Tod in der Stadt: Religion, Alltag und Festkultur in Krakau 1869-1914 9783666310263, 9783647310268, 9783525310267


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German Pages [310] Year 2015

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Tod in der Stadt: Religion, Alltag und Festkultur in Krakau 1869-1914
 9783666310263, 9783647310268, 9783525310267

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Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit Herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf, Miloš Havelka und Martin Schulze Wessel

Band 5

Vandenhoeck & Ruprecht

Kathrin Krogner-Kornalik

Tod in der Stadt Religion, Alltag und Festkultur in Krakau 1869–1914

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 3 Abbildungen Umschlagabbildung: Wacław Koniuszko – Pogrzeb w mieście (»Beerdigung in der Stadt«), 1879. Mit freundlicher Genehmigung des Muzeum Historyczne Miasta Krakowa. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-31026-8

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Der Druck dieses Buches wurde ermöglicht durch einen Druckkostenzuschuss aus Mitteln des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Internationalen Graduiertenkollegs »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts«. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC , Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Der Tod im städtischen Alltag – Krakau im 19. Jahrhundert als Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.1 Leben und Sterben im Krakau des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . 32 1.1.1 Krakau politisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.1.2 Das katholische Krakau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1.1.3 Das jüdische Krakau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1.1.4 Sozial- und Wirtschaftsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1.1.5 Lebenserwartung in Krakau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1.1.6 Von der Provinzstadt zur Großstadt . . . . . . . . . . . . . . 55 1.1.7 Von der Provinzstadt zum kulturellen Zentrum . . . . . . . 57 1.2 Tod an der Peripherie – Vom Gottesacker zum städtisch verwalteten Raum . . . . . . . . . 58 1.2.1 Vorgeschichte: Neuanlage von Friedhöfen im Zeichen der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1.2.2 Ein neuer jüdischer Friedhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1.2.3 Zäsuren zur Jahrhundertmitte . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1.3 Modernisierung, Konfessionalisierung und Professionalisierung – das Bestattungswesen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 73 1.3.1 Vom neutralen zum konfessionellen Raum . . . . . . . . . . 73 1.3.2 Ästhetisierung des Friedhofs als städtisches Reformprojekt 82 1.3.3 Neue Erwerbsräume – Der Aufstieg privatwirtschaftlicher Bestattungsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1.3.4 Genese und Scheitern der katholischen Beerdigungskasse . 92 1.3.5 Das Projekt eines städtischen Bestattungsunternehmens . . 96 1.3.6 (K)ein Reformprojekt: die Feuerbestattung . . . . . . . . . . 100 1.4 Zwischen Modernisierung und Traditionswahrung – Institutionen des jüdischen Bestattungswesens . . . . . . . . . . . 104 1.4.1 Religiöse Traditionen und sanitärpolitische Verordnungen 104 1.4.2 Der Streit um die jüdische Begräbnisbruderschaft – eine innerjüdische und eine munizipale Angelegenheit . . 106

6  Inhalt 1.4.3 Ein Friedhofsaufseher und divergierende Ansprüche . . . 112 1.4.4 Die Errichtung eines Begräbnishauses auf dem jüdischen Friedhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1.4.5 Diskussionen um den Umgang mit dem alten jüdischen Friedhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1.4.6 Vom homogenen zum heterogenen Ort – Sepulkralarchitektur und Grabinschriften . . . . . . . . . . 122 1.4.7 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Der nicht alltägliche Tod – Bestattungen als öffentliche Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2.1 Tod als Lebenselement – Krakaus große Beerdigungen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2.1.1 Die zweite Beisetzung von Kazimierz Wielki im Jahr 1869 . 130 2.1.2 Die Entstehung der Krypta der Verdienten auf dem Felsen . 137 2.1.3 Eine nächtliche Beisetzung: Die Überführung von Wincenty Pol und Lucjan Siemieński . . . . . . . . . . . . . 143 2.2 Grabeskämpfe – die Beisetzung von Józef Ignacy Kraszewski in der Krypta der Verdienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.2.1 Die neue Krypta in der Säkular- und Sakraltopographie Krakaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.2.2 Das Vorspiel: die Jubiläumsfeier von 1879 . . . . . . . . . . 151 2.2.3 Der Prozess in Leipzig, die Haft in Magdeburg und der Tod in Genf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2.2.4 Überführung nach Krakau und der »Wille der Nation« . . 161 2.2.5 Frommes Sterben als Bedingung für ein kirchliches Grab . 170 2.2.6 »Es wird ihm in diesem Grab gut gehen« – die Beisetzung Kraszewskis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2.2.7 Die Apotheose des Verstorbenen . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2.2.8 Das Nachspiel: In wessen Augen starb Kraszewski? . . . . . 185 2.2.9 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2.3 »Ein Sohn der Rus in Krakauer Erde« – Die Beisetzung von Mikołaj Zyblikiewicz als Demonstration der Landeseinheit . . . . 193 2.3.1 Funeralfeiern als Instrumente der Politik . . . . . . . . . . . 193 2.3.2 Krisensymptome: Die religiöse und politische Desintegration des Kronlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2.3.3 Mikołaj Zyblikiewicz – eine politische Karriere . . . . . . . 198 2.3.4 Ein friedlicher und frommer Tod . . . . . . . . . . . . . . . 201 2.3.5 Eine friedliche Beisetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2.3.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

Inhalt 7

2.4 Infektion der Trauer – weitere große Beerdigungen bis zum Ende der Teilungen Polens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2.4.1 Adam Mickiewicz’ Beisetzung auf dem Wawel oder: das »Votum der Nation« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2.4.2 Städtekonkurrenz: Krakau, Lemberg und der Leichnam von Teofil Lenartowicz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2.4.3 Die »gesamte Stadt« ehrte Adam Asnyk . . . . . . . . . . . . 225 2.4.4 Die Überführung von Henryk Siemiradzki aus Warschau . 227 2.4.5 Eine stumme Feier auf Film: die Beisetzung von Stanisław Wyspiański . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2.4.6 Juliusz Słowacki auf dem Wawel? Kontroversen im Jahr 1903 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2.4.7 Das polnische, das katholische und das jüdische Krakau . . 237 2.4.8 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2.5 Tod als Skandal – Priesterlose Beisetzungen . . . . . . . . . . . . . 243 2.5.1 »Der Finger Gottes« – Krakaus erste priesterlose Trauerfeier 243 2.5.2 Die Vorgeschichte: Barbara Ubryks Klosterhaft . . . . . . . 246 2.5.3 Ein fachfremder Eingriff in theologische Diskurse . . . . . 247 2.5.4 Der überraschende Tod Gilewskis und die erste weltliche Trauerfeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 2.5.5 »Eine Strafe …, in Krakau leben und sterben zu müssen« . . 262 2.5.6 Der »gute« und der »schlechte« Tod . . . . . . . . . . . . . . 266 2.5.7 Der Suizid von Michał Bałucki und die zweite priesterlose Trauerfeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2.5.8 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 3. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Einleitung Das 19. Jahrhundert als Wasserscheide in der europäischen Geschichte des Todes Der Tod – einerseits Bestandteil des Lebens, andererseits ein durch die Zeiten hindurch Furcht einflößendes Mysterium: Zwischen diesen Polen bewegt sich die Wahrnehmung des Todes, die mentalitätshistorischen Veränderungen unterworfen ist. Blickt man auf die geisteswissenschaftliche Diskussion,1 so treten weitere Aspekte hinzu: Die einen sind überzeugt, dass der Tod verdrängt werde,2 die anderen sehen ihn dagegen im diskursiven Zentrum.3 Die einen sprechen von der Dekonstruktion und der Desymbolisierung des Todes,4 die anderen wiederum fragen nach seiner Sichtbarkeit.5 Die vermeintliche Verdrängung des Todes ist eine der vorherrschenden Forschungsfragen auf diesem Ge-

1 Eine Übersicht über gegenwärtige und frühere Todestheorien in unterschiedlichen Disziplinen bietet Gehring, Petra: Theorien des Todes zur Einführung. Hamburg 2010. 2 Dazu zählen beispielsweise Philippe Ariès, Geoffrey Gorer und Norbert Elias. Siehe Ariès, Philippe: Geschichte des Todes, 11. Aufl. München 2005. Elias, Norbert: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, 10. Aufl. Frankfurt am Main 2001. Gorer, Geoffrey: The Pornography of Death. In: Ders.: Death, Grief, and Mourning in Contemporary Britain. London 1965, 169–175. [Nachdruck des erstmals 1955 in der Zeitschrift »Encounter« erschienen Aufsatzes]. 3 Graf, Friedrich Wilhelm: Todesgegenwart. In: Ders./Meier, Heinrich (Hg.): Der Tod im Leben. Ein Symposion. München 2004, 7–46, hier 10 f. Gegen die wortwörtliche These von der Verdrängung des Todes wandten sich außerdem die Soziologen Werner Fuchs und Klaus Feldmann. Siehe Feldmann, Klaus: Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick. Wiesbaden 2010, hier 59–79. Fuchs sieht in der These von der Ver­ drängung des Todes ein »Mißvergnügen kulturkritischen Denkens an der gelungenen Naturbeherrschung«. Siehe Fuchs, Werner: Todesbilder in der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1969, hier 12. Einen Mittelweg suchen die Soziologen Armin Nassehi und Georg Weber zu beschreiten, indem sie zwar von der Verdrängung des Todes ausgehen, diese aber nicht als Kulturkritik verstanden wissen wollen, sondern die »›Unterbelichtung des Todes‹ in der Wirklichkeitsstruktur moderner Individuen und Gesellschaften […] mit den Kategorien der Moderne selbst zu erklären« versuchen. Siehe Nassehi, Armin/Weber, Georg: Tod, Moder­nität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung. Opladen 1989, hier 13.  4 Lafontaine, Céline: Die postmortale Gesellschaft. Wiesbaden 2010. 5 Macho, Thomas/Marek, Kristin (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes. München 2007.

10  Einleitung biet, welche sowohl Historiker als auch Kulturwissenschaftler, Theologen und Soziologen6 beschäftigt und die vielfältige Antworten hervorruft. Für den Eindruck, dass der Tod verdrängt werde und die Gegenwart durch die »Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen«7 charakterisiert sei, sind Entwicklungen im »langen 19. Jahrhundert« verantwortlich.8 Das Jahrhundert bedeutete nicht nur eine »Verwandlung der Welt«,9 sondern in der Lesart vieler Mentalitätshistoriker auch eine bedeutsame Zäsur im Umgang mit Tod und Sterblichkeit. Bis dahin waren Sterben, Tod und Bestattung noch Bestandteil des Gemeinschaftslebens, und die schwere Aufgabe, dem Tod einen Sinn zu verleihen, konnte dank religiöser Deutungsmuster gelöst werden. Im 19. Jahrhundert begannen Sterbende und Tote allmählich aus dem alltäglichen Blickfeld zu verschwinden. Eine erste wichtige Veränderung war die Verlegung von Friedhöfen, in der der Historiker Franz J. Bauer eine »mentale Epochenscheide«10 erblickt. Die Friedhofsreformen – verstanden als die Auflassung innerstädtischer Friedhöfe und die Anlage neuer Friedhöfe in den städtischen Peripherien  – nahmen ihren Anfang im ausgehenden 18. Jahrhundert und wurden nach und nach überall in Europa umgesetzt.11 Sie standen gewissermaßen am Anfang der Professionalisierung sowie Institutionalisierung der mit Tod und Sterben verbundenen Tätigkeiten.12 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich sanitärpolitische Bedenken durchgesetzt, die die bislang üblichen Bestattungen auf 6 Der Einfachheit halber wird in der Studie das generische Maskulin verwendet. 7 Siehe den Titel der Studie von Norbert Elias. 8 Mit dem »langen 19.  Jahrhundert« wird die Zeit von der Französischen Revolution 1789 bis zum Ersten Weltkrieg charakterisiert, welche häufig als ein Zeitalter des Wandels und des Überganges begriffen wird. Auf die Geschichte des Todes lässt sich der Epochen­ begriff insofern übertragen, als Ende des 18. Jahrhunderts mit den Friedhofsverlegungen im Zeichen der Hygienepolitik ein Wandel einsetzte, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Technisierung und Professionalisierung des Umgangs mit dem Tod einerseits und der Erfahrung des Massensterbens im Ersten Weltkrieg andererseits einen gewissen Abschluss fand. Zum »langen« 19. Jahrhundert als Epochenbegriff Siehe Bauer, Franz J.: Das »lange« 19. Jahrhundert (1789–1917). Profil einer Epoche. Stuttgart 2004. 9 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19.  Jahrhunderts, 5. Aufl. München 2010. 10 Bauer, Franz J.: Tod und Bestattung in alter und neuer Zeit. In: Historische Zeitschrift 254 (1992) 1–31, hier 4. 11 Für einen Überblick siehe Happe, Barbara: Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870. Tübingen 1991. Sunderbrink, Bärbel: Modernisierung auf sensiblem Terrain. Die Verlegung der Begräbnisplätze aus den Ortschaften der Moderne. In: Dethlefs, Gerd/Owzar, Armin/Weiß, Gisela (Hg.): Modell und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen. Paderborn u. a. 2007, 379–385. 12 Rosentreter, Michael/Groß, Dominik: O tempora, o mores (curae mortui). Der Leichnam zwischen kommerzieller Totenfürsorge und affektiver Trauerbewältigung. In: Schweikardt, Christoph/Groß, Dominik (Hg.): Die Realität des Todes. Zum gegenwärtigen Wandel von Totenbildern und Erinnerungskulturen. Frankfurt am Main 2010, 77–110, hier 98.

Einleitung 11

Kirchfriedhöfen in nächster Nähe zu den Lebenden als unhygienisch und damit als gesundheitsgefährdend und letztlich lebensbedrohlich erachteten. Der Platzmangel auf Friedhöfen trug sein Übriges dazu bei, dass die Reformvorschläge angenommen wurden. Ein Historiker, der das Narrativ von der Verdrängung des Todes entscheidend mitgeprägt hat, ist der bereits erwähnte französische Mentalitätenforscher Philippe Ariès.13 Mit seinem zum Standardwerk avancierten L’homme devant la mort14 (1977 erstmals erschienen) legte er eine umfassende Analyse der Einstellungen zum Tod in der abendländischen Geschichte vor. Anhand einer Fülle von Quellen – vor allem aus dem französisch- und englischsprachigen Raum – untersucht Ariès darin, wie Menschen in Europa vom Mittelalter bis hinein in die Gegenwart mit dem Tod umgegangen sind und umgehen. Bestechend ist das Buch vor allem durch seine starke Thesenbildung. Der Tod ist zwar ein Faktum, der Umgang mit ihm jedoch höchst variabel. Ariès unterscheidet vier Modelle mit dem Tod umzugehen: den »gezähmten Tod«, den »eigenen Tod«, den »Tod des anderen« und den »ins Gegenteil verkehrten Tod«. Bereits die Benennung der Kategorien deutet die inhärenten Bewertungen an. Für Ariès gibt es eine gute und eine ungute Art, nicht an den Tod zu denken. Die gute Art habe der Mensch in traditionellen Gesellschaften beherrscht; sie beruhte auf der »Unmöglichkeit, ihn mit Nachdruck zu bedenken [Hervorhebungen im Original; K. K.], weil er ganz nahe und vertrauter Bestandteil des Alltagslebens ist.«15 Es war »eine Form der Anerkennung der Ordnung der Natur«,16 die dazu geführt habe, dass der Mensch in seiner Todesstunde dem Tod zu begegnen wusste. Die moderne Gesellschaft hingegen denke nicht an den Tod, indem sie »den Tod verbannt und mit einem Verbot belegt«.17 Vom »gezähmten Tod« sei deswegen im 20. Jahrhundert nicht mehr viel übrig geblieben: Eine »brutale Revolution«18 habe den Tod ausgegrenzt, der nunmehr Experten im Krankenhaus überlassen bleibe. Diese Geschichte vom Menschen, der einst mit dem Tod zu leben gewusst habe, die Fähigkeit dazu aber verloren und damit das große Fürchten gelernt habe, trägt zur Faszination der Arbeiten von Ariès über den Tod bei. Gleichzeitig hat diese stark normative Vorstellung unter Historikern für Irritation und Kritik gesorgt. Die Neuordnung der Friedhöfe nach primär gesundheitspolitischen Kriterien setzte voraus, dass die Religionsgemeinschaften ihre Aufsicht über das Bestat 13 Ariès: Geschichte des Todes. Ders.: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, 2. Aufl. München 1982. 14 Der Originaltitel gibt das Erkenntnisinteresse des Autors besser wieder als der ins Deutsche als »Geschichte des Todes« übertragene Titel. 15 Ariès: Studien zur Geschichte des Todes 34. 16 Ebd. 31. 17 Ariès: Geschichte des Todes 34. 18 Ariès: Studien zur Geschichte des Todes 57.

12  Einleitung tungswesen aufgaben, welches nun städtische Behörden übernahmen. Sie ließen damit die Anlage und Pflege von Friedhöfen zu einem Teil kommunaler Aufgaben und städteplanerischer Maßnahmen werden. Nicht nur der Ort der Bestattung änderte sich, sondern auch die Art und Weise der Beisetzung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandte sich die Bewegung der Kremationisten gegen die Bestattungssitten der Kirchen und propagierte die Feuerbestattung als fortschrittliche, hygienische und in ihren Augen auch pietätvollere Art der Bestattung.19 Zudem wurde Tod und Sterben immer weniger zu einer nachbarschaftlichen Angelegenheit, sondern immer mehr zu einem Tätigkeitsfeld für Spezialisten.20 So entstanden neue Wirtschaftszweige, die zugleich die religiöse Zuständigkeit für das Bestattungswesen herausforderten. Mit der nun mittlerweile primär instrumentell geprägten Orientierung gegenüber Tod und Sterben entwickelten sich neue Berufsgruppen und es veränderten sich die Berufsgruppen, die bislang mit dem Tod zu tun hatten, wie etwa die der Totengräber, deren Aufgaben genau reglementiert wurden.21 Außerdem entstanden professionelle Bestattungsunternehmen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den europäischen Städten nach und nach ihre Tätigkeit aufnahmen. Allgemein wenig erforscht ist bislang, wie die Menschen darauf reagierten, dass die Fürsorge für die Verstorbenen zu einer kommerziellen Angelegenheit wurde, bei der jede Tätigkeit zu einer in Preisen bezifferten Dienstleistung wurde.22 Auch das Sterben veränderte sich. Der medizinische Fortschritt stärkte die Hoffnung auf ein längeres Leben, gleichzeitig führte die Medikalisierung dazu, dass immer mehr Menschen nicht mehr in der häuslichen Umgebung starben, sondern in Krankenhäusern. Die Konsequenzen reichen weit in die Gegenwart. Dem eigentlichen Tod geht dem Soziologen Norbert Elias zufolge ein Prozess der sozialen Ausgliederung voraus, bei dem die Sterbenden von der Welt der Lebenden abgeschottet werden. Im Laufe des Zivilisationsprozesses werde der Tod »hinter die Kulisse des Gesellschaftslebens verlegt«.23 Dieser Vorgang sei beispiellos: Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden Sterbende so hygienisch aus der Sicht der Lebenden hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens fortgeschafft; niemals zuvor wurden menschliche Leichen so geruchlos und mit solcher technischen Perfektion aus dem Sterbezimmer ins Grab expediert.24 19 Siehe beispielsweise die von 1888 bis 1900 von der »Freien Vereinigung der deutschen Vereine zur Förderung der Feuerbestattung« herausgegebene Zeitung »Phoenix. Blätter für Cultur-Entwicklung & Bestattungsreform«. 20 Herzog, Markwart/Fischer, Norbert (Hg.): Totenfürsorge. Berufsgruppen zwischen Tabu und Faszination. Stuttgart 2003. 21 Rosentreter/Groß: O tempora, o mores 99. 22 Am Beispiel Frankreich hat sich bislang Thomas A. Kselman der Frage gewidmet: Kselman, Thomas A.: Death and the Afterlife in Modern France. Princeton/New Jersey 1993. 23 Elias: Die Einsamkeit der Sterbenden 22. 24 Ebd. 38.

Einleitung 13

Angesichts einer solchen Gegenwartsanalyse überrascht es nicht, dass auch der veränderte Umgang mit dem Tod als eine Facette der »Entzauberung der Welt« gilt.25 Neben den genannten Entwicklungen, die sich vor allem als Teil einer Entzauberung des Todes lesen lassen, vollzogen sich im langen 19.  Jahrhundert auch Prozesse, die von einer stärker expressiven Wahrnehmung des Todes begleitet waren: zum einen die Romantisierung des Todes, zum anderen ein neuartiger politischer Totenkult. Das Ideal einer schönen Sterbestunde verband sich mit einer neuen affektiven familiären Zuneigung; der Tod des geliebten Anderen rückte stärker in den Fokus. Der Himmel erschien weniger als ein Ort der Gottesschau als vielmehr als Schauplatz des postmortalen Wiedersehens von geliebten Personen, die der Tod getrennt hatte.26 Eine andere Art von Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten wurde im politischen Totenkult zelebriert. Das Phänomen, das Historiker als politischen Totenkult apostrophieren, war keine neue Erscheinung an sich. Auch die Frühe Neuzeit kannte schon ihre »großen« Toten. Aber als im 19. Jahrhundert die politische Gemeinschaft grundlegend neu definiert wurde, veränderte sich auch der politische Totenkult radikal: Zuvor beschränkte er sich auf Herrscherdynastien, wovon beispielsweise die Kapuzinergruft in Wien Zeugnis ablegt; nun entstanden neue nationale Pantheons für Volkshelden und »große Männer«. Oder wie es Philippe Ariès ausdrückt: In diesem ausgehenden 18. Jahrhundert entsteht eine neue Vorstellung von Gesellschaft, die sich im 19. weiterentwickelt und ihren Ausdruck im Positivismus Auguste Comtes findet, der wissenschaftlichen Form des Nationalismus. Man nimmt an und fühlt sogar deutlich, daß sich die Gesellschaft aus Lebenden und Toten zugleich zusammensetzt und daß die Toten ebenso bedeutsam und unerläßlich sind wie die Lebenden.27

Der Totenkult wurde zu einer wichtigen Ausdrucksform des Patriotismus.28 Nationalstaaten feierten Staatsbegräbnisse, die die Verbundenheit der Staatsbürger mit dem Nationalstaat festigen sollten.29 Nationalbewegungen, die nach einem eigenen Nationalstaat strebten, dienten feierliche Beisetzungen nationaler Identifikationsfiguren dazu, ihre politischen Ansprüche nach innen wie außen zu demonstrieren: Nach innen sollten die Feiern ein Zusammengehörigkeitsgefühl 25 Fischer, Norbert: Geschichte des Todes in der Neuzeit. Erfurt 2001, hier 8. 26 Ariès: Geschichte des Todes 563–577. 27 Ariès: Studien zur Geschichte des Todes 52. 28 Ebd. 53. 29 Ackermann, Volker: Die funerale Signatur. Zur Zeichensprache bei nationalen Totenfeiern von Wilhelm I. bis Willy Brandt. In: Behrenbeck, Sabine/Nützenadel, Alexander (Hg.): Inszenierungen des Nationalstaats. Politische Feiern in Italien und Deutschland seit 1860/1871. Köln 2000, 87–112, hier 88.

14  Einleitung erzeugen, nach außen die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung manifestieren. Ob mit oder ohne Nationalstaat: In beiden Fällen stand eine Person im Mittelpunkt, die mit dem Staat respektive der Nation in sehr hohem Maße identifiziert wurde. Ob es sich dabei wie im Deutschen Reich überwiegend um Staatsmänner30 oder wie in Frankreich und in den Nationalbewegungen in Ostmitteleuropa um Künstler und Wissenschaftler handelte: Fast immer waren diese Identifikationsfiguren männlich und galten als »große Männer«, deren Tod als Identifikationsverlust verstanden wurde31 und deren Beisetzung dafür umso mehr als ein Identifikationsangebot diente: In der geehrten Person fand die abstrakte Nation eine konkrete Gestalt, die als Vorbild diente, das zur Nachfolge verpflichtete. Die Aufwertung des Todes einiger Weniger im öffentlichen Raum ging einher mit der Verdrängung des Todes der Vielen aus der öffentlichen Sphäre. Während einige wenige Tote im politischen Totenkult in den Fokus der medialen und öffentlichen Aufmerksamkeit rückten, wurde der alltägliche Umgang mit dem Tod Experten überantwortet und die Friedhöfe verschwanden an die Peripherie der Städte. In beiden Prozessen spielten neue Dynamiken zwischen religiösen und politischen Institutionen eine wichtige Rolle.

Shared experience und shared history – die Geschichte des Todes als transkonfessionelle Verflechtungsgeschichte Professionalisierung, Rationalisierung, Funktionalisierung, Medikalisierung, Politisierung und Emotionalisierung – der sich verändernde Umgang mit dem Tod erscheint als ein ambivalenter und modernitätsspezifischer Prozess, der den Tod als ein eigentliches Kernthema der Religionsgemeinschaften anderen Orientierungen unterordnet. Mehr noch: Religionsgemeinschaften mussten einen Teil ihrer bisherigen exklusiven Kompetenzen über das Bestattungswesen an Behörden und staatliche Stellen abtreten. Obwohl in Europa alle Religionsgemeinschaften in ähnlicher Weise von diesen Entwicklungen betroffen waren, sind ihre Auswirkungen bisher nicht vergleichend untersucht worden. Die Geschichte des Todes ist nicht nur bei Philippe Ariès ausschließlich als eine Geschichte des christlichen respektive des post-christlichen Todes geschrieben 30 Ackermann, Volker: Nationale Totenfeiern in Deutschland von Wilhelm I. bis Franz Josef Strauß. Eine Studie zur politischen Semiotik. Stuttgart 1999. 31 Ackermann, Volker: Staatsbegräbnisse in Deutschland von Wilhelm I. bis Willy Brandt. In: François, Etienne/Siegrist, Hannes/Vogel, Jakob (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. Göttingen 1995, 252–273, hier 253.

Einleitung 15

worden. Implizit liegt den Arbeiten damit die Annahme zugrunde, dass die Geschichte des Todes im Judentum ein eigenes Sujet sei, welches separat in der jüdischen Geschichte zu verorten sei. Und tatsächlich findet der Tod im Judentum eine eigene monographische Behandlung.32 Separat untersucht worden sind auch jüdische Friedhöfe – entweder aus einem generellen Interesse am Judentum33 oder aber aus lokalhistorischem Interesse.34 Hier setzt die vorliegende Untersuchung an, die erstmals drei bisher separat untersuchte Themenkomplexe zusammenführt: das alltägliche christliche und das jüdische Bestattungswesen sowie den politischen Totenkult. Im Fokus der Studie steht erstens die vergleichende Frage danach, wie Religionsgemeinschaften auf die Kompetenzverluste und obrigkeitspolitischen Interventionen reagiert haben. Zweitens wird nach den Dynamiken zwischen religiösen und säkularen Akteuren und Weltsichten gefragt, die sich nicht nur mit den großen Beerdigungen verbanden. In methodischer Hinsicht rekurriert die Arbeit auf das Konzept der shared history, welches der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf angeregt hat.35 Ausgehend von der Beobachtung, dass die unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften seit dem 18.  Jahrhundert mit »identischen Herausforderungen«36 konfrontiert waren, legt das Konzept nahe, die Frage nach Religion und Moderne als »transkonfessionelle Verflechtungsgeschichte« zu schreiben.37 Gegenüber einer konfessionsspezifischen Betrachtungsweise bietet die shared history laut Graf folgende heuristische Vorzüge: Erstens vermeide eine solche Perspektive essentialistische Kurzschlüsse, indem sie den soziokulturellen Kon-

32 Als Beispiele seien hier genannt: Goldberg, Sylvie Anne: Crossing the Jabbok. Illness and Death in Ashkenazi Judaism in Sixteenth- through Nineteenth-Century Prague. Berkeley/California 1996. Zürn, Gabriele: Die Altonaer jüdische Gemeinde (1611–1873). Ritus und soziale Institutionen des Todes im Wandel. Hamburg 2001. 33 Beispielsweise Brocke, Michael/Müller, Christiane E.: Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Deutschland. Leipzig 2001. Knufinke, Ulrich: Bauwerke jüdischer Friedhöfe in Deutschland. Petersberg 2007. 34 Hier seien wieder die Beispiele für Krakau genannt: Hońdo, Leszek (Hg.): 200 lat nowego cmentarza żydowskiego w  Krakowie. Kraków  2010. Ders.: Dom przedpogrzebowy przy żydowskim nowym cmentarzu w  Krakowie. Kraków  2011. Ders.: Nowy cmentarz żydowski w Krakowie. Przedwodnik. Kraków 2006. Ders.: The Old Jewish Cemetery in Cracow. In: Kapralski, Sławomir (Hg.): The Jews in Poland, Bd. 2. Cracow 1999, 235–249. Ders.: Przestrzeń żydowskiego cmentarza. In: Grodziska, Karolina/Purchla, Jacek (Hg.): Śmierć – przestrzeń  – czas  – tożsamość w  Europie Środkowej około 1900. Kraków  2002, 195–214. Ders.: Stary żydowski cmentarz w Krakowie. Historia Cmentarza, Analiza Hebrajskich Inskrypcji. Kraków 1999. 35 Graf, Friedrich Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2007, hier 30–50. 36 Ebd. 38. 37 Ebd. 42.

16  Einleitung text stärker berücksichtigt. Zweitens lasse sie das bisweilen ambivalente und paradoxe Wechselspiel von Abgrenzung und Annäherung zwischen den Reli­ gionsgemeinschaften deutlich werden, und drittens erlaube sie ein besseres Verständnis traditionsbetonter Konfessionalismen, da sie zeige, wie sich gerade auch Traditionalismen als Reaktion auf Moderne und Gegenwart formen.38 Gerade das Thema Tod, welches im 19. Jahrhundert zu einem Feld modernitätsspezifischer Reformen und Transformationen wurde, auf dem religiöse und säkulare Ansprüche miteinander konkurrierten, bietet sich als Gegenstand für eine so verstandene shared history an. In den Fokus der Analyse rücken dabei aus gutem Grund das Bestattungswesen und die Friedhöfe. Denn wer sich mit den Einstellungen des Menschen zum Tod beschäftigt, wird sich rasch dem Friedhof zuwenden. Die Geschichte des Todes ist in hohem Maß die Geschichte des Umgangs mit dem Leichnam, wovon die Friedhöfe ein beredtes Zeugnis ablegen. Wenn der Tod vom Menschen eine Handlung unverweigerlich erfordert, dann ist es die, irgendwie mit den Leichen der aus der sozialen Gruppe Verschiedenen umzugehen. Indem Menschen verstorbene Menschen bestatten, positionieren sie sich automatisch dem Tod gegenüber, drücken Vorstellungen von Weiterleben, Jenseits oder Endgültigkeit aus. Friedhöfe erscheinen daher als die »sichtbarste und konkreteste Spur des Todesproblems«.39 Friedhöfe beziehen aber auch zum Leben Stellung. Sie reflektieren die Ein­ stellung der Lebenden nicht nur zum Tod, sondern zeigen als öffentliche Orte auch gesellschaftliche Konventionen, ästhetische Werte und soziale Verhältnisse. Sie sind ambivalente Orte. In ihnen manifestieren sich mit dem Tod verbundene Widersprüchlichkeiten. Friedhöfe entstehen, damit die Überlebenden ihren Verstorbenen nahe sein, sich dabei aber gleichzeitig auf Distanz zu­ ihnen wissen können.40 Der paradoxe Charakter von Friedhöfen hat Michel Foucault dazu veranlasst, Friedhöfe als »Heterotopie« zu beschreiben. Das sind Foucault zufolge sogenannte Gegenorte und damit Orte, die sich von allen anderen Orten unterscheiden, indem sie ein Gegenbild anbieten und alternative Möglichkeiten eröffnen, aber anders als die rein imaginären Utopien tatsächlich existieren.41 Als religiös imprägnierte Orte sind Friedhöfe mit religiösen Vorstellungen und Vorschriften verbunden, welche nach den jeweiligen Glaubenssystemen und Lehrmeinungen differieren. Wenn nun im 19. Jahrhundert nicht mehr allein theologische und religionsgesetzliche Vorstellungen das Bestattungswesen 38 Ebd. 41–46. 39 Bauer: Tod und Bestattung in alter und neuer Zeit 4.  40 Illi, Martin: Wohin die Toten gingen. Begräbnis und Kirchhof in der vorindustriellen Stadt. Zürich 1992, hier 9. 41 Foucault, Michel: Von anderen Räumen. In: Dünne, Jörg u. a. (Hg.): Raumtheorie. Frankfurt am Main 2006, 317–329, hier 322–324.

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bestimmten, sondern Behörden von außen eine Reform des Bestattungswesens forderten, so ließ dies eine Reaktion der Religionsgemeinschaften notwendig werden. Das Bestattungswesen soll damit als Beispiel dafür dienen, wie Konfessionsgemeinschaften auf einen modernitätsspezifischen Umbruch reagierten. Für eine solche vergleichende Studie empfiehlt sich aus mehreren Gründen eine Mikrostudie, da sie es erlaubt, die Vorgänge präzise nachzuzeichnen. Die Stadt ist als modernitätsspezifischer Ort, als Verdichtungsraum, als ein Ort religiösen Lebens und verstärkter Säkularisierungstendenzen ein idealer Ausgangspunkt einer solchen Studie. Die genannten Veränderungen im Umgang mit dem Tod traten zunächst vor allem in den Städten auf, da sie auf stadtspezifische Probleme reagierten.42 Zudem stellte die Urbanisierung eine der Vorbedingungen für den sich wandelnden Umgang mit dem Tod dar. Schließlich war auch die wachsende Einwohnerzahl in der Stadt ein Grund dafür, dass innerstädtische Friedhöfe nicht mehr ausreichten, um die Verstorbenen zu bestatten. Zugleich wurden hygienische Probleme, die eine immer größer werdende Stadtbevölkerung belasteten, zu immer dringlicheren Fragen. Mit dem Wachstum der Städte veränderte sich auch die städtische Struktur. So kamen den Städten neue Aufgaben wie die Daseinsfürsorge zu und damit die Aufgabe, für die elementaren Bedürfnisse der Stadtbevölkerung Sorge zu tragen. Neue infektiöse Krankheiten wie die Cholera, die viele Todesopfer forderten und sich aufgrund der Bevölkerungskonzentration in den Städten leichter verbreiten konnten, sorgten außerdem für Handlungsbedarf der kommunalen Akteure.43 Der Komplex Tod mit seinen vielfältigen assoziierten Aspekten wie Bestattungswesen und Krankheitsprävention wurde immer mehr zu einer städtischen Angelegenheit. Auch in methodischer Hinsicht empfiehlt sich eine auf den urbanen Raum konzentrierte Fallstudie, ist doch die Stadtgeschichte besonders geeignet, um die Komplexität von Prozessen analytisch zu fassen, denn der begrenzte und gleichzeitig mehrschichtige Raum mit seiner oftmals ethnisch, kulturell und religiös pluralen Bevölkerung ermöglicht die synchrone Sicht auf Verästelungen, Verschränkungen und das Neben- und Gegeneinander von Prozessen. Hier lässt sich kaleidoskopartig die Vielfalt des Komplexes Tod beschreiben und analysieren. Seit dem spatial turn wird in der Geschichtswissenschaft viel über den Raum diskutiert und die Forderung formuliert, Geschichte nicht nur entlang der Zeitachse, sondern auch in ihrer räumlichen Dimension zu lesen.44 Das Bei 42 Rosentreter/Groß: O tempora, o mores 105. 43 Eine detaillierte Studie zum Umgang mit der Choleraepidemie in Hamburg hat Richard J. Evans vorgelegt: Evans, Richard J.: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910. Reinbek bei Hamburg 1990. 44 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geo­ politik. München, Wien 2003.

18  Einleitung spiel Tod und Sterben demonstriert sehr eindrucksvoll, wie die Gestaltung und Codierung des Raumes Mentalitäten widerspiegelt, prägt und gegebenenfalls auch verändert. Die Stadt ist als Wohn- und Lebensort ein Ort des Alltags, sie ist aber auch ein symbolischer Ort, ein lieu de mémoire, wo Architektur, Denkmäler, Straßennamen die materialisierte Seite der Erinnerungskultur darstellen und diese so wiederum stützen. Die Stadt kann zudem auch Akteur sein, wenn Stadtbehörden in ihrer Funktion als Repräsentanten der kommunalen Macht gegenüber Bürgern auftreten oder auch im übertragenen Sinn  – wenn die Stadt einen gewissen Habitus entwickelt, sich mit einer Stadt automatisch bestimmte Vorstellungen und Assoziationen verbinden, die als Imaginaire der Stadt bezeichnet werden können, und wenn sich die Stadt ein bestimmtes Image aneignet.45

»Infektion der Trauer« – Krakau im 19. Jahrhundert Dass der Tod ein Wiener sein müsse, ist ein Ausspruch, der gern zitiert wird, um die angebliche Neigung des Wieners zu morbiden Themen und einer schaurigen Romantik auszudrücken. Doch Wien war nicht die einzige Stadt in der Donaumonarchie mit einem morbiden Image. Auch Krakau, welches in seiner phy­sischen Größe nicht an Wien heranreicht, dafür als ehemalige Haupt- und Krönungsstadt in seiner symbolischen Größe durchaus vergleichbar ist, ging im 19. Jahrhundert der Ruf voraus, eine Stadt zu sein, die am Tod mehr Interesse zeige als am Leben.46 Diesen Ruf hatte die Stadt, weil in Krakau ein sehr symbolträchtiger Umgang mit Beerdigungen gepflegt wurde, namentlich mit Beerdigungen »großer Männer«47 der polnischen Geschichte und Gegenwart, die an prestigereichen Orten wie der Kathedrale auf dem Wawelhügel oder der im 19.  Jahrhundert neu eingerichteten Künstlerbegräbnisstätte »Krypta der Verdienten«, auch Skałka genannt, beigesetzt wurden. Die Begräbnisse, die mit ihren vielen Besuchern ein Bestandteil des urbanen Lebens wurden, zeigen, wie der Tod zur Projektionsfläche für unterschiedliche Anliegen werden kann. In diesem Fall dienten symbolträchtige Beerdigungen dazu, Polens Anspruch, eine Nation zu sein, zu formulieren und in die Massen zu tragen. Der Tod erwies sich

45 Lindner, Rolf: Der Habitus der Stadt. Ein kulturgeographischer Versuch. In: Petermanns Geographische Mitteilungen 147/2 (2003) 46–53. 46 Boy-Żeleński, Tadeusz: O Krakowie. Opracował Henryk Markiewicz. Kraków  1968, hier 122. 47 Zwar wurde die »Nation« oft durch eine weibliche Figur repräsentiert wie die deutsche  Germania oder die französische Marianne. Die Akteure hingegen, denen man die Fähigkeit zuschrieb, »Geschichte« zu machen und zu schreiben, waren ausschließlich männlich.

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als Medium für den nationalen Diskurs und erfuhr neben der religiösen auch eine nationale Sinndeutung.48 Gleichzeitig prägten die großen funeralen Feierlichkeiten den städtischen Raum: Durch das Heraufbeschwören der Geschichte konnten sich die Teilnehmer der Feierlichkeiten ihrer selbst als nationale Gemeinschaft angesichts der polnischen Staatenlosigkeit vergewissern. Krakau wurde so zu einem Bezugspunkt für nationale Aspirationen und Projektionen. Die in Krakau groß inszenierten Beerdigungen prägten das Image der Stadt, die bewundernd als »kulturelle Hauptstadt« oder leicht spöttelnd als »Hauptstadt der Beerdigungen« betrachtet wurde.49 Krakau steht damit beispielhaft für Tendenzen, die sich auch in anderen europäischen Städten, die ebenfalls zum Schauplatz politischer Totenkulte wurden, vollzogen, und verweist zugleich auf eine Besonderheit Ostmitteleuropas: Hier dienten große Funeralfeiern unter anderem dazu, einen imperialen Raum als national zu markieren. Vergleichbare Festivitäten fanden sich etwa in Prag.50 Voraussetzung dafür, dass in Krakau derartige Feste zelebriert werden konnten, war die relativ liberale Gesetzgebung des Hauses Habsburg seit den 1860er Jahren, die in Galizien eine autonome (polnische) Ära einläutete und Krakau die kommunale Selbstverwaltung gewährte.51 Krakau unterschied sich damit von anderen Städten des geteilten Polens und konnte umso mehr zur nationalen Projektionsfläche werden. Derlei nationalistisch aufgeladene Begräbnisfeiern, in deren Zentrum ein religiöses Ritual stand, werfen automatisch die Frage auf, wie die Nation unter anderem in religiöser Hinsicht definiert wurde, ob monokonfessionell oder transkonfessionell. Wie noch zu sehen sein wird, bestand in Krakau eine starke Verbindung von katholischem Ritual und Nationalfeiern, was jedoch nicht immer eine Exklusion anderer Religionsgemeinschaften bedeutete. Möglich­ keiten und Grenzen ihrer Partizipation werden in der vorliegenden Studie ebenso behandelt wie Auseinandersetzungen zwischen säkularen, primär dem

48 Binder, Harald: Kirche und nationale Festkultur in Krakau 1861 bis 1910. In: Schulze Wessel, Martin (Hg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa. Stuttgart 2006, 121–140. 49 Kozińska-Witt, Hanna: Zeremonielle Landschaften. Das Beispiel Krakau im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Hofmann, Andreas R./Wendland, Anna Veronika (Hg.): Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest. Stuttgart 2002, 97–110. 50 Nekula, Marek: Die nationale Kodierung des öffentlichen Raums in Prag. In: Becher, Peter/Knechtel, Anna (Hg.): Praha – Prag 1900–1945. Literaturstadt zweier Sprachen. Passau 2010, 63–88. Ders.: Prague Funerals. How Czech National Symbols Conquered and Defended Public Space. In: Buckler, Julie/Johnson, Emily D. (Hg.): Rites of Place. Public Commemoration in Russia and Eastern Europe. Evanston/Illinois 2013, 35–57. 51 Siehe Kapitel 2.1.

20  Einleitung Projekt des nation building verpflichteten Akteuren und kirchlichen Vertretern, denen vor allem die pastorale Unterweisung des Kirchenvolkes ein An­ liegen war. Nicht nur die Gestaltung großer Begräbnisse war ein wichtiges städtisches Thema, sondern auch die Reform des alltäglichen Bestattungswesens, welches einerseits den Bedürfnissen einer wachsenden Stadtbevölkerung genügen und andererseits deren Gesundheit garantieren musste. In der ehemaligen Hauptstadt Polens lebten zur Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 40 000 Menschen. Ihre Zahl sollte sich bis zur Jahrhundertwende mehr als verdoppeln. Krakau weist damit eine typische Größe für damalige Städte auf und ist als Untersuchungsgebiet überschaubar. Aufgrund der politischen Rahmenbedingungen, die Krakau in Folge der Teilungen Polens zu einer peripher gelegenen Provinzstadt des Habsburgerreiches haben werden lassen, können in Krakau Modernisierungstendenzen in einer entschleunigten Dynamik beobachtet werden. Krakau ist als Fallbeispiel gleichermaßen aufgrund seines individuellen Charakters als nationale Nekropole wie auch als Exemplum für die Analyse allgemeiner Prozesse interessant.

Religion in der Stadt Die Studie versteht sich auch als Beitrag zur Religions- und zur Stadtgeschichte. Die Frage nach Religion in der Stadt hat mit der Infragestellung der Säkularisierungsthese neue Impulse erhalten.52 Zuvor hatte zum einen die Gleich­ setzung von Urbanität, Modernität und Säkularität, zum anderen der empirisch registrierbare Rückgang von Kirchlichkeit, gemessen am Rückgang des Gottesdienstbesuches, der Taufen, der Osterkommunion und der christlichen Begräbnisse, das Bild der »säkularen« und »gottlosen« Stadt verfestigt. So diente der Zusammenhang von Urbanisierung, Religion und Umgang mit dem Tod dem Historiker Rudolf Schlögl dazu, nach Anzeichen für Religionsverlust und Säkularisierungstendenzen zu forschen. Solche weist er anhand von Quellen wie Totenzetteln, Testamenten sowie der Beschreibung von Bestattungsritualen nach.53 Als in den Geisteswissenschaften die These von der Säkularisierung als eines teleologischen, unmittelbar mit der Moderne verknüpften Prozesses in Frage gestellt wurde, sind auch solche Interpretationen in die Kritik geraten: Weder der Verlust einer bestimmten religiösen Formel noch der Wandel

52 Pionierarbeit leistete in dieser Hinsicht beispielsweise McLeod, Hugh (Hg.): European Religion in the Age of the Great Cities 1830–1930. London 1995. 53 Schlögl, Rudolf: Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt – Köln, Aachen, Münster 1700–1840. München 1995.

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von Jenseitsvorstellungen, so die Argumentation, seien zwangsweise mit einem Rückgang des Religiösen gleichzusetzen.54 Auch die Trias von Urbanität, Modernität und Säkularisierung wurde mit der Neudiskussion um das Verhältnis von Religion und Moderne einer Revision unterzogen. Gefragt wurde nun nach Anpassung und Formenwandel kirchlicher Organisationen, nach der Pluralisierung und Differenzierung des religiösen Lebens.55 Damit gerät nun auch in den Blick, wie religiöse Gemeinschaften mehr oder weniger erfolgreich auf die sich verändernden Bedingungen im 19. und 20. Jahrhundert reagiert und ihre Strukturen den Bedürfnissen der neuen Zeit angepasst haben.56 Anthony J. Steinhoff schließt aus seiner Studie über Protestantismus in Straßburg in den Jahren 1870 bis 1914 gar, dass die säkulare Stadt in das Reich moderner Legenden zu verweisen sei.57 Ihre nur bedingte Plausibilität erweist die Vorstellung von der gottlosen Stadt außerdem mit Blick auf Städte, die auch und gerade im 19. Jahrhundert als ausgesprochen fromm galten. Ein Beispiel dafür ist Basel, zu dem in den letzten Jahren nicht allein lokalhistorisch motivierte Studien erschienen sind, die sich mit der ausgeprägten pietistischen Frömmigkeit beschäftigen. Sie spielte für das Stadtbürgertum eine wichtige Rolle und verlieh der Stadt das Prädikat »fromm«.58 Als eine solche »fromme« Stadt lässt sich auch das Krakau des 19. Jahrhunderts beschreiben. Der jüdischen Gemeinde galt es als »polnisches Jerusalem«, den Katholiken als »polnisches Rom«. 54 Einwände beispielsweise formuliert von Ziemann, Benjamin: Sozialgeschichte der Religion. Frankfurt am Main 2009, hier 49 f. 55 McLeod, Hugh: Introduction. In: Ders.: European Religion, 1–40. Steinhoff, Anthony J.: Religious Communities and the Modern City. Reflections from German Europe. In: Geyer, Michael/Hölscher, Lucian (Hg.): Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland. Göttingen 2006, 115–143, hier 116 f. Ähnlich argumentiert Liedhegener, Antonius: Großstadt ohne Gott? Neuere Forschungsergebnisse zu Religion, Kirchen und Urbanisierung in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Kuhn, Thomas K. (Hg.): Das »Fromme Basel«. Religion in einer Stadt des 19. Jahrhunderts. Basel 2002, 13–34. 56 Freitag, Werner (Hg.): Die Pfarre in der Stadt. Siedlungskern, Bürgerkirche, urbanes Zentrum. Köln 2011. Der Band geht auf eine Tagung des Instituts für Stadtgeschichte an der Universität Münster 2008 zurück. Die Beiträge eint die These, dass die Pfarre »notwendige Bedingung für Stadtwerdung und Urbanität« gewesen sei und dass dies nicht nur für die vormoderne Stadt, sondern auch für die Stadt der Moderne gelte. Denn im 19. und frühen 20. Jahrhundert hätten Pfarreien auf die neuen Bedingungen und Bedürfnisse der modernen Stadt reagiert und die Pfarrkirchen um weitere Gebäude wie Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und karitative Einrichtungen und damit um weitere Funktionen ergänzt. 57 Steinhoff, Anthony J.: The Gods of the City. Protestantism and Religious Culture in Strasbourg 1870–1914. Leiden 2008, hier 435. 58 Kuhn: Das »Fromme Basel«. Janner, Sara: Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust. Zur Funktion von Religion und Kirchlichkeit in Politik und Selbstverständnis des konservativen alten Bürgertums im Basel des 19. Jahrhunderts. Basel 2012.

22  Einleitung Mit der Kulturgeschichte des Todes hat die Geschichte Krakaus gemein, dass sie bisher meistens entlang konfessioneller und nationaler Linien erzählt wird. Konkret heißt das, dass sich eine Darstellung von Krakaus Geschichte oft entweder auf das jüdische Krakau oder aber das katholische, welches zugleich zumeist das polnische Krakau ist, fokussiert.59 Diese bislang vorherrschenden Darstellungsweisen stehen inzwischen in einem gewissen Kontrast zum Marketing der Stadt. In der Selbstrepräsentation und in der Touristik wird das jüdische Element in der Stadthistorie wie im Stadtbild inzwischen wieder stärker betont: Im ehemaligen jüdischen Stadtteil Kazimierz, welcher heute ein beliebtes Szeneviertel ist, wird die jüdische Vergangenheit zunehmend sichtbar und erlebbar gemacht, wobei teilweise eine jüdische Geschichte und Gegenwart evoziert wird, die sich in Anlehnung an Ruth Ellen Gruber als virtually Jewish charakterisieren lässt.60 In der lokalen Geschichtsschreibung wie Geschichtsdarstellung erscheinen Juden zunehmend als Krakauer.61 In aktuellen Ausstellungen wie im neuesten Krakauer Museum »Podziema Rynku«, welches sich unter dem Marktplatz befindet, werden jüdische Lebensläufe als beispielhaft für Krakauer Schicksale präsentiert.62 Dennoch fehlt in der historiographischen Beschäftigung mit Krakaus Vergangenheit oftmals ein integraler Blick, der das jüdische Leben in Krakau ebenso berücksichtigt wie das Leben der Christen in der Stadt. Neben der häufig einseitigen konfessionellen Sichtweise ist die Geschichtsschreibung Krakaus meist durch einen nationalen Topos geprägt. Warschau gilt als das moderne, schnelllebige, wirtschaftliche und politische Zentrum des Landes, Krakau, im Süden des Landes gelegen, als Polens kulturelle Hauptstadt, als symbolträchtige und historisch bedeutsame Stadt. Die Dignität Krakaus prägt die Historiographie in zwei Richtungen: Zum einen eignet sich die Stadt besonders, um Prozesse des nation building und der damit verbundenen Beschwörung, Stiftung respektive Erfindung von Traditionen zu beobachten 59 Ausnahmen bestätigen hier eher die Regel. Als Beispiel sei an dieser Stelle das Buch W »małym Wiedniu nad Wisłą«. Życie codzienne Krakowa w okresie autonomii galicyjskiej 1867–1918 aus der Feder von Bernadeta Wilk zitiert. Sie beschäftigt sich darin mit dem Alltagsleben im Krakau des 19. Jahrhunderts. Wie es bei einem solchen Themenzuschnitt naheliegt, erwähnt sie auch die in Krakau lebenden Juden, allerdings bleibt es bei einer unspezifischen Erwähnung, die sich auf allgemein im Judentum gefeierte Feste im Jahreskreis beschränkt. Wilk, Bernadeta: W »małym Wiedniu nad Wisłą«. Życie codzienne Krakowa w okresie autonomii galicyjskiej 1867–1918. Kraków 2008, hier 201–204. 60 Gruber, Ruth Ellen: Virtually Jewish. Reinventing Jewish Culture in Europe. Berkeley/ California u. a. 2002. 61 Siehe Niezabitowski, Michał (Hg.): Krakowianie. Wybitni Żydzi Krakowscy X ­ IV–XX w. Kraków 2006. 62 So wird in dem Museum das Leben der Helena Rubinstein (1870–1965), die den jüdischen Stadtteil Kazimierz verließ und erst nach Australien und dann in die USA auswanderte, wo sie ein Kosmetikimperium errichtete, vorgestellt.

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und zu analysieren.63 Zum anderen sind historiographische Arbeiten zu Krakau geprägt von der Meistererzählung vom geteilten Polen, welches trotz der Teilungen seine Nationalität bewahrt und durch das 19.  Jahrhundert getragen und verteidigt habe, bis es schließlich mit dem Ende des Ersten Weltkrieges die Staatlichkeit erlangte.64 Auch in Arbeiten über die Krakauer Alltagsgeschichte scheint dieses Narrativ durch.65 Krakau kommt dabei die Rolle eines »polnischen Piemonts« zu, in dem sich das nationale Bewusstsein besonders gehalten und artikuliert habe. Ein Grund dafür ist, dass Krakau seit der »Galizischen Autonomie« als liberale Insel im geteilten Polen galt, wo sich das Polnische als Amts- und Unterrichtssprache sowie als nationales Pathos entfalten konnte  – anders als in den russischen und preußischen Teilungsgebieten. Als weitere Gründe werden Krakaus historische Dignität sowie die Monumente polnischer Geschichte ins Feld geführt. Das nationale Narrativ prägt auch Arbeiten über den neuen Friedhof in Krakau, der in hohem Maß als »nationale« Nekropole beschrieben wird. Selbst ein geographischer Überblick über die Friedhöfe Krakaus begründet das Interesse für den Untersuchungsgegenstand mit ihrer nationalen Bedeutung.66 Aspekte der Urbanisierung finden hingegen in Krakaus Historiographie nachrangig Beachtung. Eher sozialhistorisch orientierte Arbeiten sind vor allem in der Zeit der Volksrepublik verfasst worden.67 Insgesamt sind sozial- und wirtschaftshistorische Arbeiten bislang in der Unterzahl, Desiderate stellen außerdem Arbeiten zur Ideen- sowie zur Frömmigkeitsgeschichte dar.68 Zur Kirchengeschichte liegen verschiedene Studien vor.69 Zur Historiographie des jüdischen Krakaus in seinen unterschiedlichen Aspekten haben sowohl in- als 63 Binder: Kirche und nationale Festkultur. Kozińska-Witt: Zeremonielle Landschaften. 64 Siehe beispielsweise Ziejka, Franciszek: Serce Polski. Szkice Krakowskie. Kraków 2010. Die mit Krakau oftmals schnell assoziierten nationalen Topoi unterzieht Simon Hadler einer kritischen Revision. Siehe Hadler, Simon: Von sprechenden Steinen. Die Mythologisierung des urbanen Raumes in Krakau. In: Doktoratskolleg Galizien (Hg.): Galizien. Fragmente eines diskursiven Raumes. Innsbruck 2009, 159–169. 65 Siehe beispielsweise Wilk: W »małym Wiedniu«. 66 So beispielsweise in Więcek, Anna/Gotfryd, Mariusz: Cmentarze Krakowa. Kraków 2004, hier 23.  Der Friedhof wird hier als dritte wichtige nationale Nekropole in Krakau vorgestellt. 67 Homola, Irena: »Kwiat Spółczeństwa…«. Struktura społeczna i zarys położenia inte­ ligencji krakowskiej w latach 1860–1914. Kraków 1984. Demel, Juliusz: Stosunki gospodarze i społeczne Krakowa w latach 1846–1853. Kraków 1951. Ders.: Stosunki gospodarcze i społeczne Krakowa w latach 1853–1866. Wrocław, Kraków 1958. 68 Chwalba, Andrzej: Kraków w historiografii lat 1918–2004. In: Małecki, Jan M. (Hg.): Historiografia Krakowa i jej twórcy. Kraków 2005, 73–80. 69 So verfügen die meisten Ordensgemeinschaften in Krakau über eine eigene Mono­ graphie, bekannten lokalen Geistlichen wurden ebenso Biographien gewidmet. Die Geschichte der Diözese im Überblick referiert Przybyszewski, Bolesław: Zarys dziejów diecezji krakowskiej do roku 1994. Kraków 2000.

24  Einleitung auch ausländische Historiker beigetragen.70 Relativ zahlreich sind die Arbeiten zur Kunst- und Architekturgeschichte der Stadt.71 Im vergangenen Jahrzehnt sind Arbeiten erschienen, die Krakaus ewiges Image als geistige Hauptstadt einer kritischen Überprüfung unterzogen haben. Dazu gehört die Arbeit von Hanna Kozińska-Witt über Krakau in Warschaus langem Schatten, die Krakaus Alleinstellungsmerkmal schon dadurch relativiert, dass sie die Stadt in Bezug zu Warschau setzt und neben der Krakauer Ver­waltung auch das Konkurrenzverhältnis der beiden Städte beschreibt.72 Krakaus Image als vornehmlich national konnotierte Stadt stellt die Arbeit von Nathaniel D. Wood in Frage, der ausgehend von boulevardesken Krakauer Zeitungen, die zu Beginn des 19.  Jahrhunderts erschienen sind, untersucht, wie diese dazu beitrugen, ein urbanes Lebensgefühl und damit eine städtische Identität zu etablieren.73 Insofern stellt sich die vorliegende Untersuchung der Aufgabe, die sym­ bolüberladene Stadt nicht nur als Symbol zu lesen. Die Studie ist in erster Linie eine Analyse des Umgangs mit dem Tod in Krakau, aber in zweiter Linie auch eine Untersuchung über Krakau selbst, die die bisherige populärwissenschaftliche sowie geschichtswissenschaftliche Wahrnehmung schon dadurch erweitert und modifiziert, dass sie sich der Alltagsgeschichte der Stadt zuwendet. In dieser Studie soll es daher auch darum gehen, ausgehend vom Umgang mit dem Tod und den Verstorbenen eine alternative Stadtgeschichte zu erzählen – ein Ansatz, den auf andere Weise Monica Black mit ihrer Studie Death in Berlin bereits umgesetzt hat. Darin untersucht sie, wie Berliner unterschied 70 Einen guten Überblick zu aktuellen Forschungstendenzen bietet der Band aus der Reihe »Polin« zu Krakau: Galas, Michał (Hg.): Jews in Kraków. Oxford u. a. 2011. 71 Hier haben sich vor allem drei Kunsthistoriker hervorgetan: Jacek Purchla, Michał Rożek und Wojciech Bałus. Als Beispiele seien hier Werke zum 19.  Jahrhundert genannt: Bałus, Wojciech: Krakau zwischen Traditionen und Wegen in die Moderne. Zur Geschichte der Architektur und der öffentlichen Grünanlagen im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2003. Ders.: Krakauer Kirchenbaukunst im 19. Jahrhundert. In: Kowalska, Zofia/Zychowicz, Juliusz (Hg.): Die sakrale Architektur Krakaus vom vorromanischen Beginn bis zur heutigen Zeit. Wien 1993, 105–132. Purchla, Jacek: Das bürgerliche Wohnhaus in Krakau während des 19. Jahrhunderts. Raum, Stil, Architektur. In: Haas, Hanns/Steckl, Hannes (Hg.): Bürgerliche Selbstdarstellung. Wien 1995, 71–84. Ders.: Krakau unter österreichischer Herrschaft 1846–1918. Faktoren seiner Entwicklung, Wien 1993. Ders.: Wien  – Krakau im 19.  Jahrhundert. Zwei Studien über die österreichisch-polnischen Beziehungen in den Jahren 1866–1914. Wien 1988. Rożek, Michał: Panteon Narodowy na Skałce. Kraków 1987, Ders.: Wawel i Skałka. Panteony Polskie. Wrocław 1995. 72 Kozińska-Witt, Hanna: Krakau in Warschaus langem Schatten. Konkurrenzkämpfe in der polnischen Städtelandschaft 1900–1939. Stuttgart 2008. 73 Wood, Nathaniel D.: Becoming Metropolitan. Urban Selfhood and the Making of­ Modern Cracow. DeKalb/Illinois  2010. Ders.: Urban Self-Identification in East Central Europe before the Great War: The Case of Cracow. In: East Central Europa 33/1–2 (2006) 9–29.

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licher Konfessionen im 20. Jahrhundert in unterschiedlichen politischen Kontexten den Tod wahrgenommen haben und mit ihm umgegangen sind.74 Die Geschichte des Todes selbst hat seit der Etablierung des Themas eine reiche Zuwendung gefunden, die hier nur kurz in Auszügen wiedergegeben werden soll. Die Forschung der französischen Annales-Schule mit ihrem Interesse an Phänomenen der longue durée und der Geschichte von Mentalitäten trug dazu bei, das Thema als historischen Forschungsgegenstand populär werden zu lassen. Es entstanden viele weitere Studien über die Geschichte des Todes, die sich der Vielfalt des Themas annahmen. So liegen Arbeiten über Jenseitsvorstellungen,75 Lokal- und Regionalstudien,76 Medizingeschichte,77 sozialhistorische Arbeiten78 sowie Arbeiten über die Entwicklung des Friedhofswesens vor.79 Als spezifische Orte des Todes sind Friedhöfe ein beliebter Ansatzpunkt, um den Umgang der Menschen mit Tod, Sterben und Trauer zu erforschen. Als Untersuchungsgegenstand von Historikern waren sie bereits vor der Popularisierung des Themas Tod durch die französischen Mentalitätshistoriker interessant.80 Für Archäologen etwa sind Grabfunde oftmals eine der wenigen Quellen, die ihnen überhaupt zur Verfügung stehen, um vergangene Kulturen unter 74 Black, Monica: Death in Berlin. From Weimar to Divided Germany. Washington D. C., Cambridge 2010. 75 Le Goff, Jacques: Die Geburt des Fegefeuers. Stuttgart 1984. Bylina, Stanisław: Człowiek i zaświaty. Wizje kar pośmiertnych w Polsce średniowiecznej. Warszawa 1992. 76 Als Beispiele seien genannt: Düselder, Heike: Der Tod in Oldenburg. Sozial- und kulturgeschichtliche Untersuchungen zu Lebenswelten im 17.  und 18.  Jahrhundert. Hannover 1999. Happe, Barbara: Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870. Tübingen 1991. Harding, Vanessa: The Dead and the Living in Paris and London 1500–1670. Cambridge 2002. Rödlinger, Christine: Der verwaltete Tod. Eine Entwicklungsgeschichte des Münchner Bestattungswesens. München 1996. Schepper-Lambers, Friederike: Beerdigungen und Friedhöfe im 19. Jahrhundert in Münster. Münster 1992. ZihlmannMärki, Patricia: Gott gebe das wir das liebe Engelein mit Freüden wieder sehen mögen. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung des Todes in Basel 1750–1850. Zürich 2010. 77 Wimmer, Johannes: Gesundheit, Krankheit und Tod im Zeitalter der Aufklärung. Fallstudien aus den habsburgischen Erbländern. Wien 1991. 78 Evans: Tod in Hamburg. Haverkamp, Michael: »… Herrscht hier seit heute die Cholera«. Lebensverhältnisse, Krankheit und Tod. Sozialhygienische Probleme der städtischen Daseinsvorsorge im 19. Jahrhundert am Beispiel der Stadt Osnabrück. Osnabrück 1996. 79 Boehlke, Hans-Kurt: Vom Kirchhof zum Friedhof. Wandlungsprozesse zwischen 1750 und 1850. Kassel 1984. Fischer, Norbert/Herzog, Markwart/Dracklé, Dorle (Hg.): Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden. Stuttgart 2005. Fischer, Norbert (Hg.): Raum für Tote. Die Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung. Braunschweig 2003. Illi, Martin: Wohin die Toten gingen. Begräbnis und Kirchhof in der vorindustriellen Stadt. Zürich 1992. Sörries, Reiner: Ruhe Sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs. Kevelaer 2009. 80 Derwein, Herbert: Geschichte des christlichen Friedhofs in Deutschland. Frankfurt am Main 1931.

26  Einleitung suchen zu können. Aber auch in der Geschichtswissenschaft entstehen Arbeiten zu Friedhofsanlagen, einige aus lokalhistorischem Interesse heraus,81 andere aus kunsthistorischem,82 andere wiederum aus sozialhistorischem Interesse oder einfach aus Faszination für den Ort und seine künstlerische Ausgestaltung.83 In der polnischen Historiographie war der Umgang mit dem Tod in der Zeit des Spätmittelalters und des Barocks Untersuchungsgegenstand kulturhistorischer Forschungen.84 Der Tod im 19. Jahrhundert hingegen ist – abgesehen von regionalgeschichtlichen Untersuchungen zu Friedhöfen – ausschließlich in der Literaturwissenschaft behandelt worden.85

Quellenbasis und Aufbau der Arbeit Wenngleich eine Kulturgeschichte des Todes für die polnischen Gebiete im 19. Jahr­hundert ein Desiderat darstellt, so kann sich die vorliegende Studie auf lokalhistorische Arbeiten stützen, die die Krakauer Nekropolen beschreiben. Aus der Feder der Lokalhistorikerin Karolina Grodziska stammen verschiedene Abhandlungen zum allgemeinen Krakauer Friedhof, auch Rako­wicki-Friedhof genannt.86 81 Aufgrund der Fülle von lokalhistorischen Darstellungen zu Friedhöfen seien an dieser Stelle nur die Beispiele für Krakau genannt: Grodziska-Ożóg, Karolina: Cmentarz Rakowicki w  Krakowie 1803–1939. 2.  Aufl. Kraków  1987. Grodziska, Karolina/Witosławski, Piotr: Artium Decor. Cmentarz Rakowicki w  tradycji Akademii Sztuk Pięknych Im. Jana Matejki w  Krakowie. Kraków  2006. Krawczuk, Aleksander (Hg.): Cmentarz Rakowicki w  Krakowie. Warszawa 1988. Małecki, Jan M. (Hg.): 200 lat Cmentarza Rakowickiego.­ Materiały sesji naukowej odbytej 12 kwietnia 2003 roku. Kraków  2005. Więcek/Gotfryd: Cmentarze Krakowa. 82 Beispielsweise Haubold, Barbara: Die Grabdenkmäler des Wiener Zentralfriedhofs von 1874 bis 1918. Münster 1990. 83 Beispielsweise Ohlbaum, Isolde: Denn alle Lust will Ewigkeit. Erotische Skulpturen auf europäischen Friedhöfen. München 2000. Dickenberger, Udo: Liebe, Geist, Unendlichkeit. Die Inschriften des Stuttgarter Hoppenlau-Friedhofs und die poetische Kultur um 1800. Hildesheim 1990. 84 Bogucka, Maria: Spectacles of Life. Birth  – Marriage  – Death. Polish Customs in the 16th-18th Centuries. In: Acta Poloniae Historica 70 (1994) 29–48. Koutny, Aleksandra: Dancing with Death in Poland. In: Print Quarterly 22/1 (2005) 14–31. Rok, Bogdan: Człowiek wobec śmierci w kulturze staropolskiej. Wrocław 1995. Wiślicz, Tomasz: Peasant Funerals in Early Modern Poland. Acta Poloniae Historica 82 (2000) 49–80. Żerek-Kleszcz, Hanka: The Death of a Child In Old Polish Culture. In: Acta Poloniae Historica 79 (1999) 5–22. 85 Als Beispiele seien genannt: Paczoska, Ewa (Hg.): Śmierć w literaturze i kulturze drugiej połowy XIX wieku. Warszawa 2002. Ratuszna, Hanna: Wieczność w człowieku. O młodopol­ skiej świadomości śmierci w twórczości Stanisława Przybyszewskiego. Toruń 2005. 86 Grodziska-Ożóg: Cmentarz Rakowicki. Dies.: Zaduszne Ścieżki. Przewodnik po Cmentarzu Rakowickim. Kraków 2003. Dies.: Generalny – Powszechny – Krakowski. Cmentarz Rakowicki w świadomości krakowian w latach 1803–2003. In: Małecki: 200 lat cmentarza Rakowickiego 7–49. Dies./Witosławski Artium Decor.

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Grodziska bietet darin eine Darstellung der Geschichte des Friedhofs, angefangen von der Anlage bis zur Nutzung in der Gegenwart. Die Autorin berührt Aspekte wie die Verwaltung des Friedhofs, Sitten und Gebräuche und mit dem Tod beschäftigte Berufsgruppen. Hinweise auf die Trauerkultur dienen dabei der Illustration, sind aber nicht selbst Analysegegenstand. Insgesamt sind die Arbeiten eher faktographisch als kulturhistorisch angelegt und richten sich primär an ein lokalhistorisch orientiertes Publikum. Ähnlich verhält es sich mit den verschiedenen Arbeiten des Krakauer Judaisten L ­ eszek Hońdo, der sowohl die Geschichte des alten wie des neuen jüdischen Friedhofs geschrieben und dabei sowohl hebräische wie polnische als auch jiddische Grabinschriften ausgewertet hat. Die vorliegende Studie baut auf den Arbeiten der beiden genannten Autoren auf, indem sie die Erkenntnisse zusammenführt, aber auch darüber hinausgeht, indem sie die lokalhistorische Perspektive verlässt und die Ereignisse in einen kulturhistorischen und europäischen Kontext stellt. Teilweise untersucht sie dabei mit einer anderen Fragestellung dieselben Quellen, etwa die Akten des Krakauer Magistrats und die Verordnungsbücher der Stadt Krakau sowie die Akten der Gemeindepfarrei, in deren Bereich der Friedhof lag, und die Krakauer Lokalpresse. Gleichzeitig geht meine Arbeit über den Quellenfundus der beiden Krakauer Kollegen hinaus, indem sie etwa (handschriftliche) deutschsprachige Quellen zum allgemeinen Krakauer Friedhof in die Analyse mit einbezieht und sich weiteren Quellen aus dem Krakauer Diözesanarchiv widmet. Die Arbeit untersucht zwar die Veränderungen im Bestattungs- und im Friedhofswesen im gesamten 19.  Jahrhundert, konzentriert sich aber aus verschiedenen Gründen auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der eine Grund dafür ist inhaltlicher Art: Nachdem es zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Verlegung der Begräbnisplätze zu einer wichtigen Zäsur gekommen war, gewann das Bestattungswesen gerade in der zweiten Jahrhunderthälfte eine besondere Dynamik, in der sich die Zahl der Akteure sowie ihrer Konflikte untereinander vergrößerte. Zum anderen liegt aufgrund der politischen Rahmenbedingungen in Krakau für die zweite Jahrhunderthälfte eine größere Zahl von Quellen vor. Mit der Selbstverwaltung Krakaus sind die behördlichen Quellen zudem vereinheitlicht. Dabei wurden vor allem Quellen herangezogen, die Aufschluss über Aushandlungsprozesse zwischen religiösen und säkularen Akteuren geben, sowie Material, welches Einblick in die öffentlichen Diskussionen der Zeit gewährt. Untersucht wurden beispielsweise Akten des Magistrats Krakau, der das Bestattungswesen regulierte. Zumeist befinden sich die Akten im Staatsarchiv in Krakau (Archiwum Państwowe w Krakowie, mittlerweile umbenannt in »Nationalarchiv«, Archiwum narodowe), teilweise sind auch Akten, die die jüdische Gemeinde in Krakau betreffen, im Jüdischen Historischen Institut (Żydowski Instytut Historyczny) in Warschau zu finden. Ebenfalls analysiert

28  Einleitung wurden Verordnungsbücher,87 die sich in der Krakauer Jagiellonenbibliothek befinden. Viele polnische Publikationsorgane sind mittlerweile dank eines umfassenden Digitalisierungsprojekts online zugänglich.88 Für die sozialhistorischen Aspekte wurden außerdem zeitgenössische Statistikbücher sowie medizinische Publikationen herangezogen. Zeitgenössische Publikationen finden sich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien sowie in der Bibliothek des Jüdischen Museums in Wien. In den Akten des Österreichischen Staatsarchivs habe ich hingegen keine Hinweise auf das Krakauer Bestattungswesen gefunden.89 Über kircheninterne Diskussionen und Aushandlungen zwischen kirchlichen und nicht kirchlichen Stellen geben der Tätigkeitsbericht des bischöflichen Konsistoriums90 sowie die Akten der Pfarrei St. Nikolaus,91 in deren Territorium der Friedhof liegt, Auskunft. Normative Texte zum Umgang mit dem Friedhof finden sich im Mitteilungsblatt der Diözese sowie in zeitgenössischen Pastoraltheologien. Eine wichtige Quelle stellen Pressepublikationen in und außerhalb Krakaus dar, die sich mit dem Bestattungswesen in Krakau im weitesten Sinne beschäftigten. Die Presseartikel sind unter zwei Gesichtspunkten interessant: Zum einen helfen sie wegen ihrer Chronistenpflicht, Ereignisse zu rekonstruieren, zum anderen sind sie wegen ihres meinungsbildenden Charakters für das Verständnis der zeitgenössischen Diskurse wichtig. Als Ergänzung werden zudem gedruckte wie teilweise auch ungedruckte Memoiren zur Analyse herangezogen. An dieser Stelle seien ein paar Worte zur Zitierweise erlaubt: Von der heutigen Rechtschreibung abweichende Schreibweisen im Polnischen wie im Deutschen werden bei Zitaten wie auch bei Quellenangaben beibehalten. Für ein besseres Verständnis findet sich bei polnischen Titeln bei der Erstnennung eine Übersetzung ins Deutsche, auf die bei wiederholter Nennung verzichtet wird. Wo bei archivalischen Quellen ein Titel der einzelnen Dokumente fehlt, wird das Dokument in der Fußnote so genau wie möglich beschrieben. Bei der Nennung von Ortschaften wie Krakau (Kraków) und Lemberg (Lwów, L’viv) wird die damals gebräuchliche deutsche Schreibweise verwendet. Heiligennamen werden in deutscher Schreibweise verwendet, Namen polnischer Herrscher hingegen in der polnischen Variante. Auch ukrainische Namen werden – wie in den b ­ enutzten Quellen  – in der polnischen Variante verwendet. Hin 87 Dziennik Rozporządzeń dla Stoł. Król. Miasta Krakowa 1880–1918. 88 Eine Suchmaschine für alle polnischen digitalen Bibliotheken stellt die Federacja Bibliotek Narodowa dar. URL: http://fbc.pionier.net.pl/owoc (zuletzt am 8.10.2013). 89 Dabei wurden folgende Aktenbestände eingesehen: AVA Kultus  – NK Kath Akten 136.1 – Signatur 33: Bistum Krakau 1849–1917. NK Kath Akten 631.1 Krakau M-N – St. Michael, St. Markus, St. Maria (St. Marienkirche), St. Nikolaus, St. Norbert 1850–1918. 90 Notificationes e curia principis episcopi Cracoviensis. 91 Archiwum Kurii Metropolitanej w Krakowie, Kraków par. św. Mikołaja, APA 144.

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sichtlich der Namen der Akteure aus Krakaus jüdischer Gemeinde findet sich teilweise eine Vielzahl möglicher Schreibweisen. Auch die Akteure selbst haben verschiedene Schreibweisen benutzt. Hier wird in der Arbeit eine häufig anzutreffende Schreibweise verwendet. Zu den Namen ist noch anzumerken, dass es damals in Zeitungsartikeln oft nicht üblich war, Vornamen der genannten Akteure anzugeben. Wo möglich, ist der Vorname mit Hilfe von zeit­ genössischen Schematismen oder aktuellen Lexika ergänzt worden. Übersetzungen – sei es von Zitaten oder Literatur- und Quellentiteln – stammen von mir. Die Titel polnischer Periodika werden mit ihrem polnischen Genus verwendet, so wird beispielsweise von »dem« Czas (»Zeit«) und nicht von »der« Czas die Rede sein. Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Teil ist dem Tod im Alltag gewidmet, der zweite dem außeralltäglichen Tod, nämlich dem Tod in der Krakauer Festkultur. Ein einleitendes Kapitel über Leben und Sterben in Krakau im 19. Jahrhundert soll einen Einblick in die räumliche und zeitliche Spezifik des Fallbeispiels geben sowie sozialhistorische Eckdaten benennen (Sterblichkeit, Lebenserwartung, häufigste Todesursachen etc.), welche unabdingbar für eine mentalitätshistorische Beschäftigung mit der Geschichte des Todes sind. Anschließend wird die Verlegung der Friedhöfe aus bewohnten Gebieten mit ihren sozialen und religiösen Implikationen dargestellt. Danach wird dargelegt, warum die Jahrhundertmitte nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch für die Geschichte des Bestattungswesens eine wichtige Zäsur darstellt. Zum einen überzeugten mehrere Epidemien die Stadtbehörden von der Richtigkeit und Notwendigkeit, das Bestattungswesen stärker zu reglementieren und sanitärpolitische Forderungen über religiöses Brauchtum und Ritual zu stellen. Zum anderen brachten die 1860er Jahre Krakau die Selbstverwaltung und damit die Möglichkeit, öffentlich national konnotierte Festivitäten, ­darunter Beerdigungen, zu zelebrieren. Außerdem änderte sich die Rechtslage der Religionsgemeinschaften: Die Juden wurden als gleichberechtigte Staatsbürger in der Habsburgermonarchie anerkannt. Die katholische Kirche konnte sich im Jahr 1855 über ein restauratives Konkordat freuen, welches ihr – nach den Josephinischen Reformen – wieder einen größeren politischen und gesellschaftlichen Einfluss verschaffte. Dies sollte unter anderem in einer Konfessionalisierung des eigentlich allgemeinen Friedhofs seinen sichtbaren Niederschlag finden. Gleichzeitig gelang es der katholischen Kirche nicht, das Bestattungswesen als kirchlichen Tätigkeits- und Hoheitsbereich zu behaupten. Ein Grund dafür war die Genese von privatwirtschaftlichen Bestattungsunternehmen. Wie Stadt, Kirche und Unternehmen um symbolisches wie ökonomisches Kapital rangen, wird in dem ersten Teil ebenso behandelt werden wie das Bemühen der Stadtbehörden, den Friedhof immer mehr zu einem ästhetischen, ansehnlichen wie exklusiven Ort des Totengedenkens zu machen. Innerhalb der jüdischen Gemeinde brachten dieselben politischen Vorgaben andere Konflikte mit sich.

30  Einleitung Ein Grund dafür war der Umstand, dass gerade der Umgang mit dem Leichnam im Judentum genauen halachischen Vorschriften unterliegt, die nun im Konflikt mit den politischen Vorgaben lagen. Zugleich war auch innerhalb der jüdischen Gemeinde das Bestattungswesen umstritten: Hier standen sich liberale und orthodoxe Juden und ihre unterschiedlichen Vorstellungen gegenüber. Während sich der erste Teil dem Tod im Alltag widmet, beschäftigt sich der zweite Teil mit dem »außeralltäglichen Tod«. Unter diesem Titel werden in der Studie große Beisetzungen analysiert, die von Aushandlungsprozessen zwischen säkularen und religiösen Ansprüchen geprägt waren. Damit bleiben große Beisetzungsfeiern unberücksichtigt wie beispielsweise die der Schauspielerin­ Helena Modrzejewska im Jahr 1909, die zweifelsohne ein wichtiges Ereignis im städtischen Raum darstellte, aber von den genannten Aushandlungsprozessen nicht tangiert war. Analysiert werden dagegen drei Arten von Beisetzungen: 1. Große national konnotierte Beisetzungsfeiern mit dem Charakter eines Staatsbegräbnisses von polnischen »großen Männern« der Geschichte und Gegenwart, die an die Tradition der monarchischen Grablegung in Krakau anknüpften und zugleich eine invented tradition (Eric Hobsbawm) darstellten. Gefragt wird danach, warum sich gerade der Tod als Projektionsfläche für das nationale Anliegen anbot. Zudem analysiere ich die Auseinandersetzungen zwischen politischen und kirchlichen Akteuren, da nicht jeder, der sich im nationalen Sinne als »großer Mann« empfohlen hat, auch in der katholischen Perspektive einen Vorbildcharakter besaß. Besonders augenfällig wird die Divergenz bei der Beisetzung des seinerzeit populären Schriftstellers Józef Ignacy Kraszewski (1812–1887), der daher ein eigenes Kapitel 2.2. gewidmt ist. Während der kirchliche Einfluss im alltäglichen Bestattungswesen zwar geringer wurde, war zugleich das kirchliche Ritual in Krakau nach wie vor sehr gefragt, gerade, wenn es darum ging, die Massen für den polnischen Nationalismus zu gewinnen. 2. Da im Untersuchungszeitraum neben Religion und Nation auch das Imperium ein wichtiges Bezugssystem darstellte, befasst sich das Kapitel 2.3 mit der Beisetzung eines galizischen Landespolitikers, Mikołaj Zyblikiewicz (1823–1887), der als Figur deswegen interessant ist, weil er ruthenische Herkunft, polnischen Patriotismus und Loyalität zum Haus Habsburg in seiner Person vereinte. Entsprechend wurde seine Beisetzung nur einen Monat nach der des Schriftstellers Kraszewski zu einer Gelegenheit für die Krakauer Konservativen, ihre Loyalität zum Haus Habsburg zu demonstrieren, nachdem sie der Beisetzung Kraszewskis wegen seiner demokratischen und kirchenkritischen Einstellungen skeptisch bis ablehnend gegenüber gestanden hatten. Gleichzeitig besaß die Feier auch einen transkonfessionellen Charakter: Zyblikiewicz hatte dem griechisch-katholischen Ritus angehört und vor dem Hintergrund von Spannungen zwischen römisch-katholischen Hierarchen und griechisch-katholischen Geistlichen diente seine Beisetzung

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dem Hohen Klerus dazu, die Einheit der katholischen Kirche in beiderlei Riten sowie die des Kronlandes performativ zu bestätigen. 3. Dass die religiöse Einheit allerdings auch in Krakau, welches oft mit dem Beinamen »polnisches Rom« charakterisiert wurde, gefährdet war, zeigt die dritte Art von außeralltäglichen Beisetzungen, die in dem Kapitel 2.5. – »Tod als Skandal« – zusammengefasst werden: Hier werden Beisetzungen von in der Öffentlichkeit stehenden Personen behandelt, denen eine kirchliche Beisetzung verweigert wurde, weil sie entweder religiös deviant waren oder aber Suizid begangen hatten. Da diese Verstorbenen jedoch als Wissenschaftler oder Literaten ein hohes gesellschaftlichen Ansehen genossen hatten, organisierten demokratische Akteure priesterlose Beisetzungsfeiern, die in den Augen von kirchlichen Akteuren ein skandalöses Ärgernis darstellten.

1. Der Tod im städtischen Alltag – Krakau im 19. Jahrhundert als Fallbeispiel 1.1 Leben und Sterben im Krakau des 19. Jahrhunderts Überhaupt, nirgends lebte man so sehr in der Phantasie und so wenig in der Realität wie in Krakau. Hier war das Leben ein beständiger Traum, ein Zuschauen, eine imaginäre Teilnahme an Krönungsfeiern.1 Lemberg seems to represent the new spirit of today in Austrian P ­ oland; the hopeful sturdy feeling of  a hopeful sturdy middle-class whose watchwords may be Enterprise, Trade and Progress. Cracow, old, tired, and dispirited, speaks and thinks only of the ruinous past.2

Ob ein Wahlkrakauer wie der Mediziner, Übersetzer und Satiriker Tadeusz Boy-Żeleński (1874–1941) oder eine Durchreisende wie die Schriftstellerin Ménie Muriel Dowie (1867–1945): Beide beschreiben Krakau an der Wende zum 20.  Jahrhundert als eine Stadt, die aus der Zeit gefallen zu sein schien, deren Gegenwart trostlos war, deren Vergangenheit aber umso glanzvoller leuchtete, weswegen die Besinnung auf frühere Zeiten verlockender anmutete als das Leben im Hier und Jetzt. Wenn man der spitzen Feder von Boy-Żeleński folgt, wovon mag man in Krakau zur Zeit der Jahrhundertwende geträumt haben? Wahrscheinlich von der Vergangenheit, von den vielen Jahren, in denen Polens Könige im Königsschloss auf dem Wawel residierten, welches die Silhouette Krakaus und damit wahrscheinlich auch das Traumbild prägte, und wo die Monarchen gekrönt und begraben wurden. Vielleicht träumte man von der früheren Größe und der einstigen Machtfülle Polens, welches nun geteilt und auf keiner politischen Landkarte Europas mehr zu finden war. Die glanzvolle Vergangenheit als königliche Haupt- und Krönungsstadt war allerdings nicht nur im Traum präsent, sondern auch auf Krakaus Straßen, in denen mit großen Feierlichkeiten – zumeist Jubiläen oder Beisetzungen – vergangene Traditionen wieder belebt oder neu erfunden wurden. Die spöttische Zuschreibung, Krakau neige zu Festen und großen Beerdigungsumzügen,

1 Boy-Żeleński, Tadeusz: Erinnerungen an das Labyrinth. Krakau um die Jahrhundertwende. Leipzig/Weimar 1979, hier 11. 2 Dowie, Ménie Muriel: A Girl in the Karpathians. Leipzig 1891, hier 279.

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verfestigte sich zum Klischee, oder wie es abermals Boy-Żeleński ausdrückte: »[…] Krakau lebte […] von Begräbnis zu Begräbnis, von Umzug zu Umzug.«3 Wenn man aber in Krakau aus dem Traum erwachte, gerade einmal kein Fest feierte und sich für einen Augenblick der Realität zuwandte, dann erblickte man ein Krakau, das schon lange nicht mehr Krönungsstadt polnischer Könige war. An der Wende zum 20. Jahrhundert stellte Krakau eine an der Grenze des Habsburgerreiches gelegene Provinz- und Festungsstadt dar, nicht weit von der Grenze zu Preußen und Russland. Krakau lag damit am Knotenpunkt der drei Mächte, die Polen unter sich geteilt hatten. Für Österreich wurde Krakau so zu einem wichtigen strategischen geopolitischen Punkt. Daher fand man auf dem Wawel keinen Hofstaat vor wie mehr als 300 Jahre zuvor, sondern stattdessen einen österreichischen Militärstützpunkt. Der Wawel, einst Symbol für Polens Staatlichkeit und Machtfülle, war damit zum Zeugnis für Polens Machtverlust geworden. Für die in Krakau lebenden Polen mochte dieser Umstand die oft­ beschworene allgegenwärtige Trauer bestärkt haben. Doch Krakaus Abstieg zeigte sich nicht nur in der sinkenden politischen und zeremoniellen Bedeutung der einstigen Metropole. Der Stadt gelang lange Zeit weder wirtschaftlich noch städtebaulich der Schritt in die Moderne. Noch zur Jahrhundertwende bot Krakau den Anblick einer provinziellen Stadt, in der weder elektrisches Licht die Straßen und Häuser erleuchtete noch Wasser­ leitungen fließendes Wasser brachten. Eine tiefe Kluft zwischen Vorstellung und Realität prägte die Stadt: Einerseits nationaler Sehnsuchtsort und Projektionsfläche für nationale Aspirationen und »zeremonielle Landschaft«,4 andererseits österreichische Provinz- und Festungsstadt auf dem Weg zur Großstadtwerdung – zwischen diesen beiden Polen bewegte sich das urbane Leben in Krakau. Die bereits zitierte reisende Schriftstellerin Ménie Muriel Dowie, die Krakau Anfang der 1890er Jahre besuchte, sah wenige Zukunftsperspektiven für die alte Krönungsstadt: Cracow’s day was in the long ago, as a gay capital, and brilliant university town full of princes, of daring, of culture, of esprit. She has outlived her day, and can only mourn, over what has been and the times that she has seen; she may be always proud of her character, of the brave blood that has made scarlet her streets, but she can never be happy remodelled [sic] as an Austrian garrison town, and in the new Poland – the Poland whose foundation stones are laid in the hearts of her people, and that may yet be built some day – in that new Poland, there will be no place for aristocratic, highbred Cracow. [….] progress, which, though desirable, may be a vulgar thing would not suit her, and does not seem at home in her streets.5

3 Boy-Żeleński: Erinnerungen an das Labyrinth 188. 4 Kozińska-Witt: Zeremonielle Landschaften 97–110. 5 Dowie: A Girl in the Karpathians 281 f.

34  Der Tod im städtischen Alltag Wesentlich für die Wahrnehmung der Schriftstellerin war Krakaus politische Geschichte, die in der Lesart von Dowie als eine Geschichte des Niedergangs erscheint: von der einstigen Hauptstadt zu einer rückwärtsgewandten Provinzstadt, in der Trauer über vergangene Zeiten eine weit verbreitete Attitüde zu sein schien. Dass dabei der Heroen der polnischen Geschichte besonders gedacht wurde, wurde dadurch begünstigt, dass Krakau nominell eine sehr polnische Stadt war: In einer Befragung von 1880 gaben 91 Prozent der Einwohner Polnisch als Muttersprache an, 7,5 Prozent Deutsch und 1,5 Prozent weitere Sprachen.6 Dabei gilt es zu beachten, dass Jiddisch nicht zur Auswahl stand, und sich Krakaus Juden zwischen Deutsch und Polnisch entscheiden mussten. Angesichts der großen Zahl von Polnisch-Sprechenden entschied sich die Mehrheit der Juden offenkundig für Polnisch und nicht für das mit dem Jiddischen näher verwandte Deutsch. Auch die interne Kommunikation der Gemeinde verlief seit dem Jahr 1866 mehrheitlich in polnischer Sprache.7 Nach einer Zählung von 1910 waren 94 Prozent der Krakauer Polen, 3,41 Prozent Deutsche, 1,75 Prozent Tschechen, 0,43 Prozent Ukrainer und 0,41 Prozent verteilten sich auf andere nationale Zugehörigkeiten, wobei die Sprache als Kriterium zugrunde gelegt wurde.8 In religiöser Hinsicht war Krakau überwiegend römisch-katholisch und jüdisch. Zur römisch-katholischen Konfession zählten etwa 70 Prozent der Stadtbewohner, jüdischer Herkunft waren gut 30 Prozent. Protestanten und Orthodoxe stellten weniger als ein Prozent der Stadtbevölkerung dar.9 Das religiöse Leben der Stadt prägten daher die Katholiken als Mehrheit und die Juden als große Minderheit. Krakau war zugleich Sitz einer wichtigen polnischen römisch-katholischen Diözese und ein bedeutsames Zentrum des aschkenasischen Judentums. Im Folgenden soll nun zunächst ein Überblick über Krakaus politische Geschichte gegeben werden, woraus auch deutlich werden wird, warum Krakau sich als Ort für große polnisch-nationale Beisetzungen anbot. Krakaus Religionsgemeinschaften, die teils mit-, teils nebeneinander lebten und den öffentlichen Raum prägten, waren wichtige Akteure bei den großen Zeremonialfeiern der Stadt wie bei der Reform des Bestattungswesens. Sie sollen anschließend vorgestellt werden. Schließlich werden die sozialen Verhältnisse Krakaus skizziert, welche sowohl Anlass wie auch Katalysator für Veränderungen in der Sepulkralkultur darstellten und sich zudem auf die Mentalität der Stadtbewohner auswirkten. Wie Krakaus Haltung zum Tod im kulturellen Leben reflektiert und verfestigt wurde, ist im Abschnitt über Krakaus Künstlerszene dargestellt. 6 Zahlen nach Wilk: W »małym Wiedniu nad Wisłą« 26. 7 Żbikowski, Andrzej: Żydzi Krakowscy i ich gmina w latach 1869–1919. Warszawa 1994, hier 10. 8 Wilk: W »małym Wiedniu« 26. 9 Tambor, Jan: Trwanie życia ludzkiego w  Krakowie w  okresie r.  1881–1925. Kra­ków 1930, 8 f.

Leben und Sterben im Krakau des 19. Jahrhunderts 35

1.1.1 Krakau politisch Wichtige politische Zäsuren in der Geschichte der Stadt im langen 19. Jahrhundert stellten unzweifelhaft die Teilungen Polens und später die Politik der Teilungsmächte dar. Bis dahin war Krakau Krönungsstätte und Begräbnisplatz der polnischen Könige gewesen, auch wenn diese seit dem Jahr 1596 in Warschau residierten. Mit der ersten Teilung Polens im Jahr 1772, bei der Österreich den südöstlichen Teil des Landes annektierte, wurde Krakau zu einer Grenzstadt im dezimierten Polen. Mit der dritten Teilung im Jahr 1795, die Polen von der politischen Landkarte Europas verschwinden ließ, wurde Krakau Teil  des Habsburgerreiches. Die Habsburger schufen mit der ersten Teilung Polens ein neues Kronland: Galizien und Lodomerien, in dem die einstige Krönungsstadt Krakau nur einen sekundären Status erhielt. Administratives und politisches Zentrum wurde das ostgalizische Lemberg, Krakau wurde auf eine militärische Rolle als österreichische Festung reduziert. Schon der Name Galizien und Lodomerien implizierte den österreichischen Anspruch, nicht Usurpator, sondern legitimer Herrscher der Region zu sein: Galizien wurde als die latinisierte Form von Halytsch verwendet, welches als Fürstentum Halytsch-Wolodymyr im Mittelalter zur ungarischen Krone gehört hatte. Auch wenn das Gebiet des spätmittelalterlichen Fürstentums nur wenig mit dem des neuen Kronlandes übereinstimmte, diente den Habsburgern der Name als Legitimation für die Annexion, ebenso wie der Anspruch, dem vielfach als barbarisch beschriebenen Galizien die Segnungen einer aufgeklärten Herrschaft zu bringen.10 Um das neue Kronland den übrigen österreichischen Kronländern anzugleichen, sollte es modernisiert und germanisiert werden.11 Für Krakau bedeutete die Inkorporation in das Kronland Galizien neben der Einführung von Deutsch als Amtssprache die Umgestaltung des Stadtbildes nach den Interessen der neuen Machthaber, die die Stadt als Festungsstadt zu nutzen gedachten und dafür unter anderem die mittelalterlichen Stadtmauern niederrissen.12 Mit diesen praktischen Maßnahmen ging zugleich eine symbolische Neucodierung des städtischen Raumes einher. So wurde der Wawelhügel mit der Kathedrale und dem Königsschloss, Krakaus Stolz und Wahrzeichen, in eine Zitadelle der österreichischen Armee umgewandelt, was für den national gesinnten polnischen Zeitgenossen einer Profanierung gleichkommen musste. 10 Wolff, Larry: The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Political Culture. Stanford/California 2010. 11 Glassl, Horst: Das österreichische Einrichtungswerk in Galizien 1772–1790. Wies­ baden 1975. 12 Bieniarzówna, Janina/Małecki, Jan M.: Dzieje Krakowa. Kraków w latach 1796–1918. Kraków 1979, hier 9–15.

36  Der Tod im städtischen Alltag Krakaus Zugehörigkeit zur Habsburgermonarchie sollte allerdings schon bald unterbrochen worden, was den Polen in Krakau eine eingeschränkte Souve­ränität zurückbrachte. Den Hintergrund dafür boten abermals die Geschehnisse auf der internationalen politischen Bühne. Im Jahr 1809 verlor Österreich nach dem Österreichisch-Französischen Krieg Teile Galiziens, so auch Krakau, an das von Napoleon eingerichtete Herzogtum Warschau. Als 1815 der Wiener Kongress die Grenzen des nachnapoleonischen Europas festlegte, wurde das zwischen Russland, Preußen und dem Habsburgerreich gelegene Krakau samt seiner Umgebung zum Freistaat Krakau erklärt. Krakau war damit »Freie, Unabhängige und Neutrale Stadt« mit einer eigenen Verfassung unter der Schutzmacht der drei Teilungsmächte mit Polnisch als Amtssprache. Wirtschaftlich stellte das Gebiet eine Freihandelszone dar. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, die Krakau im Laufe des 19. Jahrhunderts zur »kulturellen Hauptstadt« Polens werden ließen. Die wiedergewonnene, wenn auch eingeschränkte Souveränität nutzte die Stadt unter anderem, um den Wawel wieder zu einer polnischen Begräbnisstätte zu machen und damit nach der österreichischen Inbesitznahme desselbigen diesen wieder als polnisch-national zu codieren. Gleichzeitig sollten sich bei diesen Unternehmungen die Grenzen der Krakauer Selbstverwaltung zeigen. Mit der relativen Unabhängigkeit entstand alsbald die Idee, den Wawel zum nationalen Pantheon zu erheben.13 Umgesetzt wurde die Idee mit der Beisetzung zweier polnischer Nationalhelden: der des 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig gefallenen Prinzen Józef Poniatowski (1763–1813) und ein Jahr später der des Aufstandshelden Tadeusz Kościuszko (1746–1817). Allerdings setzten die beiden Begräbnisse die Erlaubnis des Zaren Alexander  I. voraus,14 der sie, dem polnischen Selbstbestimmungsrecht gegenüber zunächst aufgeschlossenen, auch erteilte. Die beiden sehr unterschiedlichen Nationalhelden – der eine war Neffe des letzten polnischen Königs und hatte als Oberbefehlshaber in Napoleons Armee gedient, der andere hatte in Krakau eine Volkserhebung gegen die Teilungsmächte ausgerufen und Bauernsoldaten in seiner Truppe versammelt – waren die ersten, die neben den Königen und Königinnen auf dem Wawel bestattet wurden. Damit erweiterte sich der Charakter des Wawels als Begräbnisstätte um ein aristokratisches und ein volkstümliches Element – der Wawel war damit als Grablege nicht mehr rein monarchisch geprägt und konnte so als ein gesamtnationales Pantheon begriffen werden.15 Zuvor war die Zulassung allein von der monarchischen Würde abhängig gewesen, sodass etwa auch der zumeist 13 Grodziski, Stanisław: Nationalfeiertage und öffentliche Gedenktage Polens im 19. und 20. Jahrhundert. In: Brix, Emil (Hg.): Der Kampf um das Gedächtnis. Wien 1997, 204–215, hier 207. 14 Ziejka, Franciszek: Serce Polski. Szkice krakowskie. Kraków 2010, hier 48. 15 Kubicki, Paweł: Miasto w  sieci znaczeń. Kraków i  jego tożsamości. Kraków 2010, hier 89.

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negativ konnotierte August  II. (1670–1733), König von Polen und Kurfürst von Sachsen, hier seine letzte Ruhestätte fand. Nun hingegen wurde das persönliche Verdienst um die polnische Nation zum ausschlaggebenden Kriterium, um in der prestigereichsten Begräbnisstätte der Nation ruhen zu dürfen. Allerdings ließ die formelle Selbstverwaltung der Freien Stadt Krakau keine unbegrenzte Symbolpolitik zu. So sollte auch General Jan Henryk Dąbrowski (1755–1818), der in Napoleons Armee gedient hatte und an den noch heute in der polnischen Nationalhymne sowie am Pariser Triumphbogen erinnert wird, ebenfalls auf dem Wawel beigesetzt werden. Es blieb jedoch nur bei dem Gedankenspiel, weil Zar Alexander I. diesmal die Zustimmung verweigerte.16 Als Freie Stadt war Krakau nicht nur ein bevorzugter Ort für Symbol­politik, sondern auch ein wichtiger strategischer Punkt für politische Revolutionäre aus allen drei Teilungsgebieten. So wurde Krakau 1846 zum Schauplatz eines nationalen Aufstandes. In der Folge verlor die Stadt drei Jahrzehnte nach dem Wiener Kongress ihre eingeschränkte Souveränität wieder. Die Freie Republik Krakau wurde nach dem erfolglosen Krakauer Aufstand wieder ab­geschafft und Krakau erneut in das Habsburgerreich inkorporiert. Das Jahr 1846 gilt den Schreibern der Krakauer Stadtchronik allgemein als Unglücksjahr, nicht nur in politischer Hinsicht: Nach einem strengen Winter trat die Weichsel über die Ufer, was die Vernichtung der Getreideernte und damit eine Hungersnot zur Folge hatte. Viele Menschen starben an Unterernährung, andere an Typhus oder an der Cholera, die im selben Jahr ausbrach.17 Wenige Jahre später erschütterte eine weitere Katastrophe die Stadt: 1850 entzündete sich ein Brand in der Stadt, der einen großen Teil der Altstadt vernichtete. Ein Drittel der Gebäude im Zentrum fiel den Flammen zum Opfer. Der Krakauer Historiker Walerian Kalinka (1826–1886) beschrieb die Situation seiner Heimatstadt in drastischen Worten: Eine Totenstadt; wären da nicht die Kirchen mit ihrem Grabesgeläut, wären da nicht die Schornsteine, rauchend vom Morgen bis zum Abend, wäre da nicht der Morast auf den Straßen – ich würde denken, daß dies ein Friedhof in Konstantinopel ist.18

Zu der von Kalinka überlieferten Endzeitstimmung trug aber auch die neue politische Situation bei:19 Die Eingliederung in das Habsburgerimperium wirkte sich für die Stadt in mehrfacher Hinsicht negativ aus. Erstens brachte sie finanzielle und wirtschaftliche Verluste mit sich: Die österreichische Regierung 16 Ziejka: Serce Polski 48. 17 Demel: Stosunki w latach 1846–1853 16. 18 Zitiert nach Bałus: Wojciech: Krakau zwischen Traditionen und Wegen 12. 19 Kalinka war überzeugt, dass der Anschluss an Österreich für Krakau verhängnisvoll gewesen sei, was er in seinem 1853 publizierten Werk Galicjia i Kraków pod panowaniem austriackim nachzuweisen suchte; siehe dazu Purchla: Krakau unter österreichischer Herrschaft 41, Fußnote 2.

38  Der Tod im städtischen Alltag betrachtete einen Großteil der städtischen Einkommen nicht als Munizipialsondern als Staatseinkommen und zog diese folglich ein. 1851 wurde Krakau in das österreichische Steuersystem inkorporiert, was für die Krakauer Bürger eine höhere fiskalische Belastung bedeutete. Ebenfalls negativ auf die städtische Ökonomie wirkte sich aus, dass die Stadt den Status einer zollfreien Zone verlor und Teil des österreichischen Zollgebiets wurde, und dass Krakau 1847 nicht – wie lange erwartet – zum Knotenpunkt der aus Wien, Berlin und Warschau kommenden Eisenbahnlinien wurde. Zweitens verlor Krakau nach der Eingliederung auch in administrativer Hinsicht in den kommenden Jahren an Bedeutung: Die noch 1854 geschaffene Landesregierung für Westgalizien wurde 1860 wieder aufgelöst und das gesamte Gebiet dem Lemberger Statthalter unter­ stellt. Drittens verlor die Stadt ihre politische Eigenständigkeit: Der Stadtrat wurde 1853 aufgelöst und stattdessen ein Magistrat eingesetzt, dessen Mitglieder durch die staatlichen Autoritäten bestimmt wurden.20 Nachdem die Stadt durch Brand, Hungersnot und Epidemien in Mitleidenschaft gezogen worden war, brachte die endgültige Eingliederung in das Habsburgerreich den Verlust politischer Souveränität und wirtschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten mit sich. Krakau hörte damit einerseits auf, das letzte Refugium polnischer Staatlichkeit zu sein, als welches es in der Zeit der Krakauer Republik gesehen werden konnte; andererseits sollte sich die Zugehörigkeit zur Habsburgermonarchie wegen der dortigen Nationalitätenpolitik positiv auf Krakau auswirken. Es sollten aber vor allem die »außerökonomischen Faktoren«21 im Weiteren die urbane Entwicklung prägen. Während das am Rande ihres Imperiums gelegene Krakau den Österreichern erneut als Grenzfestung diente und der Wawel abermals zu einem Armeelager umgestaltet wurde, nahmen die polnischen Einwohner und die polnischen Nationalisten die Stadt zunehmend als »geistige Hauptstadt« des nur noch in der kollektiven Erinnerung existierenden Polens wahr. Dazu trugen zwei Faktoren bei: die historische Dignität der Stadt sowie die weitere Entwicklung in der Habsburgermonarchie, die den Polen in Galizien in den 1860er Jahren Freiheiten verschaffen sollte, wie sie die polnischen Untertanen im preußischen und russischen Teilungsgebiet nicht kannten. Hintergrund waren Diskussionen über die künftige konstitutionelle Entwicklung in der Habsburgermonarchie, die nach dem ÖsterreichischPreußischen Krieg an Intensität gewannen und in den Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn im Jahr 1867 mündeten. Der Umstand, dass nun Ungarn einen selbstständigen Staat mit eigener Regierung und Verwaltung besaß, hatte unter den Polen in Galizien die Hoffnung genährt, eine vergleichbare selbstständige Stellung zu erreichen. Doch die von galizischen Abgeordneten 1868 in Wien vorgelegte Galizische Resolution, in der der Wunsch nach einer 20 Purchla: Krakau unter österreichischer Herrschaft 20–26. 21 Ebd. 9.

Leben und Sterben im Krakau des 19. Jahrhunderts 39

verfassungsrechtlichen Sonderstellung ausgedrückt war, lehnte der österreichische Kaiser Franz Joseph ab.22 Konzessionen erhielt Galizien hingegen im Bereich von Sprache und Kultur: Polnisch wurde zur Behörden- und Unterrichtssprache. Zudem wurde das Amt eines Ministers ohne Portefeuille, der auch als Minister für Galizien galt, geschaffen. Aufgrund dieser Zugeständnisse wurde von Zeitgenossen wie auch später in der Historiographie oft von »Galizischer Autonomie« gesprochen, wobei der Terminus inzwischen sowohl als Epochenkennzeichnung für die Zeit von 1867 bis 1918 wie auch als Beschreibung einer politischen-rechtlichen Regelung gebraucht wird.23 Diese sogenannte Autonomie stellte vor allem eine polnische Autonomie dar, da die Regelungen das Polnische gegenüber dem Ukrainischen bevorzugten. Aus einer polnisch-nationalen Perspektive unterschied sich Galizien damit positiv vom russischen wie vom preußischen Teilungsgebiet, weil den Polen dort Privilegien eingeräumt wurden, wie sie die Polen in den anderen Gebieten nicht kannten. Für die Stadt Krakau war bedeutsam, dass ihr der galizische Landtag im Jahr 1866 die Selbstverwaltung gewährte, womit Krakau das Recht erhielt, eigene Statuten auszuarbeiten, sowie das Recht, den Stadtpräsidenten und den Stadtrat – bestehend aus 60 Abgeordneten – zu wählen. Wahlberechtigt waren nur wenige Männer: Es galt ein Zensuswahlrecht, das die Wahlberechtigten nach drei Kurien aufteilte. Die erste bestand aus denen, die hohe Einkommenssteuern zahlten, sowie aus Vertretern der Intelligenz und der sogenannten freien Berufe. In der zweiten Kurie fanden sich Eigentümer von Immobilien und in der dritten Besitzer von Industrie- und Handelsunternehmen.24 Insgesamt besaßen im Jahr 1866 vier Prozent der Bewohner der Stadt das aktive Wahlrecht.25 Wie nun mit den neuen kulturellen und politischen Freiheiten der polnischen Autonomie in Galizien umgegangen werden sollte, war unter Konser 22 Buszko, Józef: Die Galizische Autonomie und Wien zwischen 1869 und 1914. In: Varga, József (Hg.): Donauraum. Gestern, Heute, Morgen. Wien u. a. 1967, 81–91. 23 Binder, Harald: »Galizische Autonomie«. Ein streitbarer Begriff und seine Karriere. In: Fasora, Lukáš/Hanuš, Jiři/Malíř, Jiři (Hg.): Der Mährische Ausgleich von 1905. Möglichkeiten und Grenzen für einen nationalen Ausgleich in Mitteleuropa. Brno 2006, 239–265. Binder argumentiert darin, dass in der Historiographie oftmals ein falscher Kausalzusammenhang zwischen der sogenannten Galizischen Autonomie und der Galizischen Resolution angenommen werde, der deswegen falsch sei, weil die Zugeständnisse, die unter »Galizischer Autonomie« subsumiert werden, kaum mit den Forderungen der Resolution deckungsgleich waren. Zudem suggeriere der Begriff eine falsche Vorstellung von einer Einheitlichkeit des Zeitraums von 1867 bis 1918. Vor allem aber sei der Begriff eine »rhetorische Strategie der polnischen Eliten« gewesen, »die ihre nationalen Hegemonialansprüche hinter dem Kronland als staatstragender politischer Einheit versteckten« und damit ruthenischen Ansprüchen vorzubeugen suchten (258). 24 Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 225 f. 25 Michalik, Marian B.: Kronika Krakowa. Warszawa 1996, hier 208.

40  Der Tod im städtischen Alltag vativen und Liberalen umstritten. Die kronloyalen Konservativen waren mit den Zugeständnissen zufrieden. Weiterreichende Forderungen und politische Mobilisierung, die die Loyalität zum Hause Habsburg hätten in Frage stellen können, hielten sie für politisch falsch und kontraproduktiv. Die Sorge, dass die politische Lage den Demokraten nutzen und diese Stärkung der Demokraten zu einer Konfrontation mit Wien führen könnte, brachte einen Kreis junger Krakauer Konservativer – namentlich Józef Szujski (1835–1883), Stanisław Koźmian (1836–1894), Stanisław Tarnowski (1837–1917) und Ludwik Wodzicki (1834– 1894) – dazu, ein politisches Manifest zu schreiben. 1869 erschien in mehreren Teilen in der konservativen Monatsschrift »Przegląd Polski« (»Polnische Rundschau«) die sogenannte »Teka Stańczyka« (»Mappe des Stańczyks«). Als Sprachrohr für ihre Warnungen diente ihnen Stańczyk – daher der Name der Schrift –, ein Hofnarr, der für den König Sigismund den Älteren (1467–1548) mit Hilfe der Satire die politische Lage analysiert haben soll. Diesen ließen die jungen Krakauer Konservativen nun verkünden, dass die Abkehr vom sogenannten Insurrektionismus das Gebot der Stunde sei:26 Die polnischen Aufstände – gemeint waren der Novemberaufstand 1830/31 und der Januaraufstand 1863  – hätten sich als vergeblicher Versuch erwiesen, die politische Souveränität zu gewinnen. Solche und ähnliche Positionen vertrat außer Teka Stańczyka auch Krakaus erfolgreichste Tageszeitung, der seit 1848 erscheinende »Czas« (»Zeit«).27 Auch wenn die habsburgloyalen Konservativen das Meinungsbild in Krakau dominierten, so waren im Stadtrat und auf dem Zeitungsmarkt auch andere politische Strömungen vertreten. Die Liberalen wollten sich nicht mit dem Erreichten begnügen, sondern forderten eine grundsätzliche Föderalisierung der Monarchie, die Österreich in einen Bund von fünf Ländern (Österreich, Ungarn, Böhmen, Galizien, Kroatien) umwandeln sollte.28 Ein Verfechter dieser Position war der als der »rote Fürst« bekannte Fürst Adam Sapieha ­(1828–1903).29 Um die Vorherrschaft des konservativen Czas zu brechen, begründete er im Februar 1869 die Tageszeitung »Kraj« (»Land«). Der liberaldemokratisch, positi 26 Zu der politischen Philosophie der Stańczyken siehe Miklaszewski, Justyna: Filozofia polityczna Stańczyków. In: Fiołek, Krzysztof/Stala, Marian (Hg.): Kraków i Galicja wobec przemiań cywilizacyjnych. Kraków 2011, 119–138. Orton, Lawrence D.: The Stańczyk Portfolio and the Politics of Galician Loyalism. In: The Polish Review 27/1–2 (1982) 55–64. Pajowski, Philip: Dynamics of Galician Polish Conservatism in the Late Nineteenth Century. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43 (1995) 19–33. 27 Zum Pressewesen in Galizien allgemein siehe Binder, Harald: Das polnische Pressewesen. In: Rumpler, Helmut/Urbanitsch, Peter (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. 8: Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. 2. Teilband: Die Presse als Faktor der politischen Mobilisierung. Wien 2006, 2037–2090. 28 Buszko: Die Galizische Autonomie und Wien 84. 29 Heute bekannter als Adam Stanisław Sapieha ist sein Sohn Adam Stefan Sapieha (1867–1951), der als Krakauer Erzbischof und Kardinal die Diözese während des Zweiten Weltkrieges und zu Beginn der Volksrepublik Polen leitete.

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vistisch, freidenkerisch und antiklerikal ausgerichteten Zeitung stand Ludwik Gumplowicz (1838–1909) vor, der später Juraprofessor in Graz werden sollte und als einer der Begründer der Soziologie gilt.30 Für das Feuilleton schrieb unter anderem der Krakauer Schriftsteller Michał Bałucki (1837–1901), ein in Krakau beliebter Romancier, Komödienschreiber und wichtiger liberaler Intellektueller. Seinem Leben setzte er später mit einer Schusswaffe selbst ein Ende, was seine Beisetzung zu einem Skandalon werden ließ.31 Ein weiterer, nicht in Krakau, sondern in Dresden ansässiger populärer Schriftsteller, Józef Ignacy Kraszewski, der später in Krakau beigesetzt werden sollte,32 verfasste ebenfalls Beiträge für die Zeitung, der jedoch keine lange Lebensdauer beschieden war. Sie fand nur wenige Anhänger, ihr Gönner Adam Sapieha zog sich zurück. Schon 1874 wurde die Zeitung eingestellt.33 In der kurzen Zeit gelang es der Zeitung jedoch, den öffentlichen Raum zu prägen. So gab sie den erfolgreichen Anstoß für die feierliche Überführung der Gebeine des Nationalpoeten Adam Mickiewicz von Paris nach Krakau und setzte sich gegen den Willen der Krakauer Konservativen erfolgreich für eine feierliche Neubestattung von Kazimierz  III. (»dem Großen«) ein. Auch sollte das im Kraj vertretene Meinungsspektrum nach dessen Einstellen nicht verstummen: Ab 1882 fand es sich in der in Krakau erscheinenden »Nowa Reforma« (»Neue Reform«) wieder. Der Zeitung, die zum liberalen Leitblatt avancierte, gelang es, sich neben dem konservativen Czas dauerhaft als Tageszeitung zu etablieren. Das politische Spektrum Krakaus erweiterte sich gegen Ende des 19.  Jahrhunderts. Auch wenn Krakau wenig von der Industrialisierung berührt worden war, formierte sich zur Jahrhundertwende eine Arbeiterbewegung in der Stadt. So wurde im Jahr 1891 die Arbeitervereinigung »Siła« (»Kraft«) gegründet. Ab 1892 erschien in Krakau die zunächst von Jan Englisch herausgegebene Halbmonatsschrift »Naprzód« (»Vorwärts«). 1893 kam mit Ignacy Daszyński ein bekannter Anführer der galizischen Sozialdemokratie nach Krakau und übernahm die Chefredaktion der Zeitung. 1897 wurde er nach einer Wahlrechtsreform zum Abgeordneten des Parlamentes in Wien gewählt. Seit 1901 vertrat er zudem als erster Vertreter die PPSD (Polska Partia Socjalno-Demokratyczna Galicji i  Śląska Cieszyńskiego  – »Polnische Sozialdemokratische Partei Galiziens und des Teschener Schlesiens«) im Krakauer Stadtrat. Inzwischen erschien das Leitorgan Naprzód als Tageszeitung.34 Geringe Erfolge konnte die Nationaldemokratie in Krakau für sich verbuchen, die aus der im Jahr 1887 von Zygmunt Miłkowski alias Teodor Tomasz 30 Żebrowski, Bernhard: Ludwig Gumplowicz. Eine Bio-Bibliographie. Berlin 1926, hier 9. 31 Siehe dazu Kapitel 2.5. 32 Siehe dazu Kapitel 2.2. 33 Lechicki, Czesław: Krakowski »Kraj«. Wrocław 1975. 34 Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 332–334.

42  Der Tod im städtischen Alltag Jeż in Genf gegründeten »Liga Polski« (»Polnische Liga«) erwachsen war. Krakau war zwar seit 1902 Redaktionssitz des Presseorgans der Nationaldemokratie, »Przegląd Wszechpolski« (»Allpolnische Rundschau«), sowie zeitweilig Wohnort des Spiritus Rector der Bewegung, Roman Dmowski; doch konnte die Bewegung, die einen integralen Nationalismus vertrat, in Krakau nur wenige Anhänger für sich gewinnen.35 Auch das politische Spektrum der jüdischen Parteien erweiterte sich: In den 1890er Jahren erreichte die zionistische Bewegung Krakau. 1897 kam mit dem Ozjasz Thon ein wichtiger Theoretiker des Zionismus nach Krakau, der Rabbiner in der Krakauer Reformsynagoge wurde. Einen Weg jenseits vom jüdischen Nationalismus, totaler Assimilation und vollständiger Separation suchte Adolf Gross, der im Jahr 1900 die »Partei der unabhängigen Juden« (Partia Niezależnych Żydów) gründete, die, wenn auch liberaldemokratisch ausgerichtet, zeitwillig eine Allianz mit der PPSD einging.36 Mit der Diversifikation des Parteienspektrums und der Wahlrechtsreform 1907 verloren Krakaus Konservative ihre Vormachtstellung. Die Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen hatte in den Jahren zuvor die feierliche Ausgestaltung der Krakauer Beisetzungen geprägt. Ein öffentliches Forum für Debatten über die Auswahl der geeigneten Kandidaten und der passenden Trauergäste sowie die Ausgestaltung der Funeralfeiern stellten dabei die beiden Tageszeitungen Czas und Nowa Reforma dar. Der Umstand, dass Krakau überhaupt die politischen Freiheiten besaß, um große Festlichkeiten zu veranstalten, brachte der Stadt den Beinamen »polnisches Piemont« ein.

1.1.2 Das katholische Krakau Zu den vielen Epitheta, mit denen Krakau im 19. Jahrhundert versehen wurde und heute noch wird, gehörte auch das »polnische Rom«. Das Image Krakaus als ausgesprochen katholische Stadt beruhte unter anderem auf der realen Verteilung der Konfessionen in der Bevölkerung. Im Jahr 1869 etwa gehörten 70 Prozent der Stadtbewohner der römisch-katholischen Kirche an, andere christliche Konfessionen (Unierte, Orthodoxe, Evangelische)  machten zusammen gerade einmal ein halbes Prozent aus. Die übrigen 30 Prozent der Bevölkerung stellte die jüdische Gemeinde.37 35 Romanowski, Andrzej: Krakowskie lata Romana Dmowskiego. In: Fiołek/Stala: Kraków i Galicja 391–404. 36 Martin, Sean: Jewish Life in Cracow 1918–1939. London, Portland 2004, hier 38 f.­ Żbikowski, Andrzej: The Impact of New Ideologies. The Transformation of Kraków Jewry between 1895 and 1914. In: Galas, Michał (Hg.): Jews in Kraków. Oxford u. a. 2011, 135–163. 37 Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 250.

Leben und Sterben im Krakau des 19. Jahrhunderts 43

Sowohl für Juden als auch für Katholiken stellte Krakau ein wichtiges Zentrum dar, wobei dieser Nimbus bereits einige Jahrhunderte zurückreichte. Im 16. Jahrhundert notierte ein ungarischer Calvinist einen damals in Krakau gängigen Ausspruch, der das Selbstbewusstsein der Krakauer katholischen Kirche demonstriert: »Si Roma non esset Roma, nostra Cracovia esset Roma. Si Petrus non fuisset primus episcopus, noster Stanislaus fuisset primus episcopus.«38 Mit der Wawelkathedrale, die zugleich Grabstätte des heiligen Stanislaus sowie Krönungsort und Grablege der polnischen Könige war, war Krakau die »religiöse Metropole der Adelsrepublik«39 und Sitz einer der größten und wichtigsten polnischen Diözesen. Die Teilungen Polens wirkten sich auch auf die Strukturen der Diözese aus, die sowohl hinsichtlich ihres Territoriums als auch ihrer Stellung Einbußen hinzunehmen hatte. Im Jahr 1835 wurde der damalige Krakauer Bischof Karol Skórkowski, der wegen seiner polnisch-patriotischen Einstellung den Unmut der Teilungsmächte auf sich gezogen hatte, in die Verbannung geschickt. Als er dort 1851 starb, blieb die Diözese ohne einen Bischof. Ihr Status wurde auf den eines Apostolischen Vikariates reduziert. Ihren alten Status gewann sie zurück, als 1879 Albin Dunajewski zum Bischof von Krakau ernannt wurde.40 Unter ihm erlebte die Diözese eine neue Blütezeit, welche Krakaus Image als »polnisches Rom« ebenso verfestigen sollte wie die für Krakau typische Allianz von Aristokratie, politischem Konservativismus und katholischer Kirche. Dunajewski, dessen Bruder Julian in den Jahren 1880 bis 1891 österreichischer Finanzminister in der Regierung Eduard Taaffes war, war ein spät­ berufener Geistlicher. Zunächst hatte er in Lemberg Jura studiert und war zugleich in konspirativen politischen Kreisen aktiv gewesen, weswegen er 1841 zum Tode verurteilt worden war; das Urteil wurde jedoch später zu einer Haftstrafe im Gefängnis Spielberg in Mähren umgewandelt. Als nach drei Jahren seine Haft ausgesetzt wurde, ließ sich Albin Dunajewski in Krakau nieder, wo er als Jurist arbeitete und später persönlicher Sekretär des Grafen Adam Józef Potocki wurde und auch für die von Potocki mitbegründete Zeitung Czas arbeitete. Beide Tätigkeiten gaben Dunajewski Gelegenheit, Kontakte im gesellschaftlichen Leben Krakaus zu knüpfen.41 Für seine Entscheidung zum Pries-

38 Małecki, Jan M.: Krakau als Zentrum des religiösen Lebens. Vom Mittelalter bis zur heutigen Zeit. In: Kowalska, Zofia/Zychowicz, Juliusz (Hg.): Die sakrale Architektur Krakaus vom vorromanischen Beginn bis zur heutigen Zeit. Wien 1993, 17–32, hier 21. 39 Bałus: Krakau zwischen Traditionen und Wegen 11. 40 Dobrzanowski, Stanisław: Restauracja diecezji krakowskiej w latach osiemdziesiątych XIX wieku. Warszawa 1977. 41 Murawiec, Wiesław Franciszek: Kardynała Albina Dunajewskiego działalność polityczno-społeczna. In: Ders. (Hg.): Kardynał Albin Dunajewski (1817–1984 [sic!]). Kraków 1995, 27–47, hier 28–33.

44  Der Tod im städtischen Alltag tertum sei, so erzählte man sich in Krakau, der Tod verantwortlich gewesen, genauer der seiner ersten und später seiner zweiten Verlobten, wobei die erste bereits unerwartet während seiner Haft starb.42 Als auch seine zweite Verlobte starb, entschied Dunajewski sich für das geistliche Leben. 1859 trat er ins Priesterseminar ein, zwei Jahre später wurde er bereits zum Priester geweiht. Seit 1879 hatte die Diözese Krakau mit Dunajewski wieder einen Bischof, unter dem die Zahl der Ordensniederlassungen ebenso stieg wie die der Priesterseminaristen. In seiner Amtszeit wurde das Gebiet der Diözese vergrößert. 1889 verlieh der Kaiser den Bischöfen Krakaus wieder den Fürstentitel.43 Ein Jahr später ernannte Papst Leo XIII. ihn zum Kardinal. Auch wenn die Kardinalsernennung in erster Linie eine persönliche Auszeichnung darstellte, so war damit doch zugleich auch der Status der Diözese gestiegen, deren Bischöfe in der Folge alle die Kardinalswürde erhalten sollten. Dunajewski war außerdem seit den Teilungen Polens der erste Pole, der als Bischof einer Diözese zum Kardinal erhoben wurde.44 Als er im Jahr 1894 starb, wurde Fürst Jan Puzyna zu seinem Nach­ folger ernannt. Puzynas Nominierung war ebenso wie die Dunajewskis aus politischen Motiven erfolgt: Beide galten als loyal zur Monarchie45 – Dunajewski trotz seiner Haftstrafe und Puzyna, der im Jahr 1901 zum Kardinal erhoben wurde, ging mit seiner Loyalität gegenüber dem Kaiser in die Kirchengeschichte ein: Während des Konklaves im Jahr 1903 legte er im Auftrag des Kaisers ein Veto gegen die Wahl des frankophilen Kardinals Mariano Rampolla zum Papst ein, womit er den weiteren Verlauf des Konklaves entscheidend beeinflusste: Kardinal Rampolla wurde nicht zum Papst erwählt, sondern an seiner Stelle Giuseppe Melchiorre Sarto, der sich Pius X. nannte. Die Krakauer Historiographie zeichnet üblicherweise ein negatives Bild von Puzyna: Sein Charakter wird als streng, bisweilen despotisch beschrieben.46 Zudem traf er in seiner Amtszeit als Kra-

42 In Krakau kursierte auch die Variante, dass die Verlobte geduldig auf ihren verhafteten Verlobten wartete, ihre Eltern sie aber zur Hochzeit mit einem anderen drängten. Als der Tag der Vermählung festgelegt war, habe sie von Dunajewski die Nachricht über seine Amnestie erhalten. In ihrer Verzweiflung habe sie sich das Leben genommen. Siehe Kietlińska, Maria/ Homola-Skąpska, Irena: Wspomnienia. Kraków 1986, hier 33. Ob die Darstellung den Fakten oder eher den Vorstellungen vom romantischen Tod des 19. Jahrhunderts entspricht, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. 43 Dunajewski Albin (1817–1894). In: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 5. Kraków 1946, 462–465. 44 Małecki: Dzieje Krakowa 250. 45 Saurer, Edith: Die politischen Aspekte der österreichischen Bischofsernennungen 1867–1903. Wien, München 1968, hier 148–155. 46 Siehe beispielsweise Puzyna Jan. In: Polski Słownik Biograficzny, Bd.  29. Kraków 1986, 488–491. Smolarski, Mieczysław: Miasto starych dzwonów. Kraków 1960, hier 137 f.

Leben und Sterben im Krakau des 19. Jahrhunderts 45

kauer Bischof mehrere unpopuläre Entscheidungen, deren zwei uns noch weiter beschäftigen werden: Er verbot, den Leichnam des Dichters Juliusz S­ łowacki auf dem Wawel zu bestatten, und er verweigerte dem Krakauer Schriftsteller M ­ ichał Bałucki, der sich selbst das Leben genommen hatte, das kirchliche Begräbnis. Außerdem untersagte er, einen Gottesdienst auf den Błoniawiesen zu feiern. Dieser sollte im Jahr 1910 während der Feierlichkeiten zum 500. Jubiläum der Schlacht von Tannenberg stattfinden, die im polnischen historischen Gedächtnis als Sieg der Polen über den Deutschen Orden und damit stellvertretend über Deutschland gilt. Puzyna begründete seine Entscheidung damit, dass eine Wiese kein würdiger Ort für eine liturgische Handlung sei. Für diese rituellen Bedenken hatten hingegen die polnischen Patrioten keinerlei Verständnis, denn für sie markierte der 500. Jahrestag der Schlacht ein wichtiges und symbolträchtiges Datum. Abgesehen von den Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung nationaler Feierlichkeiten stritt Puzyna sich mit der Theologischen Fakultät über die Besetzung eines Lehrstuhls: Gegen das Votum des gesamten Fakultätsrates setzte Puzyna seine Entscheidung durch. Bemerkenswert ist, dass es danach zu gesamt-universitären Protesten kam. Zunächst protestierten im Jahr 1910 Krakauer Studenten, im Jahr darauf weiteten sich die Proteste zu einem gesamt-universitären Streik aus.47 Dieser Protest führte der Krakauer Öffentlichkeit vor Augen, dass sich die so lange selbstverständliche Hegemonie der katholischen Kirche in und über Krakau gelockert hatte. Nicht nur die Erhebung der Bischöfe in den Kardinalsrang und die verschiedenen innerstädtischen Pilgerorte machten Krakau zu einer auffallend katholischen Stadt, sondern auch die Präsenz zahlreicher Welt- und Ordensgeistlicher und Ordensfrauen. Ihre Zahl wuchs Ende des 19. Jahrhunderts: In Folge des in Preußen ausgetragenen Kulturkampfes kamen Ursulininnen und Unbeschuhte Karmelitinnen aus dem preußischen Teilungsgebiet nach Krakau. Im Jahr 1867 kehrten die Jesuiten nach Krakau zurück. Während des Episkopats Dunajewskis ließen sich weitere Orden wie die Resurrektionisten in Krakau nieder. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges existierten in Krakau 16 Frauenorden mit insgesamt 820 Schwestern und 16 Männerorden mit insgesamt 530 Ordensbrüdern. Unter den Männerorden konnten die Jesuiten die meisten Mitglieder verzeichnen.48 Damit prägten nicht nur Kirchtürme die Silhouette des Stadtbildes; auch in den Straßen waren viele Ordensangehörige sichtbar.

47 Siehe beispielsweise Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 250, 290. Eine genaue Schilderung der Ereignisse stellt noch ein Desiderat dar. Auch in einer tendenziell apologetisch angelegten kirchenhistorischen Darstellung der Geschichte der Diözese wird erwähnt, dass Puzyna als ein wenig talentierter Mensch mit begrenztem Horizont gesehen worden sei, wobei seine umstrittenen Entscheidungen verteidigt werden. Siehe Przybyszewski: Zarys dziejów diecezji krakowskiej 190 f. 48 Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 251.

46  Der Tod im städtischen Alltag Die Volksfrömmigkeit fand ihre äußere Manifestation vor allem im Marienund Heiligenkult. Die katholischen Gläubigen verehrten den heiligen Stanislaus, der auf dem Wawel ruhte, den heiligen Johannes von Krakau (Jan Kanty), einen spätmittelalterlichen Theologen, der in der Kirche St. Anna bestattet war, sowie den heiligen Hyazinth von Polen (Jacek Odrowąż), einen Dominikanermönch, der ebenfalls in Krakau beigesetzt war. Auch der Marienkult verband sich mit einer ortsfesten Andachtspraxis: So pilgerten die Krakauer Katholiken zu Marienbildern, die sich in den Kirchen der Stadt befanden und von denen einige als wundertätig galten.49 Nicht nur die Stadtbewohner besuchten die Pilgerorte, sie waren auch das Ziel von Gläubigen aus den ehemaligen Gebieten Polens. Besonders Großereignisse zogen zahlreiche Pilger an wie die Feier anlässlich des 800. Todestags des heiligen Stanislaus im Jahr 1879. Der Marien- und Heiligenkult bot viele Ansatzpunkte, religiöse und nationale Belange zu verbinden: So brachte beispielsweise der in der Bauernbewegung aktive Priester Stanisław Stojałowski50 polnische und ruthenische Bauern vor allem aus dem östlichen Galizien zu der Jubiläumsfeier zu Ehren des heiligen Stanislaus. Der Kult um den Nationalheiligen sollte die Bauern zur Identifikation mit dem polnischen Patriotismus animieren. Als 1883 Krakau den 200. Jahrestag der Schlacht gegen die türkischen Heere vor Wien und den Heerführer Jan Sobieski feierte, kamen abermals ruthenische und polnische Bauern in die Stadt. Interessanter als die politischen Feiern war für die Gruppe der Bauern ein anderes Ereignis, das mit den politischen Festivitäten zusammenfiel: die Krönung der Madonna in der Karmeliterkirche im Stadtteil Piasek.51 Der öffentliche Raum war stark katholisch geprägt: Auch die beiden großen prestigereichen Begräbnisstätten waren als Teil der Kathedrale respektive einer Klosterkirche Eigentum der katholischen Kirche. Nicht rein katholisch war hingegen der öffentliche Friedhof, der als allgemeiner und damit als konfessionsübergreifender Begräbnisplatz angelegt worden war, womit sich das Kapitel 1.2 ausführlich beschäftigen wird.

49 Studien zur Volksfrömmigkeit stellen noch ein Desiderat dar. Einen Überblick über das katholische Leben Krakaus im 19.  Jahrhundert findet sich bei Bernadeta Wilk. Siehe Wilk: W »małym Wiedniu« 169–201. 50 Staudacher, Anna: Der Bauernagitator Stanisław Stojałowski. In: Römische Histo­ rische Mitteilungen 25 (1983) 165–202. 51 Dabrowski, Patrice: Faith and Fatherland. Defining the Polish Nation in 1883. In: Nationalities Papers 28/3 (2000) 397–416.

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1.1.3 Das jüdische Krakau Galt Krakau den Katholiken als das »polnische Rom«, so war die Stadt für ihre jüdischen Bewohner das »polnische Jerusalem«. Die frühesten Hinweise auf jüdisches Leben in Krakau datieren vom Beginn des 14. Jahrhunderts. 1334 gewährte der polnische König Kazimierz III. der Gemeinde königliche Privilegien, zu denen die freie Religionsausübung, Handelsfreiheit und rechtliche Auto­ nomie gehörten. Als die Juden im Jahr 1495 aus der Stadt Krakau vertrieben wurden, ließen sie sich in der nahe gelegenen, nach dem großen König benannten Stadt K ­ azimierz nieder, welche damals ein Nebenarm der Weichsel von Krakau schied. Im Laufe der Zeit wurde Kazimierz zu einem Ort des gelehrten Judentums: Anfang des 16. Jahrhunderts wurde hier die erste Jeschiwa52 in Polen gegründet, und im Jahr 1534 gab eine Druckerei die ersten hebräischen Bücher in den polnischen Gebieten heraus. Der in Kazimierz wirkende Rabbiner Moses Isserles (ca. 1520–1572) machte als aschkenasischer Rechtsgelehrter nicht nur sich selbst einen Namen, sondern stärkte auch die Bedeutung Kazimierz’ in der jüdischen Welt. Es war als Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit neben Vilnius und Prag eines der wichtigsten Zentren des osteuropäischen Judentums.53 Wenn Kazimierz auch durch den Flusslauf von Krakau getrennt war, so teilte es doch in vielerlei Hinsicht das politische Los des königlichen Krakaus. Anders als dieses fiel es jedoch schon mit der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 an Österreich, während Krakau Teil des dezimierten Polens blieb.54 Mit der dritten Teilung 1795 gehörten sowohl Kazimierz wie auch Krakau zum Habsburgerreich. Die beiden bislang getrennten Städte wurden 1802 mit der Eingemeindung Kazimierz’ vereinigt.55 Juden und Christen lebten jedoch weiterhin eher nebeneinander als miteinander. In der Folgezeit war die Politik der Freien Republik Krakau (1815–1846) gegenüber der jüdischen Gemeinde – im Geist der Aufklärung – darauf ausgerichtet, die Assimilierung der jüdischen Bevölkerung zu forcieren. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde die Autonomie der jüdischen Gemeinde aufgehoben und im Jahr 1818 der Kahal56 als Selbstverwaltungsorgan der jüdischen Gemeinde 52 Hebräisch: Eine Hochschule, in der sich junge Männer dem Studium des Talmuds und der Tora widmen. 53 Kozińska-Witt, Hanna: Die Krakauer Jüdische Reformgemeinde. Frankfurt am Main 1999, hier 29. 54 Cracow. In: Encyclopaedia Judaica. Detroit, New York 2007, 256–263, hier 259. 55 Kraków after 1795. In: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europa, URL: yivoencyclopedia.org/article.aspx/Krakow/Krakow_after_1795 (am 16.9.2013). 56 Hebräisch: Eigentlich jüdische Gemeinde; spezifische, aus der Frühen Neuzeit her­ rührende Form der autonomen Gemeindeorganisation.

48  Der Tod im städtischen Alltag abgeschafft. An seine Stelle trat ein Komitee für jüdische Angelegenheiten, welches sich aus einem Rabbiner, einem christlichen Übersetzer, zwei jüdischen Delegierten und einem christlichen Vorsitzenden zusammensetzte. Seine Aufgabe war es, jüdische Gebäude und Institutionen zu finanzieren und den Haushaltsplan für die gesamte Gemeinde zu erstellen. Der Rabbiner sollte sich nur noch um rein religiöse Angelegenheiten kümmern, Verwaltung und Rechtsprechung hingegen wurden ihm entzogen.57 In der Folge stagnierte in Krakau der Emanzipationsprozess der Juden, während er in anderen Teilen Europas voranschritt.58 Mit dem politischen Wandel zur Jahrhundertmitte änderte sich allmählich auch die rechtliche Lage der Juden: 1867 wurden sie als rechtlich gleichberechtigt anerkannt. Der Gemeinde wurde schrittweise die Selbstverwaltung zugestanden. In den 1860er Jahren ersetzte nach wie vor das »Komitet Starozakonnych« (»Komitee der Juden«, wörtlich: »Komitee der Alttestamentarischen«) den Kahal, hatte jedoch nicht die gleichen Kompetenzen wie dieser, sondern war im Prinzip für die Korrespondenz mit den politischen Behörden zuständig. Dieses Komitee ließ der Magistrat 1865 um einen Beirat mit 20 Mitgliedern ergänzen, um so eine breitere Vertretung der Gemeinde zu erreichen. Das nun erweiterte Kultuskomitee erhielt außerdem die Aufgabe, eine Autonomie der Gemeinde vorzubereiten. Zusätzlich gründete der Stadtrat im Jahr 1866, als Krakau die volle Selbstverwaltung erhielt, einen Ausschuss für israelitische Angelegenheiten, der aus 21 Personen bestand, wovon zwölf Stadträte jüdischer Herkunft waren, die zumeist dem liberalen Flügel innerhalb der jüdischen Gemeinde angehörten. 1869 wurde schließlich das Komitee als Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinde anerkannt, im Januar des Folgejahres hielt es seine erste Versammlung ab und firmierte von da an als Gemeinderepräsentanz. Ihr gehörten sowohl orthodoxe als auch progressive Juden an.59 Der Gemeinderepräsentanz oblag die Verwaltung aller Institutionen der Gemeinde,60 darunter auch die Verwaltung des Friedhofs. Den Anspruch musste die Gemeinderepräsentanz allerdings mehrfach gegenüber der orthodox ausgerichteten Begräbnis-

57 Jakimyszyn, Anna: Jews under the Republic of Cracow (1815–1846). In: Scripta Judaica Cracoviensia 6 (2008) 87–92. Dies.: Żydzi krakowscy w dobie rzeczypospolitej krakowskiej. Status prawny, przeobrażenia gminy, system edukacyjny. Kraków 2008. Schmidt-Rösler, Andrea: Gesetzgebung und Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung in der Republik Krakau 1815–1846. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 41/2 (1993) 210–241. 58 Schmidt-Rösler: Gesetzgebung und Politik 241. 59 Żbikowski, Andrzej: Starania Żydów krakowskich o  odzyskanie autonomii gminnej na przełomie lat 60. i  70. XIX stulecia. In: Biuletyn żydowskiego instytutu historycznego w Polsce 154/2 (1990) 53–77. 60 Siehe auch: Statut dla zboru izraelickiego w  Krakowie. Kraków 1870. Archiwum Państwowe w Krakowie (weiter: APwK). TSchn 796, Bl. 787–808.

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bruderschaft Chewra Kadischa (»Heilige Bruderschaft«) durchsetzen, wie wir später sehen werden.61 Das Leben innerhalb der jüdischen Gemeinde war von Auseinanderset­ zungen zwischen unterschiedlichen Gruppierungen geprägt: Die orthodoxe Vormachtstellung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch gefestigt war, war zunächst durch die Chassidim,62 später durch die Reformjuden herausgefordert worden. Die Reformwilligen fanden sich in der 1843 gegründeten »Vereinigung für Religion und Zivilisation« (Stowarzyszenie Religijno-Cywilizacyjne) zusammen. Zu den Gründungsmitgliedern des Vereins, der sich die kulturelle und materielle Weiterentwicklung und die moralische Hebung der jüdischen Gemeinde sowie politische Aufklärung auf die Fahnen geschrieben hatte, gehörten Abraham Gumplowicz (1803–1876), Józef Oettinger (1818–1895), Szymon Samelsohn (1814–1881) und Wolf Schönberg (1814–1884).63 Sie strebten nicht nur nach Partizipation innerhalb der jüdischen Gemeinde, sondern auch innerhalb der politischen Strukturen in Stadt und Land. Sie waren zumeist propolnisch gesinnt und hatten es sich zum Ziel gesetzt, traditionelle Religiosität mit den Idealen der jüdischen Aufklärung, der Haskala, in Einklang zu bringen.64 1862 errichteten sie ihre eigene Synagoge in der Miodowa-Straße, genannt ›der Tempel‹, nach dem Vorbild des Stadttempels in der Seitenstettengasse in Wien. Zu den Bestandteilen der dort abgehaltenen Gottesdienste gehörten eine zunächst deutsch-, später polnischsprachige Predigt und ein Chor. Die Anhänger der Reformsynagoge waren auch bereit, von überlieferten jüdischen Bestattungssitten zugunsten sanitärpolitischer Vorschriften Abstand zu nehmen. Diese Bereitwilligkeit wurde wohl auch dadurch gestärkt, dass mehrere unter ihnen Ärzte waren und in der Sanitärsbehörde der Stadt65 sowie im Gesundheitsausschuss des Stadtrates vertreten waren.66 Die reformorientierten Juden waren sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen und universitären Leben Krakaus und Galiziens präsent. Zu den

61 Siehe dazu Kapitel 1.4. 62 Hebräisch: Anhänger einer im 18.  Jahrhundert in Polen-Litauen entstandenen jüdischen religiösen Erneuerungsbewegung, die auf den Eckpfeilern der Mystik, der religiösen Ekstase und einer traditionellen Talmudauslegung beruhte. Eine zentrale Rolle kam dem Rabbiner, dem Zaddik, zu. 63 Kozińska-Witt: Krakauer Jüdische Reformgemeinde 67 f. 64 Ebd. 13. 65 Siehe Komisyja sanitarna krakowska. In: Dwutygodnik Higijeniczny 1 (1876) 5–7. In der Kommission waren Leon Blumenstok und Jonatan Warschauer vertreten. 66 In der Gesundheitskommission des Stadtrats, die sich angesichts der Choleraepidemie des Jahres 1866 konstituierte, waren Abraham Gumplowicz, Józef Oettinger und Jonatan Warschauer vertreten. Siehe Oettinger, Józef: Cholera nagminna w Krakowie r. 1866. Kraków 1867, hier 27.

50  Der Tod im städtischen Alltag 60 Mitgliedern des 1866 gewählten Krakauer Stadtrates gehörten zwölf Stadträte jüdischer Herkunft.67 An der Jagiellonenuniversität lehrten Professoren jüdischer Herkunft, in der Krakauer Handels- und Industriekammer waren Juden ebenso vertreten wie unter Künstlern und Kulturschaffenden. Juden stellten auch einen großen Teil der in freien Berufen Tätigen: Im Jahr 1880 waren 18,5 Prozent der Krakauer Ärzte jüdischer Herkunft, 1910 waren es 24 Prozent. Von Krakaus Anwälten waren 1880 29 Prozent jüdischer Herkunft, 1910 mit 52,3 Prozent mehr als die Hälfte.68 Im Jahr 1905 wurde mit Józef Sare, einem herausragenden Krakauer Architekten, erstmals ein Honoratior jüdischer Herkunft zum Vizepräsidenten der Stadt gewählt. Obwohl er sich trotz entgegengesetzter Erwartungen der städtischen Öffentlichkeit nicht vom Judentum abwandte, wurde er wiedergewählt, so dass er das Amt bis zu seinem Tod im Jahr 1929 bekleidete.69 Auch wenn damit einige von Krakaus Juden im öffentlichen Leben präsent und anerkannt waren, stellten die Juden für viele Krakauer dennoch eine abgesonderte Gruppe dar. Eher selten besuchte ein katholischer Krakauer das jüdische Kazimierz, vielmehr begegnete er Juden in den Straßen des nicht jüdischen Krakaus und auf den Märkten, wo diese allerlei Arten von Waren feilboten. In vielen Köpfen setzte sich eine Gleichsetzung von Juden mit Handel fest, wegen der beengten Wohnverhältnisse in Kazimierz oft auch eine Gleichsetzung mit Schmutz, den der Krakauer Konservative Stanisław Koźmian aus dem Kreis der konservativen Stańczyken als Charakteristikum der Juden bezeichnete.70 Die sanitären Bedingungen im jüdischen Kazimierz sowie die Forderung nach Restriktionen für jüdische Händler waren immer wieder Themen in den K ­ rakauer Zeitungen.71 Die antisemitischen Tendenzen der 1880er und 1890er Jahre machten auch vor Krakau nicht Halt, wo es teilweise zu Ausschreitungen kam. Antisemi­tische Rhetorik wurde nicht nur auf Flugblättern verbreitet, sondern auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens.72 Seit 1893 erschien in der Stadt die Zei 67 Małecki, Jan M.: Cracow Jews in the 19th Century. Leaving the Ghetto. In: Acta Poloniae Historica 76 (1997) 85–96, hier 91. 68 Sroka, Łukasz Tomasz: Żydzi w  Krakowie. Studium o  elicie miasta 1850–1918. Kraków 2008, hier 30. 69 Małecki: Cracow Jews 93. 70 Żbikowski: Żydzi Krakowscy 269–272, 289 f. 71 Ebd. 272–275. 72 Bekannt ist in dem Zusammenhang beispielsweise die Rede des polnischen Historienmalers Jan Matejko anlässlich der Eröffnung des neuen akademischen Jahres 1882. Er beschuldigte darin die jüdischen Studenten, vor allem an Spekulationen, nicht aber an der Kunst interessiert zu sein, und forderte sie auf, das Land zu verlassen, wenn sie keine Polen sein wollten. Siehe Żbikowski: Żydzi Krakowscy 280.

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tung »Głos Narodu« (»Stimme der Nation«). Die Zeitung, die als Sprachrohr der christdemokratischen Bewegung galt und über enge Verbindungen zum Klerus verfügte, vertrat einen aggressiven Antisemitismus.73 Das Problem des sich verbreitenden Antisemitismus beschäftigte auch katholische Intellektuelle. 1893, im Jahr der Ersterscheinung von Głos Narodu, versammelte sich in Krakau ein Katholikentag mit der Absicht, eine christlich-soziale Bewegung, vergleichbar derjenigen Karl Luegers in Wien zu initiieren. Während der Zusammenkunft sprach unter anderem Graf Stanisław Tarnowski. In seiner Rede nahm er eine ambivalente Haltung gegenüber den Juden in Polen ein: Einerseits sah er sie in einem essenziellen Widerstreit mit dem Christentum, weswegen sie seines Erachtens eine Gefahr für die katholische Kirche darstellten, andererseits lehnte er einen rassisch begründeten Hass gegenüber den Juden ab und formulierte die Bitte: »Gott schütze uns vor Anti­semitismus.« Was er dagegen befürwortete, war ein wirtschaftlicher Boykott.74 Bei der Rede anwesend war auch der Krakauer Jesuit Marian Morawski, der in einem Aufsatz drei Jahre später strukturell und inhaltlich ähnlich wie Tarnowski argumentierte. Auch Morawski lehnte den rassistischen Antisemitismus vehement ab, führte aber eine subtile Unterscheidung ein: In dem Text unterschied Morawski zwischen einem »guten« und einem »schlechten« Anti­ semitismus, wobei er die seiner Meinung nach positive und notwendige Variante als »Asemitismus« titulierte.75 Er rechtfertigte ihn damit, dass er Juden und ihre Religion und Moral als Urheber vieler zeitgenössischer moralischer Übel identifizierte, wobei er den Grund dafür im Talmud gelegt sah.76 In den Juden sah er die essenziell Anderen, deren Andersartigkeit auch nicht durch Assimilation, sondern einzig durch Taufe abgelegt werden könnte. Für Morawski war der gebotene Umgang mit Juden der einer strikten Trennung: keine gemeinsamen Schulen für Christen und Juden, keine gemeinsamen Geschäfte, keine gemeinsamen Gesellschaften, keine Familienverbindungen.77 Damit ging er noch etwas weiter als Tarnowski, lehnte aber wie dieser einen gewaltbereiten, rassisch 73 Lechicki, Czesław: Pierwsze dwudziestolecie krakowskiego »Głosu Narodu«. In: Studia Historyczne 47/4 (1969) 507–532. 74 Tarnowski, Stanisław: Niebezpieczeństwa grożące Kościołowi w  naszym kraju. In: Chotkowski, Władysław (Hg.): Księga Pamiątkowa Wiecu Katolickiego w Krakowie odbytego w dniach 4, 5 i 6 lipca 1893r. Kraków 1893, 154–169. Zu der Rede siehe auch Pajakowski, Philip: Ambiguities of Assimilation. The Kraków Conservatives and the Jews. In: Galas (Hg.): Jews in Kraków 83–102, hier 95 f. Porter, Brian: Faith and Fatherland. Catholicism, Modernity, and Poland. Oxford 2011, hier 281 f. Anders als Pajakowski interpretiert Porter Tarnowskis Rede als Beleg für eine Ablehnung des Antisemitismus. 75 Morawski, Marian: Asemityzm. In: Przegląd Powszechny 49 (1896) 161–189. 76 Ebd. 166. 77 Ebd. 183–188.

52  Der Tod im städtischen Alltag begründeten Antisemitismus als unchristlich ab. Gegen einen solchen sollten Christen notfalls selbst um den Preis ihres Lebens eintreten.78 Als 1898 in mehreren westgalizischen Dörfern Bauern gegenüber Juden­ Pogrome verübten, fand sich im Krakauer Czas mehrfach die apologetische Behauptung, Juden trügen eine Mitschuld an den Ereignissen, weil die angebliche wirtschaftliche Ausbeutung von Bauern durch einige Juden die Aufstände provoziert habe.79 Ob nun eine Assimilation der polnischen Juden möglich und auch wünschenswert oder aber eine Trennung nötig sei, ob die Juden ein integraler Bestandteil polnischen Lebens oder ein Fremdkörper seien, waren Fragen, hinsichtlich derer sich im politischen Diskurs kein Konsens gebildet hatte, so dass die Frage nach dem Platz der Juden in der polnischen Gesellschaft und Nation auf unterschiedliche Weise beantwortet wurde.80 Krakau war vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges keine glückliche Insel, die von antisemitischen Tendenzen verschont geblieben wäre; zugleich war aber der Antisemitismus hier weniger stark ausgeprägt als anderswo.81 Neben Katholiken und Juden existierte zudem eine sehr kleine evangelische Gemeinde in Krakau, der 1816 die Kirche St. Martin in der ulica Grodzka, welche den Marktplatz mit dem Wawel verbindet, geschenkt worden war. Die Gemeindemitglieder, die aus Galizien, Schlesien, Preußen, Böhmen und Mähren, Ungarn und der Schweiz stammten, waren meist zweisprachig. 1869 hatte die Gemeinde 450 Mitglieder, bis 1910 hatte sich die Zahl auf 1 045 mehr als verdoppelt. Wenn auch die Zahl der Protestanten in der Stadt marginal war, so waren doch einige protestantische Vertreter im öffentlichen Leben der Stadt sehr präsent. Beispielsweise wurde 1869/1870 mit Fryderyk Kazimierz Skobel ein Protestant zum Rektor der Jagiellonenuniversität gewählt. Der 1893 bis 1904 amtierende Stadtpräsident Józef Friedlein stammte ebenfalls aus der evangelischen Gemeinde.82 Ähnlich groß wie die Zahl der Evangelischen war die Zahl der griechischen Katholiken, die 1880 noch 325 Personen, 1890 schon 613 Personen, 1900 dann 739 und 1910 1 713 Personen vereinte.83 Im Jahr 1896 wurde ihnen die Kirche

78 Ebd. 178. 79 Pajakowski: Ambiguities of Assimilation 96–98. 80 Ebd. 102. 81 Żbikowski: Żydzi Krakowscy 334. 82 Röskau-Rydel, Isabel: Die Geschichte der evangelischen Gemeinde in Krakau seit Ende des 19.  Jahrhunderts bis 1918. In: Krzoska, Markus/Röskau-Rydel, Isabel (Hg.): Identitäten und Alteritäten der Deutschen in Polen in historisch-komparatistischer Perspektive. München 2007, 79–83. 83 Zahlen nach: Zamorski, Krzysztof: Informator statystyczny do dziejów społeczno-­ gospodarczych Galicji. Ludność Galicji w latach 1857–1910. Kraków, Warszawa 1989, 75–87.

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St.  Norbert überlassen, wo der 300. Jahrestag der Union von Brest mit einem Gedenkgottesdienst begangen wurde. Säkulare Bewegungen wie Freidenker und Freimaurer hingegen fassten kaum Fuß im überwiegend kirchlich geprägten Krakau, wenn auch eine Freimaurerloge existierte.84

1.1.4 Sozial- und Wirtschaftsstruktur Das soziale Gefüge der Stadt war von Aristokratie, Intelligenz und Kleinbürgertum geprägt. Die Jagiellonenuniversität, an der seit den 1860er Jahren wieder Polnisch als Unterrichtssprache zugelassen worden war, brachte der Stadt ein weiteres Epitheton, nämlich das des »polnischen Athen«. Seinetwegen kamen junge Polen aus anderen Teilungsgebieten nach Krakau, um an der Jagiellonenuniversität zu studieren. Mit der Jahrhundertwende wurden zunehmend Frauen zum Studium zugelassen: Im Jahr 1906 erwarb die erste Frau, eine Medizin­ studentin, an der Jagiellonenuniversität das Diplom.85 Von der Industrialisierung war Krakau zu Beginn der sogenannten Galizischen Autonomie kaum berührt. Das wirtschaftliche Leben war vor allem vom Handel, von Handwerk und von Dienstleistungen geprägt. Kurios mag dabei der relativ hohe Anteil von Hausbediensteten anmuten, die immerhin 13,9 Prozent aller Beschäftigten ausmachten und deren Zahl sich daraus erklärt, dass die Stadt zu einem Anziehungspunkt für Aristokraten und Grundbesitzer geworden war.86 Ihre Zahl wuchs, als zunehmend Familien und Einzelpersonen aus dem französischen Exil nach Krakau umsiedelten. Das aristokratisch und polnisch geprägte Krakau erschien ihnen als ein idealer Rückzugsort im geteilten Polen, die Salons der Aristokraten als Austauschmöglichkeit unter Gleichgesinnten und die polnischsprachige altehrwürdige Jagiellonenuniversität als ideale Alma Mater für die junge Generation. Im Jahr 1880 lebten rund 200 Gutsbesitzerfamilien in der Stadt.87 Auch zur Jahrhundertwende waren Handwerk, Handel und Verwaltung die vorherrschenden Beschäftigungsfelder. Große Unternehmen konnte Krakau kaum aufweisen: Die meisten waren klein und beschäftigten nur zwei bis fünf Mitarbeiter.88 Um die Jahrhundertwende siedelten sich einige Fabriken in Krakau und Umgebung an, die zumeist Baumaterial und chemische Produkte herstellten. Hinsichtlich der Mitarbeiterzahlen war die

84 Sroka, Łukasz Tomasz: Sprawiedliwi chcą być doskonali. Z dziejów wolnomularstwa w Krakowie od XVIII wieku do współczesności. Kraków 2010. 85 Wood: Becoming Metropolitan 44. 86 Purchla: Krakau unter österreichischer Herrschaft 33. 87 Ebd. 57 f. 88 Wood: Becoming Metropolitan 43.

54  Der Tod im städtischen Alltag größte Fabrik eine bereits 1872 gegründete Tabakfabrik, die drei Jahrzehnte später 1 045 Personen beschäftigte.89 Ein Grund für die mangelnde Industrialisierung war der Umstand, dass der urbane Raum auf ein relativ kleines Gebiet von 5,77 Quadratkilometern beschränkt blieb. Während die Fläche gleich blieb, weil der österreichische Festungswall eine Ausdehnung der Stadt unmöglich machte, stieg dennoch die Einwohnerzahl. 1869 betrug sie etwa 50 000 Einwohner, im Jahr 1880 waren es bereits 66 100 Einwohner, 1890 war die Bevölkerungszahl auf 74 600 angewachsen und 1900 lebten bereits 91 300 Menschen in der Stadt.90

1.1.5 Lebenserwartung in Krakau Die meisten der Stadtbewohner wurden, wie in der Zeit üblich, nicht sehr alt. Das Greisenalter zu erreichen war ein Privileg, das zur Jahrhundertwende nach wie vor sehr wenigen zuteil wurde. Zwischen 1859 und 1868 lag die Lebenserwartung in Krakau bei 26 Jahren, wobei bei diesem Durchschnitt die damals übliche hohe Kindersterblichkeit mit bedacht werden muss.91 In den Jahren 1869 bis 1880 stieg die durchschnittliche Lebenserwartung auf 30 Jahre.92 Die durchschnittliche Lebenserwartung in den Jahren 1881 bis 1925 lag hingegen bei 34 Jahren.93 Einzelne Personen konnten dennoch ein hohes Alter erreichen wie schon im Jahr 1887 die unverheiratete Katholikin Marjanna Tumidaleka, die mit 116 Jahren starb, ebenso alt wie sie wurde die ebenfalls unverheiratete Katholikin Juljanna Dobrołęcka, die 1901 starb. 1911 starb der jüdische Witwer Mindel Krengel mit 115 Jahren.94 Dass ausgerechnet zwei ledige, kinderlose Frauen und ein Mann ein solch hohes Greisenalter erreichten, wird kaum Zufall gewesen sein, war doch die Geburt bis in das 19. Jahrhundert hinein für Mutter und Kind oftmals lebensgefährlich.95 Im Zeitraum von 1885 bis 1925 entfielen auf 100 Geburten vier Totgeburten.96 Von den Kindern, die lebend zur Welt kamen, überlebten keine zwei Drittel ihre Kindheit: Zieht man etwa eine Statistik der Stadt Krakau für das Jahr 1897 heran, so zeigt sich, dass 36,8 Prozent der Neugeborenen ihre Kindheit nicht überlebten. Anders als heute war es ebenfalls nicht ungewöhnlich, wenn ein Mensch zwischen dem 10. und 60. Lebensjahr 89 Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 297–305. Bernadeta Wilk nennt dagegen nur 102 Mitarbeiter für das Jahr 1912. Siehe Wilk: W »małym Wiedniu« 33. 90 Zahlen nach Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 315. 91 Demel: Stosunki w latach 1853–1866 296. 92 Tambor: Trwanie życia ludzkiego 31. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Lafontaine: Die postmortale Gesellschaft 40. 96 Tambor: Trwanie życia ludzkiego 17.

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starb. 43,1 Prozent der Toten waren in dieser Altersspanne gestorben, die in den Statistiken als die Zeit der Erwerbstätigkeit beziehungsweise die Zeit der Vorbereitung auf selbige firmiert. Dass die Sterblichkeit der Altersgruppe ab 20 verhältnismäßig hoch war, wurde in den Ausführungen zur Statistik damit erklärt, dass auch viele kranke Menschen von außerhalb in die Krakauer Krankenhäuser kamen, wo mancher von ihnen verstarb. Nur ein Fünftel der Verstorbenen hatte ein Alter von 60 Jahren oder mehr erreicht. Häufigste Todesursache zur Jahrhundertwende war die Tuberkulose, der jeder fünfte Verstorbene zum Opfer gefallen war. Atemwegserkrankungen allgemein machten ein Drittel aller Todesursachen aus, gefolgt von Verdauungskrankheiten, die vor allem Säuglinge trafen, und ansteckenden Kinderkrankheiten.97 Im ersten Jahrzehnt des 20.  Jahrhunderts galt Krakau als einer der Hauptkrankheitsherde der Tuberkulose, die in Krakau mehr Todesopfer forderte als in Berlin, Wien und Warschau, wobei vor allem der jüdische Stadtteil Kazimierz und der Stadtteil Wesoła, in welchem viele Eisenbahnarbeiter lebten, betroffen waren.98 In unserem Kontext sind die Statistiken aus zwei Gründen wichtig: Zum einen haben Faktoren wie die durchschnittliche Lebenserwartung und die häufigsten Todesursachen Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Todes, zum anderen waren die Prävention von Epidemien und ein Senken der Sterberate wichtige Argumente bei der Umgestaltung des Be­ stattungswesens.

1.1.6 Von der Provinzstadt zur Großstadt Der Bevölkerungsanstieg bei fehlender Möglichkeit zur räumlichen Ausdehnung hatte mit sich gebracht, dass in Krakau im Laufe der Zeit immer mehr Menschen auf gleichbleibend kleinem Raum lebten. Im Jahr 1900 schließlich hatten die Bautätigkeiten endgültig die Grenzen der Festungsmauern erreicht. In der Folge verfügte das von der Industrialisierung nur wenig berührte Krakau über eine höhere Bevölkerungsdichte als beispielsweise Lemberg und Budapest. Auch die Mieten waren höher als in europäischen Metropolen wie Wien 97 Die Zahlen gelten für Juden und Christen gleichermaßen. Die Statistik gibt auch konfessionsspezifische Daten an. Demnach war im Jahr 1897 die Kindersterblichkeit bei­ jüdischen Kindern höher (39,2 Prozent im Vergleich zu 29,9 Prozent). Dafür war die Sterblichkeit im Alter zwischen 10 und 60 mit 34,2 Prozent deutlich geringer als die unter den Christen mit 51,4 Prozent. Auch erreichten offenbar mehr Menschen jüdischer Herkunft ein hohes Alter: 26,5 Prozent der Verstorben waren 60 Jahre und älter gewesen, bei den­ Anhängern christlicher Konfessionen waren es nur 18,8 Prozent. Siehe Sikorski, Rudolf: Skony. In: Statystyka miasta Krakowa zestawiona przez Biuro Statystyczne Miejskie 7 (1900) 20–29. 98 Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 315.

56  Der Tod im städtischen Alltag oder Paris, obgleich die Einkommen in Krakau gering waren.99 Laut einer Zählung von 1880 bewohnten in Krakau im Schnitt zwei Menschen ein Zimmer, wobei im Zentrum und in Piasek etwa 1,5 Personen ein Zimmer teilten; in den ärmeren Stadtteilen wie Kleparz, Stradom und Kazimierz war die Zahl mit 3,6 Personen pro Zimmer deutlich höher. In der ulica Estery im jüdischen Kazimierz teilten sich sogar sechs Personen eine Kammer.100 Zudem war es in Kazimierz üblich, dass auch Dachböden und Kellergeschosse als Wohnraum genutzt wurden.101 Die hohe Bevölkerungsdichte war verbunden mit mangelhaften sanitären Bedingungen: 1902 stand ein städtisches Bad für je 389 Einwohner zur Verfügung, zwei Jahre später kamen noch immer 144 Einwohner auf ein Bad.102 Erst im Jahr 1901 – und damit 20 Jahre später als Warschau und 35 Jahre später als Posen – erhielt Krakau eine zentrale Wasserversorgung.103 1902 wurden die seit 1882 von Pferden gezogenen Straßenbahnen durch elektrische Straßenbahnen ersetzt. Krakau erhielt so allmählich die Kennzeichen moderner Urbanität und auch die eigentliche Metamorphose zur Großstadt erfolgte bald, die unter der Ägide von Stadtpräsident Juliusz Leo angestrebt worden war. Am 1. April 1910 erhielt das Gesetz von Groß-Krakau, welches die Eingemeindung der Krakau umgebenden Ortschaften vorsah, die kaiserliche Bestätigung. Noch am selben Tag wurden die ersten Ortschaften eingemeindet und Krakau um zehn Stadtteile erweitert. Im Jahr 1911 erfolgten weitere Eingemeindungen, was die Bevölkerungszahl auf 151 900 steigen ließ. Im Jahr 1915 wurde schließlich das auf der anderen Weichselseite gelegene Podgórze eingemeindet. Krakau war damit auf eine Fläche von 48  Quadratkilometern angewachsen und verfügte nun mit Podgórze und Płaszów auch über ein regionales industrielles Zentrum.104 Das protoindustrielle Krakau war eine Großstadt geworden, was Boy-Żeleń­ ski nicht davon abhielt, nachträglich über die Feierlichkeiten zur Entstehung Groß-Krakaus zu spotten: Die Feierlichkeiten ließen ein wenig zu wünschen übrig, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund. Krakau war auf Trauerfeiern und nicht auf Freudenfeste spezialisiert; man hatte uns beigebracht, in die Vergangenheit zu blicken und nicht in die Zukunft.105 99 Wood: Becoming Metropolitan 33 f. 100 Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 315 f. 101 Żbikowski: Żydzi Krakowscy 279. 102 Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 315. 103 Orton, Lawrence  D.: The Formation of Modern Cracow (1866–1914). In: Austrian History Yearbook 19 (1983) 105–117, hier 109. 104 Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 355–363. Kozińska-Witt: Krakau in Warschaus langem Schatten 97–103. 105 Boy-Żeleński: Erinnerungen an das Labyrinth 189 f.

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Schließlich waren die Trauerfeiern, auf die der Satiriker hier anspielte, ein wesentlicher Teil von Krakaus kulturellem Kapital, über welches die Stadt sich und seine Bedeutung in der polnischen Städtelandschaft definierte. Damit schien die Vergangenheit denjenigen, die das diskursive Klima der Stadt maßgeblich prägten, wichtiger zu sein als die Gegenwart, und in der Tat wandte die Stadt viel Mühe und große finanzielle Mittel auf, um die Vergangenheit zu zelebrieren – während andere wichtige Reformen ihrer Umsetzung harrten.

1.1.7 Von der Provinzstadt zum kulturellen Zentrum Hatte sich Krakaus kulturelle Bedeutung vielfach aus seiner Vergangenheit und seiner gegenwärtigen Polonizität gespeist, so wurde die Stadt zur Jahrhundertwende zunehmend ein Treffpunkt für Künstler und Literaten und damit zu einem Sammelbecken für avantgardistische Strömungen. Vertreter der neuen künstlerischen Richtung des »Jungen Polens« (Młoda Polska)  versammelten sich in der Stadt und ließen sie zu einem Zentrum der neuen ästhetischen Strömung werden. Ihre Vertreter teilten den Optimismus der Positivisten, die die polnische Literaturszene in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominiert hatten, nicht. Stattdessen herrschte unter ihnen Hedonismus, Nihilismus, Kulturpessimismus, Todessehnsucht und das Prinzip des l’art-pour-l’art vor.106 Die Obsession der Todesthematik vertrat keiner so sehr wie der deutsch-polnische Künstler Stanisław Przybyszewski,107 der 1898 von Berlin nach Krakau umsiedelte, um dort die Leitung des Kulturmagazins »Życie« (»Leben«) zu übernehmen. Der exzentrische Przybyszewski inszenierte sich als Mittelpunkt exzessiver Gelage, zu denen Krakauer Intellektuelle nachts zusammenfanden.108 Doch am stärksten mit dem »Jungen Polen« ist der Name von Stanisław Wyspiański (1869–1907) verbunden, dem Krakauer Universalkünstler, der malte, schrieb, sich der Bildhauerei widmete und das moderne polnische Theater begründete. Sein wohl bekanntestes Bühnenwerk ist die »Hochzeit« (Wesele), bei der – basierend auf der tatsächlichen Vermählung des Krakauer Schriftstellers Lucjan Rydel mit einer Bauerntochter aus dem bei Krakau gelegenen Dorf Bronowice – Personen aus den unterschiedlichen Schichten aufeinandertreffen. Später suchen Phantasmen und Visionen die Anwesenden heim, und am Ende zerschlägt sich der Traum von Polens Wiederherstellung. Wyspiańskis früher Tod mit 38 Jahren bestürzte nicht nur Krakau. Eine Beisetzung des Künstlers im polnischen Pantheon war eine Selbstverständlichkeit. 106 Zum Jungen Polen siehe Miłosz, Czesław: The History of Polish Literature. Berkeley/ California u. a. 1983, hier 322–379. 107 Zur Todesthematik im Werk Przybyszewskis siehe Ratuszna: Wieczność w człowieku. 108 Boy-Żeleński: Erinnerungen an das Labyrinth 149–153.

58  Der Tod im städtischen Alltag Die Rede von Krakaus kulturellem Leben zur Jahrhundertwende kommt selten aus ohne eine Erwähnung der Kabarettistengruppe »Grüner Ballon« (Zielony Balonik), welcher auch der eingangs zitierte Tadeusz Boy-Żeleński angehörte.109 Bei ihren Vorstellungen im Café »Jama Michalika« (»Michaliks Höhle«) spotteten sie unter anderem über Krakaus politisches und gesellschaftliches Leben. Żeleńskis Beschreibungen von Krakau als verschlafene »Totenstadt«, in der Trauer häufiger sei als Freude, die Vergangenheit wichtiger als die Gegenwart, und wo die Bewohner Trauerfeste besser zu feiern wüssten als Freudenfeste, legen ein Zeugnis davon ab und führen direkt zum thematischen Kern der vorliegenden Arbeit.

1.2 Tod an der Peripherie – Vom Gottesacker zum städtisch verwalteten Raum 1.2.1 Vorgeschichte: Neuanlage von Friedhöfen im Zeichen der Aufklärung Wer heute über den großen Krakauer Renaissancemarktplatz spaziert, läuft, ohne es zu ahnen, über alte Friedhöfe. Denn seine Größe verdankt der berühmte rynek unter anderem der Tatsache, dass zu Beginn des 19.  Jahrhunderts die Kirchfriedhöfe geschlossen wurden, die an den den Marktplatz umgebenden Kirchen lagen wie etwa der Kirchfriedhof der Marienkirche. Die kleine Kirche St.  Barbara neben der Marienkirche war ursprünglich nichts anderes als eine Friedhofskapelle und der plac Mariacki vor ihr eben dieser Kirchfriedhof.110 Dass die Friedhöfe wie überall in Europa aus dem städtischen Alltag verschwanden, hatte verschiedene Gründe. So waren die bisherigen Kirchfriedhöfe überfüllt und boten schlichtweg nicht mehr genügend Platz. Außerdem brachte ihre Einebnung neue Möglichkeiten für die Weiterentwicklung von Straßen­ zügen und Plätzen. Ausschlaggebend für die Auslassung alter Friedhöfe und die Anlage neuer Nekropolen war jedoch eine medizinisch-hygienische Agenda. Leichen, so die damalige Lehrmeinung, dünsteten gefährliche Gase aus, die den Lebenden schadeten.111 Bei der Verwesung steige der Brennstoff Phlogiston in die Luft und lasse die Luft zu Stickluft werden, die sehr stark toxisch sei.112 Heute weiß man, dass der Leichnam selbst normalerweise keine Gefährdung für die Le 109 Zu der Kabarettgruppe und ihrer Reputation siehe Weiss, Tomasz: Legenda i prawda Zielonego Balonika. Kraków 1976. 110 Staich, Ks. Władysław: Z dziejów cmentarza powszechnego w Krakowie. In: Ilustrowany Kurier Codzienny Nr. 297 vom 2.11.1930, 3–4. 111 Illi: Wohin die Toten gingen 137 f. 112 Bauer: Tod und Bestattung 12.

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benden darstellt. Es war viel mehr die Art und Weise der bis dato gepflegten Bestattung, die unhygienisch war. Aufgeklärte Herrscher verboten innerstädtische Beisetzungen und ließen neue Friedhöfe jenseits der Stadtgrenzen anlegen. Damit löste sich die bisherige Form des Zusammenlebens der Lebenden und der Toten auf. Neben der sanitärpolitischen Agenda hatte die Reform ein weiteres Ziel, welches ebenfalls ganz im Sinne der Aufklärung war: Den Religionsgemeinschaften sollte ihr bisheriges symbolisches und finanzielles Hoheitsmonopol über den Umgang mit dem Tod entzogen werden. Die Idee, Friedhöfe außerhalb der Stadt anzulegen, war nicht gänzlich neu. Das Judentum kannte ohnehin abseits der Stadt gelegene Friedhöfe. Auch im Christentum hatte es schon vor der Aufklärung Ansätze gegeben, Friedhöfe nicht länger unmittelbar in den Städten zu errichten. In Krakau etwa hatte bereits im 15. Jahrhundert der Mediziner und Priester Jan Wels die Idee, Friedhöfe aus den Städten zu verlagern, ein Ansinnen, welches seine Zeitgenossen nicht teilten und das sich deswegen nicht durchsetzen ließ.113 In anderen Städten Europas führte dieser erste Hygienediskurs sowie die praktische Notwendigkeit, die vielen Pesttoten zu bestatten, bereits zu ersten Anlagen neuer Friedhöfe außerhalb des Stadtzentrums.114 Neue hygienische Diskurse brachten das Thema Ende des 18. Jahrhunderts europaweit erneut auf die Tagesordnung. Diesmal führte die Sorge um die Gesundheit der Lebenden zu Friedhofsverlegungen in den europäischen Städten. So wurden etwa in Lemberg bereits 1786 vier Friedhöfe außerhalb der Stadt angelegt, wovon der bekannteste der Lychakiv-Friedhof ist.115 In Warschau wurde 1792 der Powązkowski-Friedhof außerhalb der Stadttore eröffnet.116 Auch in Krakau wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Neuanlage von Friedhöfen diskutiert. Die einen sahen aus hygienischen Bedenken in der Friedhofsverlagerung eine Notwendigkeit, andere  – wie der Krakauer Dominikanerpater Wawrzyniec Teleszyński – befürchteten, dass mit einer Verlegung der Friedhöfe auch die Verstorbenen aus dem Gedächtnis der Lebenden getilgt werden würden.117 Die Reformer konnten sich durchsetzen, weil ihr Anliegen auch das Anliegen der Obrigkeit war: Am 18. Februar 1792 forderte die Polizeikommission beider 113 Staich: Z dziejów cmentarza powszechnego 3 f. 114 Bauer: Tod und Bestattung 9. Fischer, Norbert: Zur Geschichte der Trauerkultur in der Neuzeit. Kulturhistorische Skizzen zur Individualisierung, Säkularisierung und Technisierung des Totengedenkens. In: Ders./Herzog, Markwart (Hg.): Totengedenken und Trauer­ kultur. Geschichte und Zukunft des Umgangs mit Verstorbenen. Stuttgart 2001, 41–58, hier 42. 115 Kvjatkovskyj, Andrij: Cvyntar Na Lyčakovi. L’viv 2009. 116 Szwanowska, Hanna: Dzieje cmentarza powązkowskiego. In: Waldorff, Jerzy u. a. (Hg.): Cmentarz Powązkowski w Warszawie. Warszawa 1982, 7–12. 117 Grodziska: Cmentarz Rakowicki 14–16.

60  Der Tod im städtischen Alltag Nationen (Komisja Policji Obojga Narodów), die 1791 vom Vierjährigen Sejm118 zur Aufsicht über die königlichen Städte einberufen worden war, im »Königlichen Dekret an die Freien Städte mit Hinblick auf Friedhöfe und Schlachthöfe« (Uniwersał do Miast Wolnych względem cmentarzy i szlachtuzów) alle Glaubensgruppen dazu auf, ihre Friedhöfe in Gebiete jenseits der Stadtgrenzen zu verlagern,119 wobei schon der Name des Dekrets deutlich macht, dass der Friedhof als ein primär hygienisches Problem behandelt wurde. Über einen geeigneten Platz für den neuen Friedhof machte sich der Priester Andrzey Trzcinski, der Physik an der Krakauer Akademie lehrte,120 in der kurzen Schrift »Bemerkung zur besonderen Lage für den allgemeinen Friedhof« (Uwaga nad miejscem szczegolnem na cmentarz powszechny) Gedanken. Das 1792 erschienene Traktat sah in der Verlegung der Friedhöfe vor allem eine wichtige Reform aus dem Geist der Aufklärung heraus, die der Gesundheit und damit der Menschheit selbst dienen solle. Um diese vor etwaigen gefährlichen Ausdünstungen zu schützen, sollte das Gelände für den neuen Friedhof nach Ansicht von Trzcinski bestimmte Kriterien erfüllen: Es sollte so gelegen sein, dass der Hauptwind die Luft nicht zu den Siedlungen trage; das Grundstück sollte trocken, entfernt vom fließenden Wasser sein und die Möglichkeit zur Erweiterung bieten; dort sollten Bäume gepflanzt werden, die – so die Vorstellung  – mit ihren Wurzeln die Verwesungsprodukte aufnehmen und weit in die Atmosphäre abgeben würden.121 Damit benannte Trzcinski die damals üblichen Kriterien für die neuen, nach sanitären Gesichtspunkten errichteten Friedhöfe, deren Anlage anders als die der organisch gewachsenen Kirchfriedhöfe genau geplant wurde.122 Die städtischen Autoritäten waren zwar darum bemüht, den sanitärpolitischen Forderungen Folge zu leisten und einen neuen Friedhof anzulegen, doch scheiterte das Projekt zunächst an fehlenden finanziellen Mitteln. Die Umsetzung wurde dringlicher, als im Jahr 1795 Krakau im Zuge der Dritten Teilung Polens erstmals als Teil Westgaliziens unter österreichische Jurisdiktion geriet. Damit trat auch ein Dekret Josephs II. vom 23. August 1784 in Kraft, welches die Lage der Friedhöfe sowie die Begräbnisformen für das Reich der Habsburger re 118 Der Vierjährige Sejm, auch Großer Reichstag, tagte nach der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 von 1788 bis 1792 in Warschau. Getragen von der Hoffnung, die Souveränität des Landes wiederherstellen zu können, erarbeitete der Reichstag viele Reformen. Am 3. Mai 1791 verabschiedete er mit der »Konstitution vom 3. Mai« die erste kodifizierte Verfassung in Europa. 119 Grodziska: Cmentarz Rakowicki 17. 120 Ebd. 14. 121 Trzcinski, Andrzey: Uwaga nad miejscem szczegolnem na cmentarz powszechny. Krakau 1792. APwK, Akta I Magistratu. 122 Treichel, Eckhardt: Friedhof und Denkmal als Orte ästhetischer Selbstinszenierung. Bürgerliche Begräbniskultur 1800–1930. In: Plumpe, Werner (Hg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Mainz 2009, 189–203, hier 190.

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gulierte. Das Dekret sah vor, innerstädtische Friedhöfe binnen sechs Monaten zu schließen. Zugleich nannte es Kriterien für die Grundstücke, auf denen neue Friedhöfe angelegt werden sollten, und gebot bescheidene Beerdigungen und Beisetzungen ohne Sarg.123 Damit griff das Dekret ein Anliegen auf, welches auch in der Wiener Publizistik vertreten worden war: Zu prunkvoll seien die Beerdigungen, deren Pomp den Verstorbenen nichts nütze, sondern nur der Eitelkeit der Lebenden und den Einnahmen des Klerus diene, hieß es in den zeitgenössischen Debatten in der Hauptstadt des Habsburgerreiches.124 Auch die im Jahr 1797 vom Hofkommissar für Westgalizien, Johann Wenzel von Margelik, erlassene Friedhofsordnung legte sehr viel Wert auf hygienische Bestimmungen und forderte zugleich karge Begräbnisse. Die hygienische Neuordnung von Friedhöfen ging also mit dem Bemühen einher, Beisetzungen in sozialer und religiöser Hinsicht neu zu gestalten. So sah die Verordnung beispielsweise vor, dass die Begräbnisliturgie zuvor in einer Kirche gefeiert werden könne, die Beisetzung selbst aber auf dem Friedhof ohne die Anwesenheit von Geistlichen vonstatten gehen sollte. Der Friedhof sollte damit ein in religiöser respektive konfessioneller Hinsicht neutraler Ort sein. Auch in sozialer Hinsicht sollte er möglichst neutral sein: Denk­mäler zum Totengedenken durften aus Platzgründen nur an der Friedhofsmauer, nicht aber auf dem Friedhof selbst errichtet werden.125 Der neue Friedhof sollte damit ein rein praktischer Ort und kein Ort sein, der repräsentativen oder sonstigen Zwecken diente. Nichtsdestotrotz sperrte sich die Erzdiözese in Krakau nicht gegen die Verlegung von Friedhöfen. Im Jahr 1795 gab das Krakauer Konsistorium bereits eine Anweisung heraus, die die Beisetzung innerhalb der Stadtmauern verbot. Beerdigungen durften nur noch auf zwei in den Vorstädten gelegenen Pfarrfriedhöfen vorgenommen werden: auf dem Friedhof der Pfarrkirche St.  Philipp und Jakub auf dem Kleparz sowie auf dem Friedhof der Kirche St. Peter in Grabary.126 1797 wiederholte die Hofkommission für Westgalizien das kaiserliche Patent mit der Aufforderung, die Friedhöfe aus den bewohnten Gebieten zu entfernen.127 Mit der Schließung der innerstädtischen Friedhöfe wurde die Anlage eines allgemeinen Friedhofs immer dringender. Das dafür erforderliche Grundstück erwarb der Krakauer Magistrat schließlich vom Orden der Unbeschuhten Karmeliten. Dieser besaß in der nördlich von Krakau gelegenen Ortschaft Prądnik Czerwony ein Gut namens Bosackie, wo der Orden eine Kloster­ 123 Grodziska: Cmentarz Rakowicki 18 f. 124 Wimmer, Johannes: Gesundheit, Krankheit und Tod im Zeitalter der Aufklärung. Fallstudien aus den Habsburgischen Erbländern. Wien u. a. 1991, hier 188 und 207. 125 Margelik, Johannes Wenzel Freiherr von: Verordnung/Rozporządzenie. APwK, Archiwum Akt Dawnych m. Krakowa, Mag I 380, Bl. 235–240. 126 Grodziska: Cmentarz Rakowicki 19. 127 Hońdo: Nowy Cmentarz Żydowski 14.

62  Der Tod im städtischen Alltag niederlassung unterhalten hatte, welche die österreichischen Machthaber Ende des 18. Jahrhunderts aufgehoben hatten.128 Die Stadt erwarb das Grundstück, welches nun eine praktische Funktion erfüllen sollte: 1803 wurde schließlich auf dem Terrain der allgemeine Krakauer Friedhof eröffnet. Zwar wurde die Reform des Bestattungswesens aus österreichischer Sicht auch als Teil einer Zivilisierung des rückständigen Krakaus im rückständigen Galizien verstanden;129 doch tatsächlich handelte es sich um ein Anliegen, welches schon vor der Annexion durch Österreich in Krakau selbst diskutiert worden war. Die Neuanlage von Friedhöfen im 19. Jahrhundert war nicht bloß ein städteplanerisches und ein gesundheitspolitisches Projekt, sondern stellte auch einen mentalitätshistorischen Einschnitt dar. Das enge Zusammenleben der Toten und Lebenden innerhalb der Stadtmauern fand ein Ende. Friedhöfe waren bis dahin multifunktionale Orte gewesen: Sie waren ein integraler Bestandteil der Kirchen gewesen, so dass der Weg ins Gotteshaus über den Friedhof führte. Zugleich dienten die Friedhöfe auch profanen Zwecken, wenn auf ihnen Märkte abgehalten wurden. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit waren Krakaus Friedhöfe Orte gewesen, an denen sich die Gläubigen versammelten, um kirchliche Lehren zu hören. An manchen Tagen wie an Allerheiligen oder Ostern hielten Geistliche dort bis zu drei Predigten nacheinander. An der Wende vom 15.  zum 16.  Jahrhundert entwickelte sich der Brauch, mit Gebeten, Gesängen und Predigten am Gründonnerstag auf dem Friedhof des Gebetes Jesu im Garten Gethsemane kurz vor seiner Verhaftung zu gedenken.130 Der mittelalterliche Friedhof war ein Ort der Katechese, der gesellschaftlichen Kontaktpflege und auch der Disziplinierung: Freiwillige und unfreiwillige Büßer taten beispielsweise auf dem Friedhof der Marienkirche, der der am meisten frequentierte Friedhof der Stadt war, öffentlich Buße.131 Durch die enge räumliche Verbindung mit der Kirche waren Friedhöfe gewöhnlich in der städtischen Topographie nicht als solche zu erkennen, was sich mit dem 19. Jahrhundert änderte.132 Zugleich verloren sie ihren multifunktionalen Charakter: Sie wurden zu »spezifischen Orten des Todes«.133 Mit der räumlichen Entfernung von den Kirchen änderten sich auch die Zuständigkeiten: Die Geistlichkeit verlor die unmittelbare Verantwortung für die Begräbnisse, für die nun weltliche Behörden verantwortlich zeichneten, was eine Kompetenzbeschneidung der religiösen Gemeinschaften bedeutete. Entsprechend empör-

128 Grodziska: Rakowicki 21. 129 Siehe Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 14. 130 Bąkowski, Klemens: Dzieje Krakowa. Kraków 1911, hier 269–271. 131 Jelisz, Antonina: Das alte Krakau. Alltagsleben vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. Leipzig 1981, hier 97. 132 Ariès: Geschichte des Todes 603 f. 133 Fischer: Geschichte des Todes 19.

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ten sich einige Geistliche über diese Pläne, es gab aber ebenso Geistliche, die das Projekt unterstützten, weil sie darin eine städteplanerische wie sanitärpolitische Notwendigkeit sahen. Auch in Krakau waren unter den Befürwörtern der Neuanlage von Friedhöfen Priester gewesen. Als der Krakauer Friedhof im Jahr 1803 neu angelegt wurde, sollte er dem österreichischen Reformabsolutismus entsprechend vor allem einen Raum darstellen, der nach funktionalen Kriterien geordnet war: Er sollte praktisch und nützlich sein, eine hygienisch einwandfreie Beisetzung ermöglichen und leicht zu verwalten sein. Zudem sollte er in mehrfacher Hinsicht ein neutraler Ort sein: Kein Standesbewusstsein und keine persönlichen Erinnerungen sollten den Pragmatismus im Bestattungswesen beeinträchtigen. Noch sollte ein Priester den Sarg auf den Friedhof geleiten: Die Beisetzungen sollten »ohne Gepränge, und ohne Begleitung des Geistlichen« erfolgen.134 So hatten auch die Beisetzungen ungeachtet der Person, ihres Standes und ihres Geschlechts nach Reihenfolge des Verscheidens zu erfolgen. Zu der rein praktischen Ausrichtung des Friedhofs gehörte auch, dass dieser prinzipiell überkonfessionell angelegt worden war. Dabei hatten sich die Religionsgemeinschaften untereinander zu einigen, ob sie den Friedhof aufteilen oder aber die Verstorbenen ungeachtet­ ihrer Konfession der Reihe nach beisetzen wollten.135 In der Bevölkerung jedoch fand der neue Friedhof zunächst nur wenig Anklang. Wer es sich leisten konnte, bevorzugte weiterhin die Kirchbestattung, obwohl diese mit den Reformen eigentlich untersagt worden war. Die Beisetzung in Kirchengruften hatte sich in Krakau großer Beliebtheit erfreut. Den Ordensgemeinschaften respektive Pfarreien brachte sie wichtige Einnahmen und den Verstorbenen eine ebenso prestigereiche wie erhoffte heilsförderliche Begräbnisstätte. Als Beispiel sei hier das Gewölbe der Kirche St. Kasimir der Franziskanerminoriten genannt, in deren Untergeschoss in den Jahren 1667 bis 1795 718 Laien beigesetzt wurden. Familien, die sich in besonderer Weise um das Kloster verdient gemacht hatten, erhielten dauerhaft eine eigene Krypta. Mit der Neuregelung des Bestattungswesens nahm die Zahl der Beisetzungen rapide ab, doch immerhin wurden trotz des Verbotes der Kirchenbeisetzung von 1795 bis 1870 noch 13 Beisetzungen vorgenommen.136 Angehörige des Landadels, des Bürgertums und des Professorenstandes ließen sich weiter in Kirchen beerdigen, wofür die Nachkommen eine Gebühr an die Stadt zu entrichten hatten.137

134 Margelik: Verordnung, Bl. 237. 135 Schreiben vom 3.7.1856. Archiwum Kurii Metropolitanej (weiter AKM), Akta pariafialne (weiter APA) 145, Bl. 520 f. 136 Pasiecznik, Jan: Działalność klasztoru Franciszkanów-Reformatów w Krakowie 1625– 1978. Kraków 1980, hier 21–28. Das Gewölbe stellt heute eine wenn auch wenig bekannte Attraktion dar: Aufgrund des Mikroklimas kam es im Untergeschoss zu Mumifizierungen. 137 Grodziska/Witosławski: Artium Decor 19.

64  Der Tod im städtischen Alltag In den ersten vier Jahrzehnten (1803–1840) fanden vor allem bedürftige Menschen auf dem neuen Krakauer Friedhof ihre letzte Ruhestätte.138 Nach den ersten vier Jahrzehnten wurden entsprechende Konzessionen gemacht, die den Friedhof nicht nur als einen Ort der Leichenbeseitigung, sondern auch des Totengedenkens erscheinen ließen. 1843 – und damit noch in der Zeit der Freien Republik Krakau – erließen die Senatoren der Stadt Krakau eine neue Friedhofsverordnung, die die Verordnung von 1797 ablöste und den Hinterbliebenen mehr Möglichkeiten in der Gräbergestaltung eröffnete. Über die Art der Beerdigung selbst sagte sie nichts, jedoch erweiterte sie das Spektrum der zulässigen Grabplätze. So waren mit der neuen Verordnung auch gewölbte Gräber sowie Katakomben gestattet. Größere Grabsteine durften mit einer Genehmigung errichtet werden. Ebenfalls erlaubt, aber genehmigungspflichtig waren Grabinschriften, denen die Zensurbehörde zustimmen musste.139 Damit sollten vornehmlich Inschriften mit nationalen Implikationen verhindert werden.140 Erlaubt wurden nun (anders als zum Ende des 18. Jahrhunderts) einfache Holzkreuze auf den Gräbern und liegende Grabplatten sowie das Bepflanzen der Gräber mit Blumen und Bäumen.141 Aus dem unbeliebten neuen Begräbnisplatz wurde so allmählich ein Friedhof mit dem Charakter einer Parkanlage, eine Form, die für die Friedhöfe des 19. Jahrhunderts typisch war und die mehr Raum für das individuelle Totengedenken eröffnete. Die Vorschriften, die das Bestattungswesen im 19. Jahrhundert neu regelten, betrafen nicht nur die christlichen Konfessionen, sondern auch die jüdische Gemeinde Krakaus. Getrennt blieb nach wie vor die jüdische Begräbnisstätte von der christlichen Nekropole. Mit der Möglichkeit einer Zusammenlegung hatte sich der bereits zitierte Priester und Physiker Andrzey Trzcinski beschäftigt, die Idee aber schnell wieder verworfen: Ein Bestatten auf demselben Grund würde nur »Spott«, eine Verschlechterung der Beziehungen und Hass und Verachtung mit sich bringen. Jedoch erwartete Trzcinski das Ende dieses Zustands im aufgeklärten Optimismus und gab sich zuversichtlich, dass einst die Zeit kommen werde, in der Juden neben Christen ruhen würden.142

138 Grodziska: Generalny – Powszechny – Krakowski 14. 139 Krakauer Friedhofsverordnung vom 1.1.1843. APwK, IT 912, Bl. 71–92. 140 Rozmaitości – Cenzura Nagrobków. In: Kraj Nr. 175 vom 30.9.1869. 141 Krakauer Friedhofsverordnung vom 1.1.1843. APwK, IT 912, Bl. 71–92. 142 Trzcinski: Uwaga nad miejscem.

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1.2.2 Ein neuer jüdischer Friedhof Die erste Reform, die die städtische Verwaltung von der jüdischen Gemeinde in Kazimierz forderte, war die Neuanlage eines Friedhofs. Friedhöfe gehören zu den zentralen und elementaren Einrichtungen einer jüdischen Gemeinde. Dem jüdischen Verständnis nach sind Gräber für die Ewigkeit angelegt und unter einen besonderen halachischen, also religionsgesetzlichen Schutz gestellt. Im Hebräischen heißt der Friedhof entsprechend bet ha-kwarot (»Haus der Gräber«) oder bet ha-olam (»Haus der Ewigkeit«).143 Ein einmal angelegtes Grab soll nach jüdischer Auffassung bis zum Kommen des Messiahs bestehen bleiben, worauf die Anlage eines jüdischen Friedhofs abgestimmt sein muss. Entsprechend hält die jeweilige jüdische Gemeinde Aussicht nach einem Boden, den sie nicht nur pachten, sondern dauerhaft besitzen kann.144 Daraus ergaben sich für die jüdische Gemeinde in Kazimierz, als sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgefordert wurde, einen neuen Friedhof anzulegen, zwei Konsequenzen: Erstens war die Gemeinde bestrebt, die bisherigen Friedhöfe zu erhalten, auch wenn sie in Zukunft nicht mehr genutzt werden durften, zweitens versuchte sie, für die Anlage des neuen Friedhofs ein Grundstück zu erwerben, welches der Gemeinde dauerhaft gehören sollte. In Kazimierz existierten bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwei Friedhöfe: der Remufriedhof sowie ein kleiner, seit dem 16.  Jahrhundert nicht mehr benutzter Friedhof am jüdischen Hauptplatz. Bis ins 19.  Jahrhundert bestattete die jüdische Gemeinde ihre Toten auf dem Remufriedhof, der in direkter Nach­ barschaft zur gleichnamigen Synagoge liegt und im 16.  Jahrhundert angelegt worden war.145 Das hebräische Akronym Remu verweist auf den Namensgeber, der auch auf dem Friedhof146 der angrenzenden Synagoge begraben liegt, den Rabbiner und Rechtsgelehrten Moses Isserles. Entsprechend war und ist sein Grab ein Anziehungspunkt für Besucher. Dieser Friedhof war zu Beginn des 19.  Jahrhunderts bereits überfüllt und genügte den Bedürfnissen der Gemeinde nicht mehr. Die Anlage eines neuen Friedhofs war also nicht nur wegen der obrigkeitlichen Verordnungen dringend notwendig. Ein passendes Gelände fand sich auf dem Gut Podbrzezie, welches in einer Biegung der alten Weichsel lag und sich im Besitz des Augustinerordens befand. Der Krakauer Kahal bemühte sich, das Land zu erwerben und wandte 143 Siehe Blisniewski, Thomas: Wandlungen der jüdischen Sepulkralkultur im 19. Jahrhundert. In: Denk, Claudia (Hg.): Der bürgerliche Tod. Regensburg, München 2007, 17–23. 144 Brocke/Müller: Haus des Lebens 18 f. 145 Bałaban, Majer: Przewodnik po żydowskich zabytkach Krakowa. Reprod. d. Ausgabe von 1936. Kraków 1991, hier 75 f. 146 Zu dem Friedhof, der heute auch als alter jüdischer Friedhof bekannt ist, Siehe Hońdo: Stary żydowski cmentarz. Ders.: The Old Jewish Cemetery.

66  Der Tod im städtischen Alltag sich mit dem Ansinnen an die Regierungsbehörden, die ihre Zustimmung gaben. Auch der Krakauer Weihbischof Józef Olechowski erklärte sich einverstanden mit dem Verkauf des Kirchenguts. Am 28. November 1800 wurde der Kaufvertrag unterschrieben. Auf den Kauf folgten Streitigkeiten, da der Konvent behauptete, beim Verkauf benachteiligt worden zu sein. Den Streit schlichteten die Behörden, die ein Interesse an der baldigen Einrichtung des Friedhofs hatten, indem sie den Augustinerorden mehrfach dazu anhielten, den ver­einbarten Kaufvertrag einzuhalten. Im Jahr 1804 wurde schließlich der neue jüdische Friedhof eröffnet,147 der wie der allgemeine Friedhof auf einem ehema­ligen Klostergut errichtet worden war. Schon bald erwies sich die Nähe zur Weichsel für den Friedhof als nachteilig: Es kam zu Überschwemmungen und im Frühling war der Friedhof zu nass, um dort Beerdigungen vornehmen zu können. Gleichzeitig machte es die Cholera­ epidemie von 1831 unabdinglich, genügend Begräbnisstätten bereitzuhalten. Das Land, das für die Erweiterung in Frage kam, gehörte wiederum dem Augustinerorden, der keinen Gefallen daran fand, erneut Land zu verkaufen, weil er nach wie vor behauptete, beim ersten Verkauf übervorteilt worden zu sein. Die städtischen Behörden drängten wegen der praktischen und offenkundigen Notwendigkeit auf den Verkauf an die jüdische Gemeinde. Unterstützt wurden sie darin vom bischöflichen Konsistorium. Die Augustiner aber führten pekuniäre Gründe an: Dadurch, dass der Orden mehrfach Land an die Stadt zum öffentlichen Gebrauch hatte abtreten müssen, habe er finanzielle Verluste erlitten und stehe nun vor dem finanziellen Ruin. Als verschiedene Vermittlungsversuche scheiterten, drohte die Stadt dem Augustinerorden mit Zwangsmaß­ nahmen, da die Stadtverwaltung das Abtreten von privatem Eigentum zum öffentlichen Gebrauch einfordern konnte.148 Nun lenkte der Prior des Ordens ein, verlangte aber einen überhöhten Preis. Obwohl er seinen ursprünglichen Preisvorschlag nicht durchsetzen konnte, wurde ihm das Grundstück schließlich im Jahr 1836 für 1 000 Złoty149 verkauft, obwohl die Landeskommission den Grundstückswert auf nur 570 Złoty geschätzt hatte.150 Seit 1800 bestand ein reger Briefwechsel, der sich mit der Frage des Verkaufs des Gebietes von den Augustinern an die jüdische Gemeinde beschäftigte. An diesem Briefwechsel, in dem es ausschließlich um finanzielle Angelegenheiten ging, beteiligten sich 147 Jakimyszyn, Anna: Powstanie i rozwój terytorialny nowego cmentarza żydowskiego w Krakowie. In: Hońdo, Leszek (Hg.): 200 lat nowego cmentarza żydowskiego w Krakowie. Kraków 2010, 35–53, hier 36–38. 148 Ebd. 38 f. 149 In der Zeit der Freien Republik Krakau war der polnische Złoty Währungsmittel. Mit der Annexion durch die Habsburgermonarchie wurde er durch den Gulden abgelöst. Im Jahr 1892 führte Österreich-Ungarn mit der Krone die Goldwährung ein, die 1900 das gültige Zahlungsmittel wurde. 150 Jakimyszyn: Powstanie i rozwój terytorialny 40–42.

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die kirchlichen Behörden, der Senat der Freien Stadt Krakau und die jüdische Gemeinde. Der Augustinerorden versuchte glaubhaft zu machen, dass ihm eine höhere Summe zustehe und wollte ohne Anerkennung dieser Forderung auch kein weiteres Gebiet für Arrondierungen verkaufen. Religiös motivierte Stellungnahmen gegen die jüdische Gemeinde respektive gegen das Ansinnen, auf (ehemals) kirchlichem Grund einen jüdischen Friedhof zu errichten, finden sich nicht.151 Für die Stadtbehörden war eine Erweiterung des jüdischen Friedhofs eine das Gemeinwohl tangierende Notwendigkeit, die schließlich nicht nur der jüdischen Gemeinde zugute kam, sondern auch zu besseren hygienischen Bedingungen in der Stadt beitrug. Die Zeit der Freien Republik Krakau (1815–1846) war für die jüdische Gemeinde mit starken äußeren Eingriffen verbunden: Die kommunalen Behörden nahmen der jüdischen Gemeinde ihre Autonomie und hoben im Jahr 1818 den Kahal als Selbstverwaltungsorgan der jüdischen Gemeinde auf.152 An seine Stelle trat ein von einem christlichen Vorsteher geleitetes »Jüdisches Komitee«, welches für den Gemeindehaushalt, Gebäude und Institutionen der jüdischen Gemeinde zuständig war. Für die jüdische Gemeinde erwies sich dieser Schritt als dramatisch: Sie verlor ihre eigene Gerichtsbarkeit und musste die Intervention und Kontrolle durch Nichtjuden in ihren inneren Angelegenheiten hinnehmen.153 Zu den vielen Eingriffen in das jüdische Leben gehörte auch der Versuch, das jüdische Bestattungswesen zu kontrollieren. Bisher hatte die jüdische Gemeinde  – ähnlich den christlichen Konfessionen  – das Bestattungswesen als Feld religiöser und ritueller Handlungen allein geregelt. Wie auch in anderen jüdischen Gemeinden üblich, hatte sich in Kazimierz die Begräbnisbruderschaft Chewra Kadischa (»heilige Bruderschaft«) der Totenfürsorge angenommen. Diese in der Frühen Neuzeit entstandene Vereinigung, die sich als eine Art Wohltätigkeitsverein innerhalb der immer größer werdenden jüdischen Gemeinden organisierte, war für das gesamte Bestattungswesen und die Begleitung von Sterbenden verantwortlich. Ihr Handeln war religiös ebenso legitimiert wie es als ehrenvoll wahrgenommen wurde, erfüllte sie doch mit ihrem Tun einen Dienst an den Toten, nämlich den, ihnen ein angemessenes religiöses Begräbnis zukommen zu lassen. Damit stand sie im Dienst der gesamten Gemeinde.154 Diese Einrichtung stellte einen bedeutenden Unterschied zum Christentum dar. Zwar kannte auch das Christentum fromme Bruderschaften, die sich der Totenfürsorge verschrieben hatten, allerdings waren diese nie eine solche ubiquitäre Einrichtung wie die jüdische Begräbnisbruderschaft. 151 APwK, Aug 565 (1751–1843) sowie Wolne Miasta Krakowa (WMK) VI–35. 152 Schmidt-Rösler: Gesetzgebung und Politik 210–241. 153 Ebd. 215 f. 154 Katz, Jacob: Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne. München 2002, hier 158 f.

68  Der Tod im städtischen Alltag Noch zum Jahrhundertbeginn handelte und existierte die Chewra Kadischa unabhängig sowohl von den städtischen Behörden als auch innerhalb der jüdischen Gemeinde. Zu ihren Aufgaben gehörte neben der Begleitung von Kranken und Sterbenden die Aufsicht über die jüdischen Friedhöfe und die Unterstützung von armen und mittellosen Juden im Todesfall ihrer Angehörigen. Sie unterhielt außerdem eigenes Personal, welches sie aus ihrem Fundus bezahlte. Der Wunsch der städtischen Behörden, alle jüdischen Tätigkeiten zu kontrollieren, führte auch hier zu Veränderungen. Am 14. August 1822 erschien eine Anweisung, die die Tätigkeit der Begräbnisbruderschaft regeln sollte (Instrukcja urządzająca Bractwa Pogrzebowego). Mit dieser Instruktion wurde die bislang unabhängige Begräbnisbruderschaft jüdischen wie nicht jüdischen Verwaltungsorganen unterstellt.155 Dazu gehörte, dass die Wahlen des Vorstandes nicht mehr wie bislang allein vom jüdischen Gemeindekomitee, sondern nur noch in Anwesenheit des Gemeindevorstehers des sechsten Bezirks (den die beiden Stadtteile Kazimierz und Stradom darstellten), des Rabbiners und des Vorsitzenden des Gemeindekomitees abgehalten werden sollten.156 Angesichts der Tatsache, dass der Vorsitzende des Gemeindekomitees ein von der Stadt bestimmter Christ und der Gemeindevorsteher des Bezirks ebenfalls ein städtischer Beamter waren, wurde so Nichtjuden die Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Chewra Kadischa gegeben. Dieser unliebsamen Intervention begegnete die Begräbnisbruderschaft unter anderem, indem sie im Jahr 1830 die Wahlen auf einen Sonntag legte, weswegen der christliche Gemeindevorsteher nicht bei den Wahlen zugegen sein konnte. Die Bruderschaft musste ihm daraufhin im Nachhinein den Verlauf der Wahlen offenlegen.157 Außerdem war die Begräbnisbruderschaft dazu verpflichtet, dem städtischen Innenausschuss sowie dem Rabbiner Rechenschaft über ihre Finanzen abzulegen, die sie bisher nach eigenem Ermessen hatte verwalten können. Diese Regelungen blieben bis zum Ende der Freien Stadt Krakau in Kraft.158 Mit der Eingliederung Krakaus ins Habsburgerreich teilten auch die Krakauer Juden in rechtlicher Hinsicht das Los anderer jüdischer Gemeinden in der Donaumonarchie. 155 Zu den Neuregelungen Siehe Jakimyszyn: Żydzi krakowscy 146–151. Im Anhang des Buches findet sich zudem die Instruktion abgedruckt (276 f.). 156 Die Zusammensetzung der Aufsichtsführenden lässt möglicherweise Rückschlüsse auf die Schwierigkeiten zu, die die christlich geprägten Behörden mit den Strukturen des jüdischen Gemeindelebens hatten: Sie setzten den Rabbiner häufig gedanklich mit dem Priester gleich, der in katholischen Gemeinden das Armenwesen beaufsichtigt, und wunderten sich dann über die vermeintlich ungehörige Eigenständigkeit der jüdischen Wohltätigkeitsvereine, zu denen die Chewra Kadischa gehörte. Der Rabbiner hatte dort keine besondere Funktion, strenggenommen war er nicht einmal für eine Bestattung notwendig, da ein Minjan (die jüdische Gebetgemeinde) von zehn volljährigen Männern ausreichend war. 157 Bałaban: Historja Żydów 650, Fußnote 23. 158 Jakimyszyn: Żydzi krakowscy 150 f.

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Wenig Sensibilität zeigten die Stadtbehörden in der Zeit der Freien Republik hinsichtlich der alten jüdischen Friedhöfe. Wie erwähnt, durften diese anders als die christlichen Friedhöfe nicht aufgelassen werden, da nach jüdischen Vorstellungen ein Grab für die Ewigkeit angelegt sein sollte. In den 1820er Jahren plante die Stadt jedoch bauliche Veränderungen im Stadtteil Kazimierz. Diese sahen unter anderem die Auslassung des alten, seit dem 16. Jahrhundert schon nicht mehr genutzten, kleinen Friedhofs in der ulica szeroka, dem Hauptplatz des jüdischen Viertels, vor. In den 1830er Jahren sollten zudem auch Teile des Remufriedhofes einer Straßenerweiterung weichen. Den Plänen widersetzte sich der Rabbiner Dov Meisels erfolgreich, der sich auf die von den polnischen Königen gewährten Privilegien für die Stadt Kazimierz berief, die unter anderem untersagten, Grabsteine zu verschieben und Friedhöfe zu zerstören.159 Insgesamt erwies sich einzig die Neuanlage eines jüdischen Friedhofs in der ersten Jahrhunderthälfte als unproblematisch, weil das Vorhaben sowohl den Bedürfnissen der jüdischen Gemeinden als auch den kommunalen Interessen entsprach. Dagegen musste die jüdische Gemeinde ihre alten Friedhöfe gegenüber der Stadt und ihrer Stadtplanung verteidigen, weil hier die jüdische Tradition gegen die städtischen Bauplanungen stand. Die Vorschriften bezüglich der Chewra Kadischa bedeuteten einen massiven Eingriff in das jüdische Bestattungswesen, bei denen die städtischen Behörden die innere Organisation der Bruderschaft umgestalteten.

1.2.3 Zäsuren zur Jahrhundertmitte Die Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutete für Krakau mit dem Ende der Freien Republik nicht nur eine wichtige politische Zäsur, sondern brachte auch für den alltäglichen und außeralltäglichen Umgang mit dem Tod Einschnitte. Verantwortlich dafür waren zwei sehr unterschiedliche Faktoren. Der eine war rechtlicher Natur: Sowohl die jüdische Gemeinde als auch die katholische Kirche konnten sich über eine rechtliche Besserstellung freuen. Das restaurative Konkordat, das der österreichische Kaiser Franz Joseph  I. und der Heilige Stuhl im Jahr 1855 schlossen,160 räumte der katholischen Kirche in allen Kronlän 159 Hońdo: Stary żydowski cmentarz 27. 160 Kaiserliches Patent vom 5. November 1855, wirksam für den ganzen Umfang des Reiches, womit das zwischen Seiner Heiligkeit Papst Pius IX . und Seiner kaiserlich-königlichen Apostolischen Majestät Franz Joseph I., Kaiser von Oesterreich, am 18. April 1855 zu Wien abgeschlossene Uebereinkommen (Concordat) kundgemacht und angeordnet wird, daß die Bestimmungen desselben, mit Vorbehalt der in den Artikel I und II dieses Patentes angedeuteten Anordnungen im ganzen Umfange des Reiches von dem Zeitpuncte der Kundmachung dieses Patentes an in volle Gesetzeskraft zu treten haben. In: Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Oesterreich (weiter RGB) (1855) 635–652.

70  Der Tod im städtischen Alltag dern weitreichende Kompetenzen ein. Zwar bezogen diese sich zumeist auf das Schulwesen und auf Eheangelegenheiten, doch gewährte das Konkordat der Kirche auch ein größeres Mitspracherecht in Bestattungsfragen.161 Etwa ein Jahrzehnt später verbesserte sich die rechtliche Stellung der Juden. Die Verfassungsgesetze vom Dezember 1867 gewährten den jüdischen Untertanen des österreichischen Kaisers rechtliche Gleichheit. Der Krakauer Gemeinde wurde zwei Jahre später eine neue Selbstverwaltung zuerkannt. Als Vertretung der Gemeinde fungierte fortan die Gemeinderepräsentanz. Einen Einschnitt im Umgang mit dem Tod ganz anderer Art bedeuteten verschiedene Wellen von Epidemien sowie Naturkatastrophen, die Krakau zur Jahrhundertmitte plagten. Im Jahr 1850 brannte ein Feuer einen großen Teil der Altstadt nieder. Einer Naturkatastrophe gleich kam auch die Choleraepidemie, die Krakau erstmals im Jahr 1831 ereilte und 1 464 Menschen das Leben kostete, wovon 591 im jüdischen Stadtteil Kazimierz gelebt hatten.162 Zur Jahrhundertmitte traf die Cholera die Stadt gleich mehrfach: In den Jahren 1847 bis 1849 forderte sie 1 124 Menschenleben, 1855 fielen ihr in nur einem Jahr 1 255 Menschen zum Opfer. 1866 starben bei der im Herbst auftretenden Epidemie 160 Menschen.163 Auch wenn sie nominell nicht zu den häufigsten Todesursachen gehört, so war doch die Cholera der Schrecken des 19. Jahrhunderts. Was sie brachte, war nicht der schöne und der romantische Tod, den die Menschen der Epoche sich erhofften, sondern eine plötzliche Erkrankung und ein qualvolles Siechtum. Weil jemand, der an einem Tag noch gesund war, schon am folgenden Tag von der Cholera dahingerafft sein konnte, besaß sie für die Zeitgenossen den Charakter einer Naturkatastrophe, vor der die Menschen sich entsprechend fürchteten.164 Die Cholera war damit eine Bedrohung, die auch das Bestattungswesen stark prägte. So gab sie immer wieder Anstöße zu Reformen des Bestattungswesens respektive bestätigte sie die Stadtbehörden affirmativ in der Überzeugung von der Notwendigkeit derselbigen. Allerdings herrschten damals unterschiedliche Auffassungen davon, wie die Cholera bekämpft werden müsste, weil unterschiedliche Theorien über die Natur der Krankheit und ihre Ausbreitung kursierten. Zwei Lehren standen sich gegenüber: die miasmatische und die kontagiöse.165 Der Kontagionismus und damit die Vorstellung, dass Krankheiten von Mensch zu Mensch übertragen werden, galt in der ersten Jahrhunderthälfte als veraltet. Die Miasma-Lehre, wonach Gifte entstehen, wenn tierische oder 161 Ebd. 639. 162 Bałaban: Historja Żydów 617. 163 Demel: Stosunki w latach 1853–1866 292. 164 Evans: Tod in Hamburg 297. 165 Ackerknecht, Erwin H.: Antikontagionismus zwischen 1821 und 1867. In: Sarasin, Philipp/Berger, Silvia/Hänseler, Marianne/Spörri, Myriam (Hg.): Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870–1920. Frankfurt am Main 2006, 71–110.

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pflanzliche Substanzen verwesen und sich dadurch Krankheiten verbreiten, erschien dem Großteil der Ärzteschaft plausibler.166 Dieser Vorstellung war es unter anderem geschuldet gewesen, dass die Verlegung der Friedhöfe aus den bewohnten Gebieten heraus so dringlich erschien. Gerade die erste Cholera­ epidemie von 1831/1832 ließ die Möglichkeit einer Übertragung durch Ansteckung als abstrus erscheinen, da die Cordons sanitaires die Ausbreitung der Krankheit nicht verhindert hatten. Erst die dritte (1852–1855) und die vierte Choleraepidemie (1865–1867) ließen viele Mediziner wieder die Ansteckung als Übertragungsweg in Betracht ziehen.167 Ein Vertreter der kontagiösen Richtung war der Medizinprofessor und spätere Krakauer Stadtpräsident Józef Dietl, der sich dem Kampf gegen die Epidemie verschrieben hatte. Im Jahr 1855 wurde er Mitglied der Krakauer Gesundheitskommission. In den Jahren zuvor hatte er bereits in Wien Erfahrungen als Armenarzt sammeln können. Er sah in der Cholera eine ansteckende Krankheit, die sich von Mensch zu Mensch übertrug.168 Entsprechend fielen die Maßnahmen aus, die er anordnete: Choleraerkrankte sollten im Krankenhaus von anderen Patienten isoliert werden. Beim ersten Auftreten von Durchfall, welches ihm als erster Hinweis auf eine Ansteckung galt, sollte der Betreffende sofort behandelt werden. Zugleich hatte Dietl gegen Aberglauben in der Bevölkerung zu kämpfen, die ihre Hoffnung lieber auf Zaubermittel statt in die Schulmedizin setzte.169 Ein Beispiel für solch abergläubische Methoden aus der jüdischen Gemeinde referiert der jüdische Historiker Majer Bałaban: Während der Choleraepidemie 1831 habe die jüdische Begräbnisbruderschaft Chewra Kadischa eine Hochzeit von Waisen auf dem Friedhof veranstaltet, zu welcher das Volk, welches an das Heilmittel glaubte, freudig zwischen den Gräbern tanzte.170 Die sogenannte Seuchenhochzeit war vor allem im östlichen Europa verbreitet. Sie beruhte auf der Vorstellung, dass böse Dämonen die Seuche verbreiteten. Ihnen könne die Hochzeit am Grab des zuletzt Verstorbenen Einhalt gebieten. Dabei sollte das Paar möglichst mittellos sein, weil das Verheiraten einer armen Braut als gute Tat galt. Obwohl der Brauch in der Literatur der Haskala171 als Aberglaube verspottet wurde, hielt er sich in Galizien noch bis hinein in das 20. Jahrhundert.172 Zur Prävention angesichts der Cholera und weiterer Epidemien gehörte auch eine stärkere Kontrolle des Bestattungswesens. Mehr als zuvor drängten nun 166 Ebd. 72–79. 167 Ebd. 87–94. 168 Demel: Stosunki w latach 1853–1866 283. 169 Ebd. 284. 170 Bałaban: Historja Żydów 664 f. 171 Hebräisch: Jüdische Aufklärungsbewegung. 172 Rappaport, Samuel: Seuchenhochzeit. In: Jüdisches Jahrbuch für Österreich (1932) 174–188.

72  Der Tod im städtischen Alltag die Behörden darauf, sanitäre Vorschriften strikt einzuhalten und ihnen den Vorzug vor Impulsen der Trauernden und religiösen Traditionen zu geben. Den Katholiken untersagte die Landesregierung, während der Choleraepidemie Leichname in Kirchen aufzubahren.173 Zugleich stellten die Kirchengemeinden für die weltlichen Behörden einen wichtigen Kommunikationskanal dar: Über die Geistlichen ließen die Stadtbehörden Vorschriften zum Verhalten angesichts der Cholera verkündigen.174 Die Landesregierung bat das bischöfliche Konsistorium darum, das Kirchenvolk angesichts der Gefahr durch Cholera von der Wallfahrt zum etwa 40 Kilometer von Krakau entfernten Pilgerort Kalwaria abzuhalten,175 da man offenbar Ansteckungen angesichts großer Menschenansammlungen fürchtete. Außerdem untersagte die Landesregierung katholischen Bruderschaften, an Beisetzungen teilzunehmen und riet ihnen, größere Menschenansammlungen zu meiden.176 Besonders hart waren die Interventionen für die jüdische Gemeinde. Das hatte zum einen seinen Grund darin, dass die Epidemie unter anderem wegen der beengten Wohnverhältnisse177 das jüdische Stadtviertel am stärksten traf,178 weswegen die dortigen hygienischen Bedingungen stärker in den Fokus von Stadtpolitik, Behörden und Publizistik gerieten. Zum anderen stach den zuständigen Behörden in diesem Zusammenhang die Diskrepanz zwischen jüdischen Begräbnissitten und sanitären Vorschriften deutlicher als zuvor ins Auge. Zugleich entzündeten sich innerjüdische Auseinandersetzungen an dem Gebaren der Chewra Kadischa, bei denen an den städtischen Magistrat als Mittlerinstanz appelliert wurde. Während sich also die jüdische Gemeinde angesichts der gewachsenen Autonomie einerseits und der stärkeren städtischen Einmischung in das Bestattungswesen andererseits in einer paradoxen Situation sah, brachte die Jahrhundertmitte für die katholische Kirche in dieser Hinsicht eine erfreuliche Wende: Auch wenn sie wie alle anderen zu einer Einhaltung der Hygienevorschriften angehalten war, so hatten die Katastrophen paradoxer Weise für sie einen positiven Effekt. Denn die katastrophalen Ereignisse brachten neben einer strengeren sanitärpolitischen Agenda eine neue normative Orientierung mit Blick auf Tod und Sterben mit sich, die durch das Konkordat von 1855 zusätzlich begünstigt wurde. Geplagt von Stadtbrand und Cholera suchten die Stadtbewohner mehrfach Zuflucht im Gebet: Aus Angst vor der Cholera versammelten sich die

173 Eintrag Nr. 508. AKM, Protokoł Czynności Konsystorza Ilnego Dyecezyi Krakowskiej w Krakowie z roku 1855 (weiter: Protokoł Czynności). 174 Einträge Nr. 499, Nr. 500 und Nr. 515. AKM, Protokoł Czynności z roku 1855. 175 Eintrag Nr. 691. AKM, Protokoł Czynności z roku 1855. 176 Eintrag Nr. 591. AKM, Protokoł Czynności z roku 1855. 177 Siehe Kapitel 1.1. 178 Demel: Stosunki w latach 1853–1866 291.

Modernisierung, Konfessionalisierung und Professionalisierung 73

panischen Stadtbewohner zu Bittgebeten.179 Auf den Stadtbrand sollten noch in den Jahren danach Gottesdienste am Jahrestag folgen, wenngleich die Teilnehmerzahl mit der Zeit abnahm.180 Doch die Einsicht, dass der Mensch Naturkatastrophen und Epidemien oftmals schutzlos ausgeliefert war, mag in der Folge eine neue religiöse Orientierung in Hinblick auf den Tod auch bei denjenigen bewirkt haben, die vor allem an einer instrumentellen Regelung des Friedhofs- und Bestattungswesens interessiert waren. Wie wir noch sehen werden, sollte sich dies in der Erlaubnis zur Errichtung einer Friedhofskapelle äußern, die aus katholischer Sicht ein wichtiges Manko bei der Gestaltung des Friedhofs beseitigte. Trotz dieser Unterschiede zeigten sich dennoch Gemeinsamkeiten in der Entwicklung des Bestattungs- und Friedhofswesens für die jüdische und die katholische Gemeinde: In beiden Fällen stärkten die Behörden ihre Verwaltungspräsenz auf dem Friedhof. In beiden Fällen sollte ein Friedhofsaufseher dafür sorgen, dass sanitäre Vorschriften eingehalten werden. Auch verlangten die Stadtbehörden in beiden Fällen die Errichtung eines Begräbnishauses auf dem Friedhof, durch welches die Behörden einen hygienisch korrekten Umgang mit dem toten Körper sicherstellen wollten, was hier wie dort auf Kosten bisheriger Trauer- und Bestattungsbräuche ging. Davon wird in den nächsten beiden Kapiteln die Rede sein.

1.3 Modernisierung, Konfessionalisierung und Professionalisierung – das Bestattungswesen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1.3.1 Vom neutralen zum konfessionellen Raum Auf die Geschichte des Krakauer Friedhofs zurückblickend beklagte der Krakauer Historiker Ambroży Grabowski (1782–1868) den Anblick, den der Friedhof in der ersten Jahrhunderthälfte geboten hatte: Aber hinsichtlich der Ordnung dieses Ortes haben wir, die Krakauer, uns sehr verspätet. Es tat weh zu sehen, wie der Ort der Totenruhe vernachlässigt war, bewachsen mit Unkraut, welches zur Hälfte die Gräber und Denkmäler bedeckte, und den Lebenden das Gehen erschwerte, die die Inschriften lesen oder bei den Gräbern ihrer Lieben beten wollten.181 179 Ebd. 282. 180 Ebd. 300. 181 Estreicher, Stanisław (Hg): Wspomnienia Ambrożego Grabowskiego. Kraków 1909, hier 227.

74  Der Tod im städtischen Alltag Obgleich Grabowski den Anblick des Friedhofs beklagt, so illustriert das Zitat eine Verschiebung der Wahrnehmung: War der Friedhof in der ersten Jahrhunderthälfte als Folge seiner Verbannung aus dem städtischen Raum ein Ort an der Peripherie gewesen, von dem nur diejenigen Gebrauch machten, die sich eine Alternative nicht leisten konnten, so galt er 50 Jahre später zunehmend als exklusiver Ort des Totengedenkens. Als solcher wurde er auch Thema der zeitgenössischen Publizistik. Ein Artikel in der konservativen Krakauer Tageszeitung Czas aus dem Jahre 1857 illustriert die neue normativ und expressiv geprägte Wahrnehmung des allgemeinen Friedhofs. Der Autor Józef Mączyński hatte sich in der Überzeugung, dass es Momente gebe, in denen ein Zwiegespräch der Lebenden und der Toten angebracht sei, in Krakau auf einen Friedhofsspaziergang begeben. In seiner Wahrnehmung war der Friedhof ein zutiefst religiöser Ort: »[…] unser schönster Garten, wo wir, wenn wir die Toten begraben, Samen säen, die in Christus auferstehen werden.« Gleichzeitig war die Begräbnisstätte für ihn ein Ort zum ehrenvollen Gedenken an die Vorfahren. Deswegen schmerzten Mączyński wie auch Grabowski vernachlässigte, von Unkraut überwucherte Gräber. Darüber hinaus hatte Mączyński auch in ästhetischer Hinsicht etwas am Friedhof auszusetzen: So warf er den Steinmetzen vor, ihre Arbeit nicht anständig zu machen und Grabmäler aufzustellen, die schon bald wieder rissig würden. Dennoch zeigte er sich hoffnungsfroh, dass sich die Stadtregierung bald dieser Missstände annehmen werde.182 Vor allem wünschte sich Mączyński eine Friedhofskapelle, in welcher der Einzelne »seinen Schmerz lindern und Trost finde könne« oder zumindest ein Kruzifix, welches daran erinnere, »dass wir alle leiden und sterben müssen.«183 Auch wenn Mączyński manches am gegenwärtigen Zustand des Friedhofs kritisierte, so spiegelt sich in seiner Beschreibung eine Wiederverzauberung des Ortes wider. Der Friedhof war nicht mehr bloß ein aus pragmatischen und hygienischen Gesichtspunkten angelegter Ort, als welcher er 1803 eröffnet worden war, sondern ein stark religiös konnotierter Ort, der für den Betrachter sowohl die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten ausdrücken sollte als auch die christliche Hoffnung auf eine Auferstehung der Toten. Als derart mit Bedeutung aufgeladener Ort sollte der Friedhof entsprechend ästhetisch gestaltet und mit christlichen respektive katholischen Symbolen markiert werden. Den Weg zu einem stärker nach religiös-konfessionellen Vorgaben gestalteten Friedhof ebnete das im Jahr 1855 zwischen dem Heiligen Stuhl und der österreichischen Krone geschlossene Konkordat. Im vierten Artikel wurde unter anderem verfügt, dass es den Bischöfen obliege, »die Leichenbegängnisse und alle anderen geistlichen Handlungen ganz nach Vorschrift der Kirchen­

182 Mączyński, Józef: Notat z wędrówki po Krakowie. In: Czas Nr. 166 vom 24.7.1857, 1. 183 Ebd.

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gesetze zu ordnen.«184 Waren die Begräbnisse zur Jahrhundertwende vor allem nach sanitärpolitischen Kriterien neu reguliert worden, sollte nun – zumindest auf den Friedhöfen, auf denen Katholiken ruhten – wieder die katholische Lehre bestimmend sein, die im Friedhof einen heiligen Ort (locus sacer) sah, für den die gleichen Regeln wie für die Kirchengebäude galten.185 Zwar bevorzugte die katholische Kirche nach den Friedhofsreformen nach wie vor rein katholische Friedhöfe, musste sich aber den staatlichen Vorschriften beugen, die zumeist gemischt konfessionelle Begräbnisstätten forderten. Allerdings achtete sie auf abgesonderte Gebiete für die Katholiken, die als kirchliche Begräbnisstätten geweiht wurden.186 Auf die Umsetzung dieser neuen Praxis hatte der Pfarrer von St. Nikolaus, in dessen Pfarrgebiet der allgemeine Friedhof lag, schon vor dem Konkordat, nämlich im Jahr 1840, versucht hinzuwirken, als er das bischöfliche Konsistorium bat, bei den Behörden zu erwirken, dass auf dem Friedhof ein abgesonderter Platz für all diejenigen eingerichtet werden möge, denen die katholische Kirche das Begräbnis verweigerte.187 Nun brachte das Konkordat in Krakau die Möglichkeit näher, das Ideal eines rein katholischen Friedhofs zu verwirklichen. Eine Schwierigkeit ergab sich insofern, als die Friedhöfe Anfang des 19. Jahrhunderts als konfessionsübergreifende Friedhöfe angelegt worden waren. In Krakau hatte das zur Folge, dass auch Protestanten Familiengrüfte errichtet hatten. An den Apostolischen Vikar in Krakau erging daher die Bitte, diese bereits bestehenden Grüfte anzuerkennen. Nicht nur, dass eine weltliche Behörde nun als Bittsteller bei einer kirchlichen auftrat und damit die Josephinischen Reformabsichten umkehrte; in dem Schreiben wurde der allgemeine Krakauer Friedhof darüber hinaus als »katholischer Friedhof« bezeichnet.188 Schon einige Monate zuvor war die Weisung ausgegeben worden, wonach Friedhöfe möglichst konfessionell getrennt sein sollten. Die Beisetzung von Nichtkatholiken auf katholischen Friedhöfen sollte nur in Ausnahmefällen, beispielsweise angesichts zu großer Distanzen zum nächsten nicht katholischen Friedhof, erfolgen. Wo dies nicht möglich sei, sollte ein Teil des Friedhofs für die Beisetzung von »Akatholiken« abgesondert werden.189 184 Kaiserliches Patent vom 5. November 1855 639. 185 Plöchl, Willibald M.: Geschichte des Kirchenrechts. Bd. IV: Das katholische Kirchenrecht der Neuzeit. Wien, München 1966, hier 346. 186 Ebd. 346 f. 187 Schreiben des Pfarrers von St.  Nikolaus an das bischöfliche Konsistorium vom 26.10.1840. AKM, APA 145, Bl. 408. 188 Schreiben an den Apostolischen Vikar vom 17.11.1856. AKM, APA 145, Bl. 523–524. Der genaue Absender des Schreibens ist nicht identifizierbar, aufgrund des Inhalts liegt es aber nahe, dass es im Namen einer weltlichen Behörde ergangen ist. 189 Schreiben vom 3.7.1856. AKM, APA 145, Bl. 520 f. Bei dem Brief handelt es sich um eine Abschrift, die nicht unterzeichnet wurde. Adressiert ist der Brief an einen nicht genauer genannten Amts- oder Würdenträger (»Euer Wohlgeboren«).

76  Der Tod im städtischen Alltag Ebenfalls im Jahr 1856 war in Krakau eine Friedhofserweiterung nötig geworden. Das bischöfliche Konsistorium wandte sich an den Landespräsidenten mit der Bitte, sich beim Magistrat dafür einzusetzen, dass der evangelischen Gemeinde, falls sie keinen eigenen Friedhof erhalte, auf dem allgemeinen Friedhof ein separater Teil mit eigenem Eingang zugewiesen werde. Auch sollte ein Teil des Friedhofs für in Krakau verstorbene Anhänger der orthodoxen Kirche bestimmt sein.190 Die Vorstellung vom Friedhof als konfessionell determiniertem Ort fand sich auch in einer 1869 erstmals erschienenen Pastoraltheologie: Auf dem geweihten Friedhof werden nur die Katholiken beigesetzt, die in Einheit mit der Kirche verblieben sind. Durch die Bestattung eines Häretikers, Schisma­ tikers oder Ausgestoßenen oder eines Juden wird der Friedhof entehrt. Ungetaufte Kinder sollen in einem abgetrennten, ungeweihten Winkel beigesetzt werden. Akatholiken haben kein Anrecht auf unsere Friedhöfe; falls für sie kein abgetrennter Winkel besteht, werden sie in einer Ecke beigesetzt, die dadurch aufhört, geweiht zu sein.191

Zwar blieb der Krakauer Friedhof weiterhin ein allgemeiner Friedhof, doch nichtsdestotrotz vollzog sich zur Jahrhundertmitte eine Konfessionalisierung des Raumes: Errichtet wurde auf dem Friedhof zunächst eine Kapelle, später eine Wohnung für einen Friedhofspfarrer, so dass die katholische Präsenz auf der Krakauer Nekropole deutlich gestärkt war. Bereits 1841 hatte der Pfarrer von St. Nikolaus den Stadtbehörden den Bau einer Kapelle vorgeschlagen, was diese jedoch abgelehnt hatten. Drei Jahre später hatte sich der bereits zitierte ­Józef Mączyński mit dem Anliegen an den Senat gewandt.192 Der Senat beschloss damals zwar den Bau einer Kapelle, doch scheiterte die Umsetzung an den politischen Umständen: Krakau verlor 1846 den Status als Freie Stadt, und der neue Stadtrat, der nach der erneuten Inkorporation Krakaus in die Habsburgermonarchie zusammentrat, unterstützte das Projekt nicht. Stattdessen wurde eine provisorische Holzkapelle errichtet.193 1856 bekundete nun der Kaufmann und Bankier Ludwik Helcel (1810–1872), den Bau einer Friedhofskapelle finanzieren zu wollen. Helcel (ehemals Höltzel) stammte wie seine Frau Anna (1813–1880), geborene von Traubenberg, aus einer polonisierten österreichischen Familie, deren Mitglieder in Krakau als Kaufleute erfolgreich waren. Das Ehepaar Ludwik und Anna Helcel, das kinderlos blieb, zeigte sich sehr 190 Schreiben des Konsistoriums an den Landespräsidenten Graf Martinitz vom 26.11.1856. AKM, APA 145, Bl. 525. 191 Krukowski, Józef: Teologia pasterska katolicka dla użytku seminaryów duchownych i pasterzów dusz, 3. Aufl. Kraków 1887, hier 379. 192 Grodziska: Cmentarz Rakowicki 45 f. 193 Grodziska: Generalny – Powszechny – Krakowski 18.

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aktiv in der Wohltätigkeit.194 Diesmal bewilligten die Behörden den Bau einer Kapelle, so dass am 27. Juli 1861 der Grundstein gelegt werden konnte.195 Ein Jahr später, am 28. Oktober 1862 weihte Bischof Ludwik Łętowski die Kirche. Der Stifter Helcel war noch nicht gänzlich zufrieden mit seinem Werk. Zu der Kirche gehöre noch ein Priester, der Messen feiere und die Leichen der Armen zum Grab begleite, erklärte er anlässlich der Einweihung und fand damit sofort die Unterstützung des Bischofs.196 Zu Lebzeiten Helcels wurde das Projekt jedoch nicht mehr verwirklicht. Während Helcel nun in der von ihm gestifteten Kapelle ruhte, sorgte seine Witwe dafür, dass künftig ein Priester exklusiv für das Seelenheil ihres Mannes beten würde. Solche Messstiftungen verpflichteten einen Geistlichen, festgelegte Messen für das Seelenheil des Stifters zu feiern.197 Im Gegenzug wurde seiner Pfarrei oder seinem Kloster eine Vermögensmasse überschrieben, die oftmals eine wichtige Einnahmequelle für den Klerus darstellte. Aufgekommen waren Messstiftungen allgemein bereits im Mittelalter, waren aber zur Mitte des 19. Jahrhunderts nach wie vor üblich. Getragen waren sie von dem Gedanken, dass die Messe, die ein Priester in einer bestimmten Intention feiert, besondere Gnaden für die jeweiligen Personen bewirken würde. Vorschrift war und ist, dass ein Priester die Messe jeweils nur einer Intention widmen durfte und darf.198 Der aufgeklärte Staat erließ besonders dort, wo er für die Besoldung der Geistlichkeit zuständig war, Vorschriften für das Messstipendium und unterstützte die Auszahlung, weil so staatliche Leistungen verringert werden konnten.199 Teilweise sahen sich Gemeindepfarrer und Ordensgemeinschaften in der zweiten Jahrhunderthälfte jedoch außer Stande, ein Messstipendium anzunehmen,200 oder sie drängten darauf, die Zahl der vorgesehenen Messen zu reduzieren.201 Die Bedeutung, die der Messfeier für das Heil der Kranken und Verstorbenen zugesprochen wurde, zeigt auch der Umstand, dass sich der Vikar der Krakauer Diözese im Jahr 1859 an den Heiligen Stuhl mit der Bitte wandte, in Privat­ häusern sowohl am Kranken- wie auch am Sterbebett und bei den Leichnamen 194 Reinhard-Chlanda, Małgorzata: Dom Ubogich Fundacji im. Ludwika i Anny Helclów w Krakowie. Kraków 2003, hier 11–14. 195 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 171 vom 28.7.1861, 3. 196 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 249 vom 29.10.1861, 2. 197 Meßstiftung. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7. Freiburg u. a. 1998, 185. 198 Meßstipendium. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7. Freiburg u. a. 1998, 185 f. 199 Plöchl, Willibald M.: Geschichte des Kirchenrechts. Bd. V: Das katholische Kirchenrecht in der Neuzeit. Wien, München 1969, hier 205 200 So fanden sich im Briefverkehr des Krakauer Konsistoriums zahlreiche Hinweise auf Messstipendien und auch mehrfach Ablehnungen derselbigen. Siebe beispielsweise die Einträge Nr. 212 und Nr. 215. AKM, Protokoł czynności z roku 1858. Einträge Nr. 1074 und Nr. 1088. AKM, Protokoł czynności z roku 1860. Eintrag Nr. 125. AKM, Protokoł czynności z roku 1861. 201 Eintrag 328. AKM, Protokoł czynności z roku 1858.

78  Der Tod im städtischen Alltag verstorbener Personen die Heilige Messe feiern zu dürfen. Der Bitte wurde für den Zeitraum von zwei Jahren stattgegeben202 und die Erlaubnis anschließend verlängert.203 Wie sich im Folgenden noch zeigen wird, stand die kirchliche Sorge für die verstorbene Seele über der Fürsorge für den toten Körper. Anna Helcel stiftete im Jahr 1876 nicht nur ein Messstipendium, sondern begründete die dauerhafte Einrichtung einer Priesterstelle auf dem Friedhof, die der Krakauer Statthalter am 26. April 1877 bestätigte. Mit der Stiftung wurde die Anstellung eines Priesters ebenso finanziert wie ein Wohnhaus für letzteren, welches sich unmittelbar auf dem Friedhof befinden sollte. Dem Priester waren zwei Aufgaben zugedacht: Er sollte zum einen für die Verstorbenen des Friedhofs allgemein und für die Stifterfamilie insbesondere mit päpstlichem Ablass verbundene Messen lesen, zum anderen dafür Sorge tragen, dass alle Katho­liken mit geistlichem Beistand bestattet werden. Um sich ausschließlich den beiden Pflichten ungeteilt widmen zu können, war es ihm im Stiftungsvertrag untersagt, Dienste in der Pfarrei St. Nikolaus oder in irgendeiner anderen Pfarrei zu übernehmen. Angesichts der in Krakau verbreiteten Sitte, dass arme Stadtbürger ihre Toten vor allem am Nachmittag begruben, durfte er sich in dieser Zeit nicht vom Friedhof entfernen. Wenn ein Toter ohne geistlichen Beistand zum Friedhof gebracht wurde, sollte der Friedhofspriester ihn mit einem einfachen katholischen Ritual bestatten. Für diese Dienste durfte er keinen Lohn entgegennehmen. Sollte er wiederholt gegen diese Vorschrift verstoßen oder aber die Dienste verweigern, drohte ihm die Entlassung. Er sollte außerdem dafür Sorge tragen, dass die Kirche den ganzen Tag für die Gläubigen geöffnet ist. Auch war er dazu verpflichtet, bestimmte Messen zu feiern: Jeden ersten Sonntag im Monat sollte er eine Messe lesen, mit der ein vom Papst gewährter vollkommener Ablass verbunden war. Außerdem war er verpflichtet, jeweils am 12. November204 sowie am Sterbetag von Ludwik Helcel und nach dem Tod der Stifterin auch an deren Sterbetag eine Messe zu lesen sowie jeden Sonn- und Feiertag einen Gottesdienst für die Seelen der Stifterfamilie und aller auf dem Friedhof Begrabenen zu feiern. An anderen Gottesdiensten und Beerdigungen konnte der Priester so lange teilnehmen, wie sie seine Verpflichtungen nicht beeinflussten. Im Stiftungsakt behielt sich die Stifterin das Recht vor, einen ­Priester für die Stelle zu benennen. Nach ihrem Tod sollte das Recht an die Stadtgemeinde fallen.205 202 Einträge Nr. 87 und 278. AKM, Protokoł Czynności z roku 1859. 203 Eintrag Nr. 453. AKM, Protokoł Czynności z roku 1861. 204 Warum, wird im Stiftungsakt nicht begründet, doch handelt es sich bei dem 12. November um den Gedenktag des 1867 heilig gesprochenen Josaphat Kunzewitsch, der gerade in den höheren polnischen Schichten eine besondere Verehrung genoss, wie sich auch bei der Beisetzung des Stadtpräsidenten Mikołaj Zyblikiewicz im Jahr 1887 zeigen sollte. Siehe Kapitel 2.3. 205 Fundacya Anny z Treutlerów Helclowej. In: Dziennik Rozporządzeń dla Stoł. Król. Miasta Krakowa (weiter Dziennik Rozporządzeń) 22 (1886) 143–145.

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Die Stiftung verfolgte zwei Absichten. Die erste war philanthropischer Natur: Auch diejenigen, die es sich nicht leisten konnten, sollten mit kirchlichem Segen zu Grabe getragen werden. Eine Bestattung ohne kirchlichen Beistand war für Angehörige der römisch-katholischen Kirche gar nicht mehr möglich. Zudem wurde damit zweitens ein gewünschter Effekt der aufgeklärten Friedhofsverlegungen unterlaufen, nämlich der Entzug des Friedhofs aus der geistlichen Einflusssphäre. Sollte zu Jahrhundertbeginn noch keine Beisetzung auf dem Friedhof mit Priester erfolgen, so wurde nun mit der Stiftung festgelegt, dass jede Beisetzung vom eigens dafür angestellten Priester begleitet werden sollte. Nachdem die Friedhöfe von den Kirchen entfernt worden waren, kehrten nun die Kirchen auf den Friedhof zurück, wodurch der Friedhof nach einem halben Jahrhundert konfessioneller Neutralität als katholisch markiert wurde. Der Josephinische Reformgedanke, die Friedhöfe aus der Verantwortung der Religionsgemeinden herauszulösen – ein wichtiges Moment der Friedhofsverlegungen um 1800 – war damit konterkariert worden. Der Friedhof wurde resakralisiert, und er wurde wieder zu einem konfessionell geprägten Raum. Auch ein anderes Anliegen der Friedhofsreform war mit der Kapelle sichtbar unterlaufen worden, nämlich die Gleichförmigkeit der Gräber und das Verbot von Beisetzungen in Kirchen. Hier zeigte sich die dritte Absicht der Stiftung: Sie war für ihre Urheber selbst eine Investition in einen ehrenvollen Begräbnisplatz und in ihr persönliches Seelenheil. Denn das Ehepaar Helcel hatte den Bau der Kapelle unter der Bedingung gestiftet, dass dort Begräbnisplätze für sich und weitere Familienmitglieder reserviert sein würden. Mit der Kapellenstiftung hatte sich das Ehepaar Helcel ein altes aristokratisches Standesprivileg gesichert: das der Kirchbeisetzung. Um ein solches hatte sich Ludwik Helcel bereits zuvor vergeblich bemüht: Die Bitte, sich in der Franziskanerkirche eine Familiengruft errichten zu dürfen, war zwar vom Ordensoberen unterstützt, von der k.k. Landesregierung206 jedoch abgelehnt worden.207 Zugleich hatte sich das Ehepaar mit der dauerhaften Anstellung eines Friedhofsgeistlichen ein immerwährendes Messstipendium gesichert. Bis zum heutigen Tag wird in der Kapelle jeden Sonntag die Messe für das Stifterehepaar gefeiert.208 Zur Frömmigkeit des Ehepaars gesellte sich ein polnisch-nationales Sendungsbewusstsein: Das Vorrecht der innerkirchlichen Bestattung galt nur den Familienmitgliedern, die sich polonisiert hatten. Die Stadtgemeinde habe zwar laut einem Bericht des Czas dagegen Vorbehalte gezeigt, da sie das Vorrecht 206 Bis zum Ausgleich 1867 bezeichnete k.k. als Abkürzung für »kaiserlich-königlich« die Behörden des gesamten Reiches. Seitdem stand es nur noch für Behörden, Einrichtungen der österreichischen Reichshälfte, während sich k. und k. (kaiserlich und königlich) auf Behörden und Einrichtungen bezog, die beiden Reichshälften gemeinsam waren. Was nur Ungarn allein betraf, wurde mit einem einfachen »k.« für »königlich« gekennzeichnet. 207 Eintrag Nr. 507. AKM, Protokoł Czynności z roku 1859. 208 Auskunft des derzeitigen Friedhofsgeistlichen Stanisław Basista per E-Mail am 17.9.2013.

80  Der Tod im städtischen Alltag haben wollte, über die Kapelle und ihre Nutzung zu bestimmen. Diese Vorbehalte seien jedoch insofern in sich zusammengefallen, so die Zeitung, als die Stadtgemeinde den Kapellenbau nicht finanziert habe.209 Uneinigkeit herrschte zwischen der Stadt und den Stiftern auch ob der Nutzung des zu errichtenden Pfarrhauses: Die Stadt wollte das Gebäude zusätzlich nutzen, um dort den Friedhofsaufseher sowie die Totengräber wohnen zu lassen. Die Stifterin und die Stadt einigten sich schließlich darauf, dass die Stadt eine Wohnung für den Priester ausbauen würde und die Stifterin den Bau des Hauses mit der Summe von 10 000 Gulden österreichischer Währung förderte,210 eine Summe, die das Fünffache des Jahresgehalts des Stadtpräsidenten und mehr als das Zehnfache des Gehaltes des Stadtarztes darstellte.211 Die Tatsache, dass mit dem Bau einer Wohnung für den Friedhofspfarrer zugleich eine dringend benötigte Unterkunft für den Friedhofsaufseher gebaut werden konnte, könnte für die Stadtbehörden ein Motiv gewesen sein, dem Ansinnen von Anna H ­ elcel zuzustimmen. In Krakau war man geteilter Meinung ob des Engagements des Ehepaars Helcel: Die Zeitung Czas sympathisierte offenkundig mit dem Stifter. Dieser habe die Kapelle nicht aus Stolz gestiftet; er habe sich kein Mausoleum gebaut, sondern ein Gotteshaus für die gesamte Stadt errichten lassen212 – woraus sich im Umkehrschluss herauslesen lässt, welchen Vorwurf die Gegner des Projekts dem Stifter machten. Andere dagegen wie der Krakauer Publizist und Historiograph Ambroży Grabowski lobten das Stifterpaar in höchsten Tönen; für Grabowski waren sie »von der Vorsehung auserwählt«.213 Dass sich das Ehepaar Helcel mit der Kapellenstiftung tatsächlich in die Erinnerung der Nachwelt einschrieb, zeigt sich darin, dass die Kapelle später häufig als »Helcel-Kapelle« bezeichnet wurde. Diese Art der Jenseitsvorsorge erfreute sich im Krakau der zweiten Jahrhunderthälfte großer Beliebtheit. Das zeigt ein Beispiel zwei Jahrzehnte später: Graf Karol Czarnecki (1804–1888) legte im Jahr 1885 die Summe von 2 000 Gulden österreichischer Währung bei der Stadtkasse als Messstipendium an. Der Zinsertrag war für den Friedhofsgeistlichen bestimmt, der im Gegenzug wöchentlich und zusätzlich an 15 speziellen Gedenktagen eine Messe für den Stifter lesen sollte.  Als der Stifter 1888 starb, weigerte sich der Priester angesichts der ohnehin schon großen Zahl von Messen, auch noch dieses Messstipendium anzunehmen. Erst als die Erbin die Zahl der vorgesehenen Gottesdienste auf die Hälfte reduzierte, war der Priester bereit, das Stipendium anzunehmen.214 209 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 168 vom 25.7.1861, 3. 210 Fundacya Anny z Treutlerów Helclowej 143–147. 211 Górkiewicz, Marian: Ceny w Krakowie w latach 1796–1914. Poznań 1950, hier 233. 212 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 249 vom 29.10.1862, 2. 213 Grabowski, Ambroży: Cmentarze dawnego Krakowa. Wypisy z dzieł. Kraków 2008, hier 70. 214 Fundacya mszalna ś.p. Karola hr. Czarneckiego przy kaplicy na cmentarzu krakows­ kim. In: Dziennik Rozporządzeń 10 (1897) 42.

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Mit Argusaugen wurde das Handeln des Friedhofsgeistlichen vom Gemeinde­ pfarrer von St. Nikolaus beobachtet. Dieser war vom Magistrat schon einmal damit beauftragt worden, darauf zu achten, dass der Friedhofsgeistliche seine Messstipendien einhielt.215 Der Gemeindepfarrer beschwerte sich mehrfach, dass der Friedhofsgeistliche Aufgaben übernehme, die ihm laut Stiftungsakt nicht zustünden. Zugleich vernachlässige er seine Verpflichtungen: Er begleite nicht, wie im Stiftungsvertrag vorgesehen, alle Leichen mittelloser Verstorbener zum Grab.216 Das Konsistorium reagierte milde auf die Anschuldigungen: Zwar habe der Geistliche einen Verstoß begangen, doch sei das Friedhofsgelände mittlerweile so groß, dass die Pflicht, jeden mittellosen Verstorbenen zum Grab zu geleiten, schwer zu erfüllen sei. Das Konsistorium schlug daher dem Friedhofsgeistlichen vor, eine Änderung des Stiftungsvertrags zu erwirken.217 Dazu, wer an seiner Stelle die Leichen armer Verstorbener mit einem letzten Segen verabschieden sollte, oder ob man es fortan in Kauf nahm, dass sie ohne kirchlichen Beistand verabschiedet wurden, findet sich leider keine Notiz. Doch wurde von den Verfügungen, die das Stifterpaar Helcel getroffen hatte, als erstes der karitative Aspekt zur Disposition gestellt, unter anderem, weil hinsichtlich des Messstipendiums strengere Vorschriften zur Einhaltung galten. Tatsächlich beantragte der Friedhofsgeistliche mit Unterstützung des bischöflichen Konsistoriums beim Magistrat eine Änderung des Stiftungsaktes.218 Neben der klerikalen Präsenz auf dem Friedhof prägten auch die Feste des Kirchenjahres das Leben und Totengedenken auf dem Friedhof. Eine der ersten Assoziationen, die ein polnischer Friedhof heute hervorruft, ist sein Anblick zu Allerheiligen: Menschenmassen, eigens angereist für diesen Tag, bringen Kerzen und Blumen zu den Gräbern ihrer Verstorbenen, und wenn im November früh die Dämmerung einsetzt, ist der Friedhof hell vom Kerzenlicht erleuchtet. Der Brauch, der heutzutage oftmals als typisch polnisch empfunden wird, hatten die Krakauer in der Mitte des 19. Jahrhunderts von den Österreichern adaptiert.219 Schon bald wurde der Besuch des Friedhofs an Allerheiligen zu einer wichtigen Form des Totengedenkens. Dieses Gedenken galt es einzuhalten und nicht zu stören, weswegen das bischöfliche Konsistorium im Namen der Gläubigen Protest gegen eine Theateraufführung am Abend des Allerhei­

215 Eintrag 668. AKM, Protokoł Czynności z roku 1883. 216 Schreiben des Pfarrers Jan Drozdziewicz vom 16.9.1887, Eintrag 3724. AKM, Protokoł Czynności z roku 1887. 217 Schreiben des Konsistoriums an den Friedhofsgeistlichen Czekalski, Eintrag 3724. AKM, Protokoł Czynności z roku 1887. 218 Eintrag 3747. AKM, Protokoł Czynności z roku 1888. 219 Estreicherówna, Marja: Życie towarzyskie i obyczajowe Krakowa w latach 1848–63. Band 2. Kraków 1936, hier 101.

82  Der Tod im städtischen Alltag ligenfestes einlegte.220 Im Jahr 1887 berichtete der Kurier Krakowski von großen Menschenmassen auf dem Friedhof, die ein Fortkommen erschwerten.221 Mit der Popularisierung des Brauches stieg auch die Notwendigkeit, ihn in praktischer wie ästhetischer Hinsicht zu regeln, worum sich sowohl die Presseorgane wie auch die Stadtbehörden kümmerten. In einem Artikel aus dem Jahr 1866 echauffierte sich der Czas über die Bettler, die sich an Allerheiligen in der Hoffnung auf Almosen ebenfalls zum Friedhof statt ins Arbeitshaus begaben. Die gesammelten Almosen würden sie später in der nahegelegenen Kneipe beim sogenannten »Bettlerkarneval« vertrinken.222 Über die ästhetische Seite von Allerheiligen hatte sich der Kraj bereits im Jahr 1872 mokiert. Zwar sei es durchaus jedem gestattet, auf seine Weise den Toten die Ehre zu erweisen, doch wirkten nichtsdestotrotz schwarzweiße Papierketten und andere »weniger ästhetische Bräuche« kindisch.223 Dennoch hielt sich offenbar diese Art des Grabschmucks, denn der Kurier Krakowski notierte 15 Jahre später erfreut, dass nach ihrem Aufruf in dem Jahr weniger Transparente zu sehen gewesen waren. Auch hatte die Zeitung im Vorfeld über die Droschkenpreise informiert, um die Leser am Tag des Friedhofsbesuches vor potentiellen Wucherern zu bewahren.224 In späteren Jahren, als der Friedhof bereits mit der Straßenbahn zu erreichen war, gab die Stadt Verordnungen heraus, wann der Friedhof wie mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sei.225 Die Tatsache, dass der Friedhof als Raum symbolisch konfessionalisiert worden war, bedeutete jedoch nicht, dass er damit zu einer rein katholischen Nekropole geworden wäre. Er blieb nach wie vor ein allgemeiner Friedhof, auf dem auch Nichtkatholiken ihre letzte Ruhestätte fanden.226

1.3.2 Ästhetisierung des Friedhofs als städtisches Reformprojekt Die sanitäre und ästhetische Gestaltung des Friedhofs wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr zu einem Anliegen der Stadtbehörden. So existierte seit dem Jahr 1886 im Stadtrat eine Friedhofskommission.227 Die 220 Eintrag Nr. 1577. AKM, Protokoł czynności z roku 1858. 221 Kronika. In: Kurier krakowski Nr. 251 vom 3.11.1882, 2. 222 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 251 vom 4.11.1866, 3. 223 Rozmaitości – Dzien zaduszny. In: Kraj Nr. 252 vom 3.11.1872. 224 Kronika. In: Kurier krakowski Nr. 250 vom 2.11.1882, 2. 225 Rozporządzenie. In: Dziennik Rozporządzeń Nr. 11 (1913) 200. 226 Godfreijów-Tarnogórska, Agnieszka: Jesienny spacer w przeszłość. Ewangelicy na krakowskim Cmentarzu Rakowickim. In: Zwiastun 21 (2005) 11–14. 227 Skład Rady miejskiej, oraz wykaz i skład poszczególnych Sekcyj, Komisyj, Komite­ tetów i t. p. z łona Rady miejskich wybranych, lub też obok niej w Krakowie istniejących. In: Dziennik Rozporządzeń 36 (1886) 245–253, hier 246.

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Stadtbehörden, die das Bestattungswesen regulierten, waren dabei unter anderem mit der Schwierigkeit konfrontiert, die religiösen Zuständigkeiten nicht im Detail zu kennen, weswegen sie sich an die Religionsgemeinschaften zwecks Erläuterungen wenden mussten.228 Teilweise waren sich auch Kirchengemeinde und Stadt unsicher, was als pietätvoller Umgang mit dem Friedhof zu gelten habe. Als im Jahr 1887 der Magistrat der Stadt Krakau beim Konsistorium anfragte, ob die Errichtung einer Toilette gegen die Würde des Ortes verstoße, beauftragte das Konsistorium den Stadtdekan, in der Angelegenheit Nachforschungen anzustellen.229 Das Beispiel zeigt, dass die Religionsgemeinschaften trotz diverser Kompetenzübernahmen durch weltliche Behörden als Experten für den Umgang mit dem Tod betrachtet wurden. Auch hinsichtlich des jüdischen Friedhofs ließen sich die Behörden von der jüdischen Gemeinde die entsprechenden Traditionen und Vorschriften erklären.230 Bereits in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts lebte ein Aufseher direkt beim Friedhof, ohne dessen Wissen keine Beisetzung auf dem Friedhof vorgenommen werden durfte. Er wies Begräbnisplätze zu, beaufsichtigte die Friedhofswärter und wachte über die Ordnung auf dem Friedhof. Außerdem sollte er mit Essig und Wasser diejenigen versorgen, die vor Trauer ohnmächtig wurden, und darauf achten, dass niemand vor Ablauf von 48  Stunden beigesetzt wurde.231 Das ganze Jahr über sollte er auf die Ordnung auf dem Friedhof achten, die Vergabe der Begräbnisstätten protokollieren sowie Ansprechpartner bezüglich der Gräbergestaltung sein.232 Dass eine stärkere Kontrolle jeglicher Aktivitäten auf dem Friedhof nötig war, lag auch darin begründet, dass noch in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts die Wahrnehmungen des Friedhofs weit auseinander klafften. Während Stadtbehörden und Publizistik in dem Friedhof schon lange einen exklusiv dem Totengedenken gewidmeten Ort sahen, war er für Teile der Bevölkerung nach wie vor der multifunktionale Ort, der er Jahrhunderte lang gewesen war. Sie hatten daher keine Scheu, den Friedhof auch für gänzlich andere Zwecke zu nutzen wie das Weiden und Halten von Nutztier. Dieser Usus stellte offensichtlich für die Stadtbehörden ein Problem dar, weswegen im Jahr 1883 eine neue Instruktion für das Friedhofspersonal herausgegeben wurde, die dessen Aufgaben näher spezifizierte: Der Friedhofsaufseher war angehalten, Viehhaltung und Pflanzenanbau auf dem Friedhof zu unterbinden. Ebenso wie Schweine,

228 So fragt beispielsweise die k.k. Kreisbehörde das bischöfliche Konsistorium nach den Vorschriften und Verpflichtungen, die für die Geistlichkeit im Zusammenhang mit einer Beisetzung gelten. Eintrag 306. AKM, Protokoł Czynności z roku 1855. 229 Eintrag 4861. AKM, Protokoł Czynności z roku 1887. 230 Siehe Kapitel 1.4. 231 Grodziska: Cmentarz Rakowicki 38. Sie zitiert hier eine Dienstanweisung von 1831. 232 Krakauer Friedhofsverordnung vom 1.1.1843. APwK, IT 912, Bl. 71–92.

84  Der Tod im städtischen Alltag Kühe und Geflügel waren auch Hunde auf dem Friedhof unerwünscht.233 Schon zwei Jahre zuvor war das Mitbringen von Hunden bei Strafandrohung untersagt worden, da es im Gegensatz zur »traurigen Bestimmung des Ortes« stehe.234 Ebenso unerwünscht waren Betrunkene und Landstreicher: Sie vom Friedhof zu vertreiben, war eine Aufgabe der Totengräber, ihre Hauptaufgabe jedoch das Ausheben von Gräbern und die Instandhaltung des Friedhofs als Park.235 Neben den Totengräbern sollte ein sogenannter »Friedhofsgroßvater«, der von der Wohltätigkeitsgesellschaft bezahlt wurde, dafür sorgen, dass weder Betrunkene, Landstreicher noch Hunde die Nekropole betraten. Seine Hauptaufgabe aber war es, den Opferstock zu bewachen und die Glocken während einer Beisetzung zu läuten.236 Mit den Verordnungen strebte der Magistrat danach, den Friedhof als ästhetisch ansprechenden und exklusiven Ort des Totengedenkens zu etablieren und zu erhalten. Wie auch sein Kollege auf dem jüdischen Friedhof hatte der Friedhofsaufseher des allgemeinen Friedhofs oder zumindest sein Vertreter Präsenz- und Residenzpflicht auf dem Friedhof. Eine Abwesenheit von mehr als fünf Stunden war genehmigungspflichtig. Wie auf dem jüdischen Friedhof, so war auch der Aufseher auf dem allgemeinen Friedhof dafür verantwortlich, genau Buch über die Beisetzungen zu führen und die sanitärpolitischen Anweisungen zu beachten. Außerdem sollte er im Falle, dass ein Scheintoter wieder zum Leben zurückkehrte, bis zum Eintreffen des Arztes erste Hilfe leisten.237 Hilfe hatte er zudem den Trauernden zu leisten, die auf dem Friedhof ohnmächtig geworden waren238 – ein Hinweis auf ekstatische Trauerbekundungen im 19. Jahrhundert.239 Daneben galt es, die Sicherheit auf dem Friedhof zu garantierten, wo es immer wieder zu größeren und kleineren Diebstählen gekommen war: Mal wurden lediglich Blumen gestohlen, ein anderes Mal in die Kapelle und Familiengräber eingebrochen.240 Im Jahr 1901 stellte daher die Stadt für die Sommermonate neben dem Friedhofsaufseher einen Wachdienst auf dem Friedhof ein.241 Die Blumen verweisen auf eine weitere paradigmatische Entwicklung im europäischen Friedhofswesen, die auch Krakau erfasste: Der Friedhof wurde immer mehr wie eine Parkanlage gestaltet, womit sich eine ethische wie eine ästhetische Absicht verknüpfte: Zum einen sollten die Pflanzen die Besucher 233 Instrukcya dla dozorcy cmentarza. In: Dziennik Rozporządzeń 15 (1883) 126 f. 234 Obwieszczenie L. 4725. In: Dziennik Rozporządzeń 4 (1881) 26. 235 Instrukcya dla dozorcy cmentarza. In: Dziennik Rozporządzeń 15 (1883) 128. 236 Instrukcya dla dziadka tow. dobrocz. In: Dziennik Rozporządzeń 15 (1883) 128. 237 Instrukcya dla dozorcy cmentarza. In: Dziennik Rozporządzeń 15 (1883) 126 f. 238 Ebd. 239 Ariès: Studien zur Geschichte des Todes 49. 240 Grodziska: Cmentarz Krakowski 39. 241 Budżet wydatków i dochodów miasta Krakowa. In: Dziennik Rozporządzeń 9 (1901) 55–75, hier 65.

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trösten, zum anderen die Gräber schöner erscheinen lassen.242 Im Krakauer Stadtrat war die Ästhetisierung des Friedhofs ein Anliegen, für manche sogar ein persönliches. So stiftete ein Krakauer Stadtrat im Jahr 1897 100 Gulden für die Verschönerung des Friedhofs, nachdem er für diesen Zweck bereits 500 Gulden gespendet hatte.243 Der konsequenten Ästhetisierung des Friedhofs standen wiederholte Fälle von Vandalismus im Weg, namentlich das Ausreißen von Pflanzen, welches der Stadtrat seit dem Jahr 1909 mit einer Strafzahlung von bis zu 200 Kronen und mit einem Arrest von bis zu 16 Tagen ahndete.244 Einen Monat darauf beschloss der Stadtrat, einen städtischen Betrieb zu gründen, der sich um die Gräber, Pflanzen und Grabsteine kümmern sollte.245 Zwei Jahre später wurde außerdem ein Gewächshaus direkt auf dem Friedhof errichtet.246 Die Ästhetisierung des Friedhofs, die dem exklusiven Ort des Totengedächtnisses seinen Schrecken nehmen sollte, betrieben die Stadtbehörden damit konsequenter und erfolgreicher als die technische Modernisierung des Friedhofs: Wie sich im Folgenden zeigen wird, vertagten sie beispielsweise immer wieder die Errichtung eines neuen, modernen Begräbnishauses. Zu dem Zeitpunkt war die Stadt schon längst nicht mehr der einzige neue Akteur im Bestattungswesen. Mit den Bestattungsunternehmen war ein neuer privatwirtschaftlicher Expertentypus für den Umgang mit verstorbenen Personen und ihren Hinterbliebenen erwachsen.

1.3.3 Neue Erwerbsräume – Der Aufstieg privatwirtschaftlicher Bestattungsunternehmen Mit den sanitärpolitischen Diskussionen, die sich um den Umgang mit den Toten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entfalteten, war der Umgang mit dem Leichnam eine primär diesseitige Angelegenheit geworden. Die instrumentelle Orientierung bestimmte den staatlichen wie städtischen Umgang mit der – im Duktus der Zeit  – »Leichenbeseitigung«. Diese neue Orientierung generierte viele hygienische Vorschriften und verlangte im Umgang mit dem Leichnam ein immer umfassenderes Expertenwissen. Der Umstand, dass die Friedhöfe weit entfernt vom Wohnbereich der Lebenden lagen, ließ die Organisation einer Beisetzung, für die nun ein Fuhrwerk notwendig geworden war, aufwendiger wer 242 Happe, Barbara: Die Reform der Friedhofs- und Grabmalkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Typisierung als reformästhetisches und soziales Gestaltungskonzept. In: Denk: Der bürgerliche Tod 24–34, hier 25.  243 Posiedzenie nadzwyczajne z  dnia 18 stycznia 1897r. In: Dziennik Rozporządzeń  13 (1897) 54. 244 Obwieszczenie. In: Dziennik Rozporządzeń 8 (1909) 109. 245 Obwieszczenie. In: Dziennik Rozporządzeń 9 (1909) 124 f. 246 Sprawozdania ze sekcyj i komisyj. In: Dziennik Rozporządzeń 7 (1911) 109.

86  Der Tod im städtischen Alltag den. Die neuen Vorschriften und veränderten Umstände ließen die Beisetzung immer mehr zu einer Aufgabe werden, die eine Nachbarschaftshilfe oder vergleichbare Organisationsformen kaum noch bewältigen konnten. Insofern markierte die Entwicklung von privatwirtschaftlichen Bestattungsunternehmen die letzte Stufe eines Wandlungsprozesses im Umgang mit dem Bestattungswesen. Aus der praktischen Notwendigkeit, den aufwendiger gewordenen Umgang mit dem Verstorbenen zu regeln, hatten einige Unternehmen ein Geschäft gemacht und boten neben allen zur Beerdigung nötigen Utensilien auch die damit verbundenen Handlungen als Dienstleistung an. Als Bestattungsunternehmen verrichteten sie alle behördlichen Angelegenheiten und organisierten die Beisetzung – angefangen vom Waschen der Leiche über den Leichentransfer zum Friedhof per Kutsche bis schließlich zur Grablege. Die Bestattungsunternehmen akkumulierten im Laufe der Zeit immer mehr Kompetenzen im Umgang mit den Toten, was im Umkehrschluss bedeutete, dass die einen – vor allem die Religionsgemeinschaften – Kompetenzen verloren, die die anderen – vor allem Privatpersonen – verlernten.247 Zugleich wurde durch die privatwirtschaftlich organisierten Bestattungsunternehmen die Totenfürsorge den Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage unterworfen. Die Beisetzung wurde zu einem Konsumgut, für das Hinterbliebene aus einem ausführlichen Katalog nach Geschmack und Repräsentationsbedürfnis Details und Ausschmückungen wählen konnten. In den privatwirtschaftlich organisierten Bestattungsunternehmen manifestierte sich damit in letzter Konsequenz ein qualitativ neuer Umgang mit dem Tod. Sie waren Teil  einer Entwicklung, die den Tod aus einem Kontext herauslöste, der bisher von Religionsgemeinschaften und nachbarschaftlicher Fürsorge geprägt gewesen war. Zugleich war die Totenfürsorge ein umkämpftes Feld, auf dem sich ein Konkurrenzdreieck von städtischen Behörden, religiösen Gemeinschaften und privatwirtschaftlichen Akteuren herausbildete. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen primären Orientierungen konkurrierten die drei Akteure um ökonomisches wie symbolisches Kapital.248 Bestattungsunternehmen entzogen den Religionsgemeinschaften eine wichtige Einnahmequelle. Zugleich nutzten sie religiöse Symbole und übernahmen rituelle Handlungen wie das Besprengen des Leichnams mit Weihwasser,249 was den Religionsgemeinschaften als unzulässiger Ein 247 Seinen Niederschlag findet der Umstand, dass die meisten Menschen den Umgang mit toten Menschen nicht gelernt haben, beispielsweise in der heute üblichen 24-Stunden-­ Erreichbarkeit der Bestattungsunternehmen. 248 Zum Kapital-Begriff siehe Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital  – Kulturelles­ Kapital  – Soziales Kapital. In: Ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 2005, 49–79. 249 Darauf lässt die weiter unten ausführlich zitierte Anfrage eines Krakauer Gemeindepfarrers schließen, in welcher er unter anderem beim Konsistorium anfragt, ob die Bestattungsunternehmen Weihwasser benutzen dürfen. Siehe 1.3.4.

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griff in ihren spirituell-liturgischen Hoheitsbereich erschien. Wie das Beispiel Krakaus und anderer Städte zeigt, waren zudem die Stadtbehörden bestrebt, von der Leichenbestattung als Einnahmequelle zu profitieren. Der Stadt kam somit eine doppelte Akteursrolle zu: Einerseits stellte sie eine behördliche Instanz dar, die über Zulassung und Regelwerk der Bestattungsunternehmen bestimmte, andererseits war sie ein wirtschaftlicher Akteur mit ökonomischen und damit eigennützigen Interessen. Für die Hinterbliebenen stellten Bestattungsunternehmen eine Erleichterung und eine Erschwernis zugleich dar: Einerseits antworteten die Bestattungsunternehmen auf tatsächlich bestehende Bedürfnisse und bedienten so eine bereits bestehende Nachfrage. Andererseits stellte trotz des zweifellos praktischen Nutzens der Umstand, dass Bestattungsunternehmen mit dem Sterben und der Trauer anderer Menschen ihr Geld verdienten – und diese Tätigkeiten ausschließlich zum Zwecke des Gelderwerbs verrichteten – ein Skandalon dar. Dieses Unbehagen hält sich bis heute. Dazu trägt auch das Faktum bei, dass Bestattungsunternehmen auf asymmetrischen Geschäftsbeziehungen beruhen, die unter anderem auf einer asymmetrischen Wissensverteilung basierten und basieren. So kennt der Kunde – der Trauernde – in der Regel nicht alle Dienstleistungen und Produkte, geschweige denn ihren Preis und befindet sich zudem in einer emotionalen Ausnahmesituation.250 Festzuhalten bleibt bei alledem, dass Bestattungsunternehmen seit ihrem Entstehen bis heute den Umgang mit dem Tod und seine Wahrnehmung prägen und widerspiegeln. Neben Medizinern und Geistlichen sind sie zu einem wichtigen Akteur in der Totenfürsorge geworden und üben deshalb einen ent­ sprechenden Einfluss auf das Feld aus. Den Anfang nahm diese Entwicklung in unserem Untersuchungszeitraum. Die Kritikpunkte, die damals hinsichtlich der Bestattungsunternehmen formuliert wurden, waren teilweise die gleichen wie auch heute noch. Die rechtliche Voraussetzung für die Genese von Bestattungsunternehmen in Europa stellte die Gewerbefreiheit dar. In Österreich trat sie im Jahr 1859 durch ein kaiserliches Patent in Kaft. 1885 wurden mit einer ministerialen Verordnung die Bestattungsunternehmen zu den konzessionierten Gewerben gezählt.251 In Wien gründeten sich 1867 mit den »Entreprises des Pompes Funèbres« und 1870 mit der »Concordia« die ersten Bestattungsunternehmen.252 An diese Vorbilder knüpften die Krakauer Gründungen ein Jahrzehnt später ganz 250 Nölle, Volker: Vom Umgang mit Verstorbenen. Eine mikrosoziologische Erklärung des Bestattungsverhaltens. Frankfurt am Main 1997, hier 39–43. 251 Verordnung der Minister des Handels und des Inneren vom 30. December 1885, betreffend die Einreihung der Leichenbestattungsunternehmung unter die concessionierten Gewerbe. In: RGB Nr. 14 (1886) 81–83. 252 Knispel, Franz: Bestattungsmuseum Wien. Führer durch die Sammlung. Wien 1997, hier 9.

88  Der Tod im städtischen Alltag offenkundig an: In Krakau gründete Jan Pękalski das erste Bestattungsunternehmen im Jahr 1880 und gab ihm den Namen »Concordia«, vier Jahre später folgte Aleksander Szafrański mit dem Bestattungsunternehmen »Pompe funèbre«.253 Dass der Name, der anderswo üblich war, auch in Krakau funktionierte, zeigt der Umstand, dass nach dem Tod Pękalskis im Jahr 1907 ein anderer Bestatter an den Krakauer Magistrat die Bitte stellte, den mit dem Tod Pękalksis wieder zur Verfügung stehenden Namen nutzen zu dürfen.254 Dass offenbar ein wachsender Markt für die Dienstleistungen rund um den Tod existierte, lässt sich daran erkennen, dass 1892 Franciszek Nowiński ein drittes Bestattungsunternehmen in Krakau gründete.255 Alle Bestattungsunternehmen boten vier Klassen von Beerdigungen an, wobei eine Beisetzung in der untersten Kategorie etwa ein Zehntel der Prachtbeisetzungen der ersten Klasse kostete. Wer in der Premiumklasse beigesetzt wurde, ruhte in einem Metallsarg, der zunächst im Sterbehaus aufgebahrt wurde und auf einem mit frischen Blumen dekorierten Katafalk, einem Gerüst für den Sarg, seinen Platz fand. Die Kerzen, die um den Sarg leuchteten, stellten nach diesem den zweitteuersten Posten dar. Mehr als ein Dutzend Droschken standen in der ersten Klasse den Trauergästen für die Fahrt zum Friedhof zur Verfügung. Die Beisetzung glich damit einer Parade, die nach Belieben ausgeschmückt werden konnte. Die 300 Gulden, die dafür anfangs verlangt wurden, konnten sich jedoch nur die wohlhabenden Krakauer Familien leisten wie etwa der Stadtpräsident, der 1885 ein jährliches Einkommen von 6 000 Gulden bezog; oder vielleicht die Familie des Stadtphysikus, dessen Einkommen in dieser Zeit zwischen 1 800 und 2 100 Gulden lag. Schier unerschwinglich war eine solche Beisetzung beispielsweise für den städtischen Nachtwächter, der jährlich 180 Gulden verdiente oder einen Maurergehilfen, dessen Tageslohn sich auf einen halben Gulden belief.256 Was als Mindestmaß einer würdigen Beisetzung empfunden wurde, lässt sich aus der Standardvariante der vierten Klasse ableiten, die in den 1880er Jahren zwischen 20 und 30 Gulden österreichischer Währung kostete: Dazu gehörten der Sarg aus weichem Holz, die ärztliche Untersuchung sowie die Bekleidung des Leichnams, ein Katafalk und ein Leichenwagen. Für die Fahrt zum Friedhof standen zwei Droschken bereit.257 Hieran lässt sich auch ein Wandel der Friedhofskultur ablesen: Offenbar war es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts selbstverständlich geworden, in jedem Fall den Sarg bis zum Friedhof zu begleiten – anders als in der ersten Hälfte des Jahr 253 Grodziska: Cmentarz Rakowicki 72 f. 254 Schreiben von Jan Wolny an den Krakauer Magistrat, dort eingegangen am 20.8.1907. APwK, Akta miasta Krakowa (weiter Kr) 8320, ohne Paginierung. 255 Grodziska: Cmentarz Rakowicki 73. 256 Górkiewicz, Marian: Ceny w Krakowie w latach 1796–1914. Poznań 1950, hier 218–237. 257 Obwieszenie L. 18074. In: Dziennik Rozporządzeń 12 (1883) 104 f. Obwieszenie L. 12560. In: Dziennik Rozporządzeń 11 (1885) 81 f.

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hunderts. Der verhältnismäßig weit von der Stadt entfernt gelegene Friedhof hielt gerade weniger begütete Familien davon ab, den Sarg bis zum Friedhof zu geleiten,258 so dass die eigentliche Beisetzung auf dem Friedhof in manchen Fällen ohne Hinterbliebene vonstatten ging. In der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts jedoch wurde der Friedhof, äußerlich nun einer Parkanalage ähnlich, zum spezifischen Ort des Todes und des Trauerns und auch zu einem Ort der Repräsentation. Dieser gestiegenen Bedeutung des Friedhofs trugen die Bestattungsunternehmen Rechnung. Der junge Unternehmer und gelernte Tischler Jan Wolny, der im Jahr 1900 eine Konzession für sein Bestattungsunternehmen erhielt, brachte eine Neuheit auf den Markt: Als erster der Bestattungsunternehmer bot er eigene Katakomben auf dem städtischen Friedhof an, in denen ein Toter bis zur Fertigstellung des eigentlichen Grabes vorübergehend aufgebahrt werden konnte.259 Ein festes Einkommen sicherte er sich außerdem durch einen Vertrag mit der k. und k. Festungsintendanz, für die er die Beisetzungen der Militärangehörigen ausrichtete.260 Die Genese der ersten Bestattungsunternehmen wurde von der Stadt Krakau mit Blick auf die örtlichen Verhältnisse unterstützt, wobei die Stadtbehörden die Bestattungsunternehmen dazu verpflichteten, detaillierte Hygienevorschriften zu befolgen.261 Für die Hinterbliebenen boten die neuen Bestattungsunternehmen zum einen einen hohen praktischen Nutzen, indem sie sich um alle Details der Beisetzung kümmerten und aus einer Hand alle notwendigen Utensilien verkauften – vom Sarg über die Grabstelle bis hin zu Trauerkränzen mit künstlichen oder echten Blumen sowie Trauerkleidung. Was die Bestattungsunternehmen zum anderen erfolgreich machte, war ihre Fähigkeit, zwischen den sanitären Vorschriften und den Bedürfnissen der Trauernden zu vermitteln. Die Sanitärpolitik, die die staatliche und städtische Regulierung des Bestattungswesens bestimmte, war ausschließlich funktional ausgerichtet und daran interessiert, den Einzelnen, öffentliche und private Räume sowie die Allgemeinheit vor der vom Leichnam ausgehenden Schädlichkeit zu schützen. Unberücksichtigt blieben dabei die Bedürfnisse der Trauernden, für die der Leichnam eines Angehörigen nicht primär ein hygienisches Problem darstellte, sondern die sterbliche Hülle einer nahestehenden Person. Bestattungsunternehmen schafften es hier durch ihren Erfindungsgeist, zwischen den hygienischen und sanitären Erfordernissen auf der einen Seite und den Bedürfnissen der Trauernden auf der anderen Seite zu vermitteln. So war es 258 Grodziska: Cmentarz Rakowicki 67. 259 Ebd. 73. 260 Schreiben der k. und k. Festungsintendanz in Krakau an den Magistrat der Stadt Krakau vom 16.3.1913. APwK, Kr 7776, ohne Paginierung. 261 Siehe beispielsweise Schreiben des Magistrats an Jan Wolny vom 5.6.1901. APwK, Kr 8320, ohne Paginierung.

90  Der Tod im städtischen Alltag beispielsweise nicht unüblich, dass sich Eltern, die ein verstorbenes Kind beerdigen mussten, zu dem kleinen Sarg auf den Wagen setzten und dabei teilweise gar das Särglein auf ihrem Schoß hielten. Der Magistrat untersagte diese Sitte aus sanitären Bedenken, in Hinblick auf Leichen von Kindern, die an einer ansteckenden Krankheit gestorben waren, und ordnete an, dass außer dem Kutscher niemand auf dem Wagen mitfahren durfte. Eine Ausnahme jedoch bildeten solche Leichenwagen, bei denen ein eigenes Abteil für den Sarg eingerichtet war, sodass den Trauernden die Kutschfahrt ermöglicht wurde.262 Außerdem befriedigten die jungen Unternehmen das zeitgenössische Bedürfnis nach Repräsentation. Beisetzungen wurden in der Zeit nicht nur für Angehörige der Aristokratie zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten, bei dem der im Leben erreichte Status auch im Tode repräsentiert wurde. Gerade in Krakau erfreuten sich pompöse Beisetzungen großer Beliebtheit.263 Die Bestattungsunternehmen trugen dazu bei, indem nun prachtvolle Beisetzungen, die vormals der Aristokratie vorbehalten waren, jedermann, der dafür zahlte, zugänglich waren. Betrachtet man die Anzeigen der Bestattungsunternehmen um die Jahrhundertwende, so fällt auf, dass diese vor allem mit den repräsentativen Elementen einer Beisetzung warben: So steht im Zentrum der Anzeigen oft der Sarg, dem schließlich bei den Funeralriten die Aufmerksamkeit galt. Ebenfalls häufiges Thema der Anzeigen war der Transport des Sarges zum Friedhof. So warben die Bestattungsunternehmen in ihren Anzeigen mit den »schönsten Leichenwagen« in der verglasten und unverglasten Variante und Dienstpersonal in prachtvollen Uniformen. Wer bei Szafrański eine Beisetzung bestellte, konnte zudem zwischen schwarzen und weißen Pferden wählen.264 Europaweit waren Funeralriten zu einer Gelegenheit geworden, Sozialprestige zur Schau zu stellen. Das stark aristokratisch geprägte Krakau bildete hier alles andere als eine Ausnahme. Einen entsprechenden Vorbildcharakter dürften die mit großem Pomp ausgeschmückten Beisetzungen von Künstlern und Staatsmännern aus Politik und Gegenwart gehabt haben, die in Krakau begangen wurden. Nicht zufällig bemühten sich die Bestattungsunternehmen darum, kostenfrei ihre Dienste für die Ausrichtung solcher repräsentativen Beerdigungen anzubieten.265 Die großen Beisetzungen spiegelten dabei den Geschmack der Zeit wider und präg 262 Verordnung des Magistrats vom 15.6.1891. AKM, Notificationes  e Curia Principis Episcopi Cracoviensis IV/V (1891) 52 f. 263 Więcek/Gotfryd: Cmentarze Krakowa 27 f. 264 Anzeige des Bestattungsunternehmens A. Szafrański. In: Usługi funeralne i  pracownie kamieniarsko-rzeźbiarskie 1881–1917, zusammengestellt von Agnieszka Kurek in der Małopolska Biblioteka Cyfrowa, URL: http://mbc.malopolska.pl/dlibra/doccontent?id=15545 (am 27.5.2013). 265 Eine solche Offerte findet sich beispielsweise in den Akten zur Vorbereitung der Beisetzung von Józef Ignacy Kraszewski 1887: Schreiben von Pękalski an den Stadtpräsidenten vom 21.3.1887. APwK, Uroczystości krakowskie 231–19, ohne Paginierung.

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ten ihn auch. Szafrański, der sich den Stadtbehörden dauerhaft als Partner für die Ausrichtung empfohlen hatte, warb entsprechend in seinen Anzeigen damit, die Beisetzung von Józef Ignacy Kraszewski, Mikołaj Zyblikiewicz, Teofil­ Lenartowicz und Adam Asnyk ausgerichtet zu haben.266 Mit diesen prachtvollen Beisetzungen, aber auch mit den bescheideneren­ Varianten, verband sich ein hoher logistischer Aufwand. Bestattungsunternehmen benötigten daher einen Fuhrpark, Stallungen und Pferde. Bald übernahmen sie eine weitere logistische Aufgabe: die Überführung von Leichnamen aus dem europäischen Ausland und in alle europäischen Länder. Um seine besondere Kompetenz in diesem Bereich zu demonstrieren, schmückte Jan Wolny seine Anzeigen mit dem Emblem der französischen Bestattungskasse und mit dem republikanischen Emblem der Marianne.267 Damit erfüllten Bestattungsunternehmen polnischen Exilanten (respektive deren Angehörigen) den Wunsch, in »polnischer« Erde zu ruhen. Eine negative Seite der Bestattungsunternehmen zeigte sich in ihren Werbemethoden: Das sogenannte »Anreißen«, das Ansprechen von Kunden außerhalb der Geschäftsräume, war um die Jahrhundertwende ein verbreitetes Phänomen, welches gerade im Fall von Bestattungsunternehmen als pietätlos und sittenwidrig empfunden wurde.268 Es geschah zumeist auf drei Wegen: durch den unaufgeforderten Besuch in einem Sterbehaus, durch das Werben in Krankenhäusern und durch das Ansprechen von Menschen auf offener Straße. Solches Vorgehen verurteilte der Krakauer Magistrat bereits am 29. Dezember 1899 und drohte den Bestattungsunternehmen bei Zuwiderhandeln mit dem Entzug der Konzession.269 Dennoch gelangten auch im Folgejahr Beschwerden über das pietätlose Werben bei Familien mit schwerkranken oder gerade verstorbenen Angehörigen an den Magistrat.270 Sogar die Zeitungen berichteten von derartigen Vorfällen und spiegelten damit das Unbehagen wider, welches der Tod als Einnahmequelle auslöste. Einen »merkwürdigen Überfall« schilderte der Głos Narodu (»Stimme der Nation«) im Dezember des Jahres 1901: Eine Frau sei plötzlich auf der Straße gepackt und in das Geschäft eines Bestattungsunternehmens gezerrt worden, wo partout versucht worden sei, ihr die »traurige Ware« aufzudrängen, an der die Frau weder Interesse noch gerade Bedarf hatte. Erst 266 Anzeige des Bestattungsunternehmens A. Szafrański. In: Usługi funeralne i  pracownie kamieniarsko-rzeźbiarskie. 267 Anzeige des Bestattungsunternehmers Jan Wolny. In: Usługi funeralne i pracownie kamieniarsko-rzeźbiarskie. 268 Hänel, Dagmar: Bestatter im 20. Jahrhundert. Münster 2003, hier 131. 269 Auf die Bekanntmachung Nr. 82361 beruft sich beispielsweise Franciszek Nowiński in einem Brief an den Magistrat (undatiert). APwK, Kr 8320, ohne Paginierung. 270 Siehe beispielsweise Brief von Henryk Łabęcki vom 4.8.1900. APwK, Kr 8320, ohne Paginierung. Das Schreiben richtete sich nicht gegen Jan Wolny, sondern gegen einen seiner Konkurrenten.

92  Der Tod im städtischen Alltag Passanten hätten die Frau schließlich aus dieser »unerhörten Aufdringlichkeit« befreien können.271 Den Vorwurf des unlauteren Wettbewerbs nutzten die Bestattungsunternehmen schon früh im Konkurrenzkampf untereinander, um sich gegenseitig beim Magistrat zu denunzieren. Dabei beschwerte sich beispielsweise das eine Unternehmen über das andere, dass dieses Strohmänner angestellt habe, die potentielle Kunden auf dem Weg zum Geschäft des Konkurrenten abfangen oder gegebenenfalls aus dem Geschäft des Konkurrenten herauswinken und ins eigene Geschäft führen sollten.272 Häufig wurde zudem das offensive Ansprechen von trauernden Angehörigen oder unbedarften Personen gemeldet.273 Ein anonymer Schreiber beschwerte sich außerdem beim Magistrat darüber, dass ein Bestattungsunternehmer seine Ware, zum Beispiel Särge, so arrangiere, dass sie dem Vorbeikommenden automatisch ins Auge springe, was der Schreiber für pietätlos hielt: Särge sollten nur für denjenigen sichtbar sein, der danach verlangt. Eine Ausstellung dagegen sei gerade für kranke Personen eine Zumutung.274 Der Magistrat untersuchte einige dieser Vorwürfe, andere legte er lediglich zu den Akten, weil er dahinter ein reines Konkurrenzgebaren vermutete.275

1.3.4 Genese und Scheitern der katholischen Beerdigungskasse Mit Skepsis betrachteten Krakaus Kirchengemeinden die Genese der Bestattungsunternehmen, da diese zum einen in ihren Kompetenz- und Hoheitsbereich eingriffen, zum anderen Symbole und Handlungen aus dem christlichen Kontext verwendeten. Die Frage nach den Kompetenzbereichen von religiösen und privatwirtschaftlichen Akteuren stellte sich nicht nur in Krakau, sondern auch allgemein im Habsburgerreich. Das zeigt ein Erlass aus dem Jahr  1907, in dem deutlich gemacht wurde, dass mit der Tätigkeit der Bestattungsunternehmen die rituellen Funktionen der Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht berührt würden.276 Der Staat definierte und schützte damit zugleich den Tätigkeitsbereich der Kirchen und Religionsgemeinschaften. 271 Kronika Miejscowa. In: Głos Narodu Nr. 278 vom 4.12.1901, 4.  272 Schreiben von Franciszek Nowiński an den Krakauer Magistrat vom 5.7.1901 sowie diverse Zeugenaussagen von Mitarbeitern des Bestattungsunternehmens Nowiński vor dem Magistrat am 12.12.1901. APwK, Kr 8320, ohne Paginierung. 273 Schreiben an den Magistrat der Stadt Krakau von Aleksander Szafrański, Franciszek Nowiński, Kazimierz Pękalski, eingegangen am 4.6.1903. APwK, Kr 8320, ohne Paginierung. 274 Anonymes Schreiben an den Magistrat. APwK, Kr 8320, ohne Paginierung. 275 Notiz des Magistrats vom 29.10.1902. APwK, Kr 8320, ohne Paginierung. 276 Verordnung des Handelsministers im Einvernehmen mit dem Minister des Innern und dem Minister für Kultus und Unterricht vom 1. August 1907, betreffend das konzessionierte Gewerbe der Leichenbestattungsunternehmungen. In: RGB Nr.  183 (1907), 729–30, URL: http://alex.onb.ac.at/ (am 27.5.2013).

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Für Krakaus Kirchengemeinden und Ordensgemeinschaften bedeuteten die neu entstandenen Bestattungsunternehmen sowohl eine ökonomische wie eine symbolische Konkurrenz. Davon legen zwei Schriften an das Krakauer Konsistorium Zeugnis ab, die der Pfarrer der Gemeinde St. Stephanus verfasste. Einmal beklagte er einen Missbrauch durch die Bestattungsunternehmen,277 ein andermal stellte er die Anfrage, inwiefern Kerzenständer, Katafalk und Weihwasser als Gegenstände zu sehen seien, die zu den kirchlichen Handlungen gehörten. Was ihn dabei störte, war weniger der Umstand, dass sich die Bestattungsunternehmen allgemein solcher religiös konnotierter Gegenstände bedienten als vielmehr die Tatsache, dass diese Symbole durch die Bestattungsunternehmen nun auch Eingang in die Beisetzung von Nichtkatholiken fanden, was dem Pfarrer zufolge als eine Beleidigung von Leichen verstorbener Gläubiger gewertet werden könne.278 Er fürchtete offenbar, dass die Kirche die Verfügungsgewalt über die symbolischen Handlungen und Gegenstände verlieren könnte. Insgesamt haben sich jedoch nicht viele Beschwerdeschriften erhalten. Es steht daher zu vermuten, dass die Kirchengemeinden schlussendlich Bestattungsunternehmen tolerieren mussten, unter anderem weil sie sich selbst nicht in der Lage sahen, eine umfassende Alternative zu bieten. Eine gewisse Ausnahme stellte der Verein »Katholische Beerdigungskasse« (katolicka kasa pogrzebowa) dar, den der Priester Henryk Skrzyński im Jahr 1894 gründete.279 Gedacht war der Verein zuvorderst als eine Solidaritätsgemeinschaft, deren männliche wie weibliche Mitglieder einander in schwerer Krankheit und im Tod beistehen sollten. Für einen monatlichen Mitgliedsbeitrag erhielt das gewöhnliche Mitglied die Garantie, dass die Vereinigung ihm kostenlos ein bescheidenes christliches Begräbnis bereiten würde. Neben den ordentlichen Mitgliedern, die sich zumeist aus der wenig vermögenden bis mittellosen Schicht rekrutierten,280 gehörten zu dem Verein auch außerordentliche Mitglieder, die dem Verein aus philantropischen Gründen angehörten: Sie zahlten das Dreifache des Mitgliedsbeitrags, ohne den Nutzen zu erhalten, der den gewöhnlichen Mitgliedern zukam. Außerdem verpflichtete sich der Verein dazu, Mitgliedern anderer katholischer Vereinigungen sowie armen Verstorbenen gegen eine geringe Gebühr oder bei großer Armut kostenfrei ein Begräbnis zu verschaffen.281 Denn auch wenn in Krakau viele prachtvolle Beisetzungen ge 277 Schreiben vom 12.11.1888. Eintrag 4709. AKM, Protokół Czynności z roku 1888. Welcher Art dieser war, wird leider in der Quelle nicht weiter ausgeführt. 278 Schreiben des Pfarrverwalters von St. Stephanus (Szczepan) an das Krakauer Konsistorium vom 19.6.1888. Eintrag 2507. AKM, Protokoł Czynności z roku 1888. 279 Brief vom 25.11.1909 der Beerdigungskasse an die Statthalterei in Lemberg mit Bitte um Erteilung der Konzession. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung. 280 Siehe Schreiben des Vereins an den Magistrat mit der Bitte, Särge verkaufen zu dürfen, ohne Datum. APwK, Kr 7779, ohne Paginierung. 281 Statut stowarzyszenia katolicka kasa pogrzebowa. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung.

94  Der Tod im städtischen Alltag feiert wurden, so zählten doch nach Berechnungen des Magistrats weit mehr als die Hälfte der jährlichen Sterbefälle zu den armen Schichten der Stadt.282 Um sich die Arbeit zu vereinfachen, strebte der Verein 1909 nach einer Konzession als zugelassenes Bestattungsunternehmen. Der Magistrat, der die Bitte an die Statthalterei weiterleitete, sprach sich für eine Bewilligung aus, jedoch mit der Einschränkung, dass die katholische Beerdigungskasse ausschließlich Beisetzungen für ihre Mitglieder ausrichten solle, da die Stadt ein eigenes Bestattungsunternehmen plane, welches sich vorrangig um die mittellosen Schichten kümmern werde.283 Nach eingehender Prüfung erteilte der Magistrat der Beerdigungskasse schließlich am 22. April 1913 die Konzession.284 Obwohl die Stadt zwischenzeitlich kein eigenes Bestattungsinstitut gegründet hatte, blieb die Tätigkeit der Kasse auf die eigenen Mitglieder beschränkt. Darüber hinaus hatte sich die Kasse an die Regelungen zu halten, die für alle Bestattungsunternehmen galten. Sie betrafen vor allem sanitärpolitische Vorgaben sowie die Tarifordnung.285 Ein erster Verstoß erfolgte bald. Ein Mitglied ließ die Kasse die Beisetzung seines Sohnes ausrichten. Mit der Organisation und Ausführung war der trauernde Vater jedoch nicht zufrieden: Im Ladengeschäft traf er auf einen Mitarbeiter, der ihm nur wenige Auskünfte geben konnte, später erhielt er eine Rechnung, die ihm deutlich zu hoch erschien. Eine Beschwerde bei der Kasse verbunden mit der Forderung, das zuviel eingeforderte Geld zurückzuzahlen, blieb unbeantwortet, weswegen er sich an den Krakauer Magistrat wandte.286 Dieser stellte ein dreifaches Vergehen fest: Der Leiter des Betriebs habe unerlaubterweise einen nicht ausreichend qualifizierten Vertreter eingestellt; die Preise seien tatsächlich überhöht gewesen, und in den Geschäftsräumen habe entgegen den Vorschriften nicht der gültige Tarif gut lesbar ausgehangen.287 In dem Verfahren zeigte sich bereits die Schwäche der Vereinigung: Alle Beschuldigten beriefen sich darauf, nichts von den Verfehlungen gewusst zu haben, was auf eine gewisse Strukturlosigkeit hinweist. Im Kriegsjahr 1916 zog das Bestattungsunternehmen der Beerdigungskasse in die ulica Grzegorzecka im gleichnamigen Stadtteil Grzegórski östlich der 282 Laut einem Schreiben des städtischen Statistikbüros an den Magistrat vom 14.9.1885 fielen 72 Prozent der jährlichen Sterbefälle auf Personen aus den ökonomisch schwachen Bevölkerungsschichten. APwK, Kr 7779, ohne Paginierung. 283 Schreiben des Magistrats an die Lemberger Statthalterei vom 24.1.1910. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung. 284 Schreiben des Magistrats an Jan Ostrowski vom 22.4.1913. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung. 285 Siehe Erteilung der Konzession durch den k.k. Statthalter am 18.3.1912. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung. 286 Brief Antonin Serafins an den Krakauer Magistrat vom September 1913. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung. 287 Siehe Schreiben an das Starostwo (Landratsamt) in Podgórze vom Januar 1913. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung.

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Altstadt um. Hier befand sich das allgemeine Landeskrankenhaus St. Lazarus sowie das Collegium Medicum der Jagiellonenuniversität. Das 1893 bis 1895 erbaute Collegium Medicum beherbergte unter anderem die Anatomie und die Gerichtsmedizin und damit auch Seziersäle und eine Beerdigungskapelle.288 Das Bestattungsunternehmen Nowiński hatte hier ebenfalls seine Geschäftsräume und auch Jan Wolny hatte hier zeitweilig eine Filiale unterhalten. Offenbar war die Nähe zu Krankenhäusern, in welchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits mehr Menschen als in Privathäusern starben,289 positiv für die Akquise und garantierte kurze Wege. Auch die Stadt plante, ebendort ihr Bestattungsinstitut anzusiedeln. Die katholische Beerdigungskasse begründete ihren Umzug gegenüber dem Magistrat damit, dass das dortige Ladengeschäft günstiger sei und in der Gegend viele Bedürftige lebten.290 Mit dem Umzug befand sich die katholische Beerdigungskasse nun in direkter Nähe des Bestattungsunternehmens der Erben Nowińskis, dessen Mitarbeiter die neue nicht kommerzielle Konkurrenz genau beobachteten. Offenbar war in den Kriegsjahren die Beisetzung ein ebenso stabiles wie zugleich umkämpftes Geschäft. Mehrfach erhielt der Magistrat Eingaben, dass die Beerdigungskasse auch Nichtmitglieder beisetze und zudem unlauteren Formen des Wettbewerbes fröne, indem sie durch Mittelsmänner Besuchern in Krankenhäusern auflauere und ihre Dienste offeriere. Zudem habe die Beerdigungskasse eine Verabredung mit dem Pförtner des Krankenhauses getroffen, sie bei Todes­ fällen umgehend zu informieren.291 Das Bild von raffgierigen Personen, die nur auf den Tod eines Menschen lauerten, wurde auch in der Presse kolportiert. Zweimal berichtete im Jahr 1916 der »Ilustrowany Kurier Codzienny« (»Illustrierter täglicher Kurier«) davon, dass sich in der Nähe des Collegium Medicum und des Spitals St. Lazarus »Beerdigungsfänger« (łapasze pogrzebowe)  herumtrieben, die Krankenhausbesucher danach befragten, ob sie gerade einen Toten zu beklagen hätten und ihnen ihre »bescheidenen Dienste« und »günstige und ordentliche Beisetzungen« anbieten dürften. Die Zeitung, der diese Information von jemandem aus der Stadtbevölkerung zugetragen worden war, identifizierte diese Personen als einer Beerdigungskasse zugehörig und rief den Magistrat auf, derartige Vorgänge zu un-

288 Kusiak, Marian: Dzieje Katedry Medycyny Sądowej. In: Tochowicz, Leon (Hg.): Sześćsetlecie Medycyny Krakowskiej, Bd. 2: Historia katedr. Kraków 1964, 315–89, hier 328 f. 289 So starben laut Krakauer Statistikbüro in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts im Durchschnitt 1 500 Personen in Krankenhäusern und in privaten Häusern 1 050 Personen. Bericht des Magistrats vom 5.2.1912. APwK, Kr 7779, ohne Paginierung. 290 Rekurs von Józef Gil gegen Entscheidung des Magistrats vom 30.11.1916, undatiert. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung. 291 Protokoll der Befragung von Stanisław Szczech, Angestellter der Erben Nowińskis vom 11.11.1916. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung.

96  Der Tod im städtischen Alltag terbinden.292 Um sicherzugehen, dass der Magistrat den Aufruf zur Kenntnis nehmen würde, leiteten die Bestattungsunternehmen Szafrański und Nowiński die Zeitungsausschnitte an ihn weiter.293 Mit Erfolg: Tatsächlich führte der Magistrat ein Verfahren gegen die Beerdigungskasse. Inwiefern die Vorwürfe tatsächlich zutrafen, ist insofern schwer zu eruieren, als alle Zeugenaussagen von Mitarbeitern der konkurrierenden Bestattungsinstitute gemacht wurden. Ein gewisser Widerspruch findet sich in den Aussagen insofern, als die Beerdigungskasse einerseits mit billigen Beisetzungen geworben haben soll, andererseits ihr vorgeworfen wurde, übertriebene Preise genommen zu haben. Der Magistrat zeigte sich jedenfalls davon überzeugt, dass die Vorwürfe begründet seien, und griff, als ihn wiederholt Klagen über die Beerdigungskasse erreichten, zu einer drastischen Maßnahme: Er ordnete Ende Dezember 1916 ihre Schließung an, im Januar 1917 entzog er die Konzession.294 Das Ende des Bestattungsunternehmens der katholischen Beerdigungskasse war damit einerseits durch die Konkurrenz zu den privatwirtschaftlichen Unternehmen bedingt, die sich gegen die Konkurrenz durch die Beerdigungskasse mit Eingaben beim Magistrat wehrten, zum anderen durch die Konkurrenz zur Stadt, die ebenfalls ein mit humanitärem Auftrag begründetes Bestattungsunternehmen plante und der es daher nicht unrecht war, der Beerdigungskasse die Konzession entziehen zu müssen. Darüber hinaus scheiterte die Beerdigungskasse an der Uneinigkeit ihrer Mitglieder, die miteinander konkurrierten und – von Magistrat und Polizei zu den Vorwürfen befragt – stets einem jeweils anderen die Verantwortung für die Missstände zusprachen, anstatt eine geschlossene und einheitliche Verteidigung nach außen zu vertreten. Zudem waren einige Mitglieder  – gerade in den wirtschaftlich schweren Kriegsjahren  – offenbar bestrebt, sich aus der Gemeinschaftskasse zu bedienen und weniger an der karitativen Zwecksetzung des Vereins und seines Bestattungsunternehmens interessiert.295

1.3.5 Das Projekt eines städtischen Bestattungsunternehmens Schon früh zeigte der Magistrat Interesse daran, an dem Markt, der durch die privaten Bestattungsunternehmen erschlossen worden war, selbst zu partizipieren. Erstmals wurde die Idee im Jahr 1885 formuliert und war von drei Beweg 292 Łapasze pogrzebowe. In: Ilustrowany Kurier Codzienny Nr.  224 vom 15.8.1916, 4. Nałogowi »łapasze pogrzebowe«. In: Ilustrowany Kurier Codzienny Nr. 282 vom 12.10.1916, 4. 293 Beschwerde von Szafrański und Nowiński im Oktober 1916. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung. 294 Siehe Schreiben des Magistrats an die Statthalterei in Biała vom 10.3.1917. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung. 295 Siehe die Strafregister von Barwinski, Gil und Wiśniewski vom Dezember 1916. APwK, Kr 8394, ohne Paginierung.

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gründen geleitet: Ein städtisches Bestattungsunternehmen sollte für die Öffentlichkeit von Nutzen sein, den städtischen Kassen Einnahmen bringen und eine bessere Kontrolle über die Einhaltung sanitärer Vorschriften garantieren, als es bei den privatwirtschaftlichen Unternehmen möglich war. Der Plan wurde jedoch schnell wieder verworfen, weil die tatsächlichen Einnahmen für die städtischen Kassen als unsicher angesehen wurden und der Stadtphysikus die bestehenden Regelungen bezüglich sanitärer Vorschriften für ausreichend erachtete, womit zwei der drei Argumente relativiert wurden. Im Jahr 1899 jedoch wurde die Diskussion wieder aufgenommen. Diesmal entschied sich der Stadtrat für die Gründung eines Bestattungsunternehmens. Explizite Gründe werden in den Protokollen nicht genannt, doch waren die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts in Krakau eine Zeit der beschleunigten Urbanisierung und Modernisierung, welche unter anderem im elektrischen Licht und dem Ausbau der Straßenbahnlinie sichtbar wurden.296 Im Jahr 1892 hatte außerdem erneut eine Choleraepidemie die Stadt heimgesucht, was den Wunsch nach einer intensivierten Hygiene- und Sanitärpolitik gestärkt haben mag. Drei Jahre später war zudem das Collegium Medicum der Jagiellonenuniversität in Betrieb genommen worden, in dessen Nähe später das städtische Bestattungsunternehmen und die Errichtung eines Leichenhauses geplant wurden, so dass die Vermutung naheliegt, dass die Stadt die Fürsorge für die Kranken, den hygienisch korrekten Umgang mit den Verstorbenen und den Schutz der Lebenden vor ansteckenden Krankheiten zu bündeln suchte. Auch 1899 waren es die gleichen Gründe wie schon 1885, die die Stadt­ Krakau die Gründung eines städtischen Bestattungsunternehmens in Betracht ziehen ließen: die Aussicht auf Einnahmen für die Gemeinde, Synergieeffekte durch die Bündelung von Friedhofsverwaltung, Sanitärpolitik und Bestattungswesen und die Hoffnung auf eine verbesserte Krankheitsprävention. So könnte die Stadt als Besitzerin einer eigenen Desinfektionsanstalt effektiver darüber wachen, dass Bestattungsunternehmen nicht zu Überträgern für ansteckende Krankheiten werden. Zudem könnte ein städtisches Bestattungsunternehmen besser darauf achten, dass Wohnort und Gegenstände nach dem Tod von Menschen mit ansteckenden Krankheiten gereinigt werden. Als philantrophisches Argument wurde das Armenbegräbnis angeführt, wobei dieses Argument zugleich auch ein ökonomisches war, da bislang die Stadtbehörden für Begräbnisse der vollkommen mittellosen Verstorbenen aufkommen mussten, deren Zahl im Durchschnitt bei 100 Toten im Jahr lag. Diese Kosten von jährlich 1 000 bis 1 600 Kronen suchte die Stadt zu minimieren.297 296 Zur Urbanisierung Krakaus siehe die Studie von Nathaniel D. Wood: Wood: Becoming Metropolitan. 297 Sprawa założenia miej. zakładu pogrzebowego w Krakowie 23.7.1914. APwK, Kr 7779, ohne Paginierung.

98  Der Tod im städtischen Alltag Um die Pläne für ein Bestattungsunternehmen zu konkretisieren, empfahl der Stadtrat dem Magistrat, entsprechende Studien vorzunehmen. Einige Jahre später erkundigte sich der Magistrat bei den Stadtverwaltungen größerer Städte im Deutschen Reich sowie in Österreich-Ungarn und bei der Stadtverwaltung in Warschau, wie dort das Bestattungswesen geregelt war.298 Dabei zeigten sich drei Muster: In einigen Städten wie in München und Dresden war das Leichenbestattungswesen schon sehr früh in Gänze kommunalisiert worden. In anderen Städten wie beispielsweise Budapest kümmerten sich ausschließlich privatwirtschaftliche Unternehmen um das Bestattungswesen. Eine kommunale Organisation war entweder nicht in Betracht gezogen worden oder aber gescheitert. Im dritten Fall hatten sich zwar privatwirtschaftliche Unternehmen gegründet, doch war es den Stadtbehörden später erfolgreich gelungen, das Bestattungswesen ganz oder zumindest teilweise zu kommunalisieren. Dazu gehörten die beiden habsburgischen Städte Wien und Lemberg, die den Krakauer Stadtbehörden somit als nachahmenswertes Beispiel dienten. Die Stadt Wien kaufte dazu im März 1907 die beiden größten Bestattungsunternehmen »Concordia« und »Entreprises des Pompes Funèbres« auf.299 Auch die Stadt Lemberg hatte im Jahr 1909 das größte privatwirtschaftliche Bestattungsunternehmen »Concordia« übernommen. Daneben existierte nur noch ein weiteres kleineres Bestattungsunternehmen in Lemberg, mit dem das städtische Bestattungsunternehmen problemlos konkurrieren und damit der Stadt eine zusätzliche Einnahmequelle erschließen konnte.300 Da die Stadt nun ein eigenes Bestattungsunternemens plante, war sie bestrebt, die Zahl der privaten Bestattungsunternehmen kleinzuhalten. Neue Konzessionen wurden entsprechend verweigert.301 1919 waren offenbar die Vorbereitungen für das städtische Bestattungsinstitut so weit abgeschlossen, dass die Stadt Krakau die Statthalterei in Lemberg um eine Konzession ersuchte.302 Jedoch finden sich in den Quellen keine Hinweise darauf, dass das Unternehmen tatsächlich umgesetzt wurde. Eng verbunden mit der Errichtung eines Bestattungsunternehmens war der Plan, ein städtisches Leichenhaus (dom przedpogrzebowy) zu errichten. Leichenhäuser waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts mancherorts aus Angst vor dem 298 Schreiben an die Magistrate von Berlin, Breslau, Posen, München, Graz, Linz, Brünn, Triest, Budapest, Wien vom September 1909. APwK, Kr 7779, ohne Paginierung. 299 Schreiben der Stadt Wien an den Magistrat der Stadt Krakau vom 25.9.1907. APwK, Kr 7779, ohne Paginierung. 300 Zusammenstellung von Akten zwecks Gründung eines städtischen Bestattungsunternehmens aus dem Jahr 1909. APwK, Kr 7779, ohne Paginierung. 301 Brief des Krakauer Magistrats an die Statthalterei vom 15.1.1917 mit der Bitte, das Konzessionsgesuch von Antonin Horak abzulehnen. Außerdem: Brief des Krakauer Magistrats an die Statthalterei vom 25.5.1916 mit der Bitte, Leon Gawlik, Bestattungsunternehmer in Podgórze, keine Filialgründung in Krakau zu gestatten. APwK, Kr 8373, ohne Paginierung. 302 Schreiben an die Statthalterei Lemberg vom 7.5.1919. APwK, Kr 7779, ohne Pagi­nierung.

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Scheintod errichtet worden: Die Aufbahrung der Leichen sollte die Bei­setzung nur scheinbar toter Menschen verhindern. Als im Laufe des Jahrhunderts die Angst vor dem Scheintod zurückging, dienten die Leichenhallen der hygienischen Aufbahrung von Leichen und damit als Alternative zur Aufbahrung in den teilweise beengten Wohnräumen.303 Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts war gemeinsam mit dem Friedhof ein Gebäude errichtet worden, welches zwei sehr unterschiedlichen Zwecken diente: Dort lebte zum einen der Friedhofshausmeister (gospodarz) gemeinsam mit seiner Familie, zum anderen war unter demselben Dach die Leichenkammer untergebracht. Nicht nur aus hygienischen Gründen erwies sich das Haus mit der Zeit als unzureichend. Feuchtigkeit war schon bald ein Problem und in den 1870ern drohte dem Haus bereits der Zerfall.304 Nun kam der Stadt das Ansinnen von Anna Helcel zugute, eine Wohnung für einen Priester auf dem Friedhof zu errichten. Geplant wurde ein neues Gebäude, in welchem sich zwei Wohnungen, eine für den Priester, die andere für den Hausmeister, sowie kleinere Wohnmöglichkeiten für die Totengräber befinden sollten. Auch eine neue Leichenkammer war errichtet worden.305 Was aber noch fehlte, war ein tatsächliches Beerdigungshaus mit mehreren Leichenkammern und einem Seziersaal. Immer wieder thematisierte der Krakauer Stadtrat die Notwendigkeit, eine neue Begräbnishalle auf dem Friedhof oder in der Nähe des geplanten städtischen Bestattungsunternehmens zu errichten. Erstmals wurde der Bau einer Begräbnishalle 1884 beschlossen.306 Mit der Planung eines städtischen Bestattungsinstitutes konkre­tisierten sich auch die Pläne für die Begräbnishalle: Dass dort Leichen zur Schau gestellt werden sollten, missfiel allerdings dem Krakauer Stadtarzt, der dem Tod mit einer instrumentell geprägten Orientierung begegnete. Ihm zufolge seien alle Vorrichtungen, die dem Publikum das Beschauen von Leichnamen ermöglichten, »eine Rückkehr zu mittelalterlichen Sitten«. Des Weiteren habe eine solche Ausstellung von Leichen weiterhin prachtvolle Beerdigungszüge zur Folge, »was unsere Stadt schon jetzt ungünstig vor anderen Städten auszeichnet.«307 Seine Kritik wurde allerdings nur bedingt gehört. Der Entwurf für die Leichenhalle sah vor, dass der Saal, in welchem die Leichen aufgebahrt wurden, von der ebenfalls zu errichtenden Kapelle durch gläserne Wände getrennt sein solle. Neben der Kapelle und einer kleinen Sakristei sollten sich in der Leichenhalle außerdem befinden: ein Saal für das Waschen und Ankleiden der Leichen, zwei Seziersäle, darunter ein eigener für Leichname von Personen, die 303 Fischer, Norbert: Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland. Köln u. a. 1996, hier 21–23. 304 Grodziska: Cmentarz Rakowicki 40 f. 305 Ebd. 41. 306 Siehe Posiedzenie nadzwyczajne z dnia 27. grudnia. In: Dziennik Rozporządzeń 14 (1884) 122 f. 307 Schreiben vom 10.12.1908. APwK, Kr 7779, ohne Paginierung.

100  Der Tod im städtischen Alltag an an­steckenden Krankheiten gestorben waren, Ärztezimmer, Räume und Duschen für die Beerdigungsdiener, ein Speicher für Särge und ein Raum für die Desinfektion.308 Die Medikalisierung des Todes bedeutete hier nicht die Entsakralisierung des Todes: Mehrfach wurde in dem Entwurf betont, dass die Leichenhalle von außen wie eine Kirche oder eine Kapelle aussehen solle.309 Die architektonische Gestaltung des Leichenhauses als Kirche sollte die Brutalität des Todes abschwächen. Das Begräbnishaus sollte zunächst der obligatorischen Aufbewahrung von Leichen dienen, später der fakultativen.310 Vorgesehen war der Bau in der ulica Grzegórzeska311 und damit in der Nähe des Collegium Medicum, wurde allerdings, obwohl er mehrfach diskutiert worden war, nicht verwirklicht, was vermutlich auch dem Kriegsausbruch geschuldet war. Zugleich zeigt die lange Diskussion, die schon in den 1880er Jahren ihren Anfang genommen hatte, ein Auseinanderklaffen von sanitärpolitischem Ideal und Wirklichkeit.

1.3.6 (K)ein Reformprojekt: die Feuerbestattung Eine der bedeutsamsten Veränderungen im Bestattungswesen Europas im 19. Jahrhundert war die Einführung der Kremation und die damit verbundene Urnenbestattung. Diese Veränderung ist als »äußerste Konsequenz einer säkularisierten Todesbewältigung«312 und als »der tiefste Einschnitt in der Geschichte des christlichen Friedhofs- und Begräbniswesens«313 beschrieben worden. Vielleicht liegt hier auch ein Grund, warum diese Neuerung in Krakau keine nennenswerte Zahl von Unterstützern fand. Die Feuerbestattung war in vorchristlicher Zeit eine übliche Bestattungsart gewesen, im christianisierten Europa wurde sie praktisch nicht mehr gepflegt. Die Erdbestattung wurde zur Regel, weil sie mit der religiösen Vorstellung einer leiblichen Auferstehung besser in Einklang zu bringen war. Auch das Judentum favorisierte die Erdbestattung als die in den heiligen Schriften gepflegte Art der Beisetzung. Ein gutes Jahrtausend sollte nach dem von Karl dem Großen erlassenen Verbot der Feuerbestattung vergehen, bis die Kremation in Europa nach und nach immer mehr Förderer fand. Bereits im 17.  und 18.  Jahrhundert wurden vereinzelt Stimmen für die Verbrennung von Leichen laut. Einen 308 Schreiben des städtischen Gesundheitsamtes vom 22.6.1914. APwK, Kr  7779, ohne Paginierung. 309 Ebd. 310 Schreiben des Magistrats vom 28.7.1914 an das städtische Gesundheitsamt. APwK, Kr 7779, ohne Paginierung. 311 Schreiben des Magistrats an das städtische Gesundheitsamt vom 28.7.1914. APwK, Kr 7779, ohne Paginierung. 312 Bauer: Tod und Bestattung 30. 313 Derwein: Geschichte des christlichen Friedhofs 164.

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besonderen Auftrieb erhielt die Feuerbestattung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berühmt ist etwa Jacob Grimms Vortrag 1849 bei der Akademie der Wissenschaften in Berlin »Über das Verbrennen der Leichen«, mit welchem er ein Plädoyer für die Kremation hielt und die oftmals angeführten Vorzüge der Erdbestattung für illusionär erklärte.314 Unterstützung erhielt das Projekt von Seiten der Mediziner. So sprachen sich die internationalen medizinischen Kongresse 1869 in Florenz und 1871 in London für die Feuerbestattung aus.315 Die technischen Voraussetzungen schuf eine Apparatur von Friedrich Siemens, der im Jahr 1874 einen Heißluftofen zur Verbrennung von Leichen entwickelte.316 Im Deutschen Reich gründeten sich ab den 1870er Jahren Vereine, um die Feuerbestattung zu propagieren. Unterstützer fanden sie vor allem in Vertretern medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Berufe sowie im aufgeklärten protestantischen Bürgertum. Die Feuerbestattung war für ihre Befürworter eine doppelte Errungenschaft, indem sie zugleich eine Wiederbelebung antiker Bestattungsarten und eine fortschrittliche Neuerung darstellte. Zudem erschien sie als die passende Bestattungsform für die Gegenwart: Das Wachstum der städtischen Bevölkerung ließ auf den im 19.  Jahrhundert neu entstandenen Friedhöfen den Platz knapp werden – und Platzmangel wiederum gefährdete einen hygienisch bedenkenlosen Zustand der Bestattungsplätze. Im Vergleich dazu war die Feuerbestattung eindeutig platzsparend. Zugleich sollte sie Kosten sparen, weshalb sie als volkswirtschaftlich sinnvoll angepriesen wurde. Außerdem hoffte man, ein weiteres Ideal durch die Feuerbestattung verwirklichen zu können – die Gleichheit aller im Tod. Urnengräber, so wurde argumentiert, würden alle gleichartig aussehen und damit den prunkvollen Grabstellen, die die soziale Differenz auch über das Ende des Lebens hinaus markierten, ein Ende bereiten.317 Populär geworden ist die Kremation gegen Ende des 19.  Jahrhunderts vor allem in Deutschland, Tschechien und im nördlichen Italien, in letzterem – genauer gesagt in Mailand – fand im Jahr 1876 die weltweit erste technische Einäscherung statt.318 Während die Kremationisten die Feuerbestattung als fortschrittlich, menschenfreundlich, sanitärpolitisch, hygienisch und ökonomisch sinnvolle Alter­ native präsentierten, störten sich die christlichen Kirchen an der antikirchlichen Stoßrichtung der neuen Bewegung, die gerade bei Freidenkern und der 314 Grimm, Jacob: Über das Verbrennen der Leichen. Eine in der Academie der Wissenschaften am 29. November 1849 von Jacob Grimm gehaltene Vorlesung. Berlin 1850. 315 Fischer, Norbert: Zwischen Technik und Trauer. Feuerbestattung, Krematorium, Flamarium – eine Kulturgeschichte. Berlin 2002, hier 16. 316 Beutinger, Emil: Handbuch der Feuerbestattung und ihre geschichtliche Entwicklung von der Urzeit bis zur Gegenwart. Leipzig 1911, hier 103–105. 317 Fischer: Zwischen Technik und Trauer 17 f. 318 Leichenverbrennung. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6. Freiburg im Breisgau u. a. 1961, 915 f.

102  Der Tod im städtischen Alltag freireligiösen Bewegung Unterstützer fand. 1886 erließ die katholische Kirche ein Verbot der Feuerbestattung, welches bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil aufrechterhalten blieb. Entsprechend konnte die Bewegung für Feuerbestattung im Habsburgerreich nicht Fuß fassen, auch wenn bei der Weltausstellung in Wien 1873 der Padueser Anatomieprofessor Ludovico Brunetti einen Leichenverbrennungsapparat vorführte.319 Die in Westeuropa geführten Diskussionen sind schon zeitnah in Krakau rezipiert worden. Im Jahr 1874 befasste sich die liberale Tageszeitung Kraj mehrfach mit der Leichenverbrennung. So berichtete die Zeitung von einer Debatte der Wiener Ärztegesellschaft über die Kremation, bei der diese zwar grundsätzlich in sanitärer Hinsicht begrüßt wurde, zugleich aber noch die Notwendigkeit gesehen wurde, eine chemisch saubere Lösung für das Verbrennen von Leichen zu finden.320 Entsprechend erfreut berichtete die Zeitung wenige Monate später von Siemens’ Leichenverbrennungsofen.321 Auch wenn die Zeitung davor zurückschreckte, die Kremation für das eigene Land zu fordern, so unterstützte sie nichtsdestotrotz die westeuropäische Kremationsbewegung. Der Kraj sah darin vor allem einen Kampf für die religiöse Neutralität des Staates, welche nicht gegeben sei, solange die Kirche die wichtigen biographischen Eckpunkte von Geburt, Heirat und Tod kontrolliere. Wiewohl die Zeitung das Anliegen vor diesem Hintergrund unterstützenswert fand, so hielt sie die Forderung im eigenen Lande für verfrüht.322 Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Kremation als politische Forderung formuliert, allerdings sollte sie keine Breitenwirkung entfachen. In den Krakauer Stadtrat schaffte es das Thema, als auf einer Sitzung Möglichkeiten diskutiert wurden, wie die Ästhetik sowie die Verwaltung des Krakauer Friedhofs verbessert werden könnten. In diesem Kontext sprach sich Stadtrat Ignacy Daszyński von der Sozialistischen Partei für die Leichenverbrennung aus. Wie die anderen Stadträte darauf reagierten und welche Argumente Daszyński vorbrachte, verrät das Protokoll bedauerlicherweise nicht,323 was vermuten lässt, dass der Vorschlag keinerlei Resonanz fand. Daszyński hatte mit der Forderung nach der Leichenverbrennung ein damals typisches Anliegen der Sozialisten in den Krakauer Stadtrat getragen. In Galizien und in Preußen hatten polnische Sozialisten 1907 und 1908 mehrfach die Frage der Kremation angesprochen.324

319 Fischer: Zwischen Technik und Trauer 16. 320 Kronika – Palenie zwłok. In: Kraj Nr. 91 vom 22.4.1874, 1. 321 Kronika – Palenie zwłok. In: Kraj Nr. 136 vom 18.6.1874, 3. 322 Palenie ciał. In: Kraj Nr. 43 vom 22.2.1874. 323 Posiedzenie nadzwyczajne z  dnia 22.  lipca 1909r. In: Dziennik Rozporządzeń 9 (1909) 24 f. 324 Chwalba, Andrzej: Sacrum i  rewolucja. Socjaliści polscy wobec praktyk i  symboli­ religijnych (1870–1918). Kraków 2007, hier 63.

Modernisierung, Konfessionalisierung und Professionalisierung 103

Dass das Thema jedoch auch außerhalb eines sozialistischen, normativen Diskurses diskutiert wurde, zeigt eine Stellungnahme des Krakauer Stadtphysikus aus dem Jahre 1914, dem es qua Amt vor allem um die praktischen Aspekte ging. In einer Stellungnahme empfahl er angesichts der knapper werdenden Friedhofsfläche die Leichenverbrennung als hygienischste, wirtschaftlichste und zugleich auch als eine pietätvolle Art der Leichenbeseitigung. Ob diese auch mit christlich-theologischen Vorstellungen in Einklang zu bringen war, diskutierte er nicht. Interessanterweise aber forderte er in demselben Schreiben, dass die zu der Zeit von der Stadt geplante Leichenhalle architektonisch einer Kapelle ähnlich zu gestalten sei.325 Beide Forderungen stellen eine Verschleierung des Todes dar: Der Leichnam würde durch die Kremation verschwinden und damit seinen Schrecken verlieren, und die Leichenhalle würde nach außen beschönigt als eine Art Kapelle erscheinen. Auch der Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Kazimierz war durch Anfragen von außen gezwungen, Stellung zur Leichenverbrennung zu beziehen. Zwei Brüder baten im Jahr 1905 darum, die Asche ihres verstorbenen Bruders auf dem Krakauer jüdischen Friedhof beisetzen zu dürfen, damit er seinem Wunsch gemäß neben seinen Eltern bestattet werden könne. Die den Antrag stellenden Brüder Edward und Maksymilian Goldwasser waren sich über die Brisanz ihres Anfragens im Klaren und fügten in ihrem Bittschreiben Argumente bei, die den Einwänden des Rabbiners im Voraus begegnen sollten. Dabei beriefen sie sich auf rabbinische Autoritäten, die die Bestattung von Urnen auf jüdischen Friedhöfen gewährten, wobei sie besonderen Wert darauf legten, dass dazu selbst »streng orthodoxe« [im Original unterstrichen, K. K.] Rabbiner zählten. Und letztlich, so die Argumentation der Brüder, sei es doch »auch ganz gleichgültig, auf welchem Wege der Verstorbene der Natur zurückgegeben« werde.326 Da die Anfrage unbeantwortet blieb, sandten die Brüder ein halbes Jahr später ein neues Schreiben, dem sie die Gutachten zweier »streng-orthodoxer« Rabbiner – Horowitz327

325 Meinung des städtischen Gesundheitsamtes vom 22.6.1914. APwK, Kr  7779, ohne Paginierung. 326 Brief Eduard Goldwassers vom 20.6.1905. Archiwum Żydowskieskiego Instytutu Historycznego (weiter ŻIH), Gmina Wyznaniowa Żydowska w Krakowie (weiter GWŻwK) 717, ohne Paginierung. 327 Gemeint ist wahrscheinlich entweder Jakob Horovitz (1873–1939), der 1902 in Frankfurt am Main zum Rabbiner ordiniert wurde, seit 1902 Rabbiner der Gemeindesynagoge Unterlindau und nach 1905 zugleich Rabbiner an der unabhängigen Israelitischen Gemeinde in Bockenheim in Frankfurt am Main war, oder aber sein Vater Markus Mordechai Horovitz (1844–1910), der von 1878 bis 1910 orthodoxer Gemeinderabbiner in Frankfurt am Main war. Siehe Horovitz, Markus Mordechai, Dr.: In: Brocke, Michael/Carlebach, Julius: Biographisches Handbuch der Rabbiner. Teil 2: Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945. Bd. 1. München 2009, 294–297. Horovitz, Jakob, Dr. In: Brocke/Carlebach: Biographisches Handbuch 291–293.

104  Der Tod im städtischen Alltag in Frankfurt am Main und Hirsch328 in Hamburg – beifügten. Diese ließen eine Bestattung von Urnen auf jüdischen Friedhöfen mit dem Argument zu, dass die Pflicht, einen Juden auf einem jüdischen Friedhof zu bestatten, weit höher stehe als das Verbot der Kremation.329 Dass das Krakauer Rabbinat hier jedoch die Prioritäten anders setzte, zeigt ein Schreiben vom Juli 1905. Darin wurde der Hilfsrabbiner Joseph Leder­ berger gefragt, ob es auch dann noch untersagt sei, eine Urne zu bestatten, wenn der Betreffende gegen seinen Willen verbrannt wurde. Die Antwort des Hilfs­ rabbiners fiel eindeutig aus: Auch dann sei die Beisetzung der Urne auf dem jüdischen Friedhof nicht gestattet.330 Ebenso wie im Krakauer Stadtrat war damit auch innerhalb der jüdischen Gemeinde das Thema Kremation bald wieder ad acta gelegt worden. Andere Aspekte des jüdischen Bestattungswesens hatten sowohl innerhalb der Gemeinde als auch zwischen jüdischer Gemeinde und Stadtbehörden teilweise mehrere Jahrzehnte lang einen Streitfall dargestellt.

1.4 Zwischen Modernisierung und Traditionswahrung – Institutionen des jüdischen Bestattungswesens 1.4.1 Religiöse Traditionen und sanitärpolitische Verordnungen Als die jüdische Gemeinde in den 1860er Jahren neugeordnet und ihr eine weitgehende Selbstverwaltung zugebilligt wurde, blieb das Bestattungswesen ein umstrittenes Thema, und zwar sowohl innerhalb der Gemeinde als auch zwischen der Gemeinde und den Stadtbehörden. Getrennt blieb in Krakau das ganze 19. Jahrhundert hindurch der überkonfessionell-christliche vom jüdischen Friedhof. Manch einer erblickte darin eine Privilegierung der Juden wie etwa der Krakauer Jesuit Marian Morawski. In seinem 1896 erschienenen Text Asemitismus kritisierte er, dass anstelle von katholischen Friedhöfen nun Friedhöfe für alle Bekenntnisse existierten, Juden aber bis heute eigene Friedhöfe behalten hätten.331

328 Gemeint ist vermutlich Morderaich-Amram (auch Markus H.) Hirsch (1833–1909). Hirsch war in den Jahren 1880 bis 1889 Oberrabbiner in Prag sowie Leiter der Talmudhochschule, galt dort aber als zu konservativ. Seinen konservativen Ruf bewahrte er auch während seiner Zeit in Hamburg, wo er von 1889 bis 1909 Oberrabbiner war. Er war weder bereit, Konvertiten als Juden anzuerkennen noch Ehen für gültg zu erachten, bei denen einer von beiden konvertiert war. Siehe Hirsch, Mordechai-Amram. In: Brocke/Carlebach: Biographisches Handbuch 278–280. 329 Brief vom 10.12.1905. ŻIH, GWŻwK 717, ohne Paginierung. 330 Schreiben L 10003/05 vom 3.7.1905. ŻIH, GWŻwK 717, ohne Paginierung. 331 Morawski: Asemityzm 180 f.

Zwischen Modernisierung und Traditionswahrung 105

Dabei waren auch und gerade die Juden durch die Veränderungen des Bestattungswesens mit Reformen konfrontiert, die mit ihren rituellen Vorschriften unvereinbar waren. Die Reformen generierten im jüdischen theologischen Kontext andere Konflikte als im christlichen. Die Folge waren nicht nur Auseinandersetzungen zwischen der jüdischen Gemeinde und den städtischen Behörden, sondern auch Streitigkeiten innerhalb der Gemeinde: Während die orthodoxen Juden strikt an den religiösen Vorschriften festhielten, sahen die liberalen Juden in der Vernunft den entscheidenden Maßstab und fanden entsprechend, dass rituelle Vorschriften sanitärpolitischen Bedenken gemäß flexibel zu handhaben seien. Zugleich waren sie selbst bestrebt, an bestimmten Traditionen festzuhalten. Es waren vor allem drei Punkte, bei denen sanitärpolitische Vorgaben und jüdische Ritualvorschriften diametral entgegengesetzt waren: erstens der Zeitpunkt der Beisetzung, zweitens die Art und Weise des Transfers des Leichnams und drittens die Art und Weise der Beisetzung selbst. Nach traditioneller jüdischer Vorstellung sollte die Beisetzung schnellstmöglich erfolgen, denn der Verstorbene könne erst nach der Beisetzung vor das Antlitz Gottes treten. Außerdem wurde im rabbinischen Judentum die Mahnung aus Deuteronomium 21,23, »… dann soll die Leiche nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben, sondern du sollst ihn noch am gleichen Tag begraben…«, auf prinzipiell alle Verstorbenen ausgedehnt.332 Nach den sanitärpolitischen Vorschriften des Staates hingegen musste der Leichnam sogar mindestens zwei Nächte lang unbeerdigt bleiben, da eine Beisetzung erst nach Ablauf von 48 Stunden gestattet war. Mit der Regelung sollte die Beisetzung Scheintoter verhindert werden. Ein weiterer Konflikt ergab sich bezüglich des Transportes des Toten zum Friedhof: Ein Transport mit Hilfe von Pferdewagen galt im Judentum als schändlich, der Tote sollte stattdessen auf den Schultern der Glaubensbrüder zum Friedhof getragen werden. Üblicherweise wurde der Verstorbene auf einer einfachen Holzbahre, bedeckt mit einem Tuch, zu Grabe getragen. Auch bei der Beisetzung selbst sollte auf einen Sarg verzichtet werden, denn der Leichnam sollte mit der Erde in direkte Berührung kommen, weswegen das Grab meist nur mit Holzbrettern an den Seiten ausgelegt worden war. In Anlehnung an Genesis 3,19 (»Denn Staub bist du, zu Staub musst du zurückkehren«) hatte sich in kabbalistischen Kreisen im 16. Jahrhundert die Beisetzung ohne Sarg durchgesetzt und war im Laufe der Zeit eine verbindliche Tradition für orthodoxe Juden geworden.333 Der Verzicht auf den Sarg bei Transport und Beisetzung des Leichnams durfte hingegen nach den sanitärpolitischen Vorschriften insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter keinen Umständen toleriert werden: 332 Burial. In: Berenbaum, Michael/Skolnik, Fred (Hg.): Encyclopaedia Judaica, 2. Aufl. Detroit 2007, 291–294. 333 Coffin. In: Berenbaum/Skolnik: Encyclopaedia Judaica 782 f.

106  Der Tod im städtischen Alltag Schließlich sollte ein hermetisch verschlossener Sarg eventuelle Ansteckungsgefahren bei dem Transport eines Leichnams verhindern und in der Erde dafür sorgen, dass keinesfalls Leichenflüssigkeit ins Grundwasser gelange. Hier standen sich zwei unversöhnliche Positionen gegenüber: Für die orthodoxen Juden war gerade auf einem so sensiblen Feld wie dem Lebensende ein Abweichen von Traditionen und Ritualen unvorstellbar. Die städtischen Behörden, die sich im Einklang mit Friedhofsreformbewegungen überall in Europa der Krankheitsprävention und der Besserung der sanitären Bedingungen vor Ort verschrieben hatten, konnten und wollten hingegen nicht auf Sargzwang und ein Begräbnis nach frühestens 48 Stunden verzichten. Entsprechende Konflikte zwischen Stadtbehörden und jüdischer Gemeinde ergaben sich in der Folge das gesamte 19. Jahrhundert hindurch.

1.4.2 Der Streit um die jüdische Begräbnisbruderschaft – eine innerjüdische und eine munizipale Angelegenheit Gerade die Frage nach dem Bestattungswesen wurde nicht nur in Krakau zu einem Feld, auf dem Konflikte zwischen progressiven und traditionalistischen Kräften innerhalb der jüdischen Gemeinde ausgetragen wurden. Die Bestattungsfrage wurde zu einem innerjüdischen Problem. Solche Auseinandersetzungen wurden auch in anderen jüdischen Gemeinden ausgefochten, so beispielsweise in Berlin,334 in Warschau335 wie im gesamten Kongresspolen. François Guesnet beschreibt diese Konflikte am Beispiel Kongresspolens als »symbolhafte Auseinandersetzung um den Einfluß in der Gemeinde«. Um kaum ein Thema sei in der jüdischen Gemeinde derart viel gestritten worden wie um die Frage der Begräbnisreform.336 334 In Berlin gründete sich bereits 1792 die »Gesellschaft der Freunde« als einer der ersten Vereine aufgeklärter Juden mit dem Ziel, sich den Traditionalisten zu widersetzen, wobei ein Kernanliegen der Zeitpunkt des Begräbnisses war. So wollte die »Gesellschaft der Freunde« die Begräbnisbruderschaft dazu zwingen, ein Mitglied erst mehrere Tage nach seinem Tod zu bestatten, »eine Forderung, die zur Parole der Modernisten in ihrem Feldzug gegen die Traditionalisten wurde, da diese Praxis für eine Orientierung an der Vernunft und an wissenschaftlichen Fakten und damit im Gegensatz zu blindem Gehorsam gegenüber Tradition und Vergangenheit stand.« (Katz: Tradition und Krise 261.) Die Möglichkeit, einen eventuellen Scheintod aufzudecken, wurde ein höherer Wert zugesprochen als das Festhalten an bisherigen Traditionen, wogegen sich die Rabbiner jedoch zur Wehr setzten. Siehe dazu Katz, Jacob: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Frankfurt am Main 1986, hier 128 f., 161 und 174. 335 Jagodzińska, Agnieszka: Between Two Worlds. The Jewish Cemetery in Warsaw as a Cultural Text (1850–1900). In: Ab Imperio 4 (2004) 133–154. 336 Guesnet, François: Polnische Juden im 19. Jahrhundert. Lebensbedingungen, Rechtsnormen und Organisation im Wandel. Köln u. a. 1998, hier 303–325, Zitat 304.

Zwischen Modernisierung und Traditionswahrung 107

In der jüdischen Gemeinde in Krakau in der Zeit der »Galizischen Auto­ nomie« entzündeten sich Auseinandersetzungen vor allem an der Begräbnisbruderschaft Chewra Kadischa. Die fromme Bruderschaft galt im 19.  Jahrhundert als eine der Stützen der Krakauer Orthodoxie.337 Die traditionell und orthodox ausgerichtete Bruderschaft weigerte sich nicht nur, rituelle Vorschriften zugunsten sanitärpolitischer Forderungen zu vernachlässigen, sondern – so das Urteil ihrer Kritiker – nutze ihre Stellung in mehrfacher Hinsicht aus: finanziell, indem sie intransparente Gebühren forderte, und auch ideologisch, indem sie Verstorbene und deren Hinterbliebene nach Ansehen der Person behandelte und dabei reformorientierte Juden schlechter behandelte als orthodoxe. Das unterstellte beispielsweise Abraham Gumplowicz, ein Mitbegründer der fortschrittlichen Tempel-Synagoge. Im Jahr 1868 veröffentlichte er einen Text, in welchem er die Administration der jüdischen Gemeinde scharf kritisierte. Zu den Missständen zählte er auch das Verhalten der Begräbnisbruderschaft: Die Grabstätte des dahin Geschiedenen wird hier als ein Luxusartikel betrachtet, für welche der jeweilige Gabai338 nach Willkühr und Laune verlangen kann, wie viel er will. Irgend eine Norm oder Taxe für diese Todtensteuer existiert nicht. Je nach Belieben des Gabai beläuft sie sich auf 10 bis 100 und 500 fl. bisweilen auf 1000 Gulden ö. Währ. und darüber. Manchmal kann man zwar von der geforderten Summe etwas abhandeln, wenn man Armuth oder schlechte Zeiten vorschützt; dabei muß man aber mit dem Gabai in der Güte sprechen und ihn bitten. So ein Fall ist sogar erst neulich vorgekommen, daß auf Verwendung einiger Stadträthe!? die Gadaim dieser Chebra ihre ursprünglich hochgestellte Forderung bis auf 500 Fl. ermäßigt haben. Wer aber in seinem gerechten Zorne seiner Entrüstung freien Lauf läßt, und nicht gutwillig zahlen will, dem wird rund herausgesagt, er könne sich die Leiche zu Hause behalten u. dgl. Man könnte sogar gegen solche Bedrückung Schutz finden bei der Behörde, aber die traurige Stimmung, in die man versetzt ist, der Anblick des Todes, hauptsächlich aber eine mißverstandene Pietät für den Verstorbenen stimmen fast immer zum Nachgeben. Man zahlt. Bemerkt muß nur werden, daß eine Quittung über die empfangenen Beträge von Seiten dieses Vereins nicht ausgestellt wird.339

Die nicht nur von Gumplowicz beklagten Zustände versuchte im selben Jahr das Komitee auf Betreiben seiner liberalen Mitglieder zu bessern, indem es für den 28.  Juni  1868 eine Generalversammlung einberief, bei der eine Neuregelung des Bestattungswesens beschlossen werden sollte. In der Diskussion wurde 337 Bałaban: Historia Żydów 650. 338 Hebräisch: Gemeindebediensteter; Schatzmeister; Vorsteher. 339 Glah, A. [Gumplowicz, Abraham]: Versuch zur Aussöhnung des Conflicts, und Einführung geordneter Zustände in der israelitischen Cultus-Gemeinde zu Krakau. Krakau 1868, hier 13.

108  Der Tod im städtischen Alltag zwar betont, dass es nicht um die Erneuerung von religiös-rituellen Vorschriften gehe, sondern allein um die Regelung der Finanzen. Doch tatsächlich kam den Auseinandersetzungen der Charakter eines Stellvertreterkrieges über die Ausrichtung innerhalb der Gemeinde zu, waren doch die Finanzen ein bedeutsames Machtmittel. Einhellig beschloss die Generalversammlung, der Begräbnisbruderschaft die Friedhofsverwaltung zu entziehen. Stattdessen sollte das Komitee gemeinsam mit sieben gewählten Ausschussmitgliedern die Verwaltung des Friedhofs sowie die Besoldung der Friedhofsdiener übernehmen und feste Gebühren einführen. Die Begräbnisbruderschaft sollte sich hingegen ausschließlich auf den rituellen Umgang mit den Verstorbenen beschränken. Der Beschluss wurde in 200 Exemplaren gedruckt und so in der Gemeinde bekannt gemacht.340 Allerdings ließen sich die Neuerungen nicht gegen die Begräbnisbruderschaft durchsetzen. Offenbar war sie, obwohl sie Gegner in der Gemeinde hatte, in einer Machtposition und genoss die Unterstützung in der überwiegend orthodox geprägten Gemeinde. Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass die Mitgliedschaft in der Chewra Kadischa als eine große Ehre galt. Daher fanden sich – wie übrigens in den meisten Gemeinden – in der Vereinigung Vertreter unterschiedlicher innergemeindlicher Richtungen. Dass die Chewra Kadischa in Krakau als ausschließliche Bastion der Orthodoxen galt, war somit keinesfalls selbstverständlich. Zugleich rissen die Klagen über die Begräbnisbruderschaft nicht ab, welche nicht nur innerhalb der jüdischen Gemeinde artikuliert wurden. Beschwerdebriefe erreichten auch den Magistrat der Stadt Krakau, welcher mittlerweile offenkundig als Appellationsinstanz für innerjüdische Angelegenheiten wahrgenommen wurde.341 Hauptstreitpunkt blieb die Verwaltung des Friedhofs: Die liberalen Juden kritisierten, dass die Begräbnisbruderschaft unrechtmäßig die Oberhoheit über den Friedhof beanspruche. Diese Position nutze sie aus, um übertriebene Gebühren von den Hinterbliebenen einzufordern, welche sie teilweise mit der Drohung, ein Begräbnis zu verweigern, erpresse. Über ihre Einnahmen lege sie zudem keinerlei Rechenschaft ab und entziehe sich auch sonst jeglicher Kontrolle durch das Komitee. Obwohl sie den Friedhof als ihr 340 Protokoll der Generalversammlung vom 30.6.1868. Archiwum Żydowskieskiego Instytutu Historycznego (weiter ŻIH), Gmina Wyznaniowa Żydowska w Krakowie (Jüdische Bekenntnisgemeinde in Krakau, weiter GWŻwK) 209, ohne Paginierung. Protokoll der außerordentlichen Generalversammlung am 28.6.1868. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. Mit einem überwiegend auf Deutsch, aber in hebräischen Lettern verfassten Schreiben wurden die Beschlüsse kurze Zeit später der Gemeinde bekannt gegeben. Siehe Schreiben an die Gemeinde vom 8. Tammuz 1868. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 341 Schreiben Nr. 3804 des Krakauer Magistrats an das Komitee der jüdischen Gemeinde vom 1.4.1869. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. Wegen der vielfachen Beschwerden, die den Magistrat erreichten, wandte sich dieser an das Komitee der jüdischen Gemeinde, um nähere Informationen über Struktur und Tätigkeiten der Begräbnisbruderschaft in Erfahrung zu bringen.

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alleiniges Objekt reklamiere, lasse sie ihn in einem verwahrlosten Zustand: Die Ordnung sei mangelhaft, der Zustand unwürdig, die Gräber würden in keiner Reihenfolge angelegt und für diejenigen, die die Gräber besuchen wollten, fänden sich keine Wege, weswegen sie notgedrungen auf die Gräber steigen müssten. Offenbar hatten sich zudem wiederholt Fälle von Vandalismus auf dem Friedhof ereignet, bei denen Grabsteine nicht orthodoxer Juden geschändet wurden.342 Daher beschloss das Komitee erneut, die Verantwortung für den Friedhof in die Hände der gesamten jüdischen Gemeinde zu legen und so den Kompetenzbereich der Begräbnisbruderschaft zu beschränken. Die entsprechenden Beschlüsse hatte das Komitee auch dem Krakauer Magistrat vorgelegt mit der Bitte, diese notfalls durchzusetzen.343 Offenbar fruchtete selbst das Einschalten der politischen Behörden nicht. Im Jahr 1870 wurde daher erneut ein Beschluss gefasst, mit dem der Begräbnis­ bruderschaft Kompetenzen entzogen werden sollten. Als Argument wurde angeführt, dass der Friedhof durch eine gemeinsame finanzielle Anstrengung der Gemeinde erworben und als Grundbesitz der Gemeinde im Kataster eingetragen worden war, weswegen er folglich Eigentum der gesamten Gemeinde sei. Damit sei auch der Umstand, dass die Chewra Kadischa allein über die Verwaltung des Friedhofs und den damit verbundenen Einnahmen bestimme und darüber niemandem Rechenschaft ablege, eine unzulässige Anmaßung. Die Verwaltung müsse vielmehr an den Vorstand der Kultusgemeinde übergehen. Die Begräbnisbruderschaft solle hingegen fortan einen festen Satz erhalten, um ihre Ausgaben bestreiten zu können.344 Um der Willkür bei der Bemessung von Begräbnistaxen Einhalt zu gebieten, sollte eine feste Gebührenordnung erarbeitet und beschlossen werden. Die Gebühren sollten nicht mehr der Begräbnisbruderschaft, sondern der gesamten Gemeinde zugute kommen, die mit den neu erschlossenen Finanzen für den Unterhalt des jüdischen Krankenhauses aufkommen wollte.345 Waren erhöhte Einnahmen der Chewra Kadischa zeitweise dadurch gerechtfertigt, dass sie einen Teil davon für ihre anderen wohltätigen Aufgaben verwendete, so wurde das Argument nun umgekehrt: Der Begräbnisbruderschaft sollten Finanzmittel genommen werden, damit diese die Gemeinde selbst für philanthropische Zwecke verwenden konnte. Damit die Chewra Kadischa den neuen Regelungen zustimmte, sollten ihre Vorsteher dazu eingeladen werden, sich der Verwaltungskommission, die nun für den Fried 342 Vorwürfe unter anderem formuliert im Schreiben vom 2.8.1869. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 343 Schreiben an den Magistrat vom 2.8.1869. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 344 Bericht vom 29.4.1870. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 345 Im gleichen Jahr wurde die Option diskutiert, aus dem jüdischen Krankenhaus ein allgemeines Krankenhaus zu machen, welches Menschen aller Konfessionen offenstehen und weiterhin koscheres Essen anbieten solle, siehe dazu Kronika miejscowa i zagraniczna – Uwagi nad szpitalem izraelickim w Krakowie. In: Czas Nr. 26 vom 2.2.1870, 2 f.

110  Der Tod im städtischen Alltag hof zuständig sein sollte, anzuschließen.346 Die Erschließung neuer finanzieller Mittel für den Unterhalt des jüdischen Spitals war ein Argument, das auch das Krakauer Oberrabbinat überzeugte. Der Oberrabbiner wollte die Begräbnisbruderschaft als wichtige wohltätige Organisation innerhalb der Gemeinde nicht angegriffen wissen, konzedierte allerdings, dass das Verhältnis der Bruderschaft zur Gemeinderepräsentanz neu geregelt werden müsse. Die Finanzen sollten so geordnet werden, dass die eine Hälfte des reinen Einkommens der Begräbnisbruderschaft zur Finanzierung des jüdischen Spitals diene, die andere Hälfte hingegen in Händen der Bruderschaft bleibe.347 Doch abermals war die Bruderschaft nicht gewillt, ihre bisherigen Kompetenzen aufzugeben. Erst die Intervention durch politische, nicht jüdische Behörden sollte, wie wir bald sehen werden, den Konflikt schlichten. Der Friedhof war vor allem deswegen zu einem wichtigen Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen orthodoxen und liberalen Juden sowie zwischen jüdischer Gemeinde und Stadtbehörden geworden, weil er ein Ort religiös-rituellen Handelns war, der anders als etwa die Synagoge für jedermann einsichtig war. Entsprechend konnte der jüdische Friedhof auch von der nicht jüdischen Umwelt als Spiegelbild des Gemeindelebens und Gradmesser für die »Zivilisierung« des Krakauer jüdischen Lebens wahrgenommen werden, wie es ein Artikel in der liberalen Tageszeitung Kraj illustriert, der die Beisetzungen auf dem jüdischen Friedhof als »abscheuliches Bild barbarischer Sitten« beschrieb.348 Konkret stieß sich der Autor an dem Umstand, dass die Verstorbenen nur mit einem Tuch bedeckt zu Grabe getragen und dann unter Geschrei der Begräbnisbruderschaft übergeben wurden. Sei der Verstorbene ein liberaler Jude gewesen, dann müssten die Trauernden neben dem üblichen Ansturm der Bettler auf dem Friedhof zusätzlich Schmähungen orthodoxer Juden hinsichtlich des Lebenswandels des Verstorbenen über sich ergehen lassen. Die Zeitung kritisierte die politischen Behörden dafür, sich angesichts solcher Zustände passiv zu verhalten.349 Mit der Debatte in den Zeitschriften erhielt der Konflikt eine neue Dimension: War die Haltung der Stadt gegenüber der jüdischen Gemeinde sanitärpolitisch begründet, so fand sich hier eine Position, die aus einem paternalistischen Gestus heraus sprach, der der jüdischen Gemeinde ihre vermeintliche zivilisatorische Rückständigkeit zur Last legte und daraus zugleich für die weltlichen Behörden die Forderung zog, erzieherisch und aufklärerisch aufzutreten. Das erschien der Zeitung umso dringlicher, als die Juden, deren Verhalten hier so eindringlich kritisiert wurde, in der Welt als »polnische Juden« 346 Bericht vom 29.4.1870. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 347 Schreiben des Rabbiners Simon Schreiber (Szymon Schreiber) an die Gemeinderepräsentanz vom 11.7.1871. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 348 Kronika potoczna i rozmaitości. Pogrzeby żydowskie. In: Kraj Nr. 181, 1871. 349 Ebd.

Zwischen Modernisierung und Traditionswahrung 111

bekannt seien. Ihr angeblich niedriger Zivilisationsgrad sei eine Blamage für Polen, die im eigenen Haus nicht für Ordnung sorgen könnten. Der »polnische Jude« erschien dabei als jemand, der vor seinen eigenen Praktiken beschützt werden müsse.350 Dabei wurde die Diskrepanz zwischen dem Friedhof als bevorzugtem Ort des Totengedenkens und seiner aktuellen Ausgestaltung nicht nur für den jüdischen Friedhof moniert. Vergleichbare Klagen finden sich auch über den allgemeinen Friedhof: Hier steht das Gebaren der Bettler, die sich auf dem Friedhof aufhalten, raufen und trinken, im Kontrast zum Individuum, das still am Grab eines geliebten Verstorbenen verweilen will. Auch hier wurden die Stadtbehörden dafür gescholten, zu lange untätig gewesen zu sein.351 Nichtsdestotrotz wird der Umstand, dass die Missstände im jüdischen Bestattungswesen in den Fokus der nicht jüdischen Öffentlichkeit geraten waren, den Wunsch des Komitees nach einer Neuregelung des jüdischen Bestattungswesens verstärkt haben. Schließlich wandte sich die Repräsentanz der jüdischen Gemeinde an die k.k. Statthalterschaft in Lemberg mit der Bitte, die Begräbnisbruderschaft aufzulösen und die Verwaltung des Friedhofs der jüdischen Gemeinde zu übertragen. Die Statthalterschaft in Lemberg leitete das Anliegen an den Krakauer Magistrat weiter, der in der Angelegenheit ermittelte und zu dem Ergebnis gelangte, dass die Chewra Kadischa illegal existiere, da ihr sowohl Statuten als auch die notwendige Bestätigung der Statuten durch die k.k.  Regierungsbehörden fehlten. Aufgrund dieser formalen Gründe beschloss der Magistrat auf der Sitzung vom 30. Dezember 1871, die Chewra Kadischa aufzulösen und die Friedhofsverwaltung der Gemeinde anzuvertrauen, wobei sie vom Magistrat beaufsichtigt werden sollte.352 Gegen die Entscheidung des Magistrats legte die Chewra Kadischa bei der Statthalterschaft in Lemberg Rekurs ein, worauf die Gemeinderepräsentanz eine Eingabe an die Statthalterschaft richtete, diesen Rekurs abzulehnen.353 Der Rekurs der Begräbnisbruderschaft hatte zur Folge, dass die Angelegenheit weiterhin über mehrere Monate ungeregelt blieb.354 Schließlich bestätigte die Lemberger Statthalterei die Auflösung der Begräbnisbruderschaft im September 1872,355 ein Vorgang, der auch in der nicht jüdischen Krakauer Presse Erwähnung fand.356 Die jüdische Gemeinde legte dem Magistrat auf Aufforderung eine Gebührenliste für alle Be 350 Ebd. 351 Rozmaitości. In: Kraj Nr. 175 vom 30.9.1869. 352 Schreiben des Magistrats vom 1.1.1872. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 353 Schreiben an die Lemberger Statthalterschaft vom 6.3.1872. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 354 Schreiben der jüdischen Gemeinde vom 18.7.1872 sowie vom 12.9.1872 mit der Bitte, die Angelegenheit zu beschleunigen. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 355 Siehe beispielsweise Schreiben an den Landesanwalt vom 1.8.1875 mit Weiterleitung der Entscheidung der Statthalterei vom 22.9.1872 zur Auflösung der Begräbnisbruderschaft. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 356 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 47 vom 28.2.1872, 3. 

112  Der Tod im städtischen Alltag erdigungsdienste vor. Diese sah neben festen Tarifen die Beisetzung von Armen auf Kosten der Gemeinde vor.357 Ein Jahr später wurde die Chewra Kadischa wieder­begründet, die Aufsicht über den Friedhof jedoch war der Gemeinde­ repräsentanz unterstellt.358

1.4.3 Ein Friedhofsaufseher und divergierende Ansprüche Die Auflösung und Neugründung der Begräbnisbruderschaft bedeutete jedoch nicht, dass damit fortan alle Widersprüche zwischen jüdischen Ritualvorschriften und städtischer Sanitärpolitik beseitigt worden wären. Im Gegenteil: Weiterhin stellte der Zeitpunkt des Begräbnisses sowie die Art und Weise des Leichentransportes und der Beisetzung ein Problem dar. Das zeigte sich unter anderem in der Tarifordnung, die die jüdische Gemeinde im Jahr 1872 für ihren Friedhof ausarbeitete und die keinen Posten für einen Sarg, sondern lediglich für Sargbretter aufwies.359 Um darüber zu wachen, dass die jüdische Gemeinde die sanitären Bestattungsvorschriften einhielt, verlangte die Stadt bereits im Mai 1872 einen Friedhofsaufseher. Dieser sollte von den Stadtbehörden und der jüdischen Gemeinde gemeinsam bestimmt und von der jüdischen Gemeinde allein bezahlt werden. Seine Aufgabe sollte es sein, über die Einhaltung der Begräbnisvorschriften zu wachen. Eine an religiösen Vorschriften orientierte Haltung traf hier mit einer funktionalen, an sanitärpolitischen Kriterien orientierten Einstellung zusammen: Nach dem Willen der städtischen Behörde sollte der Aufseher vor allem über die Einhaltung sanitärer und hygienischer Vorschriften wachen, nach dem Willen vieler Juden hingegen vor allem den religiösen Vorschriften genügen. Die Gemeinderepräsentanz unterstützte die Einrichtung einer solchen Stelle, da sie einerseits dem Magistrat konzedierte, dass dies sanitärpolitisch sinnvoll sei; zum anderen erhoffte sie sich in der Person des Friedhofsaufsehers einen Schutz vor Versuchen der Begräbnisbruderschaft, das Friedhofswesen zu usurpieren.360 Auch wenn sich die Gemeinderepräsentanz und die Stadtbehörden einig hinsichtlich der Anstellung eines Friedhofsaufsehers waren, so ergaben sich bei der praktischen Umsetzung Schwierigkeiten. Ein Problem stellte die Dienstanweisung für den künftigen Aufseher dar, da die Gemeinderepräsentanz eine Forderung des Magistrats nicht unterstützen konnte. Dieser neuralgische Punkt war die Frage nach dem Zeitpunkt des Begräbnisses. Der Magistrat wollte den 357 Tarifordnung vom 4.11.1872. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 358 Żbikowski: Żydzi Krakowscy 192. 359 Tarifordnung vom 4.11.1872. ŻIH, GWŻwK 209, ohne Paginierung. 360 Schreiben des Vorstandes der jüdischen Gemeinde an den Magistrat vom 17.12.1873. APwK, Kr 7761, Bl. 1203–1209.

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Friedhofsaufseher darauf verpflichten, für die unbedingte Beisetzung im Sarg ebenso verantwortlich zu sein wie dafür, dass niemand vor Ablauf von 48 Stunden beigesetzt würde. Der Vorstand der israelitischen Gemeinde warnte den Magistrat jedoch davor, den Punkt zum Vertragsgegenstand zu machen, weil kein Jude eine solche Vorschrift würde einhalten können. Um den Sachverhalt für den nicht jüdischen Magistrat nachvollziehbar zu machen, wurde die jüdische Trauerwoche, die shiva, nicht als eine Entlastung der Trauernden, sondern als eine Bürde dargestellt, die für die Betreffenden eine physische und psychische Gefährdung bedeute. Denn in dieser sieben Tage dauernden schweren Trauerzeit dürften die nächsten Angehörigen des Verstorbenen nicht ihren gewohnten Beschäftigungen nachgehen und nicht einmal das Haus verlassen. Eine noch strengere Trauerzeit beginne unmittelbar mit dem Eintritt des Todes: Bis zur Beisetzung fasteten die Angehörigen und enthielten sich des Gebets. Wenn man nun, so die Argumentation des Vorstandes, 48 Stunden bis zur Beisetzung warten müsste, dann würde dies einerseits sowohl gesundheitliche Schäden durch das Fasten wie auch psychische Beeinträchtigungen verursachen, weil der Trauernde keinen Trost im Gebet suchen könne, andererseits dürften die Hinterbliebenen insgesamt neun Tage das Haus nicht verlassen. Zum anderen herrsche der »Aberglaube« vor, dem Verstorbenen würde Schande bereitet, wenn er nicht am Tag des Todes zu seinen Vorfahren gebettet werde. All diese Traditionen fielen umso mehr ins Gewicht, als die hiesige Gemeinde vor allem aus »altgläubigen« (starowierców) Juden bestehe. Gegen ihr Festhalten an den Ritualen helfe keine Regierungsvorschrift, denn sie würden Mittel und Wege finden, solche Vorschriften zu umgehen. Daher bat der Gemeindevorstand den Magistrat, die Vorschrift entweder zu ändern oder aber zumindest in der Dienstvorschrift darüber zu schweigen. Andernfalls könnte der künftige Friedhofsaufseher entweder seinen Schwur nicht einhalten oder müsste seine Stelle aufgeben.361 Tatsächlich zeigte sich der Magistrat zu einem Kompromiss bereit. Er war zwar nicht bereit, von der 48-Stunden-Regel abzusehen, doch erwähnte er diese in der Dienstanweisung für den Friedhofsaufseher nicht. Stattdessen wurde dort verlangt, dass der Friedhofsaufseher eine Beisetzung nicht früher als vom Stadtarzt angeordnet zulassen dürfe.362 Dass trotz dieser Konzession der Widerspruch nicht behoben war, sollte sich bald zeigen, als endlich ein Friedhofsaufseher gefunden war. Am 31. Dezember 1873 legte der designierte Friedhofsaufseher Leibl Reisfeld einen Eid ab, indem er vor Gott schwor, die Vorschriften für den Friedhofsaufseher einzu­halten.363 Darin lag eine gewisse Ironie: Reisfeld musste sich mit der Berufung auf Gott dazu 361 Ebd. 362 Dienstvorschriften für den Aufseher auf dem jüdischen Friedhof vom 30.12.1873. APwK, Kr 7761, Bl. 175 f. 363 Schwur von Leibl Reisfeld vom 31.12.1873. APwK, Kr 7761, Bl. 1219.

114  Der Tod im städtischen Alltag verpflichten, Regeln zu beachten, die aus orthodoxer Sicht religiösen Vorschriften widersprachen. Einen solchen Widerspruch empfand Reisfeld offenbar: Bereits am 5. Januar 1874 trat er wieder von dem eben erst angetretenen Amt zurück. Lieber wolle er von trockenem Brot leben, als unter einer Bedingung zu arbeiten, die von ihm entweder die Denunziation seiner Glaubensbrüder oder aber den Bruch seines dienstlichen Schwurs abverlange, begründete er dem Magistrat gegenüber seinen Entschluss.364 Die Suche nach einem Nachfolger gestaltete sich schwierig und kam dem Versuch einer Quadratur des Kreises gleich: Die jüdische Gemeinde und die städtischen Behörden suchten gemeinsam nach einem geeigneten Kandidaten, jedoch jeder nach seinen Vorstellungen. Gegen einen der Kandidaten sprach sich die Begräbnisbruderschaft aus, weil dieser für seinen unmoralischen Lebenswandel, der unter anderem das Kartenspiel mit einschloss, bekannt sei.365 Einem weiteren Kandidaten fehlte ebenfalls das Vertrauen der Gemeinde: M ­ aurycy W ­ eber.366 Weber war propolnisch gesinnt, hatte am Novemberaufstand 1831 teilgenommen367 und war offenbar den Stadtbehörden gegenüber loyaler eingestellt als der jüdischen Gemeinde.368 Schließlich erhielt Abraham Krengel die Stelle: Der orthodoxe Krengel stammte aus einer in Kazimierz angesehenen Familie, sprach Deutsch, Jiddisch und Polnisch und war Vater einer großen Fami­lie, zu der bei seiner Anstellung sechs, später acht Kinder gehörten.369 Auch Krengel sah sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, den gegensätzlichen Erwartungen genügen zu können. Und er wurde ihnen auch nicht gerecht. Die städtischen Vorschriften vernachlässigte er und erlaubte immer wieder frühere Beisetzungen, teilweise noch am selben Tag. Einmal soll er sogar zugelassen haben, dass kurz vor dem Wochenfest (Schawuot) ein wenige Stunden zuvor verstorbener und noch warmer Leichnam beigesetzt wurde.370 Ebenso wenig setzte er den Transport 364 Brief von Leibl Reisfeld an den Magistrat vom 25.1.1874. APwK, Kr 7761, Bl. 1231. 365 Schreiben der Begräbnisbruderschaft an den Magistrat der Stadt Krakau vom 1.5.1874. APwK, Kr 7761, Bl. 1249 f. 366 Schreiben von Salomon Deiches an den Krakauer Magistrat vom 16.3.1874. APwK, Kr 7761, Bl. 1238. 367 Bałaban: Historja Żydów 685. 368 Schreiben von Maurycy Weber an den Rat der Stadt Krakau vom 1.5.1874. APwK, Kr 7761, Bl. 1261–1264. Darin erklärt er unter anderem, dass die jüdische Gemeinde nicht an einer Einhaltung der sanitären Vorschriften interessiert sei und der Aufseher durch die städtischen Behörden gewählt werden solle. 369 Siehe Schreiben von Salomon Deiches an den Krakauer Magistrat vom 22.6.1874. APwK, Kr 7761, Bl. 987 f. sowie Auskunftstabelle vom 13.8.1869. APwK, Kr 7761, Bl. 1007. Bewerbungsschreiben von Abraham Krengel, ohne Datum. APwK, Kr 7761, Bl. 1253. 370 Protokoll vom 24.6.1878, verfasst im Magistrat aufgrund einer privaten Beschwerde gegen Krengel. APwK, Kr 7761, Bl. 585–87. Befragung von Israel Jozef Weiner am 29.7.1878. APwK, Kr 7761, Bl. 609. Der Befragte gab zudem an, dass Krengel häufig eine frühere Beisetzung erlaube, damit die Angehörigen früher mit der Trauerzeit anfangen, diese auch früher beenden und damit wieder ihren Lebensunterhalt verdienen könnten.

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von Leichen im hermetisch geschlossenen Sarg durch.371 Zudem wurde er immer wieder von den Stadtbehörden dafür getadelt, die Matrikelbücher nachlässig zu führen und Totenscheine teilweise selbst ausgefüllt zu haben.372 Außerdem wurde er ermahnt, sich vor einer Beisetzung eine Bescheinigung des Stadtarztes zeigen zu lassen.373 Sehr zufrieden war Krengel, der acht Kinder durchzubringen hatte, offenbar nicht mit seiner Arbeit. Im Jahr 1881 unternahm er einen offensichtlich gescheiterten Versuch, nach Amerika auszuwandern.374 Seinen schwierigen Dienst versah er bis zum Jahr 1887, dann verließ er Krakau.375 Sein Nachfolger wurde im Folgejahr Eizyk Krengel,376 der bei Gott und dem Kaiser schwören musste, seine Pflichten einzuhalten und die Anweisungen des Stadtpräsidenten, des Stadtrates und seines Vorgesetzten zu befolgen.377

1.4.4 Die Errichtung eines Begräbnishauses auf dem jüdischen Friedhof Die Frage nach der richtigen Art und Weise des Leichentransports stellte sich nicht nur in Krakau, sondern im gesamten Galizien. Die Statthalterei machte im Jahr 1884 den Städten Lemberg und Krakau sowie den Landräten (Starosteien) den Beschluss bekannt, dass von nun an der Leichentransport nur noch in geschlossenen Särgen erfolgen dürfe. Denn trotz einer anders lautenden Verordnung habe sich unter den Juden die Sitte gehalten, den Toten auf einer Bahre zum Friedhof zu tragen. Dieser Brauch verletze das Anstandsgefühl von Nichtjuden und sei zudem eine Ursache für die Ausbreitung von Epidemien und anderen Krankheiten.378 Dabei zeigte die Statthalterei durchaus Bereitschaft, Ritual und sanitäre Vorschriften miteinander zu versöhnen. Denn im Dezem 371 Siehe beispielsweise Schreiben des Magistrats an Krengel vom 29.1.1882. APwK, Kr 7761, Bl. 511. 372 Siehe beispielsweise Beschwerde des Stadtphysikus Ferdynand Tuszyński gegen Abraham Krengel vom 14.10.1877. APwK, Kr 7761, Bl. 563 f. Brief desselben an den Krakauer Magistrat vom 16.8.1878. APwK, Kr 7761, Bl. 569. Schreiben des Magistrats der Stadt Krakau vom 11.7.1877. APwK, Kr 7761, Bl. 1069. 373 Brief an Krengel vom 29.1.1882. APwK, Kr 7761, Bl. 511 f. 374 Am 10. August 1881 schrieb der Kreisarzt Aleksander Wilkosz an den Magistrat, dass er bei einer Visitation des jüdischen Friedhofs den Aufseher Krengel nicht angetroffen habe. Dieser sei nach Amerika ausgewandert (APwK, Kr 7761, Bl. 531). In einem Schreiben vom 13.9.1881 berichtete die Repräsentanz der jüdischen Gemeinde, dass Krengel inzwischen wieder nach Krakau zurückgekehrt sei und die Aufgabe als Friedhofsaufseher wieder aufnehmen wolle (APwK, Kr 7761, Bl. 523). 375 Schreiben der Repräsentanz der jüdischen Gemeinde an den Krakauer Magistrat vom 30.8.1887. APwK, Kr 7761, Bl. 85. 376 Schreiben der jüdischen Repräsentanz vom 4.6.1888. APwK, Kr 7761, Bl. 183. Ob eine Verwandtschaft bestand, geht aus den Quellen nicht hervor. 377 Eid Eizyk Krengels vom 27.7.1888. APwK, Kr 7761, Bl. 123. 378 Rundschreiben der Statthalterei vom 22.6.1884. APwK, Kr 7761, Bl. 433.

116  Der Tod im städtischen Alltag ber 1884 forderte die Statthalterei den Stadtpräsidenten Krakaus auf, sich beim örtlichen Rabbinat zu erkundigen, wie die genauen Vorschriften im Umgang mit dem Leichnam aussähen und ob sich die Beisetzung in geschlossenen Särgen nicht mit den Vorschriften in Einklang bringen ließen.379 Vielleicht waren die Behörden auch skeptisch geworden, weil andernorts der Gebrauch eines Leichenwagens wie der eines Sarges zur Beisetzung durchaus verbreitet war. So hatte beispielsweise in Lemberg eine reformorientierte Vereinigung bereits 1855 einen Leichenwagen angeschafft.380 Den Eindruck, dass Sarg und Leichen­ wagen unter den Juden des Habsburgerreiches keine Seltenheit waren, sollte kurze Zeit später eine Befragung der Verwaltungsorgane anderer größerer Städte in der Monarchie bestätigen.381 Die Fragen, die dabei an die anderen Städte gerichtet wurden, betrafen allein die Art und Weise des Leichentransports und der Beisetzung sowie eine eventuelle Krankheitsprävention: Konkret wurde danach gefragt, ob bei der rituellen Waschung ein Unterschied gemacht werde bei Leichen von Personen, die an einer ansteckenden Krankheit gestorben waren.382 Die Befragung sollte der Stadt Handlungsmuster und Argumente verschaffen, um mit dem Hinweis auf andere Städte und Gemeinden die Krakauer Anliegen zu lösen. Immerhin antworteten die meisten Städte, dass bei ihnen vor Ort der Transport und die Beisetzung in einem Sarg die Regel seien.383 Auch die Lemberger Statthalterei hatte eine entsprechende Vorgabe für Galizien erlassen, wonach der Leichentransport ausnahmslos in Särgen zu erfolgen habe, die der Krakauer Magistrat am 12. November 1887 weitergab. Über die Einhaltung der Vorschrift sollten neben dem Aufseher auf dem jüdischen Friedhof der Kreiskommissar und der Stadtphysikus wachen.384 Wie die Fragen an die anderen Städte illustrieren, entsprang der Wunsch, das jüdische Bestattungswesen stärker zu kontrollieren, insgesamt weniger einem etwaigen zivilisatorischen Sendungsbewusstsein, sondern vor allem sanitärpolitischen Erwägungen. 379 Schreiben der Statthalterei an den Stadtpräsidenten Krakaus vom 10.12.1884. APwK, Kr 7761, Bl. 423. 380 Guesnet: Polnische Juden 311, Fußnote 194. 381 Rundschreiben von 1887. APwK, Kr 7761, Bl. 82 f. 382 Ebd. 383 So schilderten es der Gemeinderat von Brünn im Schreiben vom 4.3.1887 (APwK, Kr 7761, Bl. 107), die Stadt Linz im Schreiben vom 18.3.1887 (Bl. 111), ebenso Innsbruck am 20.3.1887 (Bl. 115). In Prag wurde eine Art Kompromiss praktiziert: Der Sarg, der für Transport und Beisetzung benutzt wurde, wies am Boden einen sechs bis acht Zentimeter breiten Spalt auf, damit der Leichnam trotz Sargbestattung mit Erde in Berührung kommen konnte, wovon aber abgesehen werde, wenn der Zustand des Leichnams es erfordere (siehe Schreiben vom 12.4.1887, Bl. 127–129). In Czernowitz (Schreiben vom 11.4.1887, Bl. 131 f.) wie in Lemberg bestatteten die orthodoxen Juden weiterhin ohne Sarg (Schreiben vom 19.7.1887, Bl. 135). 384 Schreiben des Krakauer Magistrats an die israelitische Gemeinde vom 25.10.1887. APwK, Kr 7761, Bl. 139.

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Im Jahr 1890  – und damit etwa zur selben Zeit, als der Stadtrat eine neue Begräbnishalle für den allgemeinen Friedhof plante  – unternahm der Magistrat einen weiteren Vorstoß, um die sanitären Bedingungen auf dem jüdischen Friedhof zu verbessern und besser kontrollieren zu können. Anstoß dazu gab der Stadtarzt, dem es oblag, von Zeit zu Zeit Kontrollen auf dem jüdischen Friedhof durchzuführen, um über die Einhaltung der Sanitärvorschriften zu wachen.385 Er hatte festgestellt, dass nicht nur der Umgang mit den Leichen verstorbener Juden nicht den Vorschriften entsprach, sondern der jüdische Friedhof gängigen Sanitärvorschriften insgesamt nicht genügte. Unter anderem kritisierte er, dass die Totengräber ganz in der Nähe der Kammer wohnten, in denen Leichen aufgebahrt wurden, was er aus hygienischen wie gesundheitlichen Gründen für inakzeptabel hielt. Während die Totengräber seinem Empfinden nach in einer zu großen Nähe zu den Toten lebten, wohnte der Friedhofsaufseher, der keine Wohnung auf respektive am Friedhof besaß, zu weit entfernt von ihnen. Der Stadtarzt empfahl daher dem Magistrat, auf dem Friedhof ein neues Gebäude errichten zu lassen. Zudem sollte der Friedhofsaufseher direkt am Friedhof wohnen, um so besser auf die Einhaltung sanitärer Vorschriften achten zu können.386 Dass der Friedhofsaufseher auf dem Friedhof leben sollte, um über die Einhaltung sanitärpolitischer Forderungen zu wachen, war eine Forderung, die auch die jüdische Gemeinderepräsentanz bei der Einrichtung der Stelle formuliert hatte.387 Dass die Gemeinderepräsentanz diese Forderung formulierte, zeugt davon, wie sehr es ihr ein Anliegen gewesen war, den Einfluss der Begräbnisbruderschaft dauerhaft zu bannen. Denn was auf dem allgemeinen, von den christlichen Konfessionen genutzten Friedhof bereits praktiziert wurde – neben dem Friedhofsaufseher lebte auch ein Priester in einem Wohnhaus auf dem Friedhof –, war für einen Juden eine Zumutung: Schließlich ist der Friedhof nach jüdischer Vorstellung nicht nur ein heiliger, sondern zugleich ein unreiner Ort, da der Leichnam als unrein gilt, weshalb­ bestimmte Gruppen, die Kohanim,388 Leichen nicht berühren und den Friedhof nicht betreten dürfen. Der Magistrat entsandte ungeachtet derartiger religiöser Befindlichkeiten 1891 eine Kommission auf den jüdischen Friedhof und bestätigte den Eindruck des Stadtarztes. Der jüdischen Gemeinde wurde empfohlen, ein abgesondertes Begräbnishaus sowie eine Wohnung für den Friedhofsaufseher zu errichten.389 385 Schreiben des Krakauer Magistrats vom 12.11.1887. APwK, Kr 7761, Bl. 139 f. 386 Brief des Stadtarztes an den Krakauer Magistrat vom 13.11.1890. APwK, Kr  7761, Bl. 155. 387 Schreiben des Vorstandes der jüdischen Gemeinde an den Magistrat vom 17.12.1873. APwK, Kr 7761, Bl. 1203–1209. 388 Hebräisch: Kohanim gelten als die Nachfahren Aarons, die als Priester den Tempeldienst verrichtet haben. Daher gelten für sie besondere kultische Vorschriften. 389 Protokoll vom 12.2.1891. APwK, Kr. 7761.

118  Der Tod im städtischen Alltag Diesmal unterstützte die Repräsentanz die Forderung nicht mehr so selbstverständlich wie noch zwei Jahrzehnte zuvor: Offenbar empfand sie inzwischen keine Notwendigkeit mehr, die Chewra Kadischa streng zu beaufsichtigen. Jedenfalls reagierte sie auf die Aufforderung des Magistrats damit, dass sie die Angelegenheit verschleppte. Als die Gemeinde der Aufforderung trotz mehrfacher Ermahnung nicht nachgekommen war, setzte ihr der Magistrat im Januar 1893 ein Ultimatum und drohte mit einer Strafforderung von 100 Gulden.390 Im Sommer desselben Jahres trafen schließlich Vertreter der jüdischen Gemeinde und der Stadtbehörden zusammen, um Pläne für das Begräbnishaus auszuarbeiten, die jedoch nicht verwirklicht wurden.391 Die Angelegenheit zog sich hin: 1896 wurde die jüdische Gemeinde abermals aufgefordert, Pläne für den Bau eines Begräbnishauses vorzulegen, wieder ergebnislos.392 Etwa zur gleichen Zeit diskutierte auch der Rat der Stadt Krakau ebenso ergebnislos den Bau einer neuen Begräbnishalle.393 Zudem zeigten sich zwei praktische Probleme, die den Bauplänen im Wege standen: Zum einen war im Kataster die jüdische Gemeinde nicht als Besitzer des Grundstücks eingetragen, was in der Folge korrigiert werden musste. Zum anderen erwies es sich als unmöglich, auf dem Friedhof zu bauen, ohne alte Gräber dabei zu zerstören, weswegen die Gemeinde im Jahr 1899 zusätzlichen Boden erwarb. Im Jahr 1902, nach zehn Jahren Verhandlung lagen schließlich die endgültigen Pläne vor. Sie standen im Einklang mit der damals üblichen Ausgestaltung von Leichenhäusern, doch waren sie für das Judentum ungewöhnlich: Das geplante Beerdigungshaus sollte über separate Räume für das Gebet, das Waschen der Leichen und über verschiedene Begräbnishallen verfügen – wobei eine eigene für die Leichen derer, die an ansteckenden Krankheiten gestorben waren, vorgesehen war. Zudem sollte das Begräbnishaus auch einen Seziersaal beherbergen.394 Ein solcher Saal entsprach den sanitärpolitischen Forderungen der Zeit; er widersprach jedoch dem jüdischen Gesetz, welches eine Sektion von Leichen untersagt. Aus staatlicher Sicht war eine Autopsie erforderlich, wenn diese möglicherweise Aufschluss über eine Epidemie geben konnte, wenn bei plötzlich verstorbenen oder tot aufgefundenen Personen Interesse an der Todesursache bestand oder aber um die Ursache eines Suizids erforschen zu können.395 390 Brief des Magistrats an die Repräsentanz der jüdischen Gemeinde vom 30.1.1893. APwK, Kr 7761, Bl. 271. 391 Hońdo: Dom przedpogrzebowy 80. 392 Ebd. 393 Siehe Kapitel 1.3. 394 Hońdo: Dom przedpogrzebowy 80–83. 395 Erlass der k.k. galizischen Statthalterei Lemberg vom 30.10.1868 an alle Bezirkshauptmannschaften. Archiwum Kurii, Notificationes  e Curia Principis Episcopi Cracoviensis vom 7.8.1871, 29 f. Nach einem Suizid meinte man, durch die Autopsie feststellen zu können,

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Das Thema der Leichensektion war der jüdischen Gemeinde auch in einem anderen Zusammenhang begegnet: Im Jahr 1889 trat das Dekanat der medizinischen Fakultät mit einer leicht bizarr anmutenden Bitte an die Krakauer Gemeinde heran: Es bat um Leichen aus dem jüdischen Spital für die Anato­ miekurse der medizinischen Fakultät. Schließlich seien ein Drittel der Medizinstudenten Juden, und die Leichen, die das allgemeine Landesspital der Anatomie überließ, würden den Bedarf für den Unterricht nicht decken.396 Mangelndes Anschauungsmaterial war schon seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und damit seit der Etablierung der Anatomie als universitäres Pflichtfach ein vielerorts beklagtes Problem von Wissenschaftlern. Die freiwillige Körperspende unserer Tage war unbekannt: Auf dem Seziertisch zu landen wurde vielmehr als Entehrung und somit als eine postmortale Strafe wahrgenommen. Daher erhielten die Institute nur die Leichen derjenigen, die entweder ehrlos oder völlig verarmt und ohne Angehörige verstorben waren.397 Die Anfrage parierte im Namen der jüdischen Gemeinde der Arzt Józef Oettinger: Zum einen verwies er darauf, dass die jüdische Gemeindeorganisation sich allein religiösen Aufgaben verschrieben habe, weswegen die Bedürfnisse der medizinischen Anatomie aus ihrem Aufgabenbereich herausfielen. Zum anderen diente die lange bekämpfte Chewra Kadischa Oettinger nun angesichts der Sachlage als Argument: Schließlich würden aus dem allgemeinen Landeskrankenhaus nur die Leichen derjenigen der Anatomie überlassen, für die niemand die Bestattungskosten trage. Solche Fälle könnten innerhalb der jüdischen Gemeinde per se nicht existieren, da die Beisetzung der Verstorbenen in jedem Fall von der Begräbnis­bruderschaft besorgt werde.398 Dass die jüdische Gemeinde im Fall des Begräbnishauses den städtischen Forderungen hingegen nachgab, erklärt sich zum einen dadurch, dass die­ ob dieser aus freiem Willen oder aber »im Wahnsinn« erfolgt war, was zum einen über die Witwen- und Waisenrenten bei Hinterbliebenen von Staatsbeamten sowie zum anderen – im Falle von Anhängern der katholischen Konfession – über ein kirchliches Begräbnis entschied. 396 Verschiedenes. In: Der Israelit Nr. 16 vom 30.9.1889, 3. 397 Amann, Ines: »Hic mors vivos docet«. Die Geschichte der Leichenöffnung. In: Daxelmüller, Christoph (Hg.): Tod und Gesellschaft – Tod im Wandel. Regensburg 1996, 53–56. Stukenbrock, Karin: Unter dem Primat der Ökonomie? Soziale und wirtschaftliche Aspekte der Leichenbeschaffung für die Anatomie. In: Helm, Jürgen/Stukenbrock, Karin (Hg.): Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18.  Jahrhundert. Stuttgart 2003, 227–239. 398 Verschiedenes. In: Der Israelit Nr. 16 vom 30.9.1889, 3. Hatte die Angelegenheit damit ihr Bewenden, so sollte die Forderung nach Leichen verstorbener Juden für medizinischuniversitäre Zwecke in der Zwischenkriegszeit erneut virulent werden und an verschiedenen polnischen Hochschulen als Anlass für antijüdische Kampagnen dienen. Siehe dazu Aleksiun, Natalia: Christian Corpses for Christians! Dissecting the Anti-Semitism behind the Cadaver Affair of the Second Polish Republic. In: East European Politics and Societies 25/3 (2011) 393–403.

120  Der Tod im städtischen Alltag Autopsie in bestimmten Ausnahmefällen möglich war, zum anderen sagt das reine Vorhandensein eines Sektionssaals noch nichts über die Art und Weise der tatsächlichen Nutzung. Ebenfalls zum Begräbnishaus gehörig war eine Remise, was eine ebenso auffällige wie späte Erneuerung darstellte. Den Transport von Leichen mit Hilfe von Pferdekraft hatte der Krakauer Rabbiner Simon Schreiber399 drei Jahrzehnte zuvor noch als Verstoß gegen die Religionsvorschriften offiziell untersagt,400 während Pferde zur selben Zeit in Prag bereits in Gebrauch waren.401 Um 1900 war die jüdische Bestattung mittels Leichen­wagen in Europa schon längst üblich geworden. Inzwischen überwogen der praktische Nutzen und das Bedürfnis nach Repräsentation die bisherigen Bedenken. In Betrieb genommen wurde das neue Begräbnishaus im Juni 1903.402 Dass sich der Leichenwagen unter einem Teil der jüdischen Gemeinde durchsetzte, zeigten auch die Trauerfeiern namhafter Krakauer Juden, etwa die von Leon Horowitz ­(1844–1905), Präsident des jüdischen Kultusrates sowie Krakauer Stadtrat. Bei der Beisetzung, zu der auch Vertreter der Stadt Krakau gekommen waren, wurde der Sarg von einem von vier Pferden gezogenen Gespann transportiert.403 Das Begräbnis zeigte zugleich, mit welcher Forderung sich die Stadtbehörden nicht hatten durchsetzen können: Die Beerdigung fand bereits einen Tag nach Horowitz’ Verscheiden statt. Ebenso verhielt es sich mit der Beisetzung von Rabbi Chaim Leib Horowitz (1851–1904), der im Jahr zuvor verstorben war, und über dessen Beisetzung ebenfalls in der Krakauer nicht jüdischen Presse geschrieben worden war.404

1.4.5 Diskussionen um den Umgang mit dem alten jüdischen Friedhof Neue sanitäre Vorschriften hatten neue Einrichtungen wie etwa das Begräbnishaus und die Schaffung der Stelle eines Friedhofsaufsehers gefordert. Zugleich stellte sich die Frage, wie mit alten Einrichtungen, namentlich mit dem seit Jahrhunderten nicht mehr genutzten Friedhof umzugehen sei. Hatte in den 1820er Jahren Rabbi Dov Meisels die Auflassung des alten Friedhofs in der ulica szeroka erfolgreich verhindern können, so stellte sich in den 1860er Jahren erneut für die Stadtbehörden die Frage, was mit dem Friedhof, der seit dem

399 Auch Szymon Schreiber und Shimon Sofer. 400 Schreiben des Rabbiners an die Gemeinderepräsentanz vom 2.7.1874. APwK, Kr 7761, Bl. 1154. 401 Niedhammer, Martina: Nur eine »Geld-Emancipation«? Loyalitäten und Lebens­ welten des Prager jüdischen Großbürgertums 1800–1867. Göttingen 2013, hier 106. 402 Hońdo: Dom przedpogrzebowy 86 f. 403 Pogrzeb bł. p. Dra Leona Horowitza. In: Czas Nr. 43,2 vom 22.2.1905, 2 f. 404 Kronika. In: Czas Nr. 267 vom 21.11.1904, 2.

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Jahr 1552 nicht mehr in Gebrauch war,405 geschehen sollte. Er befand sich mitten auf dem größten jüdischen Platz und war von allen Seiten von einer hohen Mauer umgeben. Grabsteine waren im 19. Jahrhundert schon nicht mehr zu erkennen und der Friedhof war für Besucher ohnehin unzugänglich.406 Den Stadtbehörden war der alte und nicht mehr gepflegte Friedhof, der zudem straßenbautechnische Beschränkungen bedeutete, ein Dorn im Auge. Die Angelegenheit thematisierte auch Krakaus Stadtpräsident Ferdynand Weigel, als er am 16. April 1882 dem jüdischen Stadtteil Kazimierz einen offiziellen Besuch abstattete. In seiner Ansprache bat er unter anderem die jüdische Gemeinde, die hygienischen Zustände in Kazimierz zu verbessern. Konkret sprach er den alten kleinen Friedhof in der ulica szeroka an, der nach mehreren hundert Jahren des Bestehens inzwischen einer Ödnis gleiche, von einer abscheulichen Mauer umgeben sei und deswegen in beiderseitigem Einverständnis aufgelassen werden möge. An seiner Stelle könne dann zum Beispiel eine Grünanlage entstehen.407 Getan wurde jedoch nichts. Im Juni 1884 erklärte die jüdische Repräsentanz gegenüber dem Magistrat, dass sich innerhalb der jüdischen Gemeinde eine Kommission zusammen­ gefunden habe, um Pläne für den Friedhof auszuarbeiten. Zugleich bat sie den Magistrat darum, die Friedhofsmauer nicht eigenmächtig abzureißen, denn dies würde Unmut unter den hiesigen »Altgläubigen« verursachen, die der Repräsentanz ohnehin schon ablehnend gesonnen seien.408 Den Vorschlag der Stadt, den Friedhof in einen Park umzuwandeln, lehnte die Gemeinde ab, da die Auflassung eines jüdischen Friedhofs unmöglich sei und nicht nur unter den Juden in Krakau, sondern im gesamten Galizien Unverständnis hervorrufen würde. Um das Argument zu untermauern, verwies die Gemeinde darauf, dass auch in anderen Städten alte jüdische Friedhöfe, obgleich ungenutzt, bestehen blieben.409 Die Angelegenheit blieb weiterhin ungeregelt, obwohl die Friedhofsmauer wegen herausfallender Ziegel eine allgemeine Gefahr darstellte.410 In einem Schreiben vom April 1891 erklärte die Stadt der jüdischen Gemeinde, dass eine vollständige Auflassung des Friedhofs am günstigsten wäre, dass sie aber wisse, dass dies religiösen Vorstellungen widerspreche, die der Magistrat nicht verletzen wolle. Als Kompromiss schlug der Magistrat daher einen Mit-

405 Bałaban: Historja Żydów, hier Bildteil 274. 406 Ebd. 407 Sprawy miejskie. In: Czas Nr. 89 vom 19.4.1882, 2. 408 Schreiben der Gemeinderepräsentanz an den Magistrat vom 24.6.1884. APwK, Kr 7761, Bl. 469–471. 409 Schreiben der Gemeinderepräsentanz an den Magistrat vom 28.8.1884. APwK, Kr 7761, Bl. 461–463. 410 Schreiben des Magistrats an die jüdische Gemeinderepräsentanz vom 3.7.1888. APwK, Kr 7761.

122  Der Tod im städtischen Alltag telweg vor: den Friedhof durch ein umzäuntes Denkmal zu ersetzen.411 Die jüdische Gemeinde verschleppte die Regelung: Im Jahr 1892 bat sie mehrfach um Aufschub, einmal wegen der Abwesenheit des Rabbiners, einmal wegen nahender Feiertage.412 Der alte Friedhof ist damit ein weiteres Beispiel für erfolgreiche Strategien, mit denen sich religiöse Vorstellungen gegen sanitärpolitische und städtebauliche Prioritäten durchsetzten.

1.4.6 Vom homogenen zum heterogenen Ort – Sepulkralarchitektur und Grabinschriften Mit der Art und Weise der Beisetzung war eine allerletzte Möglichkeit ge­ geben, die religiöse Zugehörigkeit des Toten und seines sozialen Umfelds auszudrücken. Ein bleibendes Zeugnis dieser Zugehörigkeit stellte die Gestaltung des Grabes und der Grabinschrift dar. Hier vollzogen sich ohne äußeren Druck Veränderungen. Sowohl sprachlich als auch architektonisch wurde der jüdische Friedhof in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts heterogener. Bis dahin war die Grabinschrift selbstverständlich immer auf Hebräisch verfasst worden. Im Jahr 1867 wurde erstmals Deutsch als Sprache auf dem Grabstein der Marie Rittermann verwendet, die erste polnischsprachige Grabinschrift fand sich 1873 auf dem Grabstein von Henryk Caro.413 Damit waren die ersten nicht hebräischen Inschriften in Krakau im mitteleuropäischen Vergleich recht jungen Datums, während in deutschen Gemeinden landessprachliche Inschriften bereits im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich wurden.414 Das späte Aufkommen nicht hebräischer Inschriften sagt aber weniger etwas über das Zugehörigkeitsgefühl des Verstorbenen und seine nächsten Verwandten aus, sondern lässt vielmehr ein striktes Regiment der Chewra Kadischa vermuten, welche keine Abweichungen von der Tradition duldete. Die Neuerung erregte schon rasch Missfallen innerhalb der Gemeinde: Der Krakauer Polizei war 1874 zu Ohren gekommen, dass jemand plane, einen Grabstein mit polnischer Inschrift zu zerstören. Da die Polizei alleine mit ihren Ermittlungen nicht weiterkam, ließ sie die Nachricht in den Synagogen verkünden. Der Gemeinde legten die Stadtbehörden zugleich nahe zu prüfen, ob solche Inschriften im Widerspruch zu jüdischen religiösen Vorschriften stünden.415 411 Schreiben an die jüdische Repräsentanz vom 8.4.1891. APwK, Kr 7761, Bl. 149 f. 412 Schreiben vom 27.7.1892 sowie vom 26.9.1892. APwK, Kr 7761, Bl. 249. 413 Hońdo: Cmentarz jako obraz 64. 414 Brocke, Michael/Müller, Christiane E.: De Mortuis Nil Nisi Hebraice? The Language of Tombstone Inscriptions in Nineteenth-Century Germany. In: Berger, Shelomoh (Hg.): Speaking Jewish – Jewish Speak. Multilingualism in Western Ashkenazic Culture. Leuven 2003, 49–76, hier 59 f. 415 Żbikowski: Żydzi Krakowscy 148.

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Mit der Sprache wurde auch die Struktur polnisch- bzw. deutschsprachiger Inschriften übernommen: Kurz und knapp wurden dort neben dem Vorund Nachnamen des Verschiedenen sein Geburts- und seine Sterbetag genannt. Später fanden sich auch typische christliche Formeln wie »Frieden seiner/ihrer Asche« sowie die Bitte der Hinterbliebenen an den Vorbeikommenden um ein Gebet für die dort Ruhenden (wörtlich: »um einen frommen Seufzer«),416 die sich auf dem allgemeinen Krakauer Friedhof großer Beliebtheit erfreuten. Der Hinweis auf die Hinterbliebenen, die um den Verstorbenen trauern, stellte ebenfalls eine Neuerung der Zeit dar: So war die Rede vom »geliebten Sohn und Bruder«, der, gestorben im »Frühling seines Lebens«, die »Eltern und Geschwister in unstillbarer Trauer und ewiger Sehnsucht« zurückgelassen habe.417 Die neue Betonung des Familiären in der Sepulkralkultur, charakteristisch für das 19. Jahrhundert, brachte auf dem Krakauer jüdischen Friedhof eine weitere Erneuerung mit sich: Waren bisher die Toten in chronologischer Reihenfolge beigesetzt worden, so bestand in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts die Möglichkeit, sich Plätze zu reservieren und so Familiengräber zu schaffen.418 Wie auch auf den christlichen Friedhöfen fand sich die neue Betonung familiärer Bindungen nun in der Topographie der Friedhöfe wie in den Epitaphen der Grabsteine wieder. Die im Hebräischen gebräuchlichen Formeln der Inschriften, die eine relativ feste Struktur besaßen, zu der eine Einleitungsformel, der Name und die Lebensdaten des oder der Verstorbenen sowie ein Schlusssegen und eine eventuelle Lobrede auf die zumeist frommen Tugenden des Verstorbenen umfassten,419 wurden nicht übersetzt. Oftmals ergänzte die hebräische Inschrift die deutsch- oder polnischsprachige,420 wobei häufig die eine Inschrift auf der einen Seite der Stele und die andere auf der anderen Seite verwendet wurde, ein Vorgehen, welches auch in anderen jüdischen Gemeinden üblich war.421 Aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stammen auch einige Dutzend Inschriften in jiddischer Sprache, die zumeist eine Ergänzung oder aber eine Wiederholung der hebräischen Inschrift darstellten.422 Die Gestaltung des Epitaphs war nichts geringeres als »a very final de 416 Entsprechende Beispiele finden sich bei: Hońdo, Leszek: Cmentarz jako obraz dokonujących się przemiań społeczności żydowskiej na przestrzeni XIX i XX wieku. In: Ders.: 200 lat nowego cmentarza żydowskiego w Krakowie. Kraków 2010, 55–67, hier 65–67. 417 Epitaph für den 1906 im Alter von neun Jahren verstorbenen Jakób Unger; zitiert bei Hońdo: Cmentarz jako obraz 65 f. Die Inschrift war in Polnisch verfasst und um eine traditionelle, hebräische Inschrift ergänzt. 418 Hońdo: Cmentarz jako obraz 60. 419 Brocke/Müller: De Mortuis 50. 420 Hońdo: Cmentarz jako obraz 64–67. 421 So findet sich dieser Brauch beispielsweise auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts in Prag. Niedhammer: Nur eine »Geld-Emancipation«? 242–244. 422 Hońdo: Cmentarz jako obraz 67.

124  Der Tod im städtischen Alltag cision on one’s own cultural affiliation«423; so stellte die Verbindung einer religiösen, hebräisch­sprachigen Inschrift mit einer säkularsprachlichen, der nicht jüdischen Umwelt nachempfundenen Inschrift den Wunsch dar, auch im Tod die multiplen Identitäten als religiöser Jude und loyaler Staatsbürger und damit zugleich säkulare wie religiöse Lebensbereiche zu vereinigen. Insofern könnten die jiddischen Inschriften als das Gegenteil gelesen werden, nämlich als der Ausdruck einer integralen jüdischen Identität, die die religiöse Zugehörigkeit ebenso wie die nationale erfasste. Solche Inschriften waren aber selten, die Verknüpfung einer nicht jüdischen Sprache mit dem Hebräischen überwog. Neben der sprachlichen Annäherung an die Mehrheitsgesellschaft zeigte sich eine Konvergenz zwischen Juden und Nichtjuden in der Sepulkralarchitektur. Ähnlich wie auf dem christlichen Friedhof fanden sich nun auf Krakaus jüdischem Friedhof neue Formen der Grabmäler wie Obelisken und Säulen respektive brüchige Säulen,424 ein typisches vanitas-Motiv. Die jüdische Sepulkralarchitektur übernahm daher keine typischen christlichen Grabsteine, sondern adaptierte, ebenso wie die Christen, auf ihren Friedhöfen zunehmend antike respektive antikisierende Stile.425

1.4.7 Zwischenfazit Gerade im jüdischen religiösen und rituellen Kontext erwies sich das Bestattungswesen als hochsensibles und umkämpftes Terrain. Die Kontroversen um die richtige Art und Weise der Beisetzung stellten zugleich eine Auseinandersetzung um die Ausrichtung der jüdischen Gemeinde dar. Wichtigster Akteur war dabei die jüdische Begräbnisbruderschaft, die Chewra Kadischa, dem eigenen Empfinden nach Hüterin rabbinischer Traditionen und religiös-ritueller Vorschriften sowie Wohltätigkeitsanstalt, in den Augen ihrer Gegner hingegen eine Bastion des Aberglaubens. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit in der Zeit der Freien­ Republik Krakau waren es städtische Behörden, die, getrieben von dem Wunsch, das jüdische Leben zu kontrollieren und die jüdische Separation aufzuheben, die Begräbnisbruderschaft einer Neuregelung unterwarfen, die ihre bisherige Unabhängigkeit sowohl von der jüdischen Gemeinde als auch von weltlichen Behörden annullierte. Mit der Formation einer liberalen Vereinigung erwuchs der Begräbnisbruderschaft in der zweiten Jahrhunderthälfte zudem ein innergemeindlicher und ideologischer Gegner. Die liberalen Juden störten 423 Jagodzińska: Between Two Worlds 149. 424 Hońdo: Cmentarz jako obraz 62 f. 425 Siehe auch Blisniewski, Thomas: Wandlungen der jüdischen Sepulkralkultur im 19. Jahrhundert. In: Denk (Hg.): Der bürgerliche Tod 17–23, hier 20.

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sich am Verhalten der Begräbnisbruderschaft aus drei Gründen: erstens weil diese unrechtmäßig die Einnahmen des Friedhofs an sich nahm, die sie selbstständig und unsachgemäß verwaltete, zweitens wegen ihrer stark orthodoxen Ausrichtung und drittens, weil die von der Begräbnisbruderschaft gepflegten Beerdigungssitten die jüdische Gemeinde in den Augen der nicht jüdischen Öffentlichkeit als rückständig erscheinen ließen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen, der Begräbnisbruderschaft die Friedhofsaufsicht zu entziehen, wandte sich die jüdische Gemeinderepräsentanz zuerst an den Krakauer Magistrat und dann an die Statthalterei in Lemberg, um dort Unterstützung zu erlangen. Die weltlichen Behörden erschienen damit nicht mehr nur als Opponent, sondern auch als Schiedsrichter bei innerjüdischen Streitigkeiten. Die städtischen Behörden hingegen behaupteten in der Zeit der »Galizischen Autonomie« ihre Vorstellung von der richtigen Art und Weise der Beisetzungen, die von einer medizinisch-sanitären Agenda getrieben war, der sich im Zweifelsfall religiöse Riten und Gebräuche unterzuordnen hatten. In der Praxis misslang jedoch die Umsetzung der Agenda mehrfach. Mit der Ernennung eines Friedhofsaufsehers, der zwar von der jüdischen Gemeinde bezahlt wurde, aber von den Stadtbehörden erlassene Vorschriften einhalten sollte, hoffte sie, die Beisetzung ohne Sarg sowie die frühe Beisetzung zu unterbinden. Dabei war den städtischen Behörden trotz mehrfacher Intervention ein nur mäßiger Erfolg beschert, denn der Friedhofsaufseher entschied im Zweifel eher für seine Glaubensbrüder als im Sinne städtischer Sanitärpolitik. Erfolgreicher erwies sich hingegen die Errichtung eines Begräbnishauses auf dem Friedhof, welches dem hygienischen Umgang mit Leichen dienen sollte. Das jüdische Begräbnishaus beherbergte auch einen Seziersaal, obwohl die Autopsie im Widerspruch zu halachischen Vorschriften stand. Dass Veränderungen in der jüdischen Sepulkralkultur nicht nur von außen oktroyiert wurden, zeigt die innere Entwicklung des Friedhofs, wo sich ohne das unmittelbare Zutun nicht jüdischer Behörden der Wandel von einem religiös, sprachlich, architektonisch und sozial homogenen zu einem heterogenen Ort vollzog. Der Friedhof war ein Spiegelbild der Gemeinde – und damit der Welt der Lebenden. Während die jüdische Gemeinde bestrebt war, ihre alten Friedhöfe unan­ getastet zu wissen, brachte die Neuanlage von christlichen Friedhöfen eine brutale Reform mit sich. Die alten Friedhöfe wurden aufgelassen, eingeebnet und die Straßen planiert. Wurden später noch Knochen gefunden, so wurden diese immer wieder auf gewöhnlichen Wagen zum Friedhof gebracht und dort aufgebahrt, teilweise wurden sie einfach in das Erdreich eingelassen, über welchem später Wege errichtet wurden.426 Der Unterschied im Umgang mit dem 426 Cyrankiewicz, Stanisław: Przewodnik po cmentarzach, Reproduktion der Ausgabe von 1908. Kraków 1986, hier 594.

126  Der Tod im städtischen Alltag Leichnam manifestierte sich auch im Armenbegräbnis, welches der Arzt J­ózef­ Oettinger im Zusammenhang mit der Forderung nach Leichen von Juden für die Anatomie angesprochen hatte: Keine Leiche eines Juden war sich selbst überlassen, sondern blieb, ob wohlhabend oder mittellos, in der Fürsorge der Gemeinde. Anders im Christentum: Dort war der Leichnam, wenn niemand für die Beisetzung zahlen konnte, sich selbst überlassen. Um eine eventuelle unehrenhafte Beisetzung zu verhindern, hatte sich die katholische Beerdigungskasse gegründet.427 Die Nachlässigkeit gegenüber Gebeinen namenloser Verstorbener steht im größtmöglichen Gegensatz zu den aufwendigen Begräbnisfeierlichkeiten, die uns im nächsten Kapitel beschäftigen werden.

427 Leider finden sich keine Quellen, die über das Bestattungswesen der protestantischen Minderheit Aufschluss geben. Bei der geringen Zahl von nur etwa tausend Gläubigen lässt sich vermuten, dass starke soziale Bindungskräfte in der Gemeinde bestanden, so dass die Mitglieder einander möglicherweise auch im Tod und Sterben beigestanden sind. Ansonsten wird im Zweifelsfall die Stadt für die Beisetzung von mittellosen Protestanten aufgekommen sein.

2. Der nicht alltägliche Tod – Bestattungen als öffentliche Ereignisse 2.1 Tod als Lebenselement – Krakaus große Beerdigungen im 19. Jahrhundert Alles an diesem Ort war paradox. Der Tod wurde zu einem Element des Lebens. Ein wichtiger Bestandteil der Krakauer Chroniken waren – Beerdigungen. Mit dem Wawel und Skałka wurde Krakau zu einem großen Beerdigungshaus des gesamten Polens. Seit der unvergesslichen Beerdigung von Mickiewicz sind viele ehrwürdige Tote durch die Straßen gezogen: Kraszewski, Lenartowicz, Matejko, Asnyk, Wyspiański …1

Neben der Bürokratisierung und Technisierung des Todes bestand eine zweite große Veränderung in der Sepulkralkultur in einer neuen Qualität des politischen Totenkultes. Politischer Totenkult soll hier in Anlehnung an Olaf B.  ­ Rader als eine zeichenhafte und symbolische Form der Totenfürsorge verstanden werden, bei der der Tote respektive sein Grab in symbolisches Kapital transformiert werden und die Totenriten der Bildung und dem Erhalt von Kollektiven sowie der Herrschaftsstabilisierung und der Stärkung der Legitimität des Herrschers dienen.2 Was den politischen Totenkult von anderen symbolischen Handlungen mit vergleichbaren Zielsetzungen unterscheide, ist Rader zufolge seine besondere Qualität und Effizienz. Rader untersucht den politischen Totenkult anhand von Situationen, die er als »Prismen der Macht« bezeichnet, und in denen Autorität und Legitimität eines Herrschers in Frage gestellt werden. In solchen Situationen erwiesen sich Gräber und Leichen als Symbole für die angestrebte Herrschaftsform. Einfacher ausgedrückt: Wer seinen Vorgänger ehrwürdig zu Grabe trägt, erweist sich als dessen würdiger Nachfolger.3 Hier klingt eine weitere Eigenschaft des politi-

1 Boy-Żeleński, Tadeusz: O Krakowie. Opracował Henryk Markiewicz. Kraków 1968, hier 122. 2 Rader, Olaf B.: Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin. München 2003. Ders.: Prismen der Macht. Herrschaftsbrechungen und ihre Neutralisierung am Beispiel von Totensorge und Grabkulten. In: Historische Zeitschrift 271/2 (2000) 311–346. 3 Ebd.

128  Der nicht alltägliche Tod schen Totenkultes an: Er stiftet eine Kontinuität von Herrschern vergangener Zeiten bis hinein in die Gegenwart. Der Totenkult ist jedoch nicht nur für einen Einzelnen interessant, der vor Anderen seine Herrschaftslegitimität unter Beweis stellen muss, sondern auch für Kollektive: Über den Gräberkult und die Totenerinnerung erfährt sich der Einzelne als Teil einer Gruppe, so dass aus der gemeinsamen Memoria eine kollektive Identität erwächst.  Einen wichtigen Bezugspunkt und Erinnerungsort par excellence stellt dabei das Grab dar.4 Gräber nehmen unter den vielen Gedenk- und Erinnerungsorten einen besonderen Stellenwert ein: Ein Denkmal, welches auf ein bestimmtes, zu erinnerndes Ereignis verweist, kann an verschiedenen Orten zugleich existieren. Ein Grab hingegen, welches einen Leichnam beherbergt, existiert in der Regel nur an einem Ort, so dass es »als Ruhestätte der Toten (ebenso wie die mit Reliquien bestückten Orte)  ein Ort numinoser Präsenz« bleibt und damit eine »ortsfeste Gedenkpraxis« ermöglicht.5 Ein Grab verbürgt Authentizität: Hier ruhen die »materiellen« Überreste der Personen, die ansonsten nur aus tradierten Erzählungen bekannt sind, und scheinen zum Greifen nahe zu sein. So stärken Gräber die Überzeugung, dass sich die tradierte Geschichte wirklich zugetragen hat. Oder wie es Rader ausdrückt: »Der Wert des Grabes für eine Gesellschaft mißt sich daher am Grad der Angewiesenheit einer Gemeinschaft auf Erzeugung und Wahrung kollek­ tiver Identität.«6 Aus dem Bedürfnis nach »Erzeugung und Wahrung kollektiver Identität« lässt sich bereits erahnen, warum die entstehenden Nationalbewegungen des 19.  Jahrhunderts auf den politischen Totenkult rekurrierten. Im politischen Totenkult wurde die Nation von der gedachten Gemeinschaft zu einer gefühlten und greifbaren Gemeinschaft. In dem geehrten Toten konkretisierte sie sich: Der Verstorbene wurde zur »Inkarnation der Nation« erhoben und damit zu einem Identifikationsangebot für die teilnehmenden Menschen. Drei Elemente erweisen sich dabei als konstitutiv für das Ritual: Erstens wird die Identifikationsfigur als konkret und exemplarisch vorgestellt, zweitens wird in der Feier eine zurückliegende, aber nichtsdestotrotz aktualisierbare Vergangenheit evoziert, und drittens werden Ziele und Werte beschworen, die umgesetzt werden sollen.7 Hier verbindet sich der nationale Kult sehr häufig mit dem Kult um den »großen Mann«, der durch sein Talent, seine Taten, sein Geschick der Nation zum Vorbild wurde, und dessen Gedenken zugleich eine Mahnung darstellt, sein geistiges Erbe in der Zukunft zu verwirklichen. 4 Rader: Grab und Herrschaft 35 f. 5 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2009, hier 324 f. 6 Rader: Grab und Herrschaft 36. 7 François, Etienne u. a.: Die Nation 26. Die Ausführungen beziehen sich zwar auf politische Festivitäten im Allgemeinen, erhalten aber im Totenkult eine besondere Qualität.

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Das Ritual allgemein und der Totenkult insbesondere schaffen so eine Zeitdimension, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verbindet und aus der Vergangenheit Handlungsmaximen für die Gegenwart und Wunschprojektionen für die Zukunft ableitet. Denn als »zentrale Bausteine in der symbolischen Konstruktion der Vergangenheit« eignen sich Funeralriten besonders, um die Nation in der Vergangenheit zu verorten und zugleich aus den Ehrverpflichtungen gegenüber dem Andenken der Verstorbenen eine auf die Zukunft be­zogene Pflicht abzuleiten.8 Wie auch die Beispiele in diesem Kapitel noch illustrieren werden, spiegelt sich im politischen Totenkult eine neue Vorstellung von Gesellschaft wider: Außerordentliche posthume Ehrerweisungen sind nun nicht mehr an eine dynastische Zugehörigkeit gebunden, sondern an persönliche Verdienste in Kultur, Politik, Kunst und Wissenschaft. Dabei lassen sich drei Formen des Beerdigungskultes unterscheiden: erstens die unmittelbare, prachtvolle Beisetzung, zweitens die Überführung von bereits vor längerer Zeit verstorbenen Personen und drittens die stille Demonstration, beispielsweise bei der Beisetzung von Opfern staatlicher Repressionen. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung gingen mit dem Begräbniskult eine symbolische Besetzung des Raumes und ein Herrschaftsanspruch einher,9 was erahnen lässt, dass mit dem politischen Totenkult auch ein großes Konfliktpotenzial verbunden war. Unterschiedliche Vorstellungen von Nation manifestierten sich in allen Bereichen des politischen Lebens, aber im Zusammenhang mit Beerdigungen entfalteten sie eine besondere Dynamik, da Beerdigungen – auch – einen religiösen Ritus darstellten, was die Problematik um Interkonfessionalität und säkulare wie nationale Aspekte plastischer hervortreten ließ. Stellt man sich den national gestimmten Totenkult in einem Koordinatensystem vor, dann lassen sich dort drei miteinander verbundene Konfliktfelder ausmachen: Da Beisetzungen ein traditionell religiöses Ritual darstellten, stellt sich erstens die Frage, wie sich religiöses und nationales Zeremoniell zueinander verhielten oder allgemeiner wie säkulare und religiöse Ansprüche zueinander standen. Zweitens lässt sich am politischen Totenkult ablesen, wer zur Nation gehören sollte. Diese Frage nach Inklusion und Exklusion stellte sich in zweifacher Hinsicht: erstens, ob die Nation sich religiös heterogen oder homogen gestaltete und zweitens, ob sie ständisch, dynastisch, kulturell oder politisch definiert wurde. Mit der Frage nach der Verortung der Nation verbindet sich drittens ein Unterschied zwischen konservativen und liberalen politischen Entwürfen. Anhand der Krakauer Fallbeispiele sollen nun die genannten Aspekte untersucht werden. Dabei lässt sich ein Trend erkennen: Die Vorstellung der Nation 8 Rader: Grab und Herrschaft 10. 9 Hroch, Miroslav: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im euro­ päischen Vergleich. Göttingen 2005, hier 207.

130  Der nicht alltägliche Tod war zunächst dynastisch geprägt, doch setzte sich dabei immer mehr die Vorstellung von einer Kulturnation durch. Im Krakauer Beispiel erwies sich dabei das Jahr 1887 als deutliche Zäsur. In diesem Jahr wurde mit Józef Ignacy Kraszewski erstmals ein kurz zuvor verstorbener Schriftsteller mit einer großen Beisetzung zu Grabe getragen, weswegen dem Beispiel auch verhältnismäßig viel Platz eingeräumt werden soll. Dass gerade in Krakau im 19.  Jahrhundert in besonderer Weise ein politischer Totenkult zelebriert wurde, hatte zwei Gründe: Erstens war es aufgrund seiner Anciennität ein nationaler Sehnsuchts- und Gegenort angesichts der Teilungen Polens geworden, zweitens konnte es sich als Stadt in der Habsburgermonarchie seit der »Galizischen Autonomie« über politische Freiheiten freuen, wie sie die preußischen und russischen Teilungsgebiete nicht kannten. Aus der Frage, wie mit diesen politischen Freiheiten umzugehen sei, erwuchs eines der Konfliktfelder zwischen Liberalen und Konservativen.

2.1.1 Die zweite Beisetzung von Kazimierz Wielki im Jahr 1869 Für die Polen in Galizien waren die 1860er Jahre von einer positiven Entwicklung geprägt: Nach dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn wurde dem Kronland Galizien eine kulturelle und behördliche Autonomie zugestanden. Seit 1867 galt das freie Presse- und Vereinsrecht, 1869 wurde Polnisch Amtsund Unterrichtssprache, was das Polnische privilegierte und nicht nur das Deutsche, sondern auch das Ruthenische als Sprache zurückdrängte. Die neuen Freiheiten waren Voraussetzung für die nationalen Feierlichkeiten, denn die vorteilhafte Entwicklung für die Polen in Galizien stand im Kontrast zur Situation ihrer Landsleute im preußischen und russischen Teilungsgebiet. Im russischen Teilungsgebiet waren auf den gescheiterten Januaraufstand 1863 Repressionen und eine Russifizierung in Behörden und Kultus erfolgt. Auch Preußen verfolgte weiterhin eine Germanisierung der Provinz Posen. Dies war der Hintergrund für die erste politische Beisetzungsfeier während der »Galizischen Autonomie«. Zu verdanken war dieses Begräbnis, welches als eine der wichtigsten nationalen Feierlichkeiten in die Chroniken eingehen sollte, einem Zufallsfund: Bei Restaurationsarbeiten auf dem Wawel wurden im Jahr 1869 die Gebeine des Königs Kazimierz III. entdeckt, deren genauer Verbleib bislang unbekannt gewesen war. Die Nachricht rief aus mehreren Gründen in den polnischsprachigen Gebieten eine große Euphorie hervor. Das Auffinden der Gebeine galt nicht nur als eine archäologische Sensation, sondern wurde auch als ein glückliches Vorzeichen gedeutet: Das machtlose Polen entdeckte die Überreste seines mächtigsten Königs, der im 14. Jahrhundert die Reichseinheit Polens wiederhergestellt hatte, was die Hoffnungen auf eine Wiederherstellung polnischer Staatlichkeit in der Gegenwart beflügelte: So wie Kazimierz’ Herr-

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schaft auf eine Zeit des Unglücks gefolgt war, so sollte auch dieser Zeit des nationalen Unglücks eine neue Blütezeit folgen.10 Schließlich handelte es sich bei dem König Kazimierz III. um den einzigen König der polnischen Geschichte, dem die Nachwelt den Beinamen »der Große« verlieh. Noch in einer weiteren Lesart konnte der Fund der Gebeine Kazimierz’ gedeutet werden: Er konnte als wahrer polnischer Herrscher gesehen werden, der die Legitimität des österreichischen Kaisers dadurch in Frage stellte. Die erste nationale Trauerfeier in Krakau war in gewisser Weise paradox: Sie knüpfte an dynastische Zeremonien an und stellte zugleich einen Triumph der Liberalen über die Konservativen dar. Zwischen den beiden Lagern herrschte eine große Uneinigkeit darüber, was mit den gefundenen Gebeinen geschehen sollte. Geführt wurde die Debatte von den beiden großen Krakauer Tageszeitungen, dem konservativen Czas und dem liberalen Kraj.11 Der Kraj forderte, dass die wiedergefundenen Überreste des Königs in einer großen Zeremonie erneut beigesetzt werden, an der die gesamte polnische Nation teilhaben solle. Der Kraj sah die »Nation« in Handlungskontinuität zu den polnischen Königen: Was einst die Könige für das Los Polens bewirkt hatten, sollte nun die Nation als Handelnder bewirken.12 In diesem Sinne verstand der Kraj auch die Gebeine des Königs als nationales Eigentum und forderte daher eine gesamtnationale und demokratische Beisetzungszeremonie, an der Repräsentanten der ge­samten Nation – und das hieß für den Kraj Vertreter von Stadt und Land und aus allen Teilungsgebieten – teilnehmen sollten.13 Diese Haltung teilten die Konservativen um den Czas nicht, die grundsätzlich »vor einer umfassenden patriotischen Mobilisierung des Volkes, erst recht jedoch vor der gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung« zurückschreckten.14 Nach Entdeckung und Öffnung des Grabes waren die Gebeine des Königs in einer kleinen Zeremonie unter Anwesenheit einiger weniger Personen – darunter Geistliche, Denkmalschützer, konservative Politiker und der Maler Jan Matejko, der die Grabfunde gezeichnet hatte, – wieder ins Grab gelegt worden.15 Diese kleine Zeremonie in Anwesenheit einiger Vertreter aus Kultur und Politik sei ausreichend gewesen, befand der Czas und argumentierte weiter, dass keine große Feier nötig sei, da die Entdeckung der Gebeine überraschend gewesen

10 Buszko, Józef: Uroczystości Kazimierzowskie na Wawelu w roku 1869. Kraków 1969, hier 69. 11 Buszko: Uroczystości Kazimierzowski 15–32. 12 Ebd. 71. 13 Ebd. 22 f. und 28. 14 Kraft, Claudia: Das Galizische Bürgertum in der Autonomen Ära (1866–1914). Ein Literaturüberblick. In: Heumos, Peter (Hg.): Polen und die böhmischen Länder im 19. und 20. Jahrhundert. Politik und Gesellschaft im Vergleich. München 1997, 81–110, hier 91. 15 Buszko: Uroczystości Kazimierzowskie 18.

132  Der nicht alltägliche Tod war, und verwahrte sich vehement gegen eine große Feier mit allgemein-nationalem Charakter.16 Noch die Erinnerung an den Januaraufstand von 1863 und seine Konsequenzen für das Königreich Polen vor Augen, wollten die Krakauer Konservativen nicht die kürzlich gewährten Konzessionen Österreichs gefährden. Eine feierliche Trauerfeier für Kazimierz  III. erschien ihnen ge­eignet, die Legitimation der österreichischen Herrschaft in Frage zu stellen, wodurch die Beerdigung leicht zu einer politischen Demonstration gegen die Teilungsmächte werden könnte. Die Argumente, die in der Diskussion um eine Gedenkfeier für den König gegeneinander gestellt wurden, sollten bei den künftigen Kontroversen um die Ausgestaltung von Beisetzungen bekannter Polen wiederholt werden. Auf der einen Seite lautete das liberaldemokratische Argument, dass der Verstorbene, sei er Dichter oder König, Repräsentant der Nation sei und damit auch die gesamte Nation  – verstanden als kulturelle und sprachliche Gemeinschaft aller Stände und Bekenntnisse – über die Beisetzung bestimmen solle. Ent­sprechend sollte die so verstandene Nation durch möglichst zahlreiche Stellvertreter der verschiedenen Stände bei den Feierlichkeiten zugegen sein. Auf der anderen Seite stand die von den Krakauer Konservativen vorgetragene Skepsis gegenüber derlei großen Veranstaltungen und der mit ihr einhergehenden politischen Mobilisierung, die das Haus Habsburg verärgern könnten. Im Streit um die Trauerfeier für Kazimierz votierte schließlich der Krakauer Stadtpräsident J­ ózef Dietl für eine feierliche Wiederbeisetzung des Königs und verständigte sich in der Frage mit dem Krakauer Domkapitel und dem Stadtrat,17 so dass die erste große nationale Trauerfeier während der »Galizischen Autonomie« auf den Weg gebracht wurde. Auch wenn der König schon seit 500 Jahren tot war: Die Stadt trug am Tag der erneuten Beisetzung am 8. Juli 1869 Trauer. Von den Gebäuden wehten – auf Anregung der liberalen Presse18 – schwarze Flaggen. Der Weg zum Wawel war von Trauerflaggen flankiert, die von schwarzen Säulen wehten. Mehrere Tausend Trauergäste, die aus dem preußischen wie aus dem übrigen öster­ reichischen Teilungsgebiet angereist waren, füllten die Straßen und Plätze der Stadt. Sie trugen Trauer- oder Nationalkleidung. Altpolnische Herrentracht war neben Bauerntracht und den langen Gewändern der Juden zu sehen.19 Schweigend zog der Trauerzug von der Marienkirche zum Wawel.20 Zu hören war nur das Geläut der Sigismundglocke der Wawelkathedrale, welche nur zu Hoch 16 Ebd. 24 f. 17 Buszko: Uroczystości Kazimierzowskie 31 f. 18 Binder: Kirche und nationale Festkultur in Krakau 128. 19 Buszko: Uroczystości Kazimierzowskie 77. 20 Eine ausführliche Beschreibung der Zeremonie findet sich bei Buszko: Uroczystości Kazimierzowskie 69–86.

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festen und besonderen Ereignissen geläutet wurde21 und durch ihren Klang die Feierlichkeit des Ereignisses unterstrich.22 Die kollektive Trauer, die sich in den Feierlichkeiten manifestierte, betraf jedoch weniger den Tod des ohnehin längst verstorbenen Königs, sondern vielmehr die gegenwärtige politische Situation. Die beweinte »Unfreiheit« bezog sich auf die Abwesenheit von Polen aus dem russischen Teilungsgebiet, denen eine Reise zur Beisetzungsfeier verwehrt blieb, aber auch auf die Situation in Preußen, wo der Erzbischof von­ Posen, Mieczysław Ledóchowski, Trauerfeiern für Kazimierz den Großen untersagt hatte. Von den Liberalen wurde er für dieses Verbot kritisiert, von den Konservativen, die der politischen Stabilität in Preußen den Vorzug vor religiösnationalen Zeremonien einräumten, hingegen verteidigt.23 Was Ledóchowski verboten hatte, war nicht so sehr eine gottesdienstliche Handlung als solche, sondern Trauerfeiern, die im konkreten politischen Kontext zum Medium einer politischen Botschaft und damit eine Provokation des weltlichen Machthabers hätten werden können. Das hieß jedoch nicht zwangsläufig, dass die Kirche »ihre herausragende Stellung in der Vermittlung national-kultureller Inhalte« verloren hätte.24 Trauergottesdienste für den mittelalterlichen König mochten zwar in Preußen untersagt sein, doch wurden sie überall in Galizien abgehalten. In Lemberg beispielsweise wurde parallel zu den Feierlichkeiten in Krakau ein Festgottesdienst in der Dominikanerkirche zelebriert. Auch der armenisch-katholische Bischof feierte einen Trauergottesdienst im Ritus der armenisch-katholischen Kirche. In Krakau selbst nahmen mehr als 100 Welt- und Ordensgeistliche an der Trauerliturgie für den König teil, die in der Marienkirche und in der Kathedrale auf dem Wawel festlich begangen wurde.25 Auch wenn im eigentlichen Trauerzug keine Kirchenmänner vertreten waren,26 trat zugleich doch die kirchliche Präsenz bei den Feierlichkeiten nicht nur durch die hohe Zahl von Geistlichen deutlich zu Tage: Die beiden wichtigsten Orte der Zeremonie waren die Marienkirche am Marktplatz und die Kathedrale auf dem Wawelhügel. 21 Zur symbolischen Bedeutung der Sigismundglocke siehe Skoczeń, Beata: Dzwon Zygmunta. Od apoteozy władzy do apoteozy narodu. In: Godula, Róża (Hg.): Klejnoty i sekrety Krakowa. Kraków 1994, 115–135. 22 Buszko: Uroczystości Kazimierzowskie 80. 23 Binder: Kirche und nationale Festkultur in Krakau 128. 24 Das ist die These von Harald Binder, der auf die liberale Grundstimmung in den 1860er Jahren im Habsburgerreich und auch in Krakau verweist. Siehe Binder: Kirche und nationale Festkultur in Krakau 126. Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf die antiklerikalen Ausschreitungen nach der Entdeckung der eingesperrten Nonne Barbara Ubryk in einem Krakauer Karmelitinnenkloster. Allerdings wurde diese Entdeckung erst nach den Kazimierz-Feierlichkeiten gemacht, weswegen der Skandal die Festvorbereitungen nicht hätte beeinflussen können. 25 Buszko: Uroczystości Kazimierzowskie 82 f. 26 Binder: Kirche und nationale Festkultur in Krakau 126 f.

134  Der nicht alltägliche Tod Nichtsdestotrotz präsentierte sich bei der erneuten Beisetzung von Kazimierz dem Großen eine stände- und konfessionsübergreifende Gemeinschaft. Dass sowohl verschiedene Stände und Schichten als auch Religionsgemeinschaften an der Feier teilnahmen, war zum einen der Person des Königs, zum anderen der politischen Atmosphäre der 1860er Jahre geschuldet. Kazimierz galt als König der Bauern, als Wohltäter und Beschützer der Juden, kurz: als ein König, der sich aller Bevölkerungsschichten angenommen habe.27 Zum anderen standen die 1860er Jahre im Zeichen einer polnisch-jüdischen Allianz, die davon getragen war, dass viele jüdische Akteure die polnische Nationalbewegung unterstützten. Einen Ausdruck hatte diese Unterstützung in Kundgebungen in Warschau im Februar 1861 gefunden, die an den gescheiterten Novemberaufstand von 1830/31 erinnern wollten. Als Kosaken die Demonstration gewaltsam auflösten, erschossen sie fünf der Demonstranten, derer fortan als der »fünf Gefallenen« (pięc poległych) gedacht wurde. Unter ihnen war auch ein Jude. Das Begräbnis der Gefallenen am 2. März 1861 vereinte katholische Geistliche, evangelische Pastoren und Rabbiner. Juden waren damit »Teil eines nationalen Gedenkens [….] und keineswegs eine ›Randgruppe‹ der polnischen Gesellschaft.«28 Ein ähnliches Bild zeigte sich bei der Beisetzung des Warschauer Erzbischofes Antoni Melchior Fijałkowski am 10. Oktober desselben Jahres, die zu einer großen patriotischen Manifestation wurde, an der auch jüdische Geistliche in ihrer traditionellen Kleidung teilnahmen.29 Ebenso hatten am Januaraufstand 1863 zahlreiche Juden teilgenommen, die sich mit der polnischen Nationalbewegung identifizierten. Unter ihnen hatte sich der orthodoxe Rabbiner Dov Meisels befunden, der zunächst in Krakau, dann in Warschau tätig gewesen war. So groß die Euphorie gewesen war, so groß war nach dem Scheitern des Aufstandes auch die Enttäuschung auf beiden Seiten.30 Ganz ausgelöscht war damit aber das Ideal einer polnisch-jüdischen Zusammenarbeit offenbar nicht, wie sich bei den Kazimierz-Feierlichkeiten 1869 noch einmal zeigte. Der Präses der jüdischen Gemeinde, Szymon Samelsohn,31 war einer der Zeremonienmeister, der – gekleidet in den polnischen Nationalfarben – den Gäs-

27 Ebd. 128 f. 28 Haumann, Heiko: Jüdische Nation – Polnische Nation? Zur gesellschaftlichen Orientierung von Juden in Polen während des 19. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Lebenswelten und Geschichte. Zur Theorie und Praxis der Forschung. Wien u. a. 2012, 373–392, hier 376. 29 Feliński, Zygmunt: Pamiętniki. Warszawa 1986, hier 486 f. Feliński, dem Nachfolger des verstorbenen Fijałowski missfiel die Feier, weil ihr politischer Charakter den katholischen Charakter der Trauerfeier überdeckt habe. Die Teilnahme anderer Religionen empfand er nicht als Ausdruck religiöser Toleranz, sondern als Ausdruck religiöser Indifferenz zu werten. Siehe dazu auch: Porter, Brian: Faith and Fatherland. Catholicism, Modernity, and Poland. Oxford 2011, hier 276 f. 30 Bartal, Israel: Geschichte der Juden im östlichen Europa. Göttingen 2010, hier 97–99. 31 Gebräuchlich sind auch die Schreibweisen Simon/Szymon Samuelsohn/Samelson.

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ten in der Kirche ihren Platz zuwies.32 Sowohl progressive wie auch orthodoxe Juden wie der Krakauer Rabbiner Simon Schreiber waren zu der Trauerfeier für den König gekommen, in dessen Legende eine Jüdin eine wichtige Rolle spielte.33 Auch in Lemberg feierten am Tag der Beisetzung Juden einen Gottesdienst für den König.34 In Krakau zeigte sich der konfessionsübergreifende Charakter der Trauerfeier auch darin, dass das Programm des Großereignisses im jüdischen, nach dem geehrten König benannten Stadtteil Kazimierz beendet wurde. Dort wurde in der Reformsynagoge35 ein Gottesdienst für den König gefeiert, zu dem Juden wie Nichtjuden, darunter auch griechisch-katholische und römisch-katholische Geistliche sowie politische Würdenträger gekommen waren.36 Die Predigt hielt Szymon Dankowicz, Prediger der jüdischen Fortschrittsgemeinde. Er erwähnte die Wohltaten des Königs Kazimierz für die Juden in Polen im Speziellen wie auch im Allgemeinen die tolerante Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Polen, welches sich anders als die übrigen europäischen Mächte von Religionskriegen ferngehalten habe.37 Indem er die seines Erachtens besondere Verbindung Polens zu dessen jüdischer Bevölkerung betonte, beschrieb er die polnischen Juden zugleich als einen – loyalen – Teil eben dieser Nation, deren jüdische Identität mit der polnischen zur Deckung kam: So bezeichnete Dankowicz Krakau als das »polnische Jerusalem« und den Wawel als »Berg Moriah« und setzte ihn damit dem Jerusalemer Tempelberg gleich. Seine Loya­ lität versicherte Dankowicz auch dem Hause Habsburg und verwies – sehr zur Freude des habsburgloyalen konservativen Blattes Czas – auf verwandtschaftliche Verbindungen zwischen dem letzten Piastenkönig und dem Hause Habsburg.38 Damit hatte er den Konservativen, die befürchtet hatten, die Beisetzung eines polnischen Königs würde die Loyalität zum Haus Habsburg in Frage stellen, einen großen Dienst erwiesen. Polentum und Habsburgloyalität ließen sich in dieser Interpretation als zwei Seiten derselben Medaille verstehen. Die Zeitung schrieb:

32 Żbikowski: Żydzi Krakowscy 148 f. 33 Buszko: Uroczystości Kazimierzowskie 78. 34 Ebd. 83. 35 In den zeitgenössischen Quellen (und auch in vielen geschichtswissenschaftlichen Darstellungen) ist von der »Synagoge der Israeliten« und »Freunden des Fortschritts« in Podbrzezie, heute Teil des Stadtteils Kazimierz, die Rede. Heute ist die Synagoge vor allem unter dem Namen »Tempel« bekannt. 36 Buszko: Uroczystości Kazimierzowskie 82. 37 Dankowicz, Szymon: Kazanie miane w czasie żałobnego nabożeństwa za wiekopomniej pamięci Króla Kazimierza Wgo z dniu powtórnego pochowania zwłok jego na Wawelu dnia 8 lipca 1869 roku w synagodze Izraelitów Przyjaciół Postępu na Podbrzeziu w Krakowie. Kraków 1869. 38 Ebd. 10 f.

136  Der nicht alltägliche Tod Indem er [Dankowicz, K. K.] die Verschwägerung des Letzten der Piasten mit dem Haus Habsburg nachwies, unter dessen schützendem Zepter heute ein Teil Polens öffentlich und frei den Schatz des Rechts und der Freiheit genießt, zeigte er, dass das Empfinden des Polentums in nichts die Verbundenheit und die Treue für die herrschende Dynastie schmälert.39

Einer umgekehrten Interpretation, wonach die erneute Beisetzung des Herrschers Kazimierz III. die Illegitimität des habsburgerischen Herrschers unterstreichen könnte, was die Sorge der Krakauer Konservativen gewesen war, war damit vorgebeugt. Als in der evangelischen Kirche Krakaus am 11.  Juli 1869 ein Gedenkgottesdienst für Kazimierz den Großen gefeiert wurde,40 war der Prediger Jędrzej Glajcar ebenfalls bestrebt, die evangelischen Christen in die polnische Nation einzuschreiben, was angesichts der wachsenden Identifizierung von evange­ lischem Bekenntnis und deutscher Nationalität in der polnischen Öffentlichkeit kein leichtes Unterfangen war. Glajcar betonte denn auch, dass die große Mehrheit der Gemeindemitglieder Polen – und damit keine Deutschen – seien. In seinen Ausführungen41 verwies er zunächst auf die Bedeutung des Christentums für die Geschichte Polens und auf die Bedeutung Polens als antemurale Christianitatis und rief zu mehr Frömmigkeit auf, wobei er den König als nachahmenswertes Vorbild zitierte. Politisch befürwortete der Prediger die Bildung der breiten Bevölkerungsschichten und eine polnische Nation, die verschiedene Stände und Konfessionen umfasste. Damit berief sich Glajcar implizit auf das »goldene Zeitalter« Polen-Litauens im 16.  Jahrhundert, in dem religiöse Toleranz praktiziert und den Evangelischen mit der Warschauer Konföderationsakte vom 28. Januar 1573 völlige Bekenntnisfreiheit zugesichert worden war. Wie die Predigt in der Fortschrittssynagoge wurde auch die Predigt von Glajcar in der konservativen wie auch in der demokratischen Presse positiv aufgenommen.42 Offenbar eignete sich der vorreformatorische König, der eine judenfreundliche Politik betrieben hatte, als besondere Integrationsfigur. In dem Maße wie bei seiner erneuten Beisetzung ist bei keiner der nachfolgenden Feiern eine konfessionsübergreifende Nation zelebriert worden. Bei keiner der folgenden Feiern würde die jüdische und die evangelische Gemeinde wieder so stark involviert sein. Insofern war die Einheit, wie sich bei der erneuten Beisetzung des Königs gezeigt hatte, eine situative Einheit gewesen.

39 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 154 vom 10.7.1869, 2. 40 Buszko: Uroczystości Kazimierzowskie 82. 41 Kazanie ks. pastora Glajcara. In: Kraj Nr. 110 vom 15.7.1869, 2. 42 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 156 vom 13.7.1869, 2.

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Mit einer dynastischen Grablege hatte die Reihe der nationalen Beisetzungen im Krakau in der Zeit der »Galizischen Autonomie« begonnen. Die Feier wurde nicht nur »zu einem bis dahin kaum gekannten Öffentlichkeitsereignis im städtischen Raum«,43 sondern auch zu einem Ereignis, das über Krakau hinaus wirksam war. Denn es erwies sich als ein Medienereignis, über das die Zeitungen in- und außerhalb Galiziens berichteten, und zu dem Polen aus verschiedenen Gegenden angereist waren, die teilweise sogar im Trauerzug vertreten waren. Zudem wurden in anderen galizischen Städten angesichts der erneuten Beisetzung ebenfalls Feierlichkeiten abgehalten.44 Dies wiederum lenkte die Augen auf Krakau, den Ort, an dem die eigentliche Beisetzung stattgefunden hatte und nur hätte stattfinden können. Krakau bot nicht einfach nur eine Kulisse, sondern stellte als Ort, an dem der König regiert und gelebt hatte, den narrativen Raum dar, in welchem für die Zeitgenossen mit der Beisetzung plausibel an die mittelalterliche Geschichte angeknüpft werden konnte. Krakau erwies sich dabei als der imaginäre Raum, in den sich diese Vorstellungen projizieren ließen.

2.1.2 Die Entstehung der Krypta der Verdienten auf dem Felsen Auch wenn die nächste große Beisetzung in den Chroniken Krakaus wieder eine historische Person ehrte, so stellte sie doch einen Kontrast zur Beisetzung des mittelalterlichen Königs Kazimierz mit ihrem Manifestationscharakter und der Teilnahme verschiedener Stände und Konfessionen dar. Die erneute Beisetzung des Historienschreibers Jan Długosz (1415–1480), der als erster großer Chronist der polnischen Geschichte gilt, blieb auf einen verhältnismäßig kleinen, elitären Kreis beschränkt. Insofern stellt die Feier ein Beispiel dafür dar, wie sich die Krakauer Konservativen, die Stańczyken, derartige Feierlichkeiten wünschten. Die Beisetzung von Długosz geschah in einer neu eingerichteten Begräbnisstätte, die fortan den Namen »Krypta der Verdienten« tragen sollte. Der Name bestimmte das Programm: In der Krypta, die in der Kirche St. Michael und St. Stanislaus auf dem Felsen errichtet wurde, sollten diejenigen Personen beigesetzt werden, die sich um Wissenschaft, Kultur und Kunst verdient gemacht hatten. Die Krypta stellte damit eine Ergänzung des Wawels dar oder auch, wie es einige Zeitgenossen kritisierten, einen Vorwand, um verdiente Personen nicht Seite an Seite mit den Monarchen bestatten zu müssen. Zum Zeitpunkt der Einrichtung der Krypta hielt sich schon die Kontroverse, von der später noch genauer die Rede sein wird, ob der bekannteste Vertreter der 43 Binder: Kirche und nationale Festkultur in Krakau 127. 44 Wilk, Bernadeta: Uroczystości patriotyczno-religijne w Krakowie w okresie autonomii galicyjskiej 1860–1914. Kraków 2006, hier 116.

138  Der nicht alltägliche Tod polnischen Romantik, Adam Mickiewicz, in Paris exhumiert und auf dem­ Wawel beigesetzt werden sollte. Insofern ließe sich die Einrichtung der Krypta als Versuch der konservativen Akteure verstehen, nationale Beisetzungsfeiern nicht zu verhindern, aber zumindest einzuhegen. Eine weitere Implikation verband sich mit der Krypta, die gerade mit Blick auf das Verhältnis von Nationalbewegung und Religion bedeutsam war: Wie erwähnt war die Krypta Teil einer Kirche und musste damit der Logik und der Narration der katholischen Kirche entsprechen. Zum einen hatte die Kirchenhierarchie das Recht mitzubestimmen, wer als verdient gelten solle, zum anderen war die Grabstätte nun mit der Legende des heiligen Stanislaus verbunden. Jan Długosz als Chronist, Geistlicher und Historiker, dessen mehrbändige Annales eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte des Königsreichs Polen darstellen, erwies sich in diesem Zusammenhang als eine geeignete Referenzperson. Sein 400. Todestag bot zudem den Anlass für eine erneute Beisetzung. Bereits im 15. Jahrhundert war Długosz in der Kirche St. Michael und St. Stanislaus beigesetzt worden. Da die Kirche im Laufe der Zeit mehrfach Schäden erlitten hatte, musste sie entsprechend oft restauriert werden. Nach Umbauarbeiten in der Kirche waren die Gebeine von Długosz in einem Tongefäß verwahrt und in der Krypta der Kirche aufbewahrt worden. Dieser provisorische Zustand hielt sich beinahe ein Jahrhundert.45 Mitte des 19. Jahrhunderts planten einige Krakauer Wissenschaftler, Jan Długosz ein Grabmal zu errichten und seine Werke neu herauszugeben, doch für beide Vorhaben fehlten letztendlich die nötigen finanziellen Mittel.46 Die Idee wurde 1876 wieder aufgenommen, als sich der 400. Todestag des Historienschreibers näherte. Mit der Umsetzung wurde Józef Łepkowski betraut. Er hatte die erste Professur für Archäologie an der Jagiellonenuniversität inne und war an verschiedenen Konservierungsarbeiten in der Stadt beteiligt. Er war insofern mit der Finanzierung derartiger Projekte vertraut. Er wandte sich an den Landtag in Lemberg, der mit der Änderung des Reichsverfassungsgesetzes von 1873 für öffentliche Bauten zuständig war,47 mit der Bitte, die Einrichtung einer Krypta, in der Długosz sowie weitere »verdiente« Polen beigesetzt werden sollen, zu unterstützen.48 Mit dem Einverständnis des Landes-Sejm konnte die Krypta der Verdienten errichtet werden. Über die Errichtung einer weiteren ehrenhaften Begräbnisstätte als Ergänzung zum Wawel war bereits vor der »Galizischen Autonomie« in den 1850er Jahren nachgedacht worden. Einer, der sich an der Debatte beteiligte, war der Geograph und Literat Wincenty Pol (1807–1872). Er schlug die Franziskanerkirche vor, in der bereits Herzog Bolesław der Schamhafte (Bolesław Wstydliwy; 45 Rożek, Michał: Wawel i Skałka – Panteony Polskie. Wrocław 1995, hier 236. 46 Ziejka: Serce Polski 55–57. 47 Buszko: Die Galizische Autonomie und Wien 87. 48 Ziejka: Serce Polski 59 f.

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Abb. 1: Eine heutige Ansicht der »Krypta der Verdienten« in Krakau, Foto: Kathrin KrognerKornalik

1226–1279) sowie dessen Schwester, die im Jahr 1673 selig gesprochene Salomea (1212–1268), ruhten. Die Idee, in der Kirche fortan verdiente Männer zu bestatten, begründete er damit, dass der Wawel als letzte Ruhestätte siegreichen »Anführern« und »Rettern« vorbehalten bleiben sollte. Für »Menschen der Feder und des Wortes, für die Dichter« hingegen wäre die ehrwürdige Franziskanerkirche ein angemessener Beisetzungsort.49 Das Projekt war allerdings seinerzeit wegen diverser Katastrophen und damit verbundener Probleme nicht weiter verfolgt worden.50 Dass für die neue Begräbnisstätte schließlich die Kirche St. Michael und St. Stanislaus gewählt wurde, war nicht allein dem Andenken an den Historienschreiber Jan Długosz geschuldet. Die zu Füßen des Wawels gelegene Kirche war auch Gedenkstätte des Krakauer Stadtheiligen Stanislaus, der im 11. Jahrhundert Bischof von Krakau gewesen war. Ein Disput mit dem König Bolesław II., 49 Ziejka, Franciszek: Powstanie Krypty Zasłużonych na Skałce. In: Ders. (Hg.): Nieś­ miertelni. Krypta Zasłużonych na Skałce. Kraków 2010, 91–115, hier 96, Zitat von Wincenty Pol in der Fußnote 4. 50 Ebd. 96.

140  Der nicht alltägliche Tod genannt der Kühne (Śmiały), brachte dem Bischof den Märtyrertod, dem König hingegen das Exil und den Kirchenbann. Wegen einer Zurechtweisung des Bischofs – welcher Art diese war, ist unbekannt – war der König im Jahr 1079 so erzürnt, dass er nicht nur über den Bischof das Todesurteil verhängte, sondern dieses selbst vollstreckt haben soll.51 Diese unrechtmäßige Hinrichtung, die einer Überlieferung zufolge während des Gottesdienstes geschehen sein soll, machte die Kirche zur Märtyrerstätte: 1253 sprach Papst Innozenz IV. Stanislaus heilig, und die bisher dem Patronat des heiligen Michaels geweihte Kirche wurde zu einer Pilgerstätte. Die Geschichte des heiligen Stanislaus verfügte darüber hinaus über eine politische Implikation: Bolesław hatte nach seiner grausamen Tat in die Verban­ nung gehen müssen, in der Folge – so die allgemeine Auffassung – hatte sich das Geschick Polens zum Schlechteren gewandelt: Es folgten Jahre der zerstörten Reichseinheit und der inneren und äußeren Schwäche Polens. Das sollte den künftigen Herrschern eine Mahnung sein. Die Pilgerstätte wurde zu ihrem »Canossa«,52 zu welchem sie am Vortag ihrer Krönung vom Wawel in einer feierlichen Prozession pilgerten, was sie dazu ermahnen sollte, den Fehler von Bolesław  II. nicht zu wiederholen. Die Kirche stand so mindestens für die Verbundenheit von politischer und kirchlicher Macht,53 wenn nicht sogar für den moralischen Supremat der Kirche der Politik gegenüber. Vor diesem Hintergrund war die neue Begräbnisstätte in ein historischkirchliches Narrativ eingebunden, was sie von anderen Begräbnisstätten im Europa dieser Zeit stark unterschied. Den eklatantesten Gegensatz bildete sicherlich das Panthéon in Paris, mit dem eine Kirche profanisiert und zur nationalen Grablege wurde. In Prag, wo zwei nationale Pantheone geschaffen wurden, eine Ruhmeshalle auf dem Wenzelsplatz und ein Pantheon auf dem Vyšehrader Friedhof, welches als tatsächliche Grablege diente, wurde bei der Gestaltung der Fokus auf nationale Sprache und nationale Losung gelegt.54 Auch hier wird ein Unterschied zur Krypta der Verdienten deutlich: Die Inschrift auf dem Gewölbe der Krypta, in der außer den Sarkophagen ein kleiner Altar steht, lautet: »Credo quod redemptor meus vivit.« Diese leichte Abwandelung eines Bibelzitats – »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt« (Hiob 19,25) – stellte keine nationale Losung dar. Zudem ist die Inschrift im universalen Latein und damit in der Kirchensprache, nicht aber in der Nationalsprache verfasst worden. Kurz gesagt: Das im 19. Jahrhundert eingerichtete zweite polnische Pantheon war und ist ein katholisch geprägter Ort, anders als beispielsweise das Panthéon in Paris, für das eine der 51 Kłoczkowski, Jerzy: A History of Polish Christianity. Cambridge 2000, hier 15 f. 52 Rożek: Wawel i Skałka 227. 53 Kubicki: Miasto w sieci znaczeń 78. 54 Nekula, Marek: Tschechische Pantheons im europäischen Kontext. In: Jahrbuch für europäische Ethnologie 4 (2009) 29–52.

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Stadtheiligen Genoveva gewidmete Kirche endgültig profaniert wurde, oder das Pantheon in Prag, welches als Teil eines Museums errichtet wurde. Sorge für die neue Begräbnisstätte trug der ortsansässige Orden der ­Pauliner, der neben Krakau noch eine weitere Niederlassung in Polen besaß: das Kloster auf dem »hellen Berg« (Jasna Góra)  in Częstochowa, wo sich das wichtigste Marienheiligtum Polens befindet und Maria unter anderem als Königin der polnischen Krone verehrt wird.55 Wie der Marienkult erfreute sich auch der Stanislauskult im Laufe des 19.  Jahrhunderts einer wachsenden Beliebtheit, obwohl – oder gerade weil – die Teilungsmächte versucht hatten, den Kult um den polnischen Nationalheiligen zu verdrängen. Dazu, dass sich mit dem Stanislauskult immer mehr patriotische Elemente verbanden, trug vor allem ein Detail seiner Legende bei, welches im 19. Jahrhundert neu ausgedeutet wurde. Einer Überlieferung zufolge war der Bischof vom König gevierteilt worden, doch in seinem Sarg sei sein Körper auf wunderbare Weise wieder zusammengewachsen. Ebenso sei das nach seinem Tod in Teilfürstentümer zerfallene Polen wieder zusammengewachsen und Gleiches erhoffte man sich nun für das unter Preußen, Russland und dem Habsburgerreich geteilte Polen. Zudem ließ sich vor dem Hintergrund der Teilungen der Konflikt zwischen Bischof und König als Konflikt zwischen dem katholischen Polen und der fremden Teilungsmacht deuten.56 Nach 1867 jedoch griffen die österreichischen Behörden nicht mehr in den Stanislauskult ein, welcher rasch eine Wiederentdeckung erfuhr und – wenig überraschend – von den Krakauer Paulinern unterstützt wurde.57 Ausdruck fand die neue Begeisterung unter anderem anlässlich des 800. Todestages des Bischofs im Jahr 1879, zu dem viele Pilger nach Krakau kamen, unter anderem auch 2 000 überwiegend aus Ostgalizien stammende Bauern.58 Damit wurden die Feierlichkeiten zu einer religiösen wie nationalen Manifestation.59 Der heilige Stanislaus wurde zum »Patron der Union zwischen Kirche und Nation und der moralischen Wiedergeburt der Gesellschaft«.60 55 Im Jahr 1717 war das Bild der Madonna in Częstochowa von Bischof Jan Krzysztof Szembek gekrönt worden. Die Verehrung Marias als Königin der polnischen Krone versuchten die Teilungsmächte zeitweise zu unterbinden. In Galizien etwa sollte Maria fortan als »Königin Galiziens und Lodomeriens« gelten. Siehe Grodziski, Stanisław: Nationalfeiertage und öffentliche Gedenktage Polens im 19. und 20. Jahrhundert. In: Brix, Emil (Hg.): Der Kampf um das Gedächtnis. Wien 1997, 204–215. 56 Jabłońska-Deptuła, Ewa: Le culte de Saint Stanislas, êveque et martyr, en Pologne, de la fin du XVIIIe siècle à nos jours. In: Les contacts religieux franco-polonais du Moyen Âge à nos jours. Relations, influences, images d’un pays par l’autre. Paris 1985, 391–401. 57 Kurek, Jan: Eucharystia, biskup i król. Wrocław 1998. 58 Wilk: Uroczystości patriotyczno-religijne 129. 59 Kłoczkowski: A History of Polish Christianity 239. 60 Ewa Jabłońska-Deptuła, zitiert nach Kriedte, Peter: Katholizismus, Nationsbildung und verzögerte Säkularisierung in Polen. In: Lehmann, Hartmut (Hg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen 1997, 249–274, hier 262.

142  Der nicht alltägliche Tod Dass in Zukunft feierliche Beisetzungen »großer Männer« der polnischen Nation an der Martyriumsstätte des Nationalheiligen erfolgen sollten, lässt sich als eine Erweiterung des Stanislauskultes lesen. Umgekehrt oblag nun Vertretern der katholischen Kirche die Letztentscheidung darüber, wer zu den um die Nation in besonderer Weise Verdienten gehören sollte; schließlich hatte der Orden der Pauliner die Schlüsselgewalt über die »Krypta der Verdienten«. Damit war vorausgesetzt, dass zu den Verdientesten nur zählen konnte, wer der katholischen Konfession angehörte. Eröffnet wurde die sogenannte »Krypta der Verdienten« mit der erneuten Beisetzung des Chronisten Jan Długosz am 19. Mai 1880. Der 400. Todestag des Chronisten bot nicht nur Anlass zur Beisetzungsfeier, sondern auch zur ersten »polnischen historischen Tagung« (zjazd historyczny polski) in Krakau. Erster Programmpunkt dieser Zusammenkunft war die feierliche Wiederbestattung von Długosz und damit die Einweihung der Krypta. Zu der Veranstaltung kamen Vertreter der 1872/73 gegründeten Krakauer Akademie, der Jagiellonenuniversität, der Stadtpräsident Mikołaj Zyblikiewicz sowie zahlreiche Geistliche und damit nur politische Repräsentanten, Kirchenvertreter und Personen aus der Wissenschaft, was dem engeren, konservativen Nationsverständnis entsprach. Zunächst hielt der Initiator Józef Łepkowski eine Ansprache und überreichte dem Orden der Pauliner, in deren Obhut die Kirche stand, den Schlüssel zur Krypta mit den Worten: Wenn auf dem Wawel die Könige sind, so ist bei euch das Blut des heiligen Stanislaus und heute wird hier die Krypta für die Auserwählten eröffnet, von denen die Zukunft sagen wird, dass sie zu der Größe von Długosz erwachsen sind.61

Mit der Krypta hatte sich die Stadt Krakau »ein Abonnement auf weitere feierliche Begräbnisse mit dem entsprechenden Aufwand und der erwünschten nationalen Wirkung geschaffen«.62 Das Abonnement war jedoch aufgrund der geringen Größe der Krypta, in der nur etwa ein Dutzend Sarkophage einen Platz fand, beschränkt.63 Hier mag auch einer der Gründe dafür liegen, warum später teilweise erbitterte Auseinandersetzungen darüber geführt wurden, wer in der Krypta beigesetzt werden sollte.

61 Obchód Jana Długosza. In: Czas Nr. 113 vom 20.5.1880, 2. 62 Marschall von Bieberstein, Christoph: Freiheit in der Unfreiheit. Die nationale Auto­ nomie der Polen in Galizien nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867. Ein konservativer Aufbruch im mitteleuropäischen Vergleich. Wiesbaden 1993, hier 319. 63 Gegenwärtig sind 13 »Verdiente« in der Krypta beigesetzt, und die Krypta gilt damit als voll.

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2.1.3 Eine nächtliche Beisetzung: Die Überführung von Wincenty Pol und Lucjan Siemieński Die ersten, die neben den Gebeinen des Chronisten Długosz ruhen sollten, waren die Literaten Wincenty Pol und Lucjan Siemieński (1807–1877). Die Art und Weise ihrer Beisetzung konterkarierte, ob bewusst oder unabsichtlich, die Vorstellung von großen, nationalen Trauerzeremonien. Eine Beschreibung ihrer Beisetzung, wie sie in einer Krakauer Chronik zu finden ist, liest sich folgendermaßen: Eineinhalb Jahre später [gemeint ist die Beisetzung von Jan Długosz, K. K.], im Herbst bereits gegen Abend standen im Stillen auf dem früheren Friedhof von Skałka zwei Särge, kein Trauerzug, nur das bleiche Gesicht des Mondes begleitete sie. Nach einer Weile knirschten die Scharniere des eisernen Gitters in der Krypta und die beiden einsamen Särge wurden hineingetragen und jeder jeweils in ein Grab in zwei benachbarten Nischen eingelassen. Später meldeten die Zeitungen, dass am 13. Oktober 1881 die Leichname zweier um die Nation verdienter Männer zu diesem Grabe über­tragen wurden.64

Die Art und Weise der Beisetzung verwundert noch heute und irritierte schon damals die Zeitgenossen: zwei Poeten, die mitten in der Nacht ohne Trauerzug, ohne Zeugen, in der Krypta beigesetzt werden, die der posthumen Ehrung dienen sollte. Doch fehlt in der Beschreibung das entsprechende Ritual zur Ehrbezeugung. Leider finden sich keine Aufzeichnungen, warum die Beisetzung so oder ähnlich vonstatten ging, wie es die Chronik beschreibt.65 Auch die Zeitgenossen wurden nur spärlich über den Vorgang informiert. Die oben zitierte Schilderung erschien erst sieben Jahre nach der Umbettung der beiden Verstorbenen. Die entsprechende Zeitungsnotiz, die ihre Leser im Oktober 1881 zeitnah über die neuen Ruhestätten Pols und Siemieńskis informierte, hätte kaum lakonischer ausfallen können. So hieß es im Czas: »Wir haben erfahren, dass in den Katakomben der Krypta der Verdienten, wo Lucjan Siemieński und 64 Zarewicz, Ludwik: Skałka z kościołem ŚŚ. Michała i Stanisława w Krakowie. In: Kalendarz Krakowski na rok 1889, 65–120, hier 87. Da die Übersetzung zur besseren Lesbarkeit recht frei erfolgte, sei hier das Original angegeben: »W półtora roku póżniej, porą jesienną, dobrze już pod wieczór, stanęły cichaczem na dawnym cmentarzu skalecznym dwie trumny, bez orzaku żałobnego, prócz bładej twarzy księżyca. Za chwilę zgrzytnęły zawiaszy żelaznej kraty u krypty, wniesiono obie sieroce trumny i spuszczono każdą do osobnego grobu w dwóch sąsiednich niszach. Póżniej doniosły dzienniki, że na dniu 13 października 1881r. z cmentarza krakowskiego przeniesiono zostały do Grobu tutejszego zwłoki dwóch narodowi zasłużonych mężów.« 65 Auch in den Aktenbeständen des Paulinerklosters (Archiwum OO. Pijarów, Signatur 292) finden sich keine Aufzeichnungen zu der Beisetzung.

144  Der nicht alltägliche Tod Wincenty Pol ruhen, Sarkophage für ihre Leichname entstehen sollen.«66 Mehr nicht: Warum sich die Leichname nun nicht mehr auf dem städtischen Friedhof befanden, und wie und wann die Translation stattgefunden hatte, war dort nicht zu lesen. Die Nachricht sorgte für entsprechende Irritationen und Spekulationen. Mit der heimlichen Beisetzung hätten die Konservativen eine große Feier verhindern wollen, bei der sich »patriotische Gefühle« hätten zeigen können.67 Was aber hatte die beiden Verstorbenen für eine solch ehrenhafte Beisetzung qualifiziert, und welche Aspekte ihres Andenkens hätten sich zu einer nationalen Manifestation eignen können? Beide einte die Teilnahme am Novemberaufstand 1830/31 in jungen Jahren. Beide waren Literaten – und beide waren in späteren Jahren eng mit Krakau verbunden gewesen: Lucjan Siemieński zog 1848 in die Stadt, wo er unter anderem als Redakteur für die in eben diesem Jahr gegründete Tageszeitung Czas tätig war. Nicht nur als Literaturkritiker, sondern auch als Schriftsteller verschaffte er sich seinerzeit Aufmerksamkeit und Anerkennung. Heutzutage ist er weniger für seine eigenen Werke, sondern vor­ allem für seine Übersetzung der »Odyssee« ins Polnische bekannt.68 Wincenty Pol kam 1849 nach Krakau, wo er an der Jagiellonenuniversität den auf seine Anregung hin eingerichteten Lehrstuhl für Geographie übernahm. Als Geograph war er mindestens ebenso bekannt wie als Lyriker. Siemieński wie Pol waren beide persönlich mit Józef Łepkowski, dem Initiator der Krypta der Verdienten, bekannt.69 Kurz nach der Beisetzung Pols auf dem städtischen Friedhof erschien im Dezember 1872 ein Aufruf im Czas, dessen Unterzeichner befanden, dass Pol eine Beisetzung auf dem Wawel – und damit »die größte Belohnung, die einen Polen treffen kann«  – gebühre, worum sie das Kapitel des Wawels baten. Zu den Unterzeichnern gehörten Paweł Popiel, Redakteur des Czas, und Józef Łepkowski.70 Das Domkapitel zeigte sich offenbar nicht überzeugt, jedenfalls wurde Pols Leichnam nicht in die Wawelkathedrale überführt. Als fünf Jahre nach Pol Lucjan Siemieński 1877 starb, veröffentlichte Łepkowski einen Brief im Czas mit dem Vorschlag, zunächst nur ein vorübergehendes Grab für den kürzlich verstorbenen Literaten zu errichten. Für die Zukunft nämlich erhoffte sich Łepkowski, dass sich genügend Unterstützer fänden, um auf Skałka eine Krypta 66 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 239 vom 19.10.1881, 3. 67 Sztuki kuglarskie Archeologa. In: Djabeł Nr. 20 vom 4.11.1881, 2. Łepkowski sei schon einmal so verfahren, sagte die Zeitung, als er nach Restaurationsarbeiten auf dem Wawel die Gebeine des Königs Stefan Batory ohne Feier umgebettet habe. Bartorys Gebeine waren 1877 in eine neue Krypta transferiert worden, siehe dazu Rożek: Wawel i Skałka 137 f. 68 Budrewicz, Tadeusz: Lucjan Siemieński (1807–1877). In: Ziejka: Nieśmiertelni 155–184. 69 So hatte beispielsweise Łepkowski 1869 gemeinsam mit Pol in einer Kommission zur Gebäudeerhaltung in der Krakauer Wissenschaftlichen Gesellschaft (Towarzystwo Naukowe Krakowskie) gearbeitet. 70 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 284 vom 11.12.1872, 2.

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der Verdienten zu errichten, in der auch Wincenty Pol und Lucjan Siemieński beigesetzt werden sollten.71 Da die Krypta also schon mit dem Ziel projektiert worden war, dort die beiden Literaten beizusetzen, verwundert die heimliche Beisetzung umso mehr. Schließlich stand der Vorgang somit im Widerspruch zu Łepkowskis Anliegen, mit einer Beisetzung in der Krypta der Verdienten den beiden Schriftstellern ein angemessenes und würdiges Begräbnis zu bereiten. Immerhin bedingen und bekräftigen sich symbolischer Ort und symbolische Handlung gegenseitig. Für eine posthume Ehrung reichte die Materialität und Aura des Ortes alleine noch nicht. Für die Ehrung hätte es zudem des Rituals und der Anteilnahme von Zeitgenossen bedurft. Schließlich zeichnet sich eine Ehrung durch ihre Öffentlichkeit, nicht durch ihre Geheimhaltung aus. Insofern sorgte die kurze Nachricht, dass sich die Leichname von Wincenty Pol und Lucjan Siemieński nun an einem anderen Ort befinden, für entsprechende Verwunderung bei den Zeit­ genossen. Die gängige Erklärung lautete, die nächtliche Beisetzung habe wegen sanitärer Vorschriften auf diese Weise stattgefunden.72 Doch erscheint diese Begründung wenig überzeugend, verboten doch die sanitären Vorschriften auch nächtliche Bestattungen. Eher scheint es plausibel, dass Łepkowski mit dem heimlichen Vorgehen das 1784 von Joseph II. erlassene und nach wie vor gültige Verbot von Beisetzungen in Kirchen zu umgehen suchte und offenbar auch den Antrag auf eine Ausnahme scheute. Offenkundig hatte Łepkowski es sehr eilig, Pol und Siemieński umbetten zu lassen. So hatte er nicht die Fertigstellung der Sarkophage abgewartet, sondern die beiden Dichter und Gelehrten in der Krypta zunächst provisorisch unter dem Fußboden beisetzen lassen.73 Eventuell handelte es sich bei der Beisetzung um eine Variante des Nachtbegräbnisses, welches um 1780 in adligen Kreisen beliebt gewesen war und im kleinen Kreis luxuriös gefeiert wurde.74 Träfe dies zu, dann wäre die Beisetzung in der Tat der denkbar größte Kontrast zu den patriotisch imprägnierten großen Trauerfeierlichkeiten, von denen Krakau in der Zeit der »Galizischen Autonomie« Zeuge wurde. Plausibel wäre jedoch auch eine weitere Hypothese: Die Eile, die sich in der Aktion widerspiegelte, mag auch der Befürchtung geschuldet gewesen sein, dass sich, wäre die Angelegenheit in der Öffentlichkeit diskutiert worden, keine Mehrheiten für eine Beisetzung von Pol und Siemieński gefunden hätten. Zwar waren beide als Gelehrte und Literaten erfolgreich und anerkannt; doch ob sie damit schon zu den herausragendsten Polen zählten, deren Nachruhm die Generationen überdauern würde, steht auf einem anderen Blatt. Einen solchen 71 Budrewicz: Lucjan Siemieński 155. 72 Korespondencya Tygodnika Illustrowanego. In: Tygodnik Illustrowany Nr. 308 vom 19.11.1881, 325 f. Die Zeitungsartikel sind die einzigen Quellen zu dem Vorgang. 73 Rożek, Michał: Panteon Narodowy na Skałce. Kraków 1987, hier 85. 74 Jankowiak, Tanja: Architektur und Tod. Zum architektonischen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer – eine Kulturgeschichte. München 2010, hier 241.

146  Der nicht alltägliche Tod Zweifel formulierte zwischen den Zeilen der Warschauer »Tygodnik Illustrowany« (»Illustrierte Wochenzeitung«), wenn er kritisierte, dass nur einige wenige darüber bestimmt hätten, dass Pol und Siemieński in dem national bedeutsamen Begräbnisort ruhen sollten. Eine solche Entscheidung sollte eine größere Gruppe treffen, befand die Zeitung.75 In diesem Fall jedoch war sie von einigen wenigen im geschlossenen Kreis in Krakau gefällt worden und damit anscheinend die Strategie der Diskursvermeidung gewählt worden. Die erste Beisetzung in der neuen Krypta war eine Feier im Kreis von Politikern und Wissenschaftlern gewesen, die zweite eine in aller Heimlichkeit vorgenommene Überführung. Die dritte hingegen sollte zu einer großen patriotischen Feierlichkeit mit Manifestationscharakter werden: die von Józef Ignacy Kraszewski (1812–1887). Die Trauerfeier war einige Wochen lang vorbereitet worden und zog mehrere tausend Besucher an. Sie war von patriotischem Pathos und Reden geprägt, dem die kirchliche Hierarchie, die solchen Feiern mit Skepsis gegenüberstand, nichts entgegenzusetzen vermochte.76 Diese Beisetzung stellte einen Wendepunkt im politischen Totenkult in Krakau dar: Kraszewski war die erste zeitgenössische Persönlichkeit, die unmittelbar in der Krypta der Verdienten beigesetzt werden sollte – und dies nicht heimlich, sondern unter der Anteilnahme von Polen aus allen Teilungsgebieten sowie aus dem Exil. Er war auch der erste, der in Krakau ehrenhaft zu Grabe getragen wurde, obwohl er in der Stadt nicht längere Zeit residiert hatte. Hatte es sich bei den beiden vorausgegangenen Beisetzungen in der Krypta um Personen gehandelt, die Teil  der Krakauer konservativen Kreise waren, war Kraszewski jemand, der dem liberaldemokratischen Lager angehörte. Gleichzeitig eignete er sich aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit Polens Geschichte in seinen historischen Romanen sowie aufgrund seiner Biographie als Projektionsfläche für den polnischen Nationalismus – und galt damit als einer der Künstler, die sich im Verständnis der Zeit besonders um die polnische Nation verdient gemacht hatten. Die ultra­ montanen Katholiken77 stellte die geplante Beisetzung Kraszew­skis in einer Kirche vor ein zweifaches Dilemma: Erstens standen sie dem Verstorbenen aufgrund seiner Positionen in kirchlichen wie politischen Fragen sowie aufgrund seiner Lebensführung reserviert gegenüber. Zweitens waren sie hinsichtlich 75 Korespondencya Tygodnika Illustrowanego. In: Tygodnik Illustrowany Nr. 308 vom 19.11.1881, 325 f. 76 Siehe dazu das Kapitel 2.2. 77 Der Begriff »ultramontan« wird im Folgenden als ein deskriptiver Begriff benutzt, um die Richtung in der katholischen Kirche zu beschreiben, die die Stärkung des Papsttums und die Formulierung des Unfehlbarkeitsdogmas begrüßte. »Ultramontan« ist dabei kein unproblematischer Begriff, wurde er doch auch in polemischer Absicht in einem pejorativen Sinne gebraucht. Andererseits diente er der Selbstbeschreibung der ultramontanen Katholiken und hat sich in der Katholizismusforschung als deskriptiver Begriff durchgesetzt, weswegen er hier umständlichen und ungenauen Konstruktionen wie »konservative« oder »papsttreue Katholiken« vorgezogen werden soll.

Grabeskämpfe 147

politischer Gottesdienste gespalten: Zwar war den ultramontanen Katholiken einerseits daran gelegen, die polnische National­bewegung zu prägen, andererseits befürchteten sie eine Zweckentfremdung des Gebets. Ein solches Unbehagen formulierte der Krakauer Konservative Graf Stanisław Tarnowski sechs Jahre später beim Krakauer Katholikentag, wofür ihm die Anwesenden viel Beifall spendeten. Er erinnerte an das Gebot, den Namen des Herrn nicht zu missbrauchen. Tarnowski zufolge missbrauche den Namen des Herrn, wer nicht bete, um Gott zu bitten oder zu preisen, sondern um den Menschen etwas zu zeigen, um, wie man vor 30 Jahren sagte, etwas zu demonstrieren. Wer weiß, ob die heutige Verfolgung und die Gefahren für die Kirche nicht eine Strafe für uns sind, weil wir das Gebet missbraucht und den Namen des Herrn vergeblich gebraucht haben.78

Für die Liberalen erschien es hingegen als eine Selbstverständlichkeit, dass die Kirche nationale Belange durch Gottesdienst und Gebet unterstützte. Während sie in Kraszewski eine ideale Identifikationsfigur gefunden hatten, missfielen einige Aspekte seines Lebens – und Sterbens – dem hohen Klerus und der konservativen und aristokratischen Stadtelite. So folgte rasch auf die Beisetzung Kraszewskis eine Art Neutralisierungsversuch mit der Beisetzung von Mikolaj Zyblikiewicz, dem früheren Landesmarschall Galiziens, der sich im Gegensatz zu Kraszewski fromm und habsburgloyal präsentieren ließ.

2.2 Grabeskämpfe – die Beisetzung von Józef Ignacy Kraszewski in der Krypta der Verdienten 2.2.1 Die neue Krypta in der Säkular- und Sakraltopographie Krakaus Die neu erschaffene Krypta der Verdienten sollte einerseits als nationales Pantheon »große Männer« ehren, andererseits war sie gleichzeitig ein kirchlicher und sakraler Ort. Als Teil  der Kirche St.  Michael und St.  Stanislaus auf dem Felsen war die Krypta in die mit der Kirche verbundene kirchlich-historische Narration eingebunden. Die Krypta der Verdienten war damit sowohl Teil der Sakral- wie der Säkulartopographie der Stadt. Damit lagen der Krypta unterschiedliche Logiken zugrunde, gleichzeitig aber mussten sich weltliche und kirchliche Behörden einigen, wer in der Krypta beigesetzt werden konnte. Die Beisetzung in einer Kirche – ad sanctos – war lange eine bevorzugte fromme Bestattungsart gewesen, die zugleich soziales Prestige versprach und die Heilserwartung durch die Nähe zu Heiligenreliquien und zum Altar, an dem die 78 Tarnowski, Stanisław: Niebezpieczeństwa grożące Kościołowi w  naszym kraju. In: Chotkowski, Władysław (Hg.): Księga pamiątkowa wiecu katolickiego w Krakowie odbytego w dniach 4, 5 i 6 lipca 1893r. Kraków 1893, 154–169.

148  Der nicht alltägliche Tod Eucharistie gefeiert wird, bestärkte.79 Obwohl oder gerade weil die Sanitär­ politik überall in Europa und damit auch in den Gebieten Österreich-Ungarns aus hygienischen Gründen die Beisetzung in Kirchen weitestgehend untersagte, blieb doch in der katholischen Vorstellung die Beisetzung innerhalb der Kirchenmauern ein hohes Ideal.80 Wer ein pastoraltheologisches Handbuch aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konsultiert, wird feststellen, dass die Voraussetzungen, um auf einem rein katholischen Friedhof bestattet zu werden, strenger definiert wurden als für die Beisetzung auf einem allgemeinen Friedhof. Abgesehen von Nichtkatholiken, Apostaten und Häretikern sollte eine katholische Beerdigung beispielsweise demjenigen zu verweigern sein, der durch sein Auftreten der Kirche Schaden zugefügt oder längere Zeit aus eigener Entscheidung die Sakramente nicht mehr empfangen hatte.81 Galten diese Regeln schon allgemein, so ist zu vermuten, dass sie für die Beisetzung in einer Krypta besonders genau angewandt wurden. Gleichzeitig war jedoch Kirchentreue nicht zuvorderst das Kriterium, welches in der polnischen Öffentlichkeit im 19.  Jahrhundert einen Nationalhelden respektive einen verdienten Polen definierte. Damit barg die Krypta ein Konfliktpotential und wurde zu einem Ort, an dem sich die Diskussionen wiederholten, die in der Politik und Publizistik geführt wurden: die nach dem Verhältnis von Nation und Religion. Während für die säkular-national konnotierten Akteure die Nation das wichtigste Bezugssystem darstellte, waren viele hohe kirchliche Würdenträger Nationalbewegungen im Allgemeinen skeptisch gegenüber eingestellt, gingen sie doch oft mit säkularen und antiklerikalen Tendenzen einher. Zudem sahen die obersten Geistlichen der katholischen Staatslehre entsprechend in den weltlichen Herrschern  – und damit auch im russischen Zar und im deutschen Kaiser  – legitime Herrscher, denen gegenüber die Untertanen zu Gehorsam verpflichtet waren. Gleichzeitig jedoch zeigt die Biographie vieler polnischer geistlicher Würdenträger, dass sie in ihren jungen Jahren oft in polnischen politischen Zirkeln aktiv waren.82 Auch in späteren Jahren waren die ultramontan gesinnten Kleriker immer noch dem polnischen Patriotismus zugetan, jedoch unter der Vorgabe, dass die Kirche das Maß aller 79 Zur Praxis und Geschichte der Kirchbeisetzung siehe Ariès: Geschichte des Todes 43–120. 80 Das zeigte sich auch darin, dass entgegen den Vorschriften weiterhin die Beisetzung in Kirchen, Kapellen und dergleichen praktiziert wurde. Noch im Jahr 1891 erinnerte der Krakauer Magistrat daran, dass eine solche Praxis streng verboten sei. Magistrat miasta Krakowa: Obwieszczenie L. 5832 vom 23.4.1891. In: Dziennik Rozporządzeń Nr. 6 (1891) 42. 81 Krukowski, Józef: Teologia pasterska katolicka dla użytku seminaryów duchownych i pasterzów dusz. 3. Aufl. Kraków 1887, hier 620 f. 82 So hatte der Priester und Professor für Kirchenrecht, Władysław Chotkowski, der uns in diesem Kapitel noch begegnen wird, am Januaraufstand teilgenommen. Der Krakauer Bischof Albin Dunajewski hatte in seiner Lemberger Studienzeit konspirativen Kreisen angehört.

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Dinge blieb und sich weltliche Belange den kirchlichen unterordneten. Zudem waren sie gemeinsam mit den ultramontanen Laien der Überzeugung, dass die Verbindung zu Kirche und Papst Polen zum Vorteil gereiche. Zum einen diente die Kirche als Surrogat angesichts des »Fehlens anderer kontinuitäts­stiftender Institutionen«.83 Zum anderen stellte der Papst als kirchliche Autorität in ihren Augen eine unabhängige Instanz dar, die eine Sicherheit vor Russifizierungsund Germanisierungstendenzen und so gleichzeitig Schutz vor pro-orthodoxen Tendenzen wie vor säkularem westlichen Gedankengut bot. Auch wenn die katholische Kirche in den polnischen Gebieten unzweifelhaft ultramontan ausgerichtet zu sein schien,84 so fanden sich im zeitgenössischen Diskurs sowohl nationalkirchliche als auch liberale Positionen.85 In der liberalen Argumentation war das Bild genau umgekehrt zu dem der Ultramontanen: Demnach sei der römische Papst ein großes Hindernis für die polnische Nationalbewegung. Denn der Papst und mit ihm die Ultramontanen seien stets geneigt, im Zweifelsfall kirchlichen Belangen den Vorrang vor nationalen Aspirationen zu geben. Zudem verlange die obere kirchliche Hierarchie Gehorsam gegenüber den weltlichen Herrschern und setze so nationalem Aktivismus Grenzen. Als im Jahr 1887 der vielleicht wichtigste polnische Vertreter der liberalen und papstkritischen Fraktion in der Krypta beigesetzt werden sollte, womit zugleich die erste große Beisetzung während der »Galizischen Autonomie« gefeiert wurde, bei der weder ein Monarch noch ein Kleriker zu Grabe getragen wurde, waren Kontroversen vorprogrammiert. Es handelte sich dabei um den zu seiner Zeit überaus populären Schriftsteller Józef Ignacy Kraszewski. Der Literat und Publizist hatte zwar keinen engen biographischen Bezug zu Krakau, dessen Konservativismus er oft aus der Distanz kritisierte, doch sollte er in Krakau mit zwei großen Feierlichkeiten geehrt werden: einmal zu Lebzeiten im Jahr 1879 anlässlich seiner damals 50 Jahre währenden Tätigkeit als Schriftsteller und schließlich posthum mit einer Beisetzung in der Krypta der Verdienten. Was er auf die Frage, ob er dort seine letzte Ruhe finden wolle, geantwortet hätte, ist schwer zu sagen. Denn zu Lebzeiten war er der Einrichtung der Krypta ablehnend gegenüber gestanden, weil er darin den Versuch einer Degradierung des Künstlers erblickte, der als nicht würdig genug für den Wawel empfunden werde. Zum anderen stand der Symbolwert der Kirche auf dem Felsen 83 Kriedte: Katholizismus, Nationsbildung und verzögerte Säkularisierung 255. 84 Pollmann, Viktoria: Ultramontanismus in Polen. Voraussetzungen  – Erscheinungs­ formen – Auswirkungen. In: Fleckenstein, Gisela (Hg.): Ultramontanismus. Tendenzen der Forschung. Paderborn 2005, 159–178. 85 Diese Diskurse hat am Beispiel des Großherzogtums Posen Przemysław Matusik unter­sucht: Matusik, Przemysław: »Nadeszła epoka przejścia…«. Nowoczesność w piśmiennictwie katolickim poznańskiego 1836–1871. Poznań 2011. Ähnliche Arbeiten zu anderen polnischen Gebieten stellen noch ein Desiderat dar.

150  Der nicht alltägliche Tod diametral entgegengesetzt zu den Ansichten Kraszewskis: Während die Kirche, die am Ort des Märtyrertods des Bischofs Stanislaus stand, mit der Vorstellung einer Unterordnung weltlicher unter geistliche Belange verbunden war, vertrat Kraszewski die umgekehrte Auffassung. So sollte sich auch in den Kontroversen, die sich angesichts der beiden Kraszewski gewidmeten Großereignisse in Krakau  – des Jubiläums im Oktober 1879 und der Beisetzung im April 1887 – entfalteten, vor allem die Frage nach Kraszewskis Rechtgläubigkeit als ein neuralgischer Punkt erweisen. Dabei beschränkten sich die Diskussionen nicht nur auf Kraszewskis Positionen in der Öffentlichkeit, sondern betrafen auch die Einschätzung von Kraszewskis persönlicher Frömmigkeit und Glaubenspraxis. Bei der Beisetzung trat zudem eine diplomatische Schwierigkeit hinzu: Kraszewski war während eines eigenmächtig verlängerten Hafturlaubes als preußischer Gefangener gestorben, was die österreichische Zentralregierung, ohne deren Zustimmung eine Überführung und feierliche Beisetzung in der Krypta nicht möglich gewesen wäre, mit Rücksicht auf den preußischen Bündnispartner zu Zurückhaltung mahnen ließ. In der historischen Forschung ist den beiden Ehrungen bislang eine ungleiche Aufmerksamkeit zugekommen: Als eine große patriotisch ausgerichtete Feier sind die mehrere Tage währenden Jubiläumsfeierlichkeiten in der polnisch- und fremdsprachigen Literatur beschrieben und analysiert worden  – anders als die Beerdigung, die lediglich und unvermeidlich in biographischen Darstellungen referiert sowie in Beschreibungen der Begräbnisstätte, der Krypta der Verdienten, erwähnt wird.86 Da anhand der Jubiläumsfeier der Nimbus Kraszewskis ebenso wie die Konfliktlinien, die für das Verständnis der Beerdigung wichtig sind, deutlich werden, soll zunächst hierauf der Blick gerichtet werden, bevor die Trauerfeier Gegenstand der Analyse sein wird. Bei letzterer 86 Eine Darstellung der Jubiläumsfeier findet sich unter anderem bei Dabrowski, ­Patrice: Commemoration and the Shaping of Modern Poland. Bloomington/Indiana  2004, hier 25–48. Dies.: »Medicis for the Fatherland«? Artists and Cracow 1879–1910. In: East Central Europa 33/1–2 (2006) 31–52. Warzenica-Zalewska, Ewa: W stulecie jubileuszu Józefa Ignacego Kraszewskiego – refleksje. In: Przegląd Humanistyczne 23/2 (1979) 69–78. Wereszycki, Henryk: Międzynarodowe Echa jubileuszu Kraszewskiego w 1879 roku. In: Dzieje najnowsze 6/3 (1974) 3–20. Wilk: Uroczystości patriotyczno-religijne 105–110. Über die Beerdigung: Danek, Wincenty: Pisarz wciąż żywy. Studia o życiu i twórczości J. I. Kraszewskiego. Warszawa 1969, 100–110. Ders.: Józef Ignacy Kraszewski. Zarys Biograficzny. Warszawa 1976, 400–476 (Kapitel über die letzten Tage des Schriftstellers). Zur Begräbnisstätte Skałka seien genannt: Rożek, Michał: Panteon narodowy na Skałce. Kraków 1987. Rożek, Michał: Wawel i Skałka – Panteony Polskie. Wrocław 1995. Ziejka: Nieśmiertelni. Einen Vortrag zur Beisetzung Kraszewskis hielt anlässlich des Kraszewski-Jahres der Literaturprofessor Tadeusz Budrewicz von der Pädagogischen Universität Krakau, der mir freundlicherweise sein bislang unveröffentliches Manuskript zur Verfügung gestellt hat. Budrewicz, Tadeusz: Pogrzeb Kraszewskiego, Vortrag gehalten bei der Konferenz »Kraszewski 1812–2012. Pisarz – myśliciel – autorytet« in Warschau  – Białystok  – Romanów vom 14.11. bis 16.11.2012 [bislang unveröffentlichtes Manuskript].

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werden zunächst der Prozess in Leipzig wegen des Vorwurfs des Landesverrats und Kraszewskis Tod in Genf Thema sein, dann die Streitigkeiten über Ausmaß und Ausgestaltung der Trauerfeierlichkeiten und die Haltung der Kirche dazu und abschließend der propagandistische wie weltanschauliche Streit um Kraszewskis Sterbestunde.

2.2.2 Das Vorspiel: die Jubiläumsfeier von 1879 Dass Kraszewski gleich zweimal mit großen Feierlichkeiten innerhalb eines Jahrzehnts geehrt wurde, lässt den Stellenwert erahnen, den er im kulturellen und politischen Leben Polens im 19.  Jahrhundert einnahm. In einer Zeit, in der der Roman zur populären Unterhaltungsform aufstieg, setzte er es sich zum Ziel, den Polen die fremdsprachigen Romane aus der Hand zu nehmen und sie stattdessen mit polnischsprachiger Literatur zu versorgen.87 Seinem eigenen Anspruch wurde er gerecht. Mit mehr als 200 verfassten Romanen gilt er auch heute noch als einer der produktivsten Schriftsteller überhaupt. In den Romanen, die auch in andere Sprachen, darunter ins Deutsche, übersetzt wurden, widmete er sich der polnischen Geschichte, die er seinem selbst gewählten Anspruch entsprechend mit möglichst vielen historischen Fakten angereichert wiederzugeben gedachte, weswegen er auch Archivstudien betrieb.88 Das ist das eine Verdienst, das Kraszewski zugeschrieben wurde, nämlich dass er polnische Geschichte in allgemein verständlicher und unterhaltsamer Form in der Landessprache vermittelte und damit das Geschichtsbewusstsein seiner Leserschaft stärkte – und das zu einer Zeit, in der sich die polnische universitäre Historiographie gerade erst entwickelte und institutionalisierte. Mit seinen Romanen wurde Kraszewski zu einem Geschichtslehrer der Nation.89 Diese Aufgabe, die ihm zugesprochen wurde, korrespondierte mit Kraszewskis eigenem künstlerischen Selbstverständnis: Einem herderschen Nationsverständnis entsprechend sah er es als seine Aufgabe an, das Volk durch Kenntnis seiner Geschichte zur nationalen Selbsterkenntnis zu motivieren. Die Vorstellung nationaler Einheit bestärkten seine Werke dadurch, dass die Leser diese in polnischer Sprache in allen drei Teilungsgebieten – ob in der Stadt oder auf dem Land – lasen.90 Nach Kraszewskis Verständnis gehörten zur polnischen Nation alle Schichten, Stände

87 Dębicki, Ludwik: Portrety i sylwetki z dziewiętnastego stulecia Bd. 2,1. Kraków 1906, hier 149. 88 Langer, Dietger: Polnische Literaturgeschichte. München 2010, hier 94 f. 89 Burkot, Stanisław: Józef Ignacy Kraszewski (1812–1887). In: Ziejka (Hg.): Nieśmiertelni 196–198. 90 Dabrowski: Commemoration and the Shaping of Modern Poland 28.  Burkot: Józef Ignacy Kraszewski 197.

152  Der nicht alltägliche Tod und Religionsgemeinschaften,91 eine Einstellung, die Anklang bei liberalen Juden in Polen fand. Diese Beliebtheit Kraszewskis spiegelte sich nach seinem Tod in Trauergottesdiensten wider, die für ihn in Synagogen gefeiert wurden.92 Die Romane hatten zudem eine Wirkung nach außen, indem sie das Weiterbestehen Polens als Kulturnation postulierten und perpetuierten. In einer Umgebung, in welcher der Wert künstlerischen Schaffens oftmals daran gemessen wurde, inwiefern es nationale Ideen zum Ausdruck brachte, kam Kraszewski ein entsprechend hohes Ansehen zu. Sein Lesepublikum war breit: Lesekundige Bauern, Bürger und Kleinadlige lasen die Geschichten, die ihnen vom Los Polens seit der Vorzeit (Stara baśń/Altes Märchen) bis ins 18. Jahrhundert hinein und damit bis zu der Zeit der Sachsenkönige erzählten. Und sie lasen diese Geschichten auf Polnisch. Dass sie dadurch nicht mehr auf französischsprachige Literatur angewiesen waren, war für einige Zeitgenossen nicht nur aus nationaler, sondern auch aus moralischer Sicht ein Grund zur Freude, denn die Romane französischer Autorinnen und Autoren empfanden so manche in Polen als moralisch fragwürdigen und ungeeigneten Lesestoff. Dennoch war er verbreitet, da Französisch eine Bildungssprache war, die die höheren Schichten lernten und lasen. Doch sah beispielsweise der katholische Krakauer Publizist Ludwik Dębicki in den Romanen von George Sand eine Überhöhung der romantischen Liebe zu Lasten der Ehe als Institution und Sakrament und in den Werken von E ­ ugène Sue die Propagierung von Atheismus und Sozialismus. Im Vergleich dazu erschienen Kraszewskis Werke als moralisch tadellos. Positiv hob ­Dębicki an ihnen außerdem hervor, dass Kraszewski katholisches Brauchtum positiv darstelle.93 Zum moralischen Mehrwert der Bücher Kraszewskis dürfte auch beigetragen haben, dass seine Darstellung von Klerikern weitaus positiver war als die negativen stereotypen Darstellungen des Klerus, wie sie sich in Werken vieler zeitgenössischer französischer Autoren wie Stendhal fanden. Auch wenn Kraszewskis Werke  – schon alleine aufgrund ihrer großen Zahl – nicht immer unbedingt aus Genialität geborene Meisterwerke darstellten,94 so waren sie doch gern gelesene Lektüren, die den Bedürfnissen der Zeit entsprachen. Nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Person wurden Józef Ignacy Kraszewski Sympathien seiner Landsleute zuteil. Er hatte in allen drei Teilungs 91 Burkot: Józef Ignacy Kraszewski 193. 92 Śmierć J. I. Kraszewskiego. In: Nowa Reforma Nr. 69 vom 25.3.1887, 2. 93 Dębicki: Portrety i sylwetki z dziewiętnastego stulecia 149 f. Auch in der Trauerrede bei der Beisetzung Kraszewskis sollte der Prediger Władysław Chotkowski den moralischen Vorzug von Kraszewskis Büchern gegenüber französischen Romanen betonen, die offenbar als moralisch anrüchig galten. 94 Zu diesem Urteil kommen zum Beispiel Brückner, Alexander: Polnische Literaturgeschichte. Leipzig 1920, hier 65 f. oder auch Kraszewskis Zeitgenosse Dębicki (Dębicki: Portrety i sylwetki z dziewiętnastego stulecia 151).

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gebieten Polens gelebt und war Zeuge der beiden großen Aufstände geworden – des Novemberaufstandes im Jahr 1830 und des Januaraufstandes von 1863. Als ihm nach letzterem die Verbannung nach Sibirien drohte, musste er Warschau und damit das russische Teilungsgebiet verlassen. Er siedelte sich daraufhin in Dresden an, wo er die nächsten 23 Jahre im Exil verbringen sollte.95 Seine wechselvolle, ruhelose und mit den Turbulenzen der polnischen Geschichte eng verknüpfte Biographie ließ Kraszewski für seine Zeitgenossen selbst zu einer Verkörperung des Schicksals der Nation werden.96 Was Kraszewski außerdem zugute gehalten wurde, war sein Fleiß. Selbst als er aufgrund von Spionagevorwürfen wenige Jahre vor seinem Tod eine Haftstrafe in Magdeburg ableisten musste, arbeitete er in der Haft weiter an seinen Projekten. Neben zahlreichen Romanen verfasste er Gedichte, Dramen und Reiseberichte und schrieb für diverse Zeitungen, womit er sich in die politischen und gesellschaftlichen Debatten seiner Zeit einbrachte. Während seine Produktivität und sein schriftstellerisches Werk ihm allgemein Respekt verschafften, waren die Ansichten über seine politischen Aktivitäten geteilt. Sein Biograph, Wincenty Danek (1907–1976), macht in Kraszewskis politischem Denken als roten Faden seine Ablehnung des polnischen (Hoch-)Adels sowie seine kritische Haltung gegenüber der kirchlichen Hierarchie aus. Den Adel lehnte K ­ raszewski als zu wenig national und zu kosmopolitisch gesinnt ab.97 Die theologischen Positionen dieses profilierten Vertreters des liberalen Lagers, zu denen eine eigenständige Arbeit fehlt,98 basierten auf zwei Postulaten: erstens auf der Vorstellung eines von der Vernunft bestimmten Glaubens und 95 Dresden wurde zu der Zeit für einige polnische Schriftsteller – darunter auch Adam Mickiewicz – zu einer vorübergehenden Station. Siehe dazu Prunitsch, Christian: »Stałem się Schreibmaschiną«. Polnische Schriftsteller-Migranten im Dresden des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Slawistik 54/4 (2009) 457–469. Zur Erinnerung an Kraszewskis Zeit in Dresden richtete die Stadt Dresden in Kraszewskis ehemaligem Wohnhaus in der Nordstraße ein Museum ein (Szymańska, Elżbieta: Kraszewski-Museum in Dresden. Warschau 2005). Im Jahr 2012 sollte das Museum geschlossen werden. Grund dafür war ein Gesetz, das der polnische Sejm 2011 verabschiedet hatte und demzufolge polnische Kulturgüter, die älter als 50 Jahre sind, nicht länger als fünf Jahre im Ausland als Leihgaben verbleiben dürfen. Die Stadt Dresden beschloss daher, das Museum nicht weiterzuführen. Siehe Deutsche Presseagentur: Das Kraszewski-Museum ist endgültig Geschichte. In: Sächsische Zeitung vom 29.5.2012, URL: http://www.sz-online.de/nachrichten/artikel.asp?id=3071115 (am 31.7.2012). Letztlich entschied sich die Stadt Dresden, das Museum doch weiterzuführen. Inzwischen ist dort eine in polnisch-deutscher Zusammenarbeit konzipierte neue Ausstellung zu sehen. Siehe dazu Wieder Leben im Kraszewski-Museum, URL: http://www.mdr.de/sachsen/ kraszweski-museum102_zc-f1f179a7_zs-9f2fcd56.html (am 28.5.2013). 96 Dabrowski: Commemoration and the Shaping of Modern Poland 27. 97 Danek: Pisarz wciąż żywy 76. 98 Lediglich ein Einstieg in die Thematik findet sich bei Danek: Pisarz wciąż żywy ­76–87 (»Kraszewski i ultramontanie«) und bei Kosmanowa, Bogumiła: Kraszewski mniej znany. Studia i Szkice. Bydgoszcz 1998, hier 123–131.

154  Der nicht alltägliche Tod zweitens auf dem Wunsch nach Eigenständigkeit der territorialen Kirchen, verbunden mit einem Vorzug nationaler Belange vor katholischen – im Sinne von allumfassenden – Anliegen. Konkret kritisierte er die (obere) Kirchenhierarchie für ihre Loyalität gegenüber den Teilungsmächten, die sie als legitime Herrscher akzeptierte und deswegen die polnischen Katholiken dazu aufrief, ihnen Gehorsam zu leisten.99 Insofern missfiel Kraszewski die starke Rückbindung an Rom. Auch theologisch stieß er sich an ultramontanen Positionen, die ihm als fortschrittsfeindlich galten. Gleichwohl kündigte Kraszewski seine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche nie auf, sondern vertrat eine andere Konfiguration des Katholischen: Dem ultramontanen Katholizismus setzte er einen spezifisch polnischen Katholizismus entgegen, worunter er sich eine nicht zentralistisch, sondern föderal organisierte Kirche vorstellte, die die Eigenständigkeit und autonomen Rechte der nationalen Kirchen wahren sollte.100 Für einen solchen nationalkirchlichen Katholizismus trat er auch in der publizistischen Debatte ein, für eine von römischen Direktiven weitestgehend unabhängige Nationalkirche, in der sich das nationale Interesse nicht südlich der Alpen ausgesprochenen Weisungen unterordnen musste.101 Seiner Ablehnung ultramontaner Positionen verlieh Kraszewski in den Jahren 1868 bis 1871 besonderen Nachdruck. In dieser Zeit veröffentlichte er unter dem Pseudonym Bolesławit. Da der Bischofsmörder König Bolesław  II., genannt der Kühne (Śmiały), angeblich ein Urahn des Schriftstellers gewesen sein soll, wählte er dieses Pseudonym.102 Unter diesem Namen erschienen seine »Abrechnungen« (Rachunki), mit denen er sich in die politischen und gesellschaftlichen Debatten seiner Zeit einbrachte und dabei auch kirchliche Positionen kritisierte. Letzteres intensivierte er durch die Herausgabe der Wochenschrift »Tydzień Polityczny, Naukowy, Literacki i Artystyczny« (»Politische, akademische, literarische und künstlerische Wochenschrift«), die er 1870 und 1871 auf eigene Kosten in Dresden herausgab und deren Spalten er überwiegend mit seinen eigenen Artikeln füllte. Dass die Zeitschrift parallel zum Ersten Vatikanischen Konzil 1869/70 erschien, war kein Zufall: Kraszewski wollte mit der Publikation und den darin veröffentlichten Korrespondentenberichten über den Stand der Verhandlungen auf dem Konzil informieren. Als Gegner einer Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit unterstützte Kraszewski die liberal-

99 Zur Haltung der Kirchenhierarchie gegenüber der polnischen Nationalbewegung siehe Porter, Brian: Thy Kingdome Come. Patriotism, Prophecy, and the Catholic Hierarchy in Nineteenth-Century Poland. In: The Catholic Historical Review 89 (2003) 213–239. 100 Danek, Wincenty: Publicystyka Józefa Ignacego Kraszewskiego w latach 1859–1872. Wrocław 1957, hier 78–83. 101 Matusik: »Nadeszła epoka przejścia…« 368. 102 Kraszewski Józef Ignacy. In: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 15. Wrocław u.a 1970, 221–229, hier 222.

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katholische Opposition.103 In den Beschlüssen des Ersten Vatikanischen Konzils erblickte er eine Verhinderung der freien Entfaltung der Forschung, was er als hinderlich für den Fortschritt der Menschheit empfand.104 In der öffentlichen Debatte um die Ausrichtung der katholischen Kirche wurde Kraszewski zur wichtigsten Autorität des polnischen liberalen Lagers und damit zu einem der Hauptgegner der Ultramontanen, welche sich mit dem Schriftsteller entsprechende Polemiken lieferten.105 Den polnischen Ultramontanismus, den Kraszewski kritisierte, sah er vor allem durch drei seiner Hauptgegner vertreten: erstens durch die von Exilpolen in Paris gegründete Kongregation der Resurrektionisten (Zmartwychwstańcy). Diese war im Jahr 1836 von polnischen Exilanten in Paris gegründet worden, welche im Katholizismus die geistige Grundlage des Polentums sahen. Neben Paris sollte Rom zu einem wichtigen Standort für die Gemeinschaft werden, die dort seit 1866 für das päpstliche polnische Kolleg verantwortlich zeichnete, aus dem sich weitestgehend der polnische Episkopat rekrutierte. Wie ultramontan die Zmartwychwstańcy waren, spiegelt sich darin wider, dass ihr Name in der polnischen Kirchengeschichtsschreibung teilweise als Synonym für ultramontan gebraucht wird.106 Der zweite ultramontane Gegner Kraszewskis war der Posener Erzbischof Mieczysław Ledóchowski, den der Schriftsteller wegen seiner Loyalität gegenüber den politischen wie kirchlichen Hierarchien kritisierte. Ledóchowski untersagte Geistlichen in der Erzdiözese Posen, an Wahlkampagnen teilzunehmen und verbot das Singen der religiös-politischen Hymne »Boże coś Polskę« (»Gott, der du Polen…«), in dem das Leid des unfreien Polens beklagt wurde. Ebenso untersagte er in seiner Diözese im Jahr 1869 Feierlichkeiten zur erneuten Grablegung des Königs Kazimierz und die zum Jubiläum der 1569 geschlossenen Union von Lublin.107 Jedoch sollte Ledóchowski als Widersacher Bismarcks, da er wegen Nichtbeachtung der preußischen Kulturkampfgesetze zwei Jahre inhaftiert wurde, in die Geschichtsbücher eingehen. Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich dadurch, dass für Ledóchowski die Legitimität der staatlichen Gesetzgebung dort aufhörte, wo sie in die Autonomie der kirchlichen Strukturen eingriff.108

103 Danek: Pisarz wciąż żywy 77 f. 104 Danek: Publicystyka Józefa Ignacego Kraszewskiego 185. 105 Matusik: »Nadeszła epoka przejścia…« 368. 106 Die Kongregation der Resurrektionisten war 1836 in Paris gegründet worden. Einen weiteren Schwerpunkt hatte sie in Rom, 1866 wurde der Kongregation die Leitung des päpstlichen polnischen Kollegs übertragen, aus dem sich weitestgehend der polnische Episkopat rekrutierte. Siehe dazu Pollmann: Ultramontanismus in Polen 161–163. 107 Matusik: »Nadeszła epoka przejścia…« 365 f. 108 Porter: Faith and Fatherland 163.

156  Der nicht alltägliche Tod Den dritten Hauptgegner fand Kraszewski in den Krakauer Konserva­tiven.109 Krakau galt ihm als ein »Wespennest von Intrigen«110 und als Inbegriff eines fortschrittsfeindlichen und selbstbezogenen Konservatismus. Obwohl Kraszew­ ski in Dresden ansässig war, kommentierte er die intellektuellen Geschehnisse in Krakau. Anlässlich der Auseinandersetzungen um den Brief des Mediziners Karol Gilewski an den Münchner Theologieprofessor und Kritiker des Unfehlbarkeitsdogmas Ignaz Döllinger111 schrieb Kraszewski über Krakau und den dort seiner Ansicht nach vorherrschenden Geist: Was haben wir mit diesen Leuten zu schaffen! Wir gehen mit der Zeit, wir arbeiten und kämpfen um die Zukunft, sie sitzen auf Gräbern und Leichen und spucken auf die Lebenden.112

Informationen aus Krakau erhielt Kraszewski durch den Maler Walery ­Eliasz, der ihn unter anderem über die Kontroversen um die Ausgestaltung der er­ neuten Beisetzung von Kazimierz Wielki im Jahr 1869, den Skandal um die eingekerkerte Karmelitin Barbara Ubryk113 im selben Jahr und um die besagte Döllingeradresse von 1871 informierte.114 Insofern überrascht es, dass die Jubiläumsfeiern 1879 für Kraszewski ausgerechnet in Krakau abgehalten werden sollten. Die Idee zu den Feierlichkeiten entstand auch nicht in Krakau, sondern in Warschau, wo sie der Schriftsteller Adam Pług115 erstmals formulierte. Die Idee wurde bald von weiteren Städten übernommen, in denen ebenfalls Feierlichkeiten organisiert wurden. In der Tatra regte die Tatravereinigung (Towarzystwo Tatrzańskie) aus Anlass von­ Kraszewskis Jubiläum an, den Eingang zum Kościelskatal in Kraszewski-Tor (brama Kraszewskiego) umzubennen.116 Das illustriert, wie sehr sich in den polnischen Gebieten ein Konsens herausgebildet hatte, wonach Kraszewskis nun 50 Jahre währende Tätigkeit als Schriftsteller eine besondere Würdigung verdiente. Den Höhepunkt der unterschiedlichen Feierlichkeiten sollte eine große, zentrale Feier darstellen.117 Theoretisch kam dafür Warschau in Frage: Hier war Kraszewski geboren worden, hier hatte er einige Zeit gelebt, hier waren viele mit 109 Matusik: »Nadeszła epoka przejścia…« 369. 110 Zitiert bei Danek: Pisarz wciąż żywy 80. 111 Siehe Kapitel 2.5. 112 Kraszewski, Józef Ignacy: Wypadki Krakowskie. In: Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny Nr. 21 vom 21.5.1871, 167–171. 113 Barbara Ubryk war von ihren Mitschwestern wegen ihres devianten Verhaltens im Kloster unter inhumanen Bedingungen eingesperrt worden. Als der Fall bekannt und eine vollkommen verwahrloste Barbara Ubryk entdeckt wurde, sorgte der Vorfall in ganz Europa für einen Skandal. Mehr dazu im Kapitel 2.5. 114 Danek: Publicystyka Józefa Ignacego Kraszewskiego 68. 115 Pseudonym von Antoni Pietkiewicz. 116 Dabrowski: Commemoration and the Shaping of Modern Poland 26 f. 117 Danek: Józef Ignacy Kraszewski 285.

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Kraszewski befreundete Schriftsteller ansässig, in deren Kreis auch die Idee der Jubiläumsfeier geboren worden war. In Warschau wurden Kraszewskis Bücher gedruckt und Kraszewski schrieb für mehrere Warschauer Zeitungen, deren liberaldemokratische Ausrichtung er teilte. Doch praktisch erwies sich die Stadt als ein ungünstiger Ort, da die russischen Machthaber eine mehrtägige, national gefärbte Feierlichkeit nicht erlauben würden. Über größere politische Freiheiten konnte sich hingegen Krakau freuen. Die Kombination von vergleichsweise großen politischen Freiheiten und historischer Würde ließen Krakau als Veranstaltungsort nahezu alternativlos erscheinen. Die Stadt Krakau unterstützte die Entscheidung, der Krakauer Stadtrat beschloss, die Kosten für die Feierlichkeiten zu tragen und das eigens dafür einberufene Krakauer Jubiläumskomitee, zu welchem unter anderem die Schriftsteller Adam Asnyk (1838–1897) und Alfred Szczepański gehörten, übernahm die Vorbereitungen.118 So gut wie die Beziehungen zu Warschau waren Kraszewskis Beziehungen zu Krakau nicht. Abgesehen von den ideologischen Vorbehalten gegen Kraszewski selbst verwehrten sich die Krakauer Konservativen gegen eine Feier für ihn, weil sie befürchteten, dass die Veranstaltung zu national gefärbt sein und damit den Kaiser verärgern könnte.119 Doch dem Stadtpräsidenten Mikołaj Zyblikiewicz gelang es, diese Bedenken teilweise zu zerstreuen, indem er das Kraszewskijubiläum mit einem weiteren für die Stadt bedeutungsvollen Ereignis verband: der Einweihung der in den Jahren 1877 bis 1879 renovierten Tuchhallen auf dem Krakauer Marktplatz,120 die eines der Wahrzeichen der Stadt darstellten. Die 1257 erstmalig errichteten Tuchhallen markierten das Zentrum der Stadt, erinnerten an ihren frühen Glanz, der sich in den Tuchhallen als Handelsplatz und als Beispiel verschiedener europäischer Architekturstile widerspiegelte. Indem nun die Einweihung der Tuchhallen mit der Jubiläumsfeier zusammen­ fiel, erhielt die Veranstaltung eine willkommene Mehrdeutigkeit. Wer wollte, konnte in der Feier nicht primär eine Ehrung für Kraszewski, sondern vor allem die feierliche Wiedereröffnung dieser konstruierten Relikte eines glorreichen Abschnitts der Stadthistorie sehen. Während die Konservativen dadurch ihren Frieden mit der Veranstaltung schließen konnten, nährte es umgekehrt die Sorge der Organisatoren des Kraszewskijubiläums, unter anderem des Schrift-

118 Ebd. 285 f. 119 Dabrowski: Commemoration and the Shaping of Modern Poland 30. 120 Zu den Tuchhallen und ihrem kulturpolitischen Programm: Wackwitz, Stephan: Im Museum der Nation erfindet sich die Tradition. In: Merkur 60/8 (2006) 665–673. Wackwitz zufolge sind die Renovierungen der Tuchhallen symptomatisch für die Kulturpolitik in Krakau. Die Tuchhallen seien nicht konserviert, sondern im 19. Jahrhundert neu erschaffen worden, entsprechend der Vorstellungen, die man sich von der Vergangenheit gemacht habe. Eben diese »Erfindung« von Tradition und Geschichte sei in Krakau besonders ausgeprägt gewesen.

158  Der nicht alltägliche Tod stellers Adam Asnyk wie auch Kraszewskis selbst, dass das Jubiläum hinter die Wiedereröffnung der Tuchhallen würde zurücktreten müssen.121 Es blieb noch ein weiterer heikler Punkt offen: Das Verhältnis von Kraszewski zur katholischen Kirche. Kraszewskis Kritik am Ersten Vatikantischen Konzil, seine Ablehnung des Unfehlbarkeitsdogmas, die Darstellung des Klerus in seinen Romanen, seine Unterstützung für die italienische National­bewegung,122 all das führte dazu, dass sein Verhältnis zur kirchlichen Hierarchie angespannt war. Den liberal eingestellten Kraszewski wollten die ultra­montan gesinnten Katholiken nicht ehren. Der Versuch einer Aussöhnung noch im selben Jahr des Jubiläums anlässlich Kraszewskis Namenstags am 19. März in Dresden misslang. Dort hatte Kraszewski, der befürchtete, dass seine Haltung zur Kirche eine Distanz zu den kirchentreuen Polen bewirken könnte,123 in Beisein und auf Anregung124 des Seelsorgers der Polonia in Dresden, Bonifacy Jastrzębski, einen Toast ausgesprochen und erklärt, immer ein gläubiger Sohn der katholischen Kirche gewesen zu sein, und seine Loyalität gegenüber Papst Leo XIII. bekundet. Die ultramontane Presse jubilierte und schrieb von einer Umkehr des Schriftstellers – aber nur für kurze Zeit. Kraszewski verfasste eine Richtigstellung seines Bekenntnisses, wonach er sich zwar zur polnischen Gesellschaft und zur katholischen Kirche bekenne, sich aber nicht dem ultramontanen Lager anschließen wolle. Die ultramontanen Katholiken zeigten sich enttäuscht und zogen daraus harte Konsequenzen: Entweder Kraszewski beweise seine Katholizität dergestalt, dass er beichten gehe und – gewissermaßen als Beweis für die abgelegte Beichte und die empfangene Absolution – anschließend in der Krakauer Marienkirche öffentlich die Kommunion empfange.125 Andernfalls werde der Krakauer Klerus an der Jubiläumsfeier nicht teilnehmen.126 Kraszewski verweigerte den eingeforderten unzweideutigen Beweis seiner Kirchentreue und die Ultramontanen reagierten auf die Feierlichkeiten mit Ignoranz und die Krakauer Kurie mit einem Boykott.127 Der polnisch-russische liberale Literaturkritiker und Jurist Włodzimierz Spasowicz128 emp 121 Dabrowski: Commemoration and the Shaping of Modern Poland 32. 122 So wurde ihm beispielsweise verübelt, dass er einen ihm vom italienischen König verliehenen Orden im Namen der polnischen Nation angenommen hatte. Siehe Dabrowski,­ Patrice: Reinventing Poland. Commemorations and the Shaping of the Modern Nation, 1879–1914. Harvard 1999, 72. 123 Dabrowski: Reinventing Poland 75. 124 Danek: Pisarz wciąż żywy 84 f. 125 Danek: Józef Ignacy Kraszewski 297–299. 126 Dabrowski: Reinventing Poland 76. 127 Danek: Józef Ignacy Kraszewski 288. 128 Spasowicz wurde in Minsk geboren, verbrachte mehrere Jahre in Sankt Petersburg, gab dort die Zeitung Kraj heraus, in Warschau die Zeitschrift »Athaneum«, propagierte die polnisch-russische Annäherung. Siehe Spasowicz Włodzimierz. In: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 41. Warschau/Krakau 2002, 45–53.

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fand die Feierlichkeiten am 3. Oktober 1879 als ein »Bild für die ausdrückliche Trennung« von weltlicher und religiöser Sphäre: Zuerst wurde in der Marienkirche eine Messe  – jedoch ohne Predigt  – gefeiert, dann zog der Festzug in einer Prozession zu den renovierten Tuchhallen. Hier hielt der Bischof Albin Dunajewski eine Ansprache, in der er über die Neueröffnung der renovierten Tuchhallen sprach, aber den mit der Feier zugleich geehrten Jubilar Kraszewski mit keinem Wort erwähnte. Nachdem er die Tuchhallen gesegnet hatte, verabschiedete sich der Bischof und nahm an den weiteren, Kraszewski gewidmeten Feierlichkeiten nicht teil.129 Trotz kirchlichen Unwillens wurden die Feierlichkeiten zu Kraszewskis Jubiläum in Krakau zu einem kulturellen Großereignis. Viele Konservative konnten mit der Ehrung Kraszewskis ihren Frieden schließen, als Kaiser Franz Joseph das Jubiläum zum Anlass nahm, dem Schriftsteller einen Orden zu verleihen,130 wodurch die Sorge, die Feier könne die Loyalität zum Hause Habsburg in Frage stellen, entkräftet wurde. Zugleich machten die Feierlichkeiten auch die Hoffnungen der nationalen Propagandisten wahr: Sie hatten weit über die Grenzen Krakaus und der (ehemaligen) polnischen Gebiete hinaus den Anspruch demonstriert, eine Nation darzustellen. Der Pariser Figaro befand beispielsweise am 10. Oktober 1879 auf seiner Titelseite, solche Ehrungen seien seit der Krönung Petrarcas im Jahr 1341 keinem Schriftsteller mehr zuteil geworden.131 Laut Patrice Dabrowski hatten die Feierlichkeiten vom 3. bis 7. Oktober eine nicht zu unterschätzende Auswirkung auf die Stadt Krakau, den Geehrten und die polnische Nation: In many ways, thus, the celebration does seem miraculous: for the degree of national unity that was attained; for the fact that the partitioning powers allowed Poles from their lands to participate in the festivities; and for the impact this commemoration had on  a sleepy corner of Habsburg Austria, now roused from its lethargy and renewed in its commitment to its Polish heritage. The Kraszewski jubilee attests to the emergence of new forces and strategies within the Polish community that cast the honorand, city, and nation in a different light.132

Krakaus Image als geistige Hauptstadt Polens (duchowa stolica) war durch die Feier gefestigt worden. Weiter dazu beitragen sollte unter anderem die Einrichtung der Krypta der Verdienten, die ein Jahr nach der Jubiläumsfeier für Kraszewski eingeweiht wurde. Nach der heimlichen Beisetzung der Schriftsteller Wincenty Pol und Lucjan Siemieński war die Beisetzung Kraszewskis im Jahr 1887 die erste unmittelbare Beisetzung in der Krypta. Sie war damit die erste 129 Bericht von Spasowicz, zitiert bei Danek: Józef Ignacy Kraszewski 319–321, Zitat 321. 130 Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 267. 131 d’Escoleaux, C.: Les Fêtes de Cracovie. In: Figaro Nr. 283 vom 10.10.1879, 1. 132 Dabrowski: Commemoration and the Shaping of Modern Poland 26.

160  Der nicht alltägliche Tod große Trauerfeier in Krakau für einen erst kürzlich Verstorbenen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die erste große Trauerfeier in Krakau, mit der ein Künstler und kein politischer Anführer geehrt wurde.

2.2.3 Der Prozess in Leipzig, die Haft in Magdeburg und der Tod in Genf Bald auf die Pracht der Festtage in Krakau sollte eine weniger ruhmreiche Episode folgen, die Kraszewskis letzte Lebensjahre prägte. Über mehrere Jahre hinweg hatte Kraszewski für den französischen Geheimdienst gearbeitet, den er unter anderem mit Informationen über Preußens Militär versorgte.133 1883 wurde Kraszewski, nachdem er von einem Beteiligten denunziert worden war, in Berlin verhaftet, wegen seines Alters und seiner schlechten Gesundheit aber bis zu den Gerichtsverhandlungen im Mai 1884 in Leipzig unter Hausarrest gestellt. Das Reichsgericht verurteilte den 72-jährigen Kraszewski zu dreieinhalb Jahren Haftstrafe in Magdeburg.134 Aufgrund seiner Krankheiten konnte gegen Zahlung einer Kaution im November 1885 eine sechsmonatige Aussetzung der Haftstrafe bewirkt werden. Kraszewski ließ sich zur Regeneration im italienischen Kurort San Remo nieder. Anschließend kehrte Kraszewski nicht nach Magdeburg zurück, obwohl die preußischen Behörden seinen Hafturlaub nicht verlängert hatten,135 weswegen deutsche Gerichte steckbrieflich nach ihm suchten.136 Nach zwei Erdbeben in San Remo wollte Kraszewski sich im schweizerischen Lausanne niederlassen. Eine Lungenentzündung zwang ihn zu einem Halt in Genf, welches er nicht wieder verlassen sollte: Im Hotel de la Paix, in einem Zimmer mit Blick auf den Genfer See,137 starb Kraszewski an seinem 133 Kraszewski stritt den Vorwurf stets ab, seine polnischen Zeitgenossen glaubten ihm, doch laut seinem Biographen Danek war Kraszewski tatsächlich in Spionagetätigkeiten involviert. Danek: Józef Ignacy Kraszewski 366–399. 134 Kraszewski hatte, vermittelt durch den Literaten Adler aus der Feder von August Rudolph Albert Franz Hentsch, Hauptmann a.D., stammende Informationen zum preußischen Militär erhalten, welche er an den Korrespondenten Zaleski in Paris weitergegeben hatte. Hentsch rechtfertigte sich vor Gericht damit, dass er die weitergegebenen Materialien nicht für geheim gehalten habe. Kraszewski behauptete, er habe die Informationen unter der Annahme verkauft, sie seien für französische Magazine bestimmt. Zu den Besonderheiten des Prozesses zählte, dass sich der Reichskanzler Otto von Bismarck mit einem Schreiben über die polnische Organisation in Paris, für die Kraszewski gearbeitet haben soll, einschaltete. Dass Bismarck damit persönlich gegen den polnischen Schriftsteller vorgegangen war, brachte Kraszewski von polnischer Seite Sympathien. Zum Prozess siehe Friedlaender, Hugo: Interessante Kriminalprozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Bd. 7. Berlin 1920, 5–62. 135 Kraszewski Józef Ignacy. In: Polski Słownik Biograficzny, 225–227. 136 Danek: Józef Ignacy Kraszewski 411. 137 C.d.n.: Śmierć J. I. Kraszewskiego. In: Nowa Reforma Nr. 70 vom 27.3.1887, 1.

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Namenstag, dem 19. März 1887.138 Bei ihm war der in Genf im Exil lebende politische Aktivist und Schriftsteller Zygmunt Miłkowski alias Teodor Tomasz Jeż mit seiner Tochter sowie Zygmunt Laskowski, Professor für Anatomie an der Universität Genf.139 Die genaueren Umstände des Todes, vor allem die Frage, ob Kraszewski am Sterbebett priesterlichen Beistand erfahren hatte, sollten noch Anlass für viele Kontroversen bieten.

2.2.4 Überführung nach Krakau und der »Wille der Nation« Die Nachricht vom Tod des beliebten Schriftstellers verbreitete sich schnell in den polnischen Gebieten und mit ihr auch die Idee, Kraszewski in Krakau zu bestatten, was nach der großen Jubiläumsfeier 1879 nur folgerichtig erschien.140 Entsprechend schnell begannen die Vorbereitungen in Krakau, das nach Bekanntwerden des Todes ihres Ehrenbürgers Kraszewskis schwarz beflaggt war. Bereits am 21. März 1887 berief der Krakauer Stadtpräsident Feliks Szlachtowski den Stadtrat zu sich, um die Überführung und Beisetzung Kraszewskis zu beraten.141 Die Nachricht machte bald in den Straßen Krakaus die Runde: Schon am selben Tag boten in Krakau ansässige Bestattungsunternehmen ihre kostenlose Unterstützung an. Tags darauf beschloss der Krakauer Stadtrat, den Leichnam Kraszewskis auf Kosten der Stadt nach Krakau zu überführen und dort beizusetzen.142 Darüber, was mit dem Leichnam Kraszewskis geschehen sollte, hatte jedoch seine Familie zu entscheiden, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht ihre Zustimmung erteilt hatte. Sie wollte erst die Testamentseröffnung abwarten, weil sie im Testament Verfügungen des Verblichenen bezüglich seiner letzten Ruhestätte vermutete, wie Kraszewskis Sohn Jan dem Krakauer Stadt­ präsidenten am 24. März brieflich und telegraphisch mitteilte.143 Diese Mittei 138 Danek: Pisarz wciąż żywy 100 f. Der Umstand, dass Kraszewski an seinem Namenstag gestorben war, schien von einigen Zeitgenossen als bedeutsam aufgefasst worden zu sein. So veröffentlichte der Kurier Krakowski eine auf Versicherung von Freunden der Familie beruhende Meldung, dass in der Familie Kraszewski der Tod »merkwürdig häufig« eine Person am Namenstag oder am Vorabend des Namenstages ereile, siehe J. I. Kraszewski. In: Kurier Krakowski Nr. 67 vom 23.3.1887, 3. 139 Śmierć J. I. Kraszewskiego. In: Dziennik Polski Nr. 85 vom 26.3.1887, 1. 140 Pogrzeb J. I. Kraszewskiego. In: Józefa Czecha Kalendarz Krakowski na rok 1888, 146–158, hier 146. 141 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 67 vom 23.3.1887, 2. 142 Schreiben des Bestattungsunternehmers Pekalski vom 21.3.1887. APwK, Uroczystości krakowskie 231/19, Akta dotyczące jubileuszu Józefa Ignacego Kraszewskiego (1879) i akta pogrzebu Józefa Ignacego Kraszewskiego (1887r.) (weiter »Akta Kraszewskiego«), ohne Paginierung. Seine Hilfe bot in einem Brief der Bestattungsunternehmer Pękalksi des Unternehmens »Concordia« an. Den Zuschlag erhielt jedoch sein Konkurrent Szafrański. 143 Telegramm (französischsprachig) und Brief, beides datiert vom 24.3. und verfasst in Genf. APwK, Uroczystości krakowskie, Akta Kraszewskiego, ohne Paginierung.

162  Der nicht alltägliche Tod lung, welche die bereits in Vorbereitung begriffenen Trauerfeierlichkeiten verzögerte, sorgte in Krakau teilweise für Unmut. Unzufrieden mit der Antwort der Familie zeigte sich etwa die liberaldemokratische Zeitung Nowa Reforma, die angesichts der Bedeutung des Verstorbenen wenig Verständnis für die Rücksichtnahme auf die Angehörigen zeigte. Denn, so argumentierte die Zeitung, die Familie des Verstorbenen seien Millionen Polen, weswegen nicht die leibliche Familie, sondern vielmehr die polnische Öffentlichkeit über die Beerdigung entscheiden solle.144 Was dabei ignoriert wurde, war ein Telegramm der Familie Kraszewskis, wonach es dessen Wunsch gewesen sei, in Warschau bestattet zu werden. Adam Asnyk hatte das Telegramm bei einer Komiteesitzung verlesen. Dass eine gewisse Unsicherheit und Verwirrung bestand, zeigt eine zeitgleiche Meldung im Czas, wonach Kraszewskis Schwiegersohn Witold Męczyński noch am selben Tag im Magistrat vorstellig geworden war und erklärt hatte, es sei der Wunsch der Familie, dass Kraszewski nach Krakau überführt werde.145 Ihre Zustimmung zur Überführung erteilte die Familie jedoch offiziell erst am 29.  März  – ohne die Testamentseröffnung abgewartet zu haben146 —, was im Sinne des Stadtrats und des Stadtpräsidenten war. Wie sich bei der Testamentseröffnung im Mai 1887 zeigen sollte, hatte Kraszewski selbst in seinem 1883 in Dresden verfassten letzten Willen darum ge­ beten, dass sein Herz dem Körper entnommen und in der Heiligkreuzkirche in Warschau beigesetzt werde. Der Körper sollte irgendwo auf bescheidene Art und Weise bestattet werden.147 Ob er einer Beisetzung in Krakau zugestimmt hätte, lässt sich nur mutmaßen. Das Jubiläum hatte er nach eigener Aussage über sich ergehen lassen, weil er gerne als Vorwand für ein nationales Zusammentreffen diene.148 In diesem Sinne formulierte ein Leserbriefschreiber der Nowa Reforma, dass die Beisetzung in Krakau nicht nur ein letzter Dienst an dem Verstorbenen, sondern auch der letzte Dienst des Verstorbenen an der Nation sei.149 Letztlich siegte auch der als solcher apostrophierte Wille der Nation. Der Beschluss, Kraszewski in der Krypta der Verdienten beizusetzen, erfolgte – wie es in den Quellen heißt – auf allgemeinen Wunsch. Zu den eifrigsten Befürwortern zählte die liberal-demokratische Zeitung Nowa Reforma,150 die als erste 144 Śmierć J. I. Kraszewski. In: Nowa Reforma Nr. 69 vom 25.3.1887, 2. 145 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 69 vom 25.3.1887, 2. 146 So war laut einer Meldung im Czas vom 31.3.1887 Kraszewskis Sohn Jan noch in San Remo, um nach dem Aufbewahrungsschein des Testamentes zu suchen, der offenbar nötig war, um das Testament zu erhalten. Die Zustimmung zur Überführung indes hatte die Familie schon erteilt. Siehe Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 73 vom 31.3.1887, 2. 147 Das gesamte Testament wird zitiert bei Danek: Józef Ignacy Kraszewski 457–460. 148 Dabrowski: Commemoration and the Shaping of Modern Poland 34. 149 Głos z miasta. In: Nowa Reforma Nr. 75 vom 2.4.1887, 1. 150 Laut Danek war dies einer der Gründe, warum ultramontane Katholiken der Bei­ setzung skeptisch gegenüberstanden, einen Beleg dafür nennt er jedoch nicht. Siehe Danek: Józef Ignacy Kraszewski 468.

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von einer Übertragung des Leichnams des beliebten Schriftstellers nach Krakau schrieb.151 Von der Idee überzeugt war offenbar ebenso der Stadtpräsident Feliks Szlachtowski, der umgehend den Stadtrat zu Beratungen zu sich rief. Auch der Stadtrat stimmte mehrheitlich der Überfühung zu. Um die Vorbereitung der Beisetzung kümmerte sich ein vom Stadtrat ernanntes Vorbereitungskomitee, zu dem unter anderem der Schriftsteller Adam Asnyk gehörte, der bereits die Jubiläumsfeier 1879 mit vorbereitet hatte. Stadtpräsident Szlachtowski beriet sich mit dem Stadtrat, welcher am 22. März beschloss, den verstorbenen Schriftsteller auf Kosten der Stadt in selbiger beizusetzen und bestimmte für die Vorbereitung eben dieses Ereignisses ein Komitee, bestehend aus fünfzehn Mitgliedern des Stadtrates.152 In diesem fanden sich liberale Vertreter wie Asnyk ebenso wie Vertreter des konservativen Lagers. Auch in konfessioneller Hinsicht war das Vorbereitungskomitee heterogen: Mit Ferdynand Weigel war ein Lutheraner vertreten und mit Albert Abraham Mendelsburg ein Vertreter der jüdischen Gemeinde.153 Unter den Komiteemitgliedern befand sich mindestens einer, der sich der allgemeinen Begeisterung ob der Beisetzung Kraszewskis in Krakau entzog: Henryk Jordan (1842–1907). Der Arzt und Pionier der Leibeserziehung, der sich mit dem von ihm initiierten, finanzierten und nach ihm benannten Park Jordan in der Topographie der Stadt verewigen sollte, äußerte sich in einer vertraulichen Sitzung skeptisch hinsichtlich einer großen feierlichen Beisetzung Kraszewskis in Krakau. Dennoch verbreitete sich die hinter geschlossenen Türen getroffene Aussage rasch in der Stadt. Laut der Berichterstattung des »Kurjer Lwowski« (»Lemberger Courier«) war die abweichende Meinung Jordans Tagesthema in den Straßen Krakaus und die Empörung groß. Dabei kursierten unterschiedliche Varianten dessen, was Jordan genau gesagt haben soll. Der Korrespondent des Kurjer Lwowski kommunizierte nach Rücksprache mit drei der fünfzehn Komiteemitglieder folgenden Sachverhalt: In der Debatte habe sich Jordan dagegen ausgesprochen, dass die Beisetzung Kraszewskis auf Kosten der Stadt erfolgen solle, da das Lebenswerk des Verstorbenen durch den Leipziger Prozess »beschmutzt« worden sei.154 Diese Aussage aus dem Mund eines Polen erschien vielen zugleich als pietätlose Ehrverletzung und als nationaler Verrat. Denn in der zeitgenössischen Wahrnehmung war Kraszewski vielmehr ein Verfolgter und ein Opfer, was besonders pointiert in der Nowa Reforma formuliert wurde: 151 Kronika. In: Nowa Reforma Nr. 66 vom 22.3.1887, 2. 152 Schreiben an Jean (sic) Kraszewski vom 24.3.1887. APwK, Uroczystości krakowskie, Akta Kraszewskiego, ohne Paginierung. 153 Die Liste der Komiteemitglieder findet sich beispielsweise in: Śmierć J. I. Kraszews­ kiego. In: Nowa Reforma vom 23.3.1887, 2. Ende März wurde das Komitee um sieben Mitglieder, die nicht zum Stadtrat gehörten, erweitert, siehe Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 73 vom 31.3.1887, 2. 154 Listy z kraju. In: Kurjer Lwowski Nr. 86 vom 27.3.1887, 3–4.

164  Der nicht alltägliche Tod Kraszewski sei von der einen Teilungsmacht – Russland – vertrieben worden – aus Warschau nach Dresden –, die andere Teilungsmacht habe ihm als bereits alten und gebrechlichen Mann den Prozess gemacht und ihn dadurch getötet.155 In dieser Lesart war Kraszewskis moralische Autorität durch den Prozess in Leipzig und die Festungshaft in Magdeburg nur gestärkt worden. Anders ausgedrückt: Er war nun seinen Zeitgenossen in zweifacher Hinsicht ein Opfer: aktiv, indem er sein Talent und seine Arbeit in den Dienst der Nation gestellt hatte, und passiv, indem er »Opfer des Verfolgungswahns Bismarcks«156 geworden war. Dadurch erschien die Forderung nach einer großen Beisetzung ihren Befürwortern als umso berechtigter, und zwar zugleich als Ehrerweisung wie als eine Form posthumer Gerechtigkeit; der Kritiker Jordan hingegen als Gefolgsmann Bismarcks und als nationaler Verräter.157 Jordan war der einzige Gegner der Beisetzung, dessen explizite Kritik an der geplanten Feierlichkeit schon im Vorfeld bekannt geworden war, er war jedoch nicht der einzige, der der Beisetzung gegenüber skeptisch eingestellt war. Ihre Zurückhaltung ließen im Vorfeld zwei weitere Männer erkennen: Józef Majer und Graf Stanisław Tarnowski. Nachdem der Krakauer Stadtpräsident und der Stadtrat die Überführung und Beisetzung Kraszewskis in Krakau beschlossen hatten, konstituierte sich ein Komitee für die Organisation der Feierlichkeiten. Zu den gewählten Mitgliedern des Komitees zählte auch Józef Majer, der die Wahl jedoch nicht annehmen wollte. Er sei zu alt für eine solche Aufgabe, gab er an. Adam Asnyk, einer der Hauptbefürworter der Translation Kraszewskis, äußerte daraufhin den Einwand, dass Majer als Vorsitzender der Akademia 155 Ohne Titel. In: Nowa Reforma Nr. 87 vom 17.4.1887, 1. 156 Nasza »straż pożarna«. In: Nowa Reforma Nr. 94 vom 26.4.1887, 1. 157 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Djabeł Nr. 7 vom 5.4.1887, 2. Uwagi śledziennika. In: Djabeł Nr. 7 vom 5.4.1887, 6. In der Prawda (»Wahrheit«) erschien der Geist des verstorbenen Schriftstellers. Die Anwesenden riefen den Stadtrat Jordan dazu auf, vor diesem Geist seine Stellungnahme zu wiederholen: »Wiederhol hier – riefen sie – deine Beleidigung im Angesicht seiner Majestät, sag, dass er nichts anderes war als ein französischer Agent und preußischer Gefangener, dass er uns geistig nicht bereichert hat, sondern nur verleumdet, dass er kein Meister war, nur …. Nun sag diese Worte öffentlich, die du hinter verschlossenen Türen des Rates so kühn gesagt hast.« Die Prawda beendete diese Vision mit den Worten: »Bittet sofort den Krakauer Bürgermeister, dass er in Zukunft, falls erneut ein herausragender Pole stirbt und die Landsmänner seinen Leichnam nach Smorgonia, genannt das ›polnische Athen‹, überführen sollen, in das Beerdigungskomitee nicht Leute wählt, die bloß in das geehrte Grab spucken können. Sie eignen sich zu anderen Zwecken.« (Prawda, Nr. 16 vom 16.4.1887). Auch im Djabeł erschien der Geist des Verstorbenen, diesmal auf einer Karikatur und sprach: »Für die ungelogene Liebe der Herzen möge Gott dich segnen, meine herzensgute Nation – und denen vergeben, die mich nicht verdientermaßen nach dem Tod angreifen. Das ist eine Tat, vor der sich sogar wilde Völker ekeln.« (Djabeł Nr. 8 vom 19.4.1887). Für den Kurjer Lwowski war Jordan von nun an ein »bekannter Sucher von Streitigkeiten und Skandalen, die über ganz Polen erklingen«. Listy z kraju. In: Kurjer Lwowski Nr. 100 vom 10.4.1887, 3.

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Umiejętności unbedingt in dem Komitee vertreten sein müsse, andernfalls würde sein Fehlen im gesamten Land einen merkwürdigen Eindruck erwecken. Majer gab schließlich nach.158 Ein weiterer Vertreter der Krakauer Hochschulen entzog sich den Beisetzungsfeierlichkeiten gänzlich: Stanisław Tarnowski, Rektor der Jagiellonenuniversität und damit der ältesten polnischen Universität, begab sich Anfang April 1887 zu einem längeren Kuraufenthalt in den Süden, von wo er erst im Mai wieder zurückkehren sollte.159 Die daraus resultierende zwangsläufige Abwesenheit Tarnowskis bei Kraszewskis Beisetzung war insofern pikant, als die Jagiellonenuniversität Kraszewski anlässlich des Jubiläumjahres 1879 die Ehrendoktorwürde verliehen hatte. Kraszewski hätte in den 1860er Jahren beinahe den Lehrstuhl für Literaturwissenschaften an der Jagiellonenuniversität erhalten, den jedoch schließlich Stanisław Tarnowski erhielt.160 Dass sich die beiden auch weltanschaulich so unterschiedlichen Konkurrenten  – Tarnowski gehörte den Konservativen Krakauer Stańczyken an  – gegenseitig nicht wohlgesonnen waren, hatte sich bereits im Jubiläumsjahr 1879 gezeigt. Tarnowski hatte zu denjenigen gehört, die im Vorfeld der Krakauer Veranstaltungen von Kraszewski ein öffentliches Bekenntnis zur katholischen Kirche verlangt hatten.161 Schon damals trug er sich mit dem Gedanken, der Veranstaltung fernzubleiben.162 Tarnowski war offenbar nicht zögerlich, unliebsame Feierlichkeiten zu meiden: Am 29. März 1887 – und damit genau zwischen Kraszewskis Tod und dessen Beisetzung – starb Jakób Girtler, Professor für Rechtswissenschaften an der Jagiellonenuniversität. Noch am selben Tag lud der Vizerektor Józef Łepkowski Studenten und Professoren dazu ein, zahlreich an der Beisetzung Girtlers am 31.  März 1887 teilzunehmen,163 doch erschienen dazu am Ende nur ein Dutzend der insgesamt 90 Professoren der Universität, was den repräsentativen Charakter der Beisetzung deutlich schmälerte, ebenso wie die Abwesenheit des Rektors Tarnowski und der Umstand, dass die Universitätsbehörden den anwesenden Professoren nicht die Zepter als Zeichen

158 Śmierć J. I. Kraszewskiego. In: Nowa Reforma Nr. 67 vom 23.3.1887, 2. 159 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 76 vom 3.4.1887, 2. 160 Danek: Józef Ignacy Kraszewski 241–243. 161 Ebd. 294. Kraszewski schrieb dazu: »Sie wollten sogar von mir ein lautes Bekenntnis des Glaubens und der Deprekation. Ich konnte mich nicht damit einverstanden erklären, dass ich es aus Nutzen oder Angst hätte tun sollen; und weil sie mir viel vorwerfen und fühlen, dass sie mich nicht in der Hand haben, werden sie nachgeben.« 162 Ebd. 287 und 294. So empfahl der Priester Walerian Kalinka Tarnowski, während der Feierlichkeiten nach Paris zu reisen. Auch Kraszewski wusste von den Plänen einiger Stańczyken, die Stadt während der ihm gewidmeten Feier zu verlassen. Ob diese Pläne jedoch tatsächlich realisiert wurden, ist nicht notiert. 163 Brief Łepkowskis an die Professoren und Universitätsangehörigen vom 29.3.1887 sowie Brief Łepkowskis an die Universitätsjugend. Archiwum Uniwersytetu Jagiellońskiego (weiter AUJ), S II 619, L. 279.

166  Der nicht alltägliche Tod der Professorenwürde ausgehändigt hatten.164 Offenbar handelte es sich dabei um eine postmortale Strafe am Verstorbenen, die ihren deutlichsten Ausdruck darin fand, dass der Krakauer Bischof die Teilnahme der Geistlichkeit an der Beisetzung untersagt hatte.165 Girtler, der für seine nonkonformen Stellungnahmen bekannt war,166 war vermutlich zu Lebzeiten wider die kirchliche Lehrmeinung aufgetreten. Ob er jedoch Freidenker oder bekenntnislos war, lässt sich anhand der spärlichen Quellenlage nicht rekonstruieren.167 Mit dieser Episode hatten der Krakauer Bischof und Tarnowski, Vertreter der Krakauer Oberschicht und der Krakauer Stańczyken, gezeigt, dass sie durchaus geneigt waren, deviantes Verhalten mit Entzug des christlichen Begräbnisses sowie dem Verweigern postmortaler Ehrerweisungen zu quittieren. Nachdem in der städtischen Öffentlichkeit bekannt geworden war, dass die Beisetzung Kraszewskis in der Krakauer Oberschicht Gegner hatte, herrschte Misstrauen gegenüber dem Vorbereitungskomitee und den Behörden. Als die 164 Listy z kraju. In: Kurjer Lwowski Nr. 97 vom 3.4.1887, 3. Kronika. In: Nowa Reforma Nr. 76 vom 3.4.1887, 3. 165 Der Hinweis, dass die Beisetzung auf Anordnung des Bischofs ohne Geistlichkeit stattfand, findet sich im Protokoll der Senatssitzung vom 6.4.1887. AUJ, S II 82. Bei der Sitzung hatten einige Professoren das Fehlen der Zepter bei der Beisetzung Girtlers beklagt. Auffällig ist zudem, dass der konservative Czas in seinen Spalten weder den Tod noch die Beisetzung Girtlers erwähnte, der als Professor der Jagiellonenuniversität immerhin einer der wichtigsten Institutionen in der Stadt und im Land angehörte. 166 Welche Positionen den Unmut des Bischofs auf sich gezogen hatten, lässt sich anhand der Quellenlage leider nicht sagen. In seinen im AUJ aufbewahrten Personalakten (Signatur S II 619 und Signatur WP II 138) finden sich keine Notizen zu etwaigen politischen oder theologischen Stellungnahmen. Die dem Verstorbenen offenkundig wohl gesonnenen demokratischen Zeitungen äußerten sich nur sehr allgemein. »Nowa Reforma« lobte, dass er seine Meinung immer kühn vertreten habe (Kronika. In: Nowa Reforma Nr.  72 vom 30.3.1887, 2). Die satirisch ausgerichtete Zeitung Djabeł schrieb, der Verstorbene sei bekannt für das Sprechen der Wahrheit gewesen (Uwagi śledziennika. In: Djabeł Nr. 7 vom 5.4.1887, 6). Laut dem »Polski Słownik Biograficzny« sei Girtler Anhänger der Altkatholiken gewesen. Wäre Girtler jedoch tatsächlich Altkatholik gewesen, wäre er von einem altkatholischen Geistlichen bestattet worden. Daher steht eher zu vermuten, dass Girtler Positionen vertrat, die Berührungspunkte mit denen der Altkatholiken hatten. Laut einem Handbuch über »Religiöse Sekten im zeitgenössischen Polen« (Sekty religijne w Polsce współczesnej) bestanden in Polen zwar Gemeinschaften, die sich altkatholisch nannten, aber nicht mit der in Deutschland entstandenen altkatholischen Kirche identisch waren. In Krakau gründete sich im Jahr 1925 eine Gemeinde, die sich altkatholisch nannte und für kurze Zeit bestand. Siehe Grelewski, Stefan: Wyznania protestanckie i sekty religijne w Polsce współczesnej. Lublin 1937, hier 426 und 434–436. Die Möglichkeit, dass Girtler Suizid begangen habe, und der Bischof deswegen eine christliche Beisetzung verbot, ist auszuschließen, da sich dazu in den Schreiben bezüglich der Witwenpension für Girtlers Gattin keinerlei Hinweise befinden. Siehe AUJ, Signatur S II 619, diverse Schreiben. 167 Laut Kurjer Lwowski war Girtler bekenntnislos und hatte selbst keinen geistlichen Beistand bei seiner Beisetzung gewünscht, siehe Listy z kraju. In: Kurjer Lwowski Nr. 97 vom 3.4.1887, 3.

Grabeskämpfe 167

Krypta der Piaristenkirche, in welcher der Leichnam Kraszewskis nach seiner Ankunft in Krakau bis zur Beisetzung aufgebahrt worden war, aus hygienischen Gründen nach dem Tag der Ankunft verschlossen blieb,168 führte dies zu allerlei Spekulationen. Schließlich, so das Argument, war der Leichnam des Schriftstellers in zwei ineinander gestellten verlöteten Särgen aufgebahrt worden und ein Arzt in Genf hatte die Unschädlichkeit bescheinigt.169 Von den vordergründigen hygienischen Argumenten wollten sich nicht alle überzeugen lassen. So berichtete der Dziennik Polski, dass viele mutmaßten, die Schließung der Krypta sei auf die Kreise zurückzuführen, für die Kraszewski immer noch der »Inbegriff der Illoyalität« sei, sprich diejenigen, die den Vorwurf der Spionage als berechtigt ansahen und Kraszewski zur Last legten.170 Der Statthalter erinnerte jedoch daran, dass Beisetzungen in Kirchen seit längerer Zeit verboten waren, die Zentralregierung deswegen auch Schwierigkeiten bereite und der Leichnam Kraszewskis daher der letzte sei, der in der Krypta beigesetzt werde.171 Nowa Reforma jedoch argumentierte später, die Anfrage beim Statthalter sei rechtlich nicht notwendig gewesen und aus bloßem Servilismus erfolgt. Schließlich sei bereits in Genf bescheinigt worden, dass Kraszewski nicht an einer ansteckenden Krankheit gestorben und damit der Leichnam unschädlich sei.172 Tatsächlich sahen sich die Zeitgenossen mit einem gewissen Widerspruch zwischen dem Leichnam als eine Art nationaler Reliquie und dem Leichnam als hygienische Gefahrenquelle konfrontiert: Der Leichnam Kraszewskis sollte zwar aus politischen Gründen unbedingt nach Krakau gebracht werden, aus sanitärpolitischer Sicht war dies jedoch genehmigungspflichtig. Denn hygienische Vorschriften machten auch vor einem nationalen Heros nicht Halt. So musste vor der Überführung in Genf ein Arzt versichern, dass Kraszewski an keiner ansteckenden Krankheit gestorben und sein Leichnam ordnungsgemäß einbalsamiert worden war.173 Auch die zeitweilige Aufbahrung in der Piaristenkirche sowie die dauerhafte Beisetzung in der Krypta der Verdienten bedurften einer Genehmigung des Statthalters in Lemberg,174 der diese auch erteilte. Ab dem 16. April war die Krypta wieder für die Öffentlichkeit zugänglich und trotz des schlechten Wetters gut besucht.175 168 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 78 vom 6.4.1887, 2. 169 Ostatnie wiadomości. In: Gazeta Narodowa, Nr. 81 vom 9.4.1887, 3. 170 Korespondencje. In: Dziennik Polski Nr. 99 vom 9.4.1887, 1. 171 Ostatnie wiadomości. In: Gazeta Narodowa, Nr.  81 vom 9.4.1887, 3.  Damit sollte der Statthalter jedoch nicht recht behalten. Die bislang letzte Beisetzung in der Krypta der Verdienten war die des Dichters, Literaturwissenschaftlers und Nobelpreisträgers Czesław Miłosz im Jahr 2004. 172 Nasza »straż pożarna«. In: Nowa Reforma Nr. 95 vom 27.4.1887, 1. 173 Brief des Stadtarztes Jan Buszek vom 6.4.1887. APwK, Uroczystości krakowskie, Akta Kraszewskiego, ohne Paginierung. 174 Korespondencje. In: Dziennik Polski Nr. 92 vom 2.4.1887, 1. 175 Kronika. In: Nowa Reforma Nr. 86 vom 16.4.1887, 2.

168  Der nicht alltägliche Tod Die Wiener Zentralregierung, ohne deren Zustimmung die Überführung der Leiche Kraszewkis nach Krakau nicht möglich gewesen wäre, stand der Translation und Beisetzung nicht nur aus sanitärpolitischen Gesichtspunkten skeptisch gegenüber, sondern auch wegen des politischen Gehaltes, schließlich würde die Beisetzung zweifelsohne eine nationalpolnische Feierlichkeit darstellen. Zudem war die Überführung zugleich eine diplomatische Angelegenheit: Dem österreichischen Bündnispartner Preußen war Kraszewski wegen des Vorwurfes des Hochverrates eine Persona non grata, was auch über Kraszewskis Tod hinaus gültig blieb: So erlaubten es deutsche Behörden nicht, dass der Zug, der Kraszewskis Leichnam von Genf nach Krakau bringen sollte, durch deutsche Lande fahre, weswegen der Zug über Wien geleitet werden musste.176 Schlussendlich entschieden sich die österreichischen Behörden zwar, die Funeral­feiern für Kraszewski zu erlauben, verboten aber zugleich allen kaiserlich-königlichen Institutionen, geschlossen bei der Trauerfeier aufzutreten, was unter anderem zur Folge haben sollte, dass die Angehörigen der Jagiellonen­universität nicht als solche auftreten konnten.177 Mit Rücksicht auf Russland wurde offenbar beschlossen, dass die Sibiraken, eine Vereinigung von aus dem sibirischen Exil zurückgekehrten Polen, ebenfalls nicht als geschlossene Vereinigung bei der Beisetzungsfeier erscheinen durften. Beides sorgte in liberalen Kreisen für Kritik und Unverständnis.178 Die von Österreich-Ungarn verordnete Zurückhaltung spiegelte sich außerdem in der Auswahl der Ansprachen wider: Als Redner waren im ersten Programmentwurf – neben dem Prediger – zunächst nur zwei weltliche Vertreter aus Krakau vorgesehen – Feliks Szlachtowski als Stadtpräsident und Józef Majer als Vertreter der in Krakau ansässigen Akademia Umiejętności. Ein Vertreter der Literatur aus Warschau sollte noch ernannt werden,179 was aber im tags darauf veröffentlichten Programm in den Zeitungen nicht geschah.180 Szlachtowski und Majer galten als ebenso repräsentative wie unproblematische Redner: Szlachtowski würde die Stadt Krakau repräsentieren und von Majer, der als Präses der Akademia Umiejetności sprechen würde und dem Verstorbenen ohnehin verhalten gegenüberstand, waren kaum politische Provokationen zu erwarten. Anders verhielt es sich mit der Universitätsjugend, die sich das Rederecht bei Kra­ szewskis Beisetzung mit Hilfe einer Petition, die 200 Personen unterschrieben hatten, zu erstreiten suchte. Vermutlich aus Sorge vor politischen Radikalismen 176 Ostatnie lata i zgon Kraszewskiego. In: Biesiada Literacka Nr. 30 vom 27.7.1912, 70–74, hier 74. 177 Danek: Pisarz wciąż żywy 107. 178 Nasza »straż pożarna«. In: Nowa Reforma Nr.  95 vom 27.4.1887, 1.  Dumanie pana­ Jacentego. In: Djabeł Nr. 9 vom 4.5.1887, 1–2. 179 Kronika miejscowa. In: Kurier Krakowski Nr. 80 vom 8.4.1887, 1–2. 180 Kronika. In: Nowa Reforma Nr.  81 vom 9.4.1887, 2.  Kronika miejscowa. In: Kurier Krakowski Nr. 81 vom 9.4.1887, 2.

Grabeskämpfe 169

lehnte die Mehrheit des Vorbereitungskomitees den Antrag ab.181 Die Akademiejugend in Lemberg wie in Krakau gehörte zu den glühendsten Befürwortern der Beisetzung Kraszewskis in Krakau. Als der Leichnam in Krakau eintraf – was vorher nicht allgemein bekannt gegeben worden war –, erschien die Akademiejugend dennoch am Bahnhof, um den im Wagen mit der deutschen Aufschrift »Leiche« transportierten Leichnam des Dichters in Empfang zu nehmen. Die jungen Akademiker verliehen ihrer Begeisterung Ausdruck, indem sie die Pferde vom Leichenwagen loszäumten und an ihrer statt selbst den Wagen zogen.182 Dass der Jugend schlussendlich doch noch das Wort erteilt wurde, hatte sie der Hartnäckigkeit der Lemberger Repräsentanten zu verdanken, die sich ebenfalls um das Rederecht bei der symbolträchtigen Beisetzung bemühten. Der Lemberger Stadtpräsident Edmund Mochnacki hatte den Krakauer Stadtpräsidenten in einem Brief darum gebeten, einen Vertreter Lembergs sprechen zu lassen, doch der Brief blieb unbeantwortet, was sich als ein Hinweis auf die Städtekonkurrenz zwischen Krakau und Lemberg lesen lässt.183 Die Lemberger Delegegation, die am 17. April in Krakau eingetroffen war, suchte daher das persönliche Gespräch mit dem Stadtpräsidenten, um kurzfristig noch einen Vertreter Lembergs auf die Rednerliste setzen zu lassen. Stadtpräsident Szlachtowski sei, so berichteten Lemberger Zeitungen, sehr unfreundlich gewesen. Das Argument der Lemberger Delegation, dass ein Redner aus der Hauptstadt angebracht sei, lehnte er mit dem Hinweis ab, dass das Programm bereits in seiner jetztigen Form vom Statthalter genehmigt worden sei und daher nicht mehr verändert werden könne. Ein freundlicher Empfang hingegen wurde der Lemberger Delegation vom ehemaligen Krakauer Stadtpräsidenten Ferdynand Weigel bereitet, der wie Szlachtowski aus Lemberg stammte.184 Vielleicht war er mitverantwortlich, dass sich schließlich auf Drängen der Lemberger Delegation das Vorbereitungskomitee bei seiner Sitzung am Nachmittag dazu entschloss, einen Lemberger Vertreter – Professor Gustaw Roczkowski – sprechen zu lassen. Zugleich entschied das Komitee, mit Władysław Leopold Jaworski einen Vertreter der Jugend auf die Rednerliste zu setzen und erteilte die Rede zudem dem Warschauer Schriftsteller Adam Pług (Pseudonym von Antoni Pietkowski),185 der seinerzeit die Idee gehabt hatte, Kraszewski anlässlich seines 50-jährigen Schaffens als Schriftsteller mit einer großen Feier zu ehren. 181 Kronika. In: Nowa Reforma Nr.  83 vom 13.4.1887, 2.  Kronika. In: Dziennik Polski Nr. 103 vom 14.4.1887, 2. 182 Listy z kraju. In: Kurjer Lwowski Nr. 98 vom 8.4.1887, 1–2. 183 Zur Konkurrenz zwischen Krakau und Lemberg fehlt noch eine eigenständige Arbeit, siehe zu dem Punkt: Prokopovych, Markian: Habsburg Lemberg. West Lafayette 2009, hier 172–174. 184 Pogrzeb J. I. Kraszewskiego. In: Gazeta Narodowa Nr. 88 vom 19.4.1887, 1–3, hier 1–2. 185 Bericht des Kurjer Lwowski, zitiert in: Echa z pogrzebu ś.p. J. I. Kraszewskiego. In: Nowa Reforma Nr. 90/91 vom 22.4.1887, 3.

170  Der nicht alltägliche Tod Damit die Reden keine politischen Provokationen an die Adresse der Teilungsmächte enthielten, sollten sie einer Zensur unterzogen werden. Ein bei der Sitzung des Vorbereitungskomitees anwesender Polizeikommissar verlangte, die Reden vorher einzusehen, um unter anderem sicherzustellen, dass nicht über Kraszewskis Gefangenschaft in Magdeburg geredet werden würde.186 Während Jaworski und Pług sich dieser Forderung beugten, empfand Roczkowski diese Maßgabe jedoch als unzumutbar. Laut dem Kurjer Lwowski soll sich­ Roczkowski der Zensur mit dem Hinweis, dass die Reden der beiden Krakauer Repräsentanten keiner vorherigen Kontrolle unterliegen, verweigert haben.187 Was einerseits in Lemberger und Krakauer demokratischen Zeitungen als Zumutung beschrieben wurde, war andererseits die conditio sine qua non für die feierliche Beisetzung Kraszewskis in Krakau, da andernfalls die Wiener Zentralregierung nicht die erforderliche Zustimmung erteilt hätte.

2.2.5 Frommes Sterben als Bedingung für ein kirchliches Grab Neben der Zustimmung der Wiener Zentralregierung war ein zweites Einverständnis unabdingbar für eine prachtvolle Beerdigung: das der Kirchenhierarchie. Dass Kraszewski sich als Kritiker des Vatikanischen Konzils exponierte hatte, hinderte den hohen und niederen Klerus nicht daran, nach seinem Tod in großen und kleinen Städten Trauermessen für den Verstorbenen zu lesen.188 Insofern konnte auch die kirchliche Begräbnisfeier und die Beisetzung in einer Kirche als selbstverständlich erscheinen; doch war hier ein kirchenrechtliches Problem vorgelagert: Wer als Katholik hartnäckig ein von der katholischen Kirche vorgelegtes Dogma ablehnt, gilt als Häretiker – mit Konsequenzen, die auch heute noch die Verweigerung eines christlichen Begräbnisses einschließen.189 Anders als heute wurde im 19. Jahrhundert auch demjenigen ein christliches Begräbnis vorenthalten, der Häretiker begünstigte190 oder der Kirche durch sein Verhalten Schaden zugefügt hatte.191 Das alles galt nicht mehr, wenn der Verstorbene vor seinem Tod Reue für seine Verfehlungen gegenüber dem römischkatholischen Glauben gezeigt hatte. Sichtbares Zeichen dafür war der Empfang 186 Pogrzeb J. I. Kraszewskiego. In: Gazeta Narodowa Nr. 88 vom 19.4.1887, 1–3, hier 1–2. 187 Bericht des Kurjer Lwowski, zitiert in: Echa z pogrzebu ś.p. J. I. Kraszewskiego. In: Nowa Reforma Nr. 90/91 vom 22.4.1887, 3. 188 Nach Kraszewskis Tod waren die Nachrichtenspalten in den polnischen Zeitungen voll von Meldungen über Gedenk- und Trauergottesdienste, die für Kraszewski nicht nur in großen und kleinen polnischen Städten, sondern auch im Ausland unter polnischen Emigranten gefeiert wurden. 189 Can. 1184 des Codex des Kanonischen Rechts von 1983, URL: http://www.vatican.va/ archive/DEU0036/__P4C.HTM (am 27.9.2013). 190 Hollweck, Joseph: Die Kirchlichen Strafgesetze. Mainz 1899, hier 152 f. 191 Krukowski: Teologia pasterska katolicka 620 f.

Grabeskämpfe 171

der Sterbesakramente und der damit einhergehende Bußakt. Bestanden Zweifel daran, ob eine Beerdigung zu gewähren war oder nicht, dann musste im Sinne der Barmherzigkeit die Beisetzung gestattet werden. Dass Unsicherheiten hinsichtlich Kraszewskis kirchlicher Beisetzung bestanden, zeigt ein Schreiben eines Pfarramtes an das Krakauer Konsistorium mit der Bitte um Auskunft, ob Trauergottesdienste für Kraszewski gestattet werden können.192 Wie bereits im Vorfeld der Jubiläumsfeier von 1879 manifest geworden war, als Kraszewski seine Abneigung gegenüber dem ultramontanen Katholizismus bekräftigt hatte, war das Verhältnis Kraszewskis zur katholischen Hierarchie sehr angespannt. Schließlich hatte Kraszewski sich selbst zur »unfehlbaren Autorität und zum Richter in polnischen und kirchlichen Fragen«193 erhoben und sich als Sprachrohr des liberalen Lagers wie als Papstgegner in der publizistischen Debatte vor allem um das Vatikanische Konzil exponiert. Aus kirchlicher Sicht eignete er sich daher kaum, zu den wenigen Auserwählten zu zählen, denen die Beisetzung in einer Kirche zuteil wurde. Doch so sehr dem Krakauer Bischof und anderen ranghohen Kirchenvertretern Kraszewski als Sprachrohr des polnischen liberalen Lagers zuwider sein mochte, so hatten sie doch zwei gewichtige Gründe, ihm ein christliches und obendrein sehr prachtvolles Begräbnis zu gewähren: Erstens hätten sie nachweisen und beweisen müssen, warum Gründe bestanden, die Beisetzung zu verweigern. Zweitens hätte eine Verweigerung eine große Entrüstung in der polnischen Öffentlichkeit provoziert. Tatsächlich schienen sich im Fall Kraszewskis alle Vorbehalte in Wohlgefallen aufzulösen. Kurz nach seinem Tod erschien in den unterschiedlichen polni­ schen Zeitungen die Meldung, dass Kraszewski versehen mit den letzten Sakramenten verschieden sei.194 Insofern bestand für die Geistlichkeit in Krakau kein Hindernis, ihre Teilnahme an der Beisetzung zuzusagen. Der mit Beschluss vom 31.  März  1887 eingeladene Bischof Albin Dunajewski195 bestätigte am 7. April seine Teilnahme an der Beerdigung und gestattete, das Requiem in der Marienkirche zu feiern. Die Piaristen bewilligten die zeitweilige Aufbahrung in ihrer Kirche im Zentrum Krakaus und die Pauliner gewährten die dauerhafte Beisetzung in der Krypta der Michaelskirche.196 Für die katholische Geistlichkeit bedeutete dies in zweierlei Hinsicht eine Erleichterung: Erstens konnte sie sich der allgemeinen Trauer für den verstorbenen Schriftsteller anschließen, dem prachtvollen Begräbnis in Krakau zustimmen und lief so nicht Gefahr, allgemeinen Unmut auf sich zu ziehen. Da der 192 Eintrag 1185. AKM, Protokoł Czynności z roku 1887. 193 Matusik: »Nadeszła epoka przejścia…« 369. 194 Im Krakauer Czas erschien die Nachricht beispielsweise am 24.3.1887. Siehe Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 68 vom 24.3.1887, 2. 195 Kronika miejscowa. In: Kurier Krakowski Nr. 74 vom 1.4.1887, 1–2. 196 Protokoll des Beerdigungskomitees vom 31.3.1887. APwK, Uroczystości krakowskie, Akta Kraszewskiego, ohne Paginierung.

172  Der nicht alltägliche Tod Verstorbene nicht länger im Widerspruch zur katholischen Kirche stand, ließ sich zweitens die Begeisterung für Kraszewski in eine katholische Lesart überführen. Das tat beispielsweise Ludwik Dębicki, Redakteur der Krakauer Zeitung Czas, der seinen mehrteiligen Nachruf auf Kraszewski mit einer romantischen Darstellung von dessen Sterbestunde beschloss: … als er nach Genf kam, war seine erste Forderung ›Ruft einen Priester.‹ Als der Tod sich näherte, sagte er: ›Richtet mich auf‹. Als man ihn auf Kissen aufrichten wollte, sagte er ›nicht den Körper, erhebt den Geist!‹…. Und das waren seine letzten Worte. In diesem Moment müssen vor dem Geist des Sterbenden die Gestalten derer gestanden haben, mit denen ihn der Glaube und die Liebe zu Gott verband – der Priester Stanisław Chołoniewski, ein Freund aus seiner Jugendzeit, Bronisław Zaleski seligen Andenkens, ein gottesfürchtiger Mann und ein bis zu seinem Tod naher Vertrauter Kraszewskis, und das gesamte Gefolge verwandter Geister, unter ihnen ein Schützling, heute ein Exilant Erzbischof Feliński… Sie hat er ringsum gesucht, damit sie ihn zu Gott empor heben. ›Erhebt den Geist,‹ rief mit seinem letzten Atemzug Józef Ignacy Kraszewski. Das war sein sursum corda, mit dem er das Leben verabschiedete und den Todesengel begrüßte.197

Dębicki stellte Kraszewski damit in eine Reihe von Männern, bei denen sich polnischer Patriotismus, traditionelle Frömmigkeit und Kirchentreue die Waage gehalten hatten. Damit zähmte Dębicki zugleich Kraszewskis Positionen und stilisierte ihn posthum zu einer Person, die sich bedenkenlos in den katholischen Kosmos einfügen ließ. Zu diesem sehr intimen Einblick in Kraszewskis Sterbestunde hatte sich Dębicki offenbar durch die Meldung vom Empfang der letzten Sakramente verleiten lassen sowie von der in den polnischsprachigen Zeitungen verbreiteten Nachricht, die letzten Worte des Dichters seien »Erhebt den Geist« gewesen. Die Szene, die Dębicki hier zeichnet, ist zugleich auch ein Paradebeispiel für das Ideal des schönen und romantischen Todes seines Jahrhunderts: Der Sterbende verabschiedet sich vom Diesseits und den Menschen, die ihm im Diesseits nahestehen, um im Jenseits mit denen wieder vereint zu werden, die ihm vorausgegangen sind.198 Von den Menschen, die Dębicki hier nennt, waren Stanisław Chołoniewski, ein katholischer Priester und Romanautor, sowie Bronsiław Zaleski, ebenfalls ein Schriftsteller, bereits verstorben. Dass der damals noch lebende Erzbischof Feliński, heute ein kanonisierter Heiliger, auch in Kraszewskis innerer Vision auftauchte, sollte wohl die Gemeinschaft der Gläubigen im Leben und Tod betonen. Hierin spiegelt sich auch die große Bedeutung wider, die den letzten Worten und der Sterbestunde zugeschrieben wurde. Hier, da es nichts mehr zu beschönigen galt, da jemand sein letztes Vermächtnis niederlegte, zeige sich, so die 197 Dębicki, Ludwik: Józef Ignacy Kraszewski. In: Czas Nr. 70 vom 27.3.1887, 1–2. 198 Ariès: Geschichte des Todes 521–585.

Grabeskämpfe 173

allgemeine Annahme, das wahre Ich, die tatsächliche Summe eines Lebens.199 Aus christlicher Sicht war sie gerade bei abtrünnigen, kritischen oder auch religiös unentschlossenen großen Geistern von Bedeutung. Die Sterbestunde erwies sich insbesondere in diesen Fällen als ein Schlüssel zur retrospektiven korrekten Interpretation des gesamten Lebens. In diesem Fall hieß das: Wie weit Kraszewski sich zu Lebzeiten auch von der offiziellen Kirchendoktrin entfernt haben mag, schlussendlich war er doch ein frommer und treuer Katholik und dieser Vorstellung verlieh Dębicki mit der imaginierten Sterbestunde Ausdruck. Ebenso ließ sich Kraszewskis Bekenntnis zur katholischen Kirche, welches er 1879 in Dresden abgelegt und dann in Teilen revidiert hatte, nun als die eigentliche Haltung des Verblichenen zur una sancta darstellen.200 Dabei war der Topos der siegreichen Kirche, der sich hinter Dębickis Ausführungen zeigte, allgemein verbreitet; ungewöhlich hingegen ist die Innenperspektive des Sterbenden, von der Dębicki, der für seine Nekrologe bekannt war, meinte Kenntnis zu haben und sie mit der Öffentlichkeit teilen wollte. Doch stand diese katholische Interpretation von Kraszewskis Tod auf keinem festen Fundament, wie sich schon bald zeigen sollte. Eine ausführliche Darstellung von Kraszewskis Tod veröffentlichte der in der Schweiz lebende Schriftsteller und Begründer der Polnischen Liga Zygmunt Fortunat Miłkowski (1824– 1915), auch bekannt unter dem Pseudonym Teodor Tomasz Jeż201, in der »Gazeta Warszawska« (»Warschauer Zeitung«).202 Jeż erwähnte in seinen ausführlichen Schilderungen der Sterbestunde nicht den Empfang der Sterbesakramente.203 Diese Auslassung ließ die in Warschau erscheinende katholische Zeitung »Prze­ gląd Katolicki« (»Katholische Rundschau«) misstrauisch werden, die daraus bald die – wie sich später herausstellen sollte – richtigen Schlüsse zog: An Kraszewskis Sterbebett war kein Priester getreten.204 Diese Vermutung führte jedoch nicht dazu, dass die Mehrheit der Katholiken sich gegen Kraszewski gewandt

199 Die letzten Worte sowie materielle Erinnerungsstücke wie Todesmasken waren ein wichtiger Bestandteil der Biographie und der Erinnerung an den Verstorbenen. Eine komparatistische Analyse der letzten Worte stellt noch ein Forschungsdesiderat dar. Zur material culture des Todes siehe Richter, Isabel: Der phantasierte Tod. Bilder und Vorstellungen vom Lebensende im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2010. 200 Ś.p. Józef Ignacy Kraszewski. In: Przegląd Katolicki Nr 13 vom 31.3.1887, 199. 201 Mit diesem Namen wird er auch in den Quellen sowie vom Kraszewski-Biographen Danek genannt. 202 Jeż, Teodor Tomasz: Ostatnie chwile Kraszewskiego. In: Gazeta Warszawska Nr. 79 vom 26.3.1887, 1 f. 203 Danek: Pisarz wciąż żywy 102. 204 Damit hatte das Blatt die Andeutung in der Darstellung von Jeż richtig gelesen, der aufgelistet hatte, wer alles in den letzten Stunden bei Kraszewski anwesend war, und dann hinzufügte: »weiter  – niemand«. Siehe Notatki z prassy perjodycznej. Świadectwo Jeża o śmierci Kraszewskiego. In: Przegląd Katolicki Nr. 15 vom 14.4.1887, 234 f.

174  Der nicht alltägliche Tod hätte.205 So leicht wollte man die Stilisierung von Kraszewskis Rechtgläubigkeit nicht aufgeben. Typischer ist vielmehr die Haltung, die der Przegląd Katolicki an den Tag legte: Die Ursachen für das Versäumnis wurden nicht in Kraszewskis Haltung zur katholischen Kirche gesucht, sondern in dem Umfeld, das Kraszewski in der Sterbestunde umgeben hatte. Mit den Worten »Erhebet den Geist« habe Kraszewski nach einem Priester verlangt, nur sei dieser Wunsch von seiner Entourage, die sich lediglich mit der Pflege des Leibes begnügt habe, nicht verstanden worden.206 Dass die Wahl seiner Entourage auch Rückschlüsse auf Kraszewskis Geisteshaltung erlaubte, bedachten die Autoren des Przegląd Katolicki nicht. Dabei ist schon allein die Tatsache, dass sich Kraszewski, wenn auch nur kurzfristig, in Genf aufgehalten hat, bemerkenswert: Das Genf des späten 19. Jahrhunderts war ein Sammelpunkt für Freidenker. Hier ansässige polnische Exilanten gaben die Zeitung »Gmina« (»Gemeinde«) heraus, in der der Einfluss der katholischen Kirche auf die polnische Gesellschaft in Vergangenheit und Gegenwart als schädlich betrachtet wurde.207 Eine weitere Möglichkeit wurde öffentlich nicht diskutiert: dass Kraszewski selbst schlicht nicht nach den Sakramenten verlangt haben könnte. Denn das hätte bedeutet, dass Kraszewski nicht mit einem prachtvollen kirchlichen Begräbnis hätte beigesetzt werden können. Mehr noch, es hätte den Schluss nahegelegt, dass ein in Polen viel gelesener und beliebter Schriftsteller, der im Inland als moralische Autorität galt und im Ausland als Vertreter Polens wahrgenommen wurde, möglicherweise gegenüber den katholischen Heilsgütern und damit letztlich gegenüber dem katholischen Glauben indifferent war, und deswegen vielleicht in Zukunft als Gewährsmann für einen säkularen Nationsentwurf und ein säkulares Weltbild hätte dienen können.

205 Insofern ist die von Kraszewskis Biographen Danek geäußerte Behauptung, die klerikale Presse habe, weil dieser die letzten Sakramente nicht empfangen hatte, eine Kampagne gegen Kraszewski organisiert (Danek: Pisarz wciąż żywy 85), unzutreffend und verrät mehr über die Zeit, in der Danek schrieb, als über die Ereignisse des Jahres 1887. Eine wirkliche Kampagne lässt sich in der katholischen Presse nicht ausmachen. Vielmehr werden die genauen Umstände der Todesstunde gar nicht angesprochen oder die Ursachen für das Versäumnis in Kraszewskis Umfeld, nicht aber bei Kraszewski selbst gesucht, oder aber im äußersten Fall Kraszewski distanziert betrachtet (wie in der Zeitschrift der Krakauer Jesuiten Przegląd Powszechny). 206 Notatki z prassy perjodycznej – W jakim niefortunnem otoczeniu Kraszewski umierał. In: Przegląd Katolicki Nr. 18 vom 5.5.1887, 278–282. 207 Landgrebe, Alix: »Wenn es Polen nicht gäbe, dann müßte es erfunden werden«. Die Entwicklung des polnischen Nationalbewußtseins im europäischen Kontext. Wiesbaden 2003, hier 107.

Grabeskämpfe 175

2.2.6 »Es wird ihm in diesem Grab gut gehen« – die Beisetzung Kraszewskis Kraszewski erhielt nicht nur ein ehrenvolles christliches, sondern auch ein königliches Begräbnis. An einem kalten Apriltag, an dem sich leichter Schnee und Regen abwechselten und das Tragen eines Regenschirms unvermeidlich machten, wurde Kraszewski zu seiner letzten Ruhestätte in der Krypta der Verdienten getragen. Von den Häusern wehten schwarze Fahnen, die Laternen waren mit Trauerflor überzogen.208 Auch im jüdischen Stadtteil Kazimierz waren viele Häuser schwarz beflaggt. Dort wie im übrigen Krakau blieben die Geschäfte geschlossen.209 Schon in den frühen Morgenstunden füllten Menschen die Straßen, Schnee fiel auf die wartende Menge. Die ersten Trauergäste, die es geschafft hatten, eine der gefragten, kostenlos ausgegebenen Eintrittskarten zu erhalten, strömten bereits in die Marienkirche. Um die Karten, die einige reservieren durften, für die andere aber in einem Büro in den Tuchhallen hatten anstehen müssen, hatte es Rangeleien gegeben. Die Zahl der Interessierten war weitaus höher als die der Karten: So standen in der Marienkirche 600 Plätze zur Verfügung, um die sich 8000 Interessierte beworben hatten.210 Unter den Trauer­gästen fanden sich viele Frauen, die überwiegend das Lesepublikum Kraszewskis dargestellt hatten: Sie gehörten zu den ersten, die um acht Uhr morgens die Marienkirche füllten. Auch auf den Terrassen der Tuchhallen, wo sie eine Beobachterposition hatten, waren überwiegend Frauen.211 Sie trugen Trauerkleidung, viele der Männer Nationalkleidung.212 In den Straßen waren weit mehr Besucher, als in der Marienkirche und auf den Terrassen der Tuchhallen Platz fanden. Manche Schätzungen gingen von 30 000 Besuchern,213 andere gar von 50 000 Besuchern214 aus, die aus allen Teilungsgebieten sowie aus dem übrigen Ausland angereist waren und nun in Krakaus Zentrum strömten. Der erste offizielle Programmpunkt war eine Versammlung um acht Uhr morgens in der Kirche des Piaristenordens, der Kirche von der Verklärung des Herrn, in der Krakauer Altstadt, wo der Leichnam des Schriftstellers aufgebahrt worden war. Zur Krypta der Piaristen hatten nur die Stadtratsmitglieder von Krakau und Lemberg, der Delegat des Landesausschusses und die Familie­ 208 Pogrzeb J. I. Kraszewskiego. In: Czas Nr. 88 vom 19.4.1887, 1–2. 209 Ebd. Pogrzeb ś.p. J. I. Kraszewskiego. In: Nowa Reforma Nr. 88 vom 19.4.1887, 2–3. 210 Kronika miejscowa. In: Kurier Krakowski Nr. 86 vom 16.4.1887, 2. Z. Fg: Pogrzeb J. I. Kraszewskiego. In: Gazeta Narodowa Nr. 88 vom 19.4.1887, 1–3, hier 2. 211 Pogrzeb ś.p. J. I. Kraszewskiego. In: Nowa Reforma Nr. 88 vom 19.4.1887, 2. 212 Z. Fg: Pogrzeb J. I. Kraszewskiego. In: Gazeta Narodowa Nr. 88 vom 19.4.1887, 1–3, hier 2. 213 Pogrzeb ś.p. J. I. Kraszewskiego. In: Nowa Reforma Nr. 88 vom 19.4.1887, 2. 214 Telegramme der »Neuen Freien Presse«. In: Neue Freie Presse Nr. 8133 vom 19.4.1887, 7.

176  Der nicht alltägliche Tod

Abb. 2: Die Zeichnung zeigt den Trauerzug auf dem Marktplatz, im Hintergrund die Marien­ kirche, Quelle: Tygodnik Illustrowany Nr. 225 vom 23.4.1187, Biblioteka Cyfrowa Uniwersytetu Łódzkiego .

Kraszewskis Zutritt, die durch einen Sohn, einen Bruder, einen Neffen und einen Schwiegersohn vertreten war.215 Nach einer Ansprache des Präsidenten der Akademia Umiejętności, Józef Majer, und der Segnung des Sarges setzte sich der Trauerzug in Bewegung. Die Zusammensetzung der Teilnehmer spiegelte Kraszewskis Potential als Integrationsfigur wider: Hier präsentierte sich eine in der Trauer um einen nationalen Schriftsteller geeinigte, stände- und schichtenübergreifende Nation: Bauern trugen Kränze, im Trauerzug marschierten Krakauer Zünfte, akademische Vereinigungen aus verschiedenen polnischen Städten, polnische Jugendvereinigungen aus Wien, Prag und München, diverse Lesevereine, Künstlervereinigungen, Berufsvereinigungen, Vereine und Verbände. Darunter vertreten waren auch die jüdische Handelsjugend sowie Warschauer und Krakauer Juden.216 Die jüdische Reformgemeinde Krakaus hatte bereits einige Tage vor der Beisetzung Kraszewskis einen Gottesdienst für den Schriftsteller gefeiert, zu welchem laut Zeitungsnotiz viele gekommen waren. 215 Pogrzeb J. I. Kraszewskiego. In: Gazeta Lwowska Nr. 88 vom 19.4.1887, 3–4. 216 Ebd.

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Der Rabbiner Duschak217 hatte in seiner Predigt die Haltung Kraszewskis gegenüber polnischen Juden gelobt und dazu aus einem Roman Kraszewskis zitiert, in welchem dieser einen christlichen Maler zu Juden sagen lässt, dass die Unterschiede bald verwischen würden, und erwähnte den Roman »Żyd« (»Der Jude«), der einen gläubigen, fortschrittlichen Juden darstellt, der Polen als sein Vaterland liebt.218 Auch katholische Geistliche gaben dem verstorbenen Schriftsteller die letzte Ehre: So waren im Trauerzug Welt- und Ordensgeistliche vertreten, jedoch keiner der Bischöfe. Zudem fehlten geschlossen die Jesuiten.219 Ebenfalls abwesend waren die höchsten Repräsentanten des Landes, Landesmarschall Graf Jan Tarnowski, Bruder des ebenfalls abwesenden Universitätsrektors Stanisław Tarnowski, und Statthalter Filip Zaleski, die als kaiserlich-königliche Würdenträger der aus Sicht der imperialen Machthaber heiklen Veranstaltung fernzubleiben hatten. Ebenfalls abwesend waren viele der namhaften Krakauer Aristokraten,220 die Kraszewski seine Angriffe auf die galizische Aristokratie offenbar nicht nachsahen beziehungsweise den etwaigen politischen Manifestationscharakter der Beisetzung scheuten. Wegen ihrer Abwesenheit mussten sie sich anschließend dem Vorwurf des fehlenden Patriotismus und mangelnder Identifizierung mit dem Polentum aussetzen.221 Zwiespältig gegenüber Kraszewski war auch die Haltung der oberen Krakauer Kirchenhierarchie. Hätte Kraszewski nicht ein solch hohes Ansehen in der polnischen Öffentlichkeit gehabt, wäre ihm vielleicht eine christliche Beisetzung verweigert worden, zumindest aber die Beisetzung in einer Kirche. Das jedoch hätte angesichts der allgemeinen Beliebtheit Kraszewskis vermutlich eine große, säkulare Trauerfeier zur Folge gehabt, weswegen der Krakauer Bischof Albin Dunajewski lieber das in seinen Augen kleinere Übel wählte, der Beisetzung zustimmte und selbst auch das Requiem für den Verstorbenen in der imposanten Marienkirche am Krakauer Marktplatz zelebrierte. Die Predigt übernahm wie so oft bei großen Feierlichkeiten der Kirchenrechtsprofessor 217 Gemeint ist vermutlich der Rabbiner Dr. Moritz Duschak (1815–1890), der 1877 Prediger und Religionsprofessor in Krakau wurde. Seine Ämter gab er später wegen Streitigkeiten auf und ging nach Wien. Siehe Duschak, Moritz, Dr.: In: Brocke, Michael/Carlebach, Julius: Biographisches Handbuch der Rabbiner. Teil 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781–1871, Bd.1. München 2004, 256–258. 218 Kronika. In: Nowa Reforma Nr. 87 vom 17.4.1887, 2. 219 Pogrzeb ś.p. Kraszewskiego. In: Nowa Reforma Nr. 88 vom 19.4.1887, 2. 220 Da ihre Anwesenheit in den Darstellungen der Beisetzung nicht erwähnt wird, ist davon auszugehen, dass sie nicht anwesend waren. 221 In der Satirezeitung Djabeł fand sich dazu unter der Rubrik »Belauscht« folgende Bemerkung: »Warum hat die Aristokratie nicht an der Beisetzung Kraszewskis teilgenommen? – Weil er nicht auf Französisch schrieb und dies die einzige Sprache ist, die sie benutzt und schätzt.« Siehe Posłuchane. In: Djabeł Nr. 9 vom 4.5.1887, 2.

178  Der nicht alltägliche Tod Władysław Chotkowski (1843–1926), der als Prediger bekannt und gefragt war. Beide fühlten offenbar, dass sie Gefahr liefen, durch ihre Anwesenheit lediglich einer politischen Feier zu sekundieren. Um dem vorzubeugen, ließ Bischof Dunajewski vor dem Requiem von den Stufen des Altars einen Subjektivitätsvorbehalt verlauten: Er feiere die Messe in der Annahme, dass Kraszewski versehen mit den letzten Sakramenten verstorben sei. Wörtlich sagte er: Als katholischer Bischof erachte ich es als meine heilige Pflicht, meiner gläubigen Diözese zu erklären, dass ich nur in der Überzeugung, dem Wahrheitsgehalt des Berichts vertrauen zu können, wonach Józef Kraszewski seligen Andenkens versehen mit den letzten Sakramenten, versöhnt mit Gott und in Einheit mit der Kirche gestorben ist, für den Frieden seiner Seele das heiligste Messopfer darbringen kann.222

Für die einen war dieser Vorbehalt »ungeheuerlich und unerhört« und bot Anlass zum Hohn, der Bischof habe sich in der Frage mit dem Toten selbst verständigt.223 Die anderen sollten den Vorbehalt später damit rechtfertigen, dass er nicht gegen die Person des Verstorbenen gerichtet gewesen sei, sondern gegen die »schädlichen Einflüsse« in dessen Umgebung,224 was ein sehr beliebtes Erklärungsmuster war, um Kraszewskis Kirchenkritik zu rechtfertigen. Gleichzeitig versicherte der Bischof, dass Krazsewski ungeachtet seines Ruhmes und des allgemeinen Drucks die Beerdigung verweigert worden wäre, wäre er unversöhnt mit der Kirche gestorben.225 Chotkowski schlug später mit seiner Predigt226 in eine ähnliche Kerbe, als er mehrfach die Barmherzigkeit der Kirche gegenüber dem Verstorbenen hervorhob, zugleich wollte er den Katholizismus des Verstorbenen nicht angezweifelt wissen: Gewiss, zwar habe es auch Zeiten der Entfremdung gegeben, in denen Kraszewski auf »die andere Seite« gezogen worden sei – von wem sagte Chotkowski nicht. Doch macht schon die Verwendung des Passivs deutlich, worauf der Prediger hinaus wollte: Es waren bloß äußere Einflüsse, die Kraszewski eine Zeit lang von der reinen katholischen Lehre entfremdet hätten, doch mit der Erklärung in Dresden habe er all dies wieder richtiggestellt und seine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche bewiesen. Bedenkt man, dass Kraszewski eigens eine Zeitung lanciert sowie eine ganze Buchreihe – die »Abrechnungen«­ 222 Interessanterweise zitierte der Czas die Einschränkung des Bischofs nicht in dem Hauptbericht zur Trauerfeier, sondern getrennt davon in einer kurzen Meldung einen Tag später unter der Rubrik »Chronik«. Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 89 vom 20.4.1887, 2. 223 Echa z pogrzebu ś.p. J. I. Kraszewskiego. In: Nowa Reforma Nr. 90/91 vom 22.4.1887, 3. 224 Ohne Titel. In: Czas Nr. 97 vom 29.4.1887, 1. 225 Morawski, Marjan: Dwa pogrzeby. In: Przegląd Powszechny Bd. 14, Beilage zur Ausgabe 42 (1887), I–X. 226 Chotkowski, Władysław: Mowa powiedzana przy zwłokach ś.p. Józefa Ignacego­ Kraszewskiego. In: Czas Nr. 89 vom 20.4.1887, 1–2 und in: Czas Nr. 90 vom 21.4.1887, 1–2.

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(Rachunki) – herausgegeben hatte, um seine Kritik am Ultramontanismus zu verbreiten, erscheint die Vorstellung, Kraszewski sei bloß zeitweilig äußeren Einflüsterungen unterlegen, abwegig. Wie auch die katholische Zeitung Przegląd Katolicki in Warschau strebte Chotkowski danach, das Andenken an Kraszewski katholisch umzudeuten. Einen Grund dafür verriet er indirekt, als er auf die Beisetzung Victor Hugos 1885 in Paris anspielte, indem er von einer Beerdigung eines erfolgreichen Schriftstellers vor nicht allzu langer Zeit in der »Hauptstadt der Welt« sprach, im Vergleich zu der die Beisetzung Kraszewskis in Krakau zwar »bescheidener […] aber schöner« sei. Ironischerweise wurde die Beisetzung Kraszewskis später mit der Hugos verglichen.227 Hugos Beisetzung, die nicht nur in Frankreich, sondern auch im gesamten Europa rezipiert wurde, stellte genau all das dar, was Chotkowski nicht wollte. Als mit Victor Hugo im Mai 1885 nicht nur einer der beliebtesten Schriftsteller Frankreichs, sondern auch ein politischer, sozial und national engagierter Intellektueller starb, beschloss die französische Regierung, ihn in der Kirche St. Genoveva beizusetzen und diese dafür endgültig zu einem säkularen Pantheon zu machen. Die Beisetzungsfeier war gigantisch. Sie begann morgens am schwarz dekorierten Triumphbogen, wo für den Sarg ein Katafalk errichtet worden war, führte durch die mit Menschenmassen gefüllten Straßen von Paris und endete schließlich abends am Pantheon. Es wurden Hymnen auf Hugo intoniert und die Trauerfeier vollendete die schon zu Lebzeiten Hugos begonnene Apotheose des Schriftstellers. Für die noch junge Dritte Republik war das Staatsbegräbnis eine Legitimitätsbestärkung und gleichzeitig ein Trost nach der Niederlage von 1871. Zugleich besaß die Feierlichkeit durch die endgültige Profanierung der Kirche St. Genoveva eine dezidiert antireligiöse Komponente.228 Gott habe gleichsam aus der Kirche ausziehen müssen, damit darin ein Mensch vergöttlicht werden könne – so stellte sich die Feier und die Profanierung der Kirche in den Augen der Katholiken dar. Wie anders gestaltete sich dagegen die Situation in Krakau, wo die Krypta der Verdienten weiterhin ein sakraler Ort blieb! Hätte nun allerdings die Kirche Kraszewski die dortige Beisetzung versagt, so wäre angesichts der immensen Popularität Kraszewskis davon auszugehen gewesen, dass in dem Fall polnische Demokraten eine priesterlose Trauerfeier organisiert hätten, was nicht nur eine symbolische Spaltung der Polen bedeutet hätte. Entsprechend war die Einheit von Polentum und katholischer Kirche Chotkowski ein wichtiges Anliegen, welchem er sich auch in seiner Predigt zu 227 Kronika i rozmaitości. In: Gazeta Toruńska Nr. 95 vom 27.4.1887, 4. Der Meldung zufolge habe ein französischer Korrespondent von La République die beiden Trauerfeiern miteinander verglichen. 228 Ben-Amos, Avner: Les funérailles de Victor Hugo. Apothéose de l’événement spectacle. In: Nora, Pierre (Hg.): Les lieux de mémoire. Bd. 1: La République. Paris 1984, 473–522.

180  Der nicht alltägliche Tod wandte. Er suchte die herausragende Stellung der katholischen Kirche im polni­ schen kulturellen und geistigen Leben zu beweisen und zu untermauern und kam dabei auch auf die Ereignisse von 1870/71 zu sprechen und damit auf die Zeit, in der die Opposition Kraszewskis gegenüber der ultramontanen Kirche am stärksten ausgeprägt war, jedoch ohne Kraszewskis Rolle in den publizistischen Auseinandersetzungen explizit zu machen. Chotkowski nutzte ein typisches Argument seiner Zeit, um die Dominanz der katholischen Kirche im politischen Leben zu legtimieren: den »Blutzoll« sowie die Unterdrückung, die die katholische Kirche des lateinischen wie des griechischen Ritus in den polnischen Gebieten zu leisten und zu erdulden habe. Insofern sei auch die katholische Religion »Herrin und Herrscherin« in den polnischen Gebieten, andere Konfessionen nur geduldet, wie Chotkowski mehrfach betonte und damit die Trauerfeier dazu nutzte, die seines Erachtens zentrale Stellung der katholischen Kirche im nationalen Leben zu betonen. Insgesamt sprach Chotkowski wenig über Kraszewski. So traten die Elemente, die normalerweise im Vordergrund einer Leichenpredigt stehen – eine Darstellung und Würdigung des Lebens des Verstorbenen – hier in den Hintergrund.229 Hatte Dunajewski schon angekündigt, dass das Requiem nicht dazu diene, den Verstorbenen zu ehren, so hatte Chotkowski diese Ansicht mit seinen Worten bestätigt und nutzte die Predigt kaum für Ehrbezeugungen gegenüber dem Verstorbenen. Er lobte nicht den Verstorbenen, sondern vielmehr die Kirche, die sich dem Verstorbenen gegenüber barmherzig zeige. Gegenüber dem Verstorbenen verhalte sich die Kirche wie ein guter Gärtner, der »die harten und schlechten Früchte abschlägt, und die edleren und reifen von eigener Hand erntet.«230 Lobend erwähnte der Prediger Kraszewskis literarische Werke, die die Existenz der polnischen Nation in Erinnerungen gehalten hätten, seinen Einsatz für die polnische Sprache, seine Liebe zu Polen, seinen Fleiß und den Umstand, dass er mit seinen zahlreichen Romanen verhindert habe, dass polnische Frauen zur fremdsprachigen – und damit vermeintlich moralisch zweifelhaften Literatur – griffen. Als kritisch hingegen bewertete Chotkowski Kraszewskis zeitweiliges Verhältnis zur Kirche, wobei das in den Worten des Predigers lautete, dass er »auf die entgegengesetzte Seite gezogen« worden war.231 229 Pogrzeb J. I. Kraszewskiego. In: Czas Nr. 88 vom 19.4.1887, 2. 230 Dass Chotkowski im Zusammenhang mit dem Verstorbenen von »schlechten Früchten« gesprochen hatte, war in der liberalen Presse als pietätlose Beleidigung aufgefasst worden. Denn Chotkowski, der hier den Jesuiten Piotr Skarga zitierte, benutzte die Vokabel »podły«, die neben »schlecht« auch und vor allem »gemein«, »ehrlos«, »niederträchtig«, »schäbig« als Bedeutungsfelder umfasst. Die Verteidiger Chotkowskis beriefen sich darauf, dass es sich um ein Zitat Skargas handele und das Bedeutungsfeld von »podły« im 16. Jahrhundert ein anderes war als im 19.  Jahrhundert. Notatki z prassy perjodycznej  – Jeszcze Kraszewski. In: Przegląd Katolicki Nr. 20 vom 19.5.1887, 313–315. 231 Chotkowski, Władysław: Mowa powiedzana przy zwłokach ś.p. Józefa Ignacego­ Kraszewskiego. In: Czas Nr. 90 vom 21.4.1887, 1–2, hier 2.

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Chotkowskis Haltung blieb gegenüber dem Verstorbenen ambivalent: Um eine klare Bewertung des Verstorbenen wand er sich, indem er nicht konkret über­ Kraszewski, sondern allgemein über die Rolle der Dichter in der Gegenwart sprach. Er verglich sie mit Leuchten am Himmel, die entweder Sterne seien, die dem polnischen Volk in der schweren Zeit nach den Teilungen des Landes den Weg wiesen, oder gefährliche Irrlichter. Zuverlässig seien die Lichter dann, wenn sie das wahre Licht – oder biblisch ausgedrückt das »Licht der Welt«, womit Chotkowski Christus meinte – reflektierten. Lichter hingegen, die aus sich selbst heraus leuchten wollten, würden schnell verglühen. Welcher Kategorie Kraszewski zuzurechnen war, ließ Chotkowski offen. Auch wenn Chotkowski gegenüber Kraszewski als Person einen distanzierten Standpunkt einnahm, so hatte er doch als einer der wenigen an einer Trauerfeier für Kraszewski in Wien einige Tage zuvor teilgenommen, als der Zug mit Kraszewskis Leichnam in der österreichischen Hauptstadt Halt gemacht hatte.232 Um 12 Uhr verließ schließlich der Trauerzug die Kirche. Der Sarg mit dem Leichnam Kraszewskis, der während des Requiems auf einem prachtvollen Kata­falk gelagert gewesen war, wurde auf einen mit Blumen und Kränzen geschmückten und von sechs Pferden gezogenen Leichenwagen gehoben. Der Trauerzug führte nun von der Marienkirche vorbei am Wawel die von Menschenmassen gefüllten Straßen entlang zu der in der Nähe der Weichsel gelegenen Kirche St. Michael und St. Stanislaus.233 Die von überall läutenden Kirchenglocken unterstrichen die Feierlichkeit des Trauerzugs und erinnerten zugleich daran, dass es sich bei der Beisetzung um ein kirchliches Ereignis handelte. Zwar war auch der nationale Charakter der Beisetzung nicht zu übersehen, doch provokante politische Symbole und Handlungen waren durch die Behörden erfolgreich unterdrückt worden. So hatte ein Polizeikommissar am Morgen den Bürgermeister von Stanislau (Stanisławów)234 erwartet und auf der Stelle dessen Kranz mit der Inschrift »dem Staatsgefangenen« konfisziert. Den Kranz erhielt der Bürgermeister später zurück, allerdings war die Inschrift abgeschnitten worden.235 Gemäßigt fielen die Reden aus, die die weltlichen Redner zu Ehren Kraszew­ skis hielten. Alle lobten den Fleiß und die ungeheure Produktivität des Verstorbenen und damit die Eigenschaften Kraszewskis, bei denen sich alle einig waren, dass sie vorbildhaft waren, und die außerdem politisch als harmlos erschienen. In den Reden der beiden Stadtpräsidenten  – Szlachtowski und Roczkowski  – zeigte sich am deutlichsten die Vorstellung von Kraszewski als »großem Mann«, 232 Korespondencya »Nowej Reformy«. In: Nowa Reforma Nr. 73 vom 31.3.1887, 1. 233 Pogrzeb J. I. Kraszewskiego. In: Czas Nr. 88 vom 19.4.1887, 1–2. Pogrzeb ś.p. J. I. Kraszewskiego. In: Nowa Reforma Nr. 88 vom 19.4.1887, 2–3. 234 Heute das ukrainische Iwano-Frankiwsk. 235 Z. Fg.: Pogrzeb J. I. Kraszewskiego. In: Gazeta Narodowa Nr. 88 vom 19.4.1887, 1–3, hier 1–2.

182  Der nicht alltägliche Tod verstanden als jemand, der sich für die Nation aufopferte, sich mit ihr identifizierte und sie moralisch wie ästhetisch leitete und Bildung gleichermaßen in Hütten wie Paläste gebracht habe. Oder wie es Roczkowski ausdrückte: Es mag Menschen geben, die einen größeren Genius besitzen als er, wir werden sie mehr loben, doch lieben und ehren wie Kraszewski werden wir sie nur dann, wenn sie – so wie er – die gesamte Quelle ihres Geistes, all ihre Ideale und all ihre Arbeit für das Glück der Nation aufopfern.

Roczkowski war offenbar davon überzeugt, dass diese Verbindung über den Tod hinaus anhielt, und bat den Verstorbenen um Fürsprache.236 Anschließend sprach Adam Pług alias Antoni Pietkiewicz, der seinerzeit die Idee für das Kraszewskijubiläum gehabt hatte, für die Stadt Warschau. Indirekt und mit Ironie getarnt äußerte er Kritik am Verlauf der Vorbereitungen der Beisetzungen in Krakau. Er erwähnte den Wunsch des Verstorbenen, in Warschau bestattet zu werden, interpretierte dies aber vor allem als Wille, nicht im Ausland beigesetzt zu werden. Und so zeigte sich der Redner zuversichtlich, dass es Kraszwski – so wörtlich – in diesem Grab gut gehen werde.237 Weiter sagte er: Warschau wird Krakau gegenüber keinen Groll dafür hegen, dass es ihm [Warschau] das Herz genommen hat, welches ihm für immer gegeben sein sollte; tatsächlich wird es [Warschau] ihm [Krakau] immer dankbar sein, dass der Leichnam dieses großartigen Mannes, der sein [Warschaus] Sohn war, so gerne und bereitwillig in seinen geheiligten Mauern aufgenommen und ihm eine so feierliche, so glanzvolle Beerdigung bereitet hat, von der es [Warschau] kaum hätte träumen können, und ihm so ein Grab gegeben hat, wie es [Warschau] in keinem Tempel hat.238

In Warschau hatten die Gerüchte, denen zufolge einige Krakauer Kreise dem Schriftsteller angeblich ein würdiges Begräbnis verweigern wollten, großes Entsetzen ausgelöst.239 Als Letzter sprach der Vertreter der Akademiejugend – Władysław Leopold Jaworski, ein liberaldemokratisch gesinnter Jurastudent, der sich in späteren Jahren den konservativen Kreisen anschließen sollte.240 In seiner Rede wurde der Vorrang des Patriotismus vor anderen Bezugssystemen am deutlichsten: Er sei der größte Wert der Jugend und ihre drei Götter die Liebe zum Vaterland,

236 Zitiert unter anderem in Czas Nr. 88 vom 19.4.1887, 1–2. 237 Zitiert unter anderem in Czas Nr. 88 vom 19.4.1887, 1–2 und in Nowa Reforma Nr. 88 vom 19.4.1887, 2–3. 238 Ebd. 239 Korrespondencya »Nowej Reformy«. In: Nowa Reforma Nr. 82 vom 10.4.1887, 1. 240 In späteren Jahren wurde er Professor der Jagiellonenuniversität, außerdem Abgeordneter des Sejms (seit 1901) und des Reichsrats (seit 1911). Zu seiner Biographie siehe Jaworski Władysław. In: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 11. Wrocław u. a. 1964–1965, 115–118.

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die Arbeit und die Begeisterung.241 Er vertrat damit genau die Prioritätensetzung, gegen die sich der Kirchenrechtsprofessor Chotkowski in seiner Predigt gewandt hatte. Mit der Grablegung Kraszewskis und einem Regenguss, der passenderweise gegen Ende der Feierlichkeiten niederging, »als wolle auch der Himmel den Verlust Kraszewskis beweinen«,242 endete die Trauerfeier, die im Vorfeld einige Kontroversen verursacht hatte. Die Aristokratie Krakaus (und Galiziens allgemein) hatte einer großen Beisetzungsfeier für Kraszewski grundsätzlich nichts abgewinnen können – sei es, weil sie sich den Teilungsmächten gegenüber loyal zeigen wollte oder aber die allgemein hohe Meinung über Kraszewski nicht teilte. In der Folge waren viele Aristokraten wie beispielsweise die Brüder Tarnowski – der eine Universitätsrektor, der andere Landesmarschall von Galizien – der Feier ferngeblieben. Die Feier erhielt deshalb umso mehr den Charakter einer demokratischen Massenveranstaltung: Etwa 30 000 Menschen waren zugegen, die die Beliebtheit Kraszewskis bestätigten. Insofern war die Nowa ­Reforma, auch wenn sie einige »Unzulänglichkeiten« im Programm bemängelte, insgesamt mit der Beisetzung sehr zufrieden: Krakau hat heute den prächtigen Anblick einer ungezählten Menschenmenge gegeben, die der Gedanke einte, dass nicht nur das Blut der Märtyrer, sondern auch der Schweiß der Bekenner das Vaterland aus dem Grab herauszieht. Wie erbärmlich sehen gegenüber diesen Scharen die Bemühungen der Feinde jedes lebendigen, für jede Arbeit und jeden Verdienst auf nationalem Gebiet schlagenden Herzschlags aus. Sie wollen nicht sehen, dass der schweigende Genius der kollektiven Massen die Quelle von allem Großen ist, lieber vergessen sie, dass die gewaltigen Massen, die Kraszewski mehr als ein halbes Jahrhundert mit dem Brot seines Geistes nährte, sich heute nicht mit gegenteiligen Lehren von der »großen Politik« irreführen lassen, sondern sie ihrem Leiter und Lehrer Dankbarkeit zeigen können, weil sie Liebe in der Seele und Wärme im Herzen tragen.243

Die Beisetzung Kraszewskis, der wegen seiner individuellen Verdienste, nicht aufgrund seiner Herkunft geehrt wurde, entsprach dem demokratischen Ideal der Zeit ebenso wie der Partizipation der Massen, die sich um den »großen Mann« versammelten und dadurch eine Gemeinschaft formten.

241 Zitiert unter anderem in Czas Nr. 88 vom 19.4.1887, 1–2 und in Nowa Reforma Nr. 88 vom 19.4.1887, 2–3. 242 Z. Fg.: Pogrzeb J. I. Kraszewskiego. In: Gazeta Narodowa Nr. 88 vom 19.4.1887, 1–3, hier 2. 243 Ś.p. J. I. Kraszewski. In: Nowa Reforma Nr. 88 vom 19.4.1887, 1.

184  Der nicht alltägliche Tod

2.2.7 Die Apotheose des Verstorbenen Während sich ranghohe katholische Würdenträger und die katholische Stadtelite Krakaus bemühten, aus Kraszewski einen guten Katholiken zu machen, ließen andere ihn christusgleich erscheinen. Der Dichter selbst erfuhr als »großer Mann« eine Apotheose. In einem Gedicht, welches der Industrielle, Publizist und Aufstandsteilnehmer Jan Nepomucen Gniewosz anlässlich der Beisetzung Kraszewskis verfasste, wurde der Verstorbene als »auserwählter Sohn« bezeichnet, der zum »Dienst am Vaterland« ausersehen war und von dieser Aufgabe nie abgewichen sei, sehr zum Leidwesen der Feinde Polens. Daran, dass Kraszewski das ewige Seelenheil erlangt habe, lässt das Gedicht keinen Zweifel. Kraszewskis Seele sei nun im Himmel, wo er mit Gebeten für Polen eintrete. Hier nun ließ sich offen eine Schuldzuweisung formulieren: Kraszewski sei zwar gestorben, »aber nur mit dem Körper, den die Magdeburger Mauern getötet haben.«244 Für Gniewosz passten die letzten Jahre Kraszewskis in das positive Bild des Schriftstellers, dessen Biographie  – wie schon bei den Jubiläumsfeierlichkeiten 1879 deutlich wurde  – oftmals mit dem Schicksal Polens gleichgesetzt wurde. Ein Tod, hervorgerufen durch die Härte des preußischen Staates, dessen Gericht Kraszewski zur Festungshaft in Magdeburg verurteilt hatte, ließ sich wie in Gniewocz’ Gedicht gut in dieses Narrativ einfügen. Schon im Vorfeld der Beisetzung hatte die Apotheose Kraszewskis ihren Anfang genommen. So schrieb beispielsweise der Literat Gomulicki245 über Kraszewski: »Er hat den Geist vermehrt wie Christus das Brot / Und hat alle­ unsere Bedürfnisse gestillt.«246 Kraszewski erschien hier als christusähnliche Figur und so wurde er auch bei der Beisetzung beschrieben: als ein nationaler Heiland, der einer Nation in Nöten zu Hilfe gekommen war und sich für diese – unter anderem durch beständige Arbeit – aufgeopfert habe. Was in all den Oden auf den christusgleichen Kraszewski keine Rolle spielte, waren seine menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten: Während er sich viel um die gedachte Gemeinschaft  – die polnische Nation  – sorgte, vernachlässigte er hingegen seine eigene familiäre Gemeinschaft. Seine Frau Zofia ließ er in Warschau zurück, als er nach Dresden umsiedelte und ließ sie auch später nicht nachkommen, weil er lieber mit einer Geliebten zusammenlebte. Die nervenkranke Ehefrau hatte unterdessen im ungeliebten Warschau 244 Na pogrzeb ś.p. Józefa Ignacego Kraszewskiegow dniu 18. kwietnia 1887 napisał Jan Nepomucen z Oleksowa Gniewosz. APwK, Uroczystości krakowskie, Akta Kraszewskiego, ohne Paginierung. 245 Gemeint ist vermutlich der Warschauer Schriftsteller Wiktor Gomulicki, in der Quelle wird jedoch kein Vorname genannt. 246 Zitiert in Notatki z prassy perjodycznej. Opis ostatnich dni życia Kraszewskiego. In: Przegląd Katolicki Nr. 14 vom 7.4.1887, 215 f.

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die Angelegenheiten der Familie alleine zu führen sowie sich um die zwei Kinder der verstorbenen gemeinsamen Tochter Konstancja zu kümmern. Finanziell war Zofia Kraszewska von ihrem untreuen Mann in Dresden abhängig. Als dieser erfuhr, dass seine fromme Frau der Kirche St. Alexander in Warschau eine größere Summe Geld gespendet hatte, kürzte er die Zahlungen und sandte ihr teilweise Naturalien anstelle von Geld. Zofia Kraszewska nahm nicht an den für ihren Mann ausgerichteten Feiern in Krakau teil. Seit Kraszewski 1863 Warschau verlassen hatte, hatte sich das Ehepaar nie wieder gesehen. Nach dem Tod ihres Mannes trat Zofia Kraszewska einem Orden bei.247 Auch bei seiner Beerdigung war sie nicht zugegen, bei der die Versammelten vor allem die »gedachte Gemeinschaft« repräsentierten.

2.2.8 Das Nachspiel: In wessen Augen starb Kraszewski? Auf die feierliche Beisetzung folgte bald der Streit um das ideelle Vermächtnis des Verstorbenen, bei dem zwei Weltsichten um die Seele des Verstorbenen rangen. Anlass dazu bot die nach der Beerdigung veröffentlichte explizite Darstellung, wonach Kraszewski ohne die Sterbesakramente verschieden war. Einige Tage nach der Beisetzung veröffentlichte Teodor Tomasz Jeż in der Warschauer »Prawda« (»Wahrheit«) seine Wahrheit »Über Kraszewski und über die, in deren Augen er starb«.248 Wenige Tage nach der Beisetzung Kraszewskis sprach Jeż nun offen das aus, was er vor der Beisetzung nur angedeutete hatte: »Er [Kraszewski] hat nicht gebeichtet, er hat nicht kommuniziert und er hat die heiligen Öle nicht empfangen. Nicht einmal daran gedacht hat er.« Mehrfach wiederholte Jeż in seinem Artikel diese Aussage. Sie war zweifelsohne eine Provokation und ein Triumph: Immerhin schien die Sterbestunde den vermeintlichen Interpretationsschlüssel für ein gesamtes Leben zu bieten. Indem Jeż nun die genauen Umstände der Sterbestunde Kraszewskis offenbarte, hatte er ein gewichtiges Argument dafür, die (letzt-)gültige Interpretation zu Kraszewskis Biographie und Denken zu besitzen: Kraszewski habe sich von der offiziellen Doktrin der Kirche genauso entfernt wie von ihrer Glaubenspraxis. In seinen letzten Lebensstunden habe Kraszewski seine Hoffnung vor allem auf die Medizin gesetzt, so Jeż. Schließlich habe er nicht sterben wollen, sondern wollte weiterleben. Die Umgebung habe keinen Anlass dazu gesehen, den Sterbenden auf die Sakramente hinzuweisen, in denen Jeż ohnehin nur eine »vorgeschriebene Formalität« sah, der gegenüber die Mitmenschlichkeit schwerer wiege. Und 247 Danek: Józef Ignacy Kraszewski 357–359. Kraszewski Józef Ignacy. In: Polski Słownik Biograficzny 227. 248 Jeż, Teodor Tomasz: O Kraszewskim i o tych, w których oczach umarł. In: Prawda. Tygodnik politiczny, społeczny i literacki Nr. 17 vom 23.4.1887, 199 f.

186  Der nicht alltägliche Tod diese habe die Umgebung darin gezeigt, dass sie dem sterbenden Kraszewski die Hoffnung auf eine Gesundung nicht dadurch hatte nehmen wollen, dass sie ihn an den Empfang der Sterbesakramente erinnerte.249 Die ultramontanen Katholiken waren durch diese Darstellungen gleich doppelt düpiert: Ihre Auslegung, wonach das später in Teilen widerrufene Bekenntnis Kraszewskis zur katholischen Kirche in Dresden 1879 das eigentlich religiöse Vermächtnis des Schriftstellers war, erwies sich damit als falsch. Zudem hatten die Krakauer Katholiken – nicht zuletzt angesichts des weltlichen Ruhmes Kraszewskis – ihre Bedenken gegen eine ostentative Beisetzung fallen lassen und dadurch den liturgischen Rahmen für eine primär national geprägte Feier geliefert. Auf Jeżs Darstellungen reagierte der bereits erwähnte, ebenfalls in Warschau erscheinende Przegląd Katolicki. Was Kraszewskis Religiosität angeht, so ignorierte die Zeitung nach wie vor die Möglichkeit, der Schriftsteller könnte aus eigener Indifferenz den letzten Trost der Kirche versäumt haben. Es sei zwar allgemein bekannt, dass Kraszewski nicht immer die reine katholische Lehre vertreten habe, räumte das Blatt ein, doch sei er nie gänzlich vom Glauben ab­ gewichen und auch nie ein »notorisch Ungläubiger« gewesen, dem das christliche Begräbnis hätte verweigert werden müssen. Vielmehr deutete der Artikel den Bericht, dass sich unter Kraszewskis letzten Äußerungen »Erhebt den Geist« und »Jesus« befanden, als deutliches Zeugnis seines Glaubens, welches aber von dem ungläubigen Umfeld – ob aus Nachlässigkeit oder böser Absicht – nicht verstanden worden sei.250 Der Krakauer Czas argumentierte ähnlich und bekräftigte, dass Kraszewski nie den Materialismus von Jeż geteilt hätte und tröstete sich damit, dass Kraszewski angeblich nach seiner Mageburger Haft in San Remo gebeichtet habe.251 Neben der Diskussion um Kraszewskis Religiosität hatte Jeżs Artikel einen weiteren Streitpunkt mit sich gebracht: die Frage danach, wie es überhaupt zu der weit verbreiteten wie falschen Zeitungsmeldung kurz nach Kraszewskis Tod kommen konnte, die berichtet hatte, der Schriftsteller sei gestorben, nachdem er die letzten Sakramente erhalten habe. Dabei ging es nicht bloß um eine Zeitungsente, sondern um den Verdacht auf Manipulation: Hatte damit ein katholischer Akteur erreichen wollen, dass man sich an Kraszewski als einen frommen Katholiken erinnern wird? Oder hatte jemand aus dem demokratischen 249 Ebd. Die Bedenken, die Jeż hier vorträgt, waren im Übrigen zu seiner Zeit gar nicht so ungewöhnlich. In einem pastoralen Handbuch von 1887 findet sich der Hinweis, dass Gläubige oft daran erinnert werden sollten, rechtzeitig einen Priester zu rufen. Zugleich sollten die Geistlichen ihnen das Vorurteil nehmen, dass der Kranke nach Empfang der Sakramente sofort sterben müsse. Siehe Krukowski: Teologia pasterska 447. 250 Notatki z prassy perjodycznej – W jakim niefortunnem otoczeniu Kraszewski umierał. In: Przegląd Katolicki Nr. 18 vom 5.5.1887, 278–282. 251 Czas Nr. 67 vom 29.4.1887, 1.

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Lager damit das prachtvolle Nationalbegräbnis für Kraszewski sichern wollen? Beide Möglichkeiten wurden als Vorwürfe formuliert. So beschuldigte Jeż Katholiken, sie hätten das Telegramm aufgesetzt, um das Andenken an Kraszewski zu verfälschen.252 Er verwies auf Frankreich und auf den Fall Paul Bert. Denn auch für den Streit um die Sterbestunde Kraszewskis fand sich ein französischer Vorläufer: die Gerüchte um die Sterbestunde Paul Berts. Der Mediziner, Politiker und überzeugte Freidenker war 1886 auf einer Reise nach Indochina der Cholera erlegen. Die Dritte Republik wollte ihn mit einem feierlichen Begräbnis in Frankreich ehren, wozu Berts Leichnam ein Jahr lang per Schiff von seinem Sterbeort in seinen Geburtsort überführt wurde. Neben der Absicht, den Verstorbenen zu ehren, sollte die Trauerfeierlichkeit den Nachweis erbringen, dass eine prachtvolle Beisetzung ohne »klerikalen« Beistand möglich sei. Die Beisetzung Berts wurde zu einer großen zivilen, nationalen und weltlichen Begräbnisfeier, bei der ohne Priester, Kreuz, Chorkindern und Toten­ geläut die typischen Merkmale einer katholischen Beisetzung fehlten, die Stadt und der Katafalk dafür umso festlicher geschmückt waren. Bert hatte als antiklerikaler Freidenker gelebt, war als solcher gestorben und an ihn sollte auch als solcher erinnert werden. Einen Monat vor der Beisetzung in Frankreich stellte der katholische »Le Constitutionnel« dies in Frage. Angeblich habe Bert auf seinem Sterbebett von einem Priester die letzten Sakramente empfangen. Ein überzeugter Atheist, der sich auf dem Sterbebett zum katholischen Glauben bekennt, wäre ein geeignetes Argument für die Wahrheit des Christentums. Doch erwies sich die Aussage von Berts Bekehrung auf dem Totenbett als falsch.253 Das erhoffte Argument für die Wahrheit des Christentums wurde so zum Eigentor: Die Christen mussten sich den Vorwurf gefallen lassen, für ihre Apologetik die Wahrheit zu verdrehen – in Frankreich wie in Polen, wo Jeż die französischen Vorgänge als Beweis für die Verschlagenheit der Katholiken im Allgemeinen anführte. Doch hatte auch die katholische Seite gute Argumente, die Fälschung der liberal-demokratischen Seite anzulasten, schließlich habe diese ihren Interessen gedient: Das Telegramm habe die Beisetzung in der Krypta der Verdienten gesichert und Kraszewski Ehrerweisungen von allen Seiten beschert. Verdächtig sei außerdem, dass die ausdrückliche Information darüber, dass Kraszewski die letzten Sakramente nicht empfangen habe, erst nach der Beisetzung erschienen sei.254 Nach der Darstellung des bereits erwähnten Jesuiten Marian Morawski sei das Genfer Telegramm über Kraszewskis Sakramentsempfang just 252 Jeż: O Kraszewskim 199 f. 253 Cicekoglu, Céline: Le Tombeau de Paul Bert. Les obsèques à Auxerre, un témoignage public. In: Boutry, Philippe/Encrevé, André (Hg.): La religion dans la ville. Bourdeaux 2003, 135–157. 254 Notatki z prassy perjodycznej – W jakim niefortunnem otoczeniu Kraszewski umierał. In: Przegląd Katolicki Nr. 18 vom 5.5.1887, 278–282. Morawski: Dwa Pogrzeby.

188  Der nicht alltägliche Tod in dem Moment aufgetaucht, als Kraszewskis große Beisetzung wegen seines Verhältnis­ses zur Kirche als gefährdet gegolten habe.255 Insofern seien diejenigen verdächtig, denen an einer großen Begräbnisfeier für Kraszewski am meisten gelegen habe. Im Streit um den Urheber der falschen Nachricht stand Aussage gegen Aussage und beide Seiten konnten plausible Argumente anführen, die den jeweils anderen verdächtig erscheinen ließen. Insofern lässt sich auch in der Retrospektive die Frage nach dem tatsächlichen Urheber nicht letztgültig entscheiden. Offenkundig ist, dass die Beisetzung die katholische Kirche vor ein Dilemma stellte. Diesem Dilemma hätte sie freilich entgehen können, wenn Kraszewski sich auf seinem Sterbebett als observanter Katholik erwiesen hätte. Insofern wäre eine solche Nachricht tatsächlich im Sinne ultramontaner Katholiken gewesen. Jedoch standen die Demokraten vor einem vergleichbaren Dilemma: Ohne kirchlichen Beistand und eine ehrenvolle Grabstelle wäre die Pracht der Beisetzung Kraszewskis zum einen geschmälert worden, zum anderen hätte sie eher einen desintegrativen als einen integrativen Charakter besessen. Dass diese Beisetzung unbedingt gewollt war, zeigte auch der Umstand, dass die Familie – wie es Morawski im Nachhinein kritisierte – zu einer schnellen Entscheidung angehalten worden war, um der Testamentseröffnung und damit einem mög­ licherweise entgegengesetzten Willen des Verstorbenen zuvorzukommen.256 Dass Jeż vor der Beerdigung mit Andeutungen hinsichtlich des (unterlas­ senen) Sakramentenempfangs spielte, alle Details jedoch erst nach der Beisetzung offenbarte, lässt vermuten, dass ihm an dem Effekt seiner Darstellung ähnlich viel gelegen war wie an der Enthüllung der tatsächlichen Begebenheiten. Auch die Tatsache, dass das Telegramm in Genf aufgegeben wurde, lässt es plausibel erscheinen, dass es eher im Umkreis von Jeż verfasst worden war, wenngleich die ultramontanen Katholiken Nutznießer der Falschmeldung waren – was freilich nur so lange galt, wie die gegenteilige Botschaft noch nicht verkündet worden war. Mit der Interpretation der Sterbestunde verband sich bald ein weiteres Thema, nämlich die Ausgestaltung der Beisetzung. Das Thema wurde sogar auf der Titel­seite des Czas behandelt, wo normalerweise von Fragen der internationalen Politik und nur äußerst selten von lokalen Themen berichtet wurde.257 Dass Kraszewski aufgrund seines Werkes ein Grab in der Krypta der Verdienten zustehe, stand für das Blatt außer Frage. Diskussionswürdig sei hingegen das tatsächliche Ausmaß der Beisetzung gewesen, die nach Empfinden des Czas zu pompös ausgefallen war. Nachträglich verteidigte er nun explizit den vielfach  kritisierten Stadtrat Jordan, der die durchaus berechtigte Frage ge 255 Morawski: Dwa Pogrzeby I. 256 Ebd. 257 Czas Nr. 97 vom 29.4.1887, 1.

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stellt habe, ob königlicher Pomp angemessen sei.258 Der Jesuit Marian Morawski verteidigte in einer Broschüre den Stadtrat Jordan. In den Zeitungen habe ein »Boulevard­terrorismus gegen die imaginierten Feinde« der Beisetzung geherrscht, kristierte er. Dass dem verstorbenen Schriftsteller zwar eine »nationale Beisetzung« gebühre, bezweifelte Morawski nicht, kritisierte aber das Ausmaß der Trauerfeier, die für einen seiner Ansicht nach verdienten, aber nicht genialen Schriftsteller übertrieben gewesen sei. Für Morawski war der Leipziger Prozess zudem ein Grund, Zurückhaltung zu wahren, weil dieser noch zu viele Fragen offen gelassen habe, um Kraszewski von allen Anschuldigungen reingewaschen zu sehen.259 Dass es bei den großen Feiern oftmals gar nicht um die betreffende Person ging, kritisierte der Czas und übte damit eine grundsätzliche Kritik am Umgang mit großen Beerdigungen. Bestimmte Leute, so der Vorwurf, würden den Tod bedeutsamer Personen zum Anlass nehmen, das gegnerische ideologische Lager anzugreifen, angefangen mit der erneuten Beisetzung des Königs­ Kazimierz des Großen 1869, anlässlich derer sich der Czas mit der damals noch erscheinenden liberalen Zeitung Kraj eine Auseinandersetzung über die Ausrichtung geliefert hatte.260 Seitdem habe sich in Krakau ein regelrechter Zweig von »Beerdigungsschreiern« entwickelt, die auf Kosten der Toten eine »Politik der Totengräber« verfolgten.261 Darin fand sich die übliche Kritik der Konservativen an derartigen Veranstaltungen wieder, wie sie schon in den Briefen der Stańczyken von 1869 formuliert worden war: Bei den großen Feierlichkeiten sei die Person des Verstorbenen sekundär, sie diene bloß als Vorwand für eine Massenmobilisierung und die Artikulation politischer Propaganda.262 Die liberale Nowa Reforma warf umgekehrt den Konservativen mangelndes Bürgerbewusstsein, mangelnden Patriotismus und übertriebene Unterwürfigkeit den Teilungsmächten gegenüber vor.263 Ungeachtet dieser Kontroversen hatte sich Kraszewski mit seiner letzten Ruhe­stätte in der Krypta der Verdienten in die Topographie des von ihm ungeliebten Krakau eingeschrieben. Sehr viel mehr Spuren sollte er im Stadtbild allerdings nicht hinterlassen: Anders als von Studenten gefordert, wurde die ulica Świetego Jana im Zentrum nicht in ulica Kraszewskiego umbenannt.264 Auch ein Denkmal für Kraszewski, wofür in den Redaktionen der Krakauer Zeitun-

258 Ebd. 259 Morawski: Dwa Pogrzeby III. 260 Buszko: Uroczystości Kazimierzowskie 15–32. 261 Czas Nr. 97 vom 29.4.1887, 1. 262 Orton: The Stańczyk Portfolio 56 f. 263 Nasza »straż pożarna«. In: Nowa Reforma Nr.  94 vom 26.4.1887, 1.  Nasza »straż pożarna«. In: Nowa Reforma Nr. 95 vom 27.4.1887, 1. 264 Kronika Miejscowa. In: Kurier Krakowski Nr. 90 vom 21.4.1887, 2.

190  Der nicht alltägliche Tod gen bereits Spenden eingegangen waren,265 wurde nicht errichtet. Im 1889 in der Nähe der Błonia-Wiesen eröffneten Erholungspark Park Jordana, den der im Zusammenhang mit Kraszewski heftig kritisierte Stadtrat Henryk Jordan iniiterte und welcher neben Spiel- und Sportmöglichkeiten Büsten berühmten Polen beherbergt, findet sich ebenfalls keine Büste des Krakauer Ehrenbürgers Kraszewski.266

2.2.9 Zwischenfazit Kraszewskis Beisetzung war die erste unmittelbare und zeitnahe Beisetzung in der 1880 eingeweihten Krypta der Michaelskirche, die im kollektiven Gedächtnis vor allem als Märtyrerstätte des heiligen Bischofs Stanislaus präsent war. Mit der großen Trauerfeier Kraszewskis, deren Zeugen Polen aus allen drei Teilungsgebieten wurden, konnte der Charakter der sich dort befindlichen Krypta als polnisches Pantheon bekräftigt und verfestigt werden. Krakau erhielt so zu Füßen des Wawels einen weiteren »Gedächtnisspeicher«, der den Symbolcharakter der Stadt und die mit ihr verbundene national-symbolische Großerzählung zementierte.267 Mit der prachtvollen und weit über die Grenzen Krakaus hinaus rezipierten Beisetzung Kraszewskis konnte die Krypta der Verdienten als eine weitere, den Wawel ergänzende ruhmreiche Begräbnisstätte in der Wahrnehmung der polnischen Öffentlichkeit etabliert und als nationales Pantheon Teil der Narration werden, die in Krakau die geistige Hauptstadt Polens sah. Dazu trug auch bei, dass mit Kraszewski ein Nichtkrakauer beigesetzt worden war: Skałka erschien so nicht nur als lokale, sondern als gesamtnationale Begräbnisstätte. Dass ausgerechnet Józef Ignacy Kraszewski der erste war, dessen zeitnahe Beisetzung in der Krypta der Verdienten mit einer großen Trauerfeier begangen wurde, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Immerhin hatte Kraszewski zeit 265 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr.  96 vom 28.4.1887, 2.  Das Geld war eigentlich für einen Sarkophag gespendet worden, sollte nun aber für ein Denkmal verwendet werden. 266 Der Park war auf Antrag des Stadtrats und Mediziners Henryk Jordan in den Jahren 1888/1889 angelegt worden und sollte mit diversen Spiel- und Sportplätzen, die für Turnübungen, Fußball, Wettläufe und Bogenschießen geeignet waren, der Erholung und der leiblichen Ertüchtigung der Kinder und Jugend dienen. 1889 wurde der Park auf Beschluss des Stadtrats nach seinem Stifter Park Jordana genannt. Da der Park zudem der Erziehung im patriotischen Geist dienen sollte, ließ Jordan 45 Büsten bedeutender Polen aus weißem Marmor errichten. Einige Büsten sind im Laufe der Zeit zerstört und restauriert worden, neue sind hinzugekommen. Eine Büste Kraszewskis befindet sich nach wie vor nicht darunter. Siehe Park Jordana. In: Encyclopedia Krakowa. Warszawa, Kraków 2000, 739. Bałus: Krakau zwischen Traditionen und Wegen 104–106. 267 Kubicki: Miasto w sieci znaczeń 95.

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weise unter dem Pseudonym Bolesławit geschrieben, was eine Anspielung auf König Bolesław, den Mörder des Bischofs Stanislaus, war. Zudem hatte er sich insbesondere in den 1870er Jahren als einer der bekanntesten Kritiker des Papstes und der polnischen ultramontanen Würdenträger einen Namen gemacht. Gleichzeitig war er einer der beliebtesten polnischsprachigen Schriftsteller seiner Zeit, der in- und außerhalb der polnischsprachigen Gebiete bekannt war. Viele national gestimmte polnische Zeitgenossen erblickten in ihm einen Lehrer ihrer Nation und stilisierten ihn zu jemandem, der für und mit dem Volk litt und durch seinen Fleiß seinen Landsleuten ein Beispiel gab. Insbesondere für die Demokraten, die eine große Funeralfeier am stärksten forcierten, stellte diese einerseits einen Akt der Wiedergutmachung dar für die ihrer Ansicht nach ungerechte Verfolgung Kraszewskis durch die preußischen Behörden, und andererseits sollte sie ein Trost für das geteilte Polen sein. Einen Unterstützer fanden sie in dem eher konservativen Krakauer Stadtpräsidenten Feliks S­ zlachtowski. Die Krakauer hohe Geistlichkeit sowie die katholische Aristokratie befand sich indes angesichts der geplanten Feierlichkeiten in einem Zwiespalt. Über die Haltung der Ultramontanen angesichts der Beisetzung Kraszewskis schrieb der Krakauer Kunsthistoriker Michał Rożek: »Dieses Mal erhitzten in der polnischen Hölle die Geistlichen den Teer.«268 Diese Einschätzung lässt sich anhand der katholischen Publizistik aus dem Jahr 1887 allerdings nicht belegen. Vielmehr bereiteten die veröffentlichten katholischen Meinungen dem verstorbenen Schriftsteller, um im Bild zu bleiben, ein Fegefeuer im klassischen theologischen Sinne: Von seinen Makeln wurde Kraszewski gereinigt, um dann in die himmlische Herrlichkeit einzugehen. In allen drei Teilungsgebieten würdigten katholische Publikationen in den Nachrufen Kraszewskis Arbeit als Schriftsteller. Teilweise wurden auch seine Mängel angesprochen, die ihm aber angesichts seiner gesamten Lebensbilanz nachgesehen wurden – oder man verwies auf Kraszewskis Bekenntnis zur katholischen Kirche und ihrem Oberhaupt in Dresden in Kraszewskis Jubiläumsjahr 1879. Das Andenken an den verstorbenen Dichter wollten trotz oder gerade wegen der Differenzen zu Lebzeiten Katholiken für sich nutzen. Erleichtert wurde ihnen dieses Ansinnen von der allgemein verbreiteten Nachricht, Kraszewski sei nach dem Empfang der letzten Sakramente gestorben. Die zu Kraszewskis Lebzeiten offen gebliebene Frage, wie er es nun mit der katholischen Religion halte, schien damit geklärt. Kraszewskis religiöse Devianz gehörte so aus ultramontaner Sicht der Vergangenheit an, und führende Katholiken konnten sich der allgemeinen Trauer für Kraszewski anschließen und sein Andenken in eine katholische Lesart überführen. Jedoch tauchten vermittelt durch Schilderungen von Kraszewskis Sterbe­ stunde durch Teodor Tomasz Jeż bereits Zweifel auf, ob Kraszewski tatsächlich

268 Rożek: Wawel i Skałka 241.

192  Der nicht alltägliche Tod im Einklang mit der Kirche gestorben sei. Doch führte der in Warschau erscheinende Przegląd Katolicki dieses eventuelle Versäumnis auf Kraszewskis Umfeld, nicht aber auf Kraszewskis Willensentscheidung zurück, was aus kirchlicher Sicht entscheidend war: Als »unkatholisches« Sterben galt das Sterben erst dann, wenn der Sterbende aus eigenem Antrieb heraus den Empfang der letzten Sakramente bewusst verweigerte. Daher legten diejenigen, die in Kraszewski einen frommen Polen sehen wollten, der als katholischer und polnischer Schriftsteller in Erinnerung bleiben sollte, so viel Wert auf dieses Detail. Sich dem Kult um den verstorbenen Schriftsteller vollkommen zu entziehen, war eine Haltung, die nur sehr wenigen Katholiken in den Sinn kam. Einer dieser wenigen war der Krakauer Jesuit Marian Morawski. Die Jesuiten hatten als einzige katholische Gemeinschaft nicht an der Beisetzung Kraszewskis teilgenommen. Morawski bezeichnete Kraszewskis Haltung zur Kirche als »un­ entschlossen« und schrieb ihm keinen Sinneswandel auf dem Sterbebett zu. Kraszewskis Verdienste als Schriftsteller relativierte er teilweise und betrachtete – so wie der Stadtrat Henryk Jordan – den von Preußen erhobenen Vorwurf der Spionage als einen Makel. Für Bischof Albin Dunajewski wäre es allerdings schwer gewesen, einen solchen dezidierten Standpunkt einzunehmen, und das nicht nur weil ihm in anonymen Schreiben damit gedroht worden sei, dass seine Fensterscheiben eingeschlagen werden würden.269 Kraszewskis herausragende Stellung im kulturellen, geistigen und gesellschaftlichen Leben war spätestens mit der Jubiläumsfeier von 1879 manifest geworden, so dass es einen Proteststurm ausgelöst hätte, wenn Dunajewski die Beisetzung in der Krypta der Verdienten verweigert hätte. Anders ausgedrückt: Kraszewski ließ sich nicht mehr erfolgreich exklu­ dieren, also versuchten ihn Vertreter der katholischen Kirche zu inkludieren: Bischof Dunajewski feierte das Requiem, der Publizist Dębicki erdichtete eine fromme Sterbestunde und der Prediger Chotkowski sowie die katholischen und konservativen Zeitungen zeigten sich einig, dass sowohl Kraszewskis publizistische Angriffe auf das Papsttum als auch der versäumte Sakramentenempfang lediglich auf äußere Einflüsse zurückzuführen seien. Auch wenn sie anschließend mit dem Schriftsteller und Freidenker Jeż über die Frage stritten, wessen Interpretation und Darstellung die richtige sei, so erwies sich auf lange Sicht die Zähmung des Andenkens an Kraszewski als durchaus erfolgreich. Zudem hatten sie verhindern können, dass die Erinnerung an Kraszewski mit der Erinnerung an eine große antikirchliche Trauerfeier verbunden sein würde. Zwar hatte sich die hohe Krakauer Geistlichkeit dafür von der Nationalbewegung 269 Ein Artikel in der Satirezeitung Djabeł suggerierte, Dunajewski habe sich mit dem Gedanken getragen, den Feierlichkeiten fernzubleiben, sich aber aufgrund anonymer Drohungen, die Katzenmusik und zerschmissene Fensterscheiben beinhalteten, eines anderen besonnen: Dumanie pana Jacentego. In: Djabeł Nr. 9 vom 4.5.1887, 1–2.

»Ein Sohn der Rus in Krakauer Erde« 193

ver­einnahmen lassen müssen, doch konnten aufgrund dieser Flexibilität katholische Geistliche und katholische Publizisten nun umgekehrt auch das Andenken an Kraszewski in ihrem Sinne ausdeuten. So heftig die Streitigkeiten um Kraszewskis Andenken auch geführt worden waren, so sollten sie schon kurze Zeit später verebben. Krakau sollte schon bald nach der Beisetzung Kraszewskis Zeuge einer weiteren Beerdigung werden. Im Mai 1887 starb der ehemalige Stadtpräsident Mikołaj Zyblikiewicz, zu dessen Amtszeit das große Jubiläum Kraszewskis in Krakau gefeiert worden war. Er starb so, wie sich das die katholische Kirche wünschte: Er beichtete vor seinem Tod bei einem unierten Priester – Zyblikiewicz war griechisch-katholisch gewesen.270 Die Koinzidenz der beiden Todesfälle  – Kraszewskis und Zyblikiewiczs – führte dazu, dass sowohl das Sterben als auch die Beisetzung dieser beiden unterschiedlichen Männer miteinander verglichen wurden. Tatsächlich entwickelte sich die Trauerfeier für Zyblikiewicz zu einem Gegenbild der Beisetzung Kraszewskis. Während sich Aristokratie und hoher Klerus angesichts der Beisetzung Kraszewskis verhalten gezeigt hatten, so nahmen sie an der Beisetzung Zyblikiewicz’ zahlreich teil und demonstrierten damit zugleich die Einheit des Kronlandes Galizien und der katholischen Kirche. Diese Demonstration war umso nötiger, als die Einheit gerade realiter stark gefährdet war, wie das nächste Kapitel darlegen wird.

2.3 »Ein Sohn der Rus in Krakauer Erde« – Die Beisetzung von Mikołaj Zyblikiewicz als Demonstration der Landeseinheit 2.3.1 Funeralfeiern als Instrumente der Politik Groß inszenierte Beisetzungen sind häufig ihrem Wesen nach hoch politisch. Oftmals gewinnen sie eine besondere Bedeutung, wenn sich ein Herrscher mit einem »Prisma der Macht« konfrontiert sieht, wie es der Kulturwissenschaftler Olaf B. Rader bezeichnet hat: Situationen, in denen seine Herrschaft in Frage gestellt oder bedroht wird. In einer solchen Lage können Totenriten als ein symbolisches Kapital dienen, die gerade in Krisenzeiten Machtverhältnisse stabilisieren.271 Anders ausgedrückt: Totenriten sind auch ein Mittel der (politischen) Krisenintervention. Für die herrschenden Schichten Krakaus zeichneten sich in den 1880er Jahren verschiedene krisenhafte Erscheinungen am Horizont ab, eine davon war 270 Homola, Irena: Mikołaj Zyblikiewicz (1823–1887). Wrocław u. a. 1964, hier 180. 271 Rader: Prismen der Macht 318 f. und 338–342.

194  Der nicht alltägliche Tod die zunehmende Desintegration des Kronlandes Galizien und Lodomerien, befördert durch Auseinandersetzungen zwischen Ruthenen und Polen. Diese Auseinandersetzungen beruhten auf einem Konglomerat von sozialen, politischen und religiösen Kontroversen: Da oftmals ruthenische unierte Kleriker nationale Akteure waren, verbanden sich hier Religion und Politik auf das Engste. So waren pro-orthodoxe Tendenzen unter griechisch-katholischen Gläubigen und Klerikern keine rein innerreligiöse oder theologische, sondern auch eine politische Frage: Sympathien für die Orthodoxie waren oftmals gleichbedeutend mit russophilen respektive panslavistischen Tendenzen und damit mit einer Opposition gegen die polnische Vormachtstellung im Kronland gleichzusetzen. Gerade in den 1880er Jahren zeigten sich in dieser Hinsicht Konflikte. Umgekehrt sorgte der polnische Einfluss beispielsweise hinsichtlich der Ernennung griechisch-katholischer Bischöfe sowie Latinisierungsbestrebungen unter Ruthenen für Unmut.272 Während daher unter den lateinischen Katholiken die Sorge vor einem Schisma wuchs, empfanden Unierte die Interventionen von römischkatholischer Seite als unzulässig. In dieser Situation war die Beisetzung des gebürtigen Ruthenen und galizischen Landespolitikers Mikołaj Zyblikiewicz (1823–1887) im Mai 1887 eine wichtige Symbolhandlung, die als performativer Akt eine geeinte galizische Gesellschaft repräsentieren sollte. Heute kaum noch bekannt, war Zyblikiewicz seinerzeit ein Ausnahmepolitiker: Aus einer ruthenischen Handwerkerfamilie stammend gelang ihm im Kronland Galizien als Bürgerlicher eine beispiellose politische Karriere, die in dieser Form keinen Vorgänger und keinen Nachfolger kannte. Als einziger Nichtadliger bekleidete er das höchste Amt im Kronland, zuvor hatte er als Stadtpräsident Krakaus dessen Genese zur spirituellen Hauptstadt des geteilten Polens mitbegründet.273 Zyblikiewicz war zwar ruthenischer Herkunft, dennoch war sein polnischer Patriotismus eine der wichtigsten Leitlinien seines politischen Handelns, für den er in jungen Jahren seine akademische Karriere gefährdete. Er verkörperte so als Person die von vielen Polen vertretene Devise gente Ruthenus, natione Polonus. Darin äußerte sich die Vorstellung, dass die Ruthenen einen polnischen Stamm, nicht jedoch eine eigenständige Nation darstellten.

272 Zur Thematik der Bischofsernennungen siehe Saurer, Edith: Die politischen Aspekte der österreichischen Bischofsernennungen 1867–1903. Wien, München 1968, hier 140–179. 273 Trotz dieser bemerkenswerten Karriere hat sich die Historiographie in den letzten Jahrzehnten nicht mit Zyblikiewicz beschäftigt. Die in den 1960er und 1970er Jahren verfassten Studien zu seiner Biographie allgemein und zu seinem Wirken als Stadtpräsident sowie später als Sejmmarschall stammen beide aus der Feder der Krakauer Historikerin Irena Homola und sind primär an Zyblikiewicz’ politischem Werdegang interessiert, siehe Homola, Irena: Mikołaj Zyblikiewicz (1823–1887). Wrocław u. a. 1964. Dies.: Kraków za prezydentury Mikołaja Zyblikiewiecza (1874–1881). Kraków 1976.

»Ein Sohn der Rus in Krakauer Erde« 195

Noch etwas weiteres kam hinzu, was die Beisetzung Zyblikiewicz’ zum Balsam für die Seelen all derjenigen Aristokraten und geistlichen Würdenträger werden ließ, die der Beisetzung Kraszewskis wegen dessen politischen und religiösen Standpunkte skeptisch gegenüber gestanden hatten: Zyblikiewicz repräsentierte vor allem im Hinblick auf sein Sterben ein Gegenbild zu Kraszewski, hatte er doch anders als letzterer zuvor noch die Sterbesakramente erhalten. Sein Sterben avancierte damit zu einem Beispiel für ein vorbildhaftes katholisches Sterben. Ein weiterer Punkt unterschied Zyblikiewicz’ Beisetzung stark von der des im selben Jahr verstorbenen Kraszewski: Kraszewskis Beisetzung war in diplomatischer Hinsicht sehr heikel gewesen, weil er auf der Flucht vor preußischen Behörden gestorben war, weswegen eine große offizielle Beisetzungsfeier der mit Preußen verbündeten Wiener Zentralregierung sehr unwillkommen war. Die Beisetzung des ehemaligen Landesmarschalls Zyblikiewicz hingegen, der den Kaiser während seiner Galizienreise als Stadtpräsident von Krakau willkommen geheißen hatte und kurz darauf von diesem zum Landesmarschall ernannt worden war, war politisch unproblematisch. Mehr noch: Die galizische Aristokratie konnte nach der heiklen, national imprägnierten Feier für Kra­ szewski nun ihre Loyalität gegenüber dem Kaiser demonstrieren. Wie und warum die Beisetzung von Mikołaj Zyblikiewicz angesichts der politischen und kirchlichen Vorgänge der 1880er Jahre zu symbolischem Kapital werden konnte, soll Gegenstand dieses Kapitels sein. Zum besseren Verständnis werden zunächst die Vorgänge innerhalb der unierten Kirche geschildert, die auf polnischer Seite die Furcht vor einem Schisma nährten. Warum gerade­ Zyblikiewicz sich aus polnischer Sicht als Integrationsfigur eignete, soll ein Blick auf seine Biographie erhellen. Wie sein Tod sein Potenzial als Integrationsfigur zusätzlich stärkte, wird anschließend behandelt, bevor dann die Funeralfeier mit ihrer Rhetorik und Symbolsprache im Zentrum der Analyse stehen wird.

2.3.2 Krisensymptome: Die religiöse und politische Desintegration des Kronlandes Ein häufig zu hörendes Wort bei der Beisetzung von Mikołaj Zyblikiewicz war der Begriff »Einheit« – gemeint waren die Einheit des Kronlandes und die Einheit der katholischen Kirche, die in Galizien aus dem lateinischen, griechischen und armenischen Ritus bestand. Die Tatsache, dass die Einheit wieder und wieder beschworen wurde, lässt erahnen, dass sie ein Desiderat darstellte. Während viele Polen an der Vorstellung festhielten, dass die Ukrainer nur einen »Stamm« innerhalb der polnischen Nation darstellten, entwickelte die ruthenische Intelligenz, vor allem vertreten durch den unierten Klerus, mehr und mehr die Vorstellung einer ruthenischen Nation, wobei die Altruthenen eine enge Anlehnung an Russland proklamierten, die Jungruthenen dagegen

196  Der nicht alltägliche Tod die ukrainische Nation als eigenständig betrachteten. Beide Varianten missfielen der polnischen Oberschicht ebenso wie der Wiener Zentralregierung, weil sie die Stabilität des ohnehin fragilen Kunstgebildes des Kronlandes Galizien und Lodomerien gefährdeten. Zudem war – gerade nachdem die Union in der Diözese Chełm im russischen Teilungsgebiet im Jahr 1864 aufgehoben und die Diözese damit orthodox geworden war — die Angst vor einem eventuellen Schisma in Ostgalizien groß. Bestärkt wurde die Angst dadurch, dass ein großer Teil  der unierten Geistlichkeit als der Orthodoxie zugeneigt galt. Zudem hatte Russland vor der Konversion der Diözese Chełm russophile unierte Priester angeworben, die eine »Veröstlichung« der dortigen unierten Kirche bewirken sollte. Die Konversion war schließlich unter einem aus Galizien stammenden Bischof erfolgt.274 Das daraus resultierende Misstrauen österreichischer- und polnischerseits gegenüber dem unierten Klerus schien sich im Jahr 1881 zu bestätigen, als Bauern aus dem Dorf Hnylychky gegenüber dem Lemberger Konsistorium geschlossen erklärten, von der griechisch-katholischen zur orthodoxen Kirche konvertieren zu wollen. Der Anlass war eigentlich trivial und weder politisch noch theologisch begründet: Sie wollten die Unabhängigkeit ihrer Pfarrkirche von der Pfarrkirche im Nachbarort erreichen, um diese nicht mitfinanzieren zu müssen. In ihrer Deklaration fanden sich jedoch auch Aussagen über den Katholizismus als Gefahr für die ruthenische Nation. Offenbar hatten die Bauern die Schrift nicht selbst verfasst, als Autor wurde bald der Priester I­oann ­Naumovych identifiziert. Er, weitere Russphile sowie zwei der Bauern aus­ Hnylychky wurden daraufhin von den österreichischen Behörden verhaftet und vor Gericht gestellt. Die Anklage lautete auf Hochverrat und warf den Angeklagten unter anderem vor, eine Massenkonversion zur Orthodoxie vorbereitet zu haben.275 Zwar wurden die Angeklagten freigesprochen, doch waren nach dem Prozess die Russophilen vielfach diskreditiert, nachdem bekannt geworden war, dass sie trotz ihrer vordergründigen Loyalität zu Österreich Hilfe und Unterstützung von Russland in Anspruch genommen hatten.276 Für die polnischen Katholiken war dies jedoch ein zwiespältiger Erfolg: Denn von der Schwächung der altruthenischen Partei profitierte das jungruthenische Lager, das eine ukrainische Identität unabhängig von Russland postulierte. 274 Himka, John-Paul: The Greek Catholic Church in Galicia, 1848–1914. In: Harvard Ukrainian Studies 26/1–4 (2002–2003) 245–260, hier 248–250. 275 Himka, John-Paul: Religion and Nationality in Western Ukraine. The Greek Catholic Church and the Ruthenian National Movement in Galicia 1867–1900. Montreal 1999, hier 73–78. 276 Rudnytsky, Ivan L.: The Ukrainians in Galicia under Austrian Rule. In: Markovits, Andrei S./Sysyn, Frank E. (Hg.): Nationbuilding and the Politics of Nationalism. Essays on Austrian Galicia. Cambridge/Massachusetts 1982, 23–67, hier 48. Wandysz, Piotr S.: The Lands of Partitioned Poland 1795–1918. Seattle/Washington 1974, hier 258.

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Mittelbaren Einfluss hatte die Affäre zudem auf einen weiteren, in dieser Zeit für die griechisch-katholische Kirche bedeutsamen Vorgang: die Reform des griechisch-katholischen Basilianerordens, die in der griechisch- wie römischkatholischen Kirche aufgrund des als zu gering erachteten Ordensnachwuchses und der als mangelhaft angesehenen Einhaltung der Ordensregel als nötig erachtet wurde. Uneins war man sich jedoch bezüglich der Mittel: Zur Debatte stand eine direkte Unterstellung des Ordens unter den Lemberger Metropoliten oder unter den Heiligen Stuhl. Aufgrund der jüngsten Ereignisse fiel die Wahl schließlich auf die zweite Lösung, was in der ruthenischen Öffentlichkeit, aber auch im Orden selbst zu Protesten führte.277 Vor dem Hintergrund dieser beiden Vorkommnisse wurde dem amtierenden Lemberger Metropoliten Józef Sembratowicz eine nachlässige Amtsführung vorgeworfen, weswegen sich Graf Alfred Potocki als Statthalter Galiziens, das Wiener Ministerium für Religion und Erziehung und der Vatikan darauf einigten, Sembratowicz zum Rücktritt zu drängen und ihn nach Rom zu berufen.278 Die beiden Vorfälle – der Hochverratsprozess wie die umstrittene Reform des Basilianerordens – hatten das Misstrauen auf beiden Seiten genährt: Die eine Seite fürchtete die Latinisierung und »Jesuitisierung« der griechisch-katholischen Kirche, die andere Seite trieb die Sorge vor einem Schisma um. Letztere bestärkte die Tendenz Roms, in Absprache mit polnisch-galizischen Vertretern, griechisch-katholische Bischofsstühle mit ausgewiesenen romtreuen und habsburgloyalen Klerikern zu besetzen und ihre Loyalität entsprechend zu honorieren. So wurde als Nachfolger von Józef Sembratowicz dessen Neffe Sylwester Sembratowicz ernannt. Dieser hatte sein Theologiestudium in Rom absolviert und war im Jahr 1878 zum Titularbischof ernannt worden. Schon damals war die Ernennung mit dem Ziel verbunden gewesen, russophile Elemente in der griechisch-katholischen Geistlichkeit zu schwächen.279 Den Bischofsstuhl von Przemyśl hatte schon seit 1871 der als polonophil und romtreu geltende Jan Stupnicki inne, den 1879 Papst Leo XIII. zum päpstlichen Hausprälaten ernannte und in den Grafenstand erhob und dem Kaiser Franz Joseph I. 1881 das Verdienstkreuz II. Klasse verlieh.280 Zum Bischof der 1885 neu geschaffenen Eparchie Stanisław wurde Julijan Pełesz ernannt, der zuvor in Wien dem griechisch-katholischen Seminar Barbareum als Rektor vorge­ standen sowie den jungen Kronprinzen Rudolph unterrichtet hatte.281 Solche Maßnahmen sicher­ten einerseits dem Vatikan und dem Kaiserhaus ihnen er­ 277 Himka: Religion and Nationality 79–84. 278 Ebd. 84–94. 279 Sembratowicz Sylwester. In: Polski słownik biograficzny. Bd. 36. Warszawa/Kraków 1995–1996, 212–217, hier 213. 280 Stupnicki Saturnin Jan. In: Polski słownik biograficzny. Bd. 45. Warszawa/Kraków 2007–2008, 168–171. 281 Pełesz Julian. In: Polski słownik biograficzny. Bd. 25. Wrocław u. a. 1980, 570–571.

198  Der nicht alltägliche Tod gebene griechisch-katholische Bischöfe, andererseits nährten sie das Empfinden ukrainischer Gläubiger, dass der lateinische und damit der polnische Einfluss nun auch auf ihre innerreligiösen Angelegenheiten ausgreife.282 Kurz gesagt: Die Ereignisse der 1880er Jahre hatten auf beiden Seiten das Misstrauen vertieft und dort die Angst vor Bevormundung und Polonisierung, hier die Sorge vor einem Schisma vertieft. Zu einer größeren Herausforderung war die ruthenische Nationalbewegung zudem insofern für die polnische Seite geworden, als sich die ruthenische Öffentlichkeit nach der Schwächung der russophilen Stimmen nun einheitlicher zeigte und die unierte Kirche noch enger mit der ruthenischen Nationalbewegung verbunden war. Die polnische Öffentlichkeit hingegen war aufgrund sozialer, politischer und religiöser Gegensätze stärker fragmentiert.283

2.3.3 Mikołaj Zyblikiewicz – eine politische Karriere Vor diesem Hintergrund erschien Mikołaj Zyblikiewicz als geeignete Person, um das gegenteilige Konzept der politischen und religiösen Einigkeit der Gali­ zier zu demonstrieren: Zyblikiewicz stammte aus einer ruthenischen Familie und fühlte sich der polnischen Nation zugehörig. Zudem kam er aus einer Region, in der polnische und ruthenische Kultur aufeinander trafen. Er war in der Nähe der 75 Kilometer südwestlich von Lemberg gelegenen Stadt Sambor (ukrainisch Sambir) als Kind einer griechisch-katholischen Handwerksfamilie – sein Vater war Kürschner – aufgewachsen. Seine bescheidene Herkunft empfand er im aristokratisch geprägten Galizien offenbar als Makel: So behauptete er von sich selbst, aus einer reichen großbürgerlichen Familie zu stammen.284 Tatsächlich war seine ruthenische und bürgerliche Herkunft eigentlich ein Faktum, das im aristokratisch wie polnisch dominierten Galizien einen politischen Aufstieg ausschloss, waren doch alle politischen Ämter mit Polen besetzt. Doch auch wenn die galizischen Aristokraten, die zugleich das konservative politische Spektrum repräsentierten, eine sozial exklusive Schicht bildeten, konnten auch einige Nichtadelige den sozialen Aufstieg schaffen.285 Schließlich konnte der status quo aufrechterhalten bleiben, wenn sich die herrschende Schicht zu Kon 282 Himka, John-Paul: Dimensions of  a Triangle, Polish-Ukrainian-Jewish Relations in Austrian Galicia. In: Polin, Bd.  12: Focusing on Galicia. Jews, Poles and Ukrainians ­(1772–1918). London u. a. 1999, 25–48, hier 41. 283 Janowski, Maciej: Galizien auf dem Weg zur Zivilgesellschaft. In: Rumpler, Helmut/ Urbanitsch, Peter (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Band VIII: Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. 1. Teilband: Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation. Wien 2006, 805–858, hier 827. 284 Homola: Mikołaj Zyblikiewicz 9. 285 Janowski: Galizien auf dem Weg zur Zivilgesellschaft 810.

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zessionen bereit zeigte. Der bürgerliche und ruthenische Zyblikiewicz konnte angesichts der politischen Forderungen von Ruthenen auch als Feigenblatt dienen. Gleichwohl war seine politische Karriere an die Bedingung seines Engagements für das »Polentum« geknüpft. Zyblikiewicz studierte zunächst an der Philosophischen Fakultät der Uni­ versität Lemberg und war anschließend als Lehrer in Tarnów tätig. Dort zeigte sich bereits sein polnischer Patriotismus, für den er seine berufliche Existenz riskierte: Er weigerte sich, das lateinische Lehrbuch zu verwenden und nutzte stattdessen ein polnisches, weswegen er entlassen wurde. Mit seinem Einsatz für das Polnische als Unterrichts- und Behördensprache sollte er später im politischen Leben Krakaus positiv auf sich aufmerksam machen, als er sich in den Amtsgerichten für Polnisch als Behördensprache einsetzte und später Studenten unterstützte, die das Polnische als Unterrichtssprache an der Jagiellonenuniversität einforderten. Da der polnische Patriotismus ein gemeinsamer Nenner von Liberalen und Konservativen war, erhielt Zyblikiewicz mit diesem Einsatz in den verschiedenen politischen Lagern positive Resonanz.286 Nach Krakau hatte ihn sein Jurastudium geführt, welches er nach seiner Entlassung aus dem Lehrerstand begann. Nach seiner juristischen Dissertation arbeitete er zunächst für die konservative Krakauer Tageszeitung Czas, bevor er seine eigene Kanzlei in Krakau eröffnete. Anschluss an das gesellschaftliche Leben Krakaus fand er rasch. Entscheidenden Einfluss auf seine spätere politische Karriere hatte dabei die Bekanntschaft mit dem Grafen Adam Józef ­Potocki, einem Vertreter der Hocharistokratie und zugleich einem der führenden und einflussreichsten Krakauer Konservativen, den Zyblikiewicz später als Anwalt vertrat und der zu seinem politischen und beruflichen Förderer wurde. Mit der Unterstützung Adam Potockis wurde Zyblikiewicz 1861 zum Abgeordneten des im selben Jahr durch das Februarpatent geschaffenen Galizischen Landtags gewählt.287 Kurz darauf wurde er in den österreichischen Reichsrat entsandt, wo er ebenso wie im Galizischen Landtag als talentierter Redner auf sich aufmerksam machte.288 Sein Agieren in der Landespolitik war gekennzeichnet von der Loyalität zum Hause Habsburg sowie der Forderung nach einer kulturellen Autonomie der Polen in Galizien.289 Er war auch einer der ersten, die sich an der Diskussion um die künftige Ausgestaltung der Habsburgermonarchie im Allgemeinen und die des Kronlandes Galizien im Besonderen beteiligten.290 Als im Jahr 1874 Stadtpräsident Józef Dietl zurücktrat, erschien den Krakauer Konservativen Zyblikiewicz als geeigneter Nachfolger: Er war politisch 286 Homola: Mikołaj Zyblikiewicz 13. 287 Ebd. 9–17. 288 Homola: Kraków za prezydentury Mikołaja Zyblikiewieza 73 f. 289 Ben-Joseph, Marc: Adversities of Autonomy. Bank Krajowy Królestwa Galicyi i Lodomeryi and the Politics of Credit in Galicia 1870–1913. Kraków 1999, hier 51. 290 Homola: Kraków za prezydentury Mikołaja Zyblikiewieza 69–79.

200  Der nicht alltägliche Tod versiert, galt als energisch291 und war nicht zuletzt als früherer städtischer Verwalter mit den wirtschaftlichen wie administrativen Angelegenheiten der Stadt vertraut. Nur knapp gelang es jedoch den Stańczyken, Zyblikiewicz gegen den ebenfalls bürgerlichen Kandidaten der Demokraten, Ferdynand Weigel, durchzusetzen. Zyblikiewicz’ Wirken als Stadtpräsident war von drei Anliegen geprägt: Er ließ erstens die städtische Infrastruktur modernisieren, in ideeller Hinsicht war ihm zweitens daran gelegen, polnische nationale Belange zu fördern und dabei drittens zugleich Loyalität gegenüber den Habsburgern zu wahren. Das tat er unter anderem, indem er Krakaus Genese zur kulturellen Hauptstadt förderte: So fielen die Renovierung der Tuchhallen, die Errichtung eines Nationalmuseums, das Kraszewskijubiläum und die Eröffnung der Krypta der Verdienten in seine Amtszeit.292 Höhepunkt aber war der Besuch des Kaisers Franz Joseph in Krakau im Jahr 1880, der zugleich sehr gut illustriert, wie sich bei Zyblikiewicz polnischer Patriotismus und Kaisertreue verbanden. Zyblikiewicz bereitete dem Kaiser einen wohlwollenden, ja prachtvollen Empfang, bei dem Franz Joseph als allseits beliebter Landesvater gefeiert wurde. Zyblikiewicz dankte ihm nicht nur ausdrücklich für die den Polen in Galizien gewährten nationalen Freiheiten, sondern erkannte ihn in einer hochsymbolischen Geste auch als rechtmäßigen Nachfolger der polnischen Könige an: Er bot dem Kaiser den Wawel als imperiale Residenz an. Gleichzeitig hatte diese Geste der Ergebenheit eine polnisch-nationale Konnotation: Seit der Annexion Krakaus durch Österreich nutzten österreichische Truppen den Wawel als Garnison. Wenn der Wawel zur kaiserlichen Residenz würde, bedeutete dies auch einen Abzug der österreichischen Truppen.293 Der Kaiser war offenbar von seinem Besuch in Krakau wie von seinem Gastgeber angetan: Er verlieh Zyblikiewicz den Franz-Joseph-Orden (Komturkreuz mit Stern) und berief ihn ins Herrenhaus. Als Ende des Jahres 1880 Sejmmarschall Graf Ludwik Wodzicki sein Amt niederlegte, ernannte Kaiser Franz­ Joseph Zyblikiewicz im Januar des Folgejahres zum Nachfolger im höchsten Amt des autonomen Galiziens.294 Die Ernennung war insofern bemerkenswert, als das Amt des Landesmarschalls bislang (und auch danach) ausschließlich von Personen aus der Hocharistokratie bekleidet worden war.295 291 Homola: Mikołaj Zyblikiewicz 74 f. 292 Ebd. 130–134. 293 Unowsky, Daniel: »Our Gratitude Has No Limit«. Polish Nationalism, Dynastic Patriotism, and the 1880 Imperial Inspection Tour of Galicia. In: Austrian History Yearbook 34 (2003) 145–171, hier 154–160. 294 Homola: Mikołaj Zyblikiewicz 134. 295 Grodziski, Stanisław: Der Landtag des Königreiches Galizien und Lodomerien. In: Rumpler, Helmut/Urbanitsch, Peter (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd.  VII: Verfassung und Parlamentarismus, 2.  Teilband: Die regionalen Repräsentativkörperschaften. Wien 2000, 2131–2169, hier 2149.

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Die Bilanz Zyblikiewicz’ als Landesmarschall war durchwachsen. Als sein größter Erfolg galt die Einrichtung einer Landesbank.296 Für Unmut sorgte hingegen seine Haushaltspolitik, namentlich Einsparungen im Schulwesen und bei den Krankenhäusern, die neben der Schließung der psychiatrischen Abteilungen vorsahen, dass unheilbar Kranke nicht länger in Spitälern behandelt werden sollten.297 Geringen Erfolg konnte er zudem bei seinem zweiten wichtigen Projekt verbuchen, der verstärkten Industrialisierung Galiziens, welches keine Unterstützung der polnischen Aristokraten fand – diese waren zumeist Großgrundbesitzer und begegneten einer Industrialisierung des Landes mit Argwohn.298 Dass Zyblikiewicz 1885/1886 schließlich zurücktrat, hatte mehrere Gründe, zu denen auch die nachlassende Unterstützung seiner bisherigen Förderer zählte. Nach außen gab er gesundheitliche Gründe für diesen Schritt an. Er starb ein Jahr später an einer Lungenentzündung, an der er ausgerechnet während einer Reise in seine Heimatgegend anlässlich der Beisetzung seines Neffen erkrankt war.299 In der Folge rückten andere Gründe für seine Demission in den Hintergrund.

2.3.4 Ein friedlicher und frommer Tod Mikołaj Zyblikiewicz starb am 16. Mai 1887 und damit etwa einen Monat nach der prachtvollen Beisetzung Józef Ignacy Kraszewskis in Krakau. Die zeitliche Koinzidenz motivierte schon Zeitgenossen, die beiden Todesfälle sowie die Trauerfeierlichkeiten miteinander zu vergleichen.300 Mit diesem Vergleich wurden die beiden Verstorbenen und ihre Begräbnisse zu zwei Gegenpolen, was nicht einer gewissen Ironie entbehrte: Das große Kraszewskijubiläum in Krakau im Jahr 1879 war schließlich unter der Ägide von Zyblikiewicz als Stadt­ präsident gefeiert worden. Zyblikiewicz hatte durch seine Umsicht sehr zum Gelingen der Feierlichkeiten beigetragen, indem er das Jubiläum des Schriftstellers mit der Einweihung der erneuerten Tuchhallen auf dem Marktplatz verbunden301 und dadurch den Feierlichkeiten eine Vielschichtigkeit verliehen hatte, dank derer sie zu einem allgemein genehmen und vielfältig lesbaren Ereignis werden konnten. Nun aber, nach ihrem Tod, erschienen Kraszewski und Zyblikiewicz in den ihnen gewidmeten Begräbnisfeierlichkeiten als die beiden

296 Ben-Joseph: Adversities of Autonomy 50–58. 297 Homola: Mikołaj Zyblikiewicz 142. 298 Ebd. 170. 299 Homola: Kraków za prezydentury Mikołaja Zyblikiewieza 332 f. 300 Morawski: Dwa pogrzeby. Świderska, Alina: Trwa, choć przeminęło. In: Gintel, Jan (Hg.): Kopiec Wspomnień. Kraków 1964, 301–340, hier 319. 301 Siehe Kapitel 2.2.

202  Der nicht alltägliche Tod jeweils entgegengesetzten Enden des politischen und weltanschaulichen Spektrums: Als Literat stand Kraszewski vor allem für die polnische Kulturnation, während Zyblikiewicz als Landespolitiker vor allem das habsburgische Kronland Galizien verkörperte. Während die Frage, ob Kraszewski nun die letzten Sakramente empfangen hatte oder nicht, die Gemüter erhitzte, war es schnell allgemein bekannt, dass der in Krakau verstorbene Zyblikiewicz vor seinem Tod einen Priester hatte rufen lassen. Die Darstellungen von Zyblikiewicz’ Sterbestunde unterschieden sich stark von denen, die die polnischsprachige Öffentlichkeit Ende April von den letzten Momenten Kraszewskis hatte lesen können: Während der Schriftsteller den nahenden Tod nicht hatte wahrhaben wollen, soll Zyblikiewicz seinem Ende mit Gelassenheit entgegengesehen haben: Er ließ einen unierten Priester rufen, empfing die letzten Sakramente, regelte sein Erbe, traf Verfügungen für seine Beisetzung und informierte sich über aktuelle politische Fragen, wobei er, wie der Czas mit Stolz erwähnte, aus eben diesem Blatt habe vorlesen lassen. Er verabschiedete sich von den ihn umgebenden Menschen und schlief schließlich für immer ein. »Dieses Leben endete so still und zuversichtlich, wie der Abend still und zuversichtlich war«, charakterisierte die Zeitung Zyblikiewicz’ Sterben.302 Laut dem in Warschau erscheinenden Tygodnik Illustrowany, in dem auch eine Zeichnung Zyblikiewicz’ auf dem Sterbebett abgedruckt wurde, sei Zyblikiewicz mit den Worten »Mir ist leichter um die Seele!« verstorben.303 Findet sich in der Darstellung vor allem die Vorstellung vom romantischen Tod wieder, so verdeutlicht die Zeichnung einen weiteren Aspekt: Sie zeigt Zyblikiewicz in seinem Sterbebett, umgeben von Menschen, von denen er Abschied nimmt, was ein typischer Gedanke der Zeit war. Auffällig ist, dass die Szene kaum einen privaten Charakter besitzt: Der Sterbende befindet sich in der Darstellung nicht im Kreis seiner Familie  – Zyblikiewicz war unverheiratet geblieben. Aus der Familie ist lediglich die Witwe des kürzlich verstorbenen Neffen Zyblikiewicz’ anwesend, die anderen Personen werden als Personen aus der polnischen Oberschicht identifiziert: Zyblikiewicz’ Vertrauter Franciszek Slęk, den er zum Testamentsvollstrecker ernannte, der Krakauer Publizist Ludwik Dębicki, Juliusz Kossak als Vorsitzender des künstlerisch-­ literarischen Kreises, Fürst Tadeusz Lubomirski, der Architekt Tomasz Pryliński und der Stadtpräsident Feliks Szlachtowski. Sie alle blicken mit ernsten, aber gefassten Gesichtern auf den Sterbenden. Dieser sitzt mit müdem Blick aufrecht im Bett, vor dem ein betender Priester kniet. Lediglich eine elegant gekleidete Frau, die auf dem Bild nicht identifiziert wird, wohl aber die im Artikel genannte Frau Wrotnowska, Gattin des Direktors der Landesbank, darstellen soll, weint 302 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 113 vom 18.5.1887, 2. 303 W. K: Zgon i pogrzeb Mikołaja Zyblikiewicza. In: Tygodnik Illustrowany Nr. 231 vom 4.6.1887, 371.

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Abb. 3: Zyblikiewicz’ Sterbestunde. Die Zeichnung aus dem Tygodnik Illustrowany zeigt die »letzten Momente Mikołaj Zyblikiewicz’«, Quelle: Tygodnik Illustrowany Nr.  231 vom 4.6.1887, 372, Biblioteka Cyfrowa Uniwersytetu Łódzkiego.

und schluchzt erkennbar.304 Die Sterbebettszene hatte damit einen sehr repräsentativen, offiziellen Charakter: Sie zeigte einen hohen Politiker im Kreis von Repräsentanten aus Politik, Kultur und Wirtschaft, dadurch wirkte sie zugleich sehr nüchtern und formal. Mit dem ans Sterbebett gerufenen Priester hatte sie zugleich einen frommen Charakter, weswegen das Verscheiden von Zyblikiewicz den Vorstellungen einer guten Sterbestunde entsprach und damit als ein guter und vorbildhafter Tod erschien.305 Auch wenn Zyblikiewicz auf seinem Sterbebett noch angewiesen hatte, Geld für die Finanzierung der Beerdigung zurückzulegen, so wurden die Kosten doch vom Land übernommen, welches seinem ehemaligen höchsten Repräsentanten in Krakau ein prachtvolles Begräbnis ausrichtete. Neben der eigentlichen Absicht, dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen, stellte sie eine Reaktion auf die Beisetzung Kraszewskis dar, deren Aussage sie in mancherlei Hinsicht zu korrigieren versuchte. Zugleich war die Beisetzung eines gebürtigen Ruthe-

304 Ebd. 305 Morawski: Dwa pogrzeby VIII.

204  Der nicht alltägliche Tod nen griechisch-katholischen Bekenntnisses, der sich immer auch und vor allem als Pole verstanden hatte, eine willkommene Gelegenheit, um vor dem Hintergrund der erstarkenden ruthenischen Nationalbewegung nationale Einheit und die religiöse Einheit der katholischen Kirche zu demonstrieren. Um die Vorbereitung kümmerte sich wie schon bei der Beisetzung Kraszew­ skis der Stadtrat, der sich am 17. Mai 1887 zu einer ersten beratenden Sitzung traf. Wieder wurde ein Komitee gebildet, welches sich um die Beisetzung kümmern sollte. Das Komitee sollte sich aus Mitgliedern des Stadtrates wie aus externen Mitgliedern zusammensetzen. Interessanterweise sollten auf Beschluss des Stadtpräsidenten als Mitglieder dieselben berufen werden, die schon im Komitee zur Beisetzung Kraszewskis vertreten waren, außerdem die Herren Kieszkowski, Slęk, Potocki und Kornecki.306 Offenbar wollte der Stadtpräsi­dent auf die Expertise derjenigen zurückgreifen, die kurz zuvor ein großes Staatsbegräbnis organisiert hatten, immerhin stand diesmal nicht so viel Zeit zur Verfügung wie bei Kraszewskis Beisetzung. Dennoch sollte die Beisetzung Z ­ yblikiewicz’ der von Kraszewski in Pracht und Größe in nichts nachstehen. Dazu wurden viele Gäste von außerhalb erwartet. Aufgrund der Befürchtung, dass die Hotel­ zimmer nicht reichen würden, gründete sich ein eigenes Komitee für die Unterbringung, welches die Stadtbewohner dazu aufrief, Privatquartiere zur Verfügung zu stellen.307 Offenbar war Zyblikiewicz’ Ansehen groß genug, so dass sogar der Vorschlag laut wurde, ihn auf dem Wawel beizusetzen, schließlich sei der Landesmarschall einem Landeskönig vergleichbar, heißt es in einem anonymen Schreiben, welches im Aktenbestand zu Zyblikiewicz’ Beisetzung aufbewahrt ist.308 Allerdings wurde Zyblikiewicz weder im Wawel noch in der Krypta der Verdienten beigesetzt, sondern erhielt ein Ehrengrab auf dem Krakauer Friedhof. Darin zeigte sich auch, dass Politiker sich offenbar nicht in dem Maße als Nationalhelden eigneten wie Künstler.309 Als Kämpfer in einem der Aufstände gegen die Teilungsmächte, als politisch Verfolgter oder als Autor eines nationalistischen Epos konnte ein Patriot zum Nationalhelden werden, nicht jedoch, wenn er sich als Politiker in die Niederungen taktischer Ränkespiele begab oder

306 Protokoll der Sitzung vom 17.5.1887. APwK, Uroczystości krakowskie, 29/576/25, Bl. 135–137. Die Vornamen werden nicht genannt. Bei Slęk könnte es sich um Zyblikiewicz’ Vertrauten Franciszek Slęk handeln, mit Potocki könnte sowohl Graf Artur als auch Graf Alfred Potocki gemeint sein, die beide zu der Zeit in der Landespolitik tätig waren. Kieszkowski ist vermutlich der Krakauer Stadtrat Henryk Kieszkowski, und Kornecki Wincenty Kornecki, ein Krakauer Druckereibesitzer. 307 Aufruf vom 19.5.1887. APwK, Uroczystości krakowskie, 29/576/25, Bl. 9. 308 Anonymes Schreiben ohne Datum. APwK, Uroczystości krakowskie, 29/576/25, Bl. 519 f. 309 Marschall von Bieberstein: Freiheit in der Unfreiheit 319.

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sich gegenüber den Habsburgern loyal gerierte. Zudem waren Politiker im Polen des 19.  Jahrhunderts vordringlich Repräsentanten der gegebenen politischen Ordnung, und das hieß auch: der durch die Teilungsmächte geschaffenen Ordnung, so dass sie kaum wie ein Kraszewski oder ein Mickiewicz stellvertretend für die gesamte polnische Nation stehen konnten. Letztlich blieb die Ausstrahlung eines Zyblikiewicz auf das Kronland Galizien beschränkt und erstreckte sich auf alle polnischen Gebiete und auf die im Exil lebenden Polen. Die Ausstrahlungskraft Zyblikiewicz’ mag im Vergleich zu der Kraszewskis begrenzt gewesen sein, dennoch wurde er noch in seinem Tod zu einer Symbolfigur und zu einem Repräsentant des Polentums stilisiert. Der Leichnam des verstorbenen Landesmarschalls wurde in seiner edelsten Kleidung in der Krypta der Piaristenkirche aufgebahrt: Der tote Zyblikiewicz war so gekleidet, wie er als Stadtpräsident und Landesmarschall aufgetreten war, in der typisch polnischen, vom Sarmatismus beeinflussten Nationalkleidung:310 einem karminroten, mit Knöpfen versehenen Samtkontusz, einem seidenen, gemusterten żupan (einem polnischen Herrenkleid); dazu ein Gürtel und eine karabela (polnischer Säbel), die die Stadt Krakau gestiftet hatte, eine Brillantschnalle sowie gelbe Schuhe aus Saffianleder. Den Kontusz hatte er bei seiner Vereidigung als Marschall getragen.311 In dieser Kleidung, die in Farben, Stoffen und Formen dem typischen Kleidungsstil der polnischen szlachta entsprach,312 war Zyblikiewicz in seinem Sterbejahr vom polnischen Historienmaler Jan Matejko verewigt worden.313 Die Renaissance des Sarmatismus erlebte in der Amtszeit Zyblikiewicz’ als Stadtpräsident seine Blütezeit. Diese im 16. Jahrhundert entstandene Strömung beruhte auf der Vorstellung einer Abstammung des polnischen Adels von einem iranischen Reitervolk, was unter den Adligen das Gefühl des Zusammenhaltes und einer besonderen privilegierten Stellung stärkte. Wenn diese Strömung in Galizien insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Renaissance erfuhr, so spiegelte sich darin der Anspruch der dort ansässigen Aristokraten auf die Repräsentanz des Polentums wider. Zahlreiche Besucher strömten am Tag vor der Beisetzung in die Krypta, um dem Verstorbenen die Ehre zu erweisen und den Leichnam zu sehen, der nach 310 Purchla: Krakau unter österreichischer Herrschaft 57; Purchla, Jacek: Druga fala sarmatyzmu. Szlachta w Krakowie w drugiej połowie XIX wieku. In: Małecki, Jan M. (Hg.): Kraków sarmacki. Kraków 1992, 75–106. 311 Przygotowania do pogrzebu ś.p. M. Zyblikiewicza. In: Czas Nr.  114 vom 19.5.1887, 2–3. 312 So findet sich diese Kombination auch auf zeitgenössischen Porträts aus dem 18. Jahrhundert, wie beispielsweise auf dem heute im Wilanow-Palast in Warschau befindlichen Porträt Stanisław Antoni Szczukas aus der Hand eines anonymen Künstlers. Zur sarmatischen Kleidung siehe außerdem Ostrowski, Jan K.: Ubiór narodowy. In: Borowski, Andrzej (Hg.): Słownik Sarmatzymu. Idee, pojęcia, symbole. Kraków 2001, 215–219. 313 Siehe Matejko. Obraze Olejne. Warszawa 1993, hier 138.

206  Der nicht alltägliche Tod dem Ideal der Zeit ästhetisch schön auszusehen hatte. Das spiegelte sich in der leicht indignierten Bemerkung in der Presse darüber wider, dass das Gesicht Zybilikiewicz’ sich sehr verändert und einen unangenehmenen Eindruck gemacht haben soll.314

2.3.5 Eine friedliche Beisetzung Wenige Wochen nachdem Józef Ignacy Kraszewski in Krakau bestattet worden war, versammelte sich in Krakau erneut eine Trauergemeinde auf den Straßen und Plätzen der Stadt. Das regnerische Frühlingswetter schien geradezu ideal für eine Beisetzung: Einerseits passte der pünktlich zum Trauerzug einsetzende Regen zum traurigen Anlass, andererseits konnte die aufblühende Natur als Zeichen des ewigen Kreislaufs des Lebens gedeutet werden. Ein großer Trauerzug, bestehend aus rund 200 Priestern, darunter mehrere Bischöfe315 dreier Teilkirchen, politischen Würdenträgern, Vertretern des Landes, der Städte und der verschiedenen lokalen wie landesweiten Institutionen, gab dem Verstorbenen das letzte Geleit.316 Der Verstorbene war wie Kraszewski in der Krypta der Kirche der Piaristen aufgebahrt worden; wie bei Kraszewski wurde die Liturgie in der Marienkirche gefeiert, doch dann zog der Trauerzug nicht zur Krypta der Verdienten, sondern zum städtischen Friedhof. Wie bei der Beisetzung Kraszewskis konzentrierten sich die Trauerfeierlichkeiten zunächst auf das Zentrum Krakaus: Von der unweit des Marktplatzes gelegenen Kirche der Piaristen wurde der Leichnam unter dem Klang ruthenischer Gesänge zum Marktplatz und zu der sich dort befindlichen Marienkirche geleitet.317 Bereits in den frühen Morgenstunden strömten Menschen in die Straßen. In der Kirche fanden wieder nur wenige Ausgewählte mit spezieller Eintrittskarte Platz. Eine solche benötigte auch, wer dem Spektakel von den Terrassen der den Marktplatz

314 Pogrzeb ś.p. Mikołaja Zyblikiewicza. In: Gazeta Lwowska Nr.  116 vom 23.5.2887, 4 f., hier  4. Zgon ś.p. Zyblikiewicza. In: Nowa Reforma. Nr.  115 vom 19.5.1887, 2.  Nowa­ Reforma vermutet die Einbalsamierung und das Anfertigen der Totenmaske als Ursache für die unangenehme Veränderung des Gesichtes. Kronika. In: Nowa Reforma. Nr. 117 vom 24.5.1887, 3. 315 Viele Zeitungsberichte nennen sechs Bischöfe, andere dagegen acht. 316 Über die Beerdigung berichteten die großen Tageszeitungen Galiziens ausführlich: Pogrzeb ś.p. M. Zyblikiewicza. In: Kurier Krakowski Nr.  117 vom 24.5.1887, 1.  Echa Z Pogrzebu ś.p. Mikołaja Zyblikiewicza. In: Kurier Krakowski Nr.  117 vom 24.5.1887, 1–2. Pogrzeb Zyblikiewicza. In: Czas Nr. 117 vom 24.5.1887, 3. Pogrzeb Zyblikiewicza. In: Czas Nr. 118 vom 25.5.1887, 1–2. Pogrzeb ś.p. Mikołaja Zyblikiewicza. In: Gazeta Lwowska Nr. 116 vom 23.5.1887, 4.  Pogrzeb ś.p. Mikołaja Zyblikiewicza. In: Gazeta Lwowska Nr.  118 vom 25.5.1887, 4. Pogrzeb ś.p. Zyblikiewicza. In: Nowa Reforma Nr. 117 vom 24.5.1887, 2 f. 317 Pogrzeb M. Zyblikiewicza. In: Gazeta Narodowa Nr. 117 vom 24.5.1887, 1–2, hier 2.

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dominierenden Tuchhallen zusehen wollte, ein Platz, der vor allem Frauen zugewiesen wurde.318 Dass die Beisetzung Zyblikiewicz’ in Galizien gefälliger war als die Kraszewskis, zeigte sich schon darin, dass nun alle Schichten des Landes und die herrschenden Eliten zugegen waren. Anders als bei der Beisetzung Kraszewskis waren viele Abgeordnete des Landtags und des Reichsrats zu Zyblikiewicz’ Trauerfeier gereist. Anwesend war zudem das österreichische Offizierskorpus und die österreichische Generalität mit Fürst Windisch-Graetz319 an der Spitze. Gekommen waren die großen Aristokratenfamilien des Landes,320 die bei der Beisetzung Kraszewskis gefehlt hatten. So führte beispielsweise den Trauerzug die Krakauer Wohltätigkeitsgesellschaft (Towarzystwo Dobroczynności) an, vertreten durch Bedürftige unter dem Vorsitz von Gräfin Katarzyna Adamowa­ Potocka,321 der Witwe des Grafen Adam Potocki, der seinerzeit die Karriere Zyblikiewicz’ entscheidend beeinflusst hatte. Selbstverständlich anwesend war auch Zyblikiewicz’ Nachfolger im Amt, Landesmarschall Graf Jan Tarnowski, der bei der Beisetzung Kraszewskis ebenso wie sein Bruder Graf Stanisław Tarnowski, Rektor der Jagiellonenuniversität, gefehlt hatte. Diesmal durften, anders als einen Monat zuvor, kaiserlich-königliche Institutionen geschlossen auftreten. Ebenso war es den Sibiraken, Polen, die aus der Verbannung nach Sibirien zurückgekehrt waren, erlaubt, als Vereinigung im Trauerzug zu marschieren. Die Anwesenheit aller sozialer Schichten wurde dadurch verdeutlicht, dass die Schnüre des Leichentuchs außer von Vertretern aus Wissenschaft und Politik von einem namentlich nicht genannten Bauern aus Wola-Justowska, einem damals vor Krakau gelegenen Dorf, sowie von einem ebenso namenlosen Delegaten aus Zyblikiewicz’ Heimatstadt Stare Miasto (heute ukrainisch Staryj Sambir, im polnischen Stary Sambor) gehalten wurden.322 Hatte sich bei der Beisetzung Kraszewskis vor allem eine egalitäre demokratische Massengesellschaft präsentiert, so zeigte sich bei der Beisetzung­ Zyblikiewicz’ eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft. Dabei war Kraszewski adliger Herkunft gewesen, während Zybklikiewicz hingegen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammte. Hier überwogen die zu Lebzeiten vertretenen Anschauungen und das damit verbundene Auftreten die Herkunft. 318 Przygotowania do pogrzebu Zyblikiewicza. In: Kurier Krakowski Nr.  114 vom 20.5.1887, 114; Pogrzeb Zyblikiewicza. In: Czas Nr. 117 vom 24.5.1887, 3. 319 Gemeint ist vermutlich Ludwig Fürst Windisch-Graetz (1830–1904), der von 1882 bis 1889 als Kommandant in Krakau eingesetzt war, zu seiner Person siehe Stekl, Hannes/Wakounig, Marija: Windisch Graetz. Ein Fürstenhaus im 19.  und 20.  Jahrhundert. Wien u. a. 1992, hier 295. 320 Pogrzeb ś.p. Mikołaja Zyblikiewicza. In: Gazeta Lwowska Nr. 116 vom 23.5.2887, 4 f., hier 4. Pogrzeb Zyblikiewicza. In: Czas Nr. 117 vom 24.5.1887, 3. 321 Pogrzeb ś.p. Zyblikiewicza. In: Nowa Reforma Nr. 117 vom 24.5.1887, 2. 322 Pogrzeb ś.p. Mikołaja Zyblikiewicza. In: Gazeta Lwowska Nr. 116 vom 23.5.2887, 4.

208  Der nicht alltägliche Tod Waren die Beisetzungen von Künstlern von national-polnischen Aspiratio­ nen durchtränkt, so stand bei der Beisetzungsfeier des früheren Landesmarschalls 1887 in Krakau vor allem das Land Galizien im Vordergrund, dessen fragile Einheit für den Tag der Beisetzung performativ hergestellt wurde. Zwei Stämme, aber dennoch eine Nation; drei Riten, aber dennoch eine Konfession – das war die Botschaft, die von der Beisetzungsfeier für Zyblikiewicz ausging. Visualisiert wurde sie unter anderem durch die Anwesenheit von sechs respektive neun Bischöfen dreier Riten: Albin Dunajewski als römisch-katholischer Bischof von Krakau, Sylwester Sembratowicz als griechisch-katholischer Metropolit von Lemberg, Jan Saturnin Stupnicki als griechisch-katholischer Bischof von Przemyśl, Izaak Mikołaj Isakowicz als armenisch-katholischer Bischof von Lemberg, Łukasz Solecki als römisch-katholischer Bischof von Przemyśl und Jan Puzyna als römisch-katholischer Weihbischof aus Lemberg. Ursprünglich hatte auch der griechisch-katholische Bischof Julijan Pełesz aus der 1885 eingerichteten Eparchie Stanisław323 seine Teilnahme angekündigt, er hatte diese aber ebenso wie der römisch-katholische Lemberger Erzbischof Seweryn Morawski wegen einer kanonischen Visitation absagen müssen.324 In der »Gazeta Narodowa« (»Nationalzeitung«) wurden zudem auch noch der römisch-katholische Bischof von Tarnów, Ignacy Łobos, und der in Krakau ansässige Titularbischof von Esbus, August Stanisław Krasiński, als Trauergäste genannt.325 Wie hoch auch die genaue Zahl der Bischöfe gewesen sein mag, bemerkenswert ist sie schon allein angesichts der Tatsache, dass sich bei der Beisetzung Kraszewskis kein Bischof im Trauerzug befunden hatte. Die Tatsache, dass hier geistliche Würdenträger dreier Riten zu einer gemeinsamen Feier versammelt waren, zeigt sehr deutlich, dass sich mit der Beisetzung von Zyblikiewicz ein wichtiges kirchliches Anliegen ausdrücken ließ: die Bestätigung der gefährdeten Union von Brest und damit die Zugehörigkeit der unierten Kirche zu Rom. Die Beisetzung Zyblikiewicz’ wurde als ein sichtbares Zeichen dieser Zusammengehörigkeit gestaltet: Gemeinsam mit den römisch-katholischen Bischöfen aus Krakau, Lemberg, Przemyśl und Tarnów standen die unierten Bischöfe den insgesamt etwa acht Stunden dauernden Feierlichkeiten vor. Neben den Bischöfen war eine große Zahl von Welt- und Ordenspriestern

323 Auch die Einrichtung der Diözese hatte indirekt mit dem Hochverratsprozess von 1882 zu tun. Die schon seit den 1840er Jahren bestehende Idee, in Stanisław (heute IvanoFrankivsk) einen griechisch-katholischen Bischofssitz einzurichten, wurde nun umgesetzt, erstens um einem Wunsch der Ruthenen nachzukommen, zweitens um die Lemberger Diözese zu verkleinern und damit besser kontrollierbar zu machen und drittens um russophile Tendenzen zu schwächen. Siehe Himka: Religion and Nationality 98–101. 324 Seine Teilnahme war zunächst zugesagt worden, siehe Czas Nr.  115 vom 21.5.1887; Tele­gramm über Absage. APwK, Uroczystości krakowskie, 29/576/25, Bl. 207. 325 Pogrzeb M. Zyblikiewicza. In: Gazeta Narodowa Nr. 117 vom 24.5.1887, 1–2, hier 2.

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gekommen, die selbst für das so stark kirchlich geprägte Krakau ungewöhnlich war – von 200 Geistlichen ist in den Chroniken die Rede, darunter auch aus Orden, die sehr selten an die Öffentlichkeit traten, wie die klausuriert lebenden Mönche des Zisterzienserklosters in Mogiła.326 Das bischöfliche Konsistorium hatte die Welt- und Ordensgeistlichkeit nachdrücklich zur zahlreichen Teilnahme aufgefordert.327 Hauptzelebrant war der griechisch-katholische Bischof Jan ­Stupnicki, zu dessen Eparchie Przemyśl die Stadt Krakau gehörte. Da die Betonung der Einheit der katholischen Kirche im Fokus der Bei­ setzungsfeierlichkeiten stand, waren andere Religionsgruppen buchstäblich an den Rand gedrängt. Die evangelische Gemeinde fehlte, die jüdische Gemeinde war mit ihrem Vizepräses Albert Abraham Mendelsburg,328 der auch dem für die Vorbereitung der Trauerfeier zuständigen Komitee angehört hatte, zwar vertreten, jedoch räumlich abgegrenzt. In den Protokollen des Sitzungskomitees finden sich leider keine Hinweise auf Diskussionen zur Art und Weise, wie nicht katholische Religionsgemeinschaften teilnehmen durften. Dem Programm nach zu urteilen, entschied sich das Komitee dafür, dass die jüdische Gemeinde offiziell vertreten sein, sich aber abseits vom liturgischen Geschehen halten sollte. Darauf lässt der Platz schließen, an dem die jüdische Gemeinde sich aufgestellt hatte: in der Nähe der ulica Bracka am hinteren Ende bei den Tuchhallen, die den großen Krakauer Marktplatz prägen; dort, wo die Sicht auf die Straße świętego Jana, von der der Trauerzug kam, versperrt war, und damit in einer Ecke, die räumlich in verhältnismäßig großer Entfernung von der Marienkirche lag.329 Der eigentliche Trauerzug zog von der Piaristenkirche zur Marienkirche, in der sich ein hoher, mit rotem Tuch überzogener Katafalk befand, der mit einer Büste des Verstorbenen verziert war. In der Kirche wurden Trauermessen sowohl im griechischen wie auch im lateinischen Ritus gefeiert. In der Marienkirche zelebrierte zunächst der Krakauer Bischof Albin Dunajewski die Messe nach lateinischem Ritus, während an den Seitenaltären der Lemberger Metropolit Sembratowicz und der armenisch-katholische Bischof Isakowicz stille

326 Pogrzeb Dra Mikołaja Zyblikiewicza. In: Józefa Czecha Kalendarz Krakowski na rok 1888, 158–170, hier 163. Pogrzeb ś.p. Zyblikiewicza. In: Nowa Reforma Nr. 117 vom 24.5.1887, 2. Mogiła gehört heute zum Krakauer Stadtteil Nowa Huta. 327 Eintrag 1943. AKM, Protokoł Czynności z roku 1887. 328 Albert Abraham Mendelsburg war langjähriger Vizepräsident der Krakauer israeli­ tischen Gemeinde, zugleich erfolgreicher Banker, Stadtrat in Krakau, Präsident der dortigen Handelskammer und Abgeordneter zum Reichsrat. Einen Tag vor seinem Tod ließ er sich katholisch taufen, was er den Mutmaßungen zufolge seinen bereits getauften Kindern zuliebe getan habe. Siehe K.: Korrespondenzen und Nachrichten. In: Allgemeine Zeitung des Judentums Nr. 32 vom 8.11.1911, 3 (Beilage). Niezabitowski: Krakowianie 85–87. Staudacher, Anna L.: Jüdische Konvertiten in Wien 1782–1868. Frankfurt am Main u. a. 2002, hier 153 f. 329 Zgon ś.p. Zyblikiewicza. In: Nowa Reforma. Nr. 115 vom 19.5.1887, 2.

210  Der nicht alltägliche Tod Messen lasen. Darauf folgte die Predigt, die, wie auch schon bei der Beisetzung von Kraszewski, Władysław Chotkowski hielt,330 der einer der beliebtesten Prediger seiner Zeit war. Die Erinnerung an die Beisetzung Kraszewskis einen Monat zuvor war dem Prediger noch lebhaft in Erinnerung. Der Koinzidenz der beiden Todesfälle war es unter anderem geschuldet, dass sich Zyblikiewicz als katholisches Gegenbild zum liberalen Papstkritiker Kraszewski anbot. Entsprechend gestaltete sich die Leichenpredigt Chotkowskis. Ausführlich referierte dieser – anders als bei der Rede über Kraszewski, über dessen Person und Biographie er verhältnismäßig wenig gesprochen hatte – über Lebenslauf, Verdienste und positive Eigenschaften des Verstorbenen und würdigte dessen Wirken als Sejmabgeordneter, Stadtpräsident und Landesmarschall.331 Dass die Predigt sich sehr stark von der bei der Beisetzung Kraszewskis unterschied, bemerkten auch Zeitgenossen; so war in der Nowa Reforma zu lesen: »Hier gab es nicht wie damals eine kühle Theologie und pseudophilosophische Kritik, sondern nur christliche Liebe, Patriotismus und erhabene Trauer.«332 Tatsächlich war Chotkowski Zyblikiewicz freundlicher gesonnen, da dieser durch sein Sterben gezeigt habe, dass er religiös nicht indifferent gewesen war. Insofern lobte Chotkowski Zyblikiewicz’ Verhältnis zur Kirche, auch wenn dieser zu Lebzeiten nicht als besonders fromme oder gar ultramontane Person in Erscheinung getreten war. Im Jahr 1879 hatte er sich als Stadtpräsident gegen die Errichtung eines Denkmals für den im Vorjahr verstorbenen Papst Pius IX . ausgesprochen. Pius IX . ist in der polnischen Historiographie eine positiv konnotierte Figur, da er während des Januaraufstandes die gesamte katholische Welt zum Gebet für die Polen aufgerufen und gewaltsame Repressionen von russischer Seite verurteilt hatte. Zyblikiewicz widersetzte sich allerdings dem geplanten Denkmal mit dem Argument, dass der Wawel ein polnisches Pantheon sei, in welchem ausschließlich Polen geehrt werden sollten.333 Vermutlich spielte Chotkowski sogar auf diesen Vorfall an, als er in seiner Predigt bemerkte, dass er sich nicht sicher sei, ob Zyblikiewicz die allgemeine Bedeutung der Kirche in der Nation genügend zu schätzen gewusst habe, auch wenn er die Kirche immer geehrt habe.334 Wichtig für seine Rezeption durch die obere Kirchenhierarchie war ohnehin seine christliche Sterbestunde. Zudem diente Zyblikiewicz dem Prediger nicht 330 Pogrzeb M. Zyblikiewicza. In: Gazeta Narodowa Nr.  117 vom 24.5.1887, 1–2 hier 2. Pogrzeb ś.p. M. Zyblikiewicza. In: Kurier Krakowski Nr. 117 vom 24.5.1887, 1. Pogrzeb ś.p. Zyblikiewicza. In: Nowa Reforma Nr. 117 vom 24.5.1887, 2. 331 Chotkowski, Władysław: Mowa żałobna powiedziana na pogrzebie ś.p. Mikołaja Zyblikiewicza w Krakowie w kościele archiprzebyteryalnym N. P. Maryi. Kraków 1887. 332 Pogrzeb ś.p. Zyblikiewicza. In: Nowa Reforma Nr. 117 vom 24.5.1887, 2. 333 Piekarczyk, Jerzy: Veto Prezydenta. In: Kraków. Magazyn kulturalny 3 (1985) 15–18. 334 Chotkowski: Mowa żałobna 25.

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nur als Gewährsmann gegen religiöse Indifferenz, sondern als ein Garant für die Einheit der katholischen Kirche und der polnischen Nation: Heute hat er das, was er mit seinem Leben nicht erreichte, mit dem Sarg geschafft: uns Lachen und Rusinen in dieser uralten Stadt zu vereinigen, wo in den Gräbern die Könige aus dem Stamm der Jagiellonen schlafen, welche gleich gut ruthenisch und polnisch sprachen, und deren Brüder im Blute im griechischen Ritus Gott lobten.335

Chotkowski brachte damit die Vorstellung zum Ausdruck, dass die Ruthenen ebenso wie die Lachen ein Stamm der polnischen Nation seien, und sprach damit den Ruthenen ab, eine eigene Nation darzustellen, eine Haltung, die­ Zyblikiewicz als Ruthene selbst zu Lebzeiten vertreten hatte. Um Erosionserscheinungen entgegenzutreten, bemühte sich Chotkowski um eine Inklusion der Unierten und der Ruthenen und verkündete eine zuvor noch nicht öffentlich geäußerte Position: Nachdem zuvor oftmals von polnischer Seite der unierte Ritus als minderwertig angesehen worden war, bemühte sich Chotkowski nun um eine positive Integration. Mit seinem Hinweis auf die Jagiellonen suggerierte er, dass die Ruthenen einen integralen Bestandteil der polnischen Geschichte darstellten. Auch die 1596 geschlossene Kirchenunion von Brest, aus der die griechisch-katholische Kirche hervorgegangen war, suchte er mit einem historischen Rückblick zu bestätigen, dessen vorläufiger krönender Abschluss die Zusammenkunft der beiden Riten anlässlich der Beisetzung Zyblikiewicz’ war. Schauplatz der von Chotkowski geschilderten Annäherungen zwischen orientalischer und abendländischer Kirche war stets Krakau, was die Historizität und Kontinuität dieser Begegnungen unterstreichen sollte. Das erste Ereignis, auf das Chotkowski rekurrierte, war ein Besuch des­ Kiewer Bischofs und Metropoliten Isidor im Jahr 1440 in Krakau, bei welchem dieser wiederum in der Marienkirche eine feierliche Liturgie zelebriert habe. Isidor war einer der orthodoxen Befürworter der Union von Florenz, die eine vorübergehende Einigung zwischen griechischer und lateinischer Kirche herstellte. 150 Jahre später habe dann Adam Hipacy Pociej (Ipatii Potii), ein zunächst orthodoxer Bischof und späterer Mitbegründer der Union von Brest, gemeinsam mit dem Krakauer Bischof Bernard Maciejowski die Fronleichnamsliturgie gefeiert. Diese Hinweise auf die in Vergangenheit und Gegenwart gemeinsam gefeierte Liturgie sollte die Gleichwertigkeit und Zusammenhörigkeit der beiden Riten betonen. Als Integrationsfigur diente dem Prediger außerdem der 1867 von Pius  IX . heiliggesprochene Josaphat Kunzewitsch.336 Kunzewitsch galt und gilt als Mär­ tyrer der Union und stellte damit eine intrakonfessionelle wie transethnische

335 Ebd. 22. 336 Chotkowski: Mowa Żałobna 22–24.

212  Der nicht alltägliche Tod Bezugsfigur dar: Als Erzbischof von Polack hatte er sich darum bemüht, der 1596 geschlossenen Union von Brest in den nördlichen Regionen Polen-Litauens Geltung zu verschaffen und war von Orthodoxen getötet worden. Josaphat Kunze­witsch war damit aufs Engste mit der Geschichte der unierten Kirche verbunden, galt aber dennoch oder gerade deswegen im 19. Jahrhundert unter den Ruthenen als zwiespältige Figur. Dies lag zum einen an der antiorthodoxen Haltung des Heiligen, zum anderen daran, dass er zeitgenössisch vor allem von polnischen Katholiken verehrt wurde.337 Laut Czas war in der Kirche ein Weinen zu hören, als Chotkowski Josafat Kunzewitsch anrief.338 Diese emotionale Reaktion zeigte die offenbar affektive Bedeutung des neuen Heiligen für die polnische Oberschicht, in deren Reihen die zwei Jahrzehnte zuvor erfolgte Heiligsprechung forciert worden war.339 Der von Chotkowski betonten Einheit der griechischen und lateinischen Kirche wurde anschließend dadurch Ausdruck verliehen, dass nach dieser Predigt Bischof Stupnicki den Hauptgottesdienst im griechischen Ritus feierte.340 Wieder ertönten ukrainische Gesänge aus den Kehlen der Alumnen. Am Ende der Feierlichkeiten in der Marienkirche stimmte der armenisch-katholische Bischof Isakowicz in armenischer Sprache Trauergesänge an.341 Gegen zwei Uhr am Nachmittag verließ der Trauerzug die Marienkirche. Der Sarg wurde auf einen mit schwarzem Samt umhüllten Leichenwagen gehoben,342 der – wie es heißt – etwas größer als der bei der Beisetzung Kraszewskis gewesen sein soll.343 Als der Trauerzug von der Marienkirche zum Friedhof zog, setzte ein immer stärker werdender Regen ein.344 Am Friedhof angelangt, wurde der Sarg vor der Friedhofskapelle aufgestellt, in welcher er provisorisch bis zur Fertigstellung des eigentlichen Grabes aufgebahrt werden sollte.345 Im strömenden Regen sprachen nun die letzten vier Redner ihre Abschiedsworte: Feliks Szlachtowski als Zyblikiewicz’ Nachfolger im Amt des Stadtpräsidenten hob hervor, dass Krakau in Zyblikiewicz’ Amtszeit in neuem Glanz erschienen sei. Zygmunt Sawczyński, Sejmabgeordneter, Pädagoge und Studienfreund des Verstorbe-

337 Jobst, Kerstin S./Rohdewald, Stefan: Josafat Kuncevyč. In: Bahlke, Joachim/Rohdewald, Stefan/Wünsch, Thomas: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff. Berlin 2013, 726–735. 338 Pogrzeb Zyblikiewicza. In: Czas Nr. 117 vom 24.5.1887, 3. 339 Jobst/Rohdewald: Der heilige Josafat 478. 340 Pogrzeb M. Zyblikiewicza. In: Gazeta Narodowa Nr. 117 vom 24.5.1887, 1–2. Pogrzeb ś.p. Zyblikiewicza. In: Kurier Krakowski Nr. 117 vom 24.5.1887, 1. Pogrzeb ś.p. Zyblikiewicza. In: Nowa Reforma Nr. 117 vom 24.5.1887, 2. 341 Pogrzeb Zyblikiewicza. In: Czas Nr. 117 vom 24.5.1887, 3. 342 Pogrzeb ś.p. Zyblikiewicza. In: Nowa Reforma Nr. 117 vom 24.5.1887, 2. 343 Pogrzeb M. Zyblikiewicza. In: Gazeta Narodowa Nr. 117 vom 24.5.1887, 1–2, hier 2. 344 Pogrzeb ś.p. M. Zyblikiewicza. In: Kurier Krakowski Nr. 117 vom 24.5.1887, 1. 345 Pogrzeb ś.p. Mikołaja Zyblikiewicza. In: Gazeta Lwowska Nr. 118 vom 25.5.1887, 4.

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nen und wie Zyblikiewicz ruthenischer Herkunft, sprach über die gemeinsame Jugendzeit. Wawrzyniec Styczeń, der die Krakauer Anwaltskammer und damit ­Zyblikiewicz’ früheren Berufsstand vertrat, verabschiedete Zyblikiewicz als »Sohn der Rus«, der in Krakauer Erde ein würdevolles Grab gefunden habe. Abschließend sprach der in Krakau ansässige Druckereibesitzer Wincenty Andrzej Kornecki als Vertreter des Handwerks. In den Reden fand Zyblikiewicz’ politisches Wirken im Landtag und im Reichsrat, in Krakau und in Galizien eine posthume Würdigung, allen voran sein Einsatz für das Polnische als Amts- und Unterrichtssprache. Zyblikiewicz selbst würdigten sie als talentierten wie passionierten Politiker.346 Ein Teil ihrer Worte ging jedoch unter, weil am Ende der Regen so stark war, dass die letzten Redner sich kaum noch Gehör verschaffen konnten. Gegen vier Uhr endeten die Trauerfeierlichkeiten mit der vorüber­ gehenden Überführung des Leichnams in die Friedhofskapelle.347 Im Sinne der viel beschworenen Einheit trafen nach der Beisetzung auch die Alumni aus Lemberg und Przemyśl sowie weitere griechisch- und römischkatholische Kleriker im Kloster der Piaristen zu einem festlichen Mahl zu­ sammen. Lateinische Kleriker tranken auf das Wohl der griechischen Geistlichen, welche umgekehrt dem lateinischen Klerus Wohlergehen wünschten. Zwischen den einzelnen Trinksprüchen ertönten ruthenische Gesänge. Der ebenfalls anwesende junge ruthenische Dichter Włodzimierz Maślak äußerte in seinem Toast auf die Polen und auf die Ruthenen den Wunsch, dass letztere mit der polnischen Nation auf der Grundlage »frei mit den Freien, gleich mit den Gleichen« einig sein sollen,348 was sich angesichts der ungleichen sozialen und rechtlichen Stellung von Polen und Ruthenen in Galizien als implizite Kritik verstehen ließ. Doch einstweilen prägte der Eindruck der Einheit die Wahrnehmung der Beisetzung. »Wahrhaft freuen musste sich die Seele des Verstorbenen, da an seinem Sarg die Einheit des Glaubens und die moralische Einheit des Landes einen so großartigen Ausdruck fanden«, schrieb der Czas angesichts der Trauer­ feier und urteilte weiter, die Beisetzung sei nicht nur ein Tag der Trauer und der Tränen gewesen, sondern auch ein Tag des Triumphes, an welchem das gesamte Land partizipiert habe.349 Eine ähnliche Wahrnehmung der Feierlichkeiten war in der in Lemberg erscheinenden Gazeta Narodowa zu lesen:

346 Die Reden finden sich zitiert in Czas Nr. 117 vom 24.5.1887 und Czas Nr. 118 vom 25.5.1887 sowie in Nowa Reforma Nr. 117 vom 24.5.1887 und Nowa Reforma Nr. 118 vom 25.5.1887. 347 Pogrzeb ś.p. Zyblikiewicza. In: Nowa Reforma Nr. 117 vom 24.5.1887, 3. Pogrzeb ś.p. Zyblikiewicza. In: Nowa Reforma Nr. 118 vom 25.5.1887, 2. 348 Kronika. In: Nowa Reforma Nr. 118 vom 25.5.1887, 2 f. 349 Pogrzeb Zyblikiewicza. In: Czas Nr. 117 vom 24.5.1887, 3.

214  Der nicht alltägliche Tod Vielleicht zum ersten Mal ereignete es sich in Krakau, dass alle Fraktionen und Fraktiönchen sich die brüderliche Hand zum gemeinsamen Gedenken an einen Verstorbenen reichten. Es gab keinerlei Missklang, keinerlei Missverständnis, und in der jen­seitigen Welt erfreute sich der Geist des Verstorbenen an dem Ausdruck der Harmonie, die jeden, der das Land liebt, mit Freude erfüllen musste.350

Solche Charakterisierungen sind angesichts der bereits zuvor zelebrierten großen Beerdigungen von König Kazimierz und zuletzt Kraszewski durchaus bemerkenswert. Dass die Feier den Eindruck einer Einheit evozieren konnte, mag auch daran gelegen haben, dass posthum über die Verdienste von Zyblikiewicz ebenso Konsens herrschte wie über die ihm zustehenden Ehrungen.­ Zyblikiewicz war als Bezugsperson für weite Kreise der polnischen Gesellschaft akzeptabel und hatte mit seinem Einsatz für Polnisch als Amts- und Unterrichtssprache Verdienste erworben, über die allgemeine Einigkeit herrschte. Die demokratische Nowa Reforma lobte ihn ebenso wie der konservative Czas. Hier zeigte sich Zyblikiewicz’ nominelle Parteilosigkeit posthum als Stärke. Wie Kraszewski hatte sich Zyblikiewicz für polnisch-nationale Belange eingesetzt, jedoch anders als der Schriftsteller nicht auf eine Weise, die die von den Stańczyken vertretene Triloyalität gefährdet hätte, wodurch Zyblikiewicz für die verschiedenen Fraktionen zu einer Referenzfigur werden konnte. Das politische Vermächtnis Zyblikiewicz’ stützte die politische Losung der Stańczyken, bestehend aus einer Trias von organischer Arbeit, Loyalität gegenüber Österreich und polnischem Patriotismus. Zudem war Zyblikiewicz’ Beisetzung für die Krakauer Konservativen nach der Kontroverse um Kraszewskis Sterbestunde und Beisetzung eine Erleichterung. Das weithin rezipierte Ereignis war für die Krakauer Konservativen deshalb so wichtig, weil der Verstorbene als Kontrastfolie zu zwei vermeintlichen Übeln seiner Zeit in Stellung gebracht werden konnte: gegen die religiöse Indifferenz und die Desintegration der polnischen Nation. Nicht Materialismus, sondern Frömmigkeit, Observanz religiöser Vorschriften anstelle von Kirchenkritik  – Zyblikiewicz stand im Einklang mit der katholischen Kirche, deren Vertreter diesen Umstand durch ihre rege Teilnahme würdigten. Daher war die Beisetzungsfeier von Zyblikiewicz von dem Bemühen geprägt, diese ein wenig prächtiger als die Beisetzung Kraszewskis zu gestalten: Chotkowski beschrieb Zyblikiewicz’ Beisetzung in seiner Predigt als »außergewöhnlich feierlich und prachtvoll« und geprägt von einer »allgemeinen, aufrichtigen Trauer«.351 Explizit machte den Vergleich etwas später ein anderer Krakauer Geistlicher, der Jesuit Marian Morawski, demzufolge die Beisetzung anders als die Kraszewskis

350 Pogrzeb M. Zyblikiewicza. In: Gazeta Narodowa Nr. 117 vom 24.5.1887, 1–2, hier 1. 351 Chotkowski: Mowa Żałobna 6.

»Ein Sohn der Rus in Krakauer Erde« 215

frei von Künstlichkeit und Agitation gewesen sei. Die Menschen seien sich einig gewesen, dass sich Krakau an keine vergleichbare Beerdigung erinnere.352 Obwohl dies ein Satz ist, der im Zusammenhang mit fast jeder großen Beerdigung in Krakau zu lesen ist, zeigte sich der Czas von der Exzeptionalität der Beisetzung des früheren Stadtpräsidenten überzeugt. Seit einem halben Jahrhundert, so schrieb die Zeitung, habe in Krakau kein Verstorbener solche Ehrerbietungen erfahren.353 Dieser Versuch, die Beisetzung des ehemaligen Stadtpräsidenten als positives Gegenbild zu der des Schriftstellers einen Monat zuvor erscheinen zu lassen, überzeugte nicht alle Zeitgenossen. Offenbar evozierte Zyblikiewicz nicht solche Emotionen wie Kraszewski.354 Der demokratisch gesonnene Schriftsteller Michał Bałucki machte einen kritischen Einwand, den umgekehrt die Konservativen zuletzt angesichts der Beisetzung von Józef Ignacy Kraszewski formuliert hatten: Die Beisetzung sei eher eine Manifestation als ein ernsthaftes Ritual gewesen.355 Zyblikiewicz konnte dafür in Zeiten der ruthenischen Nationalbewegung als Beleg dafür zitiert werden, dass ruthenische Herkunft und polnischer Nationalismus miteinander in Einklang stehen konnten; ein Beleg, der den polnischen Galiziern gerade angesichts der Ereignisse in den 1880er Jahren umso dringender erschien. So kam sein Tod zur rechten Zeit, um die behauptete Einheit von Ruthenen und Polen mit dem symbolischen Kapital, das eine Beisetzung bot, zu stützen. Die Funeralfeier für Zyblikiewicz suggerierte eine Inklusion der Ruthenen: Sie führte der Öffentlichkeit vor Augen, dass ein Ruthene nicht nur Stadtpräsident von Krakau geworden war, sondern auch das höchste Amt im Kronland bekleidet hatte. Bei der Trauerfeier in der ehrwürdigen Marienkirche sowie auf dem Friedhof wurde ruthenisch gesprochen beziehungsweise gesungen und damit suggeriert, dass das Ruthenische im politischen und gesellschaftlichen Leben integriert sei und sich damit Polen und Ruthenen als »zwei brüderliche Stämme«356 empfinden könnten. Jedoch hatte das Vorbild Zyblikiewicz auch eine negative Kehrseite, machte es doch deutlich, dass den Ruthenen ein sozialer, politischer und gesellschaftlicher Aufstieg nur unter dem Zugeständnis einer Polonisierung möglich war. Das spiegelte sich in der oftmals paternalistischen Haltung vieler polnischer Intellektueller gegenüber den Ruthenen wider. Der katholische Publizist Ludwik Dębicki etwa beschrieb Zyblikiewicz’ Haltung zur ruthenischen Nationalbewegung mit Metaphorik aus dem familiären Leben, einem Thema, welches zur Jahrhundertwende ebenfalls die Gemüter bewegte: Die Ruthenen, die 352 Morawski: Dwa Pogrzeby IV f. 353 Homola: Mikołaj Zyblikiewicz 180 f. 354 Świderska: Trwa, choć preminęło 319. 355 Bałucki, Michał: Korespondencja teatralna Michała Bałuckiego. Wybór i opracowanie Danuta Szczęsna. Warszawa 1981, hier 193 f. 356 Pogrzeb Zyblikiewicza. In: Czas Nr. 117 vom 24.5.1887, 3.

216  Der nicht alltägliche Tod sich von der polnischen Nation lossagten, seien wie eine Frau, die sich von ihrem Mann scheiden lassen wolle. Zyblikiewicz habe sich in diesem Familienstreit wie der gute Sohn verhalten, der zu seinem Vater halte, ohne seine Mutter anzugreifen.357 Diese Familienanalogie implizierte eine klar hierarchische Vorstellung: So wie die Mutter dem Vater unterstellt sei und Unrecht begehe, wenn sie sich von ihm lossagen wollte, waren – so die Vorstellung – auch die Ruthenen den Polen zu Treue und Gehorsam verpflichtet. Zudem bedeutete die Scheidung im Verständnis eines katholischen Publizisten die Aufkündigung einer göttlichen Ordnung, gegen die demnach auch die ruthenische Nationalbewegung verstieß. Insofern war die bei der Beisetzung viel beschworene Einheit der beiden »brüderlichen Stämme« letztlich eine sehr asymmetrische Einheit, die nicht dem Ideal entsprach, auf das der junge ruthenische Dichter beim Leichenschmaus einen Trinkspruch ausgebracht hatte.

2.3.6 Zwischenfazit Die Beisetzung von Mikołaj Zyblikiewicz hatte 6 709,90 Gulden gekostet,358 ohne die Kosten für die Aufbahrung in der Kirche und den Empfang am Abend der Beisetzung. Mit einer prachtvollen Beisetzung auf Staatskosten wurde so der ehemalige Landesmarschall und früherere Krakauer Stadtpräsident zu Grabe getragen. Mit diesem Staatsbegräbnis wurde nicht nur einem Mann, der die höchste politische Stellung im Kronland Galizien und Lodomerien erreicht hatte, die letzte Ehre erwiesen. Denn Zyblikiewicz’ Tod war gewissermaßen ein Tod zur rechten Zeit: sowohl vor dem größeren (kirchen-)politischen Hintergrund der 1880er Jahre, in denen sich die Konflikte zwischen Unierten und römisch-katholischer Kirche und auch das ukrainische Emanzipationsbestreben vertieft hattten, als auch angesichts der jüngsten Ereignisse auf lokaler Ebene, wo die Beisetzung Józef Ignacy Kraszewskis eine Manifestation demokratischer und nationalpolnischer Vorstellungen gewesen war. Zudem hatte Kraszewskis unklares Verhältnis zur katholischen Kirche auch nach seinem Tod und gerade anlässlich seiner Beisetzung in einer symbolträchtigen Kirche Polens Anlass für Diskussionen und Streitigkeiten um die Deutungshoheit über Kraszewskis geistiges Vermächtnis geboten. Vor diesem Hintergrund erschien der verstorbene Zyblikiewicz Galiziens Kirchenvertretern und Konservativen als ein ideales Gegenbild und als eine Möglichkeit, die Beisetzungsfeier Kraszewskis mitsamt ihren politischen und religiösen Implikationen zu neutralisieren.

357 Pogrzeb M. Zyblikiewicza. In: Gazeta Narodowa Nr. 117 vom 24.5.1887, 1–2, hier 1. 358 Aufstellung der Kosten der Beisetzung von Zyblikiewicz. APwK, Uroczystości krakowskie, 29/576/25, Bl. 165 f.

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Als Ruthene, der sich zeit seines Lebens zum »Polentum« bekannt hatte und dafür eingetreten war, erwies sich Zyblikiewicz als Gewährsmann für die Vorstellung einer Zugehörigkeit der Ruthenen zur polnischen Nation und damit als Argument gegen ruthenische Unabhängigkeitsbestrebungen. Zudem stand er für Loyalität gegenüber dem Haus Habsburg. In zweifacher Hinsicht ließ sich sein Andenken zugunsten der kirchlichen Lehrmeinung ausdeuten: Erstens war Zyblikiewicz mit den Sterbesakramenten versehen verstorben und ließ sich somit  – gerade in Kontrast zu Kraszewski, der auf seinem Sterbebett keinen Priester empfangen hatte – als Verkörperung traditioneller Frömmigkeit präsentieren. Zweitens bot die Beisetzung des griechisch-katholischen­ Zyblikiewicz Anlass für eine Zusammenkunft von griechisch-katholischen und römisch-katholischen Bischöfen sowie Lembergs armenisch-katholischem Bischof. Sie feierten gemeinsam die Trauerliturgie und suchten so die Einheit der katholischen Kirche in verschiedenen Riten zu bestätigen. Hierin zeigte sich ein Wandel im polnischen katholischen Diskurs, der von der Vorstellung einer Minderwertigkeit des griechischen Ritus zugunsten einer positiven Inklusion abrückte. Das zeigte sich beispielsweise darin, dass der Hauptgottesdienst der Funeralfeier von Bischof Stupnicki im griechischen Ritus in der altehrwürdigen Marienkirche gefeiert wurde, in der sonst die lateinische Liturgie zelebriert wurde. Politisch wurde versucht, die Kluft zwischen Ruthenen und Polen dadurch zu kaschieren, dass eine gemeinsame Historie und Kultur beschworen wurde, sowie durch die Vorstellung, als Lachen und Rusinen zwei Stämme der selben Nation darzustellen. Dabei diente der tote Zyblikiewicz, der diese Vorstellung vertreten hatte, nolens volens als Integrationsfigur, der – wie es in den Reden hieß – an seinem Sarg die Einheit der Stämme wie der Riten bewirkt habe.

2.4 Infektion der Trauer – weitere große Beerdigungen bis zum Ende der Teilungen Polens 2.4.1 Adam Mickiewicz’ Beisetzung auf dem Wawel oder: das »Votum der Nation« Die Beisetzung von Józef Ignacy Kraszewski hatte in mehrfacher Hinsicht einen Wendepunkt im politischen Totenkult in Krakau markiert. Zum einen war erstmals ein Künstler und eine Person der Gegenwart mit einer aufwendig vorbereiteten Feier geehrt worden. Zum anderen war damit die Krypta der Verdienten endgültig als Nekropole in die Topographie Krakaus eingegangen. Gerade für die Krakauer Konservativen stellte sie eine Möglichkeit dar, für ausgewählte Künstler und Wissenschaftler eine prestigereiche Begräbnisstätte bereitzuhalten und den Wawel weiterhin politischen Anführern vorzubehalten. Diese Regelung

218  Der nicht alltägliche Tod missfiel allerdings den Demokraten, die besonders einen Künstler für würdig genug erachteten, um ihm die gleichen Ehrbezeugungen zukommen zu lassen wie einst den Monarchen: Adam Mickiewicz (1798–1855). Der Leichnam des im Jahr 1855 in Istanbul verstorbenen Dichters war in Paris bestattet worden. Im Jahr 1869 hatte die demokratische Zeitung Kraj dazu aufgerufen, den Leichnam auf den Wawel zu überführen, eine Idee, die ebenso glühende Befürworter wie auch ablehnende Skeptiker gefunden hatte. Eine Überführung war aufwendig: Der Leichnam musste in Paris exhumiert und dann etwa 1 800 Kilometer  – unter Beachtung strenger sanitärer und hygienischer Vorsichtsmaßnahmen – quer durch Europa von Paris durch die Schweiz und das Habsburgerreich bis schließlich nach Krakau transportiert werden. Dass die Überführung einen politischen und demonstrativen Charakter haben würde, lässt sich aus der Tatsache ablesen, dass Mickiewicz keinerlei biographische Bezüge zu Krakau hatte: Er hatte auf dem Gebiet des früheren Großfürstentums Litauen gelebt, dann im französischen Exil, war in Istanbul gestorben und in Paris beigesetzt worden. Krakau hatte er zu Lebzeiten nie besucht. Die Idee, ihn dort beizusetzen, erklärt sich daher nur über die symbo­ lische Bedeutung des Dichters und der Stadt – beide sollten sich nun gegenseitig bestärken: Adam Mickiewicz’ Bedeutung für die polnische Kultur sollte durch seine Beisetzung in der prestigereichsten polnischen Begräbnisstätte unterstrichen werden, gleichzeitig würde sein Leichnam, der schon von Zeitgenossen als eine nationale Reliquie gesehen wurde,359 die Sakralität des Ortes erhöhen.360 Solche Vorstellungen und Argumentationen deuten auf einen Nationalismus hin, der die Nation als spirituelle, sprachliche und kulturelle Gemeinschaft propagierte und ihr Handlungsrelevanz zusprach. Die polnische Nation stellte die Verbindung zwischen Mickiewicz und der Stadt her, die er nie betreten hatte. Wenn der Kraj nun den Aufruf formulierte, Mickiewicz auf dem Wawel beizusetzen, dann war das ein immanent politischer Aufruf. Der Kraj proklamierte damit, dass die polnische Nation trotz der Staatenlosigkeit Polens existiere und als Kollektiv handlungsbefugt sei. Allein also in der Idee, Mickiewicz zu überführen, manifestiert sich ein nationaler Anspruch. Eine Überführung von Mickiewicz wäre zugleich eine Provokation der Teilungsmächte: Mickiewicz erschien im Sinne des Konzepts der Kulturnation als ein nationaler Anführer. Er hatte mit seinen Werken unter Beweis gestellt, dass Polnisch eine ernstzunehmende Literatursprache ist, mit »Pan Tadeusz« hatte er 359 Wilk: Uroczystości patriotyczno-religijne 127. 360 Diese Vorstellung liegt im Übrigen vielen Überführungen zugrunde, wie Michael G. Kammen in seinem Buch über erneute Beisetzungen in den Vereinigten Staaten bemerkt: »If the body of a venerated person can serve in some sense to consecrate a secular site, an already consecrated site can effectively elevate the status of  a civil figure’s mortal remains.« Kammen, Michael G.: Digging up the Dead. A History of Notable American Reburials. Chicago 2010, hier 9.

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das polnische Nationalepos verfasst, mit seinen messianistischen Ideen den Teilungen einen höheren Sinn verliehen und Polen eine immanent wichtige Rolle in der Weltgeschichte zugeschrieben. Zudem hatte Mickiewicz mit anderen europäischen Geistesgrößen wie Johann Wolfgang von Goethe korrespondiert und damit gezeigt, dass er von ihnen anerkannt, ja als Literat ebenbürtig war. Polen mochte als Staatsnation zu existieren aufgehört haben, doch als Kulturnation war es weiterhin lebendig – das war die eine Botschaft, die sich mit Mickiewicz verband. Dass diese Kulturnation nach wie vor eine physische Basis hatte, war die Botschaft, die hinter der Translation von Paris nach Krakau stand. Von der Idee bis zur Verwirklichung der Überführung sollten allerdings aus mehreren Gründen zwei Jahrzehnte vergehen. Zwar fand der Aufruf des Kraj viele Unterstützer, darunter auch den Krakauer Stadtpräsidenten Józef Dietl. Doch kaum war die Idee geboren, ließ die überraschende Entdeckung der Gebeine von Kazimierz dem Großen die Pläne in den Hintergrund treten.361 Außerdem erwies sich die Überführung, die schließlich eine internationale Angelegenheit war, als logistisch höchst kompliziert. So bedurfte es beispielsweise der Zusammenarbeit mit Frankreich zwecks der Exhumierung und Translation des Leichnams des Dichterpropheten, welche durch den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 verzögert wurde. Zudem waren das Ob der Beisetzung sowie die konkrete Ausgestaltung umstritten. Krakaus Konservative fürchteten den unvermeidbaren demonstrativen Charakter der Translation und Beisetzung. Und während die einen im Wawel die einzig angemessene letzte Ruhestätte für den Dichterpropheten sahen, war der Wawel für die anderen nach wie vor ein Ort, der exkluxiv den Königen und Königinnen vorbehalten bleiben sollte. Die Konservativen waren der Translation, die an sich schon einen hochpolitischen Akt darstellen würde, gegenüber durchaus aufgeschlossen, bemühten sich aber zugleich darum, das Projekt abzumildern, indem sie als Alternative zum Wawel die damals noch im Entstehen begriffene Krypta der Verdienten vorschlugen.362 Tatsächlich ließ die Errichtung der Krypta der Verdienten bei den Befürwortern der Wawelbeisetzung die Alarmglocken läuten. Einer von ihnen war Józef Ignacy Kraszewski, der 1879, also ein Jahr vor der Eröffnung der Krypta, an Władysław Mickiewicz, den Sohn von Adam Mickiewicz schrieb, dass die »Ultramontanen und der Klerus« die Krypta einrichteten, die gedacht sei als eine »Abtrennung der Dichter und Literaten, damit sie sich nicht mit den Königen und Hetmanen363 verbrüdern, obwohl so mancher von ihnen – wie Ihr 361 Świątecka, Maria: Sprowadzenie zwłok Adama Mickiewicza do kraju. In: Rederowa, Danuta (Hg.): Kraków Mickiewiczowi. Kraków 1956, 27–87, hier 28. 362 Dabrowski: Commemoration 84. 363 Nach dem König war der Hetman der zweithöchste Feldherr in der polnisch-litauischen Armee.

220  Der nicht alltägliche Tod Vater – ein Hetman der Nation gewesen ist.«364 Kraszewski riet dem Sohn des polnischen Dichterfürsten daher, auf dem Wawel als Begräbnisstätte für seinen Vater zu beharren, was der Sohn, »der Zeit seines Lebens als Biograph und Herausgeber die Hagiographisierung seines Vaters forcieren sollte«,365 auch erfolgreich tat. Władysław Mickiewicz forderte mehr als nur die Beisetzung seines Vaters auf dem Wawel. Er verlangte zugleich, die polnische Nation solle das Erbe seines Vaters antreten, und das hieße, die religiösen, sozialen und politischen Bestimmungen dieses Testamentes ausführen.366 Eine solche Verpflichtung war nicht im Sinne der Krakauer Konservativen, denen das Gedankengut Mickiewicz’ in mancherlei Hinsicht zu revolutionär, zu radikal und in religiöser Hinsicht zu unorthodox erschien.367 Das Krakauer Domkapitel jedoch erteilte sein Einverständnis für die Grablegung in der Wawelkathedrale im Jahr 1884. Die Krakauer Konservativen waren nun bestrebt, die Beerdigung hinauszuzögern. So schrieb Stanisław Tarnowski 1884 als Antwort auf eine entsprechende Nachfrage an Władysław Mickiewicz: »Die Überführung des Leichnams von Adam Mickiewicz wäre eine große Demonstration, und jetzt ist nicht die Zeit für große Demonstrationen.«368 Die Translation wurde zu einem großen Streitthema zwischen Demokraten und Konservativen.369 Eine wichtige Unterstützung fanden die Demokraten in der polnischen Jugend. Unzufrieden mit dem Stand der Dinge gründete der Studentenverein »Czytelnia Akademicka« (wörtlich: »studentischer Lesesaal«) 1887 ein eigenes Komitee zur Überführung des Poeten, welches die Angelegenheit beschleunigen sollte. Das Komitee erwies sich als erfolgreich, es sammelte Spenden für die Finanzierung und erledigte die nötigen Formalitäten. Als schließlich deutlich wurde, dass die Überführung nicht mehr aufzuhalten war, sorgten Krakaus Konservative dafür, wenigstens die Organisation in ihre Hände, das hieß in diesem Fall in die Verantwortung des Landesausschusses, in welchem Konservative mehrheitlich vertreten waren, zu bekommmen. Wenn weder die Überführung noch die Beisetzung auf dem Wawel abzuwenden waren, so wollten die Stańczyken wenigstens über die Ausführung wachen und diese nicht den radikal-demokratisch gesinnten Studenten überlassen. Denn die Beisetzung sollte nicht zu Überwerfungen mit dem Kaiser Franz Joseph führen, der die Angelegenheit ohnehin mit Missfallen betrachtete und ihr nur unter der Bedingung zugestimmt hatte, dass die Feierlichkeiten keinen politischen Cha 364 Zitiert nach Mickiewicz, Władysław: Pamiętniki. Band I. Warszawa 1926, hier 270. 365 Laube, Stefan: Nationaler Heiligenkult in Polen und Deutschland. Ein erinnerungspolitischer Vergleich aus dem 19. Jahrhundert. In: Schulze Wessel: Nationalisierung der Religion 31–49, hier 40. 366 Dabrowski: Reinventing Poland 214 f. 367 Dabrowski: Commemoration 84. 368 Zitiert nach Świątecka: Sprowadzenie zwłok Adama Mickiewicza do kraju 30. 369 Dabrowski: Commemoration 85.

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rakter haben sollten.370 Gleichzeitig hätte jedoch ohne die Fürsprache der Krakauer Konservativen der österreichische Kaiser seine Erlaubnis für Überführung und Beisetzung kaum erteilt, insofern wäre es falsch, ihnen bloß die Rolle der Saboteure zuzuteilen, wie es in Quellen und Literatur oft geschehen ist. Die Feierlichkeiten unpolitisch zu gestalten, war eine kaum umsetzbare Forderung, war doch allein schon die Tatsache der Überführung immanent politisch, was auch bei der Exhumierung in Paris am 27. Juni 1890 deutlich wurde. Dafür sorgte ein berühmter Gastredner, Ernest Renan, der gemeinsam mit Mickiewicz am Collège de France unterrichtet hatte. Seine berühmt gewordene Definition einer Nation als »tägliches Plebiszit« wandte er nun auf die polnische Nation an: Mit der Überführung von Mickiewicz, so erklärte Renan am Grab des Dichters, würden die Polen für ihre Nation votieren. Dass der kirchenkritische Renan anlässlich der Exhumierung hatte sprechen dürfen, erregte polnische ultramontan gesinnte Gemüter. Um bei der Beisetzung in Krakau am 4. Juli 1890 politische Implikationen zu bannen, sollte die Feier nach Wunsch der Krakauer Konservativen ausschließlich den Charakter einer von offizieller Seite organisierten Begräbniszeremonie haben.371 Doch schon allein die Tatsache, dass der Wawel erstmals zur letzten Ruhestätte eines Künstlers, keines politischen Anführers, wurde und der Stellenwert, der sich mit Werk und Person von Adam Mickiewicz im kulturellen Leben verband, sollten es schwer machen, die Beisetzung als bloß eine von vielen offiziellen Beisetzungen erscheinen zu lassen. Mit den Gebeinen, um die sich nationale Aktivisten 20 Jahre lang bemüht hatten, verband sich eine Heilserwartung, die Adam Asnyk in seiner Rede am Eingang zur Wawelkathedrale formulierte: Die nationale Erlösung sei nahe.372 »Nation« war der Begriff, der während der Krakauer Feierlichkeiten am häufigsten angeführt wurde – etwa alle zwei bis drei Minuten bekamen ihn die Anwesenden zu hören.373 Der Prediger in der Wawelkathedrale, Władysław Chotkowski, der als Gymnasiast am Januaraufstand teilgenommen hatte,374 bildete hier keine Ausnahme. Er traf mit seiner Predigt den Ton der Feierlichkeiten, deren Euphorie er durchaus teilte. Mickiewicz stellte er als von Gott gesandten Poeten dar, als »Ernährer der Nation«, der dieselbe in »Tagen des geistigen Hungers« mit Nahrung versorgt und mit seinen Werken die Fortexistenz des totgesagten Polens unter Beweis gestellt habe. Mickiewicz habe sich um die polnische

370 Ebd. 85–87. 371 Ebd. 88–90. 372 Dabrowski: Reinventing Poland 257 f. 373 Budrewicz, Tadeusz: Nad trumną Mickiewicza w dniu krakowskiego pogrzebu. In: Alma Mater Nr. 76/77 (2005/2006) 26–33, hier 30 f. 374 Panuś, Kazimierz: Wielcy mówcy Katedry na Wawelu. Kraków 2008, hier 301.

222  Der nicht alltägliche Tod Nation ebenso verdient gemacht wie um den katholischen Glauben.375 Vergessen schien dabei, dass Mickiewicz’ historiosophische Vorstellungen von Seiten der Kirche als häretisch kritisiert und einige seiner Ausführungen von der Kirche indiziert worden waren. Mickiewicz’ Geschichtsdeutung sprach Chotkow­ ski nicht an, sondern stellte ihr eine andere Deutung entgegen: Polen sei vor allem wegen seiner eigenen inneren Schwächen, von denen die größte Glaubensabfall und Dekadenz gewesen seien, zu einer leichten Beute für seine Nachbarn geworden. Doch werde es dennoch nicht gänzlich untergehen, weil ihm trotz allem von Gott eine Berufung zugedacht und Nationen mit göttlicher Berufung die Existenz gewährleistet sei. Polens Aufgabe bestehe darin, antemurale Christianitatis zu sein und fest gegen die »Abtrünnigkeit« im Osten und die »Gottlosigkeit« im Westen zu stehen. Heute sei es vor allem seine Aufgabe, den katholischen Glauben im geistigen Bereich zu verteidigen. Ein solcher Verteidiger des katholischen Glaubens sei auch Mickiewicz gewesen, den ­Chotkowski in eine Reihe mit Denkern wie Joseph de Maistre, John Henry Newman und Joseph Görres stellte. Chotkowski blendete also nicht nur Mickiewicz’ teilweise unorthodoxen Ansichten aus, sondern vereinnahmte ihn als einen Apologeten der katholischen Kirche. Doch lobte er auch den Patriotismus M ­ ickiewicz’. Denn die Vaterlandsliebe sah der Prediger als Teil  des vierten Gebotes an. So sehr Chotkowski eine Allianz von Patriotismus und katholischem Glauben guthieß, so sehr wehrte er sich gleichermaßen gegen einen Nationalismus, der entweder ganz ohne einen Bezug zur Kirche auskam oder aber in ihren Zeremonien primär eine Zeichensprache erblickte, derer sich der Nationalismus bedienen konnte. Entgegen solcher Tendenzen stellte er gleich zu Beginn seiner Predigt heraus, dass das Requiem kein leeres Zeremoniell oder ein nationales Ritual, sondern eine katholische Messe sei.376 Wie doppeldeutig religiöse Symbole gelesen werden konnten, zeigt die Dekoration der Wawelkathedrale anlässlich der Beerdigung: Am Katafalk fand sich ein Bild der Maria vom Spitzen Tor (ostra brama) in Vilnius, der Altar war mit einem Bild der Maria von Częstochowa versehen.377 Den vordergründigen Anlass dazu bot der Eröffnungsvers von Pan Tadeusz, in welchem Mickiewicz die Madonna von Częstochowa wie die vom Spitzen Tor in Vilnius anruft.378 375 Chotkowski, Władysław: Mowa przy sprowadzeniu zwłok śp. Adama Mickiewicza. Kraków 1890. 376 Ebd. 377 Dabrowski: Commemoration 91. 378 Darin heißt es: »Oh, heil’ge Mutter Gottes! Hör mein Flehen! / Du strahlst vom Hellen Berg zu Czenstochau [sic]! / Und oft habe ich dein leuchtend Bild gesehen / Am Spitzen Tor zu Wilna!  – Oh, ich weiß genau: / Wenn du uns schützt, dann kann uns nichts geschehen. / Du bist ja auch seit je dem festen Bau / Zu Nowogródek Schutz und Schirm ge­ wesen. / Ich ruf zu dir, laß mich auch jetzt genesen.« Zitiert nach: Mickiewicz, Adam: Pan Tadeusz oder der letzte Eintritt in Litauen. Versepos in zwölf Büchern. Nachdichtung von Walter Panitz. Hamburg 1956, hier 11.

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Darin spiegelte sich die Wiederbelebung des Kultes um Maria als Königin der polnischen Krone wider. Nachdem die Teilungsmächte zeitweise versucht hatten, den Kult zu verdrängen, gewann er Ende des 19. Jahrhunderts an Popularität, die sich unter anderem in der Gründung der »Bruderschaft unserer allerheiligsten Frau der königlich-polnischen Krone« (bractwo najświetszej Panny Krolowej Korony Polskiej) ausdrückte, die 1889 in Lemberg und 1891 in Krakau entstand.379 Dass Maria unter anderem als die »Königin der polnischen Krone« verehrt wurde, hatte eine politische Implikation und eine solche verbarg sich auch hinter den beiden ausgestellten Marienikonen: Die eine aus Vilnius, die andere aus Częstochowa  – beide erinnerten an die Grenzen der früheren rzeczpospolita. Der Wunsch, den polnischen Staat in den alten Grenzen wiederherzustellen, zeigte sich zudem in einer am Baldachin angebrachten Inschrift: »Wir bitten dich Herr um ein Grab für unsere Knochen in unserer Erde.«380 Damit suggerierte die Beisetzung von Adam Mickiewicz zweierlei: Polen existierte, weil eine polnische Sprache und Kultur existierte. Es existierte physisch dort, wo polnische Gräber waren, und sollte dort als Nationalstaat auch wieder neu entstehen. Welche Konfession aber hatte dieses Polen? Chotkowski hatte in seiner Predigt proklamiert, dass die polnische Nation eine katholische Nation sei.381 Zwar waren im Trauerzug Vertreter der evangelischen Gemeinden aus Stadt und Land wie der jüdischen Gemeinden in Stadt und Land, auch die israelitische Jugend in Krakau war vertreten.382 Einige der anwesenden Juden hatten einen Kranz gestiftet, den ein Zitat aus Mickiewicz’ Pan Tadeusz zierte, in welchem über einen jüdischen Schankwirt gesagt wird, dass er das Vaterland ebenso wie ein Pole liebe, womit die gemeinsame Vaterlandsliebe als ein Weg zur Assimilation eröffnet wird.383 Doch in der Feier, deren Kern der katholische Bestattungsritus darstellte, blieb das Katholische zwangsläufig dominant. Von eigenen Feiern in der evangelischen Kirche oder in der jüdischen Fortschrittssynagoge berichteten die Zeitungen nicht. Und so blieb die Überführung von Adam Mickiewicz mit seiner Beisetzung in einer katholischen Kirche in einem katholischen Ritus eine primär polnisch-katholische Veranstaltung, bei der sich nationale und katholisch-ultramontane Akteure um eine Vereinnahmung des jeweils anderen für die eigenen Zwecke bemühten.

379 Olszewski, Daniel: Polska religijność na przełomie XIX i XX wieku. In: Kłoczkowski, Jerzy (Hg.): Uniwersalizm i swoistość kultury polskiej. Lublin 1990, 221–245, hier 235 f. 380 Budrewicz: Nad trumną Mickiewicza 29. 381 Chotkowski: Mowa przy sprowadzeniu zwłok ś.p. Adama Mickiewicza 8. 382 Sprowadzenie zwłok Mickiewicza. In: Czas Nr. 148 vom 1.7.1890, 2. 383 Dabrowski: Reinventing Poland 248.

224  Der nicht alltägliche Tod

2.4.2 Städtekonkurrenz: Krakau, Lemberg und der Leichnam von Teofil Lenartowicz Ob nun die Krypta der Verdienten oder aber der Wawel das eigentliche nationale Pantheon darstellte, war eine Diskussion, die mit der Überführung von Adam Mickiewicz neu aufgeworfen worden war. Als Ort für prachtvolle Bei­ setzungen hatte sich zumindest die Stadt Krakau endgültig etabliert und konnte sich damit gegenüber anderen Städten behaupten, was Krakau mit Stolz tat. Das zeigte sich in der nächsten großen Beisetzung in Krakau, die wieder die Beisetzung eines Dichters war, diesmal die des romantischen Lyrikers und Bildhauers Teofil Lenartowicz (1822–1893). Lenartowicz war in Warschau geboren worden, hatte seine Kindheit in einem Dorf in Masowien verbracht, woraus er später viele Inspirationen für seine Poesie schöpfte. Auch seine ersten Gedichte, die er als junger Mann in Warschau schrieb, hatten das dörfliche Leben zum Thema. Wie so viele Schtiftsteller seiner Zeit, war Lenartowicz politisch tätig: Er stand in Kontakt mit konspirativen nationalen Kreisen. Lenartowicz selbst unterrichtete Handwerker in polnischer Geschichte, um sie so zur nationalen Agitation zu bewegen. Weil er aufgrund dieser Tätigkeit mit Repressionen rechnete, verließ er 1848 Warschau und lebte in Krakau, Brüssel und Paris. 1856 ließ er sich in Italien nieder, zunächst in Rom, später in Florenz. Er arbeitete als Bildhauer, verfasste Lyrik und unterrichte Slavistik an der Universität in Bologna.384 Auch wenn Lenartowicz sich in einigen Gedichten italienischen Themen zuwandte, so gelten seine masowischen Gedichte als seine besten.385 Als er am 3. Februar 1893 in Florenz starb, kamen zwei polnische Städte beinahe zeitgleich auf die Idee, den Leichnam zu überführen und in ihren Mauern zu bestatten: das westgalizische Krakau und das ostgalizische Lemberg. Lemberg verfügte über gute Argumente, Lenartowicz auf dem örtlichen Łyczakowski-Friedhof beizusetzen: Der Verstorbene selbst hatte diesen Wunsch mehrfach geäußert, unter anderem in Briefen, deren Abschrift der Lemberger Stadtrat einem Schreiben nach Krakau beifügte.386 Der Krakauer Stadtrat hingegen hatte auf Anregung des Schriftstellers und Politikers Adam Asynk die Überführung von Lenartowicz und seine Beisetzung in der Krypta der Verdienten beschlossen. Krakau hatte ebenfalls gute Argumente auf seiner Seite, die letztlich den Ausschlag gaben: Die Familie des Verstorbenen sprach sich für eine Beisetzung in 384 Gurbiel, Andrzej: Teofil Lenartowicz (1822–1893). In: Ziejka (Hg.): Nieśmiertelni 203–220. 385 Miłosz: The History of Polish Literature 267. 386 Brief des Lemberger Stadtrates vom 14.2.1893 mit der Abschrift zweier Briefe von Lenartowicz, einer datiert vom 6.9.1892 und der andere vom 24.12.1889. APwK, IT 29/575/43, ohne Paginierung.

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Krakau aus.387 Um die Organisation der Feierlichkeiten kümmerte sich ein Komitee mit Adam Asynk an der Spitze. Im Juni waren schließlich alle Formalitäten geregelt, so dass der Leichnam von Florenz nach Krakau überführt werden konnte, wo er am 12. Juni 1893 in der Krypta der Verdienten beigesetzt wurde.388 Die Beisetzung war ein Triumph für die Stadt. So freute sich Adam Asnyk, dass der Leichnam des Dichters in die Obhut der Stadt gegeben worden war. Stadtpräsident Józef Friedlein befand in seiner Ansprache, dass die Stadt stolz sein könne, dass die Nation Krakau die sterblichen Überreste von Lenartowicz anvertraut habe. Auch wenn es eigentlich die Familie des Verstorbenen ge­wesen war, die darüber entschieden hatte, der Stolz der politischen Repräsentanten Krakaus war groß. Darüber, dass Lenartowicz als Künstler und national engagierter Akteur die Krypta der Verdienten zustehe, herrschte Konsens, der dadurch bestärkt wurde, dass er als katholisch galt. So formulierte beispielsweise der Bernhardinermönch Czesław Bojdalski in seiner Trauerpredigt: Ja! Zum Grab der Verdienten! Wenn für jemanden, dann ist für dich, Teofil, dort der verdiente Ort, weil du ein gläubiger Katholik, ein aufrichtiger Sohn der polnischen Erde und ein Dichter warst.389

Dass die Beisetzung auf allgemeinen Konsens stieß, zeigte sich in der Struktur der Teilnehmerschaft: Bei der Beisetzung waren verschiedene Stände anwesend, Aristokraten wie Graf Stanisław Tarnowski ebenso wie Delegationen verschiedener Bauernvereinigungen. Den Sarg trugen Mitglieder des Krakauer »Sokół« (eines Turnvereins mit patriotischer Agenda) abwechselnd mit Mitgliedern des Landesvereins. Nicht erwähnt in der Aufzählung wurden allerdings die evangelische und die jüdische Gemeinde.390

2.4.3 Die »gesamte Stadt« ehrte Adam Asnyk Unumstritten war auch die nächste Beisetzung. Am 2. August 1897 starb der Schriftsteller und Politiker Adam Asnyk, nachdem er sich bei einer Reise nach Neapel im Februar desselben Jahres mit Typhus infiziert hatte. Zwar stammte Asnyk ursprünglich aus der Provinz Posen, doch war er sehr eng mit Krakau verbunden, wo er seit 1870 gelebt und gewirkt hatte  – als Schriftsteller, Publizist und Politiker. Er war sowohl Krakauer Stadtrat als auch Abgeordneter des Landtags gewesen und hatte die liberaldemokratische Tageszeitung Nowa 387 Brief an den Krakauer Stadtpräsidenten vom 13.2,1893. APwK, Krakowie, IT 29/575/43, ohne Paginierung. 388 Wilk: Uroczystości patriotyczno-religijne 136–138. 389 Pogrzeb ś.p. Teofila Lenartowicza. In: Czas Nr. 132 vom 13.6.1893, 2. 390 Ebd.

226  Der nicht alltägliche Tod Reforma herausgegeben. Nach Asnyks Tod berief Stadtpräsident Józef Friedlein umgehend eine Sitzung des Krakauer Stadtrates ein, der die Beisetzung Asnyks in der Krypta der Verdienten beschloss, die wenige Tage später, am 6. August 1897, stattfand. Mehr als 100 Geistliche waren anwesend, darunter die Jesuiten, die bei der Beisetzung Kraszewskis als einzige Ordensgemeinschaft gefehlt hatten. Anwesend bei der Beisetzung war zudem Krakaus jüdische Gemeinde, die am Tag der Beisetzung die Geschäfte geschlossen hielt. Anders als bei der Beisetzung Kraszewskis waren Vertreter der galizischen Selbstverwaltungsorgane anwesend wie der Landesmarschall Graf Stanisław Badeni sowie Abgeordnete des Galizischen Landtages. So zeigte sich der konservative Czas, der sich oftmals ablehnend gegenüber großen Beisetzungsfeiern und ihrem Manifestations­charakter äußerte, von der Feier sehr angetan: Es war zu erkennen, dass dies keine künstliche und theatralische Manifestation war, sondern dass in der Menge eine Vielzahl von Menschen aus den verschiedensten so­ zialen und gesellschaftlichen Sphären gekommen waren, ohne Unterschied der politischen Ansichten, die sie zu Lebzeiten mehr als einmal von Asnyk getrennt haben – aus einem Antrieb des Herzens, um einem Künstler und einem Menschen mit brennendem Herzen, einem bedeutenden Dichter und einem Liebhaber der Nation die letzte Ehre zu erweisen.391

Die Nowa Reforma sekundierte und unterstrich zugleich die als ungewöhnlich hoch empfundene Zahl von Frauen unter den Trauergästen: Ohne Übertreibung kann man feststellen, dass die gesamte Stadt und die Gesamtheit ihrer Einwohner, ohne Unterschied des Alters, des Geschlechts und des Glaubens, zugegen waren, um dem Andenken eines verdienten Mannes die letzte Ehre zu erweisen; aber am ungewöhnlichsten war in diesem Trauerzug die gewaltige Zahl von Frauen, die auf den Straßen in der größten Ordnung Spalier und Stille hielten, ohne niemandes Kommando, allein hielten sie den feierlichen Ernst ein, während an ihnen der Trauerzug vorbeizog.392

Hatten Frauen bisher während der Beisetzungsfeierlichkeiten meist nur eine passive Zuschauerrolle übernommen, so traten sie hier bei der Beisetzung­ Asnyks als Akteure auf. Diese aktive Rolle korrespondierte mit Emanzipationstendenzen im Bildungswesen: 1894 hatten die ersten Frauen als Hospitantinnen ein Studium an der Jagiellonenuniversität begonnen, 1897 gestattete das Bildungsministerium allgemein das ordentliche Studium von Frauen an der philosophischen Fakultät.393 Die Forderung nach der Zulassung von Frauen zu höheren Bildungseinrichtungen war innerhalb der von Asnyk gegründeten 391 Pogrzeb Asnyka. In: Czas Nr. 179 vom 8.8.1897, 2–3, hier 3. 392 Pogrzeb Adam Asnyka. In: Nowa Reforma Nr. 178 vom 8.8.1897, 1–2, hier 1. 393 Michalik: Kronika Krakowa 260.

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»Gesellschaft der Volksschulen« (Towarzystwo Szkoły Ludowej, TSL) vertreten worden, was dem Positivisten weibliche Sympathien bescherte.394 Insgesamt zeigte sich bei den Trauerfeierlichkeiten für Adam Asnyk einmal mehr, dass die Beisetzung von Künstlern in der Krypta der Verdienten in­ zwischen allgemein anerkannt war und von Demokraten wie Konservativen gleichermaßen als recht und billig empfunden wurde. Einigkeit bestand erst recht dort, wo der Verstorbene sich nicht nur durch seine Kunst hervorgetan, sondern auch einen engen Bezug zu Krakau besessen hatte: Über national gestimmte Feste war man sich dort einig, wo ihnen eine starke lokale Bedeutung zukam. Die Feierlichkeiten waren demnach einerseits eine nationale, andererseits eine lokale Angelegenheit. In ihnen spiegelte sich der Stolz Krakaus auf nationale Repräsentanten ebenso wie das neue Selbstbewusstsein einer Stadt, die sich gerade modernisierte.

2.4.4 Die Überführung von Henryk Siemiradzki aus Warschau Das Selbstverständnis Krakaus als kulturelle Hauptstadt zeigte sich bald darin, dass sich die Stadt aktiv darum bemühte, Leichname polnischer Künstler in ihren Mauern zu bestatten. Die nächste Beisetzung in der Krypta der Verdienten ist ein augenfälliges Beispiel dafür: Es handelt sich um die Beisetzung des Malers Henryk Siemiradzki (1843–1902), der zunächst in Warschau beigesetzt und dann auf Initiative der Stadt Krakau dorthin überführt wurde. Auch Siemiradzki, der mit seinen Geschichts- und Genrebildern, in denen er Motive aus dem Alten Testament wie aus der antiken Welt verarbeitete, bekannt geworden war, hatte einen besonderen Bezug zu Krakau. Ihm hatte die Stadt die Einrichtung des Nationalmuseums in den Tuchhallen zu verdanken, da Siemiradzki anlässlich des Kraszewskijubiläums und der zeitgleichen Wiedereröffnung der renovierten Tuchhallen der Stadt sein Bild »Neros Fackeln« (Pochodni Nerona) gestiftet hatte. Das Gemälde, welches die Christenverfolgung unter Nero darstellte, gab damals den Anstoß, in den Tuchhallen ein Museum zu errichten. Nach seinem Tod am 23.  August 1902 wurde der Maler zunächst in Warschau beigesetzt. Doch kurz darauf wandte sich der Krakauer Stadtrat an seine Familie mit der Bitte, den Leichnam nach Krakau überführen zu dürfen, womit sich diese einverstanden erklärte.395 Noch ein weiterer Grund sprach dafür, Siemiradzki in Krakau beizusetzen: In Nachrufen hatten russische Zeitungen 394 So war etwa Kazimiera Bujwidowa (1867–1932), die sich in den 1890er Jahren für die Zulassung von Frauen zur höheren Bildung in Galizien eingesetzt hatte, Mitglied der TSL und gemeinsam mit ihrem Mann, dem Mediziner Odo Bujwid, Asnyk freundschaftlich verbunden. Siehe Dormus, Katarzyna: Kazimiera Bujwidowa 1867–1932. Życie i działalność społeczno-oświatowa. Kraków 2002, hier 41 und 160 f. 395 Różek: Wawel i Skałka 244 f.

228  Der nicht alltägliche Tod den aus der Gegend von Charkiw stammenden Siemiradzki als einen russischen Maler bezeichnet. Nun sollten die Beisetzung und das Grab in der Krypta der Verdienten Siemiradzkis Polonizität betonen.396 Ein Jahr nach dem Tod des Malers erfolgte die Überführung. Bei der Beisetzungsfeier am 26. September 1903 war mehrfach die Rede von der Stiftung des Bildes Neros Fackeln. Das Bild, die Stiftung und die Ausdeutung des Gemäldes prägten die Trauerreden. Der Prediger knüpfte an die im Bild dargestellte Identifikation der Geschichte der Christenheit mit der Geschichte Polens an. In der Predigt hieß es: Die polnische Geschichte sei ein Abbild der Geschichte der Christenheit, und als solche werde sie mit dem Triumph enden. Der Prior der Pauliner zog eine ähnliche Analogie und ordnete Polens Geschichte und Gegenwart in die Heilsgeschichte ein und schloss sich der in der Zeit üblichen Vorstellung vom Künstler an: Nicht nur die erleuchten die Christenheit, die als lebende Fackeln im Garten Neros gebrannt haben, und nicht nur die, die mit einer Waffe in der Hand in Verteidigung des Glaubens und der Christenheit gekämpft haben, sondern auch die, die als Ritter des Geistes neue erhabene und gesunde Ideen in die Nation tragen – zur Ehre des Vaterlandes und zum Lob Gottes.397

Dazu passte, dass Siemiradzki unter dem Klang patriotischer Lieder ins Grab gelegt wurde.398 Das bedeutete jedoch keine Exklusion anderer Religionsgemeinschaften: Im Trauerzug waren auch die jüdische, die evangelische und die liberale jüdische Gemeinde vertreten.399

2.4.5 Eine stumme Feier auf Film: die Beisetzung von Stanisław Wyspiański Im November 1907 starb einer der herausragendsten Künstler, die Krakau hervorgebracht hat: Stanisław Wyspiański, der nur 38 Jahre alt wurde. Viel zu früh war damit nach dem Empfinden vieler Zeitgenossen einer der talentiertesten polnischen Künstler des fin de siècle gestorben, der in seinen wenigen Lebensjahren als Maler und Schriftsteller ungemein produktiv gewesen war. Wyspiański war in vielfacher Hinsicht ein Krakauer Künstler: In Krakau war er geboren worden, hier hatte er gelebt und gewirkt, und an der Stadt hatte er sich 396 Poprzęcka, Maria: Henryk Siemiradzki (1843–1902). In: Ziejka (Hg.): Nieśmiertelni ­247–265, hier 265. 397 Złożenie zwłok H.  Siemiradzkiego na Skałce. In: Nowa Reforma Nr.  220 vom 27.9.1903, 2 f. 398 Pogrzeb Siemiradzkiego. In: Czas Nr. 219 vom 26.9.1903 (Abendausgabe), 2 f. 399 Złożenie zwłok H.  Siemiradzkiego na Skałce. In: Nowa Reforma Nr.  220 vom 27.9.1903, 2 f.

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regelrecht abgearbeitet. Er liebte die Stadt, sie diente ihm als Inspirationsquelle, gleichzeitig rebellierte er gegen sie.400 Krakau war durch die starke Betonung des historischen Raumes gleichsam zum Museum erstarrt, Wyspiański bezeichnete es einmal als »Stadt der lebenden Steine und der toten Menschen«.401Aus der  – in Krakau oft beschworenen  – polnischen Vergangenheit, wie auch aus der Welt der Antike zog Wyspiański viele seiner Themen und Motive. In seinen Werken ließ er nicht nur Personen aus der polnischen Geschichte auftreten; auch der historische Raum selbst wurde zum Sujet seiner Werke, wie beispielsweise in dem Bühnenstück »Akropolis«, in welchem er die Wawelkathedrale zum Leben erweckte. Umgekehrt schrieb sich Wyspiański mit seiner Kunst in den Raum der Stadt ein, etwa durch seine Innendekoration der nach dem Stadtbrand von 1850 neu errichteten Franziskanerkirche. Er empfand es als eine persönliche Kränkung, dass er 1904 nicht zu den Restaurationsarbeiten auf dem Wawel, den die Österreicher in dem Jahr als Garnison aufgegeben hatten, zu­ gelassen wurde.402 Das museale Krakau wurde außerdem zu dem Ort, an dem Wyspiański das moderne polnische Theater begründete. Angesichts seiner Bedeutung für das polnische kulturelle Leben seiner Zeit im Allgemeinen wie für die Stadt Krakau im Besonderen, in der er zeit seines Lebens gewohnt und gewirkt hatte, verwundert es kaum, dass der Stadtrat nach seinem Tod umgehend nicht nur seine Beisetzung in der Krypta der Verdienten beschloss, sondern auch die finanzielle Sorge für die noch minderjährigen Kinder des Malerpoeten übernahm. Die Zustimmung, Wyspiański in der Krypta der Verdienten beizusetzen, erhielt der Stadtrat bereits am 29. November 1907 von den Paulinern. In dem Schreiben, mit dem die Pauliner der Beisetzung im Untergewölbe ihrer Kirche zustimmten, fand sich ein Zusatz, der grundsätzlich für alle dortigen Beisetzungen galt: Der Beisetzung des Verstorbenen in der Krypta der Verdienten werde zugestimmt, vorausgesetzt, der Verstorbene sei »katholisch verstorben«. Was das bedeutet, wurde ebenfalls präzisiert: Er musste die letzten Sakramente empfangen oder aber zumindest diesen Empfang nicht vorsätzlich verweigert haben.403 Anders gesagt: Um in der Krypta der Verdienten zu ruhen, reichte es nicht, formal katholisch gewesen zu sein, der Künstler sollte ein praktizierender Katholik 400 Miłosz: The History of Polish Literature 353. 401 Zitiert nach Adamek-Świechowska, Adrianna: »Na sprowadzenie prochów…«. ­»Ognie bengalskie frazeologii dziennikarskie« w sprawie pogrzebów wielkich Polaków. In: Stępnik, Krzysztof (Hg.): Zbrodnie, sensacje i katastrofy w prasie polskiej do 1914. Lublin 2010, 163– 176, hier 166. 402 Prussak, Maria: Stanisław Wyspiański (1869–1907). In: Ziejka (Hg.): Nieśmiertelni ­267–279, hier 277. 403 Brief vom 29.11.1907, abgedruckt in: Romanowska, Marta: »Sami złożycie stos…«. Pogrzeb Stanisława Wyspiańskiego – Wystawa w muzeum narodowym w Krakowie grudzień 2007 – marzec 2008. Kraków 2007, hier 48.

230  Der nicht alltägliche Tod gewesen sein, wobei vor allem dem Verlauf der Sterbestunde entscheidendes Gewicht beigemessen wurde. In der Ausgabe, die fünf Tage nach Wyspiańskis Beisetzung erschien, bot die Warschauer Illustrierte Tygodnik Illustrowany eine sehr ausführliche Dar­ stellung von Wyspiańskis Sterbestunde, die sich geradezu als Lehrstück eines »guten Todes«404 liest.  Alle Elemente waren hier vorhanden: Der Sterbende beichtete, verabschiedete sich von seinen Freunden, erteilte letzte Weisungen für den Umgang mit seinem Nachlass, bat einen Freund, sich seiner Kinder anzunehmen, bedankte sich bei den Menschen, die ihn umgaben, für all ihren Beistand in seinem Leben und starb dann in einer schmerzhaften Agonie.405 Nicht als Künstler, nicht als dichterischer Prophet wurde hier Wyspiański präsentiert, sondern als Mensch, der eine existentielle Grenzsituation so gut es ihm möglich war, meisterte. Im Umgang mit dem Tod eines großen Mannes spielte daher nicht nur seine symbolische, national imprägnierte Ausstrahlungskraft eine Rolle, sondern auch das vorbildliche Sterben fand Beachtung. Genaueres über die Sterbestunde des Dichtermalers hatte der interessierte Leser bereits einen Tag nach Wyspiańskis Tod der Abendausgabe des Czas entnehmen können. Dort schilderte der Jesuit Jan Pawelski, der an Wyspiańskis Sterbebett in der kleinen Ortschaft Węgrze gerufen worden war, Wyspiańskis letzte Stunden: Demnach habe der Dichter selbst verfügt, dass nach einem Priester gerufen werde und trotz seiner Schmerzen in aufrechter Haltung die Beichte abgelegt. Auch für das Gebet des Ave Maria, zu dem der Priester ihn ermunterte, habe sich der Moribunde um eine angemessene Gebetshaltung bemüht und besonders die Worte »in der Stunde unseres Todes« (w  godzinie śmierci naszej) sehr deutlich ausgesprochen. Danach habe er noch bis kurz vor dem Eintreten seines Todes mehrfach die Worte »Maria« und »Jesus« wiederholt.406 Mit seinem Bericht wollte der Jesuit nach eigenen Angaben die Unklarheiten bezüglich Wyspiańskis Katholizität ausräumen, die ihre Ursache in »einigen wenigen […] Details seiner Werke«407 hätten. Dass es sich dabei aber lediglich um ein Missverständnis handeln konnte, war die Überzeugung, die Pawelski in seinem Artikel zum Ausdruck brachte. Ursache für die »Missverständnisse« könnte das Stück »Der Fluch« (Klątwa) gewesen sein,408 in welchem sich ein im Konkubinat lebender Pfarrer mit seiner abergläubischen Dorfgemeinde konfrontiert sieht. In dem Dorf herrscht seit 404 Siehe dazu beispielsweise Ariès: Geschichte des Todes 29. 405 Srokowski, Konstanty: Ostatnie chwile Stanisława Wyspiańskiego. In: Tygodnik Illustrowany Nr. 49 vom 7.12.1907, 1004–1006. 406 Pawelski, Ks. J.: Z ostatnich chwil Wyspiańskiego. In: Czas Nr. 275,2 vom 29.11.1907, 1–2. 407 Ebd. 408 Kracik, Jan: Sądy u wrót krypty. In: Tygodnik Powszechny vom 26.9.2004, URL: http://tygodnik2003–3–2007.onet.pl/1547,1189459,0,dzial.html (am 29.9.2013).

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langem eine Dürre, worin die Dorfgemeinschaft eine Strafe Gottes für die Sünde des Pfarrers und seiner Geliebten, mit der er zwei Kinder gezeugt hat, sieht. Um die Lage zu wenden, verlangt das wütende Volk ein Ende des Konkubinats und später ein Brandopfer. Die Geliebte des Pfarrers gerät aufgrund der Situation in Verzweiflung, die sie schließlich dazu treibt, sich mit ihren Kindern auf den Scheiterhaufen zu werfen. Wer in Krakau zu Lebzeiten ­Wyspiańskis be­ ziehungsweise zum Zeitpunkt seines Todes das Stück kannte, der hatte es in der Literaturzeitschrift Życie gelesen, in der es 1899 abgedruckt worden war. Uraufgeführt wurde es erst zwei Jahre nach Wyspiańskis Tod – und das nicht in seiner Heimatstadt Krakau, sondern in Łódź,409 was darauf schließen lässt, dass man sich im katholischen Krakau mit dem Sujet schwer tat. Ein anderer Umstand hätte ebenfalls Wyspiańskis Katholizität in Frage stellen können: die Ursache seines frühen Todes. Wyspiański war an der damals nicht heilbaren Syphilis gestorben. Dieses Detail seiner Biographie wurde und wird oft unterbelichtet.410 Dabei hatte die Krankheit seine gesamte Hauptschaffensperiode begleitet. Die romantisierende Deutung der Geschlechtskrankheit in Westeuropa, die neben den Diskurs um die moralischen, sanitären und hygienischen Aspekte der Krankheit trat und derzufolge sie Menschen zu genialen Leistungen befähigte – als das Paradebeispiel galt Friedrich Nietzsche411 – wurde in polnischen Diskussionen auf Wyspiański nicht angewandt. Auch spielte es für eine moralische Einschätzung Wyspiańskis keine Rolle. Und sollte dieses Detail seiner Biographie in den Diskussionen auf Krakaus Straßen eine Rolle gespielt haben, mit Wyspiańskis Beichte auf dem Totenbett hatte der moralische Vorbehalt – zumindest im öffentlichen Diskurs – keine Relevanz mehr. Hier zeigte sich wie auch zwanzig Jahre zuvor bei der Beisetzung Kraszewskis die Bedeutung, die die obere Kirchenhierarchie der Sterbestunde beimaß. So wurde am 2.  Dezember 1907 Wyspiański von der Krakauer Geistlichkeit zu Grabe getragen. Nicht anwesend war der Krakauer Bischof Kardinal Jan Puzyna, den mit Wyspiański ein schwieriges Verhältnis verband, welches problematisch genug war, um Puzyna von einer persönlichen Teilnahme abzuhalten, aber bei weitem nicht schwierig genug, als dass dieser sich gegen die ehrenvolle Grablegung ausgeprochen hätte. Sehr deutlich für die feierliche Bei­setzung 409 Wyspiański, Stanisław – ›Klątwa‹. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Kindlers Literaturlexikon, 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar 2009, URL: www.kll-online.de (am 22.8.2013). 410 Eine Ausnahme stellt ein Aufsatz aus dem Jahr 1969 dar, in welchem der 100.  Geburtstag Wyspiańskis begangen wurde und der sich mit dem näheren Krankheitsverlauf wie den Auswirkungen auf Wyspiańskis Werk und Gemütszustand befasst: Dürr-Durski, Jan/ Durski, Stefan: Wyspiański, jak się o nim nie mówi. In: Przegląd Humanistyczny 13/6 (1969) 47–57. 411 Schonlau, Anja: Syphilis in der Literatur. Über Ästhetik, Moral, Genie und Medizin (1880–2000). Würzburg 2005.

232  Der nicht alltägliche Tod sprach sich Stadtpräsident Juliusz Leo aus zwei Gründen aus: Zum einen war er ein großer Bewunderer der Werke Wyspiańskis, den er in einer Reihe mit den drei großen Dichtern412 Juliusz Słowacki, Adam Mickiewicz und Zygmunt Krasiński sah; zum anderen erhoffte sich Leo, mit den großen Feierlichkeiten die Bedeutung Krakaus hervorheben zu können. Um die Nachwelt ebenfalls an der Beisetzung Wyspiańskis teilhaben zu lassen, ließ Leo die Feierlichkeiten filmen. Es war die erste Veranstaltung dieser Art, die auf Film festgehalten wurde.413 Ein weiteres Merkmal zeichnete die Beisetzung Wyspiańskis aus: Auf Wunsch des Verstorbenen fand die Beisetzung still, das heißt ohne Reden, statt.414 Die verschiedenen Beisetzungen in der Krypta der Verdienten und die damit verbundenen Begräbnisfeierlichkeiten, die zumeist denselben Verlauf, ausgehend vom Marktplatz über den alten Königsweg zur Paulinerkirche auf dem Felsen genommen hatten, bewirkten, dass die Krypta als angesehener Begräbnisort in allen polnischen Gebieten wahrgenommen wurde, womit Krakau zum herausragenden Begräbnisort für angesehene polnische Künstler geworden war. Deren physische Präsenz in der Krypta bestätigte deren Status als, wie es der Initatior Józef Łepkowski vorgesehen hatte, »Krypta der Verdienten«. Krakau hatte sich als zeremonielle und kulturelle Hauptstadt etabliert und dabei auch den einzigen Konkurrenten Lemberg weit hinter sich lassen können. Immerhin hatte Lemberg bloß Ehrenreihen auf dem allgemeinen städtischen Friedhof zu bieten, Krakau jedoch neben dem städtischen Friedhof auch Skałka und den Wawel. Skałka blieb jedoch in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen ein Begräbnisort zweiter Klasse. So bezeichnete beispielsweise der Schriftsteller Lucjan Rydel die Krypta als »Vorzimmer der nationalen Ehre«.415 Während der Wawel mehrere Jahrhunderte lang als Grablege für die Monarchen gedient hatte, handelte es sich bei Skałka um eine sehr junge Nekropole, gewissermaßen um eine invented tradition (Eric Hobsbawm), die in die Tradition der Beisetzungen auf dem Wawel eingegliedert werden sollte: Die Trauerzüge nahmen denselben Weg wie einst die den Monarchen gewidmeten Leichenzüge. Den Anspruch, eine Krypta der Verdienten darzustellen, bestätigten die, die dort beigesetzt wurden und als verdient galten. Dennoch konnte sich der Ort nicht einer solchen historischen Dignität erfreuen wie der Wawel. Was Skałka ebenfalls in den Augen einiger unbeliebt machte, war die ausgeprägte klerikale Komponente: In Erinnerung an das Martyrium des Bischofs Stanislaus symbolisierte 412 Im Polnischen werden die drei romantischen Dichter als wieszcze bezeichnet, für das es kein deutsches Äquivalent gibt, was sich aber mit »genialer Dichterprophet« wiedergeben lässt. 413 Różek, Michał: Skałka jako Panteon Narodowy. In: Peregrinus Cracoviensis 14 (2003) 119–141, hier 129. 414 Romanowska: Sami złożycie stos 57. 415 Zitiert nach Adamek-Świechowska: »Na sprowadzenie prochów« 171.

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Skałka die Mahnung, Weltliches dem Geistlichen unterzuordnen. Der Wawel, wenngleich sich die Königsgräber in der Kathedrale befanden, ließ sich zugleich als ein Symbol weltlicher Macht verstehen. Mit den unterschiedlichen Konzeptionen und Images der beiden Begräbnisorte verband sich die Streitfrage, wie sich Künstler zu Königen verhielten. Für die einen stellte die monarchische Würde ein unvergleichbares Prägemal dar, während für die anderen der individuell erworbene Verdienst von Künstlern die monarchische Würde manchmal bei Weitem übertraf – wie in dem Fall der großen romantischen Dichter, zu denen neben Mickiewicz auch Juliusz Słowacki gehörte.

2.4.6 Juliusz Słowacki auf dem Wawel? Kontroversen im Jahr 1903 Nach der Beisetzung Mickiewicz’ auf dem Wawel blieb die Kathedrale für weitere Beerdigungen geschlossen. Denn zum einen galten nach wie vor die österreichischen Hygienevorschriften, die Beisetzungen in Kirchen untersagten, zum anderen herrschte in der polnischen Gesellschaft kein Konsens darüber, ob noch jemandem die Ehre gebühren sollte, in Polens Heiligtum bestattet zu werden. Nach Adam Mickiewicz hatte sich vor allem der zweite große Dichter der polnischen Romantik für diese posthume Ehrung qualifiziert: Juliusz Słowacki (1809–1849). Der Dichter war in Paris 1849 an Schwindsucht gestorben und auf dem Friedhof Montmartre beigesetzt worden. Die Jahrhundertwende brachte ihm neue Leser und damit eine neue Wahrnehmung und Wertschätzung seines Werkes.416 Mit dieser neu entfachten Begeisterung für den Schriftsteller entstand der Wunsch, seinen Leichnam nach Krakau zu überführen. Die Idee, die erstmals im Juni 1893 der Schriftsteller Franciszek Rawita-Gawroński äußerte, fand bald Anhänger, vor allem in studentischen Kreisen und in der liberalen Presse. Auf Kritik stieß die Idee nicht nur in klerikalen und konservativen Kreisen, sondern auch bei einem nationalen Aktivisten wie Zygmunt Miłkowski alias Tomasz Teodor Jeż, der den sterbenden Kraszewski begleitet hatte. Słowacki im gegenwärtigen historischen Moment nach Krakau zu überführen, hieße – so argumentierte Miłkowski – den politischen Status quo zu akzeptieren und sich mit patriotischen Feierlichkeiten zu begnügen. Die Idee der Überführung scheiterte schließlich zunächst angesichts der vielen divergierenden Meinungen,417 doch aufgegeben wurde sie damit nicht. Wieder aufgenommen wurde der Vorschlag im Jahr 1903 von der Krakauer Studentenvereinigung Czytelnia Akademicka, derselben Vereinigung, die schon gut ein Jahrzehnt zuvor die Translation von Adam Mickiewicz forciert hatte. 416 Daszyk, Krzysztof Karol: »Niech wróci mogiła«. Ideowo-polityczne spory o wawelski grób dla Juliusza Słowackiego. Kraków 2010, hier 37. 417 Ebd. 306.

234  Der nicht alltägliche Tod Die Vereinigung verband ihre Forderung mit Taten: Sie sammelte Geld für die Überführung und befragte Repräsentanten der polnischen Literatur, welches der angemessene Begräbnisplatz für Słowacki sei. Dass die Mehrheit der Befragten für den Wawel stimmte, verlieh dem Ansinnen der Studentenvereinigung propagandistischen Nachdruck. Ein Komitee, welches Mitglieder aus allen drei Teilungsgebieten versammelte, wollte das Projekt anlässlich des 100. Geburtstags des Dichters im Jahr 1909 umsetzen, scheiterte jedoch an der Ablehnung des Krakauer Bischofs Kardinal Jan Puzyna, dem die Verfügungsgewalt über Beisetzungen in der Kathedrale oblag. Zuvor war von katholischer Seite Kritik an einer möglichen Beisetzung Słowackis in der Kathedrale des ­Wawels formuliert worden. So wandte sich eine 1908 erschienene anonyme Broschüre mit dem beredten Titel »Protest gegen die Profanierung des Wawels durch die Beisetzung dessen, der eine Glatze mit einer Hostie vergleicht, in der großartigsten polnischen Kirche«418 gegen die Beisetzung Słowackis auf dem Wawel. Die Broschüre warf dem Dichter, der sich zeitwillig von der Kirche losgesagt hatte, Gotteslästerung vor – namentlich Pantheismus, Pessimismus und Satanismus. Der Titel bezog sich auf eine ironische Personenbeschreibung in einem der Werke Słowackis, die als blasphemisch empfunden wurde.419 Doch Zweifel an der Katholizität des Dichters, der immerhin mit den Sterbesakramenten versehen verstorben war, waren nicht ausschlaggebend für die Ablehnung des Bischofs, der selbst sagte, dass nichts gegen ein katholisches Begräbnis einzuwenden sei. Puzyna weigerte sich jedoch, den Wawel als Begräbnisstätte zuzulassen, weil er in der Folge auch anderen eine Beisetzung in Polens bekanntester Kathedrale hätte gewähren müssen – was allgemein ein häufig genannter Einwand gegen Beisetzungen auf dem Wawel war. Zudem war dem Kardinal die zu erwartende große Beerdigung zuwider, da er den »lauten, demonstrativen Straßenpatriotismus«420 ablehnte. Patriotismus solle sich nicht in Manifestationen ausdrücken, sondern in Arbeit, Opferbereitschaft und einer vertieften Frömmigkeit, so die Überzeugung des Bischofs.421 Damit teilte Puzyna die Skepsis der Krakauer Konservativen gegenüber nationalen Agitationen und geriet so in demokratischen Kreisen weiter in Misskredit. Viel Sympathie hatte der kirchen- und kaiserloyale Kardinal jedoch nicht zu verlieren, denn er galt als unbeliebt.422 Er war der idealtypische Antipode der polnischen demokratischen Patrioten: Sein Interesse galt vorrangig der Vertiefung der Frömmigkeit seiner Zeitgenossen sowie der Disziplinierung des Klerus.423 Zwar sei 418 Im Original Protest przeciw profanacyi Wawelu przez pogrzebanie w najznakomitszym kościele polksim tego, co przyrównuje łysinę do Hostyi. 419 Daszyk: »Niech Wróci Mogiła« 94. 420 Komar, Edward: Kardynał Puzyna. Kraków 1912, hier 111. 421 Ebd. 111–113. 422 Smolarski, Mieczyslaw: Miasto starych dzwonów. Kraków 1960, hier 137 f. 423 Puzyna Jan. In: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 29. Kraków 1986, 488–491.

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er auch patriotisch gewesen, wie ein Biograph beteuerte, aber dieser Patriotismus war ein­deutig anderen Interessen untergeordnet; Priorität besaß die Loyalität gegenüber dem Hause Habsburg und dem Papst in Rom, für die er im Zweifelsfall auf Kosten des Patriotismus Partei ergriffen hätte. Mit dem Argument »Ein Gott – ein Recht« weigerte er sich, kirchliche Standpunkte zugunsten nationaler respektive patriotischer Interessen aufzugeben. Sehr viel Unmut hatte er außerdem anlässlich des Konklaves nach dem Tod von Papst Leo XIII. im Jahr 1903 auf sich gezogen, als Puzyna im Namen des österreichischen Kaisers die so genannte Exklusive gegenüber dem aussichtsreichsten Kandidaten Kardinal Mariano Rampolla aussprach. Die Intervention zeigte den gewünschten Effekt: Das Konklave vollzog einen Richtungswechsel, und so wurde schließlich nicht der als frankophil und liberal geltende Kardinal Rampolla, sondern der Patriarch von Venedig, Giuseppe Sarto, der sich Pius X . nennen sollte, zum Papst gewählt.424 Das Einschreiten gegen Rampolla konnte zwar auch als Wahrung polnischer Interessen gewertet werden, da von ihm als Papst eine russlandfreundliche Politik zu erwarten gewesen wäre, dennoch nahmen viele Polen Puzyna die mit der Exklusive gegenüber dem österreichischen Kaiser demonstrierte Loyalität übel. Es hieß, keiner außer Puzyna sei dazu bereit gewesen.425 In Krakau wurden nach Puzynas Rückkehr aus Rom die Scheiben im Bischofspalast eingeschlagen.426 Dabei konnte der Umstand, dass mit Rampolla ein prorussisch gesinnter Kardinal als Papst verhindert worden war, durchaus als polnisches Interesse gewertet werden.427 Wenige Jahre später bewirkte Puzynas Weigerung, Słowacki in der Kathedrale des Wawels bestatten zu lassen, die Rede vom Vatikan als vierter Teilungsmacht.428 Dass ausgerechnet Kleriker die Verfügungsgewalt über den wichtigsten polnischen Gedächtnisspeicher innehatten, missfiel einigen säkularen 424 Seppelt, Franz Xaver: Papstgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1949, hier 356 f. Seppelt zufolge war nicht die Exklusive, sondern die starre Haltung der Gegner Rampollas Grund für das Wahlergebnis. Nach späteren Darstellungen war es hingegen das von Puzyna ausgesprochene Veto, welches den Verlauf des Konklaves entscheidend beeinflusste. Siehe Aubert, Roger: Defensive Kräftekonzentration. In: Jedin, Hubert (Hg.): Handbuch der Kirchengeschichte. Die Kirche in der Gegenwart. 2. Halbband: Die Kirchen zwischen Anpassung und Widerstand. Freiburg u. a. 1973, 391–545, hier 392–395. 425 Puzyna Jan. In: Polski Słownik Biograficzny 488–491. 426 Daszyk: »Niech Wróci Mogiła« 119. 427 Bei Aubert heißt es sogar, nicht der Kaiser habe den Kardinal zur Exklusive gedrängt, sondern umgekehrt habe Puzyna den Kaiser von diesem Schritt überzeugt. Puzyna wird mit den Worten zitiert: »Nicht Österreich hat mich ausgenützt, vielmehr habe ich Österreich ausgenützt.« Siehe Aubert: Defensive Kräftekonzentration 393 f., Zitat in der Fußnote 1. Sollte Puzynas Einschreiten tatsächlich aus propolnischen Motiven erfolgt sein, so scheint das weder von seinen Zeitgenossen noch von der Nachwelt so wahrgenommen worden zu sein. An dieser Stelle sei noch angemerkt, dass eine Biographie Puzynas nach wie vor ein Desiderat darstellt. 428 Daszyk: »Niech Wróci Mogiła« 123.

236  Der nicht alltägliche Tod und freidenkerischen Kräften in der polnischen Nationalbewegung. Für manche lag die Lösung des Problems auf der Hand: Die wichtigste polnische Nekropole sollte nicht länger kirchlich sein, sondern säkular: Am 30.  Mai 1909 verabschiedete in Lemberg eine allgemein akademische Kundgebung eine Resolution, die die Säkularisierung des Wawels forderte. Die Idee fand rasch in weiteren polnischen akademischen Zirkeln in Galizien und im Ausland Anklang.429 In all seinen Juliausgaben druckte die freidenkerische Zeitung »Myśl Niepodległa« (»Unabhängiger Gedanke«) Protestschreiben dieser Art ab: Der eigentliche Besitzer des Wawels sei die gesamte Nation und nicht Kardinal Puzyna, so der Tenor vieler dieser Schreiben.430 So wie die Pariser Kirche St. Genoveva zu einem säkularisierten nationalen Pantheon geworden ist, solle auch der Wawel zu einem säkularisierten nationalen Pantheon umgewandelt werden, in dem verdiente Polen unabhängig von Glaube und Weltanschauung beigesetzt werden sollen, forderte Myśl Niepodległa.431 Tatsächlich wäre ein säkularisierter Wawel mit einem breiteren Nationsverständnis konform gewesen, da damit nicht mehr die katholische Konfessionszugehörigkeit Grundvoraussetzung für höchste postmortale Ehrungen gewesen wäre. Solche Forderungen entsprachen zum einen den schlimmsten Befürchtungen der Kleriker, die den großen Begräbniszeremonien ohnehin mit Skepsis gegenüberstanden,432 zum anderen zeigten sie, wie stark sich die Auseinandersetzung radikalisiert hatte. Während die Krypta der Verdienten als Möglichkeit zur posthumen Ehrung herausragender Künstler inzwischen allgemein anerkannt war, blieb der Wawel als Begräbnisort weiterhin umstritten.433 Dass die Forderung nach einer Profanisierung des Wawels aber bloß das Wunschdenken der einen und der Alptraum der anderen bleiben sollte, war zu erwarten angesichts der Tatsache, dass es sich beim Wawel nicht um irgendeine Kirche, sondern die Kathedrale und damit die Hauptkirche des Bistums Krakau handelt. Gleichzeitig aber bezeugt die Idee von einer Säkularisierung des Wawels, wie sehr Krakau zu einem umkämpften symbolischen Raum geworden war. Wer den symbolischen Raum prägte, konnte sich auch der Deutungshoheit im gesellschaftlichen Diskurs sicher sein. Mächtig genug, die Beisetzung Słowackis auf

429 Ebd. 125 ff. 430 Zapiski. Protesty przeciw uzurpacji kardynała Puzyny. In: Myśl Niepodległa Nr. 104 (1909) 953–959. 431 Walka o panteon narodowy. In: Myśl Niepodległa Nr. 103 (1909) 874–877, hier 876. 432 Siehe dazu das Kapitel 2.2. 433 Dass der Wawel als Begräbnisstätte immer noch Kontroversen und Emotionen entfachen kann, haben zuletzt die Kontroversen um die Beisetzung von Maria und Lech Kaszyński nach dem Flugzeugabsturz von Smolensk im Jahr 2010 gezeigt. Trotz Widerspruchs in der polnischen Öffentlichkeits sprach sich der Krakauer Kardinal Stanisław ­Dziwisz für eine Beisetzung auf dem Wawel aus.

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dem Wawel einzufordern, sollte in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts Józef Piłsudski sein. In der Zeit des geteilten Polens blieb die Beisetzung von Stanisław Wyspiański die letzte große Begräbnisfeier in Krakau.

2.4.7 Das polnische, das katholische und das jüdische Krakau Wawel und Skałka stellten nicht nur Wahrzeichen der Stadt dar, sondern markierten auch den Übergang in das andere, das jüdische Krakau. So waren die jüdischen Krakauer teilweise in die Feierlichkeiten involviert. Die in der ulica Grodzka, im Stadtteil Stradom, welches den Übergang zwischen dem jüdischen und dem nicht jüdischen Krakau darstellte, wohnhaften Juden schmückten für die großen Beisetzungen ihre Häuser, ließen ihre Geschäfte geschlossen und waren teilweise im Trauerzug vertreten. Umgekehrt nahmen Repräsentanten der Stadt Krakau an der Beisetzung bekannter Krakauer Juden teil. Ein Beispiel dafür ist die Beisetzung von Maurycy Gottlieb (1856–1879), einem talentierten Nachwuchsmaler, dessen verheißungsvoller Karriere eine Lungenentzün­dung ein jähes Ende bereitet hatte. Ihn trugen neben den Mitgliedern der Reformsynagoge die Professoren der Akademie der schönen Künste, deren Student Gottlieb gewesen war, zu Grabe. Auch Krakaus Künstler und Literaten und Menschen aus dem Volk, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, gaben ihm bei strömendem Regen das letzte Geleit.434 Ebenfalls bei Regen wurde Szymon Samelsohn, früherer Abgeordneter des galizischen Landtags und Präsident der jüdischen Cultus-Gemeinde, beigesetzt. Zu seiner Beerdigung am 12. Juni 1881 kam eine große Zahl städtischer Ver­ treter mit Stadtpräsident Ferdynand Weigel an der Spitze, gefolgt von den Stadträten und diversen Krakauer Korporationen. Eine Predigt wurde auf Polnisch, die zweite auf Deutsch gesprochen.435 Auch an der Beisetzung von Leon­ Horowitz, Präsident des jüdischen Kultusrates sowie Krakauer Stadtrat nahmen Vertreter der Stadt teil.436 Als Männer des öffentlichen und politischen Lebens war ihnen die posthume Ehrbezeugung von offiziellen Vertretern der Stadt eine Selbstverständlichkeit. Der 1881 verstorbene Szymon Samelsohn war seinerzeit bei der erneuten Beisetzung des Königs Kazimierz des Großen einer der Zeremonienmeister gewesen, der in der Kirche den Gästen ihren Platz zugewiesen hatte. Bei dieser Trauerfeier waren sowohl die Krakauer Juden, orthodoxe Juden ebenso wie Re 434 Duda, Eugeniusz/Jodłowiec-Dziedzic, Anna: Wstęp/Introduction. In: Nowakowski, Andrzej (Hg.): Powiększenie. Nowy Cmentarz Żydowski w Krakowie/Blowup. The New Jewish Cemetery in Kraków. Kraków 2006, 153–160, hier 155 f. 435 Der Israelit Nr. 13 vom 23.6.1881. 436 Pogrzeb bł. p. Dra Leona Horowitza. In: Czas Nr. 43/2 vom 22.2.1905, 2 f.

238  Der nicht alltägliche Tod formjuden als auch die evangelische Gemeinde sehr präsent gewesen. Sie waren nicht nur im Trauerzug vertreten gewesen, sondern hatten eine aktive Rolle bei den Feierlichkeiten. Hier wie auch bei anderen Begräbnisfeierlichkeiten, bei denen die Teilnahme von jüdischen Bürgern nähere Beachtung durch die Krakauer Presse fand – neben der Beisetzung von Kazimierz dem Großen waren das die Begräbnisfeiern für Józef Ignacy Kraszewski und Adam Mickiewicz –, wurde die Assimilation als wünschenswerte Möglichkeit der Integration der jüdischen Bevölkerung in die polnische Nation genannt. Bei späteren Feiern waren Juden und Protestanten ebenfalls noch in der Ordnung des Trauerzugs vertreten, doch wird in der Berichterstattung darauf nicht weiter eingegangen. Von Trauerfeiern in der Synagoge oder in der evangelischen Kirche war nichts mehr zu lesen. Die endgültige Wende von einer dynastisch zu einer demokratisch verstandenen Nation brachte einerseits eine Demokratisierung mit sich, doch war andererseits das Integrationspotenzial der dynastischen Beisetzung von Kazimierz Wielki am größten gewesen. Insgesamt aber dürfte die Teilnahme von Juden und Evangelischen vor allem den örtlichen Gegebenheiten geschuldet gewesen sein, wo in politischen Gremien Vertreter der verschiedenen Konfessionen nebeneinander saßen. Während die Predigten des evangelischen Pastors und des jüdischen Predigers anlässlich der erneuten Beisetzung von Kazimierz positive Beachtung in der liberalen wie konservativen Presse fanden, wurde die Beteiligung nicht katholischer Religionsgemeinschaften ansonsten nicht öffentlich diskutiert. Eine Ausnahme stellte das Tagebuch von Zygmunt Szczęsny Feliński, des früheren Erzbischofs von Warschau, dar. Er blickte darin nicht auf eine Krakauer Beisetzung, sondern auf die Beisetzung seines Vorgängers Antoni Melchior Fijałkowski im Jahr 1861 in Warschau zurück, an der Juden und Protestanten teilgenommen hatten. Er missbilligte die Feier als Ausdruck religiöser Indifferenz und kritisierte, dass das katholische Ritual nicht mehr zu erkennen ge­ wesen sei.437 Da Feliński das Tagebuch 1883 verfasste und die letzten zwölf Jahre seines Lebens in Galizien verbrachte, ist es sehr gut möglich, dass sich in seine Kritik an der Beisetzung seines Vorgängers auch Eindrücke von den Krakauer Beisetzungen gemischt haben. Das Tagebuch, welches 1897 erschien, fand in Krakau eine breite Leserschaft. Ein Grund, warum die Präsenz von Juden und Protestanten im Laufe der Zeit weniger sichtbar wurde, mag also in der Sorge um die rituelle Reinheit der katholischen rituellen und liturgischen Handlung gelegen haben. Hier zeigt sich noch einmal die Ambivalenz des politischen Totenkultes, der seiner Absicht nach zwar politisch war, gleichzeitig jedoch auf einem religiösen und damit auf einem konfessionell bestimmten Ritual basierte. Die Inklu-

437 Feliński: Pamiętniki 486 f. Siehe dazu auch: Porter: Faith and Fatherland 276 f.

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sion anderer Religionsgemeinschaften in die nationalen Feierlichkeiten und damit in die Nation oder eben die Exklusion dieser Gruppen war eine der Fragen, die sich dadurch stellte. Allgemeiner gesagt: Die ambivalente Natur des politischen Totenkultes verlangte immer wieder, das Verhältnis von Religion und Nation zu bestimmen.

2.4.8 Zwischenfazit Nicht der Tod an sich, aber der symbolträchtige Umgang mit dem Tod erwies sich in Krakau in der Tat als Lebenselixier. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts machte gar die scherzhafte Behauptung die Runde, das größte Gewerbe in der Stadt seien Jubiläen und Begräbnisfeierlichkeiten.438 In diesen Feierlichkeiten manifestierte sich die Hoffnung auf eine nationale Auferstehung und die Demonstration der nationalen Fortexistenz trotz der Teilungen des Landes. In dem in Krakau zelebrierten Totenkult wurde versucht, an eine verklärte Vergangenheit anzuknüpfen und damit die Hoffnung auf eine goldene Zukunft zu stärken. Die erste Feierlichkeit knüpfte noch an dynastische Beisetzungen an, indem mit Kazimierz dem Großen ein Monarch erneut zu Grabe getragen wurde. Der Großteil der Beisetzungen jedoch war Künstlern gewidmet. Das erklärt sich unter anderem dadurch, dass ihre Ausstrahlungskraft  – anders als beispielsweise bei den galizischen Politikern – nicht auf ein Teilungsgebiet beschränkt blieb. Zudem konnte man in ihren Werken einen Garanten für die Fortexistenz Polens erblicken, welches zwar nicht als politische Entität, jedoch in Kultur und Sprache weiterhin existierte. Teilweise hatten die in Krakau beigesetzten Künstler diese Vorstellung in andere Länder getragen, wo ihre Werke in Übersetzungen gelesen wurden. Die Künstler lebten, wirkten und unterrichteten dort teilweise an Hochschulen – wie beispielsweise Lenartowicz und Mickiewicz. Dass sie besondere Ehren verdienten, war in der polnischen Gesellschaft, deren nationales Verständnis sich vor allem über die gemeinsame Kultur definierte, eine Selbstverständlichkeit. Ob die Ehren allerdings denen der Monarchen ebenbürtig sein sollten, war eine stark umstrittene Frage. Die Einrichtung der Krypta der Verdienten war ein Versuch, die Problematik zu entschärfen und die Sphären zu trennen: auf dem Wawel die Könige, in der Krypta die Künstler. Aber eben dieser Trennungsversuch bestärkte den Unmut der demokratischen Seite, die im Künstler einen geistigen Führer des Volkes sah, der an Würde und Bedeutung einem König in nichts nachstand. 1890 setzte sich diese Position schließlich durch: Der Dichter Adam Mickiewicz wurde aus Paris überführt und auf dem 438 Karolczak, Karol: Właściciele domów w Krakowie na przełomie XIX i XX wieku. Z badań nad dziejami Krakowa. Kraków 1987, hier 15.

240  Der nicht alltägliche Tod Wawel beigesetzt. Noch einmal jedoch gelang diese Position in der Zeit der »Galizischen Autonomie« nicht zum Durchbruch. 1903 verweigerte der neue Krakauer Bischof Kardinal Jan Puzyna die Beisetzung von Juliusz Słowacki auf dem Wawel, wobei er sich auf das bekannte Argument berief, dass eine Grablege auf dem Wawel Monarchen vorbehalten bleiben solle. Die Frage, inwiefern die Nation dynastisch oder kulturell zu verorten sei, fand damit bis zum Ende der Teilungszeit keine letztgültige Antwort. Ungeachtet der jeweiligen Nationsauffassung hatte sich Krakau als nationaler Bezugs- und Sehnsuchtsort etabliert. Was alle einte, die in der Krypta der Verdienten beigesetzt wurden, war eine Verbindung zur Stadt Krakau: Entweder hatten sie dort einige Zeit gelebt oder waren durch besondere Ereignisse wie das Kraszewskijubiläum mit der Stadt verbunden. Auch sonst verschränkten sich bei den großen Beerdigungen nationale und lokale Belange: Was in Krakau geschah, hatte eine gesamtpolnische Bedeutung. Im gesamtpolnischen Kontext trugen die Feierlichkeiten zum polnischen nation-building bei, da hier der Anspruch, eine polnische Nation darzustellen, nicht nur formuliert, sondern zugleich mit Authentizität versehen wurde: Der historische Stadtraum, insbesondere die Königsgräber auf dem Wawel, verliehen der Vorstellung einer schon seit beinahe 1000 Jahren bestehenden Nation den Anschein von Faktizität. Durch die Anknüpfung an die ein halbes Jahrtausend lang begangenen Beisetzungen der Monarchen erschien die polnische Nation als durch die Zeiten hindurch handelndes Kollektiv, welches durch Sprache und Kultur verbunden war. Das als Kulturnation fortbestehende Polen machte Krakau zu seiner kulturellen und geistigen Hauptstadt und entschädigte die Stadt damit gewissermaßen für die empfundenen Einbußen, die die Teilungen mit sich gebracht hatten. Krakau empfahl sich für die Funktion unter anderem, weil es hinsichtlich der Möglichkeit, große, oftmals national konnotierte Feierlichkeiten auszurichten, konkurrenzlos war:439 Der ehemaligen Hauptstadt Warschau fehlten im russischen Teilungsgebiet die nötigen politischen Freiheiten. Die einzige Stadt, die mit Krakau hätte konkurrieren können, war das ostgalizische Lemberg. Doch hatte Krakau bereits in der Zeit der Freien Republik mit der Beisetzung von Józef Poniatowski und Tadeusz Kościuszko an seine frühere Funktion als Begräbnisstätte der Monarchen unter neuen Vorzeichen anknüpfen können und konnte in der Zeit der »Galizischen Autonomie« als ehemalige Haupt- und Krönungsstadt Polens symbolisch über Lemberg triumphieren. Die Grabstätte erwies sich dabei nicht nur als symbolisch bedeutsam, sondern gleichfalls als ein hochpolitischer Gedenkort. Indem dort Heroen der polnischen Vergangenheit und Gegenwart zu Grabe getragen wurden, zeigten die 439 Budrewicz, Tadeusz: Między Kleparzem a Skałką. Codzienność i święto w Krakowie. In: Ihnatowicz, Ewa (Hg.): Mieszczaństwo i mieszczańskość w  literaturze polskiej drugiej połowy XIX wieku. Warszawa 2000, 47–66, hier 56.

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nationalen Aktivisten, dass Polen als Nation nach wie vor existierte und als solche einen territorialen Anspruch besaß. Mit den großen Beisetzungsfeiern erschien die Nation nicht nur als eine »gedachte Gemeinschaft« (Benedict Anderson),440 sondern erhielt eine physische Präsenz: Die polnische Nation existierte dort, wo sich polnische Gräber befanden – ein Gedanke, der sich am stärksten bei der Beisetzung von Adam Mickiewicz auf dem Wawel ausdrückte. Zur Demonstration von Kontinuität (in diesem Fall der nationalen Gemeinschaft) waren Beerdigungen besonders geeignet: Sie verwiesen zwar einerseits auf das Ende eines individuellen Lebens, aber gleichzeitig auf die Gemeinschaft, in der das Individuum stand, die schon vor ihm war und ihn überdauern würde. Gleichzeitig verband sich mit den toten Künstlern eine Projektion in die Zukunft: Mickiewicz mochte zwar tot sein, doch lebten seine Werke weiter, und seine Visionen würden in der Zukunft ihre Erfüllung finden. Als hochemotionale Akte konnten die Beisetzungen Gefühle hervorrufen, die den Einzelnen an die nationale Gemeinschaft banden und ihn die Nation als Heilsgemeinschaft erfahren ließen.441 Die bei den Beerdigungen inszenierte und gefühlte Trauer hatte eine willkommene Doppeldeutigkeit: Sie richtete sich zum einen auf den Verstorbenen, zum anderen auf die eigene, als »Leidensschicksal« verstandene Situation und die gegenwärtige politische Lage, die ebenso wie der Verstorbene beweint wurde.442 Neben der Tatsache, dass die großen Beerdigungen Krakau zum Zentrum des Polentums und der nationalen Aufmerksamkeit machten, besaßen sie noch in einer anderen Hinsicht eine lokale Bedeutung: Es waren Krakauer Behörden, die entscheiden konnten, wer zu den Verdientesten der Nation zu zählen hatte. Damit waren die beiden wichtigsten Krakauer Begräbnisstätten mit einem Widerspruch behaftet, der unaufgelöst blieb: Auch wenn Wawel und Skałka als nationale Pantheone angesehen und akzeptiert wurden, bestimmten lokale Krakauer Behörden darüber, wer dort beigesetzt werden würde. Forderungen, wie sie etwa der Warschauer Tygodnik Illustrowany formulierte, wonach eine gesamtnationale repräsentative Institution geschaffen werden sollte, die über die Beisetzungen entscheiden sollte, blieben ungehört. Diese Ambivalenz trat besonders bei der Kontroverse um die Beisetzung des Poeten und Romantikers­ Juliusz Słowacki zu Tage. Zwar waren in diesem Zusammenhang neben dem Wawel noch zwei weitere Orte als Alternativen im Gespräch: erstens der Vorschlag, in Warschau eine besondere Begräbnisstätte einzurichten und zweitens die Idee, im Tatragebirge, welches just in der Zeit als Enklave polnischer Freiheit

440 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt u. a. 1996. 441 François/Siegrist/Vogel: Die Nation 25. 442 Binder: Kirche und nationale Festkultur 126 ff.

242  Der nicht alltägliche Tod eine nationale Überhöhung443 erfuhr, eine solche zu etablieren.444 Doch auch wenn beide Vorschläge ihre Fürsprecher hatten, so votierte doch die Mehrheit für den Wawel.445 Dass dieses Vorhaben nicht verwirklicht wurde, hing mit dem bereits erwähnten Veto des Krakauer Bischofs Jan Puzyna zusammen, der eine solche Beisetzung für unangemessen hielt. Krakaus Bischöfen in der Zeit der »Galizischen Autonomie«  – Albin Dunajewski und später Jan Puzyna  – war gemein, dass sie der Nutzung religiöser Handlungen wie Gebet und Gottesdienst als politischer Bedeutungsträger skeptisch gegenüberstanden. Dennoch nahm Dunajewski meistens an den feierlichen Beisetzungen teil und versuchte dort, nun umgekehrt das nationale Pathos in religiöses Pathos umzudeuten. Puzyna hingegen gestattete zwar die Beisetzungen in der Krypta der Verdienten, nahm jedoch selbst zumeist nicht an den Feierlichkeiten teil. Was den Wawel als Begräbnisstätte anging, so war Puzyna rigoros. Sein Nein zur Beisetzung Słowackis auf dem Wawel illustrierte am deutlichsten die Diskrepanz zwischen der Wawelkathedrale als einem nationalen Symbol und als religiös-sakralem Ort. Gleiches galt für den politischen Totenkult, der zugleich religiöses Ritual wie politische Manifestation war. Diese Ambivalenz führte immer wieder – besonders im Fall Kraszewskis – zu Kontroversen. Die ultramontanen Katholiken fürchteten eine Instrumentalisierung religiöser Riten; die Demokraten hingegen echauffierten sich über kirchliche Würdenträger, die den Kampf um Polens Unabhängigkeit kirchlichen Belangen unterordneten. Dennoch begünstigte die Wahl der Pantheons die später so selbstverständlich erscheinende Gleichsetzung von Polentum mit Katholizismus: Denn nur wer katholisch war, konnte überhaupt zu den Verdienten gerechnet und in der Krypta beigesetzt werden. Der große Wert, der auf eine katholische Sterbestunde gelegt wurde, zeigt, dass dabei mit einer rein nominellen Zugehörigkeit zur katholischen Kirche den Anforderungen noch nicht Genüge getan war: Man erwartete auch einen praktizierten Katholizismus, wobei die Sterbestunde das entscheidende Kriterium war. Sie war damit Mindestanspruch und Höchstanspruch zugleich, weil vor ihrem Hintergrund etwaige religiöse Devianz zu Lebzeiten kaum noch ins Gewicht fiel. Weitere Voraussetzungen für eine Grablegung in der Krypta der Verdienten waren erworbene Verdienste um die Nation sowie herausragende künstlerische Leistungen. Dieser Dreiklang von Nation, Kunst, Religion ließ sich selten gleichermaßen gut erfüllen, woraus sich die Auseinandersetzungen erklären, die sich mit 443 Zum Tatra-Mythos siehe Dabrowski, Patrice: Constructing a Polish Landscape. The Example of the Carpathian Frontier. In: Austrian History Yearbook 39 (2008) 45–65. 444 Daszyk: »Niech Wróci Mogiła« 78–85. Zu dem Mythos der Tatra als »polnisches Arkadien« trugen die Künstler des »Jungen Polens« (Młoda Polska) bei, denen das Gebirge als häufiges Motiv diente. 445 Ebd. 85.

Tod als Skandal 243

der Frage, wer in der Krypta der Verdienten beerdigt werden sollte, verbanden, und die sich noch im Jahr 2004 anlässlich der Beisetzung des Dichters und Nobelpreisträgers Czesław Miłosz entfachten.446 Um die Jahrhundertwende zeigten sich die hohen Geistlichen insgesamt flexibel: Anstatt durch eine Ablehnung kirchenfeindliche Ressentiments zu provozieren, stimmten sie lieber den Feierlichkeiten zu und suchten diese in ihrem Sinne auszugestalten. In manchen Fällen jedoch zeigte sich die kirchliche Hierarchie nicht bereit, ein kirchliches Begräbnis zu gewähren. So wurde Krakau in der Zeit der sogenannten galizischen Autonomie Zeuge zweier großer Trauerfeierlichkeiten ohne priesterlichen Beistand. Wie es dazu kam und wie die städtische Öffentlichkeit auf diese Kirchenstrafen reagierte, behandelt das folgende Kapitel.

2.5 Tod als Skandal – Priesterlose Beisetzungen 2.5.1 »Der Finger Gottes« – Krakaus erste priesterlose Trauerfeier Im Zentrum standen bislang große Beisetzungen, die alle von einem katholischen Ritual begleitet gewesen waren. Nach außen suggerierten sie Einmütigkeit, doch hinter den Feiern verbarg sich der Dissens von Demokraten, Aristokraten und hohem Klerus, die unterschiedliche Vorstellungen von Nation und Gesellschaft vertraten. Zugleich maßen sie dem Ritual entsprechend ihrer Sinnwelt eine unterschiedliche Bedeutung zu. Gerade Funeralriten transportieren Weltsichten, weil sie eine existenzielle Grenzerfahrung begleiten. Während der hohe Klerus kirchenrechtlichen und theologischen Kriterien verpflichtet war und den eigentlich religiösen Sinn des Rituals zu verteidigen suchte, waren die Demokraten bestrebt, das Ritual als Projektionsfläche für ihre Wirklichkeitsdeutung zu nutzen und mit ihm performativ das Ideal einer demokratischen und nationalen Gesellschaft zu zelebrieren und dieses in die Öffentlichkeit zu tragen. Entsprechende Konflikte und Aushandlungsprozesse, bei denen der jeweils eigene Geltungsanspruch behauptet und die Deutungshoheit über das Zeremoniell reklamiert werden sollte, waren die Folge. Unmöglich erschien eine Aussöhnung der divergierenden Sinnwelten dort, wo die oberste Kirchenhierarchie aus theologischen Gründen eine Beisetzung ganz untersagte und die Demokraten – später auch die Sozialisten – eine priesterlose Funeralfeier organisierten. In der Zeit der »Galizischen Autonomie« wurde Krakau Zeuge von zwei solchen priesterlosen Trauerfeierlichkeiten, die im Folgenden vorgestellt werden sollen.

446 Mancewicz, Stanisław: Skandale pogrzebowe. In: Gazeta Wyborcza Nr.  201 vom 27.8.2004, 16 f.

244  Der nicht alltägliche Tod Beide Ereignisse trennen ein Zeitraum von drei Jahrzehnten und sehr unterschiedliche Kontexte. Die erste priesterlose Trauerfeier wurde im Jahr 1871 zu Ehren des Medizinprofessors Karol Gilewski (1832–1871) veranstaltet, dem die katholische Kirche in Krakau wegen seiner lobenden Worte für den Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger das letzte Geleit verweigert hatte. 1901 wurde der Schriftsteller Michał Bałucki nach seinem Suizid ohne priesterlichen Beistand zu Grabe getragen. Beide hatten aus kirchlicher Sicht ein Tabu gebrochen, der eine zweifache Skandalisierung zur Folge hatte:447 Zunächst empfand die Kirchenhierarchie das Vergehen als ein Skandal, dann führte die Ächtung durch die Kirche zu einer Skandalisierung in der liberalen Presse inner- und außerhalb Krakaus sowie in den Straßen der Stadt. In beiden Fällen handelte es sich um Personen des öffentlichen Lebens, deren Sterben und Trauerfeierlichkeit eine entsprechende Aufmerksamkeit fanden und in Folge dessen gut dokumentiert sind. Eine weitere Gemeinsamkeit war die Tatsache, dass in beiden Fällen von den Hinterbliebenen respektive wichtigen Repräsentanten des Krakauer gesellschaftlichen und politischen Lebens zwar eine katholische Trauerfeier erbeten, diese aber in beiden Fällen mit Verweis auf die kirchliche Lehre verweigert wurde. Und beide Male wurde dennoch eine große Totenfeier veranstaltet, zu der sich Repräsentanten des öffentlichen Lebens und Massen unbekannter Personen versammelten. Folglich wird sich dieses Kapitel auch mit religiösen Kontroversen beschäftigen. Wenn die religiöse Harmonie im »polnischen Rom« gestört wurde, dann war dies von Auseinandersetzungen mit einer umso größeren Vehemenz begleitet, wie die Beisetzung von Karol Gilewski und deren Vorgeschichte demonstrieren. Die Trauerfeier für Gilewski gilt als das erste weltliche und konfessionslose Begräbnis in Krakau. Das Ereignis zog damals viel Aufmerksamkeit auf sich und wurde in der polnisch- und deutschsprachigen Presse inner- und außerhalb Krakaus thematisiert, so dass die Trauerfeierlichkeit und die damit einhergehenden Diskussionen gut dokumentiert sind. Dennoch ist die Trauerfeier für Gilewski, die immerhin einige Tausend Teilnehmer angezogen hat,448 bislang in der Forschungsliteratur kaum beachtet worden.449 Eine aus­ führlichere Erwähnung findet sie in einer Studie über die Rezeption des Ersten

447 Zum Begriff des Skandals siehe Bösch, Frank: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914. München 2009, hier 7–10. Demnach ist der Skandal gekennzeichnet durch einen Normbruch, dessen Bekanntwerden eine allgemeine Empörung hervorruft. 448 Kronika. In: Gazeta Narodowa Nr.  197 vom 20.6.1871, 3; Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny Nr. 26 vom 25.6.1871, 214 f. 449 Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse um die Döllinger-Adresse und um die Person und das Sterben Karol Gilewskis bietet lediglich ein Aufsatz aus dem Jahr 1977. Siehe Ergetowski, Ryszard: Krakowska Döllingeriada. In: Studia Historyczne 20/3 (1977) 403–425.

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Vatikanischen Konzils in den polnischen Gebieten.450 Genannt wird der Vorfall auch in einem Aufsatz über Ultramontanismus in Galizien.451 Im Kontext der großen Krakauer Beerdigungen ist die Trauerfeier erst recht nicht beschrieben worden. Zum einen, weil es sich dabei um keine Beerdigung im strengen Sinne handelte, da Gilewski in Niederösterreich beigesetzt wurde, zum anderen, weil sie aus dem Kontext der großen, dem nation building verpflichteten Trauerfeierlichkeiten herausfällt. Als erste konfessionslose Trauerfeierlichkeit zeugt sie dagegen von einer sich verändernden Trauerkultur und bietet zudem ein gutes Beispiel für sich verschiebende Verschränkungen von religiösen und säkularen Ordnungen. Die Aufregung um die Döllinger-Adresse sowie um die posthume Ehrung Gilewskis lassen sich nicht verstehen ohne die Berücksichtigung der Ereignisse, die sich zwei Jahre zuvor in Krakau abgespielt haben, namentlich die sogenannte Affäre Barbara Ubryk (1817–1898). Ubryk war eine Krakauer Karmelitin, die ihre Mitschwestern aufgrund ihres krankheitsbedingten auffälligen Verhaltens unter unmenschlichen Bedingungen in eine Klosterzelle eingesperrt hatten. Als der Fall 1869 bekannt und Barbara Ubryk von Krakauer Behörden befreit wurde, sorgte das Schicksal der kranken und misshandelten Nonne nicht nur in Europa, sondern auch in den USA für Empörung.452 In der Historiographie Krakaus spielt der Fall Ubryk eine eher untergeordnete Rolle,453 während er hingegen in Untersuchungen zum Antikatholizismus respektive Antiklerikalismus im 19. Jahrhundert große Aufmerksamkeit findet.454 Im Folgenden soll nun der Verlauf der Ubryk-Affäre in Krakau auf Grundlage der lokalen Presse skizziert werden. Er bildet den Hintergrund, vor dem 450 Stasiowski, Marek: Die Polen und das I. Vatikanische Konzil. Wien 2004. 451 Szczurowski, Rafał: Ultramontanizm w Galicji w latach 1860–1870. In: Nasza przeszłość. Studia z dziejów Kościoła i kultury katolickiej w Polsce 89 (1998) 201–242. 452 Gross, Michael B.: The War against Catholicism. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth-Century Germany. Ann Arbor/Michigan 2004, hier 157–170. 453 Erwähnung findet sie beispielsweise in dem Standardwerk zur Geschichte Krakaus. Siehe Bieniarzówna/Małecki: Dzieje Krakowa 252. Ausführlich beschrieben wird der Fall in einer Sammlung zu Krakaus bekanntesten Kriminalfällen. Salmonowicz, Stanisław: Pitaval Krakowski, 5. Aufl. Kraków 2010, 303–334. 454 Wie die Affäre Ubryk in Europa und insbesondere in Deutschland eine Skandalisierung in der medialen Öffentlichkeit bewirkte und zudem antiklerikale Stereotypen befeuerte, die ihren Niederschlag unter anderem im Genre des Klosterromans fanden, hat zuletzt Manuel Borutta ausführlich nachgezeichnet. Borutta, Manuel: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe. Göttingen 2010. Ders.: Enemies at the Gate: The Moabit Klostersturm and the Kulturkampf: Germany. In: Clark, Christopher M./Kaiser, Wolfram (Hg.): Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe. Cambridge 2003, 227–254. Ein Desiderat hingegen stellt eine Darstellung der Affäre Ubryk dar, welche die polnischsprachigen Quellen berücksichtigt und so die Skandalisierung, den antiklerikalen Diskurs und die kirchliche Verteidigung vor Ort nachzuzeichnen vermag.

246  Der nicht alltägliche Tod anschließend die Döllinger-Adresse Gilewskis und deren Folgen in Krakau analysiert werden sollen. Als Quellen dienen dabei Zeitungsartikel sowie Sitzungsprotokolle von Gremien der Krakauer Jagiellonenuniversität. Abschließend wird Gilewskis Beerdigung Gegenstand der Analyse sein. Zum einen soll der Ablauf der konfessionslosen Trauerfeierlichkeit nachgezeichnet werden, zum anderen sollen die Diskussion um eben diese sowie der heikle Umgang mit Tod und Sterben Gilewskis und die Bewertung seines plötzlichen Todes analysiert werden. Gerade in der Bewertung dieser Vorgänge spiegeln sich verschiedene Vorstellungen von Religion und katholischer Kirche wider.

2.5.2 Die Vorgeschichte: Barbara Ubryks Klosterhaft Im stark katholisch geprägten Krakau, in dem sich viele Ordensgemeinschaften niedergelassen hatten  – 20 Männerorden und einige Dutzend Frauenorden455 – sorgte die Entdeckung der eingesperrten Klosterschwester B ­ arbara Ubryk im Jahr 1869 für großes Aufsehen. Durch eine anonyme Eingabe hatte das Krakauer Gericht vom Schicksal der Nonne erfahren. Der entsandten Untersuchungskommission bot sich im Karmelitinnenkloster im Stadtteil Wesoła ein erschreckender Anblick: Nackt und schmutzig fand sie Barbara Ubryk in einer kargen und düsteren Zelle mit zugemauerten Fenstern vor. Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, dass Ubryk, die in den strengen Orden der barfüßigen Karmelitinnen eingetreten war, acht Jahre nach ihrer Einkleidung Anzeichen einer psychischen Krankheit aufgewiesen hatte, die später als Hyper­sexualität identifiziert wurde. Die gemeinsam mit ihr in Klausur lebenden Schwestern reagierten auf das auffällige Verhalten Ubryks damit, dass sie sie in eine Einzelzelle sperrten und durch das Zumauern des Fensters verhinderten, dass Barbara Ubryk in irgendeiner Weise Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen konnte.456 Den Aufruhr beruhigte letztlich neben den Appellen des Bürgermeisters und des Delegaten des Statthalters die Nachricht, dass die ehemalige und die amtierende Oberin des Karmelitinnenklosters verhaftet worden waren.457 455 Ziejka: Serce Polski 16. 456 Salmonowicz: Pitaval Krakowski 303–334. 457 Kronika. In: Gazeta Narodowa Nr. 189 vom 27.7.1869, 3. Die Angeklagten sollten übrigens glimpflich davon kommen: Das Gericht hielt ihnen bei den Verhandlungen im März 1870 zugute, dass ihr Handlungsspielraum begrenzt gewesen sei und sie mit dem Wissen von ihren Vorgesetzten gehandelt hätten, weswegen ihnen keine böse Absicht unterstellt werden könne. Zudem sei es staatlicherseits anerkannt, dass eine in Klausur lebende Nonne diese nach der Profess nicht mehr verlassen dürfe. In seinem Rekurs hielt der Staatsanwalt dem zwar entgegen, dass die Ordensregel nicht über persönliche Freiheit und Bürgerrechte gestellt werden dürfe, doch das Gericht sprach die Ordensschwestern auch in zweiter Instanz von einer bösen Absicht frei. Siehe Salmonowicz: Pitaval Krakowski 326–329.

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Die Affäre Barbara Ubryk entsetzte Krakau und Europa und rückte Krakau damit auf negative Weise in den öffentlichen Fokus. Dieser Umstand, verbunden mit der Erfahrung von verbalen und tätigen Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum, ließen den Fall Barbara Ubryk zu einem wunden Punkt in der Krakauer Chronik werden, der noch lange Zeit im Gedächtnis der Krakauer haften blieb.458 Er machte außerdem deutlich, dass in religiösen Fragen keine so große Einmütigkeit herrschte, wie es das Klischeebild von Krakau als dem »kleinen« oder »polnischen Rom« suggerierte.

2.5.3 Ein fachfremder Eingriff in theologische Diskurse Der Vorfall, der 1871 die Fronten zwischen ultramontanen und liberalen Kreisen vertiefen sollte, war im Vergleich zur Affäre Ubryk harmlos. Am Rande einer Vorlesung regte der Dekan der medizinischen Fakultät der Jagiellonenuniversität, Karol Gilewski, eine Sympathieadresse an den bayerischen Kirchenhistoriker und Priester Ignaz von Döllinger an.459 Dieser war wenige Wochen zuvor wegen seiner Kritik am Ersten Vatikanischen Konzil 1869/1870 vom Münchner Erzbischof Gregor von Scherr exkommuniziert worden und hatte damit zugleich seine kirchliche Lehrerlaubnis verloren. Döllinger hatte sich in seiner berühmt gewordenen Erklärung vom 28.  März 1871 mit der Berufung auf Gewissensgründe sowie theologische und historische Vorbehalte geweigert, die Beschlüsse des Ersten Vatikanums anzunehmen. Besonders stieß er sich am Unfehlbarkeitsdogma und dessen Zustandekommen. Seine Skepsis gegenüber einer Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit hatte Döllinger bereits vor und während des Konzils geäußert, da diese seines Erachtens der kirchlichen Tradition sowie den frühen Konzilien widersprach.460 Die Ächtung durch die Kirche brachte Döllinger viele Sympathiebekundungen von Menschen ein, die in ihm einen Kämpfer gegen päpstlichen Absolutismus und ein überkommenes kirchliches Herrschaftssystem sahen und seinen Einsatz für die Gewissensfreiheit lobten.461 Döllinger wurde bald zu einer Chiffre in weltanschaulichen Auseinandersetzungen, in denen weniger seine konkreten theologischen Positionen bedeutend waren als vielmehr die vielfältigen Assoziationen, die sich mit ihm 458 Das zeigen beispielsweise die Erinnerungen des Krakauers Zygmunt Nowakowski, die dieser nach Ende des Zweiten Weltkriegs verfasst hat, in denen er schreibt, dass in seiner Kindheit noch oft von der Geschichte der Barbara Ubryk die Rede gewesen sei, siehe Nowakowski, Zygmunt: Mój Kraków i inne wspomnienia. Warszawa 1994, 62. 459 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 105 vom 7.5.1871, 2. 460 Bischof, Franz Xaver: Theologie und Geschichte. Ignaz von Döllinger (1799–1890) in der zweiten Hälfte seines Lebens. Ein Beitrag zu seiner Biographie. Stuttgart 1997. Zur Erklärung vom 28. März 1871 siehe 260–272. 461 Ebd. 295.

248  Der nicht alltägliche Tod verbanden. Der Name Döllinger wurde zu einer Projektionsfläche, auf der die einen die Vorstellung einer ebenso despotischen wie wissenschaftsfeindlichen Kirche formulierten, auf der die anderen – die Ultramontanen – aber die Gefahr einer Desintegration der katholischen Kirche gespiegelt sahen. Welche Formen bisweilen die mit dem Namen Döllinger verbundenen Ängste annehmen konnten, illustrieren die Ereignisse in Krakau, wo Sympathie für Döllinger gar in die Nähe von Kirchenverfolgung gerückt werden sollte. Aber der Reihe nach. Die Ereignisse nahmen ihren Anfang, als Karol Gilewski in Krakau im kleinen Kreis eine Sympathieadresse für Döllinger initiierte. Wie genau Gilewski mit den theologischen Fachdiskussionen vertraut war, wissen wir nicht, da er seine Ansichten dazu nicht schriftlich niedergelegt hat.462 Den Zeitungsberichten zufolge pries er am Rande einer Vorlesung vor einigen seiner Studenten Döllinger als einen Menschen, der wie ein guter Arzt den Krankheitszustand der Kirche erkannt und geeignete Heilmittel vorgeschlagen habe.463 In seiner Sympathieadresse dankte Gilewski Döllinger für dessen Einsatz für Fortschritt und Wissenschaft464 und fand unter seinen Studenten einige Dutzend, die bereit waren, den Brief zu unterzeichnen.465 Die Döllinger-Adresse wäre unbemerkt geblieben, hätte nicht die konservative Krakauer Tageszeitung Czas davon erfahren und sie bekannt gemacht. Die Meldung wurde mit der spitzen Bemerkung eingeleitet, dass an der Jagiellonenuniversität ein Lehrstuhl für theologische Therapie und Pathologie – medizinische Therapie und Pathologie war der Lehrstuhl von Gilewski  – eingerichtet worden sei. Der Czas echauffierte sich darüber, dass ein Fachfremder sich zu theologischen Fragen äußerte. Zudem wurde in der Meldung gemutmaßt, dass Gilewski die Abhängigkeit seiner Studenten, die er schließlich prüfe und benote, für seine politischen Interessen ausnutze.466 Die Angelegenheit erregte daraufhin stadtweites Aufsehen. Die Studenten fühlten sich von der Meldung im Czas brüskiert, vor allem von der Unterstellung, Gilewski missbrauche seine Stellung als Prüfer, um Unterstützer zu gewinnen, und sie – die Studenten – hätten aus Angst vor schlechten Benotungen die Adresse unterzeichnet. In der liberalen Krakauer Tageszeitung Kraj veröffentlichten sie daher eine Gegen 462 Gilewski Karol. In: Polski Słownik Biograficzny, Kraków 1948–1958, 462–464. 463 Schreiben der Studenten zitiert nach: Kraszewski, Józef Ignacy: Wypadki Krakowskie. In: Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny Nr. 21 vom 21.5.1871, 167–171. 464 Die Sympathieadresse wird zitiert im Przegląd Lwowski. Siehe Döllingerizm w Krakowie. In: Przegląd Lwowski Nr. 11 vom 1.6.1871, 613–623, hier 614. Die Sympathieadresse soll übrigens in schlechtem Polnisch verfasst gewesen sein, was den Kritikern Gilewskis einerseits Anlass zum Spott gab, andererseits ihnen als Indiz für Gilewskis mangelnde Identifikation mit dem Polentum galt. 465 F. J.: Dwutygodnik Krakowski. In: Przegląd Lwowski Nr. 10 vom 15.5.1871, 556–559, hier 559. 466 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 105, 7.5.1871, 2.

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darstellung. Sie widersprachen darin den Vorwürfen und verteidigten das Recht theologischer Laien, sich zu kirchlichen Fragen zu äußern.467 Auf den Straßen Krakaus demonstrierten Studenten ihre Unterstützung für Gilewski und veranstalteten ihm zu Ehren am 8. Mai 1871 einen Fackelzug.468 Sie marschierten von der Universitätsklinik im Stadtteil Wesoła zum Marktplatz, wo sich die Wohnung von Karol Gilewski befand.469 Auch wenn die Demonstration friedlich verlief, so sorgte sie dennoch für Unmut. Ein Grund war neben anderen der Termin der Solidaritätsbekundung, welcher auf den Gedächtnistag des Krakauer Stadtheiligen Stanislaus fiel.470 Zudem rief die Kundgebung Erinnerungen an die Episode Barbara Ubryk zwei Jahre zuvor wach. Einige Teilnehmer, die sich den Studenten angeschlossen hatten, schlugen dann vor, zu den Jesuiten, die als Inbegriff des Ultramontanismus galten,471 und zu den Karmelitinnen, in deren Kloster Barbara Ubryk eingesperrt worden war, zu ziehen. Das Ansinnen konnten Studenten ebenso wie Sicherheitskräfte unterdrücken und so Ausschreitungen verhindern.472 Doch war mit der öffentlichen Solidaritätsbekundung für Gilewski die­ Angelegenheit noch nicht ausgestanden. In den Kirchen rügten Priester in ihren Predigten Gilewski und all diejenigen, die ihn unterstützt hatten. Die in ­Lemberg erscheinende Gazeta Narodowa berichtete von »Agitatoren«, die im Volk das Gerücht verbreiteten, die Mediziner planten, die Priester »niederzumetzeln«.473 In der aufgeheizten Stimmung kam es einige Tage später im Stadtteil Kleparz zu Schlägereien. In diesem Viertel wirkte in der Kirche St. Florian der Pfarrer

467 Kraszewski: Wypadki Krakowskie 167–171. 468 Kronika. In: Czas Nr. 106 vom 10.5.1871, 2. 469 Döllingerizm w Krakowie. In: Przegląd Lwowski Nr. 11 vom 1.6.1871, 613–623, hier 618. In dem Gebäude, auch als »Krzysztofory« bekannt, befindet sich heute das Museum der Stadt Krakau. 470 Ergetowski: Krakowska Döllingeriada 414. 471 Das gilt für den gesamten europäischen Diskurs, für den der Antijesuitismus eine wirkungsvolle Komponente darstellt. Die klerikale Abneigung wandte sich insbesondere deshalb gegen den Jesuitenorden, weil er erfolgreich und bekannt war. In der Vergangenheit war er mit den wichtigen Herrscherhäusern Europas verbunden, wo die Jesuiten als Beichtväter der dynastischen Familie präsent waren. Zudem besetzten sie eine wichtige Position im Bildungswesen. Im 19.  Jahrhundert sorgten ihre antirevolutionären, antiliberalen Haltungen sowie der von ihnen vertretene Ultramontanismus für die Entstehung antijesuitischer Ressentiments, die teilweise den Charakter von Verschwörungstheorien trugen. Siehe dazu Cubitt, Geoffrey: The Jesuit Myth. Conspiracy Theory and Politics in Nineteenth-Century France. Oxford 1993. 472 Korrespondencye. In: Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny, Nr. 23 vom 4.6.1871, 188 f. Protokoll der Sitzung vom 13.5.1871. AUJ, Protokoły Posiedzeń Senatu Akademickiego UJ 1870–1880, S II 82. 473 Korespondencje Gazety Narodowej. In: Gazeta Nardowa Nr. 165 vom 18.5.1871, 2.

250  Der nicht alltägliche Tod Zygmunt Golian, der über die Stadtgrenzen Krakaus hinaus als Verteidiger des Ultramontanismus und für seine Predigten bekannt war, in denen er rhetorisches Talent, Polemik und Treue zum kirchlichen Lehramt vereinigte.474 Als beliebter Prediger und Seelsorger stand er zudem in engem Kontakt zur Krakauer Oberschicht.475 Am 11. Mai versammelten sich nun zu den Maigottesdiensten476 in St. Florian nicht nur Bewohner des Stadtteils, sondern auch Jugendliche und Studenten, die während des Gottesdienstes durch ihr störendes Verhalten auffielen. Nach dem Gottesdienst kam es vor der Kirche zu Schlägereien zwischen den Bewohnern des Viertels und den jugendlichen Gästen. Und wie bei Handgreiflichkeiten oft üblich, wurde die Schuld anschließend der jeweils anderen Seite zugeschoben. Für die einen waren die schon mehrere Tage andauernden Provokationen der jungen Männer während und nach dem Gottesdienst Ursache für die Prügelei.477 Für die anderen hatte die »ultramontane« Seite Schuld, weil der Pfarrer mit seinen Predigten seine Gemeinde aufgewiegelt habe.478 Andere kritisierten, dass die Studenten zu Unrecht beschuldigt worden seien: Nicht jeder, der einen Zylinder trage, sei schließlich damit automatisch ein Student.479 Wer auch immer den ersten Schlag versetzt hatte, die Stimmung in Krakau war 474 Zygmunt Golian gilt als einer der Hauptvertreter des galizischen Ultramontanismus, den er durch seine publizistischen Tätigkeiten verteidigte. Unter anderem war er Chefredakteur der in Krakau ab 1870 erscheinenden Konzilszeitschrift Tygodnik Soborowy. Außerdem veröffentlichte er diverse Schriften und Broschüren, auch seine Predigten wurden gedruckt. Zum Ultramontanismus in Galizien siehe Szczurowski: Ultramontanizm w Galicji. 475 In einem Buch, das die Ereignisse rund um Barbara Ubryk rekonstruiert, dabei aber nicht frei von fiktionalen Elementen ist, heißt es in einem Golian gewidmeten Kapitel, er sei Beichtvater der gesamten Krakauer Aristokratie gewesen. Siehe Harbut, Juliusz Stanisław: Mały Rzym. Warszawa 1936, 92–102. Ganz abwegig ist das nicht, wie beispielsweise eine Briefedition mit Briefen Golians an verschiedene Privatpersonen zeigt, die in weiten Teilen der Krakauer Oberschicht angehörten. Siehe Golian, Zygmunt: Listy Duchowne Ks. Zygmunta Goliana. Kraków 1899. 476 Marienandachten gewannen unter katholischen Laien zwischen den 1820er und 1850er Jahren stetig an Beliebtheit, Siehe Clark, Christopher M.: The New Catholicism and the European Culture. In: Ders./Kaiser (Hg.): Culture Wars 11–46, hier 19. Die Maiandachten waren ursprünglich eine Form der Kreuzfrömmigkeit im Frühling, oft verbunden mit der Bitte um eine gute Witterung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erhielten sie europaweit einen marianischen Charakter, was auch durch die Verkündigung des Dogmas der Unbefleckten Empfängnis Mariens im Jahr 1854 gefördert wurde. Sie gelten als bedeutendste marianische Andachtsform der Epoche. Siehe dazu Maiandacht. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, 3., völlig neu bearb. Aufl. Freiburg u. a. 1997, 1200. 477 Kazimierz Girtler etwa beschreibt die Ereignisse in seinem Tagebuch, welches in Auszügen veröffentlicht worden ist, in: Staszel, Jan: Kraków przed stu laty w »dzienniku« Kazimierza Girtlera. In: Rocznik Biblioteki PAN w Krakowie 17 (1971) 147–185, hier 150–152. Außerdem wird der Vorfall bewertet in: Döllingerizm w  Krakowie. In: Przegląd Lwowski Nr. 11 vom 1.6.1871, 613–623, hier 622. 478 Kraszewski: Wypadki Krakowskie 167–171. 479 Korrespondencye. In: Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny, Nr. 23 vom 4.6.1871, 188 f.

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durch die physische Gewalt und durch die Erzählungen darüber aufgeheizt. In Kleparz kam es tags darauf erneut zu Schlägereien, ebenso im Stadtteil Wesoła, wo sich die Niederlassung der Jesuiten befand. Dort zogen Demonstranten umher und skandierten »Tod den Jesuiten« und »Rache den Kleparzern«.480 War es die ursprüngliche Intention der Medizinstudenten gewesen, ihre Solidarität zu dem im Czas angegriffenen Professor Gilewski auszudrücken, gewann die Solidaritätsbekundung rasch eine Eigendynamik. Die Diskussionen und die Aufregung blieben nicht auf Krakau beschränkt, sondern bewegten die Gemüter jenseits der Stadtgrenzen, wie eine Meldung im Czas zeigt, wonach die Zeitung zu der Angelegenheit viele Briefe aus Galizien und Kongresspolen erhielt.481 In der überregionalen und ausländischen Presse waren Gilewskis Eintreten für Döllinger sowie die Demonstrationen in Krakaus Straßen gleichfalls ein Thema, wobei sich an der Debatte auch Publizisten außerhalb Krakaus  – aus Galizien, Wien und Deutschland – beteiligten. Dabei wurden verschiedene Aspekte verhandelt: die Verschränkung von nationaler und kirchlicher Einheit, die Stellung der Wissenschaft und die Ausrichtung der katholischen Kirche. Döllingers Weigerung, das Erste Vatikanische Konzil anzuerkennen, war unter anderem deshalb so brisant, weil der in München lehrende Kirchenhistoriker die Auffassung vertrat, die Kirche habe mit den von ihm maxima­ listisch verstandenen Konzilsbeschlüssen mit ihrer eigenen Tradition gebrochen, vor allem aber, weil er europaweit zur Symbolfigur des Widerstands gegen die Papstdogmen geworden war. Unter den polnischen Ultramontanen verband sich mit Döllinger außerdem die Sorge um die Einheit der Kirche, die mit der Genese der Altkatholiken – obgleich weder von Döllinger intendiert noch initiiert – größer wurde. Die Frage nach der Einheit der Kirche war aber gerade in den polnischen Gebieten eine politische Frage. Insofern sahen einige Krakauer Ultramontane in Sympathieadressen mehr als eine theologische oder weltanschauliche Stellungnahme. Das katholische Polen war schließlich geteilt unter dem protestantischen Preußen, dem orthodoxen Russland sowie Österreich, welches zwar katholisch war, in welchem aber auch antiklerikale und liberale Tendenzen ausgeprägt waren.482 Die Orthodoxie, der Protestantismus und der Liberalismus hatten also ihre Verkörperung in den Mächten, die Polen unter sich aufgeteilt hatten.483 Derartige Vorstellungen erhielten gerade Anfang der 1870er Jahre ihre Bestätigung und entfalteten ein Bedrohungsszenario: Im 480 Kraszewski: Wypadki Krakowskie 167–171. 481 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 113 vom 18.5.1871, 2. 482 So wurde auch Karol Gilewski vorgeworfen, ein Wiener Liberaler zu sein. 483 Bömelburg, Hans-Jürgen: »Church-Building« im östlichen Europa. Ein komplementärer Ansatz zur Beschreibung von Vergemeinschaftung im östlichen Europa. Die Volkskirchen in Polen und den baltischen Ländern. In: Krzoska, Markus (Hg.): Zwischen Glaube und Nation? Beiträge zur Religionsgeschichte Ostmitteleuropas im langen 19. Jahrhundert. München 2011, 11–34.

252  Der nicht alltägliche Tod Kaiserreich Preußen begann Bismarcks Kulturkampf, während im russischen Teilungsgebiet Bischofsstühle unbesetzt blieben und die unierte Kirche unter die Jurisdiktion der orthodoxen Kirche gezwungen wurde. Wer sich dem widersetzte, hatte mit Strafen zu rechnen, die von Peitschenhieben bis zur Deportation reichten.484 Vor diesem Hintergrund deuteten einige polnische Katholiken die Diskussionen um Döllingers theologische Positionen vor allem politisch. Sein Agieren erschien ihnen als Versuch einer Übereinkunft mit dem deutschen Protestantismus, was in dieser Logik eine Stärkung der deutschen Position insgesamt bedeutet hätte. Blickt man auf die Situation in Deutschland, so erschien diese Angst teilweise als begründet, hofften doch die dortigen Kulturkämpfer in der Tat auf eine Konversion der deutschen Katholiken, welche ihnen die Partizipation an der deutschen Nation und der universalen Moderne ermöglicht hätte. Entsprechend dieser Hoffnung unterstützten sie auch die Deutschkatholiken nach 1845 und die Altkatholiken nach 1871.485 Die Angst vor einer weiteren Germanisierung auf dem Weg einer Protestantisierung formulierte der in Lemberg erscheinende katholische »Przegląd Lwowski« (»Lemberger Rundschau«). In einem ausführlichen Artikel zum »Döllingerismus«, womit verballhornt Döllingers Theologie gemeint war, beschrieb er diesen als »preußisches Schisma, als eine Annexion und religiöse Zentralisierung mit dem einen Nutzen einer unbeschränkten Macht der preußischen Könige, eine Hauptbasis für den künftigen Caesaropapismus in Deutschland«. Das Blatt zeigte sich entsetzt darüber, dass das »Deutschtum«, welches es als die den Polen am feindlichsten gesinnte Macht beschrieb, Einzug an der altehrwürdigen Jagiellonenuniversität halte. Für die Zeitung war Karol Gilewski ein Vertreter des Wiener Liberalismus und als solcher geprägt von einem deutschen, protestantischen Geist  – und damit sei Gilewski ein unbewusster Agent umfassender Germanisierungsbestrebungen.486 In späteren Darstellungen der Kirchengeschichte galt Gilewski gar als einer von mehreren geheimen Abgesandten, die der österreichische Reichskanzler Friedrich Ferdinand von Beust nach Krakau geschickt habe, um die akademische Jugend aufzuwiegeln.487 Andere wiederum sahen in der Döllinger-Adresse eine ebenso verwerfliche Übereinkunft mit Russland, wie ein Leserbrief im Czas zeigt. Der Schreiber, ein Tomasz Czech, warf den Jugendlichen, die sich mit Gilewski solidarisiert hatten, nationalen Verrat vor. Mit dem Eintreten für die Döllinger-Adresse würden sie gemeinsame Sache mit Russland machen, wo Priester und Bischöfe gefangen gehalten würden. Empört fragte Czech die akademische Jugend: 484 Alexander, Manfred: Kleine Geschichte Polens. Bonn 2005, hier 239. 485 Borutta: Antikatholizismus 402. 486 Döllingerizm w Krakowie. In: Przegląd Lwowski Nr. 11 vom 1.6.1871, 613–623, hier 616 f. 487 Tuszowski, Józef: O. Marjan Morawski T. J. (1845–1901). Kraków 1932, hier 136.

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Und nun, meine jungen Herren, frage ich Euch, ob Ihr darüber nachgedacht habt, was Ihr tut? Indem Ihr eine Anerkennungsadresse an einen Menschen schickt, den die Kirche verurteilt hat, tretet Ihr gegen diese Kirche auf, und geht damit Hand in Hand mit Russland, lobt Ihr die Gefängnisse, die Fesseln, die Unfreiheit. Oh mein Gott! Was sollen dazu unsere unglücklichen Brüder sagen, die unter fremdem Joch stöhnen, wenn sie erfahren, dass die Jugend, die noch vor einigen Jahren sich patriotischer Gefühle rühmte, die damit vielleicht sogar allzu sehr prahlte, dass diese selbe Jugend sich heute ihren Verfolgern anschließt und ihre Grundsätze teilt, und so das Messer tiefer in die brüderliche Brust stößt.488

Die Antwort auf seine rhetorische Frage gab Czech selbst: Wahrscheinlich seien die Studenten sich nicht darüber im Klaren gewesen, was sie tun, denn sonst hätten sie nicht »unsere Stadt«, »unsere Universität« und Polen, welches für die Einheit der Kirche leide und einstehe, entehrt. Der Leserbrief stammte nur scheinbar aus der Feder des Richters Tomasz Czech (1810–1892). Tatsächlich hatte ihn seine Tochter, Aleksandra Czechówna (1839–1923), verfasst. Die musisch, literarisch und fremdsprachlich gebildete Frau, die das weibliche Emanzipationsbestreben wie die Bemühung um die Zulassung von Frauen zum Studium ablehnte, hielt es gleichermaßen für »natürlich«, den Brief unter dem Namen ihres Vaters veröffentlicht zu haben, wie sie in ihrem Tagebuch notierte,489 sei es, weil sie öffentlichen politischen Stellungnahmen von Frauen skeptisch gegenüber stand, sei es, weil ein männlicher Vorname mehr Achtung für das Geschriebene versprach. Der Artikel wurde in diversen Zeitungen wie der Gazeta Narodowa und dem Tygodnik Wielkopolski zwar mit Tadel bedacht, erhielt aber auch viel Zustimmung aus dem katholischen Lager. Besonders freute es die Autorin, dass in der Folge der bereits erwähnte ultramontane­ Priester Zygmunt Golian ihren Vater Tomasz Czech wegen des Briefs in einer Broschüre lobend erwähnte.490 Czechówna vertrat mit ihrer Stellungnahme typische Positionen des polnischen Ultramontanismus, der, wie bereits oben angedeutet, neben der religiösen Dimension vor allem eine politische Dimension besaß: Gerade in der Zeit der Staatenlosigkeit galt die Einheit der Kirche als Einheit der Nation. Anders als im deutschen Fall war der Papst jenseits der Alpen gerade nicht eine Gefahr für die Loyalität des Einzelnen zur Nation. Wie die Historikerin Viktoria 488 Czech, Tomasz: Ohne Titel. In: Czas Nr. 108 vom 12.5.1871, 2. 489 Tagebucheintrag vom Juli 1871. APwK, Spuścizne Aleksandry Czechówny, IT 428/13. Zum Tagebuch der Czechówna siehe auch: Barzycka, Agata: Macierzyństwo i dzieciństwo w drugiej połowie XIX wieku w świetle »Dzienników« Aleksandry Czechówny z lat 1­ 856–1904. In: Orman, Elżbieta/Nieć, Grzegorz (Hg.): Społeczeństwo, kultura, inteligencja. Studia historyczne ofiarowane Profesor Irenie Homoli-Skąpskiej. Kraków 2009, 107–124. Die Autorin erwähnt darin, dass Czechówna zwei Artikel im Czas zur »Verteidigung« des Katholizismus veröffentlicht habe, sagt aber nicht, welche. 490 Eintrag vom Juli 1871. APwK, Spuścizne Aleksandry Czechówny, IT 428/13.

254  Der nicht alltägliche Tod Pollmann es ausgedrückt hat, war der Vatikan »die einzige externe, übernationale Macht, an die die Polen sich mit ihrer Bitte um zumindest eine moralische Unterstützung ihrer Versuche, das fremde Joch abzuschütteln, wenden konnten.«491 Während die polnischen Liberalen die katholische Staatslehre, die in jedem Herrscher und damit auch in den Teilungsmächten eine legitime Macht sah, als ein Hindernis für die Nationalbewegung empfanden, war für die Ultra­ montanen der Papst ein Garant für die nationale Einheit. Denn indem sich die Loyalität ihm zuwandte, wandte sie sich vom protestantischen Deutschland ebenso ab wie vom orthodoxen Russland. Wurde nun die uneingeschränkte Loyalität zum katholischen Oberhaupt in Frage gestellt, witterten einige polnische Ultramontane die Gefahr, dass damit der Schutz vor einer Verein­ nahmung durch Deutschland respektive Russland verloren gehen könnte. Insofern erklärt sich, warum sie die Döllinger-Adresse stärker als eine politische denn als eine theologische Angelegenheit von hoher Brisanz wahrnahmen. Daraus resultierten schließlich das Pathos und die Schärfe, mit denen die Diskussion über die Döllinger-Adresse geführt wurde. Eine Diskussion, die durch ein eigensinniges Nebeneinander unterschiedlichster Interessen geprägt war: von genuin theologisch motivierten Stimmen über kulturkämpferische, nationalistische und sonstige politische Einlassungen, antideutsche Ressentiments bis hin zu persönlicher Hetze und regelrechten Verschwörungstheorien. Neben der Frage nach der Integrität der Kirche und Polens schwang in der Krakauer Diskussion die Frage mit nach der weltanschaulichen Ausrichtung der Krakauer Universität, die im geteilten Polen die einzige polnischsprachige Universität war. Wie die in der Debatte erhobenen Stimmen zeigen, setzten manche den polnischen Charakter mit einer katholischen Prägung gleich. Wenn nun der vermeintliche katholische Charakter der Universität in Gefahr sei, sei auch ihre Polonizität in Gefahr. So argumentierte etwa Graf Piotr Moczyński aus Krakau, der seinen Unmut in einem offenen Brief an Rektor und Senat der Jagiellonenuniversität zum Ausdruck brachte und diesen Brief im Czas ver­öffentlichte. Für ihn war der römisch-katholische Charakter der Universität eine Selbstverständlichkeit und damit die Zustimmungsadresse für Döllinger ein Skandal, weil eine solche Stellungnahme seiner Ansicht nach der Jagiellonen­universität nicht angemessen sei. Immerhin habe diese 500 Jahre lang ihren römischkatholischen Charakter bewahrt und sei heute die einzige polnische Universität, so die Argumentation Moczyńskis. Dass sich daran auch in Zukunft nichts ändern würde, wollte er nun von Rektor und Senat bestätigt sehen. Er rief daher den Rektor und den Senat dazu auf, zu dem Fall Gilewski Stellung zu beziehen.492 Die Universitätsleitung lehnte es ab, den Brief von Moczyński zu beantworten. Im Sitzungsprotokoll des Senats wurde dies damit begründet, dass 491 Pollmann: Ultramontanismus in Polen 166. 492 Moczyński, Piotr: Ohne Titel. In: Czas Nr. 107 vom 11.5.1871, 2.

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die Universitätsbehörden nur verpflichtet seien, sich vor höheren Behörden zu rechtfertigen, aber nicht die Pflicht hätten, auf Anfragen von Privatleuten zu antworten. Der Rektor der Jagiellonenuniversität kritisierte in der Senatssitzung vom 13. Mai 1871 an Gilewskis Vorgehen allein den Tatbestand, dass er für die Kundgabe seiner Adresse Räume der Universität gewählt hatte, da diese ausschließlich für die Lehre gedacht seien. Für alle Fragen, die darüber hinausgingen, seien sie der falsche Ort. Da Gilewski selbst einräumte, sein Verhalten sei unangemessen gewesen, betrachtete der akademische Senat die Angelegenheit als erledigt.493 Dass Moczyński sich an Gilewski störte, liegt auf der Hand. Interessant ist, welche Argumentation er gegen Gilewski ausführte. So zeigte Moczyński sich verwundert, dass jemand, der von Berufs wegen täglich mit dem Tod in Berührung kommt, Einstellungen wie Gilewski vertreten könne: Soll das der Gebrauch sein, den ein Professor der Universität und der Klinik von seiner Macht und seinem Einfluss macht, der so oft die Gelegenheit hat, dem Bild des Todes zu begegnen und von ihm nicht bloß pathologische Anatomie, sondern auch die Anatomie des Geistes zu erlernen, dass er anstatt mit einer dem Lehrstuhl angemessenen Vorlesung seine Hörer mit religiösen und politischen Polemiken beschäftigt und die Unerfahrenheit der jugendlichen Gemüter ausnutzt…494

Den Umgang mit dem (toten) menschlichen Körper thematisierte im Zusammenhang mit der Döllinger-Adresse auch die liberale Krakauer Zeitung Kraj,495 die bei dieser Gelegenheit das Verhältnis einiger Geistlicher zur Wissenschaft kritisierte, wie sie beispielsweise der Priester Serwatowski zeige, der Mediziner dafür verurteile, dass sie keine Hemmungen hätten, den Körper respektive Leichnam496 einer Frau zu zerschneiden.497 Als Urheber der umstrittenen Adresse wurde Gilewski zudem als Person zum Thema. Die Reaktionen auf die bekannt gewordene Döllinger-Adresse reichten von Lob über Kritik bis hin zu Anfeindungen. Er sei der typische Vertreter eines »Wiener-Polens«, urteilte der Przegląd Lwowski, charakterisiert durch eine Unkenntnis des Polentums und einen Hass auf alles, was katholisch, gar auf alles, was christlich sei. Als Indiz wurde ein Ball angeführt, den Gilewski während der Fastenzeit in Krakau veranstaltet haben soll. In dieser Fes 493 Protokoll der Sitzung vom 13.5.1871. AUJ, Protokoły Posiedzeń Senatu, S II 82. 494 Moczyński, Piotr: Ohne Titel. In: Czas Nr. 107 vom 11.5.1871, 2. 495 Der Kraj bewertete Döllinger und das Unfehlbarkeitsdogma offenbar ähnlich wie Gilewski. So sah der Kraj im Unfehlbarkeitsdogma einen »Anschlag auf den gesunden Menschenverstand«, der auf die »Unterjochung des Gewissens der Menschen und Völker« gerichtet sei, zitiert nach Lechicki: Krakowski »Kraj« 126. 496 Der im Polnischen verwendete Begriff ciało kann sowohl Leichnam als auch Körper bedeuten. 497 Kronika potoczna i rozmaitości. In: Kraj Nr. 110 vom 14.5.1871, 2.

256  Der nicht alltägliche Tod tivität sah die Zeitung eine Gleichgültigkeit gegenüber religiösem Denken und Traditionen sowie »eine Demonstration, die nicht nur religiöse Gefühle, sondern gleichzeitig auch Sitten und Traditionen der Stadt« beleidigt habe.498 Anders gesagt: Für die Lemberger Zeitung war Karol Gilewski ein Fremder, der nicht in das konservativ, aristokratisch und katholisch geprägte Krakau passte. Die ­Gilewski wohlgesonnene Gazeta Narodowa, die ebenfalls in Lemberg erschien, berichtete von Angriffen auf Gilewski in Bildungseinrichtungen: Katecheten sprachen in Schulen und Mädchenpensionaten über den »Häretiker« Döllinger und seinen Unterstützer, den »Dummkopf Gilewski«. Laut der Gazeta Narodowa soll diese Propaganda aber sehr kontraproduktiv gewesen sein: Die Kinder hätten sich nicht vorstellen können, dass ein Dummkopf Professor und Dekan werden könne, weswegen sie den Umkehrschluss gezogen hätten, dass ihre Katecheten Lügner seien.499 Gilewski wurde nicht nur in Predigten und in der Presse angegriffen, sondern erhielt auch viele anonyme Drohbriefe.500 Zudem waren Gerüchte und Verleumdungen gegen Gilewski im Umlauf, die ihm und seinem Schwiegervater, einem Wiener Mediziner, vorwarfen, mit Intrigen Gilewskis berufliches Fortkommen in Krakau voranzutreiben.501 Im etwa 400 Kilometer entfernten Wien sorgte die Aufregung um Gilewski und Döllinger in liberalen Kreisen für Spott. So amüsierte sich die liberale Wiener Neue Freie Presse über die Identifikation von Döllingersympathisanten mit nationalem Verrat. Die Vorwürfe der »Jesuiten«502 (wobei sie sich offenbar auf den erwähnten Leserbrief von Czech bezog) an die Jugend paraphrasierte und kommentierte die Zeitung folgendermaßen: »Ihr seid Verräther an den Polen, ihr schreit ja: ›Hoch Döllinger!‹ Döllinger aber ist ein Feind des Papstes, was der Czar ebenfalls ist; folglich seid ihr unbesonnene Helfershelfer unserer Bedrücker.« Nun, nach dieser Logik wäre vielleicht auch ­Kosciuszko glorreichen Angedenkens ein Verräther. Er kämpfte für die nordamerikanische Union, welche freundschaftliche Verbindungen mit Rußland unterhält.503

498 Döllingerizm w Krakowie. In: Przegląd Lwowski Nr. 11 vom 1.6.1871, 613–623, hier 613 f. 499 Kronika. Galimatiasz krakowski. In: Gazeta Narodowa Nr. 163 vom 16.5.1871, 3. 500 Kronika potoczna i rozmaitości. In: Kraj Nr. 110 vom 14.5.1871, 2. Kronika potoczna i rozmaitości. In: Kraj Nr. 112 vom 17.5.1871, 2.  501 Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny Nr. 26 vom 25.6.1871, 214 f. 502 »Jesuit« wurde hier als Metonymie für (ultramontane) Katholiken gebräuchlich. Dieser weite Gebrauch von Begriffen wie »Jesuit«, »jesuitisch« war im Europa des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. »Jesuit« beziehungsweise »jesuitisch« konnte eine unterwürfige Haltung gegenüber der Obrigkeit bezeichnen, eine ultramontane Haltung und eine in Anspielung auf die kasuistische Morallehre der Jesuiten doppelte Moral, die oft als Hypokrisie gewertet wurde. Vergleiche dazu: Cubitt: The Jesuit Myth 15–17. 503 Inland. Die Vertrauens-Adresse für Döllinger. In: Neue Freie Presse Nr.  2414 vom 16.5.1871, 4.

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Die Initiative des »hochgeachteten Decans Dr. Gilewski« bedachte die Neue Freie Presse mit Sympathie, die »clerical-aristokratischen Auslassungen« gegen Gilewski wertete sie hingegen als Ausdruck eines »finsteren«, bildungsfeindlichen Denkens.504 Antiklerikale Topoi verbanden sich hier mit impliziten Vorurteilen gegenüber dem als rückständig empfundenen Galizien.505 Ob in Krakau oder in Wien, vieles wurde in den Streitigkeiten um Gilewski, Döllinger und das Unfehlbarkeitsdogma verhandelt: die Integrität der katholischen Kirche, die Zukunft Polens, die Zukunft der polnischen Jugend, die Zuständigkeitsbereiche der einzelnen Wissenschaften, die Neutralität von Forschung und Lehre, die Einheit der polnischen Nation, Krakaus (Selbst-)Bild als antemurale Christianitatis und das Fremdbild als Hort des Ultramontanismus. Dabei prallten zum einen zwei sich ausschließende Weltbilder aufeinander, zum anderen zeigte sich, dass der kirchliche Zuständigkeitsbereich auch in Krakau umstritten war. Das führte in der Summe dazu, dass die Diskussionen ebenso emotional wie fruchtlos geführt wurden. Solche Reaktionen hatte Gilewski wohl weder intendiert noch vorausgesehen.506

2.5.4 Der überraschende Tod Gilewskis und die erste weltliche Trauerfeier Die Diskussionen schienen abgeklungen und die Gemüter abgekühlt, als ­Karol Gilewski plötzlich im Alter von nur 38 Jahren starb. Bei einer Patientin hatte er sich mit Typhus angesteckt, der ihn wenige Wochen nach dem Bekanntwerden der Döllinger-Solidaritätsadresse das Leben kosten sollte. Mit dem Tod G ­ ilewskis war die heikle Frage nach der Ausgestaltung seiner Trauerfeier verbunden, zu der sich schließlich die Elite der Stadt ebenso wie die Geistlichkeit in irgendeiner Art und Weise verhalten und dadurch unwillkürlich Stellung beziehen musste. Für viele ultramontane Katholiken galt Gilewski als exkommuniziert und in dieser Lesart stand ihm keine kirchliche Beerdigung zu. Etwas entschärft wurde die Frage dadurch, dass sich die Witwe eine Bestattung des Leichnams im Grab ihrer Familie im niederösterreichischen Oed wünschte. G ­ ilewskis Witwe verließ nach dem Tod ihres Mannes Krakau und kehrte dorthin nie wieder zurück.507 Damit musste in Krakau die Frage, wo und wie ­Gilewski bestattet werden sollte, gar nicht erst verhandelt werden. Was aber gestaltet werden musste, war die Über 504 Inland. In: Neue Freie Presse Nr. 2411 vom 13.5.1871, 4. 505 Zur österreichischen Haltung gegenüber Galizien allgemein siehe Wolff: The Idea of Galicia. 506 So zitierte ihn etwa der Czas nach seinem Tod. Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas vom 23.6.1871, 2 f. 507 Kronika potoczna i rozmaitości. In: Kraj Nr. 140 vom 22.6.1871, 2; Machek: Emila Gilewska. Wspomniene pośmiertne. In: Przegląd Lekarski 27 (1918) 203 f.

258  Der nicht alltägliche Tod führung des Leichnams vom Wohnhaus des Verstorbenen zum Bahnhof, von wo aus er nach Niederösterreich gebracht werden sollte. Die Trauerfeierlichkeiten in Krakau bestanden aus der Aufbahrung des Leichnams sowie der eben erwähnten Überführung des Sarges zum Bahnhof, von wo aus der Leichnam seine letzte Reise antreten sollte. Ein Requiem jedoch wurde nicht gefeiert, weil die Geistlichkeit ihre Teilnahme an den Trauerfeierlichkeiten zu Ehren Gilewskis verweigerte. Daher gilt die Feier als die erste nichtkirchliche Trauerfeier in Krakau.508 Der Geistlichkeit war es offenbar zu delikat, an der Trauerfeier aus eigenem Entschluss teilzunehmen. So verwies die zuständige Pfarrei die Witwe an das bischöfliche Konsistorium, die sich diesen Gang aber lieber ersparte.509 Auch den Katafalk für die Trauerfeierlichkeiten wollten die Geistlichen nicht bereitstellen. Die nötigen Apparaturen überließ schließlich doch noch der Militärgeistliche – und damit vermutlich ein Österreicher  – für die Trauerfeier. Der evangelische Pastor bot an, aus seiner Kirche dasjenige Gerät zur Verfügung zu stellen, das für die Aufbahrung und die Überführung gebraucht wurde. Schlussendlich, so wurde in der Stadt berichtet, habe der Apostolische Vikar, Bischof Antoni Gałecki, der Geistlichkeit unter bestimmten Bedingungen doch noch die Teilnahme an der Trauerfeier gestattet. Sollte dies zutreffend gewesen sein, dann kam diese Zustimmung offenbar zu spät.510 Anders zeigte sich die Darstellung in den konservativen Medien: Wer sich über das Fernbleiben der Geistlichkeit echauffiere, dürfe laut dem Czas nicht verschweigen, dass drei Priestern der Zutritt zum Sterbezimmer Gilewskis verweigert worden sei, obwohl einer der Priester ein jahrelanger Vertrauter von Gilewski gewesen sei.511 Bei der Feier fehlte die Geistlichkeit, um die Organisation kümmerten sich die medizinische Fakultät und die Universitätsjugend.512 Die Trauerfeierlichkeiten zwei Tage nach dem Tod Gilewskis begannen mit der Aufbahrung des Leichnams. Die Ehrenwache, bestehend aus sechs Studenten der medizinischen Fakultät, bewachte von früh bis spät den Leichnam Gilewskis, zu dem viele Menschen kamen.513 Die Universität wurde schwarz beflaggt und die Angehörigen der Universität beschlossen, eine Woche lang als Zeichen der Trauer einen schwarzen Krepp am Hut zu tragen – und damit den damals üblichen Konventionen zum Tragen von Trauerkleidung genüge zu tun.514 508 Lechicki: Krakowski »Kraj« 128. 509 Gilewski: Eine statistische Thatsache. In: Neue Freie Presse Nr. 2448 vom 20.6.1871, 4 f. 510 Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny Nr. 26 vom 25.6.1871, 214 f. 511 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 141 vom 23.6.1871, 2 f. 512 Gilewski Karol. In: Polski Słownik Biograficzny, Kraków 1948–1958, hier 464; ­Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny Nr. 26 vom 25.6.1871, 214 f. 513 Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny Nr. 26 vom 25.6.1871, 214 f. 514 Schwarzer Krepp am Hut war die damals für Männer übliche Trauertracht. Siehe Żałoba i jej noszenie. In: Kalendarz Krakowski na rok 1871, 35.

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Eine ausführliche Schilderung der Trauerfeier findet sich im Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny, den Józef Ignacy Kraszewski herausgab. Das Blatt hatte sich auf die Seite Gilewskis und seiner Anhänger geschlagen und ausführlich über die Streitigkeiten wie auch später über die Trauerfeierlichkeit berichtet. Diesem Bericht zufolge wurde auf christliche Symbolik trotz Abwesenheit des Klerus bei der Trauerfeier nicht verzichtet. Das Kreuz, welches die Geistlichkeit verweigert hatte, brachten Medizinerkollegen zur Überführung. Der Kondukt begann um sechs Uhr abends und führte von der Wohnung des Verstorbenen am Marktplatz zum Bahnhof, von wo aus ein Zug den Leichnam nach Wien bringen sollte. Auf dem Weg versammelten sich zahlreiche Menschen. Den Leichenzug führte die Feuerwehr in Uniform an, deren Ehrenmitglied Gilewski tags zuvor posthum geworden war. Auf die Feuerwehr folgte die Musikkapelle. Daran schlossen die Pedelle der Universität an, die die vier Zepter aller Fakultäten trugen, sowie der Universitätsrektor mit einigen Krakauer Stadträten, die die zwei Seiten des Leichentuchs hielten, welches den Sarg bedeckte. Die Bahre mit dem mit Kränzen geschmückten Sarg trugen Universitätsangehörige. Der Vorsteher des Krankenhauses St.  Lazarus trug ein Kissen mit dem Doktordiplom sowie der Dekanskette des Verstorbenen. Doktoren der Universität trugen Fackeln in den Händen. Bis auf die Angehörigen der theologischen Fakultät war der gesamte universitäre Lehrkörper vertreten. Auf die Universitätsangehörigen folgten in der Ordnung des Trauerzugs der ärztliche Armeestab und die Militärältesten (starszyzna wojskowa). Ein Mediziner hielt ein Kreuz, Vertreter der Krakauer Gilden und Vereine trugen Standarten.515 Insgesamt benötigte der Trauerkondukt eine Stunde von der Wohnung des Verstorbenen am Marktplatz zum Bahnhof, was einem Zeitungsbericht zufolge dem großen Andrang geschuldet war.516 Die Rede hielt Professor Józef­ Majer. Er lobte darin die Aufopferung Gilewskis, der für seinen Berufsethos sogar mit seinem Leben bezahlt habe und so wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld gestorben sei. Zudem hob er den wohltätigen und karitativen Einsatz ­Gilewskis hervor, der unter anderem einigen Medizinstudenten das Studium finanziert hatte.517 Gilewskis Meinungsäußerungen bewertete Majer positiv: »Er besaß den Mut, deutlich das zu bekennen, was viele fühlen, sich aber nicht zu sagen trauen, und er verschwieg das, womit Leute gewöhnlich prahlen, und zwar gute Werke.«518

515 Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny Nr. 26 vom 25.6.1871, 214 f. 516 Korespondencje z Krakowa, Warszawy i z ziemi Warmińskiej. In: Tygodnik Wielopolski Nr. 28 vom 8.7.1871, 342–344. 517 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 138 vom 20.6.1871, 2. 518 Korespondencje z Krakowa, Warszawy i z ziemi Warmińskiej. In: Tygodnik Wielopolski Nr. 28 vom 8.7.1871, 342–344.

260  Der nicht alltägliche Tod Die Trauerfeier hatte laut Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny einen »unbestritten großen Eindruck« gemacht.519 Die Gazeta Narodowa aus Lemberg schrieb: »Es war eine großartige und in seiner Art einzigartige Beerdigung«, die dem Andenken Gilewskis angemessen gewesen sei. Eine mit einer so ernsten Traurigkeit verbundene Beerdigung habe lange nicht mehr in Krakau stattgefunden. Auch freute sich die Zeitung über die rege Teilnahme und die damit verbundene Signalwirkung: »Die aufgeklärten Einwohner Krakaus, die so zahlreich zu der Beerdigung von Dr. Gilewski versammelt waren, haben den Beweis erbracht, dass sie das Christentum in der größeren Bedeutung dieses Wortes verstehen, und dass sie fähig sind, sich von allen engen Voreingenommenheiten zu befreien.«520 Der in Posen erscheinende »Tygodnik Wielopolski« (»Großpolnische Wochenschrift«) wertete das Fehlen der Geistlichkeit positiv: Dadurch, dass die Priester, die ihre Gebete verkauften, gefehlt hätten, sei die Verabschiedung Gilewskis eine ehrliche Feier gewesen.521 Auffällig ist, dass sich die ausführlichen Beschreibungen der Trauerfeier Gilewskis in Zeitungen befanden, die außerhalb Krakaus – in Dresden und in Posen – erschienen. Die erste allgemein bekannte nichtkirchliche Feierlichkeit in Krakau war nicht auf Verfügung des Verstorbenen selbst gewählt worden, der damit eine wenn nicht säkulare, doch zumindest antikirchliche oder antiklerikale Weltsicht hätte ausdrücken wollen, sondern sie resultierte daraus, dass die Geistlichkeit der Veranstaltung geschlossen fern blieb, weil ihrer Ansicht nach der Verstorbene als exkommuniziert galt. Was zelebriert wurde, waren Traditionen, die ohne kirchlichen Beistand möglich waren: Aufbahrung und Verabschiedung des Leichnams sowie ein öffentlicher Trauerzug, der am Marktplatz, und damit im Herzen der Stadt, seinen Anfang nahm. Alle nicht geistlichen Würdenträger ließen es sich nicht nehmen, bei den Festivitäten anwesend zu sein, wenn auch offenbar nicht alle aus Trauer um den Verstorbenen,522 so doch zumindest aus dem Gefühl, dass es sich zieme, einen bekannten Arzt und Professor und verdienten Bürger der Stadt ehrenvoll zu verabschieden. Eine Empfindung, die jedenfalls Krakaus ultramontane Geistlichkeit nicht teilte, für die die öffentliche Missachtung religiöser Devianz sogar posthum einen großen Stellenwert hatte. Die städtische Öffentlichkeit schickte sich nicht an, der Geistlichkeit in dieser Haltung zu folgen. Umgekehrt hingegen soll durchaus diskutiert worden sein, die starre Haltung aufzugeben und Priester unter bestimmten Auflagen am Trauerzug für Gilewski teilnehmen zu lassen. 519 Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny Nr. 26 vom 25.6.1871, 214 f. 520 Kronika. In: Gazeta Narodowa Nr. 197 vom 20.6.1871, 3. 521 Korespondencje z Krakowa, Warszawy i z ziemi Warmińskiej. In: Tygodnik Wielopolski Nr. 28 vom 8.7.1871, hier 342. 522 So heißt es im Bericht des Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny (Nr. 26 vom 25.6.1871, 214 f.), dass der größere Teil in Trauer und um den Toten zu ehren, gekommen sei.

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In Österreich hingegen erhielt Gilewski ein kirchliches Begräbnis und wurde dort von mehreren Priestern bestattet. Die in Großpolen erscheinende Kirchenzeitung »Tygodnik Katolicki« (»Katholische Wochenschrift«) war sich sicher, dass die dortigen Geistlichen nichts von den Krakauer Ereignissen wussten, sonst hätten sie Gilewski eine christliche Beerdigung verweigern müssen.523 Damit lag die Zeitung nicht ganz richtig: Um als Häretiker und dadurch als exkommuniziert zu gelten, hätte Gilewski explizit ein Dogma ablehnen müssen, was er jedoch weder in der Döllinger-Adresse noch bei anderer Gelegenheit getan hatte. In der Adresse hatte er lediglich eine Sympathiebekundung für den Menschen und Wissenschafter Döllinger und dessen Einsatz für Fortschritt und Wissenschaft ausgedrückt. Weder das Konzil noch das Unfehlbarkeitsdogma fanden dort eine explizite Erwähnung. Dass er die Sterbesakramente nicht empfing, kann als Indiz, doch nicht als Beweis für sein Sterben außerhalb der Kirche dienen, schließlich heißt es in den Berichten, dass Gilewski während der kurzen, schmerzhaften Krankheit die allermeiste Zeit nicht bei Bewusstsein war, insofern hätte er den eventuellen Wunsch nach Empfang der Sterbesakramente nicht artikulieren können. Bei der Annahme einer Exkommunikation des Mediziners hatte der Tygodnik Katolicki daher vermutlich die Rechtslage des Dekretalenrechts im Sinne, wonach der Umgang mit einem Exkommunizierten automatisch die Exkommunikation nach sich zog. In Deutschland wurde diese harte Praxis jedoch wohl nicht angewandt: Das lässt sich zumindest aus dem 1899 erschienenen Werk von Joseph Hollweck über die kirchlichen Strafgesetze schließen: Wer namentlich exkommuniziert ist, »ist von allen Gläubigen, im religiösen Verkehr gänzlich, im bürgerlichen thunlichst zu meiden«. Was unter »thunlichst« zu verstehen ist, kommentiert Hollweck in einer Fußnote und plädiert für eine milde Anwendung dieser Vorschrift. Solange sich jemand nicht »frivol« über das kirchliche Gesetz hinwegsetze, ziehe er sich weder eine schwere noch eine lässliche Sünde zu.524 Dass also die Geistlichkeit in Österreich Gilewski ein prunkvolles kirchliches Begräbnis bereitete, musste nicht zwangsläufig auf ihrer Unkenntnis der Krakauer Ereignisse, über die schließlich auch österreichische Zeitungen berichtet hatten, beruhen, sondern auf einer divergierenden theologischen Einschätzung. Das erhellt zudem ein Vergleich mit einem teilweise ähnlichen, aber in einigen Punkten etwas anders gelagerten Fall in München. Auch hier starb ein Universitätsprofessor, der Jurist Franz Xaver Zenger, der sich als Unterstützer Döllingers erwiesen hatte, im Sommer 1871. Anders als Gilewski hatte er jedoch keine 523 Kraków 26 czerwca 1871. In: Tygodnik Katolicki Nr. 27 vom 8.7.1871, 430 f. Diese Ansicht hat auch der biographische Eintrag zu Gilewski im »Polski Słownik Biograficzny« übernommen, wonach Gilewski aufgrund seiner Adresse an Döllinger ipso facto exkommuniziert gewesen sei. 524 Hollweck, Joseph: Die kirchlichen Strafgesetze. Mainz 1899, hier 122.

262  Der nicht alltägliche Tod Adresse für Döllinger verfasst, sondern eine explizite Adresse gegen die Konzilsdekrete unterzeichnet. Als nun besagter Zenger im Sterben lag, wünschte er sich, die Sterbesakramente zu empfangen. Sein eigentlicher Beichtvater – ein Münchner Franziskaner – machte dafür jedoch zur Bedingung, dass Zengers Widerruf seiner Unterschrift öffentlich bekannt gemacht werde. Dies war nicht im Sinne des Sterbenden, weswegen sich die Familie nach einem anderen Beichtvater umschaute. Sie fand ihn in der Person Joseph Anton Meßmers, der die Adresse gegen die Konzilsdekrete zwar auch unterschrieben hatte, aber bislang noch nicht gemaßregelt worden war. Nachdem Meßmer Zenger die Beichte abgenommen hatte, spendete der exkommunizierte Döllingerschüler Johann Friedrich dem Sterbenden die Letzte Ölung und die Kommunion. Zur Beerdigung erschien das Professorenkollegium – wie auch im Fall Gilewski mit Ausnahme der theologischen Fakultät. Da der zuständige Stadtpfarrer eine christliche Einsegnung verweigerte, übernahm diese erneut der exkommunizierte Priester Johann Friedrich. Der Vorgang hatte demonstrativen Charakter, weil damit erstmals im Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit ein exkommunizierter Priester der altkatholischen Bewegung geistliche Funktionen ausübte.525 Im Vergleich zum Münchner Vorfall, bei dem ein Laie von einem ausdrücklich exkommunizierten Priester die letzten Sakramente empfing sowie eingesegnet wurde, waren die Krakauer Vorfälle eigentlich harmlos. Zwei Dinge trugen dazu bei, dass Gilewskis Sterben und Tod sowie die Trauerfeier zu einem Skandalon wurden: Zum einen die Furcht vor einer ähnlichen Entwicklung wie die Abspaltung der Altkatholiken in Deutschland, mit der sich Phantasmen von einer Germanisierung der katholischen Kirche verbanden, zum anderen die Erinnerung an Barbara Ubryk,526 als die Auseinandersetzung in Glaubensfragen die Form einer psychischen Bedrohung annahm.

2.5.5 »Eine Strafe …, in Krakau leben und sterben zu müssen« Eng mit der Bewertung der Trauerfeier hing die Einschätzung des Todes­ Gilewskis zusammen. Wie die Ansprache Majers bei der Krakauer Trauer­ feierlichkeit illustriert hatte, war er für die einen ein vorbildlicher Mann und verdienter Arzt, für die anderen ein Unruhe stiftender Häretiker gewesen. Die Koinzidenz, dass Gilewskis vorzeitiger Tod so rasch auf seine DöllingerAdresse gefolgt war, schien eine Interpretation nahezulegen: Sein Tod sei eine 525 Bischof: Theologie und Geschichte 311 f. 526 Ironie der Geschichte: Am Tag vor der Überführung Gilewskis meldete der Czas kommentarlos den Tod Ubryks (Kronika Miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr.  135 vom 16.6.1871, 3); am Tag der Trauerfeier widerrief der Czas die Nachricht, siehe Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 136 vom 17.6.1871, 2.

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himmlische Strafe. Diese Interpretation war weder im Czas zu finden, der zuvor noch das Agieren Gilewskis mit scharfen Worten gebrandmarkt hatte, noch im Przegląd Lwowski, der eine ausführliche Verwerfung des »Döllingerismus« in Krakau verfasst hatte. Dennoch musste sich die ultramontane Seite mehrfach den Vorwurf gefallen lassen, angesicht des Todes des ungeliebten Gilewskis offensichtliche Freude gezeigt und Dankgottesdienste gefeiert zu haben.527 Dass für die Ultramontanen der Tod Gilewskis eine Strafe Gottes gewesen sei, berichtete der bereits erwähnte Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny. Doch nicht genug mit der Einschätzung des Todes als »Strafe Gottes«, einige besonders eifrige »Frömmler« hätten noch während seiner Krankheit dem Mediziner den Tod gewünscht. So soll einem im Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny kolportierten Gerücht zufolge eine Frau zur Gattin von Gilewski gesagt haben, dass die Hoffnung auf eine Gesundung vergebens sei, denn es beteten viele fromme Seelen um eine Bestrafung Gilewskis mit dem Tod.528 Auf diese Darstellung reagierte die in Wien erscheinende Neue Freie Presse, für die die letzten Ereignisse in Krakau zudem Anlass boten, Antipathien gegen das konservativ-aristokratisch geprägte Krakau zu entladen: Die Frommen, welche das ohnehin verschrobene und geistig verkommene Krakau in den Ideenkreis des 14. Jahrhunderts zurückdrängen möchten, sehen in dem frappirend (sic) raschen Tod des 38 Jahre alten Gilewski eine ›gerechte‹ Strafe des Himmels dafür, weil dieser Mann der Wissenschaft es gewagt, eine Döllinger-Adresse zu Stande zu bringen.529

Ob auch sie im frappierend plötzlichen Tod Gilewskis eine beunruhigende Koinzidenz sahen oder ob sie vielmehr einen möglichen argumentatorischen Trumpf zu konterkarieren suchten – jedenfalls bemühten sich die liberalen Publikationsorgane um eine alternative Interpretion des plötzlichen und frühen Todes des Medizinprofessors. So bedauerte die Neue Freie Presse, dass der Zufall sich wie schon häufig als ein »Helfershelfer jedweden Wahn- und Aberglaubens« erwiesen habe. Umgebracht habe den Verstorbenen aber nicht die Strafe Gottes, sondern eher die Stadt Krakau. Denn trotz beruflichen Erfolges und finanziellen Wohlstands habe Gilewski in der Stadt nicht glücklich werden können. Der »Brotneid« anderer Professoren gegen den aus Wien nach Krakau gezogenen Gilewski, die politischen Zustände in Krakau und »[u]ltramontaner und politischer Phanatismus« hätten am Leben des 38-Jährigen genagt. Als der Schreiber der Neuen Freien Presse das letzte Mal mit Gilewski sprach, soll dieser zu ihm gesagt haben: »Die Welt beneidet mich, sie thäte wahrlich besser, 527 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 141 vom 23.6.1871, 2. 528 Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny Nr. 26 vom 25.6.1871, 214 f. 529 Gilewski’s Tod und der Finger Gottes. Gilewski’s Stellung und seine Leiden. In: Neue Freie Presse Nr. 2448 vom 20.6.1871, 4 f.

264  Der nicht alltägliche Tod mich zu bedauern; denn in Krakau kann ich mich nicht glücklich fühlen, ich werde noch an Krakau sterben!« Und so kommt der Autor zu dem Schluss, es sei für Gilewski tatsächlich »eine Strafe Gottes gewesen, in Krakau leben und sterben zu müssen.«530 Wie auch die Neue Freie Presse spekulierte der Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny, inwiefern das ihm feindselig gesonnene Klima in Krakau zum plötzlichen Lebensende Gilewskis beigetragen haben könnte. Vor allem aber sah das Blatt in Gilewskis Tod eine »glänzende Auszeichnung«, schließlich haben ihn sein Berufsethos und seine Aufopferungsbereitschaft das Leben gekostet: Er sei der einzige gewesen, der sich bereit erklärt habe, die arme, alte und kranke Frau zu pflegen, bei der er sich schließlich angesteckt haben soll. Die Zeitschrift befand daher: »Er fiel seiner Hingabe zum Opfer, wie ein Soldat auf dem Kampfplatz, und schön so ein Tod, mit dem Gott nur gutmütige Wesen belohnt.« Was also für die anderen eine Strafe Gottes ist, sei in Wahrheit »Krönung und Preis seines Lebens« gewesen.531 In dieser Lesart erfuhr der Tod Gilewskis eine fast schon hagiographische Aufladung, schließlich bildet die Vorstellung, das Erdulden einer qualvollen Krankheit mit Todesfolge sei eine Auszeichnung durch Gott, einen alten hagiographischen Topos.532 Gar nicht über den Charakter des plötzlichen Todes des Mediziners hingegen äußerte sich der Czas. Er gab nur kurz und sachlich Nachricht vom Tod Gilewskis,533 kündigte sehr knapp die Trauerfeierlichkeiten an534 und zitierte schließlich einige der lobenden Worte, die über Gilewski bei der Überführung gesprochen worden waren.535 Auch der Przegląd Lwowski, der Gilewski einen Monat zuvor noch sehr negativ charakterisiert hatte, enthielt sich einer Bewertung. Stattdessen wehrte er die Vorwürfe ab, die den (ultramontanen) Katholiken nach dem Tod Gilewskis gemacht wurden. So seien etwa katholische Zeitungen und Schriften bereit gewesen, ihr in mancher Hinsicht falsches Urteil über Gilewskis Charakter zu widerrufen.536 Die Vorwürfe, wonach die ultramontan gesinnten Katholiken gegen die Nächstenliebe verstießen, verwies der Przegląd Lwowski in das Reich der Lügen und wertete sie als einen Beleg dafür, dass kein religiöser, sondern ein antireligiöser Fanatismus existiere.537 Der Krakauer Czas kritisierte, dass der Tod Gilewskis antikatholisch gesinnten Journalisten als »unerschöpfliche Quelle« diene, die Kirche zu verunglimpfen.538 530 Ebd. 531 Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny Nr. 26 vom 25.6.1871, 215 f. 532 Trüb, Carl L. Paul: Heilige und Krankheit. Stuttgart 1978, hier 13–17. 533 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 136 vom 17.6.1871, 2. 534 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 137 vom 18.6.1871, 3. 535 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 138 vom 20.6.1871, 2. 536 Fanatyzm antireligijny. In: Przegląd Lwowski Nr. 17 vom 1.9.1871, 346–348. Wo diese Widerrufe genau zu finden sind, bleibt leider unerwähnt. 537 Ebd. 538 Kronika miejscowa i zagraniczna. In: Czas Nr. 141 vom 23.6.1871, 2.

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Während sich die galizischen Presseorgane wie Przegląd Lwowski und Czas sehr zurückhaltend verhielten, kritisierte der im großpolnischen Grodzik und damit im Bistum Posen erscheinende »Tygodnik Katolicki« (»Katholische Wochenschrift«) offen die öffentliche Trauerfeier für einen in ihren Augen ­»Apostaten« und sprach explizit von »Strafe«. Zu Gilewskis Verdiensten als Arzt und Wohltäter sagte er nichts. Vielmehr empörte er sich über die Beerdigung, die nach dem Geschmack der Freidenker gewesen sei, sah in ihr eine geschmacklose Veranstaltung, eine »schamlose Demonstration« und bedauerte, dass diese ausgerechnet von der Krakauer Jugend veranstaltet worden war. Nichts habe bei dieser Trauerfeier gefehlt  – bis auf den »göttlichen Gedanken«. Dass bei der­ Beerdigung eines Mannes, der ohne die Sakramente der katholischen Kirche gestorben war, ein Kreuz getragen wurde, hielt der Tygodnik Katolicki für unangemessen, ebenso wie die eine Woche währende schwarze Beflaggung der Universität. Die Zeitung nahm den Gedanken vom Tod Gilewskis als Strafe Gottes auf. Ihr Urteil war eindeutig: Das plötzliche Sterben des Döllinger­ symphatisanten sei eine deutliche Strafe Gottes. Das Blatt reagierte damit auf die im Kraj vertretene Auffassung, dass aus christlicher Sicht der Tod keine Strafe darstellen könne. Der Tygodnik Katolicki hielt dagegen, dass zwischen einem guten und einem schlechten Tod unterschieden werden müsse: Den guten Tod sterbe derjenige, der im Einklang mit der katholischen Kirche und ihren Glaubenssätzen stirbt, den schlechten Tod derjenige, der außerhalb der katholischen Gemeinschaft und ohne ihre Sakramente die Welt verlässt. Im letzteren Fall sei der Tod eine Strafe, weil die Aussicht auf ewiges Heil nicht gegeben sei. Selbst in dem Zeitpunkt des Todes von Gilewski erblickte der Tygodnik Katolicki einen Affront, weil dieser in der Fronleichnamsoktav gestorben war, als gerade auf dem Marktplatz eine Prozession abgehalten wurde. Sein Tod fiel zudem mit dem 25-jährigen Papstjubiläum zusammen, was dem Schreiber die damit verbundenen Feierlichkeiten etwas verleidete.539 Die prächtige Papstfeierlichkeit kontrastierte das »Salzburger Kirchenblatt« mit dem Schicksal Gilewskis: [Am] 18.  Juni ist auch in Krakau die Piusfeier auf das Glänzendste begangen worden. An demselben Tage ward die Leiche des Professors Gilewski, des Urhebers der Döllinger-Adresse, zum Bahnhof gebracht, um in seine Heimath … geführt zu werden. Während alle Häuser erleuchtet waren, und die päpstlichen Flaggen von zahl­ reichen Gebäuden wehten, sah man an der Klinik die schwarze Todesflagge. ­Gilewski war ohne priesterlichen Beistand gestorben. »Das ist die Strafe Gottes« meinte das Volk.540

Auch hier wurde die Vorstellung von Gilewskis Tod als »Strafe Gottes« geäußert, diesmal als kollektive Zuschreibung an »das Volk«. Offenbar trug die 539 Kraków 26 czerwca 1871. In: Tygodnik Katolicki Nr. 27 vom 8.7.1871, 430 f. 540 Chronik. In: Salzburger Kirchenblatt Nr. 28 vom 13.7.1871, 221.

266  Der nicht alltägliche Tod geographische Entfernung von Krakau (und Galizien) dazu bei, dass ungehemmter über Gilewskis Tod berichtet wurde, während in Krakau – sei es aus Pietät, sei es, um ein ungünstiges Bild der Krakauer Katholiken zu vermeiden – die Bezeichnung »Strafe Gottes« ebenso wie eine negative Darstellung Gilewskis vermieden wurden. Die Tagebuch- und Leserbriefschreiberin Aleksandra Czechówna, die im Namen ihres Vaters die polnische Jugend ermahnt hatte, vertraute ihrem Tagebuch im Juli 1871 nichts zum Tod Gilewskis und dessen Trauerfeier an. Erst im Eintrag vom November desselben Jahres wandte sie sich den Ereignissen zu. Grund dafür bot ein Unfall, den der Rektor Józef Kremer in Lemberg erlitten hatte und der ihn wochenlang ans Bett fesselte, was die Schreiberin zu Überlegungen veranlasste, ob es sich dabei möglicherweise um eine Strafe Gottes handeln könnte. Immerhin habe Kremer durch die Teilnahme an der Trauerfeierlichkeit Gilewskis die Adresse für Döllinger approbiert. Einige Jahre später sollte Czechówna bei erneutem Lesen ergänzen, dass Kremer die Adresse nicht unterstützt habe, als Rektor aber verpflichtet war, an der Trauerfeier für Gilewski teilzunehmen. Zudem fügte sie hinzu, wie sehr sie sich wünschte, die Feier hätte nie stattgefunden.541 Darauf, dass die Ereignisse nicht so schnell vergessen worden sind, lässt eine Bemerkung aus einer 1888 veröffentlichten Biographie des Priesters Zygmunt Golian schließen, derzufolge jeder um die Ereignisse um Gilewski wisse.542

2.5.6 Der »gute« und der »schlechte« Tod Ob ultramontane oder liberale Sichtweise – in beiden Lesarten erhielt der Tod eine normative Aufladung: Ein guter Tod krönte ein tugendhaftes Leben beziehungsweise ein schlechter Tod folgte auf ein falsches Verhalten.543 Für die Ultra­montanen war Gilewski in zweifacher Hinsicht einen schlechten Tod gestorben: Zum einen war er ohne die Sterbesakramente verschieden und damit ohne die von der Kirche bereit gestellte praeparatio ad gloriam, zum anderen wurde in seinem Tod selbst eine Strafe für sein indirektes Aufbegehren 541 Tagebucheintrag vom November 1871. APwK, Spuścizne Aleksandry Czechówny, IT 428/13. 542 Bartkiewicz, Zdzisław T. J.: Krótki rys życia ś.p. ks. Zygmunta Goliana prałata i proboszcza wielickiego. Kraków 1888, hier 18 f. 543 Derartige Vorstellungen gehen aufs Mittelalter zurück. Nach mittelalterlicher Vorstellung war ein guter Tod ein Tod, der sich vorher ankündigte, sodass der Einzelne sich auf sein Sterben vorbereiten konnte. Als schlechter Tod galt dagegen der plötzliche, unerwartete Tod. Ein solcher Tod ereilte nach mittelalterlichen Vorstellungen vor allem Ketzer. Siehe Fuhrmann, Horst: Einladung ins Mittelalter. 4. Aufl. München 1989, hier 48–50. Siehe außerdem Ariès: Geschichte des Todes 24–30.

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gegen die römische Hierarchie gesehen. In der Sicht seiner Anhänger verhielt es sich umgekehrt: Als aufopferungsvoller Arzt und heimlicher Wohltäter habe Gilewski ein gutes, vorbildliches Leben geführt. Im Dienst am Nächsten sei er schließlich gestorben, womit sein Sterben ebenso vorbildhaft war wie sein Leben. Oft wurde in dieser Darstellungslinie auch betont, dass Gilewski derjenige sei, der »wahrhaft« christlich gelebt habe, womit der Gegenseite die Legitimität abgesprochen werden sollte, über eben dieses wahrhaft Christliche zu entscheiden. In der Diskussion standen sich zwei Positionen gegenüber, die doch um die Definition der selben Begriffe rangen: Was ist wahrhaft christlich? Was ist tugendhaft? Was ist die Aufgabe der Wissenschaft? Die Trauerfeier für Gilewski ist mehrfach in den Quellen und später in der Historiographie als erste konfessionslose Trauerfeier in Krakau beschrieben worden, was bedingt richtig ist.  Denn die Vermutung liegt nahe, dass Geistliche schon früher einem Verstorbenen die letzten Dienste verweigert haben. Auch diese Menschen müssen irgendwie bestattet worden sein  – ohne geistlichen Beistand, ergo »konfessionslos«. Neu an dem Fall Gilewski ist, dass die Verweigerung des katholischen Beistandes nicht dazu führte, dass die Trauerfeier in Abgeschiedenheit, Stille und Scham vollzogen wurde. Stattdessen wurde ohne die Teilnahme der Geistlichkeit ein öffentlicher Trauerkondukt für Gilewski im Herzen der Stadt ausgerichtet. Die religiösen Symbole und Rituale, die die Geistlichkeit verweigerte, verwendeten die Veranstalter der Trauerfeierlichkeit dennoch.

2.5.7 Der Suizid von Michał Bałucki und die zweite priesterlose Trauerfeier Der Tod von Karol Gilewski hatte vor allem deswegen Aufsehen erregt, weil er zeitlich nahe zu dem Eintreten des Mediziners für den Münchner Theologen Ignaz von Döllinger erfolgt war. Die Koinzidenz ließ zum einen im plötzlichen Tod eine »Strafe Gottes« vermuten, zum anderen sahen Krakaus Geistliche in Gilewskis Sympathiebekundung für den exkommunizierten Döllinger einen Akt der Apostasie, weshalb ihm ein kirchliches Begräbnis zu verweigern war. Da jedoch Gilewski als Mediziner, Professor und Philanthrop ein hohes An­sehen in der Gesellschaft genossen hatte, wurde ihm nichtsdestotrotz eine große Trauerfeier bereitet. Ein Tod, der aus kirchlicher Sicht von jeher inakzeptabel war, war der Selbstmord. Bekannt sind die Schindkuhlen außerhalb der Stadt, in denen diejenigen, die sich selbst das Leben genommen hatten, beigesetzt worden waren. Auch mit der sanitärpolitisch begründeten Neuanlage von Friedhöfen blieb der Wunsch bestehen, Selbstmörder in einem separaten Quartier auf dem Friedhof beizusetzen. 1873 erließ das Ministerium des Inneren eine Norm, wonach die Bei-

268  Der nicht alltägliche Tod setzung von Selbstmördern auf Friedhöfen als ausschließliche Norm zu gelten habe. Ob die Kirche ihnen ein kirchliches Begräbnis gewährte, blieb ihr frei gestellt.544 In der kirchlichen Lehre und Praxis hatte sich unterdessen die Haltung durchgesetzt, anhand der Motive des Suizids zu entscheiden. War zu vermuten, dass jemand unzurechnungsfähig war, als er die Tat verübte, so war ihm ein kirchliches Begräbnis zu gewähren.545 Über die Unzurechnungsfähigkeit sollte gegebenfalls eine Obduktion Aufschluss geben.546 Hatte jemand wegen »mangelnden Glaubens« den Freitod gesucht, so war er in ungeweihter Erde zu bestatten.547 Im Zweifallsfall sollte ein christliches Begräbnis gewährt werden, allerdings in einem einfachen Ritus.548 Wem ein katholisches Begräbnis verweigert wurde, dem wurden ein Begräbnis auf einem katholischen Friedhof, die kirchliche Begräbnisfeier und das Glockengeläut versagt. Dort, wo die Kirche nicht mehr über den Friedhof verfügte, wurden dem Verstorbenen die kirchliche Begräbnisfeier und der priesterliche Beistand verwehrt.549 Im Zweifelsfall waren die Exequien, also die kirchliche Trauerfeier, in einem einfachen Ritus zu gewähren.550 In Krakau sollte 30 Jahre nach der Trauerfeier für Gilewski ein Suizid Anlass für die zweite große Totenfeier ohne geistlichen Beistand sein, als ein Exponent des Krakauer intellektuellen Lebens sich selbst tötete und der Krakauer Erzbischof trotz öffentlichen Drucks das kirchliche Begräbnis verweigerte. Im Oktober 1901 erschoss sich bei den Błoniawiesen der Krakauer Schriftsteller Michał Bałucki. Damit beendete einer der führenden Vertreter der liberalen Krakauer Intelligenz sein Leben, das er der Schriftstellerei und der literarischen Porträtierung der Krakauer Gesellschaft gewidmet hatte. Bałucki hatte dereinst mit seinen Komödien große Erfolge auf Krakaus Theaterbühnen gefeiert, auch seine Romane waren beliebt gewesen. Im Jahr 1884 wurde seine nunmehr 25 Jahre währende Tätigkeit als Schriftsteller in Krakau mit einem Jubiläum begangen.551 Damals befand sich Bałucki auf dem Höhepunkt seines Schaffens, in späteren Jahren gelang es ihm jedoch nicht mehr, an seine Erfolge von einst anzuknüpfen. Seine Komödien missfielen den Kritikern zunehmend, deren Humor nicht mehr den Geschmack der Zeit zu treffen schien. Zu Bałuckis 544 Erlass des k.k. Ministeriums des Innern vom 24.8.1873. AKM, Ex consistorio generali diocesis cracoviensis IX (1873) 34. 545 Krukowski: Teologia Pasterka 621. 546 Erlass der k.k. galizischen Statthalterei Lemberg vom 30.10.1868 an alle Bezirkshauptmannschaften. AKM, Notificationes e Curia Principis Episcopi Cracoviensis VIII (1871 [sic]) 29 f. 547 Krukowski: Teologia Pasterka 621. 548 Hollweck: Die kirchlichen Strafgesetze 152 f. 549 Krukowski: Teologia Pasterka 379. 550 Hollweck: Die kirchlichen Strafgesetze 152. 551 Budrewicz, Tadeusz: Dwa jubileusze i pogrzeb. In: Ders. (Hg.): Świat Michała Bału­ ckiego. Kraków 2002, 507–533.

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Unglück gesellten sich zu den beruflichen Misserfolgen gesundheitliche Schwierigkeiten: Der Schriftsteller litt an einer Nervenkrankheit. Einer seiner Zeitgenossen, der Publizist Kazimierz Bartoszewicz, gab an, dass Bałucki in den Lebensjahren, die sich als seine letzten herausstellen sollten, einem physischen und psychischen Verfall anheim gegeben gewesen sei.552 Als Bałucki sich mit einer Schusswaffe an einem Herbstabend das Leben nahm, war die vulgärpsychologische Deutung schnell bei der Hand: Die negativen Kritiken einerseits und seine abnehmende Schaffenskraft andererseits hätten den Schriftsteller keinen Sinn mehr in seinem Leben sehen lassen.553 Der Tod des Schriftstellers brachte ihm posthum viele Sympathiebekundungen und wohlgesonnene Nekrologe ein. Bałucki war in Krakau geboren worden, hatte hier gelebt und hatte die Einwohner der Stadt in seinen Werken porträtiert; dass er nun auch in Krakau beigesetzt werden sollte, stand außer Frage. Zur Disposition stand allerdings das christliche Begräbnis, welches nach gängiger katholischer Lehre einem Selbstmörder zu verweigern war. Zwar kannte die gängige Lehre auch Ausnahmen, nicht aber Jan Puzyna, der seit 1895 Bischof von Krakau war. Puzyna, der ein halbes Jahr zuvor zudem in den Kardinalsstand erhoben worden war, übte eine strenge Auslegung des Kirchenrechts aus und wollte einer christlichen Beisetzung nicht zustimmen, da er davon ausging, dass Bałucki den Selbstmord wohlüberlegt und bei vollem Bewusstsein begangen hatte.554 Die städtische Öffentlichkeit, die ein großes Begräbnis für den Schriftsteller plante und mit der Teilnahme des Klerus rechnete,555 war negativ von der Entscheidung des Kardinals überrascht.556 Dass trotz Suizids in bestimmten Fällen eine kirchliche Beisetzung möglich war, hatte eine Beisetzung in Lemberg einige Zeit zuvor gezeigt, wo der Schriftsteller Mikołaj Rodoc-Biernacki trotz Suizids kirchlich bestattet worden war.557 So wurde auch in Krakau versucht, mit Hilfe ärztlicher Gutachten Puzyna davon zu überzeugen, dass Bałucki nicht aus freiem Antrieb, sondern  – wie es in der zeitgenössischen Sprache hieß  – im »Wahnsinn« gehandelt habe und insofern für seine Tat nicht die volle Ver 552 Bartoszewicz, Kazimierz: Michał Bałucki. Kraków 1902, hier 42. 553 Eine Deutung des Suizids Bałuckis aus literaturwissenschaftlicher Sicht findet sich bei Malik, Jakub A.: Ostatnia ze sztuczek, czyli jak zakończyć życie…. Michała Bałuckiego młodopolskie samobójstwo, próba diagnozy. In: Budrewicz (Hg.): Świat Michała Bałuckiego 401–416. Der Aufsatz sieht im Suizid die letzte Geste eines Künstlers. Nicht nur persönliche Verluste und Schwierigkeiten haben Bałucki zu diesem Schritt geführt, sondern auch die Tat­ sache, dass er mit seiner Kunst und seinem Bekenntnis zum Positivismus nicht mehr der Zeit entsprochen habe. Anders sein Suizid, der zu dem dekadenten Lebensgefühl der sich anbahnenden neuen Kunstepoche gepasst habe. 554 Komar, Edward: Kardynał Puzyna. Kraków 1912, hier 101. 555 Badeni, Stefan: Wczoraj i przedwczoraj. Wspomnienia i szkice. London 1963, hier 15. 556 Komar: Kardynał Puzyna 101 f. 557 Zgon Michała Bałuckiego. In: Nowa Reforma Nr. 242 vom 20.10.1901, 3–4.

270  Der nicht alltägliche Tod antwortung trage.558 Als die ärztlichen Gutachten Puzyna nicht überzeugen konnten, versuchte man es mit einem anderen Autoritätsargument: Der konservative Politiker und Landesmarschall Graf Andrzej Kazimierz Potocki begab sich zu Puzyna und führte mit ihm eine lange Unterredung, an deren Ende der Bischof seine ablehnende Haltung jedoch nicht aufgab. Puzyna blieb dabei, eine katholische Beisetzung ebenso wie das Feiern von Trauermessen für Bałucki streng zu untersagen, und berief sich dabei auf den Gehorsam, den er der kirchlichen Lehre schulde: Er folge nicht seiner persönlichen Meinung, sondern dem Recht der Kirche – und er würde und könnte nicht anders handeln, wenn sein eigener Bruder Suizid verübt hätte.559 In der Folge wurde die Beisetzung Bałuckis in Krakau zu einer weiteren großen Trauerfeier ohne geistlichen Beistand. Die Organisation übernahm der »Künstlerisch-literarische Kreis« (Koło Artystyczno-Literackie). Die Abwesenheit des Klerus, die als postmortale Strafe gedacht war, mussten die Organisatoren hinnehmen. Gerade deswegen sollte die Feier aber ansonsten eine in jeder Hinsicht würdige Veranstaltung werden. Anwesend waren offizielle Vertreter wie der Krakauer Stadtpräsident Józef Friedlein, der Krakauer Stadtrat, der Magistrat, Mitglieder des Kreisrates (rada powiatowa) und Abgeordnete des galizischen Landtages, die Feuerwehr und die Turnervereinigung Sokoł, deren Krakauer Dependance im Zusammenhang mit der Jubiläumsfeier für Bałucki gegründet worden war.560 Zu einer würdigen Feier gehörte auch, dass die Laternen auf dem Weg von der Wohnung des Verstorbenen in der ulica Floriańska mit Trauerflor verhüllt und beleuchtet wurden. An drei Stationen des Trauerzugs sprachen Trauerredner – vor dem Wohnhaus, wo der Leichnam aufgebahrt worden war, vor dem Stadttheater, auf dessen Bühne so viele von Bałuckis Stücken das Publikum erheitert und zuletzt enttäuscht hatten, und schließlich zur Grablegung auf dem Friedhof. Anwesend waren außerdem ein Chor und eine Kapelle, die religiöse Lieder intonierten.561 Ein Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens trug dem Trauerzug ein Kreuz voran, worin sich zeigt, dass die Aufgaben dieser recht jungen Unternehmen nicht auf Organisatorisches beschränkt blieben, sondern sie auch zeremonielle Funktionen übernahmen. Dass zu der Beisetzung viele Trauergäste und Schaulustige gekommen waren, überrascht nicht, immerhin war Bałucki ein populärer Schriftsteller gewesen, dessen Romane viele gelesen und dessen Stücke viele auf der Bühne gesehen hatten. Und nach seinem vielfach als tragisch empfundenen Tod wollte so mancher 558 Ebd. 559 Komar: Kardynał Puzyna 102 f. 560 Budrewicz: Dwa jubileusze i pogrzeb 517. 561 W. J.: Pogrzeb Michała Bałuckiego. In: Echo Muzyczne, Teatralne i Artystyczne 43 (1901) 456–458.

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Schaulustige sicher die allerletzte Inszenierung im Leben und Sterben Bałuckis sehen. In den Zeitungen war von mehreren Zehntausend Besuchern die Rede. Die Trauerrede am Grab hielt Kazimierz Bartoszewicz.562 Er erinnerte an Bałuckis Liebe zu seiner Heimatstadt und die seiner Ansicht nach treffende Porträtierung der Stadt und ihrer Bewohner in Bałuckis Werken. Seine Ansprache schloss Bartoszewicz mit der Zuversicht, dass Bałucki vom Himmel ein mildes Urteil erwarten könne, denn die göttliche Barmherzigkeit kenne nicht nur die Taten eines Menschen, sondern auch deren Ursachen,563 was sich als Anspielung auf Puzyna verstehen lässt, der die ärztlichen Gutachten über den Suizid nicht hatte gelten lassen wollen. Gerade weil sich zwischen den unterschiedlichen Lagern ein Konsens herausgebildet hatte, der in einer würdigen Beisetzung für Bałucki eine Verpflichtung der Stadt Krakau und der polnischen Öffentlichtkeit sah, und vermutlich auch viele Priester in Krakau bereit gewesen wären, ein Requiem für Bałucki zu feiern, fiel das Nein des Kardinals umso stärker ins Gewicht. Die sozialistische Zeitung Naprzód erwartete vor diesem Hintergrund, dass die Begräbnisfeier »einen Massenprotest der Krakauer Öffentlichkeit gegen den Terrorismus der klerikalen Rückständigkeit« darstellen werde564 und beschrieb später die Beisetzungsfeiern als einen Protest gegen die Unerbittlichkeit des Klerus, namentlich gegen Kardinal Puzyna, vor dessen Haus am Abend der Beerdigung Polizeipatrouillen gewacht haben sollen.565 Während die linken und demokratischen Blätter die Abwesenheit der Geistlichkeit zu einem Thema machten, berichtete der konservative Czas lediglich kurz über den Ablauf der Beisetzung unter der Rubrik »Chronik«.566 Die Nowa Reforma beschäftigte sich ausführlich mit der Beisetzung und betonte in ihrer Darstellung mehrfach den »prächtigen« Charakter der Beisetzung sowie die große Zahl der Teilnehmenden.567 Der Abwesenheit des Klerus widmete sie einen eigenen Artikel auf ihrer Titelseite (»Ohne Geistlichkeit«) und entfaltete darin folgende Argumentation: Sie seien als Polen aus Überzeugung und nicht aus Zufall Katholiken und verteidigten diesen Glauben auch fest. Daraus nun folgerten sie einen moralischen Anspruch gegenüber der Geistlichkeit, nämlich »dass sie immer dann mit uns steht, wenn wir uns als Polen und Katholiken fühlen und als solche nach außen auftreten.«568 Genau das tat Puzyna nicht, er verhielt sich im Gegenteil in solchen Fragen weitaus apodiktischer als sein Vor 562 Bartoszewicz: Michał Bałucki 87–92. 563 Ebd. 92. 564 Kardynał Puzyna wobec śmierci Bałuckiego. In: Naprzód Nr. 287 vom 19.10.1901, 5. 565 Pogrzeb Bałuckiego. In: Naprzód Nr. 289 vom 21.10.1901, 1. Die Ausgabe wurde offenbar zensiert. 566 Kronika. In: Czas Nr. 242 vom 21.10.1901. 567 Pogrzeb Michała Bałuckiego. In: Nowa Reforma Nr. 243 vom 22.10.1901, 1–2. 568 Bez duchowieństwa. In: Nowa Reforma Nr. 243 vom 22.10.1901, 1.

272  Der nicht alltägliche Tod gänger, der sich mit den großen patriotischen Beisetzungen und anderen nationalen Feierlichkeiten in Krakau offenbar arrangiert hatte, wenn er auch manchmal Zurückhaltung gegenüber dem Geschehen geübt hatte. Im Vergleich mit Bischöfen anderer Diözesen ließ Puzyna eine größere Strenge walten: Denn in anderen Städten wie Łódź und Warschau, die nicht der Jurisdiktion des Krakauer Erzbischofs unterlagen, wurden Gottesdienste für Bałucki gefeiert.569 Puzyna hatte mit seiner strikten Weigerung einen stillschweigenden Konsens aufgebrochen, indem er einem bekannten Vertreter des öffentlichen Lebens die Beisetzung verweigert hatte. Die Unnachgiebigkeit fiel umso mehr ins Gewicht, als tatsächlich mehrere Hinweise zu der Annahme führen mussten, dass Bałucki sich in Folge einer psychischen Erkrankung erschossen hatte.

2.5.8 Zwischenfazit Auch wenn die beiden priesterlosen Trauerfeiern 1871 und 1901 drei Jahrzehnte auseinander lagen, so einten sie doch gleich mehrere Aspekte. Beide Verstorbene waren in der Krakauer Gesellschaft angesehene Männer, von denen der eine ein Medizinprofessor der Jagiellonenuniversität, der andere ein bekannter Schriftsteller und Publizist war. Ihnen beiden versagte der Bischof aufgrund einer rigorosen Auslegung der kirchenrechtlichen Vorschriften das kirchliche Begräbnis, obwohl in Zweifelsfällen ein solches zu gewähren war. Ein weltliches Begräbnis hatten sich weder Gilewski noch Bałucki noch ihre Angehörigen gewünscht. Anders ausgedrückt: Wären Gałecki und vor allem Puzyna nachgiebiger gewesen, hätten wir in der Zeit der autonomen Ära keine große priesterlose Beisetzung zu verzeichnen gehabt, was der Beschreibung von Krakau als »polnischem Rom« gerecht geworden wäre. Zugleich aber illustrieren die beiden Beispiele eine Ambivalenz: Zwar wurde das Fehlen der Geistlichkeit in beiden Fällen als ein Ärgernis empfunden, zugleich zeigte sich die Krakauer Öffentlichkeit – verstanden als ihre politischen Vertreter, Vereinigungen und kulturellen Zusammenschlüsse  – als flexibel genug, ein Trauerritual ohne das Beisein des Klerus abhalten zu können. Die in beiden Fällen registrierte hohe Teilnehmerzahl machte zudem deutlich, dass das Veto des Krakauer Oberhirten keine abschreckende Wirkung besaß, sondern im Gegenteil mobilisierenden Charakter hatte. Der Protest richtete sich dabei weniger grundsätzlich gegen die katholische Kirche als solche, sondern gegen ein bestimmtes Gebaren des hohen Klerus. Wie auch bei den großen nationalen Beisetzungen standen sich weniger Antiklerikale und Klerikale gegenüber als vielmehr unterschiedliche Figurationen des Katholischen.

569 Budrewicz: Dwa jubileusze i pogrzeb 527.

3. Fazit und Ausblick Tod in Krakau  – das Thema der vorliegenden Studie erwies sich als komplex strukturiertes Handlungsfeld, auf dem im 19.  Jahrhundert sehr unterschiedliche Akteure um religiös-weltanschauliche und politisch-gesellschaftliche Deutungshoheiten rangen und auf dem eine Vielzahl von Werten und Interessen sowie diverse Aspekte der religions-, kirchen- und nationalpolitischen Agenda in Polen verhandelt wurden. Am Anfang der Studie ist das Bestattungs- und Friedhofswesen als ein Bereich der Konkurrenz zwischen religiösen und säkularen Ansprüchen und als ein besonders sensibles Feld umfassender Wandlungsprozesse skizziert worden. Da die Modernisierung des Bestattungswesens und der säkulare Anspruch auf seine Ausgestaltung verschiedene Religionsgemeinschaften gleichermaßen betrafen, hatte es sich die Arbeit zum Ziel gesetzt, mit einer mikrohistorisch angelegten shared history am Beispiel Krakaus zu untersuchen, wie Katholiken und Juden auf diese modernitätsspezifische Veränderung reagiert beziehungsweise diese geprägt haben. Den Untersuchungszeitraum bildete dabei das »lange« 19. Jahrhundert, insbesondere die Jahre 1866 bis 1918, in denen Krakau die Selbstverwaltung oblag. Für die Religionsgemeinschaften stellte die Modernisierung des Bestattungswesens eine zweifache Krise dar: eine ökonomische Krise, weil mit der Kommunalisierung des Friedhofswesens wichtige Einnahmequellen wegfielen und eine symbolischrituelle Krise. Das bedeutete, dass die Regeln, die für die Verwaltung des Friedhofs aufgestellt wurden, nun auf weltlichen Ämtern entstanden und Vorrang hatten vor Regelungen, die aus der Pastoraltheologie und dem Kirchenrecht beziehungsweise der Halacha und der rabbinischen Tradition stammten. Eine weitere wichtige Veränderung in der Sepulkralkultur stellte der patriotische Totenkult dar: Wie auch andernorts in Europa wurde in Krakau mittels aufwendig inszenierter Funeralfeiern Männern aus dem politischen, vor allem aber aus dem kulturellen Leben gedacht. Die Feierlichkeiten stärkten zum einen Krakaus Selbstbewusstsein als »kulturelle Hauptstadt« Polens, zum anderen stellten sie ein wichtiges Mittel des polnischen nation building dar, indem durch Festivitäten situativ eine emotional aufgeladene nationale Gemeinschaft geformt und propagiert wurde. Einen patriotischen Totenkult zelebrierten auch andere Länder: In Paris wurde mit dem Panthéon anlässlich der Beisetzung von Victor Hugo im Jahr 1888 eine neue nationale Nekropole begründet. Im selben Jahr sollte die Beisetzung des Kaisers Wilhelms I. die nationale Einheit des Deutschen Reiches beschwören. Prag errichtete mit der Ruhmeshalle auf dem

274  Fazit und Ausblick Wenzelsplatz und dem Pantheon auf dem Vyšehrader Friedhof zwei Orte, die dem nationalen Totengedenken dienten.1 Die genannten Beispiele sollen daran erinnern, dass der patriotische Totenkult keine Krakauer oder polnische Besonderheit war. Vielmehr war er überall in Europa verbreitet. Eine spezielle Dynamik entfaltete er in polyethnischen Imperien, wo derartige Symbole und Praktiken angesichts des Fehlens einer eigenen staatlichen Souveränität besonders gefragt waren. Einerseits war der Totenkult damit seinem Wesen nach politisch, andererseits rekurrierte er auf ein religiöses Ritual. In Frankreich wurde mit der Säkularisierung der Kirche Sainte-Geneviève eine bewusste Abkehr vom katholischen Ritual vollzogen. Andernorts kam es zu einer Symbiose von nationaler und religiöser Sprache. Das gilt in besonderem Maße für das Beispiel Krakau, das zudem die Besonderheit auszeichnet, dass seine Nekropolen unter der Aufsicht der kirchlichen Hierarchie waren. Sowohl für eine Grablegung in der Wawelkathedrale als auch für die 1881 eingerichtete Krypta der Verdienten, die im Untergeschoss der Kirche St. Michael und St. Stanislaus errichtet worden war, war das Einverständnis des Klerus vonnöten. Der katholischen Kirche kam so in Krakau und für den polnischen patriotischen Totenkult eine bedeutsame Rolle zu, während sie im allgemeinen Bestattungswesen Kompetenzverluste zu verzeichnen hatte. Die Friedhofsreformen, wie sie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert formuliert worden waren, bedeuteten eine große Zäsur im Umgang mit Tod und Sterben: Nicht nur, dass sie die bisher selbstverständliche Koexistenz von Lebenden und Toten innerhalb der Stadtmauern aufgrund sanitärpolitischer Vorsichtsmaßnahmen beendeten, sie sahen im Falle des christlichen Friedhofs gleichfalls vor, dass der Sarg ohne Priester zum Grab geleitet wurde. Das Grab wiederum hatte zugunsten der Gleichförmigkeit schmucklos zu bleiben. Für liturgische und rituelle Handlungen sollte auf dem Friedhof nach dem Willen der Reformer kein Platz mehr sein. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die katholische Kirche keinen Vorteil davon, dass die Beamten und Bürokraten, die das Bestattungswesen regelten, zumeist der katholischen Konfession angehörten. Eine Wende brachte erst das zwischen der österreichischen Krone und dem Heiligen Stuhl geschlossene Konkordat im Jahr 1855, nachdem Krakau wieder Teil der Habsburgermonarchie geworden war. Nun drehte sich die Situation um. Was zuvor von der Obrigkeit verboten worden war, wurde nun von ihr unterstützt: Die Stadt erteilte die Erlaubnis, eine Kapelle auf dem Friedhof zu errichten sowie dort einen Priester zu beschäftigen. Die Verantwortung für die Finanzierung des priesterlichen Dienstes oblag der Stadt. Sie hatte zudem über die Einhaltung des Stiftungsvertrags zu wachen, welcher vorsah, dass künftig kein Leichnam mehr ohne priesterlichen Beistand beigesetzt werde. Grund für

1 Siehe Kapitel 2.2.

Fazit und Ausblick 275

den Wandel dürften zum einen die veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen gewesen sein, zum anderen die Erkenntnis, dass die zur Jahrhundertwende vollzogene Reform in ihrem Wesen zu radikal gewesen war und deshalb keinen Anklang in der Bevölkerung gefunden hatte. Die Anlage neuer Begräbnisplätze aus reinen Nützlichkeitserwägungen wurde aus katholischer Sicht zwar akzeptiert, konnte sich aber aus ihrer Sicht nicht auf die Funktionalität beschränken: So verlangten Geistliche in ­Krakau nach einem exklusiv für Katholiken angelegten Platz, auf welchem pastoraltheologische und kirchenrechtliche Vorschriften ihre volle Gültigkeit haben sollten. Zur Jahrhundertmitte wurde der Krakauer Friedhofsraum zudem mit dem Bau der katholischen Kapelle als katholisch markiert, was die religiösen Mehrheitsverhältnisse der Stadt widerspiegelte. Das Amt des Friedhofsgeistlichen ist außerdem aufschlussreich für den katholischen Umgang mit den Verstorbenen: Ausgehend von der Vorstellung, dass Gnaden durch die Sakramentenspendung vermittelt werden, kam dem Messstipendium eine große Bedeutung zu. Wie sich die Wertigkeiten zueinander verhielten, illustriert das Beispiel des Krakauer Friedhofsgeistlichen, der angesichts ihn überfordernder Aufgaben den Antrag stellte, von der Pflicht, die Leichen mittelloser Verstorbener mit einem einfachen Ritus zum Grab zu geleiten, entbunden zu werden. Dabei wird sicherlich eine Rolle gespielt haben, dass das Gebet für die Verstorbe­ nen dank der Messstipendien vergütet war, während das letzte Geleit mittelloser Menschen zu einem Gotteslohn geschah. Offen blieb damit jedoch, wer sich fortan um das letzte Geleit derjenigen kümmern würde, die mittellos gestorben waren. Allgemein fürchteten Mittellose in Europa ein ehrloses Begräbnis oder aber als Anschauungsmaterial in der Anatomie zu enden.2 So war es auch in Krakau üblich, dass die Universität Leichen aus dem Armenspital erhielt.3 Einen Versuch, Abhilfe zu schaffen, stellte der 1894 von einem Priester gegründete Verein »Katholische Beerdigungskasse« dar, der von Bedürftigen und Wohltätern getragen wurde.4 Der Verein erhielt zusätzlich eine Konzession als zugelassenes Bestattungsunternehmen. Das Projekt scheiterte jedoch bald, da die katholische Beerdigungskasse sich weder dem Konkurrenzgebaren der professionellen Bestattungsunternehmen zu erwehren wusste noch einzelnen Mitgliedern, die sich auf Kosten der Allgemeinheit bereicherten. Die katholischen Gemeinden versuchten, das, was sie als rituell-symbolisches Monopol verstanden, gegen kommerzielle Bestattungs 2 Zu den Armenbegräbnissen in England siehe Hurren, Elizabeth/King, Steve: »Begging for a Burial«. Form, Function and Conflict in Nineteenth-Century Pauper Burial. In: Social History 30/3 (2005) 321–341. 3 Siehe Kapitel 1.4.3. 4 Siehe Kapitel 1.3.4.

276  Fazit und Ausblick unternehmen zu verteidigen und fanden hierin im Staat eine Stütze. So verordnete das österreichische Handelsministerium gemeinsam mit dem Minister des Innern und dem Minister für Kultus und Unterricht, dass die Bestattungsunternehmen mit ihren Tätigkeiten keine rituellen Funktionen der Kirchen und Religionsgemeinschaften berühren durften.5 Die Bestattungsunternehmen reüssierten hingegen rasch. Zwar finden sich immer wieder Stimmen, die Vorbehalte gegenüber dem Tod als Geschäftsmodell äußern, doch überwog der praktische Nutzen der Unternehmen derartige Bedenken. Damit zeigt das Beispiel, dass Veränderungen im Bestattungswesen dort akzeptiert wurden, wo sie neuen lebensweltlichen Umständen entsprachen. Zum einen übernahmen sie für die Hinterbliebenen die Organisation der durch die verschiedenen Vorschriften immer aufwendiger gewordenen Beisetzungen, zum anderen unterstützten sie mit ihrem Angebotskatalog das zeitgenössische Bedürfnis nach Repräsentation. Zudem erwiesen sie sich als geschickt darin, einen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen der Hinterbliebenen und den sanitärpolitischen Forderungen der Behörden zu finden. Die Stadt ließ die Bestattungsunternehmen zunächst unter der Auflage sanitärer Vorschriften gewähren, plante aber bald aus zwei Gründen ihre Kommunalisierung. Der erste war finanzieller Natur: Ein eigenes Bestattungsunternehmen würde helfen, Kosten zu minimieren, die für die Beisetzung mittelloser Verstorbener für die Stadt anfielen, und zugleich neue Einnahmen für die Kommune generieren. Zweitens würde ein städtisches Bestattungsunternehmen, so das Kalkül, sorgfältiger auf die Einhaltung von Hygienemaßnahmen achten. Ein solches Unterfangen bereitete die Stadt mehrfach vor, konnte es aber im Untersuchungszeitraum und auch danach nicht verwirklichen. Ähnlich verhielt es sich beispielsweise in Budapest, wo ebenfalls ausschließlich privatwirtschaftliche Bestattungsunternehmen tätig waren. Wien und Lemberg hingegen war es gelungen, im Nachhinein privatwirtschaftliche Bestattungsunternehmen zu kommunalisieren.6 In der katholischen Presse wurde zwar die angebliche Ungerechtigkeit beklagt, dass Juden ihre eigenen Friedhöfe behalten dürften, allerdings trafen die Verfügungen zum Umgang mit dem Leichnam die jüdische Gemeinde in­ sofern härter, als sie schwerer mit den jüdischen Ritualvorschriften und der rabbinischen Tradition zu vereinbaren waren. Doch der Friedhof wurde nicht nur zum Schauplatz von Aushandlungsprozessen zwischen Juden und Nichtjuden, sondern auch zu einer Arena, in der die unterschiedlichen Ansprüche zur Ausgestaltung der Gemeinde ausgetragen wurden, namentlich der Konflikt zwischen orthodoxen, den rabbinischen Traditionen verpflichteten Kräften und der liberalen Partei, die sich selbst dem religiösen, kulturellen und gesellschaft

5 Ebd. 6 Siehe Kapitel 1.3.5.

Fazit und Ausblick 277

lichen Fortschritt verschrieben hatte. Dass gerade der Friedhof so umstritten war, lag vor allem darin begründet, dass hier keine Ausweichmöglichkeiten bestanden.7 Liberale Juden konnten zwar seit dem Jahr 1862 ihre eigene Synagoge, den so genannten Tempel, besuchen, doch waren sie darauf angewiesen, ihre Toten auf dem gemeinsamen Friedhof der Gemeinde beizusetzen, auf dem – so ihre Kritik – die Begräbnisvereinigung ein strenges und ungerechtes Regiment führte.8 Die Auseinandersetzungen darüber prägten besonders die 1860er und 1870er Jahre, in denen der Versuch unternommen wurde, der orthodox geprägten Begräbnisvereinigung die Aufsicht über den Friedhof zu entziehen. Nachdem der Konflikt behoben war, veränderten sich die Konstellationen: Meistens verteidigte nun die jüdische Gemeinde gegenüber den Stadtbehörden ihre Traditionen, wobei die liberal geprägten Gemeinderepräsentanten wussten, dass manche Neuerungen von der orthodoxen Mehrheit nicht akzeptiert werden würden. Zugleich wäre jedoch die Annahme verfehlt, das jüdische Bestattungswesen changierte nur zwischen den Ansprüchen der jüdischen und der nicht jüdischen Umwelt. Die architektonischen Veränderungen auf dem jüdischen Friedhof korrespondierten mit allgemeinen Tendenzen in der Sepulkralkultur, bei denen zum einen die familiäre Verbundenheit über den Tod hinaus stärker betont wurde, zum anderen antike respektive antikisierende Stile adaptiert wurden. Einen Großteil der Forderungen, die die Stadtbehörden an die Verwaltung des jüdischen Friedhofs richteten, verlangten sie auch auf dem allgemeinen Friedhof. Dazu gehörten die von einem Friedhofsaufseher geführte Aufsicht, die Errichtung einer Begräbnishalle und die Einhaltung von sanitären Vorschriften. Teilweise kam es zu Konvergenzen zwischen den Religionsgemeinschaften und den Stadtbehörden. Viele der ursprünglichen Intentionen der Friedhofsreform wurden bald aufgegeben, namentlich die soziale Egalisierung im Tod wie die vollkommene Zurückdrängung der Religionsgemeinschaften. Die Stadt trat zunächst gegen die Religionsgemeinschaften auf, suchte dann aber den Weg der Kooperation und musste dabei selbst zum religiösen Experten werden. Eine Wende setzte mit der Jahrhundertmitte durch äußere Einflüsse und die Überzeugung ein, dass der Tod einer tröstenden Formsprache bedarf, welche unter anderem aus dem religiösen Traditionsgut übernommen wurde. Die Haltung des Krakauer Stadtarztes mag hier als paradigmatisch gelten, der Anfang des 20. Jahrhunderts bei allen praktischen Überlegungen darauf bestand, dass das Begräbnishaus das äußere Antlitz einer Kapelle haben sollte. Damit waren Ende des 19. Jahrhunderts Krankheitsprävention, Hygienepolitik und eine vermeintlich Trost spendende Ästhetisierung die Kernbegriffe städtischer Intervention.

7 Guesnet: Polnische Juden 303 f. 8 Siehe Kapitel 1.4.

278  Fazit und Ausblick Wie anderswo in Europa wurde auch der allgemeine Friedhof in Krakau zunehmend wie ein großer Park gestaltet. Der dortige Besuch sollte dem Gedenken und der Ruhe gelten, zugleich sollte der Schrecken des Ortes durch den gartenähnlichen Charakter gemildert werden. Teilweise erwies sich dabei die Lage des Friedhofs außerhalb der Stadttore als nachteilig: Auf dem Land gelegen wurde die weite Fläche von einigen Bauern als Nutzfläche gesehen, auf welcher sie ihr Vieh weiden lassen konnten, ein Verhalten, das der Stadtrat durch mehrere Androhungen sowie die vom Friedhofswärter und Totengräber geführte Aufsicht zu unterbinden suchte. Auf dem jüdischen Friedhof sollte der Aufseher ebenfalls für ein ästhetisches Aussehen des Friedhofs sorgen, vor allem aber dafür, dass die sanitärpolitischen Vorschriften der Stadt eingehalten wurden. Das stellte den Aufseher, der selbst zur jüdischen Gemeinde gehörte, vor ein Dilemma, denn in der jüdischen Gemeinde blieb es weiterhin üblich, einen verstorbenen Juden schnellstmöglich und oft auch ohne Sarg beizusetzen. Zwar musste die jüdische Gemeinde auf Befehl der Stadt ein Begräbnishaus errichten, welches hygienischen Bestimmungen zu dienen hatte, doch konnte die Stadt im gesamten Untersuchungszeitraum die schnelle Beisetzung nicht unterbinden: Selbst namhafte Krakauer Juden, deren Tod und Begräbnis Thema der Zeitungen waren, wurden am Tag nach ihrem Ableben beigesetzt. Hier zeigt sich die Beharrungskraft religiöser Gebräuche gegenüber einer modernitätsspezifischen Erneuerung. So hielt sich beispielsweise, wie wir gesehen haben, in der katholischen Kirche das Ideal der Kirchenbeisetzung, welche seit den Josephinischen Reformen eigentlich verboten war, aber dennoch vereinzelt im 19.  Jahrhundert weitergepflegt wurde. Schließlich verhießen die Beisetzungen sowohl soziales Prestige als auch einen positiven Einfluss auf das persönliche Seelenheil. Unter anderem um sich dieses Privileg zu sichern, finanzierte eine Krakauer Kaufmannsfamilie den Bau einer Kapelle auf dem Krakauer Friedhof. Gerade die Kirchenbeisetzung stand im Mittelpunkt des patriotischen Totenkultes in Krakau, der, obgleich eine modernitätsspezifische Innovation, behauptete, an alte Traditionen anzuknüpfen: Männer, die sich in den Augen ihrer Zeitgenossen um die polnische Nation verdient gemacht hatten, wurden in zwei besonderen Nekropolen beigesetzt: im Wawel, der mehrere Jahrhunderte lang als Grablege der Könige und Königinnen Polens gedient hatte, und in der im Jahr 1880 eingeweihten Krypta der Verdienten in der Kirche St. Michael und St. Stanislaus, die als eine Ergänzung zum Wawel die Sarkophage derjenigen beherbergen sollte, die sich auf dem Feld der Kunst und Kultur ausgezeichnet hatten. Die erste feierliche Beisetzung war die zweite Bestattung des mittelalterlichen Königs Kazimierz III. im Jahr 1869. Mit Józef Ignacy Kraszewski wurde 1887 erstmals ein zeitgenössischer Verstorbener mit großen Ehren zu Grabe getragen. Die Hinwendung zur Gegenwart bedeutete zugleich eine implizite Engführung des Nationsbegriffes: Gestalten der Vergangenheit waren dabei eher

Fazit und Ausblick 279

für einen integralen Nationsbegriff geeignet, wie die Wiederbeisetzung des mittelalterlichen Königs Kazimierz »des Großen« zeigte, bei der sowohl Krakaus Juden als auch Krakaus kleine evangelische Gemeinde eine wichtige Akteursposition innehatten. Der Gottesdienst für den König in der Synagoge der liberalen Juden, dem so genannten Tempel, stellte gewissermaßen den Ausklang der Feierlichkeiten dar, die mit dem Trauerzug von der Marienkirche zum Wawel ihren Anfang genommen hatten. Einige Tage später feierte die evangelische Gemeinde in Krakau einen Gottesdienst für den wiederbestatteten König, der in der Presse wohlwollend rezipiert wurde. Wenngleich Nichtkatholiken weiterhin an den großen Funeralzeremonien teilnahmen, so kam ihnen doch keine bedeutsame Rolle mehr zu. Die Entwicklung entsprach nationalen Auffassungen zur Jahrhundertwende, dennoch war sie auf lokaler Ebene nicht zwingend, wo Vertreter der jüdischen Gemeinde weiterhin im politischen, universitären und kulturellen Leben präsent blieben. Es war eine ebenso selbstverständliche wie auf wenige Individuen beschränkte Präsenz. Insgesamt lässt sich Krakau im Sinne von John Sydenham Furnival als »plural society« beschreiben, in welcher zwar kulturelle Vielfalt vorhanden ist, zugleich aber »jede Gruppe ihre Religion, ihre eigene Sprache und Kultur, ihre eigenen Vorstellungen und Lebensgewohnheiten beibehält.«9 Eine wichtige Rolle kam hingegen der katholischen Geistlichkeit zu, denn zum einen oblag ihr die Letztentscheidung, wer in einer Krypta beigesetzt werden durfte, zum anderen war sie für das Ritual und damit die Solemnität der Veranstaltungen zuständig. Während der kirchliche Einfluss im allgemeinen Bestattungswesen zurückging, konnte er sich im politischen Totenkult behaupten. Den großen Einfluss, den der hohe Klerus auf den patriotischen Totenkult nehmen konnte, stellte sicherlich ein Krakauer Spezifikum dar. Allerdings war diese Behauptung für die Kirchenoberen mit einem Zwiespalt verbunden, wie es das Beispiel der Beisetzung von Józef Ignacy Kraszewski gezeigt hat. Aus Sicht der Krakauer Geistlichkeit sprachen gleich mehrere Gründe dagegen, ihm ein kirchliches Begräbnis der Superlative zu gewähren, da sowohl seine Positionen in Kirchenfragen als auch sein persönlicher Lebenswandel dem höheren Klerus wie der ultramontan geprägten Aristokratie in Krakau missfielen. Nichtsdestotrotz gewährte Krakaus Bischof Albin Dunajewski, beruhigt von der Nachricht, dass Kraszewski sich auf seinem Sterbebett mit dem Empfang der Sterbesakramente doch noch als »guter« Katholik erwiesen habe, die Beisetzung des Schriftstellers in der Krypta. Wie viel Wert auf eine kirchliche Sterbestunde gelegt wurde, zeigte dabei nicht nur das Beispiel Kraszewskis. Im Falle des ehe­ maligen Stadtpräsidenten Krakaus und galizischen Landesmarschalls Mikołaj Zyblikiewicz wurde in den Zeitungen der Bericht seines vorbildlichen christ 9 Zitiert nach Richers, Julia: Jüdisches Budapest. Kulturelle Topographien einer Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert. Köln u. a. 2004, hier 342.

280  Fazit und Ausblick lichen Ablebens kolportiert. Nach dem Tod des Krakauer Universalkünstlers Stanisław Wyspiański, dessen Leben die Syphillis bereits im Alter von 38 Jahren beendete, erschienen inner- und außerhalb Krakaus Berichte von Wyspiańskis letzten Stunden, denen zufolge er gebetet, gebeichtet, Vorsorge für seine Kinder getroffen und sich von seiner Umgebung verabschiedet hatte, kurz: einen idealtypischen Tod gestorben war. Dass eine solche Vorstellung weiterhin existierte und durch Beispiele bestätigt wurde, lässt eine nach wie vor stark normativ geprägte Haltung gegenüber Tod und Sterben erkennen, die mit der neuen instrumentell geprägten Sanitärpolitik koexistierte. Nicht nur Kraszewskis Sterbestunde sorgte für Kontroversen: Als der Mediziner und Universitätsprofessor Karol Gilewski, der im klerikal geprägten Krakau mit einer Sympathieadresse für den Kirchenhistoriker Ignaz Döllinger großes Aufsehen erregt hatte, kurze Zeit später starb, sah die ultramontane Fraktion darin eine auf dem Fuß folgende Strafe Gottes. Allerdings erlaubten die Begleitumstände seines plötzlichen Todes auch eine andere Lesart: Gilewski hatte sich nämlich als Arzt bei der Behandlung einer Patientin mit der tödlichen Krankheit infiziert, weswegen sein Tod gleichfalls als äußerste Konsequenz seines Berufsethos gesehen werden konnte. Die Geistlichkeit verweigerte die Teilnahme an den Funeralfeiern, doch der Leichnam Gilewskis wurde dennoch in Anwesenheit der wichtigsten städtischen Repräsentanten und großen Teilen der Bevölkerung aus Krakau verabschiedet. Hier zeigte sich schon im Jahr 1871 eine Flexibilität, säkulare Ersatzfunktionen für priesterliche Handlungen zu finden. Eine solche Flexibilität manifestierte sich auch rund 30 Jahre später, als der Schriftsteller Michał Bałucki seinem Leben selbst mit der Waffe ein Ende setzte. Während die meisten darin eine Handlung erblickten, die in Folge einer psychischen Störung geschah, sah Krakaus Bischof Jan Puzyna darin einen aus freiem Willen erfolgten Akt der Sünde, auf den kein kirchliches Begräbnis folgen konnte. Allen Protesten, auch von konservativen Politikern, zum Trotz beharrte Puzyna auf seiner Haltung. Obwohl es gelang, für Bałucki eine Trauer­ feier ohne die Anwesenheit von Geistlichen zu organisieren, wurde das Fernbleiben letzterer als Ärgernis empfunden. Der Gedanke, eine säkulare nationale Nekropole zu schaffen, wurde in der nationalen Publizistik formuliert, als Kardinal Puzyna dem Vorschlag, den Dichter Juliusz Słowacki auf dem Wawel zu bestatten, eine Absage erteilte. Eine säkulare Begräbnisstätte hätte ein breiteres Nationsverständnis ermöglicht, denn hier hätte allein der Verdienst um die Nation ausschlaggebend sein können, die Art und Weise der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche hätte keine Rolle mehr gespielt. Mehrheitsfähig aber war die Idee nicht, die von einigen Freidenkern forciert wurde, und die Spannung zwischen der Begräbnisstätte als sakralem Ort und als nationalem Gedächtnisort blieb bis in die Gegenwart hinein bestehen.

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Angesichts der vielfach behaupteten Entzauberung des Todes können die großen Beisetzungen als Mittel der Wiederverzauberung des Todes gesehen werden: Hier erschien der Tod als der Abschluss eines aufopferungsvollen Lebens einer verdienten Person, deren Wirken noch über den Tod hinaus Bestand haben sollte. Die Funeralfeiern waren nicht nur Trauerfeiern, sondern auch Manifestationen, bei denen sich ein Kollektiv seiner selbst vergewisserte und den Anspruch, eine nationale Gemeinschaft darzustellen, an die Öffentlichkeit trug. Sie waren auch ein Mittel, um den städtischen Raum als polnisch-national zu markieren und damit ein implizites Aufbegehren gegen die Teilungen und die Habsburgermonarchie. Die großen Beisetzungen wurden in Krakau stilbildend für gewöhnliche Beerdigungen. Die Bestattungsunternehmen konkurrierten um die Ausrichtung der großen Feierlichkeiten, weil sie neben einer Auszeichnung für ihre Arbeit auch eine Werbefläche darstellten. Ob wir den Tod im Alltag oder aber den Tod in der politischen Öffentlichkeit betrachten – das Bestattungswesen war nicht nur eine Reaktion auf die menschliche Sterblichkeit, sondern auch auf unterschiedliche Krisen wie Epidemien, politische Desintegration (wie die des Kronlandes) und fehlende Staatlichkeit. Gleichzeitig war es Austragungsort weltanschaulicher Differenzen, welche sich beispielsweise beim Streit um die jüdische Begräbnisvereinigung oder in der Frage der Kremation manifestierten. Weltanschauliche Koordinaten haben sich verschoben, der weltanschauliche Kontext hat sich verändert und doch sind einige der in der Studie behandelten Fragen nach wie vor aktuell: Was damals die jüdische Gemeinde verhandelte, ist heute beispielsweise in Deutschland ein Thema zwischen Behörden und­ islamischen Verbänden, da auch der Islam eine schnelle und sarglose Beisetzung verlangt, der Sargzwang sich aber seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart in den Gesetzen gehalten hat.10 Wer heute die Stichwörter »Juden« und »Krakau« hört, wird damit unter Umständen das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz assoziieren, welches die Nationalsozialisten rund 70 Kilometer westlich von Krakau errichtet haben. Mit der Schoah endete das jüdische Gemeindeleben in seiner bisherigen Form in Krakau. Auch wenn es derzeit einige Revitalisierungsversuche erfährt, ist doch das frühere jüdische Krakau vergangen. Kazimierz ist heute ein Ausgeh- und Szeneviertel, wo Synagogen sowie scheinbar jüdische Klezmer­ lokale an den tatsächlichen und vermeintlichen früheren Charakter des Viertels erinnern. Vom vergangenen jüdischen Alltag legen paradoxerweise die teilweise noch erhaltenen jüdischen Friedhöfe Zeugnis ab. Die Schoah hat zudem auf dem 10 Siehe beispielsweise Alten, Antonia von: Islamische Bestattung. Im engen Korsett des deutschen Sargzwangs. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.1.2008, URL: http://www. faz.net/aktuell/gesellschaft/islamische-bestattung-im-engen-korsett-des-deutschen-sarg zwangs-1514732.html (am 26.9.2013).

282  Fazit und Ausblick Friedhof Spuren hinterlassen. In Zeiten des Holocausts, als die Lebenden getötet wurden, hat man den Toten keine Ruhe gelassen und ihre Ruhestätte verwüstet. Ein Mahnmal am Eingang versammelt die Reste von früheren Grabplatten, die als gemeinsames Ensemble zu einem Mahnmal werden. In den Mauern am Friedhofseingang sind teilweise zerstörte Grabplatten eingelassen. Und natürlich fehlen nicht Erinnerungstafeln der Überlebenden, die an ihre verschleppten, misshandelten, getöteten Familienangehörige erinnern. Aber 1945 ist nicht das letzte Sterbedatum auf einem Grabstein. Auch in den 1960er und 1970er Jahren und sogar zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind hier offenbar noch Bestattungen vorgenommen worden, wie die Grabinschriften verraten. Viele Inschriften hingegen lassen sich nur noch erahnen, gerade so sind die Lettern aus dem hebräischen Alphabet noch erkennbar. Sie, die eine Erinnerung über den Tod hinaus sein sollten, sind dem Vergessen anheim gegeben – und dem Zerfall. Stellenweise erinnert der Friedhof an eine Steinwüste. Lebendig sind dagegen nach wie vor die großen Beisetzungsfeiern in Krakau, die sich auch nach unserem Untersuchungszeitraum bis in die unmittelbare Gegenwart hinein fortsetzten. 1929 wurde der Maler Jacek Malczewski (1854–1929) in der Krypta beigesetzt; 1937 folgte die Beisetzung des Komponisten Karol Szymanowski (1882–1937). Der Konflikt zwischen säkularen und religiösen Ansprüchen spitzte sich zu in der Zeit der Volksrepublik: 1954 sollte der Schauspieler Ludwik Solski (1855–1854) in der Krypta der Verdienten beigesetzt werden, doch sowohl die bischöfliche Kurie als auch die Pauliner sperrten sich dagegen, weil Solski geschieden und nicht kirchlich verheiratet war. Letztlich gaben sie jedoch nach, weil sie eine Zuspitzung des ohnehin gespannten Verhältnisses zwischen Staat und Kirche befürchteten  – es war die Zeit, in der Polens Primas Kardinal Stefan Wyszyński in Haft saß. Ein Jahr später wurde der Astronom Tadeusz Banachiewicz (1882–1954) auf dem Rakowicki-Friedhof exhumiert und im Stillen in der Krypta der Verdienten beigesetzt.11 Selbst in der jüngsten Vergangenheit war die Frage danach, wem in Polen ein nationales Begräbnis in einer nationalen Nekropole gebührt, ein Thema. Nach dem Flugzeugabsturz der polnischen Regierungsmaschine bei Smolensk im April 2010, bei dem neben dem amtierenden Präsidenten weitere polnische Politiker und Personen des öffentlichen Lebens starben, brach erst Staatstrauer, dann ein Streit über die Frage danach aus, wo die Opfer des Flugzeug­ absturzes, vor allem aber das Präsidentenpaar Maria und Lech Kaczyński beigesetzt werden sollten. Die Familie, allen voran der Zwillingsbruder des verstorbenen Präsidenten, Jarosław Kaczyński, wünschte eine Bestattung auf dem Wawel. Der Krakauer Erzbischof Kardinal Stanisław Dziwisz gab sein Einverständnis, da der Präsident einen »heldenhaften Tod« gestorben sei. Ge-

11 Różek: Skałka jako panteon narodowy 134–137.

Fazit und Ausblick 283

gen die Entscheidung des Kardinals regten sich ebenso zahlreiche wie vergebliche Proteste.12 Die vorerst letzte Beisetzung in der Krypta der Verdienten war die des polni­ schen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Czesław Miłosz (­ 1911–2004) im Jahr 2004. Die Beisetzungsfeier war im Vorfeld von wütenden Protesten begleitet worden. Der nationalkatholische Flügel unterstellte dem im heutigen Litauen geborenen Miłosz sowohl mangelnde Polonizität wie fehlende Katholizität.13 Niemand geringeres als Papst Johannes Paul II. musste einschreiten, um die Wogen zu glätten. Während die einen, wie der damalige Bischof von Lublin, Józef Zyciński, in Miłosz die »Zentralfigur des Dialogs der polnischen Kirche mit der Moderne« sahen,14 blieb er für die Nationalkatholiken um die Zeitung »Nasz Dziennik« und den Radiosender »Radio Maryja«, die sich im Wortsinne päpstlicher als der Papst gerierten, ein Anathema.15 Damit zeigte die Beisetzung einmal mehr, welch unterschiedliche Konfigurationen des Katholischen in Polen nebeneinander koexistieren und wie unterschiedlich die Frage beantwortet wurde, wer zu den Verdienten der Nation zählen sollte. Zugleich wohnte dem Streit um die Beisetzung auch eine abschreckende Wirkung inne: Die Krypta wurde von den Paulinern für geschlossen erklärt. Und der Umstand, dass Wisława Szymborska (1923–2012), ebenfalls Literaturnobelpreisträgerin, in ihrem Testament verfügte, auf dem allgemeinen Friedhof beigesetzt zu werden, mag auch der Rezeption dieser Kontroversen geschuldet gewesen sein. Sie wäre die potentiell erste Frau gewesen, die neben den vielen »großen Männern« in einer polnischen Nekropole hätte ruhen können.16 Krakau hält allen Streitigkeiten und Schwierigkeiten zum Trotz an dem Anspruch fest, Polens herausragende Nekropolen zu beherbergen. Nun, da die Krypta der Verdienten keinen Platz mehr für weitere Sarkophage bereithält, ist unter der Ägide des Historikers Franciszek Ziejka eine neue Nekropole in 12 Schuller, Konrad: Kaczynski-Beisetzung. Ein Platz unter Königen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.4.2010, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kaczynskibeisetzung-ein-platz-unter-koenigen-1966337.html (am 27.9.2013). Lech Kaczyński spocznie na Wawelu. Kardynał Dziwisz potwierdza. In: Newsweek vom 13.4.2010, URL: http://polska. newsweek.pl/lech-kaczynski-spocznie-na-wawelu--kardynal-dziwisz-potwierdza,56658,1,1. html (am 27.9.2013). 13 Antypolskie oblicze Miłosza. Fragmenty wywiadu Marka Żelaznego z Janem Majdą w czwartkowym »Naszym Dzienniku«. In: Gazeta Wyborcza Nr. 195 vom 20.8.2004, 2. 14 Wackwitz, Stephan: Der Dichter rief den Papst. Abschied von Czesław Miłosz in Krakau. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 201 vom 23.8.2004, 43. 15 So fasste der Krakauer Polonist Jan Majda seine Vorbehalte gegen Miłosz noch in einer ein Jahr später erschienenen Schrift zusammen: Majda, Jan: Antypolskie Oblicze Czesława Miłosza. Krzedzowice 2005. 16 Wisława Szymborska. Pogrzeb za tydzień na Cmentarzu Rakowickim. In: Gazeta Wyborcza vom 2.2.2012. URL: http://wyborcza.pl/1,76842,11075429,-Wislawa_Szymborska__ Pogrzeb_za_tydzien_na_Cmentarzu.html (am 28.9.2013).

284  Fazit und Ausblick der ehemaligen Jesuitenkirche St. Peter und Paul eingerichtet worden. Mit gegenwärtig 30 Plätzen für Sarkophage mit Aussicht auf eine eventuelle Erweiterung hat Krakau damit auf sehr lange Sicht sein Anrecht auf prestigereiche Beisetzungen verlängert.17 Immerhin fasst die neue Krypta ohne Erweiterung schon mehr als doppelt so viele Sarkophage wie die Krypta der Verdienten. Mit der ersten Beisetzung, der des Schriftstellers und Dramatikers Sławomir Mrożek (1930–2013), in der neuen Nekropole wurde an die alten Traditionen angeknüpft: Der Trauerzug nahm den alten Königsweg. Wie schon Adam Mickiewicz, Józef Ignacy Kraszewki und Teofil Lenartowicz wurde der Verstorbene aus dem Ausland, in diesem Fall Frankreich, nach Krakau überführt, anders als seine berühmten Vorgänger jedoch in einer Urne. Nichtsdestotrotz wurden Mrożeks Überreste in einem Sarkophag beigesetzt, denn das sei – so Ziejka – schließlich Tradition.18 Auch die neue Nekropole ist – wie ihre Vorgängerin, die Krypta der Verdienten – architektonisch Teil einer Kirche. Dennoch soll das Pantheon einen »von der Kirche unabhängigen Raum des nationalen Gedenkens«19 darstellen. Entsprechend sollen weder Konfession noch politische Einstellungen darüber entscheiden, wer im Pantheon beigesetzt wird.20 Baulich wird diesem Gedanken Rechnung getragen, indem ein von der Kirche separater Eingang errichtet wird. »Bei der Kirche, nicht in der Kirche« lautet die Losung der Stiftung, die das neue Pantheon initiiert hat.21 Wichtigstes Ziel der Stiftung ist es, Krakaus Anspruch, die wichtigsten nationalen Nekropolen zu beherbergen, weiter zu zementieren. Damit trägt sie nicht nur den patriotischen Totenkult, sondern auch das von Tadeusz Boy-Żeleński beschworene Paradoxon, dass der Tod in Krakau ein Lebenselement darstellt, ins 21. Jahrhundert.

17 Piłat, Bartosz: Pogrzeb Sławomira Mrożka. Drogą Królewską do Panteonu. In: Gazeta Wyborcza vom 3.9.2013, URL: http://wyborcza.pl/1,75475,14537438,Pogrzeb_Slawomira_ Mrozka__Droga_-Krolewska_do_Panteonu.html (am 10.9.2013). 18 Ebd. 19 Wasiak, Marek: Panteon Narodowy przy kościele św. Piotra i Pawła. URL: http:// panteonnarodowy.pl/index.php?option=com_content&view=category&layout=blog&id=9& Itemid=17 (am 21.9.2014). 20 Ebd. 21 Kursa, Magdalena: Nowy Panteon Narodowy  – prace przyspieszone. In: Gazeta Krakowska vom 23.8.2013. URL: http://krakow.gazeta.pl/krakow/1,44425,14479848,Nowy_ Panteon_Narodowy___prace_przyspieszone__ZDJECIA_.html (am 21.9.2014),

Dank Vorliegende Arbeit stellt die geringfügig überarbeitete Fassung meiner im Wintersemester 2013/2014 an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München eingereichten Dissertation dar. Ihre Anfertigung ist von vielen Seiten unterstützt und gefördert worden. Dafür möchte ich Dank sagen, allen voran meinem Doktorvater Martin Schulze Wessel, der diese Arbeit von Beginn an konstruktiv-kritisch begleitet hat, mir dabei aber auch die nötige Freiheit zur Entfaltung eigener Ideen einräumte. Franz Xaver Bischof danke ich nicht nur dafür, dass er die Erstellung des Zweitgutachtens übernommen hat, sondern auch darüber hinaus, dass er der Arbeit stets großes Interesse entgegengebracht und dabei viele wichtige Hinweise gegeben hat. Martin Baumeister sei für das Drittgutachten und für seine wertvollen Anmerkungen zur Stadtgeschichte gedankt. Entstanden ist die Arbeit im Kontext des an der LMU angesiedelten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Internationalen Graduier­ tenkollegs (IGK) »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts«. Das IGK ermöglichte mir als Stipendiatin dank der finanziellen Unterstützung ein sorgenfreies Arbeiten sowie die nötigen Forschungsreisen zu Archiven und Bibliotheken in Krakau, Warschau und Wien. Den dortigen Mitarbeitern danke ich für ihre Hilfe – namentlich seien an dieser Stelle Sr. Maria Teresa Sawicka und Sr. Karola Lidia Zaborska vom Krakauer Diözesanarchiv erwähnt, denen ich aufgrund ihrer Unterstützung und Herzlichkeit sehr verbunden bin. Das IGK ermöglichte zudem die Drucklegung dieser Arbeit. Friedrich Wilhelm Graf, Miloš Havelka und Martin Schulze Wessel sei für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit« gedankt. Schließlich habe ich intellektuell sehr von den Colloquia, Sommerschulen und Methodenseminaren des IGK profitiert. Eine große Bereicherung stellen auch die Menschen dar, die ich durch das IGK kennengelernt habe und die die Arbeit durch wichtige Hinweise bereichert haben, stellvertretend seien genannt Klaus Buchenau, Lisa Dittrich, Philipp Lenhard, Pascale Mannert, Martina Niedhammer und Kärin Nickelsen. Weiterhin gebührt großer Dank Laura Hölzlwimmer und Heléna Tóth, die das gesamte Manuskript gelesen und kritisch kommentiert haben. Heléna Tóth danke ich zudem für die viele Zeit, die sie sich ge­nommen hat, um mir bei der Strukturierung der Dissertation zu helfen. Dankbar erwähnt sei hier auch, dass das Graduate Center der LMU mit der

286  Dank Gewährung eines Abschlussstipendiums die rasche Fertigstellung der Arbeit ermöglicht hat. Roland Cvetkovski und Ingo Eser sei für die Gelegenheit, mein Projekt im Oberseminar der Abteilung für Osteuropäische Geschichte an der Universität Köln vorstellen zu dürfen, gedankt. Abschließend möchte ich mich bei allen herzlich bedanken, die mir mit Kritik, Ideen, Korrekturen, Hinweisen und praktischer Hilfe zur Seite gestanden haben, unter anderem Natalia Aleksiun, Wojciech Bałus, Tadeusz Budrewicz, Andrzej Chwalba, Patrice Dabrowski, Norbert Fischer, Simon Hadler, S­ tephan Hadraschek, Leszek Hońdo, Anna Jakimyszyn, Kateryna Kudin, Hanna Ko­ zińska-Witt, Przemysław Matusik, Martina Ott, Anna Pelka, Brian Porter, Isabel Richter, Isabel Röskau-Rydel, Rainer Sörries, Anna Veronika Wendland und Martin Zückert. Ein besonderer Dank gebührt Ralf Meindl für seine zahlreichen Anmerkungen und Aufmunterungen und Ellen Buchberger, die trotz widriger Umstände die Arbeit für die Abgabe gründlich korrigiert hat. Für die Drucklegung hat Tino ­Jacobs die Arbeit lektoriert und ihr mit seinen hilf­ reichen wie klugen Anmerkungen den letzten Schliff verliehen. Meiner Familie und den Freunden, die mich in der Promotionszeit unterstützt, begleitet und motiviert haben, sei diese Arbeit gewidmet.

Quellen und Literatur 1.

Ungedruckte Quellen

Archiwum Kurii Metropolitanej w Krakowie

Ex consistorio generali diocesis cracoviensis Kraków parafia św. Mikołaja (APA 145) Notificationes e Curia Principis Episcopi Cracoviensis Protokoł Czynności Konsystorza Ilnego Dyecezyi Krakowskiej w Krakowie

Archiwum OO. Paulinów na Skałce w Krakowie

Groby Załużonych oraz akta dotyczące ludzi tu spoczywających (Sygn. 292)

Archiwum Państwowe w Krakowie

Akta Magistratu m. Krakowa i innych władz, dotyczące cmentarzy krakowskich (IT 912) Akta miasta Krakowa (Kr): – Cmentarz Rakowicki i Podgórski – ogólne instrukcje 1892–1895 (Kr 7762) – Cmentarz Żydowski 1877–1893 (Kr 7761) – Fundacja cmentarna Helclów na kaplicę i kapelanię/plan kaplicy 1855–1918 (Kr 8013) – Grzebanie zmarłych wojskowych na cmentarzu miejskim (Kr 7776) – Kasa pogrzebowa stowarzyszeń katolicko-robotniczych z lat 1913–1922 (Kr 8394) – Koncesja na zakład pogrzebowy: Gawlik Leon i Horak Antoni (Kr 8373) – Pobieranie pokładnego i należytości za kopanie grobów od okolicznych gmin wiejskich 1879–1893 (Kr 7777) – Utworzenie miejskiego zakładu pogrzebowego 1913–1919 (Kr 7779) – Zakład pogrzebowy Jan Wolny 1899–1917 (Kr 8320) Archiwum Akt Dawnych m. Krakowa (Mag I 380) Uroczystości krakowskie (321) – Akta dotyczące jubileuszu Józefa Ignacego Kraszewskiego (1879) i akta pogrzebu Józefa Ignacego Kraszewskiego (1887r.) (321–19) – Akta różnych uroczystości krakowskich (29/575/43) – Akta różnych uroczystości krakowskich (pogrzeby, obchody, jubileusze, zjazdy) (576) Spuścizne Aleksandry Czechówny (IT 428) Teka Schneidera (Tschn 796)

Archiwum Uniwersytetu Jagiellońskiego w Krakowie

Protokoły posiedzeń Senatu Akademickiego UJ 1870–1880 (S II 81) Protokoły posiedzeń Senatu Akademickiego UJ 1880–1890 (S II 82) Teczki akt habilitacyjnych z lat 1862–1939 (WP II 138) Teki osobowe pracowników naukowych czynnych w latach 1850–1939 (S II 619)

288  Quellen und Literatur Żydowski Instytut Historyczny

Gmina żydowska w Krakowie (209) Gmina żydowska w Krakowie (716) Gmina żydowska w Krakowie (717)

2. Gedruckte Quellen 2.1 Veröffentlichte Quellen und zeitgenössische Literatur Badeni, Stefan: Wczoraj i przedwczoraj. Wspomnienia i szkice. London 1963. Bąkowski, Klemens: Dzieje Krakowa. Kraków 1911 Bałaban, Majer: Przewodnik po żydowskich zabytkach Krakowa. Kraków 1935. Bałucki, Michał: Korespondencja teatralna Michała Bałuckiego. Wybór i opracowanie Danuta Szczęsna. Warszawa 1981. Bartkiewicz, Zdzisław T. J.: Krótki rys życia ś.p. ks. Zygmunta Goliana prałata i proboszcza wielickiego. Kraków 1888. Beutinger, Emil: Handbuch der Feuerbestattung und ihre geschichtliche Entwicklung von der Urzeit bis zur Gegenwart. Leipzig 1911. Boy-Żeleński, Tadeusz: Erinnerungen an das Labyrinth. Krakau um die Jahrhundertwende. Leipzig, Weimar 1979. Boy-Żeleński, Tadeusz: O Krakowie. Opracował Henryk Markiewicz. Kraków 1968. Buszek, Jan: Porównanie trwania życia ludności chrześcijańskiej i żydowskiej zmarłej w Krakowie od r. 1859–1880. Kraków 1882. Buszek, Jan: Przyczynek do statystyki śmiertelności głównie z chorób zakaźnych i ważniejsze jej przyczyny w m. Krakowie. Kraków 1880. Chotkowski, Władysław (Hg.): Księga pamiątkowa wiecu katolickiego w Krakowie odbytego w dniach 4, 5 i 6 lipca 1893r. Kraków 1893. Chotkowski, ks. Władysław: Mowa przy sprowadzeniu zwłok śp. Adama Mickiewicza. Kraków 1890. Chotkowski, Władysław: Mowa żałobna powiedziana na pogrzebie ś.p. Mikołaja Zyblikiewicza w Krakowie w kościele archiprzebyteryalnym N. P. Maryi. Kraków 1887. Cyrankiewicz, Stanisław: Przewodnik po cmentarzach. Reprod. [der Ausgabe von 1908]. Kraków 1986. Dankowicz, Szymon: Kazanie miane w  czasie żałobnego nabożeństwa za wiekopomniej pamięci Króla Kazimierza Wgo z dniu powtórnego pochowania zwłok jego na Wawelu dnia 8 lipca 1869 roku w synagodze Izraelitów Przyjaciół Postępu na Podbrzeziu w Krakowie. Kraków 1869. Dębicki, Ludwik: Portrety i sylwetki z dziewiętnastego stulecia. Kraków 1906. Dowie, Ménie Muriel: A Girl in the Karpathians. Leipzig 1891. Estreicher, Stanisław (Hg): Wspomnienia Ambrożego Grabowskiego. Kraków 1909. Estreicherówna, Marja: Życie towarzyskie i obyczajowe Krakowa w latach 1848–63, Bd.  2. Kraków 1936. Feliński, Zygmunt S.: Pamiętniki. Warszawa 1986. Friedlaender, Hugo: Interessante Kriminalprozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Bd. 7. Berlin 1920. Gintel, Jan (Hg.): Kopiec Wspomnień. Kraków 1964. Glah, A. [Gumplowicz, Abraham]: Versuch zur Aussöhnung des Conflicts, und Einführung geordneter Zustände in der israelitischen Cultus-Gemeinde zu Krakau. Krakau 1868. Golian, Zygmunt: Listy duchowne Ks. Zygmunta Goliana. Kraków 1899.

Quellen und Literatur 289 Grabowski, Ambroży: Cmentarze dawnego Krakowa. Wypisy z dzieł. Kraków 2008. Grimm, Jacob: Über das Verbrennen der Leichen. Eine in der Academie der Wissenschaften am 29. November 1849 von Jacob Grimm gehaltene Vorlesung. Berlin 1850. Harbut, Juliusz Stanisław: Mały Rzym. Warszawa 1936. Hollweck, Joseph: Die kirchlichen Strafgesetze. Mainz 1899. Jakubowski, Józef: Opis epidemicznéj cholery w okręgu krakowskim w roku 1849 panującej. Wyjątek ze sprawodzania urzędowego. Kraków 1850. Kalinka, Walerian: Galicja i Kraków pod panowaniem austriackim. Wybór pism. Kra­ków 2001. Kietlińska, Maria/Homola-Skąpska, Irena: Wspomnienia. Kraków 1986. Komar, Edward: Kardynał Puzyna. Kraków 1912. Kraszewski, Józef Ignacy: Boleszczyce. Warszawa 1951. –: Rachunki z roku 1866. Poznań 1867. Krukowski, Józef: Teologia pasterska katolicka dla użytku seminaryów duchownych i pasterzów dusz. 3 Aufl. Kraków 1887. Mickiewicz, Władysław: Pamiętnik, Bd. I. Warszawa 1926. Moczyński, Jerzy: Dwie śmierci – dwa światy. Kraków 1911. Nowakowski, Zygmunt: Mój Kraków i inne wspomnienia. Warszawa 1994. Oettinger, Józef: Cholera nagminna w Krakowie r. 1866. Kraków 1867. Rappaport, Samuel: Seuchenhochzeit. In: Jüdisches Jahrbuch für Österreich (1932) 174–188. Smolarski, Mieczyslaw: Miasto starych dzwonów. Kraków 1960. Świderska, Alina: Trwa, choć przeminęło. In: Gintel, Jan (Hg.): Kopiec Wspomnień. Kraków 1964, 301–340. Tambor, Jan: Trwanie życia ludzkiego w Krakowie w okresie r. 1881–1925. Kraków 1930. Tarnowski, Stanisław: Niebezpieczeństwa grożące Kościołowi w  naszym kraju. In: Chotkowski, Władysław (Hg.): Księga pamiątkowa wiecu katolickiego w Krakowie odbytego w dniach 4, 5 i 6 lipca 1893r. Kraków 1893, 154–169. Tuszowski, Józef: O. Marjan Morawski T. J. (1845–1901). Kraków 1932. Wawel-Louis, Józef: Urywki z dziejów i życia mieszkańców Krakowa. Kraków 1874.

2.2 Periodika Allgemeine Zeitung des Judentums (1837–1922) Annales catholiques: revue religieuse hebdomaire de la France et de l’Église (1872–1920) Biesiada Literacka (1876–1917) Czas (1848–1939) Djabeł (1869–1922) Dwutygodnik Higijeniczny (1876) Dziennik Polski (1869–1918) Dziennik Rozporządzeń dla Stoł. Król. Miasta Krakowa (1880–1933) Echo muzyczne, teatralne i artystyczne (1884–1905) Le Figaro (1854–1942) Gazeta Lwowska (1811–1939) Gazeta Narodowa (1862–1915) Gazeta Toruńska (1867–1921) Gazeta Warszawska (1774–1939) Głos Narodu (1893–1939) Ilustrowany Kurier Codzienny (1910–1939) Der Israelit (1869– ca. 1890) Kalendarz Krakowski Józefa Czecha (1832–1917)

290  Quellen und Literatur Kraj (1869–1874) Kurier Poznański (1872–1939) Kurier Krakowski (1887–1889) Kurier Krakowski (1902–1905) Kurjer Lwowski (1883–1935) Myśl Niepodległa (1906–1931) Naprzód (1892–1948) Neue Freie Presse (1864–1938) Nowa Reforma (1882–1928) Prawda – Tygodnik polityczny, społeczny i literacki (1881–1915) Przegląd Katolicki (1863–1914) Przegląd Lekarski (seit 1862) Przegląd Lwowski (1871–1883) Przegląd Powszechny (1884–1953) Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Oesterreich (1849–1918) Salzburger Kirchenblatt (1852–1888) Statystyka miasta Krakowa zestawiona przez Biuro Statystyczne Miejskie (1887–1912) Tydzień polityczny, naukowy, literacki i artystyczny (1870–1871) Tygodnik Illustrowany (1859–1939) Tygodnik Katolicki (1860–1874) Tygodnik Wielopolski (1871–1874)

2.3 Literatur Ackerknecht, Erwin H.: Antikontagionismus zwischen 1821 und 1867. In: Sarasin, Philipp/ Berger, Silvia/Hänseler, Marianne/Spörri, Myriam (Hg.): Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870–1920. Frankfurt am Main 2006, 71–110. Ackermann, Volker: Die funerale Signatur. Zur Zeichensprache bei nationalen Totenfeiern von Wilhelm I. bis Willy Brandt. In: Behrenbeck, Sabine/Nützenadel, Alexander (Hg.): Inszenierungen des Nationalstaats. Politische Feiern in Italien und Deutschland seit 1860/1871. Köln 2000, 87–112. –: Nationale Totenfeiern in Deutschland von Wilhelm I. bis Franz Josef Strauss. Eine Studie zur politischen Semiotik. Stuttgart 1999. –: Staatsbegräbnisse in Deutschland von Wilhelm I. bis Willy Brandt. In: François, Etienne/ Siegrist, Hannes/Vogel, Jakob. (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. Göttingen 1995, 252–273. Adamek-Świechowska, Adrianna: »Na sprowadzenie prochów…«. »Ognie bengalskie frazeo­ logii dziennikarskie« w  sprawie pogrzebów  wielkich Polaków. In: Stępnik, Krzysztof (Hg.): Zbrodnie, sensacje i katastrofy w prasie polskiej do 1914. Lublin 2010, 163–176. Aleksiun, Natalia: Christian Corpses for Christians! Dissecting the Anti-Semitism behind the Cadaver Affair of the Second Polish Republic. In: East European Politics and Societies 25/3 (2011) 393–403. Alexander, Manfred: Kleine Geschichte Polens. Bonn 2005. Altermatt, Urs: Katholizismus und Nation. Vier Modelle in europäisch-vergleichender Perspektive. In: Ders./Metzger, Franziska (Hg.): Religion und Nation. Katholizismen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2007, 15–33. Amann, Ines: »Hic mors vivos docet«. Die Geschichte der Leichenöffnung. In: Daxelmüller, Christoph (Hg.): Tod und Gesellschaft. Tod im Wandel. Regensburg 1996, 53–56.

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Personenregister Alexander I.  36 f. Ariès, Philippe  11, 13 f. Asnyk, Adam  91, 127, 157 f., 162–164, 221, 225–227 August II. 37

Dunajewski, Albin  43–45, 148, 159, 171, 177 f., 180, 192, 208 f., 242, 279 Dunajewski, Julian  43 Duschak, Moritz  177 Dziwisz, Stanisław  236, 282

Badeni, Stanisław  226 Bałaban, Majer  71 Bałucki, Michał  41, 45, 215, 244, 267–272, 280 Banachiewicz, Tadeusz  282 Bartoszewicz, Kazimierz  269, 271 Bert, Paul  187 Beust, Friedrich Ferdinand von  252 Bismarck, Otto von  155, 160, 164, 252 Bojdalski, Czesław  225 Bolesław II. (›Bolesław Śmiały‹)  139 f., 154, 191 Bolesław V. (›Bolesław Wstydliwy‹)  138 Boy-Żeleński, Tadeusz  32 f., 56, 58, 284 Brunetti, Ludovico  102

Elias, Norbert  12 Eliasz, Walery  156 Englisch, Jan  41

Caro, Henryk  122 Chołoniewski, Stanisław  172 Chotkowski, Władysław Longin  148, 152, 178–181, 183, 192, 210–212, 214, 221–223 Comte, Auguste  13 Czarnecki, Karol  80 Czech, Tomasz  252 f., 256 Czechówna, Aleksandra  253, 266 Dabrowski, Patrice  159 Danek, Wincenty  153 Dankowicz, Szymon  135 f. Daszyński, Ignacy  41, 102 Dąbrowski, Jan Henryk  37 Dębicki, Ludwik  152, 172 f., 192, 202, 215 Dietl, Józef  71, 132, 199, 219 Długosz, Jan  137–139, 142 f. Dmowski, Roman  42 Dowie, Ménie Muriel  32–34 Döllinger, Ignaz von  156, 244–248, 251 f., 254–257, 261–263, 265–267, 280

Feliński, Zygmunt Szczęsny  134, 172, 238 Fijałkowski, Antoni Melchior  134, 238 Foucault, Michel  16 Franz Joseph I.  39, 69, 159, 197, 200, 220 Friedlein, Józef  52, 225 f., 270 Friedrich, Johann  262 Furnival, John Sydenham  279 Gałecki, Antoni  258, 272 Gilewska, Emilia  257 Gilewski, Karol  156, 244–249, 251 f., ­254–268, 272, 280 Girtler, Jakób  165 f. Glajcar, Jędrzej  136 Goethe, Johann Wolfgang von  219 Goldwasser, Edward  103 Goldwasser, Maksymilian  103 Golian, Zygmunt  250, 253, 266 Gniewosz, Jan Nepomucen  184 Gomulicki, Wiktor  184 Gottlieb, Maurycy  237 Görres, Joseph  222 Grabowski, Ambroży  73 f., 80 Graf, Friedrich Wilhelm  15 Grimm, Jacob  101 Grodziska, Karolina  26 Gross, Adolf  42 Gumplowicz, Abraham  49, 107 Gumplowicz, Ludwik  41 Gruber, Ruth Ellen  22 Guesnet, François  106 Helcel, Anna  76–81, 99 Helcel, Ludwik  76–81

308  Personenregister Hirsch, Markus H.  104 Hollweck, Joseph  261 Hońdo, Leszek  27 Horovitz, Jakob  103 Horovitz, Markus Mordechai  103 Horowitz, Chaim Leib  120 Horowitz, Leon  120, 237 Hugo, Victor  179, 273 Hyazinth von Polen (siehe auch Jacek Odrowąż) 46 Innozenz IV. 140 Isakowicz, Izaak Mikolaj  208 f., 212 Isidor 211 Isserles, Moses  47, 65 Jastrzębski, Bonifacy  158 Jaworski, Władysław Leopold  169 f., 182 Jeż, Teodor Tomasz (Miłkowski, Zygmunt Fortunat)  42, 161, 173, ­185–188, 191 f., 233 Johannes Paul II. 283 Johannes von Krakau (Jan Kanty)  46 Jordan, Henryk  163 f., 188–190, 192 Joseph II.  60, 145 Kaczyńska, Maria  282 Kaczyński, Jarosław  282 Kaczyński, Lech  282 Kalinka, Walerian  37, 165 Kazimierz III. (›der Große‹)  41, 47, 130–137, 155 f., 189, 214, 219, 237–239, 278 f. Kieszkowski, Henryk  204 Kornecki, Wincenty Andrzej  204, 213 Kossak, Juliusz  202 Kościuszko, Tadeusz  36, 240, 256 Kozińska-Witt, Hanna  24 Koźmian, Stanisław  40, 50 Krasiński, August Stanisław  208 Krasiński, Zygmunt  232 Kraszewska, Zofia  184 f. Kraszewski, Jan  161 Kraszewski, Józef Ignacy  30, 41, 90, 91, 127, 130, 146 f., 149–193, 195, 200–208, 210, 212, 214–217, 219 f., 226 f., 231, 233, 238, 240, 242, 259, 278–280 Kremer, Józef  266 Krengel, Abraham  114 f. Krengel, Eizyk  115

Krengel, Mindel  54 Kunzewitsch, Josaphat  78, 211 f. Laskowski, Zygmunt  161 Lederberger, Joseph  104 Ledóchowski, Mieczysław  133, 155 Lenartowicz, Teofil  91, 127, 224 f., 239, 284 Lubomirski, Tadeusz  202 Lueger, Karl  51 Leo XIII. 44, 158, 197, 235 Leo, Juliusz  56, 232 Łepkowski, Józef  138, 142, 144 f., 165, 232 Łętowski, Ludwik  77 Łobos, Ignacy  208 Maciejowski, Bernard  211 de Maistre, Joseph  222 Majer, Józef  164 f., 168, 176, 259, 262 Malczewski, Jacek  282 Margelik, Johann Wenzel  61 Maślak, Włodzimierz  213 Matejko, Jan  50, 127, 131, 205 Mączyński, Józef  74, 76 Meisels, Dov  69, 120, 134 Mendelsburg, Albert Abraham  163, 209 Meßmers, Joseph Anton  262 Mickiewicz, Adam  41, 127, 138, 153, 205, 217–224, 232 f., 238 f., 241, 284 Mickiewicz, Władysław  220 Miłkowski, Zygmunt Fortunat (siehe auch Teodor Tomasz Jeż)  41, 161, 173, 233 Miłosz, Czesław  167, 243, 283 Mochnacki, Edmund  169 Moczyński, Piotr  254 f. Modrzejewska, Helena  30 Morawski, Marian  51, 104, 187–189, 192, 214 Morawski, Seweryn  208 Mrożek, Sławomir  284 Naumovych, Ioann  196 Newman, John Henry  222 Nietzsche, Friedrich  231 Nowiński, Franciszek  88, 95 Odrowąż, Jacek (siehe auch Hyazinth von Polen) 46 Oettinger, Józef  49, 119, 126 Olechowski, Józef  66

Personenregister 309 Pawelski, Jan  230 Pełesz, Julijan  197, 208 Petrarca 159 Pietkiewicz, Antoni (siehe auch Adam Pług)  182 Piłsudski, Józef  237 Pius IX . 210 f. Pius X. (siehe auch Giuseppe Melchiorre Sarto)  44, 235 Pług, Adam (siehe auch Antoni Pietkiewicz)  156, 169 f., 182 Pociej, Adam Hipacy  211 Pol, Wincenty  138 f., 143–145, 159 Pollmann, Victoria  253 f. Poniatowski, Józef  36, 240 Popiel, Paweł  144 Potocka, Katarzyna Adamowa  207 Potocki, Adam Józef  43, 199, 207 Potocki, Alfred  197, 204 Potocki, Andrzej Kazimierz  270 Pryliński, Tomasz  202 Przybyszewski, Stanisław  57 Puzyna, Jan  208, 231, 234–236, 240, 242, 269–272, 280 Rader, Olaf B.  127 f., 193 Rampolla, Mariano  44, 235 Rawita-Gawronski, Franciszek  233 Reisfeld, Leibl  113 f. Renan, Ernest  221 Rittermann, Marie  122 Roczkowski, Gustaw  169 f., 181 f. Rodoc-Biernacki, Mikołaj  269 Rożek, Michał  191 Rudolph, Kronprinz von Österreich-Ungarn  197 Rydel, Lucjan  57, 232 Salomea 139 Samelsohn, Szymon  49, 134, 237 Sand, George  152 Sapieha, Adam  40 f. Sare, Józef  50 Sarto, Giuseppe Melchiorre (siehe auch Pius X.)  44, 235 Sawczyński, Zygmunt  212 Scherr, Gregor von  247 Schlögl, Rudolf  20 Schönberg, Wolf  49 Schreiber, Simon  120, 135 Sembratowicz, Józef  197

Sembratowicz, Sylwester  197, 208 f. Siemens, Friedrich  101 f. Siemieński, Lucjan  143–146, 159 Siemiradzki, Henryk  227 f. Sigismund I. (›der Ältere‹)  40 Skobel, Fryderyk Kazimierz  52 Skórkowski, Karol  43 Skrzyński, Henryk  93 Slęk, Franciszek  202, 204 Słowacki, Juliusz  45, 232–236, 240–242, 280 Sobieski, Jan  46 Solecki, Łukasz  208 Solski, Ludwik  282 Spasowicz, Włodzimierz  158 Stanislaus, hl.  43, 46, 137–142, 150, 190 f., 232, 249 Stojałowski, Stanisław  46 Sue, Eugène  152 Stupnicki, Jan  197, 208 f., 212, 217 Styczeń, Wawrzyniec  213 Szafrański, Aleksander  88, 90 f., 96 Szczepański, Alfred  157 Szlachtowski, Feliks  161, 163, 168 f., 181, 191, 202, 212 Szujski, Józef  40 Szymanowski, Karol  282 Szymborska, Wisława  283 Taaffe, Eduard  43 Tarnowski, Jan  177, 183, 207 Tarnowski, Stanisław  40, 51, 147, 164–166, 183, 207, 220, 225 Teleszyński, Wawrzyniec  59 Thon, Ozjasz  42 Trzcinski, Andrzey  60, 64 Ubryk, Barbara  133, 156, 245–247, 249, 250, 262 Weber, Maurycy  114 Weigel, Ferdynand  121, 163, 169, 200, 237 Wels, Jan  59 Wilhelm I.  273 Windisch-Graetz, Ludwig Fürst  207 Wodzicki, Ludwik  40, 200 Wolny, Jan  89, 91, 95 Wood, Nathaniel D.  24 Wyspiański, Stanisław  57, 127, 228–232, 237, 280 Wyszyński, Kardinal Stefan  282

310  Personenregister Zaleski, Bronisław  172 Zaleski, Filip  177 Zenger, Franz Xaver  261 f. Ziejka, Franciszek  283 f.

Zyblikiewicz, Mikołaj  30, 78, 91, 142, 147, 157, 193–195, 198–208, 210–217, 279 Zyciński, Józef  283