungen darüber gegeben, was ein würdiges Gedenken bedeutete: Beschlossen wurde schließlich, 10.000 Gedenkbilder für die Schüler zur Verfügung zu stellen, während die Benennung einer neu zu errichtenden Schule nach Sobieski wegen ihrer Alltäglichkeit abgelehnt wurde. Zu den Lemberger Feierlichkeiten, über die wie über die Feiern in anderen Städten auch ausführlich in den Zeitungen berichtet wurde, gehörte auch, dass das Sobieski-Haus, d. h. das noch im Privatbesitz befindliche Königliche Gebäude (Kamienica królewska, s. Kap. 5.2.3), zu besichtigen war.126 Alle öffentlichen Gebäude und Privathäuser, vor allem am Marktplatz, wurden mit Grün, Teppichen und Flaggen geschmückt und abends beleuchtet. Die Illumination der Stadt fiel im Urteil der Gazeta Narodowa beeindruckend aus, weil sich alle Einwohner bis auf die „ruthenischen Russophilen“ daran beteiligt hätten und weil auch die Armen sich das Aufstellen billiger Transparente anstelle teurer Kerzen leisten konnten. Alle Geschäfte der Stadt, auch die jüdischen, wie die Gazeta Narodowa ausdrücklich feststellte, waren geschlossen worden.127 Die Bevölkerung versammelte sich in Festtagskleidung zu den Gedenkgottesdiensten aller Konfessionen. Auch wurde ein Gedenkstein am Schlossberg enthüllt, wobei ein Ratsvertreter eine Rede hielt.128 Der erste Tag der Feierlichkeiten begann mit einer Festveranstaltung im „randvoll“ gefüllten Ratssaal. Stadtpräsident Wacław Dąbrowski betonte, dass die Feier kleiner ausfalle, als er es sich gewünscht habe,129 womit er wohl auf das unvollendete, geplante Denkmal anspielte. Es gab zwei Festvorträge des Lemberger Historikers und ehemaligen Universitätsrektors (1865–1866, 1875–1877) Euzebiusz Czerkawski und des Pädagogen und Verfassers polnischer Lehrbücher Lucjan Tatomir.130 Beide Redner brachten in ihren Vorträgen
124 Flugblatt: Do mieszkańców miasta Lwowa [An die Einwohner der Stadt Lemberg], Lwów 1861, und GL v. 12.7.1862. Fünf Jahre später wurde eine weitere Feier in Żółkiew (Žovkva) von einer Ratsdelegation besucht. GL v. 12.9.1867. Der nicht runde Jahrestag 1861 markiert einen wichtigen Meilenstein des Sobieski-Gedenkens, zugleich konnte hiermit aber auch die Niederlage von 1621 am gleichen Ort gegen die Osmanen ‚übertüncht‘ werden. 125 Vgl. GL v. 13.6.1883 und v. 24.4.1883. 126 GL v. 12.9.1883. 127 Vgl. GN v. 14.9.1883. 128 Vgl. GL v. 12.9.1883. 129 Vgl. GN v. 13.9.1883. 130 Lucjan Tatomirs Rede in: DzP v. 13.–15.9.1883.
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über die historische Bedeutung der Schlacht am Kahlenberg und damit des Entsatzes von Wien durch Sobieski eine polnisch-nationale Nuancierung der Feierlichkeiten ein. So stellte etwa Czerkawski131 abschließend fest, dass „unsere [die polnische] Rechnung mit Europa noch nicht erledigt ist. Auf der ‚Soll-Seite‘ haben wir nichts – auf der ‚Haben-Seite‘ alles.“132 Durch den Rückgriff auf den polnischen antemurale Christianitatis-Mythos133 betonte er die Zugehörigkeit Polens zu Europa und verwies auf den polnischen Anteil bei der Rettung Wiens, wodurch er wiederum die polnische Loyalität zum Hause Habsburg hervorheben konnte. Da der Festzyklus mit den Kaiserfeiern eine Pflicht für die kommunalen Repräsentanten war, um ihre Loyalität zur Monarchie zu beweisen,134 bildeten die zahlreichen Feiern zu polnisch-nationalen Jahrestagen die Kür. Während die Feiern imperialen Charakters von den übergeordneten Behörden angeordnet wurden und mit ihnen abgestimmt werden mussten, ging bei den nationalen Feiern die Initiative wie beim Denkmalbau von lokalen Akteuren aus. So initiierten überwiegend bürgerschaftliche und kulturelle Vereinigungen, aber auch der Stadtrat selbst die Feiern. Hierbei ist aber von einer großen personellen Identität zwischen Vertretern dieser Vereinigungen und den Ratsherren auszugehen. Unter den Bedingungen der (galizischen und) städtischen Autonomie boten sie eine Möglichkeit, das polnische Geschichtsbild in der Lemberger Öffentlichkeit zu verankern, sodass deren Choreografie ebenfalls genau geplant wurde. Falls nicht eine polnische Vereinigung federführend die Organisation übernahm, berief der Rat eigene Kommissionen, die nicht ausnahmslos mit Ratsherren besetzt wurden, sondern in die etwa auch leitende Verwaltungsbeamte und ausgewählte Repräsentanten der wichtigsten polnischen Vereinigungen eingeladen wurden. Spätestens 1902 hatte sich wegen der zahlreichen Gedenktage ein Ständiges Komitee für Nationale Feiern (Stały Komitet dla Obchodów Narodowych) gebildet, das die Feiern initiierte und teilweise auch vorbereitete, wofür es systematisch die polnische Geschichte auf der Suche nach geeigneten Gedenktaten auswertete. Hierdurch wird deutlich, dass der Stadtrat die lokale Gedenkarbeit professionalisierte, obwohl es immer noch zusätzliche, vom Rat mit der Organisation einzelner Gedenktage beauftragte Komitees gab.135
131 132 133 134
135
Rede: GN v. 13.9.1883. „rachunki nasze z Europą jeszcze nie załatwione. W rubryce ‚winien‘ nie mamy nic – w rubryce ‚ma‘ – wszystko“, GN v. 13.9.1883. Vgl. Kap. 6.3. Diese Haltung entspricht dem grundsätzlich von Cohen, Education, S. 1 f., konstatierten nur geringen Willen der liberalen Mittelklassen, sich gegen die Dynastie aufzulehnen, und der Bereitschaft zu einem Ausgleich mit dieser. Zugleich seien sie unfähig gewesen, die überkommenen ständischen Relikte zu beseitigen. GL v. 8.1.1903 mit einer Einladung des Komitees an den Rat zur Feier des 40. Jahrestags des Januaraufstandes. In Rutowskis Nachlass (ZNiO, PR, 13438/II, Bl. 153) wird ein eigenes Komitee für die Organisation der Feiern erwähnt, das sich wiederum in Unterkomitees unterteilte.
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Das zunehmend systematische Vorgehen bei der Auswahl nationaler Feiertage führte dazu, dass etwa seit der Jahrhundertwende jedes Jahr mehrere nationale Gedenktage begangen wurden, die jedoch in ihrer Bedeutung variierten. Während Prokopovych davon ausgeht, dass bis in die 1890er Jahre die Stadt weniger eine Denkmal-, denn eine Feierpolitik136 vertrat, so häuften sich jedoch die Feiern nach der Jahrhundertwende: Gerade die Jahre des sich intensivierenden Nationalitätenkonflikts wurden auch zu Jahren einer intensivierten und zielgerichteten Gedenktätigkeit durch national-polnisch aufgeladene und im Namen der Stadt organisierte Feiern. Die Denkmäler, insbesondere das Mickiewicz-Denkmal, waren dabei häufig Anlass und Zielpunkt von Festumzügen und Paraden, sodass die Feier- und Denkmalpolitik in enger Verbindung zueinander standen.137 Für diese systematisch betriebene Gedenkpolitik in Form von Feiern wurden zahlreiche Anlässe gefunden, durch welche die polnische Geschichte vergegenwärtigt werden sollte und verklärt wurde.138 Die Feiern rekurrierten entweder auf die Bedeutung des jagiellonischen Reiches und der Rzeczpospolita oder auf den polnischen „Freiheitskampf “ und auf die großen polnischen Kulturschaffenden, insbesondere Literaten. So wurde beispielsweise der Hochzeit des litauischen Großfürsten Jagiełło mit Königin Hedwig gedacht, da durch sie die polnisch-litauische Personalunion (Union von Krewo 1386) entstanden war.139 Weitere Beispiele sind der 400. Todestag des in der Lemberger Bernhardinerkirche begrabenen Hl. Johannes von Dukla140 im Jahre 1884, der 200. Todestag von Jan III. Sobieski141 (1896), der 100. Todestag von König Stanisław August Poniatowski (1897), der 80. Todestag des Aufstandshelden Tadeusz Kościuszko142 (1905), der 80. Jahrestag des Novemberaufstandes von 1830/31 (1910), der 500. Jahrestag der polnisch-litauischen Union von Horodło (1913), der 400. Todestag des Renaissancedichters Mikołaj Rej im Jahre 1905143, der 300. Todestag des Jesuitenpredigers Piotr Skarga144 (1912), die 100. Geburts- resp. Todestage des polnischen Schriftstellers Józef Ignacy Kraszewski (1912145), des bedeutendsten polnischen Aufklärers Hugo Kołłątaj (1912146) sowie von Frédéric (Fryderyk) Chopin (1910147). Begangen 136 137 138
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Prokopovych, Kopiec (2006), S. 2. Allgemein zur polnischen Erinnerungspolitik im „langen“ 19. Jahrhundert: Patrice M. Dabrowski, Commemorations and the Shaping of Modern Poland, Bloomington/IN etc. 2004. Vgl. auch Emil Brix, Kontinuität und Wandel im öffentlichen Gedenken in den Staaten Mitteleuropas, in: ders. / Hannes Stekl (Hrsg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien etc. 1997, S. 13–21, der den Zusammenhang von symbolischer Repräsentation und Reproduktion resp. Bekräftigung der verkörperten Ordnung durch Gedenktage hervorhebt. Vgl. GL v. 17.2.1886. Vgl. GL v. 11.7.1884. Vgl. GL v. 16.4.1896. Vgl. GL v. 14.10.1897. Vgl. GL v. 7.11.1905. Vgl. GL v. 5.7.1912. Vgl. ZNiO, PR, 7467/I, Bl. 447. Vgl. GL v. 29.2.1912; 27.4.1912. Vgl. GL v. 14.10.1910.
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wurden aber auch die jeweiligen runden Jahrestage der polnischen ‚Freiheitskämpfe‘, des November- (1830/31) und des Januaraufstandes (1863/64). Eine der größten Feierlichkeiten und die einzige für eine Frau war die auf Kosten der Stadt148 Lemberg vollzogene Beisetzung der berühmten polnischen Schriftstellerin Maria Konopnicka am 11. Oktober 1910, an der 50.000 Personen teilnahmen. Sie wurde zu einer Manifestation der nationalen Einheit149 und für die Stadt Lemberg eine Möglichkeit zu demonstrieren, dass sie ein kulturelles Zentrum der polnischen Nation war. Dagegen gedachte die Stadt Lemberg nicht in einer eigenen Feier des 100. Jahrestags des Kościuszko-Aufstandes 1894, während es in Krakau größere Feiern und in der Provinz von Bauern und Sozialisten organisierte Feiern gab.150 Weil es in anderen Jahren Gedenkfeiern in Lemberg gab, wird deutlich, dass den Akteuren das Risiko wohl zu groß war, als Hauptstadt und Ort der Allgemeinen Landesausstellung im gleichen Jahr über eine solche Manifestation des Freiheitskampfes Vorwürfe mangelnder Loyalität und den Unwillen gerade der Reichsbehörden auf sich zu ziehen. Genau aus diesem Grund war eine deutliche Verbindung der Landesausstellung mit dem Gedenken des Aufstandes abgelehnt worden (vgl. Kap. 6.2.1). Der 300. Jahrestag der Brester Union von 1596, durch welche die Kirchenunion zwischen den orthodoxen Bischöfen der Rzeczpospolita und der römisch-katholischen Kirche begründet worden war, wurde jedoch nur in Form von Gottesdiensten in den Kirchen gewürdigt, was darauf hindeutet, dass der Stadtrat es vermeiden wollte, einen Bezug zur ruthenischen Geschichte herzustellen. Die einzige national intendierte, nicht einem Polen gewidmete Gedenkfeier war diejenige zum 100. Todestag von Berek (Dov Ber) Joselewicz, einem jüdischen Kämpfer des Kościuszko-Aufstandes und Offizier der Polnischen Legion Henryk Dąbrowskis.151 Das zur Organisation bestellte Ratskomitee stand vor der besonders schwierigen Aufgabe, diesem Jahrestag einen allgemein-nationalen Anstrich zu geben. Nach einem Gottesdienst in der Synagoge zogen die teilnehmenden jüdischen Verbände zur Joselewicz-Straße, wo eine Gedenktafel enthüllt wurde. Dort formierte sich der gesamte Umzug, an dem beispielsweise die Vereinigung der Aufstandsteilnehmer von 1863 teil-
148 Vgl. GL v. 11.10.1910. Maria Konopnicka wurde vor allem durch die Rota (Gelöbnis, 1910) berühmt, die als patriotisches Kampflied gegen die Germanisierung gesungen wurde. 149 Vgl. GL v. 13.10.1910; Stanisław Nicieja, Łyczaków. Dzielnica za styksem [Łyczaków. Das Viertel hinter dem Styx], Wrocław etc. 1999, S. 31 f. Eine vergleichsweise frühe nationale Manifestation bildete im Juli 1868 das Begräbnis des 1867 in Frankreich verstorbenen Malers Artur Grottger, der auf dem Łyczaków-Friedhof beigesetzt wurde. Es wurde jedoch nicht auf Kosten der Stadt durchgeführt. 150 Magdalena Micińska, Gołąb i orzeł. Obchody rocznic kościuszkowskich w latach 1894 i 1917 [Taube und Adler. Die Feiern zum Kościuszko-Jahrestag in den Jahren 1894 und 1917], Warszawa 1997, S. 17–43. Jedoch gedachte der Stadtrat in anderen Jahren seines Geburtstages (etwa GL v. 20.10.1893) und entsandte auch eine Delegation ins Polnische Museum nach Rapperswil, wo Ende Oktober 1895 Kościuszkos Herz beigesetzt wurde (31.10.1895). 151 Mit französischer Genehmigung gründete Dąbrowski die Legion, um in Italien gegen die Habsburger zu kämpfen, wodurch er für die polnische Unabhängigkeit kämpfen wollte.
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nahm, und man legte am Mickiewicz-Denkmal einen Kranz nieder. Die Häuser in den Straßen, durch die der Umzug führte, wurden geschmückt.152 Vizestadtpräsident Tadeusz Rutowski und Dr. Jakob Horowicz als Vertreter der jüdischen Gemeinde hielten Festreden, über die aber nicht weiter in der Presse berichtet wurde. Die organisierende Ratskommission scheint durch die Verknüpfung ein polnisches Identifikationsangebot für die Lemberger jüdische Bevölkerung intendiert zu haben, das die polnischen Gazetten nicht diskutierten. Zu den verschiedenen Jahrestagen gab es immer Festgottesdienste und -vorstellungen im Städtischen Theater, Dekorationen zumindest der öffentlichen Gebäude und zahlreicher Privathäuser im Innenstadtbereich und meist festliche Empfänge oder Festvorträge; in den Schulen fanden außerdem auf den Anlass abgestimmte Veranstaltungen statt. Zum 100. Jahrestag der ersten Teilung 1772 gab es nur einen Aufruf des Stadtrates an das Volk und es wurden keine Vergnügungen durchgeführt. Eine größere Erinnerungsfeier hätte die Annexion des Landes durch die Habsburgermonarchie und die Aufhebung der alten städtischen Autonomie thematisieren müssen, was Zweifel an der Loyalität hervorgerufen hätte. Diese Problematik war dem Stadtrat bewusst, daher spendete er das eingesparte Geld für einen Bildungsfonds, um Missklänge und Zweifel an der Loyalität der Stadt Lemberg zur Monarchie auszuschließen.153 Nur eines im engen Zusammenhang mit der lokalen Geschichte stehenden Ereignisses wurde öffentlich gedacht. 1905 sollte der 250. Jahrestag des Endes von sechs Wochen Belagerung Lembergs unter Chmel′nyc′kyj im Jahre 1655 feierlich begangen werden.154 Die Abläufe an jenem Tage zeigten aber, wie schwierig es war, die lokale Geschichte als rein polnische zu inszenieren. Gerade dieser Gedenktag offenbarte die unterschiedlichen, von einer nationalen Sicht geprägten Interpretationen der Lemberger Geschichte, sodass der polnisch-ruthenische Gegensatz anlässlich dieser Gedenkfeier eskalierte. Für die polnische Lesart handelte es sich nicht nur um die Befreiung von der Belagerung der Stadt, sondern auch insgesamt von der Bedrohung aus dem Osten, weil sich Chmel′nyc′kyj mit dem Moskauer Heer verbündet hatte. Innerhalb der ruthenischen Bevölkerung gab es unterschiedliche Wertungen und Reaktionen. Der Aufstand der Zaporoger Kosaken (1654–1657) unter Hetman Chmel′nyc′kyj war gegen die mit der polnischen Oberherrschaft verbundene Adelswillkür und gegen den Druck gerichtet, die (Kirchen-)Union von Brest durchzusetzen, sodass sich Chmel′nyc′kyj mit dem Zaren verbündete. Daher konnten die Jungruthenen (Narodovici) ihn im Gegensatz zu den Russophilen nicht ehren.155 Gegen die Feier des Jahrestags protestierte
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Vgl. CDIAL, f. 146, op. 1, spr. 5418, Bl. 108–116; GL v. 12.6.1909. Vgl. Białynia Chołodecki, Lwów w XIX stuleciu, S. 30. Gerade dieser Jahrestag ist bislang nicht analysiert worden, sieht man von den knappen Bemerkungen Prokopovychs, Habsburg Lemberg, S. 223–226, ab. Übersetzung eines Artikels der ruthenischen Zeitschrift Haličanin v. 6.(25.)10.1905, in: CDIAL, f. 101, op. 1, spr. 5, Bl. 40.
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der ruthenische Sozialdemokrat Semen Wityk, späterer Abgeordneter zum Reichsrat (1907–1918), in einem versöhnichen Aufruf an die „Leute guten Willens“, dem sich Tausende, wohl Ruthenen, anschlossen. Er betonte, dass durch die Chmel′nyc′kyj-Feiern der Friede zwischen beiden Nationen zugunsten von Rassen- und Religionshass gestört werde, zumal auch für die Juden die Erinnerung an den Chmel′nyc′kyj-Aufstand wegen der von dem Kosakenhetman initiierten Pogrome wenig erfreulich sei.156 Sie seien von beiden Seiten als Spielball benutzt worden. Generell könne ein Bewohner Lembergs auch nicht auf eine zweimalige Belagerung der Stadt stolz sein.157 Das Rathaus und die Gebäude der Galizischen Sparkasse sowie des Städtischen Theaters waren an dem Tag festlich mit den polnischen weiß-roten Flaggen geschmückt.158 Nach vormittäglichen Festgottesdiensten in der römisch-katholischen und der armenischen Kathedrale fand nachmittags ein offizieller Empfang statt, an dem der fast vollständig versammelte Stadtrat, den der Stadtpräsident zur Teilnahme ausdrücklich aufgefordert hatte, die Reichsrats- und Landtagsabgeordneten, die örtliche Geistlichkeit, Vertreter von Vereinigungen und öffentlichen Institutionen sowie eine große Öffentlichkeit teilnahmen. Während des Festaktes wurden patriotische Lieder gesungen; anstelle einer Festansprache des Stadtpräsidenten hielt Stadtarchivar Aleksander Czołowski einen historischen Vortrag. Am Ende der Veranstaltung erhielten alle Teilnehmer eine von der Stadt in Auftrag gegebene und finanzierte Broschüre von 45 Seiten des Lemberger Historikers Franciszek Jaworski über „die Verteidigung Lembergs 1655“159 sowie eine Erinnerungskarte der jüdischen Gemeinde, auf der die Weigerung des damaligen Bürgermeisters, die Juden auszuliefern, abgedruckt war.160 Bei der abendlichen Festvorführung im Theater wurden nach dem Prolog der „dem polnischen Herzen so teure Marsch Dąbrowskis“161 sowie andere patriotische Lieder gespielt, wobei sich das Publikum, so das Resümee des Dziennik Polski, nicht so zahlreich wie vermutet versammelt hatte.162 Dass die geringe Frequenz der Abendveranstaltung mit der ruthenischen Gegenveranstaltung im Nationalhaus (Narodnyj Dim163) bzw. mit der anschließenden blutigen
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Die Lemberger jüdische Bevölkerung hatte sich letztlich freigekauft. Ebd. Vgl. GL v. 11.11.1905; v. 12.11.1905; GN v. 12.11.1905. Kritische, antijüdische Bezugnahme auf die Kartenverteilung im ruthenischen Haličanin v. 6.(25.)10.1905, in: CDIAL, f. 101, op. 1, spr. 5, Bl. 39. 159 Franciszek Jaworski, Obrona Lwowa w 1655 r. Wspomnienie dziejów w 250. rocznicę oblężenia miasta przez moskali i kozaków [Die Verteidigung Lembergs im Jahr 1655. Historische Erinnerungen zum 250. Jahrestag der Belagerung der Stadt durch die Moskowiter und Kosaken], Lwów 1905. 160 Vgl. GN v. 14.11.1905; KL v. 14.11.1905; der DzP v. 13.11.1905 erwähnt die Erinnerungskarte, die Gazeta Narodowa nicht. 161 „drogiego sercu polskiemu Marsza Dąbrowskiego“, DzP v. 13.11.1905. Der Marsch wurde 1927 zur Nationalhymne erhoben. 162 Vgl. ebd. 163 Vgl. zu dessen Rolle: Anna Veronika Wendland, Macht, Medien und öffentlicher Raum in galizischen National- und Gesellschaftshäusern: Der Lemberger ruthenisch-ukrainische Narodnyj dim
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Auseinandersetzung mit der Polizei zusammenhing, ist zu vermuten.164 Dort hatten sich zahlreiche Zuhörer zu einem historischen Vortrag von Dr. Kost′ Levyc′kyj versammelt, der Chmel′nyc′kyj als Helden und Führer im Unabhängigkeitskampf des ruthenischen Volkes bezeichnete.165 Anschließend fassten die Teilnehmer eine Resolution zu Ehren dieses großen Hetmans, da er mit seinen Taten zwischen 1648 und 1655 begonnen habe, das wolhynisch-galizische Königreich aus der polnischen Unfreiheit zu befreien. Als schließlich die Veranstaltung mit der Aufforderung geschlossen wurde, friedlich auseinanderzugehen, wurden von der Zuschauergalerie Worte gerufen, mit denen laut Dziennik Polski klar gewesen sei, dass die Veranstaltung nicht friedlich enden würde: „Zum Rathaus“. Es kam trotz einiger beruhigender Worte der Organisatoren zu Kämpfen mit der Polizei und zwei Schüsse wurden in Richtung Polizei abgefeuert, welche die Demonstration auflöste. Auf dem Marktplatz versammelte sich wiederum eine Gruppe von Demonstranten, vor allem von der Schul- und Handwerkerjugend, und attackierte die Polizei, sodass die Auseinandersetzungen bis in die späten Abendstunden dauerten.166 Diese Unruhen zeigten, dass lokalhistorische Ereignisse, die von ruthenischer Seite diametral unterschiedlich bewertet werden konnten, sich nicht für den städtischen Festkalender eigneten, weil sie den Deutungsanspruch des polnisch dominierten Stadtrates und die lokale Sicherheit gefährden konnten. Nicht allein deshalb, sondern auch aus dem Anspruch heraus, als polnische Ersatzhauptstadt zu fungieren, eigneten sich für die kommunale Geschichtspolitik gesamtpolnische Ereignisse und Persönlichkeiten erheblich besser. Die Feiern zu den polnisch-nationalen Jahrestagen wie dem 3. Mai als Jahrestag der Verfassung von 1791, der runden Jahrestage der polnischen Aufstände und der siegreichen Schlacht von Tannenberg über den Deutschen Orden 1410 waren insgesamt nur unter den spezifischen Bedingungen in Galizien möglich. In den ersten Jahrzehnten nach Erreichen der städtischen Autonomie mussten noch einige Hürden insbesondere bezüglich der Feiern zum 3. Mai überwunden werden, weil die Landesbehörden hierin wohl Möglichkeiten zu Loyalitätskonflikten zur Habsburgermonarchie erkannten. Trotzdem wurde seit 1878 der 3. Mai mehr oder minder regelmäßig begangen.167 Die in seinem Kontext, in: Peter Haslinger / Heidi Hein-Kircher / Rudolf Jaworski (Hrsg.), Heimstätten der Nation. Ostmitteleuropäische Vereins- und Gesellschaftshäuser im transnationalen Vergleich, Marburg 2013, S. 51–70. 164 KL v. 13.11.1905 bezeichnete die ruthenische Gegenveranstaltung als provokativ und feindlich. 165 „bohatera i wodza walki za niepodległość ruskiego narodu“, DzP v. 13.11.1905, mit einer scharfen Kritik an dieser Auslegung, da der Vortragende die Fakten tendenziös gefälscht habe. 166 Bei den blutigen Auseinandersetzungen wurden sieben Polizisten und eine unbekannte Zahl an Demonstranten verletzt, sechs Demonstranten wurden verhaftet. Vgl. DzP v. 13.11.1905 und KL v. 13.11.1905 mit ausführlichen Beschreibungen der Vorfälle. 167 Vgl. die Berichte der k. k. Polizeidirektion in Lemberg über die Feiern 1878 und 1880, CDIAL, f. 350, op. 1, spr. 2378, Bl. 1–13; Czesław Brzoza, Aus der Geschichte des 3. Mai-Gedenktages in Polen, in: Emil Brix / Hannes Stekl (Hrsg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien etc. 1997, S. 217–230.
6.1 Polnische Geschichte und Kultur im öffentlichen Raum
299
Feiern an diesem Jahrestag wurden jedoch von den Landesbehörden kritisch beobachtet, weil sich der Stadtpräsident und andere lokale Politiker engagierten. 1878 wollte der Stadtpräsident eine „Exkursion“ mit 400 Personen durch die Stadt veranstalten, was die Statthalterei als ostentatives Verhalten charakterisierte. Die Lemberger k. k. Polizeidirektion wollte diese verbieten, verhindern konnte sie den nun als „Spaziergang“ zum Franz-Josephs-Berg bezeichneten Umzug aber nicht. 1880 wurde der Tag auch genutzt, um feierlich Erde auf den Hügel der Union von Lublin aufzuschütten.168 Statthalter Badeni wollte 1891 eine herausragende Würdigung des 100. Jahrestages der Verfassung vom 3. Mai unterbinden. Jedoch wurden die dennoch stattfindenden Feiern schließlich zu einer Art Präzedenzfall. Die Möglichkeit, polnisch-nationale Feiern durchzuführen, wurde anlässlich dieses Jubiläums behördlich ausgefochten. Seitdem lassen sich in den Quellen keine weiteren grundsätzlichen Behinderungen seitens der Landesverwaltung mehr ausmachen. Die Feiern, die von der eigens dazu berufenen Stadtratskommission geplant wurden, wurden deshalb vom Statthalter verboten, weil angeblich der Stadtrat mit diesem Beschluss seine (nicht weiter ausgeführten) Kompetenzen überschritten habe.169 Hiergegen beschloss der Rat einstimmig, einen Rekurs beim Innenminister einzulegen und diesen von den polnischen Reichsratsabgeordneten (Koło Polskie/Polenklub) in Wien übergeben zu lassen. Um zu zeigen, dass solche Feiern einer loyalen Haltung zur Monarchie entspringen und eine habsburgische Identität nicht gefährden würden, sollte der Verfassungstext übersetzt werden. Auf diese Weise würde der Ministerpräsident erkennen können, dass in diesem Text „nichts Gefährliches und den Gesamtstaat Bedrohendes“170 enthalten sei. Ratsherr Apolinary Stokowski, der den Antrag für die Durchführung der Feiern gestellt hatte, begründete den Rekurs damit, dass die Verfassung jedem Bürger die Freiheit zugestehe, seine Überzeugungen auszudrücken. Dies müsse auch für autonome Korporationen gelten. Da der Rat eine solche sei, habe er seine Kompetenzen nicht überschritten. Denn die Feiern seien nur ein Ausdruck „unserer [der polnischen Ratsherren] Gefühle“, auch seien solche Probleme 1883 bei der (letzten) Feier zum 3. Mai nicht aufgetreten.171 Nachdem die Feiern schließlich genehmigt worden waren, konnte das Lemberger Komitee die Bevölkerung zu einem Ausdruck des „Patriotismus und des Gefühls der Solidarität aller Einwohner Lembergs“172
168
CDIAL, f. 350, op. 1, spr. 2378, Bl. 16: Unter der Bedingung der strikten Programmeinhaltung wurde dieser „Spaziergang“ schließlich genehmigt. Vgl. auch Kap. 6.1.2. 169 Am 26.2.1891 hatte er einstimmig beschlossen, eine eigene Ratskommission mit 15 Personen (Ratsherren und Personen von außerhalb des Rates) zu berufen (GL v. 28.2.1891; SP v. 28.2.1891); der Bericht in der GL v. 20.3.1891 verweist noch auf eine Sitzung vom 12.3.1891. Jedoch wird in dem in GL v. 14.3.1891 (auch in SP v. 14.3.1891) abgedruckten Protokoll darauf nicht Bezug genommen. Dieser Instanzenweg wurde im § 108 des Statuts von 1870 festgelegt. 170 „nic niebezpiecznego i grożącego całości państwa“, GL v. 20.3.1891. 171 „uczuć naszych“, DzP v. 21.3.1891. 172 „patrjotyzmu i poczucia solidarności wszystkich mieszkańców Lwowa“, DzP v. 3.5.1891.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
auffordern. Um zu demonstrieren, dass hierbei die Ruhe in der Stadt aufrechterhalten würde, wurde noch eine Bürgerwache eingerichtet. Insbesondere der Jahrestag der Schlacht von Tannenberg mit einer explizit antideutschen Konnotation war seit der Jahrhundertwende zu einem Fixpunkt im kommunalen Festkalender173 geworden, an dem die Bevölkerung zu Spenden (sog. dar grunwaldzki) aufgerufen wurde. Von besonderer Bedeutung war der 500. Jahrestag 1910; jedoch fand in Krakau mit der Enthüllung eines Denkmals die zentrale Grunwald-Feier mit 150.000 Teilnehmenden statt. Der Lemberger Rat entsandte dorthin eine größere Delegation, was auch zu anderen Gelegenheiten gegenseitige Praxis war. Jedoch sollte durch die Präsenz der Lemberger Vertreter ausdrücklich die Bedeutung der Hauptstadt herausgestellt werden.174 In Lemberg selbst wurde insofern des Ereignisses gedacht, als der Stadtrat beschloss, ein Grunwald-Haus (dom grunwaldzki) als eine Art Nationalhaus zu errichten, in dem sich Handwerks- und Industrievereinigungen ansiedeln sollten.175 Deutlich wird bei der Vielzahl der hier nicht umfassend aufzuzählenden und zu beschreibenden Gedenkfeiern, an denen sich der Rat beteiligte, dass es ihm stets darum ging, den polnischen Charakter der Stadt zu begründen und zu festigen sowie das nationale Bewusstsein der Bevölkerung zu stärken.176 Diese Aufgabenzuschreibung fasste der Stadtpräsident Godzimir Małachowski in seiner Ansprache an die im Ratssaal versammelten Veteranen anlässlich der Feiern zum 40. Jahrestag des Januaraufstandes von 1863/64 einprägsam zusammen: „Was ist die Lehre daraus [aus dem Scheitern des Januaraufstandes]?“, fragte er und beantwortete diese Frage selbst: keine andere, als heute hundert Mal mehr die Pflicht einer verdoppelten intensiven Arbeit an der Bewusstmachung und Aufklärung des Volkes, des heute stärksten nationalen Elements. […] Wir fühlen heute unsere […] Verantwortung gegenüber [des Volkes] Zukunft und selbst wenn heute das Schlachtfeld und seine Mittel völlig anders sind, sind die Ideale und Ziele gleich geblieben […] ‚Alles für das Vaterland!‘ rufen wir und gehen an die Arbeit und nehmen die Mühsal auf!177 173 174 175
176 177
So etwa für 1902: DALO, f. 3, op. 1, spr. 3; op. 1, spr. 4397, Bl. 80. Ein Beispiel sind die Feierlichkeiten der Umbettung Stanisław Żółkiewskis 1909, zu denen der Rat ca. 40 bis 45 Vertreter in die nahegelegene Stadt Żółkiew entsandte, vgl. GL v. 18.9.1909. Vgl. GL v. 20.4.1909 (es wurde bereits ein Jahr im Voraus mit den Planungen begonnen, was auf die dem Ereignis zugemessene Bedeutung hinweist), v. 29.4. und 28.6.1910. Zur Geschichte des Denkmals in Krakau: Jacek Purchla, Das Grunwald-Denkmal in Krakau. Vergangenheitskult und Stadtentwicklung, in: Gunther Mai (Hrsg.), Das Kyffhäuser-Denkmal 1896–1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext, Köln etc. 1997, S. 207–224. Allgemein zu diesen Funktionen: Hannes Stekl, Öffentliche Gedenktage und gesellschaftliche Identitäten, in: ders. / Emil Brix (Hrsg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien etc. 1997, S. 91–116. „Jakaż z tego dla nas nauka? – nic inna, jak stokroć dziś większy obowiązek zdwojonej, silnej pracy nad uświadomieniem i oświeceniem ludu, tego najsilniejszego dziś żywiołu narodowego. […] czujemy dziś naszą, […] wobec narodu odpowiedzialność za jego przyszłość, – a choć teren walki
6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau
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Vizepräsident Tadeusz Rutowski fasste diese Haltung anschließend nochmals prägnant zusammen, indem er betonte, wie wichtig es aus Sicht der kommunalpolitischen Akteure war, das nationale Bewusstsein in den breiten Massen („lud“/„Volk“) der Bevölkerung zu verankern, damit die „Nation nationalisiert“178 würde. Insgesamt wird mit Anna Veronika Wendlands Worten deutlich, dass die „massiv gesteigerte politische Partizipation der Polen […] in öffentliche Präsenz umgesetzt“ wurde.179 Der öffentliche Raum wurde unter dem Dach des habsburgischen Anspruchs polnisch gestaltet; hierbei spielten die multiethnischen Traditionen praktisch keine Rolle, sondern die kommunalpolitischen Akteure versuchten, sie aus dem Wahrnehmungsfeld des öffentlichen Raumes so weit wie möglich zu verdrängen. 6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau Eng mit dem vom Lemberger Stadtrat vertretenen Geschichtsbild hing die kommunale Selbstdarstellung zusammen, weil dadurch die polnische (Wieder-)Eroberung des städtischen Raumes legitimiert und die lokal-polnische Identität gestärkt werden konnte. Auf diese Weise wurde ein spezifisches städtisches Selbstbild und damit eine „invention of tradition“ (Eric Hobsbawm) auf Stadtebene geschaffen.180 Für die kommunale Selbstdarstellung stellten die Jahre 1894/95 einen mehrfachen, aber zentralen Wendepunkt dar: Seitdem wurden das polnisch-nationale Selbstbild und die damit verbundene Selbstzuschreibung Lembergs als polnische Ersatzhauptstadt expliziter dargestellt. 6.2.1 Die Allgemeine Landesausstellung 1894 Die Allgemeine Landesausstellung (Powszechna Wystawa Krajowa) von Juni bis Oktober 1894 bildete nicht nur eine Zäsur für die Stadtentwicklungspolitik (s. Kap. 4.3.1). In Zusammenhang mit deren Rechtfertigung war sie auch in Hinblick auf die kommunale Selbstdarstellung ein Wendepunkt, obwohl ihre Besucherzahlen181 hinter den Erwartungen zurückblieben. Von Bedeutung für die Bewertung solcher Ausstellungen ist es, dass
i jej środki zupełnie inne, też same pozostały dziś ideały i cele […] ‚Wszystko dla Ojczyzny!‘ Wołamy idąc w trud i znój!“, SP v. 22.1.1903. 178 „unarodowienie narodu“, ebd. 179 Wendland, Macht, S. 54. 180 Saldern, Stadtpolitik, S. 30 ff., die betont, dass die städtische Identitätspolitik mit derjenigen der Nation vergleichbar ist. 181 Anna Veronika Wendland, Eindeutige Bilder, komplexe Identitäten. Imperiale, nationale, regionale Identitätskonzepte und ihre Visualisierung auf der galizischen Allgemeinen Landesausstellung in Lemberg 1894, in: ZfO 58, 2009, S. 111–161, hier: S. 146; vgl. auch DALO, f. 3, op. 1, spr. 5801, Bl. 5 mit einem Fazit von 1914.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
sie – analog zu den Weltausstellungen – als eine Bühne, als Mittel verstanden wurden, um Ideen zu verbreiten und Debatten über diese zu fördern.182 Über das Forum der sich konstituierenden größeren Öffentlichkeit erhielt die Allgemeine Landesausstellung eine politische Bedeutung, die erheblich über die wirtschaftspolitische hinausging. Eine solche Zuschreibung wurde einerseits in der jeweiligen Ausstellungssemantik, andererseits auch schon in den vorhergehenden planenden und konzipierenden Debatten deutlich.183 In ihrer Nachhaltigkeit unterschied sie sich deutlich von der ebenfalls in Lemberg ausgerichteten Landesausstellung von 1877184 sowie von der Krakauer Landesausstellung 1887. Obwohl sich 1877 Vertreter des Stadtrates185 an der Vorbereitung und Durchführung der Ausstellung186 im Park des Jabłonowski-Palais beteiligt hatten, hatte sie im öffentlichen Raum keine markanten Spuren hinterlassen. Daher stellten die beiden vorherigen Ausstellungen mit den Worten des offiziellen Führers durch die Ausstellung und Stadt von 1894 nur „Miniaturbilder neben einem Riesengemälde“187 dar. 1894 wurde Lemberg selbst zu einem Ausstellungsobjekt der galizisch-polnischen Leistungsschau, das in die Gesamtausstellung integriert wurde. Die Landesausstellung wurde nicht zufällig für das Jahr 1894 geplant, in dem sich der Kościuszko-Aufstand zum 100. Mal jährte. Weil immer aber deutlicher wurde, dass die mit dem Gedenken an den Aufstand verbundenen demokratischen und antiösterreichischen Semantiken politische Probleme und den Eindruck von Illoyalität hätten provozieren können, vermieden die Ausstellungsmacher eine offensichtliche Verbindung und verschoben das Kościuszko-Gedenken in das zur Ausstellung gehörende Panorama, das Kościuszkos einzigen Sieg bei Racławice inszenierte.188 Den Impuls zu diesem „Riesengemälde“ gab 1891 der Kongress der Landesvereinigung der Kaufleute und Industriellen (Krajowe Towarzystwo Kupców i PrzeVgl. beispielsweise auch Alena Janatková, Modernisierung und Metropole. Architektur und Repräsentation auf den Landesausstellungen in Prag 1891 und Brünn 1928, Stuttgart 2008; Andreas R. Hofmann, Utopien der Nation: Landes- und Nationalausstellungen in Ostmitteleuropa vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: ZfO 58, 2009, S. 5–32. 183 Vgl. Janowski, Galizien, S. 805–858. Vgl. zur allgemeinen Rolle solcher Ausstellungen Hofmann, Utopien, S. 6 f. 184 Wendland, Eindeutige Bilder, S. 113, betont, dass seit 1848 bei Ausstellungen die „Akteure städtischer Selbstverwaltungen in dieser frühen Phase allenfalls bei organisatorischen Fragen“ eine Rolle spielten, während die Ausstellungspavillons von Privatleuten insbesondere von den Großagrariern dominiert worden seien. Vgl. auch ebd., S. 132. Ostaszewski-Barański, Pogląd, S. 130, zeigt aber, dass die Landesausstellung 1877 das Vertrauen in die eigenen Kräfte geweckt habe. Vgl. auch Prokopovych, Habsburg Lemberg, S. 245 ff. 185 So Stadtpräsident Aleksander Jasiński (ebenso der Krakauer Stadtpräsident), einige Ratsherren wie der Professor an der Technischen Hochschule Juljan Zachariewicz sowie der städtische Bauamtsleiter Juliusz Hochberger und der stellvertretende Leiter des Industriemuseums; es engagierten sich unter dem Vorsitz von Graf Włodzimierz Dzieduski zudem weitere Vertreter örtlicher und regionaler Gewerbe- und Landwirtschaftsvereinigungen. 186 CDIAL, f. 165, op. 1, spr. 355, Bl. 19. 187 Zipper, Führer, S. 120. 188 Wendland, Eindeutige Bilder, S. 118 f. Vgl. auch unten. 182
6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau
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mysłowców). Seit 1892 wurde die Allgemeine Landesausstellung intensiv geplant. Sie sollte ein umfassendes „Bild unseres [galizischen] gesellschaftlichen, ökonomischen und geistigen Lebens“189 geben. Im organisatorischen Führungsgremium waren bekannte Repräsentanten der wirtschaftlichen und politischen Gremien und Vereinigungen vertreten, u. a. waren der Vorsitzende der Landwirtschaftsgesellschaft Fürst Adam Sapieha als Vorsitzender und der Statthalter und spätere Ministerpräsident Graf Kazimierz Feliks Badeni als Stellvertreter tätig. Außerdem waren die Lemberger und Krakauer Stadtpräsidenten im Vorstand vertreten. Das eigentliche Exekutivkomitee bildeten der Lemberger Handelskammerpräsident Józef Marchwicki, der zugleich stellvertretender Stadtpräsident war, und sein Sekretär Juliusz Starkel mit vierzehn Mitarbeitern, sodass von einer engen Verquickung von Landes-, kommunalen und wirtschaftlichen Interessen auszugehen ist. Anna Veronika Wendland geht davon aus, dass die galizischen Eliten bei der gesamten Vorbereitung umfassend eingebunden waren, da rund 1.200 Personen in den diversen Organisationsausschüssen vertreten waren, von denen der überwiegende Teil polnischer Nationalität war.190 Die sich abzeichnende Unterfinanzierung des mit 625.000 Gulden veranschlagten Ausstellungsprojektes, das auch durch Spenden finanziert werden sollte, führte zu einem im Vergleich zu 1877 intensiveren finanziellen Engagement der Stadt Lemberg mit 80.000 Gulden. Von dieser Summe investierte sie 30.000 Gulden direkt und 50.000 Gulden in Infrastrukturmaßnahmen wie die elektrische Straßenbahn.191 Die kommunalpolitischen Akteure hatten in dem finanziellen und personellen Engagement eine Chance erkannt, verstärkte Mitspracherechte einzufordern und zugleich herausragende kommunale Repräsentationsmöglichkeiten zu erhalten. Deshalb wurden die im Rahmen der Ausstellung stattfindenden Ereignisse immer auch zu Feierlichkeiten der Stadt Lemberg gestaltet, wie Hanna Kozińska-Witt am Beispiel der Eröffnungsfeier, an der Erzherzog Karl Ludwig teilnahm, verdeutlicht.192 Hierdurch wird klar, dass die kommunalpolitischen Akteure die Ausstellung als Möglichkeit für verstärkte Impulse zur Stadtentwicklung und zur weiteren Profilierung Lembergs als Landes- bzw. polnische Ersatzhauptstadt erkannten und diese auch ergriffen. Dies wurde beispielsweise in dem Wahlkampf193 zu den 1893 anstehenden Ratswahlen und in der Ratssitzung deutlich, in welcher der Beschluss gefasst wurde, dem Kaiser
189
„obrazem naszego życia społecznego, ekonomicznego i umysłowego“, GL v. 8.6.1892; vgl. auch GL v. 30.6.1892. 190 Wendland, Eindeutige Bilder, S. 116. 191 Vgl. ebd. Das Land hatte 60.000 fl. zugesagt. 192 Hanna Kozińska-Witt, Städtische Selbstrepräsentation auf der Allgemeinen Landesausstellung in Lemberg 1894 am Beispiel der Stadt Krakau, in: ZfO 58, 2009, S. 162–196, hier: S. 178; Wendland, Eindeutige Bilder, S. 117. 193 GL v. 10.11.1892. So forderte das Bürgerkomitee (komitet obywatelski) die Wahl von fähigen Personen, die das städtische Interesse auch in Bezug auf die Ausgestaltung der Ausstellung verteidigen könnten.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
die Schirmherrschaft anzutragen.194 Um dieses Ziel zu erreichen, sollte die Ausstellung möglichst alle Bevölkerungsschichten195 des Landes ansprechen. Die Ausstellungsbesucher sollten wiederum einen möglichst guten Eindruck von der Stadt Lemberg mit nach Hause nehmen, wie der Stadtrat es im September 1893 als Ziel formulierte. Es handelte sich also einerseits um eine städtische Leistungsschau in Form eines Pavillons (s. u.) und andererseits um das ‚Herausputzen‘ der Stadt als schönes, modernes Ausstellungsobjekt, das möglichst „ordentlich“ sein sollte.196 Daher stand das Thema in der Vorbereitungsphase häufig auf der Tagesordnung der Ratssitzungen. Entsprechend intensiv, geradezu hektisch, wurden die Themen Stadtverschönerung und polnische Markierung des öffentlichen Raumes bearbeitet (vgl. auch Kap. 4.1.). Es wurde etwa auch gefordert, dass das Sobieski-Denkmal bis Ende Juni 1894 fertiggestellt sein müsse. Das „schöne Lemberg“ wurde somit auch hinsichtlich der städtischen Selbstdarstellung zu einem Leitthema der Vorbereitungszeit im Stadtrat und in der Presseberichterstattung.197 Die Stadt Lemberg stellte für die Ausstellung ein Gelände am südöstlichen Rand der Stadt an der Ausfallstraße nach Stryj zur Verfügung. Wie nachhaltig die Ausstellung für Lemberg tatsächlich war, zeigt sich etwa daran, dass sich im Anschluss an das Ausstellungsgelände ein Viertel mit Villen und gehobenen Mehrfamilienhäusern entwickelte, so wie sich das Gelände selbst zu einem Stadtpark mit Vergnügungsstätten veränderte.198 Die Ausstellung wurde, wie damals üblich, in Form von themenspezifischen Pavillons konzipiert, die vor allem das originäre Anliegen der Allgemeinen Landesausstellung, also Land- und Forstwirtschaft, Industrie und Handwerk, widerspiegelten. Es gab zudem privat finanzierte Pavillons vor allem der Großgrundbesitzer und wirtschaftlichen Vereinigungen, aber etwa auch des international renommierten Ingenieurs William Lindley. Der Pavillon Nr. 108 war der Stadt Lemberg vorbehalten: Deren Präsentation war technokratisch angelegt, indem die Stadt sich nicht als Ganzes199 mit ihrer spezifischen Topografie und Architektur, sondern nur bestimmte Aspekte der städtischen Infrastrukturen wie etwa die Gas- und Wasserwerke sowie die von ihr finanzierten Schulen und das Gesundheitswesen präsentierte. Jedoch wurde das Selbst- und Geschichtsbild nicht durch diese Objekte dargestellt, sodass sich die gesamte Ausstellung im Pavillon Nr. 108 nicht grundsätzlich von großstädtischen Pavillons auf anderen Ausstellungen unterschied. Sieht Anna Veronika Wendland200 dies als fehlendes Ausschöpfen von Möglichkeiten, so kann man aber auch zu dem Schluss kommen, dass gerade durch die Auswahl 194 195 196 197 198 199
Vgl. GL v. 19.11.1892. So etwa GL v. 19.11.1892. Vgl. z. B. GL v. 3.9.1893. Vgl. z. B. GL v. 13.1.1893. Wendland, Eindeutige Bilder, S. 142–145. Im Gegensatz zu Krakau 1887, wo der Krakauer Pavillon auch die Stadtentwicklung anhand von Karten umfasste. Vgl. Kozińska-Witt, Selbstrepräsentation, S. 172–178. 200 Wendland, Eindeutige Bilder, S. 132.
6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau
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der Objekte und durch die bewusst nüchterne Präsentation eine Leistungsschau des Erreichten vorbereitet wurde. Denn der Besuch der Stadt, der mit einer Fahrt vom Bahnhof durch die Stadt zum Ausstellungsgelände und von dort wieder zurück zur Stadtmitte mit der neuen elektrischen Straßenbahn (s. Kap. 4.3.1) verbunden werden konnte, illustrierte das Erreichte und machte es eindrücklich erlebbar. Die Form der Präsentation war also eine strategisch angelegte Selbstdarstellung, die zeigen sollte, dass die Lemberger Selbstverwaltung an die europäische Moderne anschlussfähig war.201 Daher zielte sie auch auf Anerkennung außerhalb der polnischen Nation, für die – auf den ersten Blick – weniger der nationale Anteil relevant war als die Präsentation von Urbanität. Auf den zweiten Blick jedoch werden gerade hierdurch nationale Anliegen deutlich. So betonte Stadtpräsident Edmund Mochnacki in seiner Antrittsrede 1893, dass die Ausstellung eine Feuerprobe für die polnische Industrie und die polnische Kunst sein soll. Dieser Gedanke soll uns immer beleben, verbinden und vereinigen. Wir sollen jegliche Bemühungen unternehmen, dass wir mit diesem vortrefflichen Werk uns des größtmöglichen Erfolgs für den Ruhm des polnischen Namens versichern.202
Insgesamt sollte durch die Ausstellung ein galizischer, aber durchaus auch polnischer Landespatriotismus bedient werden, weil „die Ausstellung die Ressourcen des Landes für das nationale und gesellschaftliche Einkommen zeigen soll.“203 Hierbei sollte das bisher Erreichte trotz der grundsätzlich ungünstigen wirtschaftlichen und sozialen Ausgangslage stolz präsentiert werden, wobei auch auf die ethnische Vielfalt in Galizien in Form der ethnografischen Ausstellungsteile hingewiesen werden konnte. Anna Veronika Wendland arbeitet die deutliche Gewichtung heraus: Die ruthenische Kultur wurde als bäuerlich-rural, also rückständig, die polnische dagegen als urban-modern dargestellt. Zugleich wurde auch die jüdische Kultur einem breiteren Publikum präsentiert, was die Besucher als ‚exotisch‘ empfanden.204 Zugleich boten die Besuche des Kaisers im September und anderer Angehöriger des Kaiserhauses während der Ausstellung sich an, Reichspatriotismus und Loyalität zu demonstrieren. Eine explizit polnische Markierung der Allgemeinen Landesausstellung wurde über andere Ebenen erreicht. Zunächst wurde die gesamte Ausstellungsarchitektur polnisch aufgeladen, indem das Planungskomitee 1893 explizit die polnischen Architekten 201 Kozińska-Witt, Selbstrepräsentation, S. 189. 202 „ma być próbą ogniową dla polskiego przemysłu i polskiej sztuki. Ta myśl powinna nas zawsze ożywiać, łączyć i jednoczyć, powinniśmy wszelkich dołożyć starań, ażeby temu świetnemu dziełu zapewnić jak najświetniejsze powodzenie na chwałę dla polskiego imienia“, zit. in: Ostaszewski-Barański, Pogląd, S. 247, Hervorhebung im Original. 203 „Wystawa ta, mająca wykazać zasoby krajowego dorobku narodowego i społecznego“, GL v. 10.2.1893. 204 Wendland, Eindeutige Bilder, S. 124–131.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
zu einer „patriotischen Anstrengung“ aufrief. Die Entwürfe der Pavillons sollten nach seinen Intentionen zeigen, dass es fähige polnische Architekten gäbe, die hierdurch „unser [der Polen] Wissen, unser ästhetisches Gefühl und unsere Vorstellungskraft“205 demonstrieren würden. Dieser Aufruf an die polnischen Architekten betonte, dass sie nicht über die Verwendung von Marmor, sondern durch „bescheidene Materialien“ eine Schönheit der Gebäude zustande bringen und damit beweisen könnten, dass es in Polen Architekten gibt und dass ihre Kunst stärker wird. […] und dass wir als [Staats-]Bürger handeln, die ihre staatsbürgerliche Verpflichtung erfüllen müssen.206
Dieser Vorgabe entsprach die Vorschrift, dass die auf dem Ausstellungsgelände Arbeitenden in polnischer Tracht mit der Konfederatka, der Kopfbedeckung der Polnischen Legionen in den Freiheitskriegen, gekleidet sein sollten. Schließlich wurden patriotisch-nationale Gefühle durch den Besuch des Panoramas von Racławice bedient.207 Dieses von den bekannten Historienmalern Jan Styka und Wojciech Kossak ausgeführte Panorama, das den entscheidenden Moment der mythisch verklärten, für die Aufständischen siegreichen Schlacht darstellte, wurde als wichtigster Bestandteil der Feiern anlässlich des 100. Jahrestags des Kościuszko-Aufstandes eingeweiht und im Laufe der Ausstellung – auch als obligatorischer Bestandteil von Schülerexkursionen – von knapp 300.000 Personen besucht, die teilweise aus den anderen Teilungsgebieten kamen.208 Nachdem bereits die Eröffnung als ein „Fest der Stadt Lemberg“209 inszeniert worden war, wurde das Rahmenprogramm zur Selbstdarstellung Lembergs als moderne, „schöne“ Stadt instrumentalisiert. Diese Gelegenheit wurde bei den zahlreichen Fachkongressen etwa der Ärzte und Naturwissenschaftler, der Techniker und ande-
205 „patryotycznego wysiłku architektów“, „naszą wiedzą, naszem poczuciem estetycznem, naszą wyobraźnią“, GL v. 12.1.1893. 206 „skromny materiały“, „że są w Polsce architekci i że ich sztuka potężnieje. […] i działajmy jak obywatele, którym obowiązek obywatelski spełnić należy“, ebd. Dieser Aufruf zeigt, dass das Komitee versuchte, alle Architekten als „polnisch“ zu vereinnahmen, denn zahlreiche Architekten hatten, wie beispielsweise der Architekt Ivan/Jan Lewiński, multiple, sich überlagernde Identitäten. 207 Wendland, Eindeutige Bilder, S. 137 ff. und 149 ff., erläutert, dass diese Gruppen sich größtenteils aus ruthenischen Bauernkindern zusammensetzten, sodass die ruthenische Presse diese Strategie der nationalistischen Beeinflussung scharf kritisierte. Aber grundsätzlich habe diese Propaganda Erfolg gehabt, weil die durch sie bedienten Narrative des polnischen Geschichtsbildes nur den gebildeten, bürgerlichen Schichten bekannt gewesen seien. 208 Hier hatte der Stadtrat einen erheblichen Anteil, auch wenn das Panorama von den Magnaten Adam Sapieha, Stanisław Badeni und Andrzej Lubomirski gesponsert wurde, denn die Ausführung wurde von einer Kommission geplant und überwacht, die sich teilweise aus Ratsmitgliedern zusammensetzte; die künstlerische Kommission umfasste neben den Malern u. a. Juljan Zachariewicz. Vgl. Micińska, Crossroads, S. 33–38. Zur Bedeutung von Panoramen in vergleichender Perspektive: Arnold Bartetzky / Rudolf Jaworski (Hrsg.), Geschichte im Rundumblick. Panoramabilder im östlichen Europa, Köln etc. 2014. 209 Kozińska-Witt, Selbstrepräsentation, S. 178.
6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau
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rer Berufsgruppen sowie beim Galizischen Städtetag genutzt. Neben den jeweiligen fachspezifischen Beratungen gab es polnisch-patriotische Reden bei den Empfängen der Stadt und bei sonstigen Veranstaltungen; außerdem wurden die Delegationen und Besuchergruppen, insbesondere aus der amerikanischen Polonia und aus den übrigen Teilungsgebieten, mit patriotischen Reden und Liedern begrüßt.210 Innerhalb dieser polnisch gefärbten Rahmung ging es darum zu verdeutlichen, dass die Organische Arbeit eine notwendige und daher weiter zu verfolgende Grundlage für die zukünftige Entwicklung der polnischen Nation hin zu einem unabhängigen Staatswesen war. Bei all diesen Gelegenheiten war die städtische Selbstrepräsentation zwar zunächst augenscheinlich zweitrangig, jedoch wirkte sie gerade hierdurch, zumal dies durch die Ausstellung begleitende Publikationen, insbesondere durch die Reiseführer (s. Kap. 6.2.3), besonders hervorgehoben wurde. Schließlich muss die Selbstdarstellung im Kontext des Konkurrenzverhältnisses zu Krakau und anderen Großstädten der Monarchie gesehen werden. Der Aufruf zum Architektenwettbewerb für die Ausstellungspavillons beinhaltete nicht zufällig einen Rekurs auf die Prager Ausstellungsarchitektur, weil „die schönen Gebäude der Ausstellung in Prag Werke der Hingabe der Techniker und Künstler gewesen sind. Und bei uns soll es nicht anders sein!“211 Hieran wird nicht nur die Orientierung an anderen Landesausstellungen deutlich, sondern auch die Prämisse, dass die Lemberger Ausstellung anderen nicht unterlegen sein dürfe. Im Sinn der Gesamtkonzeption der Ausstellung ging es nicht darum, die spezifische Geschichte und das Kulturleben der Stadt zu dokumentieren,212 sondern Lemberg als moderne und leistungsfähige Großstadt auf europäischem Niveau und damit als polnische Ersatzhauptstadt mit einem Führungsanspruch gerade gegenüber der „kulturellen Hauptstadt“ Krakau zu präsentieren.213
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Wendland, Eindeutige Bilder, S. 148 f.: Nur die Zusammenkunft der galizischen Bauern fiel aus diesem Schema heraus, weil sich mehr demokratische Stimmen äußerten und die nationale Symbolik weniger präsent war. „Piękne budynki wystawy w Pradze były dziełem poświęcenia techników i artystów i u nas nie może być inaczej!“, GL v. 12.1.1893. Wendland, Eindeutige Bilder, S. 133 ff. Nicht zufällig waren die ersten Unterzeichner des Aufrufs die Ingenieure Prof. Juljan Zachariewicz und Bauamtsleiter Juliusz Hochberger. Zum Konzept der „zwei Hauptstädte“ Galiziens (Krakau als die der Erinnerung, Lemberg als die des gegenwärtigen, modernen Lebens) vgl. Harald Binder, Politische Öffentlichkeit in Galizien: Lemberg und Krakau im Vergleich, in: Andreas R. Hofmann / Anna Veronika Wendland (Hrsg.), Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest, Stuttgart 2002, S. 259–280, hier: S. 271; vgl. auch Wood, Becoming Metropolitan, S. 4, und Krogner-Kornalik, Tod, S. 273 f.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
6.2.2 Die Festschrift Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895 als Chronik und Autobiografie des Stadtrates Die feierliche Erinnerung daran, dass die kommunale Autonomie durch die Hauptstadt des Landes, die „einst ein Teil eines unabhängigen, großen Staates mit eintausendjähriger Tradition“ war, erlangt wurde, sei „nicht nur ein Bürgerrecht, sondern eine Verpflichtung, der man sich nicht entziehen darf!“214 So fasste das Vorwort der 1896 im Eigenverlag publizierten, fast 730 Seiten und zwei ausklappbare mehrseitige Panoramen umfassenden Festschrift Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 (Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895) die leitenden Intentionen des Stadtrates bei der Erarbeitung dieser Chronik zusammen.215 Bereits im Juli 1893 beantragten der Stadtpräsident Edmund Mochnacki und der Vizepräsident Zdzisław Marchwicki die solide Erarbeitung einer solchen Festschrift zum 25. Jubiläum der kaiserlichen Sanktion des Statutes. Eine für die gegenwärtig lebende Gesellschaft wie für die späteren Generationen ungewöhnlich interessante Chronik soll zeigen, wie sehr wir [der Stadtrat] uns mit den uns gestellten Aufgaben beschäftigt haben, wie sehr wir unsere uns auferlegten Verpflichtungen erfüllt haben. Sie soll auch berücksichtigen, dass ein Blick zurück von außerordentlichem Nutzen ist, und zeigen, was sich in den vorautonomen Zeiten ereignet hat; ebenso soll sie vergleichende Blicke auf die Entwicklung und das Aufblühen unserer Stadt […] werfen. Gleichfalls soll sie beachten, dass die Feier der 25-jährigen Existenz der Autonomie unserer Stadt nicht würdiger gefeiert werden kann, als durch die Publikation eines solchen Werkes, das sich auf die Akten sowie die statistischen Daten stützt, die Zeugnis über die Tätigkeit der Stadtverwaltung ablegen und ihre Aktivitäten dem Urteil der öffentlichen Meinung unterstellen.216
214 „będącego częścią niepodległego niegdyś, wielkiego, o tysiącletniej tradycji państwa“, „nietylko prawo obywateli, ale to obowiązek, od którego uchylić się nie wolno!“, Edmund Mochnacki, Wstęp [Vorwort], in: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lwów 1896, n. pag. 215 Ausführlich: Heidi Hein-Kircher, Die Festschrift Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895. Die Leistungsschau als Legitimationsstrategie der kommunalen Nationalisierungspolitik, in: Documenta Pragensia 37, 2018 [2019], S. 607–628. 216 „Tak dla żyjącego spółeczeństwa, jak i dla późniejszych pokoleń, będzie to niezwykle zajmująca kronika, która miałaby wykazać, o ile wywiązaliśmy się z włożonego na nas zadania, i o ile spełniliśmy obowiązki na nas ciążące, zważywszy, że z niepomiernym pożytkiem będzie też rzucić okiem wstecz i wykazać, co się działo w czasach przedautonomicznych, oraz zostawić porównawcze poglądy na rozwój i rozkwit naszego miasta w pierwszym i drugiem okresie; zważywszy, że uroczystość ćwierćwiekowego istnienia autonomii naszego grodu nie może być godniej obchodzona, jak przez wydanie dzieła, opartego na aktach i faktach tudzież danych statystycznych, któreby świadczyły o działalności zarządów miejskich i podały ich czynności pod sąd opinii publicznej“, GL v. 21.7.1893.
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Diese Begründung des Antrags zeigt, dass es darum ging, eine Leistungsschau der Kommunalpolitik während der Autonomie auf Basis eines Vergleichs mit den älteren Epochen der Stadtgeschichte und der Heranziehung statistischer Daten über die gegenwärtige Entwicklung zu erarbeiten. Obwohl der Antrag einstimmig angenommen worden war, richtete der Stadtrat erst im Februar 1894 eine Kommission ein,217 die sich bis zum 14. Oktober 1895 mit der Erarbeitung dieser repräsentativen Chronik und mit den Vorbereitungen des Jubiläums befassen sollte. Sie beauftragte Honoratioren und leitende Verwaltungsangestellte der Stadt, entsprechende Beiträge zu verfassen. Sämtliche Autoren schrieben detail- und quellengesättigte Rückblicke und Darstellungen der gegenwärtigen Bedingungen, die teilweise ausführliche Auszüge bzw. Abdrucke der Quellen wie etwa die Provisorische Vorschrift von 1849 und zahlreiche Statistiken und Abbildungen insbesondere von städtischen, aber auch von Landesgebäuden umfassten. Die Chronik, die u. a. alle Ratsmitglieder erhielten,218 umfasste neben einem historischen Rückblick eine Darstellung der Funktionen der Stadtverwaltung und des Stadtrates bis 1848, darauffolgend der Jahre zwischen 1848 und 1870, um dann in zwei ausführlichen Kapiteln die Ratstätigkeit bis 1895 darzulegen. Die anschließenden Kapitel waren der öffentlichen Gesundheit, dem städtischen chemischen Labor, der territorialen Entwicklung der Stadt, dem Volksschulwesen, den städtischen Stiftungen, der Steuerentwicklung, den Gütern der Stadt, dann aber dem Magistrat, der städtischen Statistik, der gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung gewidmet, um daran anschließend die Präsidenten, Vizepräsidenten und Ehrenbürger der Stadt vorzustellen und, sozusagen als krönenden Abschluss, die Bedeutung Lembergs als Hauptstadt des Landes zu diskutieren. Die nicht behandelten Themen wie die Kulturpolitik verweisen darauf, dass die Stadt sich in diesem Bereich in den Augen der für die Festschrift Verantwortlichen noch nicht wirklich weiterentwickelt hatte. Vor allem aber wurde der multiethnische Charakter der Stadt weitestgehend ausgeblendet.219 Ausgangspunkt für sämtliche Texte war einerseits die Prämisse, dass die Autonomie der Stadt es den Bürgern Lembergs ermögliche, deren „Schicksal selbst zu lenken und
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GL v. 16.2.1894: neben Mochnacki und Dr. Marchwicki beteiligten sich u. a. Ciuchciński, der Historiker Karol Rawer sowie neun weitere Ratsherren. So der Ratsbeschluss vom 20.6.1895 (GL v. 21.6.1895); überreicht wurde die Schrift am 18.6.1896 in der Ratssitzung. In den Quellen werden die Kosten für die Erstellung und den Druck der repräsentativen Ausgabe (mit einem vergoldeten Stadtwappen auf dem Buchdeckel) nicht genannt. Etwa: Kazimierz Ostaszewski-Barański, Lwów w cyfrach [Lemberg in Zahlen], in: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lwów 1896, S. 556–663; deutlicher noch Bronisław Komorowski, Rozwój ruchu umysłowego i towarzyskiego we Lwowie [Die Entwicklung des geistigen und gesellschaftlichen Lebens in Lemberg], in: ebd., S. 664–684, hier: S. 682 f., der in seinem ethnografisch angelegten Beitrag über den Lemberger Menschenschlag und das gesellschaftliche und kulturelle Leben das der Ruthenen mit nur zehn, der Deutschen mit dreizehn und der Juden mit vier Zeilen erwähnt.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
ihre Entwicklung zu garantieren.“220 Trotz des schweren Schicksals in der einhundertjährigen Unfreiheit, womit die habsburgische Zeit bis zum Statut gemeint war, seien weder „der nationale Geist“ noch die „widerständische Energie“ verloren gegangen, sondern „wir [Polen] haben gelernt, uns selbst nicht schlecht zu regieren.“221 Die zweite Prämisse war, dass Lemberg bis zu „jenem Augenblick [der Sanktion des Statuts] weit ins Hintertreffen im Vergleich zu anderen Landeshauptstädten der Monarchie geraten“222 sei. Dies sei nicht zu verhindern gewesen, weil die Stadt bis dahin durch Personen fremder Herkunft und mit fremden Vorstellungen regiert worden sei, die sich manchmal auch feindlich den Polen und der Stadt gegenüber verhalten hätten. Ausgehend von diesen Prämissen war es daher grundlegendes Ziel der Festschrift, ein
Abb. 26 Stadtpräsident Edmund Mochnacki, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag.
220 „umożliwia obywatelom Lwowa kierowanie jego losami i zapewnienie mu rozwoju“, Mochnacki, Wstęp, n. pag. 221 „duch narodowy“, „odporna energia“, „się sami nieźle rządzić nauczyli“, ebd. Hierdurch wurde, wie in anderen offiziellen städtischen Quellen aus der Zeit, die habsburgische Geschichte Lembergs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts offen kritisiert. Diese Kritik erscheint deshalb nicht als illoyal, wird damit die reaktionäre Zeit, insbesondere unter dem Fürsten Metternich, und nicht die gegenwärtige konstitutionelle Ära der Monarchie charakterisiert. 222 „Do tej chwili bowiem Lwów pozostawał daleko w tyle po zas stolicami innych krajów Monarchii“, ebd.
6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau
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„treues Bild“ der Rats- und Magistratstätigkeiten zu schaffen. Ziel der Chronik sei es, so Mochnacki, zu zeigen, dass in dem kurzen Zeitraum von 25 Jahren ein „unerschütterliches Fundament“ für die weitere Entwicklung der Stadt gelegt worden sei.223 Mit dieser Aussage rechtfertigte der Stadtpräsident in der Einleitung die in den Beiträgen direkt benannten oder indirekt in den aufgeführten Statistiken erscheinenden Probleme. Die Texte stellten diese als Meilensteine auf dem Wege zu besseren Zuständen dar, indem die Beiträge stets auch auf eine Verbesserung der jeweiligen Lebensbedingungen seit 1870 hinwiesen. So benannte beispielsweise der Artikel zur Demografie die Quote der alphabetisierten Bevölkerung, nicht aber explizit die immer noch sehr hohe Analphabetenquote. Zugleich verschwieg er aber nicht, dass Lemberg diesbezüglich auf dem vorletzten Rang der größeren Städte der Monarchie vor Czernowitz stehe.224 Der abschließende Beitrag über die Rolle Lembergs als Hauptstadt, der von Edmund Mochnacki und seinem Stellvertreter Tadeusz Romanowicz gemeinsam verfasst wurde, stellte die politische Quintessenz der vergangenen 25 Jahre dar und verortete sie in den imperialen Rahmen. Voraussetzung für dieses Narrativ war die Annahme, dass Lemberg zu einem Zeitpunkt Hauptstadt wurde, als „kaum noch Spuren der ehemaligen Blüte dieser Empore des Osthandels und des wirtschaftlichen Glanzes seiner Patrizier vorhanden waren.“225 Daher, so folgerten die Autoren, machten die Fremden es [Lemberg] zur Hauptstadt der Unterdrückung. Mit eigener Kraft musste es die Hauptstadt des Widerstands und der Verteidigung werden. Und so geschah es.226
Trotz der Verdrängung des Polnischen aus dem öffentlichen und schulischen Sprachgebrauch, der Germanisierung und nicht zuletzt der Bombardierung 1848 sei in der Stadt das polnische Leben und Denken immer wach geblieben. Als Lemberg in der konstitutionellen Ära eine bedeutende Erweiterung der Aufgaben und Pflichten als Hauptstadt erhalten habe, sei dadurch auch die „Verpflichtung gegenüber der Zukunft“227 gewachsen. Um diese realisieren zu können, müsse Lemberg aktiv auf politischem, national-patriotischem, wirtschaftlichem und geistigem Gebiet an der Spitze stehen. Diese Aussage war ein Leistungsversprechen, das die Autoren mit dem Rückblick auf die vergangenen 25 Jahre konkretisierten:
223 „wierny obraz“, „niezachwianą podwalinę“, ebd. 224 Ostaszewski-Barański, Lwów w cyfrach, S. 583. 225 „już zaledwie ślady pozostały z dawnego rozkwitu tego emporium wschodniego handlu i ekonomicznej jego patrycyuszów świetności“, Edmund Mochnacki / Tadeusz Romanowicz, Lwów jako stolica kraju [Lemberg als Landeshauptstadt], in: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 [Die Stadt Lemberg in der Zeit der Selbstverwaltung 1870–1895], Lwów 1896, S. 709–719, hier: S. 710. 226 „Obcy zrobili go stolicą ucisku, on własną mocą stać się musiał stolicą oporu i obrony“, ebd. 227 „odpowiedzialność wobec przyszłości“, ebd.
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die Angelegenheit der Landeshauptstadt war es, in der Ausnutzung dieser Möglichkeiten an der Spitze der nationalen Kräfte zu stehen und den Weg zu weisen. […] durch die Hauptstadtwürde […] fallen ihm [Lemberg] größere Verpflichtungen gegenüber der nationalen Gesamtheit zu, die trotz der politischen Teilung nicht aufgehört hat, ein Ganzes zu sein, die durch eine gemeinsame Vergangenheit, durch gemeines geistiges und zivilisatorisches Gut verbunden ist und zweifellos für eine gemeinsame Zukunft vorgesehen ist. Daher war es notwendig, den Nutzen aus den verbesserten Lebensbedingungen dieses Teiles der polnischen Erde nicht nur zu bewahren, zu verstärken und zu vermehren, sondern zugleich auch für die Zukunft zu nutzen.228
Es sei seine Aufgabe gewesen, darüber zu wachen, dass das nationale Leben in dieser habsburgischen Provinz nicht ersticke. Lemberg habe diese Verpflichtung erfüllt. Deutlich zeigen diese Worte, dass der Stadtrat und die Stadtverwaltung ihre nationalisierende Politik durch diese Aufgabenzuschreibung legitimierten und sich hierbei auch nicht vor einer scharfen Kritik der vergangenen habsburgischen Verwaltungstätigkeit in der Stadt scheuten. Zugleich wird mit dem Verweis auf die „gemeinsame Zukunft“ ein Bezug zur gesamten polnischen Nation unter einem Dach hergestellt, ohne dass aber eine mögliche Unabhängigkeit angedeutet wird. Der gesamte Beitrag ist somit – wie alle anderen Beiträge des Bandes auch – ein Loblied auf die polnische nationale Gesinnung der Stadt und auf ihre Leistungen für die gesamte Nation, also über die Kronlandgrenzen hinaus. Diese Hymne auf den polnischen nationalen Geist der Stadt endet mit einem Zitat des verstorbenen Ehrenbürgers und liberalen Abgeordneten Otto Hausner, wonach Lemberg „seit 30 Jahren der stärkste Propagator des Polentums“229 gewesen sei. In der Perspektive dieses Beitrags sowie aller anderen Aufsätze war daher aus Lemberg eine Kronlandhauptstadt geworden, die wegen ihrer Entwicklung über die eigentliche Aufgabe hinausgehend die Rolle einer Ersatzhauptstadt ganz Polens für sich beanspruchen konnte und auch beanspruchte, ohne illoyal zu erscheinen. Die Annexion Galiziens und die Herabstufung der kommunalen Selbstverwaltung als Glied der Staatsverwaltung wurde in dieser Abhandlung zu einer Art Katharsis und damit als Chance stilisiert, weil Lemberg gleichsam wie ein Phönix aus dem Zustand einer heruntergekommenen Handelsstadt der Rzeczpospolita zu einer blühenden Landeshauptstadt aufsteigen konnte. Hiermit werden die Bemerkungen über die frühen Maßnahmen der Habsburger, durch welche die traditionelle Selbstverwaltung aufgehoben
228 „Rzeczą stolicy było, w wyzyskaniu tej sposobności ku pomnożeniu sił narodowych przodować i drogę wskazywać […]. Ta stołeczna dostojność grodu naszego […] przeto tem większe nakłada obowiązki wobec tej narodowej całości, która mimo politycznego rozbioru nie przestała być całością, złączoną wspólnem życiem dziejowem, wspólnym dorobkiem umysłowym i cywilizacyjnym i niewątpliwie wspólnemi na przyszłość przeznaczeniami“, ebd., S. 712. 229 „od lat trzydziestu jest najpotężnejszym krzewicielem polskości“, ebd., S. 719.
6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau
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wurde, nicht als Kritik, sondern als Voraussetzung für den Hauptstadtstatus und die daraus erwachsende politische Bedeutung und Autonomie Lembergs dargestellt. In diesen und den folgenden Kämpfen [gegen die Gegner der loyalistischen Politik] vertrat Lemberg immer mehrheitlich eine nationale Politik und gegenüber Wien eine Politik der Erweiterung und Verstetigung der Autonomie, nach innen eine fortschrittliche und demokratische Richtung.230
Diese Aussage spiegelt das Selbstverständnis des Stadtrates wider, der sich seiner nationalisierenden Politik bewusst war und der sich bemühte, seinen Handlungsspielraum auszunutzen und dadurch zu erweitern, ohne zu riskieren, dass ihm illoyale Haltungen und Handlungen unterstellt werden würden. Als fortschrittlich und demokratisch konnte die Wahlordnung mit einer Kurie beschrieben werden, auch wenn sie aus anderen Gründen (s. Kap. 3.2.3) in dieser Form durchgesetzt worden war. Unter „fortschrittlich“ konnten insgesamt die Bemühungen zur Stadtentwicklung zusammengefasst werden. Weil Modernität als Ausweis der nationalen Leistungsfähigkeit gesehen wurde, konnte hierunter auch die Lemberg zugeschriebene mission civilisatrice subsumiert werden, die sich nicht nur in den Beiträgen des Bandes, sondern vor allem auch in den stadthistorischen Werken und nicht zuletzt in den kommunal bezuschussten Reiseführern zeigt. Die Chronik der Jahre 1870 bis 1895 ist folglich eine Leistungsschau der Kommunalpolitik und ihrer Errungenschaften und diente zur Begründung des Selbstverständnisses als moderne Stadt: „Lemberg ist heute zu einer Stadt in der ganzen Bedeutung dieses Wortes geworden.“231 Durch die Art der Darstellung wurde einerseits die österreichische Herrschaft nicht explizit infrage gestellt, aber die konstitutionelle Ära und der daraus resultierende autonome Status Lembergs andererseits als besondere Chance für die weitere Stadtentwicklung hervorgehoben. Somit konnte der Beitrag auch die Loyalitätspolitik gegenüber der Habsburgermonarchie, wenn auch in knappen Sätzen, rechtfertigen, denn Lemberg (gemeint waren eigentlich die aus Lemberg stammenden (Lokal-)Politiker, insbesondere Gołuchowski, Ziemiałkowski, Smolka und Hausner) habe, so die Autoren, stets eine Politik betrieben, welche die polnischen nationalen Interessen mit denen der österreichisch-ungarischen Monarchie in Einklang habe bringen wollen. Loyalität war die grundlegende, nicht angezweifelte Voraussetzung für den autonomen Status, jedoch beschränkte sich der Band auf ein notwendiges Mindestmaß an Bezügen zur Habsburgermonarchie.232 Auf diese Weise gelang es den Autoren, Lemberg gleichsam aus dem habsburgischen Kontext herauszupräparieren, sodass sei-
230 „w tych i następnych walkach zawsze Lwów w swej większości reprezentował politykę narodową a wobec Wiednia politykę rozszerzenia i utrwalenia samorządu, na wewnątrz kierunek postępowy i demokratyczny“, ebd., S. 713. 231 „Lwów stał się dziś miastem w całem tego słowa znaczeniu“, Ostaszewski-Barański, Pogląd, S. 175. 232 So vermeidet die Gliederung jeglichen Verweis auf „habsburgisch“.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
ne Entwicklung solitär erschien. Auf diese Weise konnte die angenomme Rolle als polnische Ersatzhauptstadt und als Vorbild233 für andere Städte im Land besonders deutlich gemacht werden. Außerdem lieferte diese höchst elaborierte Leistungsschau für ein elitäres Publikum die Begründung, warum Lemberg (immer) polnisch sein sollte: Nach dieser Lesart waren es einzig die Polen, die mit ihrer „ehrenvollen Opferbereitschaft“234 das Aufblühen der Stadt bewirkt hatten – und diese Leistungen galt es weiterhin zu verteidigen. Daher war die Festschrift auch eine Art Handlungsanweisung für die zukünftige Schwerpunktsetzung der Kommunalpolitik. 6.2.3 Darstellungen der Stadtgeschichte und der Gegenwart als genormte Interpretation Die Pflege der Stadtgeschichte […] ist vor allem ein Stimulus für das Gefühl von Vaterlandsliebe. Und wenn man sich wo auch immer an diese Wahrheit erinnern soll, dann vor allem in unserer Stadt, in welcher immer noch das starke Gefühl des Fehlens von Tradition herrscht, und in der man erst in den letzten Jahren begonnen hat, sich kraftvoll um ihr Wiedererwecken zu sorgen.235
Diese Worte des jungen Lemberger Historikers Fryderyk Papée, Alumnus der Lemberger und Wiener Universität und Skriptor des polnischen Nationalinstituts Ossolineum, die in seine 1894 publizierte Lemberger Stadtgeschichte einführen, verweisen auf den engen Zusammenhang von Stadt- und polnischer Nationalgeschichte. Als Auftragsarbeit der Stadt Lemberg 1894 verfasst, offenbaren sie auch die Haltung des Stadtrates. Gerade der Hinweis auf die fehlende Tradition zeigt sehr deutlich, dass in der ersten Hälfte der 1890er Jahre die Stadt keinesfalls einen so klaren „polnischen Charakter“ hatte, wie er seitens des Stadtrates immer postuliert wurde, und dies nicht nur, weil es an alter Bausubstanz mangelte. Die Formulierungen, dass Sorge um ihr „Wiedererwecken“ entstanden sei und dass sich Lemberg „kraftvoll“ zu entwickeln begonnen habe, umschreiben die einsetzende Polonisierung der Stadt im Bildungswesen, in der Kultur und im öffentlichen Raum. Bis zum Erscheinen des Bandes fehlten eine stadthistoriografische Untermauerung dieser Maßnahmen und nicht zuletzt auch die Verankerung des städtischen Geschichtsbildes in der Bevölkerung. Ziel des Bandes war es daher, wie Papée es ausdrückte,
233 Mochnacki/Romanowicz, Lwów, S. 718. 234 „chwalebnej ofiarności“, ebd., S. 719. 235 „Pielęgnowanie dziejów miejscowych ożywia […] potężna podnieta dla uczucia miłości ojczyzny. A jeżeli gdziekolwiek powinno się nie zapominać o tej prawdzie, to przedewszystkim w naszem mieście, w którem jeszcze dotychczas tak silnie daje się odczuć brak tradycyi, i w którem dopiero w ostatnich latach poczęto się raźnie krzątać około jej wskrzeszenia“, Papée, Historya, S. III.
6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau
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„dass die Bekanntschaft mit der berühmten Vergangenheit unserer Stadt nicht nur das Forscherherz, vor allem aber die breitesten Schichten unserer Stadt vervollkommnen und aufwärmen möge.“236
Eine Stadtgeschichte, die ein solches Bedürfnis befriedige, solle sich in der Hand eines jeden gebildeten Bürgers unserer Stadt [befinden] und in den städtischen Schulen als Handbuch für die Lehrer und als schulisches Erinnerungsstück für die reifen Schüler dienen.237
Die in der Einleitung benannten Gründe hatten den Stadtrat auf Antrag des Berichterstatters der Bildungskommission Dr. Bronisław Radziszewski im September 1890 einstimmig und ohne Aussprache238 dazu bewegt, eine Unterkommission aus der Bildungskommission mit fünf Ratsangehörigen und zwei externen Fachleuten (dem Mediävisten Aleksander Semkowicz und dem Historiker Władysław Łoziński) zu bilden. Diese beauftragte schließlich Papée mit dieser Aufgabe. Hierfür sollte er keine eigenen Archivstudien vornehmen, sondern sich auf (edierte) Quellen und Darstellungen stützen. Er musste der Kommission über das Konzept und den Fortgang des Werkes berichten, die ihm wiederum „Ratschläge“, also Hinweise zur ‚politisch korrekten‘ Abfassung erteilte.239 Die bis heute wichtigste und immer wieder zitierte Stadtgeschichte ist also eine deutlich politisch motivierte und kontrollierte Auftragsarbeit ohne eigene tiefergehende Quellenstudien, welche die Haltungen und Positionen ihrer Auftraggeber widerspiegelt – es verwundert daher nicht, dass der Mitarbeiter im Stadtarchiv Józef Skoczek in seinem Forschungsüberblick über die Arbeiten zur Lemberger Stadtgeschichte bereits 1925 konstatierte, dass die Arbeit für ein breiteres Publikum geschrieben sei und dass sie keinen Historiker befriedigen könne.240 Ziel war es also, Lemberg als eine polnische Stadt und alle kommunalpolitischen Maßnahmen als polnische Leistung zu charakterisieren, beispielsweise den Ausbau des Schulwesens, das der „größte Stolz der autonomen Stadtverwaltung“241 sei. An
236 „aby znajomość sławnej przeszłości naszego grodu kształciła i zagrzewała nietylko serca małej garstki badaczy, ale jak najszerszych warstw naszego miasta“, ebd. 237 „w ręku każdego oświeconego obywatela naszego grodu, a w szkołach miejskich posłużyć mógł jako podręcznik dla nauczycieli i jako upominek szkolny dla dojrzałych uczniów“, ebd., S. IV. 238 GL v. 20.9.1890. 239 „wskazówkom“; die Intention, ein Lehrbuch ohne Archivstudien zu erarbeiten, könnte ein Hinweis darauf sein, warum der Stadtarchivar Czołowski nicht hinzugezogen wurde. Die Debatten um das Stadtarchiv (s. Kap. 5.2.3) verweisen darauf, dass es kaum Quelleneditionen gab. 240 Skoczek, Stan badań, S. 16. Vgl. auch die Kritik von Charewiczowa, Historiografia, S. 95. Die Neuauflage ist ca. 70 Seiten länger; neben veränderten Kapitelüberschriften überarbeitete Papée insbesondere das Kapitel über die Autonomiezeit erheblich und fügte ein Kapitel über die „Rückkehr zu Polen“ („powrót do Polski“) an. 241 „największą chlubą autonomicznego zarządu Lwowa“, Papée, Historya, S. 200. Vgl. auch zur Interpretation der Eroberung „Rotreußens“, wie das Gebiet damals genannt wurde, durch eine postko-
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dieser Stelle kann nicht auf alle Kapitel gleichermaßen eingegangen werden, jedoch sollen einige wichtige, das Selbstbild der Stadt beschreibende Darstellungen knapp diskutiert werden. Es war ein immer wieder geäußertes Anliegen der politischen Akteure, Lemberg im europäischen „zivilisierten“ Westen zu verorten. Das einführende Kapitel über die geografische Lage verdeutlicht dies bereits in der Feststellung, dass der Poltew zur Weichsel fließe. Dagegen stellt Papée die Gründungsphase und anschließende tatarische Eroberung als eine höchst unsichere Zeit für die Stadt dar, wonach mit dem Aussterben der Nachfolger des rjurikidischen Stadtgründers Lev das Ende dieser Ortschaft besiegelt zu sein schien. Die Eroberung der Stadt durch den polnischen König Kazimierz Wielki 1340 sei, so Papée, gegenüber Ruthenien ein „Verdienst“ gewesen. Durch die Verleihung des Magdeburger Stadtrechts 1356 habe die Stadt schließlich an all den freiheitlichen Regelungen teilhaben können, die im „ganzen Westen“ verbreitet gewesen seien. Hierdurch „hat erst das eigentliche Leben Lembergs als Stadt begonnen.“242 Diese Feststellung ist der Kulminationspunkt der bisherigen Darstellungen der geografischen Lage und der Frühzeit der Stadt bis zur Stadtrechtsverleihung, wodurch bereits eine historische Legitimation des „polnischen Charakters“ und der beanspruchten Zugehörigkeit zum „Westen“ hergestellt wird. Nach einem ersten Aufblühen sei Lemberg unter den Jagiellonen zwar zunächst im Niedergang begriffen gewesen, aber nach dem Brand 1527 sei es „wiederum aus der Asche in einem schöneren und prachtvolleren Gewand auferstanden und hatte bereits Charakterzüge einer polnischen Stadt an sich.“243 Papée folgert, dass der anschließende Abschnitt der Stadtgeschichte ein goldenes Zeitalter gewesen sei. Indem er „polnische Charakterzüge“ mit diesem verknüpft, stellt Papée gerade im Vergleich mit der nicht erfolgten Stabilisierung der Stadt unter den Rjurikidenfürsten klar, dass nur über die Zugehörigkeit zu Polen das Aufblühen der Stadt möglich gewesen sei. Diese Argumentationslinie wird in der ausführlichen Darstellung der Belagerungen Chmel′nyc′kyjs und der schwedischen Besetzung 1655, der sog. „Sintflut“ (Potop), noch deutlicher. Während dieser Ereignisse habe sich die Funktion als „Vormauer“ (antemurale) herauskristallisiert, denn loniale Perspektive: Burkhard Wöller, Misja „cywilizacyjna“ czy „okupacyjna“? Aneksja Rusi Czerwonej w czasach Kazimierza III w kolonialystycznym dyskursie polskich i rusińskich historyków w habsburskiej Galicji [„Zivilisierungs-“ oder „Besatzungsmission“? Die Annexion Rotreußens in der Zeit Kasimirs III. im kolonialistischen Diskurs der polnischen und ruthenischen Historiker im habsburgischen Galizien, in: Jan Surman / Klemens Kaps (Hrsg.), Galicja postkolonialnie. Możliwości i granice. Themenheft Historyka [Galizien postkolonial. Möglichkeiten und Grenzen]. Historyka. Studia metodologiczne 42, 2012, S. 133–145. 242 „zasługa“, „w całym zachodzie“, „zaczyna dopiero właściwe życie Lwowa jako miasta“, Papée, Historya, S. 28. 243 „na nowo powstał z popiołów w piękniejszej i ozdobniejszej szacie, miał już na sobie cechę polskiego miasta“, ebd., S. 59. Mit diesen Sätzen beginnt Papée das Kapitel über die Polonisierung der Stadt („spolszczenie“).
6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau
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der Feind besetzte, wenn auch nur kurz, alle wichtigeren Städte unseres Vaterlandes, nur diese eine ‚Vormauer‘ widerstand den Wellen der Sintflut.244
Der polnische König Jan II. Kazimierz Waza habe nur wenige Monate später Lemberg rechtlich Krakau und Warschau gleichgestellt und 1659 seien die Bürger Lembergs als höchste staatliche Würdigung in den Adelsstand erhoben worden.245 Hiermit legitimierte Papée die politischen Führungsansprüche. Zugleich begründete seine Darstellung das Selbstverständnis der politischen Akteure als „polnisches Bollwerk gen Osten“. Aber auch den Niedergang Lembergs rechtfertigte der Autor insofern, als die weiteren Türken- und Schwedenkriege seit Mitte des 17. Jahrhunderts die Kräfte dieser Vormauer ausgelaugt hätten und die Bürger verarmen ließen. Nach einer ausführlichen Darlegung der Folgen der Inkorporation durch die Habsburger 1772 und der Revolution von 1848/49 widmet sich das abschließende Kapitel der Autonomie.246 Da das Buch auch als Lehrbuch dienen sollte, war es in diesem Kapitel wichtig klarzustellen, dass der Bürger Lembergs stolz auf sein Statut ist, aber zugleich ein tiefes Gefühl der Verbindung zu diesem Monarchen hat, dem er die Erneuerung seiner Rechte verdankt,247
dass sich also der Stolz auf das polnische Lemberg und damit die polnische Identität und eine Loyalität gegenüber dem Monarchen nicht widersprechen mussten. Abschließend betonte Papée, dass noch vieles zu tun sei, etwa in Bezug auf die Analphabetenquote, dass man sich aber auch verdeutlichen müsse, dass Lemberg weiter entwickelt sei als etwa die an der Peripherie des ehemaligen Polens gelegenen (und zum Russländischen Reich gehörenden) Städte Wilna und Krzemieniec. Lemberg sei daher „der am weitesten im Osten gelegene Wächter der polnischen Zivilisation, die letzte Stadt des westlichen Europas“248, weil kurz hinter Lemberg bereits die russische Herrschaft „mit ihrer ganzen brutalen Unterdrückung, mit der ganzen Dunkelheit östlichen Barbarentums“249 beginne. Daher sei sein „größter Stolz […], dass es die Vormauer Polens und des ganzen westlichen Europas“250 nach Osten sei. Über diese noch weiter auszuführende Rolle als dessen „Vormauer“ (s. Kap. 6.3) konnte der Anspruch auf Zugehörigkeit in Abgrenzung zum „östlichen Barbarentum“ und die davon abgeleitete mission civilisatrice besonders betont werden.
244 „Wszystkie inne główniejsze naszej ojczyzny miasta choćby na chwilę zajął nieprzyjaciel, tylko to jedno ‚przedmurze‘ urągało falom potopu“, ebd., S. 121. 245 Ebd., S. 121 f. 246 Ebd., S. 192. 247 „Obywatel Lwowa dumnym jest ze swego statutu, a zarazem głębokie odczuwa przywiązanie dla tego monarchy, któremu odnowienie praw swoich ma do zawdzięcznia“, ebd., S. 194. 248 „najbardziej na wschód wysuniętą strażnicą polskiej cywilizacji, ostatniem miastem zachodniej Europy“, ebd., S. 205. 249 „z całym swoim brutalnym uciskiem, z całą ciemnotą wschodniego barbarzyństwa“, ebd. 250 „chlubą jego historyi […] że był przedmurzem Polski i całej zachodniej Europe“, ebd.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
Wie in der Darstellung ihrer Genese beschrieben, ist Papées Stadtgeschichte eine populärwissenschaftliche Zusammenstellung des Geschichtsbildes, wie es der Stadtrat und die Stadtverwaltung vertrat. Hierin hatten die Ruthenen kaum Platz: Indem sie nur in der Darstellung der ersten, unsicheren, knapp 100 Jahre erwähnt wurden, zeigte Papée, dass sie nicht zur Stabilisierung der Stadt und damit zur politischen Mitsprache geeignet gewesen seien. Die Juden erwähnte er wiederum nur im Rahmen des Chmel′nyc′kyj-Aufstandes in Bezug auf die Verteidigung Lembergs, bei der die Stadt sie geschützt habe. Die übrigen in der Stadt lebenden Ethnien und Konfessionen wie die Armenier wurden nur kurz kontextgebunden erwähnt, ohne dass ihnen eine wirkliche Rolle für die Stadtentwicklung zugeschrieben wurde. Papées Stadtgeschichte und die elaboriertere Festschrift von 1896 waren nicht die einzigen umfassenden stadthistorischen Werke, die in der Autonomiezeit verfasst und städtischerseits sanktioniert und gefördert wurden. Darüber hinaus gab es einige weitere direkt oder indirekt von dem Wohlwollen der Stadtverwaltung abhängende Publikationen zur Stadtgeschichte sowie zur gegenwärtigen Entwicklung der Stadt. Diese bestanden vor allem in Form von statistischen Publikationen, welche die positiven Leistungen der Stadtverwaltung herausstellen sollten.251 Auch wenn es sich nicht um explizite Auftragsarbeiten handelte, publizierte der Stadtarchivar und Kustos des Historischen Museums Aleksander Czołowski – neben Arbeiten zu anderen Themen der polnischen Geschichte – eine Reihe von Beiträgen zur Lemberger Stadtgeschichte. Diese entsprachen wegen seiner beruflichen Stellung der Linie des von den Lemberger kommunalpolitischen Akteuren vertretenen Geschichtsbildes, das er wiederum durch seine Aktivitäten maßgeblich mitprägte. In seinen Studien konzentrierte er sich auf wichtige Momente der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte252, die den polnischen Charakter der Stadt bzw. ihrer Einwohner unterstreichen sollten. Von wesentlicher Bedeutung für die Verbreitung der polnischen Interpretation der Lemberger Geschichte waren auch die Bände der Biblioteka Lwowska (Lemberger Bibliothek), die von der 1906 gegründeten, von kommunalpolitischen Akteuren So z. B. die Periodika Wiadomości statystyczne o mieście Lwowa [Statistische Nachrichten der Stadt Lemberg, WstML] und Lwów w cyfrach [Lemberg in Zahlen], die auch den administrativen Vorgaben für eine reichsweite statistische Erfassung entsprechen mussten. Aber gerade deshalb wurden sie zur Selbstdarstellung der eigenen Leistungen genutzt. Es ist auffällig, dass in den Ausgaben Hinweise zur ethnischen Struktur fehlen, lediglich wird auf die Konfessionen verwiesen. 252 Beispielsweise Aleksander Czołowski, Najstarsza księga miejska 1382–1389 [Das älteste Stadtbuch 1382–1389], Lwów 1892; ders., Lwów za ruskich czasów [Lemberg in ruthenischer Zeit], in: Kwartalnik Historyczny 5, 1887, S. 779–812. Das zuletzt genannte Werk wurde in einer mit „E“ (Karol Estreicher?) signierten Rezension des in Lemberg herausgegebenen Kwartalnik Historyczny (Historische Vierteljahresschrift) 1, 1887, S. 604 f., verrissen: Diese im Rahmen der Biblioteka Warszawska (Warschauer Bibliothek) erschienene Bestandsaufnahme an Sammlungsobjekten sei „ohne Kritik und ohne eigene Kenntnis des Gegenstands“ („bez krytyki i bez samoistnej znajomości przedmiotu“) und damit ohne wissenschaftliches Ziel erfolgt. 251
6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau
319
unterstützten Gesellschaft der Freunde der Vergangenheit Lembergs (Towarzystwo Miłośników Przeszłości Lwowa) herausgegeben wurden. Die grundsätzlich populärwissenschaftlichen Bände behandelten im Wesentlichen markante Punkte und Ereignisse des „polnischen Lemberg“ und seiner historischen Bedeutung für Polen253, so z. B. die Arbeit des Gründungsmitglieds der Gesellschaft, des Juristen Franciszek Jaworski, über das alte und neue, in den 1830er Jahren errichtete Rathaus, wonach die neuere Geschichte des Rathauses nach der Restaurierung und dem Wiederaufbau des Rathausturmes in den 1850er Jahren auf große, schöne Ereignisse von nationaler Bedeutung zurückblicken könne.254 Die Biblioteka Lwowska umfasste ebenso Beschreibungen der einzelnen Vorstädte255, der Universität256 und der geschlossenen Friedhöfe257, blendete aber, wie auch Papée und Czołowski, den multiethnischen Charakter Lembergs weitestgehend aus. Lediglich die in der Reihe erschiene Schrift Majer Bałabans258 über die Juden in Lemberg widmete sich einer anderen in Lemberg lebenden Ethnie. Weitere wichtige Medien für die Verbreitung des städtischen Selbstbildes stellen die von der Stadt finanziell unterstützten Reiseführer dar, die als augenscheinlich ‚neutrale‘, aber durchaus subjektive Gebrauchsliteratur Hinweise darüber geben, was die Verfasser (und damit die Auftraggeber) für erwähnens- und sehenswert und daher für repräsentativ für die Stadt, ihre Geschichte und Gegenwart hielten. Als „genormter Blick auf das Fremde“259 geben sie eine rasche Information über das in der Interpretation des Verfassers Sehenswerteste in der Stadt.260 Ihre Leserschaft stellten daher die
253
254 255 256 257 258 259
260
Etwa Franciszek Jaworski, Królowie polscy we Lwowie [Die polnischen Könige in Lemberg], Lwów 1906 (mit einem Fokus auf Sobieski); ders., Nobilitacja miasta Lwowa [Die Nobilitierung der Stadt Lemberg], Lwów 1909; Bronisław Pawłowski, Lwów w 1809 r. [Lemberg im Jahr 1809], Lwów 1909. Die Gesellschaft der Freunde der Lemberger Geschichte setzte in der Zwischenkriegszeit die Publikation der Bände fort; 1990 wurden alle Bändchen als Reprint wiederveröffentlicht. Franciszek Jaworski, Ratusz Lwowski [Das Lemberger Rathaus], Lwów 1907, S. 93. Adam Krajewski, Lwowskie Przedmieścia. Obrazki i szkice z przed pół wieku [Die Lemberger Vorstädte. Bilder und Skizzen aus der Zeit vor einem halben Jahrhundert], Lwów 1909. Jaworski, Uniwersytet (s. Kap. 5.1.2). Józef Białynia Chołodecki, Cmentarz Stryjski we Lwowie [Der Stryjer Friedhof in Lemberg], Lwów 1913; Franciszek Jaworski, Cmentarz gródecki we Lwowie [Der Gródecki-Friedhof in Lemberg], Lwów 1906. Bałaban, Dzielnica żydowska, behandelt die Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Rudolf Jaworski / Peter O. Löw / Christian Pletzing (Hrsg.), Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer in und über Ostmitteleuropa, Wiesbaden 2011. Zur Analyse der Lemberger Reiseführer in Bezug auf das antemurale-Selbstbild: Heidi Hein-Kircher, Securitizing the Polish Bulwark: The Mission of Lviv in Polish Travel Guides during the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Liliya Berezhnaya / Heidi Hein-Kircher (Hrsg.), Rampart Nations. Bulwark Myths of East European Multiconfessional Societies in the Age of Nationalism, New York etc. 2019, S. 81–102. Vgl. Bernhard Struck, Der genormte Blick auf die Fremde. Reisen, Vorwissen und Erwartung. Die Beispiele Italien und Polen im späten 18. Jahrhundert, in: Jaworski / Löw / Pletzing, Genormte Blick, S. 11–35, hier: S. 21; Piotr Kuroczyński, Die Medialisierung der Stadt. Analoge und digitale Stadtführer zur Stadt Breslau nach 1945, Bielefeld 2011, S. 55 f.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
Besucher der Stadt, Beamte, Offiziere und sonstige Repräsentanten von Behörden und Institutionen, die mehr oder weniger dienstlich in die Landeshauptstadt reisten, sowie Reisende dar, die zu bestimmten Kongressen oder Ausstellungen nach Lemberg kamen, wie z. B. die Ärzte und Naturforscher. Ziel der von der Stadtverwaltung finanziell oder durch die Autorenschaft städtischer Mitarbeiter unterstützten oder zumindest genehmigten Reiseführer musste es sein, die Besucher trotz fehlender sehenswerter historischer Gebäude zu überzeugen, dass Lemberg reizvoller und sehenswürdiger als das alte traditionelle Krakau war. Ganz anders sah es beispielsweise ein deutschsprachiger Reiseführer von 1914, wonach Lemberg eine moderne Stadt ohne Individualität sei, sodass es Besucher nicht wirklich reizen würde.261 Das Interesse der Besucher wird durch die spezifische Semantik solcher Reiseführer gelenkt; die Darstellung hierarchisiert das, was wichtig und unwichtig ist. Damit waren die Reiseführer ein wichtiges Medium der Selbstdarstellung und Verbreitung des kommunalen Selbstbildes. Für diese Aufgabe waren vor allem die historischen Einführungen, aber auch die Darstellung der Gebäude und städtischen Infrastrukturen von Bedeutung: Hierdurch wurden die wesentlichsten Aspekte des kommunalen Selbstbildes hervorgehoben, nämlich das Bild einer sich nach europäischen Standards entwickelnden modernen Stadt und das des „Bollwerks gen Osten“, zumal die Darstellungen den „polnischen Charakter“ hierbei niemals infrage stellten.262 Zunächst ging es in den in der Frühphase der städtischen Autonomie publizierten Führern darum, den polnischen Charakter der Stadt herauszustellen, so betonte etwa Wilds Reiseführer263 von 1878, dass Lemberg immer ein „treuer Sohn Polens“ gewesen sei und daher freudige Triumphe und schmerzhafte Niederlagen habe hinnehmen müssen, weil keine andere polnische Stadt so oft belagert worden sei. Bereits 1888 war in einem elaborierten Reiseführer, der von der Stadt anlässlich des Kongresses der polnischen Ärzte und Naturforscher bezuschusst wurde, die Vorstellung von der Bastion gegen Tataren und Türken deutlich erkennbar. Gerade die Belagerung unter Chmel′nyc′kyj sei die gefährlichste Zeit für Polen, aber zugleich die schönste hinsichtlich des Ruhmes Lembergs gewesen.264
261 Vgl. Mieczysław Orłowicz / Roman Kordys, Illustrierter Führer durch Galizien, Wien etc. 1914, S. 38. 262 So betonte ein Reiseführer 1863 noch den deutschen Charakter der Stadt, indem beispielsweise auf die habsburgischen Straßennamen hingewiesen wurde: J. Śleziński, Neu verbesserter Wegweiser der Kön. Hauptstadt Lemberg oder Uebersicht sämmtlicher Herrn Hauseigenthümer mit Angabe der Hausnummern, Gassen und Pfarreien, Lemberg 1863. 263 Stanisław Kunaszewicz, Wilda przewodnik po Lwowie [Wilds Führer durch Lemberg], Lwów 1878, S. 52, 85. 264 Przewodnik po Lwowie wydany przy wspołudziale Wydziału gospodarczego V. Zjazdu Lekarzy i Przyrodników Polskich [Reiseführer durch Lemberg, publiziert in Kooperation mit dem Wirtschaftsbüro des 5. Kongresses der polnischen Ärzte und Naturforscher], Lwów 1888, S. 50.
6.2 Die kommunale Selbstdarstellung als Leistungsschau
321
Wie beschrieben, war für das städtische Selbstbild auch die Landesausstellung eine Zäsur. Seit dieser Zeit wurde in den Reiseführern offener, wenn nicht gar in einem aggressiven Ton, die Bedeutung Lembergs als „Bollwerk“ herausgestellt. Jedoch war die Nutzung dieses Bildes nicht neu, da der spätere Stadtarchivar Aleksander Czołowski bereits 15 Jahre zuvor den Rat mit der Rolle Lembergs als antemurale regni für den Aufbau eines richtigen Stadtarchivs begeistern wollte.265 Von den drei 1894 publizierten Reiseführern war der von dem Schriftsteller und Deutschprofessor am Lemberger k. k. Franz-Josephs-Gymnasium Albert Zipper auf Deutsch im Auftrag der Stadtverwaltung verfasste Führer durch die Landesausstellung sowie die Königl. Hauptstadt Lemberg266 nicht für das polnische Publikum, sondern für die auswärtigen, aus den übrigen Kronländern anreisenden Besucher gedacht, sodass Zippers Reiseführer, ganz im Sinne der Ausstellungsorganisatoren, durchweg moderate Beschreibungen der Stadtgeschichte enthielt und vor allem die Höhepunkte der Modernisierung der Stadt hervorhob. Dagegen nutzte der Ilustrowany przewodnik po Lwowie i Powszechnej Wystawy Krajowej (Illustrierter Führer für Lemberg und die Allgemeine Landesausstellung), den die Lemberger Verschönerungsgesellschaft herausgab, bereits die Formulierung, dass Lemberg ein „Bollwerk für ganz Polen“ gewesen sei.267 Der dritte 1894 publizierte Führer, der wie Zippers Führer von der Ausstellungsdirektion herausgegeben wurde, richtete sich an die breiten polnischen Besuchermassen. Er fokussierte sich in dem historischen Abriss auf die Belagerung der Stadt durch Chmel′nyc′kyj als narrative Grundlage der Lemberger antemurale-Funktion, betonte aber auch, dass erst durch die Verfassungsreform der 1860er Jahre Lemberg zu einer richtigen Hauptstadt geworden sei.268 Eine nächste Etappe in der Selbstdarstellung stellte der 1907 anlässlich des Kongresses der polnischen Ärzte und Naturforscher von Józef Wiczkowski publizierte fast 630 Seiten umfassende Reiseführer dar,269 der einen speziellen Fokus auf den medizinischen und hygienischen Fortschritt der Stadt warf und zugleich mit drastischen Worten die polnischen Ansprüche auf Lemberg und dessen antemurale-Rolle270 betonte. Insbesondere das Vorwort von Stadtarchivar Czołowski unterstrich, dass
265 DALO, f. 3, op. 1, spr. 2804, Bl. 9. 266 Zipper, Führer. Vgl. den Aufruf, Werbung in dem Führer zu platzieren, GL v. 27.8.1893. 267 Ilustrowany przewodnik, S. 75. Dieser Führer sollte für immer („na zawsze“) ein für die Besuchenden und Bewohner der Stadt gleichermaßen geeigneter Stadtführer sein, der von erstrangigen literarischen und künstlerischen Kräften „unserer Stadt“ verfasst wurde. Vgl. GL v. 20.6.1893. 268 Wilhelm Rolny, Ilustrowana Pamiątka z powszechnej Wystawy krajowej we Lwowie w roku 1894 [Illustriertes Andenken an die Allgemeine Landesausstellung in Lemberg 1894], Lwów 1894. 269 Wiczkowski, Lwów. 270 Selbst in einem französischsprachigen Reiseführer, der von der Gesellschaft zur Förderung des Tourismus in Galizien herausgegeben wurde, wurde deutlich herausgestellt, dass Lemberg „sous le nez des Tatars“ läge, vgl. Léopol et ses environs. Petit guide pratique illustré avec plan, Léopol 1910, S. 51.
322
6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
Lemberg aus der Welle der Kosakenflut mit Ehre und Ruhm hervorkam wie niemals zuvor oder danach […], es rettete nicht nur sich, sondern den ganzen Staat,271
sodass es den Zusatz „Polens Bollwerk“ bekommen habe. Die Reiseführer hoben jeweils deutlich das Wirken der Stadtverwaltung bei der Modernisierung der Stadt hervor und präsentierten daher moderne Funktionsgebäude wie Schlachthäuser, das Gasund das Elektrizitätswerk und nicht zuletzt die Straßenbahn. Hierdurch wird klar, dass die städtischen Finanziers der Reiseführer auf die Darstellung des „schönen Lemberg“ Wert legten. Es ging auch darum, anhand der städtischen und Landesgebäude zu zeigen, dass sich Lemberg stets weiterentwickelt habe. Die Vorstellung der Sehenswürdigkeiten betonte allerdings den „polnischen Charakter“, weil die Beschreibungen und die Abbildungen deutlich die Zugehörigkeit zum römisch-katholischen bzw. westlichen kulturellen Einflussbereich zeigen. Beispielsweise werden römisch-katholische Kirchen und, wenn überhaupt, nur höchst selten und im Vergleich viel knapper beschriebene griechisch-katholische Gotteshäuser (mit Ausnahme der St.-Georgs-Kathedrale) abgebildet. Es werden daher auch die Bedeutung von Renaissance, Barock, Neugotik und nicht zuletzt die Einflüsse der Wiener und Berliner Sezession für das Stadtbild gezeigt. Hierdurch wird implizit auch die stets unterstellte Rückständigkeit der Stadt widerlegt und gezeigt, dass die Stadt immer ein moderner Teil der westlichen Kultur gewesen sei. 6.3 Der Kern des „polnischen Charakters“: Modernität, „Bollwerk gen Osten“ und mission civilisatrice In der städtischen Selbstdarstellung, die auf der grundsätzlichen Prämisse aufbaute, dass Lemberg eine „rein“ polnische Stadt sei, ging es darum, die Leistungen des Stadtrates bekannt zu machen. Zentral war eine Bestandsaufnahme dessen, was sich seit Erreichen der Autonomie positiv verändert hatte. Zugleich wurde dabei die historische Bedeutung Lembergs für Polen herausgearbeitet, woraus sich die Verpflichtung begründen ließ, über das „polnische Lemberg“ und über das Wohlergehen der gesamten Nation zu wachen. Dieser Haltung lag ein starkes historisches Sendungsbewusstsein zugrunde.272 Dieses berief sich in ebenso paradigmatischer Weise auf ein normativ besetztes (europäisches) Zivilisationsverständnis, das eben auf dem subjektiven Bewusstsein aufbaute, beauftragt zu sein, für andere, weniger ‚hoch‘ entwickelte Gesellschaften zivilisierend zu wirken,
271 Wiczkowski, Lwów, S. 5. 272 Allgemein zum polnischen Nationalbewusstein: Landgrebe, Polen, S. 60 ff., wonach die Polonität das ausschlaggebende Kriterium im polnischen Geschichtsdenken ist.
6.3 Der Kern des „polnischen Charakters“
323
um auch dort ‚Fortschritt‘ zu ermöglichen. Dabei muss die zu zivilisierende Gesellschaft nicht unbedingt in fernen Ländern gefunden werden: Auch Teile der Bevölkerung des eigenen Landes können als Wilde identifiziert werden, die zivilisiert werden müssen.273
Eine weitere Dimension dieses Sendungsbewusstseins war es daher, als Vorbild für andere, weit weniger entwickelte und kleinere Städte Galiziens, wenn nicht gar ganz Polens zu dienen. Das Lemberger historische Sendungsbewusstsein gegenüber als ‚niedriger‘ empfundenen Kulturen, also hinsichtlich der ruthenisch-bäuerlichen und jüdischen, legitimierte die Polonisierungspolitik des Stadtrates. Diese Haltung war in der Schulpolitik, in der Schaffung von Kulturinstitutionen und nicht zuletzt auch in der städtischen Selbstdarstellung während der Allgemeinen Landesausstellung und in den Publikationen spürbar. Zugleich bezog sich dieses historische Sendungsbewusstsein auf ganz Polen und war ein wichtiger Bestandteil des Verständnisses, als polnische (Ersatz-) Hauptstadt zu fungieren. Als historisches Fundament diente die mythisch verklärte Rolle als polnisches (und damit europäisches) „Bollwerk gen Osten“. Diese Polen (und Europa) vor äußerer Bedrohung sichernde Funktion wurde immer wieder mit verschiedenen Begrifflichkeiten wie „Festung“, aber auch „Arsenal“ umschrieben. Hiermit griffen die politischen Akteure das Topos von Polen als antemurale Christianitatis auf, das sich im 19. Jahrhundert zu einem politischen Mythos entwickelt hatte.274 Demnach seien Polen und Lemberg als sein östlichster Vorposten die Verteidiger des christlichen, abendländischen Europa seit der Mongoleninvasion und insbesondere seit dem Vordringen der Osmanen im südöstlichen Europa. Durch diesen Mythos der Verteidigung und Abwehr wurde eine dramatische Bedrohungssituation hergestellt, die mit historischen Analogien arbeitete: Wie einst die Mongolen und Osmanen abgewehrt worden seien, so würde das „polnische Bollwerk gen Osten“ gegenwärtig die Bedrohung der polnischen und damit der westeuropäischen Kultur abwehren – bezogen war dies auf die ruthenische Nationalbewegung, der letztlich als Ganzes eine Orientierung am Russländischen Reich unterstellt wurde.275 Zugleich implizierte es
273 Ulrich Hofmeister, „Die Bürde des Weißen Zaren.“ Russische Vorstellungen einer imperialen Zivilisierungsmission in Zentralasien, phil. Diss. Wien 2014, S. 39. 274 Zur Genese: Paul Srodecki, Antemurale Christianitatis. Zur Genese der Bollwerksrhetorik im östlichen Europa an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, Husum 2014. Übersicht über die Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert: Heidi Hein-Kircher, Antemurale Christianitatis. Grenzsituation als Selbstverständnis, in: Hans Hecker (Hrsg.), Grenzen. Gesellschaftliche Konstitutionen und Transfigurationen, Essen 2006, S. 129–148. 275 Hiermit wurde ignoriert, dass diese in sich gespalten war: Nur die Russophilen orientierten sich am Russländischen Reich. Vgl. Anna Veronika Wendland, Die Russophilen in Galizien. Ukrainische Konservative zwischen Österreich und Rußland 1848–1915, Wien 2001.
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6 Städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung
eine Bedrohungswahrnehmung durch das Russländische Reich,276 das seine Einflusssphäre nicht nur Richtung Galizien und damit auf die Ruthenen, sondern auch auf dem Balkan ausdehnte. Die Bezüge zum antemurale-Mythos im Lemberger Selbstund Geschichtsbild waren daher im Wesentlichen eine narrative Antwort auf die diskursiv durch die polnischen Akteure konstruierte ruthenische Bedrohung, indem sie klarstellten, dass sich Lemberg gegen diese gewappnet habe und nicht nur die Stadt, sondern Polen und das ‚Abendland‘ (und damit auch die Habsburgermonarchie) insgesamt verteidigen werde. Durch den Konnex zwischen ‚Bollwerk für Polen und Europa‘, der diskursiv etwa in den Publikationen zur Selbstdarstellung und im Sobieski-Gedenken hergestellt wurde, konnte schließlich nicht nur nach innen, sondern auch gegenüber der Habsburgermonarchie erklärt werden, warum gerade die Polen und nicht die Ruthenen in Lemberg (und Galizien) regieren sollten. „Bollwerk“ implizierte einerseits eine von außen kommende Bedrohung, verwies andererseits auf das, was beschützt werden sollte: Lembergs „polnischer Charakter“ und die ‚abendländische‘ Zivilisation. Diese im öffentlichen Raum, in der Kultur- und Geschichtspolitik präsente Narration hatte versicherheitlichenden Charakter, indem sie eine Gefahr konstruierte und dramatisierend darstellte. Dabei rekurrierte sie seit der Jahrhundertwende auf ruthenische Partizipationsforderungen und auf Gewalteskalationen, die aber in der suggerierten Form gar nicht gegeben waren, auch wenn der ruthenische prozentuale Bevölkerungsanteil vor allem wegen der Zuwanderung bäuerlicher Schichten um wenige Prozent gestiegen war. Hierdurch schuf der narrative Verweis auf die historische und gegenwärtige Bollwerk-Funktion eine ideelle Grundlage für die Legitimation der polnischen Besitzansprüche und damit der Herrschaft der polnischen lokalen Eliten.277 „Bollwerk“ und „historische Mission“, aber auch „polnischer Charakter“ und „Modernität“ stellten insgesamt eng miteinander verschränkte Narrative278 der Leistungsschau und Selbstdarstellung des Stadtrates dar und waren damit zentrale Elemente der Vision des „schönen Lemberg“. Das Postulat vom „polnischen Charakter“ Lembergs beruhte aus diesen Gründen auf einer selektiven Wahrnehmung und einer einseitigen Interpretation der sich vollziehenden Stadtentwicklung. Gerade weil „polnischer Charakter“ als eine Art Beschwörungsformel genutzt wurde, wird deutlich, dass er selbst keinesfalls selbstverständlich geworden war. Er war aber gerade hierdurch zum übergeordneten politischen Ziel und damit zum Leistungsversprechen seiner Erhaltung sowie zur Vision der Lemberger Kommunalpolitiker geworden, die durchgängig und
276 Zur Rolle Galiziens in den Beziehungen zwischen der Habsburgermonarchie und dem Russländischen Reich vgl. Bachmann, Herd der Feindschaft, insb. S. 173–195. 277 Hein-Kircher, Securitizing. 278 „They [the city’s inhabitants] were less concerned with making their city national than they were with making it safer, more comfortable, more ‚European‘“, so Nathaniel D. Woods (Wood, Becoming Metropolitan, S. 9) generelle These zu dieser Verschränkung.
6.3 Der Kern des „polnischen Charakters“
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unabhängig von der sich verändernden politischen Zusammensetzung der Ratsherren den „polnischen Charakter der Stadt“ postulierten. Daher wurde die Parole vom „polnischen Charakter“ zu einer wesentlichen Handlungsmaxime und nicht zuletzt zu einem Kampfbegriff des sich steigernden Nationalitätenkonflikts in Lemberg. Das komplexe Narrativ vom „polnischen Charakter“ der Stadt war somit eine Strategie der Aneignung, Verteidigung und Legitimation der polnischen Herrschaftsansprüche in Lemberg und zugleich der Marginalisierung der übrigen Ethnien. Zusammen mit den Modernisierungsdiskursen und -praktiken umschrieben sie eine Vision, wie sich Lemberg weiterzuentwickeln habe. Durch diese Leistungsschau stilisierten sich die kommunalpolitischen Akteure als die polnischen „Guardians of the Nation“279, wie Pieter M. Judson nationalisierende Akteure prägnant gekennzeichnet hat.
279 Nach Judsons wegweisender Analyse der komplexen, hybriden Identitäten in Südböhmen, der südlichen Steiermark und Tirol in der späten Habsburgermonarchie: Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge/MA 2006; vgl. auch zur Produktivität dieses Ansatzes bei Henschel, Fluidum.
7 Lembergs „polnischen Charakter“ sichern. Ein Fazit Die Redner in der Lemberger Budgetdebatte stellten bereits im Jahr 1883 fest: „Der Stadtrat soll den anderen Stadträten im Land als Beispiel und Muster dienen.“1 Sie forderten, dass er hierbei nur ein Ziel vertreten solle, das „Wohl der Stadt“, d. h. ihre günstige Entwicklung. In dieser Debatte wird zunächst deutlich, dass die Lemberger Selbstverwaltung nicht nur die Aufgabe als Kronlandhauptstadt angenommen hatte, sondern sich auch als polnische Ersatzhauptstadt sah und dieses Selbstbild schrittweise weiterentwickelte: Der Stadtrat sah sich als Vorbild für die übrigen galizischen Städte hinsichtlich der Stadtentwicklungspolitik, vor allem aber hinsichtlich der Aufgabe, den „polnischen Charakter“ zu sichern und Grundlagen für die weitere Entwicklung der polnischen Nation zu legen. Etwas mehr als 30 Jahre später formulierte der stellvertretende Stadtpräsident Tadeusz Rutowski diese Rolle noch prägnanter, indem er forderte, dass Lemberg seine „historische Mission“ erfüllen müsse. Es solle nicht nur einfach das politische, gesellschaftlich-kulturelle, zivilisatorische und ökonomische Zentrum sein, sondern die Stadt „muss [vor allem danach] streben, das Zentrum der polnischen Kultur in diesem Gebiet [Galizien] zu sein“, um ein „neues Feuer der Kultur“ und eine „neue nationale Festung“ zu werden.2 Allein der Vergleich beider Äußerungen verweist auf eine sich zunehmend verstärkende und dramatisierende Darstellung der grundlegenden Zielsetzungen kommunalpolitischen Handelns in Lemberg durch die Konstruktion einer Bedrohungslage, die in den analysierten, im Wesentlichen die Haltung des (polnischen) Stadtrates reflektierenden und von ihm produzierten Quellen erkennbar ist: Aus dem „Wohl der Stadt“ und der Vorbildfunktion für andere Städte wurde die „historische Mission“ des „schönen Lemberg“ abgeleitet, das die polnische Nation verteidigen und daher selbst vor Bedrohung gesichert werden müsse.
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„Rada powinna służyć za przykład i wzór radom miejskim innych w kraju“, GL v. 4.1.1883. „posłannictwo dziejowe“, „Lwów musi dążyć aby się stał centrem polskiej kultury w tej połaci“, „nowe ognisko kultury“, „twierdza narodowa“, Rutowski, W sprawie Galeryi, S. 15.
7.1 Emerging and nationalizing city
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7.1 Emerging and nationalizing city Im Vergleich zum westlichen Europa waren die Modernisierungs- und Nationsbildungsprozesse in den emerging cities Ostmitteleuropas deutlich enger miteinander verwoben, gerade weil das durch die dortige ethnische Heterogenität entstehende Konkurrenzverhältnis diesen Konnex noch verstärkte. Die Städte, beziehungsweise die für die Stadtentwicklung verantwortlichen Akteure, strebten im Allgemeinen danach, sich nicht nur im Wettlauf zwischen den wachsenden Städten, sondern vor allem zwischen den Nationalbewegungen zu positionieren: Bestmögliche Stadtentwicklung wurde zum ehrgeizigen Ziel der nationalizing und zugleich emerging cites. Hiermit musste aus Sicht der Akteure nicht zwangsläufig eine umfassende Industrialisierung der Stadt verbunden sein: Die Lemberger Akteure subsumierten unter dem Leistungsversprechen des „schönen Lemberg“ Modernität im Sinne von zeitgemäßer städtetechnischer Ausstattung zur Schaffung von Urbanität und von öffentlicher Gesundheit zur Sicherung der Bevölkerung, aber auch von kulturellen und Bildungsinstitutionen. Über die Implementierung zeitgemäßer Infrastrukturen im städtischen Raum wollten sie einen Beweis nationaler Leistungsfähigkeit auf europäischem Niveau erbringen, der wiederum ein Argument für den Anspruch auf ein „polnisches Lemberg“ war. Deutlich wird, dass die lokalen Akteure und Fachleute zwar die transnationalen Trends und best practices kannten und in die entsprechenden Netzwerke eingebunden waren, die Aufgaben aber im Sinne der Organischen Arbeit an den nationalen Wurzeln durch Polen erledigen lassen wollten, wie die Planung und der Bau des Städtischen Theaters und der Wasserver- und -entsorgung zeigen. Hierdurch erhielten diese überall in den europäischen Städten anzutreffenden Bestrebungen eine polnische Tönung. Die enge Verzahnung von Modernisierungs- und Nationalisierungsdiskursen führte zur bewussten Positionierung der Akteure an der Schnittstelle von europäischen Trends und nationalen Interessen, die, wenn auch in Nuancen unterschiedlich, in allen multiethnischen Städten im östlichen Europa, insbesondere den allesamt als regionale Metropolen fungierenden, größeren emerging cities feststellbar ist.3 Das Beispiel des Lemberger Stadtrates zeigte dies in paradigmatischer Weise immer wieder: Er suchte moderne, zeitgemäße Lösungen für die lokalen Probleme und orientierte sich dabei an (west-)europäischen best practices, bemühte sich also um aktuelles Anwendungswissen, während die Vorstellung davon, wie eine „moderne“, letztlich polnisch gefärbte Stadt auszusehen habe, sich aus dem jeweiligen politisch-ideologischen Spektrum der historischen Akteure ergab.4 Das hierfür notwendige Anwendungswissen adaptierten 3 4
Beispiele für diese Verzahnung sind etwa Tallinn, Riga, Budapest und Zagreb. Vgl. Gantner/ Hein-Kircher, Emerging Cities. Dies diskutieren die Themenhefte anhand verschiedener Beispiele: ebd.; Eszter Gantner / Heidi Hein-Kircher / Oliver Hochadel (Gasthrsg.), Themenheft „Urban Peripheries?“ Emerging Cities in
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7 Lembergs „polnischen Charakter“ sichern
die kommunalpolitischen Akteure durch transnationalen Austausch, insbesondere mit Experten aus dem Deutschen Reich. Es ging darum, die bestmögliche Antwort auf die Herausforderungen des aus seiner Sicht notwendigen Nach- und Aufholens bei der Stadtentwicklung zu finden. Diese Einbindung zeigt, dass sich die Akteure in Lemberg – wie in anderen Städten auch – letztlich nicht als an der ‚Peripherie‘ befindlich sahen, das Empfinden darum aber als Handlungsressource nutzten. Der Lemberger Fall verdeutlicht, dass dieses sich gegenseitig befruchtende Spannungsverhältnis von Nationalisierungs- und Modernisierungsdiskursen noch erweitert werden muss: In den multiethnischen Städten im östlichen Europa standen diese Prozesse in viel stärkerem Maße als in den national homogeneren Städten Mittel- und Westeuropas in Wechselwirkung zueinander. Verstärkt wurde diese Dynamik durch versicherheitlichende Diskurse und Praktiken, die spezifische Sicherheitsprobleme in den multiethnischen Kontexten diskursiv konstruierten und dabei das rechtliche Setting und ‚klassische‘ Themenfelder der Kommunalpolitik überlagerten. Der exemplarische Blick auf die Lemberger kommunalpolitischen Praktiken, Strategien und Visionen bringt diese Verschränkung bzw. dynamischen Wechselwirkungen als eine neue Forschungsperspektive auf die multiethnischen ostmitteleuropäischen Städte ein. Er zeigt aber auch, dass diese Verzahnung von Modernisierungs- und Nationalisierungsdiskursen und -praktiken mit versicherheitlichenden Argumentationsmustern ein Resultat des „race to modernity“5 war, wie Jan C. Behrends und Martin Kohlrausch das Konkurrenzverhältnis dieser Städte untereinander kennzeichnen. Das „race to modernity“ kann aber nicht nur wie bei Behrends und Kohlrausch verstanden werden als Konkurrenzverhältnis zwischen den Städten im 20. Jahrhundert, sondern muss darüber hinaus insbesondere für die zweite Hälfte des „langen“ 19. Jahrhunderts auch als vielschichtiges, aber voneinander abhängendes, leidenschaftliches und bewusstes Ringen um nationale Dominanz, um deren Festigung und Verstetigung in einer Stadt analysiert werden. Exemplarisch zeigt Lembergs „polnischen Charakter“ sichern deutlich, wie wichtig eine Perspektive auf die kommunalpolitischen Handlungsziele und -maximen ist, um die lokalen Dynamiken, die das „race to modernity“ und die konkurrierenden Nationalisierungsprozesse auslösten, in den multiethnischen Städten Ostmitteleuropas genauer zu verstehen: Innerhalb dieser und zwischen diesen
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Eastern Europe. ZfO 67, 2018, H. 4. Erst durch den Nationalismus und die sich entwickelnden Nationalitätenkonflikte wurden auch diese zunächst nichtnationalen Aspekte politisiert und national aufgeladen, wobei Versicherheitlichungsdiskurse über die Gefährdung der eigenen Nation eine Rolle spielten. Aleksander Łupienko, Urban Knowledge Transfer between the Cities of Warsaw, Krakow, Lviv and Poznan at the Turn of the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: ZfO 67, 2018, S. 578–600, macht daher deutlich, dass die emerging cities einer trans- und übernationalen Entwicklung gerade in städtebaulicher Hinsicht folgten, die nicht zwangsläufig mit nationalen Idealen verbunden waren. Behrends/Kohlrausch, Races, wobei die Autoren die Zwischenkriegszeit als Hauptphase dieses „Rennens“ ansehen.
7.1 Emerging and nationalizing city
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werden bottom-up- bzw. horizontale, sich gegenseitig bedingende Prozesse sichtbar. Durch diese wurde Lemberg zu einer ambitionierten emerging city, deren Akteure in einem bewussten Aufholprozess eigene Akzente setzten und etwa anhand der elektrischen Straßenbahn und der architektonischen Gestaltung des Hetmansdammes und der an ihm stehenden Gebäude demonstrierten, wie leistungsfähig und modern sie waren. Zugleich wird deutlich, dass sie mit ihren Praktiken, Strategien und Visionen vor Ort die nationale Agenda prägten. Um sie zu legitimieren, nutzten die Akteure Bedrohungsszenarien: Versicherheitlichende Praktiken und Diskurse gehörten zum Repertoire der politischen Akteure vor Ort. Es war hierbei entscheidend, dass die kommunalpolitischen Akteure den Kommunikationsraum ‚städtische Öffentlichkeit‘ nach ihren Bedürfnissen zu gestalten versuchten, deren nationale Dimension nach Andreas R. Hofmann und Anna Veronika Wendland6 ebenso charakteristisch ist wie ihre im Vergleich zum westlichen Europa stärkere Politisierung. Die Beschlüsse bzw. Praktiken der Lemberger kommunalpolitischen Akteure führten dabei zur Marginalisierung anderer innerstädtischer (Teil-)Öffentlichkeiten und zur Unterdrückung ihrer Partizipationsbestrebungen an den kommunalen Angelegenheiten – im Lemberger Fall derjenigen vor allem von Ruthenen und Juden. Unter den Bedingungen der imperialen Ordnungen bedeutete dieser enge Zusammenhang nach Martin Kohlrausch, dass „politische Legitimität in der Region [des östlichen Europa] in zunehmendem Maß auch von der Modernisierung des Stadtraumes abhing“7, nicht zuletzt, weil diese als Ausweis nationaler Leistungsfähigkeit verstanden wurde. Aus einer stadthistorischen Perspektive waren die multiethnischen Städte der am Ende des Ersten Weltkriegs zerfallenden Imperien „Kommunikationsräume der Nationalisierung“, zugleich aber „Modernisierungstreiber“ und „Orte von symbolischer Modernität“.8 So auch in Lemberg: Der Stadtrat sah sich dabei „immer“ als „Vermehrer der Polonität“ und forderte daher bei den Ratsherren eine ständige Unterstützung dessen ein, was polnisch sei – der polnischen Industrie, des polnischen Gewerbes und Handels, der polnischen Kunst und Bildung.9 Diese ideelle Rahmung seiner Politik stellte die Begründung für die nationalisierenden Beschlüsse und Stadtentwicklungsprozesse durch die Selbstverwaltung dar, durch die Lemberg prägnant in Abwandlung von Rogers Brubakers nationalizing state10 als nationalizing city charakterisiert werden
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Wendland/Hofmann, Stadt, S. 21. Martin Kohlrausch, Imperiales Erbe und Aufbruch in die Moderne. Neuere Literatur zur ostmitteleuropäischen Stadt, in: H-Soz-Kult, URL: http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungs berichte-1185 (1.4.2019), S. 8. Zitate: ebd., S. 2. „zawsze“, „pomnożycielem polskości“, SP v. 16.2.1899. Nach Rogers Brubaker, Nationalism Reframed. Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge/MA 1996, S. 63: Brubaker betont hiermit die „dynamic political stance“, die erkennt, dass der gewünschte Zustand, der Nationalstaat, unerfüllt ist und dementsprechende Praktiken entwickelt, um diesen Zustand zu erreichen. Durch diesen Terminus können der pro-
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kann. Der Fokus auf die Selbstverwaltung und insbesondere die kommunalpolitischen Akteure im Stadtrat macht es möglich, in paradigmatischer Weise nachzuvollziehen, wie die multiethnischen Städte Ostmitteleuropas zu „birthplace[s] of modern national agenda[s]“11 geworden sind. In ihnen war stets ein „Spannungsverhältnis zwischen nationaler Projektion und imperialer Logik“ anzutreffen, jedoch dienten sie vor allem, wie Martin Kohlrausch schlussfolgert, als „urbane nationale Projektionsräume“.12 Dies bedeutet, dass das jeweils Nationale im städtischen Kommunikationsraum an die lokalen Gegebenheiten adaptiert ausgehandelt wurde bzw. werden musste, weil dies im gesamtstaatlichen Rahmen nicht möglich war: Die nationalizing cities übernahmen so Stellvertreterfunktionen für die in den imperialen Kontexten nicht zu realisierenden Nationalstaaten – sie sahen sich gleichsam als Nationalstaaten en miniature, was durch den autonomen Status der Statutarstädte in besonderer Weise gefördert wurde. Durch diesen komplexen Prozess wurden die emerging cities, die als die größeren und bedeutenderen Städte Ostmitteleuropas aus einer Perspektive ex post größtenteils Hauptstädte der 1918 gegründeten Staaten13 wurden, zu „capital[s] of the conceptionalized nation[s]“14, oder wie Nathaniel D. Wood es formuliert: [to] create a national capital was at once a singular act (for the nation), and an act of mimicry (the creation of one’s own „little“ Paris, London, or Vienna). Creating a national capital would enable the nation to join (or re-join, as nationalist rhetoric always puts it) the family of Europe, asserting its place at the table, even if that place may not have necessarily been in the most prestigious spot.15
Vor der Folie der notwendigen Loyalität zur Monarchie und der gesamthabsburgischen Identität bildete auch Lemberg eine solche nationale Projektion, die explizit durch die zugeschriebene Vorbildrolle und Funktion als Ersatzhauptstadt diskursiv vermittelt wurde. Jedoch war es den polnischen politischen Akteuren klar, dass Lemberg, das in der Zweiten Polnischen Republik (1918–1939) auf den Rang einer Woiwodschaftshauptstadt zurückfiel, lediglich aufgrund der politischen Bedingungen der habsburgischen Herrschaft und nur auf Zeit diese Funktion vom ‚unfreien‘, unter der
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zessuale Charakter und damit verbunden die Perzeptions- und Aushandlungsprozesse für nationalisierende Maßnahmen innerhalb eines nationalizing state deutlich gemacht werden. Nationalizing city macht somit analoge Prozesse innerhalb einer Stadt sichtbar. Wood, Not Just the National, S. 259. Ebd., S. 7. Dies hängt mit der geringen Dichte an Großstädten in Ostmitteleuropa zusammen, die Mittelstädte erhielten meist regionale Hauptstadt- und Metropolenfunktionen. Tanja Damljanović Conley / Emily Gunzburger Makaš, Shaping Central and Southeastern European Capital Cities in the Age of Nationalism, in: dies. (Hrsg.), Capital Cities in the Aftermath of Empires. Planning in Central and Southeastern Europe, London 2010, S. 1–28, hier: S. 12. Wood, Not Just the National, S. 259.
7.1 Emerging and nationalizing city
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russifizierenden Herrschaft des Zarenreichs stehenden Warschau übernommen hatte. Grundlage hierfür bildete die Erkenntnis, dass es in Lemberg besonders wegen seines autonomen Status im Gegensatz zu Warschau möglich war, eine „moderne polnische Zivilisation“ frei zu gestalten und zu leben. Zugleich aber orientierte sich diese nationale Projektion an der polnischen kulturellen Metropole Krakau. Im Gegensatz zur traditionsbewussten ehemaligen Krönungsstadt sah der Lemberger Stadtrat seine Heimatstadt an der Spitze der Modernisierungsprozesse, während Krakau mit „traditionell“16 statt mit „fortschrittlich“ und „modern“ gleichgesetzt wurde. Daher bedeutete dieses Verständnis eine besonders klare Abgrenzung von Krakau, weil die Lemberger Repräsentanten sich und damit Lemberg in besonderer Weise als europäisch-progressiv und zugleich als polnisch-national stilisieren konnten. Wie überall war die erreichte Modernisierung Topos einer stolzen Leistungsschau, die im Lemberger Fall mit der Inbetriebnahme der elektrischen Straßenbahn im Rahmen der Inszenierung der Stadt als eigenes Ausstellungsobjekt einen besonderen Meilenstein erreicht hatte. 7.1.1 Polnisch getönte Modernität Auf Basis der Prämisse des „polnischen Charakters“ entwickelte der Stadtrat seine Vision eines modernen, „schönen Lemberg“, die zu einem grundlegenden Leistungsversprechen aller Stadträte in der Zeit der Autonomie wurde. Als Leitlinie für die Stadtentwicklung enthielt diese Handlungsmaxime drei voneinander abhängige Komponenten, die des „modernen“, an die europäischen best practices anschließenden „gesunden“ und des „versorgenden“ polnischen Lembergs. Das „schöne Lemberg“ fasste daher in charakteristischer Weise die Modernisierungsdiskurse und -praktiken zusammen, die auch in den anderen, kaum industriell entwickelten, daher aus der Perspektive des westlichen Europas als „peripher“ und „rückständig“ wahrgenommenen Städten Ostmitteleuropas anzutreffen waren. Wie dieses Entwicklungsziel zu verstehen war, wurde in einem umfassenden Aushandlungsprozess innerhalb des Stadtrates und mit hinzugezogenen polnischen zivilgesellschaftlichen (Fach-)Vereinigungen und Experten definiert, die wiederum als ‚Transmissionsriemen‘ in die Gesellschaft wirkten. Hierbei entwickelten die Kommunalpolitiker Praktiken und Strategien zu deren Umsetzung im Bereich kommunaler Infrastrukturen und Städtebau, während es ihnen nicht gelang, Lemberg hinreichend zu industrialisieren.17
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Vgl. Simon Hadler, Von sprechenden Steinen. Die Mythologisierung des urbanen Raumes in Krakau, in: Doktoratskolleg Galizien (Hrsg.), Galizien. Fragmente eines diskursiven Raums, Innsbruck 2009, S. 159–169. Aus einer Perspektive ex post war es dem Stadtrat auch nicht gelungen, ein grundsätzlich „sauberes“ und „ordentliches“ Stadtbild außerhalb des Stadtkerns sowie damit einhergehend die drin-
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Als Mittel hierfür erkannten die kommunalpolitischen Akteure und der Magistrat die Orientierung an erprobtem Anwendungswissen, d. h. an Lösungen anderer, als „fortschrittlicher“ empfundener Städte, die weniger innerhalb der Habsburgermonarchie, sondern vor allem im Deutschen Reich lagen. Diese best practices wurden durch die sich entwickelnde und professionalisierende Leistungsverwaltung an die Lemberger Verhältnisse angepasst.18 Gerade das starke demografische Wachstum und die prekäre Lage der überwiegenden Bevölkerungsteile, aber auch die räumlichen Veränderungen und insbesondere die verdichtete, nicht regulierte Bauweise, waren Herausforderungen, aus denen das Leistungsversprechen des „schönen Lemberg“ sich entwickelte und an denen sich die Kommunalpolitiker und ihre Exekutive, der Magistrat, immer wieder messen ließen. Es ist daher kein Zufall, dass Modernisierungsdiskurse, die alles in allem die Herstellung sozialer Sicherheit und Lebensqualität gleichermaßen behandelten, immer auch mit Diskursen der nationalen Leistungsfähigkeit verbunden waren. Gerade in der Modernisierung des städtischen Raumes und insbesondere der städtischen Infrastrukturen bestand eine Möglichkeit, diese Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Die Ruthenen wurden gleichsam als Hort bäuerlich-nichturbaner und nichtmoderner Kultur stilisiert. Dagegen zeigen sich in den Subdiskursen zu den verschiedenen Aspekten des „schönen Lembergs“ stets deutlich antisemitische Ressentiments, die eine aus einem zivilisatorischen Überlegenheitsgefühl heraus motivierte Ebene der versicherheitlichenden Diskurse gegenüber den Juden darstellen. Besonders die Juden, die in einigen Vierteln dicht zusammenlebten, wurden für die „Unordnung“ in der Stadt und damit für die Gefährdung der „Ordnung“ und „Gesundheit“ der Stadt implizit und explizit verantwortlich gemacht. 7.2 ‚Ferne‘ der Landesverwaltung und Loyalität Dieser grundsätzlichen Entwicklung kam in Lemberg zugute, dass sich in Galizien ein autonomer Status im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufgrund des do ut des zwischen den galizisch-polnischen Politikern und der Reichsebene entwickeln konnte, der auf einer strikten Loyalitätspolitik basierte. Das Verhältnis zu den Landesbehörden wird daher einerseits dadurch gekennzeichnet, dass die Landesautonomie unterstützend und verstärkend wirkte, zumal die Akteure sich dessen bewusst waren und dies ausnutzten. Hiervon profitierte auch
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gend erforderliche größere Assanierung von Stadtteilen außerhalb von kleineren Einzelmaßnahmen zu erreichen. Zur Dynamisierung der Stadtentwicklung durch die Übernahme von best practices vgl. Eszter Gantner / Heidi Hein-Kircher, Imperiale Herausforderungen in Habsburgs Emerging Cities, in: Wolfram Dornik / Stephan Lehnstedt (Hrsg.), Österreich-Ungarns imperiale Herausforderungen. Nationalismus und Rivalitäten im Habsburgerreich um 1900, Göttingen 2020, S. 257–274, hier: S. 273 f.
7.2 ‚Ferne‘ der Landesverwaltung und Loyalität
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die städtische Selbstverwaltung erheblich, da sie auf eine in nationalen Fragen grundsätzlich wohlwollende Landesverwaltung stieß. Insofern ist die Landesverwaltung als ‚Resonanzraum‘ der Lemberger Kommunalpolitik zu verstehen. Andererseits wurde, wie es die Debattenbeiträge (nicht nur von Lemberger Ratsherren und Abgeordneten) um das Statut in den 1860er Jahren im galizischen Landtag zeigen, Lemberg als „erwachsen“ und der autonome Status als Anlass für möglichst wenig Engagement in städtischen Belangen gesehen. Allen war bewusst, dass die städtische Autonomie auf einer anderen Rechtsquelle als die Landesgesetzgebung basierte und im Gegensatz zu jener rechtlich definiert worden war. Daher ließ die Landesverwaltung die Lemberger Verwaltung weitestgehend gewähren und griff letztlich nur bei eklatanten Rechtsverstößen – faktisch nur moderierend und fast ausschließlich zugunsten der Stadt Lemberg – ein, sodass sie kein wirkliches Korrektiv der Kommunalpolitik darstellte. Dies zeigt sich etwa auch in der durchweg wohlwollenden Berichterstattung der von der Statthalterei herausgegebenen Gazeta Lwowska, die unkritisch über die Ratspolitik berichtete. Obwohl die Landesbehörden vor Ort angesiedelt waren, war daher diese ‚Ferne‘ bzw. ‚Abstinenz‘ der Landesbehörden in Lembergs lokalpolitischen Fragen ein wichtiger Faktor für das selbstbewusst-unabhängige Handeln der lokalen politischen polnischen Eliten. Die informelle Ebene – die persönlichen Netzwerke insbesondere der lokalen Spitzenpolitiker – ist hierbei nicht außer Acht zu lassen, aber genauso wenig in diesem Rahmen nachzuvollziehen: Diese Netzwerke trafen im Rahmen zivilgesellschaftlichen, jedoch von der Stadt vereinnahmten Engagements etwa im Rahmen der Verschönerungsgesellschaft und der Planungsgruppen für die Jahrestage und Denkmalinitiativen immer wieder auf Vertreter des Landes und der kleineren Städte. Sie sahen sich – analog zur Rolle Lembergs als Vorbild und Ersatzhauptstadt – jedoch in diesen immer in einer führenden Position, so etwa auch bei den Planungen und Durchführungen der Allgemeinen Landesausstellung. Wie auch auf Landesebene stellten hierbei, so der Befund in den ausgewerteten Quellen, der Stadtrat und die -verwaltung ihre Loyalität gegenüber der Monarchie nie infrage, was Markian Prokopovychs Feststellung stützt,19 dass Lemberg die kaisertreueste Stadt der Monarchie war. Die grundsätzlich loyale Haltung gegenüber der Monarchie stand nie zur Disposition – im Gegenteil, die loyalitätsbekundenden Praktiken erscheinen als Ergebnis der grundlegenden Strategie, den autonomen Status des Stadtrates als Voraussetzung und die damit verbundenen großen Handlungsspielräume seiner polnischen Politiker nicht zu gefährden. So konnte es gelingen, den politischen Spielraum bei der Auslegung der Gesetze durch die Stadtverwaltung, etwa in Bezug auf die Marginalisierung der ruthenischen Sprache in den Schulen, möglichst effektiv zunutzen. Die sich wechselseitig unterstützende ‚Ferne‘ der Landesverwaltung und die strikte Loyalitätspolitik trugen erheblich zur starken, autonomen Position des
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Prokopovych, Habsburg Lemberg, S. 9.
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7 Lembergs „polnischen Charakter“ sichern
Rates bei. Dass letztere eine Grundvoraussetzung war, zeigt etwa die Tatsache, dass der Kaiser den vom dortigen Rat gewählten Stadtpräsidenten von Laibach wegen seiner zu starken, als illoyal aufgefassten Nationalisierungspolitik 1910 nicht mehr im Amt bestätigte.20 7.3 Selbstthematisierung durch Dramatisierung Wegen der sich aus der politischen Konstellation und Loyalitätspolitik ergebenden Freiräume war es für den Lemberger Stadtrat möglich, die notwendige Modernisierung der Stadt in einem national-polnischen Sinne zu interpretieren. Hieraus leitete er wiederum die Darstellung der Fortschrittlichkeit und Modernität Lembergs und auch dessen mission civilisatrice ab, die wiederum vom Selbstbild der eigenen Leistungsfähigkeit und damit von einer Überlegenheitsvorstellung gegenüber Ruthenen und Juden ausging.21 Der von den kommunalpolitischen Eliten konstruierte und propagierte „polnische Charakter“ Lembergs band somit geradezu leitmotivisch die Diskurse und Praktiken und die ihnen zugrunde liegenden Strategien und Visionen zusammen. Er wirkte damit handlungsleitend, sinn- und identitätsstiftend, wodurch die polnische Bevölkerung für die eigene Nation mobilisiert wurde. Die „Grenzen der Gemeinsamkeit“22, wie Ulrike von Hirschhausen das Verhältnis der Ethnien in Riga zur gleichen Zeit charakterisiert, waren in Lemberg für die kommunalpolitischen Akteure klar, denn nach ihrer Auffassung gab es überhaupt keine Gemeinsamkeiten unter den Bevölkerungsgruppen in städtischen Angelegenheiten – schließlich war Lemberg für sie „rein“ polnisch. Diese Vision exkludierte die nichtpolnische Bevölkerung aus der Stadtgesellschaft, was wiederum deren oppositionelle Haltung verstärkte und in der Feststellung kulminierte, dass Lemberg eine „ruthenische Stadt“ sei.
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ÖStA, AVA, MI, Präsidiale 11/1, 8474, Bl. 10: Der Bürgermeister Ivan Hribar sei wegen mangelnder Loyalität nach fünf Wahlperioden nicht mehr vom Kaiser bestätigt worden, obwohl er in der Verwaltung erfolgreich gearbeitet hätte. Aber es stünde nicht zu erwarten, dass er künftig in seiner politischen Haltung eine „größere Mäßigung und Zurückhaltung befleißigen“ werde, sondern er würde immer „radikaler“ und stelle sich in den „Dienst jener politischen nationalen Propaganda, welche die Slovenen zu einem Bestandteile des serbischen Volksstammes erklären wolle“. In diesem Vorgang wird deutlich, dass weniger ein Nationalgefühl an sich als die mit der Orientierung an dem (nicht habsburgischen) Serbien verbundene Unterstellung einer illoyalen Haltung gegenüber der Donaumonarchie der Ausschlag für die Verweigerung der kaiserlichen Sanktion war. Zum Folgenden: Hofmeister, Bürde, S. 33–41, insb. S. 34, 39. Nach Boris Barth / Jürgen Osterhammel, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 7–11, hier: S. 7; vgl. auch Jürgen Osterhammel, „The great work of uplifting mankind“. Zivilisierungsmission und Moderne, in: ebd., S. 363–425, insb. S. 363. So Ulrike von Hirschhausen, Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914, Göttingen 2006.
7.3 Selbstthematisierung durch Dramatisierung
335
Die nichtpolnische Bevölkerung wurde daher als Bedrohung des „polnischen Charakters“ wahrgenommen und dargestellt. Wegen des entwickelten Bedrohungsszenarios sind alle vom Stadtrat vollzogenen Praktiken und Strategien sowie die damit inhärenten Visionen der Stadtentwicklung als Elemente des Lemberger „threat management“23 und als Versuche zu kennzeichnen, dieses grundlegende Bedrohungsszenario zu beseitigen und Lemberg für die polnische Nation zu sichern. Hierdurch vollzogen die politischen Akteure das, was nach Ulrich Bielefeld als Selbstthematisierung zur Begründung von modernen Gesellschaften allgemein charakterisiert werden kann.24 Diese würde von einer „Dramatisierung der Zugehörigkeitsfrage“25 begleitet, d. h. einer Übersteigerung des Eigenen und des Fremden. Aufgrund der Konstruktion des „Eigenen“ sowie des „Fremden“ bringt Selbstthematisierung Bezüge zur eigenen Geschichte und zum eigenen Territorium, zur Sprache etc. des Kollektivs mit sich. Die „Dramatisierung der Zugehörigkeitsfrage“ wird somit zu einem essenziellen Aspekt der Nationalisierung von Gemeinschaften, da sie „im Sinne einer Negativ-Erzählung das Gegenstück zum Eigenen liefer[t].“26 Als roten Faden nutzten die kommunalpolitischen Akteure dabei versicherheitlichende, die Lage des „polnischen Lemberg“ dramatisierende Argumentationslinien. Der alleinige Bezug auf die eigene Geschichte, die eigene Sprache, das eigene Territorium etc. genügt jedoch in multiethnischen Kontexten nicht für eine solche Abgrenzung, wie in der Analyse zu Lembergs „polnischen Charakter“ sichern deutlich wird. Hierdurch allein kann die notwendige Dramatisierung nicht erreicht werden, sondern erst durch die Konstruktion einer Bedrohung der eigenen Gruppe. Wird diese Dramatisierung als ein diskursiver Prozess interpretiert, der seinen Widerhall in Praktiken, Strategien und der Entwicklung von Zielvorstellungen findet, so wird deutlich, dass erst versicherheitlichende Diskurse und Praktiken diese Dramatisierung und Selbstthematisierung in der notwendigen Intensität lieferten. Gerade in den multiethnischen Gesellschaften Ostmitteleuropas, in denen die verschiedenen Nationalbewegungen miteinander um Dominanz zumindest im lokalen Raum leidenschaftlich rangen, wurde die Konstruktion von Bedrohungsszenarien und ihre Vermittlung in die eigene Gruppe hinein zu einem konstitutiven Bestandteil der jeweiligen Nationalisierungsprozesse, da erst hierdurch eine tatsächliche Selbstthematisierung und Abgrenzung von den anderen erfolgen konnte.
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Balzacq/Léonard/Ruzicka, „Securitization“, S. 495. Ulrich Bielefeld, Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Frankreich und Deutschland, Hamburg 2003, S. 10. Ebd., S. 12. Zitate: Stefan Dyroff / Juliette Wedl, Selbstbilder – Fremdbilder – Nationenbilder. Historische und zeitgenössische Beispiele kollektiver Konstruktionen in Europa. Eine Einleitung, in: dies. / Silke Flegel (Hrsg.), Selbstbilder – Fremdbilder – Nationenbilder, Berlin 2007, S. 9–18, hier: S. 11 f.
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7 Lembergs „polnischen Charakter“ sichern
7.3.1 Marginalisierung und Exklusion nationaler Nationalitäten Entsprechend mussten, das zeigen exemplarisch die Schlagworte vom „schönen Lemberg“ und vom „polnischen Charakter“, die legitimierenden Narrationen miteinander verwoben werden. So wie das „schöne Lemberg“ nicht als Modernisierungsvision des überwiegend polnischen Stadtrates angezweifelt wurde, wurde auch das generelle Handlungsziel der Sicherung – nicht zuletzt auch im Sinne von Verstetigung – des „polnischen Charakters“ nicht grundlegend infrage gestellt. Die allgemeingültige Regel, dass das, was ständig wiederholt werden muss, nicht selbstverständlich und nicht dauerhaft etabliert ist, bestätigt sich auch mit Blick auf die fast mantra-artige Berufung auf Lembergs „polnischen Charakter“. Da die Ratsherren, aber auch die in ihrem Auftrag handelnden städtischen Akteure sich durchaus bewusst waren, dass sie sich – zwar aus ihrer Perspektive gerechtfertigterweise – der kommunalen Selbstverwaltung (wieder-)bemächtigt hatten und die übrigen nationalen (und sozialen) Bevölkerungsgruppen durch die rechtlichen Regelungen und daraus resultierenden Praktiken von dieser ausgeschlossen hatten, fühlten sie sich stets herausgefordert zu betonen, dass Lemberg polnisch sei. Auch wenn endgültig seit der Sanktion des Statuts das öffentliche, politische Leben innerhalb der Stadt, die städtischen Kulturinstitutionen und die städtischen Schulen fast ausschließlich polnischsprachig waren und der öffentliche Raum vor dem Hintergrund der visuell eindrücklichen imperialen Überdachung durch die Zitadelle und den Franz-Josephs-Berg sowie der imperialen Verwaltungsgebäude polnisch markiert worden war, so wurde dieser Charakter gerade durch die ruthenische Nationalbewegung herausgefordert, die Lemberg einen „ruthenischen Charakter“ zuschrieb. Lemberg war niemals, wie der Stadtrat postulierte, eine „rein polnische Stadt“. Der faktisch traditionelle multiethnische Charakter veränderte sich in der Zeit der städtischen Autonomie hinsichtlich des prozentualen Verhältnisses der dort lebenden Ethnien geringfügig zu Lasten der Polen und Juden, weil vor allem bäuerlich-ruthenische Zuwanderer in die Stadt kamen. Er änderte sich in der zeitgenössischen Wahrnehmung auch deshalb, weil die erstarkende ruthenische Nationalbewegung immer vernehmbarer für sich reklamierte, ebenfalls den städtischen öffentlichen Raum zu besetzen. Der multiethnische Charakter wurde daher von den polnischen kommunalpolitischen Eliten zunächst durch die Forderungen der Juden nach politischer Gleichberechtigung, dann der Ruthenen nach Partizipation als zweifache Bedrohung wahrgenommen: Da die Ruthenen Lemberg als „ruthenische Stadt“ sahen, wurde der „polnische Charakter“ der Stadt massiv angezweifelt, zugleich stellten sie damit den Anspruch der polnischen Inteligencja und der ökonomischen Eliten, die Stadt zu regieren, infrage, was diese sich nicht gefallen lassen konnten. Wegen dieser doppelten Herausforderung war es den polnischen kommunalpolitischen Akteuren daran gelegen, Lemberg als „polnischen Besitz“ gerade im öffentlichen Raum deutlich zu markieren und zu verteidigen, sowie Ruthenen und Juden weitestgehend zu marginalisieren, wenn nicht gar zu exkludieren. So wie im westlichen Europa aus sozialen Gründen,
7.3 Selbstthematisierung durch Dramatisierung
337
wie etwa in Frankreich, die städtischen, zur Aufruhr bereiten Unterschichten als classes dangereuses wahrgenommen wurden, wurden sie zur Begründung dieser Zielsetzung aus nationalen und konfessionellen Gründen als ‚bedrohliche‘ Gruppe konstruiert, während Deutsche und die weitgehend zur polnischen Kultur assimilierten Armenier nicht als solche wahrgenommen wurden. Stellten in den 1860er Jahren die Juden in Lemberg für die polnischen politischen Eliten das größte Bedrohungspotential für den Machterhalt dar, so waren dies seit der Jahrhundertwende die Ruthenen. 7.3.2 Polonisierung als ‚sicherheitspolitisches‘ Ziel Hieran zeigt sich, dass das Lokale nicht nur als „Bühne der Inszenierung [und der Herstellung] nationaler Identität“27 von erheblicher Bedeutung war, sondern auch als Brennglas für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen gesehen werden kann, die „weit über das rein Lokale hinausweisen.“28 Daher war auf der lokalen Ebene die Nation erheblich konkreter und (emotional) erlebbarer als die imaginierte nationale Gesamtgemeinschaft. Somit wurde nach Axel Körner durch „zivilbürgerliches Engagement – […] im Stadtrat, durch Teilnahme an Festlichkeiten – […] nicht nur der Bürger generell, sondern […] der Stadtbürger zum Bürger der Nation“29. Stellt Körner dies für Italien fest, so war ein analoger Prozess ebenfalls in Lemberg deutlich spürbar. Gerade im Rahmen der städtischen Autonomie war es vor allem Teilen der Inteligencja, der Trägergruppe des polnischen nationalen Bewusstseins am Ende des 19. Jahrhunderts, möglich geworden, ihre Vorstellungen einer polnischen Nationalgesellschaft zu erproben und damit zugleich die ‚Arbeit an den nationalen Wurzeln‘ als Grundprinzip der Organischen Arbeit zu realisieren. Die Autonomie, die intendiert war, um die Staatsverwaltung auf der lokalen Ebene weiter auszubauen, war daher die Handlungsressource für die lokalen Akteure, die über diese Aufgabenübertragung den Staat für „ihre Zwecke ein[spannten].“30 Die in Form der Praktiken und Strategien vermittelten politischen Handlungsmaximen und Visionen des Lemberger Stadtrates stellten als politische Wertvorstellung die polnische Nation und deren Sicherung in den Vordergrund politischen Handelns: Hieraus ergaben sich die letztlich konzentrisch ineinandergreifenden Empfängerkreise (audiences) der sozialen und national-kulturellen, letztlich aber politisch motivier27 28 29 30
Axel Körner, Lokale und transnationale Dimensionen sakralisierter Politik. Nationale Bewegung und Zivilgesellschaft im liberalen Italien, in: HZ 300, 2015, S. 698–719, hier: S. 699. Saldern, Einleitung, S. 24. Ebd., S. 25. Hervorhebung durch H. H.-K.. Jörg Ganzenmüller / Tatjana Tönsmeyer, Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts, in: dies. (Hrsg.), Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts, Köln etc. 2016, S. 7–32, hier: S. 19.
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7 Lembergs „polnischen Charakter“ sichern
ten Versicherheitlichungsdiskurse. Diese stellten dramatisierend die Gefährdung des „polnischen Charakters“ der Stadt und damit der polnischen Nation geradezu leitmotivisch dar. Sie sollten das vielfältige kommunalpolitische Handeln und die Exklusion anderer nationaler Gruppen von diesem legitimieren. So ging es zunächst darum, die Ratsherren unter der Prämisse des diskursiv stets vermittelten Sicherheitsdefizits für die vorgeschlagenen Maßnahmen zu gewinnen und letztlich diejenigen damit zu diffamieren, die sich ihnen nicht anschließen wollten, weil ihnen unterstellt wurde, sie würden den „polnischen Charakter“ aufs Spiel setzen. Die den Debatten des Stadtrates, seinen Praktiken und Strategien inhärenten securitizing moves zielten darüber hinaus auch auf die breiteren polnischen Bevölkerungskreise ab, um sie in seinem Sinne zu politisieren und zu mobilisieren, zugleich wurden – in Wechselwirkung – hierdurch auch seine Gegner, im Wesentlichen die Ruthenen, mobilisiert, wodurch eine Dynamik im Nationalitätenkonflikt provoziert wurde. Da gerade der soziale Wandel die kommunalpolitischen Eliten herausforderte und ihre politische Führungsrolle durch die Lemberger ethno-konfessionell definierten classes dangereuses gefährdete, stellten die versicherheitlichenden Diskurse eine Strategie dar, sich der zumindest argumentativ entstehenden politischen Partizipationsansprüche zu erwehren, was sich in der Verhinderung einer Wahlordnungsreform besonders deutlich zeigte. Über die eng begrenzte Wählerschicht hinausgehend stellten schließlich die sozialen und national-kulturell begründeten Versicherheitlichungsdiskurse und -praktiken einen erheblichen integrativen Faktor für die gesamte polnische Bevölkerung dar. Sie bildeten das Motiv und das Instrument gleichermaßen, um diese für die Ratspolitik zu mobilisieren und von der ethno-konfessionell anderen, der ‚fremden‘ Bevölkerung abzugrenzen, indem hierdurch vermittelt wurde, dass ‚soziale Sicherheit‘ nur im Verbund mit ‚national-kultureller Sicherheit‘ erreicht werden könne. Dadurch waren diese ethno-konfessionellen städtischen Bevölkerungsgruppen (indirekt) als Sicherheitsproblem adressiert worden. Besonders deutlich zeigte sich dies an der jüdischen Bevölkerung in den auf gängige antijüdische bzw. -semitische Stereotypen rekurrierenden Subdiskursen hinsichtlich der Vision eines „schönen Lemberg“, da ihre ärmlichen Wohnbezirke und als deren Symbol die Chadorim als besondere Gefahr für die öffentliche und private Gesundheit dargestellt wurden. Gerade in der Entwicklungsphase der Lemberger Autonomie wurden versicherheitlichende Argumentationslinien leitmotivisch in die Auseinandersetzung mit der „jüdischen Frage“ eingebunden. Als ‚Lemberger Antwort‘ spiegeln sie die galizisch-polnischen Assimilierungsdebatten in den 1860er Jahren und vor allem die habsburgische Gesetzgebung, die zur Gleichberechtigung 1867 führte, vor Ort diskursiv wider. Vordergründig ging es zwar um die Sicherung des städtischen Vermögens vor jüdischem Einfluss, letztlich aber darum, dass die polnischen kommunalpolitischen Eliten ihre Position durch eine starke jüdische Gruppe innerhalb des Stadtrates gefährdet sahen. Bezüglich der ruthenischen Bevölkerung traten versicherheitlichende Diskurse daher immer im argumentativen Zusammenhang mit einer Abgrenzung zu diesen und mit Versuchen
7.3 Selbstthematisierung durch Dramatisierung
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auf, sie hinsichtlich ihrer Partizipationsansprüche und der Markierung des öffentlichen Raumes zu marginalisieren. Sie wurden als offensichtliches Sicherheitsproblem stilisiert, um sie von der Teilhabe an den städtischen und kulturellen Angelegenheiten sowie ihre Ansprüche auf eigene nationale Repräsentationen im öffentlichen Raum möglichst weitgehend auszuschließen. Charakteristisch war daher, dass sich die versicherheitlichenden Praktiken und diskursiven Strategien vor allem an Ruthenen und Juden rieben, während Partizipationsansprüche von Frauen und seitens der Sozialisten eine untergeordnete Rolle spielten – relevant war hierbei sicherlich auch die Tatsache, dass es wegen der kaum entwickelten Industrie keine starken sozialen Konflikte zwischen den polnischen Schichten in Lemberg gab. Daher kann man zum Schluss gelangen, dass in allen Bereichen der Lemberger Kommunalpolitik sich überlagernde versicherheitlichende Diskurse und Praktiken zu finden sind, welche die ‚soziale‘, vor allem aber die ‚national-kulturelle Sicherheit‘ teilweise explizit, teilweise implizit adressierten und eng miteinander verwoben, um ihrem Kollektiv, der polnischen Nation, ein ‚sorgloses Leben‘ zu ermöglichen. Analog zu dem Verständnis von individueller Sicherheit gibt es, wie das Beispiel Lembergs „polnischen Charakter“ sichern zeigt, für (entstehende) Nationalgesellschaften (und andere Großgruppen) gerade in multiethnischen Kontexten ein Grundbedürfnis und Bestreben nach kollektiver Unversehrtheit, d. h. nach der Sicherung vor äußeren Bedrohungen durch andere Nationen, nach Verteidigung ihres (kulturellen) Besitzes und ihrer Identität. Im Zuge des anwachsenden Nationalitätenkonflikts wurde die Gefährdung der gegenwärtigen Verhältnisse und damit dieses Grundbedürfnisses zunehmend dramatisiert dargestellt. Diesem liegt ein soziokulturelles, national-kulturell definiertes Wertesystem zugrunde, durch dessen Filter alle politischen Probleme wahrgenommen und Praktiken, Handlungsstrategien und Visionen abgeleitet werden, um der (eigenen) Nation ein ‚sicheres Leben‘ zu ermöglichen. Dieses spiegelte sich gerade in der Geschichts- und Selbstdarstellungspolitik wider: Formulierungen wie „Bollwerk“ oder „Verteidigung“ verwiesen explizit auf ein Bedrohungsszenario, jedoch ebenso positiv besetzte Termini und Handlungsmaximen wie „Gemeinwohl“ und „Wohl der Stadt“ als Leistungsversprechen der politischen Akteure.31 Für die kommunalpolitischen Debatten in Lemberg implizierte dies stets, dass das prioritäre „Wohl des polnischen Lembergs“ nicht riskiert werden durfte. Über die Definition dessen, was Sicherheit für die jeweilige Gruppe bedeutet, entstand ein spezifisches Deutungsmuster der komplexen interethnischen Beziehungen im lokalen Raum: Nur über die Selbstthematisierung und damit verbunden über die 31
Im Kontext der Quellen wird deutlich, dass dieser Begriff oder Synonyme in der politischen Rhetorik nur verwendet wurden, wenn das „Gemeinwohl“ in Gefahr zu sein schien. Dieser Befund verdeutlicht, dass das „semantic repertoire“ (Balzacq., Theory, S. 11) von Versicherheitlichungsdiskursen durchaus weit gefächert und kontextgebunden ist.
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7 Lembergs „polnischen Charakter“ sichern
Dramatisierung des gegenseitigen Verhältnisses, nicht aber über eine Darstellung dessen, wie Koexistenz (gut) funktioniert, können eigene politische Ziele ausgedeutet, begründet und legitimiert und nicht zuletzt dem Kollektiv Kohärenz und Orientierung vermittelt werden. Dies zeigt, dass über die bisherigen Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von Nationalisierung und Modernisierung hinausgehend gerade in Ostmitteleuropa die Frageperspektive der „Versicherheitlichung“ als weitere Analyseperspektive hinzugezogen werden muss. Nur so kommt man zu einem tiefergehenden Verständnis der sich gegenseitig verstärkenden Nationalisierungsprozesse in multiethnischen Regionen und davon, wie sich „regional security dynamics“32 in historischer Perspektive in multiethnischen Räumen äußerten. Erst dann können die in einem dynamischen Verhältnis stehenden kollektiven Praktiken, aber auch Verhaltensmuster und Orientierungen verstanden werden, die zur konflikthaften Abgrenzung der Nationalbewegungen führten. Lembergs „polnischen Charakter“ sichern verweist jedoch darauf, und dies muss an anderer Stelle vergleichend überprüft werden, dass die Konstruktion einer Bedrohungslage in multiethnischen, sich nationalisierenden Gesellschaften durchaus eine Art Normalzustandsbeschreibung ist, sodass das inhärente Sicherheitsdenken einen wichtigen ständigen Bestandteil nationaler Diskurse und nationaler Identität darstellt. Lembergs „polnischen Charakter“ sichern zeigt darüber hinaus, dass dieser in bestimmten Situationen, besonders zugespitzt beispielsweise in den Debatten um die Reform der Wahlordnung, dramatisiert wird, um bestimmte Haltungen und Maßnahmen zu rechtfertigen. Dies zeigt, dass sich die Selbstthematisierung des „polnischen Bollwerks“ und des „bedrohten polnischen Charakters der Stadt“ und die lokalen Machtverhältnisse, also die polnische Arena Stadtrat, gegenseitig bedingten und legitimierten. Deutlich wird darüber hinaus, dass gerade die lokalpolitischen Akteure erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung dessen hatten, was als gemeinsames Ziel der jeweils eigenen Nation definiert wurde, nämlich das Bewusstsein gemeinsamer Interessen und die Schaffung einer eigenen nationalen Identität. Das Beispiel Lembergs verdeutlicht, dass „Sicherheit“ der eigenen kollektiven Identität und Kultur ein wesentlicher Wert in sich nationalisierenden Gesellschaften gerade in multiethnischen Zusammenhängen war, der sich auf ihre weitere Entwicklung bezog. Die Polonisierung Lembergs kann daher als lokale (und gleichermaßen ethno-kulturelle) Sicherheitspolitik durch Bedrohungs- und Unsicherheitskommunikation verstanden werden, sodass diese als ein Grundbedürfnis der nationalizing cities interpretiert werden kann. Das Lemberger Beispiel verdeutlicht folglich, welche Funktionen die versicherheitlichenden Diskurse und Praktiken in sich nationalisierenden Gesellschaften beinhalten: Versteht man die Nation nach Ernest Renan als „plébiscite de tous les jours“33
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Stefano Guzzini, A Dual History of „Securitization“, in: DIIS Working Paper 2015, H. 2, S. 14. Ernest Renan, Qu’est-ce qu’une nation?, Paris 1882, S. 70.
7.4 Dynamisierung des Nationalitätenkonflikts
341
und, moderner ausgedrückt, nach Benedict Anderson als „imaginiertes“ Konstrukt,34 so kann dieses stets zu erneuernde Zugehörigkeitsbekenntnis besonders dadurch begründet werden, dass die andere nationale Gruppe als Bedrohung für das eigene Kollektiv und damit für die eigene Persönlichkeit dargestellt wird, während nur die eigene Gruppe, die eigene Nation, ein sicheres Leben ermöglichen kann. Das heißt, nur wenn deutlich wird, dass die Nation diese Sicherheit (an-)bietet, wird sie unterstützt. Anhand des Lemberger Beispiels kann man daher zur Schlussfolgerung gelangen, dass „Sicherheit“ ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der Modernisierungs- und Nationalisierungsdiskurse in multiethnisch-imperialen Kontexten gleichermaßen ist, da die Sicherheit der eigenen nationalen Existenz zu einem Grundbedürfnis gerade wegen des Konkurrenzverhältnisses zu den anderen nationalisierenden Gruppen geworden ist. Dieser performative Prozess ist allgemein nach Stefano Guzzini simply part of an ongoing social construction of (social) reality. In this, securitisation refers to the successful mobilisation [of the masses] of the logic of the discourse of security,35
wodurch „Sicherheit“ zu einer diskursiven Ressource wird. Über die diskursive Referenz auf Bedrohungsszenarien war es im Lemberger Fall möglich, einer im Kern wegen sozialer und politischer Herausforderungen aus der gesellschaftlichen, politischen und sozio-ökonomischen Modernisierung zutiefst verunsicherten Gesellschaft Orientierung zu vermitteln und Sinn zu stiften, weil die ‚soziale‘ und die ‚Sicherheit der eigenen Nation‘ als Handlungsmaximen adressiert wurden. Über diese Funktion konnte ‚national-kulturelle Sicherheit‘ zu einer grundlegenden Wertvorstellung der sich nationalisierenden und modernisierenden Gesellschaften werden, die es für die in Lembergs „polnischen Charakter“ sichern betrachtete dominante polnische politische Elite, aber ebenso für die ruthenische Nationalbewegung durchzusetzen, zu implementieren und zu sichern galt. 7.4 Dynamisierung des Nationalitätenkonflikts Dieses Konkurrenzverhältnis brachte Dynamiken auf lokaler Ebene hervor: Die Ruthenen sahen sich durch die Marginalisierung und Unterdrückung ihrer eigenen nationalen Vorstellungen genötigt, den Assimilationsforderungen durch die Kommunalpolitik entgegenzuwirken, weil sie ihre kulturelle, sprachliche und nationale Identität bedroht sahen. An diesen knappen Verweisen auf das ruthenische Gegennarrativ wird deutlich, dass es durchaus gegenteilige, aber auf die Praktiken der jeweils anderen Gruppe bezogene Sicherheitsvorstellungen gab, die zu einer sich wechselseitig beein-
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Anderson, Imagined Communities. Guzzini, Dual History, S. 10.
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7 Lembergs „polnischen Charakter“ sichern
flussenden Dynamisierung von versicherheitlichendem Narrativ und Gegennarrativ wurde. Dadurch verstärkte sich das jeweilige Bedrohungsempfinden, wie es etwa in Lemberg in den Debatten um die Wahlrechtsreform deutlich wurde. Dies führte ebenso zu einer Intensivierung von gegen die andere(n) Gruppe(n) gerichteten Praktiken der Marginalisierung und des Ausschlusses. Diese Wechselwirkung beeinflusste maßgeblich die politische Kultur innerhalb der kommunalen Selbstverwaltung in Lemberg. Der Stadtrat, dessen autonomer Status im Vergleich zu kleineren Städten besondere Handlungsspielräume eröffnete, entwickelte mit seinem Fokus auf seine Heimatstadt eine spezifische Auslegung polnisch nationaler Wertvorstellungen, die nicht im Widerspruch zur überlagernden, notwendigen Loyalität zur Habsburgermonarchie standen. Er entwickelte vielschichtige, aus der Frageperspektive dieser Studie als versicherheitlichend zu charakterisierende Diskurse und spiegelte sie in Praktiken und Strategien, um die Vision des „polnischen, schönen und modernen Lemberg“ zu realisieren. Diese Argumentationen und Strategien über die Herstellung von Sicherheit bzw. die Darstellung einer kollektiven Gefahr lieferten den für eine Ab- und Ausgrenzung von Gruppen notwendigen Reibungspunkt gegenüber den übrigen nationalen Gruppen und wurden damit zu einem wichtigen integrativen Faktor für ihre audience, die polnische Bevölkerung Lembergs. Zugleich handelt es sich daher bei den versicherheitlichenden Diskursen, den daraus abgeleiteten Praktiken, Strategien und kommunalpolitischen Visionen um Mittel zur Legitimation ihrer Dominanz im städtischen Raum und damit um ein Machtsicherungsinstrument. Insgesamt entwickelten sich in der nationalizing city Lemberg spezifische, auf die Handlungsmaximen und -praktiken der kommunalpolitischen Eliten zurückgehende Motive und Argumentationen, die wiederum eine charakteristische Lemberger Variante polnischen, aber auch ruthenisch-ukrainischen Nationalbewusstseins hervorbrachten und auf dieses auch nachhaltig rückwirkten. In Reibung mit den Ansprüchen und dem Bedürfnis der Ruthenen, ihre nationale Entwicklung zu festigen, führten die polnischen Praktiken, Strategien und Visionen in verschiedenen Eskalationsstufen schließlich zu einem Paradoxon, weil ein circulus vitiosus entstand, aus dem beide nationale Gruppen nicht mehr herauskamen: Gerade die auf die versicherheitlichenden Diskurse zurückgehende unversöhnliche Haltung der Lemberger polnischen kommunalpolitischen Akteure verhinderte einen lokalen Ausgleich und damit ein Plus an national-kultureller Sicherheit. Mehr noch, sie provozierte geradezu die zunehmende politische Mobilisierung der Ruthenen auf lokaler Ebene und die Eskalation von Gewalt, die auch durch den Galizischen Ausgleich Anfang 1914 nicht mehr eingehegt werden konnte. Dieser Teufelskreis fand seinen traurigen Höhepunkt schließlich jenseits des hier behandelten Zeitraumes im erbittert geführten Krieg um Lemberg 1918/19 zwischen Polen und Ukrainern sowie im Pogrom gegen die Juden im Spätherbst 1918 und weiteren Gewalteskalationen in der Zweiten Polnischen Republik.
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Abb. 27 Karte der Stadt Lemberg,
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Quelle: Mieczysław Orłowicz / Roman Kordys, Illustrierter Führer durch Galizien, Wien etc. 1914, S. 213.
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Abkürzungs- und Siglenverzeichnis AAN AfS AGAD ALGuRBl. ARGuRBl. AVA Bl. BS CDIAL DALO DL DzL DzP f. fl. GG GL gLGO GN HZ ImS JUH k. A. KL kr.
Archiwum Akt Nowych / Archiv der Neuen Akten, Warschau Archiv für Sozialgeschichte Archiwum Główne Akt Dawnych / Archiv der Alten Akten, Warschau Allgemeines Landes-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kronland Galizien und Lodomerien mit den Herzogthümern Auschwitz und Zator und dem Großherzogthume Krakau Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Österreich Allgemeines Verwaltungsarchiv Blatt L′vivs′ka Nacional′na Naukova Biblioteka Ukraïny imeni Vasylja Stefanyka / Nationale Wissenschaftliche Stefanyk-Bibliothek der Ukraine in L′viv Central′nyj Deržavnyj Istoryčnyj Archiv Ukraïny, m. L′viv / Zentrales Historisches Staatsarchiv der Ukraine, Stadt L′viv Deržavnyj Archiv L′vivs′koï Oblasti / Staatsarchiv des L′viver Oblast Dziennik Lwowski / Lemberger Tageszeitung Dziennik Lwowski / Lemberger Amtsblatt Dziennik Polski / Polnische Tageszeitung Fond/Bestand Gulden (Florin, bis 1892) Geschichte und Gesellschaft Gazeta Lwowska / Lemberger Zeitung Galizische Landesgemeindeordnung Gazeta Narodowa / Nationalzeitung Historische Zeitschrift Informationen zur modernen Stadtgeschichte Journal of Urban History keine Angabe in den Quellen Kurjer Lwowski / Lemberger Kurier Krone (ab 1892)
Abkürzungs- und Siglenverzeichnis
LGuVBl. LRBl. LZ MHpVD
n. pag. op. ÖStA ÖStWB RGBl. RGBl. KrL RGG SP spr. SprstRgalSK StBgalLt WstML WstStkr ZNiO, PR ZfG ZfO
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Landes-Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Galizien und Lodomerien sammt dem Großherzogthume Krakau Landes-Regierungsblatt für das Kronland Galizien und Lodomerien Lemberger Zeitung Ernst Mayrhofer’s Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern mit besonderer Berücksichtigung der diesen Ländern gemeinsamen Gesetze und Verordnungen, Bd. 2, Wien 51896 nicht paginiert opis/Beschreibung (Findbuch eines Teilbestandes) Österreichisches Staatsarchiv Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes, 4 Bde., Wien ²1905–1909 Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Österreich Reichsgesetzblatt für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder Reichsgemeindegesetz Słowo Polskie / Das Polnische Wort sprava/Akte Sprawozdanie stenograficzne z rozpraw galicyjskiego Sejmu Krajowego / Stenographische Berichte der Verhandlungen des galizischen Landtags Stenographische Berichte über die Sitzungen des galiz. Landtages im J.[ahr] Wiadomości statystyczne o mieście Lwowa / Statistische Nachrichten über die Stadt Lemberg Wiadomości statystyczne o stosunkach krajowych / Statistische Nachrichten über die Landesverhältnisse Zakład Narodowy im. Ossolińskich, Papiery Rutowskiego / Polnisches Nationalinstitut Ossolineum, Unterlagen Rutowskis Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung
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Periodika
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4
Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15
Das Lemberger Rathaus am Marktplatz (Rynek), Postkarte 1914 (Privatsammlung H. H.-K.) Stadtpräsident Florian Ziemiałkowski, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag. Stadtpräsident Michał Gnoiński, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag. Stadtpräsident Godzimir Małachowski, Quelle: Pamiętnik IV. Zlotu Sokolstwa Polskiego we Lwowie w dniach 27–29 czerwca 1903 [Festschrift der IV. Zusammenkunft der polnischen Sokolverbände in Lemberg vom 27.–29. Juni 1903], S. 55. Wahlplakat Unterstützungsaufruf der „oppositionellen Liste“ durch Wiek Nowy (vermutl. 1908), Quelle: ZNiO, PR, 13389/III Das Landtagsgebäude, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag. Die griechisch-katholische St. Georgs-Kathedrale, Postkarte 1916/17 (Privatsammlung H. H.-K.) Stadtansicht von der Zitadelle, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.) Der Marktplatz (Rynek) mit dem Rathaus links, Postkarte 1909 (Privatsammlung H. H.-K.) Der Hetmansdamm, Postkarte 1915 (Privatsammlung H. H.-K.) Der neue Lemberger Hauptbahnhof, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.) Stadtansicht mit dem Blick auf den Hügel der Lubliner Union, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.) Stadtpräsident Wacław Dąbrowski, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag. Stadtpräsident Aleksander Jasiński, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag. Volksschule St. Anna, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag.
S. 54 S. 97 S. 97
S. 104 S. 128 S. 134 S. 138 S. 161 S. 162 S. 163 S. 173 S. 176 S. 184 S. 184 S. 224
Abbildungsverzeichnis
Abb. 16 Czacki-(Volks-)Schule, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag. Abb. 17 Die Medizinische Fakultät der Universität, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag. Abb. 18 Der Hetmansdamm mit Blick auf das Theatergebäude, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.) Abb. 19 Das Städtische Theater, Postkarte um 1910 (Privatsammlung H. H.-K.) Abb. 20 Stadtpräsident Michał Michalski, Quelle: Nowości Illustrowane vom 20.4.1907 Abb. 21 Stadtpräsident Józef Neuman[n], Quelle: Nowości Illustrowane vom 12.7.1906 Abb. 22 Karl Ludwig Straße, Ecke Jagiellonenstraße, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.) Abb. 23 Der Hügel der Lubliner Union, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.) Abb. 24 Das Sobieski-Denkmal, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.K.) Abb. 25 Das Mickiewicz-Denkmal, Postkarte 1916 (Privatsammlung H. H.-K.) Abb. 26 Stadtpräsident Edmund Mochnacki, Quelle: Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895, n. pag. Abb. 27 Karte der Stadt Lemberg, Quelle: Mieczysław Orłowicz / Roman Kordys, Illustrierter Führer durch Galizien, Wien etc. 1914, S. 213.
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S. 233 S. 238 S. 242 S. 249 S. 259 S. 259 S. 273 S. 276 S. 280 S. 284 S. 311 S. 344
Tabellenverzeichnis Tab. 1 Konfessionelle und sprachliche Verhältnisse in Lemberg in Prozent Tab. 2 Übersicht über die Bevölkerungsentwicklung in Lemberg 1773–1913 Tab. 3 Übersicht der Entwicklung der absoluten Zahlen an Wahlberechtigten und tatsächlichen Wähler bei den Kommunalwahlen im ersten Wahlgang Tab. 4 Übersicht über die Steigerung des städtischen Budgets (nach Jahresabschluss) in Gulden (bis 1892) und Kronen Tab. 5 Ausgaben für die wichtigsten kommunalen Aufgabenfelder 1870– 1914 in Kronen Tab. 6 Zunahme der Bebauung Lembergs Tab. 7 Prozentualer Anteil und Zahl der an meldepflichtigen Krankheiten (Epidemien) verstorbenen Personen 1890–1914 Tab. 8 Sterblichkeitsrate 1860–1905 Tab. 9 Übersicht der wichtigsten Lebensmittelpreise (1911) in Heller Tab. 10 Entwicklung des Volksschulwesens; Schulen und Schüler/innen 1870–1907
S. 15 S. 17 S. 114 S. 153 S. 156 S. 166 S. 180 S. 197 S. 204 S. 223
Register In den Registern wurden Ortsnamen unter den zeitgenössischen Namen aufgenommen. Über Verweise sind die jeweiligen Städte zu finden (z. B. „Ljubljana s. Laibach“). Nicht ins Register aufgenommen wurden die Begriffe „Lemberg“ und „Galizien“. Straßennamen beziehen sich, wo nicht anders angegeben, auf Lemberg. Ortsregister I. Bezirk (Halicki-/Halickie) 182 II. Bezirk (Krakauer/Krakowskie) 50, 182, 195 III. Bezirk (Żółkiewer/Żółkiewskie) 56, 172, 175, 182, 186, 193, 195 ff., 229 f., 233 IV. Bezirk (Łyczakower/Łyczakowskie) 171 f., 182, 193, 229 V. Bezirk (Innenstadt) 137, 169, 171 f., 176, 182, 195, 272, 274, 276 Aachen 172 Adelsrepublik, polnische / Rzeczpospolita szlachecka 49, 51 f., 74, 153, 240, 265 f., 275, 278, 282, 294 f., 312 Akademie-Platz / plac Akademicki 286 Akademie-Straße / ulica Akademicka 285 Armenische Querstraße / ulica Ormiańska Poprzeczna 271 Armenische Straße / ulica Ormiańska 272 Bajka (Vorstadt) 172 Bełzec 172 Berlin 166, 169, 172, 181, 183, 189, 204, 208, 223, 261, 322 Bern 172 Bernhardinerkloster 235 Biala 149, 210 Biała s. Biala Bielitz 109 Bielsko s. Bielitz
Boimstraße / ulica Boimów 271 Breite Straße / ulica Szeroka 270 Breslau 210 Brno s. Brünn Brody 172, 218 Brünn 88, 109, 142, 166, 175, 199, 205, 248, 291 Brüssel 165, 183 Budapest 20, 71, 166, 170, 182, 188, 199, 208, 211, 327 Černivci s. Czernowitz Chicago 174 Cisleithanien 32, 74, 111, 113, 137, 201, 206, 237 Czerniowce s. Czernowitz Czernowitz 199, 248, 310 Czernowitzer Bahnhof (Güterbahnhof) 171 Deutsches Reich 168, 189 f., 192, 208 f., 328, 332 Dresden 167 ff., 172, 174, 181, 204, 223, 242, 261 Drohobyč s. Drohobycz Drohobycz 177 f. Düsseldorf 188 England 168, 190, 243 Ferdinandsplatz / plac Ferdynanda 272 Frankfurt am Main 166, 170, 188, 210 Frankreich 113, 243, 336 Franz-Josephs-Berg s. Hohes Schloss Freiheitsprospekt / Prospekt Svobody s. Hetmansdamm
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Register
Friedhof, Gródecki- 185 Friedhof, jüdischer 185 Friedhof, Łyczakower 185, 286, 295 Friedhof, Stryjer 185 Friedhof, Żółkiewer 185 Genf 172 Głowacki-Park / park Głowackiego 285 Gołuchowski-Platz / plac Gołuchowskich 164 Gołuchowski-Straße / ulica Gołuchowskich 271 Gouverneursdamm / Wały Gubernatorskie 272 Graz 20, 67, 154, 171, 175, 199, 205, 248, 270, 291 Gródecki-Vorstadt 175, 229 Grodzicki-Straße / ulica Grodzickiego 271 Grunwaldstraße / ulica Grunwaldzka 273 Halicki-Platz / plac Halicki 208 Halicki-Straße / ulica Halicka 271 Halle/Saale 210 Hauptbahnhof 169, 171, 174 Heilig-Geist-Platz / plac św. Ducha 164 Hetmansdamm / Wały Hetmańskie 163, 167, 272, 285, 329 Hohes Schloss / Wysoki Zamek / Vysokyj Zamok 162, 227, 275, 277, 292, 299, 336 Hončarivka s. Bełzec Hügel der Lubliner Union / Kopiec Unii Lubelskiej 275–278, 299 Innenstadt s. V. Bezirk Innsbruck 67, 154 Italien 243, 295, 337 Jabłonowski-Palais 302 Jesuitengarten 285 Joselewicz-Straße / ulica Joselewicza 295 Jüdischer Platz / plac Żydowski 271 Jüdische Seitenstraße / ulica Boczna Żydowska 271 Jüdische Straße / ulica Żydowska 271 Kaiserwald 275 Kamieniec Podolski 51 Kam′janec′-Podil′s′kyj s. Kamieniec Podolski Kathedrale, armenische 297 Kathedrale, römisch-katholische 297 Kathedrale St. Georg, griechisch-katholische 137, 161, 285, 291, 322 Katowice s. Kattowitz Kattowitz 210
Kleparów-Straße / ulica Kleparowska 285 Kleparów (Vorstadt) 168, 171 Köln 166 Kolomea 218 Kolomyja s. Kolomea Königliches Gebäude / Kamienica królewska 265, 292 Kopiec Unii Lubelskiej s. Hügel der Lubliner Union Krakau 22, 50 ff., 55, 60, 71 f., 86 ff., 90, 92 f., 96, 101, 109, 115 f., 144, 149, 157, 166, 169, 171 f., 175, 180 f., 183, 191, 195, 199, 201, 205, 210 f., 231, 237, 239, 246 ff., 250, 252 f., 257, 259, 261 f., 265, 274, 284, 286, 290 f., 295, 300, 302 ff., 307, 317, 320, 331 Krakauer Straße / ulica Krakowska 271 Kraków s. Krakau Krem′′janec′ s. Kremenec′ Kremenec′ 317 Krzemieniec s. Kremenec′ Laibach 20, 72, 109, 142 f., 154, 172, 205, 275, 334 Leipzig 169, 210 Linz 143, 199, 205 Ljubljana s. Laibach Lodz 34, 179 Łódź s. Lodz London 174, 183, 205 Lublin 51 Łyczakowski-Park / park Łyczakowski 185 Łyczaków-Straße / ulica Łyczakowska 285 Mailand 164, 283 Marburg/Drau 109 Maribor s. Marburg/Drau Marienplatz / plac Maryacki 163, 272, 285 Marktplatz / Rynek 163, 265, 292, 298 München 166, 172, 210 Nationalhaus, ruthenisches / Narodnyj Dim 161, 256, 288, 291, 297 Nürnberg 210 Obere Karl Ludwig Straße / wyższa ulica Karola Ludwika 272 Ofen s. Budapest Offenbach 170 Olmütz 109 Olomouc s. Olmütz Pełtew s. Poltew
Ortsregister
Pest s. Budapest Pidhajci s. Podhajce Podhajce 172 Podzamcze (Vorstadt) 171, 173 Poltew 160, 163 f., 172, 183, 187, 194, 202, 272, 316 Poltva s. Poltew Posen 50, 223, 284 Poznań s. Posen Prag 20, 88, 109, 154, 156, 166, 172, 186, 188, 199, 202, 204 f., 211, 217, 242 f., 248, 270, 307 Preußen, Königreich 52, 69, 210 f., 283 Przemyśl 149, 218 Rathausviertel (Wien) 165 Rava Rus′ka s. Rawa Ruska Rawa Ruska 172 Ringstraße (Wien) 165, 245 Rom 198 Rumänien 211 Russland s. Russländisches Reich Russländisches Reich 16, 52 f., 64 f., 101, 134, 145, 185, 211, 260, 283, 291, 317, 323, 324 Ruthenische Querstraße / przecznica Ruska 272 Ruthenische Seitenstraße / ulica Ruska Boczna 272 Rynek s. Marktplatz Rzeczpospolita szlachecka s. Adelsrepublik, polnische Salzburg 154, 291 Schlossberg s. Hohes Schloss Ševčenko-Prospekt / prospekt Ševčenka s. Akademie-Straße Sitkowice 260 Sobieski-Haus s. Königliches Gebäude Sobieski-Straße / ulica Sobieskiego 271 Spital des Hl. Lazarus 291 Stadtzentrum s. V. Bezirk St. Lazarus Straße / ulica Świetego Łazarza 270, 272 Stojaniv s. Stojanów Stojanów 172 St. Petersburg 188 Straße der Veteranen / ulica Weteranów 272
397
Straße des 3. Mai / ulica Trzeciego Maja 271 Stryjer Park / park Stryjski 170, 185, 285 Stryj (Vorstadt) 175, 304 Sytkivci s. Sitkowice Tarnopol 172 Tarnów 88 Ternopil′ s. Tarnopol Theater-Straße / ulica Teatralna 271 Tiefe Straße / ulica Głęboka 175 Transleithanien s. Ungarn Trembovlja s. Trembowla Trembowla 283 Triest 20, 72, 182, 199, 205, 219 ulica Komendy z 1848 (Straße des Befehls von 1848) 273 Ungarn 28, 64, 70, 133, 211 Vynnyky s. Winniki Vysokyj Zamok s. Hohes Schloss Walachische Kirche 161 Warschau 16, 81, 149, 169, 188, 241, 246, 250, 257, 284, 317, 331 Warszawa s. Warschau Wechsel-Platz / plac Wekslarski 271 Wechsel-Querstraße / przecznica Wekslarska 271 Wechsel-Straße / ulica Wekslarska 271 Wien 20, 59 ff., 63, 71 f., 87, 89 f., 105, 109, 115, 117, 142, 154, 156 f., 165 f., 169 f., 172, 187, 199, 204 f., 208, 210 f., 217, 219, 223, 243, 245, 261, 269, 280, 282, 288, 291 ff., 299, 322 Wiesbaden 167 Wilna 51, 281, 317 Wilno s. Wilna Winniki 172 Wola Dobrostańska 189, 190 Würzburg 210 Wysoki Zamek s. Hohes Schloss Zamarstynów (Vorstadt) 168 Zitadelle 25, 161, 336 Zniesienie (Vorstadt) 168, 172 Żółkiew 291 Żółkiew-Straße / ulica Żółkiewska 112 Žovkva s. Żółkiew
398
Register
Personenregister Adam, Ernest 235 Amar, Tarik Cyril 25 Anderson, Benedict 340 Aschkenase [Aschkenazy, Aszkenazy], Tobiasz 106, 129, 132, 136, 167, 195 Badeni, Kazimierz Feliks (Graf) 281, 299, 303 Badeni, Stanisław 306 Bałaban, Majer 319 Barącz, Tadeusz 281 Barszczewski, Antoni 111 Behrends, Jan C. 328 Beiser [Bajzer], Jakub 87, 116, 129 Belcredi, Richard von (Graf) 87 ff. Biechoński, Wojciech 239 Binder, Harald 268 Boim (Familie) 271 Bojarski, Alfred 276 Brubaker, Rogers 329 Buchen, Tim 86 Chamiec, Antoni Jaxa 150 Chlamtacz, Marceli 258 Ciesielski, Teofil 116 Ciuchciński, Stanisław 96, 116, 124, 137 ff., 199, 258, 278, 309 Cohen, Gary B. 217 Czacki, Tadeusz 233 Czerkawski, Euzebiusz 292 f. Czerkawski, Julian 231 f. Czołowski, Aleksander 150, 215, 258, 260, 263 ff., 297, 315, 318 f., 321 Dąbrowski, Henryk 295 Dąbrowski, Wacław 96, 116, 183, 292 Długosz, Jan 235, 262 Dov Ber s. Joselewicz, Berek Drexler, Ignacy 150 Dubs, Marek 80, 82, 84–87, 95 Dymet, Mychajlo 102, 272 Dzieduski, Włodzimierz 302 Elisabeth (Kaiserin) 281, 288 Feldstein, Herman 179 Ferdinand I. (Kaiser) 272 Festenburg, Emil Gerard von 60 Fleck, ? (Anstreicher/Maler) 178 f., 256 Formaniosz, Michał 221
Franz Joseph I. (Kaiser) 59, 64, 77, 83, 88 f., 91, 96 f., 101, 106, 245, 269, 275, 287 ff., 290 f., 303, 305, 308, 334 Fredro, Aleksander s. Denkmal, Fredro(Sachregister) Gisela (Erzherzogin) 288 Giskra, Carl 91 Głąbiński, Stanisław 157, 198 Głowacki, Wojciech Bartos(z) s. Denkmal, Głowacki- (Sachregister) Gnoiński, Michał 63, 77, 82, 86 f., 96, 102, 152 f., 290 Goldman[n], Bernard 150, 221, 232 f. Gołuchowski, Agenor (Graf) 66, 71, 87 f., 98, 257, 313 s. Denkmal, Gołuchowski- (Sachregister) Gołuchowski (Familie) 271 Gorgolewski, Zygmunt 178 f., 247 f. Gottlieb, Henryk 221 Grafl, Emil 221 Grodzicki, Krzysztof 271 Grottger, Artur 261, 286, 295 Grzyszecki, Aleksander 84 Haase, Adolf Theodor 64 Hammerstein-Equord, William Friedrich von 60, 63 f. Hausner, Otto 312 f. Heller, Ludwik 250–255, 257 Hochberger, Juliusz 189, 277, 302, 307 Hofmann, Andreas R. 16, 329 Hönigsmann [Hoenigsmann], Oswald 80 f., 83 f., 86 Höpflingen-Bergendorf, Karl 77 Horowicz, Jakob 296 Hribar, Ivan 334 Hruševs′kyj, Mychajlo 228 Hudec, Józef 129, 135 f. Hušalevyč, Ivan 99 Ihnatowicz, Jan 139 Jakowicz, Jan 260 Jan III. Sobieski (König) 265 f., 272, 280, 282, 291–294, 324 s. Denkmal, Sobieski- (Sachregister) Jan II. Kazimierz Waza (König) 51, 237, 258, 317
Personenregister
Janik, Michał 142 Jasiński, Aleksander 96, 184 f., 302 Jaworski, Franciszek 297, 319 Johann III. Sobieski (König) s. Jan III. Sobieski (König) Johann II. Kasimir (König) s. Jan II. Kazimierz Waza (König) Jonasz, Maurycy 179 Joselewicz, Berek [Dov Ber] 295 Kaczala, Ščepan [Szczepan] 102 Kalb, Izaak Samuel 112 Kamiński, Jan Nepomucen 271 Kapiszewski, Ludwik 88 Kapuściński, Józef s. Denkmal, Kapuściński und Wiśniowski (Sachregister) Karl Ludwig (Erzherzog) 303 Kasimir der Große (König) s. Kazimierz Wielki (König) Kazimierz Wielki (König) 49, 316 Kiliński, Jan s. Denkmal, Kiliński- (Sachregister) Kluczenko [Klučenko], Roman 107 Koczyński, Michał 85 Kohlrausch, Martin 328 ff. Kolischer, Józef 80 Kolischer [Koliszer], Juliusz 80 f., 221 Konarski, Stanisław 227 s. Konarski-Schule (Sachregister) Konopnicka, Maria 295 Körner, Jona 111 Kościuszko, Tadeusz 142, 279, 294 f., 302 Kossak, Wojciech 258, 306 Kozińska-Witt, Hanna 303 Kraszewski, Józef Ignacy 142, 294 Kratter, Franz 151 Kröbl, Franciszek 67 Krzeczunowicz, Kornel 78 Kulczyński, Tomasz 59 Laak, Dirk van 159 Łaskownicki, Bronisław 143 f. Lavrovs′kyj, Julijan [Yulian] 255 Lelewel, Joachim 215, 262 Lev/Leo (Stadtgründer) 49, 272, 316 Levyc′kyj, Josyp 117 Levyc′kyj, Kost′ 298 Lewandowski, Kazimierz 191 Lewicki, Bolesław 157, 158
399
Lewiński, Ivan [ Jan] 306 Lilien, Edward 137 Lindley, William 188, 304 Łoziński, Stanisław 264 Łoziński, Władysław 261, 315 Lozyns′kyj, Josip [Osyp] 101 f. Lubomirski, Andrzej 306 Madejski [Madeyski], Marceli 81, 89 Małachowski, Godzimir 96, 103, 105, 107, 164, 174, 193, 279, 280 ff., 284, 287, 300 Marchwicki, Józef 303 Marchwicki, Zdzisław 150, 308 f. Maria Theresia (Kaiserin) 53, 216 Matejko, Jan 258, 261 Merunowicz, Teofil 147 f., 150 f., 177, 184, 239, 278 Miączyński, Piotr 271 Michalski, Michał 96, 112, 236, 251, 258, 280, 285 Mick, Christoph 25 Mickiewicz, Adam 235, 253, 271, 279, 284 s. Mickiewicz-Schule (Sachregister) s. Denkmal, Mickiewicz- (Sachregister) Mickiewicz, Władysław 283 Mikołajski, Szczepan 148 Milleret, Józef 271, 272 Mochnacki, Edmund 96, 246, 264, 305, 308 ff. Neuman[n], Józef 96, 107, 132, 140, 240, 250, 258 Ohly, Ferdinand 179 Olszewski, Marian 260 Orzeszkowa, Eliza 273 Ostaszewski-Barański, Kazimierz 63 ff. Pacholkiv, Svjatoslav 218 Papée, Fryderyk 52, 263, 314–319 Pavlikov, Teofil 99 Pawlikowski, Tadeusz 241, 248, 250–253, 255, 257 Pawłowski, Antoni 221 Piramowicz, Grzegorz 227 s. Piramowicz-Schule (Sachregister) Potocki, Andrzej 15, 106, 131, 279 Prokopovych, Markian 25, 26, 161, 276, 278, 294, 333 Radziszewski, Bronisław 116, 315 Radziszewski, Wacław 122 Rawer, Karol 248, 309
400
Register
Redlich, Josef 70, 73 Rej, Mikołaj 273, 294 Rejtan, Tadeusz 271 Rodakowski, Zygmunt 81 Rogawski, Carl 94 Romanowicz, Tadeusz 62, 125, 310 Röskau-Rydel, Isabel 26 Rudolf (Kronprinz) 287 ff. Rutowski, Tadeusz 47, 125, 143, 150, 190, 203, 206, 258 ff., 265, 277, 280, 289, 293, 296, 301, 326 Sacher-Masoch, Leopold von 57 Sadłowski, Władysław 174 Salzmann, Johannes 244 Samelson, Szymon [Symeon] 87 Saphieha, Adam (Fürst) 303, 306 Šaškevyč, Markijan [Szaszkiewicz, Markian] 224, 286 s. Szaszkiewicz-Schule (Sachregister) Schayer, Karol 179, 280 Schleicher [Szleycher], Filip 142 f. Semkowicz, Aleksander 262, 315 Ševčenko, Taras 286 Sierżęga, Paweł 278 Skarbek, Stanisław (Graf) 244, 271 s. Skarbek-Stiftung (Sachregister), s. Skarbek-Theater (Sachregister) Skoczek, Józef 315 Śliwiński, Hipolit 142 Słowacki, Juliusz 253, 271 s. Denkmal, Słowacki- (Sachregister) Smolka, Franciszek 59 f., 64, 78, 83, 91, 95, 103, 275–278, 313 s. Denkmal, Smolka- (Sachregister) Sobieski (Familie) 265 f., 292 Soleski, Jan 121, 194, 225 Stadion, Franz Seraph von (Graf) 60 f., 69 Stahl, Leonard 150, 258
Stanisław II. August Poniatowski (König) 260, 294 s. Stanisław II. August Poniatowski (König) Starkel, Juliusz 303 Staszic, Stanisław 271 Stokowski, Apolinary 299 Styka, Jan 150, 258, 264, 306 Surman, Jan 237 Švedyc′kyj, Jakiv [Szwedyćkyj, Jakiw / Szwedzicki, Jakób] 99–102 Szczepanowski, Stanisław 152 Szemelowski, Julian 102 Tatomir, Lucjan 292 Ther, Philipp 26, 242 f., 245 f. Thullie, Maksymilian 135, 178 Tomaszewski, Franciszek 236 Torosiewicz, Franz 93 Tovarnic′kyj, Mychajlo 102 Tustanovs′kyj, Mychajlo 102 Unowsky, Daniel 289 Wendland, Anna Veronika 16, 197, 301, 303 ff., 329 Wiczkowski, Józef 321 Wiśniowski, Teofil s. Denkmal, Kapuściński und Wiśniowski (Sachregister) Wityk, Semen 297 Wood, Nathaniel D. 324, 330 Zachariewicz, Alfred 174 Zachariewicz [Zacharjewicz, Zacharyewicz], Julj[i]an 150, 182 f., 190, 206, 302, 306 f. Zawiejski, Jan 179, 247 Ziemiałkowski, Flori[y]an 47, 59, 61, 64, 66 f., 75, 81, 90, 96, 313 Zipper, Albert 321 Żółkiewski, Stanisław 300 Zucker, Filip 80, 228, 230 f., 233, 280 Zyblikiewicz, Mikołaj 90
Sach-, Institutionen- und Zeitungsregister II. Lemberger Gymnasium 218 IV. Lemberger Gymnasium 220, 235 X. Kongress der polnischen Ärzte und Naturforscher (Lemberg 1907) s. X. Zjazd Lekarzy i Przyrodników Polskich
X. Zjazd Lekarzy i Pryrodników Polskich / X. Kongress der polnischen Ärzte und Naturforscher (Lemberg 1907) 267, 320 f. Abdeckerei 186 Abfallbeseitigung s. Stadtreinigung
Sach-, Institutionen- und Zeitungsregister
Abwasser s. Wasserver- und -entsorgung Akademia Umiejętności / Akademie der Wissenschaften 262 Akademisches Gymnasium 218 Allgemeine Landesausstellung s. Powszechna Wystawa Krajowa Allgemeines Bürgerliches Komitee / Powszechny Komitet Obywatelski 130 Antinationaler Block s. Blok antinarodowy Archivkommission 263, 264 Armenviertel 186, 194 f. Badeanstalten 155, 194, 201 Bauernpartei s. Stronnictwo Ludowe Beleuchtungsinfrastrukturen 155, 175 f. Bezirksschulrat s. Rada Szkolna Okręgowa Biblioteka Lwowska / Lemberger Bibliothek 24, 319 Bitwa pod Grunwaldem s. Schlacht von Tannenberg Blok antinarodowy / Antinationaler Block 131 Blok narodowy / Nationaler Block 130 ff., 145 Bürgerausschuss / Wydział miejski 53, 60–68, 70, 76 f., 88, 152 Bürgerliche Schützengesellschaft s. Strzelnica Bürgerliches Wahlkomitee / Komitet Wyborczy Obywatelski 120 Carl Ludwigs Bahn 171 f. Cheder-Schulen 195 f., 230 ff., 234, 338 Chmel′nyc′kyj-Aufstand 51, 271, 296 ff., 316, 318, 320 f. Demokratische Partei s. Stronnictwo Demokratyczne Denkmal, Fredro- 274, 279, 285 ff. Denkmal, Głowacki- 279, 285 Denkmal, Gołuchowski- 279, 285 Denkmal, Kapuściński und Wiśniowski (Obelisk) 279, 285 Denkmal, Kiliński- 279, 285 Denkmal, Mickiewicz- 25, 281 f., 285, 287, 294, 296 Denkmal, Słowacki- 279, 285 Denkmal, Smolka- 279 Denkmal, Sobieski- 279 ff., 285, 291, 304 Denkmal, Ujejski- 283, 285 Dessauer Gasgesellschaft 155
401
Dilo / Die Tat 46, 48, 103, 105, 107 f., 115, 117, 120, 125, 129, 130 f., 135, 137, 139, 175, 228 f., 255, 268, 273, 286, 288, 291 Dnistr (Versicherungsgesellschaft) 105 f., 122, 161 Dziennik Lwowski / Lemberger Amtsblatt 45 Dziennik Lwowski / Lemberger Tageszeitung 45, 220 Dziennik Polski / Polnische Tageszeitung 105 f., 232, 297, 298 Eintracht! Zusammengehörigkeit! Wahlliste s. Zgoda! Łączność! Lista wyborcza Elberfelder System 202 Elektrizitätskommission / Komisya elektryczna 176 Elektrizitätswerk 107, 155, 176, 322 Erzherzog Albrecht-Bahn 171 Fellner & Helmer (Architekturbüro) 248 Feuerwehr 107, 108, 162 Fortschrittlich-Demokratische Partei s. Stronnictwo Postępowo-Demokratyczne Fortschrittliches Komitee s. Komitet postępowy Fraktion der ostgalizischen Konservativen s. Koło konserwatystów Galicyi wschodniej Franzens-Universität s. Universität (Lemberg) Franz-Josephs-Fonds für Unheilbare 288 Franz-Josephs-Gymnasium 154, 234 ff., 321 Galerya miejska / Städtische Galerie 257–262 Galicyjska Kasa Oszczędności / Galizische Sparkasse 57 Galizische Industrieausstellung 177 Galizischer Städtetag / wiec miast 140, 307 Gaswerk 155, 304, 322 Gazeta Lwowska / Lemberger Zeitung 45, 77, 81, 84, 105, 119, 127, 139, 160, 165, 174, 185, 204, 207, 233, 236, 250 f., 274, 333 Gazeta Narodowa / Nationalzeitung 62, 149, 244, 272, 275, 292 Gefängnisse 185, 191 Gesellschaft der Freunde der Vergangenheit Lembergs s. Towarzystwo Miłośników Przeszłości Lwowa Gesellschaft zur Entwicklung und Verschönerung der Stadt Lemberg s. Towarzystwo rozwoju i upiększenia miasta Lwowa
402
Register
Gesellschaft zur Förderung der Industrie des Landes s. Towarzystwo zachęty przemysłu krajowego Hetman-Żółkiewski-Schule 224 Historisches Museum der Stadt Lemberg s. Muzeum Historyczne Miasta Lwowa Holovna Rus′ka Rada / Ruthenischer Hauptrat 61 Hygieneausstellung (Berlin 1883) 181 Industriemuseum 177, 261 f., 264, 291, 302 Industrie- und Handelskammer 157 Izraelita / Der Israelit 46 Jan-Sobieski-Nationalmuseum s. Muzeum Narodowe im. Króla Jana Sobieskiego Jungruthenen s. Narodovici Kanalisation s. Wasserver- und -entsorgung Kasernen 154, 191, 195 Katholisch-Nationales Komitee s. Komitet Katolicko-Narodowy Klub Reformo-Ludowy / Reform-Volksklub 143 Klub Reformy / Klub der Reform 126, 131, 137, 142, 144 Koło konserwatystów Galicyi wschodniej / Fraktion der ostgalizischen Konservativen 264 Koło literacko-artystyczne / Literarisch-Künstlerischer Kreis 282, 286 Koło Polskie / Polenklub 299 Komisya elektryczna s. Elektrizitätskommission Komitet Katolicko-Narodowy / Katholisch-Nationales Komitee 126 Komitet kupców i przemysłowców / Komitee der Kaufleute und Industriellen 124 Komitet miejski / Städtisches Komitee 120 Komitet postępowy / Fortschrittliches Komitee 143 Komitet realnościowy / Komitee der Immobilienbesitzer 124 Komitet Techników / Komitee der Techniker 124, 145, 187 Komitet Wyborczy Kobiet / Wahlkomitee der Frauen 126 Komitet Wyborczy Obywatelski s. Bügerliches Wahlkomitee Konarski-Schule 221, 223, 227
Kościuszko-Aufstand 279, 295, 302, 306 Krajowe Towarzystwo Kupców i Przemysłowców / Landesvereinigung der Kaufleute und Industriellen 303 Kunstgewerbemuseum 262 Kunstgewerbeschule 261 Kurjer Lwowski / Lemberger Kurier 46, 119 ff., 123, 130, 174, 182, 187 Landesausschuss 79, 83, 190, 205, 220, 244, 246, 249 Landesausstellung (Krakau 1887) 304 Landeskreditanstalt s. Towarzystwo Kredytowe Ziemskie Landesschulrat s. Rada Szkolna Krajowa Landesvereinigung der Kaufleute und Industriellen s. Krajowe Towarzystwo Kupców i Przemysłowców Landesverwaltung 96, 97, 105 f., 203, 216 f., 244, 246, 272, 299, 332 f. Lebensmittelpolizei 209 Lebensmittelversorgung 120, 192, 204–210 Legiony Polskie s. Polnische Legion Leichenschauhaus 155 Literarisch-Künstlerischer Kreis s. Koło literacko-artystyczne Markthalle 154 f., 208 Miasto Lwów w okresie samorządu 1870–1895 (Festschrift) 148, 308–314, 318 Mickiewicz-Schule 221, 224, 291 Miejskie Muzeum Historyczne s. Muzeum Historyczne Miasta Lwowa Mieszczańskie Towarzystwo Strzeleckie s. Strzelnica Müllbeseitigung s. Stadtreinigung Muzeum Historyczne Miasta Lwowa / Historisches Museum der Stadt Lemberg 259, 261–264, 318 Muzeum Narodowe im. Króla Jana Sobieskiego / Jan-Sobieski-Nationalmuseum 265 f., 286 Narodovici / Jungruthenen 296 Nationaldemokratie / Narodowa Demokracja 45 f., 103, 105 ff., 125 f., 130 ff., 141 f., 144 f., 196, 213, 240, 268 Nationaler Block s. Blok narodowy Nationalrat s. Rada Narodowa
Sach-, Institutionen- und Zeitungsregister
Naukove Tovarictvo im. Ševčenka / Wissenschaftliche Ševčenko-Gesellschaft 218, 286 Neue Freie Presse 93 Niemy Sejm / Stummer Sejm 65, 271 Novo Slovo / Das neue Wort 107 Ossolineum s. Zakład Narodowy im. Ossolińskich Panorama von Racławice 302, 306 s. Panorama von Racławice (Sachregister) Piramowicz-Schule 227 f., 230 Podolaken s. Koło konserwatystów Galicyi wschodniej Polenklub s. Koło Polskie Polizei 33, 53, 57, 64, 66, 72, 116, 157, 191 ff., 202, 206, 277, 298 f. Polnische Legion / Legiony Polskie 295, 306 Polnisches Nationalinstitut Ossolineum s. Zakład Narodowy im. Ossolińskich Polskie Towarzystwo Historyków / Polnische Gesellschaft der Historiker 262 Polytechnische Gesellschaft s. Towarzystwo Politechniczne Powszechna Wystawa Krajowa / Allgemeine Landesausstellung (Lemberg 1894) 147 f., 150, 168 f., 175, 178, 258, 291, 295, 301–307, 321, 323, 333 Powszechny Komitet Obywatelski s. Allgemeines Bürgerliches Komitee Prosvita/Aufklärung 255, 286 Rada Narodowa Centralna / Zentraler Nationalrat s. Rada Narodowa Centralna Rada Narodowa / Nationalrat 60 Rada Szkolna Krajowa / Landesschulrat 216 f., 220 ff., 225 ff., 229, 235 f. Rada Szkolna Okręgowa / Bezirksschulrat 221 f., 227, 236 Rathaus 53, 60, 63, 120, 132, 136, 162 f., 191, 221, 226, 261–264, 276 f., 281, 297, 319 Reform-Volksklub s. Klub Reformo-Ludowy Rjurikidendynastie 49, 316 Rus′ka Besida / Ruthenisches Gespräch 255 Rus′ki Miščan′skyj Komitet / Ruthenisches Bürgerkomitee 129 Rus′ki Vyborčyj Komitet / Ruthenisches Wahlkomitee 129 Ruthenischer Hauptrat s. Holovna Rus′ka Rada
403
Schlacht am Kahlenberg 274, 280, 293 Schlacht bei Chotyn (Chocim, 1673) 291 Schlachthof 154 f., 185, 208, 210, 212, 322 Schlacht von Tannenberg 273, 298, 300 Schulen 55, 154 f., 162, 177, 191, 203, 217–232, 234–237, 251, 274, 283, 290, 296, 304, 315, 333, 336 Schulmuseum 262 Siemens & Halske (Firma) 170 Skarbek-Stiftung 244, 245 Skarbek-Theater 164, 242, 244 ff., 249 f. Słowo Polskie / Das Polnische Wort 45 f., 105, 120, 125, 130 f., 140 f., 251 Società Triestina Tramway 169 Sozialdemokratie 46, 135 f., 297 Stadtarchiv 262 ff., 315, 321 Städteausstellung (Dresden 1903) 181 Städtische Krankenkasse 201 Städtisches Arbeitsamt 203 Städtisches Komitee s. Komitet miejski Städtische Sparkasse 177 Städtisches Theater s. Teatr Miejski Stadtreinigung 107, 156, 186, 190 Ständiges Komitee für Nationale Feiern / Stały Komitet dla Obchodów Narodowych 279, 293 Statthalterei 45, 65, 67, 72, 75, 83, 89, 91, 105 f., 123, 136, 167, 183 ff., 188, 191, 193, 211, 220, 248, 271 f., 281, 288, 290, 299, 333 Stauropigianisches Institut 137 St.-Maria-Magdalena-Schule 223 Straßenbahn 107, 150, 155, 158, 168, 169 f., 174, 176, 303, 305, 322, 329, 331 Straßenbau 256 Straßenbeleuchtung s. Beleuchtungsinfrastrukturen Stronnictwo Demokratyczne / Demokratische Partei 127 Stronnictwo Ludowe / Bauernpartei 46, 126, 250, 251 Stronnictwo Polsko-Demokratyczne / Polnische Demokratische Partei 126 Stronnictwo Postępowo-Demokratyczne / Fortschrittlich-Demokratische Partei 126, 142 Strzelnica 120, 126, 137, 145 Stummer Sejm s. Niemy Sejm
404
Register
Szaszkiewicz-Schule 221, 224, 229 Szkoła Politechniczna s. Technische Hochschule Teatr Miejski / Städtisches Theater 163, 178, 241 f., 245 f., 249, 252, 255 f., 281, 283, 296 f., 327 Teatro alla Scala (Mailand) 164 Technische Hochschule / Szkoła Politechniczna 150, 237, 302 Theaterkommission 247–256 Towarzystwo Kredytowe Ziemskie / Landeskreditanstalt 57 Towarzystwo Miłośników Przeszłości Lwowa / Gesellschaft der Freunde der Vergangenheit Lembergs 319 Towarzystwo Politechniczne / Polytechnische Gesellschaft 167, 187 Towarzystwo rozwoju i upiększenia miasta Lwowa / Gesellschaft zur Entwicklung und Verschönerung der Stadt Lemberg 148–151, 279, 321, 333 Towarzystwo zachęty przemysłu krajowego / Gesellschaft zur Förderung der Industrie des Landes 177 Union von Brest 273, 295 f. Union von Lublin 275 s. Hügel der Lubliner Union (Ortsregister) Universität (Krakau) 238 f. Universität (Lemberg) 55, 60, 131, 192, 218, 237–240, 283, 314, 319
Universität (Prag) 237, 239 Verband der Gleichberechtigung der Frauen s. Związek Równouprawnienia Kobiet Versorgungskommission 205 f., 208–212 Verwaltungsgerichtshof (Wien) 73, 122 f., 227 Volkstheater, polnisches 250 f. Volkstheater, ruthenisches 255 Wahlkomitee der Frauen s. Komitet Wyborczy Kobiet Wasserver- und -entsorgung 150, 156, 160, 177, 183, 187–190, 192, 195, 327 Wasserwerk 107, 304 Wiek Nowy / Das neue Jahrhundert 122, 143 Wissenschaftliche Ševčenko-Gesellschaft s. Naukove Tovarictvo im. Ševčenka Wydział miejski s. Bürgerausschuss Zakład Narodowy im. Ossolińskich / Polnisches Nationalinstitut Ossolineum 55, 261, 314 Žalgirio mūšis s. Schlacht von Tannenberg Zeitschrift für Elektrotechnik 170 Zgoda! Łączność! Lista wyborcza właścicieli realności, kupców i rękodzielników / Eintracht! Zusammengehörigkeit! Wahlliste der Immobilienbesitzer, Kaufleute und Kunsthandwerker 124, 127, 175 Ziemiałkowski-Stiftung 200 Związek Równouprawnienia Kobiet / Verband der Gleichberechtigung der Frauen 122, 126
b e i t r äg e z u r s ta d t g e s c h i c h t e u n d u r b a n i s i e ru ng s f o r s c h u ng
Herausgegeben von Christoph Bernhardt (geschäftsführend), Beate Binder, Harald Bodenschatz, Sybille Frank, Tilman Harlander, Martina Heßler, Wolfgang Kaschuba, Friedrich Lenger, Dieter Schott und Clemens Zimmermann
Franz Steiner Verlag
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ISSN 1612–5746
Adelheid von Saldern (Hg.) Inszenierte Einigkeit Herrschaftsrepräsentationen in DDR-Städten Unter Mitarbeit von Alice von Plato, Elfie Rembold, Lu Seegers 2003. 420 S. mit 14 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08301-0 Adelheid von Saldern (Hg.) Inszenierter Stolz Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935–1975) Unter Mitarbeit von Lu Seegers 2005. 498 S. mit 30 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08300-3 Frank Betker „Einsicht in die Notwendigkeit“ Kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945–1994) 2005. 412 S. mit 38 s/w-Fot., 10 Abb., 20 Graph. und Schem., geb. ISBN 978-3-515-08734-6 Clemens Zimmermann (Hg.) Zentralität und Raumgefüge der Großstädte im 20. Jahrhundert 2006. 174 S. mit 35 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08898-5 Christoph Bernhardt / Heinz Reif (Hg.) Sozialistische Städte zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung Kommunalpolitik, Stadtplanung und Alltag in der DDR 2009. 322 S. mit 51 Abb. und 2 Tab., geb. ISBN 978-3-515-08763-6 Thomas Biskup / Marc Schalenberg (Hg.) Selling Berlin Imagebildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz bis zur Bundeshauptstadt 2008. 376 S. mit 71 Abb. und 8 Farbtaf. mit 17 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08952-4
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Thomas Höpel Von der Kunst- zur Kulturpolitik Städtische Kulturpolitik in Deutschland und Frankreich 1918–1939 2007. 516 S. mit 47 Schaubild. und 11 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09106-0 8. Ueli Haefeli Verkehrspolitik und urbane Mobilität Deutsche und Schweizer Städte im Vergleich 1950–1990 2008. 380 S. mit 54 Abb. und 12 Farbktn., geb. ISBN 978-3-515-09133-6 9. Ralf Roth (Hg.) Städte im europäischen Raum Verkehr, Kommunikation und Urbanität im 19. und 20. Jahrhundert 2009. 274 S. mit 24 Abb. und 11 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09337-8 10. Petra Spona Städtische Ehrungen zwischen Repräsentation und Partizipation NS-Volksgemeinschaftspolitik in Hannover 2010. 349 S. mit 52 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09668-3 11. Astrid Mignon Kirchhof Das Dienstfräulein auf dem Bahnhof Frauen im öffentlichen Raum im Blick der Berliner Bahnhofsmission 1894–1939 2011. 274 S. mit 22 Abb. und 2 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09776-5 12. Sebastian Haumann „Schade, daß Beton nicht brennt …“ Planung, Partizipation und Protest in Philadelphia und Köln 1940–1990 2011. 335 S. mit 8 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09889-2
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Andrea Bergler Von Armenpflegern und Fürsorgeschwestern Kommunale Wohlfahrtspflege und Geschlechterpolitik in Berlin und Charlottenburg 1890 bis 1914 2011. 392 S. mit 23 Abb. und 10 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09935-6 Wolfgang Hofmann Bürgerschaftliche Repräsentanz und kommunale Daseinsvorsorge Studien zur neueren Stadtgeschichte 2012. 434 S. mit 39 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10120-2 Georg Wagner-Kyora (Hg.) Wiederaufbau europäischer Städte / Rebuilding European Cities Rekonstruktionen, die Moderne und die lokale Identitätspolitik seit 1945 / Reconstructions, Modernity and the Local Politics of Identity Construction since 1945 2014. 485 S. mit 112 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10623-8 Martina Heßler / Günter Riederer (Hg.) Autostädte im 20. Jahrhundert Wachstums- und Schrumpfungsprozesse in globaler Perspektive 2014. 227 S. mit 61 Abb. und 5 Tab., geb. ISBN 978-3-515-10692-4
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Dirk Schubert Jane Jacobs und die Zukunft der Stadt Diskurse – Perspektiven – Paradigmenwechsel 2014. 355 S. mit 68 Fot. und Abb. sowie 3 Pläne, geb. ISBN 978-3-515-10709-9 18. Christian Rau Stadtverwaltung im Staatssozialismus Kommunalpolitik und Wohnungswesen in der DDR am Beispiel Leipzigs (1957–1989) 2017. 425 S. mit 17 Abb. und 19 Tab., geb. ISBN 978-3-515-11530-8 19. Christoph Bernhardt (Hg.) Städtische öffentliche Räume / Urban public spaces Planungen, Aneignungen, Aufstände 1945–2015 / Planning, appropriation, rebellions 1945–2015 2016. 313 S. mit 27 Abb. und 54 Bild., geb. ISBN 978-3-515-11594-0 20. Jens Ivo Engels / Andreas Fahrmeir / Cesare Mattina / Frédéric Monier (Hg.) Stadt – Macht – Korruption 2017. 190 S. mit 1 Tab., geb. ISBN 978-3-515-11738-8
Die Nationalisierungs- und Modernisierungspolitik der multiethnischen galizischen Hauptstadt Lemberg führte vor 1914 zur Eskalation des Nationalitätenkonfliktes zwischen Polen und Ruthenen. Hierbei konstruierten die kommunalpolitischen Akteure diskursiv den „polnischen Charakter“ der Stadt und dessen Gefährdung, um ihre politische Agenda vor Ort durchzusetzen und die jüdische und ukrainische Bevölkerung zu marginalisieren. Durch die Analyse zentraler Themenfelder der Stadtentwicklungs-, Kultur-, Bildungs- und Geschichtspolitik
ISBN 978-3-515-12694-6
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7835 1 5 1 26946
macht Heidi Hein-Kircher die grundlegenden Diskurse und Praktiken, Strategien und Visionen sowie Wertvorstellungen der Lemberger Kommunalpolitik sichtbar: Indem die kommunalpolitischen Akteure die notwendige Stadtentwicklung als ethnisch-nationales bzw. national-kulturelles Sicherheitsproblem für die eigene, d.h. polnische Gruppe, darstellten, legitimierten sie ihre eigenen politischen Praktiken und Strategien und entwickelten daraus zugleich eine Vision, wie Lemberg als polnische und nicht als multiethnische Stadt zukünftig aussehen sollte.
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