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German Pages XVIII, 398 [417] Year 2022
Benito Mussolini – Konsens durch Mythen
Frank Schuhmacher
Benito Mussolini – Konsens durch Mythen Eine Analyse der faschistischen Rhetorik zwischen 1929 und 1936
Umschlagabbildung: Alfredo Mauro Ambrosi: „Aeroritratto di Mussolini aviatore“ (1930)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl. Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2022 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6747-8 (hardback) ISBN 978-3-8467-6747-4 (e-book)
Meinen Eltern
Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi 1. Ausgangspunkt: der State of the Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Studien über den Diktator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Blinde Flecke der Forschung und Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . 16 2. Theoretisches Rüstzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1 Welchen Faschismus-Begriff wählen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.2 Das Problem von Konsens und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.3 Voraussetzungen einer Rhetorik des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.4 Rhetorische Analyse und methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . 54 2.5 Analysekorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Mussolini: historische Wurzeln eines Redners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.1 Die Patria-Rhetorik und ihre Ursprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.1.1 Rhetoriktraditionen in Italien: eine Übersicht . . . . . . . . . . . 74 3.1.2 Die Rhetorik des Risorgimentos und des Parlamentarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.1.3 Cavour und Giolitti: Vertreter einer sachlichen Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.1.4 Parlamentarismuskritik und der due Italie-Mythos . . . . . . 98 3.2 Vorgänger Mussolinis: Nachahmung oder Überbietung? . . . . . . . 104 3.2.1 Francesco Crispi: Kult der nationalen Stärke . . . . . . . . . . . . 104 3.2.2 Gabriele D’Annunzio: Politik als Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.3 Sozialistische Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.3.1 Die ‚intransigente Propaganda‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3.3.2 Die reformistische Propaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.3.3 Mussolini als sozialistischer Redner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.4 Journalismus und kulturelle Strömungen vor dem 1. Weltkrieg . . 130 3.5 Mussolini, Praktiker der Massenpsychologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3.6 Orator perfectus? Der Diktator aus Sicht der Zeitgenossen . . . . . 147 3.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
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Inhalt
4. Reden- und Mythenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.1 Inszenierung und Arbeitsweise eines Diktators . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.2 Die Meistererzählung: Italien zwischen Dekadenz und Aufstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 4.2.1 Die Römische Frage: der Rom-Mythos bleibt laizistisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 4.2.2 Das Risorgimento aus faschistischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . 223 4.3 Mythen in den unterschiedlichen Politikfeldern . . . . . . . . . . . . . . . 234 4.3.1 Die Mythen der Bonifica und der Battaglia del grano . . . . 235 4.3.1.1 Der Kampf-Mythos der Bonifica . . . . . . . . . . . . . . . 238 4.3.1.2 Die Battaglia del grano: Beispiel für gelungene Mobilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 4.3.2 Der Korporatismus als Heilmittel in der Weltwirtschaftskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 4.3.2.1 Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 . . . . . . . . . . 256 4.3.2.2 Gründe für die Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 4.3.2.3 Ein Kampf-Mythos zur Begründung für politische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 4.3.2.4 Weltwirtschaftskrise im Vergleich: Italien – Deutsches Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 4.3.3 Das Imperium als Auftrag und Sendung . . . . . . . . . . . . . . . . 292 4.3.3.1 Begriffsgeschichte des Imperiums . . . . . . . . . . . . . 293 4.3.3.2 Überfall auf Äthiopien: der Discorso della mobilitazione . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 4.3.3.3 Vollzugsmeldung: die Rede Etiopia è italiana . . . 318 4.3.3.4 Die Verkündung des Imperiums auf den schicksalhaften Hügeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 4.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Fazit: Konsens durch Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 A. Archivalien (unveröffentlicht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 B. Veröffentlichte Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 C. Lexika und Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 D. Aufsätze und Monographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Appendix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Danksagung Meine Eltern seien hier an erster Stelle mit Dank bedacht, denn ohne ihr Vertrauen in mich und ihre liebevolle Unterstützung wäre dieses Buch nicht denkbar. Dank gilt sodann meinem Doktorvater Prof. Dr. Dietmar Till und meiner Doktormutter Prof. Dr. Sarah Dessì Schmid, die mich mit vielen anregenden Gesprächen auf dem langen Weg hin zur Promotion begleitet haben. Mit Sorgfalt und Enthusiasmus waren sie mir stets Stützen in einem doch noch immer sehr einzelkämpferischen Unterfangen. Meinem Kollegen PD Dr. Franz-Hubert Robling schließlich sei für das offene Ohr und die vielen Hinweise herzlich gedankt, die der ganzen Arbeit ihr unverkennbares Gepräge verliehen haben. An die gemeinsamen Kaffee-undKuchen-Runden erinnere ich mich dabei sehr gerne zurück. Nicht vergessen möchte ich meinen treuen Freund Dr. Nicolas Dorn, der auch bei Kleinigkeiten immer wieder gerne half und hilft und mich in vielen Situationen ganz praktisch unterstützte. Seine Sicht für das Wesentliche hat diesem Buch sehr gutgetan. Dank gilt weiterhin Marlene Wessel, die mit Akribie das Manuskript durchkorrigierte und mit der ich viele Probleme beim Kochen oder bei zahlreichen Spaziergängen besprechen konnte. Dankbar bin ich zuletzt Jaqueline Aerne, die mich ermutigte und immer an meine Fähigkeiten glaubte. Viel hat sie mir über das Italienische beigebracht, was man – so hoffe ich – auch in dieser Arbeit wiederfinden wird. Ihnen allen und auch den vielen Ungenannten ein grazie di cuore! Tübingen, im März 2022
Frank Schuhmacher
Einleitung „Imagination spielt in Zeiten politischer Unruhen immer eine große Rolle.“1 Emilio Lussu
Um Benito Mussolini, Diktator Italiens von 1922 bis 1945, ranken sich viele Mythen, und zahlreiche davon gehen auf ihn selbst zurück. Diese Mythen verhalfen ihm, auch weit über seinen Tod hinaus, zu einem langen Nachleben in Italien. Das Phänomen hat sogar einen Namen, es heißt mussolineide und ist Ausdruck medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit rund um die Figur des ehemaligen ‚Duce‘.2 Seine Präsenz im politischen Diskurs Italiens – von der Nachkriegszeit bis heute – ist Anzeichen für eine nie energisch durchgeführte Aufarbeitung der Verbrechen des Faschismus.3 Dass es so weit kam, liegt mithin an einem vorschnellen Schlussstrich, den Italien unter seine dunkle Vergangenheit gezogen hatte. Mithilfe eines kollektiven Verdrängungsprozesses fand man Mittel und Wege, in die Zukunft zu schauen und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Politisch wurde mit der von Palmiro Togliatti erlassenen Amnestie 1946 das Kapitel des Faschismus geschlossen, und infolgedessen kam es zu keiner juristischen Aufarbeitung. Der Faschismus wurde zu einem unbedeutenden Intermezzo in der Nationalgeschichte Italiens gemacht, so
1 Lussu (201912: 20), eig. Übers. Lussu beschrieb in einer pendelnden Bewegung zwischen seinem Wahlkreis in Sardinien und dem Parlament in der Hauptstadt die Ereignisse des sogenannten Marsches auf Rom von 1922. Auch schilderte er, wie der Faschismus daraufhin versuchte, an Terrain zu gewinnen. Was in seinem Buch an politischer Taktik zum Vorschein kommt, lieferte dieser Arbeit anregende Beobachtungen für die Analyse der rhetorischen Verfahren. Sofern nicht ausdrücklich angegeben, wurden alle Zitate vom Verfasser übersetzt. Die für die Analyse relevanten Zitate finden sich entweder direkt im Fließtext zuerst auf Italienisch, dann auf Deutsch oder bei kürzeren Angaben in den Fußnoten. Leitend war dabei der Gedanke, dass sich die erreichten Ergebnisse nur aus dem Original sinnvoll nachvollziehen lassen. Das Kürzel OO steht für Opera Omnia von Benito Mussolini. Auf das Kürzel folgt in der Klammer der Band und die Seitenangabe. Die Zeichensetzung (Anführungszeichen, etc.) folgt der Einheitlichkeit wegen der deutschen Rechtschreibung. Anmerkungen des Verfassers sind mit F.S. gekennzeichnet. 2 Vgl. Adamo/Della Valle (2005: 279). Als Beispiel für eine intensive Beschäftigung mit Mussolini seien die zwei mit dem Literaturpreis Premio Strega ausgezeichneten Romane Canale Mussolini von Antonio Pennachi (2010) und M. Il figlio del secolo (dt.: M. Der Sohn des Jahrhunderts) von Antonio Scurati (2018) genannt. 3 Vgl. Filippi (2019: 100) und Mattioli (2010: 147).
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z.B. die Position des Philosophen Benedetto Croce, und er galt lange Zeit als Verirrung und Verführung gutgläubiger Italiener.4 Zwei Lösungen boten sich an, diesen Verlust an politischer Autonomie zu beschreiben: entweder lag es an den repressiven Zwangsmitteln, die dem Faschismus die Herrschaft sicherten, oder die Italienerinnen und Italiener erlagen willenlos einer perfiden, rhetorischen Manipulation. Zugleich lieferten beide Lösungswege eine entlastende Interpretation mit, wie eigentlich der Faschismus 20 Jahre lang Bestand haben konnte: Für die erste Sichtweise wurde die Strategie der Verharmlosung Mussolinis unter gleichzeitiger Betonung des Terrors im Verbund mit Nazi-Deutschland verfolgt. Durch die Verharmlosung wurden die Regimejahre stillschweigend aus dem kollektiven Gedächtnis gedrängt. Die Jahre vor der Repubblica Sociale Italiana – also vor Mussolinis Sturz 1943 – wurden weitestgehend ausgeblendet. Der eigentliche Sündenfall sei erst ab der von Hitlers Gnaden gewollten Marionettenherrschaft Mussolinis nach 1943 eingetreten. Ein Beispiel für die verharmlosende Sicht auf Mussolini lieferte bereits 1940 The Great Dictator von Charlie Chaplin, in dem ein gewisser Hansdampf Benzino Napoloni auftrat und Mussolini ähnelte. [N]ach der Errichtung der Republik wurde er [Mussolini] in ihrem Erinnerungsdiskurs [der linksorientierten Antifaschisten] immer mehr zu einem grotesken Hanswurst eingedampft, ja als ‚Cäsar aus Pappmaché‘ (Enrico Gianeri) verspottet, über den es sich nicht weiter nachzudenken lohnte.5
Für die andere Variante, nämlich die eines Opfer-Narratives, sprachen bereits Deutungen, die schon zur Zeit des Faschismus aufkamen: Das italienische Volk sei in erster Linie durch Mussolini und seine Faschisten verführt worden, so der durchgängige Tenor. Ein Beispiel hierfür stammt von Thomas Mann. Dieser hatte in seiner Novelle Mario und der Zauberer von 1930 einen „zungengewandte[n] […] Conférencier“6 dargestellt, den Zauberkünstler Cipolla, der eines Abends sein Publikum – unter dem auch der Erzähler der Novelle war – in einen Zustand völliger Willenlosigkeit versetzte. Mann verbrachte oft 4 Vgl. Croce (1973: 56 f.): „Che cosa è nella storia una parentesi di venti anni? Ed è poi questa parentesi tutta storia italiana o anche europea e mondiale?“ Neben den vielen Jahrhunderten glorreicher italienischer Geschichte, so argumentierte Croce, sollte man den Faschismus nicht zu wichtig nehmen. Aus dem spezifischen Kontext ist es verständlich und auch glaubwürdig, wenn der Regimekritiker Croce für eine Wiedereingliederung Italiens in die sich neu formierende Nachkriegsordnung wirbt, doch zeichnete sich bereits 1944 in nuce eine mögliche Strategie der Relativierung des Faschismus ab. 5 Mattioli (2010: 71). 6 Mann (1989: 88).
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seinen Urlaub in Italien und wollte mit dieser psychologischen Schilderung manipulative Prozesse offenlegen. Die Novelle kann man als politische Zeitkritik an Mussolini lesen, was den italienischen Rezensenten durchaus nicht entging.7 Lesen wir einen Augenblick in die Novelle hinein und sehen wir, wie Cipolla von Mann charakterisiert wurde: ‚Parla benissimo‘, stellte man in unserer Nähe fest. Der Mann hatte noch nichts geleistet, aber sein Sprechen allein ward als Leistung gewürdigt, er hatte damit zu imponieren gewußt. Unter Südländern ist die Sprache ein Ingredienz der Lebensfreude, dem man weit lebhaftere gesellschaftliche Schätzung entgegenbringt, als der Norden sie kennt. Es sind vorbildliche Ehren, in denen das nationale Bindemittel der Muttersprache bei diesen Völkern steht, und etwas heiter Vorbildliches hat die genußreiche Ehrfurcht, mit der man ihre Formen und Lautgesetze betreut. Man spricht mit Vergnügen – und man hört mit Urteil. Denn es gilt als Maßstab für den persönlichen Rang, wie einer spricht; Nachlässigkeit, Stümperei erregen Verachtung. Eleganz und Meisterschaft verschaffen menschliches Ansehen, weshalb auch der kleine Mann, sobald es ihm um seine Wirkung zu tun ist, sich in gewählten Wendungen versucht und sie mit Sorgfalt gestaltet. In dieser Hinsicht also wenigstens hatte Cipolla sichtlich für sich eingenommen, obgleich er keineswegs dem Menschenschlag angehörte, den der Italiener, in eigentümlicher Mischung moralischen und ästhetischen Urteils, als ‚Simpatico‘ anspricht.8
Mit welchen Mitteln fasziniert der Zauberer Cipolla sein Publikum? Es fällt sofort der hohe Stellenwert ins Auge, den Mann einer Art von Rhetorik zuspricht, die sich rein auf das Klangliche konzentriert. Bei dieser ‚Rhetorik‘ handelt es sich aber lediglich um eine Tonkunst, in der das Hören und die Lautgesetze die zentrale Rolle einnehmen. Was inhaltlich mit diesen Tönen und Klängen ausgesagt wird, wird im Beispiel erst einmal gar nicht thematisiert und ist, so könnte man vermuten, überhaupt nicht von besonderer Relevanz. Zweifellos ist der Klang bei einem Persuasionsprozess nicht unbedeutend, eine notwendige Bedingung ist er aber keineswegs. Dass Musik und Rhetorik wegen gewisser Ähnlichkeiten schon seit der Antike in eins gesetzt wurden, darauf wies der Rhetoriker Quintilian hin.9 Aus dieser Analogisierung darf aber keine monokausale Erklärung für die Wirkung der Rhetorik erfolgen, denn Prinzipien und Abläufe beider Künste sind dann doch zu verschieden. Quintilian hält zwar fest, dass „die Beredsamkeit nicht vollkommen sein
7 Vgl. Galvan (2015: 7–13 und 25) sowie Costagli (2015: 37). 8 Mann (1989: 87), Herv. v. F.S. 9 Vgl. Quint. I, 10, 9. An dieser Stelle wird der Dichter-Sänger Orpheus als Beleg genannt. S. ferner Elvers (2016: 9).
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kann“10 ohne musikalisches Wissen, das heißt aber nicht im Umkehrschluss, dass die Wirkung der Rhetorik ganz und gar aus dem Klanglichen abzuleiten sei. Die Dinge sind bei Weitem viel komplexer als es diese Analogie nahezulegen versucht. Die rednerische Wirkung, die Cipolla hervorzurufen wisse, so der Erzähler der Mann’schen Novelle, beruhe „auf über- oder untervernünftigen Fähigkeiten der menschlichen Natur, auf Intuition und ‚magnetischer‘ Übertragung, kurzum auf einer niedrigen Form der Offenbarung“11 und die Figur des Cipolla sei, so schließt er die Betrachtung, der „stärkste Hypnotiseur, der mir in meinem Leben vorgekommen.“12 Mit den Begriffen der Hypnose und der magnetischen Übertragung rief Mann die damals gängigen Erklärungsmuster der Massenpsychologie eines Gustave Le Bon oder Sigmund Freud auf.13 Genau diese Erklärung einer auf Massenhypnose basierenden manipulativen Rhetorik wird sich in der vulgata resistenziale, im Narrativ der italienischen Resistenza, in der Nachkriegszeit etablieren. All das, worauf Mussolini seine Herrschaft gegründet habe, sei letztendlich ein großer rhetorischer Bluff gewesen. Die antifaschistische Meistererzählung suggerierte, dass die Italiener in den beiden Jahrzehnten nach dem ‚Marsch auf Rom‘ nie wirklich hinter dem Faschismus gestanden seien. Die meisten von ihnen hätten sich entweder mit der Waffe in der Hand am Kampf gegen den ‚nazifascismo‘ beteiligt oder aber auf dessen militärischen Erfolg gehofft, kolportierte sie.14
Dabei suggeriert Manns Erzähler durchaus keine magische Verzauberung im Sinne eines übermächtigen Verführers einerseits und seiner willenslosen Opfer andererseits. Einen ersten Wink, in welcher Richtung man plausiblere Lösungen für die Wirkung des Zauberers finden kann, gibt Mann selbst, indem er ihn Cipolla tauft. Der Name des Zauberers weist intertextuell auf eine andere literarische Figur hin, die sich in Rhetorik bestens auskannte, nämlich auf Bruder Cipolla aus dem Decamerone von Giovanni Boccaccio.15 Dort scheint 10 11
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Quint. I, 10, 11. Zu diesem Kategorienfehler s. auch die Ausführungen in Kap. 1. Mann (1989: 96). Regine Zeller (2006) hat in ihrer detailreichen, kleinen Studie die Bezüge zur Massenpsychologie Le Bons und Freuds bei Mann herausgearbeitet. Cipolla sei die „literarische […] Verkörperung der Theorie Le Bons“ (70), denn „die ‚Vernunft‘ unterliegt Cipolla ohne großen Widerstand“ (113) aufgrund der von ihm vorgenommenen Hypnose. Ebd. (101). Le Bons Werk Psychologie des foules erschien erstmals 1895 und erfuhr unzählige Neuauflagen. Die Massenpsychologie und Ich-Analyse von Freud wurde 1921 veröffentlicht. Das Kap. 3.5 wird sich mit diesem Thema eingehend beschäftigen. Mattioli (2010: 148). Vgl. Boccaccio (1914: 306 f.; 6a giornata, 10a novella): „Era questo frate Cipolla […] sì ottimo parlatore […], che chi conosciuto non l’avesse, non solamente un gran retorico l’avrebbe stimato, ma avrebbe detto esser Tulio medesimo o forse Quintiliano“.
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ein passenderes Verständnis der Redekunst angelegt zu sein, das sich auf die Grundlagen der antiken Rhetorik stützt. Hier und da kommt darüber hinaus in der Mann’schen Novelle eine andere Lesart zum Vorschein, die das Publikum ebenso in die Pflicht nimmt, wenn der Erzähler „damals den Eindruck hatte, daß alles gewissermaßen auf Übereinkunft beruhte“16 und alles „im wechselseitigen Einverständnis, auf Unterhaltung, Jux, rednerische Abschweifung“17 hinauslief. Mussolini stellte einst, gegen Ende seines Lebens, fest: „Ich habe den Faschismus nicht geschaffen: Ich habe ihn aus dem Unbewussten der Italiener entnommen. Wenn es nicht so gewesen wäre, wären sie mir nicht alle über zwanzig Jahre hindurch gefolgt.“18 Die Stelle ist einem der letzten Interviews Mussolinis mit dem faschistischen Journalisten Ivanoe Fossani entnommen. Doch was ist mit dem Unbewussten gemeint? Es bezieht sich augenscheinlich auf das italienische Volk, dem eine kollektive Seele zugesprochen wird. Das Volk besitze also, vergleichbar mit der Seelenstruktur nach Freud, ein Unbewusstes, in dem die latenten Wünsche und Gelüste des Volkes aufgeboben seien. Wie Mussolini weiter ausführt, würden sich die Forscher nach seinem Tod fragen, wie er über 20 Jahre hinweg die Massen begeistern konnte. Die Behauptung, die seit diesem Ausspruch im Raum steht und zu der die Novelle Manns veranschaulichend herangezogen worden war, ist, dass Mussolini kein reiner Massen-Dompteur wie der Zauberer Cipolla war, der nur mit Täuschungen und Betrug ein Volk manipulierte. Mussolinis Rhetorik war keineswegs inhaltslose, reine Tonkunst, die allein auf gewählten Wendungen beruhte. Ganz im Gegenteil zeigt Boccaccios Figur des Fra Cipolla viel besser, wie Persuasion eigentlich zustande kommt, nämlich durch die Anknüpfung an eine schon vorhandene Erwartungshaltung. In dieser Arbeit wird darum die These verfochten, dass Mussolini seine Rhetorik auf Inhalte aus dem „Unbewussten der Italiener“ aufbaute, d.h., dass er die Wünsche und Sehnsüchte seines Publikums bediente und auf gängige, akzeptierte Ansichten zurückgriff. In anderen Worten könnte man auch von der hohen inhaltlichen Anschlussfähigkeit Mussolinis – wie Mann sich ausdrückte, von der wechselseitigen Übereinkunft zwischen dem Diktator und den Italienern – für die Jahre von 1929 bis 1936 sprechen. Trotz des Schwerpunktes auf der inhaltlichen Anknüpfung soll hier nicht der Fehler begangen werden, die emotionale Seite der Rhetorik Mussolinis und die ihr inhärenten Gewaltmomente zu vernachlässigen. 16 17 18
Mann (1989: 90). Ebd. (93). Pini/Susmel (1955: 482). Die Äußerung kann aber auch schon als gezieltes Entschuldungsmanöver seitens Mussolinis gewertet werden. Ebenso bemerkenswert ist die Aussage aus rhetorischer Sicht, da sie eine generelle éndoxa-Bindung Mussolinis nahelegt.
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Zum Erschließen dieser wechselseitigen Übereinkunft bzw. des Unbewus sten werden die bildlichen Ausdrücken in Mussolinis Reden, die rhetorischen Tropen, einer Analyse unterzogen. Dieser liegt die Vorstellung zugrunde, dass das figurale und bildliche Sprechen – gebündelt in der narrativen Form des Mythos – mit der gesellschaftlichen Einbildungskraft verbunden ist, aus der es seine persuasive Wirkung bezieht.19 Das Imaginäre und die sich aus den Tropen bildenden Mythen sowie deren historische Kontextabhängigkeit ergeben einen theoretischen Dreiklang, der in der Analyse entfaltet werden soll. Der gewählte Zugriff über eine Rekonstruktion von Alltagsmythen auf das gesellschaftlich Imaginäre macht einerseits begreiflich, wie Ideen und Ideologien mithilfe des Mythos wirksam gemacht werden können, und verdeutlicht andererseits auch, aus welchen Quellen sich die faschistische Ideologie speiste und wie sie in konkreten Situationen verwendet wurde. Nicht grundlos wurde zu Beginn dieser Untersuchung der Antifaschist und Zeitgenosse Mussolinis Emilio Lussu zitiert und damit dessen Überzeugung aufgegriffen, dass Imagination einen großen und wichtigen Teil für das politische Handeln generell und insbesondere für den Faschismus darstellte. Es stellt sich also abschließend folgende Frage: Inwiefern waren Mythen für Mussolini ein Persuasionsmittel, um gesellschaftlichen Konsens für sich und sein Regime zu erzeugen? Aufbau der Studie Im Folgenden soll das weitere Vorgehen kurz umrissen werden: In einem ersten Schritt werden die Forschungslage sowie die Befunde zur Rhetorik Mussolinis vorgestellt und kritisch besprochen (Kap. 1). Daraus ergibt sich dementsprechend die in dieser Studie eingenommene Theorie-Perspektive. Sodann wird in einem theoretischen Teil der Begriff des Mythos, der eine wichtige Rolle für diese Arbeit spielt, seine rhetorische Verwendung und dessen operative Umsetzung für die Analyse abgehandelt (Kap. 2). Daraufhin wird in den Kontext der politischen Rhetorik Italiens eingeführt, um Mussolini in einem rhetorischen Koordinatensystem zu verorten, d.h. ihn zu anderen
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Es mag verwundern den Begriff der gesellschaftlichen Einbildungskraft in diesem Zusammenhang zu lesen, da er von Lothar Bornscheuer (1976) für die Topik reserviert wurde. Peter Burke (1989) hat in seinem Aufsatz Stärken und Schwächen der Mentalitätsgeschichte dargestellt, dass man durch eine Symbol- und Metaphernanalyse die Mentalität einer Gruppe oder eines Milieus erschließen kann. Zur Übertragbarkeit der vier Topos-Merkmale Bornscheuers für eine Tropenanalyse s. Pielenz (1993: 132–135) sowie in dieser Arbeit Kap. 2.4 (dort mit Schwerpunkt auf dem Merkmal der Habitualität).
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Rednern seiner Zeit in Beziehung zu setzen. Am Ende dieses Abschnittes steht dann als erstes Ergebnis ein rhetorisches Porträt von Mussolini (Kap. 3). Im Anschluss daran werden im analytischen Teil der Arbeit (Kap. 4) fundamentale Elemente des faschistischen Mythenkosmos vorgestellt. Diese sind: der zentrale Mythos der romanità, damit ist die Anknüpfung der Faschis ten an das antike Rom gemeint; die Anbindung an die Zeit des italienischen Nation-Buildings; ferner die faschistische Umgestaltung Italiens während der Wirtschaftskrise sowie zum Schluss der Äthiopien-Krieg. Am Ende von Kapitel 3 und 4 finden sich des Weiteren Zusammenfassungen über die Zwischenergebnisse, sodass eine gute Übersicht gewährleistet bleibt. In den Schlussbetrachtungen werden dann die Ergebnisse der Analyse bewertet und die Frage nach dem Konsens bzw. dem Zustimmungspotenzial zu Mussolinis Rhetorik beantwortet.
Kapitel 1
Ausgangspunkt: der State of the Art Über Mussolini wurde und wird viel geschrieben. Allein in den zwanzig Jahren, die er in Italien an der Macht war – von 1922 bis 1942 – erschienen 400 Monographien, die Mussolini zum Inhalt haben.1 Auch für unser spezifischeres Forschungsgebiet ergibt sich eine beeindruckende Fülle von faschistischapologetischer Literatur, die Mussolini als Redner analysiert und auf die an gesonderter Stelle eingegangen wird (Kap. 3.6). Im Umgang mit dieser faschistischen Literatur ist zwar Vorsicht geboten, doch bietet sie gleichzeitig die Möglichkeit zu sehen, wie Mussolini damals wahrgenommen wurde, um – in einem Abgleich mit den hier nun folgenden Forschungsbefunden – den Grad an Idealisierung und Ideologisierung besser einschätzen zu können. Die seriöse Forschung über den Redner Mussolini setzte erst in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ein. Die Ergebnisse dieser Forschung sind noch heute grundlegend und sollen im Folgenden chronologisch und systematisch vorgestellt werden. Wenn also die Befunde etwas ausführlicher als vielleicht üblich dargelegt werden, dann auch darum, um sie dem deutschsprachigen Publikum besser zu erschließen. Grob eingeteilt sind folgende Forschungsgebiete von Relevanz: 1. die Geschichts schreibung, die sich biographisch mit Mussolini oder institutionell mit seiner Rolle beschäftigt. 2. Eine kulturwissenschaftliche Forschungsrichtung, die sich aus unterschiedlichen Disziplinen speist. 3. Die Text- und Politolinguistik sowie die Sprachgeschichte (storia della lingua). Nicht weiter verwunderlich ist der Befund, dass sich im Allgemeinen die Geistes- und im Speziel len die Kommunikationswissenschaften mit Mussolini als Redner und Propagandisten beschäftigt haben. Die Politikwissenschaft hat grosso modo wenig für die Mussolini-Forschung unter dem hier verhandelten Aspekt beigetragen. Politische Kommunikation scheint dort vor allem auf struktureller und modellhafter Ebene von Interesse zu sein. Die einzelnen Akteure kommen hierbei nicht in den Fokus und werden als Blackbox behandelt.2
1 Vgl. Hasler (1980: 420, Fußnote 1), der auf die von L. Pinti und G. Vaccaro 1942 verfasste Übersicht Guida alla biografia degli scritti su Mussolini verweist. Eine Übersicht über die apologetische Literatur, die Mussolini als Redner betrachtete, gibt Fedel (1999: 112 f., Fußnote 3). 2 Vgl. Sarcinelli (1998), ferner auch die Kritik bei Latniak (1991: 10.) und Fedel (2003: 11).
© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846767474_002
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Kapitel 1
Das komplexe Forschungsfeld strukturiert sich dann wie folgt: Im Duce-Kult liegen die Ursprünge der Forschung, denn hier beginnt in den 60er Jahren die Untersuchung zur propagandistischen Erzeugung des mussolinianismo, die italienische Variante des charismatischen Führerkultes. Eingehend wurde dies erstmals von Dino Biondi in La fabbrica del Duce (1967) untersucht, verbunden mit der Frage nach der Herstellung des Konsenses. Der institutionelle Bezug zu den Massenmedien wurde zum ersten Mal von Philip V. Cannistraro in La fabbrica del consenso (1975) beschrieben. Beide Studien, die von Biondi und Cannistraro, orientierten sich an der Masseninszenierung von Mussolini mit dem Fokus auf der institutionellen Umsetzung, vor allem über Presselenkung, Zensur und Einsatz von Film und Radio. Einen ebenso wichtigen Beitrag zum Verständnis des Duce-Kultes leistete aus historiographischer Sicht Renzo De Felice mit seiner umfangreichen Biographie über Mussolini (1965–1997). In den letzten dreißig Jahren formierte sich ein weitergefasstes, kulturwissenschaftliches Forschungsinteresse. Nennenswert sind die Untersuchun gen zur Ideologie-und Mentalitätsgeschichte des Faschismus, wie z.B. Fascist Spectacle von Simonetta Falasca-Zamponi (1997), Making the fascist self von Mable Berezin (1997) oder From Acient to Modern von Jan Nelis (2011). Ihnen allen ist das Bemühen gemeinsam, den Faschismus kulturgeschichtlich zu erklären. Emilio Gentile kann mit seinem Buch Il culto del littorio (1993) als Begründer dieser Forschungsrichtung angesehen werden. Mussolini und seine Reden werden in dieser Gruppe zwar herangezogen, um die eigenen Befunde abzusichern, aber die Reden selbst sind nicht Hauptuntersuchungsobjekt. Diese Arbeiten „have underscored the ‚emotive‘ and ‚non rational‘ resonance of rituals and the spectacles deployed by fascism while eschewing textual analyses.“3 So wichtig die kulturwissenschaftlichen Befunde für das Verständnis des Faschismus im Allgemeinen sind, können sie für das hier verhandelte Frageinteresse nach der Rhetorik Mussolinis nur ergänzend herangezogen werden. 1.1
Studien über den Diktator
Bis ins Jahr 1973 gab es keine sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zu Mussolini, wenn man von denen der faschistischen Apologeten des ‚Duce‘ absieht. Erst mit Erasmo Lesos Aufsatz Aspetti della lingua del fascismo. Prime linee di una ricerca setzte die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Rhetorik 3 Ferrari (2013: 6).
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Mussolinis ein. Es lassen sich von Beginn an zwei Themenausrichtungen erkennen, nämlich einerseits die akteursbezogene Redenanalyse rund um Mussolini selbst und andererseits die Untersuchung der institutionellen Sprachpolitik des Faschismus. Zum letzteren Strang gehört Gabriela Kleins Monographie La politica linguistica del fascismo (1984) oder Susanne Kolbs Untersuchung faschistischer Wörterbücher in Sprachpolitik unter dem ita lienischen Faschismus (1990). Der Schwerpunkt beider Forscherinnen liegt auf der sprachsystemischen Ebene, im ersten Strang hingegen liegt er auf der Ebene der konkreten Sprachnutzung. In dieser Arbeit soll vor allem, weil der gewählte Ansatz akteurszentriert ist, von der Sprachnutzung Mussolinis ausgegangen werden, da – wie Leso richtig beobachtet hatte – Mussolini zum „vero e proprio modello di comportamento linguistico“4 geworden sei. Wie sah nun dieses kommunikative Modell aus, von dem gerade die Rede war? Der Diktator griff vor allem auf Metaphern aus dem militärischen und religiösen Bereich zurück, so Leso.5 Besonders die religiösen Metaphern würden polemisch eingesetzt, was Leso für den Sozialisten Mussolini hervorhebt. Im Faschismus greife Mussolini zwar ebenfalls auf religiöse Lexeme zurück, benutze sie aber anders, um mit ihnen eine magisch-mythische Kommunikationsbeziehung zu seinem Publikum herzustellen.6 Diese quasireligiöse Beziehung werde zu einem großen Teil durch die Dialogtechnik, die Mussolini von dem Dichter Gabriele D’Annunzio übernommen habe, verwirklicht. Hierin ist schon die maßgebende Interpretation der Forschung angelegt, nämlich die Übernahme von nicht unproblematischen Quellenbegriffen, wie demjenigen der comunione degli spiriti, die im Faschismus so sehr bemüht wurde, um das Verhältnis zwischen Mussolini und seinem Publikum zu beschreiben. Weiter merkte Leso die Worthäufung sowie die rhythmische Gestaltung durch eine zwei oder dreigliedrige Syntax an (ritmo binario: x e x oder ternario: x e x e x). Der binäre Rhythmus könne sich dann entweder als Synonymie oder auch als Antithese, der ternäre als Trikolon, Poly- oder Asyndeton äußern. Leso vertritt die These, dass der ternäre Rhythmus […] einen musikalisch entschiedenen Wert hat, besonders als Schlussklausel, und dazu tendiert, dem Leser/Hörer den Eindruck von Klarheit 4 Leso (1973: 140), vgl. Leso (19782: 15): „Mussolini […] che per venti anni è stata la voce più propagandata d’Italia“. Somit wurde Mussolini zum Stilmodell für das Ventennio. Dass Leso einer der ersten war, der sich mit Mussolinis Rhetorik befasste, bestätigt auch Cortelazzo (1979: 587). 5 Vgl. Leso (1973: 142). 6 Vgl. ebd. (144).
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Kapitel 1 und erkenntnisbasierter Sicherheit zu vermitteln sowie die Überzeugung, dass jedes Mal, wenn er spricht, Mussolini das Argument prüft und vollständig erschöpft (die physische Wirklichkeit ist schließlich dreidimensional!). Diese Art rhythmischer Logik, um es so zu sagen, ist umso mehr notwendig, wie ich gesagt habe, in Ermangelung einer logischen Semantik.7
In Osservazioni sulla lingua di Mussolini (1976) kommt Leso auf diese Äußerung zurück und attestiert Mussolini die Absicht, die Semantik durch melodische Spielereien überdecken zu wollen.8 Seiner Ansicht nach ermangelten die Reden des Diktators der referenziellen Funktion. Ausgegend von der Prämisse einer inhaltlichen Leere und um die Wirksamkeit seiner Rhetorik überhaupt erklären zu können, rückt für Leso die offensichtliche melodische Gestaltung der Reden in den Vordergrund. Mussolini greife auf phonetische Elemente zurück, die dann einem magischen Sprachzauber glichen, der das Publikum bezirzt und sediert hätte („la musica del discorso assolutamente prevalente sulla semantica del discorso“9). Bezeichnend für Leso, aber auch für andere wie Augusto Simonini oder Michele Cortelazzo, ist die psychologische Deutung, die manche Stilzüge Mussolinis, wie beispielsweise die Verwendung der binären oder ternären Syntax, geradezu überinterpretiert.10 An einem zweiten Befund lässt sich das noch genauer zeigen. Leso beob achtet, dass Mussolini in den meisten Fällen dazu neige seine Sätze parataktisch zu formulieren.11 In der Juxtaposition der einzelnen Satzglieder komme eben keine präzise Argumentation zum Ausdruck, die abwäge und Folgen wie 7 8
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Ebd. (146). Vgl. Leso (19782: 51), sowie ebd. (45): „qual è il ruolo che la chiarezza e la semplicità espositive giocano nel sistema linguistico-retorico mussoliniano, possiamo vedere credo ormai bene come esse non possono che fungere da copertura logica nei confronti di una sostanza comunicativa in definitiva alogica, tutta emozionale.“ Herv. v. F.S. Ebd. (49). Vgl. ebd. (38 f.). Cortelazzo (19782: 68) schließt sich vor allem der ternario-These von Leso als wirklichkeitsabbildend an. Simonini (1978: 65, besonders Fußnote 127) erklärt den binären Rhythmus sogar mit der jung’schen Archetypen-Lehre. Mario Puppo (19752: 71–79, 161) hat in seiner Arbeit über Niccolò Tommaseo aufgezeigt, dass sowohl Carducci als auch D’Annunzio von jenem beeinflusst waren, besonders was die Verwendung des binario und ternario angeht und lediglich ihr Bemühen um eine möglichst lebendige Darstellungsweise zum Ausdruck bringt. Das Stilem war also schon fest in der literarischen Tradition Italiens verankert und stellt zunächst keine große Besonderheit dar. Vgl. Leso (19782: 45 f.): „La paratassi serve a Mussolini da un lato ad accentuare nel pubblico l’impressione della comunione fra oratore e ascoltatori e dall’altro a presentare la propria come un’oratoria essenziale, volontaristicamente aliena da complicazioni intellettualistiche, eppure intelligentemente organizzata.“ Ebenso Cortelazzo (19782: 66): „Quella di Mussolini è una sintassi frammentata, fatta di frasi brevi (che possono ridursi ad un sintagma nominale), scarsamente legate le une alle altre (manca non solo
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Bedingungen darzustellen suche. Doch muss dies nicht gleich bedeuten, dass damit überhaupt gar kein Inhalt vermittelt wird, respektive dass damit eine Verschiebung auf die Kommunikationsteilnehmer (Mussolini – Publikum) begünstigt wird. „Both Mussolini’s contemporaries and the linguists tend to attribute to this syntactical practice an essential ideological content, a meaning immune to linguistic and historical context alike“12, kritisiert Barbara Spackman. So muss die Parataxe nicht gleich Ausdruck einer gesamten Mentalität werden („Il popolo ama le cose semplici“13), kann man die Satzgestaltung doch auch aus ihrem Kontext heraus adäquater und eleganter erklären: Wenn man die medialen und politischen Ursprünge der Rhetorik Mussolinis und das Setting seiner Volksreden berücksichtigt, muss man nicht auf eine implizit massenpsychologische Vorstellung wie sie bei Leso vorliegt, rekurrieren. Was bei Leso besonders ins Auge sticht, ist die Ausklammerung der semantischen Aspekte der Reden Mussolinis. Für ihn beruht ihre Wirksamkeit gänzlich auf Emotionen, die durch die Musikalität der angewendeten Sprache erzeugt werde. Sind viele seiner am Text abgeleiteten Beobachtungen nachvollziehbar, so muss man doch der daraus gezogenen Schlussfolgerung nochmalige Aufmerksamkeit schenken: Die Reden als pure Klangkörper seien so mächtig, dass ein ganzes Volk einem Mann gefolgt sei. In dieser Aussage finden sich uralte Vorstellungen wie Rhetorik ‚eigentlich‘ funktioniere. Sie gehen auf den Sophisten Gorgias von Leontinoi zurück. Die Rede Mussolinis sei „eine große Bewirkerin, die mit dem kleinsten und unscheinbaren Körper die göttlichsten Werke vollbringt“ und weiter setze sie „die Seele mit einer üblen Überredung unter Drogen“14. Zwar stammen die Zitate von dem Sophisten Gorgias, doch geben sie im Kern die Anschauung Lesos wieder. Sie belegen, dass nicht nur eine primitive Vorstellung über die Rhetorik zur Erläuterung der rednerischen Wirksamkeit herangezogen wurde, sondern auch, dass die Rhetorik Mussolinis als Analysegegenstand nicht ausreichend reflektiert wurde. Die Wirkung der Rhetorik wird auf Klang und Musikalität zurückgeführt und damit entsteht
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la subordinazione, ma anche la coordinazione: le frasi sono giustapposte), con frequenti incisi, numerose interrogative ed esclamative, strutture binarie e ternarie.“ Spackman (1996: 120), sie rekonstruiert das von Leso angebrachte Argument und zeigt dessen implizite Prämissen auf. Simonini (1978: 64). Gorg. Hel. 8 und 14. Als Überbleibsel dieser latent verführerischen Rhetorik kann auch die Äußerung Ciceros in De or. III, 197 gelesen werden, wenn er schreibt: „Doch unserem natürlichen Empfinden ist nichts so verwandt wie Rhythmen oder Klänge; von ihnen werden wir ermuntert und entflammt, besänftigt und gelähmt, häufig zu Heiterkeit und Traurigkeit verleitet.“
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Kapitel 1
zugleich ein Bild von Mussolini als einem Wiedergänger von Orpheus, der mit seinem Harfenspiel selbst die Steine zum Weinen bringen konnte. Karl-Heinz Göttert hat in seinem Buch Mythos Redemacht diesbezüglich von einem kulturellen Narrativ gesprochen, das auch noch nach dem ‚Tod der Rhetorik‘ im 19. Jahrhundert fortlebte.15 Ein Grund für die angenommene Wirksamkeit ist die Zuschreibung von Wirksamkeit während des Regimes und auch in den Jahren danach, in denen die magische Seite der Rhetorik betont wurde („La parola è una ‚magia di vita‘ “16). Die Vorannahme, die dem zugrunde liegt, ist jene der Trennung von Form und Inhalt. Da der Faschismus keine Ideologie besessen hätte (= Inhalt), müsse Mussolinis Erfolg auf die Form, auf reine Rhetorik rückführbar sein. Dies behauptete Luigi Rosiello in seiner Einleitung zu La lingua italiana e il fascismo, die Lesos und Cortelazzos Aufsätzen vorgeschaltet ist.17 Hier trifft eine Formulierung von Walter Jens ins Schwarze, der diese Herangehensweise als problematisch einstufte. „Der Zentralvorwurf lautet: Rhetorik verführt die Sinne mithilfe der Schönrednerei, stellt Eloquenz in den Dienst von Agitation und verzichtet aufs Argument, auf sachlichen Diskurs und auf aufklärerische Belehrung.“18 Angelegt war diese Interpretation der italienischen Linguisten bereits bei Umberto Eco, der eine ähnliche Unterscheidung wie Jens sie beschreibt, in seinem Aufsatz Il linguaggio politico aus dem Jahr 1973 vorgenommen hatte. Darin definierte er eine natürliche Art der Rhetorik, die auf Argumenten basiere und infolgedessen als ‚Instrument der Erkenntnis‘ genutzt werde. Neben dieser vernünftigen, gebe es auch eine degenerierte Rhetorik, die auf allgemein anerkannten Meinungen beruhe und in ihrer Anwendung den Denk- und Entscheidungsraum des Publikums auf ein Mindestmaß reduziere. Die degenerierte Form der Redekunst erinnert an Kants Verdikt über die Rhetorik.19 In der degenerierten Rhetorik kämen rhetorische Figuren zum Einsatz, die den fehlenden Inhalt verschleiern helfen 15
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Vgl. Göttert (20152: 482 f.). Für die Rhetorik ist die Zuschreibung von magischer Macht („O flexanima atque omnium regina rerum oratio“, Cic. De or. II, 187) ebenso typisch wie die Eigenschaft der zivilisatorischen Entwicklungskraft, die sich in rhetorischen Ursprungsmythen wie z.B. dem von Cicero in De inv. I, 1 manifestiert, vgl. zu diesem Sachverhalt auch Zinsmaier (2014). Vgl. Simonini (1978: 35), der das Zitat aus Sarfatti, einer Mussolini-Apologetin, entnimmt! Vgl. Sarfatti (1926b: 285, dt. Ausgabe). Vgl. Rosiello (19782: 7). Jens (19833: 12). Ferrari (2013: 181, Endnote 24) führt dazu aus: „Far from leading to a deeper understanding of fascism, the ‚empty rhetoric/people pretended axiom,‘ and its equivalent, ‚rhetoric as manipulation/people were duped,‘ rest on a subjectivist conception of ideology in which myths and symbols are psychologized and reduced to an obfuscation of reality.“ Vgl. Eco (1973: 95) und Kant, KU (§ 53. Fußnote).
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sollen. Eco nennt dieses Vorgehen „sopraffazione verbale“20, eine durch Rede zustande gekommene Überwältigung. Selbstredend führt diese Sichtweise zu einem Narrativ, in dem das italienische Volk zu einem verführten Opfer wird und dementsprechend entschuldbar sei, denn durch die Reden sei die Realität verstellt, das Publikum getäuscht und überwältigt worden. Jede Verwendung von rhetorischem Schmuck diene letztlich der Verhüllung von nicht vorhandenem Inhalt. Der Mangel an Stilmitteln impliziert im Umkehrschluss Aufrichtigkeit und argumentative Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Rhetorik und Aufrichtigkeit schließen sich in dieser Sicht grundsätzlich aus. Auch der deutschen Rhetorikforschung, die sich mit Hitler als Redner beschäftigte, waren diese impliziten Vorbehalte nicht fremd. Sie rührten, wie Josef Kopperschmidt meint, von einer gewissen Moral der Forschung her: Diese Moral hat ihren schärfsten Ausdruck in einem prinzipiellen Verdikt gefunden, das jeden Versuch, Hitler verstehen bzw. erklären zu wollen, der ‚Obszönität‘ zeiht […]. Es gibt daneben auch weniger radikale Verdiktformen, die sich nur gegen bestimmte Erklärungen Hitlers wehren; z.B. gegen Versuche wie den hier favorisierten, nämlich Hitlers Erfolg primär aus seiner publikumsbezogenen ‚Sprachrohr‘-Funktion bzw. aus seiner exzeptionellen rhetorischen Anschlussfähigkeit abzuleiten. Mit diesem Erklärungsansatz verstößt man nämlich unweigerlich gegen ein verbreitetes Theorem, nach dem Hitler mit seiner ‚undeutschen Rhetorik‘ (Klemperer) über ein Volk gleichsam hergefallen sei, das auf sein demagogisches Kalkül nicht vorbereitet war und ihm entsprechend wehrlos erlag (Jens).21
Für den italienischen Kontext stehen die Dinge also ähnlich: Nur mit einer degenerierten Rhetorik sei es Mussolini möglich gewesen, sein Volk verbal zu überwältigen. Ein Publikumsbezug, wie er bereits in der Einleitung anklang, wurde von der frühen Forschung systematisch ausgeschlossen. Kritik diesbezüglich haben im Laufe der Jahre Pier Giorgio Zunino in L’ideologia del fascismo (1985) und Barbara Spackman in Fascist Virilities (1996) geäußert. Spackman gab den Anstoß zu einer Neubewertung und auch Hinterfragung der von Leso vertretenen Einsichten:
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Eco (1973: 96), Kurs. i. Orig. Als literarisches Paradebeispiel für eine betrügerische Rhetorik wird der Advokat Azzeccagarbugli aus den I promessi sposi von Manzoni angeführt. Unweigerlich steht nach Ecos Lesart auch Mussolini dieser Ehrentitel zu. Kopperschmidt (2003: 19 f.). Auch Kopperschmidt fiel die, wie er es nannte, „Exkulpationsfreundlichkeit, die diesem Überrumpelungs- bzw. Manipulationstheorem eigen ist“, ebd. (20) auf. S. dazu für den italienischen Kontext die Einleitung.
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Kapitel 1 But if we may ‚rationalize‘ emotions and sexual fantasies, we may also allow that fascist discourse does have an ideological content, however impoverished we might judge it to be, and that […] a reading that aims to uncover articulations among elements may be able to produce knowledge about that ideology.22
Dieser Rationalisierung und Erschließung der faschistischen Rhetorik soll mit dem später vorgestellten Konzept des Mythos Rechnung getragen werden. Eine erste Rationalisierung stellte überdies eine historische Aufbereitung der Rhetorik Mussolinis von Michele Cortelazzo dar. Er hatte 1976 mit dem Aufsatz Mussolini socialista e gli antecedenti della retorica fascista den Schritt hin zu einer historischen Genese der Rhetorik Mussolinis gemacht. Cortelazzo wies nach, dass die phonetischen Elemente in der sozialistischen Phase Mussolinis weniger ausgefeilt gewesen waren. Mussolini griff mit den religiös und medizinisch geprägten Metaphern und Lexemen auf die sozialistische Tradition zurück. Damit wollte er nicht nur polemisieren, sondern auch seine eigene Position bekräftigen.23 Als sprachliche Vorbilder spekulierte Cortelazzo über Literaten wie Alessandro Manzoni, Giosuè Carducci, Gabriele D’Annunzio, Alfredo Oriani und Enrico Corradini. Als weitere beeinflussende Faktoren nannte er die sozialistische und syndikalistische Propaganda sowie den Journalismus. Was den vielbeschworenen Einfluss D’Annunzios auf Mussolini anging, riet Cortelazzo zur Vorsicht. Die Dialogtechnik sei schon vor dem Abenteuer D’Annunzios in Fiume zur Anwendung gekommen und ergab sich fast automatisch aus der Sprechsituation der Piazza heraus. In einem anderen Beitrag La formazione della retorica mussoliniana tra il 1901 e il 1914 von 1977 untermauerte Cortelazzo seine Ansicht, Mussolinis Stil sei schon 1909 definitiv ausgebildet gewesen.24 Ausführliche Studien zur Geschichte der politischen Kommunikation in Italien fehlten in den 70er Jahren noch, mit denen man 22
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Spackman (1996: 119). Für die italienische Geschichtsschreibung gibt Zunino (2013: 18) den Befund wieder: „L’ideologia, infatti, da un lato presuppone una certa misura di consenso, dall’altro lato trova come suo naturale campo di espansione la società civile: negato l’uno e fatto dell’altra il terreno di cultura dell’antifascismo o di uno scettico distacco dal regime, si è chiuso ogni spiraglio al discorso delle idee, sui miti, sulle credenze del fascismo, in una parola, sulla sua ideologia.“ Mit Renzo De Felices These des Konsenses zum Faschismus in weiten Teilen der Gesellschaft wurde auch diese Position revidiert und die Beschäftigung mit der faschistischen Ideologie rückte mit Emilio Gentiles Arbeiten seit den 90er Jahren in den Vordergrund. Vgl. Cortelazzo (19782: 69 ff.). Vgl. Cortelazzo (1977: 183, 191), auch Ders. (19782: 72): „Nel 1914, quando Mussolini passò all’interventismo, gran parte del suo bagaglio retorico era, secondo la mia analisi, già formato.“
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Mussolini überhaupt in seiner Zeit hätte verorten können. Gingen Cortelazzos Bemühungen in eine begrüßenswerte Richtung, so bleiben die darin for mulierten Desiderate noch immer bestehen.25 1978 erschien Il linguaggio di Mussolini von Augusto Simonini, die bis 2016 umfangreichste Monographie zu diesem Thema. Schaut man genauer hin, besteht das Buch aber lediglich aus vier größeren Aufsätzen. In den ersten drei Teilen, die sich mit dem Diktator befassen, bestätigt Simonini die Beobachtungen Lesos und Cortelazzos. Er merkt an, dass man bei der Analyse aufpassen müsse, nicht ein implizites Vorverständnis geltend zu machen, das davon geleitet sei, rein ‚objektiv-argumentierende‘ Reden als alleinigen Bewertungsmaßstab anzulegen und somit Mussolini, noch vor aller Untersuchung, als manipulativ herabzustufen. Im Allgemeinen drängt die moderne Sensibilität den Redner dazu, die rhetorische vis auf ein Minimum zu reduzieren, die auffälligsten und hochtrabendsten Stichworte zu beschränken, um der Rede genau jenen Charakter von Objektivität und Wissenschaftlichkeit zu verleihen. Um dem Hörer zu suggerieren, all das, was in ihm während des Hörens entsteht, sei nicht dem äußeren Eifer des Redners, sondern einem inneren Prozess, einer autonomen Überzeugung geschuldet, die sich in ihm als gleichberechtigten Gesprächsteilnehmer bildet. Bei Mussolini hingegen bleibt das Spiel offen. Er neigt dazu, das Publikum anzufallen, von ihm Besitz zu ergreifen, es sich zu eigen zu machen.26
Wenn also immer wieder festgestellt wurde, dass die phatische27 sowie die konative Funktion bei Mussolini die referenzielle überwiegen, so heißt das, dass er seine rhetorische vis eben nicht einschränkte, dass die Intention, 25
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In der dreibändigen Storia della lingua italiana von Luca Serianni und Pietro Trifone (1993/1994) findet sich nur ein einziger Übersichtsartikel über die politische Sprache, der von Leso verfasst wurde. Auch in der 14-bändigen Storia della letteratura italiana (1995–2004), herausgegeben von Enrico Malato, findet politische Literatur und der Bezug zum Faschismus keine Beachtung. Marginal und nur sehr generell finden sich einige Bemerkungen in der Storia dell’italiano nel Novecento von Pier Vincenzo Mengaldo (20142). Auch in dem Tagungsband L’italiano della politica e la politica per l’italiano (hrsg. v. Rita Librandi/Rosa Piro) aus dem Jahr 2016 findet sich weder ein spezifisches Interesse für faschistische Sprachpolitik noch für Mussolini als Redner. In dem vielversprechend klingenden Band Parole sovrane: comunicazione politica e storia contemporanea in Italia e in Germania (2017), hrsg. von Stefano Cavazza und Filippo Triola, findet sich nur ein Aufsatz, der sich lediglich den Journalismus im Faschismus vornimmt. Am ehesten zum Verständnis von Sprache, politischer Kultur und Rhetorik tragen Werke wie jene von Gabriele Pedullà, Parole al potere (2011) oder Politica ed emozioni nella storia d’Italia dal 1848 ad oggi (2012), hrsg. v. Penelope Morris/Francesco Ricatti/Mark Seymour, bei. Simonini (1978: 41), Kurs. i. Orig. Dieser wie folgende Begriffe werden im Sinne von Roman Jakobson (1979) verwendet.
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wirken zu wollen, nicht latent, sondern offen zur Schau gestellt wurde. In diesem Sinne widersprach Simonini durchaus seinem Vorgänger Leso, der mit einem impliziten Manipulationstheorem operierte. Neben dieser generellen Bemerkung zur Interpretation Mussolinis hob Simonini sich noch in einem anderen Punkt von Leso und Cortelazzo ab. Er stellte die häufig angesprochenen semantischen Felder der Reden Mussolinis zusammen, die eine Orientierung auch für diese Arbeit boten. Diese sind: Nation, Pflicht, Ideale, Romanità, Stärke.28 Unbefriedigend ist jedoch die fehlende Stringenz der Studie von Simonini. Auch neigt Simonini, wie Leso, zu einer psychologisierenden Lesart, die unbegründet und auch unnötig ist, um Textphänomene zu erklären.29 Einen ersten pragmatisch-kommunikativen Analyseversuch lieferte Paola Desideri in ihrer textsemiotisch angelegten Teoria e prassi del discorso politico (1984). Sie klammerte von Anbeginn den historischen Kontext und die Rhetorik aus, die sie allerdings als vielversprechende Disziplin zur Untersuchung politischer Reden kennzeichnete. Wurde die oratoria di piazza bis dato als spirituelle und emotionale ‚Kommunion‘ gedeutet, so ist Desideris Sichtweise funktional und somit neutraler gefasst: Eine fundamentale Regel des Aussagevertrages [contratto enunciativo] ist, wie wir sehen können, dass das politische Subjekt ständig jenen zuhört, an die es sich richtet. Damit nämlich die Kommunikation zum Publikum auf wirksame Art aufgenommen werden kann, muss es in diesem Fall die Äußerungsinstanz [enunciatore] sein, die eine Deutung [fare interpretativo] auf die Interessen und Probleme seitens der Empfängerinstanz [enunciatario] ausübt.30
Der etwas verklausulierte Gedanke ist an sich rhetorisch sehr bedeutsam: Mussolini konnte nur dann Konsens erlangen, wenn er auf die Belange des italienischen Volkes einging. Einerseits arbeitete Desideri die Rollen heraus, die Mussolini einnahm, wenn er zum Volk sprach. Damit schuf er je nach Situation entweder autoritative Distanziertheit oder vertraute Nähe. Andererseits machte Desideri die Rezeptionsanweisungen innerhalb seiner Reden deutlich. Mussolini verwendete das Mittel des Metadiskurses, durch den er die Interpretation seiner Zuhörer zu steuern versuchte. Dies geschehe zum einen durch die Thematisierung der Qualitäten seiner Rede, zum anderen über die Konstruktion eines idealen Empfängers, dessen Identität damit zu einem buon
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Vgl. ebd. (16 f.), vgl. auch ebd. (121 f.). Vgl. ebd. (28–32). Die Kritik daran von Spackman (1996: 179, Fußnote 28). Desideri (1984: 97), Kurs. i. Orig.
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cittadino fascista geformt werden sollte.31 Als eine der ersten hat Desideri den Anti-Rhetorik-Topos durchschaut, den Mussolini des Öfteren anwandte, um die Wirkmächtigkeit seiner eigenen Reden zu unterstreichen: Die von Mussolini gehaltene Rede bestimmt sich systematisch als: (i) reflektiert, geordnet, schematisch, klar, synthetisch und als solche glaubwürdig; sie steht in starker semantischer Opposition zu jener verworrenen, dunklen, ungenauen, künstlichen, in der Regel von den Regimegegnern gehaltenen Rede; (ii) unverblümt, offen, aufrichtig, notwendig und deswegen wahr; sie steht im Kontrast zu jener trügerischen, falschen, vorgetäuschten und lügnerischen Rede, all dies typisch für die Feinde der Diktatur. Die zugrundeliegende Dichotomie ‚wahr‘ vs. ‚falsch‘ findet sich also im Innern der Rede selbst erzeugt und angelegt.32
Die für die rhetorische Wirkung relevanten Werte wie Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit waren also in die Reden selbst thematisch eingeschrieben. Wie Platzhalter oder Surrogate fungierten diese Selbstzuschreibungen der eigenen Rhetorik, ohne dass Mussolini wirklich hätte glaubwürdig und wahrhaftig sein müssen. Forschung der letzten Jahre Im Laufe der Jahre erschienen weitere Studien über Mussolini, die allerdings kaum nennenswerte neuen Erkenntnisse mit sich brachten. In diese Reihe gehören beispielsweise Enzo Golinos Parola di Duce (1994) oder Chiara Ferraris The Rhetoric of Violence and Sacrifice in Fascist Italy (2013).33 Entweder wurden die Ergebnisse von Leso/Cortelazzo/Desideri nur wiedergegeben oder gar nicht zur Kenntnis genommen. 31 32 33
Vgl. Desideri (1984: 50 f., 59 f., 67). Ebd.(1984: 83), Kurs. i. Orig. Vgl. auch ebd. (75, 81). Vgl. Golino (1994). Hier seien einige Kritikpunkte zu Ferrari (2013) angebracht: Obwohl sie Barbara Spackman in ihrem Vorwort dankt, geht sie auf Spackmans Konzept der virile rhetoric weder bekräftigend noch widerlegend oder kritisierend ein. Dieses Verhalten zeigt sich dann auch in der äußert kurzen Besprechung der Literaturbefunde, vgl. Ferrari (2013: 6). Der Theorieansatz (René Girards Sublimierung von Gewalt durch rituelle Symbolisierung) wird nur sporadisch erklärt und das Analysekorpus (bestehend aus drei Reden) ist eher als Stichprobe anzusehen. Eine stärkere historische Einbettung, wie sie bei der letzten Rede vorgenommen wurde, wäre wünschenswert gewesen. Dies mag auch an der Ausrichtung Ferraris liegen, die Mussolini nur zwei Kapitel widmet. Die restlichen zwei Kapitel konzentrieren sich auf das literarische Verhalten von Gadda und Vittorini gegenüber dem Faschismus. Christopher J. Ferguson (2015: 1147) kommt zum Schluss: „However, it is in the literary truth and not the historical truth that the book’s interest lies, and this we find readily in the work.“
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Eine umfassende Übersicht über die Mussolini-Forschung hat Giorgio Fedel mit Il linguaggio politico nel Novecento. Il caso di Benito Mussolini (1999) geliefert. Das Verdienst dieser Kompilation ist die Fülle an Material, das Fedel zusammengetragen hat. Außerdem bemüht sich Fedel die unterschiedlichen rhetorisch-kommunikativen Merkmale Mussolinis zu ordnen und sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dabei machte er wie Simonini die Eigengesetzlichkeit des politischen Diskurses geltend, d.h. der Bewertungsmaßstab müsse sich nach dem politischen Diskurs ausrichten und sei nicht nach den Regeln der Wissenschaftlichkeit zu bewerten. Das einende Band der Rhetorik Mussolinis sei die Emotion, die die Argu mentation überwiege.34 Fedel attestierte Mussolini eine effektive Umsetzung der Textsorte ‚politische Rede‘, die darin bestehe, Handlung anzuleiten und Gemeinschaft zu bilden. Gleichzeitig bewertete er diese Umsetzung implizit als negativ, denn die emotionale Hinwendung zur Nation vermindere den kritischen Geist des Publikums in Bezug auf die politische Einschätzung.35 In seiner Argumentationsanalyse La retorica politica italiana nel secolo delle ideologie: un esercizio di analisi (2003) erweiterte Fedel seinen Forschungsschwerpunkt. Mit seinem Ansatz ging Fedel weit über die polemischwertende von Eco begründete Kritik an Mussolini hinaus und eröffnete einer deskriptiven Untersuchung faschistischer Rhetorik ein weites Feld: Er verglich auf der Grundlage der von Chaïm Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca erstellten Topik die Argumentation von drei politischen Rednern: nämlich die von Mussolini, von Alcide De Gasperi und von Palmiro Togliatti. Fedel legte einen vereinfachten Toposkatalog seiner Analyse zugrunde, nämlich die Topoi der Quantität, der Qualität, der Ordnung, der Existenz, der Essenz und der Person.36 Das kleine Korpus schränkt die Aussagekraft der Befunde für Mussolini auf die frühen Regimejahre ein.37 In Mussolinis Reden stützten die Topoi der Quantität jene der Qualität. Quantitativ angelegte Argumente würden lediglich herangezogen, um die 34 35 36
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Vgl. Fedel (1999: 155). Vgl. ebd. (157). Hier seien jeweils die Schlussregeln formuliert: Topos der Quantität: mehr ist besser/ schlechter, weniger ist besser/schlechter; Topos der Qualität: wovon es wenig gibt, das ist wertvoll und einzigartig; Topos der Ordnung: was ursprünglich und früher war, ist besser; Topos der Existenz: was bereits existiert, ist besser als das Mögliche; Topos der Essenz: dies ist gut/schlecht, da es das Wesen einer Sache/Person ausdrückt; vgl. ebd. (136–151). Fedel untersuchte vier Reden pro Politiker. Bei Mussolini waren es je zwei Parlamentsund Volksreden zwischen 1922 und 1927. Zum Ergebnis der Analyse vgl. Fedel (2003: 145 sowie 153): „I luoghi della qualità sono preminenti nella retorica mussoliniana.“ Sowie „I luoghi della qualità costituiscono in Mussolini il fulcro argomentativo di tutta la sua retorica.“ Kurs. i. Orig.
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Erfolge und die Einzigartigkeit des Faschismus zu belegen. Die qualitativen Topoi charakterisierten Mussolinis Argumentation. Als argumentative Muster stellt Fedel bei Mussolini besonders jene aus dem Bereich der quasi-logischen Schemata fest. Diese seien: das Dilemma, der Vergleich, die (rhetorische) Definition, die Zergliederung von Begriffen sowie das Anführen der eigenen Autorität.38 Alle angeführten Techniken kämen in den Kammerreden sogar noch stärker zum Tragen. Die Argumentation Mussolinis fungiere letztlich als Mittel zur Erzeugung von Emotionen. Barbara Spackman kritisierte die italienischen Linguisten der 1970er Jahre in ihrer Monographie Fascist Virilities (1996). In ihrer Studie analysierte sie am Beispiel der von Mussolini gehaltenen Kammerrede vom 3. Januar 1925 die Gelingensbedingungen für die perlokutionäre Wirkung im Sinne Austins und seine dabei eingesetzte argumentative Strategie. Mussolini mache die „rules of verisimilitude“39 immer wieder geltend, sodass sie daraus folgert: „This is not an appeal to irrational emotions but rather to reason and common sense: you’d have to be crazy to do such a thing, and the Mussolini of this fiction is a man whose rational faculties are as intact as his listener’s.“40 In einer zweiten Analyse (des Discorso dell’Ascensione, 1927) machte Spackman deutlich, wie fruchtbar eine Untersuchung der Metaphern sein kann. Die den Text strukturierende Metapher ‚der Staat ist ein Arzt‘ durchziehe als verborgene Prämisse die ganze Rede oder wie Spackman es formuliert: The principal metaphor along which public and private slide is that of hygiene, a ‚private‘ operation that here becomes social. This transfer is built upon another metaphor, assumed to be already in place, for the property that public and private presumably share is a ‚body.‘ Presiding over the operation is, of course, Mussolini, who portrays himself as master hygienist: ‚io sono il clinico che non trascura i sintomi‘ […] [I am the doctor who doesn’t overlook symptoms].41
Alle staatlichen Maßnahmen im privaten und öffentlichen Bereich könnten somit als ärztliche Prophylaxe gedeutet werden, um Ansteckung und Krankheiten zu vermeiden. Damit legte Spackman das Augenmerk auf den kognitiven und rhetorischen Mehrwert, den Metaphern vermitteln können. Die Kritik an ihren Vorgängern wird gerade da deutlich, wo sie sich gegen eine zu generische Deutung der religiösen Sprache Mussolinis wendet.
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Vgl. ebd. (36, 163, 166). Spackman (1996: 137). Ebd. (138). Ebd. (147).
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Kapitel 1 The role of religious terminology in fascist rhetoric is an area that, though often noted, remains to be studied in all its complexity and particularity; too often its function is assumed to be self-evident, either assigned to the ‚irrationality‘ of fascism (insofar as it appeals to faith rather than reason) or identified with the fascist rhetoric of sacrifice and martyrdom, a rhetoric whose ideological implications are assumed to be immutable.42
Es sei also noch völlig ungeklärt, wie sich das metaphorische Feld des Bildspender-Bereiches ‚Religion‘ organisiere. Die religiöse Sprache Mussolinis löse, so sieht es Spackman mit scharfsinniger Ironie, bei den Interpreten ihrerseits ein irrationales Universalurteil aus und blockiere den wichtigen Prozess einer historisch-sprachpragmatischen Analyse. Spackman hat in ihrer Studie einen ersten Schritt getan, die Metaphern Mussolinis auf ihre rhetorische Wirkung hin zu prüfen. Ab dem Jahr 2015 sind nochmals größere Publikationen über Mussolini erschienen. So ist aus eben jenem Jahr die noch an anderer Stelle vorzustellende Monographie I discorsi critici del Duce von Andrea Monaldi. Im Jahr darauf wurde Benito Mussolini retore. Un caso di persuasione politica von Adrianna Siennicka und 2017 Diktatur der Rhetorik oder Rhetorik der Diktatur. Gezeigt an ausgewählten Redesituationen von Mussolini und Hitler von Gianluca Pedrotti veröffentlicht. Möglicherweise stellen diese Publikationen einen allgemeinen Trend dar, sich wieder eingehender mit dem Diktator auch in einer vergleichenden Perspektive auseinanderzusetzten.43 Für das hier verhandelte Forschungsinteresse ist Siennicka, obwohl die Studie mit ihrem Titel scheinbar große Schnittmengen zur Rhetorik aufweist, zu vernachlässigen. Für sie ist weder die Frage nach dem Konsens von Belang, noch hat sie die neueren Gesichtspunkte der Forschung (Spackman, Fedel) rezipiert. Gleich zu Beginn macht sie deutlich, dass es sich bei Mussolini um eine degenerierte Rhetorik handele, denn es herrsche argumentative Leere vor und die rhetorische Wirkmacht schöpfe sich aus einzelnen Worten.44 Im Großen und Ganzen 42
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Ebd. (126). Sie schlägt vor, die Aussage des Philosophen Giovanni Gentiles, der ‚Faschismus ist eine Religion‘, nicht als Metapher zu lesen, sondern als Katachrese, als Missbrauch, um nicht die Deutung des Faschismus aufzunehmen. Dies gilt selbstredend auch für einige historiographische Deutungen, die den Faschismus als ‚politische Religion‘ erachten, beispielsweise jene von Emilio Gentile. Vgl. ferner die Ausführungen in Kap. 4.2.1 in dieser Arbeit. Vgl. z.B. auch Wolfgang Schieders Buch Adolf Hitler – politischer Zauberlehrling Mussolinis ebenfalls aus dem Jahr 2017. Vgl. Siennicka (2016: 10 f., 28 sowie 264 f.) Obwohl Siennicka eine „analisi piuttosto completa“ durchführen will, beschränkt sie sich dann auf die elocutio und die actio. Dies begründet sie folgendermaßen: Aus der Persönlichkeitsveranlagung Mussolinis könne man ableiten, dass Mussolini bewundert werden wollte und „soltanto l’elocutio
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folgt Siennicka in ihrer Deutung Cortelazzo und Leso. Sie verfährt ähnlich wie Simonini, indem sie zwar viele Beispiele auflistet, diese aber kaum diskutiert und auswertet: so führt sie beispielsweise viele Metaphern an und sortiert sie auch nach Bildfeldern, bestimmt aber deren Funktion im BildempfängerKontext nicht.45 Die Auswahl der Beispiele stammen vorwiegend aus den 20er Jahren, sodass die Regime-Jahre weiterhin unterbeleuchtet bleiben. Mit Pedrotti wurde ein ganz neuer Aspekt zum Thema der Forschung gemacht, denn er untersuchte die „Hypothese der Existenz wiederkehrender körpersprachlicher Repertoires von Gesten, mimischen Zügen und Körperhaltungen bei beiden politischen Figuren [Mussolini und Hitler], welche als Strategien zur Wirkung auf das Publikum angewandt wurden.“46 Interessant sind die Ergebnisse nicht nur, weil sie sich aufgrund der filmischen Grundlage auf die Jahre zwischen 1931 und 1940 beziehen, sondern auch kulturspezifische Gesten oder Idiosynkrasien durch den Vergleich zu Hitler kenntlich machen: so besitzt z.B. der Zeigefinger mehrere Funktionen und die Fingerring-Geste ist dem kulturellen Kontext, in dem Mussolini agierte, zuzurechnen. Neben typischen Körperhaltungen Mussolinis wie beispielsweise die in die Hüfte gestemmten Hände, las Pedrotti aus der Filmanalyse Emotionen wie Stolz, Freude, Entschlossenheit, Ermahnung/Fürsorge, Traurigkeit, Wut oder Verachtung/Ekel ab.47 Damit wurde zum ersten Mal das Thema Emotionen
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[…] consente di strappare agli ascoltatori l’ammirazione.“ Ebd. (14), Kurs i. Orig. Auch hier sieht man ein eloquenztheoretisches Rhetorikverständnis durchscheinen, denn die Rhetorik wird auf die elocutio und auf die Zurschaustellung rhetorischer Kunstfertigkeit reduziert. Die actio erhält dann fast kaum einen Platz, vgl. ebd. (Kap. 6). Vgl. ebd. (81–91). An vielen Stellen tauchen unschlüssige Aussagen auf, so z.B., wenn auf derselben Seite (262) darüber geschrieben wird, dass „il discorso di Mussolini abbonda di tropi: innanzitutto le metafore“ und dann daraus gefolgert wird „la nostra convinzione che non si possa parlare di una vera influenza del modello mussoliniano sugli italiani, come potrebbe sembrare in un primo momento, soprattutto per il fatto che questo linguaggio risultava spesso astratto“. Pedrotti (2017: 134 f.). Streng genommen beschäftigt sich Pedrotti nur mit der actio, dem Auftreten Mussolinis, und führt keine Redenanalyse durch. Um die Gesten überhaupt zu verstehen, muss aber dennoch auf den Redetext zurückgegriffen werden. Einen zaghaften Versuch, die Prosodie und Mimik Mussolinis zu untersuchen, unternahm Frank Ernst Müller in seinem Aufsatz Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini – die ‚oratoria di piazza‘ (2006). Er hebt die Rolle des Publikums hervor, mit dem der Redner interagiere, z.B. durch Buh-Rufe, Schreie und Kommentare, auf die der Redner eingehen müsse. Außerdem unterscheidet er – nach Max Atkinson – eine high- und low-key-Rhetorik, d.h. der gestische Aktionsradius hänge entschieden vom Setting ab, eine oratoria di piazza tendiere somit automatisch zu großen Gesten (high-key), vgl. ebd. (71 f.). Vgl. Pedrotti (2017: 469). Die Traurigkeit trete nur sehr selten auf, ebenso die Freude, die sich speziell vor oder nach einem Auftritt zeige, vgl. ebd. (269–272). Hitlers gestisches Repertoire sei im Vergleich zu Mussolini eingeschränkter gewesen, da es kulturspezifische
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Kapitel 1
aufgegriffen und sowohl gezeigt, welche vorhanden sind, als auch wie sie sich bei Mussolini manifestierten. In der Deutung hinsichtlich der Wirksamkeit Mussolinis liegen bei Pedrotti zwei Erklärungsversuche unvermittelt vor: Zum einen leitet er aus der Verletzung von antiken und neuzeitlichen Normen von Maß und Mitte eine Wirkungsstrategie ab. „Das Verhalten Mussolinis und Hitlers am Rednerpult wirkt heute aufgrund dieser Maßlosigkeit und dieses Mangels an Kontrolle überraschend. […] Die Massen wurden von der Hemmungslosigkeit begeistert, fasziniert, mitgerissen.“48 Dass sich die kommunikativen Kontexte und Konventionen sowie das von Quintilian oder Baldassare Castiglione eingeforderte Rednerideal schon lange verändert haben, berücksichtigt Pedrotti nicht. Zum anderen führt Pedrotti als weitaus überzeugendere Erklärungen für die rednerische Wirkung Mussolinis dessen kulturspezifische Anpassung an das Publikum an, was als Identitätsangebot verstanden werden konnte. Dazu gehört seiner Meinung nach auch das Evozieren von Emotionen durch den Redner, „indem er [Mussolini] die Leidenschaften darstellt, die er in den Zuhörern erwecken möchte“49. 1.2
Blinde Flecke der Forschung und Forschungsfrage
Nach diesem Überblick über die Mussolini-Forschung sollen einige wenige Bemerkungen über deren ‚blinde Flecke‘ gemacht werden, die diese Studie ausleuchten will. Der von Mario Isnenghi 1984 ausgerufene Slogan uscire da Mussolini weist auf eine Mussolini-Fixierung innerhalb der italienischen Linguistik hin. Er forderte, eine größere Anzahl unterschiedlicher politischer Akteure in die Analyse miteinzubeziehen und eine stärkere historische Kontextualisierung der faschistischen Sprachpolitik. Beide Forschungsrichtungen seien durch Mussolini in seiner Schlüsselrolle als ‚Duce‘ verstellt worden.50
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Gesten nicht kennt. Auch förderte die Analyse bei Hitler weniger Emotionen zu Tage. Diese waren lediglich: Stolz, Freude, Entschlossenheit, Ermahnung und Wut. Ebd. (397), Kurs. i. Orig. An anderer Stelle schreibt er: „Sie [Mussolini und Hitler] hypnotisieren und begeistern die Leute durch übermäßigen und übertriebenen Körpereinsatz und die Macht einer gewaltgeprägten Sprache.“ Ebd. (403). Auch Pedrotti ist nicht frei von Vorstellungen wie man sie in Le Bon zu finden pflegt und die in Richtung einer allmächtigen, respektive überwältigenden Rhetorik gehen: „Das Verhältnis RednerZuschauer ist eine intime Beziehung, in welcher die Masse sich wie eine Frau dem starken Führer ergibt.“ Ebd. (473). Ebd. (473). Vgl. Isnenghi (1996: 108): „[C]he sembra maturo il tempo per uscire da Mussolini, e dalle assolutezze di un protagonismo, che pure è stato legittimo riconoscergli e, in qualche modo, usare, in quanto campione privilegiato e precostituito.“ Kurs. i. Orig.
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Dieser Forderung ist unter Vorbehalt zuzustimmen, es bleibt das Ziel seiner Äußerung zu beachten, denn Isnenghi wollte die Forschung der institutionellen Sprachpolitik vertiefen. Uscire da Mussolini kann für unseren Zusammenhang bedeuten, den his torischen wie rhetorischen Kontext stärker in den Blick zu nehmen, um auf diese Weise die Fixierung auf Mussolini zu lockern. Dass dies noch immer ein Forschungsdesiderat darstellt, machte Cortelazzo klar: „Man wartet also immer noch auf jemanden, der ein Buch über die Sprache Mussolinis schreibt“51. Diese Feststellung ist, nach all dem, was geschildert wurde, nach wie vor gültig. Der Rahmen, wie die einzelnen Befunde gedeutet werden können, hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr erweitert und gibt auf dieses Forschungsfeld nun eine unvoreingenommenere Sicht frei: Der ‚blinde Fleck‘ ergibt sich einerseits daraus, dass die (Text-)Linguistik – ihrem Erkenntnisinteresse folgend – viel über das ‚Was‘ und das ‚Wie‘ geschrieben hat. Andererseits hat sie das ‚Wozu‘ vernachlässigt, d.h. sie hat wenig über die Mittel-Zweck-Relationen und über die pragmatische Einbindung der Reden Mussolinis nachgedacht.52 Die bis hierher gegebenen wissenschaftlichen Antworten haben bis dato die historisch-pragmatischen Bedingungen der Reden Mussolinis vernach lässigt. Die daraus folgenden Erklärungsversuche der rednerischen Wirksamkeit wurden weitestgehend auf inszenatorische oder eloquenzrhetorische Gründe zurückgeführt.53 Häufig wurde Mussolini als suggestiv und pathetisch charakterisiert. Es hatte sich die Ansicht etabliert, dass er in seinen Reden nicht argumentiere, sondern alles unter einer erdrückenden Figurenfülle verschleiere. Fedel und Spackman sind auf Distanz zu dieser latent ratio nalistischen Sichtweise gegangen, in der die Rhetorik an sich schon als legitimes Mittel der Politik in Frage gestellt wird und nur (logische) Argumente zugelassen werden sollen. Das reicht aber nicht aus, um plausibel zu erklären, inwiefern Mussolini auch als Redner über 20 Jahre lang sein Regime absichern konnte.54 Die noch immer maßstabsetzende Interpretation von Leso und Cortelazzo beruht auf einer stark kleinteiligen Analyse, die ihren Fokus auf Figuren und Prosodik hatte. Sie berücksichtigte hauptsächlich die syntaktische Ebene und darin ist zugleich ihr Schwachpunkt begründet. Eine sinnvoll vertiefende Analyse muss nicht nur den von Cortelazzo begonnenen Weg der Historisierung und Kontextualisierung fortführen, sie 51 52 53 54
Cortelazzo (1979: 591). Vgl. hierzu Goldberg (1998: 24 f.). Vgl. Eco (1973: 94 f.). Selbstredend kann die angestrebte Analyse nicht alle Faktoren für Mussolinis rednerischen ‚Erfolg‘ betrachten. Die massenmediale Verbreitung der Reden und Mussolinis Präsenz im Mediensystem sowie die eingeschränkte Meinungsvielfalt oder auch die staatlichen Repressionsmittel können hierbei nur am Rande behandelt werden.
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Kapitel 1
sollte auch die von allen Studien festgestellte Emotionalisierung endlich systematisch in den Blick nehmen. Ferner hilft eine Setting- und Kontextanalyse dabei, die strategisch-rhetorische Passgenauigkeit der Reden zur je historisch gegebenen Situation besser einschätzen zu können. Ziel dieser Untersuchung ist, Mussolini als rhetorisch agierenden Redner innerhalb des historischen Kontextes dazustellen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den persuasiven Potenzialen der Reden Mussolinis, was in einem engen Verhältnis zur Frage nach dem Konsens zu sehen ist: Wie war es Mussolini möglich, durch seine Reden Konsens zu erlangen und ihn zu erhalten? Damit wird die Semantik der Reden ernstgenommen und nicht gleich vorverurteilt. Weitere Fragen, die sich sodann stellen sind: Welche Inhalte bzw. Mythen rief Mussolini in seinen Reden auf? Welche Funktionen erfüllen die zahlreichen Metaphern in seinen Reden? Gibt es argumentative Großmuster in seinen Reden, die über die von Fedel aufgezeigten Schemata hinausgehen? Gibt es ein gängiges Muster des Redeaufbaus? Zur Beantwortung dieser Fragen wird das Konzept des Mythos herangezogen, das es erlaubt, disparate Textphänomene zu bündeln und das Hauptinteresse dieser Arbeit, die semantische Persuasivität nämlich zu erschließen. Semantische Persuasivität bedeutet zu untersuchen, ob und wenn ja, wie Mussolini in seinen Reden an die gesellschaftliche Einbildungskraft seiner Zeit anknüpfte. Je höher die Schnittmenge, also Anschlussfähigkeit zum Diskurs war, desto höher war wahrscheinlich der erreichte Konsens. Näheres dazu wird in Kap. 2.2 ausgeführt.
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Theoretisches Rüstzeug Die in dieser Untersuchung zentralen Begriffe werden nun eingeführt und, wo nötig, so bearbeitet, dass sie sinnvoll eingesetzt werden können. Dies trifft zuerst auf den Begriff des Faschismus zu, sodann auch auf den des Mythos. Als Bindeglied zwischen diesen beiden Termini steht ein Problemaufriss, der die wichtige Frage nach dem Konsens im Licht der jüngsten Debatten aus der Forschung wiedergibt. Am Ende des Kapitels steht dann das methodische Vorgehen sowie eine Begründung des zusammengestellten Korpus. 2.1
Welchen Faschismus-Begriff wählen?
Vom Faschismus-Begriff hängt der gewählte Zugang zum Mythos ab. Vereinfacht gesagt gab es drei Phasen, in denen unterschiedliche Paradigmen die Debatte rund um die konzeptionelle Fassung des Faschismus beherrschten: 1. das sozial-kapitalistische, 2. das totalitär-institutionelle, 3. das kulturwissenschaftliche Paradigma. Während der 20er und 30er Jahre wurde von Befürwortern wie Gegnern des Faschismus versucht, das Phänomen begrifflich zu fassen: „[G]emein war diesen Deutungen [von Liberalen, Konservativen oder Kommunisten] stets das Denken in den Kategorien von Klasse und Klassenkampf sowie die Fragen nach dem cui bono und der sozialen Zusammensetzung.“1 Beispiele für Vertreter einzelner Richtungen wären: Luigi Salvatorelli, Antonio Gramsci sowie Palmiro Togliatti und auf konzeptueller Ebene vor allem die sowjetmarxistische Interpretation (Dimitroff-Formel), die Sozialfaschismusthese sowie die Theorie des Bonapartismus, angelehnt an Marxens Analyse von 1848.2 Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich diese Debatte unter anderen Vorzeichen – nämlich in der Blockbildung zwischen West und Ost – fort. Die Totalitarismus-Interpretation, teilweise schon vor dem Krieg vorhanden, wurde 1 Esposito (2016: 10). Kurs. i. Orig. 2 Vgl. Salvatorelli (1923), der für eine liberale, Togliatti (1976), der für eine marxistische Interpretation des Klassenkampfes steht. Allgemein dazu Saage (2007: Kap. 2 und 3) sowie das schon zum Klassiker gewordene Buch von Wippermann (19977). Interessant ist die Herangehensweise von Zunino (1991), der weniger Faschismuskonzepte als vielmehr Vorstellungen über den Faschismus außerhalb des Faschismus, also aus der Sicht von Antifaschisten jeglicher Couleur, beleuchtet und dies sehr materialreich an Originalzitaten belegt.
© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846767474_003
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nun durch Hanna Arendt und durch andere Forscher wie Carl J. Friedrich oder Zbigniew Brzeziński sehr populär. Ihr Fokus lag auf den „dezidiert politischen Charakteristika der […] [faschistischen] Regime […]: ihre terroristische, diktatorische und kriegsförmige Herrschaft sowie der expandierende, in alle gesellschaftliche Bereiche zumindest dem Anspruch nach eindringende Hyperstaat“3. Eine Scharnierfunktion zu einem andersgearteten und weiter gefassten Faschismus-Begriff nahmen Ernst Nolte, George L. Mosse und auch Emilio Gentile ein. Deren Sicht wurde auch durch den Mauerfall begünstigt, waren die Forschenden doch danach nicht mehr an ein politisches Prokrustesbett gebunden. Neue Impulse zog die nunmehr in kulturwissenschaftlichen Fahrwassern verlaufende Debatte aus der Historisierung der Regimejahre, was zuvor aus politischen Gründen schwer zu bewerkstelligen war. Der cultural turn in der Faschismus-Forschung nimmt vor allem das Selbst verständnis der Faschisten und deren Selbstdeutung ernst. Er versucht nicht mehr einen immer gleichbleibenden, essentialistischen Faschismus zu definieren, sondern geht von einem dynamisch-prozessualen Idealtypen aus. Mosse schreibt: „Fascism considered as a cultural movement means seeing fascism as it saw itself and as its followers saw it, to attempt to understand the movement in its own terms.“4 Dieser kulturwissenschaftlichen Sicht auf den Faschismus schließt sich auch die hier angestrebte Analyse an. Vier aus den 1990er Jahren stammende Faschismus-Definitionen, die alle zu demselben Paradigma gehören, haben die heutige Forschung geprägt: Erstens [Roger] Griffins Bestimmung des Faschismus als Ideologie, die auf Vor arbeiten von George Mosse und Zeev Sternhall zurückgreift. Zweitens Roger Eatwells Bestimmung des Faschismus als Matrix des Dritten Weges, die von Passmore zur paradoxen Struktur des Faschismus weiterentwickelt wurde und auf Vorarbeiten von Martin Broszat zurückgreifen konnte. Drittens Robert O. Paxtons Stufenmodell des Faschismus, der diesen prozessual und als Handlungspraxis versteht und schon bei Wolfgang Schieder in ähnlicher Weise entwickelt wurde. Viertens schließlich Michael Manns sozialgeschichtliche Bestimmung des Faschismus, welche die Bedeutung von Gewalt und Konsens in der faschistischen Herrschaftsstruktur als auch ihre rassistische Politikführung in den Mittelpunkt rückt.5 3 Esposito (2016: 10). 4 Mosse (1999: X). 5 Reichardt (2007: 24 f.). Bezeichnend für diesen Wandel ist der Artikel im Dizionario del fascismo von Paxton (2002: 518), der kein Lemma Fascismo, sondern nur Fascismi kennt und schlicht konstatiert: „Il fascismo è un fenomeno proteiforme.“ Daraufhin stellt Paxton sein Phasenmodell vor und unterschiedet zwischen Faschismus, Totalitarismus und Autoritarismus. In dieser Sicht wird der Faschismus als Block aufgelöst und historisiert.
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Besonders die erste Bestimmung des Faschismus von Roger Griffen erwies sich sehr anschlussfähig, da sie den Faschismus als Ideologie und Weltanschauung interpretiert. In The Nature of Fascism (1993) gibt Griffin eine positive, sich von den bekannten Antihaltungen absetzende Definition des Faschismus, die prägnant ist, weil sie auf ein definitorisches Minimum beschränkt bleibt: Faschismus ist „a genus of political ideology whose mythic core in its various permutations is a palingenetic form of populist ultra-nationalism“6. Griffin erläutert in einem späteren Aufsatz: Meine Definition betont, dass an der Wiege des Faschismus eine Ideologie und Weltanschauung steht, die ihre Aktivisten und Führer anzuwenden und in permanenter Interaktion mit gesellschaftlichen Gegebenheiten zu verwirklichen suchen, und dass der persönliche Habitus und die Überzeugungen der Faschisten sowie die faschistische Herrschaftsform und Politik nicht zu verstehen sind, wenn der Faschismus nicht zuerst als Ideologie begriffen wird. Außerdem weist meine Begriffsbestimmung darauf hin, dass die emotionale Antriebskraft dieser Ideologie, ihr ‚mythischer Kern‘, in der Vorstellung besteht, die wie auch immer definierte Nation befinde sich in einem Zustand der Dekadenz oder des Verfalls, aus dem sie durch revolutionäres Handeln erlöst werden müsse, also durch einen von einer Bewegung und schließlich einem Staat oder einer Neuen Ordnung getragenen Prozess der Wiedergeburt, der Erneuerung und der Regeneration.7
Mit dieser Deutung rückte die Ideologie des Faschismus, sein Glaubensund Überzeugungssystem in den Vordergrund, das Griffin zufolge mythisch organisiert sei. Der Ideologiebegriff darf nicht im Sinne des Marxismus als stringent aufgebautes System missverstanden werden, das von seinen Prinzipien her deduktiv abgeleitet wird. Ideologie als Begriff ist weiter gefasst und umspannt disparate Elemente, die locker miteinander verbunden sind und sich um den Generalnenner der Nation gruppieren. Auch spiegeln sich in der Definition neue Interessensgebiete wie z.B. die Herrschaftsform und -vermittlung wider. Die ästhetischen und rituellen Formen von Politikvermittlung erlangten darin, weil sie als Ausdruck von Überzeugungen gesehen 6 Griffin (1993: 26). Er knüpft an den Sorel’schen Mythen-Begriff an und erklärt: „We propose to use ‚mythic‘ to refer to the inspirational, revolutionary power which an ideology can exert whatever its apparent rationality or practicality (as opposed to ‚mythical‘ which connotes imaginary or fictitious), bringing it close to the way ‚utopia‘ is used by some scientists (for example Goodwin and Tayler 1982; Lasky 1976; Kumar, 1987).“ Ebd. (28). 7 Griffin (2014: 18), Kurs. i. Orig. Dass Griffin nicht ex novo und ohne Grundlagen zu dieser Bestimmung gekommen ist, sondern „einige Elemente der älteren Forschung [z.B. von George Mosse oder von Emilio Gentile] zu einer eigenen Definition zusammengeführt“ hat, darauf weist Sven Reichardt (2007: 12) in seiner Übersicht über die Faschismustheorien hin.
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werden, einen neuen Stellenwert, der sich in Studien wie Il culto del littorio von Gentile oder Fascist Spectacle von Falasca-Zamponi niederschlug. Der Faschismus wird in dieser Arbeit, darin Griffin folgend, als eine poli tische Kraft angesehen, die sich immer wieder neu formierte und eine ganzheitliche, sowohl politische, kulturelle wie anthropologische Wiedergeburt Italiens (Palingenese) und damit einen neuen Menschen militärischen Typs anstrebte. Bereits darin sind narrative und, wie sich später zeigen wird, mythische Strukturen angelegt, da die Faschisten von einem Dekadenzmodell ausgingen und zur Vollendung der italienischen Mission, nämlich die Welt zu zivilisieren, durch ihr tatkräftiges Handeln beitragen wollten. Gründe für diese Vorstellung sind im zeit- bzw. ideengeschichtlichen Hintergrund zu suchen. Im Erstlingsroman Die Gleichgültigen (1929) von Alberto Moravia scheinen die Protagonisten von der Entzauberung der Welt, wie Max Weber die Auflösung fester gesellschaftlicher Gewissheiten nannte,8 ganz und gar gefesselt zu sein: „‚Wohin gehe ich?‘; einst, so schien es, kannten die Menschen ihren Weg von den ersten bis zu den letzten Schritten, jetzt nicht mehr; Gedankenlosigkeit, Dunkel, Blindheit; aber man musste doch auf irgendeinen Ort zielen, wohin nur?“9 Die Protagonisten finden kein eigenes Handlungsmotiv mehr, um selbst tätig zu werden. Der Faschismus hat dieses Problem der Entsinnlichung als einen schmerzvollen, aber reversiblen Prozess angesehen, dem er die Wiederverzauberung der Welt entgegenzustellen versuchte. Im 8 Vgl. Weber (201111: 36): „Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen zueinander.“ Die Überführung bzw. Anknüpfung an die Weltkriegserlebnisse durch das Gedenken an die Gefallenen, die Parallelisierung der getöteten Faschisten zu Märtyrern, das kameradschaftliche Element des Squadrismus, etc. sind – mit Weber gesprochen – sublime Erlebnisse, die der Faschismus ins Monumentale zu steigern wusste. 9 Moravia (2017: 115). Schon der Titel gibt das Hauptthema an: die Gleichgültigkeit. In dieser Textwelt ist alles gleich gültig, nichts hat für die Protagonisten (das Zitat stammt hier aus der Perspektive der Figur Michele) einen Wert. „‚Sinn‘ steht […] für eine Perspektivierung von Welt, indem Schneisen und Präferenzstrukturen in die unüberschaubaren Erfahrungsdaten einbezogen und Fragen nach dem ‚warum‘ beantwortet werden. Sinn macht die Welt – eine gegenwärtige oder auch eine zukünftige, noch zu schaffende Welt – plausibel und evident. Sinn zeigt, dass etwas im Unterschied zu anderen Möglichkeiten so ist, wie es ist.“ Dörner (1995: 87). Der Faschismus stellte, wie Mussolini in La dottrina del fascismo (1932) ausführte, einen Versuch dar, dem Leben einen tieferen Sinn zu verleihen: „[I]l fascismo crede ancora e sempre nella santità e nell’eroismo, cioè in atti nei quali nessun motivo economico, lontano o vicino, agisce.“ OO (34: 125). Ausführlicher dargelegt wurde dies noch bei Costamagna (1938: 10 f.), der eine crisi di civiltà aufgrund von Rationalismus, Positivismus und Historismus konstatierte.
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Faschismus – so in seiner Selbstdeutung – sei der lähmende Intellektualismus, wie er sich in Moravias Roman zeigte, überwunden. Fernando Esposito hat diese Weltsicht in seiner Dissertationsschrift Mythi sche Moderne. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutsch land und Italien ausgearbeitet.10 In der mythischen Moderne treten die mythisch sinngebenden Strukturen und die Aufklärung auseinander. Moderne und Aufklärung kommen darin nicht mehr zur Deckung, vielmehr sucht jene mythische Moderne nach absoluter Orientierung und ewiger Ordnung.11 Diese andere, nicht mehr durchweg positive Sichtweise auf die Moderne wurde möglich, weil sie selbst im Zuge der Postmoderne historisiert wurde und somit multiple Formen von Moderne denkbar wurden. Ein (möglicher) Entwurf der Moderne war jener der Faschisten, der sich durch seine „emotionale Antriebskraft“ auszeichnete und dafür den Mythos als Ausdrucksmittel verwandte, um damit Konsens zu stiften und Italien zu erneuern. Alfredo Rocco sagte in einem Vortrag in Perugia 1925: „Es ist wahr. Der Faschismus ist vor allem Handeln [azione] und Gefühl [sentimento] und so beschaffen muss er sein.“12 Nur durch das Gefühl lasse sich eine große Masse gewinnen und steuern. Dass mit azione vor allem die squadristischen Gewalttaten gemeint waren und diese die Gefühlsseite des Faschismus komplementierten, führt zu den notwendigen Betrachtungen im folgenden Kapitel über Konsens und Gewalt. 2.2
Das Problem von Konsens und Gewalt
Bei der Beschreibung und Einschätzung des Faschismus nehmen die Begriffe Konsens und Gewalt eine herausragende Rolle ein. An ihnen wurde und wird der Charakter des faschistischen Regimes, mithin der Grad an Zustimmung oder Ablehnung zu diesem, diskutiert. Auf den ersten Blick scheinen sie in einem unlösbaren Widerspruch zu stehen, denn entweder herrscht in einem politischen System der freiwillige Konsens oder die aufgezwungene Gewalt. Walter Jens’ bekanntes Zitat, dass „Untertanenstaat und freies Wort […] sich 10 11
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Vgl. Esposito (2011). Vgl. ebd. (46): „Der Versuch, eine stabile und endgültige Ordnung zu errichten, ist demnach von der Sehnsucht getrieben, die Geschichtlichkeit und Kontingenz des Daseins zu vergessen und den Geist der Moderne zu verlieren. Doch diese Sehnsucht ist selbst wesenhaft modern, denn sie ist logisch eine Folge der Entdeckung des Chaos und der Ordnung als Aufgabe.“ Gründe für den Geist der Moderne werden dann unter den Stichworten Krise der Vernunft, Werterelativismus sowie Historismus diskutiert, vgl. ebd. (408–418). Rocco (1925: 4), Kurs. i. Orig.
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zueinander [verhalten] wie Feuer und Wasser, denn wo Gewalt herrscht, braucht der Rhetor sich keine Mühe zu machen“13, trifft auch für diesen Zusammenhang zu und macht die Schwierigkeit klar, die mit der Untersuchung der Rhetorik Mussolinis einhergeht. Der Begriff Konsens gilt zuallererst im Rahmen von Demokratien, in denen der erreichte Grad an Zustimmung punktuell durch Wahlen festgestellt werden kann und sich über den freien Meinungsaustausch in der Öffentlichkeit konstituiert. In einem Regime, das den offenen Streit von Meinungen unterdrückte und die öffentliche Meinung steuerte, kann der Begriff nicht losgelöst von der besonderen institutionellen Wirklichkeit gesehen werden und muss an sie angepasst werden. In der Forschung wurde infolgedessen von einem organisierten Konsens von oben gesprochen, um diesen Sachverhalt näher zu umschreiben.14 Konsens und Gewalt in den Jahren des Regimes In den letzten freien Wahlen 1921 erhielten die Faschisten in Verbindung mit den Nationalisten und Rechtsliberalen 19,6 % der Stimmen. Davon waren 0,5 % rein auf die Faschisten entfallen.15 Nach dem sogenannten Marsch auf Rom 1922 und der Ernennung Mussolinis zum Ministerpräsidenten wurde das Wahlgesetz abgewandelt. Die Legge Acerbo vom 14. November 1923 griff dann für die Wahlen 1924: Der Partito Nazionale Fascista (PNF) erhielt 64,9 % der Stimmen durch einen Mechanismus, der jener Partei die absolute Mehrheit verlieh, die 25 % der Stimmen erreicht hatte.16 Die übrigen Stimmen wurden wiederum proportional auf Sozialisten, Kommunisten, Popolari, etc. verteilt. An den Stimmanteilen, die der Faschismus immer nur in Verbindung mit anderen politischen Parteien gewonnen hatte, ist deutlich zu erkennen, dass er weit entfernt davon war, eigenständig Mehrheiten zu organisieren. Für Mussolini war klar, dass er sich um Konsens bemühen musste. Er erhob dieses Werben um die Zustimmung des Volkes in den 30er Jahren mit dem Slogan
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Jens (19833: 26). Albanese/Pergher (2012: 1) fassen es wie folgt: „Coercion or consent? Throughout the 1950s and 1960s and even into the 1970s, scholars writing about the interwar years were clear: the dictatorships in Germany, the Soviet Union, and even Italy had ruled with an iron fist.“ Vgl. Santomassimo (2002: 347), Albanese/Pergher (2012: 3). Für den deutschen Kontext vgl. Kershaw (20172: 37). Vgl. Ministero dell’Economia Nazionale (1924a: XLIII). Vgl. Ministero dell’Economia Nazionale (1924b: XXXIX).
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„andare decisamente verso il popolo“17 (entschieden auf das Volk zuzugehen) zu einer Richtlinie seiner Politik. Nach 1924 fanden keine Wahlen mehr im demokratischen Sinne statt, sondern nur noch Plebiszite (1929 und 1934), die in der Theorie zwar die Möglichkeit vorsahen auch mit Nein zu stimmen, diese Option wurde aber in der Praxis durch verschiedene Maßnahmen wie die überwachte Stimmabgabe oder die Androhung von Prügel unterbunden. Mussolini selbst äußerte sich bereits in den 20er Jahren zum Charakter des neuen Regimes, das er mit den beiden Begriffen Forza e consenso in seinem gleichnamigen Artikel beschrieb.18 Gewalt und Konsens wurden darin als voneinander abhängige und konstitutive Größen für ein politisches System überhaupt wahrgenommen. Den Konsens beschrieb Mussolini indes als etwas sehr Unbeständiges (mutevole), indem er ihn mit den Gezeiten und den Formen aus Sand verglich. Ganz auf den Konsens konnte Mussolini allerdings nicht verzichten. Nachdem das Regime sich institutionell etabliert hatte, tendierte Mussolini mit seinem Slogan, die ‚Massen‘ in den Staat einzubinden, eher zur Konsensorientierung. Für das faschistische Regime war der Konsens eines seiner zentralen Themen. Der Grund hierfür lag nicht nur in einer reinen Machtpolitik, sondern war auch im italienischen Nationalmythos angelegt (vgl. Kap. 4.2). Wissenschaftliche Gebrauchsweisen des Begriffspaares Die Begriffe Konsens und Gewalt wurden auch nach dem Ende des Faschismus in der italienischen Geschichtsschreibung noch als Kategorien verwendet. Wurde zuerst der Pol des Konsenses in den Regimejahren betont, so verlagerte sich im Nachkrieg die Einschätzung hin zur Gewalt. Die applaudierende Menge aus jenen Jahren wurde als propagandistische Inszenierung und Fiktion abgetan.19 Es stellt sich jedoch unweigerlich die Frage, warum Mussolini dann überhaupt Reden hielt und er auf das Volk (vermeintlich) eingehen wollte?20 Mit dem Erscheinen des vierten Bandes der Mussolini Biographie (1974) von Renzo De Felice änderte sich die vorherrschende Sicht. De Felice vertrat darin die Meinung, so schon am Untertitel Gli anni del consenso 1929–1936 erkennbar, 17 18 19 20
Mussolini OO (25: 50). Vgl. Mussolini OO (19: 195 f.). Weitere Überlegungen hat Mussolini 1923/24 zu diesem Thema angestellt, vgl. OO (19: 163) sowie OO (20: 214). Vgl. Calamandrei (2014: 83). Diese Frage blieb auch durch die spätere Konsensforschung unterbeleuchtet. „More importantly, however, enquiry into the question of consent must also look extensively at why Mussolini and the regime laboured so assiduously to create consensus in Italy.“ Mallett (2000: 44).
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der Faschismus hätte durch Mussolini bedingt weite Zustimmung genossen.21 Dieser Band löste eine heftige Debatte aus, stellte der Historiker doch das Gewaltparadigma und die exkulpierende Italiani-brava-gente-Auffassung infrage.22 In den 80er und 90er Jahren wurde das Augenmerk dann vermehrt auf die Herstellung des Konsenses gelegt. Die Fragestellung verschob sich hin zur faschistischen Kultur, die als eminent wichtiges Mittel der Konsensgestaltung erachtet und zum neuen Paradigma erhoben wurde. Giulia Albanese und Roberta Pergher stellen fest, es gebe a persistent divide between those emphasizing the carrots and those brandishing the sticks. Some historians have focused on the regime’s ‚manufacture‘ of consent, via state and party institutions as well as ideology and culture. Others have foregrounded the movement’s societal roots and examined the various segments of society and their responses to the regime’s advances. Others still have either openly or implicitly challenged the idea of consensus, focusing instead on the violence, racism, and warmongering of a regime that, in their view, was not all that different from its German counterpart.23
Generell war und ist mit dem Konsens-Paradigma eine unidirektionale Sichtweise auf die Bevölkerung verbunden, wie sie auch der Faschismus einnahm, d.h. wie wurde der Konsens unter den Italienerinnen und Italienern institutionell und kommunikativ von oben organisiert? Neuerdings gibt es Bemühungen, die Rezipienten von Propaganda und deren Internalisierungsgrad zu erforschen. Als eine der ersten Arbeiten dazu ist jene von Simona Colarizi, L’opinione degli Italiani sotto il Regime 1929–1943, aus dem Jahr 1991 zu nennen, die allerdings wenig rezipiert wurde. Auch Paul Corner und Richard Bosworth befassen sich aufgrund ihres alltagsgeschichtlichen Zugangs mit den Erfahrungen der Italienerinnen und Italiener unter dem Regime.24 Dieser Forschungszweig brach das Gewalt-Konsens-Paar 21
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Kritik an De Felice vgl. Albanese/Pergher (2012: 8) sowie Corner (20172: 123). Generell wurde De Felice vorgeworfen, dass sein Begriffspaar von Konsens/Dissens zu undifferenziert sei. Ferner hätte er zu wenig unterschieden zwischen dem, was einerseits das Regime als Konsens bezeichnet hätte, andererseits was die Einstellung der Bevölkerung zum Regime anging. Ebner (2017: 79) führt an, dass „[t]he De Felicen view ignores, downplays, or denies political repression and atrocity.“ Vgl. Corner (20172: 122): „Emphasis on the centrality of the Resistance in the formation of the new Republic carried with it the strong, if unstated, massage that most Italians had been anti-fascist and were therefore to be considered victims of a violent and repressive regime. It established an implicit distinction between ‚good Italians‘ and ‚bad fascists‘.“ Vgl. auch Focardi/Klinkhammer (2004). Albanese/Pergher (2012: 5). Vgl. Corner (2012) und seine Studie zum Provinzfaschismus. Dafür nutzte er Berichte der Geheimpolizei OVRA. Vgl. ferner Bosworth (2005: 26).
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logischerweise auf und öffnete einen Raum für das Dazwischen, für eine Grauzone. „Ordinary Italians, and even extraordinary Italians (the main perpetrators, or even opponents, of Fascism), played dual- and multiple-roles in the interplay between violence, repression, consent, and acclamation.“25 Mit diesen Einsichten stellt sich nun die Frage, was man unter Konsens zu verstehen hat, auf eine ganz andere Weise. Wirft man allerding einen Blick in vielversprechende Arbeiten mit Konsens/Consenso im Titel, z.B. von Cannistraro oder von Spulcioni, so wird man einen Mangel an begrifflicher Klarheit attestieren müssen.26 Im Englischen kann der Begriff consenso durch consent und consensus wiedergegeben werden: consent and consensus can imply slightly different states of assent in the relationship between regime and people. The word consent implies an approval of the regime that can go from grudging to enthusiastic but in any case is an affirmation that requires a positive mental or physical act of endorsement. Consensus denotes a passive state rather than something that is actively conferred, but it goes further than consent in presuming a shared agreement across the board.27
Man könnte so gesehen auch in aktiven oder passiven Konsens unterscheiden. Bei all den wichtigen Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft muss sich die Rhetorik allerdings bewusst sein, was speziell sie als Disziplin zur Beantwortung der Frage nach Konsens und/oder Gewalt beitragen kann. Im Redner Mussolini wird sie ihren Ausgang nehmen müssen und in einem zweiten Schritt kann sie dann einen Blick auf das angesprochene Publikum richten. Wer wurde durch welche Reden von Mussolini wie adressiert? Mit dieser Frageweise wird die häufig soziologisch eingenommene Perspektive des Konsenses kommunikationstheoretisch umformuliert. Für die Operationalisierung des Begriffs Konsens muss dann auf eine Textanalyse zurückgegriffen werden, die mit Äußerungen des Publikums ergänzt werden müssen. Der Konsens ist, wie Mussolini feststellte, wandelbar wie Formen aus Sand, d.h. er musste in einem ständigen und unabgeschlossenen Prozess durch Rhetorik erzeugt und 25 26
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Ebner (2017: 83). Vgl. Cannistraro (1975), Spulcioni (2014). Mallett (2000: 41) dazu: „indeed most scholars of the consent/dissent issue, have not gone beyond attempting to qualify and quantify the term ‚consensus‘“ sowie Colarizi (1991: 3 f.): „Basta considerare tutta la gamma di aggettivi e di sinonimi con cui viene descritto l’atteggiamento del paese, per rendersi conto della diversità di interpretazioni: l’adesione viene descritta come attiva o passiva, indifferente o consapevole, formale o sostanziale; per alcuni significa accettazione e persino consenso; per altri, sottomissione, inquadramento, irreggimentazione; molti cercano una sintesi in definizioni generali come il ‚mussolinismo‘ o l’a-fascismo.“ All dies „palesa la difficoltà di arrivare ad una valutazione univoca.“ Albanese/Pergher (2012: 4), Kurs. i. Orig.
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aufrechterhalten werden. Bedingung für das Zustandekommen war, dass der Redner inhaltliche Schnittmengen zu seinem Publikum herstellen konnte. Konsens und Gewalt: die rhetorische Sicht auf das Problem Folgt man der von Dietrich Böhler und Boris Räjme im Historischen Wörter buch der Rhetorik vorgeschlagenen Definition des Konsenses, kann man ihn beschreiben als eine von einer Senderinstanz (S) gemachte Aussage (p), die von einer Empfängerinstanz (E) ganz akzeptiert oder ablehnt wird. Als dritte Variante ist noch der Konsens-Kompromiss zu nennen, in dem S die Aussage p so verändert, dass E bedingt zustimmen kann. S und E treffen sich dabei in einer vorgestellten Mitte, in einem Ergebnis, geben aber ihre Begründungspositionen nur teilweise auf.28 Für die Rhetorik ist die Parteilichkeit und das damit einhergehende Partikularinteresse des Redners, der von seiner Sache überzeugen will, nicht zu vernachlässigen. S muss deswegen zeigen, dass sich sein Anliegen in das, was alle, die Meisten oder die Experten denken und wollen, einfügt. S muss seine „jeweilige Meinung als eine konkrete Interpretation und Einlösung dessen ausgeben, was allgemein anerkannt ist, worauf sich eine Gemeinschaft also bereits handelnd und meinend verständigt hat.“29 Diese Plausibilisierung eines Implikationsverhältnisses, nämlich das Vorhandensein der Partikularmeinung (PM) von S in den Ansichten (A) bei E, kann auf unterschiedliche Weise bewerkstelligt werden. Dies geschieht entweder durch das schrittweise Hinführen beider Positionen mittels Argumentation oder aber durch evidenzbasierte Darstellung von gemeinsamen Zielen und Idealen. Ziel ist es jedoch immer zu zeigen, dass PM (S) ⊆ A (E) sei. Dass Mussolini an die Ansichten seines Publikums anknüpfte, soll mit der Rekonstruktion der Mythen aufgezeigt werden. Dabei ist die Auffassung leitend, dass sich Mythen aus der gesellschaftlichen Einbildungskraft spei sen, in der „Bewußtseinsformen und Handlungsmuster“30 einer Gesellschaft gespeichert sind und sich in den Mythen bzw. in den Tropen auf Textebene 28 29 30
Vgl. Böhler/Räjme (1998: 1256, 1258). Ptassek (1992: 230). Bornscheuer (1976: 59). Mit den Bewusstseinsformen ist die Habitualität angesprochen. Sie bildet eines der vier hermeneutischen Merkmale für den Topos-Begriff. Was gewusst werden und als vorstellbar gelten kann, spielt sich im Rahmen des im kulturellen Gedächtnis Gespeicherten ab. Die soziale Phantasie wie das soziale Gedächtnis bedingen sich wechselseitig und kommen im System der Rhetorik in der Topik überein, „[m]emoria und imaginatio sind für das antike Bildungsbewußtsein eine Einheit.“ Bornscheuer (1976: 59).
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manifestieren. Wer an die mentalen Formen und Muster anknüpft und sie an die eigenen Ziele anpasst, der erhält einen hohen Grad an Konsensfähigkeit. Folgt man der etymologischen Herleitung von Konsens (con-sentire),31 ergibt sich durchaus noch eine weitere Möglichkeit, Konsens zu erzeugen, nämlich über die Herstellung einer gleichen emotionalen Disposition. Auch dies wird durch Mythen gewährleistet, die die Eigenschaft aufweisen, emotional zu konnotieren. Die Rekonstruktion von Mythen sagt nur etwas über die Wahrscheinlichkeit des Zustimmungspotenzials der analysierten Reden aus. Die Frage inwiefern Mussolini tatsächlich sein Publikum erreicht hat, kann diese Arbeit nur bedingt beantworten. Um dem dargestellten Problem nun Herr zu werden, kann man einem Vorschlag von Thomas Zinsmaier folgen. Er löst die Pole von Gewalt und Konsens auf, indem er sie als ein Kontinuum von Überzeugungsmitteln konzipiert: Man kann versuchsweise die Mittel, die einer Person, Gruppe oder Institution zur Verfügung stehen, um eine andere Person oder Gruppe zu einer gewünschten Handlung bzw. zur Erduldung einer Maßnahme zu veranlassen, auf einer Skala wachsender Druckausübung seitens des Akteurs und zunehmender Freiheitseinschränkung seitens des Adressaten anzuordnen [sic!]. Diese könnte etwa so aussehen: a. Rationale Überzeugung (‚reiner‘ Logos) = ‚intrinsische Zustimmungsnötigung‘ b. Rhetorische Überzeugung (Logos, Ethos und Pathos: z.B. Erregen von Hoffnung und Furcht durch Versprechen und Warnen): ‚Weiße Rhetorik‘ c. Manipulation: Operieren mit sozialem, moralischem, religiösem Druck: ‚Schwarze Rhetorik‘ d. Offenes Drohen, z.B. mit ökonomischen oder physischen Zwangsmaßnahmen (argumentum ad baculum) e. Befehl f. physische Gewaltanwendung.32 31 32
Vgl. Santomassimo (2002: 347 f.). Zinsmaier (2014: 589), Kurs. i. Orig. Er bemerkt ebenfalls, dass quasi die gesamte oben genannte Bandbreite an Mitteln in unterschiedlichen Kontexten auch in Demokratien zum Einsatz kommt. Eine strikte Trennlinie scheint deswegen nicht zielführend. Corner (20172: 126 f.) wendet diesen Gedanken auf den Faschismus an: „The combination of stick and carrot employed by fascism was very effective; it represented a kind of constant blackmail of the population, producing unavoidable collaboration and often inadvertent complicity with the regime – the type of relationship that all totalitarian regimes feed on. At the same time, however, it was a combination also suggestive of a kind of implicit paternalist bargain; it was as if the fascists were saying, ‚If you behave, the regime will look after you.‘ People were not only ordered to obey but were also, implicitly, invited to except something from fascist in return. […] From the point of view of fascism it was imperative that the regime should work, or at any rate should seem to be working in the interests of the ordinary Italian; otherwise that implicit bargain would begin to break down.“
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Hauptziel der Arbeit wird deswegen sein, herauszustellen, ob Mussolini die Bandbreite der aufgeführten Mittel ausgeschöpft und wie er dies bewerkstelligt hat. Die Punkte a–e werden als textimmanente Verfahren aufgefasst. Das Kontinuum von Konsens und Gewalt wird damit in die Reden Mussolinis verlagert. Die Frage nach dem Konsens kann in diesem Sinne auch aufgefasst werden als die Frage nach dem Persuasionspotenzial. Wie plausibel und annehmbar waren die Angebote („underlying consensus“33), die Mussolini gemacht hat und welche Mittel hat er dazu angewendet? Die Achse Konsens und Gewalt ist streng genommen akteurszentriert. Sie wird aber durch die Anregungen aus dem Bereich der Alltags- und Mentalitätsgeschichte mit einer zweiten Achse ergänzt. Damit kommen die Rezipienten und die auf sie abzielende Wirkung in den Blick. In der Rhetorik des Aristoteles wird die zentrale Stellung des Adressaten und des Zielpublikums hervorgehoben.34 Auf das Publikum ziele jegliches rhetorische Bemühen ab, um auf diese Weise Wirkung entfalten zu können. Unklar bleibt jedoch, was mit dem Begriff Wirkung gemeint ist und auf was sie sich bezieht. Die antike Rhetorik kennt zwar Wirkabsichten des Redners, doch sind dies Aufgaben, die an den Redner gestellt werden, wenn er wirken möchte. Sie sind aus einer gänzlich produktionsanleitenden Sicht heraus entstanden.35 In der modernen Rezeptionsästhetik (Hans R. Jauss, Wolfgang Iser, Umberto Eco) oder im amerikanischen rhetorical criticism (Philip Wander, Edwin B. Black) wird das Publikum als im Text angelegte Größe – als impliziter Leser – thematisiert. Als dessen Urheber bleibt der reale Autor ausschlaggebend, was letzten Endes noch immer keine echte Verschiebung zum realen Rezipienten bedeutet.36 Dabei hat Richard Toye in seinem The Roar of the Lion (2013) gezeigt, 33 34 35
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Kershaw (20172: 37). Vgl. Arist. Rhet. I, 3, 1. „Anders als die moderne Rhetoriktheorie hat die griechisch-römische Rhetorik kaum über Wirkung an sich, auf einer dem konkreten Regelsystem übergeordneten Metaebene, reflektiert. Es gibt zahlreiche Anweisungen, wie Wirkung durch die Rede erzielt werden soll, und die drei Wirkungsfunktionen dienen der Systematisierung der rhetorischen Beeinflussung. Die übergeordnete Frage, was Wirkung eigentlich ist, scheint hingegen für die praktische Rhetorik der Antike vergleichsweise uninteressant.“ Schulz (2019: 561). Allerdings umschrieben die antiken Rhetoriker die Wirkung der Rede oft mit den Begriffen vis / deinotes und meinten damit vor allem die emotionale Wirkung einer Rede. Emotionalität wurde also als einer der wichtigsten Gelingensfaktoren für eine erfolgreiche Rede angesehen. Zu den unterschiedlichen Lesertypen vgl. Iser (19842: 50–67), zur Kritik an der bloßen textimmanenten Konstruktion des Publikums vgl. ferner Kjeldsen (2016: 138–142), der griffig formuliert: „Mostly rhetorical research deals with textual analysis of instances of rhetoric, not with reception or response.“ Ebd. (141). Methodologische Überlegungen für eine historische Rezeptionsanalyse finden sich bei Kjeldsen (2018: 10–13).
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wie fruchtbar es ist, den realen Rezipienten – in diesem Falle Hörerinnen und Hörer der Kriegsreden Churchills – in den Blick zu nehmen. Indem er auf Tagebucheinträge, Zeitungen und Diplomatenberichte zurückgriff, konnte er die weitverbreitete Meinung widerlegen, dass Churchill durch seine Reden die Nation durchweg begeistert und geeint hätte.37 Von diesem Beispiel ausgehend reicht es nicht aus, den Wirkungsbegriff rein formal zu fassen, wie dies z.B. Heinz Starkulla jr. vorschlägt.38 Wie bei Toye muss der Rezeptionsprozess des Publikums und dessen inhaltliche Interpretation der Reden Mussolinis berücksichtigt werden. Im Abgleich der impliziten Wirkungsabsicht mit den Anschlusskommunikaten lässt sich besser einschätzen, ob und wenn ja, wie die Textstrategie Mussolinis aufgegangen ist. Indem die Interpretation des zeitgenössisch realen Rezipienten Beachtung findet, wird ebenfalls die historische Differenz bewusst: „Wir sind immer von dem uns Nächsten hoffend und fürchtend eingenommen und treten in solcher Voreingenommenheit dem Zeugnis der Vergangenheit entgegen. Daher ist es eine beständige Aufgabe, die voreilige Angleichung der Vergangenheit an die eigenen Sinnerwartungen zu hemmen.“39 Was Hans-Georg Gadamer hier anspricht, wird klar, wenn man sich vor Augen führt, wie sehr das Ende des Faschismus und die Forschung über ihn, die Einschätzung auch und gerade der Reden Mussolinis beeinflusst haben. Um Verzerrungen abzumildern, bietet es sich an, einen a priori naiven und einen kritischen Rezipienten für die Analyse aufzunehmen, was durch die Auswahl der Zeitungen bewerkstelligt wurde. Näheres dazu findet sich dann bei den Überlegungen zur Umsetzung der Analyse in Kapitel 2.4. 2.3
Voraussetzungen einer Rhetorik des Mythos
Beschäftigt man sich mit dem Thema Mythos, wird man bald feststellen, dass häufig in geradezu topischer Weise in die Thematik eingeleitet wird: Immer wird der Mythos in Oppositionspaare gestellt und erfährt eine deutliche Abwertung, z.B. Wahrheit vs. Mythos, die echte Realität vs. falscher Mythos oder – in Wilhelm Nestles klassisch gewordener Studie – als Vorstufe vom Mythos zum Logos.40 Darüber hinaus drückt der Begriff im Alltagsgebrauch 37 38 39 40
Vgl. Toye (2013: 4 f.). Vgl. Starkulla jr. (2015: 293). Zum Begriff der Wirkung s. Böhn (2009: 1379). Gadamer (19944: 118). Vgl. Nestle (1940), ferner die Einstiege in das Thema bei Völker-Rasor (1998: 9–12, 19–25), Becker (2005: 129 f.), Wächter (2010: 2).
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Faszination für Geheimnisvolles und Bewunderungswürdiges aus. Diesem privativen und vagen Verständnis von Mythos soll hier ein technisches entgegengesetzt werden, das positiv bestimmt ist.41 Hierfür wurde ein philosophischer Zugang gewählt, weil er offener als andere Sichtweisen ist und diese gegebenenfalls auch integrieren kann. Nach der Darstellung der
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Wenn die Bedeutung eines Wortes im Gebrauch der Sprache liegt, dann lohnt es sich, die verschiedenen Gebrauchskontexte näher anzuschauen. Aleida und Jan Assmann (1998: 179 ff.) stellen sieben Gebrauchsweisen des Begriffs zusammen: 1. die polemische. Hierin ist die alltagssprachliche Verwendung miteingeschlossen. Sie sieht den Mythos durch den Logos als überwunden oder als noch zu überwindendes Stadium der Menschheit an. 2. die historisch-kritische. Auch in dieser Variante gilt der Mythos als überwunden, allerdings wird er noch immer durch rationalisierende Interpretationen, wie z.B. durch die Allegorese oder durch den Euhemerismus genutzt, um zu einem ‚wahren Kern‘ hinter dem Mythos zu gelangen (vgl. R. Bultmann) 3. die funktionalistische. Hier kommt die pragmatische Dimension, vor allem in den Disziplinen der Religionswissenschaft und Ethnologie, zu tragen. Der Mythos wird als ordnungsgebende, die soziale Welt kodifizierende Erzählung begriffen. 4. Der Alltags-Mythos. Der von R. Barthes stammende Alltags-Mythos ist ein/e von der Gesellschaft mit Sinn aufgeladene/s Person oder Objekt. Der Alltags-Mythos bringt nur einzelne Aspekte der gesamtgesellschaftlichen Mentalität zum Ausdruck; er bildet die Grundlage für eine Ideologie. 5. Die narrative Gebrauchsweise. Der Mythos wird durch seine narrativen Strukturen definiert und als Erzählung aufgefasst. 6. Literarische Mythen. Sie sind „immer schon in Rezeption übergegangen“ (Blumenberg (1971: 28)) und zeichnen sich durch ihren Variantenreichtum aus. Eine handlungspragmatische Funktion ist ihnen fremd, das Spiel mit der Imagination und den (literarischen) Formen sind ihre Hauptwesenszüge. 7. Ideologie/Große Erzählung. Obwohl Lyotards Große Erzählung angeführt wird, sei die letzte Variante ein nicht narrativer Mythos. Eine Unterart bildet die erinnerte Geschichte bzw. die von dem Ehepaar Assmann entworfene Mythomotorik. Um dies gleich vorwegzunehmen: Der zugrundeliegende Begriff des Mythos ist in dieser Arbeit eine Kombination aus den Punkten 3, 4 und 5. Dabei wird erstens auf ein funktionalistisches Verständnis wert gelegt, um zunächst einmal eine offenere Sichtweise einnehmen zu können, denn der Mythos wird aus seinem funktionalen Zusammenhang (Situation-Kontext-Publikum) betrachtet. Zweitens wird überprüft, inwiefern gesellschaftliche Leitbilder (Alltags-Mythen) in den Reden Mussolinis vorhanden waren und wie er sie als spezifische éndoxa-Anbindung genutzt hat. Damit kommt das persuasive Potenzial in den Blick. Drittens steht der strukturelle Aspekt des Narrativen im Fokus, was als spezifische Mittelwahl bzw. Vehikel faschistischer Ideologie untersucht werden soll. Es sei noch etwas zum Unterschied von Mythos und Ideologie gesagt: Aleida und Jan Assmann fassen die Ideologie als nichtnarrativen Mythos, denn wenn das narrative Element in die Definition von Ideologie hineingenommen wird, so z.B. bei Zima (1998: 159 ff.), dann ist eine Unterscheidbarkeit von Ideologie und Mythos nicht mehr gegeben. Ideologie ist eine Sondertopik und zuerst einmal propositional zu fassen, d.h. zu trennen von der rhetorischen Umsetzung. Dem Ideologie-Begriff liegt infolgedessen – auch hier gibt es einen polemischen Begriffsgebrauch, nämlich den des falschen Bewusstseins – eine deskriptiv-funktionalistische Sichtweise zugrunde.
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philosophischen und historischen Grundlagen wird die Rhetorik des Mythos vorgestellt. Sprachphilosophie des Mythos bei Giambattista Vico Eine rhetorische Beschäftigung mit Mythen kann sinnvollerweise nur mit Giambattista Vico (1668–1744) beginnen, denn in ihm sind zwei noch immer bestimmende Deutungen der modernen Sicht auf den Mythos angelegt:42 zum einen die Erklärung der Mythengenese aus der Emotion bzw. aus der eigentümlichen Verbindung von Sprache und Emotion, zum anderen der Nachweis, dass Mythen von einer bestimmten Logik beherrscht werden, also alles andere als irrational sind.43 „Vicos Größe und Originalität besteht gerade darin, eine rationale Theorie der irrationalen Gründe menschlicher Kultur entworfen zu haben.“44 In seinem Hauptwerk, der Scienza nuova (zuerst 1725), verfolgte Vico eine kulturanthropologische Genese der Menschheitsgeschichte. Indem er an die vermeintlichen Anfänge der Menschheit zurückschritt, wollte Vico aufzeigen, dass die Menschen bereits zu Beginn eine Art von Metaphysik, Wissenschaft, etc. besessen hätten. Dem zugrunde liegt eine geschichtsphilosophische Idee der Vervollkommnung des Menschen. Zugleich ist damit eine übliche Deutung des Mythos als reine Vorstufe eines Zivilisierungsprozesses gegeben. Allerdings sei dieser Prozess nicht determiniert und unumkehrbar, er laufe auch nicht linear ab. In der kindlichen Phase der Menschheit zeichne sich die Sprache durch die poetische Logik aus. Mythos und Logos sind in dieser Urzeit noch nicht geschieden, denn jener wird als „‚vera narratio‘ ‚wahre Erzählung‘ definiert, das heißt als wahre Rede“45. Ihrem Wesen nach seien die Urmenschen „von äußerst starker Phantasie“46 und sie „verleihen […] den bestaunten Dingen nach ihrem eigenen Selbstverständnis das Sein von Substanzen, was gerade die Natur der Kinder ist, die wir […] beobachten, wie sie unbeseelte Dinge in die Hand nehmen und damit spielen und plaudern, als wären es lebendige 42 43 44 45 46
Nützlich zur Erschließung von Vicos Gedanken ist neben der Einführung in sein Werk von Vittorio Hösle (1990) auch der philosophische Kommentar von Donald Philip Verene (2015). Vgl. Jamme (1991: 87), der mit diesen zwei Aspekten die moderne Mythentheorie bestimmt. Hösle (1990: XXXIV), Kurs. i. Orig. Vico (1990: 188, § 401), Kurs. i. Orig. Zur Ununterscheidbarkeit von Mythos/Logos vgl. Jamme (1991: 22). Die hier verwendete Scienza Nuova entspricht der dritten Ausgabe von 1744. Vico (1990: 171, § 375).
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Personen.“47 Verlebendigung und Personifizierung, also die Erzeugung eines Mythos, erfolge aus Angst vor unerklärlichen Naturphänomenen wie zum Beispiel dem Blitz. Mythen entstünden aus Leidenschaft und mit ihnen gäben die Urmenschen der Welt einen Sinn, indem sie sie anthropomorphisierten. Auch Hans Blumenberg wird in seinem Mythos-Konzept die Angst als Motiv für die Schaffung des Mythos hervorheben, mit dem es dem Menschen auch gelänge, die ‚absolute Wirklichkeit‘ in ihre Schranken zu verweisen, d.h. sich von ihr zu befreien.48 Das Medium dieser Emotionsexpression stellte Vico zufolge eine phantastische, aus Tropen gebildete Sprache dar. Sie bestehe vor allem aus Metaphern,49 Metonymien und Synekdochen und daraus seien dann die Mythen, die wahren Erzählungen gebildet. Die Mythen seien für die ersten Menschen keine fictiones, sondern verae narrationes gewesen. Um wirksam zu sein, dürfen Mythen nicht als Mythen im herkömmlichen Sinne – also als bloße Legenden – wahrgenommen, sondern müssen als realitätsbildende und realitätsabbildende Erzählung angesehen werden. Um sich klar zu werden, wie dies vonstatten geht, ist es ratsam Vicos Sprachtheorie, die Jürgen Trabant sogar noch allgemeiner als Zeichentheorie begreift, zu verstehen.50 Für Vico gibt es in seiner idealen Geschichte drei Arten von Sprachen, die er auch als seine große discoverta – Entdeckung – auffasste: es seien derer drei gesprochen worden, „erstens die hieroglyphische oder in heiligen Zeichen, zweitens die symbolische oder in heroischen Zeichen, drittens die epistoläre oder in Zeichen, auf die sich die Völker durch Konvention geeinigt hatten.“51 Diese drei Signifikationsweisen, die sich auch medial unterschieden, werden zuallererst als diachrone Sprachentwicklung verstanden. Darüber hinaus legt Vico aber nahe, dass die Signifikationsweisen auch aus einer synchronen 47 48
49
50 51
Ebd. (171, § 375) sowie: „und so machen sie aus der ganzen Natur einen ungeheuren beseelten Körper, der Leidenschaften und Begierden […] empfindet“, ebd. (173, § 377). Vgl. Blumenberg (1971: 13): „Ursprung und Ursprünglichkeit des Mythos werden im wesentlichen unter zwei antithetischen metaphorischen Kategorien vorgestellt. […] [A]ls Terror und als Poesie – und das heißt: als reiner Ausdruck der Passivität dämonischer Gebanntheit oder als imaginative Ausschweifung anthropomorpher Aneignung von Welt und theomorpher Steigerung des Menschen.“ Kurs i. Orig gesperrt. Vgl. auch Jamme (1991: 91–105). Was bei Blumenberg wie bei Vico vorliegt, ist die Gegenüberstellung einer schon vorhanden Wirklichkeit gegenüber einem, immer in Reaktion entstehenden (natürlichen) Mythos. Vgl. Vico (1990: 191, § 404): „die ersten Dichter gaben den Körpern das Sein beseelter Substanzen […] und schufen so aus ihnen die Mythen; so wird jede derartige Metapher zu einem kleinen Mythos.“ Die Metapher bildet also in der Vorstellung Vicos einen kontrahierten und verdichteten Mythos. Vgl. Trabant (1994: 12, 46). Vico (1990: 48; § 52), Herv. i. Orig. Vgl. auch ebd. (496 f., §§ 928–931).
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Perspektive zu deuten seien, denn „so wie zu gleicher Zeit die Götter, die Heroen und die Menschen entstanden […], so entstanden zu gleicher Zeit auch diese drei Sprachen“52. Die ersten beiden Sprachen sind nur medial unterschiedlich, sind geeint durch ihren Signifikationsprozess, den Vico mit dem carattere poetico (poetischer Charakter) oder mit dem universale fantastico (poetischer Allgemeinbegriff) umschreibt. Dieser letzte zeichne sich durch einen Abstraktionsprozess aus, der aber dennoch im Konkreten verbleibe. Was ist damit genau gemeint? Ein kluger und diplomatischer Mensch wird beispielsweise mit dem poetischen Charakter des Odysseus identifiziert. Man rekurriere bei diesem Vorgang auf die Charaktere wie „auf gewisse Modelle oder ideale Porträts [und] alle besonderen, ihrem Gattungsbegriff ähnelnden Arten“53 würden diesen Modellen untergeordnet. Trabant erklärt: „Das Entscheidende ist nun aber, daß diese partikularen Größen auf der Stufe des frühen Denkens dennoch die universelle Geltung von Allgemeinbegriffen beanspruchen können.“54 Von größter Wichtigkeit ist somit das Verhältnis zwischen poetischem Signifikant und Signifikat, denn in den ersten Sprachen ist der Blitz Jupiter. Der Zeichennutzer bringt dadurch ein als natürlich intendiertes Verhältnis von Signifikant (Blitz) und Signifikat (Jupiter) zum Ausdruck.55 In der zweiten Sprache stehen die Signifikanten und Signifikate in analogem Verhältnis zueinander, sie werden über eine Ähnlichkeit zusammengehalten, 52 53 54 55
Ebd. (223; § 446). Vgl. die Sichtweise von Trabant (1994: 60) und Verene (2015: 136). Vico (1990: 110; § 209). Trabant (1994: 52 f.), Kurs. i. Orig. Trabant (1994: 67) führt dazu aus: „Die ersten Zeichen sind‚ […] Gebärden oder Körper, die natürliche Beziehungen zu den Ideen haben sollten, die man bezeichnen wollte [atti o corpi ch’avessero naturali rapporti all’idee che si volevan significar].‘ Unter ‚natürlichen‘ Beziehungen zwischen Signifikanten und Signifikaten versteht man in der Sprachtheorie seit Platon zunächst und vor allem abbildliche, ‚ikonische‘ Relationen, also eine strukturelle Isomorphie zwischen Signifikat und Signifikant. Dies ist ganz sicher auch hier gemeint. Aber die gemeinte Relation ist doch etwas näher zu untersuchen. Man hat in der Vico-Literatur leicht den Modus des Verbs in diesem Zitat übersehen: Immer steht, wo von den natürlichen Beziehungen die Rede ist […] die Konjunktivform avessero. Das heißt, Vico sagt nicht, daß die erwähnten Signifikanten tatsächlich natürliche Beziehungen haben oder hatten, sondern daß sie solche Beziehungen ‚haben sollten‘. Diejenigen, die diese Beziehungen herstellten – die ‚bezeichnen wollten‘ –, intendierten also, daß die von ihnen gemachten Gebärden oder die von ihnen gezeigten Sachen (Körper) natürliche Beziehungen zu den Ideen hätten: ‚ch’avessero naturali rapporti all’idee‘. Die ‚Natürlichkeit‘ der Beziehungen zwischen den Signifikanten und den Ideen ist also eine von den Poeten in diese Beziehung hineingelegte, eine subjektiv gewollte Natürlichkeit, eine ‚gesetzte‘ (thetische) Natürlichkeit und keine von den bezeichneten Gegenständen auferlegte, objektive.“ Kurs. i. Orig.
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aber dennoch als univok verstanden. Gerade darin besteht der Unterschied zwischen den ersten beiden zur letzten Sprache: Signifikant und Signifikat seien aneinander auf natürliche Weise gebunden.56 In der dritten Sprache ist das Verhältnis als arbiträr zu bezeichnen. Infolgedessen ergibt sich daraus, dass die ersten beiden Sprachen ontogenetische Funktionen erfüllen. Mit der Bezeichnung wird ein Ding selbst ins Sein gerufen. „Weil der Name die Sache nicht bezeichnet, sondern ist, kommt es zu der vollständigen Gleichsetzung von ‚genannt werden‘ und ‚existieren‘, die ein typisches Kennzeichen ursprünglichsten mythischen Denkens ist.“57 Dem mythischen Denken ist das analoge Verhältnis in dem Satz ‚Dieser da (= diplomatische Mensch) ist Odysseus‘ nicht bewusst. Mit der Benennung einer Person als Odysseus überlagert bzw. formt der poetische Charakter die Wahrnehmung des Adressierten. Die von Vico angeführten Tropen der poetischen Sprache sind im strengen Sinne auch nicht rhetorisch zu nennen, da hierfür ein bewusst intendierter, von der eigentlichen Sprechweise unterschiedlicher Bildungsprozess notwendig wäre.58 Im mythischen Denken herrscht Eindeutigkeit und Natürlichkeit der Zeichenrelation vor. Diesen Zeichengebrauch kann man sich in der dritten Sprache, der willkürlichen, strategisch zu Nutze machen. Greift man auf die ersten beiden Sprachweisen zurück, schafft man erstens Sachverhalte überhaupt erst, präsentiert sie zweitens als natürlich oder bildet drittens durch Umbenennung das Bewusstsein von einer Sache neu. Das mythische Modell von Sprache ist auch noch in einer späteren, aufgeklärten Phase latent vorhanden: Diese Machtstellung der bewußt eingesetzten Sprache, jeder beliebigen Sache zum Sieg zu verhelfen, beruhte natürlich zu einem Großteil auch auf dem unbewußten Weiterwirken der alten magischen Kraft der Sprache. Solange 56
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Vgl. Kraus (1987: 56): „So steht die archaische Denkform in der Mitte zwischen Mythos und Aufklärung. An die Stelle der Identität von Name und Benanntem im mythischen Denken ist nun im archaischen Denken zwar die Vorstellung von der festen, eindeutigen Relation zwischen Name und Sache getreten; doch wirkt in der Unauflöslichkeit dieser Relation die mythische Einheit noch fühlbar nach. Insbesondere gilt deshalb für das archaische Denken noch ebenso unumstößlich wie für das mythische: ‚So lernt ich traurig den verzicht: Kein ding sei wo das wort gebricht.‘ (Stefan George)“. Vicos drei Signifikationsmodi nennt Kraus in seiner Studie über das frühgriechische Denken mythisch, archaisch und konventionell. (Es ist im Unterschied zur Peirce’schen Semiotik darauf zu achten, dass der erste Modus gerade keinen Verweischarakter hat wie der Index, der auf eine abwesende Sache gleichsam als Spur verweist.). Vgl. auch Trabants Erläuterungen (1994: 81). Kraus (1987: 19). Kurs. i. Orig. Die poetischen Charaktere werden bei Kraus Personifikationen genannt, die in dynastische Genealogien eingereiht wurden, ebd. (21 f.). Vgl. Hösle (1990: CLXXXII).
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man prinzipiell davon ausging, daß die Sprache ein Abbild der Wirklichkeit sei, projizierte man alles, was die Sprache suggerierte, unbewußt in die Wirklichkeit zurück: wo die Sprache parallelisierte, sah man die Parallele auch in der Realität; wo die Sprache Antithesen setzte, erblickte man auch einen realen Gegensatz; wo die Sprache benannte, sah man reale Existenz, wo sie verschwieg, übersah man.59
Solange das mythische Denken und die sich daraus ergebende Sprachverwendung vorhanden ist, kann man mit Sprache suggestive Wirkung erzeugen und mit ihr Wirklichkeit schaffen. Das Anliegen Vicos war eine Kritik in zwei Richtungen: Den Gelehrten machte er ihren Hochmut zum Vorwurf (boria dei dotti), der darin bestand nur die Darstellungsfunktion der Sprache anzuerkennen, ihre kreativ-emotionale Seite aber zu verkennen. Mit Vico wird damit auch die konative Funktion von Sprache und die mit ihr verbundene expressiv-emotionale Seite thematisiert. „Indem die Poetische Logik nämlich die vorrationalen Wurzeln und vorsprachlichen Formen menschlicher Semiose aufdeckt, erschüttert sie das hochmütige Vor-Urteil vom Menschen als einem ausschließlich rationalen, logischen Wesen.“60 Gerade aus dieser noch vorhandenen Sprachmagie entsteht in der Rhetorik die Überzeugung, alles bewirken zu können, ja dass sie eine große Bewirkerin sei.61 Wie in Kapitel 1 gezeigt wurde, ist dieses mythische Sprachmodell auch für die Erklärung der Rhetorik Mussolinis angewandt worden. Die zweite Stoßrichtung Vicos wandte sich gegen die Arroganz der Völker (boria dei popoli), die sich als Ursprung jeglicher Kultur setzten und, infolgedessen die Vorherrschaft über andere beanspruchten. Ihnen sollte mit dem Aufzeigen der ähnlichen politischen und kulturellen Entwicklung der Völker, der Schluss nahegelegt werden, dass ihr Ethnozentrismus unbegründet sei.
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Kraus (1987: 185). Trabant (1994: 58), Kurs. i. Orig. „Das entscheidende philosophische Motiv Vicos ist es doch, zu zeigen, daß die vermeintliche Rationalität der Moderne auf ‚wilde‘ Ursprünge zurückgeht, die immer noch lebendig sind. In diesem Sinne liegt unter der Sprache, deren traditioneller Funktionsbestimmung Vico ja durchaus zustimmt, unter der lautlichen, arbiträren, volkstümlichen, kommunikativen Wörtersprache, etwas anderes. Vico formuliert seine Kritik als eine Geschichte, das heißt, er faßt dieses ‚Unter‘ als ein zeitliches ‚Vorher‘. Das ‚Vorher‘ ist aber, weil es ein ‚Unter‘ ist, kein ein für allemal Vergangenes. Vicos sprachkritische Absicht zielt auf den Nachweis, daß der rationalen menschlichen Lautsprache immer noch eine visuell-graphische, ikonische (natürliche), theologisch-aristokratische, expressiv-darstellende ‚Sprache‘ aus Gebärden und Bildern zugrunde liegt.“ Ebd. (89), Kurs i. Orig. Vgl. Gorg. Hel. 8.
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Die Rezeption Vicos und die Aktualisierung seines Denkens bei Ernst Cassirer „Vico drang nicht eigentlich in das gebildete Bewußtsein ein“62. Er wurde von seinen Zeitgenossen nicht wahrgenommen, wenn überhaupt warfen sie ihm vor, unverständlich zu sein. Das war wohl einer der Gründe, warum er eher spärlich rezipiert und trotz vollständiger Übersetzungen ins Deutsche (durch E.W. Weber, 1822) und ins Französische (durch J. Michelet, 1827) zu einem „kaum gelesene[n] Klassiker“63 wurde. Bereits mit Johann G. Herder setzte Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Beschäftigung mit Mythen ein. Daran schlossen sich wenig später Georg W.F. Hegel, Friedrich W.J. Schelling und Johann G. Fichte an. Der deutsche Idealismus und die Romantik wollten mit der Poesie eine menschengemachte ‚Neue Mythologie‘ schaffen, die der Partikularisierung der Gesellschaft – Schiller spricht sogar von „Zerrüttung“64 – eine neue Einheit entgegenstellen sollte. Neu entstandene Disziplinen wie die Ethnologie und Anthropologie (Bronisław Malinowski, Claude Lévi-Strauss) oder die vergleichende Religionswissenschaft (Mircea Eliade) fügten im Laufe des 20. Jahrhunderts dem Begriff Mythos ihre Deutungen hinzu. Auch die Soziologie (Émile Durkheim) und Psychoanalyse (Sigmund Freud und besonders Carl G. Jung) bemühten sich auf ihrem Feld um eine Erschließung. Der Mythos wurde weiterhin durch die Geschichtswissenschaft im Themenbereich der Nationalismus-Forschung (Eric Hobsbawm) und durch die Politikwissenschaft (Benedict Anderson, Andreas Dörner, Rudolf Speth, Christopher Flood) beforscht. Nicht zuletzt gab der Strukturalismus (Roland Barthes) neue Impulse, ganz zu schweigen von den Überlegungen seitens der Philosophie (Ernst Cassirer, Hans Blumenberg, Kurt Hübner).65 Mit Ernst Cassirer soll nun an die Ausführungen über Vico angeschlossen werden, der mit seiner Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) und dem Myth of the State66 (postum 1946) zur rationalen Erschließung von 62 63 64 65 66
Hösle (1990: CCLXX). Ebd. (CCLXV). Vgl. Schiller (2008: 23, Sechster Brief). S. auch Syndram (1995: 119 ff.) sowie Jamme (1991: 81 f.). Vgl. Jamme (1991: 15, 84–87), eine Sammlung von Mythentheorien (vor allem für das 19. Jh.) bietet Kerényi (1967), Bohrer (1983) sowie speziell für das 20. Jahrhundert im Überblick auch Barner/Detken/Wesche (2012). Die Monographie Myth of the State wird nur insofern berücksichtigt, wo sie die Positionen Cassirers nochmals besser verdeutlicht oder neue hinzugekommen sind. Besonders die Ausführungen zum Nationalsozialismus müssen auf ihre Übertragbarkeit in Bezug auf den Faschismus hin geprüft werden. Erstaunlicherweise fehlen nämlich darin (Mythos-) Theoretiker des 19. und 20. Jahrhunderts wie Nietzsche oder Sorel.
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mythischem Denken und von Mythen beigetragen hat. Cassirer knüpfte nicht nur in seinem ersten Band der symbolischen Formen an Vico an. Er griff ihn wieder in seinem Spätwerk auf, wo er ihm eine zentrale Stelle in der Ausdifferenzierung menschlicher Erkenntnisarten zusprach und ihn an als einen der Begründer der Kulturwissenschaften ausdrücklich lobte.67 Für Cassirer ist der Mythos eine von vielen symbolischen Formen, die eine „Prägung zum Sein“68 darstellt. Wie in der Prägung schon anklingt, ist jede symbolische Form ein aktiver geistiger Prozess, der Wirklichkeit dadurch erschafft, indem er auf eine bestimmte Weise eine diffuse Wahrnehmung mit einem geistigen Gehalt mit Bedeutung und Sinn verknüpft. Das ist die sogenannte symbolischen Funktion. Die Art und Weise, wie diese Verknüpfung dann zustande kommt, fasste Cassirer unter den Begriff der symbolischen Prägnanz:69 Und so ist es überall die Freiheit des geistigen Tuns, das das Chaos der sinnlichen Eindrücke erst lichtet und durch die es für uns erst feste Gestalt anzunehmen beginnt. Nur indem wir dem fließenden Eindruck, in irgendeiner Richtung der Zeichengebung, bildend gegenübertreten, gewinnt er für uns Form und Dauer. Diese Wandlung zur Gestalt vollzieht sich in der Wissenschaft und in der Sprache, in der Kunst und im Mythos in verschiedener Weise und nach verschiedenen Bildungsprinzipien: aber sie alle stimmen darin überein, daß dasjenige, was schließlich als Produkt ihres Tuns vor uns tritt, in keinem Zuge mehr dem bloßen Material gleicht, von dem sie anfänglich ausgegangen waren.70
Bei Cassirer wird jede symbolische Form funktional verstanden, der Mythos wird damit aus dem Fragekreis von Wahrheit und Lüge, von Realität und Fiktion herausgelöst und lediglich in seinen Wirkungen betrachtet. Jegliche Wirklichkeit gilt aufgrund seiner anthropologischen Prämisse, der Mensch sei ein animal symbolicum, als symbolisch vermittelt. Die Forderung nach Übereinstimmung von Mythos und Realität wird damit belanglos.71 Das mythische 67 68 69
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Vgl. Cassirer (19644a: 91 ff.) sowie Cassirer (2011: 11 ff.). Als eine Verbindungslinie, die Cassirer eher indirekt zu Vico führt, ist Hermann Usener zu nennen, den Cassirer las und welcher wiederum stark von Vico beeinflusst war, vgl. Kany (1987: 82, 100, 105). Cassirer (19644a: 43), Kurs. i. Orig. gesperrt. Vgl. Cassirer (19644c: 235): „Unter ‚symbolischer Prägnanz‘ soll die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. […] Diese ideelle Verwobenheit, dieser Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll der Ausdruck der ‚Prägnanz‘ bezeichnen.“ Cassirer (19644a: 43), Kurs. i. Orig. gesperrt. Vgl. Cassirer (19644b: 9, 19), zu den anthropologischen Ansichten vgl. Cassirer (1944: 41–44).
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Denken verfahre, so Cassirer, regelhaft, d.h. es folge einem „bestimmte[n] Prinzip der Verknüpfung und der ‚Reihung‘“72. Eine aus wissenschaftlicher Sicht konstruierte Ähnlichkeit oder Analogie zwischen zwei Dingen oder Personen wird im mythischen Denken als wirkliche Identität gedeutet. Dies war bei Vico in der heroischen Sprache der Fall: ein kluger Mensch ist Odysseus.73 Ferner wird die Ursächlichkeit nicht zeitlich, sondern räumlich aufgefasst, mithin gleicht sie – aus wissenschaftlicher Sicht – dem Fehlschluss des post hoc ergo propter hoc. Im mythischen Denken wird raum-zeitliche Nähe als Kausalität ausgelegt.74 Des Weiteren neige das mythische Denken dazu, alles zu verdinglichen oder zu personifizieren (Konkreszenz), denn alles kann unter dem Aspekt der symbolischen Form des Mythos betrachtet werden: alles wird darin geordnet, indem es in profan/heilig geschieden werde.75 In seinem Exilwerk Myth of the State geht Cassirer genauer auf den sozia len Wert, den das mythische Denken für den Menschen hat, ein. Es finde eine Objektivation der menschlichen Gefühle statt. Über den symbolischen Ausdruck der Gefühle komme es zu einer „grundsätzliche[n] Identität des 72
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Cassirer (1922: 7) sowie Cassirer (2002: 23): „Was für ‚primitive‘ Sprachen gilt, gilt ebenso für primitives Denken. Seine Struktur mag uns fremdartig und paradox erscheinen; aber niemals ermangelt es eines bestimmten logischen Aufbaus.“ Die Aufgabe des Denkens sei es, zu unterscheiden, einzuteilen und zu ordnen. Vgl. Cassirer (19644b: 87): „Dem mythischen Denken genügt jede Ähnlichkeit in der sinnlichen Erscheinung, um die Gebilde, an denen sie auftritt, in ein einziges mythisches ‚Genus‘ zusammenzunehmen.“ Dass das von Cassirer vertretene Verständnis über das Denken, an Vicos Ideen anschließt, zeigt auch die Betonung der expressiven Sprachfunktion im Mythos. So sei es im Nationalsozialismus zu einem Wechsel der Sprachfunktion von der semantischen (Referenz) hin zur magischen Funktion gekommen, vgl. Cassirer (2002: 368). Vgl. Cassirer (1922: 20 sowie 42): „Der Name ist, mythisch genommen, niemals ein bloß konventionelles Zeichen für ein Ding, sondern ein realer Teil desselben – und ein Teil der nach dem mythisch-magischen Grundsatz des ‚pars pro toto‘ das Ganze nicht nur Vertritt, sondern wirklich ‚ist‘.“ Sowie: „Nicht mit der zeitlichen Kontinuität, sondern mit der räumlichen Kontiguität ist der mythische Begriff der Ursächlichkeit innerlich verwandt und verwachsen.“ Vgl. Cassirer (19644b: 58 f.), Herv. i. Orig. Vgl. Cassirer (19644b: 71 f.): „Und hier tritt die eigentümliche Verdinglichung, die allem mythischen Denken wesentlich ist, noch schärfer hervor: denn es sind nicht nur einzelne konkret-wahrnehmbare Objekte, deren Entstehung auf diese Weise erklärt wird, sondern auch ganz komplexe und vermittelte Formbeziehungen. […] Die mythische Phantasie dringt auf Belebung und Beseelung, auf durchgängige ‚Spiritualisierung‘ des All; aber die mythische Denkform, die alle Qualitäten und Tätigkeiten, alle Zustände und Beziehungen an ein festes Substrat bindet, führt immer wieder zum entgegengesetzten Extrem; zu einer Art Materialisierung geistiger Inhalte zurück.“ Zur Grundunterscheidung in heilig/ profan vgl. Cassirer (19644b: 103, 173), Kurs. i. Orig. gesperrt. Mythische Sinngebung ist somit als Sakralisierung zu verstehen.
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Lebens“76, auf dieser Weise werde Gemeinschaft gestiftet. Als Objektivationen lassen sich Gefühle somit auch konkret bestimmen und analysieren, ohne reine Spekulation bleiben zu müssen.77 Gefühle steuern das soziale Leben und bilden die Grundlage für jegliche Gemeinschaft, also auch für den Staat. Wie Fedel bereits gegen Leso angeführt hat (s. Kap. 1), ist die Eigengesetzlichkeit des Forschungsfeldes zu beachten. „Kommt es zu politischer Handlung, dann scheint der Mensch Regeln zu befolgen, die ganz verschieden sind von denen, die er in allen seinen theoretischen Betätigungen anerkennt. Niemand würde daran denken, ein Problem der Naturwissenschaft oder ein technisches Problem durch die Methoden zu lösen, die zur Lösung politischer Fragen empfohlen und angewandt werden.“78 Man muss sich über diesen Unterschied bei der Analyse politischer Reden bewusst sein. Mythisches Denken ist die Logik des Alltags. Auf dem Mythos, zusammen mit der Sprache,79 beruhen alle anderen symbolischen Formen und sie nehmen von diesen beiden ihren Ausgang. Cassirer formulierte dies wie folgt: „Ja auch die Welt unserer unmittelbaren Erfahrung – jene Welt, in der wir alle, sofern wir außerhalb der Sphäre bewußter, kritisch-wissenschaftlicher Reflexion stehen, beständig leben und sind – enthält eine Fülle von Zügen, die sich, vom Standpunkt eben dieser Reflexion, nur als mythisch bezeichnen lassen.“80
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Cassirer (2002: 53). Und ebenda befindet er: „Religion und Mythus geben uns eine Einheit im Fühlen.“ Er führt diesbezüglich aus: „Bei mythischem Denken und Einbildungskraft treffen wir nicht auf persönliche Konfessionen. Mythus ist eine Objektivierung der sozialen Erfahrung des Menschen, nicht seiner individuellen Erfahrung.“ Ebd. (66), Kurs. i. Orig. Die Objektivierung schaffe dauerhaften Ausdruck und die Grundlage für ein soziales Gefüge, weil sie Gefühle in ‚Werke‘ umwandle und intersubjektiv nachvollziehbar mache. Speth (2000: 41) erkennt den Vorteil der symbolischen Formen für die Analyse politischer Kommunikation. Er schreibt: „Cassirers Konzept der symbolischen Formen hat insofern weiterführende Erschließungskraft, als es ein umfassender Erklärungsansatz dafür ist, wie menschliche Erfahrung zu Stande kommt. In Abgrenzung gegen einerseits eine Logik, der es nur um formale Denkprinzipien und rationale Verbindung von Fakten geht und andererseits gegen einen Psychologismus, der von inneren Erlebnissen und unmittelbaren Erfahrungen ausgeht, lassen sich die Eigentümlichkeiten der symbolischen Formen am deutlichsten bestimmen.“ Cassirer (2002: 7 f.), er kommt sogar zum Ergebnis: „Im praktischen und sozialen Leben des Menschen hingegen scheint die Niederlage des rationalen Denkens vollständig und unwiderruflich zu sein.“ Ebd. (8). Vgl. hierzu Dessì Schmid (20112). Cassirer (19644b: 19). Aus rhetorischer Sicht erscheint es plausibel, die symbolische Form des Mythos als Alltagslogik aufzufassen, die im ständigen Werden versucht, Gesetzmäßigkeiten, das Naheliegende/Wahrscheinliche also, ad hoc abzuleiten.
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Nicht zu vergessen ist allerdings, dass diese „Atmosphäre des mythischen Denkens und der mythischen Phantasie“81, in die der Mensch eingehüllt sei, ihm ganz natürlich und wirklich erscheint, d.h. die geistige Aktivität seiner Phantasie und das Bilden der Wirklichkeit ist ihm nicht als solches bewusst, „denn die Bilder, in denen er lebt, sind nicht bekannt als Bilder. Sie werden nicht als Symbole, sondern als Realitäten betrachtet.“82 Die Mythen, die im 20. Jahrhundert geschaffen wurden, seien aber bewusst gemacht worden: Den modernen Mythen fehlt somit die Unschuld des unmittelbaren Ausdrucks. Der moderne Politiker mußte in sich selbst zwei vollständig verschiedene und sogar unvereinbare Funktionen verbinden. Er muß gleichzeitig sowohl als homo magus, als auch als homo faber handeln. Er ist der Priester einer neuen, vollständig irrationalen und mysteriösen Religion. Aber wenn er diese Religion verteidigen und propagieren muß, geht er sehr methodisch vor. Nichts bleibt dem Zufall überlassen; jeder Schritt ist wohlvorbereitet und vorbedacht. Es ist diese seltsame Kombination, die einer der überraschendsten Züge unserer politischen Mythen ist. Mythus ist immer als das Ergebnis einer unbewußten Tätigkeit und als ein freies Produkt der Einbildungskraft bezeichnet worden. Aber hier finden wir Mythus planmäßig erzeugt. Die neuen politischen Mythen wachsen nicht frei auf; sie sind keine wilden Früchte einer üppigen Einbildungskraft. Sie sind künstliche Dinge, von sehr geschickten und schlauen Handwerkern erzeugt.83
In der Verbindung von Technik und Mythos – beides symbolische Formen – entstehe ein Amalgam, das bewusst gemacht und beabsichtigt sei. Man könnte auch von einer Vereinnahmung der symbolischen Form des Mythos durch die Technik sprechen. Cassirer zufolge bedeute dies ein Novum in der Politik. Eine ähnliche Verbindung der bewussten Nutzung von symbolischen Formen kann allerdings schon im 19. Jahrhundert festgestellt werden, nämlich zwischen Kunst und Mythos im Nation-Building-Prozess Italiens, denn die Literatur des Risorgimento war zu großen Teilen politisch. Das Novum ist als solches nur noch ein graduelles, allein der Wirkungskreis hatte sich durch die Massenmedien im 20. Jahrhundert noch erweitert. Die von den Politikern geschaffenen Mythen sind keine wilden mehr, es sind Kunstmythen. Die Kunstmythen sollen im besten Falle aber gar nicht als solche wahrgenommen werden. Das Ziel der rhetorischen Verwendung von Mythen ist, die Rezipienten in die Mythen so einzuhüllen, dass sie zu ihrer Lebenswirklichkeit werden. Zum Schluss dieser Darstellung der Philosophie Cassirers drängt sich die Frage auf: Was ist mit diesem Ansatz eigentlich gewonnen, auf welches 81 82 83
Ebd. (3). Cassirer (2002: 66), Kurs. i. Orig. Ebd. (367).
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Problem gibt er eine adäquate Antwort? Mit Cassirer ist es möglich, der zentralen Forderung Barbara Spackmans nachzukommen. Sie sei nochmals zur Erinnerung zitiert: But if we may ‚rationalize‘ emotions and sexual fantasies, we may also allow that fascist discourse does have an ideological content, however impoverished we might judge it to be, and that […] a reading that aims to uncover articulations among elements may be able to produce knowledge about that ideology.84
Die philosophische Grundierung der zentralen Analysekategorie des Mythos durch Cassirers Ansatz schließt eine vergleichende, naive Perspektive zwischen harter Realität und bloßem Mythos aus. Der Abgleich zur Realität wird damit irrelevant. Mit Cassirer wird die Sichtweise ausgeschlossen, Mythen seien lediglich irrational und müssten deswegen nicht untersucht werden. Mythenanalyse nach Cassirer erfüllt Spackmans Forderung einer Rationalisierung und kann zur unbefangenen Erschließung des Faschismus beitragen. An Cassirers Spätwerk konnte man sehen, dass Mythen in der Politik eine tragende Rolle spielen, besonders im Prozess des Nation-Buildings und sie nichts mehr mit den alten Mythen der Antike zu tun haben. Sie sind nunmehr Kunstmythen und stellen das Medium dar, in denen das Soziale und Emotionale symbolisch zum Ausdruck kommen. In ihnen organisieren Menschen ihre Gemeinschaft. Imagined community: die Nation und der Rhetorik-Begriff Nach Benedict Anderson ist die Nation eine vorgestellte Gemeinschaft (imag ined community), also ein symbolisch erzeugtes Konstrukt, das wie ein Magnet unterschiedliche symbolische Formen anzieht und diese in bestimmter Weise anordnet.85 Die symbolische Großform der Nation nimmt für die weitere Untersuchung eine zentrale Stellung ein. Wie Michael Metzeltin festgestellt
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Spackman (1996: 119). Es ist somit klar, dass dies sowohl eine Absage an eine essentialistische Definition der Nation darstellt als auch eine zu enge Beschränkung auf staatliche Institutionen, Organe, Verfassungen. Die Nation als Großform einer Mischung von symbolischen Formen zu bezeichnen, nimmt die Definition von Anderson auf – besonders den Aspekt der Vorstellung. Denn die Einzelnen der Gemeinschaft können sich realiter nicht alle kennen und bedürfen deswegen eines Bildes der anderen über ein konstruiertes Selbstbild der Nation, vgl. Anderson (19962: 15). Ferner Pauls (1996: 26) dazu ergänzend: „Der ‚typische Gehalt der nationalen Idee‘ läßt sich nicht beweisen, es bedarf daher der Erzählung, damit eine ‚affektuelle‘ Bindung entstehen kann.“ Der Mythos als Erzählung ist das Medium in und wodurch die Nation geschaffen wird.
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hat, läuft „der Prozess der Bildung von Nationalstaaten immer wieder ähnlich“86 ab, sodass er ein mehrere Faktoren umfassendes Modell erstellen konnte: (1) Bewusstwerdung (2) Territorialisierung (3) Historisierung (4) Standardisierung und Historisierung einer Nationalsprache (5) Textkanonisierung (6) Institutionalisierung (7) Medialisierung (8) Globalisierung.
Alle genannten Punkte laufen dabei nicht nur chronologisch ab, sondern sie müssen immer wieder aufs Neue vollzogen werden, um aktuell Wirkung zu entfalten. In der Bewusstwerdung drückt sich eine gleiche Benennung einer Gruppe als Volk und Nation aus. Dieser Prozess ist meist durch sozial-politische oder intellektuelle Eliten induziert.87 In der zweiten Phase werden Grenzen festgelegt (Topographie). Damit wird ein innerer nationaler Raum von einem fremden Außen geschieden und die geographischen Gegebenheiten werden mit kulturellen und genealogischen Werten versehen. Ablesbar ist dieser Prozess an der Etymologie der Nation als terra natio, als das Land der Geburt und der Väter (patria). Der nationale Raum wird genealogisch abgesichert.88 Mit der Historisierung ist dann genuin der Mythos angesprochen, respektive speziell jene Mythen, die einen Zeitbezug zur Vergangenheit herstellen. Sie thematisieren den Anfang der Nation und führen sie an ihren idealen Ursprung zurück. Im siebten und achten Punkt werden die Normen für eine einheitliche Sprache gesetzt und ein Textkanon festgelegt. Letzterer soll Verbindlichkeit für die Nationalliteratur herstellen. Können die Punkte 1–5 grob in die Zeit vor die Gründung des Königreich Italiens datiert werden, so ist mit den folgenden Punkten die Nation bereits konstituiert. Über die Institutionalisierung erfolgt dann eine Sicherung all dieser Punkte durch rechtliche Kodifizierung und staatliche Organe bilden eine politische Kultur aus. Die Medialisierung ist ein ständiges Bemühen, die Phasen vor der Nationswerdung wach zu halten, da sie die Grundlage für die gemeinsame Identität bilden. „Die Staatsnation konkretisiert, verbreitet 86 87 88
Metzeltin (2014: 37), zum Modell, vgl. ebd. (39 f.). Vgl. ebd. (40 f.). Hacke/Münkler (2009: 22): „Eliten in Politik, Kultur und Medien besetzen die Rolle des Mythopoeten“. Vgl. Knaut (2012: 739), Metzeltin (2014: 42 f.).
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und reaktualisiert ihre gemeinsame, mehr oder weniger stereotypisierte Nationalkultur über den Militärdienst, die öffentliche Schule, die Schulbücher, die Massenmedien, die Errichtung von emblematischen Gedenkstätten […], die Aufstellung von Statuen, die Abhaltung von Manifestationen und Gedenkfeiern und die Aufstellung von Nationalmannschaften. Das wichtigste Kommunikationsmittel ist dabei die nationale Referenzsprache.“89 Im letzten Punkt, der Globalisierung, wendet sich die Nation nach außen, um Anerkennung im Handeln durch andere Nationen zu erlangen. In diesem sieben Phasen umfassenden Prozess kommt dem Mythos eine herausgehobene Bedeutung zu: Durch ihn wird ein transhistorisches Subjekt wie die Nation konstituiert. Maurice Charland hat diesen – im aristotelischen Sinne – prätechnischen Prozess, der vor allem über Narrative und über Identifikation abläuft, als constitutive rhetoric beschrieben: „Narrative is fundamental to the rhetoric of constitution because narratives open diagetic [sic] spaces, story places, which are meaningful because they produce identification with a point of view. Narratives constitute subjects, protagonists, and antagonists. Rhetorical narratives claim to tell a story about a real rather than a fictive world. They seek to naturalize their diagetic [sic] space. Narratives are thus open to hermeneutic analysis.“90 In dieser Art von Rhetorik werden durch den absichtsvollen Einsatz der ontogenetischen Funktion von Sprache, Dinge bzw. Subjekte mithilfe von Narrativen erst erschaffen. Sinn und Ordnung wird durch die dargestellte Welt innerhalb der Erzählung gestiftet. Darüber hinaus wird durch das Narrativ eine bestimmte Sichtweise auf die Wirklichkeit nahegelegt, die Charland identification benennt. Dieser von Kenneth Burke stammende Begriff ist Dreh- und Angelpunkt seiner Rhetorikvorstellung.91 Dadurch wird erst verständlich, wie kollektive 89
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Metzeltin (2014: 49). Zu anderen Modellen der Konstruktion von nationaler Identität: Wetzel (2003: 178), der die Möglichkeiten und Schwächen der Nation Italien ausgelotet hat und zum Schluss kommt: „Italiens Gedächtnisorte sind deswegen weitgehend ungeeignet, weil sie einerseits regional und andererseits weltoffen sind. Nur wenige sind eindeutig national, eigentlich nur diejenigen, die an den Ersten Weltkrieg erinnern, der erstmalig die Vereinigung aller widerstrebenden Fraktionen ‚leistete‘.“ Im selben Sammelband wie Wetzel wird das Problem der Identität, Italianità, aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet, s. Grimm u.a. (2003). Charland (2001: 617), Kurs. i. Orig. Sowie Charland (1987), wo er die constitutive rhetoric am Beispiel der Konstruktion des Peuple Québécois deutlich macht. Burke (1969: 55): „You persuade a man only insofar as you can talk his language by speech, gesture, tonality, order, image, attitude, idea, identifying your ways with his.“ Kurs. i. Orig. Hermann Holocher (1996: 131) führt dazu aus: „Der Redner ermöglicht folglich Identifikation oder von Burke synonym verwendet Konsubstantialität und damit Persuasion, indem er symbolische Strategien benützt. Diese Strategien senden Zeichen an das
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Identitäten erzeugt werden, die sich ihrerseits als natürlich gegeben (naturalize) verstehen und ausweisen. Wird Rhetorik wie bei Charland konzipiert, schließt sie generell nicht die klassische Rhetorik aus, doch kommen grundlegendere Mechanismen wie Gemeinschaftsbildung, Welt- und Selbstsicht in den Blick: In diesem Sinne wird sie als constitutive tituliert. Nicht der rhetorische Wettstreit, das Trennende und dessen Überwindung durch (argumentative) Rhetorik steht dabei im Mittelpunkt, sondern das Hervorheben und Bilden von basalen Gemeinsamkeiten. Darauf beruht eine Rhetorik des Mythos. Wie sich dazu der Begriff des Mythos verhält, wird nun im Folgenden erläutert. Arbeitsdefinition des Mythos Aus den bereits oben genannten Disziplinen ergibt sich ein disparates Bild über den Mythos, und ein gemeinsamer Nenner wird wegen der unterschiedlichen Forschungsinteressen schwer zu finden sein. Im narrativen Element sehen viele Ansätze ein unverzichtbares Kriterium für die Definition des Mythos. Es lassen sich aber dennoch einige Strukturen und Funktionen des M[ythos] benennen, die ihn von verwandten einfachen Formen des Erzählens (Sage, Legende, Fabel, Märchen, fiktionale Erzählung) unterscheiden. […] Anders als diese Formen gilt der M[ythos] heute bei den meisten Autoren als eine im Kern wahre, beim Hörer Sinn stiftende Erzählung und als eine spezifische Weise des ganzheitlichen Welterkennens.92
Auf dieser Grundlage wird im Folgenden unter Mythos eine intentional hergestellte, wahre Erzählung (Narrativ) in handlungspragmatischer Funktion im Bereich des Politischen verstanden. Die einzelnen Bestandteile seien kurz erläutert: 1. Intentional ist die Kategorie, die sich aus der Rhetorik ableitet. Hierin ist die Gerichtetheit des kommunikativen Aktes und seine auf Wirkung angelegte Struktur angesprochen. Die Art und Weise, welche Mittel gewählt werden, hängt von den gesetzten Zielen ab. Damit verbindet die Intentionalität Mittel,
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Publikum, aus denen sich für das Publikum die Identität von Eigenschaften, Interessen, Zielen oder Vorstellungen ableiten lassen, die es mit dem Redner teilen kann.“ Engels (2003: 80), vgl. ebenso Wächter (2010: 6): „mythisch erzählte Geschichte“; Dörner (1995: 43): „narrative Symbolgebilde mit einem kollektiven, auf das grundlegende Ordnungsproblem sozialer Verbände bezogene Wirkungspotential“, Speth (2000: 117): „Politische Mythen können als angewandte Erzählungen […] aufgefasst werden“, Assmann (19972: 76): „Mythos ist eine Geschichte, die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu orientieren“, Lyotard (19994: 13 f., 68) nennt den Mythos méta récit.
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Ziele und weitere Elemente, wie Kontext und Akteure in einem Handlungsgefüge.93 Die rhetorischen Akteure bedienen sich aus dem kollektiven Gedächtnis und modifizieren dieses für die eigene Zielsetzung mithilfe von Mythen. Im Unterschied zu urwüchsigen Mythen, die kollektives Bewusstsein zum Ausdruck bringen und bei denen ein eigentlicher Urheber nicht mehr ganz klar festgestellt werden kann, ist bei den rhetorisch eingesetzten Kunstmythen ein Mythopoet bzw. ein Nutzer der Mythen identifizierbar. Ausschlaggebend ist die Absicht, durch Aneignung oder Schaffung von Mythen kommunikative Wirkung zu erzielen.94 Rhetorisch überzeugend ist die Nutzung von Mythen dann, wenn sie ein hohes Identifikationspotenzial anbieten bzw. wenn große Schnittmengen durch die rhetorischen Akteure zu ihrem adressierten Publikum geschaffen werden. 2. Hergestellt hebt die Machbarkeit des Mythos hervor, der sich nach bestimmten Regeln produzieren lässt, was ihn so von den ursprünglichnaturwüchsigen Mythen abgrenzt. Zum Mythos kann alles gemacht werden, da er ein Verfahren darstellt, das nicht materiell beschränkt ist. „Da der Mythos eine Rede ist, kann alles Mythos werden, was in einen Diskurs eingeht. Der Mythos bestimmt sich nicht durch den Gegenstand seiner Botschaft, sondern durch die Art, wie er sich äußert. Es gibt formale Grenzen des Mythos, keine substantiellen.“95 Dabei ist das Verfahren der Mythisierung an sich nicht mehr 93 94
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Vgl. zum Begriff und hermeneutischen Rekonstruktion von Intention: Bernecker (1998: 451 f. und 457). Vgl. Speth (2000: 117): „Innerhalb politischer Mythen werden Interessen sekundär thematisiert, denn in den mythischen Symbolisierungen sind die Interessen erst in der zweiten Stufe, der strategischen Verwendung bestimmter Muster erkennbar und möglich. Andererseits darf auch nicht die Frage vernachlässigt werden, wer mythische Deutungsmuster gebraucht und welche Muster gebraucht werden. Der Herrschaftsaspekt ist daher nicht zu unterschlagen. Die Mythisierung wichtiger Themen ist eine Art Besetzung des öffentlichen Raums und damit Vorherrschaft bestimmter Deutungsmuster, die mit ausgewählten politischen Handlungsmöglichkeiten einhergehen.“ Vgl. auch Pauls (1996: 32). Die Intentionalität wird also aus den Faktoren des politischen Systems und des Kontextes sowie aus dem pragmatischen Handlungszusammenhang, nämlich aus den Funktionen (s.u.), abgeleitet. Becker (2005: 148) gibt kritisch zu bedenken, dass der strategischen Nutzung von Mythen aufgrund ihrer inhärenten Eigendynamik Grenzen gesetzt seien. Barthes (2010: 251). Wenn alles zum Mythos werden kann, dann ist eine Klassifizierung von Mythen zweitrangig, dennoch hat sich in der Auseinandersetzung mit politischen Mythen gezeigt, dass es Unterarten von Mythen gibt, die man grob durch folgende Fragen unterscheiden kann: 1. Wer ist das Subjekt des Mythos? Entweder ist es ein Individuum (= Personenmythos) oder ein kollektiver Akteur (= Nationalmythos). 2. Welcher Zeitbezug wird thematisiert? Entweder spielt der Mythos in der Vergangenheit (= Gründungsmythos) oder in der Zukunft (= Schicksalsmythos). 3. Welche Sache wird mythisiert? Entweder ein wichtiges Vorkommnis (= Ereignismythos) oder ein bestimmter Ort (= Raum-Mythos), vgl. Becker (2005: 131).
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mit dem mythischen Denken zu erklären, denn die Herstellung der Mythen und ihr Gebrauch sind aus einer vernunftgeleiteten Mittel-Zweck-Überlegung heraus entstanden und entspringen einer geplanten Instrumentalisierung. „Überall da, wo die Rhetorik aus Gründen des Wirkungskalküls spezifische Sichtweisen präformiert und sie mit der Macht anthropomorpher Bilder emotional auflädt, verfährt sie pseudomythisch.“96 Dennoch ist eine mythische wie eine rationale Rezeptionsweise des Kunst- bzw. Pseudomythos denkbar, sodass gerade in dieser Ambiguität ein strategischer Vorteil liegt, nämlich in mehrfacher Weise rezipiert werden zu können. 3. Wahr ist das qualifizierende Attribut der Erzählung.97 Sie wird wie bei Vico im ursprünglichen Sinn als faktual begriffen. Mit der wahren Erzählung wird ein Geltungsanspruch des Geschilderten bei den Rezipierenden erhoben. Der Kunstmythos gibt ein parteiliches Bild der Wirklichkeit wieder, das aber universellen Anspruch auf Zustimmung erhebt. Dieser Anspruch entsteht erstens daraus, dass die Erzählung als wahr rezipiert werden soll, weil sie als ‚historisch genau so geschehen‘ gerahmt wird. Zweitens, weil die Erzählung eine exemplarische Modellfunktion entfaltet. Darin steckt ein impliziter 96
Robling (2008: 61), der am Beispiel der Helena-Rede des Gorgias diese Mittelstellung der Rhetorik zwischen mythischem und rationalem Denken, bzw. das Changieren zwischen beidem, aufzeigt, vgl. Robling (2011: 116 ff.). Auch die Poesie und somit die Rolle des Dichters nehmen eine Mittelstellung ein – ohne jedoch in dem Sinne pragmatisch wirken zu wollen wie die Rhetorik. Es ist nicht verwunderlich, dass gerade die Poesie deswegen nicht nur als theoretisches Modell (poesia sociale) von Sorel (1903: 392) herangezogen wurde, um den Mythos zu umschreiben. Ferner trat G. D’Annunzio als DichterKommandant im I. Weltkrieg und in Fiume auf, d.h. Poesie und Rhetorik standen bei ihm in einem engen Verhältnis mit durchaus politischen Zielen. Anne Syndram (1995) hat diese Verbindung von Poesie und Rhetorik in ihrer Studie Rhetorik des Mythos über literarische Bilderwelten und deren politische Nutzung vergleichend an den Autoren Maurice Barrès und Ernst Jünger aufgezeigt. Sie schreibt: „Der Poesie, als dem Medium des Mythos in der Gegenwart, kam dabei eine vorrangige Stellung zu. Der Sinnlichkeit moderner Mytho-Poesie wurde eine zukunftsweisende Macht der Versöhnung zuerkannt, der die Aufhebung der schmerzlich empfundenen sozialen Partikularisierung und Entfremdung gelingen könnte.“ Ebd. (120), vgl. ebenso Kap. 2.1. 97 Implizit liegt hier ein philosophisches Wahrheitskonzept vor: In Abwandlung des Vico-Axioms könnte man von „dictum et factum convertuntur“ sprechen. Wirklichkeit – und hiermit ist die sozio-kulturelle Wirklichkeit verstanden – wird mithin erst durch symbolische Kommunikation konstruiert. Im Gegensatz zum Mythos steht die Utopie, die bewusst Fiktionssignale aufnimmt, um einen Freiraum für politische Reflexion zu schaffen. Des Weiteren ist für die Utopie gerade das Spiel zwischen dem Kontrast der ‚wirklichen‘ Welt und einem, mit Wünschen ausgestatteten (in diesem Sinne auch utopischen) Idealentwurf einer Gesellschaft konstitutiv (so z.B. bei Campanella oder Morus), vgl. die Ausführungen zur literarischen Utopie bei Otto (2009: 984 f.).
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Imperativ, die Protagonisten der Erzählung entweder nachzuahmen oder sich ihnen gegenüber ablehnend zu verhalten. In jeder Heldengeschichte steckt die normative Aufforderung, so zu sein wie der Heros selbst. Die Erzählung muss darüber hinaus nach Maßstäben der klassischen Rhetorik aus glaubwürdi gen, wahrscheinlichen Gesichtspunkten zusammengesetzt sein, damit sie als wahr(ähnlich) rezipiert und wirksam werden kann.98 Ferner wird die Geltung aus der Natürlichkeit und Wesenshaftigkeit des Mythos abgeleitet: Was als natürlich und wesentlich dargestellt wird, entfaltet einen besonderen Zwang zur Zustimmung, denn durch die Setzung als gegeben wird die Wirklichkeit selbst als argumentative Stütze abgerufen.99 Oder anders formuliert: „The ideological ‚trick‘ of such a rhetoric is that it presents that which is most rhetorical, [like] the existence of a peuple, or of a subject, as extrarhetorical.“100 4. Erzählung bzw. Narrativ:101 Wenn hier vom Narrativ gesprochen wird, ist eine terminologische Abgrenzung bzw. Schärfung notwendig, denn Narrative werden in der Forschung nicht immer vom Mythos unterschieden.102 Der Begriff Mythos fällt unter das Narrativ, ist er doch eine besondere Unterart des Narratives und wird durch das fünfte Definitionskriterium, nämlich durch den Gebrauchskontext und das daraus entstehende Funktionsspektrum, spezifiziert (s. u.). In Struktur und Erscheinungsweise gleichen sie sich jedoch. Die folgende Definition des Narratives trifft auch auf den Mythos zu: Ein Narrativ lässt sich also definieren als eine Abfolge von drei Propositionen, die den oben beschriebenen Bedingungen genügen (Ausgangszustand, Transformation, Endzustand, Konstanz der Referenzgröße). Damit ein Kommunikat 98
Vgl. Quint. II, 2, 52. Theoretische Ausführungen aus der Narratologie, die sich vor allem auf fiktionale Erzählwelten beziehen, finden im Mythos keine Berücksichtigung, denn faktuale Erzählungen setzen nur eine, nämlich reale Kommunikationssituation voraus, in der der Sprecher mit dem Erzähler gleichzusetzen ist. 99 Vgl. dazu die Topoi der Existenz und des Wesens bei Perelman/Olbrechts-Tyteca (2004: 130 f.). 100 Charland (1987: 137), Kurs. i. Orig. 101 Eine allseits akzeptierte Definition von Narrativ gibt es nicht. Das zu einem Modewort gewordene Narrativ konkurriert mit den Synonymen wie Erzählung, Narration, Geschichte(n), Storytelling, etc. um einen unterschiedlich weit gefassten Begriffsinhalt, den Martínez (2017: 6) auf den Minimalnenner „Erzählen ist Geschehensdarstellung + x“ zurückführt. Ob eine Engführung auf einen einzigen Begriff überhaupt sinnvoll ist, ist überaus fragwürdig. 102 Oft werden beide miteinander gleichgesetzt oder sogar neuerdings ersetzt. Karin Priester (2019: 11) schreibt: „Hatte vor etwa zehn Jahren der Begriff des Mythos Konjunktur, so heute der des Narrativs. Häufig fungiert er nur als Modewort und bezeichnet ein ungenau umrissenes Feld von ideologischen Aussagen oder rhetorischen Versatzstücken.“ Vgl. ferner (Becker: 2005: 146), der auf das Problem der Abgrenzung ebenfalls zu sprechen kommt.
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Kapitel 2 ein Narrativ präsupponiert, müssen diese drei Propositionen nicht explizit Teil des Kommunikats sein, sondern es genügt, wenn sie implizit semantisch und logisch folgerbar sind.103
Eine chronologische Anordnung – z.B. in Anfang, Mitte, Schluss – und die Verkettung von Ereignissen und Handlungen in narrative Strukturen bilden den gemeinsamen Nenner zwischen Mythos und Narrativ.104 Durch die Narrativierung werden die einzelnen Elemente auf irgendeine Art und Weise hinlänglich motiviert. Der Mythos als Begriff aus der Religions-, Geschichts- und Politikwissenschaft besitzt aber darüber hinaus immer eine quasi-religiöse Bedeutungsfacette, die sich im historischen Diskurs des italienischen Nation-Buildings zeigte.105 Neben dieser inhaltlichen Einfärbung ins Sakrale, die als erster Unterschied zum Narrativ festgehalten werden muss, kommt noch die historisch-soziale Dimension, die im Mythos besonders ausgeprägt ist, denn über die in Mythen thematisierten Vorstellungen und Ideen konstituieren sich Gemeinschaften und kollektive Identitäten (imagined communities). Der Mythos, wie er hier verstanden wird, ist durch mythische Denkfiguren106 grundiert und unterscheidet sich auf diese Weise besonders von anderen Narrativen: Bloße (historische) Analogien werden als Identität aufgefasst und werden dem Bemühen eingegliedert, überall Sinn zu finden. Geschichte gilt in dieser Denkrichtung als wiederholbar und lehrreich (historia magistra 103 Müller (2019: 3). Müller schreibt weiter: „Dies können entweder Kommunikate sein, die auf ihrer semiotischen Oberflächenstruktur selbst narrativ strukturiert, als auch solche, die an der Oberfläche nicht narrativ sind.“ Ebd. (4). Auch hierin stimmen Narrativ und Mythos in der hier verhandelten Arbeit überein. 104 Für die Analyse kommen deswegen – aufgrund der pragmatischen Kommunikationssituation der Reden – bereits einfache Handlungsschemata infrage. Becker (2005: 142 ff.) unterscheidet in der erzählerischen Form die story vom Drama, also ihren Komplexitätsgrad, den die Erzählung annehmen kann: von bloß einem Motiv bis zur Konstellation mit mehreren Akteuren. Ferner sei auf Brinker/Cölfen/Pappert (20148: 64–69) sowie Greimas (1971: 157–177) verwiesen. Dörner (1995: 80) führt erklärend aus: „Neben Bildlichkeit und Narrativität ist ein weiteres Strukturmerkmal zu beschreiben. Die Tiefenstruktur besteht aus Aktanten, d.h. abstrakten Handlungsrollen, sowie Funktionen, d.h. Handlungsrelationen zwischen den Aktanten, aus denen sich die Handlungssequenz zusammensetzt.“ 105 Müller-Funk (20082: 122): „Strukturell sind in die nationalen Narrative […] entscheidende Momente des Mythischen eingeschrieben, vom imaginierten Ursprung, der berufen wird, um die uranfängliche nationale symbolische Ordnung zu affirmieren, über die nationalen Helden […] und die heiligen Objekte bis zu den ebenso sakralen Aufbewahrungsorten.“ (Auch in diesem Zitat fällt auf, dass man nationales Narrativ mit Mythos ersetzen könnte, das Mythische mit dem Begriff des Sakralen). 106 Eine Übersicht dazu findet sich bei A./J. Assmann (1998: 190–195).
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vitae).107 Für Ereignisse gibt es immer schon Vorläufer und Ankündigungen in der Vergangenheit (Typologie / allegoria in factis). Dichotomien strukturieren die Wahrnehmung in z.B. bekannt – unbekannt, italienisch – ausländisch, Freund – Feind. Abstrakta und komplex Sachverhalte werden dinglich wahrnehmbar und verlebendigt (Animismus). Für die Untersuchung selbst ist noch wichtig, dass der Mythos bzw. die Mythen sich auf mehreren Ebenen zeigen. Wie die symbolischen Form des Mythos bei Cassirer nicht ohne andere symbolische Formen auskommt, so ist sie auch in sich nicht als monolithisch vorzustellen, sondern eher als ein in sich greifendes Gefüge von Schichten. Die unterste Ebene nannte Vico einen Mikro-Mythos, der sich in den Tropen direkt auf der Oberfläche der Texte zeigt.108 Bereits hier ist eine analytische Entfaltung der Präsuppositionen notwendig. Sodann folgt eine mittlere Ebene, die sich auf Grund von semanti scher Übereinstimmung (Isotopien) in den Texten/Kommunikaten zeigt und konkreten Kontexten – wie z.B. bestimmten Politikfeldern – zuzuordnen ist. Abstrahiert man noch weiter, ergibt sich ein intertextuelles Geflecht, in dem Italien als kollektiver Protagonist eines nationalen Mythos fungiert. Die letztgenannte Ebene wird in der einschlägigen Literatur meist als nationale Spielart der ‚großen Erzählung‘ (grand récit) oder der Meistererzählung (master narrative) verhandelt.109 Eine detaillierte Ausführung zum italienischen Natio nalmythos findet sich in Kap. 4.2. 5. Handlungspragmatische Funktion:110 Der Mythos erfüllt innerhalb eines pragmatischen Handlungszusammenhanges bestimmte Aufgaben, dessen zwei Hauptmerkmale Jan Assmann mit fundieren und mobilisieren benennt.111 Meist werden Mythen nur mit der ersten Funktion beschrieben, d.h. ihre für die Politik und Gesellschaft stabilisierende Wirkung hervorgehoben. Sie wird durch Vereindeutigung und Vereinfachung erzielt. Nicht zu vernachlässigen sind aber auch die Deutungsoffenheit und Ambiguität der Mythen einerseits und andererseits ihre ständige Modifikation, die sie durch stets neue 107 Vgl. Schuhmacher (2019), wo das Verhältnis zwischen Geschichte, Mythos und Rhetorik eingehender behandelt und an einer Mussolini-Rede erklärt wird. Dort auch weiterführende Literatur. Ferner auch Blumenberg (2014), der diesen Sachverhalt als Prä figuration bezeichnet. 108 Prägnant hält Konersmann (2007: 17) fest: „Metaphern sind Erzählungen, die sich als Einzelwort maskieren.“ 109 Auch Meta-Narrativ ist üblich, vgl. Müller (2020: 92 f.). 110 Vgl. Speth (2000: 115). Er weist darauf hin, dass der Mythos keine eigenständige narrative Gattung bilde, sondern sich die Narration durch den politischen Verwendungszusammenhang auszeichne. Deswegen ist es auch notwendig die funktionale Einbettung in die Definition mit aufzunehmen. 111 Vgl. Assmann (19972: 79) sowie Ders. (1992).
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Anpassung erfahren. In dieser Dynamik kann der Mythos selbst wiederum zu einem Motor des Wandels werden. Er erhält eine mobilisierende Funktion, indem Versprechungen und Wünsche für eine bessere Zukunft in ihn eingeschrieben werden. Die zwei funktionalen Hauptmerkmale entfalten einen bestimmten argumentativen Stil, denn sie greifen vor allem auf Fundation und Motivation zurück.112 Fundation ist tendenziell auf die Vergangenheit, Motivation eher auf Handlung und somit auf die Zukunft ausgerichtet. Beide Funktionen differenzieren sich in weitere aus, nämlich in: politische Legitimation/ Delegitimierung, die Schaffung einer gruppenspezifischen Identität durch Einund Ausgrenzung, Handlungsorientierung durch Komplexitätsreduktion auf das Wesentliche (Vorbilder), flexible Weltdeutung (narrative Sinngenerierung) und Kommunikationssicherung auf der Grundlage einer geteilten, emotiona len Weltsicht.113 Diese Funktionen werden aus rhetorischer Sicht vor allem durch die Lob- und Festrede erfüllt. Dieses Genus ist seit Aristoteles’ Feststellung, das Publikum sei nur ein Betrachter, theoretisch unterschätzt worden.114 „Epideictic is not only a feast of words, but also a feast of moral, aesthetic, and religious sense. […] This is what the encomium is primarily: a communion in the ritual of merit, a moment of shared bliss.“115 Auch in einer Diktatur erfüllen Reden politisch relevante Funktionen, denn damit wird der Versuch unternommen, einen „moment of shared bliss“ zu erzeugen. Zuletzt seien die wichtigsten Punkte nochmals zusammengefasst: Die Ant wort, warum der Mythos als zentrale Analysekategorie für diese Arbeit gewählt wurde, ergibt sich erstens aus einer kulturwissenschaftlich fundierten Definition des Faschismus. Diese ist wiederum aus der Eigenwahrnehmung der Faschisten abgeleitet worden: Der Faschismus wird weniger über kohärente ideologische Programme, als vielmehr über seine Mythen zu bestimmen
112 Zu den Begriffen Fundation und Motivation als analytische Einteilung von Argumentation vgl. Grünert (1974: Kap. 3). 113 Selbstredend kann keine erschöpfende Aufzählung der Funktionen gemacht werden, da diese sich an den unterschiedlichen situativen Handlungskonstellationen ausrichten und somit unzählige sein können. Für einen Funktionen-Katalog sei zusätzlich auf Dörner (1995: 87–96) und Hacke/Münkler (2009: 20) verwiesen. Letztere geben drei Hauptfunktionen an: „Mythen – also mitsamt deren semiotischen Verdichtungen – sorgen für Identität, indem sie Loyalitäten konzentrieren, Komplexität reduzieren und Kontingenz eliminieren.“ 114 Vgl. Arist. Rhet. I, 3, 2. 115 Pernot (2015: 112).
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versucht.116 Das Konzept des Mythos hat sich gerade in der Politik- und in der Geschichtswissenschaft im Bereich des Nation-Buildings etabliert und wurde für unseren Zusammenhang – nicht ohne einige, wichtige Unterscheidungen vorzunehmen – adaptiert. Zweitens können mit einer differenzierten MythosDefinition auch Aspekte ausgeleuchtet werden, die bis dato nur eine geringe oder oberflächliche Beachtung gefunden haben, so z.B. die emotionale, aber auch die rationale Seite der Mythen. Drittens wurde die Definition auf eine sprachphilosophische und anthropologische Grundlage gestellt, um die Eigenart, die sich dann in der begrifflichen Fassung des Mythos auswirkt, besser zu verstehen. „Es liegt in der Komplexität des Mythos-Begriffs, daß er sich zugleich auf Text- und auf Mentalitätsstrukturen bezieht. So wird eine Bestimmung konstitutiver Elemente immer sowohl textbezogene als auch solche Faktoren miteinschließen müssen, die das ‚mythische Denken‘ betreffen.“117 Gleichzeitig bedeutet dies eine Abgrenzung zu einem rein narrativen Zugang. Faschistische Mythen bedienen – so auch die Auffassung von Griffin oder Cassirer – mythisches Denken, d.h. eine spezifische Mentalität oder Verknüpfungsweise des Bewusstseins.118 Viertens: Der Mythos wurde rhetorisch textbezogen bestimmt, weshalb auch von Kunstmythen gesprochen wurde, um die bewusste Herstellung und Instrumentalisierung kenntlich zu machen. Als Ausdrucksform des Mythos kommt „[e]in bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen und geschmückt“119 werden zum Einsatz. Dieses Heer von Tropen ist sodann in narrativen Schemata organisiert. 116 Vgl. Zunino (2013: 11) weist darauf hin, dass die Zeitgenossen selbst die Inkonsistenzen der faschistischen ‚Ideologie‘ bemerkten und dennoch perplex gegenüber ihrer Wirkung waren. Als ein Beispiel von vielen sei auf Curcio (1940b) verwiesen, der auch danach fragt, ob der Faschismus ein Mythos sei und daraufhin Mussolinis affirmative Antwort von 1922 im Discorso di Napoli zitiert, s. Mussolini OO (18: 457). 117 A./J. Assmann (1998: 187). 118 Vgl. ebd. (190–195). 119 Nietzsche (1973: 374). Das Zitat steht bei Nietzsche eigentlich im Zusammenhang mit einer Definition der Wahrheit in seiner Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873). Nietzsche nimmt darin eine erkenntniskritische Haltung ein, wenn er von der Unhintergehbarkeit der Sprache, die immer schon tropisch organsiert sei, ausgeht. Den Menschen käme es nur so vor, dass sie Erkenntnis des Dinges an sich besäßen, doch darin täuschten sie sich über die tropische Natur der Sprache und über den von ihr geleisteten, perspektivischen Vermittlungscharakter hinweg. „Er [der Mensch] vergisst also die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als Dinge selbst.“ Nietzsche (1973: 377). Auf dieses Fundament baue der Mensch dann ein Gebäude aus Begriffen. Es gebe allerdings neben dem Bereich der auf Vergessen und Konvention beruhenden ‚Wahrheit‘ zwei weitere Felder, wo der unzähmbare „Trieb
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Charakteristisch für den Mythos ist seine Bildlichkeit, seine daraus resultierende Emotionalität und Anschaulichkeit. Da die Mythen Teil des kulturellen Gedächtnisses sind, also dem Wissenshorizont des Publikums angehören, herrscht oft eine synekdochische Relation und Gebrauchsweise vor, d.h., es reicht manchmal schon aus, einen Teil des Mythos zu erwähnen und die restlichen Bezüge stellen sich quasi automatisch ein.120 Damit erfüllt der Mythos auch Rezeptionsanforderungen wie Ökonomie und Kürze und passt sich durch seine Verdichtung optimal an das Publikum an. Er kommt meistens in verkürzten Mythen-Emblemen zum Einsatz, die sich wie ein Teil zum Ganzen verhalten. Hierin zeigt sich dann der doppelte Charakter von Mythen, da die Mythen-Embleme konkret und sinnlich wahrnehmbar sind, sie aber gleichzeitig auf ein vages Ganzes, auf das ganze MythosNarrativ verweisen. Daraus folgt aber auch, dass man sie aufgrund der sich einstellenden Assoziationen weniger stark kontrollieren und steuern kann/ muss. Im folgenden Kapitel wird erklärt, wie das Dargelegte für die Analyse operationalisiert werden soll. 2.4
Rhetorische Analyse und methodisches Vorgehen
Da der Mythos in der Tiefenstruktur des Textes liegt, muss man ihn erst mithilfe der Analyse rekonstruieren. Ausgehend von den angestellten Überlegungen über den Mythos sind besonders die Tropen, die sich an der Textoberfläche manifestieren, für die Analyse relevant. Darunter fallen beispielsweise die Metapher und Personifikation, die Synekdoche und Metonymie, aber auch die Antonomasie. Sie bilden den Zugang zur tieferen Textschicht, die zum Mythos/den Mythen führen, denn die Metapher ist – und hier sind alle Tropen
zur Metapherbildung“ frei wirken könne, nämlich im Mythos und in der Kunst, ebd. (381). „Nietzsches Affinität zum Mythos entsteht daraus, daß ihm die Norm der Wahrheit problematisch geworden ist.“ Blumenberg (1971: 29). Mithin ist die Unterscheidung zwischen Mythos und Wahrheit zu fassen wie zwischen Metapher und Katachrese, beide beruhen auf einer mehr oder weniger lebendigen Übertragung, vgl. dazu die Vorlesung Nietzsches aus dem Sommer 1874, § 3, in Nietzsche (1995). Die oben aufgezählten Figuren entsprechen genau dem, was man auch bei Vico unter dem Stichwort der poetischen Logik findet, nämlich ein Ensemble aus Tropen, die in der Rhetorik des Mythos eine bedeutungstragende, weil bedeutungsverleihende Rolle innehaben. 120 Vgl. Speth (2000: 118): „Vielmehr genügt hier ein System von Andeutungen und Verweisen, so dass sich der Leser oder Hörer die fehlenden Teile imaginieren kann. Oder es wird ein Bezugssystem erzeugt, in dem durch Verweise narrative Komplexität hergestellt wird.“ Ferner dazu Dörner (1995: 82).
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mitgemeint – ein verdichteter Mythos, der durch die Analyse entfaltet werden soll.121 Voraussetzung für die Analyse ist die Darlegung, was ein Tropus sei bzw. wie man ihn erkennt. Das Finden und Identifizieren von Tropen ist bereits ein hermeneutischer Prozess, denn wenn man einen Tropus erkennt, muss man ihn schon als solchen interpretiert haben. Darüber hinaus hängt das Auffinden von Tropen von der zugrundeliegenden Theorie und der daraus resultierenden Definition ab. Für diese Arbeit wurde auf die conceptual metaphor-Theorie von George Lakoff und Mark Johnson zurückgegriffen. Sie gehen davon aus, dass Metaphern mehr sind als bloßes Ornament. Metaphern beeinflussen unser Denken und somit auch unser Handeln. Die beiden Sprachwissenschaftler siedeln Metaphern auf der kognitiven Ebene an, was sie metaphorische Konzepte nennen. Als Definition schlagen sie vor: „Das Wesen der Metapher besteht darin, daß wir durch sie eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren können.“122 In dieser Wesensbestimmung kommt im Gegensatz zur klassischen Definition der Metapher als ein verkürzter Vergleich die Erkenntnis zum Tragen, dass wir Dinge oder Sachverhalte durch die Brille von anderen konzeptuellen Bereichen wahrnehmen (können).123 Die metaphorischen Konzepte sind Übertragungen von Dingvorstellungen eines bestimmten Bereiches auf einen anderen und zwar auf der Grundlage von Similarität oder Kontiguität.124 Dabei liegt der Unterschied zur antiken Metapherntheorie weniger im Prinzipiellen, denn auch Aristoteles erklärte die Funktionsweise der Metapher damit, dass in unterschiedlichen Bereichen Ähnlichkeiten entdeckt werden und sie miteinander verbunden werden können. Vielmehr wird bei Lakoff/Johnson das Ergebnis dieses kognitiven Prozesses der Konzeptualisierung und ihre orientierende Wirkung auch und gerade für die Lebenswelt hervorgehoben. Deutlicher als am Titel ihres bekannten Werkes Metaphors we live by (1980) kann man das nicht festmachen. 121 Vgl. Heidenreich (2020: 80): „Metaphern können als Mikromythen gedeutet werden; sie haben bereits selbst eine narrative Struktur und sind in vielen Fällen in größere oder gar mythische Zusammenhänge eingewoben.“ Felix Heidenreich macht die Erkenntnisse des Philosophen Blumenberg für eine politische Metaphorologie fruchtbar. 122 Lakoff/Johnson (20117: 13), Kurs. i. Orig. 123 Zur antiken Definition s. Quint. VIII, 6, 8 sowie Arist. Rhet. III, 4, 1. Björn Hambsch (2019: 217) schreibt dazu: „Die klassische Metapherndefinition trägt weder der Bildlichkeit der Metapher Rechnung noch ihrer spezifischen Kontextabhängigkeit. Es ist kein Wunder, dass sie von späteren Theoretikern zur unergiebigsten aller Metapherndefinitionen gekürt wurde.“ 124 Zu den Prinzipien der Übertragung s. Blank (2001: 43 f.).
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Der Begriff ‚metaphorisch‘ wird bei ihnen in einem weiten Sinne gebraucht und verweist auf die kognitive Ebene, denn hier werden die einzelnen Konzepte übereinandergelegt. Wie die einzelnen Konzepte dann sprachlich instanziiert werden, ist für sie wiederum eine zweitrangige Angelegenheit, die in unserem Zusammenhang allerdings eine primäre Rolle einnimmt. Aus diesem Grund ist es ratsam, sich nicht nur auf Metaphern im strikten Sinne zu beschränken, sondern den Blick für alle Tropen offen zu halten. Zwischen der kognitiven und der textuellen Ebene, die ein metaphorical concept umfasst, besteht ein type-token-Verhältnis. Die metaphorischen Konzepte zeigen sich im Gewand der unterschiedlichen Tropen.125 „Der Begriff Metapher ist also durch eine leicht zu übersehende Doppeldeutigkeit gekennzeichnet: Einerseits bezieht er sich auf die im sprachlichen Ausdruck verwirklichte Erscheinung. Andererseits meint er den einer jeden metaphorischen Äußerung vorausliegen den Typus.“126 Die konzeptuelle Metapher besteht aus einem übertragenen respektive metaphorischen Ausdruck im token-Bereich, der mittels Analyse auf das metaphorische Konzept des Quell- und Herkunftsbereiches zurückgeführt werden kann. Grundsätzlich sind diese übertragenen Konzepte (ARGUMENTATION IST KRIEG, ZEIT IST GELD)127 kultur- und damit auch zeitabhängig. Sie stammen größtenteils aus empirischen Erfahrungen, wie z.B. aus dem Verhältnis vom Raum zur eigenen Körperlichkeit, was sich dann in sogenannten Orientierungsmetaphern niederschlägt. Lakoff/Johnsons Ansatz passt zu der hier verhandelten Sichtweise des Mythos, denn die „Metapher [ist] eine auf Imagination beruhende Rationalität“128. Er lässt sich zudem leicht mit Cassirer in Verbindung bringen, der die Eigenlogik des Mythos herausgearbeitet hat. Mit dem kognitiven Ansatz der Metapher ist also die theoretische Lücke zwischen rhetorischen Tropen einerseits und der gesellschaftlichen Einbildungskraft andererseits geschlossen. Tropen avancieren somit zum manifesten Ausdruck von gesellschaftlich verbreiteten und akzeptierten kulturellen Mustern, Meinungen und Normen.129 Michael Pielenz stellte in seiner Studie Argumentation und Metapher die Strukturgleichheit von Topoi, die das Grundgerüst jeder Argumentation 125 Vgl. zur Definition des Tropus als Ersetzung Lausberg (19765: 63 f.). Quintilian nennt in VIII, 6 vierzehn Tropen, darunter auch die Metapher, Allegorie, Synekdoche und Metonymie. 126 Pielenz (1993: 112). 127 Üblicherweise werden die Konzepte in Versalien geschrieben. Damit wird angezeigt, dass es sich hierbei um mentale Vorstellungen handelt. 128 Lakoff/Johnson (20117: 220), Kurs. i. Orig. 129 Vgl. Pielenz (1993: 159 f.).
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bilden, und den konzeptuellen Metaphern heraus. Die vier Merkmale eines Topos sind nach Lothar Bornscheuer Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität.130 Sie treffen, so hat es Pielenz zeigen können, auch auf konzeptuelle Metaphern zu.131 Das erste Merkmal der Habitualität verweist auf die etablierten Metaphoriken, in denen weitverbreitete kulturelle Muster und Sichtweisen eingeschrieben sind. Für die Untersuchung kommen also vor allem konventionalisierte Metaphern infrage, denn originelle Neuschöpfungen erfüllen das Kriterium der langzeitigen kulturellen Verankerung nicht. Zweitens sind metaphorische Konzepte in vielen Kontexten potenziell nutzbar, sodass sie bei einer konkreten Anwendung auch eine bestimmte Intention erhalten, die man durch Analyse aufspüren kann. Das letzte Merkmal manifestiert sich auf der token-Ebene, denn das Konzept muss symbolisch vermittelt werden und sprachlich wahrnehmbar sein. Sind metaphorische Konzepte also nichts anderes als argumentative Grundmuster, als Topoi? Der Unterschied liegt in der Art der Argumentation: Schauen wir uns das vielbesprochene Beispiel ARGUMENTIEREN IST KRIEG nochmals an. Lakoff/Johnson schreiben diesbezüglich: „Wir sprechen über das Argumentieren in der Weise, weil wir es uns in dieser Weise vorstellen, – und wir handeln gemäß der Weise, wie wir uns Dinge vorstellen.“132 Die Seinskopula des Konzeptes ARGUMENTIEREN IST KRIEG drückt genau das aus, was mit dem mythisch-archaischen Sprachverständnis weiter oben benannt wurde: Es geht nicht um bloße Analogie, sondern um die Annahme, dass es sich genauso verhalte. Argumentieren wird in diesem Konzept als aggressives Konfliktlösen mit klarem Sieger und Besiegten aufgefasst. Das Konzept bildet im Hintergrund eine durchgängige Kohärenz und sichert damit die innere Sinnhaftigkeit der Äußerungen ab. „Wir brauchen Mythen – genauso wie Metaphern –, damit wir dem, was um uns herum geschieht, einen Sinn verleihen können. […] Und so wie wir Metaphern unserer Kultur als Wahrheiten betrachten, so betrachten wir die Mythen unserer Kultur als Wahrheiten.“133 Die argumentative Überzeugungskraft liegt bei den metaphorischen Konzepten in ihrer Erzeugung von sinnlicher Evidenz und Kohärenz. Das Strittige wird nicht wie bei einem 130 131 132 133
Vgl. Bornscheuer (1976: 91–108). Vgl. Pielenz (1993: 132–135). Lakoff/Johnson (20117: 14). Ebd. (213), Kurs. i. Orig. Stehen in diesem Zusammenhang mehr die eingeschliffenen, d.h. konventionellen oder toten Übertragungen, die viel tiefer ein mind set bestimmen, im Vordergrund, heißt das nicht, dass die beiden Theoretiker ad hoc-Bildungen von Konzepten (metaphorical reframing) vernachlässigen würden, ganz im Gegenteil: sie sind überaus wichtig zur Beschreibung von unbekannten Sachverhalten oder zur kognitiven Reorganisation vorgefasster Ansichten.
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Topos, der als Schlussregel innerhalb eines Argumentes fungiert, überbrückt, sondern als unstrittige und natürliche Wahrheit dargestellt. Über die rhe torische Wirkungsweise solcher Konzepte schreibt Pielenz: Konzeptuelle Metaphern, vor allem die sich konventionell vermittelnden, dienen der Begründung wie auch der Beglaubigung von intuitiv unterstellten sozialen Zusammenhängen. Sie liefern Leitvorstellungen und Meinungsnormen zur allgemeinen Lebensorientierung, stabilisieren und perpetuieren sie, motivieren und lenken Handeln bei Individuum und Kollektiv, kurz: als Objektivität heischende Miniaturmodelle unseres Alltagswissens sorgen konzeptuelle Metaphern für die interpretatorische Transparenz unserer Lebenswelt.134
Darüber hinaus hält er fest, dass man mit metaphorischen Konzepten auch argumentieren kann und letztlich jeder Topos metaphorisch sei, jedoch „[n]icht jede konzeptuelle Metapher enthält in ihrem Implikationshof einen Topos.“135 Man kann infolgedessen auf unterschiedliche Art mit konzeptuellen Metaphern argumentieren: zum einen mit ihrer unmittelbaren Evidenz, zum anderen mit ihrer plausiblen Schlusskraft bzw. inneren Kohärenz, die solchen Konzepten eigen ist. Die Wirkmacht der metaphorischen Konzepte ist dennoch keine unbe schränkte. Eine kritische Sicht kann die gewählte Konzeptualisierung, d.h. Verbindung zweier Konzeptbereiche, auflösen und andere Lösungen dafür finden.136 ARGUMENTATION IST KRIEG könnte auch zu ARGUMENTA TION IST EINE REISE oder KOCHEN umgewandelt werden. Bei letzterer Variante spielte womöglich das Abstimmen der Argumente untereinander und deren genussreiche Darbietung eine wichtige Rolle, sprich das Resultat am Ende des argumentativen Prozesses. Allerdings fehlte es dieser Konzeptualisierung 134 Pielenz (1993: 116). 135 Ebd. (137). Pielenz erläutert an derselben Stelle: „Ist der Zweck des Topos ein argu mentativer, so besteht die primäre Aufgabe der Metapher in der Wirklichkeits- und Erfahrungsgestaltung. Bietet die Topik eine Heuristik argumentativer Problemlösungen, so fixiert die Metaphorik zuallererst Wahrnehmungsraster und spinnt Leitfäden zur lebensweltlichen Orientierung.“ Eine Metapher könne aber auch quasi-topisch für Argumentation eingesetzt werden, weil sie funktional dem Topos entspreche. 136 „Eine konzeptuelle Metapher erweist sich demnach als eine im Bedarfsfalle kollektiv disponible und vorläufige Handlungslegitimation. Vorläufig deshalb, weil die Stringenz einer metaphorischen Szene durch eine kritische Prüfung außer Kraft gesetzt werden kann.“ Pielenz (1993: 155 f.), Kurs. i. Orig. Dagegen spricht Till (2008a: 10), der auf die Schwierigkeit hinweist, zu erkennen, dass überhaupt konzeptuelle Metaphern verwendet werden, weil sie uns so vertraut sind. Sie seien für uns quasi eine altera natura geworden, sodass er schlussfolgert: „Es [sc. das metaphorische Reframing] ist ein mächtiges Instrument, weil es nicht direkt auf der Ebene von opinion oder attitude change ansetzt, sondern auf der tiefer liegenden des Konzeptsystems.“ Kurs. i. Orig.
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womöglich an Persuasionskraft, da sie in der westlichen Welt eher unüblich ist, aber immerhin originell wäre.137 Bei der Analyse kommt es dementsprechend darauf an, nachzuweisen, dass die verwendeten metaphorischen Konzepte bereits lange Zeit fest etabliert waren, damit sie ihre Perspektive fraglos entfalten können. Genau diesen für unseren Zusammenhang entscheidenden Abgleich mit dem historischen Kontext berücksichtigen die framing-Theorien nicht, die ansonsten viele der hier verhandelten Aspekte ebenso ausleuchten könnten.138 Kehren wir zur token-Ebene zurück, die man für die Analyse zuerst betrachten muss: Eine Trope umfasst einen übertragenen Ausdruck, der sich nur durch den Kotext, durch Textart und Äußerungskontext bestimmten lässt. Üblicherweise wird dies als Uneigentlichkeit des Ausdrucks gegenüber der Eigentlichkeit des Kontextes verstanden, was insoweit akzeptabel ist, wenn man nicht der Vorstellung verfällt, dass es feste semantische Zuordnung gibt.139 Der übertragene Ausdruck und Kontext stehen in einem wechselseitigen Inkompatibilitätsverhältnis, d.h. „[e]in Konzept (oder ein konkreter Referent) wird mit einem Wort bezeichnet, dessen angestammtes Konzept einem ganz anderen Bereich unseres Weltwissens angehört.“140 Dies erzeugt bei der Rezeption spezifisch mentale Operationen, die unter die Begriffe Textverständ nis oder Interpretation subsumiert werden können. Steht z.B. in einem Zeitungskommentar, dass eine Politikerin schlagende und treffsichere Argumente für ihre Sache angebracht habe, dann sind die kursiven Ausdrücke durch den Debatten-Kontext metaphorisch zu verstehen. Das übertragene Konzept des KRIEGES formt dabei die Sichtweise auf einen anderen Ausdruck – den der 137 Üblicher hingegen ist es, Lernprozesse oder den Unterricht als ‚Essensaufnahme‘ zu konzeptualisieren. Als Beispiel sei das Convivio (I, 1) von Dante genannt. Vgl. dazu auch Curtius (19738: 144 ff.). 138 Vgl. die Kritik an einer frame-Analyse bei Heidenreich (2020: 92 ff.). Er schlägt hingegen eine historische Metaphorologie für den Bereich der Politik nach Blumenberg vor. Die von ihm vorgeschlagenen Analyseschritte sind diesen hier nicht unähnlich. Zur FrameTheorie vgl. ferner Till (2008a: 7 f.). 139 Zu einer Kritik der Substitutionstheorie und den Begriffen Eigentlichkeit und Uneigent lichkeit mitsamt ihren Implikationen s. Kurz (19933: 11 ff.): Gerade in der Vorstellung, dass jedes Wort seinen angestammten Platz habe, an dem es eigentlich vorkomme und durch die deplatzierende Übertragung uneigentlich gebraucht werde, kommt das archaische Sprachverständnis zum Vorschein. Vgl. ebenfalls die Ausführungen von Lakoff/Johnson (20117: 176 ff.), die in Gegenüberstellung zur üblichen Vergleichstheorie ihre Position bezüglich der Metapher deutlich machen. Daraus entwickeln sie eine Kritik des Mythos vom sprachlichen und epistemologischen Objektivismus – wie die beiden das archaische Sprachverständnis nennen –, auf dem ein Großteil der abendländischen Philosophie seit Platon beruhe, ebd. (212–220). 140 Blank (2001: 75).
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ARGUMENTATION – und projiziert auf Letzteren bestimmte Bedeutungen, indem nur manche Seme hervorgehoben, andere hingegen narkotisiert, stillgelegt werden.141 Gerade hierin liegt eine bedeutende Chance für einen Redner/eine Rednerin, die eigene Sicht – um im Bild zu bleiben – strategisch in Stellung zu bringen. Die metaphorischen Konzepte sind infolgedessen ein wichtiges kognitives und emotionales Instrument. Sie vermitteln eine spezifische Sicht auf die Wirklichkeit bzw. konstruieren diese erst, indem sie die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch Sem-Selektion steuern. Des Weiteren nehmen sie eine emotionale Bewertung der konstruierten Wirklichkeit durch ihre konnotative Einfärbung vor. Praktisch wird sich die Tropenanalyse an Rudolf Schmitt ausrichten, der vier Analyse-Schritte vorschlägt: 1. Sammeln von Tropen und Ausschneiden der verstehensrelevanten Kotexte. 2. Kategorisieren des gefundenen Materials nach bestimmten Quellbereichen. 3. Abstrahieren, d.h. Bündeln der Kategorien, und Vervollständigen von Präsuppositionen. 4. Rückbinden an den Ausgangstext, das heißt die Funktion der Tropen im Textzusammenhang zu eruieren und sie unter persuasiven Gesichtspunkten zu interpretieren.142
Ferner ist auch der historische Kontext im Auge zu behalten, denn nur daraus lässt sich abschätzen, wie fest verankert die metaphorischen Konzepte waren, die Mussolini nutzte. Um die Spezifik oder Konventionalität der Tropen bei Mussolini herausarbeiten zu können, wird auf Sammlungen von metaphorischen Konzepten sowie auf Wörterbücher aus der Zeit zurückgegriffen.143 Emotionen und ihre Erzeugung durch Tropen Stellt der Mythos eine Objektivation des Gefühls dar, so ist dieser Aspekt ebenfalls zu beleuchten. Es ist davon auszugehen, dass „emotional wirksame Texte eine spezifische Oberflächenstruktur aufweisen müssen, die
141 Für die Rhetorik hat Till (2008a: 3, 5) den Mehrwert einer kognitiven Metapherntheorie eingehend dargestellt: „Mit solchen Konzeptsystemen kann der Rhetoriker arbeiten, denn in ihnen spiegeln sich ‚kulturelle Wertvorstellungen‘ [éndoxa].“ Ebd. (3). Gerade implizite Wertvorstellungen gilt es durch die Mythen-Analyse zu rekonstruieren. 142 Vgl. die Darstellung des Schmitt’schen Modells mit Beispiel bei Kruse/Biesel/Schmieder (2011: 93–103). 143 So z.B. auf Baldauf (1997), Casadei (1996), Tommaseo/Bellini (1861–1879) oder Panzini (196310).
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den Persuasionsprozess durch besondere Techniken der Affekterregung unterstützen“144. Dies kann einerseits direkt, andererseits indirekt erfolgen. Direkt sind solche Techniken, die eine Emotion in der Oberflächenstruktur thematisieren (ich freue mich, du bist traurig), allerdings reicht dies nicht aus, um eine Affektübertragung auf das Publikum zu garantieren, denn hierzu muss der Redner erst einmal glaubwürdig und authentisch erscheinen. „[E]inem Redner, der nicht glaubwürdig erscheint, mißtrauen wir. Erweckt er in uns Affekte, so mißtrauen wir auch ihrer Berechtigung.“145 Somit muss bei der Analyse zusätzlich die Eigendarstellung des Redners berücksichtigt werden (s. Kap. 4.1). Auf indirektem Wege können Emotionen durch indirekte Formen der Erkenntnis evoziert werden, „weil Gefühle Begleiterscheinungen von Erkenntnissen sind.“146 Diese Einsicht wird in der Rhetorik des Aristoteles in einem Affektkatalog bzw. in der Besprechung von Affekttopoi147 entfaltet. Die aristotelischen Ausführungen über die Emotionen müssen allerdings erklärt und mit anderen Schriften, so z.B. mit seiner Psychologie oder seiner Ethik ergänzt werden. In der Deutung von Viviana Cessi und Arbogast Schmitt habe Aristoteles eine spezielle Emotionstheorie entworfen, die zugleich eine Güter- und 144 Till (2008b: 653). Gefühl, Emotion, Stimmung, Affekt, Pathos: Dies sind die gängigen Termini, die zur Bezeichnung des hier verhandelten Sachverhaltes gebraucht werden. Gefühl ist intersubjektiv nicht nachvollziehbar, denn es drückt rein psychologische Zustände und Einstellungen aus. Um in den Fokus rhetorischer Untersuchung zu kommen, muss es ‚veräußert‘, ‚objektiviert‘ werden, das meint dann Emotion. Emotion wird meist als kurzfristig, Stimmung als langfristig charakterisiert. Affekt wird in unserem Zusammenhang gleichbedeutend zu Pathos gebraucht. Vgl. zur Unterscheidung der Begriffe: Till (2008b: 647) und Wörner (1981: 54 f., Fußnote 4). 145 Wörner (1981: 60) sowie Till (2008b: 656) und Arist. Rhet. I, 2, 4. 146 Schmitt (20112: 340). 147 „Wenn man unter einem Topos ein Argumentationsmuster versteht, sind die Anleitungen, die sich auf nicht-argumentative Überzeugungsmittel beziehen, als Sonderfälle anzusehen. Strukturell sind die Anleitungen zur Emotionserregung wie argumentative Topoi aufgebaut, indem sie eine allgemeine Regel (‚Was der Erwartung widerspricht, bereitet größeren Schmerz‘) in den Dienst eines Überzeugungsziels stellen.“ Wagner (2009: 611 f.). Wörner (1981: 77): „Pathostopoi sind somit Prämissen ähnlich.“ Rapp (2002: 298 ff.) nennt die Affekttopoi außer- bzw. quasi-argumentativ und sieht sie parallel zu den argumentativen Topoi, da sie ähnliche Strukturen aufweisen: 1. Der Affektkatalog stellt eine Heuristik wie auch andere Suchraster (loci a re/ a persona) dar. 2. Dem Begründen in der Argumentation (warum) entspricht das Darstellen und Aufweisen eines Sachverhaltes bei der Affekterregung (dass), verbunden mit dem Herstellen von Relevanz (tua res agitur), denn ohne einen Bezug zum Publikum, kommt keine Affizierung zustande.
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Handlungstheorie sei.148 Aristoteles’ Konzeption unterscheide sich von anderen Emotionstheorien dadurch, dass er sie als eine „Mischform aus Erkenntnisakten, Lustgefühlen und Strebensmomenten“149 auffasste. Gänzlich fremd oder neuartig ist diese Vorstellung der heutigen Forschung nicht. Moderne Emotionstheorien gehen ebenfalls von einem Ineinandergreifen von verschiedenen Komponenten der menschlichen Psyche aus.150 Aus Cessis Lektüre der aristotelischen Schriften ergibt sich der Schluss, dass sich je nachdem welche Erkenntnisform aktiv ist – direkte Wahrnehmung (aisthesis), Erinnerung (phantasia) oder Überlegung (nuos) – eine andersgeartete Emo tion einstellen werde.151 In diesem komplexen Zusammenspiel bleibt die Einheit des Subjektes erhalten. Gerade weil der aristotelische Zugriff in Bezug auf das Phänomen Emotion nicht negativ-wertend ist und er sie nicht als etwas Unerklärliches von jeglicher analytischen Betrachtung ausschließt, erscheint die aristotelische Emotionstheorie als zielführend für diese Untersuchung. Aristoteles hatte einen anderen Begriff von Kognition, der im unterscheidenden Erkennen bestand: Im Erfassen eines Objektes unterscheide man seine Eigenschaften, wie beispielsweise süß und nicht-süß. Erkenntnis ist bei Aristoteles immer mit zwei weiteren Prozessen verbunden, nämlich erstens mit einer Bewertung des Erkannten als ein Gut oder Übel, verbunden mit der Empfindung von Lust oder Unlust. Je nach Charakterdisposition fällt die Klassifizierung eines erkannten Objektes verschieden aus. Wird ein braunes Objekt wie Schokolade zusätzlich als süß eingestuft, kann das als äußerst lustvoll klassifiziert werden, vorausgesetzt man leidet nicht unter Karies. Zweitens 148 Grundlegend für eine positive Einschätzung der aristotelischen Emotionstheorie ist William W. Fortenbaughs Monografie Aristotle on emotion (1975) gewesen. Darin zeigte er auf, dass die von Aristoteles in der Rhetorik aufgeführten Emotionen kognitiv hervorgerufen werden können. Außerdem wies er nach, dass die Emotionen den Vorgaben der Analytica posteriora entsprechend definiert und sie somit bereits von Aristoteles wissenschaftlich erforscht wurden. Was Cessi und Schmitt von Fortenbaugh unterscheidet, ist ihr weiteres Verständnis der Begriffe Kognition und Urteil, die in der Lesart von Fortenbaugh nur dem logischen Seelenteil zukommen. Zusätzlich werden gerade die Aspekte der Erinnerung und Vorstellung bei Cessi als handlungsauslösende Momente besonders hervorgehoben, vgl. Cessi (1987: 121 f., 126; die Kritik an Fortenbaugh s. 132 f.). 149 Schmitt (20112: 339). Die Schnittstelle zwischen der aristotelischen Emotions-, Erkenntnis, Handlungs- und Gütertheorie (Ethik) wird im ersten Satz in Arist. EN I, 1 deutlich: „Jedes praktische Können und jede wissenschaftliche Untersuchung, ebenso alles Handeln und Wählen strebt nach einem Gut, wie angenommen wird.“ Ein Gut muss als solches erst erkannt werden und löst dann nicht nur eine Bewertung, sondern auch ein Streben und eine Emotion aus. 150 Vgl. zu dieser Entwicklung den von Döring (2009) herausgegebenen Sammelband. 151 Vgl. Cessi (1987: 160): „Die Art der Erkenntnis, die ein Streben auslöst, bestimmt, welcher Impuls aktiviert wird und folglich welches direkt abhängende Verhalten bei einer Handlung entsteht.“ Vgl. ferner: Ebd. (177).
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setzt dann – je nach Wertung – ein Streben oder Meiden des Objektes ein. Für den Redner bedeutet das, dass er nicht nur ein begehrenswertes Gut oder meidenswertes Übel repräsentieren, sondern auch die repräsentierte Situation derart gestalten muss, dass entsprechende Werturteile ausgelöst werden, die sich dann als Emotion manifestieren.152 Cessi deutet die Emotion als dasjenige, „wodurch ein Streben zum Ausdruck kommt und sich offenbart“153. Wie erzeugt man nun genau Emotionen? Aristoteles erklärt: Bei jedem einzelnen Affekt sind drei Aspekte zu trennen: Ich tue dies am Beispiel Zorn: [a] In welcher Gemütsverfassung befinden sich Zornige? [b] Wem zürnen sie gewöhnlich? [c] Worüber sind sie erzürnt? […] Zorn ist also (definiert als) [a’] ein von ein Schmerz begleitetes Trachten nach offenkundiger Vergeltung [c’] wegen offenkundiger Geringschätzung, die uns selbst oder einem der Unsrigen [b’] von Leuten, denen es nicht zusteht, zugefügt wurde.154
Diese drei Komponenten kommen allen Emotionen zu, die Aristoteles mehr oder weniger ausführlich behandelt. Er führt nur jene Emotionen auf, die für den Redner relevant sind. Die Liste ist aber prinzipiell offen und kann ergänzt werden. Er bespricht folgende in Paare gegliederte Emotionen: Zorn – Sanftmut, Freund sein/Liebe – Hass, Furcht – Zuversicht, Scham – Schamlosigkeit, Wohlwollen/Dankbarkeit155 – Undank, Mitleid – Entrüstung, Neid – Schaden152 Siehe Cessi (1987: 165), sie erläutert: „Die Affekte sind aber nach Aristoteles nicht nur Ausdruck des Strebens, das unmittelbar aus der Erkenntnis von etwas als einem für den Handelnden Guten und deshalb Angenehmen und Erstrebenswerten folgt. Entstanden durch ein unterscheidendes, wenn auch nicht notwendig reflektiertes Werturteil, sind die […] [páthe] ihrerseits selbst in der Lage, ihre Wirkung auf unsere Urteile bestimmend auszuüben.“ Aristoteles definiert den Affekt in der Rhetorik folgendermaßen: „Unter ‚Affekt‘ verstehen wir das, durch dessen Wechselspiel sich die Menschen in ihren Urteilen unterscheiden und dem Kummer und Vergnügen folgen“, Arist. Rhet. II, 1, 8. Krapinger übersetzt mit Kummer und Vergnügen die oben angesprochene Lust und Unlust. Rapp erkennt in der positiven oder negativen Bewertung einen „quasi-definitorischen Charakter“ von Emotion, da sie in fast allen im Pathoskatalog aufgeführten Emotionen vorzufinden seien, Rapp (2002: 548). Dort diskutiert er fortfolgend auch die strittige Zuordnung von Hass und Liebe, die aber ebenfalls auf ein positives oder negatives Wünschen rückführbar seien. Aus Rapps Sicht sei es überhaupt nicht notwendig eine abgeschlossene Taxonomie der Emotionen über genus proximum und differentia specifica zu erstellen, denn „[d]as Fehlen einer vollständigen Definition mag ein Zeichen dafür sein, dass Aristoteles einen vielschichtigen und variablen Gegenstand vor Augen hat.“ Ebd. (546). 153 Cessi (1987: 164), Kurs. i. Orig. 154 Arist. Rhet. II, 2, 1. 155 Auch hier sind wieder die Übersetzungen unterschiedlich und man muss sich die Perspektive klar machen: Krapinger überträgt Wohlwollen, Rapp übersetzt hingegen mit Dankbarkeit. Ersteres ist in der Rhetorik stärker an den Redner gebunden (captatio benevolentiae), letztere drückt den Dank des eine Wohltätigkeit Empfangenden aus. Mithin kann sich Wohlwollen als Dank im Sprechakt äußern.
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freude und Eifer – Verachtung.156 Die Emotionen scheinen sich gegenseitig aufzuheben: wer zürnt, ist nicht sanftmütig gestimmt und umgekehrt. Die aufgeführten Emotionen werden für diese Arbeit herangezogen und, wenn nötig, durch weitere ergänzt. Möchte nun der Redner bei seinem Publikum eine Emotion wecken, muss er sich zwei Schritte vornehmen: Erstens muss er einen Affekttopos auswählen, z.B.: Wenn man von jemanden unverdientermaßen geringgeschätzt wird/wurde, dann ist man zornig. In einem zweiten Schritt muss der Redner nun plausibel aufweisen, dass der Vordersatz gegeben sei und das Publikum betreffe. Wenn das Publikum das Urteil des Redners übernimmt,157 stellt sich bei jenem die Emotion ein: einerseits Schmerz über die Geringachtung, andererseits ein Streben nach Vergeltung. Jede Emotionskonstruktion ist dabei in ein RaumZeit-Schema einzubinden. Das kann man aus dem Zitat entnehmen, denn die Geringachtung wurde einer Person gegenüber durch eine konkrete Handlung zugefügt.158 Aus der Tropenanalyse kann man solche Handlungsmuster und narrative Schemata rekonstruieren. Die Tropen legen eine gewisse Sichtweise auf einen Sachverhalt nahe und konnotieren ihn damit emotional. Bei den indirekten Formen der Emotionserzeugung werden die Tropen als Analysematerial herangezogen. Die soeben geschilderte produktionsleitende Sichtweise zur Affekterregung wird in diesem Fall in eine analytische umgekehrt. Überprüfung der Wirkung durch Rezeption Um der exemplarischen Analyse mittelfristige Aussagekraft zusprechen zu können, sollen ausgewählte Zeitungsartikel auf intertextuelle Bezüge zu Mussolinis Reden untersucht werden.159 156 Vgl. Arist. Rhet. II, 2–11. In der EN II, 4 zählt Aristoteles noch die Begierde, Freude und Sehnsucht auf. 157 Arist. Rhet II, 1, 2. „Da die Rhetorik auf ein Urteil abzielt“, muss der Redner das urteilende Publikum in einen von ihm beeinflussbaren günstigen Zustand versetzen, der sich wiederum auf dessen Urteil auswirkt. „Mittels der Zuhörer überzeugt man, wenn man sie durch die Rede der Emotionen verlockt. Denn ganz unterschiedlich treffen wir Entscheidungen, je nachdem, ob wir traurig oder fröhlich sind, ob wir lieben oder hassen.“ Ebd. I, 2, 5. Vgl. dazu ausführlich Rapp (2002: 575–583). 158 Unterstützt wird diese Auffassung durch die Überlegungen von Solomon (1981: 240), der feststellt: „Als Brennpunkt unserer Weltanschauung ist eine Emotion ein Netzwerk von Begriffs- und Wahrnehmungsstrukturen, innerhalb dessen Gegenstände, Menschen und Handlungen Bedeutung erlangen und ihnen ein Platz in einem dramatischen Szenarium zugewiesen wird.“ 159 Zur Intertextualität vgl. Genette (1993: 10). Darüber hinaus soll auch die Metatextualität – als wertender Kommentar über den Redetext – miteinbezogen werden. Metatextuell ist
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Das miteinbezogene Presseecho korrigiert und ergänzt die eruierten impliziten Wirkungsabsichten aus der Redenanalyse. In diesem Zusammenhang kommen dann die Zeitungskommentare oder Tagebucheinträge in den Blick. Hauptsächlich wurde auf die Zeitung La Stampa aus Turin, die deutschsprachige Alpenzeitung aus Bozen, bis zur Auflösung durch die Nationalsozialisten auf die Vossische Zeitung aus Berlin, danach auf die französische Zeitung Le Temps aus Paris sowie vereinzelt auf die österreichische Wiener Zeitung und den L’Osservatore Romano zurückgegriffen. Alle boten nicht nur Einschätzungen zu den Reden, sondern auch hilfreiche Beschreibungen des gesellschaftlichen Kontextes und des Settings. Das Presseecho wird als Kurzfassung der Rede aufgefasst, die die interpretierte Hauptaussage wiedergibt. Zusätzlich können Kommentare als selektive Schwerpunktentfaltung der Rede ex post begriffen werden: Welche Themen wurden z.B. herausgegriffen, welche vernachlässigt? Entspricht das Echo auf der emotionalen Ebene dem der Rede? Knüpft es an die Rede an, oder weicht es von ihr ab? Ergänzend wurden die polizeilichen Geheimberichte hinzugezogen, die von Simona Colarizi aufbereitet wurden und ein generelles Stimmungsbild der Italienerinnen und Italiener unter dem Regime liefern. Um das Wesentliche nochmals zusammenzufassen: Die Analyse legt den Fokus auf vier Bereiche, die als miteinander verbunden zu denken sind: 1. Untersuchung von Tropen auf die ihnen gemeinsamen metaphorischen Konzepte. 2. Herausarbeiten von impliziten narrativen Strukturen. 3. Analyse der Mechanismen der Affekterzeugung durch direkte oder indirekte Affizierung. 4. Prüfung der in den Reden angelegten Wirkungsabsicht mithilfe einer punktuellen Untersuchung der Rezeption. Aus diesen vier Komponenten soll dann eine Rekonstruktion der zugrundeliegenden Mythen und eine Einschätzung ihrer potenziellen Wirksamkeit entstehen. Für die Darstellung der Mythen wird für einige Kapitel auf Tabellen zurückgegriffen, die anhand des Handlungsgefüges (Akteure, Mittel, Ursache, Ziele) strukturiert werden.160 In der tabellarischen Form zeigt sich dann die textliche Instantiierung der zugrundeliegenden Konzepte, die jeweils in Quell- und Zielbereich aufgeteilt sind.
auch die Offenlegung der Bewertungskriterien für die Rede, bzw. für die darin angewandte Rhetorik. 160 Die Art der Darstellung folgt Drommler/Kuck (2013: 213, 218). Mit dem Handlungsgefüge wird auch eine Vergleichbarkeit der einzelnen Mythen und ihrer elementaren Struktur gewährleistet.
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Analysekorpus
Zuletzt muss noch die Auswahl des Korpus begründet und die Editionsgeschichte der zu analysierenden Texte umrissen werden. Dietrich Busse und Wolfgang Teubert zufolge sollte ein Textkorpus die Kriterien der Einheit von Thema, Textsorte und Funktionszusammenhang erfüllen. Zusätzlich sollte die Auswahl zeitlich sinnvoll eingegrenzt werden.161 Für den letztgenannten Aspekt bot Leso mit seinen Überlegungen eine erste Orientierung für die Zusammenstellung des Korpus.162 Er machte drei Phasen aus, die Mussolinis Sprachgebrauch und Stilentwicklung charakterisierten. Da diese Arbeit den Fokus auf eine Analyse Mussolinis als den Redner des Faschismus – verstanden als konsolidiertes Diktaturregime – legt, wird die erste Phase (1909–1915) und zweite Phase (1915–1929) nicht Gegenstand des Korpus sein. Eine weitere zeitliche Einschränkung ergab sich aus De Felices Behauptung, die Jahre von 1929 bis 1936 zeichneten sich durch einen breiten Konsens aus.163 Dies sind die sachlich hergeleiteten äußeren Eckdaten, die die Analyse aufgrund der sie leitenden Forschungsfrage nach dem Konsens beschränken. Die Auswahl der zu untersuchenden Reden richtete sich konkret nach folgenden zwei Kriterien:164 1. Welche Reden wurden von Zeitgenossen im Nachhinein als bedeutend empfunden? Hinweise hierauf ließen sich aus der einschlägigen Forschungsliteratur oder den Redensammlungen aus der Regime-Zeit entnehmen. 2. Welche Reden wurden in historischen Schlüsselsituationen gehalten? Dazu wurde die historiographische Einschätzung post festum herangezogen. Allen untersuchten Reden ist darüber hinaus der funktionale Aspekt der politischen Textsorte gemein. Sie fächern sich dann in unterschiedliche Rede-Settings auf. Insgesamt umfasst das Korpus 70 Reden, die zwischen 1929 und 1936 von Mussolini gehalten wurden (s. Appendix).165 Es wurde in folgende thematische Kernpunkte gegliedert: 161 Vgl. Busse/Teubert (2013: 17). 162 Vgl. Leso (1973: 151). Metaphorisch unterscheiden sich die Textsorten, so Cortelazzo (1977: 188), durch einen religiös-militärischen Quellbereich, vor allem in Reden, und durch einen religiös-medizinischen Quellbereich in Artikeln. Insofern wäre zu prüfen, ob und in welchem Ausmaß medizinische Metaphern auch in Reden während der Regimezeit vorkommen. 163 Vgl. De Felice (19745: 3). 164 Die herangezogenen Kriterien sind von Goldberg (1998: 31 f., Fußnote 5) inspiriert. Auch Busse/Teubert (2013: 17) machen die repräsentative Auswahl von Texten für eine Diskursanalyse daran fest, ob die Texte den Diskurs maßgeblich beeinflusst haben. Ob dies zutrifft, muss plausibel begründet sein. 165 Ein Verzeichnis mit allen Reden Mussolinis existiert nicht. Man kann allerdings Schätzungen anstellen, wie viele Reden er in seiner Zeit als Diktator hielt. Werden als
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1. Faschismus – Kirche/Religion, 2. Faschistische Feiertage, stark ideologieträchtige Äußerungen, 3. Bonifica agraria/integrale und die Weizenschlacht, 4. Weltwirtschaftskrise, 5. Außenpolitik: der italienisch-äthiopische Krieg.
Mithilfe dieser thematischen Bündelung ließen sich nicht nur intertextuelle Bezüge zusammenfassen und besser überblicken, sie konnte auch für die historische Kontextualisierung verwendet werden, die der Analyse vorausging. Selbstredend war die Auswahl der Texte zuerst umfänglicher. Auch die Länge der Reden spielte eine Rolle, so wurden solche, die weniger als eine Seite in den Opera Omnia umfassten nicht oder nur in Ausnahmefällen (z.B. wegen ihrer Bekanntheit) berücksichtigt.166 Auf das Setting bezogen waren die Reden gegliedert in: fünfunddreißig Reden auf der Piazza, dreizehn an sonstigen Orten wie beispielsweise dem Palazzo Venezia oder dem Kapitol, neun vor dem Senat, acht in der Abgeordnetenkammer und fünf im Theater (Argentina). Damit halten sich die Volksreden und die Ansprachen in einem formelleren Rahmen einander die Waage. Editionsgeschichte der Opera Omnia Es ist angebracht, noch einige Worte über die Editionsgeschichte der Reden zu verlieren. Die Grundlage für die Analyse bildeten die Opera Omnia, erschienen zwischen 1951–1963 und herausgegeben von Eduardo und Dulio Susmel. Sie umfassen insgesamt 35 Bände plus einen Registerband. Ferner kamen dann
Abgrenzung von einer Ansprache zu einer Rede zwei Seiten in den Opera Omnia als Richtwert angesetzt (s.u.), so kommt man für das Jahr 1932 auf sieben Reden. Als weitere Stichprobe wurde das Jahr 1934 aufgenommen. Hier kommt man auf elf Reden. Nimmt man nun den Durchschnitt der beiden Jahre (9) und rechnet dies auf die 23 Jahre Regierungszeit hoch, so wären das ca. 207 Reden. Die Zahl wird wahrscheinlich etwas darunter liegen, wenn man die wenigen Auftritte zum Schluss seiner Herrschaft berücksichtigt. 166 Man könnte diese kürzeren Texte unter dem Begriff der Ansprache fassen. Hilgendorff (1992: 658) gibt allerdings zu bedenken, dass „die Bezeichnung einer Rede als A[nsprache] kein […] Begriff der rhetorischen Theorie darstellt, [so] bleiben entsprechend auch definitorische Abgrenzungen eher vage und begnügen sich in der Regel mit Hinweisen auf die (meist festlichen) Gelegenheiten, bei denen A[nsprachen] gehalten werden, und der Festsetzung einer relativ kurzen Redezeit.“ Bei einer Ansprache steht mehr der Kontakt zum Publikum und der Anlass selbst im Vordergrund, eine thematische Vertiefung kommt meist nur selten zustande. Auch deswegen wurden die Ansprachen nicht weiter berücksichtigt.
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in den Folgejahren noch acht Appendizes (1978–1980) hinzu.167 Die Ausgabe wurde mit der Einwilligung Mussolinis als superdefinitiva bereits 1937 geplant, erschien dann aber erst ab 1951. In den Opera Omnia wird auch der Charakter der zuvor erschienenen Regimeausgabe (Scritti e discorsi di Benito Mussolini. Edizione Definitiva, 12 Bde.) reflektiert und befunden, dass sie nicht vollständig sei.168 Darüber hinaus erweckt das Vorwort und auch das diesem vorausgehende Geleitwort des Verlagshauses La Fenice den Eindruck, die abgedruckten Texte wären sorgfältig mit den Originalen verglichen worden und entsprächen den vor Ort gehaltenen Reden.169 Dass dem nicht so ist, hat Andrea Monaldi in seiner Monographie I discorsi del Duce (2015) nachweisen können, der die Grundlage für eine kritisch-vergleichende Betrachtungsweise der Texterzeugnisse Mussolinis geschaffen hat. Monaldi verglich 18 Volksreden, die durch die Wochenschau LUCE aufgenommen worden waren, mit den Manuskripten Mussolinis, den gedruckten Fassungen im Il Popolo d’Italia und mit der Regime- wie Susmel-Ausgabe. Wegen der fehlenden audio-visuellen Aufzeichnungen verzichtete er auf die Kammer- und Senatsreden.170 Monaldi stellte bei seiner Untersuchung fest, dass die Zeitungstexte zusammen mit der Regimeausgabe und den Opera Omnia oft übereinstimmen, sich aber von den Textmanuskripten bzw. den in situ gesprochenen Reden unterscheiden. Die einzelnen Textfassungen seien 167 Der Appendix VIII enthält viele Reden (von 1919 bis 1944), die in der OO-Ausgabe nicht enthalten waren. Dieser Band wurde aber nicht berücksichtigt, da er vor allem kurze Ansprachen, Interviews, Toasts oder auch Volksreden auf der Piazza enthält, die schon in der Auswahl (s.o.) vorhanden sind. 168 Vgl. D. Susmel (1951: VIII): „[S]i presenta largamente incompleta anche nei successivi volumi, dove non figurano i discorsi pronunciati da Benito Mussolini al consiglio dei ministri […]. Mancano pure molti discorsi pronunciati al Parlamento, al Senato e in pubblico“. Kritik an der Regimeausgabe wurde bereits von Currey (1935: 579) in ihrer Rezension geübt (Bde. III, IV, V, VI): „The foreign reader could perhaps have spared the many short speeches made by Signor Mussolini in the towns and villages during his tours up and down the country; it is to be hoped that one day a single volume will be published containing all those speeches which are of national, international and historic importance.“ 169 Vgl. D. Susmel (1951: XIV f.): „Gli scritti, i discorsi, le conferenze e le interviste contenute nei trentacinque volumi dell’Opera Omnia, sono fedelmente collazionati sugli originali. Sono stati corretti soltanto i refusi tipografici di chiara evidenza, e l’accentazione è stata uniformata. Dal confronto di questi testi, che sono integrali, con quelli dell’Edizione Definitiva, si notano non di rado brani mancanti, aggiunte arbitrarie, mutilazioni, sostituzioni di parole e cambiamenti di punteggiatura.“ Kurs. i. Orig. Sowie das Verlagshaus La Fenice (1951: V): „Discorsi riprodotti così come furono pronunciati.“ Der Verlag betonte die Objektivität und Neutralität von Eduardo Susmel und dessen Sohn Dulio Susmel. 170 Vgl. Monaldi (2015: 101 f. sowie ebd., Fußnote 168).
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auf unterschiedliche Kalküle, je nach Zielpublikum, hin ausgelegt. Übermittlungsfehler an die Zeitungen seien aber auch nicht immer ganz auszuschließen.171 Die aus den Wochenschauen transkribierten Reden wiesen ein geringeres lexikalisches Spektrum, die Zeitungstexte hingegen eine gewähltere Ausdrucksform auf.172 In der deutschen autorisierten Ausgabe Schriften und Reden von Mussolini ist zu lesen, dass die Veröffentlichung der Reden der „dokumentarischen Fundierung der historischen Ereignisse“ diene. Durch die „Einhaltung der chronologischen Reihenfolge“ sei es möglich, alles noch einmal „wiederzuerleben“. Mussolini führt erklärend aus: Ich erkenne meiner Prosa keine besonderen literarischen Vorzüge zu und bin weit entfernt davon, zu glauben, daß allem in diesen Bänden Enthaltenen besondere Verdienste zukommen. Ich weiß, daß viele meiner Reden und Schriften zu eng mit dem Ereignis verknüpft sind, das sie hervorgerufen hat. Es sind Gelegenheitsarbeiten. Oft sind sie rein polemischer Natur und erscheinen heute überholt; aber man kann und darf sie nicht aus dem Ganzen entfernen, ohne Gefahr zu laufen, die Kontinuität der Ideen und Handlungen zu zerstören.173
Geschickt nutzte Mussolini hier einen Bescheidenheits-Topos und wies sein Publikum darauf hin, wie er gelesen und verstanden werden möchte. In diesem Vorwort legte er Wert darauf, dass die Reden als authentisch rezipiert werden. Dies betonen nicht nur seine Eingangsworte, sondern auch das Herausstellen der Zeitgebundenheit. Was Mussolini jedoch nicht explizit äußerte, war, dass er die Reden für den Druck in der Zeitung überarbeitet hatte und damit auch ein bestimmtes Bild für die Nachwelt sicherstellen wollte. Dabei war dieses Vorgehen nicht unüblich, war es doch schon seit der Antike, so z.B. bei Cicero, gang und gäbe. Auch bei Mussolinis Zeitgenossen wurde die Überarbeitung freimütig thematisiert.174 171 Vgl. ebd. (197 f., 239 f., 249). 172 Vgl. ebd. (235) sowie sein Befund: „tutti i testi di G [= giornali, F.S.] rappresenterebbero la redazione preferita da Mussolini, l’ultima delle fasi elaborative attraversate dai discorsi“, ebd. (251). 173 Mussolini (1935: IX f.) (italienische Fassung zu finden in OO (26: 83)). Die deutsche Fassung ist in Zürich und in Leipzig/Stuttgart erschienen, enthält somit auch ein Gutachten der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums (Alfred Rosenberg zugeordnet), das die Wirkung der Reden – selbst noch im gedruckten Zustand – als „unmittelbar und zündend“ beschrieb und darin ein „Weißbuch untadeligster Gesinnung“ erblickte, vgl. Mussolini (1935: die erste unpaginierte Seite nach 283). 174 Cassius Dio (XL, 54) überliefert die Anekdote, dass Milo, nachdem Cicero ihn vor Gericht nicht mit seiner Verteidigungsrede vor dem Exil bewahren konnte, von diesem die überarbeitete Fassung zugesandt bekommen habe. „Als Milo während seiner Verbannung die
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Kapitel 2
Da bis heute noch keine kritische Gesamtausgabe erschienen ist, muss man sich dieser zielgerichteten Gestaltung in Hinsicht auf ein größeres, womöglich gebildetes Publikum bewusst sein, d.h. auch, dass fast alle Analysen – samt und sonders der stilistischen Merkmalsbestimmungen – viel eher den Journalisten und Schriftsteller Mussolini abbilden, als den Redner bzw. dieser durch jenen gebrochen wahrgenommen wird. Mit der Mythen-Analyse werden diese Einschränkungen aber umgangen, weil davon ausgegangen wird, dass die Tiefenstruktur auch nach der stilistischen Überarbeitung zu großen Teilen erhalten geblieben ist. Andernfalls hätte die ganze Rede geändert werden müssen und dies ist angesichts der Tatsache weniger plausibel, da es bereits Zuhörer gab, die den Inhalt bezeugen konnten. Bevor es zur eigentlichen Analyse kommt, sollte zuerst noch der historische und rhetorische Kontext ausgeleuchtet werden, in dem Mussolini agierte.
ihm von Cicero überschickte Rede [Pro Milone] las, schrieb er in seiner Antwort, es sei für ihn ein Glück gewesen, daß jene Worte in dieser Form nicht auch vor dem Gerichtshof gesprochen worden seien; er könnte sonst in Marsilia, seinem Verbannungsort, nicht solche Seebarben verspeisen.“ Zur ästhetischen Überarbeitung s. die Konklusionen Humberts (1972: 254–293) sowie zur Veröffentlichungspraxis Ciceros s. Crawford (2002: 311 f.). Carlo Delcroix (1936: 7 ff.) sah in der Veröffentlichung von Reden den Ausdruck von Kunstwollen, das in Präzision, Verdichtung und Reduktion bestünde und die Reden nicht an und für sich änderten, sondern vielmehr ihre Substanz verstärkten. Auch die unterschiedlichen situativen Kontexte und Rezeptionsweisen würden damit berücksichtigt. Die Umarbeitung einer Rede für ein Buch sei somit der Erhalt ihrer Wirkung unter veränderten Rezeptionsbedingungen.
Kapitel 3
Mussolini: historische Wurzeln eines Redners Salvator Gotta schrieb 1929 im Vorwort zu L’eloquenza mussoliniana von Giuseppe Ardau, dass Mussolini ein geborener Redner sei: „Orator nascitur […] tamquam poeta“1. Im Hintergrund dieser Aussage steht der Quintilian fälschlicherweise zugeschriebene Aphorismus poeta nascitur, orator fit.2 Dichter werden geboren, zum Redner wird man durch Ausbildung und Theorie. Gotta beanspruchte für Mussolini den Status eines von Geburt an talentierten Redners und umgab ihn mit einem Genie-Nimbus. Quintilian hingegen war der Meinung, dass sich der Redner durch Lernprozesse entwickelt, sodass sich sein natürliches Talent erst peu à peu ausbilden kann. Geht man also davon aus, dass Mussolini nicht als geborener Redner zur Welt kam und sich erst zu einem Redner bilden musste, werden der historische Kontext und sein Werdegang außerordentlich wichtig. Es folgt nun ein kurzer biographischer Überblick, um die daran anschließende historisch-rhetorische Vertiefung besser zugänglich zu machen.3 Aus dem Leben eines Diktators Benito Amilcare Andrea Mussolini kam am 29. Juli 1883 in Dovia di Predappio in der Emilia-Romagna zur Welt. Seine Mutter war Grundschullehrerin, sein Vater war Schmied und politisch bei den Sozialisten sehr aktiv. Nach seiner Schulausbildung war Mussolini kurze Zeit als Lehrer tätig, bevor er in die Schweiz emigrierte und dort bei unterschiedlichen Zeitungen arbeitete. 1904 kehrte er nach Italien zurück, wurde schnell durch sein politisches Engagement bekannt und leitete ab 1909 die sozialistische Sektion mitsamt der dazugehörigen Zeitung im österreichischen Trento. Um diesen Zeitpunkt herum kündigte sich auch die Bekanntschaft mit dem Intellektuellen-Kreis La Voce in Florenz an. 1912 übernahm er die Leitung der sozialistischen Parteizeitung Avanti!, nachdem er erfolgreich 1 Gotta (1929: 12). 2 Vgl. Tosi (2010: 1453 f., § 1998). In Tosis Aphorismensammlung wird der Ausspruch einem gewissen P. Annius Florus zugeschrieben, dort fehlt aber die antithetische Zuspitzung von poeta einerseits und orator andererseits, zwischen nasci und fieri. Die oben zitierte Fassung hatte, wie Ringler (1941: 499) wahrscheinlich gemacht hat, erst im 16. Jahrhundert Gestalt angenommen. 3 Für die Skizze wurde auf Woller (2016) zurückgegriffen.
© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846767474_004
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Kapitel 3
für die revolutionäre Ausrichtung der Partei geworben hatte. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Mussolini einer der führenden Politiker in den sozialistischen Reihen. Dies änderte sich mit dem Parteiausschluss, der wegen seines Einsatzes für den Kriegseintritt Italiens an der Seite der Alliierten erfolgt war. Nachdem er im Krieg verwundet wurde, wandte er seine Aufmerksamkeit komplett seiner Hauszeitung Il Popolo d’Italia zu, die er zur politischen Positionierung nutzte. Am 23. März 1919 nahm er an der Gründung der faschistischen Kampfbünde, den sogenannten Fasci Italiani di Combattimento, teil. Diese sehr bunt zusammengeworfene Gruppe aus Revolutionären, Sozialisten und Futuristen bildete den Grundstock des 1921 zur Partei umgewandelten Partito Nazionale Fascista (PNF). Durch einen geschickten, lediglich einen Staatsstreich andeutenden Bluff, den sogenannten Marsch auf Rom, wurde Mussolini 1922 zum Ministerpräsidenten durch den König berufen. Der revolutionäre Gründungsakt der Faschisten hätte zu jeder Zeit unterbunden werden können, bestand die ganze Aktion aus gerade einmal 5000 schlecht organisierten Freiwilligen. Seine Aufgabe, den notwendigen Druck aufzubauen und den König zu bewegen, den Faschisten die Macht anzuvertrauen, hatte er aber erfüllt. Später wurde dieses Ereignis zur glorreichen Machtübernahme stilisiert. Ab diesem Zeitpunkt war Mussolini durchgehend bis zu seinem ersten Sturz 1943 im Amt. Zunächst war er in seiner Regierungstätigkeit durch national-liberale und katholische Kräfte gebunden, rief aber 1925 nachdem sein Auftragsmord an dem unbequemen sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti ans Licht kam, die offene Diktatur aus. Ohne diese Flucht nach vorne wären Mussolini die Zügel schnell entglitten, formierte sich doch rasch eine breite Allianz gegen ihn. Die Diktatur wurde bis 1927 forciert und war nun fest in das institutionelle Gefüge Italiens eingebaut. Das erste Ereignis, das mit den hier erbrachten Redeanalysen im Zusammenhang steht, war die Aussöhnung mit der Katholischen Kirche 1929. Im selben Jahr brach auch die Weltwirtschaftskrise aus, die Mussolini bis 1935 in seinen Reden beschäftigen sollte. Ab da verschob sich seine Aufmerksamkeit hin zu außenpolitischen Themen und ganz konkret auf den Überfall Äthiopiens. Aus dem hier eingenommenen Betrachtungszeitraum heraus fallen die Ereignisse des Spanischen Bürgerkrieges und die Annäherung an Hitler-Deutschland in den späten 1930er Jahren. 1940 trat Italien in den Zweiten Weltkrieg ein und führte parallele Eroberungsfeldzüge in Afrika und Griechenland. Die immer weiterreichende Radikalisierung Mussolinis und die verschlechterte Kriegslage trugen dazu bei, dass das Umfeld des ‚Duce‘ seine Absetzung erwirken konnte. 1943 wurden Mussolini die Regierungsgeschäfte entzogen und er
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selbst inhaftiert. Durch ein deutsches Sonderkommando wurde er befreit und in die Repubblica Sociale Italiana in Norditalien als Regierungschef von Hitlers Gnaden eingesetzt. Sein Ende fand Mussolini auf der Flucht in die Schweiz am 28. April 1945, wo er in der Nähe des Comer Sees von Partisanen ergriffen und erschossen wurde. Sein Leichnam wurde auf dem Piazzale Loreto in Mailand aufgehängt und geschändet. Die leiblichen Überreste ruhen in seinem Geburtsort, zu dem hin noch heute jedes Jahr viele (Neo-)Faschisten pilgern. Der rhetorischer Werdegang Mussolinis – eine Spurensuche Der Historiker Hans Woller ist der Ansicht, dass Mussolinis Erfolg auch in seiner facettenreichen Rhetorik zu suchen sei: Seine fast dämonische Beredsamkeit kam im sozialistischen Milieu nicht weniger gut an als im nationalen Lager. Sein autoritärer, aber ständig auf plebiszitäre Zustimmung bedachter Habitus und sein Charisma als Volkstribun wirkten hier wie dort und anscheinend noch weit darüber hinaus.4
In diesem Kapitel sollen nun die rhetorischen Diskurstraditionen – die nationalen und sozialistischen –, in denen Mussolini stand und aus denen er hervorging, näher beleuchtet werden: Welche Rednerideale existierten und warum? Welche Rolle spielte das Risorgimento für die generelle politische Kultur zur Zeit Mussolinis? Welches Umfeld hat Mussolini rednerisch wie stilistisch geprägt? Wie wurde Mussolini damals von seinen Zeitgenossen gesehen? Aus all diesen Fragen ergibt sich im Laufe des Kapitels eine bessere Einschätzung von Kontinuitätslinien und/oder Brüchen innerhalb der Rhetorik Mussolinis und ein differenzierteres Bild derselben. Es wird sich zeigen, dass Mussolini einerseits in starker Abgrenzung zur herkömmlichen Rhetorik gesehen werden muss, dass aber andererseits auch diese Ablehnung und ihre spezifische Ausformung Vorbilder in der Rhetorik-Geschichte Italiens hatten. Zu diesem Zweck werden nicht nur ausgewählte Politiker und ihre jeweilige Rhetorik kurz umrissen, um nachher einen besseren Vergleich mit Mussolini führen zu können, sondern auch Grundzüge des ideologischen, sozialen und beruflichen Umfeldes vorgestellt, in dem Mussolini sich bewegte.
4 Woller (2016: 68).
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Kapitel 3
Die Patria-Rhetorik und ihre Ursprünge
Das 19. Jahrhundert spielte für Mussolini insofern noch eine bedeutende Rolle, da es den politischen Diskursrahmen setzte und ebenso für die Ausrichtung im Gebrauch der Mythen maßgebend blieb. Gabriele Pedullà spricht sogar davon, dass Mussolini die Inkarnation und dann auch das Ende der Patria-Rhetorik des italienischen Risorgimentos darstelle.5 Die Vorstellungen, die sich über die Rhetorik im 19. Jahrhundert ausgebildet hatten, sollen im Folgenden durch eine etwas längere Skizze deutlich gemacht werden: Zuerst soll von der rhetorischen ‚Großwetterlage‘ ein Bild gegeben werden, das heißt, welche Gestalt die Rhetorik in Italien seit dem Entstehen der unterschiedlichen Volksprachen (volgari) angenommen hatte. Danach werden die romantische Konzeption der Rhetorik herausgearbeitet und abschließend die wichtigsten Rednerideale der Zeit dargestellt. 3.1.1 Rhetoriktraditionen in Italien: eine Übersicht Wie Dietmar Till in seiner Studie Transformationen der Rhetorik gezeigt hat, kam es zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert nicht zu einem Bruch mit der antiken Rhetoriktradition, sondern zu unterschiedlich intensiven Transformationen, die mit veränderten sozialen Kontexten, vor allem mit der Anknüpfung an griechische Rhetoriktheoretiker und dem cartesianischen Wissenschaftsparadigma zusammenhingen.6 Fragt man sich nach der kon kreten Verortung dieser Transformation im rhetorischen System, wird man unweigerlich auf den Bereich der elocutio stoßen, in der sich alle genannten Punkte verdichteten. Um diese Fokussierung auf den Stil nachzuvollziehen, ist es unerlässlich zu verstehen, wie die Normen der Rhetorik konzipiert waren, von denen aus diese Transformation ihren Ausgang nahm. Die Rhetorik in Italien im Banne Ciceros Seit dem 13. Jahrhundert verbreitete sich das Volgare toscano als neue Bildungssprache besonders durch die Behandlung in rhetorischer Traktatliteratur. Als Beispiele hierfür wären die Rettorica des Brunetto Latini oder die Lettere des Guittone d’Arrezzo, eine praktische Beispielsammlung, wie man Briefe 5 „D’Annunzio e Mussolini sono le figure chiave di questa fase perché, più che incarnare la negazione dell’oratoria politica del Risorgimento e del post-Risorgimento, ne rappresentano l’ideale apoteosi.“ Pedullà (2011: LXIII). 6 Vgl. Till (2004: 104–108). In der Darstellung werden die Ergebnisse der Studie übernommen, insoweit sie nach Abgleich mit dem italienischen Kontext aussagekräftig sind.
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schreiben soll, zu nennen.7 Latini, der Lehrer Dantes, übersetzte Ciceros De Inventione und legte somit die vulgärsprachliche Basis einer, was die Prosa angeht, ciceronianisch beeinflussten Rhetorik. Mit dem aufkommenden (Vulgär-)Humanismus ging auch die Nachahmung Ciceros in Italien einher. Wurde Cicero zuerst nur auf Latein nachgeahmt, wanderte dieses Bestreben auch bald in die unterschiedlichen regionalen Volgari über. Die stilistischen Normen wurden übertragen und verfestigten somit das Ansehen, welches Cicero seit dem Mittelalter in Italien genoss. Als Begriffe zur Bezeichnung für diesen Vorgang werden in der Forschung Ciceronianismus und Klassizismus verwendet, die im engen Zusammenhang untereinander und zu den Stilbegriffen Asianismus-Attizismus stehen.8 Eine besonders dauerhafte Grundströmung des Klassizismus prägt die italienische Literatur von ihren Anfängen bis zum ausgehenden 16. Jh. und um die Wende vom 18. zum 19. Jh.; angesichts der starken Imitationsforderungen selbst in den manieristischen Perioden (z.B. der Marino-Schule) und latenter Tendenzen höfisch-latinisierender Ausdrucksformen in der Gegenwartsliteratur kann der Klassizismus wohl als eines der bestimmendsten Prinzipien 7 Vgl. Hardt (1996: 60). Zu Latini Näheres bei Wilhelm (2006). Wenn hier Dante stillschweigend übergangen wird, dann aus dem Grund, da seine lateinisch verfasste De vulgari eloquentia sich thematisch mit dem Stil der Poesie beschäftigte (Lib. II, 1) und erst im 16. Jahrhundert publiziert wurde (Übersetzung von Trissino, 1529). Allerdings wird bei Dante dreierlei sichtbar: 1. Er erkennt der Poesie ein uneingeschränktes Primat im Bereich der Sprache zu und ordnet die Prosa ihr unter. So z.B. in der Vita nuova geschehen, wo die Prosastücke verbindenden Charakter zu den einzelnen Gedichten aufweisen und diese auszulegen helfen; daraus folgen die Grundzüge der poetisch-rhetorischen Tradition der italienischen Literatur, vgl. Mengaldo (2001: 102 f., 108). 2. Die Suche nach einer geeigneten Sprachform ist nicht nur eine rein grammatische, sondern auch eine stilistische Frage: „Dante aveva portato il problema della lingua sul piano dello stile. Cioè, aveva intuito che non si dà lingua che non sia un’espressione particolare, che non si atteggi secondo una modalità stilistica.“ Battaglia (1963: 4). 3. Schon von Beginn an spielte sich die Questione della lingua im Rahmen der scripta, also in der Schriftlichkeit ab, was am hohen Maße ihrer Artifizialität und am Kunstwollen sichtbar wird. Im 19. Jahrhundert wird versucht, die Mündlichkeit in der Schrift stärker als je zuvor zur Norm zu erheben. Dafür spricht auch das Phänomen der Konferenz, die sich am Gespräch orientiert und dieses als Grundsituation aller Kommunikation theoretisieren wird, s. dazu weiter unten. 8 Zum Ciceronianismus allgemein Tateo (1994). Noch immer lohnt sich auch der Blick in Zielinski (19123). Zur spezifischen Diskussion über Cicero während des Humanismus s. Robert (2011). Till (2004: 183, Fußnote 383) merkt an, dass es bereits in der Renaissance unterschiedliche Grade der Cicero-Nachahmung gab, nach Johann Heinrich Alsted unterteile sie sich „in eine Trias von 1. Ciceroniani (die ‚radikaleren‘ Ciceronianer), 2. Philippistae (die Anhänger Philipp Melanchthons und ‚gemäßigte‘ Ciceronianer [z.B. Erasmus v. Rotterdam]) und schließlich 3. die Lipsiani.“ Kurs. i. Orig.
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Kapitel 3 der italienischen Literaturgeschichte bezeichnet werden. Sowohl in den Mitteln des sprachlichen Ausdrucks (Vokabular, Syntax, Bildlichkeit) als auch in Formen und Themen der Texte üben die lateinischen und volkssprachlichen Klassiker des 14. und 16. Jh. eine in dieser Tiefe und Dauer sonst kaum in der europäischen Literatur vorfindbare Faszination aus.9
Der Klassizismus stellte das Bemühen dar, eine als nachahmenswert aufgefasste Auswahl von Texten und Stileigenschaften als Norm festzulegen. „Anlass für diese Rückkoppelung zu Vorbildern einer älteren, besseren Periode der Kunstgestaltung ist jeweils eine scharfe und bewusste Reaktion gegen einen als verwildert, geschmacklos und schlecht beurteilten unmittelbar vorausgehenden oder gegenwärtigen Zustand der Kunst.“10 Die Voraussetzung dafür bildete ein zeitliches Bewusstsein von Verfall. Der Klassizismus sei dann das Wiederaufleben eines nachahmungswürdigen Stils, nachdem dieser lange Zeit nicht gepflegt worden wäre. Problematisch wurde diese Nachahmung erst dann, als sie das Element der eigenständigen Aneignung außer Acht ließ und im Epigonentum erstarrte.11 War der italienische Klassizismus hauptsächlich eine imitatio Ciceroniana, so scheint es angebracht, deren stilistischen Grundzüge zu umreißen: Cicero äußerte in seinem De Oratore, dass es für den Redner wichtig sei, „ornate […] copioseque“12, also schmuckvoll und wortreich sprechen zu können. Der Reichtum an Synonymen führe zu einer differenzierten Darstellungsweise, die 9 10
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Noe (1998: 1000). Gelzer (1979: 11). Er stellt in seinem Aufsatz die unterschiedlichen Gebrauchsweisen der Begriffe Klassizismus, Attizismus und Asianismus dar. „Das ‚Attische‘ ist zwar der Leitbegriff des antiken Klassizismus. Aber dazu ist es erst nach und nach geworden. ‚Attizismus‘ und ‚Klassizismus‘ sind nicht von vornherein identisch.“ Ebd. (13). Für den italienischen Kontext ist wichtig, dass der Klassizismus jeglichen Stil zur Norm hätte erheben können, historisch bedingt aber den des Ciceros auswählte. Das legt nahe, den Begriff Klassizismus eher weit und formal zu fassen. Gelzer schlägt vor, ihn als einen Rückgriff auf eine ältere Stilrichtung zu bestimmen, vgl. ebd. (43, Discussion). Vgl. hierzu den schon klassisch gewordenen Aufsatz von Wilamowitz-Möllendorf (1900: 29). Über eine falsch verstandene imitatio schreibt er: „Dies ist der Kampf des papiernen Attisch gegen das lebendige Hellenistisch, in dem das Todte gesiegt hat, weil vom Hellenenthume nicht mehr zu leben verdiente als der unsterbliche Geist der Vergangenheit“ Ebd. (41). Bereits in der Antike wurde davor gewarnt, die imitatio auf nur einen Autor hin festzulegen und diesem dann sklavisch zu folgen: „Auch das ist eine Schande, wenn man sich damit begnügt, das Nachgeahmte zu erreichen. Denn – um es nochmals zu sagen – was wäre geworden, wenn niemand mehr erreicht hätte als sein Vorbild?“ Und weiter: „Aber auch wer nicht nach dem Höchsten strebt, sollte lieber wetteifern, als (bloß) nachahmen.“ So Quint. in X, 2, 7 und 9. Cic. De or. I, 21. Zielinski (19123) machte drei Merkmale des ciceronianischen Stils aus: Die copia verborum, die Periode (19 f.) und den Rhythmus (28 f.).
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den Gegenständen angemessen sei und sich im hypotaktischen Satzbau widerspiegele. Die Rhythmisierung der Perioden wiederum trage zur Abwechslung bei und vermeide Überdruss. Für Italien wurde Giovanni Boccaccio, der sich in seiner Novellensammlung Il Decamerone an der ciceronianischen Prosa orientierte, stilgebend. Im 16. Jahrhundert wurde durch den radikalen Ciceronianer Pietro Bembo diese Art zu schreiben in seinem Dialog Prose della volgar lingua (1525) zum Modell erklärt. An einem Beispiel – entnommen aus Boccaccio – wird die Nachahmung Ciceros klar: (1) E,
(2) nel vero, (1) se io potuto avessi onestamente per altra parte menarvi a quello (3) che io desidero, (4) che per così aspro sentiero come fia questo, (1) io l’avrei volontier fatto. (2) In der Tat, (1) hätte ich [es] füglich vermocht, (1/4) euch auf einen anderen und minder rauhen Pfade als diesen dahin zu führen, (3) wohin ich es wünsche, (1) so hätte ich es gern getan.13
Man erkennt an dieser Periode die komplexe Schachtelung der Satzteile untereinander und sieht daran das Bemühen um Ausgeglichenheit und harmonische Länge. Neben den verwendeten Hyperbata ist die Inversion von potuto avessi anstelle von avessi potuto auffällig. „Es sind dies jedoch die Verfahren, die am meisten nachgeahmt wurden und die am schwersten auf der normativen Stabilisierung der italienischen Sprache lasteten“14. Die Nachahmung Ciceros durch Boccaccio im Medium der Schriftsprache prädestinierte dieses Modell für eine Gelehrtenkultur, die sich damit von anderen Ausdrucksmöglichkeiten klar abgrenzen wollte. So spielte in die linguistische Frage, wie man sprechen 13 14
Für das ital. Zitat Boccaccio (1914: 7, = 1a giornata) und für die Übersetzung Boccaccio (2005: 13). Die Darstellung (Einrückung, Zahlen, Buchstaben und Kursivierung) ist von F.S. hinzugefügt worden. Marazzini (2011: 84). Eine eingehendere Analyse zu Boccaccios Prosa und genau zu dieser Stelle s. Schiaffini (1934: 275 f.). Hardt (1996: 172) stellt die Bildung Boccaccios heraus: „In das Decameron ging das gesamte humanistische Wissen und rhetorisch-stilistische Können ein, das der Autor sich in langen Studien und in zwanzig Jahren eigener experimentierender literarischen Praxis erworben hatte. Seine Studien in Neapel, seine Lektüren in der dortigen Bibliothek, der Unterricht bei Cino da Pistoia, seine Kontakte zur rhetorischen Hochburg Bologna hatten ihn mit allen wichtigen Lehren und Regeln der Rhetorik vertraut gemacht“. Kurs. i. Orig. Zielinksi (19123: 190) stellt lapidar fest: „Als Schöpfer der italienischen Kunstprosa gilt Boccaccio“.
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Kapitel 3
und schreiben solle, nicht nur eine überaus dominante ästhetische Vorstellung, sondern ebenfalls eine latent soziokulturelle Note hinein, nämlich jene, die Sprache als Distinktionsmerkmal aufzufassen. Es lohnt sich, einen Blick auf die sogenannte Questione della lingua zu werfen. Sie ist ein seit dem 14. Jahrhundert schwelender Aushandlungsprozess über die Sprachnormen des Italienischen und umfasst mannigfaltige Fragen: Woran soll sich die italienische (Schrift-) Sprache orientieren? Welche Region, welche Epoche soll man zur Norm erheben? Welche literarischen Vorbilder und Autoritäten sind hierfür auszuwählen? Wie viele Stilebenen soll es geben? Lehnt man sich als Richtlinie an die geschriebene oder gesprochene Sprache an? Wie weit dürfen Schrift- und Sprechsprache voneinander entfernt sein? Welches Stilregister soll als Umgangssprache benutzt werden? Zwei Aspekte treten bei diesem Streit um den ‚richtigen‘ Sprachgebrauch ineinander verwoben auf: Zum einen, was ist richtiges – korrektes – Italienisch? Dies ist eigentlich eine Frage der Grammatik. Zum anderen ist dies auch eine stilistisch-ästhetische Frage, nämlich die nach einem guten Italienisch.15 Aus der Rhetorik kennt man diese Problemstellung unter dem Begriff des usus, der aus der Grammatik in die Rhetorik hineinreicht und systemtheoretisch bei den Stiltugenden der Sprachrichtigkeit und des Schmucks zu finden ist. Die Kriterien des Sprachgebrauchs werden durch den Gebrauch der Mehrheit und durch das Vorbild der Besten bestimmt. Dass es sich hierbei nicht nur um ein rein literarisches Problem, sondern vor allem um ein soziales handelte, macht die Zahl derer klar, die zur Gründung Italiens 1861 italophon waren, also eine Umgangssprache nahe am literarischen Italienisch pflegten. Man schätzt, dass dies ca. 2,5 % (in absoluten Zahlen: 600 000 von 25 Mio.) oder, wenn man großzügiger ist, höchstens 10 % der Bevölkerung waren.16 Mit Bembo scheint 15
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Vgl. Albrecht (2007: 1070 ff.), vertiefend dazu Koch (1988) sowie Vitale (1978). Die neuere Forschung zur Questione della lingua zeichnet den Prozess der Sprachgeschichte nicht mehr als geradlinigen nach, sondern nimmt die Mischformen und Peripherien der verschiedenen Lösungsansätze in den Blick, vgl. dazu den Sammelband hrsg. von Lobin/ Dessì Schmid/Fesenmeier (2020). Dass die Frage nach einem guten Italienisch sowohl eine linguistische als auch eine rhetorisch-ästhetische Frage ist, belegt die Ansicht Spitzers, der formulierte: „alle Neuerung geht von schöpferischen Einzelheiten aus, nihil est in syntaxi quod non fuerit in stylo [nichts ist in der Syntax, was nicht vorher im Stil war]. Syntax, ja Grammatik sind nichts als gefrorene Stilistik“, Spitzer (1928: 517). Vgl. Marazzini (2011: 178 ff.). Die Kontroverse, wie viele Menschen zur Gründung des Königreichs Italien 1861 Italienisch sprachen und wie sie sonst kommunizierten, ohne solche Sprachkenntnisse zu besitzen, hat in den letzten Jahren zu neuen Ergebnissen geführt: vgl. Testa (2014). Beales/Biagini (20022: 77 f.) geben ein anschauliches Beispiel, wie man sich die sprachliche Kompetenz der Bevölkerung auf der Halbinsel vorzustellen hat: „In this respect the dialogues in Carlo Goldoni’s plays provide good illustrations. The
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der Konflikt um die Ausrichtung des Italienischen erst einmal eine vorläufige Lösung bekommen zu haben, denn durch seine Festsetzung orientierte sich die spätere Hochsprache Italienisch regional an Florenz, an ihren berühmten Söhnen, den sogenannten drei Kronen Dante, Petrarca und Boccaccio und stellte eine erlesene, illustre Literatursprache für eine sich durch ihre Bildung auszeichnende Elite dar. Die Kritik an einem erstarrten Ciceronianismus Das Ideal einer an Cicero gebildeten italienischen Literatursprache ging sodann in den Schulunterricht ein, wo es über Jahrhunderte hinweg tradiert wurde. Auf diese Persistenz einer klassizistischen Rhetoriktradition wies schon Wilfried Barner in seiner Studie zur Barockrhetorik hin: „Wer eine gelehrte Bildung durchlief, wurde zunächst und elementar im Geist des humanistischen Klassizismus erzogen; Ciceronianismus und augusteische Klassik prägten sich ihm als Leitbilder ein.“17 Dass sich diese Tradition bis ins 19. Jahrhundert hinein halten konnte, belegt die Aussage von Ruggiero Bonghi, welcher der Frage nachging, warum die italienische Literatur so unbeliebt und aus seiner Sicht abgehoben sei (Perché la letteratura italiana non sia popolare in Italia, 1856). Er schrieb: Was ist das rednerische Genus? Auch hier war Cicero der unschuldige Grund, dass sich ein einziger Typus für den besten Redner etablierte, dem alle ähnlich sein sollten. Es schien ihm, dass der beste Redner der sei, welcher poterit parva summisse, modica temperate, magna graviter dicere. Darin zeigt sich etwas Gutes: Denn tatsächlich schreibt er uns vor, diese drei Qualitäten, das Schlichte, das Moderate und das Feierliche zu verbinden. Man sieht also, dass keine als Form eines einzigen Stils verstanden wird, sondern alle drei zusammenwirkend den Stil formen.18
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eighteenth-century Venetian playwright – an acute critic of contemporary costume – allowed his characters to speak both dialect and the Italian language, as the case required. Upper-class characters from different regions would speak Italian to one another and to their servants. The latter could understand Italian, but would answer back in their own regional dialect.“ Barner (1970: 257), siehe ebd. auch die Seiten 253 f. Bonghi (18733: 108). Das lateinische Zitat geht auf Cic. Or. 101 zurück. Der Kritiker Giuseppe Borgese ist noch 1903 (19202: XXVIII) derselben Auffassung: „L’Italia fu tra le grandi nazioni letterarie l’ultima ad abbandonare quel genere di critica che i detrattori chiamarono retorica o arcadica o pedantesca e i fautori chiamarono classica“. Um das Ausmaß zu begreifen, wie weit rhetorisches Wissen noch immer in den Schulen präsent war, bietet sich ein Blick in einen Bericht an, den Giosuè Carducci – selbst eine Zeit lang Rhetoriklehrer – für den Consiglio superiore del ministro dell’Istruzione 1880 verfasste. In diesem Dokument (Parere sui libri di testo per l’insegnamento secondario classico) legte
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Kapitel 3
Und weiter: Bei uns jedoch wurde das Urbild von Cicero in den Rhetoriklehrbüchern einbalsamiert und ist Vorbild und ausschließlicher Maßstab geworden. All unsere Redner haben versucht, jene Form nachzuahmen. Die einzigen zwei, die es geschafft haben wenigstens die Abwechslung der drei Qualitäten im rechten Maß zu den Redegegenständen zu besitzen, sind Segneri und Cesari […].19
Bonghi kritisierte eine blinde Verehrung Ciceros und die schematische aus der Schulrhetorik überkommene Interpretation, es gebe drei feste Stilarten, die an einen bestimmten Stoff gebunden seien. Vielmehr gehe es darum, die Stilqualitäten flexibel für jede Situation spezifisch zu verbinden. Dieser Punkt der Flexibilität des Stils führte zu einem Streit um den Stellenwert Ciceros. Darin wurde nicht nur sein Stil, sondern viel grundlegender das Verhältnis zur Antike ausgehandelt. „Die Abkehr von Cicero als normsetzendem Stilvorbild des Renaissance-Humanismus verläuft parallel zu einem allgemeinen Stil- und Geschmackswandel, der von den Autoren der ‚goldenen‘ Latinität weg zu denjenigen der ‚silbernen‘ Latinität aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert führt.“20 Die Ablehnung betraf zunächst nicht die Rhetorik an sich, sondern nur die Idealvorstellung des stilistisch versierten Redners. Es kam zu einem Kanonwechsel, das heißt Autoren wie Tacitus, Sueton oder Seneca wurden nun als Vorbilder ausgewählt. Begründet wurde dies damit, dass jene genannten
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er dar, welche Lehrbücher seiner Ansicht nach benutzt werden sollten. Zugleich gibt er aber auch einen Eindruck, welche bereits in Gebrauch waren, z.B. eine bearbeitete Schulausgabe der Lezioni von Hugh Blair oder Paolo Costas Dell’elocuzione (1818). Letzteres Werk stellte das meist verbreitete Lehrbuch für den Italienisch-Unterricht im Königreich dar, vgl. Marazzini (2001: 219 ff.) – dort auch eine aufgearbeitete Liste, der von Carducci besprochenen Literatur. Manzoni hatte während seiner schulischen Ausbildung noch das Lehrbuch von De Colonia gelesen. Hieran zeigt sich, dass die Rhetorik im 19. Jahrhundert ihren eigentlichen Platz in der Schule hatte und dort – allen Anfeindungen zum Trotz – fortbestand. „[I]n den Schulen hielt sie [sc. die Rhetorik] in zahlreichen Kompilationen aus, unter denen das Bändchen des Paters Dominicus de Colonia (eines französischen Jesuiten, der zu Ende des siebzehnten und anfangs des achtzehnten Jahrhunderts lebte) berühmt ist und noch vor wenigen Jahrzehnten in Verwendung stand.“ Croce (19052: 413). Bonghi (18733: 109). Die Typusbildung hatte bereits in der Antike eingesetzt: „[B]ei der Nachwelt aber hat er dies erlangt, daß Cicero nicht mehr als der Name eines Menschen, sondern als das Symbol der Redekunst gilt. Auf ihn laßt uns also blicken, er soll als Vorbild vor uns stehen, und jener wisse, daß er Fortschritte gemacht hat, der an Cicero großes Gefallen findet.“ Quint. X, 1, 112. Till (2004: 185). Robert (2011: 49) schreibt dazu: „Dabei bedeutete die Verschiebung von Cicero und Caesar zu Seneca und Tacitus lediglich einen Umbau des Kanons, nicht des Systems“. Dies ist ein wichtiger Punkt, den man besonders bezüglich der Romantik berücksichtigen muss. Näheres dazu unten.
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Autoren auch Zeitgenossen sein könnten. Den Hintergrund für diese Ansicht bildete die Empfindung einer similitudo temporum: das Fürstentum hier und die Kaiserzeit da glichen sich in vielen Punkten. Ein weiterer Grund für den Stilwandel bildete die nachvollziehbare Vorstellung, dass ein zur Distinktion eingeführter Stil, sobald er allgemein akzeptiert war, seine soziale Funktion verlor. Der Ciceronianismus, der sich in den Schulen und Universitäten etabliert hatte, zeigte sich für die gewandelten politischen, sozialen und mentalen Systeme nur schwer adaptierbar. Den Ciceroniani wurde vorgeworfen, sie seien „weitschweifig, umständlich, zu lange; und darüber hinaus hat ihr Wortprunk auch noch den Ruch des Unwahrhaftigen. Sie sprechen also, bringt man die Formeln auf den Begriff, unangemessen auf zweierlei Weise: gegenüber der Situation und gegenüber der Sache.“21 Aus den entgegengesetzten Qualitäten wie Kürze, Klarheit, Eigentlichkeit, Sachlichkeit und Einfachheit formulierte man ein neues Stilideal. Häufig findet man die Begriffe Tacitismus, Lipsianismus, Lakonismus oder Attizismus als Bezeichnungen für diesen Zusammenhang.22 Die Gegner wurden des Asianismus beschuldigt. Sie seien umständlich, hielten nicht enden wollende Reden, die der Pragmatik enthoben, allein auf die Zurschaustellung von Gelehrsamkeit ausgerichtet seien. Machiavelli gibt davon in seinem Il Principe (1532) ein anschauliches Beispiel: Dieses Werk habe ich weder mit rhetorischen Floskeln geschmückt und ausgestattet, noch mit hochtrabenden und feierlichen Worten oder irgendeinem anderen äußerlichen Blendwerk und Zierat [sic] [ornamento estrinseco], mit denen viele ihr Thema vorzutragen und aufzuputzen pflegen; denn ich wollte, daß ihm nichts anderes zur Ehre gereiche, als die Mannigfaltigkeit des Inhalts und die Bedeutung des Gegenstandes zu gefallen.23 21
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Braungart (1988: 253). Er führt weiter aus: „Mit ihrem ‚Werkcharakter‘ hängt ihre relative Schwerfälligkeit gegenüber rasch wechselnden Situationsanforderungen zusammen. Der Schulgelehrte, der materialorientiert arbeitet, ist dem gewandten Höfling, der sich primär situationsbezogen verhält, in der Beweglichkeit am Hof unterlegen.“ Ebd. (65 f.). Vgl. zum Tacitismus als Stilideal Etter (1966: 6–12). Zu Tacitus Nachwirkungen im Allgemeinen s. die noch immer lesenswerte Inauguralrede von Ramorino (18982) sowie v. Stackelberg (1960a). Der Lipsianismus wird aus der stilistischen Gefolgschaft des Jesuiten Justus Lipius verständlich, der – wie die Spartaner in der Antike – ein lakonisches Stilideal verfocht. Allgemein dazu Croll (1969), der seine gesammelten Essays bezeichnenderweise mit ‚Attic‘ and Baroque Prose Style titulierte. Machiavelli (2009: 5), Übers. v. Philipp Rippel. Bezeichnend auch das Urteil des großen Literaturkritikers Francesco De Sanctis (1941: 544) bezüglich Machiavellis Stil: „[D]ie Prosa [seiner Zeit, F.S.] ist noch mit Elementen der Ethik, Rhetorik und Poesie durchsetzt; sie gehören zu jener konventionellen, an Boccaccio angelehnten Form, die man die ‚literarische Form‘ nennt und die schon längst Manier und wahre Routine geworden ist. Machiavelli aber zerbricht diese Hülle und schafft ein ideales Vorbild für die neue
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Er verzichte auf die „rhetorischen Floskeln“ und „feierlichen Worte“, denn sie wären nur auf die Sache im Nachhinein appliziert worden (ornamento estrinseco). Anstelle der verba setze Machiavelli auf die res. Mit ihnen möchte er die Gunst des angesprochenen Lorenzo de’ Medici gewinnen. Gleichzeitig verzichtete er mitnichten auf Rhetorik an sich, sondern polemisierte nur gegen den als schwülstig empfundenen Stil seiner Zeitgenossen. Die „Stilkritik wird zum Medium der Hofkritik“24 wie Jörg Robert schreibt. Sobald sich Stilkritik also nicht mehr nur in ihrem ureigenen Kontext abspielt, nämlich dem der elocutio oder in einem Spezialdiskurs wie dem der Ästhetik, sondern weitere Diskurse untereinander verknüpft, wie z.B. Ethik und Politik, sollte man sie auch als eine politische Angelegenheit verstehen. An das Stilideal der Kürze wurde die ethische Vorstellung gekoppelt, dass wer wenig Worte mache, aufrichtig sei.25 Dieser Gedanke wird wiederum im 19. Jahrhundert zum Zuge kommen und, mit dem Natürlichkeitsideal verbunden, ein Kriterium für die Bewertung der Aufrichtigkeit des Redners werden. Der Tacitismus als alternatives Stilideal und die italienische Romantik Wie eng Stilideale mit politischen Verhältnissen und Theorien verwoben waren, zeigt auch der Tacitismus in Italien. Die erste vollständige Tacitus-Übersetzung wurde von Gregorio Dati 1563 besorgt. Ab diesem Zeitpunkt sollte eine intensive Rezeption des Tacitus beginnen. Im Jahre 1600 erschien dann die Ausgabe von Bernardo Davanzati (L’imperio di Tiberio Cesare, … espressi in lingua Fiorentina propria), vollständig allerdings erst postum 1637. Stilistisch sind Davanzati und insbesondere seine Übersetzung in vielerlei Hinsicht bedeutsam, denn sie ist „bis in die Gegenwart hinein immer wieder neuaufgelegt [worden] – [hat] die Bewunderung zahlreicher Leser erregt, ist von italienischen Dichtern, darunter Leopardi und Foscolo, aufs Höchste gepriesen worden […].“26 In seiner Übersetzung wollte Davanzati zeigen, zu welcher brevità das Italienische fähig sei und berief sich ausdrücklich auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch als Richtschnur: „Lo scriver semplice, proprio e naturale, quasi come si favella, m’è
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Prosa: ganz an die Sache hingegeben und ganz Verstand, möglichst jedem Einfluß von Phantasie oder Gefühl entzogen, fest gefügt unter dem Anschein der Gelöstheit.“ Herv. v. F.S. Die Ablehnung des ciceronianischen Boccaccios und die Bevorzugung des ‚antirhetorischen‘ Machiavellis lassen auf eine ähnliche Einstellung zur Rhetorik im 19. Jahrhundert schließen, wie sie bereits im 16. Jahrhundert vorlag. Dies wird noch näher ausgeführt. Robert (2011: 31). Vgl. Braungart (1988: 252). Stackelberg (1960b: 1).
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sempre piaciuta“27. Die taciteische brevitas avancierte so nicht nur zu einem Stilideal, vielmehr wurde Tacitus zum politischen Leitstern, von dem die Höfe und Fürsten lernen konnten, wie man erfolgreich mit Menschen umgehen und wie man mit ihm gleichsam Politik machen könne. Die unzähligen Auflagen der Übersetzung Davanzatis bis weit ins 19. Jahrhundert hinein oder auch die Sentenzensammlungen, z.B. die von Alessandro Manoni (1898), zeugen von einer gewissen Kontinuität des stilistischen wie inhaltlich bestimmten Tacitismus in Italien.28 Es waren vor allem Schriftsteller aus dem politischen, historiographischen, aber auch wissenschaftlichen Bereich, die diese neue Stilnorm in den Diskurs einbrachten und verbreiteten. Im Schul- und Literaturbetrieb änderte sich indes nichts.29 Tacitus selbst lieferte mit seinem Dialogus de oratoribus entscheidende Argumente für die Legitimation des neuen Stilideals. Aus Sicht der Klassizisten stellte der neue Stil einen Verfall dar. Genau dieser Vorwurf wurde jedoch zugunsten der moderni aufgelöst, die argumentierten, dass sich die Wertmaßstäbe für die Beredsamkeit mit dem Lauf der Zeit ändern müssten. Sie traten für eine Historisierung des Stilideals ein, um die klassizistische Position zu relativieren. Tacitus war dafür ihr Gewährsmann, wenn er schrieb, „daß mit den Zeitverhältnissen und dem verschiedenen Geschmack auch Form und Art der Rede geändert werden müssen.“30 Der Dialogus lieferte sowohl Argumente für eine nach alten, aber auch nach neuen Vorbildern geformte Rhetorik. Zuletzt wurde aber die Position des historischen Wandels nochmals gestärkt: „[M]öge jeder das Gute in seinem Jahrhundert genießen, ohne das andere herabzusetzen!“31 Beide Argumentationsstränge finden sich im 16. und 17. Jahrhundert in Italien wieder, viel früher schon als die von Charles Perrault in Frankreich
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Davanzati (1853: LXXVII). Aus der Ausgabe von Davanzati (1853: LI–LIV) gehen nach der vollständigen Erstausgabe Davanzatis (1600) (er hatte bereits 1596 eine Teilübersetzung veröffentlicht) folgende, hier mit Herausgeber versehene Neuauflagen hervor: Nesti 1637, Storti 1638, Landini 1641, Pezzana 1677, Comino 1755, Vedova Quillau 1760 (= in Paris), Remondi 1803, Mainardi 1803 (?), Fayolle (1804) (= in Paris), vgl. auch die Liste bei Stackelberg (1960a: 275). Alessandro Manoni (1898: VI) schwankt zwischen einer historischen Einstufung der Sentenzen Tacitus’ und einer pragmatisierten Lesart, zu der er ausdrücklich aufruft: Die Sentenzen „sono di tutti i tempi e molte sono bellissimi ricordi ai capi di Stato o di esercito et ai governanti in genere.“ Vgl. Margiotta (1953: 112, 149). Der Streit um das Stilideal wurde zu Beginn noch respektvoll geführt, gewann aber im 17. Jahrhundert an Schärfe. Tac. Dial. 19, 2. Ebd. 41, 5.
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angestoßene Querelle des Anciens et des Modernes.32 Bereits in De’ pensieri diversi (1620) von Alessandro Tassoni wird der Vergleich unter der Überschrift Oratori Antichi, e Moderni (Lib. X, Cap. XV) geführt. Die Antiken hätten die Rhetorik zur Vollkommenheit geführt und so könnten die Modernen sich nicht mit ihnen messen. Heutzutage, so Tassoni, komme die antike Rhetorik nicht mehr zum Einsatz, weder vor Gericht noch vor dem Volk. Die Predigt habe nun die Stelle der Gerichtsrhetorik eingenommen.33 Rednerische Exzellenz könne man nur durch Übung erreichen, diese fehle aber den Modernen. Woher die ‚Beredsamkeit‘ der Modernen stamme, weiß Tassoni dann aber doch anzugeben, denn diese rühre von einer „certa naturale facondia, e forza, che hanno alcuni nel dire, con la qual sola senza saper ne anco che cosa sia Retorica, muovono, e persuadono chi gli ascolta“ und weiter sei dies eine „naturale eloquenza“34, die im Gegensatz zur antiken ars-Rhetorik stehe. Auf den ersten Blick mag diese Erklärung verwundern, da die antiken Redner scheinbar den Vorzug vor den modernen erhalten, doch zeigt Tassoni nur darin den Unterschied auf, der sich im Laufe der Zeit innerhalb der Redegattungen herausgebildet hatte. Er stärkte damit das Bewusstsein für die Alterität seiner eigenen Zeit gegenüber der Antike. Was wirklich bemerkenswert ist, ist die Begründung dieser modernen Rhetorik, denn hier kündigte sich bereits eine romantische Position an, die besagt, dass die natürliche Begabung zu reden und der damit einhergehende Affektausdruck höher zu schätzen sei, als die methodisch nach Regeln verfahrende Rhetorik der Antike. Hier treten die zwei Elemente – natura und ars – auseinander und in Opposition. „Die Affektrhetorik wird dabei gegen die regelhafte Schul-Rhetorik ausgespielt, die Rhetorik als Kunstlehre wertlos gemacht.“35 Im 17. und 18. Jahrhundert treten diese zwei für rhetorische Leistungen konstituierenden Momente auf der Theorie-Ebene auseinander. Ausgehend von der cartesianischen Rhetorikkritik unternahm die Schule von Port Royal oder auch Bernard Lamy den Versuch, die Rhetorik aus natürlichen, psychologischen Vorgängen zu erklären, um sie einer immer stärker gewordenen Kritik zu entziehen. Von hier aus war es dann nur noch ein kleiner Schritt zur Ausdrucksästhetik und zum Ideal
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Vgl. Jaumann (20073: 205–208) und Jauß (1964). Interessant für den italienischen Kontext: Margiotta (1953: 134): „Chi si fa a leggere tutta la letteratura ‚tacitista‘ del secondo Cinquecento vedrà abbozzato quel paragone a cui il Tassoni e il Lancilotti daranno forma più concreta.“ Ernst Robert Curtius (19738: 256) ging sogar soweit, die Querelle als „konstantes Phänomen der Literaturgeschichte und Literatursoziologie“ aufzufassen. Vgl. Tassoni (1676: 314). Ebd. Till (2004: 396).
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der Natürlichkeit, die die Epoche der Romantik ausmachten und die durch Benedetto Croce weit ins 20. Jahrhundert tradiert wurden: Für die Wissenschaft gibt es eigentlich richtige Worte (technische Ausdrücke) und Metaphern; derselbe Begriff kann sich psychologisch unter verschiedenen Bedingungen bilden und infolgedessen durch verschiedene Anschauungen zum Ausdruck gebracht werden; und sobald sich in der wissenschaftlichen Terminologie eines Schriftstellers eine dieser Ausdrucksweisen als die richtige ergeben hat, werden die anderen samt und sonders minder geeignet oder tropisch: für den ästhetischen Vorgang aber gibt es nur die richtigen Worte und die eine und dieselbe Anschauung läßt sich nur in einer einzigen Weise ausdrücken, eben weil sie eine Anschauung und kein Begriff ist.36
Der Ausdruck – wohlgemerkt in der Kunst(-prosa) – sei eben nicht arbiträr, sondern strikt an das Innere, an das intuitiv Empfundene gebunden und in diesem Sinne natürlich. Das Natürlichkeitsideal zusammen mit der topisch gewordenen Forderung Le style, c’est l’homme même wurden im 19. Jahrhundert zu einer Argumentationslinie ausgebaut, die sich gegen den Klassizismus richtete. Um diese Entwicklung richtig einzuordnen, ist es wichtig zu verstehen, dass der Antiqui-Moderni-Streit eine Neuauflage innerhalb der Questione della lingua erfuhr. Die Rückkehr des Klassizismus und seiner strengen Variante des Purismus, sind auf extralinguistische Faktoren, vor allem auf kulturelle und politische zurückzuführen: Die Besetzung Italiens durch französische Truppen, die staatlich-administrative Umgestaltung nach französischem Vorbild sowie der Einfluss der französischen Kultur sollten durch den Purismus und Neoklassizismus zurückgedrängt und bekämpft werden.37 Nicht verwunderlich ist, dass in dieser Zeit auch das Risorgimento fällt, also der italienische NationBuilding-Prozess, der eng verbunden ist mit Sprach- und Kulturaspekten. Die nationale Einheit wurde mittels Rückbesinnung auf das goldene Zeitalter des Trecento, den ‚Ursprung‘ der italienischen Sprache, konstruiert. Verfechter dieser Ansicht waren Basilio Puoti und Antonio Cesari. Letzterer schrieb in seiner Dissertazione sopra lo stato presente della lingua italiana (1809): „[D]er toskanische Dialekt, und besonders der florentinische, erreichte eine solch große Anmut, Reinheit [purità], Gefälligkeit und Genauigkeit wie nie zuvor. Alle sprachen und schrieben sie in dieser gesegneten Zeit um 1300 sehr gut.“38 Die Klassizisten, u.a. Vincenzo Monti, Pietro Giordani oder 36 37 38
Croce (19052: 71). Kurs. i. Orig. gesperrt. „Tra espressione ed intuizione sussiste un rapporto di identità“, Dessì Schmid (2006: 62). Vertiefend dazu auch Till (2004), die Kapitel III und IV. Vgl. Dessì Schmid/Hafner (2014: 66). Cesari (1907: 145).
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Giacomo Leopardi weiteten den Bezugszeitraum des goldenen Zeitalters auf das 14. und 15. Jahrhundert aus und schlossen damit auch den italienischen Humanismus und die durch Bembo sanktionierte Lösung der Questione della lingua mit ein.39 Den zweiten großen Strang in der Neuauflage der Querelle, also die Position der Moderni, bildeten die Mailänder Romantiker rund um das Intelligenzblatt Conciliatore. Möchte man dies noch auf Personen zurückführen, dann sind unbedingt Niccolò Tommaseo und vor allem Alessandro Manzoni zu nennen. Sie plädierten im Sinne der Romantik für eine volksnahe, einheitliche Sprache, die sich am aktuell gesprochenen Florentinisch der Gebildeten orientieren sollte. Hierfür arbeitete Manzoni seinen historischen Roman I promessi sposi (1827, 1840) mehrfach um und lebte sogar einige Zeit in Florenz, um sich dort am Sprachgebrauch auszurichten. Die Mündlichkeit wurde somit zum Modell für die Schriftsprache erhoben. Sie zeichnete sich durch ein einfaches Stilregister aus. Um die Bemühungen um eine einheitliche Sprache besser zu verstehen, kann der Brief Manzonis Sul romanticismo (1823) an Cesare d’Azeglio herangezogen werden. Darin beschrieb Manzoni sein Verständnis von Romantik: Diese habe ein destruktives und ein konstruktives Moment. Die Romantik richte sich gegen die Verwendung von Mythologien als Stoffgrundlage von Poesie und Prosa. Sie lehne eine ungeprüfte Anwendung von rhetorischen Regeln und damit auch die kritiklose Nachahmung der Klassiker ab.40 Manzoni beanstandete in seinem Vorwort zu den I promessi sposi die Rhetorik eines anonymen Chronisten des 17. Jahrhunderts, der einen barocken „Schwall an Concetti und Figuren“ anwende. Der Geschmack des lesenden Publikums habe sich geändert, weswegen es nötig sei, ‚un po’ di rettorica, ma rettorica discreta, fine, di buon gusto“41 zu verwenden. Die Rhetorik wurde nicht in Bausch und Bogen verworfen, sondern modifiziert. Ein bestimmter Typ der Rhetorik, der sich an die Zeitumstände und die Bedürfnisse angepasst hatte, sollte erhalten bleiben. Ähnlich argumentierten die Moderni schon im 16. Jahrhundert.
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Vgl. Noe (1998: 1002, 1004). Vgl. Manzoni (1881: 584). „Dieses ‚antihumanistische Motiv‘ durchzieht wie ein roter Faden die Schriften der Gruppe [scil. der Mitarbeiter am Conciliatore] und kann daher als ein weiteres Merkmal der italienischen Romantik gelten.“ Hardt (1996: 539). Der Conciliatore strebte aber keinen irreversiblen Bruch mit der Tradition an, was der Name auch deutlich macht. Er wollte eine Neukonfiguration des Kanons (Dante, Petrarca, Ariosto, Tasso) erreichen und lehnte den der Humanisten ab. Manzoni (1954: 4 = Edizione riveduta del 1840).
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Zu dieser Vorstellung einer rhetorischen Adaption hatte kein Geringerer als der Schotte Hugh Blair beigetragen, der in Italien durch Padre Francesco Soave 1801 übersetzt wurde (Lezioni di rettorica e di belle lettere di Ugone Blair) und weite Verbreitung fand.42 In einer kondensierten Schulausgabe (Istituzioni di rettorica e di belle lettere tratte dalle lezioni di Blair) von 1838 hieß es, dass die neuen rhetorischen Grundlagen, die Blair legen wolle, ‚metaphysischer‘ Natur und für Anfänger ungeeignet seien. Die rationale Kritik an der Tradition war bei Soave, wie bei Manzoni, als Anspruch vorhanden, wurde aber auf ein Mindestmaß beschränkt. Statt einer „vana ed artificiosa Rettorica“ sollten die „principii della ragione e del buon senso“ an ihre Stelle treten, apparenza durch sostanza ersetzt werden.43 Hugh Blair […] hat in seinen Lectures on Rhetoric and Belles Lettres den Topos der personalen Identifikation durch den Stil mehrfach ausgesprochen. Er knüpft dabei allerdings an die seit der Antike (Seneca, Demetrius) existierende Tradition an, nach der der schlichte Stil (genus humile) in besonderem Maße für die Offenbarung der Persönlichkeit des Autors geeignet ist.44
Diese Offenbarung der Persönlichkeit machte sich in der Verbindung von Rhetorik und Logik bemerkbar. Die Rhetorik wurde – wie bei der eben behandelten psychologischen Fundierung der Figurenlehre – als Ausdruck des Denkens konzipiert. Hieraus lässt sich auch begreifen, warum die Kriterien wie Klarheit und Eigentlichkeit, Maß und Ordnung zur Beschreibung des neuen Stilideals herangezogen wurden, da sie offensichtlich aus dem Bereich der Logik stammten und zu einem einfachen Stil anleiten sollten. Die klassizistische Vorstellung, dass Gedanken je nach Ort, Zeit, Publikum 42
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Vgl. Croce (19052: 422): Die Lectures on rhetoric and belles lettres von Blair hatten „in allen Schulen Europas einen ungeheuren Erfolg […], auch in unseren italienischen Schulen, und mit ihren auf ‚der Vernunft und dem gesunden Menschenverstande‘ (reason and good sense) beruhenden Ausführungen und Anwendungen weit schlechtere Bücher vorteilhaft“ ersetzt. Croce spricht allerdings von einem Band, was darauf schließen lässt, dass er sich auf die zu einem Volumen zusammengefasste Schulausgabe bezieht. Der Titel dieser Übersetzung kann als Anspielung an die von Quintilian verfasste Institutio oratoria gedeutet werden, was wiederum einen Bezug zur rhetorischen Tradition herstellt. George A. Kennedy (1980: 235) nennt Blair einen „British Quintilian […] Both rhetoricians [sicl. Quintilian, Blair] restated that tradition in intelligent, but essentially conservative ways, and produced an authoritative work which was very influential on the direction of future development.“ Die traditionsverbundene Seite Blairs wird in der Übersetzung für den Schulgebrauch im Appendix V augenscheinlich, wo die Vorzüge der Scrittori antichi e moderni diskutiert und das Studium der Klassiker nachdrücklich empfohlen wird, vgl. Soave (1838: 371 f.). Vgl. Soave (1838: 6–10). Müller (1981: 93), Kurs. i. Orig.
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‚eingekleidet‘ werden müssten, wurde ersetzt durch die Formel: „Style is the incarnation of the thought“45. Bereits in Fermo e Lucia, dem Vorläufermanuskript zu den I promessi sposi, wandte Manzoni sich ausdrücklich gegen die Schulrhetorik, indem er sich über ihre Pedanterie, ihre Künstlichkeit und Lebensferne lustig machte. Die Ironisierung der Rhetorik durch Rhetorik ganz im Sinne des Pascal’schen Diktums La vraie l’éloquence se moque de l’éloquence ist ein weiteres Argument, mit dem das eigene rhetorische Vorgehen überspielt wurde.46 Durch Psychologisierung und Rationalisierung der Rhetorik wurden nicht nur die Konzepte der Natur oder des Genies prominent, traditionelle Theoreme der Rhetorik wurden dadurch verdeckt. Dass Manzoni mit der alten Rhetorik nicht gänzlich brach, ist daran festzumachen, dass er aus ihr stammende Begriffe weiterhin benutzte sowie daran, dass er von der Nachwelt nicht als radikaler Romantiker eingestuft wurde. Der Literaturkritiker Giuseppe Borgese befand, dass Manzoni im Stoff modern, in der Form klassisch gewesen sei.47 Passend zu diesem Befund ist festzuhalten, dass in bestimmten Bereichen, wie beispielsweise in der Schule, weiterhin mit der klassischen Rhetorik gearbeitet wurde oder, falls es zu einer zeitgenössischen Überarbeitung im Sinne der Romantiker kam, diese ‚neue Rhetorik‘ oft unter anderem Namen gelehrt wurde.48 Die Theorieelemente der Rhetorik gingen in die Literaturwissenschaft (critica letteraria) über und wurden in arte del dire oder arte dello scrivere umbenannt. Auch institutionell kam es zu einer Einengung auf den
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Ebd. (91). Vgl. die Auffassung des Manzoni-Anhängers Bonghi (18733: 96): „[L]’arte dello scrivere è così radicata nell’arte del pensare“. Vgl. Kullmann (2006: 378–381), Derla (2008: 24, 32), vertiefend zu Manzonis Rhetorikverständnis auch Marchesini (1993). Vgl. Borgese (19202: 205 f.), auch Francesco D’Ovidio (18943: 5) stellte bereits 1879 in seiner Analyse des manzonianischen Stils fest, dass er nicht hart mit der Tradition gebrochen habe, „[q]ui è stata maggior continuità e men forte trasformazione, e trecentisti e cinquecentisti son rimasti così presenti agli spiriti da lasciar tracce grandissime, e talvolta eccessive e ridicole, anche nello stile moderno.“ Als stilistische Vorgänger Manzonis nennt er Machiavelli und Galilei. Vgl. eine neuere Einschätzung von Hoffmeister (19902: 58): „Manzoni [wurde] zum Haupt der romantischen Bewegung […], in seinem Werk allerdings [verrät] er klassisches Formgefühl“. Vgl. Bonghi (18733: 106): „La rettorica delle scuole era una serie di distinzioni astratte; la filosofia condilliacchiana dispose in miglior ordine queste distinzioni, e le fornì di alcune ragioni, molto superficiali gli è vero, ma pur ragioni. I trattati nostri di rettorica sono la vecchia rettorica con questa.“ Oder Trabalza (1903: 8 f.), der nochmals unterscheidet in eine ganz und gar traditionelle, klassizistische Rhetorik (De Colonia, Pellegrini), die bis in seine Tage überdauert habe und in eine psychologische Rhetorik, angelehnt an Blair, Du Marsais oder Gröber.
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Stil, verbunden mit dem Aufkommen einer italienischen Nationalliteratur.49 Claudio Marazzini schildert das Ergebnis dieser Entwicklung, das sich nach der Neuauflage dieser Art von Querelle eingestellt hatte, wie folgt: Der Widerspruch zwischen Rhetorik und Wahrheit, zwischen Rhetorik und Aufrichtigkeit, zwischen Rhetorik und Poesie ist nunmehr stabil. Er wird sich in der romantischen Kultur weitgehend durchsetzen, auch wenn in der Schule der Rhetorikunterricht, jedoch mit sichtbaren Veränderungen, weiterleben wird.50
Die Rhetorik wurde zwar vor dem Hintergrund eines romantischen Natür lichkeitsideals als künstlich und unaufrichtig wahrgenommen, aber dennoch genutzt. Der Anti-Rhetorik-Topos (rhetorica contra rhetoricam), das Leugnen von gerade diesen rhetorischen Mustern und deren Rückführung auf die individuelle Ausdruckskraft, gehört ebenso in diesen Zusammenhang. Diese Entwicklung ist in den Urteilen der Zeitgenossen über Mussolinis Rhetorik wie auch bei ihm selbst sehr präsent. Oft hat Mussolini sich abwertend über die Rhetorik geäußert, um seine eigenen rhetorischen Fähigkeiten zu steigern: „Oh, wenn es doch nur möglich wäre, wie ein Dichter riet, diese wortreiche, langatmige, nie endende, demokratische Eloquenz zu erwürgen, die uns für so lange Zeit abgelenkt hat!“51 Der Diktator verzichtete nicht auf Rhetorik, sondern setzte sie ein, um die Reden seiner Gegner als rhetorisch abzuwerten 49
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Vgl. Noe (2005: 1673), er schreibt: „Die österreichische Verwaltung wird […] im Königreich Lombardo-Venetien nach 1815 die R[hetorik]-Lehrstühle an den Universitäten (z.B. Pavia) abschaffen und diese Ausbildung der philosophischen Ästhetik zuordnen. Auch F[rancesco] DE SANCTIS verlangt in seinen als eine Art Anti-R[hetorik] verstandenen Vorlesungen von 1846–47 zur ‚Storia della critica‘, die R[hetorik] nun durch Ästhetik und Stilistik zu ersetzen.“ 1873 werden die Rhetoriklehrstühle im Königreich abgeschafft, indem man sie umbenennt (vgl. Derla (2008: 25)). Eine institutionsgeschichtliche Untersuchung der Rhetorik für das 19. Jahrhundert in Italien steht, so Noe, noch aus. Wichtige Hinweise gibt Stefanelli (2017: 139), der für die Jahre nach 1890 die Einführung von Stilistik-Lehrstühlen für Mailand, Florenz, Bologna, Rom, Neapel und Catania dokumentiert. Er schätzt diese Vorgänge wie folgt ein: „Come si vede, la stilistica non aveva una salda posizione accademica. A insegnarla furono per lo più liberi docenti, professori di liceo, scrittori. Il posto di costoro nei gradi gerarchici dell’Accademia non era di grande rilievo: l’accusa di Croce riguardava proprio l’utilizzo della cattedra per meri calcoli accademici. O per garantire ad alcuni allievi, ancora privi di cattedre, un posto in università.“ Ebd. Marazzini (2001: 217). Vgl. das Lemma Retorica im Lexicon Vallardi (1889, Vol. 9: 182). „Oh, se fosse possibile strangolarla, come consigliava un poeta (I), l’eloquenza verbosa, prolissa, inconcludente democratica, che ci ha deviato per così lungo tempo!“ Ellwanger (1939: 18) merkt bei (I) an: „Vergleiche Paul Verlaine, Art-poétique (Œuvres poétiques complètes, Ed. Péliade 1938, p. 207).“ Die Originalstelle bei Mussolini findet sich in der Rede zu Udine vom 20.09.1922, s. OO (18: 411).
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und sie damit zu diskreditieren. Selbst die Zeitgenossen folgten dieser Interpretation Mussolinis, indem sie seine Beredsamkeit zu einer Naturgabe stilisierten.52 Es gilt festzuhalten, dass sich durch die lang andauernde Auseinandersetzung mit dem Klassizismus in Italien feste argumentative Diskursmuster über die Rhetorik selbst herausgebildet hatten. Chronologische Begriffe wie alt vs. neu wurden mit Bewertungen wie guter Stil vs. schlechter Stil aufgeladen und zur identitätsstiftenden Abgrenzung genutzt. Darüber hinaus zeigte sich in der Stilkritik auch eine indirekte Politikkritik, die mit dem Paar reaktionär vs. progressiv zu fassen ist und verbunden wurde mit einer ethischen Gesinnungskritik der leeren Worte vs. wortgewirkte Taten. Letzterer Punkt nahm auch die Länge bzw. Kürze der Syntax zum Indiz für den Grad an Verstellung bzw. Natürlichkeit. Je ‚rhetorischer‘ und länger eine Rede war, desto hinterlistiger musste die Intention des Sprechers sein. Die Stilkritik muss also unbedingt politisch gelesen werden. Sie wird im Abschnitt Kap. 3.1.4 bei der Infragestellung des Parlamentes durch Carl Schmitt nochmals aufgegriffen. 3.1.2 Die Rhetorik des Risorgimentos und des Parlamentarismus Nun wird auf die inhaltliche Struktur des politischen Diskurses in Italien im 19. Jahrhundert eingegangen. Um der besseren Bezugnahme willen wird dieser ganze Komplex als Patria-Rhetorik benannt, die die Zeit des Risorgimento umfasst. Der Beginn der patriotischen Rhetorik lag am Ende des 18. Jahrhunderts und war eng mit dem Triennio rivoluzionario (1796–1799) der italienischsprachigen Jakobiner verknüpft. Ab diesem Zeitpunkt artikulierten die bürgerlichen und adligen Eliten immer mehr ihren Wunsch nach nationaler Einheit. Mit dem Beginn des italienischen Nation-Buildings ging auch eine Sakralisierung des politischen Diskurses einher.53 Italien als ‚verspätete Nation‘ entwickelte einen hoch emotional aufgeladenen Bezug zur noch werdenden Nation, der sich in einer der Lobrede verpflichteten heroischen Rhetorik niederschlug. Die Nation wurde vor allem 52 53
Vgl. Santini (1938: 337). Vgl. ebenso Ardau (1929: 36) oder noch früher Terzaghi (1921: 10), der die Einfachheit und das Fehlen jeglicher loci communes für Mussolinis Rhetorik behauptet. Vgl. Huss (2005: 1350 f.). Er führt die Sakralisierung der Politik auf eine „persistente […] Wirkungsmacht der Kirche“ zurück. Um kommunikative Anschlussfähigkeit zu gewährleisten und um gleichzeitig die kirchliche Autorität zu untergraben, griffen die ital. Jakobiner auf religiöse Formen zurück. S. allgemein Kap. 3.3 in dieser Arbeit. Vgl. ferner Garrido (1997). Dass der Nationalismus zuvorderst ein Eliten-Phänomen darstellte, schilderte bereits Mittermaier (1844: 41 ff.) in seinen Italienischen Zuständen. Ein Grund hierfür liegt wohl auch bei der hohen Analphabetenrate, die im 19. Jh. in Italien herrschte.
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über kulturelle, historisch antikisierende und religiöse Topoi konstituiert. Die wichtigsten Topoi waren: Italien als Mutter/Frau (madre), die durch die (österreichische) Fremdherrschaft (dominazione straniera) gefesselt sei; Italien habe die missionarische Aufgabe, der Welt die eigene universelle Hochkultur zu bringen (Primato-Topos); Rom – das antike wie das christliche – sei historisches Vorbild für ein neues, glanzvolles Italien.54 Diese Topoi zusammengenommen ergeben eine nationale Meistererzählung, einen Mythos (s. Kap. 2.3 und 4.2). Das Fundament dieses nationalen Mythos bildete der Begriff Patria, der nach und nach immer politischer aufgeladen wurde. Er spielte vor allem im post-unitaristischen Italien, in den nationalistischen Strömungen sowie im späteren Faschismus eine wichtige Rolle. Diese patriotische Rhetorik wurde aber nicht nur positiv gesehen. Cesare Balbo machte in seiner Della Monarchia rappresentativa in Italia von 1857 darauf aufmerksam, dass die heroischen Reden, denen es an gegenwärtiger Realität fehlte, nicht auf die Vergangenheit abzielten – die auch ein Rest an bestimmter Realität ist – sondern auf jene Zukunft, die eine unbestimmte, quasi unendliche Realität ist. Wie viele Träume und Eitelkeiten, wie viele unausführbare, wie viele monströs ausführbare Ideen entstanden in den heiligen Höhlen der phantastischen Politik [gemeint sind die RhetorikSchulen] [.]55
Er führt weiter aus: [U]nd nach der Eröffnung unsere Parlamente, [kam] jene Beredsamkeit [auf], von der ich nicht weiß, ob ich sie poetisch oder romantisch, phantastisch oder verträumt, idealistisch oder dramatisch nennen soll, aber sicherlich nicht politisch oder parlamentarisch.56
Balbo warf den Nutzern der Patria-Rhetorik einen mangelnden Sachbezug vor, die mehr mit Agitation, als mit solider parlamentarischer Arbeit zu tun habe. Die poetischen Reden seien nur wenig mit einer liberalen und kompromissbereiten Haltung vereinbar. Balbo zufolge seien sie sogar wegen ihrer unrealisierbaren „fantastischen Politik“ schädlich. Als Gegenmodell schlug er die englische Parlamentsrhetorik vor oder, um ein Vorbild aus der Antike zu bemühen, den griechischen Redner Demosthenes: 54 55 56
Birgit Pauls (1996) führt in ihrem Buch Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Ein politischer Mythos im Prozeß der Nationenbildung diese und noch weitere Topoi auf, die sich zu einem Mythos unter dem Generalnenner „Italia“ verwoben. Balbo (1857: 386). Ebd. (388).
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Kapitel 3 Und deshalb besteht kein Zweifel, dass die griechische Rhetorik mehr der guten modernen Parlamentsberedsamkeit ähnelt als jene unsere [!] altrömische. Fox, Pitt, Mirabeau, Foy, Guizot oder Thiers nähern sich zweifellos mehr Demosthenes als Cicero an. Und dies merke ich an, um zu sagen, dass auch die Unsrigen, meiner Meinung nach, unter den antiken Klassikern die griechischen statt die römischen studieren sollten – wenn sie einmal die Zerrbilder des Patriotismus aufgeben möchten.57
Balbo war mit seiner Kritik nicht der Einzige. Die an den römischen Klassikern ausgerichtete Rhetorik bestimmte den parlamentarischen Diskurs in solch einem Ausmaß, dass der Abgeordnete Filippo Mariotti die Reden des Demosthenes ins Italienische übertrug, um seine Kollegen eher zur Nachahmung der griechischen Rhetorik zu bewegen.58 In der Rezension zur Übersetzung begrüßte Gaetano Trezza dieses Unternehmen lebhaft, da die demosthenische Beredsamkeit Kraft, Einfachheit, Männlichkeit und Sachlichkeit miteinander verbinde. Trezza vergaß dabei nicht, gegen das Modell à la Cicero zu polemisieren, dessen Pomp mechanisch sei und dessen Heuchelei viele wie ein Nessushemd einhülle.59 Noch 1898 klagte der Übersetzer Demetrio De Grazia darüber, dass das Bild über Demosthenes in der kollektiven Meinung immer noch jenem des Padre Zappata gliche, der Wasser predige und
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Ebd. (384). Vgl. Mariotti (1874: V f.). Im 19. Jahrhundert herrschte ein durchweg positives Bild von Demosthenes vor (zu verdanken vor allem F. Blass oder L. Brédif), das zumindest für die Philologie im 20. Jahrhundert noch immer Gültigkeit besaß. Die Geschichtswissenschaft wird den attischen Redner kritischer einschätzen, vgl. Schindel (1987: 5 f.). Für die Auswahl an Redneridealen in Italien ist Schindels Studie aus dem Jahr 1963 zur Rezeption des Demosthenes in Frankreich und England erhellend. Darin ist zu lesen, dass in Frankreich „die Benutzung des Demosthenes minimal [unter den Revolutionsrednern war], verglichen mit den zahlreichen Cicero-Zitaten und -Reminiszenzen, die sich allenthalben in den Reden […] finden“ ließen und weiter „[w]enn überhaupt die antike Beredsamkeit als Vorbild in Betracht kommen soll, dann liegt die zurückhaltendere Art Ciceros näher – wie ja im ganzen das Römische nachgeeifertes Ideal ist, nicht das Griechische: ‚Ainsi faisaient les Romains‘ ist die Losung.“ Schindel (1963: 122 f.). Demosthenes wurde nicht nur als kulturelles, sondern auch als politisches Vorbild ausgeschlossen, da seine Reden – direkt an das Volk adressiert – als demagogisch wahrgenommen wurden. Für England stellte sich die Lage anders dar: „Am Ende des [18.] Jahrhunderts ist die Mustergültigkeit des Demosthenes für die jungen Redner eine schon so anerkannte Tatsache, daß die demosthenischen Reden fast ganz selbstverständlich als Hauptinhalte der rhetorischen Studien in einem Traktat über die Erziehung zum Edelmann [= Personal Nobility or Letter to a young Nobleman von Vicesimus Knox, F.S.] erwähnt werden.“ Ebd. (169). Auch hieran sieht man, dass sich die politisch-parlamentarische Beredsamkeit in Italien am französischen Modell orientierte. Vgl. Trezza (1881: 149 ff.).
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Weine trinke, was eine breite Rezeption womöglich ebenso verhinderte.60 Die kritisierte poetische Rhetorik wurde im gesamtitalienischen Parlament nach 1861 fortgesetzt und bildete zugleich den nationalen Diskursrahmen. Als Vorbild für die der Tradition ermangelnde italienische Parlamentsrede versuchte man an den französischen Parlamentarismus und an die römische Rhetorik anzuknüpfen. Im Zeitalter des italienischen Liberalismus waren viele Abgeordnete durch höhere Schulen und Universitäten sowie wegen ihrer beruflichen oder gesell schaftlichen Stellung von klassischer Bildung beeinflusst.61 Das ging sogar so weit, dass die im Parlament gehaltenen Reden, nicht nur nach Maßstäben der klassischen Rhetorik bewertet, sondern auch ins Lateinische übersetzt wurden. Dies geschah allein darum, um aufzeigen, dass die Reden ihren Vorbildern entsprächen und sie jene zeitgleich überböten. Ähnliche Übersetzungen wurden ebenfalls im Faschismus angefertigt. Sie dienten zum einen dazu den RomKult zu stützen und kamen oft in Schulbüchern vor; zum anderen sollten sie die Klassizität und Zeitlosigkeit der Reden Mussolinis beweisen.62 Die soziale Struktur des italienischen Parlamentes kann als Indiz für die an klassischen Mustern geformte Parlamentsrede dienen: Juristen, Hochschullehrer und Journalisten machten in der XIV. Legislaturperiode (ab 1880) 57,08 Prozent, in der XXIV. Legislaturperiode (ab 1913) 59,84 Prozent und in der XV. Legislaturperiode 60,04 Prozent der Abgeordneten aus. Diese Berufsgruppen waren sprachaffin und stellten die Mehrheit im Parlament dar.63 Darüber hinaus zeigt dies ebenso auf, wie homogen die Abgeordneten waren: Sie waren ein kleiner in sich sozial geschlossener Kreis von Landbesitzern und Adligen, von Advokaten und Professoren. So ist es dann auch bezeichnend, dass selbst die Sozialisten kaum einen Arbeiter unter ihren Mandatsträgern hatten.64 Nicht nur das Wahlrecht orientierte sich an exklusiven Vorbedingungen 60
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Vgl. De Grazia (1898: XI). Die Figur des Padre Zappata geht auf ein gleichnamiges Theaterstück zurück. Sein zur Redensart gewordenes Verhalten, nämlich gut zu predigen, aber sich nicht daran zu halten, drückt eine ethische Kritik aus, nämlich die der Unaufrichtigkeit, vgl. dazu das Wörterbuch von Molossi (1839–41: 834). Vgl. Pedullà (2011: XVIII f., XXVI) und Santini (1938: 172). Vgl. Pedullà (2011: XXIX) und Lamers/Reitz-Joosse (2016). Nicht berücksichtigt sind im angeführten Beispiel die Mediziner und Ingenieure (zusätzlich nochmals ca. 10 %), von denen man dennoch davon ausgehen kann, dass sie auf dem Gymnasium mit klassischer Bildung in Kontakt gekommen waren. Vgl. Montaldo (2001: 221 ff.), der auch davon spricht, dass die Juristen die größte Gruppe im Parlament bildeten. Michels (1925: 170 f.) wies in einer Studie darauf hin, dass die Abgeordneten der sozialistischen Partei Italiens (PSI) im Vergleich zur SPD im Deutschen Reich hauptsächlich dem studierten (Bildungs-)Bürgertum entstammten.
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Kapitel 3
wie Bildung und Einkommen, auch die Tätigkeit als Abgeordneter verlangte finanzielle Unabhängigkeit. So wurden bis 1913 keine Diäten bezahlt und die Kosten – auch für den Wahlkampf – mussten selbst getragen werden.65 Man darf darüber hinaus nicht vergessen, dass das parlamentarische System bis 1919 – mit Ausnahme der sozialistischen Partei – keine Massenparteien bzw. keine Parteiorganisationen kannte. Das liberale Italien gründete sich nicht auf Parteibindung, sondern auf persönlichen Beziehungen. „Das italienische Parlament war mit Ausnahme von Republikanern, Sozialisten und Nationalisten nicht um Programme, sondern um Personen gruppiert.“66 Der Italienbeobachter Paul Fischer erklärt, dass sich die regionalen Gegensätze der Abgeordneten mit der Zeit zusätzlich abgeschwächt hätten und nennt die personenbezogene Verfasstheit des Parlaments „chiesole – kleine Kirchengemeinden […] [für die] die Persönlichkeiten ihrer Führer maßgebend sind.“67 Hieraus sollte sich dann ab der Jahrhundertwende ein System von Kompromissfindung und Einbindung unterschiedlicher Positionen zu Gesetzes- und Regierungsmehrheiten etablieren, der sogenannte trasformismo. Mit der Gründung Italiens und der Etablierung des parlamentarischen Betriebes ging auch eine Professionalisierung einher, die sich in der Parlamentsrede dadurch ausdrückte, dass die Debattenkultur (teilweise) zu einem sachlicheren Ton fand. Die von Balbo kritisierte Patria-Rhetorik wurde zurückgedrängt. Mario Minghetti sprach davon, dass die Ära der Poesie zu Ende ginge und die Ära der Prosa ihren Anfang genommen habe.68 Es bildete sich eine innerparlamentarische Rhetorikkultur heraus, die Fischer folgendermaßen beschrieb: Bei den Berathungen selbst wird auf das äußere Dekorum etwas mehr Werth gelegt als bei uns. […] Wie der Präsident bei Handhabung des Vorsitzes, so befleißigen sich die Abgeordneten auch bei sehr hitzigen Debatten einer gewissen formellen Höflichkeit. […] Auch in der Diktion der Redner, die übrigens 65
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Vgl. bezüglich der finanziellen Lage der Abgeordneten, Fischer (19012: 97, 107). Er schreibt: „Die Wahlauslagen der Kandidaten pflegen 20–25 000 Lire zu betragen.“ Ebd. (106) Ein Volksschullehrer verdiente im Vergleich dazu in einer kleinen Gemeinde auf dem Land – gesetzlich vorgeschrieben – ein Minimalgehalt von 560 Lire pro Jahr, ebd. (304). Beckerath (1927: 46), ergänzend dazu die Ausführungen von Reinhardt (2003: 243, 247) zum trasformismo und zum ‚System Giolitti‘. Fischer (19012: 109). Er führt weiter aus: „Gleichzeitig mit diesem Zurücktreten der großen allgemeinen Ziele hat sich die Deputiertenkammer zu einer Befürwortung persönlicher und örtlicher Sonderinteressen herbeigelassen, die in Italien selbst auf das Lebhafteste als eine Entartung des Parlamentarismus empfunden und beklagt wird.“ Ebd. (114). Zum Diktum Minghettis vgl. Gherardi (2010: 616).
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sämtlich vom Platz sprechen, macht sich mehr von Beachtung der Formen, von forensischer Haltung, von rhetorischer Sorgfalt geltend, als in den oft sehr formlosen Aeußerungen englischer und deutscher Parlamentarier.69
Die Abgeordneten bildeten Konventionen aus, die ihren gegenseitigen Umgang regelten. Hierunter zählte die ausgesprochene Höflichkeit, die offizielle Anrede als Onorevole und das gegenseitige Duzen unter Kollegen sowie die aus der schulischen Sozialisation stammenden rhetorischen Formen. Im nun folgenden Unterkapitel sollen zwei Politiker dieser Rhetorik-Richtung vorgestellt werden. 3.1.3 Cavour und Giolitti: Vertreter einer sachlichen Rhetorik Vertreter einer sachorientierten Rhetorik waren die Ministerpräsidenten Graf Camillo Benso von Cavour (1810–1861) und Giovanni Giolitti (1842–1928). Ersterer gestaltete aus liberalen Prinzipien heraus die Einigung Italiens entschieden unter der Ägide des Hauses von Savoyen. Letzterer war eine stabile Größe in der italienischen Politik bis in die 1920er hinein. Cavour verkörperte das catonische Rednerideal: Halte dich an die Sache und die Worte werden folgen (rem tene, verba sequentur). Er benutzte nur sehr sparsam Metaphern und machte auch nur wenig Gebrauch von religiöser Semantik. Seine Reden entfaltete er auf der Grundlage einer kausal-finalen Argumentation mit präziser, technischer Lexik und schrak auch nicht vor Selbstkritik mithilfe von Selbstironie zurück. Als liberaler Pragmatiker und mathematischer Kopf suchte er realisierbare Lösungen und Kompromisse.70 Ihm wurde eine rasche Auffassungsgabe, ein gutes Gedächtnis und eine klare Darstellungsweise zugesprochen. Des Weiteren soll er – nach Selbstaussagen – nur eine unzureichend klassisch-rhetorische Bildung genossen haben, was seinen schlichten Stil zu erklären vermag.71 Zahlreiche Aufenthalte im Ausland, vor allem in England, haben sicherlich ebenso zu einer moderaten Rhetorik beigetragen. Es sei noch das Urteil des Literaturkritikers und -historikers Emilio 69 70
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Fischer (19012: 111 f.) sowie seinen Eindruck bestätigend Majorana (1909: 350), der als Professor selbst Abgeordneter im Parlament war. Viele nützliche Hinweise und Überlegungen zur liberalen Rhetoriktradition in Italien enthält Moretti (2001). Vgl. Leso (1994: 725 f.). Eine weitere kurze Analyse der Rhetorik Cavours findet sich auch bei Giuliani (2001: 864–867). Mit Blick auf die Aussage, Cavour sei wenig bis gar nicht in den belle lettere unterrichtet, sollte man bedenken, dass dies zu seinem Ethos als „kühle[m]“ und „klare[m]“ Redner beigetragen hat. Sein Vertrauter Isacco Artom wies darauf hin, dass es sich hierbei nur dem Anschein nach – ähnlich wie bei den alten Römern – um „gespielte“ oder dissimulierte Unwissenheit handelte, vgl. Artom (1868: XX). Vgl. Santini (1938: 211) und Leso (1994: 742, Fußnote 2).
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Santini über Cavour zitiert: „Verstand und Herz gleichen sich in der Tat und in den Reden bewundernswert aus.“72 Und weiter: „Die gewollt zurückgehaltene Gefühlsbetontheit ist ein weiterer Zug seiner Worte und trägt zur Wirksamkeit inmitten von schwatzhafter Rhetorik der Extremisten bei.“73 Etwas vereinfacht könnte man von einer Rhetorik der Mitte sprechen, mit der Cavour flexibel auf die Umstände zu reagieren versuchte und mit deren Hilfe er zwischen Inhalt, Publikum und Redneranliegen vermitteln konnte. Zeitlich schon etwas näher liegt Giovanni Giolitti, der zweite hier vorgestellte Repräsentant einer liberalen Rhetorik. Mussolini urteilt in einem Artikel mit dem Titel Giovanni Giolitti bereits 1909 über den Genannten „dass nichts Großes in ihm [scil. Giolitti] ist. Er ist eine arme Bürokratenseele, die mit mäßigem Erfolg die parlamentarische Komödie spielt.“74 Nicht nur kritisierte er die Kompromissbereitschaft Giolittis und den Parlamentarismus im Allgemeinen, sondern ebenso die fehlende politische Größe. Giolitti entsprach nicht den Erwartungen einer emotionalen, an hehren Zielen ausgerichteten Patria-Rhetorik.75 Neben der negativen Einschätzung über Giolittis Rhetorik, ist die positive von Olindo Malagodi erwähnenswert. Giolittis Prosa sei diskret und konzentriere sich auf das Wesentliche.76 In die spärliche Reihe der positiven Bewertungen gesellte sich auch Vittorio E. Orlando. In seinem Aufsatz L’oratoria di Giovanni Giolitti von 1911 beschrieb er Giolitti als lakonischen Redner. „Diese [seine Gedanken] stellen sich in der einfachsten und kürzesten Form dar: eine Vielfalt von Farben und geschickten Chiaroscuri, ein mit gemessener Schönheit geformter Ausdruck und hervorbrechende Sätze wie angespannte Muskeln“77. Giolittis Stil wird als kurz und dynamisch, klar und ausgewogen charakterisiert. Seine nüchterne Argumentation entspräche seinem Temperament. Auf eine aufwändige rhetorische Anordnung der Rede würde er verzichten. Er halte sich an die von seinen Vorrednern aufgemachten Punkte, die er chronologisch abhandele. Form und Inhalt bildeten eine harmonische Einheit. Interessant sind die Gemeinsamkeiten zu Mussolinis Rhetorik, denn die Zeitgenossen
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Santini (1938: 212). Santini setzte Cavour implizit als Modell und Bewertungsmaßstab für alle übrigen parlamentarischen Redner an. Ebd. (213). Mussolini OO (2: 258). Eine ähnliche Einschätzung wie Mussolini trifft auch Titta Madìa (Anwalt, Journalist und Abgeordneter im Faschismus und später für den MSI) in seiner Storia dell’eloquenza: „Giolitti non è oratore. […] Tutta la sua vita è antioratoria“, Madìa (1959: 676). Vgl. Malagodi (1922: X f., XXX). Orlando (1953: XXXIII).
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werden diesem ähnliche Attribute zusprechen wie es Orlando im Falle von Giolitti tat (vgl. Kap. 3.6). Was Giolittis Beredsamkeit aber besonders ausmache, das benannte Orlando mit einem Bild aus der Mathematik. Es sei dies die „riduzione ai minimi termini“78. Damit meinte er das Vorgehen Giolittis, immer direkt den Punkt innerhalb einer gegnerischen Argumentation anzusprechen, der basal und gleichzeitig fragwürdig sei, um von da aus die „Festung“ hochgehen zu lassen. Die Reduktion auf wenige Gesichtspunkte führe, so Orlando, zum synthetischen Eindruck der Reden, die mit Verblüffung und Belehrung seitens der Zuhörer einhergingen. Insgesamt wird der Scharfsinn Giolittis hervorgehoben, was sich nicht nur in seiner Argumentation, sondern auch in der Geistesgegenwärtigkeit seiner parlamentarischen Zwischenrufe niederschlage. Ferner wies Orlando auf die breite – auch literarische – Bildung Giolittis hin, die er jedoch, ähnlich wie die Römer in der Antike, nicht zur Schau stelle.79 Analysen aus den vergangenen Jahrzehnten bestätigten diese Einschätzung: Emotionales wurde von Giolitti negativ bewertet, eine figurenreiche, pathetische Sprechweise geradezu als schädlich erachtet. Diese grundsätzliche Ablehnung von Affekten unterschied ihn in gewissem Maße von Cavour, dem Santini je nach Erfordernis auch emotionale Züge zuschrieb. Giolitti hingegen nahm klar Abstand von der Patria-Rhetorik. Der Begriff Patria erscheint nur marginal und wurde durch das Wort Paese (das Land = Italien) ersetzt, welches meistens mit einem konkreten Attribut verbunden wurde.80 Dies spricht für Giolittis Bemühen nach einem exakten Referenzgehalt. Seine thematische Entfaltung stützte sich vor allem auf eine neutral wirkende Deskription mithilfe der débrayage, die wiederum einer kausal-finalen Argumentation untergeordnet war.81 In seine Reden bezog er häufig Beispiele, Zitate, Gesetzestexte, Statistiken, Zahlen, Telegramme oder auch Zeitungsinterviews zur Veranschaulichung, Widerlegung – vor allem aber – zur Stützung des Gesagten mit ein. Das Ziel seiner Reden, so Viviana Bianchini, war die Persuasion durch atechnische Testimonien und Indizien. Die Rhetorik wurde so zu einem 78
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Ebd. (XXXV). Offensichtlich liegt hier eine Vorstellung aus der Geometrie zu Grunde. Giolitti suche die einfachste, weil schnellste Verbindung zwischen zwei Punkten. Dies führe dann zu seiner „Geradlinigkeit“. Alle weiteren Aspekte werden diesem Ziel untergeordnet oder ausgeblendet (riduzione). Man könnte das Vorgehen, die Suche nach der einfachsten Lösung, auch „Occam’s razor“ nennen. Vgl. ebd. (XXXV f.). Vgl. Leso (1994: 735). Zu diesem Bemühen kann auch das Erfinden von Neologismen oder die Nutzung von Termini technici gerechnet werden. Ein Beispiel für eine Wortneuschöpfung wäre „sperequazione“ (Un-gleichheit/Missverhältnis), vgl. weitere in der von Bianchini (2006: 130) zusammengestellten Liste der Fachbegriffe. Vgl. Giuliani (2001: 868).
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Instrument der Erkenntnis.82 Das stilistische Rüstzeug Giolittis beschränkte sich auf bestimmte Figuren: Eine Gliederung nutzte Giolitti, um eine Übersicht über die Rede zu geben und somit Orientierung bei den Zuhörern zu schaffen. Ein paralleler und anaphorischer Satzbau unterstützte das Verständnis der argumentativen Verknüpfung.83 Des Weiteren hat Bianchini semantische Oppositionspaare bei Giolitti identifizieren können, die eine argumentative materiale Topik darstellen. Neben der schon erwähnten Antithese von Gefühl vs. Verstand, die zur Abwertung des pathetischen und zur Aufwertung der eigenen Rhetorik diente, gesellten sich noch die Paare abstrakte Theorie vs. konkrete Situation sowie Worte vs. Taten hinzu.84 Die beiden letztgenannten Begriffspaare sind deswegen so interessant, weil Mussolini in seinen Reden den Faschismus als ein auf konkrete Taten abzielendes Handeln in Abgrenzung zu den leeren Worten der Theoretiker und liberalen Politiker beschreiben wird (vgl. Kap. 4.1). Mit Santini kann man noch ergänzen, dass Giolitti mit seiner Ironie und seinem geistreichen Witz die parlamentarische Versachlichung gefördert hatte, indem er sie gezielt zur Diskreditierung der emotionalen Rhetorik einsetzte.85 Nicht zuletzt war die Beredsamkeit Giolittis durch sein Studium der Jurisprudenz geformt. Er kann als bezeichnendes Beispiel für eine Advokatisierung des Parlamentes angesehen werden. Die patriotischen Anklänge zum Risorgimento wurden bei Giolitti weniger. Positiv gewendet stand er für eine Professionalisierung in der Politik. Das schlug sich in seinem Redestil nieder. 3.1.4 Parlamentarismuskritik und der due Italie-Mythos Mit der Professionalisierung muss ebenfalls die öffentliche Wahrnehmung Giolittis und die der parlamentarischen Redekultur thematisiert werden. Giolitti avancierte zu einem Negativ-Symbol innerhalb eines zweiwertigen Mythos, dem sogenannten due Italie-Mythos. Dieser Mythos kam durch die Einigung Italiens zustande und diente der piemontesischen Elite, den Anschluss des bourbonischen Königreichs an Norditalien zu plausibilisieren. Die Vereinigung mit dem „fortschrittlichen Norden“ wäre, so in der Logik der Piemontesen, vom wirtschaftlich und kulturell „rückständigen Süden“ herbeigesehnt und als Befreiung empfunden worden. Der Mythos sollte das „komplexe Thema der kulturellen Heterogenität des vereinigten Italiens auf die moralischen Implikationen der brüderlich-nationalen Hilfe reduzieren.“86 82 83 84 85 86
Vgl. Bianchini (2006: 122). Vgl. ebd. (125). Vgl. ebd. (131). Vgl. Santini (1938: 311). Zur sozialistischen Rhetorik s.u. Pauls (1996: 140). Sie zeigt auf, dass der due Italie-Mythos noch weitere Funktionen hatte: er konnte nicht nur im Nachhinein als Legitimationsmittel, sondern schon vor
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Nach der Einigung wurde die Heterogenität der Landesteile als „Problem Süditalien“ (questione meridionale) bekannt und es erlebte im Jahr 1911 mit den Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen Italiens eine Hochphase. Das liberale Italien feierte den Fortschritt, wohingegen Sozialisten, Republikaner und Nationalisten die andere Seite des Mythos betonten und zu einer negativen Bewertung der allgemeinen Lage gelangten. Der Mythos erfuhr zu diesem Zeitpunkt eine politisch-aktualisierende Überformung, in der Giolitti zum diabolischen Ursprung allen Übels wurde. In diesem Mythos erhielt er die Position eines verachtungswürdigen Antagonisten: Er symbolisierte das Alter sowie zügelloses Machtstreben. Seine Methode des Kompromisse-Schmiedens wurde ihm als Prinzipienlosigkeit ausgelegt. Die Parlamentarismuskritik, die sich im Laufe der Jahre zu einer Systemkritik ausweiten und auf die sich der Faschismus affirmierend beziehen sollte, wurzelte in der Überzeugung, dass Giolitti – egal wie auch immer die Wahlergebnisse ausfallen würden – als graue Eminenz an der Spitze einer neuen Regierung stehen würde. Seine liberale Sozialpolitik und sein Zugehen auf die Reformsozialisten sowie die Ausweitung der politischen Partizipation durch das novellierte Wahlrecht von 1911 wurden ihm ebenfalls negativ angerechnet. Silvano Montaldo bemerkt, dass die Wahlrechtsreform, also die Demokratisierung des politischen Systems unter Giolitti, als Konzession von oben begriffen werden muss.87 Doch mit dieser Reform vollzog sich weder ein Wandel im Repräsentationsverständnis zwischen Regierenden und Regierten, noch wurden die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen berücksichtigt. Die Parlamentswahlen wurden nicht als Ausdruck der Volkssouveränität aufgefasst, sondern als reiner Indikator, wer befähigt sei, zu regieren.88 Die Wahlkollegien beruhten bis 1919 auf der letzten großen Wahlrechtsreform von 1891 und waren an den Zensusabgaben von 1881 ausgerichtet.89 Industrialisierung, Modernisierung, Bevölkerungszuwachs sowie die gestiegene Binnenmigration
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der „Expedition der Tausend“ unter Garibaldi dazu benutzt werden, die Öffentlichkeit wohlwollend zu stimmen, indem die Unabwendbarkeit und Notwendigkeit einer Vereinigung der Königreiche beider Sizilien mit dem Königreich Sardinien aufgezeigt werden konnte. Ferner wurden durch diesen Mythos die Verhältnisse in Süditalien auf seine ökonomische Rückständigkeit verengt und somit eine politische Bevormundung begünstigt, vgl. ebd. (135, 141). Es wäre interessant zu sehen, inwiefern dieser Mythos auch heute noch benutzt wird, angesichts der Tatsache, dass die questione meridionale noch immer ungelöst erscheint. Gentile (2006: 66–71) zeichnet vor allem die neue politische Inanspruchnahme des due Italie-Mythos kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach. Vgl. Montaldo (2001: 210). Die Ansicht war verbreitet, dass die Abgeordneten die Souveränität des Staates und der Nation repräsentieren, nicht jedoch den Willen des Volkes, vgl. Art. 41 des 1848 oktroyierten und damals noch immer gültigen Statuto Albertino, s. Kröll (2014: 48, 340). Vgl. Montaldo (2001: 197, 224 Fußnote 59).
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gingen an den Institutionen vorbei. Die geringe Spiegelung der realen Verhältnisse lassen also den Vorwurf der Autosuffizienz beziehungsweise die Lücke zwischen dem paese reale und dem paese legale plausibel erscheinen. Die Missstände wurden im due Italie-Mythos überspitzt eingeflochten und auf diese Weise politisiert. Neben den oben schon erwähnten machtpolitischen Kalkülen Giolittis wurde ferner die Prozessualisierung politischer Konflikte durch das Einfügen in administrative Abläufe kritisiert. Die Einbindung in eben solche führte einerseits zu einer Abschwächung von Konflikten. Andererseits hatte dieses Vorgehen konkrete Folgen für die parlamentarische Beredsamkeit. Die Mäßigung im Stil und die auf Anschlussfähigkeit abzielende konziliantere Haltung der Redner waren solche Folgen und sie wirkten sich auch auf die öffentliche Wahrnehmung des Parlamentes aus. Der Literaturkritiker Giuseppe A. Borgese dachte in seinem Aufsatz Pensieri sull’eloquenza degli antichi e dei moderni (1912) in Manier der Querelle über den vermeintlichen Verfall der Beredsamkeit nach: [W]ir sind nicht fähig, außer in sehr seltenen und beinahe wundersamen Umständen, eine Tatsache des Lebens als eine organische und definitive Einheit zu betrachten, als wäre sie eine abgeschlossene Tragödie. Die Notwendigkeit mit einem abwesenden, diffusen und individualisiertem Publikum zu kommunizieren, ohne den Druck der dringlichen Entscheidung, hat folglich die Ruhe der abwägenden und wissenschaftlichen Analyse in viele Bereiche eingeführt, wo bei den Antiken die beredsame Synthese vorherrschte.90
Die synthetische, hoch emotionale und auf Handlung abzielende Qualität der antiken Beredsamkeit rühre von ihrer Situativität, der körperlichen Kopräsenz von Redner und Publikum und dem Handlungsdruck her. Der nahende Erste Weltkrieg sollte die Sehnsucht nach einer energischen Rhetorik erfüllen. Carlo Manes verlautbarte in derselben Zeitschrift 1916 zur Rhetorik im Weltkrieg: Das ist die klassische Form der Beredsamkeit, Beredsamkeit par excellence: jene, die unversehens danach strebt sich in Handlung zu übersetzen, oder die die nächste Handlung in ihrer idealen Bedeutung und in synthetischen Zügen umreißt, um daraus einen diamantharten Punkt zu machen, mit dem man das feste und sichere Ziel der neuen Handlung in die Seele der Kämpfer eingravieren kann.91
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Borgese (1912: 198). Manes (1916: 81).
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Der parlamentarischen Beredsamkeit fehlten nach Ansicht der Zeitgenossen diese ‚harten Qualitäten‘. Borgese und andere Kritiker der parlamentarischen Beredsamkeit sahen die Vorteile dieser Entwicklung nicht. Die neuartigen Reden brachten ein retardierendes Moment in kritische Situationen ein. Sie verringerten somit den Handlungsdruck und erwirkten Zeit für die Lösung komplexer Probleme. Kein anderer als Carl Schmitt stellte die Kritik am Parlamentarismus seiner Zeit in prägnanterer Form dar. In Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923) ging er davon aus, dass der Parlamentarismus auf Diskussion beruhe und „Diskussion […] einen Meinungsaustausch [bedeutet], der von dem Zweck beherrscht ist, den Gegner mit rationalen Argumenten von einer Wahrheit und Richtigkeit [zu] überzeugen“92. Von diesem Standpunkt aus gesehen, gab er den kritischen Stimmen, die von einer parlamentarischen und rednerischen ‚Dekadenz‘ oder von einer ‚Komödie‘ sprachen, bedingt Recht. Schmitt sah das Problem des Parlamentarismus im Auseinandertreten von Entscheidung und Rede. „Die Lage des Parlamentarismus ist heute so kritisch, weil die Entwicklung der modernen Massendemokratie die argumentierende Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht hat.“93 Eine negative Bewertung dieses Sachverhaltes kommt allerdings erst zustande, wenn man von normativen Implikationen ausgeht, wie und wo eine argumentative Diskussion stattzufinden habe. Schmitt zufolge sollte die Entscheidung durch die Rede im Plenarsaal fallen. Nach dieser Logik musste der Vergleich mit der parlamentarischen Wirklichkeit negativ ausfallen. Die Aussage Schmitts mag insofern zutreffen, da die Parlamentsdebatten für die Öffentlichkeit als Schaugefechte inszeniert wurden, um dem breiten Publikum die in Arbeitskreisen oder informellen Gruppen gefundenen 92
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Schmitt (19262: 9). Dass Schmitt auch einen idealen Bezug zu den Vorgängen in Italien hatte, betont Schieder: „Mussolini war schon damals für Schmitt geradezu ein Kronzeuge für seine zwar völlig unhistorische, aber suggestive Behauptung, daß repräsentative Demokratie und liberaler Parlamentarismus in einem Gegensatz zueinander stünden. […] Es war der Traum, politische Macht auf einem Mythos aufzubauen, den Mussolini in den Augen Schmitts zu erfüllen schien.“ Schieder (1989: 19). Schmitt (19262: 10). Er führte weiter aus: „Manche Normen des heutigen Parlamentsrechtes, vor allem die Vorschriften über die Unabhängigkeit des Abgeordneten und über die Öffentlichkeit der Sitzungen, wirken infolgedessen wie eine überflüssige Dekoration, unnütz und sogar peinlich, als hätte man die Heizkörper einer modernen Zentralheizung mit roten Flammen angemalt, um die Illusion eines lodernden Feuers hervorzurufen.“ Ebd. (10 f.). Schulz (2012: 256–259) weist darauf hin, dass die Parlamentarismuskritik ein europaweites Phänomen des frühen 20. Jahrhunderts war und sich die Argumente überall ähnelten.
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Kompromisse zu erklären und zu verantworten. Im Parlament wurden die Abgeordneten nicht mehr im strengen Sinn überzeugt. Die vorab festgelegten Meinungen wurden für die Öffentlichkeit in sogenannten ‚Fensterreden‘ argumentativ aufbereitet und präsentiert, der Hauptadressat lag also außerhalb der Parlamentsmauern. Darauf macht Mauro Moretti aufmerksam, wenn er schreibt: Étant donné l’impossibilité de persuader des élus liés à des fidélités politiques et personnelles, il faut pouvoir s’adresser directement à leurs mandants. De l’éloquence parlementaire, l’accent se porte sur vers la propagande. L’art oratoire parlementaire, dans sa dimension compétitive, ne perd pas ses fonctions internes dans l’hémicycle: il reste nécessaire pour l’ascension et la légitimation des nouveaux leaders.94
Wenngleich die parlamentarische Rhetorik ihre werbende Funktion um Zustimmung in den öffentlichen Debatten einbüßte, war sie dennoch ein wichtiges Kriterium für politischen Erfolg. Diese Verschiebung der rhetori schen Funktionen wurde als sogenannte ‚Krise des Parlamentarismus‘ wahrgenommen und stellte den parlamentarischen Liberalismus vor ungeahnte Herausforderungen. Aus heutiger Sicht erweist sich diese Krise als Ausdifferenzierungsprozess kommunikativer und institutioneller Funktionen. Nach Thomas Mergel weist die Kommunikation im Parlament drei Funktionen auf: Die erste Funktion besteht in der Repräsentativität politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse und drückt sich im Modus einer das ganze Volk ansprechenden, pathetischen Rhetorik aus. Die zweite Funktion befasst sich mit der Entscheidungsfindung. Ihr Modus ist eine argumentative Rhetorik. Die dritte Funktion zielt auf soziale Integration vor allem innerhalb des Parlamentes ab und äußert sich in einer phatischen Rhetorik, die die Beziehung und den Kontakt unter den Abgeordneten regelt. Alle drei Modi stehen in der Moderne unter einem performativen Vorzeichen, das heißt, dass jegliche Äußerung eines Abgeordneten bewusst als eine Mehrfachadressierung gestaltet wird. Diese performative Überformung war sowohl der aufkommenden Mediengesellschaft als auch der sich daraus ergebenden weiteren Öffentlichkeit geschuldet.95 94 95
Moretti (2001: 99 f.). Vgl. Mergel (2012: 230 ff.) sowie Schulz (2012: 255): „Mit der wachsenden räumlichen Entfernung vergrößerte sich auch die soziale Distanz zwischen Abgeordnetenelite und Wählerschaft. Sie stellte den Parlamentsredner vor die Notwendigkeit, das Mandat der Wähler durch öffentliche Kommunikation zu legitimieren. Mehr als je zuvor musste die Bindung zwischen Souverän und Volksvertretern artikuliert und symbolisch repräsentiert werden.“ All dies kann man unter das Stichwort der Ausdifferenzierung moderner
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Die weitverbreitete Parlamentarismuskritik in Italien lässt darauf schließen, dass die Funktion der Entscheidungsfindung, der argumentative Modus in der Ära Giolitti vorherrschte. Die erwähnte Professionalisierung und der formalargumentative Stil, der sich immer mehr durchgesetzt hatte, korrelierten mit dem hohen legislativen Outcome der parlamentarischen Arbeit.96 Dies als Indiz genommen zeigt, wie unberechtigt die Kritik eines nichtfunktionierenden Parlamentarismus war. Nimmt man das Lamento über den Verfall der Beredsamkeit ernst, wird klar, worauf die Parlamentarismuskritik eigentlich abzielte: Die Funktion der Repräsentativität wurde als dysfunktional eingestuft. Hierauf wird in Kap. 3.3.1 näher eingegangen. Anlass zur substanziellen Kritik gaben gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, auf die das Parlament weder institutionell noch kommunikativ befriedigend reagierte. Das politische System des liberalen Italiens wird in der Forschung unter dem Begriff des regime bloccato diskutiert. Das Statuto Albertino von 1848 fungierte als normativer Rahmen und blockierte die Weiterentwicklung zu einem System, in dem das Parlament seine Legitimation durch Wahlen erhalten hätte.97 Bis zum Kriegseintritt Italiens 1915 hatte sich die Piazza als vero Parlamento (D’Annunzio) mit ihrem direkten Kontakt zum Publikum und einer andersgearteten Rhetorik im Bewusstsein der Öffentlichkeit etabliert. Der Krieg führte zu einem vollständigen Kommunikationsabbruch des politischöffentlichen Diskurses in Italien. Danach stand ein diskreditiertes Parlament vor Erwartungen und Problemen, denen zu begegnen es keine passenden kommunikativen Codes mehr hatte.98 Mussolini setzte diese kurz vor der Intervention Italiens gemachte Erfahrung, die Piazza nämlich als Kontaktort zur italienischen Bevölkerung zu nutzen, im Faschismus fort und antwortete auf diese Weise auf die Parlamentarismuskritik.
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Gesellschaften stellen: „Die Inszeniertheit wiederum ist nicht Ursache, sondern logische Konsequenz der Verlagerung der sogenannten politischen Willensbildung in die Ausschüsse und Fraktionen, die ihrerseits die Folge der (in erster Linie medien-vermittelten Teilnahme der Öffentlichkeit an der Plenardebatte ist. Aushandeln von Interessen scheint im öffentlichen Plenum nicht möglich, weil einerseits Gesichtsverluste drohen, andererseits gegen das in der Öffentlichkeit prävalente Ideal des Deliberierens verstoßen würde. […] Für das Parlament bedeutet dies, daß die in den Ausschüssen und Fraktionen tatsächlich ausgehandelten Entscheidungen öffentlich als offene, rationale parlamentarische Plenumsdiskussion inszeniert werden“, Burkhardt (2003: 323). Vgl. Montaldo (2001: 218 f.). Nach dem Krieg, als das ‚System Giolitti‘ durch den Krieg endgültig aus dem Gleichgewicht kam, stieg die Zahl der Anfragen und die Nutzung der Kontrollinstrumente derartig an, dass sich der parlamentarische Betrieb selbst blockierte. Vgl. ebd. (234 f.). Vgl. ebd. (241 f., 250).
104 3.2
Kapitel 3
Vorgänger Mussolinis: Nachahmung oder Überbietung?
Im hier angestrebten Vergleich nehmen Francesco Crispi und Gabriele D’Annunzio eine entscheidende Rolle ein. Wie bereits im Forschungsstand geschildert, wurde D’Annunzio immer wieder als Vergleichspunkt zu Mussolini herangezogen. Crispi wie D’Annunzio können inhaltlich einer enkomiastischen Patria-Rhetorik zugeordnet werden, die sich unterschiedlich äußerte. Nachdem ihre rednerischen Eigenheiten herausgearbeitet worden sind, wird Mussolini im dargestellten Koordinatensystem der vorgestellten Redner positioniert. Leitend für dieses Unterkapitel ist dann die Frage, inwiefern Mussolini diesen Rednern ähnelte, sie vielleicht sogar imitierte oder sich von ihnen absetzte und eigene rednerische Ausdrucksformen fand. 3.2.1 Francesco Crispi: Kult der nationalen Stärke Francesco Crispi (1818–1901) ist, verglichen mit D’Annunzio, heutzutage nahezu unbekannt.99 Der mit albanisch-griechischen Wurzeln in Sizilien geborene Crispi stand D’Annunzio in seinem bewegten Leben aber in nichts nach: Seine klassische Bildung in den alten Sprachen erwarb er in einem griechischorthodoxen Seminar. Daraufhin schloss sich ein Studium der Rechtswissenschaften an. Crispi war Anwalt, Journalist (L’Apostolato) und nach der Revolution 1848 im Königreich beider Sizilien Abgeordneter im Regionalparlament in Palermo. Auf die Teilnahme an der Erhebung in Sizilien und die Unterstützung der Spedizione dei Mille (1860) von Garibaldi, verwies er Zeit seines Lebens und stützte somit sein Ethos als Patriot und Held. Zuerst Abgeordneter bei der Linken, wird er später als Ministerpräsident in den 1890er Jahren eine Innen- wie Außenpolitik der Stärke verfolgen. Am deutlichsten zeigte sich dies an der Invasion Äthiopiens 1895/96, die mit der Niederlage von Adua seiner Karriere ein Ende setzte.100 Als Redner verknüpfte Crispi zwei unterschiedliche Ethos-Rollen: Er war zum einen Revolutionär und Agitator. Zum anderen war er Staatsmann, der Italien nach seinen Vorstellungen reformieren wollte. Diese zwei Rollen – Heros des Krieges und des Friedens – trugen zu einer eigentümlichen Ausgestaltung der Beredsamkeit Crispis bei. 99
Für die folgenden Ausführungen vgl. Fonzi (1984: 779–799). In der langsam einsetzen den historischen Beschäftigung bleiben die kommunikativen Aspekte Crispis unterbeleuchtet. So ist beispielsweise in dem 2009 erschienen und 20 Aufsätze umfassenden Sammelband, hrsg. v. Ricci/Montevecchi, kein einziger Beitrag zur Rhetorik zu finden. Dieses Unterkapitel wird sich also vor allem auf die Beobachtungen der Zeitgenossen Crispis stützen. 100 Vgl. Adorni (2009: 231).
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Bei vielen Gelegenheiten sprach er entweder über sich oder über sein geliebtes Sizilien. Die dialektale Einfärbung machte dies noch glaubwürdiger.101 John Dickie zeigt in seinem Aufsatz La sicilianità di Francesco Crispi, dass die regionale Identität Crispis auf damaligen Stereotypen aufgebaut war, die sowohl von Gegnern, als auch von Anhängern Crispis bemüht wurden.102 Die Beschreibungen wie Crispi und dessen Verhältnis zum Volk wahrgenommen wurden, entstammen, so Dickie, aus den metaphorischen Feldern Hypnose, Weiblichkeit und Orient.103 Abgesehen vom letzten Aspekt wurden diese Bildfelder auch zur Charakterisierung der Beziehung von Mussolini zu seinem Publikum verwendet. Crispi vereinte in sich nicht nur das Bekannte, Geordnete, Italienische sondern auch das Unbekannte, Ungeordnete, Sizilianische und Orientalische. Im selben Menschen – sizilianische Faser, italienische Seele – verschmolzen der Revolutionär und der Staatsmann, ohne sich auszulöschen. Denselben inneren Widerspruch hatte er auch als Redner: er brach ungleichmäßig, spröde, schneidend, ohne Farben oder Reliefs in der Form hervor. Und wenn ihn die politische Leidenschaft entzündet oder bewegt, eilt die gewaltsame Geste dem Wort voraus. Der berühmte Faustschlag auf das Pult offenbart, dass er handeln, nicht reden will, daher rühren die Pausen, die Aposiopesen, die rauen, abrupten Perioden.104
Dieser innere seelische Widerspruch spiegelte dann die Widersprüchlichkeit Italiens (Nord-Süd-Problematik) wider und erweiterte die Identifikationsmöglichkeiten mit Crispi ungemein: Für den Norden stellte er ein gelungenes Beispiel der Einigung Italiens dar. Für den Süden zeigte er auf, dass sozialer Aufstieg möglich war und der Süden nicht vergessen wurde.105 Ein beliebtes Bild, mit dem Crispi verglichen wurde, war der Vulkan. Dieser vereint in sich die Urwüchsigkeit und die Kraft der Natur und des Südens. Zeitgleich ruht der Vulkan in sich und konzertiert seine gewaltigen Kräfte für den nächsten Ausbruch.106 Leicht ist dieses Bild auf die oben zitierte Stelle angewandt, wenn vom ungleichmäßigen Sprechtempo, von der entzündeten 101 Vgl. Mohrhoff (1952: 18). Vgl. die Einschätzung des Zeitzeugen, Journalisten und Politikers Ferdinando Petruccelli della Gattina (1862: 171). Arcoleo (1912: 11) spricht sogar von der „ipertrofia dell’Io“. 102 Vgl. Dickie (1995: 136). 103 Vgl. Dickie (1995: 139). Die angeführten semantischen Felder stammen offensichtlich aus der Le Bon’schen Massenpsychologie, s. Kap. 3.5. 104 Arcoleo (1912: 7). Vgl. ebenso das Urteil des Crispi-Vertrauten Finocchiaro-Aprile (1915: XIII f.). 105 Vgl. Dickie (1995: 141 f.). 106 Ebd. (139 f., vor allem die Fußnote 23).
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Leidenschaft oder von der gewaltsamen Geste die Rede ist. Darüber hinaus ist der Vulkan seit Pseudo-Longin mit der Vorstellung des Erhabenen verknüpft.107 Dieselbe Zuschreibung erfuhr Mussolini durch seine Biographin Margherita Sarfatti, die – wohlgemerkt nur in der italienischen Ausgabe – Mussolini ausstattete mit „eine[r] jungfräulichen Vehemenz, eine[r] Hitze von strömender Lava.“108 Zeitgleich stellte sie ihm einen anderen Redner gegenüber, nämlich D’Annunzio, der fest und „beinahe frostig in seiner Vehemenz“ sei. Somit rückte Mussolini in der öffentlichen Wahrnehmung näher an Crispi heran. Mussolini machte diese Zuordnung selbst plausibel, wenn er von sich behauptete: „Als Redner fehlt mir schließlich absolut der Charme.“109 Beide Redner verband das Fehlen eines konzilianten Tons und eines auf Freundlichkeit basierenden Rednerethos, denn dazu hätte man Schwächen und Selbstironie zeigen müssen. Silberne Vorbilder und männliches Ethos Vorbilder für Crispis Stil waren die Autoren der silbernen Latinität, die Crispi, möchte man Leone Fortis Glauben schenken, auf seinen Reisen immer bei sich führte: Tacitus und Sueton, aber auch Cicero.110 Crispi kannte durch seine Ausbildung das ciceronianische Rednermodell, neigte aber mehr zum taciteischen Rednerideal des Lakonismus. Aus einem bündigen Satzbau und einer energischen Performanz ergaben sich unweigerlich charakterliche Zuschreibungen wie Stolz, Stärke, Männlichkeit, Aufrichtigkeit und Leidenschaft. Als ehemals linker Patriot wurde Crispi zum Orientierungspunkt für autoritäre, nationale Strömungen. Es ist nicht verwunderlich, dass Crispi im späteren faschistischen Italien von politischen Funktionsträgern, allen voran von Benito Mussolini oder von Giuseppe Bottai geschätzt wurde. Letzterer machte Crispi zur Präfiguration Mussolinis, indem er Crispi sagen lässt: „[‚]Möge sie [die Jugend] sich einen Führer erwählen, der sie zur Eroberung
107 Vgl. Ps.-Long. Subl. 35, 4. 108 Sarfatti (1926a: 271): „una veemenza vergine, un calore di lava torrenziale“ / „quasi gelido nella veemenza“. Vgl. Ludwig (1932: 123): „Die kalte Glut, die er in seinen starken Momenten ausströmt“. Der Vulkan als Motiv symbolisiert die urwüchsigen Kräfte der Natur, die unerwartet ausbrechen können. Ferner drückt der Vulkan, eine eigentümliche Mischung aus Gegensätzen wie Wärme und Kälte aus. Auf psychologischer Ebene stehe er für „tremendous passions and emotions, which may enrich us, if conducted along proper channels.“ De Vries (19813: 489). 109 Gentile (1976: 59), Kurs. i. Orig. 110 Vgl. Fortis (1895: 37 f.).
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eines freien, großen und geachteten Italien führen kann.‘ Und die Jugend hat sein Wort gehört.“111 Crispis Reden waren schmucklos und er hielt sich nicht lange mit Vorreden und Exkursen auf. Seine Zeitgenossen bemerkten seine Geistesgenwart besonders im Antworten auf Zwischenrufe sowie sein synthetisches Vorgehen, was seine Argumentation betraf. All dies erweckte den Eindruck von Klarheit und bestätigte gleichfalls die Einschätzung, Crispi sei durch seine historischjuristische Bildung ein kompetenter Staatsmann.112 Parallelen zu Giolitti sind durchaus erkennbar, auch wenn sie sich im Gebrauch von Humor maßgeblich unterschieden. Crispi nutzte jedoch im Unterschied zu Giolitti eine deklarativ-befehlende Rhetorik: Er erklärte nicht, er warb um niemanden. Passend dazu war sein Ton polemisch-aggressiv. Davon gibt der Journalist und Politiker Ferdinando Petruccelli della Gattina ein erhellendes Beispiel: „Crispi ist der Aggressivste in der Abgeordnetenkammer – wenn er sich entrüstet und die Eintönigkeit durchbricht. Wenn er sich zum Reden erhebt, scheint es, dass es dazu diene, aus den Taschen ein Paar Revolver zu ziehen.“113 Das Revolver-Bild zeigt zum einen die Aggressivität Crispis auf. Die Rede ist einer Schusswaffe vergleichbar, die auf ein Ziel gerichtet wird und – präzise im Resultat – verwundet bis tötet. Zum anderen erinnert es, wie das VulkanBild, an die aus Crispi herausbrechende Leidenschaft und Schnelligkeit bzw. Geistesgegenwärtigkeit. In der Öffentlichkeit wurde Crispi als Mann der Stärke wahrgenommen. Seine Äußerungen im Parlament zielten auf die Konstruktion genau dieses Eindrucks ab. Dieser wurde durch Crispis Hauszeitung La Riforma zusätzlich verbreitet und unterstützt. Mussolini strebte ebenfalls durch Kommentare in seiner Zeitung eine direkte mediale Beeinflussung des Publikums an. 3.2.2 Gabriele D’Annunzio: Politik als Ästhetik Die schillerndste Figur Italiens im frühen 20. Jahrhundert sowohl in der Literatur als auch in der Politik war Gabriele D’Annunzio (1863–1938). Der Dichter, Politiker und Journalist, nach dem Ersten Weltkrieg ‚Kommandant‘ 111 Bottai (1943: 121). Mussolini OO (20: 149 ff.) zeichnete in einer Gedenkrede 1924 Parallelen mit sich und Crispi: beide waren Journalisten, beide wollten die imperiale Größe Italiens. 112 Zum argumentativen Vorgehen und der daraus resultierenden Klarheit vgl. Petrucelli della Gattina (1862: 171), Riccio (1887: 12), Arcoleo (1912: 8); zur Geistesgegenwart vgl. Fortis (1895: 38), Mohrhoff (1952: 17). 113 Petrucelli della Gattina (1862: 47), Kurs. i. Orig. Arcoleo (1923: 385, 387) weist darauf hin, dass Crispi die Fähigkeit abging, Parlamentarier aus anderen Lagern zu gewinnen (creare proseliti), da sein Auftreten als unversöhnlich und wegen seiner Kürze und Schneidigkeit (linguaggio breve e reciso) als herablassend wahrgenommen wurde.
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von Fiume und später Prinz von Montenevoso vereinte in sich unterschiedlichste und durchaus widersprüchliche Eigenschaften seiner Zeit. Als Dichter ging er von Giosuè Carducci aus und entwickelte sich zu einem dekadenten Symbolisten. Er war über die Landesgrenzen hinweg für seine Oden und Theaterstücke bekannt. Nach dem Tod von Carducci (1835–1907) und von Giovanni Pascoli (1855–1912) avancierte er zum Nationaldichter Italiens schlechthin. Der Dandy D’Annunzio begann seine politische Karriere als candidato della bellezza im Parlament (1898–1899). Am parlamentarischen Leben nahm er nur sporadisch teil. Aufsehenerregend war sein Wechsel von den KonservativLiberalen hin zu den Sozialisten, den er mit dem Satz „[a]ls Intellektueller gehe ich den Weg zum Leben“114 kommentierte. Nach gescheiterter Wiederwahl vertrat er einen dezidierten Antiparlamentarismus und konstruierte mit seinen abfälligen Bemerkungen über Giolitti den Antagonisten im due Italie-Mythos (vgl. Kap. 3.1.4). Neben diesem Intermezzo auf der politischen Bühne ist aus rhetorischer Sicht vor allem die Phase (1914/15) unmittelbar vor dem Eintritt Italiens an der Seite der Entente in den Ersten Weltkrieg von Belang. Nachdem Italien sich nach Kriegsausbruch neutral erklärt hatte, fanden auf diplomatischer Ebene Geheimverhandlungen statt, welche die Konditionen für einen Kriegseintritt gegen die Mittelmächte festlegen sollten. Der Londoner Vertrag wurde am 26. April 1915 geheim abgeschlossen. Zeitgleich fanden die Kriegsbefürworter immer mehr Resonanz in der Öffentlichkeit. Diese Periode ging als Maggio radioso, als strahlender Mai, in das kollektive Gedächtnis ein. Damit wurden die Kriegsdemonstrationen auf den Straßen und Plätzen bezeichnet. Der Interventionismus bildete jedoch keine breite von der Bevölkerung gestützte Bewegung. Vielmehr war sie von einer öffentlichkeitswirksamen, nationalistisch-elitären Minderheit getragen.115 Kopf dieser Bewegung war Gabriele D’Annunzio, der aus seinem Pariser Exil auf Einladung zur Einweihung eines Denkmals für Giuseppe Garibaldi nach Genua reiste und mit seinem Discorso di Quarto am 4. Mai 1915 die Hochphase des Interventionismus einleitete.116 Er sollte insgesamt acht Reden in Genua und elf in Rom halten und begeisterte damit vor allem die Studenten. Des Weiteren verfielen Künstler und Intellektuelle, Angestellte und Beamte sowie ein großer Teil der 114 Alatri (1983: 196). 115 Vgl. Vogel-Walter (2004: 35). 116 Der eigentliche Titel der Rede lautete: Orazione per la Sagra dei Mille. Alatri (1980) bietet eine Auswahl von Reden und Schriften D’Annunzios. Darin wird auch eine stilistische Entwicklung erkennbar. Eine Chronologie der hier nur kurz geschilderten Ereignisse findet sich bei Gumbrecht/Kittler/Siegert (1996: 11–23).
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städtischen Bevölkerung seinen Ansprachen. In Mailand wurden auf den interventionistischen Veranstaltungen zusätzlich unzufriedene und nicht organisierte Arbeiter von Filippo Corridoni und Benito Mussolini aufgestachelt.117 D’Annunzios Reden wurden von der Regierung nicht behindert und dienten ihr nach dem Vertragsabschluss in London bis zur Eröffnung des Parlamentes am 20. Mai 1915 dazu, die öffentliche Meinung auf einen Kriegseintritt einzustimmen. Dafür sprechen die halboffiziellen Verbindungen zur Regierung, die D’Annunzio unterhielt.118 Während des Krieges war er für das italienische Heer von Wichtigkeit, da er als Nationaldichter nicht nur bekannt war, sondern auch ein gutes Beispiel für die Soldaten abgab. Als vorbildlich galten seine waghalsigen Flüge über Triest, Trient und Wien. Zusätzlich wurde er als Propaganda-Redner eingesetzt.119 Nach dem Krieg sollte D’Annunzio durch seine Zeit als Kommandant in der von ihm besetzten Stadt Fiume, weltweites Interesse auf sich ziehen. Generell wird D’Annunzio als Präfiguration Mussolinis erachtet oder anders formuliert: Mussolini sei lediglich der rhetorische Imitator D’Annunzios gewesen. So sah es jedenfalls auch der ‚Erzengel‘ D’Annunzio selbst, wenn er in einem Brief (09.01.1923) an Mussolini schrieb: „Ist denn nicht etwa das Beste der Bewegung, die man faschistisch nennt, aus meinem Geist geschaffen? Wurde die nationale Erhebung von heute nicht von mir verkündet [annunziata]“?120 Im Folgenden soll dieses Urteil über das Verhältnis der Redner D’Annunzio-Mussolini einer Überprüfung unterzogen werden. 117 Vgl. Vogel-Walter (2004: 36) und Riosa (2001: 111). 118 „Die Regierung war parlamentarisch und außenpolitisch schon in höchster Bedrängnis. Eine außer-parlamentarische Unterstützung konnte nur in ihrem Interesse sein, war aus außenpolitischen Gründen unmöglich offen anzustreben. D’Annunzio erhielt in Rom über inoffizielle Treffen mit Regierungsmitgliedern und französischer Botschaft, sowie über seinen gut informierten Verleger [Luigi] Albertini [Direktor des Corriere della Sera], wichtige Informationen.“ Vogel-Walter (2004: 56). 119 Vgl. Guasco (2014: 343), Vogel-Walter (2004: 61): „Seine spektakulären Aktionen im Krieg dienten der psychologischen Kriegsführung.“ Bis zur Aufwertung der Kriegspropaganda nach der verheerenden Niederlage bei Caporetto (24.10.1917) war D’Annunzio alleiniger Frontredner. Für die Moral der Truppen waren 20 Kaplane zuständig. 120 De Felice/Mariano (19712: 38). Vgl. Santini (1938: 327), der die Nähe zwischen der Rhetorik D’Annunzios und Mussolinis hervorhob. Esposito (2011: 105 f.) fasst Santinis Urteil, das sich über die Jahre hindurch gehalten hat, prägnant in folgende Worte zusammen: „Die zukünftige faschistische Rhetorik und Gestik, die Inszenierung der Tat und die dazugehörige Semantik fanden in D’Annunzio ihre erste Objektivierung. Das reicht von dem von ihm eingeführten ‚römischen Gruß‘ und dem Schlachtruf ‚Eia eia alalà‘ bis zur rednerischen Vereinnahmung der Masse, mit Vorliebe von einem Balkon aus, und der Inszenierung des ‚Marsches auf Ronchi‘. Seinen Höhepunkt findet es jedoch in der kaum zu überbietenden Sakralisierung der Nation und ihrer ‚Märtyrer‘.“
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Mythische Macht des Wortes und dessen Verkünder D’Annunzio maß dem Wort eine herausragende Wirksamkeit bei: „Es gibt nur eine einzige höchste Wissenschaft auf der Welt: die des Wortes. Wer diese kennt, kennt alles, weil alles nur durch das WORT existiert. Nichts ist nützlicher als Worte. Mit ihnen fügt der Mensch alles zusammen, löst alles auf; erniedrigt und zerstört alles.“121 Neben der Rhythmisierung der Syntax fällt die Anspielung zum johanneischen Wort auf, das alles hervorbringe oder vernichte. Darüber hinaus knüpfte D’Annunzio an die Vorstellung an, dass die ‚Wortwissenschaft‘ eine „große Bewirkerin“122 sei. Das Sprachverständnis D’Annunzios ist dementsprechend als magisch zu bezeichnen. Die Wirksamkeit der Sprache wurde überdies gestützt durch die Rolle, welche D’Annunzio einnahm. In seiner Selbstdarstellung rekurrierte er wie viele seiner Dichter- und Schriftstellerkollegen auf den Topos des poeta vates bzw. auf den des Propheten: [B]eide weisen eine Reihe von Merkmalsähnlichkeiten und Strukturparallelen auf – Inspirationstheoreme, den Anspruch auf privilegiertes, übernatürliches Wissen, die Figur eines doppelten Transgresses der Erfahrungswelt in sachlicher (Sakralität) wie zeitlicher (Zukunftsschau) Hinsicht, die Lizenz zur ‚hohen Sprache‘, ausgeprägt asymmetrische Rollenzuweisungen etc.123
Aus den aufgezählten Komponenten eines prophetischen Rollenbildes ergibt sich ein Kommunikationsmodell, das man platonisch-augustinisch benennen kann: Ziel ist eine deklarative Weitergabe von Spezialwissen durch monologische Rede, die durch ihren transzendenten Ursprung beim Publikum als sicher, autoritativ und immer gültig rezipiert werden soll.124 Der Prophet dient 121 D’Annunzio (2003: 82) (=‚Note su la vita‘ vom 22–23.09.1892 in Il Mattino). Im Original ist das WORT ebenfalls groß geschrieben (Verbo), was unweigerlich an Joh. 1,1 denken lässt. Damit führt er eine ganze Wort-Theologie ins Feld, die dem gesprochenen Wort höhere Wirksamkeit zuschreibt, als dem bloß geschriebenen. In dieselbe Richtung geht auch eine Bemerkung, die er 1919 in einer Rede in Rom machte: „Perciò più che scritto io ho qui inciso quel che è necessario ricordarsi in perpetuo.“ Ebd. (2003: 579) (= ‚D’Annunzio parla al popolo in nome di tutti gli eroi‘, 05.05.1919). Obwohl das Wort flüchtig sei, habe es eine mächtigere Wirkung als ein geschriebener Text und halte auch in seinem Effekt länger an (in perpetuo). 122 Gorg. Hel. 8. 123 Frick (1996: 129). Zu den Merkmalen der prophetischen Rede vgl. auch Dietrich (2005: 293 f.). 124 Hans Blumenberg (2009: 104) hat zwei idealtypische Modelle der Rhetorik auf anthropologischer Grundlage entwickelt. Das erste Modell geht vom Menschen als armem Wesen in Bezug auf seine Erkenntnisfähigkeit aus. Im zweiten Modell ist der Mensch mit reicher
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als auserwähltes, empfangendes Medium und als einziger Hermeneut der Botschaft. Kam der poeta vates aus der griechisch-römischen Tradition und besang den Kosmos und das Vergangene in Hymen, so stammte die Figur des Propheten aus der jüdisch-christlichen Tradition und dessen Aufgabe bestand darin, den miserablen Ist-Zustand und eine bessere Zukunft zu beschreiben, um sein Publikum zum Handeln anzuleiten. All dies geschah bei Letzterem mit einem sozialreformerischen Impetus, der ihn zu einer pragmatischen Ausgestaltung seiner Rede führte.125 Dies zeigte sich „sprachlich-formal im Gebrauch des genus sublime, in der ostentativen Feierlichkeit, rhetorischen Stilisierung, psalmodierenden Expressivität eines visionären Idioms in Abhebung von profaner Normalsprache“126. Dass diese Rollenbilder zeitgleich zur Entzauberung der Welt wieder en vogue waren, ist auf die Rezeption von Nietzsche und insbesondere auf Also sprach Zarathustra zurückzuführen, den D’Annunzio recht früh in seinem literarischen Schaffen verarbeitet hatte. Zarathustra wurde so zum Modell auch für D’Annunzio. Darüber hinaus inszenierte sich D’Annunzio im Notturno (1916), nach seinem Flugzeugabsturz und einer zeitweiligen Erblindung, als blinden Seher.127 Dem Blinden kommt ein gesteigertes Sehvermögen zu. Erkenntnisfülle ausgestattet. Hieraus ergibt sich, Blumenberg zufolge, entweder eine Rhetorik, die sich mit der Vorläufigkeit der Erkenntnis abfinden muss (armes Wesen) oder die im Besitz der Wahrheit ist (reiches Wesen). Im ersten Strang wird die Rhetorik zu einem Instrument stetiger Suche nach vorläufig konsensual entwickelten ‚Gewissheiten‘. Der zweite Strang der Alternative geht „vom möglichen Wahrheitsbesitz aus und gibt der Redekunst die Funktion, die Mitteilung dieser Wahrheit zu verschönen“, ebd. (105). Als Vertreter dieser Rhetorikauffassung nennt er sodann Plato und Cicero. Den Kirchenvater Augustinus kann man aber ebenfalls hinzufügen. Stellt für Plato die Rhetorik eine Seelenleitung durch Reden dar (Phaidr. 261a), so wird Augustinus sie zu einem modus proferendi machen, d.h. zur Übermittlung von hermeneutisch erschlossenen Offenbarungsweisheiten (Doctr. VI, I.1.1). Bei beiden kommt es zu einer Funktionsverschiebung von einer inventiven, offenen Rhetorik zu einer epistemologisch limitierten und rein weitergebenden bzw. aufbereitenden Rhetorik. Der Prophet kann wohl als das Extrem innerhalb dieses zweiten Stranges angesehen werden. 125 Vgl. Wacker (2013: 29). 126 Frick (1996: 159), Kurs. i. Orig. 127 Zur Nietzsche-Rezeption bei D’Annunzio vgl. Alatri (1980: 24), allgemein zum literari schen Kontext: Wacker (2013: 36). Zu den Inszenierungsstrategien D’Annunzios vgl. Chytraeus-Auerbach (2003). Neben der ästhetischen Attraktivität, die Nietzsches Zarathustra anzubieten hatte, ist ein weiterer wichtiger Aspekt zu bedenken: „Wo die leitenden Erkenntnisparadigmen der Neuzeit zur Skepsis gegenüber der Festlegung offener Zukünfte tendieren, da scheint sich das Bedürfnis nach prognostischer Orientierung, nach ‚Zukunftssinn‘ nicht zugleich zu verflüchtigen, sondern im fiktiven und kompensatorischen Spielraum der Literatur neue Artikulationsformen zu suchen.“ Frick (1996: 136).
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Die transzendierende Vision muss hermeneutisch durch das empfangende Medium erschlossen werden. Im Fall von D’Annunzio nach der „maniera delle Sibille“128. Da „dem prophetischen Sprechen […] performative Züge“129 zukommen, unterstützte die prophetische Rolle die Auffassung einer wirksamen, weil magischen Sprache. Im Vorwort zu seinem Roman Der Triumph des Todes (1894) umriss D’Annunzio sein Ideal der italienischen Prosa: Oft haben wir gemeinsam über ein ideales Buch moderner Prosa nachgedacht, das – reich an Klängen und Rhythmen wie ein Gedicht und in seinem Stil die verschiedenen Vorzüge des geschriebenen Wortes miteinander verbindend – die ganze Vielfalt des Wissens und des Mysteriösen harmonisch zusammenfügen würde. In dem sich die Genauigkeit der Wissenschaft mit den Verführungen des Traumes abwechseln würde […].130
Die ideale Prosa sei ein Gemisch aus Darstellung und Fülle von Wissen einerseits und Suggestion und Evokation von Mysteriösem, Traumhaftem andererseits. D’Annunzio nahm hierzu ältere und ungewohnte Wortbedeutungen in seinen Wortschatz auf, verwendete Archaismen sowie lateinische und altgriechische Begriffe. Er machte auf diese Weise nicht nur antike Wortbedeutungen wieder für seinen und für den allgemeinen Sprachgebrauch fruchtbar, sondern erweiterte vielmehr den poetischen Wortschatz. Zugleich gewann er dadurch einen poetischen, hohen Ton, den er – vor einer Volksmenge oder vor einer Festgesellschaft – unverändert durchhielt. Er zeigte mit seinem ziselierten Wortschatz ferner auf, dass er sprachkompetent war, was seinem Ethos als poeta-oratore zugutekam. Bei der Gestaltung der Syntax orientierte er sich am ciceronianischen Periodenbau, denn „Silben [einer Periode] haben, jenseits ihrer idealen 128 D’Annunzio (2005: 162). Zur Inszenierung D’Annunzios als Seher, Prophet und Medium, das zwischen den Gefallenen und den Hinterbliebenen vermittelt, vgl. Campbell (2006). Interessanterweise änderte sich im Notturno auch der Stil von D’Annunzio, was – möchte man ihm Glauben schenken – auf das neue Schreibvorgehen zurückzuführen war. Die eingeschränkte Sehfähigkeit und Beweglichkeit zwangen ihn, auf einlinigen Kärtchen zu schreiben, sodass die Sätze kürzer und konziser ausfielen; dazu ebenfalls Campbell (2006: 93): „Shorter sentences and the pronounced lack of dependent clauses in favor of a simpler subject-predicate structure are the principal effects of the Sibylline writing system.“ Dass die Rolle als Prophet nicht nur bei D’Annunzio Anwendung fand, erkennt man an Carlo Delcroix. Durch eine Bombe verlor er das Augenlicht und trat nach dem Krieg als Politiker, Journalist und Vertreter der Kriegsversehrten (ANMIG) in Erscheinung. Seine Reden publizierte und inszenierte er als ‚Meditationen‘, als ‚Opfer‘ und äußerte sogar, dass „[p]er un cieco l’eloquenza è una fonte di vita e di luce“ Delcroix (19273: 11). Lesenswert diesbezüglich sind seine Redensammlungen: Il sacrificio della parola (19263) sowie La parola come azione (1936). 129 Wacker (2013: 31). 130 D’Annunzio (1988: 639).
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Bedeutung, in ihren zusammengefügten Klängen eine suggestive und bewegende Kraft.“131 Sein erklärtes Ziel war eine plastische, bild- und klangreiche Prosa, die im wagnerischen Sinne zu einem Gesamtkunstwerk werden sollte. Der Literaturkritiker Borgese urteilte 1909 folgendermaßen über den Dichter: „Auch der schlechte d’Annunzio – jener der Apostrophen und der moralischen Sophismen – Verächter der Menge und Apologet des schönen Tyrannen, ist ein Redner ohne Piazza. Außerdem ist sein Stil vom demagogischen Vorurteil der bombastischen Fülle dominiert. Und der Ton seiner Periode stammt aus den Vorschriften und Beispielen des Orator [von Cicero].“132 Noch fehlte das Setting für D’Annunzios opulenten style d’images. Das Jahr 1915 bot ihm aber eine passende Gelegenheit. Ein Auszug aus der Rede vom 17. Mai 1915 mag die Anlehnung an Cicero verdeutlichen. Die Ansprache hielt der Dichter kurz vor der Wiedereröffnung des Parlamentes von einer Tribüne auf dem Kapitol in Rom aus: So höret! Das Verbrechen des Verrats wurde geklärt, bewiesen und verurteilt. Die schändlichen Namen sind bekannt. Bestrafung tut not. Laßt euch nicht täuschen, laßt euch nicht betrügen, laßt euch nicht mitleidig stimmen.133
Dieses nur sehr kurze Zitat weist nicht nur Parallelismen, Iso- und Trikola auf, sondern ähnelt dem Stil und dem appellativ-dringlichen Ton der ersten Catilinarischen Rede Ciceros. D’Annunzio fiel ansonsten vor allem durch seine 131 D’Annunzio (1988: 642). Vgl. zur Überzeugungskraft einer wohlgeformten und melodischen Periode Cic. De or. III. 197. Zur lateinischen Kunstprosa als Vorbild für die italienische Kunstprosa siehe das noch immer beachtliche Werk von Eduard Norden (19585) und zur Kunstprosa bei D’Annunzio im Speziellen die Studie von Beccaria (1964). Bruno Migliorini weist auf die Vorliebe für „parole di ritmo sdrucciolo“ (1990: 272), also auf daktylische Klauseln, hin. 132 Borgese (1909: 154 f.), Kurs. i. Orig. Im Versuch D’Annunzio in die italienische Literatur einzuordnen vollzog Borgese einen ähnlichen Gedankengang wie Ruggiero Bonghi vor ihm: Die italienische Literatur sei in beträchtlichem Maß beeinflusst von einem Ciceronianismus, der schnell dazu geführt habe, einen leeren Formalismus auszubilden: „Meglio dir bene che dir qualcosa.“ Ebd. (154). An derselben Stelle wird Demosthenes diesem ‚ciceronianischen‘ D’Annunzio entgegengestellt. Der von Borgese wahrgenommene Formalismus entstand aus der Inadäquatheit von Rede, Redeanlass und Setting: Die Regeln der antiken Rhetorik seien für die damalige Zeit passend gewesen, nicht aber für das 20. Jahrhundert. Des Weiteren fällt Borgese auf, dass D’Annunzio monoton und zu perfekt in der Ausgestaltung seiner literarischen Produkte sei: manche Themen wären völlig ausgeschlossen und der gesuchte Ausdruck nicht immer passend für die Sache, vgl. ebd. (142). Der D’Annunzio solare, also bis 1916, kann stilistisch gesehen als Ciceronianer kategorisiert werden. 133 D’Annunzio (1992: 10). Mit den Verschwörern meint D’Annunzio die inneren Feinde Italiens, u.a. Giolitti und seine Anhänger. Santini (1938: 328) bemerkt, dass D’Annunzio sich wie ein Römer aus dem antiken Rom anhöre.
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sakrale Lexik, die er oft metaphorisch gebrauchte, auf: Er beschrieb Italien als leidenden Christus. Abgestürzte Flieger stellten ein Brandopfer (olocausto) dar.134 D’Annunzio legte seinen rhetorischen Schwerpunkt auf die Stilistik, die Argumentation rückte hierbei in den Hintergrund. „Keine komplexen Gedankengänge, keine Abfolge aus Ursache und Wirkung, keine Zahlen und keine technischen Fachausdrücke“135, so das Urteil Pedullàs. Hierin unterschied sich D’Annunzio von Giolitti oder Cavour. Diese pathetische und mobilisierende Rhetorik bediente jedoch die Erwartungen der Regierung, der Nationalisten und der Anhänger einer Patria-Rhetorik. Vergleich von Crispi und D’Annunzio mit Mussolini Am Ende dieses Abschnittes steht der Vergleich der beiden Redner mit Mussolini. Interessanterweise wurden sowohl Crispi als auch D’Annunzio von Parlamentariern und der Öffentlichkeit dem Typus einer nationalen PatriaRhetorik zugeordnet. Angesichts der hier ausgearbeiteten Redner-Portraits mag dies verwundern.136 Crispi war in vielerlei Hinsicht – womöglich durch institutionelle Verpflichtungen – zurückhaltender im Stil. Er war im Gegensatz zu D’Annunzio mehr als nur ein Volkstribun. Beide sprachen in leidenschaftlichem Ton über ihre Helden- und Kriegstaten und erzeugten so ein Ethos des Helden in der Öffentlichkeit, das sie bewusst pflegten. Anstatt Argumente zu widerlegen, polemisierten sie gegen ihre Gegner. Die Wahrnehmung einer großen Übereinstimmung zwischen den Rednern rührte von ihrer gemeinsamen Topik her, wenn sie die Größe Italiens in ihren Reden thematisierten und dabei die Geschichte des Risorgimento oder des alten Roms als Zeugen aufriefen. Stilistisch lag zwischen Crispi und D’Annunzio jedoch ein unüberwindbarer Graben. 134 Vgl. Guasco (2014: 341) sowie Leso (1994: 739 f.) als auch Santini (1938: 328). Esposito (2011: 116) gibt eine Deutung dieses Phänomens: „In der extremen Grenzsituation des Ersten Weltkrieges bedurften zum einen das Töten und das Sterben einer Sinngebung und Legitimation. Zum anderen war es vonnöten, einen semantischen Raum zu schaffen, der eine Möglichkeit bot, die Begegnung mit der Fremde, dem Fremden sowie dem Unbekannten, welches die ‚moderne Welt‘ für große Bevölkerungsteile darstellte, in den persönlichen und kollektiven Sinnhorizont zu integrieren.“ Die Stichworte von Sakralisierung oder Ästhetisierung der Politik (vgl. Gentile (20096) oder Falasca-Zamponi (2000)) treffen bei D’Annunzio vollkommen zu. 135 Pedullà (2011: LV). 136 Auf diesen Widerspruch weist Pedullà (2011: LX f.) in seinen Ausführungen hin: Crispi müsste eigentlich dem englischen (attizistischen) und D’Annunzio dem französischen (asianischen) Rednermodell zugewiesen werden, wenn man den damals vorherrschenden stilistischen Bewertungsmaßstab anlegen würde.
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D’Annunzio hatte eine ganze Generation literarisch beeinflusst. An ihm schieden sich die Geister in D’Annunzio-Befürworter und -Gegner. Bei Mussolini selbst zeigten sich Züge sowohl der einen wie der anderen Richtung. Dannunzianisch war das vom Dichter-Kommandanten etablierte Kommunikationsmodell mit der Menge, das sich durch das hohe Pathos und durch die rhetorischen Fragen auszeichnete. Mussolini wandte sich aber konkret von D’Annunzio da ab, wo es die Umstände geboten: Zum einen war Mussolini weniger reich und gesucht im Ausdruck. Vergleicht man die religiösen Lexeme oder Metaphern von D’Annunzio mit denen Mussolinis, so fällt vor allem der exzessive Gebrauch des einen und der zurückhaltende, sich auf nur wenige Themen beschränkende des anderen auf. Zum anderen passte Mussolini sich mehr dem konkreten Anlass und seinem Publikum an und variierte dementsprechend die Stilregister.137 1921 urteilte Mussolini über D’Annunzio folgendermaßen: „D’Annunzio ist ein Genie. Er ist der Mann der außergewöhnlichen Stunden, nicht der alltäglichen Praxis.“138 D’Annunzio sei ganz und gar Festredner gewesen. Im Gegensatz dazu stellte Mussolini den pragmatischen Politiker dar, dessen Aufgabenbereich mehr umfasste als schöne Reden zu halten. Deswegen müsse der Politiker sowohl effizient als auch ökonomisch reden. Hermann Ellwanger vertrat schon 1939 die Ansicht, dass Mussolini weniger von D’Annunzio übernommen habe als allgemein angenommen: Ohne weiteres ist auch anzunehmen, dass er dann und wann ein literarisches Echo aufgenommen und für seine Gedanken- und Sprachgestaltung verwertet hat. Aber diese Fälle scheinen zu selten und zu unbedeutend, als dass wir in ihnen eine spürbare Beeinflussung oder gar ein bestimmtes, Mussolinis Sprachgestaltung leitendes Vorbild erkennen können.139 137 Vgl. Pedullà (2011: LVIII), der dies durch ein Lehrer-Schüler-Verhältnis beschreibt: „Come tutti i buoni allievi, Mussolini prese da D’Annunzio solo quello che gli era strettamente necessario, perché […] gli stili dei due uomini erano davvero troppo diverso.“ Auch bei D’Annunzio sind Weiterentwicklungen zu sehen, die man allerdings mehr den Weltkriegsereignissen und dem sich ausbildenden tono medio in der Literatur und im Journalismus in Rechnung stellen muss. Der späte D’Annunzio des Notturno von 1916 besaß eine sehr fragmentierte Syntax und verließ somit das klassizistische Modell des komplexen periodare, vgl. Marazzini (2011: 197). 138 Mussolini OO (17: 220): „D’Annunzio è un uomo di genio. E’ l’uomo delle ore eccezionali, non è l’uomo della pratica quotidiana.“ Andernorts sprach Mussolini D’Annunzios Reden eine faszinierende Wirkung zu: „l’eloquenza ammaliatrice di Gabriele d’Annunzio“, Mussolini OO (18: 532). 139 Ellwanger (1939: 127). Direkte Motive bzw. Zitate aus D’Annunzio finden sich vor allem bei Mussolini an den Stellen, wo sie thematisch passen. Sie spiegeln die Lieblingssthemen des poeta-vates wider: die Luft- und Seefahrt. Vgl. hierzu den Discorso di Taranto von Mussolini
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Dass dieses Urteil nicht unbedingt von vornherein als apologetisch und somit als abwegig angesehen werden muss, zeigt Elisa M. Garrido, die vom stilistischen Vatermord Mussolinis an D’Annunzio nach 1925 spricht.140 In den 30er Jahren lagen die Gemeinsamkeiten zu D’Annunzio und Crispi vor allem in der Anbindung an einen nationalistischen Diskurs, dessen minimaler Nenner die Größe Italiens war. Stilistisch lag Mussolini auch durch seine Sozialisation und seinen beruflichen Werdegang als Journalist näher an Crispi. Beide inszenierten ein doppeltes Ethos aus den Rollen des fortschrittlichen Revolutionärs und heimatverbundenen Staatsmanns. Auf diese Weise waren sie für ein breites Publikum anschlussfähig. Dies waren also die Anknüpfungspunkte zur Patria-Rhetorik bei Mussolini. Eine weitaus wichtigere Rolle spielte allerdings die sozialistische Bildung und Parteizugehörigkeit des kommenden Diktators, ergab sich doch daraus die eigentümliche Mischung einer modernisierten Patria-Rhetorik. Im folgenden Abschnitt wird die sozialistische Rhetorik und das, was Mussolini daraus machte, behandelt. 3.3
Sozialistische Rhetorik
Die sozialistische Rhetorik in Italien ist genau wie die sozialistische Partei (Partito Socialista Italiano, PSI) in mehrere Richtungen zu unterteilen und wies spezifisch kulturelle wie ideengeschichtliche Ausprägungen auf.141 Diesen verschiedenen Ausformungen der Rhetorik lassen sich allerdings bestimmte politische Programme, Personen und Ziele zuordnen. Ziel dieses Unterkapitels ist es, eine Übersicht der Hauptströme der sozialistischen Rhetorik und Propaganda zu geben, die dann mit dem rhetorischen Werdegang Mussolinis verbunden werden.142 Im sozialistischen Umfeld machte Mussolini seine 1934 OO (26: 323) mit dem Beginn der Laudi (Alle pleiadi e ai fati) von D’Annunzio (1912: 1). Ausgenommen von Ellwangers Befund sind ebenso die Imperiumsreden Mussolinis von 1936, die deutlich literarische Anklänge an Carducci und Pascoli verraten, vgl. die Kap. 4.3.3.2 und 4.3.3.4. 140 Vgl. Garrido (1998: 228). 141 Vgl. Vidal (2007: 1032): „[J]ede einzelne sozialistische Bewegung sowie auch die jeweilige Rhetorik [ist] von der jeweiligen nationalen Geschichte und Umgebung geprägt“. Wenn in diesem Unterkapitel eine idealtypische Unterscheidung in zwei große Rhetorik-Entwürfe vorgenommen wird, dann dient dies der Bündelung von individuellen Tendenzen, die in ihrer Gesamtheit komplexer ausfallen müssten. 142 Der Begriff Propaganda war in der sozialistischen Bewegung positiv konnotiert und entsprach der Auffassung, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte. Ihr Ziel bestand in Analogie zur religiösen Propaganda in der Verbreitung von politischen Ideen und Ideologien mithilfe verschiedener Formen. Dabei geht die Wirkrichtung nicht nur nach außen
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ersten praktischen Erfahrungen als Redner, und hier wurde er auch in seinen politischen Ansichten geprägt. 3.3.1 Die ‚intransigente Propaganda‘ Propagandafragen wurden im italienischen Sozialismus generell sehr früh virulent. Bereits drei Jahre nach der Gründung des PSI, im Jahr 1892, wurden in Mailand Rednerschulen eingerichtet und auf dem IV. nationalen Kongress in Florenz 1896 wurde eine Tagesordnung verabschiedet, die eine Handreichung für sozialistische Redner in Auftrag gab.143 Konzeptuell war die frühe Rhetorik des PSI vor allem von einer Vorstellung des Sozialismus als Religion mit missionarischem Weltverbesserungsauftrag geprägt. Die Sozialisten nahmen sich für ihr Anliegen die katholische Predigttradition zum Vorbild. „Wie diese moralische Tendenz, ein Charakteristikum des italienischen Sozialismus, erklären?“144, fragte der Soziologe und Kenner des italienischen Sozialismus Robert Michels. Er führte als Erklärung das Risorgimento sowie den verbreiteten Kult um Giuseppe Mazzini an. Dieser moralischsentimentale Frühsozialismus sei lokal in der Emilia-Romagna und dem Piemont zu verorten und werde durch Edmondo De Amicis, Camillo Prampolini und Oddino Morgari verkörpert.145 Die beiden Letztgenannten prägten die intransigente Propaganda146 insofern, als dass die quasi-religiöse
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(Mitglieder werben), sondern auch nach innen (Mitglieder mobilisieren). Generell jede politische Mobilisierung könnte also diesem Verständnis von Propaganda subsumiert werden, vgl. zur Begriffsentwicklung Bussemer (20082: 26–29) und Starkulla jr. (2015: 243 f.). Vgl. Pisano (1986: 19): „È infatti considerevole il peso che i socialisti italiani mostravano di attribuire agli aspetti più strettamente oratori dell’attività propagandistica.“ Wenn also im Folgenden von Propaganda gesprochen wird, ist damit vor allem ihre mündliche Form gemeint. Rhetorik und Propaganda werden synonym gebraucht. Die angesprochene Handreichung erschien unter dem Titel: Piccolo manuale dell’oratore socialista ad uso degli operai e contadini (1896). Ein Wiederdruck findet sich bei Pisano (1986: 283–294). Michels (1908a: 280). An diese Stelle ist es nützlich, sich einer von Max Weber (2008: 70 ff.) eingeführten Unterteilung zu vergegenwärtigen: Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Der intransigente Flügel des PSI, der die moralischen Qualitäten seiner Tätigkeit und Einstellungen immer wieder hervorhob, verfolgte eine Gesinnungsethik. Den Reformisten und Parlamentariern des PSI wurde ihr ‚Verrat‘ an den hehren Prinzipien vorgeworfen. Diese orientierten sich doch wohl eher an der Weber’schen Verantwortungsethik. Vgl. Michels (1908a: 279 ff.). Das Modell der intransigenten Propaganda, erhielt ihren Namen vom Charakterzug der Intransigenz/Unnachgiebigkeit. Diese wurde von den Zeitgenossen entweder als Prinzipientreue gelobt oder als Halsstarrigkeit getadelt. Intransigenz bezeichnete das Festhalten an Überzeugungen, mit dem Ziel ihrer vollständigen Durchsetzung. Zur Erreichung dieser Ziele wurden bestimmte kommunikative Formen und Mittel angewandt.
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Richtung auch Prampolinismo genannt wurde und Morgari diesbezüglich einen theoretischen Beitrag mit seiner Arte della propaganda socialista (1896) erbrachte. Inhaltlich zielte diese Rhetorik auf Themen wie Klassenkampf, Kollektivismus, Urchristentum und Gerechtigkeit ab. Enrico Ferri umriss die wichtigsten Motive in Die revolutionäre Methode von 1908 wie folgt: Ich bin ein ‚Revolutionär‘, weil sich meine Arbeit hauptsächlich auf die Propaganda des Endziels und des letzten Programms des Sozialismus erstreckt und weil ich nicht müde werde, immer wieder zu erklären und zu wiederholen und zu vulgarisieren: Kollektivismus und Klassenkampf!147
Rhetorik wurde von Ferri für die Letztziele des Sozialismus eingesetzt und sollte zum aktiven Klassenkampf motivieren. Die grundlegende Denkfigur dieses Sozialismus war die Antithese: Proletariat gegen Bourgeoisie, besitzlose Klassen gegen Besitzende, Masse gegen Elite. Im Hintergrund stand das metaphorische Konzept: POLITIK IST KRIEG. Daraus ergab sich eine eigentümliche rhetorische Ausgestaltung, nämlich die polemisch-aggressive Revolutionsrhetorik. Francesca Rigotti rechnet in ihrer Studie Die Macht und ihre Metaphern den Sozialismus zum polemischen Bekenntnis, denn er bediene sich einer kriegerischen Metaphorik. Das heißt er ist „dem konfliktbetonten Geist des Kampfes stärker zugeneigt“148 als es vergleichsweise liberale Positionen sind. Nachdem die nationale Frage sich durch die Staatsbildung Italiens 1861 erübrigt hatte, blieb die soziale Frage weitgehend ungelöst. Der frühe und radikale Sozialismus strebte eine grundlegende Umwälzung der Verhältnisse an. Träger dieser Revolution sollten die Arbeiter in der Stadt und die Tagelöhner auf dem Land sein. Um die angestrebte Revolution zu realisieren, kam dem Pathos eine zentrale Rolle zu.149 „Es lag in dem vorzugsweise ethischen Wesen der Internationale in Italien, daß sie sich mit Vorliebe an das Herz wandte.“150 Die emotionale Umsetzung, die Hinwendung zum Herz, zeichnete sich sprachlich in der Anlehnung an die 147 Ferri (1908: 78), Kurs. i. Orig. gesperrt. Mit dem „letzten Programm“ meinte Ferri die maximale Ausrichtung an Zielen wie Revolution und Kommunismus. Im Unterschied dazu vertraten die Reformisten ein Minimal-Programm, welches konkrete Forderungen beinhaltete. 148 Rigotti (1994: 62, s. auch 68–72 sowie 200–204). Dem polemischen Bekenntnis ordnet sie außerdem zu: Konservatismus, Marxismus, Imperialismus, Romantizismus und Faschismus. Dem harmonischen Bekenntnis weist sie den Utilitarismus, Humanismus und Liberalismus zu. 149 Vgl. zur Revolutionsrhetorik: Robling (2005b: 1313), zu Mussolini s. ferner Huss (2005: 1353 f.). 150 Michels (1908b: 19).
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Predigt ab: einfache Syntax, leichtverständliches Vokabular, Veranschaulichung durch Beispiele, Zitate, Vergleiche oder Statistiken.151 Im Piccolo manuale dell’oratore socialista (1896) von Dino Rondani findet sich zum Beispiel ein Florilegium der Kirchenväter zum Thema soziale Gerechtigkeit und Kollektivbesitz, das als argumentative Topik verwendet werden konnte.152 Mussolini selbst hielt Reden mit ähnlicher Ausrichtung als conferenziere (Konferenzredner): „Genosse Mussolini sprach mit beneidenswerter Kompetenz über das Christentum und den Sozialismus.“153 Die Einfachheit und Emotionalisierung lässt sich ebenfalls durch den Adressatenkreis erklären, welcher mit dieser Rhetorik anvisiert wurde: „Wer spricht, darf nie vergessen, dass fast alle Zuhörer Arbeiter sind, das heißt Leute ohne Bildung.“154 Diese propaganda elementare wurde vor allem auf dem präindustriellen, bäuerlichen Land angewandt, weniger in den schon wirtschaftlich vorangeschrittenen städtischen Zentren wie Mailand oder Turin.155 Der Bildungsgrad des Publikums wurde somit berücksichtigt. Beredsamkeit des Herzens: die Konferenz Bevorzugtes Setting dieser Art von Reden waren die Konferenzen. Im Wörterbuch von Niccolò Tommaseo und Bernardo Bellini finden sich unter dem Lemma Conferenza folgende Punkte: Sie stelle ein Gespräch dar (Colloquio), eine Art von Unterweisung (Pel Comunicare altrui i proprii pensieri) und könne 151 Vgl. Rossi (1880: 28). Er unterschied zwei Predigtarten: 1. die eloquenza sublime, 2. die eloquenza popolare. Letztere setze auf die Verständlichkeit und Eindringlichkeit des Gesagten und passe sich besonders an ihr einfaches Publikum an. Auch werden die oben genannten Stilmittel als Charakteristik der volkstümlichen Beredsamkeit genannt, vgl. ebd. (52). Die sozialistische Rhetorik stand in der von Augustinus begründeten sermo humilis-Tradition, vgl. Pisano (1986: 21). Das Piccolo manuale von Dino Rondani (1896) zit. nach Pisano (1986: 283) riet zu ebensolchen sprachlichen Mitteln: Der sozialistische Redner „[d]eve essere sobrio, chiaro, preciso, breve.“ 152 Vgl. Rondani (1896) zit. n. Pisano (1986: 293 f.). 153 Mussolini OO (2: 293). Weitere Themen, über die Mussolini Konferenzen abhielt, waren: eine Gedenkveranstaltung für Giordano Bruno und die Pariser Kommune, für Andrea Costa, über den Antiklerikalismus/Sozialismus, über die soziale Frage, s. Mussolini OO (3: 70). 154 „Chi parla deve mettersi in mente che gli ascoltatori per quasi la totalità sono lavoratori, che è quanto dire gente digiuna d’istruzione.“ Rondani (1896) zit. nach Pisano (1986: 283). 155 Vgl. Pisano (1986: 29, 50). Neben der mündlichen Medialisierung, z.B. in Form der (Wahlkampf-)Rede, nutzte der PSI auch schriftliche Formen wie Flugblätter und Zeitschriften. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch, dass noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die auditive Rezeption überwog: „Si l’analphabétisme dominait dans le pays, la lecture à haute voix des journaux permettait de pallier cet obstacle majeur.“ Brice (2001: 56).
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auch mit einer vorbereiteten Rede auf der Grundlage eines ausformulierten und abgelesenen Textes gleichgesetzt werden (Un discorso recitato dal pergamo). Üblich sei diese Form vor allem im politischen, kulturellen und religiösen Bereich gewesen.156 Emilio Santini bezeichnete die Konferenzrede als „forma oratoria eminentemente popolare“157, die im 19. Jahrhundert weite Verbreitung fand. Der Ursprung der Redeform lag in Frankreich. Dort war sie im 19. Jahrhundert aus den Akademien und Universitäten in die Öffentlichkeit gelangt und erfüllte mehrere Aufgaben. Zum einen war sie eine Bildungsinstitution zur Verbreitung von Wissen, zum anderen ein intellektueller Zeitvertreib. Selbst die katholischen Geistlichen übernahmen diese Form für ihr Anliegen. In Frankreich tat sich Pater Henri-Dominique Lacordaire in seinen Conférences de Notre-Dame hervor, um „dans une langue qui allât au cœur et à la situation de nos contemporains“158 den christlichen Glauben apologetisch zu verteidigen. Die Conférence verfolgte mit ihren gemischten Zielsetzungen das Ansin nen, ein heterogenes Publikum zu erreichen. Émil Deschanel – einer der bekannteren Conférenciers in Frankreich – erklärte 1870 in Les conférences à Paris et en France mit aufklärerischem Impetus: „Nous faisons avec la parole ce que le journal fait avec la plume. La Conférence est donc, comme le journal, un des instruments du progrès, une des formes de la liberté.“159 Konferenzen schüfen Öffentlichkeit („libre-échange des idées; c’est le selfgovernment de la pensée“160), informierten und berichtigten falsche Ansichten, indem sie diesen die (wissenschaftliche) Wahrheit entgegensetzten. Der Optimismus, den Deschanel vertrat – in seinem Selbstverständnis seien die Konferenzredner mit den Aposteln des Urchristentums zu vergleichen, die die ‚gute Nachricht‘ 156 Vgl. Tommaseo/Bellini (1865, Vol. 1, 2: 1606). 157 Santini (1938: 267). Anscheinend wurden im 19. und 20 Jahrhundert so viele Konferenzen abgehalten, dass conferenza synonymisch für discorso gebraucht wurde, vgl. Lexicon Vallardi (1889, Vol. 3: 457). 158 Lacordaire (1844: 8). Lacordaire merkt im Vorwort seiner später veröffentlichten Conférences an, dass diese weder dogmatische Belehrung, noch reines Streitgespräch, sondern vielmehr eine Mischung aus beidem seien. Die Konferenzen waren als praeambula fidei gedacht und sollten aufklärerische Ideen (Pantheismus, Naturalismus, Rationalismus, Liberalismus, Sozialismus) widerlegen. Zur Vertiefung s. Vercesi (1938: Kap. 5). 159 Deschanel (1870: 7). Auch Majorana (1909: 263 f.) machte einen ähnlichen Vergleich bzw. eine Analogie auf: wie der akademische Vortrag zum Buch, so verhalte sich auch die Konferenz zum Zeitungsartikel und ergänzte noch das Kino, denn die „eloquenza [scil. della conferenza] oscilla fra l’accademia e l’arte drammatica“, ebd. (266). Im Laufe der Zeit habe sich die Konferenz in Italien eher in Richtung Unterhaltung entwickelt. Die skeptischen Töne, die Majorana anschlug, dass die Konferenzen nämlich oberflächlich konsumiert würden, verdecke ihren Verdienst der Wissensverbreitung. 160 Deschanel (1870: 64), Kurs. i. Orig.
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von Stadt zu Stadt brächten – spricht für das ungebrochene Vertrauen in eine positivistische Wissenschaft.161 Die Konferenz, so stellte ein Prälat mit Entsetzten fest, „[c]’est la prédication laïque.“162 Sie sei für ein großes und auch sehr unterschiedliches Publikum gedacht, „à l’usage des gens du monde qui aiment un passe-temps intellectuel, tantôt à l’usage du peuple, qu’il faut nourrir de la vraie viande de l’ésprit.“163 Deschandel gab zu bedenken, dass die Konferenzen sich an alle adressierten, besonders aber an Arbeiter und Frauen, die bis dato von (höherer) Bildung gänzlich ausgeschlossen waren. Daraus ergibt sich folgerichtig, dass er einen klaren, natürlichen und herzlichen Stil einforderte, denn die „[c]onférence est surtout causerie.“164 An anderer Stelle bezeichnet er sie als „une conversation publique, sous forme de monologue varié“165. Das Insistieren auf den gesprächsartigen Charakter der Konferenz legt nahe, dass romantische Vorstellungen greifen: Obwohl die Rede monologisch gehalten wird, kommt dem Publikum eine gleichwertige Rolle zu. Die Dialogizität der Rede, als auch ihre Ereignishaftigkeit werden betont. Ein weiteres Indiz hierfür ist die eingeforderte „véritable éloquence du cœur“166, eine Vortragsart also, die sich in gegenseitiger Sympathie ausdrücken solle. Die Argumentation der Conférences war oft synthetisch-raffend, da sie eine Übersicht über das behandelte Thema geben und als Anregung zum Lesen dienen sollte.167 Wie zeigte sich das Phänomen der Conférence nun in Italien? Üblicherweise wurden die Vorträge über Zeitungsannoncen, Flugblätter oder Plakate angekündigt und fanden – auch wegen der rechtlichen Versammlungseinschränkung für die Sozialisten in Italien bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – in den örtlichen Camere di Lavoro oder in seltenen Fällen im Theater statt.168 Die Bekanntmachung einer Conferenza sowie ihr spezifisches 161 Vgl. Ebd. (64). 162 Ebd. (49). Dies hieße, dass die Konferenz die Funktion der Predigt beerbt hätte. 163 Ebd. (7 f.). An anderer Stelle hob Deschanel hervor, dass die „Conférences s’adressent au public tout entier: institution essentiellement démocratique. Elles parlent, selon l’heure et le lieu, soit à un auditoire lettré, soit à la foule pêle-mêle.“ Ebd. (47). Majorana (1909: 263: „parlano a tutti, anche ai men dotti“) und Madìa (1959: 827) bestätigen, dass die conferenze sich in Italien an ein weites Publikum wandten. 164 Deschanel (1870: 53). 165 Ebd. (62 f.). Zum Gedanken, dass die Rede ein Gespräch sei vgl. Müller (1983: 29): „Was tut also der Redner anders als mit Bewußtsein das, was in jedem wahren Gespräch bewußtlos geschieht“? 166 Deschanel (1870: 55). 167 Vgl. Deschanel (1870: 62). 168 Gervasoni (2008: 111) führt dazu aus, dass bis zur Einführung des Codex Zanardelli 1889 politische Veranstaltungen im Freien schwer durchführbar waren und auch danach leicht beschränkt werden konnten, wenn Verdacht auf Schüren von ‚Klassenhass‘ (Art. 120)
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Thema stellten bereits eine Selektion der Zuhörerschaft dar. Nur wer Zeit für und Interesse an einem Vortrag hatte, nahm daran teil. Nach einer Conferenza wurden die Reden häufig entweder in Zeitschriften oder Parteiorganen abgedruckt. Auch Monographien oder Hefte, die mehrere Vorträge sammelten, waren geläufig und zielten darauf ab, ein weites Publikum anzusprechen. Nicht unerwähnt dürfen die Zeitschriften bleiben, in denen viele der Reden abgedruckt wurden und die ein gesteigertes Interesse an den Erzeugnissen kultureller Bildung verraten. Hier eine Auswahl: Conferenze e prolusioni (seit 1907), 1924 umbenannt in La parola; L’eloquenza (seit 1911); L’eloquenza siciliana (1923); Oratori del giorno (1927). Auf diese Weise entstand ein kulturelles Netz um die Vorträge selbst. Die Conferenze wurden von Privatleuten in literarischen Zirkeln, von Instituten für Volksbildung (università popolari), von ortansässigen Parteisektionen oder von Seiten des Staates als Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte organisiert. Angestrebtes Ziel der Konferenzen war die Popularisierung von Wissen. Sie fanden meistens in einem institutionellen Rahmen statt. Die Redner wurden häufig eingeladen und wiesen sich durch ihr Expertentum aus. Generell nahmen diese aufgrund ihrer Ausbildung und der damit erworbenen Stellung die Rolle des in der Öffentlichkeit auftretenden Intellektuellen wahr. Sie bewegten sich in der Kontaktzone von wissenschaftlichem und öffentlichem Diskurs. Rhetorische Kompetenz war somit Vermittlungskompetenz. Gefragte Conferenzieri in Italien waren: der Geologe Antonio Stoppani, der Historiker Ernesto Masi, der Schriftsteller Enrico Panzacchi oder der nationalistische Politiker Enrico Corradini.169 Die Konferenz entwickelte sich mit der Zeit weiter und wurde mit dem Aufkommen des Rundfunks auch für diesen unter dem Namen der conversazione fruchtbar gemacht. In der Umbenennung kam der ursprünglich kolloquiale Gedanke der Conférence erneut zum Tragen.170 Reden auf der Piazza: das Komitium Ein weiteres Setting, das die Sozialisten nach den gesetzlichen Lockerungen für die Versammlungsfreiheit im Gegensatz zu den Liberalen nutzten, war bestand. Veranstaltungen unter freiem Himmel trugen den Namen comizio, mehr dazu s.u. 169 Für eine genauere Beschreibung der einzelnen Qualitäten dieser Redner s. Santini (1938: 277–281) sowie Madìa (1959: 829 ff.). 170 Vgl. Valsangiacomo (2011: 546 und 559). Madìa (1959: 837 ff.) unterstreicht, dass ‚wahre Beredsamkeit‘ nur mit der Kopräsenz von Redner und Publikum gegeben sei und versteht die conversazioni lediglich als eine ars bene legendi, da die oratorische Performanz und Rückmeldung durch das Publikum im Radio fehle.
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die Piazza. Oft wurde dieser Veranstaltungstyp Komitium (comizio) genannt. Im Unterschied zu den Demonstrationen waren die Komitien unbeweglich und auf die Piazza beschränkt.171 Anlässe dazu gab es zuhauf, so zum Beispiel regionale oder nationale Wahlen, der erste Mai als Arbeiterfeiertag oder ein Begräbnis eines Genossen. Immer war jedoch der konkrete Anlass ausschlaggebend für die rednerische Zielsetzung. Die Piazza diente als Kontaktzone zwischen Redner und Masse. Dieses kommunikative Setting erhielt gleich mehrere Funktionen. Zu nennen wären: die politische Mobilisierung, die Artikulation von Meinungen, die Partizipation am öffentlichen Diskurs sowie die Schaffung einer gemeinsamen Identität und eines geteilten Wertehorizontes. Sie [die Demonstration] ist ein neues Medium der Wortmeldung, ermöglicht die Beteiligung nicht-bürgerlicher Gruppen am übergreifenden politischen Werteund Normendialog der bürgerlichen Gesellschaft, dessen parlamentarischer Vollzug sie auf außerparlamentarischen Wegen kommentiert und konterkariert.172
Wolfgang Kaschubas Einschätzung einer gesteigerten Bedeutung der Massen wird nochmals klarer, wenn man das nur für Männer zugelassene Zensuswahlrecht in Italien und die damit verbundene Altersbeschränkung berücksichtigt. Zu Beginn des Königreichs Italien wählten gerade einmal knapp zwei Prozent der Bevölkerung das Parlament.173 Durch solche Komitien wurde eine lokale Teilöffentlichkeit hergestellt, die ihren Beitrag für die Gesamtöffentlichkeit leistete, indem sie die nicht berücksichtigten politischen Ansprüche sichtund hörbar machten. Die Komitien erweiterten somit die etablierte liberale Öffentlichkeit.174 Die Piazza, auf der die Komitien stattfanden, förderte bestimmte rhetorische Charakteristika des Redners. Angelo Majorana nannte in seiner L’arte di parlare in pubblico (1909) unter anderem: Ausdrucksstärke der Stimme; hohe und heftige Intonation; großes und ausgiebiges Gestikulieren; die nach vorne gelehnte Stellung der Brust; Reichtum in der Ausdrucksweise; fortwährender Hang zu allgemeinen Ideen, gespickt mit 171 Vgl. Majorana (1909: 311). Er unterscheidet in statische und dynamische Versammlungen. Statisch seien das Theater, die Konferenz und die Piazza. Das Publikum komme zusammen, sitze oder stehe, höre die Rede und diskutiere ggf. im Anschluss. Dynamische Veranstaltungen wie Demonstrationen oder Protestzüge spielten sich im Freien ab und nutzten die Straßen der Stadt. Eine Rede – zu Beginn oder am Ende – bringe das Anliegen der Demonstranten zum Ausdruck, vgl. ebd. (313). 172 Kaschuba (1991: 76). 173 Vgl. Reinhardt (2003: 220, 234). Italien hatte 1861– so Reinhardt – 22 Mio. Einwohner. Davon waren 418. 696 wahlberechtigt: Das wären dann 1,90 %. Mit der Wahlrechtsreform von 1882 erhöhte sich die Anzahl der Wähler auf 7,79 %, vgl. Michels (1908a: 155). 174 Vgl. allgemein: Habermas (19996), speziell dazu Majorana (1909: 298, 317).
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Kapitel 3 sehr außergewöhnlichen Beispielen; Nachlässigkeit in der Form; ausschließlicher und konstanter Eifer nach Wirkung, das heißt nach dem unmittelbaren – fast physischen – Eindruck auf die Zuhörerschaft […].175
Die fehlende Ausdifferenzierung der Politik hatte zur Ausbildung einer von vielen Liberalen als Agitation wahrgenommenen neuen Form der Rhetorik geführt. Die Liberalen, aber auch die im Parlament vertretenen reformistischen Sozialisten hatten diesen Wandel nicht begriffen und die politisierten Massen aus ihrer Position heraus gering geschätzt oder sogar verachtet.176 Die Sozialisten im Parlament waren durch die institutionellen Vorgaben und Erwartungen des Parlamentes beeinflusst. Santini bemerkte, dass deren Rhetorik nach Literatur und klassischer Schulbildung schmecke.177 Sozialistische Parlamentarier richteten sich vornehmlich an einem gebildeten Publikum aus und standen im Einklang mit der Tradition des Risorgimento. Die Demokratisierung der Massengesellschaften durch Wahlrechtsreformen, die Heraufkunft neuartiger sozialer Bewegungen in der Folge der rapiden Industrialisierung und technischen Revolution zwingen die politischen Parteien immer stärker dazu, sich jetzt außerparlamentarisch zu organisieren und sich in der politischen Öffentlichkeit vor Wahlen sprachlich zu artikulieren. Damit verändert sich Stellung und Funktion politischer Rhetorik rasch und grundlegend: sie transformiert sich unter den neuen politischen Gegebenheiten von einer argumentativen und deliberierenden Rhetorik des Parlamentarismus zu einer informativen, appellativen und emotionalen Rhetorik der Massenkommunikation.178
Liberaler und reformsozialistischer Aktionskreis war und blieb das Parlament. Die Massen jedoch, die sich peu à peu Mitbestimmungsrechte erkämpften und zugestanden bekommen hatten, waren nur unzureichend politisch gebildet.179 Mit der Wahlkreiserweiterung wurde die personale Bindung zu einem Kandidaten, den man womöglich noch sehr gut kannte, schwächer oder sogar 175 Majorana (1909: 314). 176 Vgl. Beckerath (1927: 46) Die Liberalen setzten auf persönliche Bindungen in ihrem Wahlkreis und waren in ihren Entscheidungen freier als die Abgeordneten anderer politischer Richtungen. Bezüglich der ablehnenden Haltung der reformistischen Sozialsten s. Gervasoni (2008: 134, 138). 177 Vgl. Santini (1938: 307). Gervasoni (2008: 121 f.) merkt an, dass Andrea Costas und Camillo Prampolinis Ansprachen gerade wegen ihrer popularisierenden, emotionalen Art Skandale im Parlament hervorgerufen hätten. 178 Stammen (2001: 956). Auf die ‚Krise des Parlamentarismus‘ hatte als einer der ersten der Jurist Santi Romano im Jahr 1909 in seiner Antrittsvorlesung Lo Stato moderno e la sua crisi hingewiesen, s. Romano (1969). 179 Vgl. Santini (1938: 256), er spricht von der massa infante.
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völlig arbiträr.180 Eine Rhetorik der Straße und des Komitiums, die sich den Massen stellte, suggerierte eine noch intakte persönliche Bindung. 3.3.2 Die reformistische Propaganda Der reformistische Flügel des PSI löste mit einer Serie von Artikeln in der Zeitschrift Critica sociale ab dem Jahr 1900 eine Debatte über die Propaganda aus. Claudio Treves behauptete, die intransigente Rhetorik sei vor allem auf die principi generali (Kollektivismus und Klassenkampf) ausgerichtet, ihrem Wesen nach mystisch-religiös und ziele auf reine Gefühlserregung ab. „[I]ch verstehe, dass eine Propaganda, die in Eile ist, immer alles in einem Artikel oder in einer Rede sagen muss, sie kann einfach nicht anders: solch eine Propaganda muss zwangsläufig die Gefühle angehen.“181 Zeitdruck und Einmaligkeit der Situation ließen die Redner eher zu gefühlsbetonten Mitteln greifen. Dies sei jedoch nicht wünschenswert, denn eine langfristige Bindung erreiche man so nicht und die mystische Propaganda eigne sich nicht für die Vermittlung von tagespolitischen Anliegen, da sie zu schematisch und für die Realität unterkomplex sei.182 Filippo Turati, Herausgeber der Critica, verstärkte in derselben Ausgabe Treves’ Kritik, indem er auf den Mangel an Argumentation hinwies und somit die Oberflächlichkeit und den Dogmatismus der sozialistischen Propaganda betonte.183 Diese Art von Propaganda sei, so Turati, für den Anfang geeignet: „In jeder Propaganda, wie in jedem Erziehungsprozess, gibt es eine Anfangsphase, in der sich die Einfachheit der Formeln und ein gewisser Dogmatismus aus einer präzisen, pädagogischen Notwendigkeit heraus aufdrängt“. Und weiter stellte er fest: „Der Nachteil entsteht dann, wenn die Methode […] zur normalen Bildungsmethode wird.“184 Turati lehnte die propaganda elementare nicht schlichtweg ab, doch versuchte er sie zu redimensionieren und plädierte für eine Ausdifferenzierung der Propaganda in eine elementare, fortgeschrittene und sehr spezifische Form.185 Besonders der Aspekt der nachhaltigen Wirkung
180 „Diese Elite des Portemonnaies und des Intellekts ergibt Ende 1860, durch die Zahl der Wahlkreise dividiert, einen Durchschnitt von weniger als tausend Personen. […] Wähler und Kandidaten entstammten zudem weitgehend demselben Milieu; in der Regel kennt man sich und trifft Abmachungen im kleinsten Kreis: ‚Ich gebe, damit du gibst‘.“ Reinhardt (2003: 220). 181 Treves (1900: 306), Kurs. i. Orig. 182 Vgl. ebd. (307). 183 Vgl. Turati (1900: 307). 184 Ebd. (308). 185 So z.B. vorgeschlagen von Ferruccio Niccolini (1903: 200) und Turati (1906: 305).
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Kapitel 3
rückte damit in den Vordergrund. Propaganda müsse thematisch breiter aufgestellt sein. Das Propaganda-Konzept Turatis hatte mit seinem Parteiverständnis und seinem Lebensumfeld – der Stadt – zu tun: Zum einen wollte er vermeiden, dass sich der PSI zweiteilt in eine führende Intelligenzija einerseits und eine nur gehorchende Masse andererseits. Die Masse solle nicht wie die Herde dem Hirten unselbständig folgen. Darüber hinaus entsprach seine differenzierte Sichtweise der Propaganda dem Stadt-Land-Gefälle: Um 1900 waren die nördlichen Regionen mit ihrer entwickelten Industrie politisch aktiver organisiert und vor ganz andere Aufgaben gestellt als die rückständigen Regionen Mittelund Süditaliens.186 Turati entwarf eine Skizze einer prozesshaften Propaganda, die flexibel an Gegenstand und Adressaten angepasst werden konnte. Ziel sei die Herausbildung eines Klassenbewusstseins, das heißt: aktive Teilnahme am Parteileben und Einsicht in die Handlungszwecke der Partei. Konferenz und Parteizeitung müssten in einem Medium, das Turati sozialistische Kultur nannte, zusammengebracht werden. Träger dieser Kultur sollten sogenannte Università popolari sein, um die Partei zu intellektualisieren.187 Die reformistische Propaganda setzte verstärkt auf Erziehung und Bildung und erkannte darin eine zeitgemäße Anpassung an das eigene politische Handeln. Diese argumentativszientistische Richtung fand sich später im extrem linken marxistischen Flügel der Partei wieder, der sich 1921 vom PSI abspalten und sich als PCI (Partito Comunista Italiano) mit Antonio Gramsci oder Palmiro Togliatti konstituieren sollte.188 Eine Bestätigung erfuhr Turatis Kritik von Adolfo Zerboglio 1903 in dessen Artikel Propaganda improduttiva, in dem er den induktiv-empirischen Charakter des Sozialismus marxistischer Observanz unterstrich. Besonders die Konferenz sei Sinnbild für die Unproduktivität und Nutzlosigkeit der sozialistischen Propaganda, da sie die „Theatralik der Form“ begünstige, falsche Kenntnisse vermittle und die Genossen vom ernsthaften Studium abhalte.189 Die große Menge an schlechten Konferenzen sei zu Gunsten einer höheren Qualität zu reduzieren. Für viele der sozialistischen Reformisten hatten die Konferenzen also keinen erzieherischen Wert. Was ihre langfristige Wirkung anging, könnten 186 187 188 189
Vgl. Pisano (1986: 36). Vgl. Turati (1900: 309). Vgl. Fedels Argumentationsanalyse von Palmiro Togliatti (2003: 161, 165 f.). Vgl. Zerboglio (1903: 180). Er wies darauf hin, dass der italienische Sozialismus nur einen geringen wissenschaftlichen Beitrag bis dato geleistet habe. Ähnlich urteilte Michels (1977: 75 ff.).
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Treves und Turati Recht behalten haben. Die Konferenzen stellten punktuelle Ereignisse dar. Die Redner waren oft von auswärts eingeladen und eine weitere Behandlung des Themas fand meist nicht statt: Die erzieherische Wirkung im Sinne der sozialistischen Ideologie war auf diese Weise nicht gewährleistet. Dennoch sollte diese Kritik nicht darüber hinwegtäuschen, dass die mündliche Realisierung der Konferenzen geeignet war, ein großes, noch immer weitgehend analphabetisches Publikum zu erreichen. Die Konferenzen trugen so im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Demokratisierung von Wissen und Bildung bei.190 3.3.3 Mussolini als sozialistischer Redner Welcher rhetorischen Richtung ist Mussolini nun zuzuordnen?191 Mit seinen Ausführungen über die Rhetorik erfolgt eine erste Einordnung, die mit Eindrücken aus der Praxis als conferenziere ergänzt werden. Vorab sei auf das Kap. 3.5 zur Massenpsychologie verwiesen, das eine dritte Facette der sozialistischen Rhetorik, nämlich die syndikalistische, behandelt. Das politische Klima innerhalb der Familie Mussolini war durch den Vater Alessandro Mussolini vorgeprägt: Es entsprach dem bereits vorgestellten ethischen Sozialismus mit anarchischen Elementen. „His [scil. Alessandro Mussolinis] ‚socialism‘ was thus an amalgam of national sentiments and humanistic scruples, and he was drawn to the revolutionary ideas and ideals of Carlo Pisacane, Giuseppe Mazzini, and Giuseppe Garibaldi.“192 Dieses Grundverständnis eines revolutionären Sozialismus wird Mussolini als Parteimitlied ebenfalls vertreten und weiterentwickeln. Er trat – noch als Schüler – 1901 den Sozialisten bei. 190 Vgl. Brice (2001: 54). Gabriella Klein (1985: 33 f.) liefert eine Übersicht über die Alphabetisierungsrate: Noch 1921 konnten 27,7 % der Italiener/Innen landesweit nicht lesen. Drastischer sieht ein genauerer Blick aus: 49 % auf den Inseln, 46 % in Süditalien, 30 % in Zentralitalien und 11,8 % im industrialisierten Norden. Das Kriterium auch schreiben zu können, wurde erst 1951 in die Erhebung mit aufgenommen. Weitere erhellende Zahlen liefert Tullio De Mauro (1991: 95): Er taxiert die Analphabeten-Rate 1861 auf 75 %, 1911 auf 40 % und 1951 auf 14 %. 191 Einen ersten hilfreichen Überblick über Mussolini als Sozialist bzw. über seinen Werdegang als Journalist und Redner liefern aus linguistischer Sicht Cortelazzo (1977), (19782); Allotti (2015) und sehr allgemein Siennicka (2016). Eine ideengeschichtliche Einordung erbringt Gregor (1979) in seinem Beitrag zur Erforschung des jungen Mussolinis. Wo und wie genau Mussolini sich diese sozialistischen Überzeugungen angeeignet hatte, soll hier nicht weiter vertieft werden. Verwiesen sei dafür auf Visconti (2015) sowie auf Gervasoni (2015). 192 Gregor (1979: 29). Alessandro Mussolini war lange Jahre in der Romagna politisch aktiv. Er hatte eine administrative Stelle als stellvertretender Bürgermeister (prosindaco) inne und schrieb auch für lokale Parteizeitungen.
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Kapitel 3
Bringt man die Prägung durch den Vater mit einigen Äußerungen Mussolinis in Verbindung, ergibt sich ein scheinbarer Widerspruch: Nachdem Mussolini 1910 zum Leiter der Sozialisten in Forlì gewählt wurde, begann er eine Parteizeitung La Lotta di Classe herauszugeben. Darin beschrieb er in La nostra Propaganda das Vorgehen der parteieigenen Propaganda wie folgt: Fast immer verfügt eine sozialistische Sektion über eine eigene Räumlichkeit, in der man Versammlungen und Konferenzen abhalten kann. Der Besitz einer Räumlichkeit entbindet davon, die Konferenzen im Freien zu organisieren. An diesen nimmt nämlich die übliche Menge von Schaulustigen – Frauen, Alte, Kinder – teil, eine heterogene und zerstreute Menge, auf die man überhaupt kein Vertrauen setzen kann.193
Die Komitien im Freien lehnte Mussolini ab, da sie die Menschen nur diffus und zufällig adressierten. Eine zusammengelaufene, womöglich nur neugierige Menge wollte er mit seiner Propaganda nicht erreichen. Für ihn standen die sozialistischen Parteimitglieder im Fokus seines Interesses: „Diesen Sozialisten müssen wir uns heute vorzugsweise zuwenden, um sie zu pflegen, zu erziehen und aufzuziehen. Tatsache ist, dass es viele Sozialisten gibt, die sich als solche bezeichnen, ohne zu wissen […] warum.“194 Konferenzen seien also nur sinnvoll, wenn sie zur Ausprägung eines Klassenbewusstseins beitrügen. Hierin glichen sich die erzieherischen Positionen von Turati und Mussolini. Die Stoßrichtung dieser Propaganda ging zuerst nach innen: von Sozialisten für Sozialisten. Mussolini erklärte: Der Quantität ziehen wir die Qualität vor. Der gehorchenden, resignierten und dummen Herde, die dem Hirten folgt und sich beim ersten Heulen der Wölfe auflöst, ziehen wir den kleinen, entschlossenen, wagemutigen Kern vor, der seinen Glauben gerechtfertigt hat, der weiß, was er will und direkt auf das Ziel los marschiert.195
Nicht nur, dass die Formulierung derjenigen von Turati und Zerboglio sehr ähnlich ist, auch das Einfordern einer sozialistischen Kultur, beispielsweise durch Rednerschulen oder Sektionsbibliotheken, zeigen Mussolinis Aneignung reformistischer Propagandaformen.196 Widersprüchlich sind diese 193 194 195 196
Mussolini OO (3: 25). Ebd. Ebd. (26), Kurs. i. Orig. Vgl. ebd. (6). Eine ähnlich gelagerte Debatte, wie Propaganda zu betreiben sei – ob eher emotional oder mehr pädagogisch ausgerichtet – wird sich in den 1940er Jahren wiederholen. Auch hier gab Mussolini der letztgenannten Alternative den Vorzug, vgl. Salvati (2017: 211).
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Aussagen jedoch mitnichten: Man darf sich nicht über deren Zielsetzung hinwegtäuschen lassen. Mussolini hielt an den maximalen Vorstellungen des ethischen Sozialismus, also an den principi generali, beharrlich fest.197 An den Zitaten wurde deutlich, dass Mussolini die unterschiedlichen Ausprägungen der sozialistischen Rhetorik kannte, sie sich aneignete und weiterentwickelte. Er vereinte die beiden idealtypisch vorgestellten Richtungen, wobei man von einer Assimilierung der reformistischen an die intransigente Rhetorik ausgehen muss. Mussolini als sozialistischer Conférencier Abschließend seien noch einige Eindrücke über Mussolinis Tätigkeit als Konferenzredner geschildert. Für die Regimejahre findet sich in Kap. 3.6 eine ausführliche Darstellung. Über Mussolini selbst gibt es schon sehr früh vereinzelte Bemerkungen wie er als Redner wahrgenommen wurde. Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte er 1901 anlässlich einer Gedenkfeier zum Tode des kürzlich verstorbenen Komponisten Giuseppe Verdi. Der 17-jährige Mussolini wurde von Vilfredo Carducci, dem Bruder des Nationaldichters Giosuè Carducci, für den Gedenkakt im Theater der Stadt Forimpopoli ausgewählt. Die Zeitung Avanti! berichtet von einer von Applaus begleiteten Veranstaltung.198 Mussolinis Spezialgebiet, zu dem er oft zu sprechen eingeladen wurde, war der Sozialismus und das Christentum. Die Themenverbindung wurde bereits in der erwähnten Handreichung des PSI vorgeschlagen. Seine Vorträge über diese Thematik waren von einem polemischen Antiklerikalismus begleitet. Exemplarisch sei ein Artikel über einen von Mussolini gehaltenen Vortrag geschildert. Ausgangspunkt war eine am Abend des 17. Februar 1909 gehaltene Gedenkrede zum Todestag des als Ketzer verbrannten Giordano Bruno in der Camera di Lavoro in Trient: Er wurde mit höchster Aufmerksamkeit gehört und wusste sich bald bei seiner Hörerschaft verständlich zu machen, die nicht nur verstand, einen ausgezeichneten Redner, einen überzeugenden Propagandisten vor sich zu haben, sondern vor allem einen gelehrten, überzeugten und begeisterten Mann, der in dem wirklich schönen Vortrag sowohl das Ergebnis ernsthafter Studien, als auch die Kraft seiner Überzeugungen und die Begeisterung eines Mannes zu 197 Quasi zur selben Zeit hielt Mussolini eine Konferenz in Forlimpopoli, in der er aufrief – im tiefen Gegensatz zu den Reformisten – zu den principi generali zurückzukehren. S. Mussolini OO (3: 13). 198 Vgl. Mussolini OO (1: 245). Näher ausgeleuchtet findet sich die Episode bei Pini/Susmel (1953: 56).
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Kapitel 3 vermitteln wusste, der einen Glauben hat, für ihn kämpft und ihn den anderen einprägen will. […] Der Vortrag, dicht an Gedanken und reich an Nachweisen, gefiel und wurde oft von Beifall unterbrochen und am Ende von sehr lebhaftem Applaus und Zustimmung begrüßt, was dem Genossen Mussolini wohl zu verstehen gab, wie angenehm und willkommen sein Wort bei denen war, die ihn hörten.199
Dem Professore di Lingue Moderne wurde eine generell über dem Durchschnitt liegende gute Bildung zugesprochen. Seine Reden seien mit vielen Belegen untermauert gewesen und erweckten einen leidenschaftlichen Eindruck. Artikel aus den Lokalzeitungen, die von seinen Auftritten berichteten, wiesen ebenfalls auf seine Wirkung hin: Mussolini war ein angesehener Redner, der viel Applaus bei seinem Publikum fand. Wie Michele Cortelazzo hervorhob, sei ab 1909 ein persönlicher Stil Mussolinis zu erkennen gewesen. Davor sei er noch traditionellen Vorbildern aus seiner schulischen Erziehung (Carducci) gefolgt.200 3.4
Journalismus und kulturelle Strömungen vor dem 1. Weltkrieg
Dieser Abschnitt zeigt eine weitere wichtige Facette der Rhetorik Mussolinis auf. Stand bisher das rhetorische und ideologische Umfeld Mussolinis im Vordergrund, so werden nun der Ursprung seiner späteren Argumentationsmuster sowie die Einflüsse auf seinen Stil herausgearbeitet. Nun kommt der Zeitraum kurz vor dem Ersten Weltkrieg in den Blick, in dem sich die rhetorische Eigenart Mussolinis vollständig entfaltet hatte. Mit der Einheit Italiens bildete sich parallel zur gesamtgesellschaftlichen Modernisierung eine Kulturindustrie aus. Bedingungen hierfür waren der schrittweise Abbau der Analphabeten-Rate, die neuen Distributionsmöglichkeiten für Druckerzeugnisse und die Diversifizierung der Angebote. Das Entstehen einer sozialistischen und katholischen Subkultur begünstigten diese Entwicklungen noch. „[T]he Italian culture industry had already developed before the Great War, but it still presented some structural weaknesses that distinguished it from other countries.“201 Die Schwerpunkte lagen in den urbanen Zentren in Norditalien. Die Ausdifferenzierung kam jenem ‚intellektuellen 199 Mussolini OO (2: 283 f.), Herv. v. F.S. Vgl. weitere Eindrücke in Mussolini OO (2: 282, 287, 293, 323). 200 Vgl. Cortelazzo (1977: 182 f.). Dieser stellte klar, dass die Quintessenz seiner Analyse darin bestand die stilistische Kontinuität des frühen (= sozialistischen) und des späten (= faschistischen) Mussolini aufzuzeigen, ebd. (191). 201 Cavazza (2012: 221).
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Proletariat‘202 zugute, zu dem auch Mussolini gehörte. Zeit seines Lebens war er dem Journalismus eng verbunden: Einem breiteren Publikum wurde er durch seine unzähligen Artikel bekannt. Seine journalistische Laufbahn, die ihn ins österreichische Trient führte und in Kontakt zum avantgardistischen La Voce-Kreis brachte, begann schon früh.203 Dieser bildete das Bindeglied zwischen dem Sozialisten und dem Nationalisten Mussolini. Auf dieses kulturelle Umfeld soll nun näher eingegangen werden. La Voce (ab 1908) war eine Kulturzeitschrift, die der nationalistischen Zeitung Il Regno von Enrico Corradini nahestand. Herausgegeben wurde La Voce von Giuseppe Prezzolini und Giovanni Papini. Die Zeitschrift setzte sich aus einer politisch heterogenen Gruppe von Philosophen, Literaturkritikern und Historikern zusammen.204 Ihre verbindende Gemeinsamkeit bestand darin, dass sie sich für eine generelle Erneuerung der Kultur im Zeichen des Idealismus und insbesondere für eine moralische Erziehung der Italiener einsetzten. Sie positionierten sich gegen den Positivismus und die Gerontokratie im Parlament. Walter Adamson hat eine Topik der Anti-Establishment-Strömungen (Vociani, Nationalisten, Syndikalisten, Futuristen) in Italien vor dem Ersten Weltkrieg erstellt. Durch den Vergleich der Sondertopiken untereinander konnte er Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Mussolini aufzeigen: „While it is fair to describe his [scil. Mussolinis] rhetoric as laying somewhere between 202 Das sogenannte ‚intellektuelle Proletariat‘ ist ein schon um die Jahrhundertwende ein vieldiskutiertes Problem. Der hohe Output des Bildungssystems und die geringe wirtschaftliche Nachfrage führten zu Arbeitslosigkeit, Emigration und zu politischer Radikalisierung. Vgl. hierzu bereits Fischer (19012: 330 f.) sowie für einen längeren Zeitraum Barbagli (1982: 70). Mussolini kann hierfür als sprechendes Beispiel dienen: Nachdem er den praktischen Zweig der Mittelschule (scuola tecnica) absolviert und auf der Regia Scuola Superiore Maschile (eine Art Fachhochschule für Lehrerausbildung) in Forimpopoli das Diplom für den Elementarunterricht erhalten hatte, wanderte er in die Schweiz aus, da seine Stelle nicht verlängert wurde. 203 Folgende Angaben stützen sich auf die Arbeit von Dresler (19433), die mit OO verglichen wurden. Bereits in seiner Jugendzeit schrieb Mussolini für kleinere Blätter. In der Schweiz war er Mitarbeiter bei dem Wochenblatt L’Avvenire del Lavoratore von Tito Barboni sowie beim syndikalistischen Blatt Avanguardia Socialista von Antonio Labriola. Nach Italien zurückgehrt, veröffentlichte er ab 1908 in folgenden Zeitungen: La Lima, Pagine Libere und Pensiero Romagnolo. Im Jahr 1909 wirkte er als Redakteur im Avvenire del Lavoratore in Trient unter Cesare Battisti und war Chefredakteur des Il Popolo. Dort veröffentlichte er seinen historischen Liebes- und Fortsetzungsroman Claudia Particella: L’amante del Cardinale (1910). Nach der Ausweisung aus dem habsburgischen Trient erschien in der florentinischen Zeitschrift La Voce eine Studie (Il Trentino visto da un socialista) über diese Region. 204 Eine Übersicht der Mitarbeiter gibt Adamson (1992: 25, Fußnote 12).
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Kapitel 3
those of the nationalists and the vociani, its overwhelmingly antipositivist and spiritual aspects put it much closer to the latter“205. Die größten Schnittmengen sieht Adamson also mit den Vociani, dann mit den Nationalisten, am wenigsten mit den Futuristen. „La Voce, this avant-garde propounded two allied myths which were crucial to the political history of the next four decades: those of the ‚two Italies‘ and of the ‚internal enemy‘.“206 Die oppositive Grundstruktur des due Italie-Mythos mit seinen Feindbildern ließ sich mit dem syndikalistischen Mythos des Generalstreiks verbinden (vgl. Kap 3.5). Das Ziel eines ‚neuen Italiens‘ sollte mit einem revolutionären oder kriegerischen Akt erreicht werden. Das betont spiritualistische Konzept der moralischen Erneuerung innerhalb des La Voce-Kreises passte zu dem von Mussolini vertretenen idealistischen Sozialismus und lebte im Faschismus unter dem Stichwort des ‚Neuen Menschen‘ weiter. Der nationalistische Ansatz von Macht (potenza) wurde bei ihm dem spiritualistischen Konzept untergeordnet. Andere Komponenten der Vociani wie die positive Einstellung zum Volkstümlichen (ruralità) und die Verherrlichung des Männlichen (virilità) finden sich ebenso bei Mussolini. Den dezidierten Regionalismus (toscanità) übernahm er hingegen nicht und ersetzte ihn durch die weitergefasste romanità der Nationalisten. Letztere stützten sich zur Erreichung ihrer Ziele auf eine religiös-militärische Appellstruktur, die aus Werten wie Pflicht, Disziplin, Ordnung und Aufopferung bestand.207 Diese Mischung aus den Topiken der Vociani und der Nationalisten stellte das ideologische Rüstzeug Mussolinis dar, das durch den Ersten Weltkrieg eine weitere Zuspitzung erfuhr. Mussolini als Vertreter eines militanten Meinungsjournalismus In derselben Zeitspanne gründete Mussolini das Wochenblatt La Lotta di Classe in Forlì, schrieb für die Zeitschrift La Folla von Paolo Valera unter den Pseudonymen Vero Eretico oder L’homme chi cherche sowie von 1910–1912 für das sozialistische Parteiorgan Avanti! Ab 1912 war er dessen Chefredakteur bis zum Ausschluss aus der Partei im Jahr 1914. In Italien existierten mehrere Journalismus-Modelle nebeneinander.208 Das älteste war das parteipolitisch-persuasive Modell, das seit dem Ende des 18. Jahrhundert existierte. Diese Form des Journalismus blieb nach der Gründung 205 206 207 208
Ebd. (50), Kurs. i. Orig. Ebd. (28), Kurs. i. Orig. S. auch Kap. 3.1.4. Vgl. Adamson (1992: 33, 36 ff.). Vgl. Bucher (1998: 731–743), der ein erweitertes Phasenmodell nach Dieter. P. Baumert anwendet. Bucher unterteilt in fünf Grundphasen: die korrespondierende, die schriftstellerische, die redaktionelle, die ideologische und die kommerzielle Phase des
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Italiens erhalten und diente als parteipolitisches Instrument dazu, die Sicht der noch reduzierten Öffentlichkeit zu beeinflussen. Das zweite Modell bildete die literarisch-kritische Richtung, die sich vorwiegend mit den belle lettere oder Ähnlichem befasste und sich durch den literarischen Kunstwillen auszeichnete. Das redaktionelle aus dem angelsächsischen Raum stammende Modell eines selbstregulierten Journalismus breitete sich ab 1900 mit dem Corriere della Sera als Vorreiter aus. Diesem letzteren Modell standen also der Avanti! sowie später der Il Popolo d’Italia als politische Parteizeitungen gegenüber.209 Mussolinis Verständnis von Journalismus unterschied sich erheblich von der herkömmlichen Auffassung, der zufolge der Journalist berichten, informieren und die nötige Distanz erbringen soll. „Für mich [scil. Mussolini] war die Zeitung die Waffe, die Fahne, eigentlich die Seele. Ich habe sie einmal mein Lieblingskind genannt.“210 Die Zeitung war für ihn ein politisches Instrument (Waffe) zur Erreichung seiner Ziele (Fahne). Mussolini verfasste häufig die besonders meinungsbildende Textsorte Leitartikel. Ereignisse und Fakten lieferten ihm immer nur den Ausgangspunkt für seine Kommentare. Sie sollten seine Meinung streuen und der Öffentlichkeit Orientierung geben, nicht über etwas berichten.211 Das Schreiben von Leitartikeln ließ sich der Diktator auch nach dem ‚aktiven Dienst‘ nicht nehmen. Darüber hinaus instruierte er seinen Bruder Arnaldo täglich über die Leitlinien seiner Hauszeitung. The medium is the message? Journalismus und Stil Mussolini setzte sich klar von der literaturkritischen Richtung innerhalb der schreibenden Zunft ab, das heißt er verfasste keine Artikel über schöne Literatur, Theater oder Musik.212 Nicht nur thematisch, sondern auch stilistisch
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Journalismus. Zur Entwicklung des Journalismus in Italien vgl. Asor Rosa (1981: 1239–1243) sowie Prezzolini (19302: 165–177). Hans E. Pappenheim (1935: 65) umreißt den Charakter des Il Popolo d’Italia um 1914/15 wie folgt: „Und da erfand Mussolini den Typ Zeitung, die wir heute wieder in verstärktem Maße finden, die der Menge entgegenkommt wie ein ‚Boulevardblatt‘, deren Hauptgewicht aber auf dem politischen Gewicht liegt, das ist die Zeitungsgattung der ‚Trommlerpresse‘. Kämpferisch auftretend ist es ihre Aufgabe, durch suggestive Führung der Meinungsbildung zu dienen. Wie eine einzige Folge von Flugblättern sollte jeder das Blatt lesen können und das unkomplizierte Programm des Herausgebers verstehen, der nicht in erster Linie bilden, sondern zunächst nur für ein bestimmtes Ziel oder eine Weltanschauung begeistern will.“ Ludwig (1932: 53). Vgl. Allotti (2015: 171) sowie Mussolini OO (34: 156). Einschränkend muss man allerdings die vielen Sachbuchrezensionen Mussolinis – die er auch während der Regimezeit verfasste – zur Kenntnis nehmen. Diese dienten
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bestand zwischen ihm und den Literaturkritikern seiner Zeit ein beträchtlicher Unterschied. In einem Gespräch mit seinem Biographen Yvon de Begnac gab Mussolini folgende Charakterisierung seines Stils ab: Der Mailänder Journalismus interessierte mich nicht besonders. Einige seiner Männer schätzte ich sehr, zuvorderst Ojetti. Seine Prosa, auf unschuldige Art komplex, war das Gegenteil der meinen, vage an Robespierre erinnernd, aber die Kultur, welche die Grundlage noch vor dem Ausdruck des Grafen Ottavio [= ein Pseudonym von Ojetti, F.S.] bildete, stellte ein Gestade dar, das ich in hohem Maße verehrte. Letztlich blieb mein Vorbild ein durch den Filter von Paolo Valera geklärter Oriani.213
In diesem Zitat sind schon einige Merkmale angegeben, die sich in den bisher umrissenen historischen Kontext gut einfügen: Erstens grenzte sich Mussolini von Ugo Ojetti ab, dessen Prosa er als komplex bezeichnete. Ojetti gehörte der literarisch-kritischen Richtung des Journalismus an. Zweitens beschrieb Mussolini seine Prosa als dazu gegenteilig und im nächsten Satz gab er sein stilistisches Orientierungsmodell an: ein durch Paolo Valera modifizierter Alfredo Oriani. Der Erstgenannte war Herausgeber der Wochenzeitschrift La Folla mit einer geradezu avantgardistischen Programmatik: „Der Mund des Volkes wird unser Wörterbuch sein. Die Literatursprache der Einzelnen ist fade, farblos, kalt, so als entstiege sie dem Grab. Jene der Massen ist lebendig, kräftig, glühend wie der Atem eines Brennofens.“214 Die Hinwendung zum Gesprochenen vollzog sich am deutlichsten im Bereich des Journalismus und in der Literatur, vor allem in der Adaption des französischen Realismus in den Strömungen der Scapigliatura oder dem Verismo. Beiden Bereichen war die Schöpfung eines stile oder tono medio im Italienischen gemein. Dieser neue Stil kam durch eine Angleichung von gesprochener und geschriebener Sprache, bei Giovanni Verga sogar durch die Nutzung von Dialektismen, zustande. Dies war eine bewusste Abkehr vom aristokratisch-literarischen Modell à la
vordergründig der Information des Publikums über Neuerscheinungen, zielten aber immer auf politische Einflussnahme ab. Toni Bernhart (2017) hat eine Übersicht der schriftstellerischen Werke Mussolinis zusammengestellt. Er führt auch einige wenige Schriften zur Literaturkritik an, die man aber, um noch genauer zu sein, unter der Rubrik literarhistorische Aufsätze verbuchen sollte. Zum schriftstellerischen Schaffen vgl. ferner Bosworth (2011). 213 De Begnac (1990: 43). Wie Amadeo Osti Guerrazzi (2018: 208) gezeigt hat, muss man die Quelle De Begnac mit Vorbehalt bezüglich ihrer Echtheit lesen. Nichtsdestotrotz spiegelt De Begnacs Urteil, der immerhin Journalist war, wohl eine gewisse stilistische Sachkenntnis wider. 214 Valera (1901: 1).
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Carducci.215 Neu an der Sprache von Valera war die Mischung (pastiche) aus populärer Alltagssprache und gehobener, klassischer Sprache. Auch die Zeitung trug als Medium zu diesem Prozess bei: Was die Syntax betrifft, wurden die komplexen Perioden vereinfacht, bis hin zur fragmentierten Hypotaxenbildung. Des Weiteren kam immer mehr der Nominalstil zum Einsatz, welcher der Übermittlung durch Telegraphen und Telefon geschuldet war.216 Bei der Suche nach einem modernen Italienisch für ein breites Publikum trafen sich die Bemühungen der Schriftsteller und Journalisten, die oft – siehe Mussolini – in Personalunion auftraten. Der Literaturkritiker Renato Serra hatte diese Allianz bereits damals festgestellt: Interessanter wären gewisse Neuheiten zu betrachten, die die Sprache der Sport- und Klatschspalte mit sich bringt; mit jener Unbefangenheit exotischer Begriffe und der schnellen Eindrücke ist sie aus den Notizheften der Reporter auf die Seiten der Schriftsteller übergegangen. Dies ist vielleicht nach der realistischen Prägung das wichtigste Merkmal, das man gemeinhin als Modernität, Impressionismus zu umreißen pflegt.217
Vom Medium der Zeitung lässt sich die fragmentierte Syntax Mussolinis erklären. Sein Stil war durch seinen Beruf beeinflusst und fügte sich in die generellen Modernisierungstendenzen der italienischen Sprache ein. Die zweite Richtgröße, die er erwähnte, ist Alfredo Oriani. Der zu seinen Lebzeiten (1852–1909) wenig beachtete Oriani wurde später zu einem Vorläufer des Faschismus erklärt. Mussolini war Förderer und Herausgeber der Opera Omnia Orianis. Giovanni Papini, neben Croce einer der wenigen Kritiker, die einige lobende Zeilen über Oriani verloren, schilderte seinen Stil wie folgt: [D]ie Beredsamkeit Orianis war keine leere Beredsamkeit des manierierten Berufsliteraten, auch nicht jene spitzfindige [sofisticata] des Anwalts. Es war eine Beredsamkeit, die von Leidenschaft entflammt, von Tatsachen genährt, von Überzeugungen [idee] unterstützt und reich an Intuitionen und an Einfällen 215 Die Scapigliatura (‚die mit den zerzausten Haaren‘), eine Art Bohemien-Bewegung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, widersetzte sich den neoklassizistischen Literaturvorstellungen eines Carduccis. Ihre Vertreter versuchten ihre Individualität experimentell auszudrücken (Expressionismus). Sie bevorzugten eine regionale, volkstümliche, auch durch Fremdsprachen durchsetzte Stillösung, vgl. Serianni (2013: 201). 216 Vgl. Serianni (2013: 51 f.). Bonomi (1994: 669–679) spricht sogar von einer prosa giornalistica, die sich durch folgende Merkmale auszeichnete: implizite Formen (Gerundium und Partizip), Nominalstil, Gebrauch von Metaphern, Floskeln und ein innovatives Vokabular (Anglizismen, Gallizismen, Dialektismen). Ferner Pirandello (1993: 90) über den Beitrag des Journalismus für eine moderne Prosa. 217 Serra (1920: 106), Kurs. i. Orig.
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Kapitel 3 war – eine Beredsamkeit, die den Verstand zusammen mit dem Herzen überzeugen wollte[.]218
Neben der Abgrenzung zu den Literaten und Advokaten hob Papini das antithetisch-dialektische Vorgehen Orianis hervor. Daraus ergebe sich seine synthetische Wirkung, die Oriani in Zeitungsartikeln verwandte. Durch die Synthese tendiere er zur Verallgemeinerung und steige oft „von der kleinen Tatsache zur großen Idee; von einem flüchtigen Moment zur weit entfernten Vergangenheit, zur fantastischen Zukunft; vom Individuellen zum Universalen hinauf“219. Sein rauer Ton sowie die Verachtung für rhetorischen Schmuck trügen zu einem eigentümlichen Stil des Schriftstellers bei, der hochemotional, aber gleichzeitig ernsthaft und nüchtern sei. Sehr aufschlussreich ist ein Vergleich, den Papini anstellte, um Oriani zu beschreiben und einzuordnen: Die erfolgreichsten [scil. Schriftsteller], Fogazzaro und D’Annunzio, sind Frauen: Fogazzaro eine mystische Signora, die in die Galanterie, D’Annunzio eine galante Signora, die in den Mystizismus abgleitet. Oriani und Verga, so viel größer als jene zwei wegen ihrer Nüchternheit, Festigkeit, Ehrbarkeit und Energie, sind zwei echte Männer, jedoch viel zu hart für die Zähne von Schleckmäulern; denn den Erfolg machen die Leserinnen! Diese erscheinen bezüglich jener zweier Damen undankbar und minderwertig.220
Die Antithese zwischen Fogazzaro/D’Annunzio und Oriani/Verga wird durch die geschlechterstereotype Zuschreibung noch verstärkt: Einerseits sind da ‚feminine‘ Schriftsteller, die einen galanten, schwärmerisch-mystischen und figurenreichen Stil pflegten. Andererseits die ‚Männer‘ Oriani und Verga mit ihrem nüchternen, kunst- und schmucklosen Stil. Diese Sichtweise, Stil mit geschlechterspezifischen Merkmalen zu versehen, war schon seit der Antike verbreitet: So sei beispielsweise der ‚männliche‘ Stil spartanisch im Gebrauch 218 Papini (1918: 140). Ähnlich wie Papini schätzte auch Borgese (1920: 69) Oriani ein: „ogni parola è accesa, ogni frase è muscoloso, ogni periodo pèrora. L’enfasi di Sallustio, la solennità di Tacito, le antitesi vittorughiane si son date convegno in questa prosa crinita ed eloquente, cui manca però la finitezza dei particolari e la gradevolezza del racconto, giacché, perpetuamente scossa dalla veemenza del comento, non può attrarre se non chi abbia già piena dimestichezza con fatti narrati. Non v’è quasi parola, di cui Oriani non cerchi il superlativo, non v’è concetto che non gli serva da pilone di slancio verso l’antitesi o da scalino verso il crescendo.“ Herv. v. F.S. Was aus den Hervorhebungen ersichtlich wird, ist, dass Oriani – Borgese zufolge – ein Prosa- und Rednerideal verfolgte, das man als demosthenische Deinotes bezeichnen kann. 219 Papini (1918: 144). Vgl. die Bemerkung Ciceros (De or. II, 133), dass alle konkreten Fälle auf wenige Punkte zurückzuführbar seien. 220 Papini (1918: 146). Einen ähnlichen Vergleich stellte bereits Luigi Capuana 1898 (1972: 151) zwischen Verga und D’Annunzio an.
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der Worte und beruhe vor allem auf Inhalten. Der sogenannte ‚weibliche‘ Stil sei hingegen weich, wortreich und verziert.221 Als Erklärung, wie der sogenannte ‚weibliche‘ Stil zustande käme, wurden moralische Dekadenz oder der häufige Umgang mit Frauen angeführt. Auf diese Weise entstünden also ‚verweiblichte‘ Redner und Schriftsteller. Papini sah genau darin die Ursache für den Erfolg von Fogazzaro und D’Annunzio: Ihr Stil entspreche dem weiblichen Publikumsgeschmack. Vor allem Orianis historische und politische Schriften wie La lotta politica in Italia (1892) oder die Rivolta ideale (1908) wurden von Mussolini und den späteren faschistischen Politikern rezipiert. In einer Erinnerungsrede am Grab des Schriftstellers sagte Mussolini 1924: „Alfredo Oriani warf der italienischen Menge das Buch der Rivolta ideale entgegen […] in einem konzisen, taciteischen Stil, der allein ausreichen würde, um den Ruhm eines Schriftstellers zu begründen. Wir haben uns an jenen Seiten gelabt.“222 Wie aus der Stilbeschreibung Mussolinis resultiert, arbeitete auch Oriani an der Aufgabe, eine prosa media zu kreieren, die knapp und gedrängt, prägnant und realistisch war.223 Diese Ausführungen zum Journalismus entfalten dann ihre volle Tragweite, wenn man sich bewusst macht, dass Oriani als Stilvorbild in der taciteischen Rhetorik-Tradition Italiens stand.224 Damit war die Alternative zu Cicero gleichsam vorgezeichnet. Außerdem gewann Mussolini seinen Stil aus den Bedingungen einer leichten und schnellen Rezeption sowohl des lesenden als auch des hörenden Publikums. Aus den Restriktionen des verwendeten Mediums Zeitung entstand eine für pragmatische Zwecke anwendbare Sprache und Stilistik.
221 Parker (1996) hat einen aufschlussreichen Aufsatz über die Identifikation von Stil und gender geschrieben, die zu einem Topos geworden ist und auf einer „massively influential Latin tradition“ (202) beruhe. Man lese nur Quintilians Ausführungen über den Stil (VIII, pr., 18–22), um sich davon einen Eindruck zu verschaffen. 222 Mussolini OO (20: 245), Kurs. im Orig. 223 Dieses Bemühen um eine prosa media wurde von den meisten Kritikern als scrivere male gedeutet, die einem klassizistischen Stilideal huldigten, vgl. Ragni (1977: XVII f.). 1936 schätzte Pietro Pancrazi (1967: 457 f.) rückblickend die Ausbildung einer prosa borghese als notwendig ein, da sie aus den Erfordernissen des alltäglichen Lebens entsprungen sei. D’Annunzio solle man besser nicht zum Vorbild nehmen, er sei ein Ausnahmeprosaist gewesen. 224 Als weitere Vorbilder nennen Pini/Susmel (1953: 54) noch Manzoni. Vgl. auch Mussolinis Hochschätzung für den Stil Edmondo De Amicis in: Mussolini OO (1: 106).
138 3.5
Kapitel 3
Mussolini, Praktiker der Massenpsychologie?
Im frühen 20. Jahrhundert war die Massenpsychologie das Kommunikationsparadigma schlechthin. Was wusste Mussolini effektiv von der Massenpsychologie? Inwieweit lässt sich eine Rezeption von Gustave Le Bon und Georges Sorel nachweisen? Die Rezeption Mussolinis dieser beiden Theoretiker ist auf den ersten Blick klar gegeben, doch lohnt es sich, auch zu prüfen, was genau von ihnen rezipiert wurde und wie tief diese Aneignung war. Das ausklingende 19. und das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurden von den Zeitgenossen als Krisenzeit wahrgenommen. Die Industrialisierung und Modernisierung, die Verelendung der Arbeiter und deren stetig größer werdendes politisches Bewusstsein trugen dazu bei, dass Gustave Le Bon vom beginnenden „Zeitalter der Massen“225 sprach. Die ‚Masse‘226 wurde zur Chiffre für die sich anbahnenden Probleme der modernen Gesellschaft. Das war der Grund, warum sie von den damals aufkommenden Sozialwissenschaften untersucht wurde.227 Eine sehr wirkmächtige Antwort auf die genannten Probleme gab Le Bon in seiner Psychologie des foules (1895), die in intellektuellen und politischen Kreisen zur Mode-Theorie avancierte. Gerade für Politiker war Le Bon von großem Interesse, da er auch die Bedingungen für eine Herrschaftspraxis mitlieferte, welche die Massen zu kontrollieren versprach. Für den Sozialismus war die Masse sehr wichtig, wollte er sie doch zum selbstbewussten Klassenstandpunkt erziehen. In diesem Zeitraum rückte unter den Sozialisten der Klassenkampf wieder modifiziert in den Vordergrund. Die Wiederbelebung des Klassenkampf-Gedankens war eine Folge einer neu entstandenen Marx-Interpretation. Ursache dieses Wandels war wiederum eine vehemente Kritik an der Wissenschaftlichkeit des Marxismus, der in diesem Zuge dekonstruiert und an die neue Lebenswelt angepasst wurde.228 225 Le Bon (198215: 2), Kurs. i. Orig. 226 Eine Übersicht über die Entstehung und Entwicklung des Begriffs Masse vermittelt Middendorf (2013). 227 Die ersten Studien zur Masse stammen vom Arzt und Kriminologen Cesare Lombroso (L’uomo delinquente, 1876), von Scipio Sighele (La folla delinquente, 1891) sowie von Gabriel Tarde (Les crimes des foules, 1892). Le Bon wurde innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses, obwohl er ebenfalls Arzt war, aufgrund der Tatsache kritisiert, dass er sich als Erfinder der Massenpsychologie ausgab, vgl. Barrows (1981: 177 ff.). Für den italienischen Kontext sind einige Bemerkungen von Paolo Orano (19422: 23) aufschlussreich, der in seiner Psicologia sociale von 1901 Le Bon als idealistischen Metaphysiker abqualifiziert. Italiens Psychologie war zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich noch positivistisch. 228 Sorel bezweifelte im sogenannten Revisionismusstreit die Wissenschaftlichkeit des orthodoxen Marxismus und dessen zwingende Notwendigkeit, die in diesem System zur Revolution führen sollte. Er wollte erkannt haben, dass der Marxismus ein mythisches
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Begründer dieses Neo-Marxismus war der Franzose Georges Sorel (1847– 1922). Seine Réflexions sur la violence (1908) fassten seine Ansichten über den Klassenkampf respektive den Generalstreik (grève générale) im Konzept des Mythos zusammen. Die Ideen Sorels wurden in Italien und besonders im revolutionären Syndikalismus, zu dem Mussolini gute Kontakte hatte, lebhaft diskutiert. Das Verhältnis Mussolini-Sorel gestaltete sich aber nicht immer ganz so eindeutig und prägend wie es später das Diktum Mussolinis vom „nôtre maître“ nahelegt.229 Seine Kenntnis der Sorel’schen Mythen-Theorie könnte, terminus a quo, ab 1905 datiert werden. Bei der Rezeptionsquelle könnte es sich um eine Artikelreihe in der Zeitschrift Il Divenire Sociale, herausgegeben von Enrico Leone, handeln. Da die Rezeption Spekulation bleibt, kommt eine Lektüre der Réflexions, laut Marco Gervasoni, nicht vor 1909 mit dem Erscheinen der italienischen Übersetzung infrage. Mussolini wird diese Übersetzung ausdrücklich rezensieren. Die Angabe De Felices, Mussolini habe die Réflexions bereits in der Schweiz gelesen (Aufenthalt bis 1904), kann also fallengelassen werden.230 Mythos nach Sorel: eine dramatische Bildkonstellation Wie beschrieb Sorel nun sein Konzept des Mythos? Was hat Mussolini davon aufgenommen? Sorel definierte den Mythos wie folgt: [L]es hommes qui participant aux grands mouvements sociaux, se représentent leur action prochaine sous forme d’images de batailles assurant le triomphe de leur cause. Je proposais de nommer mythes ces constructions[.]231
Mythen hätten demnach etwas Bildhaftes und seien Vorstellungen von Handlungen, die in die Zukunft projiziert würden. Darüber hinaus seien sie immer dualistisch angelegt, um mit einem so erzeugten Feindbild zu mobilisieren. Beispiele für Mythen gebe es, so Sorel, in der Geschichte viele: der satanischapokalyptische Mythos des frühen Christentums oder der freiheitsliebende Konstrukt darstelle, vgl. Sorel (1903: 188). Etwas schematisch könnte man den Streitpunkt mit der Frage festlegen: Soll der Überbau oder die Basis handlungsweisend sein? Zur Wiederaufnahme des Klassenkampfes hat vor allem die Beschäftigung Sorels mit Vico beigetragen (Was man von Vico lernt, 1896), vgl. Freund (19722: 70–80). 229 Vgl. Mussolini OO (4: 171). 230 Vgl. De Felice (19657: 40, Fußnote 4); zur Edition und Vorgeschichte der Réflexions, vgl. Berding (1969: 93, Fußnote 1) sowie Gervasonis resümierendes Urteil (2015: 86): „È solo in questo momento [scil. 1909] che – a nostro avviso – avviene l’incontro tra Mussolini e il pensiero di Sorel, e, in particolare, con il concetto soreliano di violenza.“ 231 Sorel (19102: 26 f.), Kurs. i. Orig.
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Kapitel 3
der französischen Revolution.232 Über Machart und Wirkweise des Mythos führte Sorel später aus: il faut faire appel à des ensembles d’images capables d’évoquer en bloc et par la seule intuition, avant toute analyse réfléchie, la masse des sentiments qui correspondent aux diverses manifestations de la guerre engagée par le socialisme contre la société moderne. Les syndicats résolvent parfaitement ce problème en concentrant tout le socialisme dans un drame de la grève générale[.]233
Sowie den Gedanken weiter ausführend: [L]a grève générale [les sentiments] les groupe tous dans un tableau d’ensemble et, par leur rapprochement, donne à chacun d’eux son maximum d’intensité; faisant appel à des souvenirs très cuisants de conflits particuliers, elle colore d’une vie intense tous les détails de la composition présentée à la conscience. Nous obtenons ainsi cette intuition du socialisme que le langage ne pouvait pas nous donner d’une manière parfaitement claire – et nous l’obtenons dans un ensemble perçu instantanément.234
Der Mythos des Generalstreiks werde intuitiv und unkritisch wahrgenommen, in ihm seien Gefühle als Bilder auf sehr klare Weise organisiert und zwar so, dass jene an Intensität durch bildliche Verdichtung gewönnen. Der Mythos forme wiederum die Wahrnehmung, indem er auf erinnerte historische Ereignisse zurückgreife, um zu mobilisieren. Frappierend ist allerdings die Umsetzung des Mythos, denn Sorel stellte ihm die Sprache entgegen, sodass nicht ganz ersichtlich wird, wie diese Bilder, die offenbar erst einmal Vorstellungsbilder sind, anderen vermittelt werden sollen. Sorels Mythenkonzept hatte ein irrationales Menschenbild zur Grundlage, das wiederum auf der Lebensphilosophie Henri Bergsons beruhte. Eine stringente Theorie stellte Sorel nicht auf, das war auch nicht sein Ziel, denn ihn interessierte die Veränderung der Praxis. Dass Änderungen in seinen Augen notwendig waren, machte seine kritische Zeitdiagnose klar. Er sah überall einen moralischen Sittenverfall, dem er seinen heroischen Aktivismus entgegenzustellen versuchte.235 Der Mythos, so Sorel, sei ein Motor,236 232 233 234 235
Vgl. ebd. (27, 166). Ebd. (161), Kurs. i. Orig. Ebd. (169). Zur Sorel’schen Anthropologie s. Barth (1959: 71). Nicht verwunderlich ist die Anknüpfung Sorels an die Geschichtsphilosophie Giambattista Vicos, in der er einen Gewährsmann gegen den Positivismus seiner Zeit sah, vgl. Witzenmann (1935) und Sternhell/Sznajder/ Asheri (1999: 78). 236 Vgl. Sorel (19102: 203).
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der auf die Emotionen der Masse einwirke. Er war das Mittel, mit dessen Hilfe die marxistische Theorie in die Praxis überführt werden sollte. Der Grundmythos, auf den man das Denken Sorels beziehen könnte, wäre die Schlacht der Spartaner bei den Thermophylen.237 Dieses kriegerische Theorieangebot schien in den Augen der idealistischen Sozialisten, wie Mussolini es einer war, besonders attraktiv. Ein (un)treuer Schüler Sorels? Mussolini erbrachte seinen Beitrag zur Mythos-Debatte als Sozialist in einer Buchbesprechung mit dem Titel Lo sciopero generale e la violenza (1909). Darin sprach er folgende Themen an: der Mythos und seine Funktion, sein ideologisch-dualistischer Aufbau, die Unterscheidung zwischen kreativ-roher Gewalt (violenza) und unterdrückender Stärke (forza) sowie die aus dem Generalstreik entstehende moralische Erneuerung.238 Was nicht zu bezweifeln ist, ist die Tatsache, dass viele spätere Faschisten sich von Sorels Ideen beeinflusst sahen und dass Mussolini immer wieder auf ihn partiell zurückkam. So behauptete er in einer der bekanntesten Reden kurz vor dem Marsch auf Rom in Neapel 1922: Wir haben unseren Mythos erschaffen. Der Mythos ist ein Glaube, er ist eine Leidenschaft. Es ist nicht notwendig, dass er auch Realität ist. Er ist eine Realität in dem Sinne, dass er Stachel, Hoffnung, Glaube und Mut ist. Unser Mythos ist die Nation, unser Mythos ist die Größe der Nation! […] Und diesen Mythos, diese Größe wollen wir in vollkommene Realität überführen, den Rest ordnen wir diesem Ziele unter. Für uns ist die Nation vor allem Geist und nicht nur Territorium.239
Der Mythos sei ein Glaube, das heißt er ist ein Bündel aus Überzeugungen und Verhaltensnormen, der dieselben affektiven Muster – hier Leidenschaft genannt – wie der christliche Glaube abruft und beansprucht. Wie bei Sorel steht das Emotionale im Vordergrund. Einer Überprüfung müsse der Mythos nicht standhalten: „Il faut juger les mythes comme des moyens d’agir sur le présent et toute discussion sur la manière de les appliquer matériellement sur le course de l’histoire est dépourvue de sens.“240 Der Stachel kennzeichnet die 237 „Wanderer, kommst du nach Sparta, so sage, du habest uns hier liegen gesehen, da wir dem heiligen Gesetz des Vaterlandes gehorchten.“ Simonides zitiert n. Cic. Tusc. I, 101. Vgl. auch Sternhell/Sznajder/Asheri (1999: 93 f.). 238 Vgl. Mussolini OO (2: 164–168). 239 Mussolini OO (18: 457). Herv. v. F.S. 240 Sorel (19102: 167).
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aktivierende, dynamische Seite des Mythos, denn er soll zum Kampf anspornen. Aus dem Mussolini-Zitat wird nicht direkt ersichtlich, dass es sich dabei um einen Kampf-Mythos im Sinne Sorels handelt. Bezieht man das Wissen um das tief gespaltene Italien mit ein (vgl. Kap. 3.1.4) und die Opposition, die sich durch die Abgrenzung zwischen dem Supremat der eigenen Nation und den fremden Nationen ergibt, so erhält auch dieser Mythos seinen dualistischkämpferischen Charakter. Die Hoffnung bezeichnet expansionistische aber auch andere nicht artikulierte Wünsche. Der Mut ist die gewünschte heroische Komponente der neuen Moral, die sich im Kampf ausbilden soll. Mussolini sprach nicht mehr vom Generalstreik, sondern – bedingt durch die ideologische Weiterentwicklung und den Ersten Weltkrieg – von der Nation als mobilisierendem Mythos.241 Das Thema Mythos regte im Ventennio unter den faschistischen Intel lektuellen eine umfangreiche Theoriediskussion an.242 So beschäftigten sich Intellektuelle wie der idealistische Philosoph Giovanni Gentile sowie Rodolfo De Mattei, Carlo Costamagna, Giuseppe Bottai oder Carlo Curcio mit dem Mythos. Ihnen gemein ist, dass sie alle die Mythen aus dem Wesen des Menschen ableiten, denn er sei bildlicher Ausdruck von Emotionen eines Volkes und notwendig für die Schaffung einer neuen Kultur. Der Mythos schien attraktiv zu sein, weil er ein Gegenmodell zur Vernunft und zum Positivismus an die Hand gab, weil er als theoretische Legitimation dienen konnte, aber auch Anweisungen lieferte, wie man Politik konkret gestalten sollte. Jack Roth hob zurecht hervor, dass die italienischen Intellektuellen Sorels Gedanken nur sehr vage rezipierten.243 Für seine oberflächliche Rezeption kann man Sorel zwar nicht verantwortlich machen, seine essayistischen Ausführungen über den Mythos haben allerdings einer ungesteuerten, wilden Aneignung Vorschuss geleistet.
241 Zur sogenannten ‚Konversion‘ Mussolinis vom Sozialisten zum Faschisten s. Sternhell/ Sznajder/Asheri (1999: 270–284). Eine Vermittlerrolle für diesen Wandel hatte Enrico Corradini inne: „Italien ist die große Proletarierin. Zwischen ihr und den wirtschaftlich entwickelten Staaten besteht das gleiche Verhältnis wie zwischen Arbeiterklasse und satter Bourgeoisie. C o r r a d i n i präzisiert den italienischen Nationalismus geradezu als socialismo nazionale“, Beckerath (1927: 18), Sperrung und Kurs. i. Orig. 242 S. z.B. Curcio (1940b). Einen Überblick dazu gibt Gentile (20096: 142–148). 243 Vgl. Roth (1967: 45): „Seen in this light, the fascism that came to power in 1922 may be regarded, to a considerable degree, as an organized and vulgarized transformation of the prewar Sorelian movement.“
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Massenpsychologie, Phänomen einer verunsicherten Gesellschaft In dieselbe Kerbe wie Sorel schlug ein anderer Theoretiker: Gustave Le Bon (1841–1931). Die konkrete Rezeption Le Bons und seiner Massenpsychologie durch Mussolini ist erst nach dem Ersten Weltkrieg sicher: „After the World War I, Le Bon sent Mussolini at least four of his books; he received a ‚flattering letter‘ in return.“244 Mussolini drückte in einem Interview von 1926 seine Achtung gegenüber Le Bon aus: „Ich habe das gesamte Werk Gustave Le Bons gelesen und ich weiß nicht wie viele Male ich seine Psychologie der Massen wieder gelesen habe. Es ist ein grundlegendes Werk, zu dem ich noch heute oft zurückkehre.“245 Das Werk erschien erstmalig 1927 auf Italienisch und bezeugt damit, wie lange es gedauert hatte, um sich in einem positivistischen Klima durchzusetzen.246 In Gespräche mit Mussolini (1932) des Journalisten Emil Ludwig finden sich im Kapitel Wirkung auf die Massen aufschlussreiche Erkenntnisse darüber, wie Mussolini die Masse und seine rednerische Interaktion mit ihr begriff: Die Masse ist nichts für mich als eine Herde Schafe, solange sie nicht organisiert ist. Ich bin keineswegs gegen sie. Ich negiere nur, daß sie sich selbst regieren kann. Führt man sie [die Masse als Herde verstanden], so muß man sie an zwei Zügeln führen: Enthusiasmus und Interesse. Wer nur eins von beiden verwendet, kommt in Gefahr. Die mystische und die politische Seite bedingen einander. Das eine ohne das andere ist trocken, das andere ohne das eine zerblättert im Winde der Fahnen.247
Politische Interessen müssten immer mithilfe von emotionalem Enthusiasmus vermittelt werden, ansonsten seien sie „trocken“. Was darunter zu verstehen sei, darüber gibt Le Bon Aufschluss: Beim Studium der Einbildungskraft der Massen fanden wir, daß sie namentlich durch Bilder erregt wird. […] In ihnen [durch Worte erzeugte Bilder] ist die Zusammenfassung der verschiedenen Erwartungen und der Hoffnung auf ihre Verwirklichung lebendig.248
Und weiter: 244 245 246 247
Barrows (1981: 179). Mussolini OO (22: 156), Kurs. i. Orig. Vgl. Le Bon (1927). Ludwig (1932: 123 f.). Bereits Platon hatte die Seele in seinem Phaidros (253c–255a) in zwei Teile gegliedert. Der Wagenlenker musste ein emotionales und ein vernunftbetontes Pferd/Seelenteil zügeln und lenken. 248 Le Bon (198215: 71 f.).
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Kapitel 3 Wir haben bereits festgestellt, daß die Massen durch logische Beweise nicht zu beeinflussen sind und nur grobe Ideenverbindungen begreifen. […] Um die Massen zu überzeugen, muß man sich zunächst genau Rechenschaft geben über die Gefühle, die sie beseelen, muß den Anschein erwecken, daß man sie teilt, dann versuchen, sie zu verändern, indem man mittels angedeuteter Ideenverbindungen gewisse zwingende Bilder hervorruft.249
Massen reagierten also weniger auf Argumente, denn auf Bilder, die in einer günstigen emotionalen Atmosphäre aufgenommen werden müssten. Das Interesse jedoch, das Mussolini im Gespräch mit Ludwig noch erwähnt, sei Ausdruck des politischen Anlasses und gemeinsamer Ziele. Emotionen dienten der Fokussierung und quasi als Klammer für die politischen Ziele. Damit umriss Mussolini die für ihn als Redner wichtigen Grundaufgaben. Sie basierten auf der wesentlichen Annahme, dass die Masse wie eine Herde angeleitet, wie eine Frau durch einen mächtigen Cäsar dominiert werden müsse. Auch diese Vergleiche finden sich schon bei Le Bon.250 Mussolini rief noch ein weiteres Merkmal der Masse auf, indem er den Politiker als ‚Künstler‘ verstand und die Masse als dessen ‚formloses Material‘, das gestaltet werden müsse. Die Verbindung von Machttheorie und Ästhetik war eine Idee, die Mussolini nicht nur an dieser Stelle äußerte. Bereits 1927 sagte er in einer Rede zur Eröffnung der Ausstellung Novecento in Mailand: Welches Verhältnis besteht zwischen Politik und Kunst? Welches zwischen dem Politiker und dem Künstler? Ist es möglich, eine Hierarchie zwischen diesen beiden Ausdruckformen des menschlichen Geistes aufzustellen? Es besteht kein Zweifel, dass die Politik eine Kunst [arte] ist. Sie ist gewiss keine Wissenschaft. Auch kein reiner Empirismus. Sie ist also eine Kunst. Auch deshalb, weil in der Politik viel Intuition steckt. ‚Politische‘ Schöpfung ist wie die künstlerische ein langsames Ausarbeiten und eine plötzliche Ahnung. In einem bestimmten Moment schafft der Künstler mit Inspiration, der Politiker mit Entscheidung. Beide bearbeiten die Materie und den Geist. Beide verfolgen ein Ideal, das sie anstachelt und übersteigt. Um einem Volk weise Gesetze zu geben, muss man auch ein bisschen Künstler sein.251
249 Ebd. (80). 250 Vgl. ebd. (83): „Die Masse ist eine Herde, die sich ohne Hirten nicht zu helfen weiß.“ Dass die Masse von Le Bon als irrational aufgefasst wurde, ist mit der Gleichsetzung eines pathologisierten Frauenbildes zu erklären. Die ‚weibliche‘ Masse brauche somit einen ‚männlichen‘ Anführer, der sie wie ein Arzt unter Hypnose setzen und sie damit heilen könne. Falsca-Zamponi (2000: 23) leitet daraus das Wesen faschistischer Rhetorik ab: „Anything fascist became ‚virile‘ in Mussolini’s rhetoric, from his own speeches to fascism’s political peace.“ 251 Mussolini OO (22: 82).
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Woher kommt solch eine Analogisierung von Kunst und Politik? Zuerst fällt auf, dass der Begriff arte mehrdeutig ist und die Analogie überhaupt erst ermöglicht. Neben Kunst kann er auch Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit bedeuten und ist mit der griechischen téchnē verwand. Mit einer erlernbaren Technik hat das hier geäußerte Verständnis aber wenig zu tun, denn Schöpfung, Intuition, Inspiration entstammen allesamt aus der GenieTradition. Wenn Ludwig Mussolini mit einem Zitat konfrontierte, das er einst äußerte, „[a]us meinem Leben will ich ein Meisterstück machen“252, dann erinnert das sehr an eine Maxime aus dem Roman Lust (1889) von D’Annunzio: „Man muss das eigene Leben gestalten, so wie man ein Kunstwerk gestaltet.“253 Damit wird der Wille und die Intuition zu den zentralen Eigenschaften des gestaltenden Genies. Der Geniekult war im 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Ausprägungen präsent und wurde durch den Ästhetizismus der Jahrhundertwende befeuert. Figuren wie Napoleon, aber auch Cäsar – beide nannte Mussolini seine Vorbilder – stellten Projektionsflächen dieses Kultes dar. Beide Gestalten wiesen eine politische Einfärbung auf und begünstigten die Verschmelzung von Genie- und Führerkult. Durch Oswald Spenglers Buch Jahre der Entscheidung (1933) war der Cäsarismus als Leitbild auf Förderung Mussolinis hin in den politischen Diskurs erneut eingespeist worden.254 Eng mit dem Genie ist die Vorstellung über die Masse verbunden. Beide ergeben eine strikt hierarchische Konstellation, die Mussolini zur eigenen Legitimierung anwandte. Damit bediente er den Ruf nach einem Anführer. „Nicht die Wirklichkeit, sondern die Legende und die Bereitschaft, an solche Legenden zu glauben, ist maßgebend. Die Wahrnehmung des Genies ist wesentlich ein Produkt der Verehrergemeinschaft, die darauf eingestimmt ist und nach dem Genie ruft.“255 Robert Michels bestätigte diese Sehnsucht innerhalb der italienischen Bevölkerung: „Der Fascismus ist absolut carlylisch. Selten hat die lange und krause Geschichte des modernen Parteienwesens uns ein so prototypisches Beispiel für die inneren Bedürfnisse der Masse zu heroworship gegeben, wie es der Fascismus bietet. […] Italien lechzte politisch
252 Ludwig (1932: 223). 253 D’Annunzio (1923: 41.): „Bisogna fare la propria vita, come si fa un’opera d’arte.“ Kurs. i. Orig. 254 Vgl. Thöndl (2005: 380 ff.). 255 Schmidt (19882: 193), Gamper (2016) verfolgte in seiner Studie Der Große Mann die genealogischen Spuren, die dazu führten, dass die Vorstellung um das Genie im 19. Jh. weite Verbreitung fand. Darüber hinaus legte er dar, wie die Idee des geschichtsmächtigen Individuums auch durch bestimmte mediale Diskurstechniken befeuert wurde; zu Mussolinis angeblichem Charisma s. Ebd. (400 f.).
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nach einer starken Hand.“256 Die Massenpsychologie war nicht nur Ausdruck einer Sehnsucht, sondern half auch dabei, diese Sehnsucht erst zu wecken und sie zu kanalisieren. War Mussolini nun ein treuer Schüler Sorels? Wie setzte er die Massenpsychologie Le Bons ein? Willem Doise ist der Meinung, „there is no doubt that ideas elaborated before the beginning of Mussolini’s career were used by him as tools for analyzing salient aspects of his own political experience and for justifying and orienting his own action.“257 Nach Doise sei Mussolini vor der Diktatur von Sorel und während seiner Herrschaft vor allem von Le Bon beeinflusst gewesen. Le Bon „could be actualized and became necessary for establishing and strengthening the totalitarian regime.“258 Mussolini setzte seine Kenntnis der Massenpsychologie ein, um damit soziales Prestige zu erwerben. Er konnte damit des Weiteren seine rednerischen Erfahrungen mit einer theoretischen auctoritas unterlegen. Ähnlich sieht es Robert Nye: „No doubt, in finding intellectual justifications for fascist ideology Mussolini was merely rationalizing his fundamentally pragmatic attitude to political power; his tendency to claim ideological influences as the situation demanded is well-known.“259 Der Diktator berief sich also auf Einsichten beider Theoretiker. Er nutzte sie hauptsächlich als nachgelagerte theoretische Fundierung seiner polemisch emotionalen Rhetorik und konnte dadurch sein soziales Prestige als Autodidakt erhöhen. Helmut Berdings Urteil ist zuzustimmen, wenn er schreibt: Formal besteht eine vollständige Analogie zwischen den Mythen, die der Faschismus ausgebildet hat, und den Mythen, wie Sorel sie allgemein theoretisch bestimmt hat. Der Faschismus hat die Einsichten Sorels in die Bedingungen, unter denen es zum Aufbruch spontaner Bewegungen kommt, angewendet, das heißt, in eine Technik umgeformt. Damit ist der Sinn der Mythoslehre zugleich erfüllt und verraten worden.260
Le Bon, Sorel und Mussolini wünschten sich, einer als dekadent empfundenen Epoche ein Ende zu setzen und einen ‚Neuen Menschen‘ zu schaffen. Die Massenpsychologie als Mode-Theorie artikulierte das ‚Unbehagen an der Kultur‘ und lieferte die Legitimationsgrundlage für einen autoritär geführten politischen Diskurs, in dem es nur Hirten und Herde, Anführer und Masse gab. 256 257 258 259 260
Michels (1987: 293 f.), vgl. auch Petersen (1983: 242). Doise (1986: 79). Ebd. (81). Nye (1975: 179). Berding (1969: 147), Kurs. i. Orig.
Mussolini: historische Wurzeln eines Redners
3.6
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Orator perfectus? Der Diktator aus Sicht der Zeitgenossen
„Kurz gesagt: was ist nun eigentlich, wer ist nun eigentlich dieser Mann Mussolini?“261 Diese Frage wollte die langjährige Geliebte Mussolinis, Margherita Sarfatti, mit ihrer Biographie Dux beantworten. Anscheinend gab es bereits damals ein großes Interesse an der Person Mussolini, was sich auch zu großen Teilen von seiner rednerischen Fähigkeit ableiten lässt. In diesem letzten Abschnitt liegt das Augenmerk darauf, wie die Zeitgenossen den Redner Mussolini für die Regierungszeit charakterisierten. Bei der Sichtung des umfangreichen Materials – die von August Haslers Aufsatz Das Duce-Bild in der faschistischen Literatur262 ihren Ausgang nahm – kann man schnell feststellen, dass es beträchtliche Unterschiede in Aufmachung und Inhalt der Literatur gibt: Das Spektrum reicht von einer nüchternen Beschreibung bis hin zur reinen Propaganda. Auch explizit propagandistisches Material kann nützlich sein, denn es zeigt eingefahrene und gefestigte Rezeptionsweisen der Person Mussolinis als Redner auf. Wenn diese Sichtweisen von Mussolini bedient und abgerufen wurden, konnten er sie wiederum rhetorisch wirksam machen. Um Redundanzen zu vermeiden, werden die Ergebnisse nach Stil, Argumentation, rednerischem Auftreten und Vergleich mit anderen Rednern gegliedert. Mussolinis Stil Entgegen der landläufigen Erwartung und der traditionellen Gepflogenheit, nämlich einen figurenreichen Stil zu verwenden, spreche Mussolini ganz anders: „Nichts ist hier schematisch, sondern alles ist wesentlich, nichts ist trocken, sondern alles ist von einer herben, beseelten, farbigen Energie, die in uns eindringt, bevor wir es noch gewahr werden“263, so der Germanist Lorenzo Bianchi auf einem Vortrag über Mussolini im italienischen Kulturinstitut 1937 zu Köln. Häufig wurde dieser Unterschied zur traditionellen Rhetorik hervorgehoben. Mussolini sage, was gesagt werden müsse in einer bündigen, wesentlichen und kurzen Weise. Die Reden, seien – wie Mussolini
261 Sarfatti (1926b: 323). 262 Vgl. Halser (1980). Besonders der Abschnitt: ‚Der Intellektuelle‘ war für das folgende Kapitel sehr aufschlussreich. Hasler hat, wie er selbst schreibt, knapp die Hälfte der über 400 Titel umfassenden Literatur mit Mussolini zum Inhalt gesichtet. 263 Bianchi (1938: 16).
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einmal betonte – dürr wie ein Skelett.264 Erich Stock charakterisierte den Stil Mussolinis wie folgt: Das Fundament seiner Prosa ist die Einfachheit. Mussolini verabscheut die verschlungenen Sätze, vermeidet aber bei aller Kürze des Ausdrucks die Eintönigkeit. […] Auch seine substantiellen Reden nehmen selten länger als eine halbe Stunde in Anspruch, und seine Leitartikel pflegen in anderthalb Spalten das Thema zu erschöpfen.265
Und weiter: Die epigrammatische Form seiner Ausdrucksweise macht es der politischen Propaganda leicht, selbst kurze Sätze als willkommenes Mittel der Massenerziehung auszuwerten. ‚Roma doma‘ (Rom triumphiert), ‚Grenzen werden nicht diskutiert, sondern verteidigt‘, ‚Das Mittelmeer ist eine Via der Engländer, die Vita der Italiener‘ – alles das ist in der Formulierung schlechthin unübertrefflich.266
Die Kürze der mussolinischen Syntax biete sich, wie Stock bemerkte, besonders für propagandistische Zwecke an, da sie zur Kombinationen von Schlagworten führe, die sich gut einprägen ließen. Diese aus den Sätzen herausgelösten Slogans wurden dann nicht nur in Florilegien als stilistische wie handlungsanleitende Vorbilder abgedruckt, sondern fanden sich ebenso im öffentlichen Raum, in Amtsgebäuden oder auf Außenflächen gut lesbar wieder.267 Möglich war diese Wiederverwertung von Mussolinis Aussagen aus zwei Gründen: Er legte die Sätze genau dafür an und markierte sie entsprechend als Leitsätze. Die fragmentierte Syntax begünstigte dieses Vorgehen. „[W]ir 264 Vgl. Mussolini OO (18: 411): „[N]on vi attenderete da me un discorso che non sia squisitamente fascista, cioè scheletrico, aspro, schietto e duro.“ Auch Antonio Russo betonte schon 1923, dass Mussolini als Regierungschef seine Reden in der Ausgestaltung auf ein Mindestmaß reduziert habe, vgl. Russo (1923: 1). 265 Stock (1942: 315). Das Definitionsmerkmal Kürze findet sich auch bei: Sarfatti (1926b: 286): „Mussolinis Beredsamkeit ist schlicht und gradezu“; Domino (19292: 10): „periodare breve ed inciso“; Ardau (1929: 28): „frasi brevi“; Bernardini (1934: 431): „scarno di parole“; ex negativo Costanzi (1934: 343): „detesta [scil. Mussolini] il panneggiamento sontuoso, musicale, il giro ampio, lussuoso, ciceroniano della proposizione“; Gustarelli (1935: 14): „Periodi brevi, talora quasi mozzi“; Santini (1938: 337): „Quelli [scil. discorsi] alla folla sono generalmente a periodi brevi“; Adami (1939: 46): „l’uso di un linguaggio spesso sentenzioso“; Ellwanger (1939: 57): die „Formung des Satzes [sei] bei Mussolini durch lapidare Knappheit“ gekennzeichnet; Pini (1939: 228): „sharp, short speeches“. 266 Stock (1942: 317). 267 Als Beispiele für Florilegien wären Giuseppe Adami (1939) mit seinem Breviario Mussoliniano und Bruno Biancini (19402) mit dem Dizionario Mussoliniano zu nennen. Zu den Slogans und den scritture murali vgl. auch Siennicka (2016: 144–148 und 248–257).
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[treffen] als beinahe alleinige Träger der Darstellung das parataktische blockhafte Satzgefüge, in welchem jede Einheit frei von des Gedanken Blässe in schlagartiger Entschiedenheit und scharf umrissener Monumentalität ins aufnehmende Bewusstsein stösst.“268 Diese Fragmentierung kann aus der journalistischen und sozialistischen Prägung Mussolinis hergeleitet werden und trug zu einer schnelleren Rezeptionsweise bei. Über die Syntax schrieb Ugo Ojetti 1923: „Die erste [Qualität Mussolinis] ist ein vollkommener Periodenbau, der niemals einen Satz unvollendet lässt.“269 Hier spielen, wie schon bei D’Annunzio, Klauseln am Ende des Satzes eine wichtige Rolle. Hermann Ellwanger wird auf die Wirkung dieser Konstruktion zurückkommen bzw. auf „die Anwendung des Dreiklangs im suggestiven Redeeinsatz. In dieser Verwendung ist der Dreiklang ein Mittel der Redegliederung, das offensichtlich dem Satzgefüge eine ganz besondere Klarheit verleiht.“270 Er beschrieb die unterschiedliche Nutzung durch Mussolini: Erstens kann der Dreiklang in der Sache begründet liegen, so z.B. bei einer Aufzählung unterschiedlicher Aspekte. Zweitens kann er als erweitertes, schmückendes Beiwort oder drittens als Häufung bzw. Steigerung eingesetzt werden. „Diese [letzte Variante] dient immer wieder wesensmäßig der Suggestion und Einprägsamkeit gewisser Gehalte politischer Zielsetzung.“271 Der Dreiklang sei ebenfalls ein geeignetes Mittel, die Memorierbarkeit zu steigern und somit die Botschaften langfristig zu verankern. Die Stilqualität der Klarheit gehörte aus der Sicht der Zeitgenossen ebenfalls in diesen Zusammenhang: „Il suo linguaggio è, allora, essenzialmente chiaro.“272 Das Phänomen der Klarheit lasse sich schon auf den unteren 268 Ellwanger (1939: 58). Neben der schon aufgeführten Kürze findet sich häufig die Beschreibung des fragmentierten Satzbaus unter dem Begriff incisivo, so z.B. Costanzi (1934: 343): „La frase dell’eloquenza mussoliniana è incisiva“ oder auch Gustarelli (1935: 14). 269 Ojetti (1939: 23). 270 Ellwanger (1939: 70), Kurs. i. Orig. 271 Ebd. (64). 272 Adami (1939: 25) sowie ebd. (21): „lingua cristallina e pura“. Vgl. Marpicati (1929: 563): „chiarezza, anzi della trasparenza espressiva“; Santini (1938: 338) schildert den klärenden Effekt, den Mussolini mit seinem Satzbau und seiner Ausdrucksweise bei seinen Zuhörern erreichen würde: „Allora nell’animo degli ascoltatori si fanno grandi luci, si allineano forme chiare di realtà, nasce la sicurezza e s’ingigantisce la fede.“; Ellwanger (1939: 89): „Chiarezza und risolutezza, das waren die Forderungen des ‚stile fascista‘ auch im Bereich der Sprache, deren Antlitz durch die Kürze und Prägnanz, Härte und kämpferische Haltung der Mussolinischen Sprache eine neue Prägung erfuhr.“ Synonyme für chiaro waren auch: limpido, puro, trasparente, sobrio oder luce/lucente/lucidità sowie nettezza. Die Klarheit kann auch als kognitives und in diesem Sinne argumentatives Moment aufgefasst werden. Eine Trennung zwischen Stil und Argumentation ist deswegen nur bedingt sinnvoll. Da die Trennung sich auf Lexik und Syntax einerseits und Semantik,
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Organisationsebenen der Rede, nämlich bei der Wortwahl, festmachen. In Bezug auf die Lexik wurde meist festgestellt, dass Mussolini eine einfache Sprache spreche. So meinte Santini: „Man spürt deutlich die Volkstümlichkeit des Ausdrucks“ und weiter „[d]ie Sprache besteht aus Wörtern, Sätzen und Bildern, die aus dem lebendigen Sprachgebrauch [uso vivo] entnommen sind“273. Als letztes und schon zur Argumentation überleitendes Stilmittel, dessen sich Mussolini häufig bediente, steht die Metapher, das Bild. Eugenio Adami formulierte lapidar: „Si esprime per immagini.“274 Mussolini drücke sich durch Bilder aus. Diese seien einfach und kräftig, aber nicht unbedingt bunt, also ausgefallen. Wenn Mussolini eine Metapher oder andere Stilmittel wie den Vergleich oder eine rhetorische Fragen benutze, dann seien sie nicht ‚rhetorisch‘ im herkömmlichen Sinne, sondern immer zweckmäßig und äußerst wirksam.275 Die rhetorischen Kunstmittel wurden seinerzeit zwar bemerkt, doch direkt auf die Persönlichkeit Mussolinis zurückgeführt und in diesem Zuge als ‚natürlich‘ und ‚authentisch‘ interpretiert. Das bildhafte Reden Mussolinis wurde in einen argumentativen Zusammenhang gestellt. Am deutlichsten sieht man das bei der Äußerung Antonio Russos: Die Haupteigenschaft dieser Beredsamkeit ist eine Idee, die in Synthese empfangen und beinahe in derselben Synthese ausgedrückt wird. Generell empfangen wir die Ideen nicht mit all den Worten, die sie wiedergeben können. Wir empfangen die Ideen, indem wir sie beinahe sehen. Man sagt in der Tat, dass eine Idee ein Geistesblitz ist. […] Diesen Prozess der visuellen Ideenkonzeption gibt Mussolini mit seinem Satzbau, der immer sehr kurz ist, wieder und kommuniziert ihn, als auch mit der Hervorhebung des Wortes, das nicht nur Klang und Farbe ist, sondern Bild und Mutter von Bildern, Erinnerung und
Disposition und Argumentation andererseits bezieht, wurde sie hier als sinnvoll erachtet und vorgenommen. 273 Santini (1938: 337). Domino (19292: 23) befindet, dass Mussolini „[p]arole semplici e buone“ benutze. Adami (1939: 18) merkt noch den Gebrauch von Neologismen an und Ellwanger (1939: 97 f.) liefert hierfür den Grund: „Vor allem erkennen wir das Bemühen Mussolinis, seine Sprache so kurz wie möglich zu fassen und zu vereinfachen.“ 274 Adami (1939: 26); vgl. ebenso Sarfatti (1926b: 286): „wenn er bildhaft wird, so ist das immer nur kurz und vorübergehend, aber stets anschaulich“; Ardau (1929: 28): „colorito di immagini“; Villani (1937: 614): „vivacità delle immagini“; Sansone (19413: 570): „l’attitudine mussoliniana a fermare le immagini e i concetti in scorci incisivi“. 275 Vgl. Santini (1938: 337), vgl. so schon Ardau (1929: 89): „Quelli che a prima vista possono scambiarsi per figure rettoriche sono in effetto logici atteggiamenti del suo pensiero. La ripetizione, ad esempio.“
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Erzeugerin von Erinnerungen, Schlüssel eines Argumentes, Abschluss eines Syllogismus, etc. etc.276
Die Synthese als Gegenstück zur Analyse sei nicht nur eine bevorzugte argumentative Darstellungsart Mussolinis in seinen Reden. Sie sei zugleich mit der oben schon erwähnten Verwendung von Metaphern und Bildern fast auf natürliche Weise verwoben. Russo hob das Visuelle hervor, leitete gemäß dem platonischen Erkenntnismodell die Gedanken von einer Ideen-Schau her und behauptete eine höchste Entsprechung zwischen dem Gedachten und dem in Worten Ausgedrückten (verba = res). Ähnlicher Auffassung waren auch Bianchi, Adami oder Ardau.277 In der Rhetorik wird dieses Vorgehen evidentia oder sub oculos ponere genannt. Strittiges wird nicht durch Nichtstrittiges überbrückt und abgesichert. Das Strittige wird als unbestritten, selbstevident dargestellt. Die evidentia ist unter die suggestiven Verfahren zu subsumieren.278 „Ein lebendiges Bild von klaren Konturen entsteht vor dem geistigen Auge des Zuhörers, dessen eigene
276 Russo (1923: 2 f.), Kurs. i. Orig. Die der Metapher und dem Bild zugesprochene argumentative Kraft macht fast den Barockrhetoriker Emanuele Tesauro mit seinem Il Cannochiale Aristotelico (1654) als Gewährsmann von Russo wahrscheinlich. 277 Vgl. Bianchi (1938: 41), er schrieb über das Kriegstagebuch Mussolinis: „Alles ist in perspektivischer Verkürzung mit rascher, eindringlicher Klarheit hingezeichnet“. Adami (1939: 38): „Le cose vi passano davanti agli occhi con vivezza e plasticità straordinarie […]. Il quadro è tutto ‚finito‘ in poche righe“; Ardau (1929: 92): „idee che sono sintesi di lunga analisi, che esprimono un’anteriore elaborazione logica. L’oratore non ripete: riassume“; Santini (1938: 337): „l’immediatezza e la forza sintetica dell’espressione“. Die interessanteste Beschreibung fand sich bei Domino (19292: 37). Dort schilderte Dino Alfieri Mussolinis Vorgehen: „attraverso rapidi passaggi che Egli [= Mussolini] sa far apparire di una evidenza completa, mentre si trovano prima involuti nella grigia apparenza dei fatti esposti, compie una sintesi lucida, piena, organica, che sgroviglia improvvisamente l’intricato sovrapporsi delle varie tesi e le risolve in una conclusione armonica con tanto facile e persuasiva semplicità da farla apparire ora scaturita necessariamente dalla realtà delle cose.“ 278 Vgl. Kemmann (1996: 34 f., 39 f.). Die angeführte Evidenz kann in zwei Richtungen interpretiert werden: Zum einem in eine objektiv-logische, zum anderen in eine subjektivsinnliche Evidenz. Rhetorisch kann die Evidenz mit sprachlichen Mitteln erzeugt werden: einerseits durch Verfahren der Vergegenwärtigung, andererseits durch solche der Verlebendigung. Erstere stellen die „Realität“ dar so wie sie ist. Ihnen kommt eine referenzielle Funktion zu, d.h. sie geben vor, „Realität“ abzubilden, können diese aber auch erst schaffen. Die Verfahren der Verlebendigung erzeugen Unmittelbarkeit, da sie Abstraktes in Konkretes, Unbelebtes in Belebtes umwandeln. Für Mussolini kann man aus dem Urteil der Zeitgenossen beide Arten der Evidenz geltend machen.
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Phantasie nun selbst zu schwingen und zu arbeiten beginnen soll“279, befand Ellwanger im Jahre 1939. In diesem Befund ist womöglich die Faszination zu finden, die Mussolini auf sein Publikum ausübte, denn die Metaphern verliehen der Rede nicht nur Anschaulichkeit, sondern wirkten auch rezeptionsaktivierend. Mussolini umgab die Fakten, die er aussprach mit einem ‚poetischen Hauch‘, vergeistigte sie und enthob sie jeglichem Zufall, indem er sie universalisierte.280 Ähnlich ging auch Alfredo Oriani vor (s. Kap. 3.4). Seine suggestiven Bilder entnahm Mussolini oft aus der antiken oder zeitnahen Geschichte Italiens und setzte sie als argumentative Stütze ein. Mythos und Geschichte fielen somit in eins. Ellwanger hat dies in Anlehnung an Nietzsche „heroisch-monumental[e] ‚Anamnese‘“281 genannt. Ein Vorzug der synthetisch-metaphorischen Argumentation sei nicht nur ihre Bündigkeit und Anschaulichkeit, sondern auch ihre emotionalisierende Wirkung. Am deutlichsten sprach dies Ellwanger aus: Es kommt dem Duce bei seinen Reden in der Hauptsache auf die richtige Fühlung mit dem Volke an, denn davon hängt die Gefolgschaftstreue und der Opfersinn der Menge ab. […] Und da bei der Erreichung eines Zieles das Herz oft eine grössere Rolle spielt als der Verstand, so begnügt sich Mussolini mitunter damit, die richtigen Gefühle und Stimmungen im Herzen seines Volkes heraufbeschworen zu haben, denn selbst die schönste Rede kann wertlos sein, wenn sie dem Zuhörer nicht wirksam ans Herz geht.282
279 Ellwanger (1939: 43). Auch Gustarelli meint (1935: 154), die Sätze seien „sempre importanti per quello che dicono, ma più importanti ancora per quello che, non detto, suggeriscono alla nostra meditazione e alla nostra fantasia.“ Santini (1938: 338) spricht vom Effekt der „visioni limpide e vere, accessibili anche alle menti piú semplici.“ 280 Vgl. Adami (1939: 14), Domino (19292: 43) spricht dies im Zusammenhang der LateranReden an: „Mussolini, che sa temprare con sottile alito di poesia i contatti con la materialità“. 281 Ellwanger (1939: 31 f.) und weiter: „Es ist daher nichts natürlicher für Mussolini, den Führer einer Volksbewegung, als die in der Vergangenheit seines Volkes ruhenden Kräfte wachzurufen und für die Gegenwart politisch und moralisch wirksam zu machen.“ Ebd. (30). Vgl. Domino (19292: 15): „sensibile e profondo conoscitore della storia“; Ardau (1929: 75): „dalle grandiose lezioni del passato, ricava la sicura speranza per l’avvenire“; Adami (1939: 25): „Studioso e conoscitore della storia trae da questa ammaestramenti preziosi che utilizza […]. Ad essa si appella tutte le volte che vuole trovare il più autorevole appoggio alle sue idee e propositi“. 282 Ellwanger (1939: 25 f.); auch Ardau (1929: 65): „È l’eloquenza popolare vera e propria che mira a scuotere gli inerti e gli scettici, e ad appassionarli con la foga irruente“; Villani (1937: 607), der von den Reden als „stimolo all’azione“ spricht.
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Die Hauptaufgabe, die dieser Rhetorik zugedacht war, lag im Erregen von Affekten: zuerst beim Redner selbst, dann beim Publikum.283 Die Emotionen wurden direkt auf die Echtheit und Glaubwürdigkeit des Redners zurückgeführt. Mussolinis Argumentation Die Zeitgenossen attestierten dem ‚Duce‘, im Gegensatz zur heutigen Forschung, auch analytische Fähigkeiten. Adami weist en passant auf das Ausschlussverfahren (esclusione) hin. Ardau hingegen, der eine Entwicklung in Mussolini erkennen wollte, konstatierte, Mussolini habe sich vor allem als Abgeordneter durch das Auflösen von gegnerischen Argumenten (metodo analitico) ausgezeichnet. Später sei dieser Zug dann verschwunden, da in einer Diktatur nicht mehr diskutiert werden müsse.284 Ein weiteres hieran anknüpfendes Element stellte der absolute Modus bzw. der Indikativ dar, den Mussolini einsetzen würde, um seinem Anliegen etwas Endgültiges zu geben. Daraus entstand der Eindruck, dass nichts Unsicher und alles klar sei. Ojetti meinte, Mussolinis Qualität als Redner bestehe in einer „kontinuierliche[n], definitive[n], ruhige[n] Behauptung […]: kein Nebel, keine Grautöne, die ganze Welt reduziert auf schwarz und weiß. Die Zweifel behält er für sich.“285 Auch dieses Vorgehen wird wahrscheinlich dazu beigetragen haben, dass die Reden Mussolinis als klar rezipiert wurden. Mussolini stellte somit Dinge als faktisch, als evident dar: „L’eloquenza dell’evidenza, 283 Diese emotionalisierende Eigenschaft wird auch von der späteren Forschung als fundamental erachtet, vgl. Leso (19782: 33), Desideri (1984: 55), Fedel (1999: 155). 284 Vgl. Adami (1939: 19, generell zur Argumentation: 78) sowie Ardau (1929: 30). An diesen beiden Autoren lässt sich die Differenz zwischen propagandistischer und deskriptiver Literatur gut zeigen. Obwohl Adami in seiner Studie Zitate und Belege für seine Beschreibung anbringt, was ihn nochmals von rein lobheischenden Schriften unterschiedet, kann er kein sicheres Urteil bilden. Sein ‚Orator-perfectus-Konzept‘ von Mussolini zeigt sich gerade dort, wo er versucht, überall Vorzüge aufzuzeigen. Obwohl er Mussolinis argumentative Charakteristik der Synthese durch Metaphern und Bilder erkennt, behauptet er eine ebenso gleichwertige analytische Seite. Ardau hingegen benutzt nicht nur Belege und Beispiele, sondern bleibt in seinem Urteil (im Hinblick auf die Argumentation) differenzierter und ordnet seinen Befund nicht einem über allem stehenden Willen zum Lob unter. 285 Ojetti (1939: 23). Vgl. Villani (1937: 609): „L’eloquenza di Mussolini non ha ombre e penombre d’accorte reticenze, non si piega a varie, dubbiose o discordi interpretazioni: pregio raro nella letteratura del pensiero politico“; Santini (1938: 337): „tono didattico e imperioso, senza dubbi, fatto di sentenze e di assiomi in istile scultoreo“; Adami (1939: 25): „la sua lingua acquista un senso di perentorio, di definitivo“.
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sempre.“286 Die Zeitgenossen waren sich einig, dass Mussolini, indem er die Dinge offen ausspreche, auf diese Weise Realpolitik betreibe. Wie sehr dies mit der Synthese, also mit dem Zusammenziehen von Positionen auf nur wenige zusammenhängt, wird bei Ellwanger deutlich: Mussolini schaltet alle Zwischenstufen des Denk- und Arbeitsprozesses, den ein jeder politischer Plan von seiner ideenmässigen Konzipierung bis zur endgültigen Verwirklichung notwendigerweise durchmacht, der Umwelt gegenüber aus. Er gibt daher immer nur die ‚reinen‘ Tatsachen und Ereignisse und immer nur das Wesentliche. Durch diese knappe, aber um so klarere Gedanken- und Sprachgestaltung treten die Inhalte noch schärfer heraus und offenbaren sich in einem fast imperativischen Rhythmus.287
Durch die Kontrastierung in der Darstellung, vor allem durch die Antithese als Gedankenfigur, entstehe eine Reduktion auf zwei Alternativen und eine klare ‚Front‘. Mussolini würde die Abgrenzung um der Eingrenzung willen suchen: „Die Antithetik beherrscht als Darstellungssymbol kämpferischer Haltung den Stil Mussolinis derart, dass wir ihr nicht selten im Zusammenhang mit den anderen Stilmitteln, ja als deren eigentlichen Sinnerfüllung begegnen.“288 Zur dichotomischen Ausgestaltung der Reden gehörte auch die Neigung Mussolinis Ironie und Polemik zu benutzen. Sie wurden von fast allen Zeitgenossen hervorgehoben.289 Nun werden in kurzer Übersicht noch der Redeaufbau, die Topik und der Scharfsinn behandelt. In den gesichteten Quellen schien es beliebt, den Aufbau der 286 Ardau (1929: 107). Gustarelli (1935: 16 f.): „le parole, nell’espressione del pensiero mussoliniano, finiscono con l’avere press’ a poco la medesima funzione dimostrativa, precisa, limpida, incontrovertibile, che hanno le cifre per un matematico“. 287 Ellwanger (1939: 23) ging von einem berechnenden, technischen Ablauf in der Redevorbereitung bei Mussolini aus. Bei dem schon zitierten Antonio Russo lag eine geniehafte Vorstellung vom ‚Empfang der Idee‘ zugrunde. Auch dies machte Ellwanger zu einem der nüchternsten und noch am wissenschaftlichsten verfahrenden Autoren innerhalb des Ventennio. Zum Edikt-Stil vgl. Morello (1924: XII) oder Pini (1939: 227): „He proceeds by peremptory statements, without too many adjectives or repetitions.“ 288 Ellwanger (1939: 82 f.), an anderer Stelle listete er auch noch die geläufigen Oppositionspaare Mussolinis auf: grazia – forza, olivo – spada, spirito – materia, braccio – cuore, vomere – spada, aratro – spada, vomere – lama, spiriti – armi und nennt dies abschließend die „Freund-Feind Spannung“, vgl. ebd. (79 f.). 289 Vgl. Costanzi (1934: 343): „egli è uno dei più forti polemisti della nostra età“; Gustarelli (1935: 13): „maneggiatore espertissimo di tutte le più sottili armi dell’arte polemica, battagliero implacabile“; Villani (1937: 614): „L’oratoria di Mussolini è […] fieramente o cavallerescamente polemica“; Stock (1942: 316): „Gern wählt Mussolini jüngstens die Waffe der Ironie, um seine Gegner bis ins Mark zu treffen“.
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Reden mit dem eines Hauses oder Bauwerkes zu vergleichen. Sowohl Russo als auch Sarfatti nahmen dafür, wie könnte es auch anders sein, den italienischen Renaissance-Palast: Beim Reden geht er immer vom Wesentlichen zum Wesentlichen […]. Seine Art zu reden erinnert an die massive Architektur jener alten italienischen Paläste, die auf roh behauenen Blöcken in die Höhe wachsen, mit luftigen Hallen und Säulen, durch die man den klaren Himmel sieht. Diese durch ihre Vorstellungskraft den Grund des Volksbewußtseins aufrührende Beredsamkeit ist der Vorzug eines Condottiere, der Geschichte ‚macht‘; aus seinen persönlichen Erfahrungen leben die geschichtlichen Erfahrungen wieder auf.290
In diesem Zitat sind nochmals die bereits erwähnten Punkte von suggestiver Bildlichkeit und die Benutzung der Geschichte für argumentative Zwecke vorhanden. Der Aufbau der Rede wurde als solide und klar beschrieben. Im Zusammenhang der Redevorbereitung und Gestaltung ist auch eine Frage Ludwigs von Interesse: Sie sagten mir, daß Sie Ihre Reden monatelang vorbereiten. Was kann dann also der Anblick der Menge noch ändern? – ‚Das ist wie der Bau amerikanischer Häuser, erwiderte Mussolini. Erst baut man die armatura auf, die Konstruktion aus Stahl. Dann wirft man Beton hinein oder Ziegel oder gebraucht kostbares Material, je nachdem. Für meine Rede zu unserem Oktoberfest habe ich heute schon das Gerüst. Dann aber wird es von der Atmosphäre der Piazza, von den Augen und Stimmen der Tausende abhängen, ob ich Travertin hineinwerfe oder Ziegel oder Marmor oder Beton oder alles zusammen.‘291
Mussolini entwickelte zunächst ein „breve schema“292, welches den Aufbau oder die Argumentation in groben Zügen umfasste. Bei gegebenem Anlass ergänzte er dann das Schema je nach Atmosphäre und Publikum. 290 Sarfatti (1926b: 286), vgl. Russo (1923: 2). Stock (1942: 316) meinte eine „Vorliebe für den architektonischen Aufbau seiner [scil. Mussolinis] Prosa“ auszumachen. In der Antike wurde der Aufbau der Rede eher mit Körper-Vergleichen behandelt. Der Architekt Vitruv benutzte in seinem Werk De Architectura ausdrücklich rhetorische Kategorien. Womöglich entstammen die Entlehnungen Rede/Architektur aus dieser Tradition. Vgl. Galand-Hallyn (1994: 151 ff.), die Metaphern aus dem Architekturbereich für die Rhetorik aus antiken Autoren zusammengestellt hat. 291 Ludwig (1932: 125 f.). Das Interview fand zw. dem 23.03. und 04.04.1932 statt. Das Oktoberfest wurde am 16.10.1932 anlässlich des Marsches auf Rom abgehalten. Die Redenskizze findet sich in Kap. 4.1 wieder. 292 Ardau (1929: 55). Auch Sarfatti (1926b: 286) sprach von vorbereiteten Notizen. Majorana (1909: 175–179) empfahl die Vorbereitung mithilfe von Notizen und griff ebenfalls auf den Vergleich mit einem Gebäude zurück, das den Rohbau für die zu haltende Rede darstelle.
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Anlass und Bedeutung einer Rede waren für einen geringeren oder höheren Elaborationsgrad somit ausschlaggebend. Zur Topik von Mussolini gibt es in der zeitgenössischen Literatur nur wenige Bemerkungen. Generell wurde die Nation als Hauptthema ausgemacht: Adami drückte es mit „Far grande l’Italia“293 aus. Das kleine Italien eines Giolitti (Italietta) sollte zu einer Großmacht gemacht werden. Hierum kreisten viele der Reden Mussolinis. Unter dieses Hauptziel wurden dann Patriotismus, Faschismus und nationalistische Werte wie Disziplin, Ordnung und Opferwille untergeordnet.294 Ardau machte noch das Römertum und Adami die ‚Revolution der Schwarzhemden‘ als Lieblingsthemen aus. Adami deutete mit einer Bemerkung an, Mussolini wolle eine neue spirituelle Welt und einen neuen patriotischen Glauben schaffen.295 Im Großen und Ganzen entspricht dies dem bereits vorgestellten Befund von Adamson (vgl. Kap. 3.4). Der Scharfsinn Mussolinis manifestiere sich, davon war Sarfatti überzeugt, in seiner raschen Auffassungsgabe: „Die Fähigkeit, eine Sache blitzschnell mit einem Blick zu erfassen und ebenso schnell einen kurzen treffenden und folgerichtigen Ausdruck dafür zu finden – das gehört zu den Instinkten, die der Journalismus ausbildet und schärft.“296 Sie führte die synthetische Leistung Mussolinis auf seine berufliche Übung zurück, in der sich Mussolini ein Blick fürs Wesentliche angeeignet habe. Die Fähigkeiten Mussolinis wurden vor allem aus seinem Beruf, also aus der Praxis, erklärt. Mit dem natürlichen und durch Übung ausgebauten Talent wurde auch Mussolinis Bildung thematisiert. Nach Bianchi sei Mussolini ein auf allen Feldern des Wissens versierter, „gewaltiger Autodidakt“297. Ardau bemerkte als einziger, dass er „ohne reiche literarische Kultur, vielleicht kein Kenner der großen Redner“298 sei, rückte damit aber umso mehr, gleichsam ex negativo, das natürliche Talent Mussolinis in den Vordergrund.
293 294 295 296
Adami (1939: 57). Vgl. Ardau (1929: 111): „La verità eterna per Mussolini è la Patria.“ Vgl. Domino (19292: 31). Vgl. Ardau (1929: 72) und Adami (1939: 19). Sarfatti (1926b: 325). Auch Bianchi (1938: 29): „Sein rascher Scharfblick dringt in den Kern der Dinge ein und verhilft ihm zu Erfahrungen und zu Beweisen.“ 297 Bianchi (1938: 24). Er führte aus: „Zu Ergebnissen wie diesen gelangt man nicht ohne drei unerlässliche Voraussetzungen, die auch Mussolini nicht fehlen: hervorragende natürliche Begabung, angemessene kulturelle Vorbereitung zusammen mit einer an Menschen und Dingen erlebten und erlittenen Erfahrung, unausgesetzte Übung, unter dem doppelten Antrieb des Geistes und des praktischen Lebens.“ Ebd. (23). Sansone (19413: 567) unterschied in einen äußeren und inneren Autodidakten, um Mussolini ein aus innerem Bedürfnis stammendes Selbststudium zu attestieren. 298 Ardau (1929: 36).
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Mussolinis rednerischer Auftritt Den Auftritt des Redners Mussolini beschrieb Giorgio Pini folgendermaßen: „His voice, metallic in its tone, is virile, slow, and hammers out the words, when it does not assume a tone of aggressive excitement. […] Mussolini never raises his voice for any sort of peroration, he merely slows down his rhythm when he is making solemn of final statements.“299 Die obersten Gestaltungsprinzipien Mussolinis seien Klarheit und Verständlichkeit – auch in der Aussprache. Mussolini artikuliere die Silben überdeutlich (hammers out the words), was als ‚metallen‘, ‚kräftig‘ und ‚männlich‘ empfunden wurde. Einen weiteren wichtigen Hinweis gab Pini, wenn er die variierende Geschwindigkeit ansprach, in der Mussolini spreche. Andrea Gustarelli nannte Pausen, Beschleunigung und Tonvariation als typische Mittel Mussolinis, um einen leidenschaftlichen Eindruck zu generieren.300 Über die Gestik und Mimik Mussolinis wurde von den Zeitgenossen bemerkt, dass sie auffällig zurückhaltend, aber passend seien. Mussolini sei Emil Dovifat zufolge „frei […] von der Wort- und Gebärdenfülle, die romanischen Rednern im allgemeinen und den italienischen im besonderen anhaften.“301 Er schilderte einen typischen Auftritt auf der Piazza: Sein Gesicht kann auch in der Rede eisern hart werden, brutal fast liegen die Kinnbacken übereinander, ist der Kopf stolz nach hinten geworfen, und seine Augen befehlen. Rechts und links beugt er sich über die Brüstung der meist sehr hohen Redeplätze, die für ihn geschaffen werden, zum Volk herab, sprechend begleitet er mit wenigen sehr markanten Gesten das Wort und geht dann oft minutenlang in die Ruhelage der verschränkten Arme oder der in die Seiten aufgestemmten Fäuste. Das ist seine Lieblingsstellung.302 299 Pini (1939: 227 f.), vgl. Sarfatti (1926b: 325): „wo andere nur undeutlich murmeln, spricht er die Dinge mit klarer Stimme, Silbe für Silbe, deutlich vernehmbar, aus“; Domino (19292: 39): „Raramente nella storia della politica italiana si era udita una voce altrettanto forte e decisa, altrettanto chiara e squillante.“; Costanzi (1934: 340 und 344): „voce sonora e ferma, ma non fortissima, con meditate e lunghe pause, scandite, cadenzate, e quasi sillabate“ und „voce maschia“; Bianchi (1938: 9): „die Worte mit seiner männlichen Stimme skandiert“. 300 Vgl. Gustarelli (1935: 17). 301 Dovifat (1937: 128 f.), vgl. Ojetti (1939: 22): „Oratore espertissimo, padrone di sè, sempre di fronte al pubblico, egli commenta ogni periodo, ogni battuta, col volto che le conviene. Il gesto è parco. Spesso egli gestisce solo con la destra“; Costanzi (1934: 343): „Sobrio è il gesto con cui egli accompagna il suo dire.“ 302 Dovifat (1937: 134). Bianchi (1938: 21): „wie zu einem Leitmotiv kehrt er immer wieder zur aufrechten Haltung zurück, bei der er die Arme kräftig in die Hüften stützt.“ Kurs. i. Orig. gesperrt.
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Kapitel 3
Spannung werde durch das Wechselspiel aus Ruhepunkten und Sprechtempo erzeugt. Das Gesicht wirke beinahe wie eine Maske. Bestimmte mimische Züge wurden fest an Mussolini gekoppelt: „Die Grimassen, der vorspringende Kiefer und die zusammengepressten Lippen wurden zum zeichnerischen Motiv der Karikaturisten.“303 Die ‚harten‘ Gesichtszüge erzeugten in der damaligen Wahrnehmung, den Eindruck eines ‚männlichen‘ Ethos. Alles in allem schien den Zeitgenossen eine hohe Kohärenz zwischen Gestik, Mimik und Stimme aufzufallen. Vergleiche mit anderen Rednern Beliebt bei all diesen Rednerportraits war der Vergleich, um Ähnlichkeiten oder Unterschiede herauszuarbeiten. Häufig wurde jedoch der Vergleich als sinnlos bezeichnet. Mussolini stehe für sich und bilde den Höhe- und Endpunkt der politischen Beredsamkeit in Italien. Mit diesen Superlativen warteten Adami, der Mussolini mit Jesus Christus verglich, Pini und Carlo Villani auf.304 Weitere Versuche, Mussolini mit irgendjemandem zu vergleichen, fielen rein historisch aus: Mussolini wurde entweder mit Cäsar verglichen,305 wobei hier die politisch-militärische Sicht auf beide überwog, oder mit Tacitus, um das Stilmerkmal der brevitas für beide hervorzuheben.306 Festzuhalten wäre darüber hinaus, dass die Beredsamkeit Mussolinis nicht an dem für Italien typischen 303 Pedrotti (2017: 213). 304 Vgl. Adami (1939: 10): „Mussolini è, dunque, un grande oratore. Un oratore che non si può però classificare, perchè a nessuna ‚classe‘ appartiene, ma sta solo anche in questo campo“. Sein Christus-Vergleich findet sich auf S. 17 f.; Villani (1937: 601): „Nella storia del Novecento Benito Mussolini farà parte da se solo“; Pini (1939: 227): „As an orator he cannot be quite compared to anyone else, because his eloquence is intensely personal both in content and in form.“; Santini (1938: 337) in abgeschwächter Form: „È stata paragonata [l’eloquenza di Mussolini, F.S.] a quella di Cesare, di Machiavelli, di Crispi; ma è troppo personale per trovarne somigliante“. 305 Vgl. Ardau (1929: 85): „Come Cesare egli scrive o parla con la punta della spada: stile puro, liquido, di trasparenza cristallina.“; Bianchi (1938: 18): „Unter den Tatmenschen der Geschichte, die zugleich Schriftsteller waren, steigt mir persönlich am willigsten Cäsar auf (obwohl ja derartige Gegenüberstellungen eher verlockend als überzeugend sind). Cäsar, der große, antike Erfüller, mächtig und schlicht im Handeln, wie ihn seine Kommentare widerspiegeln, die dem Cicero so nackt und zugleich so anmutig erschienen.“ Kurs. i. Orig. gesperrt; Dovifat (1937: 134): „cäsarisch-triumphante […] Beredsamkeit“; Stock (1942: 315): „In ihrer Einfachheit und gedrängten Kürze hält die mussolinische Prosa den Vergleich aus etwa mit den politischen Kommentaren Cäsars.“ 306 Vgl. Ardau (1929: 88): „Così asciutti che riesce a darci un capolavoro di brevità che gli avrebbe invidiato Tacito storico“. Zum Tacitismus als Stil-Kategorie vgl. van der Poel/ Waszink (2009: 409 f.) und Kap. 3.1.1 in dieser Arbeit.
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Ciceronianismus, sondern an attizistischen Stilidealen gemessen wurde. Diese alternative Traditionslinie der Rhetorik wurde bereits in Kap. 3.1.1 ausführlich aufgezeigt. Bei Vergleichen innerhalb der italienischen Literatur, was nur vereinzelt geschah, tauchten Personen wie Franziskus von Assisi oder Galileo Galilei auf, um entweder Volkstümlichkeit oder die Konkretheit Mussolinis zu untermauern.307 Ebenso verhielt es sich mit Rednern oder Schriftstellern aus der Zeit des Risorgimento: Ardau erwähnte den Finanzminister Quintino Sella, der für seine Reden aus der römischen Geschichte schöpfte. Francesco Bernardini rückte Mussolini in die Nähe des Journalisten Eduardo Scarfoglio, der als polemischer Geist bekannt war.308 Von den Zeitgenossen Mussolinis wird gleichfalls D’Annunzio als Vergleichspunkt angeführt: Zwischen der schwelgerischen Prosa eines Ausnahme-Wortkünstlers wie D’Annunzio und den abstoßenden gewaltsamen Verrenkungen der Futuristen, zwischen der ausgeklügelten und abgenutzten Künstlichkeit und der nachlässigen, improvisatorischen Gängigkeit, […] mitten darin steht Mussolini mit einer Prosa ohne Flitter, die – als italienische Prosa – auf keine Weise einfacher, natürlicher, unmittelbarer sein könnte.309
Mussolini nehme eine perfekte Mitte zwischen D’Annunzio und den Futuristen ein. Zwischen den zwei ästhetischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts stehe die Gebrauchsprosa Mussolinis. Natürlich stellt sich die Frage, ob es überhaupt zulässig ist, ästhetische und pragmatische Textsorten in dieser Weise zu vergleichen, um dann die pragmatische Ausrichtung der letzteren betonen zu können. Mussolini wurde jedoch in vielen Literaturgeschichten aus der 307 Vgl. Bianchi (1938: 11): „lebendige Offenherzigkeit des Franziskaners aus dem 15. Jahrhundert“; Gustarelli (1935: 17): „la prosa mussoliniana ci richiama alla mente quella del Galilei: prosa vigorosamente e genuinamente scientifica“ oder Ferri (1927: 17 f.): „È un oratore, che io direi volentieri ‚galileiano‘ perchè come Galilei comincia sempre dai dati di fatto: esposti ed allineati come una muraglia di dadi d’acciaio.“ 308 Vgl. Ardau (1929: 72): „L’idea della missione storica di Roma occupa, si può dire, il primo piano del pensiero di Mussolini: quando ne tocca, egli ha un che d’ispirato e di magniloquente. Sotto questo aspetto lo si può accostare a Quintino Sella.“ Eine Charakterisierung Sellas findet sich bei Santini (1938: 232 f.). Und Bernardini (1934: 431): „Lo stile, secco, lineare, nervoso, denso d’idee quanto scarno di parole, senza ricercatezza di frasi o lenocinio di forma, arieggiava, giornalisticamente parlando, quello di Eduardo Scarfoglio, uno dei più formidabili polemisti che vanti il giornalismo del secolo passato.“ 309 Bianchi (1938: 10). Ähnlich Ludwigs Eindruck (1933: 34): „Sein Stil, jedenfalls im Gespräch, hält genau die echte italienische Mitte zwischen französisch und deutsch, denn er ist weder elegant noch schwer, sondern metallen; dieses Metall ist aber nicht Eisen, sondern fein gewalzter Stahl, dargestellt in der elastischen und nuancenreichen Sprache der italienischen Tradition. […] Sein klares, ich möchte sagen, latinisierendes Italienisch ist in allem von d’Annunzios [sic] beflügelter Redekunst unterschieden“.
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Kapitel 3
Zeit ans Ende der Abhandlungen gestellt und zwar als ein politischer Schriftsteller. Auf diese Weise wurde er als Kulminationspunkt der zeitgenössischen Literatur dargestellt, so z.B. von Elio Vittorini für die Dichtung oder von Mario Sansone für die Prosa.310 Neben dieser Einordnung kam es vor, dass Mussolini mit sich selbst verglichen wurde. Dies geschah nur da, wo er nicht als ewig und unnachahmlich eingestuft wurde. Ignazio Domino und Ardau machten Entwicklungsphasen bei Mussolini aus: Ardau unterteilte Mussolinis Beredsamkeit beispielsweise in die revolutionäre Phase (bis 1922), die diktatorische Phase (bis 1927) und in eine konsolidierende Phase (bis 1929). In der ersten Phase zeichne Mussolini sich durch eine analytisch-beweisende sowie auf Konsens ausgerichtete Redeweise aus. In der zweiten Phase überwiege der Befehlston. In der dritten verfahre Mussolini nunmehr wie in einer Unterredung und führe erneut Gründe an (rassegna dimostrativa).311 Gesamtbild: das Urteil der Zeitgenossen Die Zeitgenossen Mussolinis waren in ihrer Bewertung seiner Rhetorik sehr einhellig. Wird der fast durchweg hymnische Ton herausgefiltert, zeigt sich ein kohärentes Bild, das Mussolini als leicht verständlichen, emotionalen und synthetischen Redner ausweist. Möchte man zum Abschluss eine prägnante Charakterisierung von Mussolini geben, bietet sich die Formulierung von Adami in passender Weise an: Die Kraft in Mussolinis Worten liege in der „estrema concisione e nel suo tono infiammato“312, also in der Prägnanz und im entflammten Ton. Mussolini wurde durchgehend als ein Redner der Kürze (brevità), der Leidenschaft (passione) und der hohen Ideale mit einfachem Stilregister (genus humile) beschrieben. Aus rhetorischer Sicht ergibt sich für diese Konstellation, wenn man das Schema der Dreistillehre anlegt, ein Problem: das Wecken von Emotionen wird darin dem pathetischen Stil (genus grande) zugeordnet. Kürze und Einfachheit sind aber typische Eigenschaften für Informationsvermittlung und
310 Vgl. Vittorini (1997: 703 f.) und Sansone (19413: 567–570). 311 Vgl. Ardau (1929: 24, 51 f., 166 f.). Vgl. auch Domino (19292: 18). In der späteren Forschung wurden ähnliche Entwicklungspunkte angesetzt, so z.B. von Garrido (1998: 227, Kurs. i. Orig.), die ab 1925 eine „semplificazione stilistica“ in den Reden Mussolinis erkennen will und so die Beobachtungen der Zeitgenossen bestätigt. 312 Adami (1939: 27).
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Argumentation. Demetrius von Phaleron bietet für diesen theoretischen Widerspruch eine Lösung, indem er Mischformen und Kombinationen der einzelnen Stilzüge in seinem Werk De elocutione anlegte und die Trias der Stile um einen vierten, den vehementen Stil (deinotes), ergänzte.313 Gleichfalls hilfreich ist eine Aufspaltung des hohen Stiles in der Schrift Vom Erhabenen bei Pseudo-Longin: Dem entsprechend meine ich daher: Demosthenes ist pathetischer und hat daher viel Glut und Feuer und Leidenschaft, während Platon, in Majestät und großartiger Würde verharrend, zwar nicht kalt, aber nicht so mitreißend schreibt. Nur dadurch auch […] unterscheidet sich, scheint mir, Cicero von Demosthenes in den Mitteln der Größe. Der eine nämlich wirkt meist durch schroffe Höhe, Cicero durch breites Ausströmen; und weil unser Redner alles mit Nachdruck, dazu mit Schnelligkeit, Kraft und Wortgewalt gleichsam in Flammen setzt und fortreißt, ist er einem Blitz oder Donnerschlag vergleichbar; Cicero hingegen greift […] wie eine breite Feuersbrunst überall um sich, erfaßt alles mit starker, anhaltender Glut [.]314
Mussolinis Stil ist am besten mit der demosthenischen Pathosvariante zu fassen: Prägnanz und Kürze ergeben einen lapidaren, lakonischen und gleichzeitig heftig-energischen Eindruck, eben jenen, den Adami im obigen Zitat schilderte. Demetrius verknüpfte ferner den vehementen Stil mit Vorstellungen, wie verschiedene Altersgrade sprechen würden: die Alten seien weitschweifig, die Jungen kurz.315 Dem faschistischen Ideologem der Jugend (giovinezza) entsprach Mussolinis Art kurz zu reden. Bei der aus dem 19. Jahrhundert in Frankreich entstandenen und in Italien übernommenen Unterscheidung zwischen style d’analyse, style d’images und style laconique müsste man im Falle Mussolinis wiederum eine Kombination vornehmen, was auf eine Mischung hinausliefe.316 Mussolini wäre ein Redner der Kategorie style laconique d’images.
313 Vgl. Demetr. Eloc. II, § 36 f. Zur Beschreibung der Deinotes: V, §§ 240–304. Vgl. allgemein den Artikel von Rutherford (1994). 314 Ps.-Long. Subl. 12, 3 f. Vertiefend mit einem doppelten Pathos respektive mit einer alternativen Rhetorik hat sich Till (2006) auseinandergesetzt. 315 Vgl. Demetr. Eloc. I, § 7. S. ferner Arist. Rhet. II, 12, 14: „Auch Fehler begehen die Jungen entgegen der Devise Chilons in allem gar zu übermäßig und heftig, denn alles betreiben sie im Übermaß“. 316 Vgl. Krause-Tastet (1999: 28–36).
162 3.7
Kapitel 3
Zusammenfassung
In diesem Kapitel wurde klar, wie wichtig der diachrone Blick ist, um Mussolini als Redner in den 30er Jahren analysieren zu können, denn die sich im 19. Jahrhundert herausgebildeten Diskurstraditionen beeinflussten die politische Beredsamkeit auch im 20. Jahrhundert noch maßgeblich. Unter die besonders relevanten Charakteristika fielen folgende drei Punkte: 1. Nation-Building: Das im europäischen Vergleich spät erfolgte NationBuilding Italiens förderte ein kulturelles Verständnis der Nation, das zu einem dezidierten Führungsanspruch innerhalb des europäischen Staatengefüges führte. Die entstehende italienische Nation wurde unter dem Einfluss der Französischen Revolution sakralisiert und die risorgimentalen Themen von Erneuerung und alter Größe wurden auch noch von Mussolini weitergeführt. Dieser Punkt führt direkt zum nationalen Mythos, der in Kap. 4.2 vorgestellt wird. 2. Zwei Arten der Rhetorik: Im 19. Jahrhundert entwickelten sich zwei große Rhetorik-Strömungen: Einerseits bildete sich eine an der Lobrede orientierte pathetische Patria-Rhetorik aus, die sich bis zu Mussolini hielt. Nach der Staatsgründung wurden die einheitsstiftenden Topoi weiterhin genutzt, obwohl sie aus einem präunitaristischen Kontext stammten. Neugeschaffene Institutionen wie das Parlament orientierten sich weitestgehend an einer humanistisch-klassizistischen Rhetorik. Andererseits entstand eine Rhetorik des Natürlichen, die romantische Vorstellungen des Genies propagierte und der erstgenannten Rhetorik-Variante ablehnend gegenüber stand. Die Ablehnung der klassizistischen Rhetorik wurde höchst wirksam eingesetzt, um die eigene Position zu stärken. In einer Art Neuauflage der Querelle, eine Debatte über den Wert und Unwert der antiken Rhetorik, wurde über eine angemessene, d.h. rationalisierte Form derselben, gestritten. In der Ausgestaltung richtete sich diese Rhetorik an der Predigt und dem popularisierenden Vortrag, der Conférence, aus. 3. Funktionale Verschiebung in den Institutionen: Dem langsam Fahrt aufnehmenden Modernisierungsprozess in Italien konnte trotz steigender Professionalisierung der Abgeordneten nicht Rechnung getragen werden. Die Sozialisten und später die Faschisten versuchten diesem Ausdifferenzierungsprozess kommunikativ und institutionell zu begegnen. Sie wollten den als dysfunktional eingeschätzten Parlamentarismus ergänzen oder ganz abschaffen. Auf diesen Mangel an Repräsentation antwortete das phatisch-emotionale Element der sozialistischen Propaganda. Sie bewegte sich hauptsächlich im Setting der Piazza und stützte sich auf die Mündlichkeit. Grundlegende Denkfigur des ethischen Sozialismus war, die Politik als Klassenkampf zu begreifen.
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Mit Rückgriff auf die Mythen im Sinne von Georges Sorel, sollte das adressierte Publikum mobilisiert werden. Mussolini: ein Redner à la Demosthenes Mussolini eignete sich Propagandaformen wie die Conferenza oder die Idee einer intensiven erzieherischen Propaganda an, hielt aber an der Vorstellung des Klassenkampfes fest. Nicht verwunderlich ist die Tatsache, dass er mit seiner Auffassung eines pädagogischen Sozialismus große Schnittmengen zu den Vociani und, in Teilen, zu den Nationalisten aufwies. Dies manifestierte sich in Mussolinis Topik. Ab dem Jahr 1909 war ein persönlicher Stil Mussolinis zu erkennen, der sich durch die unzähligen Konferenzen und Vorträge, die Teilnahme am literarischen Leben sowie durch seine journalistische Berufspraxis ausgebildet hatte. Anklang fand Mussolini bei seinem Publikum deswegen, weil er dem Stilwandel und dem veränderten Zeitgeschmack entgegenkam. Das höhere Arbeitsaufkommen in der modernen Gesellschaft trug ebenso zu einer Ökonomisierung und Rationalisierung der Redepraxis bei. Mussolini war Spiegel und Ausdruck einer damals entstehenden Massengesellschaft. Von manchen Zeitgenossen wurde der Diktator zum perfekten Redner stilisiert. Häufige Merkmale, die ihm zugesprochen wurden, waren: Kürze, Klarheit und eine synthetisch-metaphorische Argumentation. Schon damals war der Vergleich zu Gabriele D’Annunzio einer der geläufigsten. Gerade die Beschreibungen über Mussolinis Stil, wie knapp und gedrängt, prägnant und realistisch er schreibe, ließen die Unterschiede zu D’Annunzio deutlich hervortreten. Auch die kommunikative Rolle des Propheten, die D’Annunzio einnahm, stellte eine Grenze zu Mussolini dar. Letzterer war nämlich stets darauf bedacht nicht als Verkünder, sondern als Realpolitiker wahrgenommen zu werden. Im Vergleich mit anderen Rednern wie beispielsweise Francesco Crispi, ergaben sich größere Übereinstimmungen: Zum einen in der Beschreibung ihres rhetorischen Naturells durch das Vulkan-Motiv. Dieses war letztendlich eine Chiffre für die zweite Rhetorik-Variante, in der das NatürlichUrwüchsige betont wurde. Zum anderen stimmten Crispi und Mussolini ebenfalls in ihrem lakonischen Rededuktus überein. Was Crispi, D’Annunzio und Mussolini verband, war der Bezug auf das Generalthema Italien und dessen neue Größe und Stärke. Ferner war ihnen ein autoritär-affirmatives Modell der Rhetorik gemein. Zum Schluss wurde auf der Grundlage der zeitgenössischen Sicht auf die Rhetorik Mussolinis ein entsprechend historisch verankertes Rednerideal gesucht. Auf Grund der gesammelten Eindrücke wurde er als gewaltiger Redner
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Kapitel 3
(deinotes) klassifiziert. Dieses Rednerideal betonte die absolute Wirksamkeit der Rede. Demosthenes als historische Personifizierung drängte sich für dieses Ideal geradezu auf. Mussolini kam diesem Rednertyp mit seiner rednerischen Vehemenz sehr nah. Bei beiden Rednern wurde die rednerische Kraft, ihre Einfachheit und ‚Männlichkeit‘ hervorgehoben. Auf der anderen Seite stand in Italien, historisch bedingt, Cicero in hohem Ansehen. An ihn lehnte sich nicht nur D’Annunzio, sondern auch die humanistisch gebildeten Berufspolitiker an. „Wenn Cicero von der Tribüne stieg, / Rief alles Volk entzückt: Kein Sterblicher sprich[t] schöner! / Entstieg ihr Demosthen, so riefen die Athener:/ Krieg gegen Philipp, Krieg!“317 In diesem Zitat sieht man, dass die zwei Redner unterschiedliche Wirkungen hervorriefen: Cicero ästhetische Bewunderung, Demosthenes Handeln. Mussolini muss in die Linie von Demosthenes gestellt werden, da er sich erstens stets von der ciceronianischen Rhetorik abgegrenzt hatte. Zweitens rechtfertigen die zeitgenössischen Einschätzungen diese Zuordnung, die allesamt von einer leichtverständlichen Lexik sowie von einer einfachen Syntax sprachen und seine durch Metaphern erzeugte synthetische Argumentationsweise hervorhoben. Ob die aufgeführten Merkmale tatsächlich zutrafen oder lediglich von den Zeitgenossen aus ideologischen Gründen Mussolini zugesprochen wurden, spielt erst einmal keine Rolle. Wichtig ist, dass diese Zuschreibungen von Redner-Qualitäten im Raum standen und von Mussolini genutzt werden konnten. Sein rednerischer und beruflicher Werdegang sowie seine Stilvorbilder, die in den vorigen Kapiteln nachgezeichnet wurden, können indes als bekräftigendes Indiz herangezogen werden, dass die Zeitgenossen nicht ganz so falsch mit ihrer Einschätzung lagen.
317 Pfeffel (1790: 119).
Kapitel 4
Reden- und Mythenanalyse Nachdem der historische Kontext ausführlich behandelt und das Verhältnis Mussolinis zur traditionellen Rhetorik herausgearbeitet wurde, wird nun in den folgenden Kapiteln erstens gezeigt, wie Mussolini seine Reden vorbereitete und sein Ethos konstruierte. Letzteres sicherte seiner Botschaft die notwendige Glaubwürdigkeit. In einem zweiten Schritt stehen dann die in den Reden verwendeten Mythen im Vordergrund. Thematisch gliedern sich diese Unterkapitel dann in zwei Gruppen auf, nämlich in Innen- und Außenpolitik. 4.1
Inszenierung und Arbeitsweise eines Diktators
Aus den Zuschreibungen der Zeitgenossen wurde ein umfassendes RednerPortrait Mussolinis gewonnen. Diese Sicht soll hier nun einer Analyse der Reden selbst weichen, um feststellen zu können, was ideologisch vorgebildet war oder einen Kern an Wahrheit enthielt. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Inszenierungsaspekten: Welches Bild entwarf Mussolini von sich selbst für das Publikum? Ziel ist es, aufzuzeigen, dass Mussolini an seiner Selbstdarstellung beharrlich arbeitete, um glaubwürdig zu erscheinen. Nicht direkt mit den Mythen anzufangen, ist der Überlegung geschuldet, dass eine Aussage nicht im leeren Raum steht und ihre Akzeptanz von der Glaubwürdigkeit der Äußerungsinstanz abhängt. Der Selbstdarstellung Mussolinis in seinen Reden kommt in diesem Zusammenhang eine abstützende und beglaubigende Funktion zu. Vorüberlegungen zur Selbstdarstellung: der aristotelische Ethos-Begriff Aristoteles kennt neben den argumentativen und emotionalen Überzeugungsmitteln eine dritte persuasive Komponente, das Ethos. Er schätzte Letzteres als dasjenige ein, dem die „bedeutendste Überzeugungskraft“1 zukomme. Dies führt er an zwei Stellen in seiner Rhetorik aus: Durch den Charakter geschieht dies [nämlich das Überzeugen], wenn die Rede so dargeboten wird, daß sie den Redner glaubwürdig erscheinen läßt. Den 1 Arist. Rhet. I, 2, 4.
© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846767474_005
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Kapitel 4 Anständigen glauben wird nämlich eher und schneller, grundsätzlich in allem, ganz besonders aber, wo es eine Gewißheit nicht gibt, sondern Zweifel bestehen bleiben. Doch auch das muß sich aus der Rede ergeben und nicht aus einer vorgefaßten Meinung über die Person des Redners.2 Daß Redner selbst glaubwürdig sind, dafür gibt es drei Gründe […]: Es sind dies Einsicht, Tugend und Wohlwollen.3
Gerade in der Politik, in der es um die Gestaltung von Zukunft geht, herrscht Kontingenz und Planungsunsicherheit. Eine letztgültige Gewissheit kann nicht allein durch Argumente erlangt werden. Das Publikum wird sich auf weitere Faktoren stützen müssen, wie z.B. auf den Eindruck, den es vom Redner hat. Aristoteles zählt sodann auf, woraus sich seiner Ansicht nach die Glaubwürdigkeit des Redners ergebe, nämlich aus Einsicht, Tugend und Wohlwollen. Mit Einsicht (phrónesis) ist einerseits Sachwissen über einen bestimmten Bereich gemeint. Andererseits soll diese Kenntnis durch die Fähigkeit der klugen Abschätzung von Konsequenzen ergänzt werden. Dazu gehört auch, die eigenen Ziele mit den Zielen und Wünschen des Publikums zu vermitteln und Unwägbarkeiten zu berücksichtigen.4 Tugend (areté) zeigt sich dann, wenn man allgemein geteilte Ideale um ihrer selbst willen verfolgt und sie den eigenen Handlungen zugrunde legt. Aristoteles zählt einige Motive auf, die in der Polis akzeptiert wurden und in den europäischen Wertekanon Eingang fanden: Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Klugheit; Freigiebigkeit, Großzügigkeit und Selbstlosigkeit; das Fehlen von charakterlichen Mängeln; die Anwesenheit von Edlem und Ehrwürdigem; die Übereinstimmung von Worten und Taten.5
2 Ebd. 3 Ebd. II, 1, 5. 4 Klugheit ist in diesem Sinne nicht als egoistisches Streben zu verstehen, sondern an den sozialen Kontext rückgebunden, aus dem sich handlungsrelevante Maximen ergeben. Wils (1998: 1115) definiert bündig: „K[lugheit] bedeutet praktisches Situationswissen in ethischer Hinsicht.“ Vgl. auch Robling (2007: 231). In der Rhetorik wird die Klugheit systemisch im Erkennen des richtigen Momentes (kairós) und im richtigen Urteil (iudicium) verankert. 5 Vgl. Arist. Rhet. I, 9,1–35. Die Tugend umreißt Aristoteles wie folgt: „Die Tugend ist, wie es scheint, eine Fähigkeit, Güter zu verschaffen und zu erhalten, und die Fähigkeit, viele große Dinge – ja, eigentlich alle nur erdenkbaren in jeglicher Hinsicht – zu erweisen.“ Ebd. I, 9, 4. Kennzeichen der Tugend ist also im Allgemeinen das Streben nach Gütern und deren Erhaltung sowie das Teilen der Güter mit Dritten. Wörner (1990: 220) hält fest: „Das ausschlaggebende Kriterium für die Gewichtung der Tugenden untereinander liegt in ihrem öffentlichen Nutzen im Krieg und Frieden und damit in der Fähigkeit des Tugendhaften, für andere wohltätig zu sein.“
Reden- und Mythenanalyse
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Das Wohlwollen (eúnoia) definiert Aristoteles als uneigennützige Hilfeleistung gegenüber Dritten. Wer sich hilfsbereit in Notlagen zeige, der erwecke Wohlwollen. Eng mit dieser positiven Wahrnehmung verbunden ist auch die Freundschaft. Letztere füge der Hilfe noch das Mitgefühl und die gemeinsam empfundene Freude über dieselben Dinge und Werte hinzu. Es komme also darauf an, diese Gemeinsamkeiten hervorzuheben. Wohlwollen und Freundschaft drückten sich durch eine witzige, umgängliche, offene Beziehungsgestaltung aus.6 Konstruktion eines idealen und mitfühlenden Politikers Die Selbstdarstellung Mussolinis mag überraschend sein, denn sie widerspricht der landläufigen Vorstellung, dass man an seinen Äußerungen die Demagogie ablesen könne. Robert Mallett wies darauf hin, dass Inszenierungsaspekte wie Verantwortung und Moral in den Einschätzungen über den Diktator wenig Beachtung gefunden hätten.7 Für den untersuchten Zeitraum kann festgestellt werden, dass Mussolini sich als verantwortungsbewusster Staatsmann in Szene setzte. An Beispielen sollen die drei Ethos-Komponenten nun verdeutlicht werden. Was die Ethos-Komponente Einsicht angeht, kann man Folgendes feststellen: Mussolini gab nicht nur vor, die Geschichte einer Stadt oder von ganz Italien sehr gut zu kennen, sondern zeigte sich zugleich immer wissbegierig. Weiterhin gab er an, sein Wissen durch Studium und Fachliteratur z.B. der Medizin oder der Landwirtschaft zu vertiefen. Damit betonte er seinen Wissensvorsprung vor seinem Publikum: Wo jenes nur vage Ahnung besitze, sehe er die Dinge wie sie wirklich seien. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen: Ho seguito i progressi che la tecnica cerealicola sta compiendo all’estero, ho letto che nuovi metodi sono allo studio, quali quelli ‚Jean Rouest‘ e ‚Popovic‘.8 6 Vgl. Arist. Rhet. II, 4, 1–28 und II, 7. 7 Vgl. Mallett (2000: 32). 8 Mussolini OO (24: 301). Vgl. auch: OO (26: 238): „Avevo visto sui giornali (io sono assiduo lettore dei giornali) che c’è il pane a lire 1.30.“ Mussolinis Butler Navarra (20092: 134) bestätigt die Lesemanie Mussolinis. Den Eindruck, dass Mussolini über alles Mögliche gut informiert gewesen sei, schildern viele seiner Audienzbesucher. Mit Schieder kann man diese semiprivat wirkenden Gespräche parallel zu Mussolinis öffentlichen Reden lesen und somit seine Ergebnisse ebenfalls fruchtbar machen. Zur Frage nach Mussolinis Bildung ist Margherita Sarfatti, interessant. Wieland (2004: 118) schreibt in ihrer Biographie, dass der 37-jährige Mussolini zwar Kenntnisse über Nietzsche besessen habe, diese seien aber nicht sehr umfangreich gewesen. Nachdem Mussolini bei den nationalen Wahlen 1919 mit seinen Fasci Italiani di Combattimento gescheitert war, scheint es, dass er mehr Zeit in seinen ‚zweiten
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Kapitel 4 Ich habe die Fortschritte, die in der Getreidetechnik im Ausland gemacht werden, verfolgt; ich habe gelesen, dass neue Methoden erprobt werden, wie jene von ‚Jean Rouest‘ und ‚Popovic‘. Può sembrare incredibile, ma sta nel fatto che da quando io ho invitato i medici italiani a sollecitare gli italiani stessi a consumare l’uva, il consumo dell’uva da tavola si è quasi quintuplicato; l’uva, dal tempo dei tempi, è sempre stata riconosciuta ottima, non solo come nutrimento, ma come medicamento.9 Es scheint unglaublich, aber Tatsache ist, dass seitdem ich die italienischen Ärzte eingeladen habe, die Italiener zum Verspeisen von Trauben aufzufordern, sich der Konsum von Tafeltrauben fast verfünffacht hat. Die Traube wurde seit Urzeiten als vorzüglich anerkannt; nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch als Arznei. [I] monumenti di quella civiltà romana e veneziana che il dalmata Tommaseo in pagine immortali esaltò.10 Die Denkmäler jener römischen und venezianischen Kultur, die der Dalmatiner Tommaseo auf unsterblich gewordenen Seiten pries. [A] Roma il pane si può comprare anche a lire 1.30. L’ho comprato io! (Si ride).11 In Rom kann man das Brot auch für 1.30 Lire kaufen. Ich selbst hab es gekauft! (Lachen). Voi lo sentite: ma io so delle cose che voi non sapete e che ho imparato durante questi dodici anni […].12 Ihr spürt es nur, doch ich weiß Dinge, die ihr nicht wisst und die ich während dieser zwölf Jahre gelernt habe […].
Mussolini zeigte seine Kompetenz durch sein umfangreiches Sachwissen auf, das aus Erfahrung, Literatur und Geschichte bestand. Manche dieser Bildungsweg‘ investiert hat: „Nach Redaktionsschluß gingen sie [Sarfatti und Mussolini] in kleine, verschwiegene Hotels und liebten sich. Sie flüstert ihm ein, er sei der neue Cäsar, und gibt ihm Bücher von Proudhon, Gobineau, Kropotkin und Aristoteles zu lesen. Margherita spürte die intellektuelle Begierde ihres Geliebten und gibt ihm, was er brauchte. […] Er beschäftigte sich jetzt mit Machiavelli, dem Untergang des römischen Imperiums und Adam Smith. Margherita brachte Mussolini die Klassiker nahe.“ Wieland (2004: 168 f.). 9 Mussolini OO (25: 61). 10 Ebd. (183). Auf welches Werk von Niccolò Tommaseo Mussolini hier genau anspielt, bleibt offen, vielleicht auf die Scintille von 1842. Jedenfalls zeigt die Anspielung dem Publikum wie belesen und versiert er in der italienischen Literatur war. 11 Mussolini OO (26: 237). 12 Ebd. (258), Kurs. i. Orig.
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Qualitäten gingen aber tiefer und seien ursprünglicher. Er dringe zum Kern der Sache, zu ihrem Wesen mit Leichtigkeit vor. Die Tugend-Komponente lässt sich an drei Dichotomien innerhalb der Reden Mussolinis festmachen. Diese sind: erstens die kurze vs. lange Rede, zweitens Worte vs. Taten und drittens Ideale vs. Materie. Alle drei wiederkehrenden Muster implizieren Wahrhaftigkeit und lassen ihn als moralisch guten Menschen erscheinen. Mit der ersten Dichotomie kurze vs. lange Reden werden weitere Qualitäten thematisiert: Die kurzen Reden gelten als synthetisch und konkret. Mit diesen Attributen versah Mussolini vor allem seine emotionalen Ansprachen an das Volk. Damit einher ging die Charakterisierung von ‚Leidenschaftlichkeit‘ und ‚Herzlichkeit‘. Dem zugrunde liegt die Idee, dass räumliche Nähe Emotionalität bedeute.13 Sono certo che voi non vi attendete da me un discorso di lunghe proporzioni. Finalmente mi è dato di guardarvi in faccia ed è dato a voi di guardare in faccia me!14 Ich bin sicher, dass ihr von mir keine Rede von langem Ausmaß erwartet. Endlich kann ich euch ins Gesicht schauen und ihr in meines!
Auf der anderen Seite stehen die abstrakten, analytischen und langen Reden, die mit den Merkmalen Kälte und Verstand versehen wurden. Die metapho rischen Konzepte, die dahinterstehen, verbinden Gefühl mit Wärme und Nähe, Verstand mit Kälte und Entfernung. Keine Rolle spielen bei diesen Zuordnungen geschlechterstereotype Konnotationen von Weiblichkeit oder Männlichkeit wie dies bei den Beschreibungen der Zeitgenossen in Kap 3.6 ersichtlich wurde. In den Begriffspaaren Kürze/Emotion und Länge/Verstand ist an sich noch keine Wertung zu finden. Allerdings gibt es Fälle, in denen die Begriffe von Mussolini mit weiteren Merkmalen versehen wurden, die eine klare ethische Aufladung implizieren: Redekritik wurde so zur Politikkritik. Kurze Reden seien wahr, lange hingegen falsch. Erstere würden von Faschisten, letztere
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Vgl. van Hook (1905: 13 f.): „Metaphors derived from heat and cold are common in all languages, particularly in literary criticism. Earnest and vehement speech is naturally thought of as heated by the fire of passion; as Tacitus says (Dial. 36): ‚It is with eloquence as with a flame. It requires fuel to feed it, motion to excite it, and it brightens as it burns.“ Kurs. i. Orig, vgl. auch Kövecses (2000: 93). Mussolini OO (24: 227), Herv. v. F.S. Weitere Beispiele finden sich in Mussolini OO (24: 230, 245 und 259).
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von Liberalen oder Gegnern des Faschismus gehalten.15 In der Zuordnung der Begriffe tauchen aber innere Widersprüche auf. Eine Rede von Mussolini kann schon einmal an Länge gewinnen, weil sie reich mit Nachweisen versehen, also sehr ‚konkret‘ ausgestaltet worden ist. Die Eigenschaft der Konkretheit ist aber eigentlich in dieser Logik den kurzen Reden vorbehalten. In einer seiner längsten Reden aus Anlass des geschlossenen Konkordates mit der Kirche 1929 äußerte Mussolini sich wie folgt: „Il mio discorso sarà analitico e documentato.“16 (Meine Rede wird analytisch und faktenreich sein). Und in einer anderen Rede kommen ebenfalls die Merkmale Analyse und Konkretheit miteinander verbunden vor: „Oggi mi propongo di tracciare dinanzi a voi il panorama economico finanziario della nazione in tutti i suoi dettagli, con dati analitici controllatissimi […].“17 (Ich habe heute die Absicht, vor euch das wirtschaftlich-finanzielle Panorama der Nation zu umreißen mit all seinen Details, mit analytischen und sehr zuverlässig geprüften Daten […].). Länge und Konkretheit können also einmal für Faktenreichtum und somit für Wahrhaftigkeit, ein andermal für die Hinterlist der Gegner stehen. Die Kategorien von Länge und Kürze mitsamt ihren Konnotationen sind dementsprechend austauschbar und richteten sich nach der Sprecherabsicht Mussolinis. Als zweite Dichotomie findet sich das Muster Worte vs. Taten, der sogenannte parole-fatti-Topos.18 Faschistische Rede bestehe entweder aus Worten, denen sofort die Tat folge, oder sie sei sogar reine Tat. Zum einen behauptete Mussolini damit seine rhetorische Wirksamkeit, ohne großen rhetorischen Aufwand betreiben zu müssen. Zum anderen lenkte er damit die Aufmerksamkeit auf eine stimmige Lebensführung: Worte und Taten bildeten bei ihm eine untrennbare Einheit.
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Vgl. Mussolini OO (24: 261) und OO (25: 48 f.) S. auch die Ausführungen aus Kap. 1 (Desideri) und 3.1.1. Mussolini OO (24: 44). Mussolini OO (26: 233). Eine weitere Stelle in Mussolini OO (24: 311). Der Topos geht auf das lateinische Sprichwort Facta non verba (auch: Res, non verba) zurück. Es findet sich bereits bei Terenz, Cicero oder Livius und weist eine lange Tradition auf, vgl. Tosi (2010: 1507 f., § 2079). Das Bild, das Mussolini mit diesem Topos von sich geben wollte, war im Grunde jenes, das Phoinix in der Illias als heroisches Erziehungsideal schilderte: „Wohlberedt in Worten zu sein und rüstig in Taten.“ Hom. Il. IX, 443. Robling (2005a: 866) führt dazu aus: „Das Rednerideal dieser Zeit ist von der Parallele zwischen R[edner] und Held geprägt, denn die Epen Homers schildern eine adlige Welt, die von Kampf, der Jagd nach Beute und überhaupt von der Freude am agonalen Denken und Handeln bestimmt ist.“ Für den Helden zählen vor allem die Taten, die Worte sind nur schmückendes oder nutzloses Beiwerk.
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[I] miei discorsi sono dei fatti: o li registrano o li annunziano.19 Meine Reden sind Taten: entweder zeichnen sie sie auf oder kündigen sie an. Voi sapete per una esperienza di dodici anni oramai, che le mie parole sono sempre seguite dai fatti.20 Ihr wisst nun aus 12-jähriger Erfahrung, dass meinen Worten immer Taten folgen. Si tratta di uscire dalla zona delle frasi, per entrare finalmente e decisamente in quella dei fatti.21 Es geht darum, aus dem Bereich der Phrasen herauszukommen, um endlich und entschieden in den der Taten einzutreten.
Der parole-fatti-Topos kann ferner auf zahlreiche Sprichwörter verweisen, die wie Jan Assmann feststellte, soziales Orientierungswissen beinhalten und eine „Axiomatik des kommunikativen Handelns“22 miteinschließen. Die Anspielung auf dieses gesellschaftliche Wissen stellen Mussolinis Äußerungen auf ein erprobtes und kulturell geteiltes Fundament, woraus eine mutmaßlich höhere Glaubwürdigkeit folgte. Gleichzeitig wurde das Publikum von Mussolini darin bestärkt, allein die Ergebnisse des Faschismus zu bewerten. Eine weitere ethische Dimension kommt noch hinzu, wenn Mussolini behauptete, faschistische Rede müsse auch unangenehme Wahrheiten offen aussprechen. Er schrak nicht davor zurück, das Publikum damit zu kon frontieren. Im selben Zug übte Mussolini Kritik an all jenen, die nur schmeichelten und den bequemen Weg gingen. Er hingegen bringe aus innerem Pflichtgefühl die Dinge freimütig zur Sprache. Mussolini nahm auf diese Weise die Rolle des Parrhesiastes ein, der ausdrücklich vor Demagogie warnte und 19 20 21 22
Mussolini OO (22: 11). Mussolini OO (26: 213). Ebd. (188). Assmann (19972: 142). Vgl. folgende Sprichwörter, allesamt aus Krieg/Grillo (2018: 44, 52, 81, 136, 137) entnommen: Le chiacchiere non fanno farina/Viel Geschwätz füllt wenig Maul/Schöne Worte, wenig Taten; Dove bisognano i fatti, le parole non bastano/Worte tun’s nicht/Facta non verba; Molto fumo, poco arrosto/Viel Geschrei und wenig Wolle; Vaso vuoto suona meglio/Laut Getön’, doch leere Worte; Il ventre non si sazia di parole/ Von Worten wird der Bauch nicht voll. Reden und Worte sollen auf konkrete, das heißt materielle Ziele gerichtet sein. Je mehr und je aufwändiger die Auswahl und Anordnung der Worte (suona meglio), desto nutzloser im gerade beschriebenen Sinn seien sie, so der Volksmund.
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damit vermeintlich moralisches Bewusstsein an den Tag legte.23 Zugleich traute er damit seinem Publikum zu, diese Wahrheiten auch zu erkennen und zu verkraften und lobte damit indirekt dessen Scharsinn und Charakter. Mussolini warnte z.B. wie folgt: „Qui bisogna guardarsi dalla demagogia.“24 (Hier muss man sich vor Demagogie in Acht nehmen). Ein weiteres Beispiel hierfür wäre auch dieser Passus: Questo lo dico, soprattutto, ai camerati che hanno contatto cogli operai, ai quali devono parlare il linguaggio fascista, che è nettamente antidemagogico. Si capisce che è più facile di andare davanti a una massa di operai e dire: ‚Vi si aumentano i salarî‘. Si riscuotono molti applausi, ma, viceversa, il dovere del fascista è quello di dire: ‚Fate questo sacrifizio, perché questo permetterà di sostenere la battaglia sui mercati internazionali, farà fiorire la nostra esportazione, darà lavoro a voi continuativo e a quelli che non l’hanno‘.25 Das sage ich vor allem den Kameraden, die Kontakt zu den Arbeitern haben, mit denen sie in faschistischer Sprache reden müssen, die entschieden antidemagogisch ist. Es versteht sich, dass es einfacher ist, sich vor eine Schar von Arbeitern zu stellen und zu sagen: ‚Die Löhne werden erhöht‘. Darauf erhält man viel Applaus. Im Gegenteil ist es aber die Pflicht eines Faschisten zu sagen: ‚Erbringt dieses Opfer, weil es helfen wird, die Schlacht auf den internationalen Märkten zu unterstützen. Es wird unseren Export florieren lassen und euch langfristig Arbeit geben – auch denen, die keine haben.‘
Eine Spielart des parole-fatti-Topos ist das Paar falsi profeti vs. profeti armati, falsche vs. bewaffnete Propheten. Stéphanie Lanfranchi und Élise Varcin haben die Opera Omnia nach dem Begriff des Propheten durchsucht. Als Ergebnis konstatieren sie: „Le procédé d’argumentation que déploie Mussolini à cette occasion [1902] – et qu’il utilise ensuite régulièrement, tout au long de sa carrière – consiste à condamner a posteriori non seulement l’erreur, c’est-à-dire le manque de clairvoyance de ses adversaires politiques, mais aussi l’imposture d’avoir voulu parler en prophètes.“26 Nicht nur werden die Gegner als Verführer dargestellt, die die Realität Lügen strafe. Reden der gegnerischen Seite seien 23
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Der Parrhesiastes, derjenige also, der parrhesia bzw. licentia übe, „nimmt sich die Freiheit, sein Publikum um der guten Sache willen offen zu rügen, auf die wirkliche oder fingierte Gefahr hin, den Unmut der Hörer zu erregen“, Schmude (2001: 253). Der innere Drang, die Wahrheit zu sagen, sei allerdings größer, sodass die Figur des Freimutes den ethischen Charakter des Redners augenscheinlich werden lässt. Zur Wirkweise dieser Gedankenfigur vgl. Lorenz (2015: 39 f.). Mussolini OO (26: 257). Ebd. (251). Lanfranchi/Varcin (2018: Abschnitt 4).
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nur leere Worte, denen keine Taten folgten, gemäß dem italienischen Sprichwort Predica bene, ma razzola male.27 Dass Mussolini den Propheten als Rolle nicht annehmen wollte, wird an einem Redemanuskript (s.u.) ersichtlich, wo er am Rand notierte: „Il mio problema personale – Né santo, né profeta, né nume.“28 (Mein persönliches Problem – ich bin weder ein Heiliger, noch Prophet, noch Gott). Mit der Abwertung des Propheten delegitimierte er seine Gegner, die das Wesen der Politik verkennen würden und sprach sich implizit Eigenschaften wie Klugheit und Besonnenheit zu. Nebenbei hat diese Spielart auch einen drohenden Unterton. Wo nämlich die falschen Propheten nur nutzlose, leere Worte machten, wisse der bewaffnete Prophet auch tätlichen Zwang anzuwenden.29 Domattina, camicie nere, vedrete qui una rassegna armata imponentissima. Sono io che l’ho voluta, perché le parole sono bellissima cosa, ma moschetti, mitragliatrici, navi, aeroplani e cannoni sono cose ancora più belle […]; poiché o camicie nere, il diritto, se non è accompagnato dalla forza, è una vana parola e il vostro grande Niccolò Machiavelli avvertiva che i profeti disarmati perirono.30 Morgen früh werdet ihr, Schwarzhemden, eine sehr eindrucksvolle, bewaffnete Truppenschau sehen. Ich habe sie gewollt, weil Worte sehr schöne Sachen sind, aber Musketen, Gewehre, Schiffe, Flugzeuge und Kanonen sind noch schöner […]; denn das Recht, o Schwarzhemden, wenn es nicht von der Stärke begleitet wird, ist ein hohles Wort und euer großer Niccolò Machiavelli warnte davor, dass die unbewaffneten Propheten untergingen.
Unausgesprochen bleibt, dass Mussolini ein bewaffneter ‚Prophet‘ sei, ein Fürst wie ihn Machiavelli entworfen und in dessen Tradition er sich seit frühester 27 28 29
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Das deutsche Pendant dazu wäre: Wasser predigen und Wein trinken. Dieses Vorgehen, Widersprüche aufzuzeigen oder zu konstruieren, kennt man auch als Gedankenfigur der Inter se pugnantia, vgl. Peacham (1996: 158 f.). Monaldi (2015: 306, vom Transkriptionssystem abweichend geglättet). Diese Abgrenzung unterschied ihn wiederum von D’Annunzio, der sich zum blinden Seher im Notturno stilisiert hatte (s. Kap. 3.2.2). Das Paradebeispiel für einen gescheiterten Propheten ist der Mönch Savonarola, den Machiavelli auch in seinem Il Principe vorstellt. Was war Savonarolas Fehler? Machiavelli (2009: 45–47) gibt darauf diese Antwort: „So kommt es, daß alle bewaffneten Propheten gesiegt haben und die unbewaffneten gescheitert sind. Denn außer dem bereits Gesagten gilt, daß die Völker von Natur aus wankelmütig sind; und es ist leicht, sie von etwas zu überzeugen; aber schwer, sie bei dieser Überzeugung zu halten; daher muß man dafür gerüstet sein, falls sie nicht mehr daran glauben, sie dazu zwingen zu können.“ Mussolini OO (24: 235 f.). Ein weiteres Beispiel, wo die Reden den Waffen weichen sollen, findet sich in OO (29: 94).
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Regierungszeit mit dem Preludio al Machiavelli (1924) gestellt hatte.31 Mussolini schrecke nicht davor zurück, Gewalt einzusetzen und sei nicht gewillt, wie Savonarola – das ist der unbewaffnete Prophet bei Machiavelli – nur auf Worte zu vertrauen. Insofern ist hierin nicht nur implizit angelegt, dass Mussolini ein echter Prophet sei, sondern auch ein bewaffneter. Mussolini präsentierte sich als erfolgreicher Macher, als Real- und Machtpolitiker und bediente damit eine seit den 20er Jahren virulente Vorstellung, wie der ideale Politiker zu sein habe. Gestützt war dieses Politikerbild auf die Machiavelli-Rezeption ehemaliger Vociani (Papini, Soffici, Prezzolini), die dem Sekretär aus Florenz und dessen Fürsten archetypische Züge verliehen. Im Principe sahen sie das Wesen des Italieners par excellence verwirklicht: Er sei spiritualistisch und zugleich konkret; durchsetzungsfähig wie ein Löwe und schlau wie ein Fuchs.32 Die dritte Dichotomie Ideale vs. Materie diente entweder der Bekräftigung der eigenen positiven Ideale oder der Abqualifizierung des Materiellen bzw. der Gegner.33 Argumentiert man vom Ideal her, so ist das Materielle ein zu überwindendes Hindernis. Argumentiert man vom Materiellen her, werden die Ideale (der anderen) infrage gestellt. Auffällig ist der biblische Hintergrund, der sich bei den Beispielen zeigt: Oggi, dinanzi a noi, non sono che dei problemi di ordine economico nella politica interna; sono importanti, ma in questa città dello spirito io non voglio esagerarne la portata. Si vive di pane, o camicie nere, ma non soltanto di pane.34 Heute liegen vor uns nicht nur Probleme wirtschaftlicher Art in der Innenpolitik; sie sind wichtig, aber in dieser Stadt des Geistes möchte ich ihre Tragweite nicht übertreiben. Man lebt vom Brot, o Schwarzhemden, aber nicht von Brot allein. Bisogna assicurare il pane quotidiano al popolo, e noi ci affatichiamo per questo fino ai limiti dell’impossibile e non per basso calcolo, ma per impulso e dovere umano, italiano, fascista.35
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33 34 35
Vgl. Mussolini OO (20: 251–254). Dreier (2015: 348) hat die klare Instrumentalisierung Machiavellis für die politischen Zwecke Mussolinis herausgearbeitet. Zu diesem Sachverhalt vgl. Zapponi (1981: 83 f., 163). Verfestigt hatte sich die Sichtweise, Mussolini als direkten Nachfolger Machiavellis zu sehen, in den 30er Jahren, z.B. in der ‚Studie‘ von Mario Ferrara (1939): Machiavelli, Nietzsche e Mussolini. Eine intensive politische Machiavelli-Rezeption begann im Risorgimento. Sie betonte nicht nur seine ‚nationale‘, sondern vor allem seine ‚realistische‘ Seite, s. dazu Viroli (2017). Vgl. die Ergebnisse von Agosto (1980: 258–268). Mussolini OO (24: 233), Herv. v. F.S., vgl. Mt. 4, 4. Mussolini OO (25: 55), Herv. v. F.S.
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Man muss das tägliche Brot für das Volk sicherstellen, und wir mühen uns bis an die Grenzen des Unmöglichen. Das tun wir nicht aus niedriger Berechnung heraus, sondern aus innerem Drang und aus menschlicher, italienischer, faschistischer Pflicht. Prima era lo spirito che aveva dominato la materia, ora è la materia che piega e soggioga lo spirito.36 Zuerst war es der Geist, der die Materie beherrscht hatte, jetzt ist es die Materie, die den Geist beugt und unterjocht. Da almeno due mesi eravamo ad Addis Abeba e ancora duravano le sanzioni. Caso classico della lettera, che uccide lo spirito, del formalismo che strangola la vivente, concreta realtà della vita.37 Seit mindestens zwei Monaten waren wir in Addis Abeba und noch immer dauern die Sanktionen an. Ein klassischer Fall des Buchstabens, der den Geist tötet; des Formalismus, der die lebendige und konkrete Realität des Lebens erstickt.
Mussolini machte durch diese Dichotomie klar, dass er mit seinem Tun je nach Kontext Ideale oder materielle Güter verfolge, bzw. anderen dies genau abspricht. Seine Ehrlichkeit untermauerte er durch die vielen Versprechen, die er auch immer einlöse (Promessa-Topos). Die selbstverpflichtenden Sprechakte lassen ihn als vertrauenswürdige und verantwortungsbewusste Person erscheinen. Camicie nere! Popolo di Torino! Avevo promesso che non sarebbe trascorso l’anno decimo del fascismo, senza che io avessi visitato la vostra città. Ecco che io mantengo la promessa.38 Schwarzhemden! Volk von Turin! Ich hatte versprochen, dass das Jahr X. des Faschismus nicht vergehen würde, ohne dass ich eure Stadt besucht hätte. Seht nun, ich halte mein Versprechen. Annuncio che, tra un anno, sarà inaugurata la nuova provincia di Littoria.39 Ich verkünde, dass in einem Jahr die neue Provinz Littoria eingeweiht wird.
36 37 38 39
Mussolini OO (26: 90), Herv. v. F.S. Bei der Realisierung dieses Topos wurde ein Chiasmus eingesetzt. Ebenso OO (28: 59). Mussolini OO (28: 68), Herv. v. F.S., vgl. auch OO (27: 199). Mussolini OO (25: 141). Mussolini OO (26: 124).
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Kapitel 4 I cinque anni sono trascorsi; ci siamo ritrovati in questa assemblea e le previsioni di allora hanno trovato conferma pienissima. Così accadrà nel 1939 e successive.40 Fünf Jahre sind vergangen. Wir haben uns in dieser Versammlung wiedergefunden und die Vorhersagen haben vollste Bestätigungen erfahren. So wird es auch 1939 und danach geschehen. Tale dichiarazione, tale impegno solenne io riconfermo dinanzi a voi e questo impegno sarà integralmente mantenuto.41 Solche Erklärung und feierliche Verpflichtung bestätige ich vor euch erneut und sie wird ganz und gar eingehalten werden.
Das Wohlwollen – die letzte Komponente der Ethoskonstruktion – sicherte sich Mussolini meist zu Beginn seiner Reden durch ein fast schon wie aus dem Lehrbuch entnommenes Publikumslob. Er hob positive Aspekte hervor, indem er die Schönheit des Ortes bewunderte oder dem Publikum für dessen überschwänglichen Empfang dankte. Er lobte den Patriotismus seines Publikums und dessen Treue zu Staat und Monarchie und erhob die Gelobten zum Beispiel für die ganze Nation. Von der Würde und Disziplin der Veranstaltung zeigte er sich beeindruckt. Der Intelligenz seines Publikums schmeichelte er, indem er behauptete, schwierige Sachverhalte einer großen Menge vortragen zu können, die sonst nur Fachleute im Parlament verstünden.42 Gente generosa ed intraprendente di Lucchesia! […] Voglio incominciare con una confessione e con un profondo rammarico. Solo oggi mi è stato concesso di visitare questa vostra incantevole e bellissima città. Ne conosco la storia gloriosa durante i secoli, ma non ne conoscevo la grande bellezza. Ho voluto premiare, o camicie nere, il vostro fascismo ardente e quadrato.43 Großzügige und unternehmungsfreudige Menschen aus Lucchesia! […] Ich will mit einem Geständnis und mit tiefem Bedauern beginnen. Erst heute war es mir möglich, eure bezaubernde und sehr schöne Stadt zu besichtigen. Ich kenne ihre ruhmreiche Geschichte durch die Jahrhunderte hindurch, 40 41 42
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Ebd. (193). Ebd. (357). Vgl. Mussolini OO (28: 67). Zu einem ähnlichen Lob kam es in einer Rede in Mailand am 06.10.1934. Dort zeigte Mussolini sein Geschick mit den Reaktionen seines Publikums spontan umzugehen. Der deutsche Botschafter Ulrich von Hassel schrieb in einem Brief am selben Tag an seine Frau Ilse: „Eben habe ich am Radio Mussolinis Mailänder Rede gehört. […] Am interessantesten war, daß zunächst der ‚spontane‘ Beifall bei den Worten über die Annäherung an Frankreich ausblieb, worauf er (als der Beifall nach einer kleinen Pause einsetzte) sehr nett sagte, die Hörer zeigten, wie intelligent sie seien und wie gut man zur ital. Masse auch über Außenpolitik reden könnte!“ Hassel (2004: 57 f.). Mussolini OO (24: 228), Herv. v. F.S.
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aber ich kannte nicht ihre große Schönheit. Ich wollte mit meinem Besuch, o Schwarzhemden, euren brennenden und kräftigen Faschismus belohnen. E niente di più triste del compito che qualche volta ci spetta, di dover difendere quello che è stato il sacrificio magnifico di sangue di tutto il popolo italiano! Voglio dirlo ancora una volta: l’eroismo individuale e collettivo del popolo italiano durante la guerra è stato sublime (applausi) e non teme confronto con nessuno degli altri eserciti.44 Es gibt keine traurigere Aufgabe, die uns manchmal zufällt, als jenes großartige Blutopfer des ganzen italienischen Volkes verteidigen zu müssen! Ich will es noch einmal sagen: Der einzelne und kollektive Heroismus des italienischen Volkes während des Krieges ist erhaben gewesen (Applaus) und braucht keinen Vergleich mit anderen Heeren zu scheuen. Con magnifica disciplina, con patriottismo superbo, voi, o donne, avete assolto a questo compito che il regime vi aveva affidato. La patria vi tributa la sua gratitudine, mentre il vostro esempio rimarrà consegnato nelle pagine della storia italiana.45 Mit herrlicher Disziplin und hohem Patriotismus, habt ihr, o Frauen, diese Aufgabe erfüllt, die euch das Regime anvertraut hat. Das Vaterland zollt euch seine Dankbarkeit. Zugleich wird euer Beispiel immer in der italienischen Geschichte verzeichnet bleiben.
An explizit ausgedrückten Emotionen lassen sich Freude, Freundschaft, Genugtuung, Stolz, aber auch Mitleid, Trauer und Empörung nachweisen. Sprach Mussolini von Zuneigung, wurde diese mit dem Wort simpatia, manchmal auch mit amore bezeichnet. Solche expliziten Emotionsexpressionen ste hen meist am Beginn der Rede und modellieren ein positives RednerPublikumsverhältnis. Geht man die Reden durch, so sieht man leicht, dass oft ein diffuser Gefühlszustand zum Ausdruck kommt, d.h. ein und dasselbe Wort wie commozione oder con / senza emozione decken Themen wie Trauer, Freude oder andere Emotionen ab. Die Formulierungen waren nicht unbedingt originell, aber erfüllten die aus der Redesituation entstandenen Erwartungen. Ferner ließen sich Mustersätze bzw. Floskeln (frasi fatte) erkennen, die immer wieder Anwendung fanden. Dazu seien folgende Äußerungen angeführt: Da oggi, 8 dicembre [1929], giorno nel quale ho il piacere e l’onore di parlarvi, al mese di luglio 1930, accadrà un fatto che non si deve dimenticare: cioè il raccolto del grano argentino e australiano.46 44 45 46
Mussolini OO (25: 147), Herv. v. F.S. Mussolini OO (27: 266), Herv. v. F.S. Mussolini OO (24: 177), Herv. v. F.S.
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Kapitel 4 Zwischen heute, dem 8. Dezember [1929], an dem ich die Freude und Ehre habe zu euch zu sprechen, und dem Juli 1930 wird etwas eintreffen, was nicht vergessen werden darf: die argentinische und australische Weizenernte. Ho voluto attestare la mia simpatia alla vostra forte gente rurale.47 Ich wollte meine Sympathie eurem starken und bäuerlichen Geschlecht gegenüber bezeugen. L’accoglienza di Milano non mi ha sorpreso: mi ha commosso.48 Der Empfang von Mailand hat mich nicht überrascht: Er hat mich gerührt. Io soffro dei dolori del popolo. Il nostro amore per il popolo, amore armato e severo, è tutto vibrante di una profonda e consapevole umanità.49 Ich leide an den Schmerzen des Volkes. Unsere Liebe für das Volk, eine bewaffnete und strenge Liebe, ist durchdrungen von tiefer und bewusster Menschlichkeit. Tutti coloro che parteciparono a quella storica riunione sono presenti. Uno solo è assente: Michele Bianchi, che ricordiamo sempre con profondo rimpianto.50 All jene, die an jener historischen Versammlung teilnahmen, sind anwe send. Nur einer ist abwesend: Michele Bianchi, dessen wir mit tiefer Trauer immer gedenken. Questa è la realtà di oggi. Non è senza emozione che ieri leggevo la lettera della madre di Filippo Corridoni, che ricordava il messaggio lanciato dal figlio, nell’atto di partire per il fronte, all’Unione sindacale Milanese.51 Dies ist die Wirklichkeit von heute. Nicht ohne Rührung habe ich gestern den Brief der Mutter von Filippo Corridoni gelesen, die sich an die Botschaft des Sohnes erinnerte, die er kurz vor seinem Aufbruch zur Front der Gewerkschaftsvereinigung von Mailand zurief.
Dies war die gefühlvolle Seite Mussolinis, die besonders vor zwei Publikumskreisen in Erscheinung trat: nämlich auf dem Land, meist vor einfachen Bauern, und in Mailand, wo Mussolini lange Zeit als Journalist tätig war. Bei einem Empfang von Bauern aus ganz Italien 1935 gab Mussolini, nachdem 47 48 49 50 51
Ebd. (224), Herv. v. F.S. Mussolini OO (26: 356), Herv. v. F.S. Mussolini OO (28: 58), Herv. v. F.S. Unübersetzbar bleibt der amore armato, auf den dennoch aus klanglichen Gründen hingewiesen sei. Mussolini OO (25: 135), Herv. v. F.S. Mussolini OO (27: 192), Herv. v. F.S.
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er festgestellt hatte, dass seine Vorfahren alle Bauern gewesen seien, den Anwesenden in kolloquialem Ton ein Sprichwort zum Abschied mit auf den Weg: „Chi non beve mai vino è un agnello, chi ne beve giusto è un leone, chi ne beve troppo è un asino. Tenetevi nella misura giusta.“52 (Wer nie Wein trinkt, ist ein Lamm; wer davon maßvoll trinkt, ein Löwe; wer zu viel trinkt, ein Esel. Haltet euch also ans richtige Maß). Verstärkt hätte sich dieser umgängliche Eindruck noch mit dem Gebrauch eines Dialektes, z.B. des Romagnol, doch lag es Mussolini fern, Regionalismen zu betonen. Er verwandte in sehr wenigen Fällen den Dialekt seiner Herkunft.53 Die Stadt Mailand andererseits stand für moderne Technik, die den Diktator, Prezzolini zufolge, tief geprägt habe.54 Hieraus lässt sich Mussolinis besonderes Ethos-Profil ableiten, nämlich eine janusköpfige Mischung aus Vergangenheit und Zukunft, aus Tradition und Fortschritt. Damit bot er einem heterogenen Publikum unterschiedliche Identifikationspunkte. Das Redner-Verständnis Mussolinis schließt diesen Teil der Analyse ab: Der Redner bringe das ans Licht, was sein Publikum latent schon wisse und fühle, so ohne Weiteres aber nicht äußern könne. Mussolini wurde durch diese Denkfigur zum Sprachrohr der Volksseele und zu deren Interpret gemacht. Hierfür seien zwei Beispiele angeführt: Da una parte il popolo italiano, in masse compatte e formidabili di milioni di uomini, ha fatto un deciso balzo in avanti; ed io, anima contro anima, sento di averlo interpretato come non mai.55 Dort steht das italienische Volk in geschlossenen und vorzüglichen Massen von Millionen von Menschen, das einen entschiedenen Schritt nach vorn gemacht hat, und ich, Seele an Seele, spüre, wie ich das Volk gedeutet habe, wie nie zuvor. Signori senatori! La parola eloquente e commossa del senatore Corrado Ricci ha, io credo, interpretato il sentimento che vibra nei nostri cuori.56 52
53 54
55 56
Ebd. (177), auch: „io mi vanto soprattutto di essere un rurale“ OO (29: 94). Prezzolini (19252: 40), der eine Biographie über Mussolini schrieb, befand: „Mussolini non ha mentalità agraria. Nasce dal ferro di un’officina di fabbro, e cresce fra le armature e i camini delle grandi industrie milanesi.“ Der ruralismo als Ethos-Element kam also erst später hinzu. Vgl. Navarra (20092: 46). Vgl. Prezzolini (19252: 38 f.): „Il soggiorno nella capitale lombarda ha lasciato in lui una profonda traccia. Milano è una delle poche, forse la sola delle città italiane dove vibri e dove lo spirito capitalistico, nelle ridotte proporzioni che il nostro paese può avere, si faccia sentire.“ Vgl. Das Bekenntnis zu Mailand in Mussolini OO (26: 356). Mussolini OO (25: 164), Herv. v. F.S. Ebd. (182), Herv. v. F.S.
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Kapitel 4 Meine Herren Senatoren! Das beredte und bewegte Wort des Senators Corrado Ricci hat, so glaube ich, dem Gefühl, das in unseren Herzen bebt, Ausdruck verliehen.
Aufgrund gesteigerter Sensibilität und Kompetenz ist es dem Deuter möglich, als vermittelnde Instanz für sein Publikum zu fungieren. Dieses erfährt, was es davor nur vage ahnte. Der Deuter muss allerdings geradezu zweierlei widersprüchliche Aspekte in sich vereinen: Er muss einerseits Teil der gedeuteten Gruppe sein, um sie ganz und gar verstehen zu können. Andererseits muss er außerhalb der Gruppe stehen, um als ihr ‚Leser‘ auftreten zu können. Mussolini gab sich als ‚Mann aus dem Volk‘, der zur selben Zeit über dem Volk stehe, um es ‚dechiffrieren‘ zu können.57 Mit dieser erhabenen Doppelposition untermauerte er seinen absoluten Führungsanspruch. Einfacher Redeaufbau und die Vogelperspektive Wie hat Mussolini nun seine Reden komponiert? Vom Gesichtspunkt der klassischen Rhetorik her müssten die Reden in mehrere Teile gegliedert sein. Majorana aktualisierte die antiken Redeteile 1909 wie folgt: Die Rhetoren hielten die Redeteile immer für besonders wichtig. G.B. Vico erneuerte die antiken Vorschriften leicht variiert, als er schrieb, dass jede Rede folgendermaßen unterteilt sein will: exordium, narratio, propositio, confirmatio, confutatio, peroratio. Wie üblich sagen wir aber, dass es feste Regeln nicht gibt: man kann höchstens diese Richtlinie geben: ‚Einen guten Einstieg gestalten, das Thema auf unterschiedliche Art wie es die Materie, der Anlass, die Umgebung erfordern abhandeln und einen wirksamen Schluss liefern‘.58
Da Mussolini keine klassisch rhetorische Bildung erfahren hatte, ist ein sol cher Aufbau von sechs Teilen schwerlich in seinen Reden zu finden. Vielmehr setzte er die reduzierte Variante, wie Majorana sie vorschlug, ein. Die dreiteilige Gliederung ist bei Mussolini gut erkennbar. Er bediente sich in 57
58
Vgl. die Eigenschaften der Interpretatio als Stilfigur bei Rehbock (1998: 494). Erinnert sei nochmals an Telesio (1940: 577). Dass diese Rollenzuschreibung nicht unbedingt populistisch aufgefasst werden muss, bezeugt ein Blick in Tommaseo/Bellini (1869, Vol. 2,2: 1621), wo unter dem Lemma interprete auch Farsi interprete dell’altrui desiderio, bisogno, diritto bezeugt ist. Majorana (1909: 173 f.), Kurs. i. Orig. Über die Antike hinweg wurden die Gliederungsschemata variiert und ausdifferenziert. Aristoteles forderte nur die Darstellung des Sachverhaltes und den Beweis, Einleitung und Schluss sah er eher als zweitrangig an. Martianus Capella gliederte die Rede in zwei Funktionsteile: docere und movere, wobei Letzteres den Mittelteil der Rede umschloss, vgl. Lausberg (20084: 148 f.).
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der Einleitung einer stark konventionalisierten Exordialtopik, um Aufmerksamkeit und Wohlwollen zu gewinnen. Aufmerksamkeit gewann er durch die Betonung des Neuartigen und des noch nie Gesagten; das Wohlwollen durch Publikums- und Städtelob. In einem zweiten Block handelte er das Thema ab, über das er sprechen wollte und beschloss zuletzt die Reden mit Appellen oder Versprechen. Den Einstieg in die Reden, vor allem für die Parlamentskammern, hielt Mussolini sehr kurz, da ihm durch seine Position eine gewisse Aufmerksamkeit sicher war. Aus den Fußnoten in den Opera Omnia wird ersichtlich, dass Mussolini die Diskussion in den Kammern beendete – nicht nur im symbolischen, sondern auch im ganz konkreten Sinn. Er stand meist am Ende der Rednerliste und fasste die vorläufige Diskussion zusammen. Gleichzeitig stand er vor dem Problem, Neues und Interessantes zu sagen bzw. die Deutung der Regierung darzustellen. Aus diesem Grund, so lässt sich vermuten, griff er auf historische Themen zurück, die den Rahmen erweiterten und weniger technisch bzw. gesetzesbezogen waren. Er lief damit nicht Gefahr, schon Gesagtes zu wiederholen. Nach seiner Rede erging an die Abgeordneten oder Senatoren die Aufforderung abzustimmen. Im Hauptteil benutzte er als Gestaltungs- und Gliederungsprinzip die historische Genese und verfuhr chronologisch. Eine explizit angekündigte Gliederung gab es jedoch nicht. Wurden historische Motive in den Volksreden immer nur kurz angerissen, bzw. nur benannt, erfuhren sie in den Kammerreden vermittels vieler Zitate eine Amplifikation. Die Redeteile selbst waren untereinander eher lose verbunden. Um Sachverhalte darzulegen, griff Mussolini auf die Aufzählung zurück, die seiner Argumentation einen induktiv-veranschaulichenden Zug gab. „Le chef du gouvernement italien a tracé, en effet, à grand traits, un plan de réforme constitutionnelle de l’économie italienne et un plan de réforme constitutionnelle politique. […] Mais il n’a pas donné aucun détail précis“59, so der Korrespondent der Le Temps 1936. Stand die aktuelle Lage im Fokus, nutzte Mussolini die Beschreibung als thematische Entfaltung. Ihr bestimmendes Muster war die Verschränkung 59
Le Temps (25.03.1936): Le discours du Duce aux Corporations. N° 27131, p. 2. Herv. v. F.S. Dass dies kein Einzelurteil ist, zeigen weitere Kommentare: Alfredo Signoretti schrieb über Mussolinis Rede: „ha dato uno sguardo generale di insieme alla situazione“, er vermittle eine „visione sintetica“. In: La Stampa (19.12.1930): Chiarezza e serenità. Mattino. N° 301, p. 1. Mussolini habe einen „Ueberblick über die gesamte Lage Europas“ gegeben (zur Rede Discorso per lo Stato Corporativo, 14.11.1933). An anderer Stelle wird hervorgehoben, dass „seine Rede den Charakter einer förmlichen Bestimmung unseres geschichtlichen Standortes gewann“, zu lesen in: Vossische Zeitung (15.11.1933): Mussolinis Weltbild. Nr. 533, S. 12.
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Kapitel 4
von Innen- und Außenpolitik. Er hangelte sich von einem zum anderen Land und bestimmte dabei die Position zu Italien, das als fixer Punkt diente. Orientierung vermittelte er durch diesen festen Betrachterstandpunkt, den er nie wechselte, und erzeugte damit ein Bild der Wirklichkeit, das zu seiner ihm attestierten Klarheit beitrug.60 Für die Rezeption der Reden ergab sich daraus, dass jeder ausländische Korrespondent sein Land explizit besprechen konnte, da Mussolini es erwähnte hatte. Auf diese Weise garantierte er seinen Reden eine erhöhte internationale Aufmerksamkeit. Der Darstellungsrhythmus bei diesen Skizzen (tocchi) war sehr hoch, aber nicht besonders tief: Uno dei paesi confinanti con l’Italia e con il quale le nostre relazioni furono, sono e saranno sempre estremamente amichevoli, è la Svizzera. Paese piccolo, ma di una importanza grandissima e per la composizione sua etnica e per la posizione geografica che occupa nel quadrivio d’Europa. Con gli accordi dell’11 luglio un’epoca nuova si è aperta nella storia dell’Austria moderna. Gli accordi dell’11 luglio, ne prendano nota tutti i commentatori frettolosi e male informati, erano da me conosciuti ed approvati sin dal 5 giugno, ed è mia convinzione che tali accordi hanno irrobustito la compagine statale di questo Stato e ne hanno anche maggiormente garantita l’indipendenza. Sinché non sarà resa giustizia all’Ungheria non vi potrà essere sistemazione definitiva degli interessi nel bacino danubiano.61 Eines der Länder, das an Italien grenzt, und zu dem unsere Beziehungen immer freundschaftlich waren, sind und sein werden, ist die Schweiz. Ein kleines Land, aber von größter Wichtigkeit sowohl was die ethnische Zusammensetzung als auch die geographische Position im Schnittpunkt von Europa angeht. Mit den Vereinbarungen vom 11. Juni wurde eine neue Epoche in der modernen Geschichte Österreichs eröffnet. Die Vereinbarungen vom 11. Juli, dies mögen die hastigen und schlecht informierten Kommentatoren zur Kenntnis nehmen, waren mir seit dem 5. Juni bekannt und wurden von mir gebilligt. Es ist meine Überzeugung, dass diese Übereinkünfte das staatliche Gefüge dieses Staates gestärkt und auch seine Unabhängigkeit besser abgesichert haben. 60
61
Vgl. Büttner (2007: 220), der in seinem Aufsatz zur Perspektive als rhetorische Form die Konstruktion und die damit einhergehende Persuasion in Malerei und analog dazu in der Rhetorik aufgezeigt hat. Ihm zufolge schaffe die Perspektive Evidenz, durch die Angleichung an die Blickrichtung des Betrachters und steuere die Aufmerksamkeit, indem Größenverhältnisse im Bild – je nach Wichtigkeit – ausgestaltet werden können. Neben einer Rhetorisierung der bildenden Künste bzw. der Malerei, ist auch eine umgekehrte Lesart des ut pictura poesis-Topos möglich, nämlich eine Ästhetisierung der Rhetorik und das Hervorheben ihres Bildcharakters, vgl. Jacob (2009). Mussolini OO (28: 69), Herv. und Absätze v. F.S. Und als weiteres Beispiel für diese Technik der Raffung s. die Erklärung zum Kriegseintritt Italiens im Jahr 1940: „Alcuni lustri della storia più recente si possono riassumere in queste frasi: promesse, minacce, ricatti e, alla fine, quale coronamento dell’edificio, l’ignobile assedio societario di cinquantadue Stati.“ Mussolini OO (29: 403 f.).
Reden- und Mythenanalyse
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Solange Ungarn keine Gerechtigkeit widerfährt, wird es keine abschließende Regelung der Interessen im Donaubecken geben.
Komplexe politische Phänomene und Gemengelagen führte Mussolini auf wenige Punkte zurück, ähnlich wie dies Cicero eingefordert hatte.62 Mussolini nannte dieses synthetische Vorgehen dann ‚Bilanz ziehen‘ (fare il punto)63 und nahm dadurch eine souveräne Stellung ein. Alfredo Signoretti, der Leiter der La Stampa, sprach in einem Kommentar zu einer Mussolini-Rede auch von einem „sguardo di aquila“64, also von einer Adlerperspektive, die eingenommen werde und eine „kühne Syntheseleistung65 erbringe. Insofern können manche von den Zeitgenossen wahrgenommene Eigenschaften, wie z.B. Mussolinis Vorgehen das Wesentliche zu benennen und es dann aber auch nicht zu vertiefen, um ein möglichst klares Gesamtbild der Lage zu erzeugen, als adäquate und sachliche Beschreibungen gelten. Rationalisierte Arbeitsweise: im Bureau eines Diktators An dieser Stelle scheint es angebracht, den Herstellungsprozess der Reden miteinzubeziehen. Mussolini las die Volksreden nie ab. Nur im Parlament oder bei besonderen Anlässen, z.B. bei der Einweihung des Garibaldi-Denkmals 1932 hatte er ein Manuskript bei sich. Es stellt sich die Frage, ob er überhaupt die Volksreden vorbereitete oder sie gänzlich improvisierte. Mussolini bereitete seine Reden vor und improvisierte auch die Volksreden wahrscheinlich nur sehr selten. Dafür sprechen die hohe Kohärenz zwischen den Aussagen und die typisch für die Schriftlichkeit gewählte literarische Wortwahl.66 Monaldi diskutiert in seinem Buch die Autorschaft der Reden. Er hält es allerdings für sehr unwahrscheinlich, dass Mussolini einen Text auswendig gelernt hätte, den er nicht selbst verfasst hätte.67 Die These, er habe einen Ghostwriter gehabt, ist angesichts der Manuskripte im Archivio Centrale dello Stato in Rom nicht haltbar, wo sich unzählige Notizen und Reden aus Mussolinis Hand finden. Mussolini habe, so Monaldi, mit einer „accuratezza 62 63 64 65 66 67
Vgl. Cic. De or. II, 138 sowie 140 und 331. Vgl. Mussolini OO (26: 233). Auch in dieser Rede bediente er sich des aufzählenden Verfahrens und schritt die italienischen Städte von Turin bis Neapel ab. Um noch genauer zu sein, spricht der Kommentar von einem „sguardo di aquila sopra un mondo in faticosa gestazione“. In: La Stampa (24.03.1936): Mobilitazione economica e sociale. Mattino, N° 72, p. 1. La Stampa (19.03.1934): Rivoluzione continua. Giorno, N° 66, p. 2. Vgl. Monaldi (2015: 61). Vgl. ebd. (74).
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Kapitel 4
[…] maniacale“68 jegliches Detail seiner Reden ausgearbeitet. Bei weniger wichtigen Anlässen war die Wahrscheinlichkeit größer, dass er improvisierte. Hierfür wandte er über die Jahre hinweg erworbene Versatzstücke an.69 Die mit gewissem Understatement von Mussolini geäußerte Behauptung, er kreiere die Reden in der Situation spontan, sollte zweierlei bezwecken: Erstens mäßigte er die Erwartungen seines Publikums, um dann zweitens diese Erwartungen durch eine perfekt memorierte Rede sogar noch zu übertreffen. Seiner Geliebten Clara Petacci vertraute er am 11. Oktober 1938 an: „Ich bereite die Rede für den 4. November vor. Ich improvisiere nur die Unterredungen. Die Reden vor hunderttausend Menschen bereite ich rechtzeitig vor, ich denke vorher darüber nach.“70 Bloße Improvisation hätte bei wichtigen Ansprachen zu diplomatischen Komplikationen führen können, wobei es auch solche Fälle gab, in denen Mussolini anscheinend vom vorbereiteten Skript abwich.71 Wie fertigte Mussolini seine Reden nun an? Sein Kammerdiener Quinto Navarra schilderte in seinen Erinnerungen, dass Mussolini die Reden in seinem Büro im Palazzo Venezia mit roten oder blauen Stiften oder einer speziellen eckigen Schreibfeder – ähnlich derjenigen D’Annunzios – verfasste. Die Schreibmaschine nutzte der Diktator hierfür nicht.72 Seine Reden schrieb er oft auf die Rückseite von schon benutztem Papier, um womöglich neues einzusparen. Wann hatte Mussolini in seinem dicht gedrängte Tagesablauf Zeit, die Reden auszuarbeiten? Amadeo Osti Guerrazzi hat die Regierungspraxis des Diktators näher ausgeleuchtet: Mussolini arbeitete von Montag bis Samstag, nach 1929 dann auch am Sonntag. Aus dem Carteggio ordinario der Segretaria Particolare del Duce (SPD), einer Art Privatkanzlei Mussolinis, kann man einen Eindruck von seinem Arbeitstakt (hier vom 15. Januar 1938) gewinnen:
68 69
70
71 72
Ebd. (82). Vgl. ebd. Das wird bei Reden besonders ersichtlich, die auf Rundreisen gehalten wurden, wo Mussolini an einem Tag mehrere Male zur Bevölkerung sprach, vgl. die Rede von Taranto (OO (26: 322)) mit der von Brindisi (OO (26: 324)), in denen er beides Mal seine Anerkennung auf ähnliche Weise formulierte. Petacci (20092: 426). Interessant ist auch die Aussage des Berufspolitikers Kuno Graf von Westarp, der über die Redepraxis in den 20er Jahren in seinen Memoiren nachdachte: „Die rhetorisch besten Reden hielt nach meiner Meinung ein Staatsmann, wenn er den sorgfältig ausgearbeiteten Entwurf auswendig konnte und ohne Bindung an schriftliche Unterlagen so sprach, als ob er den Wortlaut im Augenblick schöpferisch neu gestaltete.“ Westarp (2001: 167). Vgl. Monaldi (2015: 68). Vgl. Navarra (20092: 45 f.).
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Reden- und Mythenanalyse Persönliches Büro Carabinieri Abhördienst Polizei und öffentliche Sicherheit Amtschef des Kabinetts Minister für Italienisch-Afrika Minister für Volkskultur Außenministerium Partei Innenministerium
08.47–09.55 08.47–09.55 08.47–09.55 08.47–09.55 08.47–09.55 09.55–10.21 10.21–10.38 10.38–11.02 11.05–12.38 11.05–12.38
Der Vormittag stand also im Wesentlichen im Zeichen der Innenpolitik, der öffentlichen Sicherheit und der Gegnerbekämpfung. Vertreter von Carabinieri, Polizei und Abhördienst wurden als erste empfangen. Ihre Informationen erlaubten es Mussolini gleichsam, den Puls seines Lands zu fühlen und der öffentlichen Meinung nachzuspüren. Zugleich ließ sich der Diktator über jede Form antifaschistischer Aktivität sowie über jede andere Form von Dissidenz und Resistenz in Kenntnis setzen.73
Zwischen acht und neun Uhr, je nachdem ob Sommer oder Winter war, begann der Arbeitstag mit den Audienzen. Zuvor wurde der Tagesablauf mit dem persönlichen Büro abgeklärt. Dann hörte Mussolini die Sicherheitsorgane und Minister an. Kurz vor der Mittagspause besprach er sich mit dem Leiter des Ufficio Stampa oder dem späteren Staatssekretär des Ufficio Stampa e Propaganda, das 1935 zum Ministerium umgewandelt wurde. Wie am Tagesverlauf von 1938 sichtbar wird, rückte der Propagandaminister für Volkskultur (Ministero della Cultura Popolare, MinCulPop) dann zeitlich weiter nach vorne. Bei diesen Treffen wurden für gewöhnlich die gesammelten Zeitungsberichte von in- und ausländischer Presse, die relevant für die Regierung und Mussolini waren, gesichtet, geändert oder gekürzt.74 Dies war eine Kontrolle der herrschenden Presseanweisungen und diente auch ihrer Revision. Die neuen Anweisungen wurden meist um 14.00 Uhr – entweder telefonisch oder über 73 74
Osti Guerrazzi (2018: 218). Zur Schlüsselstellung Mussolinis in der faschistischen Propaganda s. Spulcioni (2014: 245). Zur Entwicklung der Propaganda-Strukturen, die über die Jahre zwar ausgebaut wurden, aber ihren Schwerpunkt immer noch auf dem Pressewesen hatten, vgl. Cannistraro (1975: 78 f.). Einen Vergleich zwischen dem Reichsministerium für Volksaufklärung und dem MinCulPop haben Elisa D’Annibale und Eugenio Di Rienzo (2017: 622, 624) durchgeführt, die eine klare Imitation des deutschen Ministeriums für das italienische Pendant erkennen lassen. Zu diesem Zweck unterhielt sich der Schwiegersohn Mussolinis, Graf Galeazzo Ciano, mit Goebbels im Mai 1933, als dieser in Rom war, und fertigte eine kleine Studie (dem Aufsatz beigegeben) an. Ungemein aufschlussreich, weil eine vergleichende Perspektive zwischen NS-Deutschland, dem faschistischen Italien und dem franquistischen Spanien eingenommen wird, ist die Studie von Zimmermann (2007).
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Abb. 1
75
Kapitel 4
Entwurf zur Rede zum zehnten Jahrestag der faschistischen Revolution am 16.10.1932, Rom.75 ACS, 304–307).
bei Monaldi (2015:
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eine Pressekonferenz (belegt ab Dino Alfieri) – an die staatliche Presseagentur Agenzia Stefani, an die römische Ente Stampa und an größere Zeitungen weitergeleitet, die all dies für die nächste Abend- und Morgenausgabe berücksichtigen mussten. Nach der Mittagspause setzte Mussolini die Empfänge bis in den Abend fort (ab 15.00 bis ca. 20.00, 21.00 Uhr).76 Auftritte in Rom, so z.B. die der jährlich stattfindenden Getreideschlacht (Battaglia del grano) wurden vor Arbeitsbeginn gelegt und an manchen Tagen hielt Mussolini direkt nach der Mittagspause um 16.00 Uhr seine Kammerbzw. Senatsreden, was die Lücken in den Audienzlisten erklärt bzw. die späten Empfänge am Abend wie dies bei Emil Ludwig der Fall war.77 Generell war der Tagesablauf Mussolinis stark durchstrukturiert. Die Termine am Morgen waren von essenzieller Wichtigkeit, sodass die Arbeit an den Reden wahrscheinlich am Nachmittag oder am Abend stattfand. Mussolini fertigte zu Beginn ein Dispositionsschema an (s. Abbildung), das er danach schriftlich ausarbeitete und als Manuskript seinen Sekretären zum Abtippen gab. Wegen seiner Altersweitsichtigkeit wurde eine Schreibmaschine mit besonders großen Typen extra für ihn hergestellt.78 Danach wurde dieses getippte Exemplar Mussolini zur Kontrolle und weiteren Korrektur zurückgegeben. Die Endfassung wurde nach dem Redeauftritt von Mussolini nochmals bearbeitet und Änderungen, z.B. aufgrund von Abweichungen in der tatsächlich gesprochenen Rede, wurden eingearbeitet.79 Unterstützung bei der Redevorbereitung erhielt Mussolini von seinem Büro, das ihn mit Material und Informationen versorgte. Für die Ansprache zum zehnten Jahrestag der faschistischen Revolution 1932 ließ Mussolini seine Behauptung, die faschistische Umwälzung habe einen höheren Blutzoll als die französische 76 77
78 79
Vgl. Navarra (20092: 96). Vgl. Ludwig (1932: 23): „In unseren Gesprächen, die sämtlich an diesem Tische gegen Abend stattfanden“. Zu den institutionellen Sitzungen vgl. Commemorazione di Antonio Salandra, am 09.12.1931 von 16.00–16.30 (OO (25: 68 f.)), Commemorazione di Enrico Corradini am 11.12.1931 von 17.00–17.30 (OO (25: 69 ff.)) und den Discorso alla Camera dei Deputati per il Decennale am 16.11.1932 von 16.00–16.15 (OO (25: 164)). Vgl. Navarra (20092: 45 f.). Das Ausfeilen seiner Reden gestand Mussolini seiner Geliebten gegenüber ein: „Ma sai quante volte li correggo? I miei discorsi sono sempre netti, decisi, regolati e chiarissimi“, Petacci (20092: 293). Die Korrektur nach den Reden ist überdies gut an den Senatsprotokollen zu sehen, die durch Stenographen angefertigt wurden. Gleich zu Beginn ergänzt Mussolini auf einem Protokoll den Titel Capo del Governo mit einem Primo Ministro. Weitere kleine – vor allem stilistische Eingriffe – erfolgten. Z.B. wurde il glorioso Vessillo di San Marco in den Plural gesetzt, oder sfidato zuerst mit conservato, dann aber mit assimilato ersetzt. Vgl. ACS, Autografi del duce: 10.1.8. Dort ist nicht nur das Redemanuskript, sondern auch der Stenobericht zu finden. Über Ausmaß und Art der Korrektur bekommt man bei Monaldi (2015) einen Eindruck, da er die Manuskriptfassung Mussolinis in die Fußnoten aufgenommen hat.
188
Kapitel 4
oder russische gefordert, mit einer Recherche absichern. Dazu wurden einige Nachforschungen durch seine Mitarbeiter durchgeführt, was die Archivakten belegen.80 Für die später vorgestellte Kammerrede zu den Lateranverträgen (Kap. 4.2.1) hatte Mussolini beispielsweise drei Personen, an die er die Materialsammlung delegierte.81 Damit reihte sich Mussolini in eine Entwicklung ein, die Andreas Schulz als „Rationalisierung der Redepraxis“ bezeichnet und die in der „Inanspruchnahme technischer Apparate und personeller Ressourcen“82 bestand. Für die Öffentlichkeit waren diese Prozesse nicht einsehbar, sodass die Behauptung, die Reden entstünden im Moment der Äußerung selbst, glaubwürdig erschien. Ähnliches hat Toye für Winston Churchill festgestellt: „The romantic image of Churchill as a lone genius conjuring masterly speeches out of the ether is misleading. It is true that he wrote them himself, but he did so as part of a collaborative process. Colleagues and officials supplied him with information and suggestions, and the drafts (which frequently reflected this advice) were often circulated within Whitehall for comment.“83 Dass Mussolini die Reden aber so formal von seinen Ministerien kommentieren ließ, ist nicht denkbar. Die Planung lag allein bei ihm, er wurde jedoch durch die Segretaria Particolare del Duce, die im Erdgeschoss des Palazzo Venezia ihren Sitz hatte, unterstützt. Über die Kanzleichefs ist relativ wenig bekannt, ein Zeichen dafür, daß sie stets im Hintergrund blieben, hier freilich mit der von Mussolini abgeleiteten Autorität um so ungehinderter wirken konnten. Wie unentbehrlich sie dem ‚Duce‘ waren, zeigt sich daran, daß er sie, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Personalpolitik, insgesamt nur zwei Mal wechselte. Alessandro Chiavolini diente ihm von 1922 bis 1934 als Kanzleichef, der ihm folgende Osvaldo Sebastiani war von 1934 bis 1941 im Amt. Die Karriere von Nicolò De Cesare, dem dritten Kanzleichef, wurde nur durch den Sturz Mussolinis am 25. Juli 1943 vorzeitig beendet. […] Alle drei waren keine prominenten Faschisten, die irgendwelche Verbindungen zur Führungsspitze des PNF gehabt haben.84
80 81
82 83 84
Vgl. ACS, Autografi del duce: 10.1.7, All. 1–3. Dies waren Mario Missiroli – seines Zeichens Journalist – für die kulturreligiösen und antik-historischen Abschnitte der Rede, der Jurist und Historiker Francesco Salata für den Teil über das Risorgimento und Amadeo Giannini für den Konkordatsvergleich, vgl. Pertici (2009: 189 f.). Schulz (2012: 262). Toye (2013: 3). Im Falle Mussolinis erfolgte die Abstimmung strittiger Punkte eher in persönlichen Unterredungen, s. Kap. 4.2.1. Schieder (2013: 28). Vgl. die Beschreibung des Palazzo Venezia und seine interne Aufteilung bei Navarra (20092: 74 f.).
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Albertina Vittoria schildert die Tätigkeiten des Kanzleichefs folgendermaßen: er organisierte die Treffen und Audienzen sowie den Tagesablauf Mussolinis mithilfe eines Mitarbeiterstabes. Zusammen bearbeiteten sie die eingehende Korrespondenz, beschafften Informationen, verwalteten mehrere Archive und fungierten als Filter und Vermittlungsstelle zwischen Mussolini, hochrangigen Parteipolitikern und Ministerien.85 Gleichzeitig trat die Kanzlei als Mussolini selbst in Erscheinung, wenn sie in dessen Namen Antwortschreiben verfasste. So trug diese Institution ebenfalls zum Eindruck eines zugewandten, väterlichen Diktators bei.86 Zusammengefasst lässt sich von einer hohen Glaubwürdigkeit Mussolinis sprechen, die er durch seine Reden erzeugte. Er stellte sich in vielen Bereichen als klugen Macher dar, der unbestechlich seine hehren Ziele verfolge. Vertrauen zu seinen Aussagen baute er durch Dichotomien auf, in denen er seine Wahrhaftigkeit herauszustellen versuchte. Unterstützt wurde diese Glaubhaftmachung eines guten Charakters durch die einfache und übersichtliche Machart der Reden. Seinem Publikum zeigte er sich stets verbunden und passte sich an dessen Erwartungen mit einem doppelten Ethos an. Damit bot er den Rezipienten eine breite Identifikationsfläche, deckte er doch traditionelle und moderne Rollenbilder ab. Diese wurden mit der Rolle des Deuters ergänzt, mit der Mussolini seine herausgehobene Stellung als politischer Anführer absicherte. Die Herstellung der Reden zeichnete sich durch Arbeitsteilung aus. Beim Verfertigen seiner Ansprachen behielt Mussolini die konzeptionelle Ausführung, lagerte aber Informationsbeschaffung und Absprache mit Vorrednern aus. Er bediente sich institutioneller Strukturen, die zu seiner alleinigen Verfügung standen. Er stärkte und verbreitete sein Ethos über Presselenkung und über scheinbar individuelle Korrespondenz.
85
86
Vgl. Vittoria (1980: 657). Chiavolini hatte Jura studiert und als Journalist gearbeitet. Er kannte Mussolini schon seit der Gründung des Il Popolo d’Italia 1914. Im Jahr 1929 wurde die von Chiavolini selbst erdachte Struktur der Kanzlei nochmals wie folgt geordnet: „ufficio riservato (O. Sebastiani), ufficio personale (G. Letta), ufficio ordinario (R. Nani), automezzi e trasporti (M. Mileti), corrispondenza (G. Gerbore), sussidi (G. Ricci), Palazzo Chigi (O. Sebastiani), e fiduciari presso i ministeri (struttura creata per snellire il rapporto tra la segreteria e i ministeri stessi).“ Ebd. Vgl. Petersen (1983: 256 f.) und Schieder (2013: 57).
190 4.2
Kapitel 4
Die Meistererzählung: Italien zwischen Dekadenz und Aufstieg
Italien ist mehr als lediglich ein geographischer Begriff, wie es einst Fürst Metternich formulierte. Aus der symbolisch-diskursiven Gestaltung dieses geographischen Begriffes entwickelte sich das, was man landläufig unter ‚Italien‘ verstehen wird: eine politische, kulturelle und sprachlich identifizierbare Größe. Die Faschisten bedienten sich dieser Größe, indem sie sie zu ihrem Ursprungs- und Zielmythos machten. Weil ‚Italien‘ grundlegend für ihre Politik war, soll der Hauptmythos, die alles umfassende Meistererzählung, in diesem Kapitel vorgestellt werden. Zuerst wird der Entstehungskontext des Nationendiskurses umrissen, der die Grundlage für den später politisch genutzten Rom-Mythos bildete. Dann wird aufgezeigt, wie der Italien-Mythos auf den Rom-Mythos zugeschnitten wurde. In den darauffolgenden innenpolitischen Reden wird vor allem das Legitimationsproblem einer langen faschistischen Herrschaft sowie die Adaptionen des nationalen Mythos behandelt. Einen Sonderfall der nach innen gerichteten Reden stellte die Wirtschaftskrise dar, auf die Mussolini je nach Situation neue überzeugende Antworten finden musste. Mit den anschließenden Reden der Äthiopienkrise verschiebt sich der Fokus zwar in die Außenpolitik, doch bleibt auch hier der Rahmen des Rom-Mythos erhalten und politisch richtungsweisend. Ursprünge des Italien-Mythos bei Dante, Petrarca und Machiavelli Herfried Münkler führt in der Einleitung zu Nationenbildung: die Natio nalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller die wichtige Unterscheidung von Nationendiskurs und Nationalismus ein. Auf dieser Grundlage wird es möglich, über den Ausschluss der Kategorien von Staatlichkeit und Involvierungsgrad der Bevölkerung, die Konstruktion einer nationalen Identität schon vor dem 19. Jahrhundert zu untersuchen.87 Der Beginn des Nationendiskurses liegt im Falle Italiens im 14. Jahrhundert. Davor war noch die Imperiums- und Reichsidee sehr präsent, wie sie 87
Vgl. Münkler/Grünberger/Mayer (1998: 16 f.). Mit Jansen/Borggräfe (2007: 22) kann man drei Phasen des Nationalismus unterscheiden. Die erste Phase ist die kulturell-literarische, die auch den eben genannten Nationen-Diskurs einschließt. Die zweite ist dann gekennzeichnet durch explizite politische Organisation, zur Verwirklichung nationaler Ziele oder zur Herstellung der staatlich-institutionellen Nation überhaupt (= Nation-Building). Die dritte wäre dann das, was Mosse die ‚Nationalisierung der Massen‘ genannt hatte, also eine Verbreiterung der nationalen Basis. Vgl. das achtphasige Modell von Metzeltin in dieser Arbeit Kap. 2.3.
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z.B. von Dante vertreten wurde. In diesem als universal gedachten Imperium waren die nationes nur ein binnendifferenzierender und nicht eigenständiger Begriff.88 Eine spätere nationalistische Lesart Dantes ist durchaus möglich, besonders was die Schrift De Monarchia (II, 6) angeht. Dort sprach er vom natürlichen Führungsanspruch der gente latina und ihrem Erstlingsrecht auf ein Imperium. Diese Lesart wurde im Risorgimento und im Ventennio auch stark gemacht.89 Mit dem Humanisten Francesco Petrarca kommt erstmalig im Gewand eines Gelehrtenpatriotismus die Idee auf, dass Italien an vergangene römische Größe anknüpfen müsse, um zu einer eigenbestimmten Nation zu werden. In seiner berühmten 128. Canzone mit dem Titel Italia mia wird Gott angerufen, sein auserwähltes Land (tuo dilecto almo paese, V. 9) vor den Barbaren zu retten, die nostri dolci campi (V. 30) zerstören würden.90 Fremdheitserfahrungen durch den aufblühenden Handel und marodierende Söldnertruppen von jenseits der Alpen, die Plünderungszüge (tante pellegrine spade, V. 20) durchführten, förderten eine ablehnende Haltung gegenüber dem Anderen und eine positive Selbstsicht.91 Italien wird zur madre benigna et pia (V. 85) stilisiert, die all jenen Leben schenke, welche Latin sangue gentil (V. 74) in sich hätten. Möglich wurde diese Entwicklung dadurch, dass sich die politischen Kräfte wie das Kaiserund das Papsttum, die die universale Reichsidee im Sinne einer translatio imperii vertraten, gegenseitig schwächten. Anstelle dieser Kontinuität wurde der Bruch zum antiken Rom herausgearbeitet, befördert vor allem durch die Wiederentdeckung lateinischer und griechischer Codizes. Neben dem Bruch zum ‚finsteren Mittelalter‘ wurde die Idee eines Neubeginnes des antiken Roms (renovatio Romae) populär. Mit dem Bürgerhumanismus eines Coluccio Salutatis oder Leonardo Brunis trat der „Nationendiskurs […] aus dem Elfenbeinturm gelehrter Überlegungen heraus und wurde zu einem Instrument in der Sphäre des Machtkampfs“92. Zu erwähnen ist ferner Niccolò Machiavelli, der im letzten Kapitel seines Il Principe zur Befreiung ganz Italiens aufrief und sich zu diesem Zweck die 88 89 90 91
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Münkler/Grünberger/Mayer (1998: 28 und 94 f.). Vgl. Venturini (19322) oder Ercole (1927/28). Kritik an einer ungenauen und vereinnahmenden Lesart Dantes üben Münkler/Grünberger/Mayer (1998: 90). Petrarca (2006: 96–103). Vgl. Goetz (1939: 23): „Der Haß gegen die Fremden wächst überall, je länger diese Kämpfe dauern; das Sichabheben von den Deutschen ist einer der Gründe für die weitere Entwicklung eines italienischen Nationalbewußtseins, wie im 13. Jahrhundert auch der Gegensatz gegen die Franzosen in gleicher Richtung wirkte. Das Sichabheben von den Nachbarn des Landes, die so oft auch die natürlichen Feinde waren, ist überall eine Quelle des Nationalgefühls“. Vgl. auch: Münkler/Grünberger/Mayer (1998: 117). Münkler/Grünberger/Mayer (1998: 120).
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Verse Petrarcas zu eigen machte: „Virtù, contro a furore / prenderà l’arme, e fia el combatter corto, ché l’antico valore nell’italici cor non è ancor morto.“ („Und Tapferkeit wird gegen Wut / Die Waffen richten, der Kampf sich kurz bemessen: / Ist doch der altererbte Mut / Italiens Herzen nicht gänzlich unvergessen.“)93. Machiavelli zog in einem stetigen Vergleich zwischen den Römern und seiner eigenen Zeit Lehren für politisches Handeln. Bedingung dafür war ein zyklisches Geschichtsverständnis, das er von Polybios übernommen hatte. Doch wie sollte Italien wieder geeint werden und römische Größe erlangen? Mit dieser Frage betreten wir einen Problemzusammenhang, der mit den vermeintlichen Wurzeln Italiens zu tun hat und der die folgenden Jahrhunderte bis hin zu Mussolini virulent bleiben sollte. Italien bestand im 16. Jahrhundert aus einer Vielzahl von größeren und kleineren Staaten, die in kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Konkurrenz zueinanderstanden. Die politische Einheit und Größe Italiens hatte das antike Rom zum Ausgang. Wie kam es dazu, dass Italien einst vereint und sogar die Herrscherin der Welt und nun getrennt und von ‚Barbaren‘ überrannt war? Die Antworten auf dieses mit dem Namen Dekadenz bezeichnete Phänomen fielen ganz unterschiedlich aus. Machiavelli sah beispielsweise in den fremdländischen und nur für Geld kämpfenden Söldnern den Beginn von Roms Verfall. „Und wenn man nach der ersten Ursache für den Niedergang des Römischen Reiches forscht, so wird man finden, daß er einzig und allein mit der Anwerbung von Goten eingesetzt hat; denn von dieser Zeit an begannen die Kräfte des Römischen Reiches zu ermatten; und alle Tüchtigkeit ging verloren, übertrug sich auf die Goten.“94 Die Dekadenz wird bei der Erklärung des historischen Wandels für die italienischsprachige Historiographie zum maßgeblichen Interpretationsrahmen, obwohl man auch eine Erfolgsgeschichte hätte schreiben können. Ob man Partikularismus, Konkurrenz und kulturelle Entfaltung positiv oder negativ sehen möchte, ist vor allem vom Wertesystem des Betrachters abhängig.95 Wie Volker Reinhardt in seinem Buch Die Macht der Schönheit detailreich zeigt, fällt in die ‚dekadente‘ Phase Italiens (16–18. Jh.) eine enorme kulturelle Blüte, die als Gegenerzählung genauso statthaft ist, wie der altbekannte Mythos der 93 94 95
Machiavelli (2009: 206 f.) Übers. von. Philipp Rippel. Machiavelli zitierte aus Petrarcas Canzone Italia mia die VV. 93–96. Machiavelli (2009: 111). Übers. v. Philipp Rippel. Vgl. Del Boca (20176: 11–28), er zeigt auf, wie das Fremdbild von Grand Tour-Reisenden mit dem Eigenbild der in Italien lebenden Elite zur Deckung kam, d.h. in der äußerst negativen Bewertung der politischen und sozialen Umstände, bis ins 19. Jahrhundert hinein. Lill (1980: 7–30) zeichnet die Faktoren nach, die zu diesem Eindruck der Dekadenz ab der Renaissance geführt haben, gibt aber auch zu bedenken, dass Italien in dieser Zeitspanne große kulturelle Leistungen erbracht habe. Vgl. ferner Reinhardt (2003: 149 f.).
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Dekadenz.96 Die kriegerische Unfähigkeit und die innerparteilichen Konflikte waren für Machiavelli nicht nur Grund für den Verfall eines großen Weltreiches, sondern mutatis mutandis noch ebenso gültige Gründe für die politische Lage Gesamt-Italiens. Dass hier überhaupt ein Mythos der Dekadenz entworfen werden konnte, war nur möglich, weil der Ausgangspunkt, nämlich die antike Großmacht Rom, als Referenz für einen Vergleich gut gewählt und selbstevident schien. Alles, was danach folgte, galt zum Glanz des Römischen Imperiums als vergleichsweise schlechter. Das Dekadenzmodell ist antiken Ursprungs und wurde vor allem in der römischen Geschichtsschreibung, dann aber auch nach dem Fall Roms, immer wieder verwendet.97 Benjamin Biesinger konnte durch die Untersuchung verschiedener römischer Historiker nachweisen, dass das Dekadenzmodell mit moralischen Kategorien arbeitet, da dem Begriff der Dekadenz ein axiologisches Grundmuster (früher besser – heute schlechter) eingeschrieben ist. So ist es auch möglich, jede gesellschaftliche, politische, kulturelle Entwicklung als dekadent zu klassifizieren. „Angreifbar werden die traditionellen Erzählungen, wenn in die wiederholte Frage nach dem Ereignis die Frage nach der Modalität eingeschleust werden kann: Die Dekadenzerzählung akzentuiert also das ‚Wie?‘ gegenüber dem ‚Was?‘.“98 Das Spezifische an der Dekadenzerzählung ist, rhetorisch formuliert, die Umwandlung von einem status definitionis in einen status qualitatis. Die aus der antike stammende und für das Gerichtswesen entworfenen Status-Lehre unterschied in den eben genannten Status verschiedene argumentative Zugriffsmöglichkeiten auf einen Sachverhalt. Bei dem ersten Status wird geklärt, um was es eigentlich geht, man versucht sich auf die Sachlage und deren Benennung zu 96
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Vgl. Reinhardt (2019), besonders (S. 16 f.): „Die ‚spanische Fremdherrschaft‘ scheidet als Schlüsselmotiv zur Erklärung der italienischen Geschichte somit aus. Guicciardinis Gleichsetzung von politisch-sozialer Vielfalt und Kulturblüte hingegen bleibt bedenkenswert. Denn die dadurch erzeugte Konkurrenz und ihr konkreter Niederschlag, die intensive Nachfrage nach Literatur, bildender Kunst und Musik, war mit der Flurbereinigung auf der obersten politischen Ebene seit dem 16. Jahrhundert nicht erloschen, sondern ebenfalls geordnet und weiter intensiviert.“ Vgl. Demandt (1984), der dazu eine umfangreiche Studie geschrieben hat. Er macht vier Modelle aus, die sich herauskristallisierten, mit denen die römische Geschichtsschrei bung ihren Ergebnissen eine Form (plot/mythos) verlieh: 1. Dekadenzmodell, 2. RomIdeologie (Vergil), 3. Apokalyptik (Johannes-Apokalypse, Daniel-Prophezeiung Kap. 2, Lebensalter-Analogie), 4. Rom-Theologie (Origenes, Augustinus), vgl. ebd. (46). Zu ergänzen wäre noch ein lineares Fortschrittsmodell, das im 19. Jahrhundert mit der hegelianischen Geschichtsphilosophie und Technikgläubigkeit seinen Höhepunkt hatte und sich mit der Rom-Ideologie verband – vor allem bei Quintino Sella, vgl. Chabod (1962: 89 f.). Biesinger (2016: 364), vgl. auch Pross (2013: 42). Zur Statuslehre vgl. Hoppmann (2007).
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einigen. Beim zweiten Status wird die qualitative Einschätzung der Sachlage thematisiert. Mit letzterem Zugriff kann auch eine an sich zufriedenstellende Sachlage durch beispielsweise einen Vergleich eine neue, negative Bewertung erfahren. Die Dekadenzerzählung lenkte also von unbestreitbaren Fortschritten ab und erzeugte die Sicht des nationalen Verfalles. „In Hinblick auf seine Form zeichnet sich das Dekadenznarrativ durch ein hohes Maß an Kohärenz und Geschlossenheit aus. Wenngleich es sich in der longue durée entfaltet, kennt es Anfang, Mitte, und Ende: einmal in Gang gesetzt, entfaltet der Prozeß namens Dekadenz sich nach einem regelmäßigen Verlaufsschema, in dem Auflösung und Zerfall das erwartbare Ende bilden.“99 In solch einer Dekadenzerzählung wird besonders der Anfang des Verfalls thematisiert, da in diesem narrativen Abschnitt die Gründe für die Dekadenz genannt werden. Kehren wir nochmals zu Machiavelli zurück, so sieht man, dass seiner Meinung nach, die Dekadenz mit der mangelnden Wehrhaftigkeit des römischen Staates zusammenhing, die die Barbaren dann ausgenutzt hätten. Mit seiner aktualisierenden Interpretation der Geschichte, in der das antike Modell der historia magistra vitae zum Tragen kommt,100 erklärte Machiavelli die italienischen Zustände seiner Zeit und blieb mit dieser Meinung über das Risorgimento hinaus richtunggebend: „Das Bewußtsein der militärischen Schwäche Italiens hat seinen kulturellen Ursprung im Denken Machiavellis und wurde durch die Erfahrungen mit der institutionellen Schwäche des Nationalstaates des Risorgimento fortgesetzt.“101 Das italienische Risorgimento und die Suche nach einem geeigneten Ursprungsmythos Das italienischen Risorgimento knüpfte an ältere Deutungen von Dante und den Renaissance-Humanisten an und forcierte deren Sicht einer Kontinuität zwischen Römern und Italienern dadurch, dass ihr Verhältnis genealogisch festgeschrieben wurde. Der nationale Mythos deckte die bloße Ähnlichkeit zwischen Römern und Italienern zu und machte sie zu Wesensverwandten. Voll ausgebildet war diese Verknüpfung im Laufe des 19. Jahrhundert. Der Dichter Giacomo Leopardi gab in seinem Gedicht All’Italia (1818) einen sprechenden Eindruck davon: 99
Pross (2013: 41), Kurs. i. Orig. Pross geht davon aus, dass die Dekadenz „eine der wirkmächtigsten ‚großen Erzählungen‘ der frühen Moderne“ gewesen sei, ebd. (10). 100 Vgl. Demandt (1984: 98, 464 ff.) sowie Blasberg (1994: 476 f.) und Schuhmacher (2019: 54–59). 101 Porciani (2003: 212).
Reden- und Mythenanalyse O patria mia, vedo le mura e gli archi E le colonne e i simulacri e l’erme Torri degli avi nostri, Ma la gloria non vedo, Non vedo il lauro e il ferro ond’ eran carchi I nostri padri antichi. Or fatta inerme, Nuda la fronte e nudo il petto mostri.102
195 O Vaterland, der Ahnen Mauerbrüstungen Seh ich und Bögen, Säulen, Bilder, groß Steht mancher Turm im Land, Doch seh ich nicht den Ruhm, Ich seh den Lorbeer nicht, und nicht die Rüstungen, Die unsere Väter trugen. Nun ist bloß Das Haupt dir, bloß die Brust, wehrlos die Hand.
Die Vorfahren, Ahnen und Väter aus der Antike suggerieren, dass die Italiener in den römischen Familienverbund – quasi als deren Söhne – gehörten. Benedetto Croce bemerkte in seiner Theorie und Geschichte der Historiographie, dass: wenn irgendwer heutzutage in Italien daran erinnern wollte, daß die Geschichte Roms nicht die Geschichte Italiens ist, daß die heutigen Italiener nicht die Söhne des alten Roms sind, daß das römische Imperium kein Ideal der Macht und der Größe darstellen kann, weil es vielmehr den langsamen und aufgehaltenen Verfall einer Gesellschaft und eines staatlichen Organismus darstellt, – wenn jemand solche und ähnliche Wahrheiten der historischen Kritik aussprechen wollte, würde er sich sofort von einem Chor umringt sehen, der alles andere, nur keine fröhliche Musik hervorbrächte.103
Am Anfang des 19. Jahrhunderts war es jedoch noch nicht ausgemacht, was für ein Ursprungsmythos für die nationale Einigung herangezogen werden sollte. Grob lassen sich drei Varianten für einen Ursprungsmythos ausfindig machen:104 1. Mit der Aufklärung kam zum römischen der etruskische Ursprung hinzu. Man interessierte sich für die vorrömische autochthone Hochkultur der Etrusker, die nur lose in einem Städtebund organisiert waren. Italien sollte in freie Kommunen aufgeteilt bleiben und sich föderal organisieren. Auch das Mittelalter wurde zum Ausgangspunkt nationaler Identifikation gemacht, besonders durch das einflussreiche Werk von Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondis (Histoire des républiques italiennes au moyen-âge, 1808–1818).105
102 Leopardi (1999: 6 f.) Übers v. M. Engelhard. Herv. und Formatierung v. F.S. 103 Croce (19303: 291). Im Imperium sah Croce bereits die Dekadenz angelegt. Damit ist er – was diese Äußerung angeht – nahe bei Mommsen, s.u. 104 Die Skizze beruht auf Wolfzettel/Ihring (1991) und Dies. (1994) sowie Duggan (20092: Kap. 2 und 5). 105 Vgl. Lukenda (2017: 220 ff.).
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Befürworter dieser föderalen Idee war Carlo Cattaneo (La città considerata come principio ideale delle istorie italiane, 1858), der sich damit aber nicht durchsetzen konnte. 2. Die mittlere Position bildete Vincenzo Cuoco (Platone in Italia, 1806), der die Idee einer nationalen Einheit in der Vielfalt des ethnisch einheitlichen, etruskischen Städtebundes verwirklicht sah. Diese Einheit hätte sich auf ganz Italien erstreckt. Die Wahl dieses Mythos lässt sich aus einer politischen Parallele erklären, die damals im Raum stand: Wie die Römer die Etrusker unterworfen hätten, unterjochten nun die Franzosen mit Napoleon an der Spitze die Italiener, die Nachkommen der Etrusker. Auch in dieser Position lag für die Zeitgenossen eine gewisse Schwäche begründet, sodass sie ebenfalls keine großen Befürworter fand.106 3. Die letzte Variante ist als unitarische zu bezeichnen, d.h. der nationale Ursprung wurde auf die Römer projiziert. Sie teilte sich in eine neo-guelfische (d.i. die katholisch-religiöse), und neo-ghibellinische (d.i. die laizistische) Richtung auf: Erstere bezog sich auf die Rom-Theologie (Origenes, Augustinus), letztere auf die Rom-Ideologie (Vergil). Für die erste Position sei Vincenzo Gioberti als Vertreter, für die zweite Giuseppe Mazzini genannt. Rom war sowohl für die eine als auch für die andere der beiden stärksten ideologischen Strömungen des Risorgimento die Grundidee; trotz aller Divergenzen in der Interpretation der Vergangenheit und trotz der Gegensätze im Hinblick auf die Zukunft konnten sich Mazzinianer und Giobertianer an diesem Punkt zusammenfinden. Nach vielem Hin und Her gelangten beide Bewegungen schließlich dazu, die italienische öffentliche Meinung in diesem Sinne zu beherrschen.107
Nach der Gründung Italiens erlangten die Mazzinianer die politische Deu tungshoheit, die religiöse Spielart wurde zurückgedrängt. Im Rom-Mythos von Mazzini war genauso wie bei der katholischen Variante ein Universalismus angelegt, der in der Folge zu politischen Problemen führte. Theodor Mommsen entging dies nicht, sodass er den damaligen Finanzminister Quintino Sella 1871 darüber befragte: „Aber was wollt ihr in Rom? Das beunruhigt uns alle. In Rom kann man nicht ohne kosmopolitische Pläne sein. Was wollt ihr tun?“108 Der 106 Vgl. Wolfzettel/Ihring (1994: 464). 107 Chabod (1962: 85). 108 Sella (1887: 292) zit. nach Chabod (1962: 75). Lill (1980: 5) sieht darin das Grundproblem des gesamten italienischen Nation-Buildings begründet: „Die Spannung von Rom-Idee und politischer Ohnmacht, von Zersplitterung und Zugehörigkeit zu übernationalen Staaten hat einen Widerspruch zwischen Universalismus und Regionalismus begründet, der die ganze Geschichte Italiens durchzieht.“
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Schluss lag nahe, zuerst einmal die Schwächen des neugegründeten Staates zu beheben, die sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hatten. An diesem Punkt ist es sinnvoll, auf Mussolinis Antwort dieser drängenden Probleme zu schauen, denn wie in einem Brennglas bündeln sich bei ihm die vorgestellten Stränge. Die nationale Einheit hatte viele enttäuscht und sie wurde als unvollständig erachtet, gab es doch noch italienischsprachige Gebiete außerhalb der Landesgrenzen und die Katholiken durften, auf Geheiß des Papstes, nicht am Staat partizipieren. Ausdruck hierfür war die Questione romana, die sich erst im Jahr 1929 erledigen sollte. Das Italien Mussolinis: ein (noch) dekadentes Land Mussolinis Sicht auf die Dinge erhellt sich, wenn man seine Aussagen über die Dekadenz betrachtet. In einem Zeitungsartikel mit dem Titel Italia rurale schrieb er noch 1936: Über seine drei Kulturen hinweg war Italien im Wesentlichen bäuerlich. Tausende Jahre hat unser Volksstamm aus der Erde die Lebensenergien und Ressourcen seiner Unabhängigkeit geschöpft. Seitdem das konsularische und imperiale Rom seine Kolonien für Legionäre gründete, deckte sich die nationale Blüte [floridezza] immer mit der landwirtschaftlichen Entwicklung. Parallel dazu wurde die politische Dekadenz von der Dekadenz der Landwirtschaft begleitet, oder sie ging jener voraus. Das faschistische Regime, das die Wege der antiken Größe wieder aufnimmt, hat die Sittlichkeit [moralità] des bäuerlichen Lebens gestärkt, den Menschen vom Lande ihr Ansehen zurückgegeben und die Landwirtschaft zur Grundlage für den Aufstieg [ascesa] gemacht.109
Mussolini deutete die Geschichte in Zyklen. Seine geschichtlichen Kenntnisse sind dabei einzuschätzen als „very narrow and influenced by eighteenthcentury Enlightenment and nineteenth-century revolutionary thinking. […] Although his erudition in the matter was thus not really extensive, Roman history was always present in the background and was considered a direct and privileged heritage of Italy“110. Gerade solch eine zyklische Vorstellung 109 Mussolini OO (28: 87). Ähnlich schon 1928, vgl. Mussolini OO (23: 247). Im Gespräch mit Ludwig (1932: 57 f.) wird dieser Gedanke mit dem Jahreszeiten-Schema artikuliert. 110 Nelis (2007: 396). Nelis vermutet, dass Mussolini sein Wissen vor allem aus Theodor Mommsens Römischer Geschichte und Ferdinand Gregorovius Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter bezogen habe. Gleicht man allerdings die Meinungen zum Untergang Roms mit denen Mussolinis ab, so fällt auf, dass Mommsen das Imperium und die Cäsaren ablehnte, weil er das republikanische Rom bevorzugte. Gregorovius begrüßte den Fall Roms durch die barbarischen Germanen, die eine Verjüngung mit sich gebracht hätten, vgl. Demandt (1984: 404 f. und 473).
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von Geschichte setzt ein hohes Differenzierungsvermögen angesichts des Komplexitätsgrades voraus, um nicht schematisch und ahistorisch zu werden. Doch Mussolini interessierte sich für Geschichte vor allem unter dem Gesichtspunkt der Erziehung und des Ansporns. Ihm zufolge gebe es Aufstieg und Niedergang, dazwischen stehe die Blüte (floridezza) einer Hochkultur. Ferner wird die nationale Blüte an die Landwirtschaft gekoppelt, so als ob die Nation – und dieser Begriff ist in diesem Zusammenhang mit dem antiken Rom ein Anachronismus – eine Pflanze wäre, die ihre Wurzeln in echter Erde haben müsse. „Die Vorstellung, daß der kulturelle Niedergang mit einem Versiegen der natürlichen Lebensquellen einhergehe, ist vielleicht die älteste rationale Dekadenztheorie überhaupt.“111 Die Dekadenz sei dann eingetreten, als man die Erde verließ und die Bevölkerung in die Stadt gezogen sei und die Erde vernachlässigt habe. Das Verhältnis zwischen Mensch und Erde gestaltete sich als wechselseitig bedingt und im wahrsten Sinne des Wortes als vital. Aufgrund der Verstädterung wären die Sitten verkommen, doch die Regierung hätte nun die moralità wieder gestärkt, um somit den Zyklus wieder von vorne beginnen zu lassen (ascesa). „In den Zwanziger Jahren ist die demographische Argumentation um sozialökologische und kulturzyklische Gedanken bereichert worden.“112 Dieser Richtung hing Mussolini an. Eine ähnliche Position nahm er schon früher ein, z.B. in der programmatischen Regierungserklärung, dem Discorso dell’Ascensione von 1927. In dieser Rede war der Auslöser römischer Dekadenz scheinbar ein anderer: „Alle Nationen und Weltreiche haben die ätzende Wirkung der Dekadenz gespürt, als sie ihre Geburtenzahl schrumpfen sahen. […] Das römische Reich hielt sich nicht mehr, weil es sich von Söldnern verteidigen lassen musste.“113 Der Geburtenrückgang sei für den Fall Roms ausschlaggebend gewesen, denn in deren Folge hätten viel weniger Soldaten zur eigenen Verteidigung gegen die Germanen zur Verfügung gestanden. Man hätte stattdessen auf bezahlte und deswegen treulose Söldner zurückgreifen müssen. Das Argument war bereits bei Machiavelli, den Mussolini kannte, voll entfaltet. Hier kommt zusätzlich als verbindendes Mittelglied die Demographie hinzu. Wer auf dem Land lebe, schöpfe nicht nur von der Erde Energie, sondern sei – wie der Boden selbst – fruchtbar. Wer fruchtbar sei, der habe viele Kinder, die man zu Soldaten machen könne. Dem zugrunde liegt ein aus der Romantik stammender mythischer Volksbegriff – jedoch ohne etwaigen 111 Ebd. (347). 112 Ebd. (358). 113 Mussolini OO (22: 365).
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religiösen Gehalt – wie man ihn von Mazzini her kennt.114 All dies fasst man in der Forschung unter dem Oberbegriff des ruralismo. Im Gegensatz zur landläufigen Auffassung, der ruralismo sei lediglich ein Hilfsmittel gewesen,115 um die wirtschaftliche Krise in Italien zu bekämpfen, kann man aus den Zitaten ablesen, wie essenziell der ruralismo für Mussolini war. Damit verbunden war nämlich nicht nur die Urbarmachung von malariaverseuchtem Land (Kap. 4.3.1.1), sondern auch das anthropologische Projekt des ‚Neuen Menschen‘ (uomo nuovo).116 Dieser Zusammenhang von Dekadenz und Moral bzw. Habitus wird besonders im folgenden Zitat anschaulich: Darüber hinaus bedarf es Zeit, sehr viel Zeit, um unser Werk zu vollenden. Ich meine nicht das materielle, sondern das moralische. Wir müssen die Sedimente im Charakter und in der Mentalität der Italiener abkratzen und pulverisieren, die sich dort über jene schrecklichen Jahrhunderte der politischen, militärischen und moralischen Dekadenz, die von 1600 bis zum Aufstieg Napoleons gehen, abgesetzt haben. Es ist eine riesige Mühsal. Das Risorgimento war nur der Anfang, weil es das Werk einer zu unbedeutenden Minderheit war. Der Weltkrieg hingegen war zutiefst erzieherisch. Es geht nun darum, in diesem Werk der Widerherstellung des italienischen Charakters Tag für Tag voranzuschreiten. Der Gewöhnung in diesen drei Jahrhunderten ist beispielsweise die Legende geschuldet, dass Italiener nicht kämpfen würden. Es bedurfte des Opfers und des Heroismus der Italiener während der napoleonischen Kriege, um das Gegenteil zu beweisen. […] Aber die Finsternis der dekadenten Jahrhunderte wiegt noch schwer auf unserem Schicksal, denn gestern wie heute ist das Ansehen der Nationen fast gänzlich von den militärischen Ruhmestaten und ihrer Waffenstärke bestimmt.117
Abermals wird Geschichte in Zyklen gedacht, denn zwischen den Hochphasen, in diesem Fall nach der Renaissance, kommt eine Phase des Niedergangs, der alles erfasst: Politik, Militär, Moral. Ein neuer Zyklus habe mit dem Risorgimento begonnen, der aber seine Vollendung nicht in der Einheit fand (decadenza pesa ancora). Erst im Ersten Weltkrieg habe er sich fruchtbar weiterentwickelt. Der Weltkrieg wird nur als Mittel zum erzieherischen Zweck genannt, seine Folgen ausgeblendet. Wogegen Mussolini anredet, ist das Fremd- und Selbstbild nationaler und militärischer Schwäche: Die Italiener könnten nicht kämpfen und seien immer zerstritten und uneins. Gerade der letzte Aspekt tritt bei vielen Reden Mussolinis auf, er stellt die Einheit fest 114 115 116 117
Vgl. Wolfzettel/Ihring (1991: 405, 420). Vgl. Alares López (2011: 146 f.). Vgl. den Sammelband hrsg. v. Bernhard/Klinkhammer (2017). Mussolini OO (24: 283 f.), Herv. v. F.S. Dass das Risorgimento nicht für beendet erachtet wurde, zeigen Carlo Curcio (1940c: 88) und Carlo Antonio Avenati (1934).
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oder beschwört sie in unterschiedlicher Form: unità, armonia, concordia, identità, il popolo è Stato e lo Stato è popolo, blocco granitico, un cuore solo.118 Es steht außer Zweifel, dass damit die politische Einheit, die comunione degli spiriti – wie sie oft genannt wurde –, erst generiert und aufrechterhalten wurde. Calamandrei zählte dies zu den „luoghi comuni dell’oratoria fascista“119 und tat die Beschwörungen als Fiktion ab. Sie waren aber nicht nur Fiktion, sondern entsprangen dem Dekadenz-Narrativ und sollten durch ihre Äußerung das herstellen, was im Grunde genommen bereits vorausgesetzt wurde, nämlich absolute Integration und Zustimmung. Weiterhin wurde Geschichte von Mussolini konsequent als Kette großer Ereignisse und Heldentaten angesehen, die Italien noch erst leisten müsste. In den Ruhmestaten der ‚Vorväter‘ hätten die Italiener also anspornende Beispiele, wie sie in Zukunft handeln sollten. Wie im Modell der translatio imperii war nicht nur die Nachahmung, sondern die Überbietung des Vorbildes das eigentliche Ziel. Der kleine, aber bedeutende Unterschied liegt in der Verknüpfung folgender Sätze, denn es galt nicht: Ich ahme nach, damit ich so werde.120 Sondern: Ich ahme nach, weil ich so bin. Wurden von Mussolini historische Beispiele angebracht, dann nicht im Sinne der Nachahmung, sondern in der Funktion, die natürliche Verwandtschaft zu den Römern nachzuweisen und aus dem römischen Wesen die kommenden Taten abzuleiten. Für diese Lesart spricht auch das geologische Bild der Sedimente, das Mussolini nutzte. Der Faschismus müsse lediglich „die Sedimente im Charakter und in der Mentalität der Italiener abkratzen und pulverisieren“, das heroische Wesen der Italiener sei noch vorhanden und unverändert geblieben, es müsse nur freigelegt werden. Damit wird eine innere Kontinuität konstruiert, die nur äußerlich noch nicht sichtbar sei. Der Faschismus wollte das italienische Volk zu modernen Römern machen. In der Forschung wird der hier vorgestellte Mythos von Dekadenz und dem Wiederaufstieg Roms unter dem Stichwort der romanità verhandelt.121 Roger Griffin machte die Narrative von Dekadenz und Wiedergeburt zum Hauptdefiniens des Faschismus.122 Der Faschismus sah 118 Vgl. folgende Auswahl: Mussolini OO (24: 151 und 309), OO (25: 6 und 144 f.), OO (26: 48, 320 und 326) und OO (27: 159, 186 und 203). 119 Calamandrei (2014: 59). 120 Vgl. Reinhardt (2019: 167), der die Offenheit der Renaissance-Kultur betont, in der auch Fremde integriert und zu „Italienern“ werden konnten. Mit dem natürlichen Abstammungsmodell ist die Integration prinzipiell ausgeschlossen. 121 Romanità (Römertum) ist an sich keine neue Begriffsentwicklung, sondern wurde bereits im Faschismus und davor verwendet. Als Wesensbeschreibung so schon bei Carducci (1911: 22) zu finden. 122 Vgl. Griffin (2014: 17).
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sich selbst als Fortsetzung und Vollender des Risorgimento an. Die Mission des faschistischen Italiens sei – in dieser Logik – die Verwirklichung einer neuen Kultur, einer neuen Zivilisation nach innen wie nach außen. Verengung des Italien-Mythos auf die romanità Die Dekadenz und die Rom-Ideologie als Erwartungsfolie des Zukünftigen wurden nun zusammengedacht und bildeten den Rahmen für das politische Handeln der Faschisten. In diesem ‚Drama‘ spielten sie eine Mittel-Zweck-Rolle, denn die von ihnen angestoßene Revolution diente in deren Sicht ganz allein der Verwirklichung der nationalen Ziele Italiens. So würde die Revolution der Faschisten das Risorgimento Italiens durch eine ‚Rückkehr an den Anfang der Geschichte‘ beenden. Mussolini fasste dies in seinem Artikel Passato e avvenire von 1922 so zusammen: Das Rom, welches wir ehren, doch vor allem das Rom, das wir ersehnen und vorbereiten, ist ein anderes: es geht dabei nicht um berühmte Steine, sondern um lebendige Seelen. Das ist keine sehnsuchtsvolle Beschau des Vergangenen, sondern eine harte Vorbereitung der Zukunft. Rom ist unser Ausgangs- und Bezugspunkt. Es ist unser Symbol oder, wenn man will, unser Mythos. Wir träumen ein römisches Italien, das heißt ein weises und starkes, diszipliniertes und imperiales. Vieles, was den unsterblichen Geist Roms ausmachte, ersteht im Faschismus wieder: Römisch ist das Liktorenbündel, römisch ist unsere Organisation des Kampfes, römisch ist unser Stolz und Mut: ‚Civis romanus sum‘. Die Geschichte von morgen, jene, die wir beharrlich schaffen wollen, darf nicht zum Gegensatz oder zur Parodie der Geschichte von gestern werden.123
Der Rom-Mythos wurde zum Hauptmythos und verdrängte oder vereinnahmte andere Mythen, die im 19. Jahrhundert genauso attraktiv waren, wie z.B. die mittelalterlichen Stadtkommunen und deren Freiheitskampf gegen Kaiser Barbarossa. Man sieht in dem Zitat, dass der Rom-Mythos pragmatisch angewandt werden sollte (lebendige Seelen, Vorbereitung der Zukunft). Zugleich gingen mit dem Mythos hohe Erwartungen einher. Mussolini warnte mit der Anspielung auf Marx davor, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden.124 Aus rhetorischer Sicht muss man den Ursprungsmythos der romanità ambivalent bewerten. Zum einen war der Rom-Mythos, wie diese Hinführung gezeigt hat, schon seit Jahrhunderten im kulturellen Gedächtnis der (Bildungs-) 123 Mussolini OO (18: 160 f.), Kurs. i. Orig. 124 Vgl. Marx (1869: 1): „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“
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Eliten vorhanden und fasste im 19. Jahrhundert in weiten gesellschaftlichen Schichten Fuß. „Romanità als Instrument der Expansion nach außen und Kohäsion nach innen war bereits vor 1922 gängiges Mittel, geradezu Topos der Politik.“125 Das konnte für rhetorische Kommunikation vorteilhaft sein, war die Vorstellung bei einem großen, meist bildungsbürgerlich geprägten Publikum bereits etabliert und abrufbar. Das Konzept der romanità war in diesen Kreisen sehr anschlussfähig. Es war ein Topos, ein Allgemeinplatz, der jedoch die Schwierigkeit mit sich brachte, für manche schon allzu bekannt zu sein, was zur Folge hatte, dass die Gefahr des Abgleitens in Phrasen, die sinnlose Wiederholung der ewig gleichen Topoi bei der Romanità viel größer war als anderswo. Der Faschismus musste das Thema ‚Rom‘ nicht grundlegend neu erfinden; das war für das Regime von Vorteil. Er konnte es aber auch nicht mehr wirklich mit neuen Ideen bereichern; das war ein Nachteil und ließ die Romanità zum heiklen Diskursthema werden. Faschistische Geschichtspolitik war in ihrer römischen Ausprägung ein vortrefflicher ‚Regenschirm‘ […], unter dem sich eine Vielzahl intellektueller und politisch-kultureller Strömungen versammeln ließ. Das konnte allerdings auch zu einer Banalität führen, die den eigenen Zielen eher schadete als nützte.126
Neben der Gefahr der Verflachung stellte die romanità die Chance dar, integrativ zu wirken (Regenschirm) und so kam es darauf an, wie sie situativ umgesetzt und ausgestaltet wurde. Da der Faschismus auf eine totalitäre Einbindung der Bevölkerung abzielte und sich explizit an die breite Masse wandte, musste die romanità auch erst einmal in deren Alltag treten und an deren Lebenswelt angepasst werden. „[G]erade die Transposition der Romanità vom Elitenthema zum Massenmythos bildet den deutlichsten Bruch zu vormodernen Verhältnissen.“127 So kann die angesprochene Verflachung auch als Beschränkung und Konzentration auf einen einzigen Mythos gedeutet werden, der politische und kulturelle Orientierung schuf. Die Vorstellung der romanità wurde in den 30er Jahren, z.B. unter der Form des Schlagworts Imperium (s. Kap. 4.3.3.1), in verschiedenen Kanälen (Printmedien, Kino, Veranstaltungen, Feste, Ausstellungen und archäologische Ausgrabungen) breit gestreut. Der Kult um die romanità wurde nicht nur von 125 Vollmer (2007: 561), ebenso: Nelis (2011: 43) und Müller (2017: 91 f.). 126 Vollmer (2007: 568), Kurs. i. Orig. 127 Ebd. (574). Vgl. auch die Einschätzung Müllers (2017: 94): „Der Bezug auf die Romanità war auch deshalb so erfolgreich, weil mit der faschistischen Rhetorik operierende Konzepte zusammengebracht und deren inhärente Konflikte überdeckt wurden. So konnte der Mythos der Romanità je nach Auslegung beliebig gedehnt, verengt und neu interpretiert werden“, Kurs. i. Orig.
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oben eingefordert und diktiert, so z.B. in den Presseanweisungen von 1933,128 sondern auch von unten, d.h. von nationalistisch eingestellten Personen, wie z.B. von Intellektuellen, Universitätsprofessoren oder von Forschungseinrichtungen (Istituto di Studi Romani) bereitwillig aufgegriffen und popu larisiert. Gerade letzteres Verhalten war entweder aufrichtiger Ausdruck von Überzeugungen oder diente dazu, sich beim Regime einzuschmeicheln, um private Vorteile zu erlangen. Jan Nelis folgert daraus: „It is the extent to which Mussolini and the Fascists used the classical past as legitimization for their claims to power, its omnipresence rather than its specific features, which can be defined as central to Fascist romanità.“129 Offensichtlich hatte es das Regime geschafft, durch Beschränkung des Diskursraumes und Setzung einer ‚attraktiven‘ Agenda Intellektuelle und Institutionen für die eigene Sache arbeiten zu lassen, ohne sie explizit steuern zu müssen. In den folgenden Kapiteln wird die konkrete Anwendung des Rom-Mythos sowie die Vereinnahmung des Risorgimentos als Legitimationsquelle für den Faschismus dargestellt. 4.2.1
Die Römische Frage: der Rom-Mythos bleibt laizistisch „[D]i quella Roma onde Cristo è romano“. Dante, Purg. XXXII, v. 102.
Nach dem überaus wichtigen Plebiszit vom 24. März 1929, bei dem das faschistische Regime 90 Prozent Zustimmung erhalten hatte,130 eröffnete 128 Vgl. Cannistraro (1975: 443 f.). Romke Visser (1992: 6) spricht zwar davon, dass die romanità „a very efficient semiotic language intended to arouse popular enthusiasm for fascist imperialism“ gewesen sei, jedoch „[a]ll fascist initiatives, ranging from the ‚Battaglia del grano‘ and the introduction of the corporatist state to the Vatican treaties, were justified and applauds using ‚Roman‘ metaphors. This propagandistic use of the romanità was not very consistent and provided the regime with ‚universal‘ and historical justifications of whatever Mussolini and the ‚gerarchi‘ decided to pursue.“ Ebd. (11), Kurs. i. Orig. Zur freiwilligen Anbiederung der Intellektuellen, s. ebd. (16). Zur Rolle der Intellektuellen s. auch in dieser Arbeit Kap. 4.3.3.1. 129 Nelis (2007: 415), Kurs. i. Orig. und Ders. (2011: 36 f., 41). 130 Die Vossische Zeitung (25.03.1929): Das ‚Ja‘ für Mussolini. Der Fascismus läßt ‚wählen‘. Abendausgabe, Nr. 143, S. 1 spricht vom Plebiszit als einem „Sicherheitsventil“, das der „Beruhigung der Massen“ diene, ähnlich wie die Plebiszite im zweiten Kaiserreich unter Napoleon III. Der Berliner Börsen-Zeitung (25.03.1929): Mussolini Triumphator. Abendausgabe, Nr. 142, S. 1 ist zu entnehmen, dass „in einigen Gemeinden besondere Listen ausgelegt wurden, in denen sich die Nichtwahlberechtigten eintrugen, um auch ihre Anhänglichkeit an die Regierung zu bekennen.“ Kurs. i. Orig. gesperrt. An diesem interessanten Detail sieht man, dass die Funktion des Plebiszites nicht in der Auswahl,
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König Vittorio Emanuele III. die neue, nunmehr XXVIII. Legislaturperiode. Dem weder freien noch geheimen Plebiszit ging die erste Unterzeichnung der Lateran-Verträge am 11. Februar 1929 durch die beiden Unterhändler Mussolini und Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri voraus. Der König wiederholte in seiner Thronrede zur Sitzungseröffnung einen Ausspruch seines Großvaters und wandte ihn auf die neue politische Situation an: „Italien ist sich und Rom zurückgegeben“ und weiter: Die „Conciliazione [Aussöhnung] mit dem Heiligen Stuhl hat, indem sie nach 60 Jahren die Römische Frage gelöst und erledigt hat, jegliches Missbehagen der Gewissen geheilt und die Einheit des Vaterlandes nicht nur territorial, sondern auch geistig vollkommen realisiert.“131 Da die Einheit Italiens durch die Annexion des Kirchenstaates 1870 vollzogen wurde, kam es zu einer inneren Spaltung zwischen Monarchie und Papsttum, zwischen Liberalen und Katholiken. Allerdings darf man sich diese Spaltung nicht wie den Kulturkampf im Deutschen Reich vorstellen. Trotz der schrillen Töne auf Seiten des Papstes arrangierten sich die Italiener schnell mit dem neuen Status quo. „Man stößt nämlich auf einen deutlichen Bruch zwischen Verurteilungen einerseits und dem praktischen Verhalten andererseits, welches meist sehr viel moderater war als die Rhetorik.“132 Im Laufe der Jahre wurden die politisch-gesellschaftlichen Beschränkungen der Kirche gelockert oder ganz aufgehoben. Im Ersten Weltkrieg unterstützte die Kirche das italienische Heer und 1919 wurde der Partito Popolare gegründet, die erste katholische Volkspartei in Italien. Die Lateran-Verträge (Patti Lateranensi) schlossen also keine Spaltung von territorialem und geistigen Italien, wie sie der König dargestellt hatte. Letztendlich sanktionierten die Verträge die schon bestehende Annäherung zwischen Kirche und Staat. Unmittelbare Reaktionen auf das Konkordat und das Plebiszit von 1929 Für das kollektive Gedächtnis und den nationalen Mythos bedeuteten die Lateranverträge hingegen, dass der Rom-Mythos mit einer davor ausgeklammerten katholischen Note formal angereichert wurde, so z.B. die Bekräf tigung der Staatskirche (Vertrag, Art. 1) oder die Garantie, den besonderen
sondern allein im symbolischen Akt der Zustimmung lag, da offensichtlich die „Ersatzlisten“ dieselbe Aufgabe erfüllten. Zur „Wahlkampf“-Kampagne von 1929 und 1934 vgl. Fiamini (2004). 131 Discorsi della Corona (1938: 263 f.). 132 Traniello (2016: 109).
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Charakter der heiligen Stadt Rom zu bewahren (Konkordat, Art. 1).133 Dies hatte unmittelbare Folgen auf die zwei Reden, die Mussolini anlässlich der Diskussion über die Ratifizierung der Verträge am 13. und 25. Mai 1929 hielt. Den Reden ging eine heiß geführte, aber auf bestimmte Kreise beschränkte Debatte in der Öffentlichkeit voran: Nach Bekanntwerden der Vertragsunterzeichnung im Februar überschlug sich die katholische Presse mit Lob für beide Vertragsparteien. Einen großen Vorschuss zu dieser Haltung hatte Pius XI. selbst geleistet, der bei einer Ansprache (13. Februar 1929: Vogliamo anzitutto) an der Mailänder katholischen Universität bekundete: „Und vielleicht hatte es auch eines Mannes bedurft wie jenen, den Uns die Vorsehung treffen ließ“134. Die Verträge wurden von der italienischen Öffentlichkeit begrüßt und regelrecht gefeiert. Der Schweizer Botschafter Georges Wagnière war damals in Rom vor Ort und meinte: „le peuple de Rome est tout à la joie.“135 Die Berichterstattung über die Conciliazione wurde immer enthusiastischer, sodass Mussolini am 24. Februar 1929 die Präfekten dazu anhielt, die pathetischen Töne beider Seiten mäßigen zu lassen.136 Vor dem Plebiszit wurden die Katholiken explizit von kirchlichen Würdenträgern und durch die katholischen Presseorgane wie den L’Osservatore Romano dazu aufgerufen, mit Ja zu stimmen, um die Verträge nicht zu gefährden.137 Hohe Würdenträger und Kardinäle, die bis dato Distanz zum Faschismus gewahrt hatten, gingen wählen und riefen zur Wahl auf. Mussolinis Ziel war es, die Umsetzung der Verträge so weit wie möglich in seinem Sinne zu gestalten. Dazu wurde eine von ihm gewollte Pressekampagne initiiert, die den kritischen Stimmen gegenüber der Kirche und den ihr
133 Vgl. Lateran-Verträge (1929: 10, 40). Bestimmungen aus dem Konkordat wie die aus den Art. 34 (Eheschließung) und Art. 36 (Religionsunterricht) sicherten der Kirche darüber hinaus institutionell zu, gesellschaftliches Leben zu sanktionieren und zu gestalten, vorausgesetzt dies sei rein religiös motiviert (Art. 43, Katholische Aktion). All die genannten Punkte wurden von liberalen und faschistischen Politikern heftig in der Öffentlichkeit und in der Debatte über die Gesetzesanträge diskutiert. 134 Pius XI. (19852: 17 f.). 135 Wagnière (1944: 164). Vgl. auch Casella (2005: 21–27), der ein Stimmungsbild verschiedener Städte und Provinzen vermittels der Präfektur-Berichte nachzeichnet mit dem Ergebnis, dass die Bevölkerung dem Ereignis sehr positiv gegenüberstand. Die ausländische Presse nahm die Meldung ebenso positiv auf, auch wenn es vereinzelt Bedenken gab, die sich im Argument der Nationalisierung des Vatikans und der Kirche widerspiegelten, vgl. De Felice (19687: 423, Fußnote 1). 136 Vgl. Pertici (2009: 162). 137 Vgl. De Felice (19687: 427); auch Mazzolari (2000: 256, 267), der schildert, wie faschistische Funktionäre von ihm einforderten, im Gottesdienst Wahlaufrufe abhalten zu dürfen (favorino elettorale).
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zugesicherten Privilegien Raum geben sollte,138 um einerseits die vatikanische Position zu schwächen und andererseits den ‚Druck‘ auf Mussolini zu erhöhen, damit er sich dem Papst gegenüber hart zeigen konnte. Nachdem die Abgeordnetenkammer komplett faschistisch besetzt worden war, musste Mussolini der angeheizten Stimmung und seinem Publikum Rechnung tragen. Alcide De Gasperi, späterer Ministerpräsident Italiens, schrieb in einem Brief an Don Giulio Delugan: „Im Vatikan sind sie’s zufrieden, doch Mussolini kennt Menschen und Dinge besser und weiß, dass die Kammer, die abstimmen muss, nicht katholisch, sondern faschistisch ist. Er ist vor allem besorgt, zu beweisen, dass der faschistische Staat nicht geringer geworden ist, sondern – durch leichte Opfer – dazugewonnen hat“139. Mussolinis erste Stellungnahme in der Kammer über die Lateran-Verträge Die Diskussion in der Kammer über die Lateran-Verträge begann am 10. Mai 1929.140 Mussolinis Rede war für den 13. Mai angesetzt und dauerte drei Stunden. Dies ist wohl die längste Rede, die er je im Parlament gehalten hat. Im Folgenden seien der Aufbau und einige wichtige, der Konstruktion von Mythen gewidmete Stellen besprochen. Mussolini wollte mit seiner ersten Rede zwei Fragen beantworten: Wie ist der Vertrag zu verstehen? und Wie ist er zu bewerten? Seine Antworten liefen letztlich darauf hinaus, die Deutungshoheit über die Verträge zu erlangen. Die Kammerrede weist fünf Teile auf, nämlich: 1. die Einleitung, 2. eine historische narratio über das Verhältnis von Kirche und Staat, 3. die Schilderung ihrer Annäherung, 4. Inhalt des Vertrages (dieser Teil wurde als Widerlegung gestaltet), und 5. der Schluss.141 Die Rede enthielt mehrere Botschaften:
138 Vgl. zur Pressekampagne Pertici (2009: 156). Die Sorgen und Befürchtungen von faschistischer Seite lassen sich in der von Mario Missiroli (1929) zusammengestellten Monographie Date a Cesare nachlesen. Das Buch wurde am 25.01.1930 katholischerseits auf den Index gesetzt, gibt also nur ein tendenziöses Bild der gesamten Situation wieder. Zur Lage des Katholizismus in Italien in den 20er und 30er Jahren, vgl. Traniello (2016: 192–195). 139 De Gasperi (19702: 86) (= Brief vom 15. März 1929). Indirekt gab Mussolini diese Sicht in der folgenden Senatsrede auch zu, vgl. Mussolini OO (24: 99). 140 Eine Übersicht der einzelnen Redner und ihrer Positionen findet sich bei Pertici (2009: 181–199), darunter auch die Rede Mussolinis, ebd. (189–197). 141 De Felice teilt die Rede in drei Teile ein. Er berücksichtigt dabei nicht, dass die Rede einen Anfang und Schluss aufweist, die als interpretativer Rahmen fungieren, vgl. De Felice (19687: 429). Es ist geradezu merkwürdig, dass diese Rede so wenig besprochen wurde, Ausnahmen stellen der eben Genannte und Pertici (2009) dar.
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1. Die Lateran-Verträge seien ein großer Erfolg des faschistischen Regimes, das die Römische Frage gelöst habe, an der alle anderen Regierungen gescheitert seien. Der Faschismus habe somit das Werk der Väter vollendet. Mit dieser Kontinuitätslinie wollte sich der Faschismus Akzeptanz und Legitimation sichern. Im Gegensatz zu den anderen gesellschaftlichen und politischen Mächten wie die Monarchie oder Kirche, war das Regime noch jung und versuchte sich fest zu etablieren.142 Für die Mythenkonstruktion ist dieser Punkt wohl am bedeutungsvollsten. 2. Mussolini konnte klarstellen, dass die Verhandlungen hart, aber auch freundschaftlich geführt worden waren. Er betonte durchweg das Primat des Staates und ordnete die Kirche diesem unter. 3. Mussolini wies nach, dass der italienische Staat im abgeschlossenen Finanzabkommen dem Vatikan nicht zu viel zugestanden habe und beteuerte, es werde sich in Sachen paramilitärischer Erziehung nicht viel ändern. Wie wurden nun diese einzelnen Themen aufbereitet? Die Relazione alla Camera dei Deputati sugli Accordi del Laterano begann mit einem Dank an die vorbereitende Kommission. Es folgte ein Lob an die Abgeordneten und dann knüpfte Mussolini an seinen Vorredner Arrigo Solmi an, der einen Ausspruch Cavours leicht modifiziert hatte: „Freie und souveräne Kirche, freier und souveräner Staat“143. Mussolini präzisierte, Kirche und Staat seien zwar für sich genommen souverän, aber das Konzept der Souveränität erlaube lediglich, dass nur einer für ein und dasselbe Territorium souverän sei. Die Kirche müsse sich im italienischen Staat gesetzeskonform verhalten, denn der Staat sei alleiniger Souverän. Als Schlussregel für dieses Argument, Souveränität übe immer nur einer aus und zwei Souveräns könne es nicht geben, führte Mussolini ein Dante-Zitat an: ‚contradizion che nol consente“144 und meinte den Satz vom Widerspruch. In der Senatsrede kleidete er diesen Gedanken dann in ein biblisches Motiv (Mt. 22, 21) ein, wenn er sich auf eine „sehr klare Trennung zwischen dem, was man dem Kaiser und dem, was man Gott zu geben schuldig ist“145. Damit berief er sich latent auf eine Zwei-Reiche-Lehre
142 Vgl. Colarizi (1991: 32). 143 Mussolini OO (24: 43 f.), Kurs. i. Orig.: „Chiesa libera e sovrana; Stato libero e sovrano“. Der Ausspruch Cavours: „Libera chiesa in libero stato“ wurde in der Kammer am 27.03.1861 getätigt, s. Cotroneo/Quaglieni (2011: 163). 144 Mussolini OO (24: 44). Vgl. Dante Inf. XXVII, v. 120, auch bei Panzini (196310: 506) als geläufige Redewendung bezeugt. 145 Mussolini OO (24: 107): „separazione nettissima fra ciò che si deve dare a Cesare e ciò che si deve dare a Dio“. Missiroli lehnte den Titel seiner Monographie an diese Stelle an.
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und grenzte somit die zwei unterschiedlichen Einflusszonen voneinander ab. Dann brachte er das Verdienst des Faschismus und, wie sich zeigen wird, vor allem sein Verdienst an.146 Die Römische Frage: eine Rekonstruktion der metaphorisch-mythischen Sicht Mussolinis In der ganzen Rede wurde die Römische Frage als Krankheit konzipiert. Sie sei eine von „jenen statischen, chronischen Problemen, die keine Lösung haben – wie die Quadratur des Kreises“147. Nochmals wurde die schwere Lösbarkeit durch das altbekannte geometrische Paradox hervorgehoben. Man hätte auch „den Status quo beibehalten, in dieser Atonie, in diesem einer Revolution unwürdigen, Nerven aufreibenden chronischen Zustand fortfahren [können]“148. Nach dem Krieg sei man allerdings der Lösung nähergekommen, weil sich eine „Entspannung der Nerven“149 eingestellt habe, sodass man nun mit dem Traktat „die Römische Frage heilt; man spricht sogar buchstäblich von unwiderruflicher Lösung und Beseitigung. Sie ist erledigt, begraben, man spricht nicht mehr darüber und es entsteht die Città del Vaticano“150. Die lange Dauer des Problems wurde als chronischer Aspekt der ‚Krankheit‘ bezeichnet. Ihre Auswirkung wurde durch die atonia, die Schlaffheit von Muskeln, und im übertragenen Sinne durch die moralisch-politische Gleichgültigkeit ausgedrückt. Für das Konzept erwartbare Akteure wie Patienten oder Ärzte wurden nicht benannt, auch blieben die Ursachen für die Krankheit im Dunkeln. Das Akteursverhältnis der vertragschließenden Parteien wurde von Mussolini metaphorisch als Kampf interpretiert, ebenso aggressiv fasste er auch seine Rede auf: „hier und da werdet ihr die Klauen der Polemik auftauchen sehen“151. In seiner Geschichtsdeutung war das Verhältnis zwischen Kirche und Staat nie problemlos: „[D]er Kampf zwischen Kirche und Staat ist 146 Vgl. Ebd. (44). 147 Ebd.: „quei problemi statici, cronici, che non hanno soluzione, come la quadratura del circolo“. In der Senatsrede am 25.05.1929 wird er die Questione Romana als Stachel bezeichnen: „Ora abbiamo tolto questa spina“ (OO (24: 108)), so wird aus dem Dorn, der physischen Schmerz erzeugt, ein kollektiver Schmerz. Die Faschisten hätten dem ein Ende bereitet. 148 Ebd. (74). Kurs i. Orig.: „conservare lo status quo, continuare in questa atonia, in questa cronicità esasperante, indegna di una rivoluzione.“ 149 Ebd. (70): „distensione dei nervi“. 150 Ebd. (77): „si sana la Questione romana, anzi, come è detto testualmente, si risolve e si elimina irrevocabilmente; essa è finita, sepolta, non se ne parlerà più e si crea la Città del Vaticano.“ 151 Ebd. (45): „qua e là vedrete spuntare gli artigli della polemica“.
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Jahrtausende alt: entweder beherrscht der Kaiser den Papst oder der Papst beherrscht den Kaiser“152. An den Besprechungen mit der Gegenseite hatte Domenico Barone als Vertrauter Mussolinis teilgenommen, den er als treuen Faschisten schilderte, der „in der Bresche gestorben ist, so groß war sein Sorge, mit der er diese langen und mühsamen Verhandlungen verfolgte.“153 Der politische Katholizismus wiederum witterte in den Verträgen eine neue Chance, aktiv zu werden. Diesen Vorgang beschrieb Mussolini als Aufstellung militärischer Einheiten: „Man las Appelle folgender Art: Lasst uns die Reihen vermehren, schließen wir die Reihen, lasst uns die Linien schließen, etc. etc.“154 Das Ergebnis der ‚kriegerischen‘ Verhandlung war dann nicht das Leben, sondern der Tod der weltliche Herrschaft des Heiligen Stuhls: „Nun gut, meine Herren, wir haben die weltliche Macht der Päpste nicht wiedererweckt, wir haben sie begraben.“155 In seiner historischen Herleitung machte Mussolini allerdings klar, dass es weniger das Verdienst des Faschismus sei, diese Form der Herrschaft erledigt zu haben. Sie sei vielmehr an „Altersschwäche“ gestorben.156 Der Hauptteil bildete eine historische Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat. Drei Stellen sind hierfür zentral: Io ho continuato la strada che molti avevano percorsa fino ad un certo punto: essi non arrivarono in fondo, il fascismo v’è arrivato! Ma tutto, nella storia, si tiene, e se la natura non fa dei salti nel mondo fisico, non ne fa nemmeno nella storia degli uomini.157 Ich habe den Weg weiterverfolgt, den viele bis zu einem gewissen Punkt zurückgelegt hatten. Sie sind nicht bis ans Ende gelangt, der Faschismus 152 Ebd. (54). Herv. v. F.S.: „la lotta tra la Chiesa e lo Stato è millenaria: o è l’Imperatore che domina il Papa o è il Papa che domina l’Imperatore“. Man beachte auch den Chiasmus, der das wechselvolle Verhältnis symbolisiert. 153 Ebd. (71): „è morto sulla breccia, tanta era l’ansia, con cui seguiva queste lunghe faticose trattative.“ 154 Ebd. (89): „Si leggevano appelli di questo genere: moltiplichiamo le file, stringiamo i ranghi, serriamo le schiere, ecc., ecc.“ 155 Ebd. (74): „Ebbene, o signori, non abbiamo risuscitato il potere temporale dei Papi: lo abbiamo sepolto.“ Den Beginn dieses langen Sterbeprozesses setzte Mussolini zufolge mit dem Frieden von Tolentino 1799 ein: „l’inizio dell’agonia“, s. OO (24: 46). 156 Vgl. ebd. (48, 50). Die Französische Revolution wird als „colpo di campana funebre“ bezeichnet, ist also nicht Ursache, sondern zeigt den Tod der weltlichen Herrschaft nur an, sie „läutet ihn ein“. Der in Agonie begriffene Kirchenstaat sei nicht mehr überlebensfähig gewesen. Hierzu wählte Mussolini einmal eine metonymische Metapher aus der Tierwelt: „questo potere aveva già del piombo nell’ala“, denn was nicht mehr flugfähig sei, das stürze ab. Dabei ist nicht ganz klar, ob piombo (Blei) auch als Synekdoche (materia pro opere) begriffen werden kann und somit als Projektil aufzufassen sei; es wäre allerdings möglich. 157 Ebd. (45).
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Kapitel 4 aber ist dort angekommen! Doch alles erhält sich in der Geschichte und wenn die Natur in der physischen Welt keine Sprünge macht, dann macht sie auch keine in der Geschichte der Menschen. È una pagina di storia inedita che io vi leggo e che è molto interessante.158 Es ist eine Seite aus der unveröffentlichten Geschichte, die ich euch vorlese und die sehr interessant ist. A questo punto voi mi direte: ‚Ma perché questa lezione storica?‘. Perché voglio dimostrarvi i precedenti, perché voglio dimostrarvi che io sono conseguente, e che non solo noi non rinneghiamo il Risorgimento italiano, ma lo completiamo.159 An diesem Punkt werdet ihr mich fragen: ‚Wozu diese Geschichtsstunde?‘. Weil ich euch zeigen will, was davor geschah. Weil ich euch zeigen will, dass ich konsequent bin und wir nicht nur das italienische Risorgimento nicht verneinen, sondern es vervollkommnen.
Die Geschichte wurde als lineare und graduelle Entwicklung vorgestellt (strada), die parallel zur Natur verläuft und gleichsam als eine zweite Natur logisch fortschreitet. Das kann man aus dem zitierten Motto Natura non facit saltus entnehmen, das Leibniz als Gesetz der Kontinuität bezeichnete.160 Passend zu dieser Aussage führte Mussolini seine ‚Zeitgeschichte‘ mit der impliziten Seite-Buch-Metonymie aus. Die Metapher ‚Geschichte ist ein Buch‘, so erklärt Alexander Demandt, setze bereits eine geschlossene Einheit und die Sprachlichkeit von Geschichte selbst voraus. Geschichte sei unweigerlich an in Sprache gefasste Ereignisse gebunden, werde meist in Buchform kodifiziert und entsprechend chronologisch in Kapitelfolgen strukturiert. „Der Sinn der Buch-Metapher ist die Behauptung einer Sinnganzheit angesichts eines Haufens von (nur deswegen so genannten) Fragmenten.“161 Dadurch lässt sich Kohärenz erzeugen, denn so wie die Natur sich entwickelt, sei dies auch in der Geschichte der Fall: Ein Buch gibt die Leserichtung vor und entwickelt sich kontinuierlich und zusammenhängend. „Auf dem Umweg über die Natur und die organische Geschichts-Metaphorik gewann der Entwicklungsbegriff Bedeutung für die Geschichte“162 und brachte eine deterministische Vorstellung mit ein, derer Mussolini sich hier bediente. Seine ‚Geschichtsstunde‘ 158 Ebd. (67). Weitere Beispiele hierfür finden sich auch jenseits des untersuchten Zeitraumes in OO (19: 167, 234), OO (22: 362), OO (29: 52, 151, 220). 159 Mussolini OO (24: 57 f.). 160 Vgl. Panzini (196310: 444). 161 Demandt (1978: 390, vgl. ebenso 379). S. ferner das Lemma pagina im GDLI (1984, Vol. 12: 364). 162 Demandt (1978: 390).
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kommt allein zum Einsatz, um aus dem Früheren das notwendig Folgende zu demonstrieren: dass die Faschisten legitimer Vollstrecker des Risorgimentos seien. Mussolini begann zunächst die Ursprünge der Kirche und deren Entstehungsursachen zu betrachten. Damit wollte er aufzuzeigen, dass der Kirche erst weltliche Herrschaft zukam, als sie sich auf die Römer einließ. Die Spätantike, das Mittelalter und die Renaissance wurden von Mussolini gerafft dargestellt, vielleicht auch aus dem Grund, weil in diesen Epochen der Kirchenstaat seine größte Ausdehnung und Machtfülle besaß, die es für das Argumentationsziel hingegen nicht zu betonen galt. Die Hoffnung, aus der Conciliazione gehe eine Verschmelzung der beiden Rom-Mythen hervor, wurde hier zu Ungunsten des christlichen Roms beantwortet: Nicht die Vorsehung, sondern die in Rom und den Römern liegende Kraft habe zur Größe der Kirche geführt. Ohne Rom wäre die Kirche eine Sekte geblieben und ausgestorben.163 Gestützt wurde diese Ansicht durch zwei Bücher, die Mussolini anführte: Zum einen Quirino e Cristo von Paolo Orano, zum anderen Gli operai della vigna (Die Arbeiter im Weinberg) von Giovanni Papini. In letzterem Buch wird Cäsar als „a pagan prefiguration of the double descent of Christ“164 beschrieben und es wurden dessen Jesus-ähnlichen Züge (clementia caesaris) herausgearbeitet. Mussolini gab klar zu erkennen, dass diese Position nicht gerade rechtgläubig sei. „Diese modernistischen Echos […] waren nicht zufällig, sondern wollten subtil provozierend sein“165. Ferner tauchen später Bemerkungen auf, die Rom aus sich heraus zu einer heiligen Stadt machten. Zwar nahm Mussolini Bezug auf den Art. 1 des Konkordates, erklärte den heiligen Charakter aber dann wie folgt: Ma Roma è sacra, perché fu capitale dell’Impero e ci ha lasciato le norme del suo diritto e le sue reliquie venerabili e memorabili che ancora ci commuovono quando balzano ad ogni momento dalla terra appena frugata. Ma poi è sacra ancora perché è stata la culla del cattolicismo. […] Roma ha un carattere sacro, anche perché qui fu portato il Fante Ignoto, simbolo di tutti i sacrifizi di quattro anni della nostra guerra vittoriosa e ancora bisognerà ricordare che sul
163 Vgl. Mussolini OO (24: 45). Ähnliches hatte Mussolini bereits auf der großen Parteiversammlung am 10.03.1929 gesagt, vgl. Mussolini OO (24: 13). Die Kirche wurde von Mussolini nicht so sehr als depositum fidei, sondern eher als Bewahrerin der romanità angesehen. Zu Mussolinis religiösen Überzeugungen und Einstellung gegenüber dem Katholizismus s. Woller (2016: 116). 164 Papini (1930: 235). 165 Pertici (2009: 191).
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Kapitel 4 Campidoglio, sul colle sacro dell’umanità, c’è un’Ara che ricorda i caduti della nostra rivoluzione!166 Doch Rom ist heilig, weil es die Hauptstadt des Imperiums war und uns die Normen seines Rechts und seine verehrungs- und denkwürdigen Reliquien hinterlassen hat, die uns noch heute bewegen, wenn sie in jedem Moment aus der aufgewühlten Erde hervorspringen. Dann ist Rom heilig, weil es die Wiege des Katholizismus war. […] Rom hat einen heiligen Charakter, auch weil der Unbekannte Soldat hergebracht wurde, ein Symbol all der Opfer aus den vier Jahren unseres siegreichen Krieges. Man muss noch daran erinnern, dass auf dem Kapitol, dem heiligen Hügel der Menschheit, ein Altar steht, der an die Gefallenen unserer Revolution erinnert!
Die Reihenfolge der vorgebrachten Argumente für die Heiligkeit der Stadt Rom ist bezeichnend: Das Imperium wurde zuerst genannt und die faschistische Revolution zum Schluss. Es überwiegt keineswegs eine christliche Sicht auf die Heilige Stadt. Die Monumente und Überbleibsel Roms wurden selbst zu heiligen Gegenständen gemacht (reliquie venerabili) und mit dem Vaterlandsaltar im Zentrum Roms wurde der laizistische Gefallenenkult erwähnt. Das Kapitol, der „heilige […] Hügel der Menschheit“, ersetzte Golgota. Rom sei also selbst heilig und nicht auf die christliche Religion angewiesen. Ähnlich argumentierte Papini in seinem Buch, auf das Mussolini sich stützte.167 Daraufhin setzte Mussolini mit Napoleon seine Erzählung wieder ein, um ausgiebig das Verhältnis zwischen dem Korsen und Pius VII. zu beschreiben. Die Zeitung Le Temps erklärte sich die Hervorhebung Napoleons so: „Le fascisme a voulu y arriver [à la ‚Conciliation‘, F.S.], malgré tous les obstacles, malgré la difficulté de concilier certains principes essentiels, parce qu’il a voulu s’assurer, selon la pensée de Napoléon, l’aide du souverain pontife pour son œuvre de pacification intérieure et d’expansion extérieure.“168 Nachdem die Hochphase des Risorgimento abgehandelt war, betrat Camillo Benso von Cavour die Bühne, dessen Forderung „libera Chiesa in libero Stato“ schon am Anfang der Rede präzisiert und nun von Mussolini mithilfe eines Chiasmus weiter ausgedeutet wurde: „Man kann keine klare Trennung zwischen diesen zwei Institutionen konzipieren, weil der Bürger Katholik und der Katholik Bürger ist. Deswegen muss man die Grenzen zwischen dem, was gemeinsamer 166 Mussolini OO (24: 82). Der ‚Altar‘ wurde am 28.10.1926 – also am 4. Jahrestag der Marcia su Roma – errichtet, vgl. Nützenadel (2000a: 143). 167 Vgl. Papini (1930: 226). 168 Le Temps (15.05.1929): Bulletin du jour. L’Italie et le Saint-Siège. N° 24740, p. 1. Der Kommentar nimmt dabei Bezug auf eine von Mussolini zitierte Passage Napoleons, vgl. OO (24: 49).
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Gegenstand ist, festlegen.“169 Zu diesem Zweck sei das Konkordat in die Verhandlungen mitaufgenommen worden, eine Lösung, die Cavour ebenfalls bevorzugt hätte. Roberto Pertici weist darauf hin, dass diese Aussage so nicht stimmt und Cavour mitnichten für die Konkordatslösung plädiert hatte.170 Geschickt bezog sich Mussolini auf Cavour, um Kontinuität zu suggerieren. Dasselbe wird er am Schluss der Rede machen, wo er davon sprechen wird, dass der Wunsch Cavours nun endlich durch ihn erfüllt worden sei. Dramatisch wird Cavour, auf dem Sterbebett liegend, in direkter Rede zitiert: ‚Portatemi il ramoscello d’olivo prima della Pasqua‘, egli sentiva che questa era la suprema esigenza della coscienza e del divenire della rivoluzione nazionale. Oggi, onorevoli camerati, noi possiamo portare questo ramoscello d’olivo sulla tomba del grande costruttore dell’unità italiana, perché soltanto oggi la sua speranza è realizzata, il suo voto è compiuto!171 ‚Bringt mir den Ölzweig, bevor es Ostern ist.‘ Er spürte, dass dies die höchste Erfordernis des Gewissens und der Zukunft für die nationale Revolution war. Heute, ehrenwerte Kameraden, können wir diesen Ölzweig zum Grab des großen Architekten der italienischen Einheit bringen, weil allein heute seine Hoffnung wahr geworden und sein Gelübde erfüllt worden ist!
Die Faschisten hätten also den Auftrag Cavours angenommen und ihn durch die Conciliazione, dafür stand der Ölzweig symbolisch, erfüllt. Napoleon und noch deutlicher Cavour wurden von Mussolini als Typus genutzt, um sich selbst als Antitypus präsentieren zu können. Es liegt demnach eine Präfiguration vor, ähnlich wie bei dem von Mussolini angeführten Beispiel von Cäsar und Christus. Dieses selbstmythisierende Verfahren, sich als Erfüller eines angelegten Wunsches zu präsentieren, verlieh Mussolini Prestige und zeigte seine Kompetenz und vermeintlich ehrenwerten Absichten auf. Hans Blumenberg schrieb über die Gelingensbedingungen und Wirkungsweise der Präfiguration: „Das Phänomen der Präfiguration setzt voraus, daß die mythische Denkform als Disposition zu bestimmten Funktionsweisen noch oder wieder virulent ist.“ Und weiter: „Präfiguration ist also die Figur einer 169 Mussolini OO (24: 54): „Non si può pensare una separazione nettissima tra questi due enti, perché il cittadino è cattolico e il cattolico è cittadino. Bisogna dunque determinare i confini tra quelle che sono le materie miste.“ Weitere Male, bei denen Mussolini auf den Chiasmus zurückgreift, um eine unlösbare Beziehung zu bezeichnen (oder sie als nicht gegeben zurückzuweisen) finden sich in OO (24: 99, 309), OO (26: 186) und OO (28: 59). 170 Vgl. Pertici (2009: 21, Fußnote 19). 171 Mussolini OO (24: 90), Kurs. i. Orig. Pertici (2009: 192) spricht davon, dass Cavour der „vero eroe del discorso mussoliniano“ sei. Cavour wurde von Mussolini zu einem quasi Gott gemacht, vgl. OO (24: 53).
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sprachindifferenten Rhetorik. Sie beruhigt über Motivation, schirmt gegen Unterstellungen ab, indem sie als gar nicht mehr dispositionsfähig hinstellt, was zu entscheiden war.“172 Am Kommentar der Le Temps konnte man sehen, dass die im Text angelegte präfigurative Deutung auch so wahrgenommen wurde. Die Entwicklung der Geschichte wurde auf diese Weise von Mussolini vorentschieden, d.h. als natürlicher Verlauf der ganzen Angelegenheit dargestellt. Zu ergänzen ist noch, dass der Antitypus nicht nur ein Nachahmer des Typus ist, sondern – ganz im bibelexegetischen Sinne – die Vervollkommnung und Überbietung des Ausgangsrelatum repräsentiert. Wie Hasler in seiner Untersuchung gezeigt hat, wurden diese Deutungen bereitwillig aufgegriffen: Nach Napoleon werden zuweilen die Führer des Risorgimento in Mussolinis Nähe gerückt. Der Duce erscheint als neuer Cavour, der das Vaterland zum zweitenmal eint […]. Eine Stimme aus dem Volk preist ihn dreimal als ‚Hirn Cavours‘ […]. Neben der gedrungenen Gestalt […] gibt es weitere Gemeinsamkeiten in der großen Staatskunst […], im geschickten politischen Spiel […]. Dennoch übertrifft Mussolini in seiner Universalität Cavour bei weitem […].173
Durch die Präfiguration knüpfte Mussolini an die Gründungsväter der Einheit an. Einerseits einte er Italien zum „zweitenmal“, indem er den Katholiken Anerkennung als vollwertige Bürger verlieh. Andererseits konnte er im selben Zuge das Erbe des Risorgimento für sich beanspruchen. Nachdem der Verlauf der Römischen Frage bis in die Gegenwart umrissen worden war, lobte Mussolini vor allem sich selbst als verantwortungsvollen Staatsmann, der freimütig und objektiv die Verhandlungen durch interne Papiere offenlegte: Ecco che, in questo scorcio del 1926, io mi sono trovato di fronte a una di quelle responsabilità che fanno tremare le vene e i polsi di un uomo. Responsabilità tremenda che non solo risolveva una situazione del passato, ma anche impegnava il futuro! E non potevo chiedere consiglio a chicchessia; solo la mia coscienza mi doveva segnare la strada attraverso penose, lunghe meditazioni.174 So kam es, dass ich am Ende des Jahres 1926 vor einer dieser Verantwortungen stand, die Adern und Puls eines Mannes beben lassen. Eine furchterregende Verantwortung, die nicht nur eine Situation der Vergangenheit löste, sondern auch die Zukunft in Anspruch nahm! Ich konnte niemanden um Rat fragen. Allein 172 Blumenberg (2014: 9 und 14), vgl. auch Suntrup (2009). Auch Hitler und Goebbels haben Präfigurationen genutzt und seien diesen schließlich erlegen, indem sie so handelten wie es der angelegte Typus von ihnen als Antitypen verlangt habe, vgl. Blumenberg (2014: 31–49). 173 Hasler (1980: 491). 174 Mussolini OO (24: 74).
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mein Gewissen musste mir über mühsame und lange Betrachtungen den Weg weisen.
Die große Belastung Mussolinis wurde durch die Synekdoche der bebenden Adern hervorgehoben (fanno tremare le vene e i polsi), die den ganzen Körper durchziehen und erbeben ließen. Diese Redewendung stammte aus Dantes Inferno (I, v. 90), der sich im Moment großer Angst an seinen Meister Vergil wendet, um Hilfe zu erlangen. Im Gegensatz dazu musste Mussolini, so wollte er zu erkennen geben, diese Aufgabe ganz allein meistern (konnte niemanden um Rat fragen). Auch die Gegenseite, Papst Pius XI., erhielt von Mussolini ein Lob zugesprochen, allerdings nur aus dem Grund, weil jener vor allem ein Italiener sei, mit dem man solche Dinge gut besprechen und behandeln könne: Als ein wahrhaft italienischer Pontifex „besitzt er den gediegenen, praktischen Sinn und den Mut zur Initiative der Lombarden“175. Es zeigt sich, die Lösung der Römischen Frage sei nur möglich geworden, weil die Italiener zusammengearbeitet und zugunsten des Gemeinsamen die Partikularismen hintangestellt hätten. Auf diese Weise wurde noch die Gegenseite von Mussolini vereinnahmt. Im zweiten Teil der Rede, in dem das Finanzabkommen und das Konkordat behandelt wurden, wies Mussolini nochmals auf die souveräne Stellung des Staates hin, der sich autonom seine Ziele setze und sich damit vom liberalen Staat unterscheide: Lo Stato fascista rivendica in pieno il suo carattere di eticità: è cattolico, ma è fascista, anzi soprattutto esclusivamente, essenzialmente fascista. Il cattolicismo lo integra, e noi lo dichiariamo apertamente, ma nessuno pensi, sotto la specie filosofica o metafisica, di cambiarci le carte in tavola. Ognuno pensi che non ha di fronte a sé lo Stato agnostico demoliberale, una specie di materasso sul quale tutti passavano a vicenda; ma ha dinanzi a sé uno Stato che è conscio della sua missione e che rappresenta un popolo che cammina, uno Stato che trasforma questo popolo continuamente, anche nel suo aspetto fisico.176 Der faschistische Staat behauptet voll und ganz seinen ethischen Charakter: Er ist zwar katholisch, aber auch faschistisch, ja vor allem und ausschließlich wesentlich faschistisch. Der Katholizismus ergänzt ihn und wir erklären es offen, aber niemand komme auf die Idee, uns unter philosophischem oder metaphysischem Deckmantel die Karten im Spiel zu verändern. Ein jeder möge 175 Ebd. (75): „ha, della gente lombarda, la soda praticità e il coraggio delle iniziative“. Wagnière (1944: 166) kommentierte: „Ces parole furent soulignées par un tonnerre d’applaudissements.“ 176 Mussolini OO (24: 89 f.).
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Kapitel 4 daran denken, dass er nicht den agnostischen, liberal-demokratischen Staat vor sich hat, eine Art Matratze, über die alle abwechselnd hinüber gingen. Vielmehr hat er einen Staat vor sich, der sich seiner Mission bewusst ist und der ein marschierendes Volk repräsentiert, einen Staat, der dieses Volk unablässig verändert, auch was den Körper angeht.
Die Redewendung cambiare le carte in tavola bedeutet, die ausgegebenen Spielkarten heimlich – unter der Hand – aus- und umzutauschen, also den Mitspieler zu betrügen.177 Gegen ebendieses Verhalten, nämlich seine letztgültige Interpretation der Verträge umzudeuten, verwahrte sich Mussolini hier aufs Schärfste. Mit geradezu hyperbolischem Nachdruck definierte er den Staat als faschistisch (soprattutto esclusivamente, essenzialmente) und grenzte ihn sowohl vom Katholizismus als auch vom liberalen Regime ab. Dazu wertete er Letzteres ab, indem er es als Matratze bezeichnete und dessen präsumtive Promiskuität und Sittenlosigkeit mittels der Metonymie (Ort für Handlung) andeutungsweise vor Augen führte. Ferner plädierte er für die Autonomie des Staates (eticità), der sich selbst genüge, und gab zu erkennen, welchen Wert die Lateran-Verträge für ihn und die Faschisten hätten. Der Staat habe eine eigene Aufgabe und Mission zu erfüllen, die sich auch in der Erziehung und Leibesertüchtigung niederschlage. Genau dies war einer der weiteren Streitpunkte: Wem würde die Erziehung der Kinder und Jugendlichen in Zukunft zustehen? Wie in einem Brennglas bündelte sich in dieser Frage das Selbstverständnis des Faschismus, nämlich eine idealistische Bewegung zu sein: Nostro deve essere l’insegnamento. Questi fanciulli debbono essere educati nella nostra fede religiosa, ma noi abbiamo bisogno di integrare questa educazione, abbiamo bisogno di dare a questi giovani, il senso della virilità, della potenza, della conquista; soprattutto abbiamo bisogno di ispirare loro la nostra fede; e accenderli delle nostre speranze.178 Unser muss der Unterricht sein. Diese Kinder müssen in unserem religiösen Glauben erzogen werden; doch wir müssen diese Erziehung ergänzen; wir müssen diesen Jugendlichen unseren Sinn für Männlichkeit, für Stärke, für Eroberung geben. Vor allem müssen wir ihnen unseren Glauben einflößen und sie mit unseren Hoffnungen entzünden.
177 Vgl. GDLI (1995, Vol. 2: 811), auch schon bei Tommaseo/Bellini (1865, Vol. 1, 2: 1261) unter dem Lemma carta: „T. Mutare altrui le carte in mano. Scambiar le parole dette, o il loro significato e l’effetto, Voler fargli credere o fare altro da quel ch’egli intendeva che tu volessi.“ Kurs. i. Orig. 178 Mussolini OO (24: 75 f.).
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In einer kirchenpolitischen Rede von der eigenen politischen Ansicht als nostra fede religiosa zu sprechen, wurde nicht nur als weitere Provokation seitens des Vatikans gewertet, sondern erfüllte die Funktion, deutlich zu machen, dass man dieselbe Hartnäckigkeit einnehme, wie die Gegenposition. An dieser Stelle sei kurz auf die Debatte über den Faschismus als ‚politische Religion‘ eingegangen. Ausgehend von den damaligen Beobachtungen der Zeitgenossen und den Befunden über die zahlreichen religiösen Ausdrücke bei Mussolini, vertritt vor allem Emilio Gentile die These, der Faschismus sei eine ‚politische Religion‘ gewesen.179 Dass die Übernahme der damaligen Deutung nicht unproblematisch ist und man damit einen impliziten, meist abwertenden Begriff von Religion übernimmt, darauf hat Martin Baumeister hingewiesen. Er schreibt: Das Konzept der ‚politischen Religion‘ hat eine weitaus längere, bis auf Rousseau und die Französische Revolution zurückreichende Geschichte als die mit ihm verknüpften Begriffe Faschismus und Totalitarismus. […] Die ‚politischen Religionen‘ von Faschismus und Nationalsozialismus wurzeln tief in der Sakralisierung des Politischen in den ‚Vaterlandsreligionen‘ der Nationalismen des 19. Jahrhunderts […] und nehmen damit unterschiedliche nationale Traditionsstränge auf.180
Um also die Verwendung religiöser Begriffe oder Metaphern nicht allzu generisch werden zu lassen, sollte immer der Kontext berücksichtigt werden, der in diesem Fall bereits seit langem religiös eingefärbt war und ferner durch den staatskirchenrechtlichen Redegegenstand und die vorangegangene Debatte Schnittstellen zur katholischen Religion aufwies. Mussolini imitierte an dieser Stelle das Verhalten der Gegenseite. Pius XI. zeigte sich verärgert über die Aussagen Mussolinis und beharrte auf der kirchlichen Mission und auf die zugesicherten Rechte der Jugenderziehung, denn faschistische Erziehung führe unweigerlich zum Krieg. Zur Bekräftigung seines Anliegens wählte der Papst in einer Ansprache im Collegio Mondragone einen Tag nach Mussolinis Rede das Wort „intransigenti“181 (unnachgiebig). Mussolini wird 179 Vgl. Gentile (20096: 269–281), ferner Leso (1994: 744) und Cortelazzo (1977: 188). 180 Baumeister (2014: 68), dort auch seine Kritik am Konzept der ‚politischen Religion‘ (67– 70). Weitere Kritik findet sich auch bei Spackman (1997: 126 ff.). Und Baumeister (2014: 71) erneuerte ihre Forderung, die religiöse Sprache innerhalb des Faschismus eingehender zu untersuchen: „Bis heute sind die zeitgenössischen Religionssemantiken in der Auseinandersetzung mit den Faschismen im transnationalen wie lagerübergreifenden Vergleich und in ihren wechselseitigen Beziehungen und Überlagerungen, in ihren Deutungstraditionen und Werthorizonten nicht hinreichend analysiert.“ 181 Pius XI. (19852: 79).
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diese Wortwahl im Senat wiederaufnehmen und ebenfalls von faschistischer Unnachgiebigkeit sprechen.182 Es ging in der Rede also mehr um eine Haltung, die sich aus dem Gegenüber als Reaktion ergab. Gerade hier wird ersichtlich, dass der Faschismus die antikatholische, laizistische Linie der liberalen Vorgänger weiterverfolgte – obwohl in der Rede von ‚Glauben‘ gesprochen wurde. Aus einem nicht zu abstrakt gefassten und historisch gesättigten Kontext ergibt sich somit allein der Sinn und Stellenwert von religiös konnotierten Begriffen. Abgeschlossen wurde die Rede mit einer Drohung gegen all diejenigen, die nunmehr glaubten bei der Umsetzung des Konkordats im katholisch günstigen Sinn mitwirken zu können. Um die allpräsente Wächterfunktion des Staates zu verdeutlichen, sprach Mussolini von sich in der dritten Person – ein Sonderfall der Antonomasie –, was die nötige Distanz ausdrückte, die zur Überwachung des Geschehens im Land benötigt wurde. Darüber hinaus erzeugte er damit einen drohenden Unterton: „Niemand glaube, dass Mussolini das letzte Käseblatt, das aus der kleinsten Pfarrei kommt, nicht kenne.“183 In- und ausländisches Presseecho und Mussolinis zweite Rede im Senat Die italienische Öffentlichkeit nahm die Rede positiv auf, im Gegensatz zum Vatikan. Die Vossische Zeitung titelte am 14. Mai: „Der Vatikan ist ungehalten“ und führte weiter aus: „Diese Stellungnahme hat hier das allergrößte Aufsehen erregt.“184 In La Stampa findet sich im Kommentar Avvenimento storico, der voll des Lobes für Mussolini ist, die Aussage, ihm sei es gelungen, „das faschistische Bekenntnis erneut zu behaupten“185. Dabei war die Strategie, die Mussolini anwandte, nicht ohne Risiko, denn der Gesetzesentwurf musste noch durch den Senat, in dem er mit Widerspruch rechnen musste. Außerdem durfte die Kirche sich nicht hintergangen fühlen, stand die endgültige Ratifizierung der Verträge noch aus. Der triumphale Ton setzte sich auch in der Berichterstattung zur zweiten Rede im Senat fort: Sowohl La Stampa (La grandiosità dell’evento) als auch die im deutschsprachigen Südtirol erscheinende Alpenzeitung 182 Vgl. Mussolini OO (24: 101) und die Reaktionen bei Pertici (2009: 216). 183 Mussolini OO (24: 89): „Nessuno creda che l’ultimo fogliucolo che esca dall’ultima parrocchia non sia conosciuto da Mussolini.“ Mario Casella hat eine Liste der katholischen Zeitungen und Zeitschriften aus den Archiven des Heiligen Stuhls zusammengestellt, die im Zeitraum vom 11.02.–31.12.1929 vom italienischen Staat beschlagnahmt wurden. Insgesamt wurden Auflagen von 69 Zeitungen in ganz Italien als regimekritisch eingestuft und eingezogen, vgl. Casella (2005: 139 ff.). 184 Vossische Zeitung (14.05.1929): Zwei Staaten in einer Stadt. Kammer-Rede Mussolinis über die Lateran-Verträge / Zwischen Rom und Rom sind Tausende von Kilometern. Morgenausgabe, Nr. 223, S. 1. 185 La Stampa (14.05.1929): Avvenimento storico. Mattino, N° 115, p. 3.
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(Die Größe der Versöhnung) erweckten einen harmonischen Eindruck für die Öffentlichkeit.186 Die kürzere Rede im Senat war nur eine Präzisierung der ersten, d.h. in den Hauptpunkten wiederholte Mussolini seine schon gemachten Aussagen. Dem Advokaten Francesco Pacelli, Vertrauensperson des Papstes, hatte er allerdings zusichert, er werde die Dinge richtigstellen und sich im Ton mäßigen.187 Mithin war seine Sicht auf die Dinge kohärent und ergab sich aus dem Mythos der nationalen Dekadenz: Necessaria è questa educazione virile e guerriera in Italia, perché durante lunghi secoli le virtù militari del popolo italiano non hanno potuto rifulgere. È solo la guerra che va dal 1915 al 1918 che costituisce, dopo le guerre dell’Impero romano, la prima guerra combattuta e vinta dal popolo italiano.188 Notwendig ist diese männliche und kriegerische Erziehung in Italien, weil die militärischen Tugenden des italienischen Volkes über lange Jahrhunderte hinweg nicht glänzen konnten. Erst der Krieg von 1915 bis 1918 war – nach den Kriegen des Imperium Romanum – der erste, der vom italienischen Volk ausgefochten und gewonnen wurde.
Mit dem Weltkrieg habe der Wiederaufstieg Italiens begonnen, der sich allein in militärischen Tugenden zeige. Der Faschismus verstand sich als ideelle Fortsetzung des Weltkrieges. Deswegen war die paramilitärische Erziehung so wichtig, denn sie wurde als Grundlage für das neue Imperium erachtet. An dieser Rede werden ferner zwei Dinge sehr deutlich: zum einen die Ironie, mit der Mussolini versuchte, Kritik zu entkräften. Zum anderen entgegnete er der Kritik mit argumentativen Mitteln. Zu nennen wären die historischen Beispiele und Autoritäten, die Unterscheidung der Begriffe (distinctio) oder der Topos aus der Erfahrung.189 Oft unterstützten sich die Metaphern und Argumente gegenseitig. Des Weiteren waren die Redeteile sehr lose untereinander 186 Vgl. La Stampa (26.05.1929): Il discorso di Mussolini al Senato. Mattino, N° 126, p. 1. Hier wird auch mit einem großen Zwischentitel im Fließtext I diritti dello Stato visuell kenntlich gemacht, wie die Verträge zu verstehen seien. Und: Alpenzeitung (26.05.1929): Abschluß der Diskussion über die Lateran-Verträge. Nr. 127, S. 2. 187 Vgl. Pacelli (1959: 142). Bei der Unterredung bekommt Pacelli durch den Pressechef, Lando Feretti, Mussolinis korrigierte Rede vorgelegt, die Pacelli und den Papst beschwichtigen sollte. Die später gedruckte Edition der Reden (Juni 1929) bei der Libreria del Littorio enthält diese Korrektur nicht mehr und bleibt auf dem Stand, wie die Rede in der Kammer gehalten wurde, vgl. ebd. (143). 188 Mussolini OO (24: 101). 189 Vgl. Mussolini OO (24: 99 f., 101, 106). Vgl. auch Fedels Analyse der Argumentation Mussolinis (2003: 17–48) oder Spackmann (1998: 138). Sie zieht aus ihrer Analyse den Schluss: „This is not an appeal to irrational emotions but rather to reason and common sense“.
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verbunden und richteten sich nach dem Verlauf der zuvor geführten Debatte im Senat aus. Die Selbstaussagen und Einschätzungen Mussolinis waren in der Senatsrede viel präsenter, d.h. in der ersten Rede wurden viele Zitate nur eingeflochten und kaum kommentiert, sie sollten quasi für sich selbst sprechen. Nun aber nahm Mussolini in der zweiten Rede zu den vorgebrachten Vorwürfen direkt Stellung.190 Gegen die Kritik des Papstes wandte er die Niedertracht der anderen Staaten ein. Die faschistische Erziehung sei somit nur ein Teil der Selbstverteidigung. Um dieses Argument zu verdeutlichen, benutzte er folgende Tier-Metapher: Se il mondo contemporaneo non fosse quel mondo di lupi feroci che conosciamo, tali anche se per avventura portano il cilindro e la necroforica redingote, noi potremmo allora rinunciare a questa nostra educazione, alla quale daremo finalmente un nome, poiché le ipocrisie ci ripugnano: l’educazione guerriera.191 Wenn die heutige Welt nicht eine Welt aus wilden Wölfen wäre, die wir erkennen auch wenn sie zufällig Zylinder und Redingote wie Totenträger tragen, dann könnten wir auf diese unsere Erziehung verzichten, der wir endlich einen Namen geben werden, weil uns Heuchelei zuwider ist: die Erziehung zum Krieg.
Eine Welt aus Wölfen rufe wiederum weitere Wölfe hervor. Gegen die Aggres sion innerhalb der internationalen Staatenwelt müsse man sich adäquat wehren können. Hier mag sowohl Hobbes’ homo homini lupus als auch biblisches Motivgut mitschwingen. Der Wolf bleibe ein Wolf, auch wenn er äußerlich im Schafspelz oder – wie hier – zivilisiert in Gehrock und Hut auftrete. Das Motiv ist zum einen eng mit der Warnung vor falschen Propheten und deren Unaufrichtigkeit, zum andern mit der angeblichen Wahrhaftigkeit Mussolinis verbunden und stellte ein ethisches Element dar, das Mussolini für seine positive Inszenierung nutzte. Indirekt warf er dem Papst Weltfremdheit vor: „In der Zwischenzeit steigen wir von den Gefilden der Akademie herab und betrachten wir die Lebensrealität“192. All diese Diskussionen hätten kein Fundament in der Realität, sie spielten sich in abgegrenzten, entfernten Bereichen (accademia) ab.
190 Als Indiz dafür kann man die explizite Nennung des Pronomens Ich heranziehen. Dazu sollte man wissen, dass die ausdrückliche Äußerung der Pronomen im Italienischen nicht notwendig ist, wird sie doch durch die konjugierte Verbendung angezeigt. Im Senat benutzte Mussolini Ich beinahe doppelt so häufig als in der Abgeordnetenkammer, bezogen auf das Gesamtverhältnis der beiden Redetexte. 191 Mussolini OO (24: 101), Kurs. i. Orig. 192 Ebd.: „Intanto scendiamo dalle zone dell’accademia e vediamo la realtà della vita.“
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Einer der zentralen Punkte in der Rede stellte die Polemik gegen Benedetto Croce dar, der in der Senatsdebatte davon sprach, dass das Gleichgewicht zwischen Staat und Kirche zerstört worden sei. Die Versöhnung an sich begrüße er, doch die Art der Umsetzung verbiete ihm zuzustimmen.193 Außerdem warf er Mussolini vor, die Religion zu politischen Zwecken missbraucht und aus reinem Opportunismus heraus gehandelt zu haben. Als Autorität in Belangen der Historiographie protestierte er gegen die Geschichtsklitterung, die Mussolini in seiner Kammerrede vorgenommen hatte, denn das italienische Risorgimento eines Cavour sei laizistisch und liberal, aber nicht antiklerikal gewesen. Er schloss diesen Gedanken mit dem bekannten Diktum Paris sei eine Messe wert ab, indem er hinzufügte: „Wie dem auch sei, neben oder gegenüber den Männern, die Paris für eine Messe würdig erachten, gibt es andere, für die die Messe zu hören oder auch nicht unendlich wertvoller ist als Paris, weil dies eine Sache des Gewissens ist.“194 Mussolini ging auf die Kritik Croces ein, indem er auf eine Fabel des Äsops anspielte: „Hier spielt die Fabel der unreifen Traube keine Rolle, weil wir jener Stimme nicht bedürfen.“195 Als implizit bleibende Analogie wurde das Verhalten von Croce mit dem des Fuchses aus der Fabel gleichgesetzt. Beide würden sich über Dinge beschweren, die sie nicht erreichen und ändern könnten: der Fuchs die Trauben, Croce die Lateran-Verträge. Beide redeten sich ein, dass das zu erreichende Ziel doch nicht so erstrebenswert sei, da die Frucht noch nicht reif wäre. Croce gefiele die Art und Weise nicht, wie die Verträge zustande gekommen seien. Mussolini zitierte hier Dante (Inf. V, v. 102) mit „die Art ‚kränkt ihn noch jetzt‘“196. Croce wurde als unaufrichtiger Kritiker und Nörgler dargestellt, der sich vor der Verantwortung der Geschichte entziehe, denn „neben den Drückebergern des Krieges existieren jene der Geschichte“197. Jegliche Kritik sei schlichtweg kleinlich und relativiere die Ver193 Der Redetext findet sich als Anhang bei Cotroneo/Quaglieni (2011: 289–294). 194 Cotroneo/Quaglieni (2011: 294). 195 Mussolini OO (24: 104): „Qui non gioca la favola dell’uva acerba, perché non abbiamo bisogno di quel voto.“ Vgl. Aisop. Fabel 15. Ähnlich auch bei Phaedr. 4, 3 zu finden. 196 Mussolini OO (24: 104): „è il modo che ‚ancor l’offende‘“. Bei Dante heißt es: „ancor m’offende“. 197 Ebd. (105): „accanto agli imboscati della guerra esistono gli imboscati della storia“. Die Formulierung „imboscati della storia“ hat Mussolini wohl aus einer Rezension über Croces Storia d’Italia dal 1871 al 1915 von Romolo Murri entnommen, vgl. Menozzi (2016). Quaglieni (2011: 285) schreibt über Mussolinis Rede: „Mentre questo insulto è assai noto e sembrerebbe condensare il senso della replica mussoliniana, il testo del discorso di Mussolini è rimasto tra le carte impolverate degli atti parlamentari. Riteniamo che meriti di essere letto in quanto rivela, pur nella contrapposizione aspra della polemica, una volontà di argomentare le scelte operate per giungere ai Patti Lateranensi che
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träge: „die ewige Suche nach den Schmetterlingen unter dem Triumphbogen des Titus – [die Diskussionen] vernebelten die Größe des Ereignisses“198. Mit Giosuè Carduccis Vers über den Titusbogen wurde den Senatoren ins Gewissen geredet, damit sie dem Antrag entsprechend abstimmten. Zum Schluss fasste Mussolini die im Hintergrund virulent gewordene Situation zusammen: „Wird der Friede anhalten? Der Friede wird anhalten“199, versicherte er bereitwillig den Senatoren. Die Garantie für eine stabile Grundlage zwischen den vertragsschließenden Parteien sah Mussolini als gegeben an, weil beide italienisch seien und Interesse daran hätten, zu einem Vertragsschluss zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt aber war das gegenseitige Vertrauen bereits angekratzt. Mit 317 Stimmen wurde der Antrag angenommen, um daraufhin mit dem Ratifizierungsprozess fortzufahren; sechs Senatoren stimmten dagegen.200 Trotzdem ließen sich diplomatische Friktionen gleich im Anschluss an die Rede zwischen dem italienischen Staat und dem Vatikan nicht verhindern.201 Der Heilige Stuhl wollte den Trattato mit dem Concordato aufs Engste verbunden wissen, um damit einen Hebel zu haben, falls es zu Vertragsverletzungen kommen sollte.202 Abschließend ist festzuhalten, dass am Beispiel der Lateran-Verträge deutlich wird, dass der Rahmen des Italia-Mythos erhalten und nicht infrage gestellt wurde. Der nationale Mythos wurde offiziell nicht katholisch. Für die breite Öffentlichkeit war Italien nun eine geeinte Nation geworden. Für verschiedene Kreise des eher linken und antiklerikalen Faschismus, aber auch für die alten liberalen Eliten wie Croce, zeigte sich diese Lesart, die dem Publikum vermittelt werden sollte, als nicht hinnehmbar. Mussolini achtete darauf, dass er sowohl Abstand von der einen wie von der anderen Position hielt. Er ordnete ganz klar die Kirche dem seinerseits religiös-konnotierten nationalen Mythos
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merita di essere conosciuta perché rivela in Mussolini una concezione in qualche modo laica, anzi diremmo laicistica dello Stato, alla maniera del Vecchio anticlericalismo […] profondamente ostile ad ogni visione liberale.“ Mussolini OO (24: 107): „la eterna ricerca delle farfalle sotto gli archi di Tito – [le discussioni] obnubilassero la grandiosità dell’evento.“ Die Anspielung auf den Titusbogen findet sich in Carduccis Gedicht Roma der Sammlung Odi barbare. Dort heißt es in der zweiten Strophe: „Nicht aus kleinlicher Neugierde komm’ ich: unter des Titus / Bogen eilt man vielleicht, haschend, dem Schmetterling nach?“, vgl. Carducci (1969: 173). Mussolini OO (24: 106): „‚Durerà la pace?‘. La pace durerà.“ Vgl. Pertici (2009: 219). S. Pacelli (1959: 145), dem auffiel, dass die Senatsrede weniger polemisch war als die Kammerrede, aber bei Weitem nicht gemäßigt. Der Papst habe eine „sfavorevole impressione del secondo discorso“ Mussolinis gewonnen, ebd. (146). Vgl. ebd. (146–154).
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unter. „Im Gegensatz zu allen Trägergruppen [des Rom-Mythos] diente ihm das Motiv der Macht nicht zur Koppelung eines nationalen Diskurses und religiöser Kommunikation. Vielmehr behauptete er die Geltung faschistischer Ordnung gegenüber dem Katholizismus, was sich auch in der räumlichen Trennung von weltlichem und christlichen Rom symbolisiere.“203 Der Begriff Conciliazione und die historische Konstruktion Mussolinis täuschten über den Kampf hinweg, wie die Lateran-Verträge im Zusammenhang mit dem ItalienMythos zu deuten seien und was dies tagespolitisch konkret bedeute. Dass der Friede trotz der Versicherung Mussolinis nicht lange anhielt, zeigte der Streit um die Azione Cattolica und deren Unterdrückung bis zur erneuten Wiederversöhnung 1931.204 Danach kam es, wohl eher aus pragmatischen Gesichtspunkten, zu einer weiteren formellen Anerkennung des katholischen Glaubens in La dottrina del fascismo im Jahr 1932.205 Weitere Anknüpfungen und Fortschreibungen des Risorgimento sollen nun genauer analysiert werden. 4.2.2 Das Risorgimento aus faschistischer Sicht Neben dem Bezug auf das antiken Rom versuchte der Faschismus an die jüngere Vergangenheit anzuschließen und gestaltete diese Anknüpfung als Vervollkommnung des Risorgimentos aus. In diesem Zusammenhang sollen drei Reden, nämlich die Epopea Garibaldina vom 4. Juni 1932, die Rede Per il monumento al bersagliere vom 18. September 1932 und, etwas früher, die Rede Per la festa del Patto Lateranense vom 12. Dezember 1930 untersucht werden. Folgende Fragen gilt es zu beantworten: Wie wurde mit dem Erbe des Risorgimento umgegangen? Wie gestaltete Mussolini die „Arbeit am Mythos“? Alle drei Reden haben mehr oder weniger mit Themen zu tun, die für das kollektive Gedächtnis relevant sind. Bei den ersten beiden Reden geht es jeweils um nationale Vorbilder und Helden, bei der letzten um die Abschaffung eines nationalen Feiertages. Die Reden fanden in einem formellen und institutionellen Rahmen statt: Die beiden ersten Gedenk- und Einweihungsreden wurden vor dem König gehalten und waren unstrittigen Inhalts. Die letzte Rede wurde im Senat gehalten und war thematisch strittig. In der Kammerrede zu den Lateran-Verträgen betonte Mussolini die Bindung zum Risorgimento. Die Bemerkung, dass das Giuseppe Garibaldi gewidmete
203 Müller (2017: 252). 204 Hier ist die harsche Zurechtweisung des Faschismus durch Pius XI. in seiner Enzyklika Noi non abbiamo bisogno (1931) erwähnenswert. Zu den folgenden Problemen nach der Conciliazione s. Casella (2005). 205 Vgl. Mussolini OO (34: 131 (§ 12)).
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Monument auf dem Gianicolo in Rom erhalten bleiben und mit einem Standbild von dessen Frau, Anita Garibaldi, ergänzt werden solle, führt direkt zur ersten hier behandelten Rede.206 1932 wurden mehrere Feste zu Garibaldis 50. Todestag abgehalten. Zeitgleich wurde des zehn Jahre zuvor durchgeführten Marsches auf Rom, der Beginn der faschistischen Herrschaft, gedacht. Der Kult um Garibaldi: mythischer Held und Italiener par excellence Der Garibaldi-Kult und sein Mythos als eigenwilliger Kämpfer und volksnaher Held wurde bereits durch Garibaldi (1807–1882) selbst initiiert – z.B. durch seine von Alexandre Dumas besorgte Autobiographie Memorie von 1860. Darüber hinaus förderte er die Mythenbildung durch den gezielten Einsatz der Presse, die von seinen Heldentaten hautnah berichten konnte. Zusätzlich entstand eine ganze Reihe an Memorialliteratur, die sogenannte letteratura garibaldina. Sie wurde von den vielen Teilnehmern, die bei der Eroberung Siziliens und bei anderen Unternehmungen Garibaldis mitgewirkt hatten, verfasst.207 Die in sich ambivalente Figur Garibaldis bot unterschiedliche Deutungen an. Garibaldi wurde sowohl von königstreuen und konservativen Politikern als auch von Sozialisten vereinnahmt. Nur die Katholiken konnten mit ihm wegen seines ausgeprägten Antiklerikalismus nicht viel anfangen. Nach 1900 legte sich die Garibaldi-Verehrung, um dann wieder verstärkt ab dem Jahr 1925 mit der Monatszeitung Camicia rossa von Ezio Garibaldi, einem Enkel des Löwen von Caprera, öffentlich befördert zu werden.208 Am 2. Juni 1932 fanden die Feierlichkeiten ihren Höhepunkt: Die Überreste Anita Garibaldis wurden auf dem Gianicolo in dem ihr gewidmeten Denkmal beigesetzt. All dies wurde durch Reden gerahmt. Welchen Charakter die Reden damals hatten, macht Michael Haspel klar: „Im 20. Jh. gehört die G[edenkrede] fest zum Kanon der öffentlichen Beredsamkeit. Besonders nationale Feiertage sind Anlaß zur historischen Reflexion und politischen Standortbestim mung.“209 Die Errichtung des Denkmals ist der Tatsache geschuldet, dass die Schwelle der 40 Jahre überschritten war. „40 Jahre bedeutet das Ende einer Generation von Zeitzeugen.“210 Damit ist auch der Übergang in eine stabilere 206 207 208 209 210
Vgl. Mussolini OO (24: 89). Vgl. Lukenda (2014: 100–103). Vgl. Isnenghi (1997: 34 f. und 38), vgl. auch Pauls (1997: 309 f.). Haspel (1996: 642). Vgl. ferner Reisigl (2007: 48). Assmann (19972: 217) sowie: „Nach 40 Jahren treten die Zeitzeugen, die ein bedeutsames Ereignis als Erwachsene erlebt haben, aus dem eher zukunftsbezogenen Berufsleben heraus und in das Alter ein, in dem die Erinnerung wächst und mit ihr der Wunsch nach Fixierung und Weitergabe.“ Ebd. (51).
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Form der Erinnerung erforderlich, das kommunikative Gedächtnis wird überführt in kulturelle Praktiken der langzeitigen Archivierung. Für die beiden Festreden betonte Mussolini, dass die Regierung diese Überführung in dauerhafte Erinnerung wollte oder darum gebeten wurde. Anwesend bei diesem Staatsakt waren der König, die Königin, geladenen Gäste des Hofes und Diplomaten sowie Nachkommen der Familie Garibaldis. Darüber hinaus auch Mitglieder des Garibaldiner-Verbandes und 75 Jour nalisten.211 Nach den kurzen Ansprachen von Ezio Garibaldi und dem Gou verneur Roms, Fürst Francesco Boncompagni Ludovisi, kam Mussolini an die Reihe. Bevor die Reden en détail besprochen werden, mag eine kurze Übersicht über ihre Gliederung eine erste Orientierung schaffen. Die Garibaldi- wie auch die Bersagliere-Rede weisen die gleiche Struktur auf: In der Einleitung wird zuerst das Herrscherpaar adressiert. Sodann wird eine Beschreibung des Denkmals vorgenommen und darüber hinaus der Anlass genannt. Es folgt ein erzählend-berichtender Hauptteil, der dazu dient, den Mythos des Risorgimento durch seine Akteure ins Gedächtnis zu rufen. Der Schlussteil ist aktualisierend und zeigt den Zweck der mythischen Rekonstruktion auf: In der ersten Rede wird die Kontinuität zwischen Garibaldi, den Garibaldinern und den Faschisten betont. In der zweiten Rede werden die Verdienste des Faschismus um die Conciliazione hervorgehoben und die Treue zum König demonstriert. Das Besondere an den Gedenkreden ist, dass Mussolini zu erkennen gibt, wie Mythisierung praktisch funktioniert: Di Garibaldi fu detto e prima e dopo la morte, dalla storia, dall’arte, dalla poesia, dalla leggenda, che vive nelle anime delle moltitudini, più a lungo della storia. Adolescenti, il nome di Garibaldi ci apparve circonfuso dalle luci di questa leggenda e oggi, a distanza di anni, la ragione non ha illanguidito quell’entusiasmo che scaldava i nostri cuori. Cresciuti nel nuovo secolo e pure essendo, nel tempo, lontani dalle gesta di lui, rivendichiamo il diritto e il dovere di ricordarlo e di onorarlo.212 Von der Geschichtsschreibung, der Kunst, der Poesie, der Legende wurde über Garibaldi sowohl vor als auch nach seinem Tod gesagt, er lebe in den Seelen der Vielen länger als die Geschichte selbst weiter. Im Jugendalter erschien uns der Name Garibaldis umgeben von den Strahlen dieser Legende und heute – mit Abstand an Jahren – hat der Verstand jene Begeisterung nicht geschwächt, die unsere Herzen erwärmte. Obwohl wir im neuen Jahrhundert groß geworden und zeitlich weit entfernt von seinen Heldentaten sind, erheben wir Anspruch auf das Recht und die Pflicht, an ihn zu erinnern und ihn zu ehren. 211 Zur Inszenierung und der gelungenen Übermittlung derselben über die Massenmedien vgl. Fogu (2003: 96–113). 212 Mussolini OO (25: 109).
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Kapitel 4
In den eben angeführten Subdiskursen wurde der Mythos Garibaldis erzeugt, aufrechterhalten und weitergeschrieben. Sie bearbeiteten die Person Garibaldis und machten ihn zu einer strahlenden und idealisierten Figur. Damit ist der Mythisierungsprozess angesprochen, der Garibaldi erst zu jenem Helden machte und ihn wie einen Heiligen mit einer Aureole umgab (circonfuso dalle luci). Allein bei der Nennung seines Namens stellten sich vielfältige Assoziationen (immagini) und Gefühle (entusiasmi) bei den später Geborenen ein.213 Ein weiteres Merkmal dieser Mythisierung ist, dass Garibaldi in der Rede ‚Asket‘ genannt wird und dessen Rückzugsort am Ende seines Lebens ein ‚heiliger Ort‘ gewesen sei.214 Die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Mythos zeichnet sich somit erstens durch einen Prozess der Sakralisierung aus.215 Zweitens werden die historischen Ereignisse mit einer verbindenden Sinnfolie unterlegt: Der Geschichte wird eine geradlinige Entwicklung unterstellt, die sich hier in einem rudimentären Hegelianismus ausdrückte: Ma la storia ha già tratto dalle fatali antitesi la sintesi delle definitive giustizie e Garibaldi è più vivo, più alto, più possente che mai nella coscienza della nazione e nella coscienza universale. Le generazioni del nostro secolo, cariche già di sanguinose esperienze, attraverso la più grande guerra che l’umanità ricordi, si volgono a Garibaldi con occhio al quale non fa più velo la passione antica.216 Doch die Geschichte hat bereits aus den schicksalhaften Antithesen die Synthese der absoluten Gerechtigkeit gezogen und Garibaldi ist lebendiger, höher und mächtiger als je zuvor im nationalen und universalen Bewusstsein. Die Generationen unseres Jahrhunderts – bereits mit blutigen Erfahrungen durch den größten Krieg beladen, dessen sich die Menschheit erinnert – wenden sich mit jenem Auge Garibaldi zu, das durch keinen Schleier mehr des alten Eifers getrübt wird.
213 Vgl. ebd. (109 f.). Innerhalb der Rede wird Garibaldi dreimal als Held (eroe) bezeichnet. Der Titel der Rede in den OO gibt die Grundthematik gleich zu erkennen, es geht um das epische Lob des Helden: Epopea garibaldina. Von diesem Lob her wird auch Anita Garibaldi gesehen, da sie zur Heroine gemacht wurde: Mutter und Kämpferin zugleich, die zwei Rollen, die der Faschismus den Frauen zudachte, vgl. Kap. 4.3.3.2. 214 Vgl. Mussolini OO (25: 111). 215 Vgl. Assmann (19972: 159), der den vereinheitlichenden Aspekt und die Entpersonalisierung bei diesem Vorgang hervorhebt: „Kanonisierung heißt: alles als fremd oder irrelevant Eingestufte wird ausgemerzt, alles als im normativen und formativen Sinne bedeutungsvoll Eingestufte wird sakralisiert, d.h. mit den Merkmalen letztinstanzlicher Hochverbindlichkeit und Unantastbarkeit versehen.“ 216 Mussolini OO (25: 110).
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Spaltete Garibaldi noch zu Lebzeiten, so sei dieser kritische Geist durch den Weltkrieg geläutert worden, er behindere nicht mehr den direkten Blick auf Garibaldi (non fa più velo). Geschichte wird damit als Annäherungs-, nicht als Entfremdungsprozess gedacht. Den Hauptteil der Rede machte ein Lob der moralischen Qualitäten Garibaldis aus. Er legte zudem den Grund für die faschistische Aneignung. Garibaldi sei Patriot gewesen, für den die Einheit Italiens und die Monarchie die höchsten Ziele gewesen seien. Diese konservative Lesart Garibaldis stellte eine Strategie dar, Garibaldis sozialistische und reformwillige Seite zu unterdrücken.217 Vergleicht man die Darstellung Mussolinis mit den Ausarbeitungen zum Garibaldi-Mythos von Birgit Pauls, so wird zum einen sichtbar, wie Mussolini den Mythos Garibaldi letztlich in seiner staatsfundierenden Form affirmierte. Inszenatorisch wird dieser Schulterschluss zwischen Garibaldi und der Monarchie durch die Anwesenheit des Königs unterstrichen.218 Claudio Fogu hat gezeigt, dass diese Tatsache der „conciliation between monarchy and revolution“219 von den nationalen Zeitungen deutlich wahrgenommen worden war. Zum anderen bleibt festzuhalten, dass dies nur eine partielle Vereinnahmung darstellte. Das mag auch der Grund sein, warum Garibaldi von der Resistenza (z.B. als Name für die Brigate Garibaldi) und im demokratischen Nachkriegsitalien noch Verwendung fand – weil das Potenzial des Mythos nur einseitig ausgeschöpft wurde. Zeichnete Garibaldi sich nach Mussolini vor allem durch einen unpolitischen amor patriae aus, so kann dieser als gemeinsamer Nenner zwischen Garibaldi, den Garibaldinern und den Faschisten fungieren. Wie in den Lateran-Verträgen kam die Denkfigur der Kontinuität und Präfiguration zum Tragen. Mussolini sprach von einer linea ideale, die beide Bewegungen verbinden würde. Er führte weiter aus: Gli italiani del XX secolo hanno ripreso tra il ’14 ed il ’18, sotto il comando Vostro, o sire, la marcia che Garibaldi nel 1866 interruppe a Bezzecca, col suo laconico e
217 Vgl. Isnenghi (1997: 32 f.). 218 Vgl. Pauls (1996: 105–113). 219 Fogu (2003: 99). Der Diplomat Georges Wagnière (1944: 192), selbst bei der Enthüllung des Standbildes anwesend, stellte in seinem Tagebuch hingegen die zweite mögliche Leseart, nämlich die der Kontinuität zwischen Rot- und Schwarzhemden, heraus. Über die Rede schrieb er: „Le Duce y a prononcé un fort beau discours.“ Ebd. Die herkömmlichen Erwartungen an einen discorso inaugurale wurden aus seiner Sicht erfüllt. Pressemeldungen in ausländischen Zeitungen (Le Temps oder Vossische Zeitung) nahmen entweder gar nicht oder nur am Rande von der Einweihung Notiz, da der Nachrichtenwert zugunsten eines vereitelten Attentates auf Mussolini ausgereizt war, vgl. Vossische Zeitung (06.06.1932): Wieder ein Mussolini-Attentat. Abendausgabe, Nr. 270, S. 3.
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Kapitel 4 drammatico ‚Obbedisco‘ e l’hanno continuata sino al Brennero, sino a Trieste, a Fiume, a Zara, sul culmine del Nevoso; sull’altra sponda dell’Adriatico.220 Die Italiener des 20. Jahrhunderts haben zwischen 1914 und 1918 – unter Eurem Kommando, o Sire – den Marsch, den Garibaldi 1866 in Bezzecca mit seinem lakonischen und dramatischen ‚Ich gehorche‘ unterbrach, wieder aufgenommen und ihn bis zum Brenner, bis Triest, Fiume und Zara, bis zum Gipfel des Schneebergs und an die Gestade der Adria fortgeführt.
Der damalige Marsch Garibaldis sei nur unterbrochen und von den Faschis ten wieder aufgenommen worden. Dafür sprechen die Umbenennung der Spedizione dei Mille (Zug der Tausend) Garibaldis in eine marcia dei Mille, einen Marsch der Tausend, und die Parallelisierung zur faschistischen marcia su Roma. Mussolini schloss die Rede mit einer hypothetischen Verlebendigung des Reiterstandbildes von Garibaldi. Dieser schlösse sich heute unzweifelhaft dem Faschismus an. Garibaldi wird so zu einem Faschisten avant la lettre gemacht und vereinnahmt. Alles in allem wurde eine Kontinuität beschworen, die auf dem alten – areligiösen – Topos des Weiterlebens der Verstorbenen im Gedächtnis der Nachkommen beruhte.221 Zusätzlich wurde Garibaldi durch die Präfiguration betrachtet: Erstens sei er wie Cäsar, nur noch großzügiger. Diese Aussage ist der Strategie der Idealisierung zuzurechnen. Zweitens habe er die Urbarmachung der Sümpfe rund um Rom geplant, die nun Mussolini mit der Bonifica verwirkliche (vgl. Kap. 4.3.1.1).222 Nun soll noch die Gedenkrede zur Enthüllung des Bersagliere-Standbildes kurz behandelt werden. Das italienische Nation-Building wird darin eng verflochten mit den Bersaglieri, die innerhalb des italienischen Heeres eine Spezialeinheit bildeten.
220 Mussolini OO (25: 109). Die Schlacht bei Bezzecca im Dritten Italienischen Unabhängigkeitskrieg endete mit einem Sieg Garibaldis gegen die Österreicher; ein weiterer Vormarsch Garibaldis in Richtung Trento wurde telegraphisch unterbunden, darauf antwortete Garibaldi mit: „Ich gehorche“ und zog sich zurück. 221 Vgl. Audano (2015: 252, 278). In einer anderen Commemorazione in der Kammer für den Prinz Emanuele Filiberto di Savoia sprach Mussolini von dessen Tod als sonno dell’eternità und benannte eine Jenseitsvorstellung (regno delle ombre aspettanti), die sich wahrscheinlich an Dante oder antike Vorbilder anlehnt, vgl. OO (25: 54 f.). Explizit christliche Bezüge tauchen nicht auf. Dies steht im Gegensatz zu den familiären und privaten Sinngebungen für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Neben militärisch-patriotischen gab es auch christliche Deutungen, vgl. Janz (2009: 335). 222 Vgl. Hasler (1980: 491).
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Der Bersagliere sei schnell zum Identifikationspunkt für das italienische Volk geworden, weil er vor allem für innere Werte stehe. Wie bei Garibaldi wird in dieser Rede der Bersagliere idealisiert und zum Prototypen des Italieners stilisiert.223 Als Manifestationen für diese inneren Werte wurden siegreiche Schlachten (Goito 1848, Tschernaja 1855, Palestro 1859) zum Beweis angeführt. Mussolini ließ es sich nicht nehmen, die Einweihung des Standbildes mit dem Faschismus zu verbinden, wenn er auf seine zehnjährige Herrschaft und die parallel in diesem Jahr stattfindenden Feierlichkeiten hinwies. Er gab an, der Faschismus habe die Lücke geschlossen, den die Bersaglieri am 20. September 1870 bei der Erstürmung Roms ins kollektive Gedächtnis gerissen hätten. Er habe die Römische Frage beigelegt (comporre) und überwunden (superare).224 Auch äußerlich gab Mussolini zu erkennen, dass er sich in die bestehende Ordnung einfüge, denn bei beiden Auftritten trug er zivil, obwohl der König bei dieser Veranstaltung in Uniform erschien und Mussolini während des Weltkrieges bei den Bersaglieri kämpfte. Zum Schluss wird die symbolische Unterordnung mit dem kommissiven Sprechakt „Wir werden, wie ehedem, gehorchen!“225 bekräftigt. An der Wortwahl kann man eine Anlehnung an das garibaldinische Obbedisco erkennen. Mussolini sprach im Namen der Faschisten die Worte des Helden von Bezzecca nach und demonstrierte so seine Treue zum Königshaus. Faschistische Memorialpraxis verdeckt Widersprüche und vereinnahmt Traditionen Zur Umgestaltung des kollektiven Gedächtnisses gehörte für Mussolini nicht nur die faschistische Revolution mit risorgimentalen Elementen zu verbinden, sondern auch da, wo es zu Spannungen kam, glättend einzugreifen. Die Kammerrede über den Feiertag des 20. September stellte solch einen Eingriff dar. Ezio Garibaldi verfocht die Position, den Gedenktag auch nach der Conciliazione zu erhalten, um die italienische Souveränität weiterhin symbolisch zu untermauern, was gerade bei den sich zeigenden Konflikten
223 Der Bersagliere stehe für Mut, Schnelligkeit, Heroismus, Kameradschaft, Königstreue und Vaterlandsliebe. Ein Teil der aufgeführten Werte entnahm Mussolini aus dem Gründungsdokument der Bersaglieri, das er in diesem Zusammenhang Dekalog nannte, vgl. OO (25: 125 f.). 224 In der endgültigen Redefassung für den Auftritt erscheint comporre noch nicht und ist wahrscheinlich erst für die Zeitung nachträglich eingefügt worden, vgl. ACS, Autografi del duce: 10.1.5, All. 1 (2. Fassung, S. 5). 225 Mussolini OO (25: 127): „Noi, come ieri, obbediremo!“
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Kapitel 4
zwischen Staat und Kirche angebracht sei.226 Mussolini wollte mittels einer Unterscheidung seinem Publikum zu verstehen geben, dass Geschichte und Mythos nicht unbedingt deckungsgleich sein müssen, um auf diese Weise Änderungen im kollektiven Gedächtnis vornehmen zu können: Allora si dirà: ‚Dunque il 20 settembre si cancella?‘. Nient’affatto! Il 20 settembre è una data; una data che nessuno cancella e nessuno può cancellare, perché nella storia si può discutere sulla interpretazione del fatto, ma il fatto è là, delineato, sagomato, individuato. Il fatto si chiama 20 settembre, legato ad un evento, ad una cronologia, ad un periodo storico.227 Man wird also sagen: ‚Der 20. September wird folglich ausgelöscht?‘. Überhaupt nicht! Der 20. September ist ein Datum, das niemand auslöscht und niemand auslöschen kann. Man kann in der Geschichte über die Deutung einer Tatsache diskutieren, aber die Tatsache selbst steht fest: umrissen, geformt, bestimmt. Die Tatsache heißt 20. September, sie ist an ein Ereignis, an eine Zeitfolge, an einen geschichtlichen Zeitraum gebunden.
Für diese von Mussolini vorgenommene Unterscheidung lassen sich zwei Begriffe von Aleida Assmann gewinnbringend einsetzen: das Speicher- und Funktionsgedächtnis.228 Die Geschichte, die Mussolini meinte und die nichts vergesse, wird im Speichergedächtnis eingelagert, rückt für die nationale Gemeinschaft also in den Hintergrund. Für die politische Sinnbildung soll der 20. September keine Rolle mehr spielen, da er durch die Conciliazione aufgehoben worden sei. Mussolini begründete dies mit der historischen Genese des Festes, denn das Ereignis sei nie ein Fest der Einheit gewesen und durch verschiedene politische Richtungen polemisch genutzt worden, nichts Anderes drückt nämlich die Formulierung der ‚Demobilisierung‘ aus: Aggiungo che la festa a poco a poco era divenuta popolare, perché in essa confluivano due elementi: il primo, l’elemento dirò così nazionale; il secondo, l’elemento anticlericale. Venne la guerra. La guerra finì con la vittoria; venne il fascismo, ed è stato il fascismo che ha cominciato a smobilitare il 20 settembre. Il 20 settembre, negli ultimi tempi, era diventato una parata massonica, inutile e malinconica.229
226 Vgl. La Stampa (13.12.1930): Un discorso di Mussolini alla Camera sulle origini, sul significato e sulla sostituzione della festa del XX Settembre. N° 296, p. 1. 227 Mussolini OO (24: 309). Vgl. Verucci (1997: 92). 228 Vgl. A. Assmann (20063: 133–142.). 229 Mussolini OO (24: 308). Mit dieser Feststellung hatte Mussolini durchaus recht. Kühberger (2003: 87) spricht von einem Retortenfest. Ferner dazu Verucci (1997: 98).
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Ich füge hinzu, dass das Fest nach und nach populär wurde, weil darin zwei Elemente übereinkamen: das erste Element war das nationale; das zweite das antiklerikale. Dann kam der Krieg. Der Weltkrieg endete mit dem Sieg. Dann kam der Faschismus und der Faschismus allein hat begonnen den 20. September zu demobilisieren. Der 20. September war im Laufe der Jahre zu einer unnützen und tristen Freimaurerparade geworden.
Um die Änderung des politischen Funktionsgedächtnisses gewährleisten zu können, muss es modifiziert – in diesem Falle – inklusiver gestaltet werden. So rückte das Fest zum 11. Februar nun in den Vordergrund. Dieses Datum war allerdings nur ein ziviler und kein nationaler Feiertag. Das Regime verzichtete auf eine Masseninszenierung des Feiertags und gab dem Fest einen diplomatischen Charakter, da der Unterzeichnung der Lateran-Verträge nur noch von einem engen Kreis von Regierungsvertretern beider Länder gedacht wurde. Im Laufe der Zeit wurde es durch den Vatikan besetzt.230 Bei dem Eingriff in den Festkalender ging es vor allem darum, das Funktionsgedächtnis an die neuen Gegebenheiten, die die Lateran-Verträge schufen, anzupassen und Konfliktherde zu beseitigen. Die Einordnung des Festes als ein rein ziviles und damit aus Mussolinis Sicht weniger wichtiges, lässt klar hervortreten, welche Bedeutung er der Conciliazione im Nachhinein beimaß: Es ging um eine fundierende Legitimation und Beendigung der nationalen Spaltung. Gerade das Jahr 1932 bildete für den Faschismus eine Reihe aus Feierlichkeiten, bei denen stets das Neue und die Zukunft in Abgrenzung zum liberalen Italien hervorgehoben wurde. Trotz dieser Brüche lassen sich nach 1922 aber erhebliche Kontinuitäten zur Festkultur der vorfaschistischen Zeit konstatieren. Dies galt besonders für die kirchlichen und monarchischen Festtage, aber auch für Erinnerungsdaten der liberal-national-staatlichen Tradition, die – wenngleich in abgeschwächter Form – beibehalten wurden. [Mit den Jahren] […] wurden ältere Traditionslinien, insbesondere aus der antiken und risorgimentalen Vergangenheit, konstruiert und in die Feiern integriert.231
Diese Brücke zum Risorgimento wurde durch Präfiguration oder durch formale oder inhaltliche Parallelisierung hergestellt. Gerade in den 30er Jahren war die Präfiguration ein sehr beliebtes Mittel. Giuseppe Bottai kritisierte diese Legitimationsversuche aufs Schärfste, nicht aber ohne selbst auf subtilerer Art davon Gebrauch zu machen: 230 Vgl. Kühberger (2003: 92 f.), zum Festkalender des Regimes vgl. Nützenadel (2000a: 132 ff. und 139). 231 Nützenadel (2000a: 145).
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Kapitel 4 Es ist heute Mode geworden, die Großen, deren Namen uns von der Geschichte überliefert werden, auf das Prokrustesbett des Vorläufertums [scil. Präfiguration nach Blumenberg] zu zwingen. Diese Manie ist bereits soweit gediehen, daß man sich beim Hinweis auf Vorläufer des Faschismus eines ironischen Gefühls nicht erwehren kann.232
Und weiter: Das Vorläufersuchen war ein Steckenpferd der Sozialisten. Und das ist auch verständlich; denn der Sozialismus brauchte – in Anbetracht seiner paradoxen Ansichten, seiner sophistischen Lehren und der Verwegenheit seiner Zielsetzungen – eine Rechtfertigung durch die goldenen Regeln der ‚Großen und Weisen‘. Es handelt sich im Grunde um einen ungeheuren Trugschluß ad verecundiam, um den sich gleichsam ein ganzer komplizierter und ausgeklügelter Wortapparat drehte. Ein neuer sozial-ökonomischer Dogmatismus wurde geboren, der auf irgendeine Weise legitimiert und beschönigt werden mußte. Dies geschah am besten dadurch, daß man ihm einen Tropfen geschichtlicher Tradition einimpfte, kraft eines neuen ‚ipse dixit‘, ganz gleich, ob er von Franz von Assisi oder von Giordano Bruno, Demokrit oder Giovacchino Da Fiore, Platon oder Babeuf stammte. So etwas haben die Faschisten nicht nötig.233
Wie der Kritik Bottais zu entnehmen ist, war die von ihm als Unsitte getadelte Suche nach geschichtlichen Vorgängern bei den Faschisten gang und gäbe. Viele von ihnen waren früher einmal Sozialisten gewesen. Der Ex-Sozialist Mussolini kannte all diese Methoden, sich Legitimation zu beschaffen und nutzte sie auch. Außerdem ließ er es zu, dass solche Techniken gerade in Bezug auf seine Person eingesetzt wurden. Neben der Präfiguration kam noch die Konstruktion von Kontinuität zum Einsatz. Als Bindeglied für eine linea ideale zwischen Risorgimento und Faschismus musste der Erste Weltkrieg herhalten, sodass der Gefallenenkult der Frontsoldaten mit demjenigen der faschistischen ‚Märtyrer‘ verbunden wurde. Der Rückgriff auf die nahe und oder ferne Vergangenheit, aus der sich auf gleichsam natürliche Weise die politischen Ziele des Faschismus ergäben, diente Mussolini zur fundierenden Legitimation, denn „Herrschaft braucht Herkunft.“234 Neben dieser Funktion ergab sich durch den Anschluss an risorgimentale Helden eine zusätzliche Mobilisierung. Das Risorgimento sei noch nicht beendet, Gefallene des Weltkrieges und der faschistischen ‚Revolution‘ riefen als exempla virtutis dazu auf, das unvollendete Werk zu beenden. Wie schon in Kap. 4.1 kehrt 232 Bottai (1943: 7). 233 Ebd. (9). Einen Eindruck, wie Bottai die Präfiguration angewendet wissen wollte, kann man aus seinem Aufsatz L’Italia di Augusto e l’Italia d’oggi gewinnen, vgl. Bottai (19372). 234 Assmann (19972: 71).
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die Gedankenfigur des Deuters, der die latenten Gefühle und Meinungen des Publikums nur noch ausspreche, in abgeänderter Form wieder: Der faschistische Totenkult nutzte den Topos der Mortui viventes obligant,235 d.h. Mussolini erklärte sich zum Vollstrecker eines kollektiven Willens, der ihm durch die Geschichte und deren Helden aufgetragen worden sei (vgl. Kap. 4.3.3.3). Die Verflechtung von politischen Zielen und dem Gefallenenkult war in der Memorialpraxis der italienischen Mittel- und Oberschichten weit verbreitet: „Die Gefallenen lösen das Erbe ihrer Väter und Großväter ein und dienen ihrerseits den Brüdern und Söhnen als Vorbild. Nationale und familiäre Traditionsbildung vermischen sich dadurch und verstärken sich gegenseitig. Die Nationalgeschichte wird zum Familienepos.“236 Indem Mussolini sich auf die Gefallenen stützte, rief er deren Einzelschicksale auf, die eine innere Notwendigkeit erzeugten, denn die Fortführung des aufgetragenen Erbes gehört gemeinhin zur Pflicht der Nachkommen. Dass der Rückgriff auf ein ‚gereinigtes‘ Risorgimento überhaupt nötig wurde, erklärt sich womöglich vom Mythos der faschistischen ‚Revolution‘ her. Alexander Nützenadel hat den für die Faschisten identitätsstiftenden Mythos rekonstruiert. Wurde die Revolution noch in den 20er Jahren an mehreren Orten und Tagen pompös nachgespielt, setzte nach und nach eine Zentralisierung der Feierlichkeit ein. Die ‚Revolution‘ wurde immer stärker in den Nationalmythos integriert, auch weil die „systemverändernde Konnotation in den dreißiger Jahren endgültig verloren“237 gegangen war. „[V]erstärkt [wurden] symbolische Handlungen vollzogen, die nicht mehr auf die historische Erinnerung [scil. der ‚Revolution‘], sondern auf die ‚konstruktiven‘ Leistungen des Regimes verwiesen. Besonders klar tritt dies bei den Einweihungen öffentlicher Bauwerke zutage, die seit Mitte der zwanziger Jahre ein wichtiges Element der ‚Oktoberfeiern‘ bildeten.“238 An die Stelle einer systemverändernden trat nun eine -erhaltende ‚Revolution‘, die Mussolini als „modo perenne di conquista“239 (Modus der ewigen Eroberung) definierte. Es 235 Obwohl der faschistische Totenkult durchtränkt war von religiösen Metaphern, war er nicht auf eine christliche Jenseitsvorstellung fixiert. Das zeigen die entsprechenden Artikel im Dizionario di politica: Appello fascista der Redazione (1940: 146 f.) und Caduti von Curcio (1940a: 360–363). Die Idee, dass die Toten eine soziale Verpflichtung über ihr Ableben hinaus ausüben, ist vormodern, vgl. A. Assmann (20063: 34 f.). 236 Janz (2009: 378). 237 Nützenadel (2000b: 40). Zur Umgestaltung der Rivoluzione fascista in der 30er Jahren s. ebd. (31 f., 38). 238 Ebd. (32). 239 Mussolini OO (26: 320). Der Revolutionsmythos rückte als Deutungsmuster während des Abessinien-Krieges in den Vordergrund, d.h. dann, wenn eine verstärkte Mobilisierung
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ging nunmehr darum aufzuzeigen, dass der Faschismus seine Versprechen, die an ihn geknüpft wurden, erfüllen konnte. Die Funktion der ‚Revolution‘ hatte sich gerade deswegen geändert, weil der revolutionäre Mythos nach zehn Jahren faschistischer Herrschaft Abnutzungserscheinungen aufzeigte. Angesichts der allgemeinen Krisenstimmung wurde Legitimation im Vertrauten gesucht. Das Risorgimento und der Rom-Mythos stellten ideale Anknüpfungspunkte zur nationalen Geschichte dar, die einer Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft entgegenwirken sollten. Zu diesem Zweck musste allerdings eine Reinigung des historischen Materials vorgenommen werden, d.h. eine bestimmte Regime-stützende Lesart ausgesucht und gefördert werden. Der Grundgedanke hinter all dem ist sehr einfach: Wer das faschistische Regime infrage stellen wollte, der hätte zugleich die ganze Nation und ihre Helden in Zweifel ziehen müssen. So gesehen war die Vereinnahmung der Gefallenen des Ersten Weltkrieges oder der Helden des Risorgimentos ein Abwehrmechanismus gegenüber möglicher Kritik an den Faschisten. Die nationale Geschichte wurde somit zu einem fundierenden Mythos und sicherte die Herrschaft Mussolinis ab. Er allein war Vollstrecker und Vollender des nationalen Schicksals. Das kommende Kapitel leuchtet aus, welche Taten Mussolini für die natio nale Vollendung für sich reklamierte. In den Mythen der Bonifica und der Battaglia del grano lebte gewissermaßen in zwei sehr ähnlichen Politikfeldern der revolutionäre Mythos weiter, waren sie doch vor allem auf die Zukunft hin ausgerichtet. 4.3
Mythen in den unterschiedlichen Politikfeldern
Was im Großen galt, nämlich Italien wieder zu altem Glanz zurückzuführen, war auch im Kleinen gültig: In den unterschiedlichen Feldern der Innenpolitik sollten die militärischen Tugenden gefördert und zur Massenmobilisierung genutzt werden. Mussolini nutzte Mythen systematisch und kontinuierlich für die Politikfelder Regionalplanung und Landwirtschaft. Tendenziell eher spontan und zeitlich jeweils beschränkt galt dies auch für sein Krisenmanagement während der wirtschaftlichen Rezession in den 30er Jahren. Auf benötigt wurde. „Im Krieg kam der Faschismus ganz zu sich selbst. […] Die deutungskulturelle und handlungsbezogene Rückkehr zu den gewalttätigen Ursprüngen, die das Regime ab 1935 vollzog, geschah dabei fast immer auch unter dem Motto der Revolution.“ Vollmer (2007: 437). In diesem Sinne kann die ‚passive Revolution‘ (Gramsci) wieder reaktiviert und ihr mobilisierendes Potenzial abgerufen werden.
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welche Mythen er dabei zurückgriff, wie er sie ausgestaltete und nutzte, soll in den folgenden Abschnitten besprochen werden. Am Ende der Kapitel steht zuletzt die Rezeption der Zeitgenossen und eine abschließende Bewertung aus rhetorischer Perspektive. 4.3.1 Die Mythen der Bonifica und der Battaglia del grano Beide hier behandelten Mythen sind auf die Landwirtschaft und die Umgestaltung Italiens bezogen. Im ersten Teil wird der Bonifica-Mythos mit seinen ideologischen Implikationen in Augenschein genommen, danach die Battaglia del grano, die Getreideschlacht. Die bonifica integrale bildete im Rahmen der Erzählung eines noch zu vollendenden Risorgimento einen Mobilisierungsmythos, der das Dekadenzmotiv sowie die romanità variierend durchspielte. Dieser Mythos diente dazu, sich der eigenen Verdienste zu versichern. Francesco Filippi schreibt diesbezüglich: „Dieser scheinbare Erfolg des Faschismus ist im Laufe der Jahre zur Antonomasie der ‚guten Dinge‘ geworden, die der Duce für sein Volk getan hat. Noch heute, während alle anderen mutmaßlichen Errungenschaften infrage gestellt werden, ist jene der Urbarmachung [bonifica] von Sümpfen ein Eckpfeiler in der Erzählung eines gutmütigen und leistungsfähigen Regimes.“240 Der Begriff bonifica (bonificamento / bonificare) bezeichnet die Urbarmachung öden und verwaisten Landes, oder auch die Aufbesserung von unfruchtbaren Gegenden. Das Beiwort integrale weist darauf hin, dass mehrere Aspekte umfasst sind: neben der Austrocknung von Sümpfen (bonifica idraulica), die Verbesserung von Böden (b. agraria), die medizinische Versorgung der Bevölkerung (b. igienica) auch die Aufforstung des gebirgigen Hinterlandes (b. montana). Der soziale und demographische Aspekt wurde mit den Begriffen ruralizzazione und colonizzazione, zu Deutsch etwa Verländlichungspolitik und Binnensiedlung, benannt.241 Das Projekt der faschistischen Bonifica242 wurde bereits in den 20er Jahren mit diversen Gesetzen beschlossen, geriet aber schnell ins Stocken. Erst in den 30er Jahren sah das Regime auch angesichts der Weltwirtschaftskrise eine neue Möglichkeit, das Projekt wiederzubeleben. Unfruchtbares Land bewohnund bewirtschaftbar zu machen, war keine originäre Idee der Faschisten. Sie fügten sich in eine lange Reihe ein, angefangen bei den Römern über die 240 Filippi (2019: 18). 241 Vgl. Vöchting (1941: 6 f.). Die bonifica umfasste unterschiedliche Ziele, die sich im Lauf des Regimes änderten. Ihre Entwicklung zeichnet Skoneczny (1983: 32–41) nach. 242 Wenn im Folgenden Bonifica groß geschrieben ist, dann ist damit der Mythos und die Propagandakampagne des Regimes gemeint. Die Kleinschreibung gibt dann die konkreten technischen und landwirtschaftlichen Umsetzungen zu erkennen.
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Päpste bis hin zu Garibaldi. Dass im liberalen Italien schon Bemühungen in dieselbe Richtung unternommen wurden, wurde – zumindest in der damaligen Fachliteratur – heruntergespielt,243 oder in der Öffentlichkeit nicht thematisiert, es sei denn als pejorative Abgrenzung, um den eigenen Erfolgen eine größere Bedeutung zu verschaffen. Die von den Faschisten durchgeführte Bonifica sei ein „Sieg über die Tatenlosigkeit der alten Regierungen“244. Demgegenüber stellte Mussolini die immense Tatkraft seiner Regierung heraus: „Was in den vergangenen 25. Jahrhunderten umsonst versucht wurde, überführen wir heute nun in eine lebendige Wirklichkeit.“245 Aus dieser Hervorhebung eigener Leistungen resultierte die implizite Aufforderung, auf die bonifica und die Regierung stolz zu sein. Widersprüchliche Italienbilder als Grundlage des faschistischen Mythos Das Problem der versumpften Gegenden beschäftigte Italien schon lange. Vor der Gründung des Königreichs war es nur ein regional bearbeitetes Politikgebiet und wurde danach zu einem nationalen. Wie Piero Bevilacqua deutlich macht, standen sich im gesellschaftlichen Diskurs zwei widerstreitende Bilder vom ländlichen Italien gegenüber:246 Auf der einen Seite ein positiv konnotiertes Bild, das Italien als ein von der Natur reich gesegnetes Land verstand. Italien wurde durch die Brille der klassischen Literatur wahrgenommen und zu einem locus amoenus gemacht. Das Bild vom bukolischen Italien findet sich schon in der Antike bei Horaz oder Vergil.247 Im 19. Jahrhundert wurden das Landleben und die dortige Bevölkerung, zuvor eher mit Misstrauen und negativen Werten versehen (wie z.B. am Ausdruck villano/Bauer/Rüpel klar wird), positiver aufgefasst. Förderer dieser romantischen Verklärung waren Simone de Sismondi, Niccolò Tommaseo oder Giuseppe Mazzini, die in der ländlichen Bevölkerung den unverdorbenen Ursprung des italienischen Volkes erblickten.248 Die Grand
243 Vgl. Buongiorno/Giannini (1949), Serpieri (1950), Jandolo (1940). 244 Mussolini OO (29: 323): „Quello che fu invano tentato durante il passato di venticinque secoli, oggi noi stiamo traducendo in una realtà vivente.“ 245 Mussolini OO (25: 184). 246 Vgl. Bevilacqua (1996: 406 f.). 247 Vgl. Hor. Carmen saec. IV, 28 f.: „Fertilis frugum pecorisque tellus/ Spicea donet Cererem corona“ („Reich an Vieh und Früchten soll Mutter Erde/ Mit der Ähre kränzen der Ceres Stirne“) und Verg. Georg. II, 173: „salve, magna parens frugum, Saturnia tellus/ magna virum“(„Heil dir, hehre Mutter der Frucht, saturnische Erde/ Mutter der Helden“). 248 Vgl. Zunino (2013: 301 f.) und Wolfzettel/Ihring (1991: 413).
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Tour-Reisenden befeuerten diese verklärte Sicht auf Italien. Goethes Lied Mignon gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang: Kennst Du das Land wo die Zitronen blühn, Im dunklen Laub die Goldorangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, Kennst du es wohl?249
Zu diesem beinahe paradiesischen Bild Italiens gesellte sich ein anderes, diesem diametral entgegenstehendes hinzu: Italien als Land der Armut und des Zerfalls. Und doch ist das schöne Land im innersten Marke todtkrank; vom Po bis zum Ätna lassen sich Spuren und Anzeichen schwerer sozialer Leiden nachweisen. Die ländliche Bevölkerung lebt in Elend und Jammer, in körperlicher, geistiger und moralischer Verkommenheit. […] Biegt man von den betretenen Pfaden abseits in das Innere des Landes und wandert, fernab von den Städten, von Berg zu Thal die Halbinsel entlang, blickt in die zerfallenen Lehmhütten, aus denen Pellagra und Malariakranke, abgehärmte Gesichter hervorschauen, blickt man in den bodenlosen Abgrund der Unwissenheit, des Aberglaubens, worin die ländliche Bevölkerung von einem verdorbenen Klerus noch künstlich erhalten wird, dann mögen wohl Zweifel entstehen, ob Italien überhaupt in absehbarer Zeit die Fähigkeit besitzen wird, zu einer innerlich gesunden Blüte in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu gelangen.250
So beschrieb der Soziologe Werner Sombart Italien, ein Land, das seine eigene Bevölkerung nur sehr schlecht ernähren könne und wenige Ressourcen zu bieten habe. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die unwirtlichen Sümpfe und die damit einhergehenden Probleme ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Dazu beigetragen haben Malerei und Literatur, die das Thema aufgegriffen hatten.251 Die „Kontraste des grossen Einst und des jammervollen Jetzt“252 standen somit im Zentrum einer nationalen Politik, die sich mit dem römischen Reich messen wollte und beanspruchte, dessen Nachfolger zu sein.
249 Goethe (1992: 503). 250 Sombart (1888: 2 f.). Von diesem umile Italia gibt Carlo Levis autobiographischer Roman Christus kam nur nach Eboli (1945) einen lebhaften Einblick Vgl. Levi (201913). 251 Hier zu nennen wären beispielsweise: das Gedicht Il monte Circello (1856) des beliebten Dichters Aleardo Aleardi, das Gedicht Palude aus dem Erstlingswerk Primo vere (1879) von Gabriele D’Annunzio oder die Novelle Malaria (1883) von Giovanni Verga, vgl. Bevilacqua (1996: 410 ff.). 252 Sombart (1888: 5).
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Kapitel 4
4.3.1.1 Der Kampf-Mythos der Bonifica Die Bonifica war ein mobilisierender Mythos, den Mussolini mit militärischer Metaphorik erzeugte. Die Hochphase des Mythos lag zwischen den Jahren 1929 bis 1936.253 Die Reden zu diesem Politikfeld hielt Mussolini meistens am Ende des Jahres, oft am 18. Dezember. Als Übersicht der Metaphern-Struktur dient die untenstehende Tabelle: Quellbereich: Kampf
Zielbereich: Agrar- und Siedlungspolitik
Akteure
Soldaten (Heer), Feind/e
⇒
Mittel
Waffen
⇒
Ursachen
(fehlende Kampfmoral)
⇒
Handlungen
Angreifen, befreien, Positionen sichern, Leben bringen, Etappen auf einem Weg erreichen, erobern, siegen, besiedeln einer neuen Kolonie Erlösung und Eroberung von feindlichem Land, Kolonie errichten
⇒
Ziele
⇒
Faschisten, Siedler (ehemalige Frontsoldaten), Experten, Land/Natur/Malaria/Tod Trockenlegung, Städtebau, Ackerbau Nichts Explizites, Wille der Vorgänger bauen, entwässern, beackern
Neues Forst- und Ackerland, Befreiung von Malaria
Die Agrar- und Siedlungspolitik als Zielbereich wird mit dem Quellbereich des Kampfes verblendet.254 Ab 1926 wurde die Opera Nazionale dei Combattenti (ONC) mit der Durchführung der bonifica beauftragt, sodass als verantwortlicher Hauptakteur eine Organisation an der Spitze stand, die sich nach dem Ersten Weltkrieg um die Belange von ehemaligen Frontsoldaten, Kriegsverletzten und deren Verwandten kümmerte. Die eingesetzten Arbeiter und vor allem die Siedler in den neuen Landstrichen wurden durch das Commissariato 253 Vgl. Bevilacqua (2002: 182 f.): Durch die Weltwirtschaftskrise erhielt die bonifica noch zusätzlich die Funktion der Arbeitsbeschaffung. Die finanziellen Aufwendungen wurden allerdings auf den Agro Pontino reduziert. Nach 1936 kam die bonifica zum Stillstand, auch wegen des Äthiopienkrieges und des Spanischen Bürgerkrieges. 254 Auch Bevilacqua (1996: 412) oder Zunino (2013: 303) haben dies bereits bemerkt, doch gehen sie nicht ins Detail und klären nicht, was und wie konzeptualisiert wurde.
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per le migrazioni e la colonizzazione interna (Kommissariat für die Binnenwanderung und die Binnenkolonisation) ausgesucht. Dabei spielte die Kompetenz, Boden bearbeiten zu können, keine Rolle. Die Ausgewählten gehörten allen Berufsständen an und waren auf die Hilfe des ONC angewiesen, um das bäuerliche Leben überhaupt meistern zu können.255 Die Bindung an das neue Land wurde insofern gestärkt, als dass mit der Bonifica ein altes Versprechen verbunden wurde, mittellose Tagelöhner für ihren Kriegseinsatz mit Ackerboden zu belohnen.256 Wie genau sah nun dieser Kampf-Mythos aus? Einige Beispiele mögen zur Erklärung der Tabelle dienen: Als Akteure traten Arbeiter, Techniker und Experten aller Art in Erscheinung, die Mussolini mit „Camerati!“ ansprach und dessen Kriegserfahrung er ebenfalls thematisierte („da vecchi soldati“257). Als weiteres Phänomen, das reale und metaphorische Kriegserlebnisse verband, müssen die Ortsnamen genannt werden. Die Straßen in der Siedlungsstadt Littoria bildeten die Topographie des Krieges nach: Monte Grappa, Carso (Karst), Isonzo und Piave.258 Steht auf der einen Seite ein Heer von Soldaten, so findet sich auf der anderen Seite der Feind: die Natur, die Malaria, aber auch der Zweifel in den eigenen Reihen. Avevamo di fronte la natura, le cose, ed oltre a ciò lo scetticismo, l’inerzia mentale, la poltroneria morale di coloro i quali prima di iniziare il combattimento vogliono essere matematicamente sicuri di avere la vittoria, mentre per noi fascisti più ancora della vittoria ha importanza il combattimento.259 Uns gegenüber standen die Natur, die Dinge und darüber hinaus der Skeptizismus, die geistige Trägheit, die moralische Faulheit jener, die, bevor sie das Gefecht beginnen, hundertprozentig sicher sein wollen, den Sieg zu erringen. Für uns Faschisten ist jedoch das Gefecht wichtiger als der Sieg.
Mussolini war nicht der erste, der die Natur als Feind betrachtete. Seine Metaphorisierung erfuhr durch die Erinnerung und Erlebnisse der Ex-Soldaten eine weitere Absicherung. Die feindliche Natur wurde immer in densel ben, geradezu stereotypen Ausdrücken beschrieben: „[R]egnava la mortifera palude“260, „La battaglia contro la mortifera palude è durata dieci anni“261, 255 256 257 258 259 260 261
Vgl. Skoneczny (1983: 120 ff.). Das Commissariato sabotierte die Bemühungen des ONC. Vgl. Bevilacqua (2002: 179 f.). Mussolini OO (25: 184 f.). Vgl. ebd. (184). Mussolini OO (26: 402). Ebd. Herv. v. F.S. Mussolini OO (29: 323). Herv. v. F.S.
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„qui dominava la morte“262, „regnava la morte“263. Das sumpfige Gelände beherrsche die dort Ansässigen durch die Malaria, die den Tod bringe. Dort sei alles ungeordnet und wüst.264 Die Malaria halte das Land gefangen, das es zu befreien und zu erlösen gelte. Dies sei das angestrebte Ziel des Kampfes: „man erlöst das Land“265. Das Leben werde zurückgebracht.266 Die Zielsetzung der bonifica war seit 1925 unverändert: „Die Schlacht gegen die Sümpfe bedeutet, die Gesundheit von Millionen von Italienern von den tödlichen Tücken der Malaria und des Elendes zu befreien.“267 Ziel des Kampfes sei der Sieg (vittoria)268, der darin bestehe, das Land wieder aufzurichten, das am Boden liege. Mussolini sprach auch von der Wiederauferstehung (resurrezione)269 – oder davon, das Land dem Feind durch Eroberung (conquista), zu entreißen.270 Konsequenterweise hießen die Siedler dann coloni, die für eine interne Kolonialisierung stehen.271 Die Erreichung der Ziele wurde mithilfe einer Weg-Metaphorik verdeutlicht. „Wir erachten die erste Etappe unseres Weges als erreicht“272. Die ausstehenden Ziele seien dann Zwischenstationen. Damit kann Mussolini aufzeigen, was bereits alles getan wurde und zugleich definieren, was zu tun noch aussteht und dies als weiteren Ansporn anführen. Die Handlungen, die hierfür durchgeführt werden mussten, wurden sowohl als eigentliche273 als auch als metaphorische benannt: 262 263 264 265
266 267 268
269 270 271 272 273
Mussolini OO (26: 124). Herv. v. F.S. Mussolini OO (29: 323). Herv. v. F.S. Vgl. ebd.: „forze disordinate della natura“. Mussolini OO (26: 96): „si redime la terra“. Zur Befreiung s. auch Mussolini OO (27: 203): „abbiamo riscattato terre incolte“. Riscattare bedeutet, jmd. aus der Sklaverei durch ein Lösegeld zu befreien. Eine religiöse Bedeutung schwingt ebenso mit, denn der Apostel Paulus deutete den Opfertod Jesu als Lösegeld (1. Tim. 2, 6). Vgl. das Lemma riscattare im VDLI (1991, Vol. 3: 1479). Vgl. Mussolini OO (26: 124): „la rivoluzione delle camicie nere vi ha portato la vita“. S. auch Mussolini OO (29: 323), wo das Ziel durch die Antithese verstärkt wird: „riporre la vita là dove regnava la morte“. Mussolini OO (24: 377): „La battaglia della palude significa liberare la salute di milioni di italiani dalle insidie letali della malaria e della miseria.“ Vgl. Mussolini OO (26: 124): „Da questo punto di vista la battaglia è vinta in pieno“. Vgl. Mussolinis Gewohnheit, politische Ziele als militärische ‚Siege‘ zu bezeichnen, auch im Zusammenhang mit der Errichtung neuer städtischer Einheiten: „Pomezia sarà inaugurata il 29 ottobre del 1939. Solo allora la nostra opera potrà dirsi compiuta e una nuova vittoria si aggiungerà alle altre“, Mussolini OO (27: 258). Herv. v. F.S. Vgl. Mussolini OO (26: 326). Vgl. Mussolini OO (27: 57). Vgl. Mussolini OO (25: 184): „Voglio elogiare gli operai venuti da tutte le parti d’Italia e i coloni che dalle terre del Veneto e della valle del Po, son venuti qui a lavorare“. Ebd.: „[C]onsideriamo compiuta la prima tappa del nostro cammino“. Vgl. Mussolini OO (24: 225).
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È qui che noi abbiamo conquistato una nuova provincia. È qui che abbiamo condotto e condurremo delle vere e proprie operazioni di guerra. È questa la guerra che noi preferiamo. Ma occorre che tutti ci lasciano intenti al nostro lavoro.274 Hier an dieser Stelle haben wir eine neue Provinz erobert. Hier haben wir wahre und wirkliche Kriegshandlungen durchgeführt und werden damit fortfahren. Es ist dies der Krieg, den wir bevorzugen. Die anderen müssen uns aber auch arbeiten lassen.
Die „wahre[n] und wirkliche[n] Kriegshandlungen“ werden im nächsten Satz wiederum abgeschwächt, in dem Mussolini mehrere Arten von Krieg unterscheidet. Der aggressive Ton wird durch die latente Drohung am Schluss des Zitates nochmals verstärkt. Als Instrumente für die Umsetzung der Urbarmachung kamen zwar moderne Hilfsmittel wie Traktoren, Pumpen, etc. zum Einsatz, bei Mussolini sind dies allerdings Waffen: „Dies ist die Zeit, in welcher die Waffen vom Sieg gekrönt wurden.“275 Die Ursachen und Gründe für den Kampf wurden nicht eigens thematisiert, bestand das Problem der Sümpfe doch schon seit sehr langer Zeit. Ein Kampf-Mythos dient dem Ansporn und nicht der Rechtfertigung von Handlungen. Man könnte allerdings die ‚moralische Trägheit‘ der Vorgängerregierungen anführen, die es dabei belassen hätten, nichts zu tun. Dass sich nun etwas geändert habe, liege Mussolini zufolge an der faschistischen Kampfmoral, die er als Feldherr mit seinen Reden würdige und fördere: „Man gründet heute die fünfte Gemeinde des Agro Pontino [= Pomezia, F.S.] und des Agro Romano, beide nunmehr erlöst durch euren Arm und unseren Willen.“276 Die Bedeutung, die das Regime der Bonifica beimaß, wird durch diese Aussage ersichtlich, denn gegen die ungeordneten Kräfte der Natur, gegen die todbringende Malaria setzte es auf sein Werk der Ordnung, das Italien ein neues Leben garantieren sollte.
274 Mussolini OO (25: 185). In der deutschen Edition findet sich folgende Übersetzungsvariante: „Hier haben wir eine neue Provinz erobert. Hier führen wir die wirklichen Feldzüge und werden sie auch weiter führen. Dies sind die Feldzüge, die wir bevorzugen. Aber es ist notwendig, daß alle uns ruhig bei unserer Arbeit lassen.“ Mussolini (1935: 140). 275 Mussolini OO (26: 96), Herv. v. F.S.: „Questo è il tempo nel quale le armi furono coronate da vittoria.“ 276 Mussolini OO (29: 94): „Si fonda il quinto comune dell’Agro Pontino e dell’Agro Romano, entrambi ormai redenti dal vostro braccio e dalla nostra volontà.“
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Propagandistische Absicht und Presseecho Die sechs zwischen 1928 und 1938 gegründeten Städte (città nuove) im Agro Pontino und auf Sardinien bildeten, wie Ingo Skoneczny ausführt, „den propagandistischen Höhepunkt der Selbstdarstellung des Regimes und sollten den Stand der ‚Schlacht um die Wiedergewinnung des Pontinischen Ackers‘ im Stile einer Kriegsberichterstattung für das eigene Volk und das Ausland kundtun“277. Mit den Gründungen konnte an die Römer angeknüpft werden, die ihrerseits mit Städtegründungen ihren Machtanspruch sicherten und ihre zivilisatorische Überlegenheit demonstrierten. Weiterhin wurde die Bonifica als ein hoffnungsvolles Zeichen in der Weltwirtschaftskrise angesehen. Mussolini selbst nährte diese Sicht, wenn er bei den Grundsteinlegungen positive Bezeichnungen dafür fand: So sprach er von einem „großen Fest für den Agro Pontino“278; von einem „Schrei aus Freude und Stolz, den wird heute in den Himmel Italiens schmettern“279. Was das faschistische Regime schuf, kam sicherlich dem ein oder anderen Betrachter als Wunder vor. Mussolini ging gerne auf solche Vorlagen ein: „Man hat vom ‚Wunder von Littoria‘ gesprochen. Es gibt keine Wunder, hier gibt es nur eure Arbeit […] meinen Willen und die Sparsamkeit des italienischen Volkes.“280 Am Beispiel der Gründung Littorias (18. Dezember 1932) sollen einige Pressestimmen diskutiert werden. Der Korrespondent der Le Temps übernahm die Diktion Mussolinis und sprach von der „bataille de rédemption“, ferner bewertete er die Bonifica als „solution d’un des problèmes les plus préoccupants de l’Italie, qui est celui de faire vivre sur son sol une population toujours plus grande“281. Mario Passarge von der Vossischen Zeitung berichtete in seinem Artikel Roman eines Sumpfes von den unzähligen Versuchen der Trockenlegung, angefangen beim Etrusker-Stamm der Volsker. Auch er übernahm die Kampfmetaphorik („das demonstrative Kampfstück der italienischen Regierung“ oder „Wie im modernen Kriege kommen heute die Menschen erst nach den Maschinen“), doch endete er mit skeptischem Unterton: „Ist damit die Geschichte der Pontinischen Sümpfe zu Ende? […] Ist die alte Rache der 277 Skoneczny (1983: 113). 278 Mussolini OO (26: 401): „grande festa per l’Agro Pontino“. 279 Mussolini OO (27: 202): „grido di gioia e di orgoglio che noi oggi lanciamo nel cielo d’Italia“, s. auch OO (25: 184): „Sarebbe questo il momento per essere orgogliosi. No! Noi siamo soltanto un poco commossi“. Er sprach ferner von „celebrare“ oder „esaltare la nostra piena ed indiscutibile vittoria“, Mussolini OO (29: 323). 280 Mussolini OO (26: 124): „Si è parlato di un ‚miracolo di Littoria‘. Non esistono miracoli; qui esiste il vostro lavoro […] la mia volontà e il risparmio del popolo italiano.“ 281 Le Temps (20.12.1932). ITALIE. Le Duce à Littoria. N° 26048, p. 2.
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Volsker wirklich erschöpft? Fragen an die kommende Zeit, von der niemand vorauszusagen weiß, ob sie nicht wieder, wie in den Jahrtausenden bisher, von Menschen das zerstören lassen wird, was die Menschen erbaut haben.“282 In der späteren Berichterstattung zur Bonifica, so z.B. in einem Kommentar mit dem Titel Il Condottiero e i suoi soldati von Alfredo Signoretti, wurde die Kriegsmetaphorik sogar noch ausgebaut: Ein Volk und ein Regime, die mit so viel Glauben und Mühe einen solch schwie rigen Kampf anpacken, haben ein Recht auf Frieden. Zwischen tausenden von historischen und einigen aktuellen Ungerechtigkeiten eingezwängt, haben sich die Italiener auf sich selbst zurückbesonnen und eine Provinz erobert, die ihnen genauso lieb ist, wie jene, die durch kriegerische Unternehmen befreit wurden.283
Als Motiv schwingt zusätzlich das Italia farà da sè mit, das aus dem Risorgimento stammt und die Unabhängigkeit wie Eigenleistung Italiens betont. Schaut man sich die Berichte der Geheimdienste und Präfekten zur Bonifica an, sieht man, dass die Bemühungen des Regimes zwar Hoffnung und Mut gaben, dass der Wille, daran auch mitzuwirken, aber eher gering war. Schwerlich vorstellbar – schreibt der Präfekt [am 07.08.1931] –, dass diese Arbeiter sich entscheiden nach Grosseto [in die Toskana] zu kommen, besonders zur jetzigen Zeit, in der die Malaria sehr verbreitet ist. Die harte Arbeit nahmen oft Arbeitslose aus weit entfernten Gegenden an, zu allem bereit, um überhaupt etwas zu verdienen.284 Es ist nur folgerichtig, dass man in den Berichten das Gefühl der Entfremdung der Bevölkerung gegenüber dem Regime unterstreicht. Die bäuerlichen Massen reagieren auf den Faschismus nicht [Vertraulicher Bericht, Trento, 17.10.1933]. Wenn in der Tat nicht von tiefer Unzufriedenheit die Rede ist: die Maxime von Mussolini ‚auf das Volk zuzugehen‘ wird auf den Kopf gestellt […] die Unzufriedenheit bei den kleinen Leuten, jene die arbeiten, ist vorhanden und breitet sich kontinuierlich aus [Vertraulicher Bericht, Rovigo, 06.12.1934]; ernste Unzufriedenheit unter den bäuerlichen Massen [Vertraulicher Bericht, Treviso, 13.08.1934].285
Mit der Bonifica waren innerhalb Italiens vor allem die Bauern angesprochen, die das Regime zu integrieren versuchte. Bis dato hatte ihnen die Politik kaum
282 Vossische Zeitung (19.12.1932) Roman des Sumpfes. Abendausgabe, Nr. 606, S. 5 (= Nr. 352, Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung). Kurs. i. Orig. gesperrt. 283 La Stampa (19.12.1934): Il Condottiero e i suoi soldati. N° 300, p. 1. 284 Colarizi (1991: 101), Kurs. i. Orig. 285 Ebd. (102), Kurs. i. Orig.
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Aufmerksamkeit geschenkt, was Mussolini mit den sprichwörtlich gewordenen ludi cartacei auf den Punkt brachte: È finito il tempo demoliberale, durante il quale i prodi, silenziosi e fecondi rurali venivano considerati come appartenenti ad una razza inferiore, buona soltanto a dare dei voti in tempo di ludi cartacei, buona soltanto a popolare, prima le caserme poi le trincee, quando la grande ora suonava.286 Die liberal-demokratische Zeit ist zu Ende, in der die tapferen, schweigsamen und fruchtbaren Bauern als minderwertige Rasse betrachtet wurden; allein gut genug, um Stimmen in Zeiten der papiernen Spiele abzugeben; gut genug, um zuerst die Kasernen, dann die Schützengräben zu bevölkern, als die große Stunde schlug.
Das Stimmungsbild zeigt aber, dass die direkt an der bonifica Mitwirkenden aus wirtschaftlicher Verzweiflung teilnahmen. Roberto Bergamini schrieb in seiner Tesi di Laurea von 1942, dass sich die Siedler aus dem Norden im Agro Pontino entwurzelt gefühlt hätten und der ONC ihnen besonders väterliche Unterstützung zukommen lassen musste, was vielleicht die Bindung zu ihm, als offiziellem Vertreter des Regimes, wachsen ließ.287 Zum Problem der Entwurzelung gesellte sich noch das der Vertreibung hinzu, denn mit der bonifica wurden die Hirten ihres Arbeits- und Lebensraumes beraubt. Der Schweizer Agrarwissenschaftler Friedrich Vöchting stellte einen weiteren Konfliktherd zum Regime heraus: Dieser Süd- und Inselbauer, der seit Generationen sehnsuchtsvoll an die Pforte des Latifundiums pocht und nach einem Fetzen eigener Erde hungert, müßte geradezu ein Heiliger sein, wenn er in dem Norditaliener, der vor seinen Augen mit dem besten Neulande ausgestattet wird, nicht den vorgezogenen Nebenbuhler erblicken sollte.288
Die Bevölkerung vor Ort fühlte sich hintergangen, da Fremde in den neu erschlossenen Gebieten bevorzugt angesiedelt wurden. Neid und Missgunst waren so vorprogrammiert und konnten sich negativ auf die Wahrnehmung des Regimes auswirken. Waren die direkt involvierten Bauern von der bonifica enttäuscht, so sah die Lage bei der breiten Öffentlichkeit und im Ausland ganz anders aus. 286 Mussolini OO (24: 225). 287 Vgl. Bergamini (1942: 75): „[L]a persuasione di essere assistiti, vigilati, guidati, di non essere abbandonati a sè stessi, si fece ben presto largo, inducendo ad una tranquillità e serenità sempre più crescenti.“ 288 Vöchting (1941: 13).
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Wenngleich die wirtschaftlichen Ergebnisse dürftig waren, die mythische Getreideschlacht verloren war, so helfen jedoch die staatliche Fürsorge, die öffentlichen Bauarbeiten und die Urbarmachung dem Faschismus, unter dem Image-Gesichtspunkt besehen, den Krieg zur Eroberung der öffentlichen Meinung zu gewinnen. […] Während die Weltwirtschaftskrise wütet, sind in seinem Land [des Italieners] Bauten und Initiativen voll im Gang; Italien – wie Mussolini sagt – ist eine wirklich ‚tönende Baustelle‘.289
Konkret heißt das, dass all jene, die nur medialen Kontakt zur bonifica hatten, leichter zur Überzeugung gelangten, Italien habe es besser als andere Staaten in der Wirtschaftskrise. Besonders beeindruckt zeigten sich die ausländi schen Touristen, Korrespondenten und Diplomaten. Die äußerst positiven Bewertungen der bonifica rühren womöglich auch daher, dass Italien, wie bei Goethes Gedicht gesehen, als bäuerlich-idyllisches Land den Erwartungen nicht mehr ganz entsprach. So fand der ehemalige Schweizer Botschafter Georges Wagnière noch 1944 lobende Worte für die Urbarmachung, die er – der hier vorgestellten Metaphorik folgend – als Schlacht mit Verwundeten und Toten bezeichnete.290 Auch Joseph Goebbels zeigte sich beeindruckt und hob den propagandistischen Wert des Unternehmens hervor: Heute mag man streiten, ob es endgültig gelingen wird, jenes Sumpfgebiet für die Nation zurückzugewinnen. Es steht auch gar nicht zur Debatte, ob es gelingen wird, 80.000 Menschen hier anzusiedeln. Das ist eine Frage zweiten Ranges. Der Wert liegt darin, daß man den Mut zu solchen Dingen hat und sich nicht scheut, sie in Angriff zu nehmen. Ausschlaggebend allein ist, daß ein Mann den Entschluß faßt, mitten im Frieden diese Provinz dem Volke zurückzuerobern und nun die Kraft aufbringt, diese Eroberung zur Sache der gesamten Nation zu machen. Für jeden Italiener ist Littoria ein Schmuckkasten: unsere Stadt, unsere Provinz, unser Werk, das Werk des Faschismus.291
Mit der Bonifica war außerdem ein neues Menschenideal verbunden, dasjenige des kriegerischen und patriotischen Bauern, den das Regime gerade durch die Entwurzelung formen wollte.292 Der alte Römer Lucius Q. Cincinnatus stand für diesen Menschentyp Pate. Zwei Zielsetzungen sind bei der Bonifica zu unterscheiden, ein kurzfristiges und ein langfristiges: Zuerst sollten Arbeitsplätze geschaffen werden. Das Langzeitziel war, mittels der Förderung von ländlichem Leben, italienische Identität zu erhalten und 289 Colarizi (1991: 104). Die Stelle, auf die Colarizi anspielt, findet sich in der Volksrede von Florenz (1930), s. Mussolini OO (24: 234). 290 Vgl. Wagnière (1944: 156–159). 291 Goebbels (1934: 24 f.). 292 Vgl. Nützenadel (1997: 47).
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Kapitel 4
aus diesem Raum den idealen Faschisten zu rekrutieren. Das Landleben wurde nämlich vom Faschismus als Hort aller tugendhaften Eigenschaften erachtet. So gesehen war die Urbarmachung eingebunden in den Hauptmythos, nämlich landschaftlich, menschlich und mental an den Ursprung eines blühenden und starken Italiens zurückzukehren. Resultate der bonifica – damalige und heutige Einschätzungen Trotz der massiven Versuche, das Landleben wieder attraktiver zu machen, u.a. durch die Bekämpfung der zunehmenden Verstädterung,293 konnte der Zuzug in die städtischen Zentren nicht aufgehalten werden und die bonifica integrale – von Mussolini 1939 als siegreich beendet erklärt – blieb weit hinter den versprochenen Erwartungen zurück. Selbst Mussolini gestand sich im Jahr 1940 nach einer seiner vielen Inspektionen vor Ort den Misserfolg ein. In einem Bericht an ihn hieß es: [I]n der Gegend von Littoria hat man vernachlässigte Kulturen gesehen, schrecklicher Weizen in Quantität und Qualität, voll mit Unkraut. An manchen Stellen war mehr Gras als Weizen. […] Der Bauer empfängt jährlich eine gewisse Summe für sich und für jeden Angehörigen der Familie. Es versteht sich von selbst, dass er sich überhaupt nicht um die Ernte kümmert, die ihn nicht interessiert. Er sät und um den Rest soll sich der Herrgott kümmern! Ist das denn möglich unter einem faschistischen Regime?294
Auch die neueste Forschungsliteratur belegt, dass die bonifica keinen Erfolg gezeitigt hatte. Von den acht Millionen Hektar, die fruchtbar gemacht werden sollten, wurden nur vier Millionen erreicht. Die Arbeiten waren gerade zur Hälfte gediehen und 1,5 Millionen Hektar an Land wurden bereits vor 1922 erschlossenen. Nur 6 % der Arbeiten fanden einen endgültigen Abschluss. Auch der Kampf gegen die todbringende Malaria musste noch lange Zeit fortgesetzt werden, bis sie offiziell 1970 für beseitigt erklärt wurde.295 So gesehen war die bonifica nur kurzfristig als Bonifica erfolgreich, vor allem, wenn sie nur indirekt über die Medien wahrgenommen wurde. Als Prestigeobjekt diente sie dem Regime dazu, sein Bild im Ausland zu verbessern. Sie war nationales Zeichen für die Zivilisierung des eigenen Landes und vermittelte 293 Vgl. Mussolini OO (26: 187). 294 Bericht vom 20.12.1940 [= ACS, Segr. part. del Duce. Carteggio ordinario, 509.831/6] zit. nach Mariani (1976: 168). 295 Vgl. Filippi (2019: 27–30). Während der bonifica stiegen die Zahlen von Malaria-Erkrankten 1931/32 sogar an, da die Arbeiter nicht mit dem notwendigen Chinin versorgt wurden. Wie hoch die tatsächliche Zahl von Erkrankten war, lässt sich nicht mehr genau feststellen.
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Hoffnung auf tatkräftige Hilfe seitens des Regimes in der Krise. Die Umsiedler vor Ort hatte die Propaganda des Regimes hingegen nur in geringem Maße erreicht, waren sie doch einige der Wenigen, die ihren Unmut sogar durch Proteste zum Ausdruck brachten.296 4.3.1.2 Die Battaglia del grano: Beispiel für gelungene Mobilisierung Der zweite faschistische Mythos, der die Bauern in den Mittelpunkt stellte, war die Battaglia del grano, die sogenannte Getreideschlacht. Ihr Beginn lag im Jahr 1925. Die Rede Per la battaglia del grano (30. Juli 1925) gibt am deutlichsten an, was das Ziel der Schlacht war: „Die Getreideschlacht, meine Herren, bedeutet, das italienische Volk von der Sklaverei ausländischen Brotes zu befreien.“297 Mit dem Motiv der Sklaverei rief Mussolini die Vorstellung auf, die bereits im risorgimentalen Italien weit verbreitet war, nämlich Italien von der Fremdherrschaft (dominazione straniera) zu befreien. Hintergrund dieser Zielsetzung war die Tatsache, dass durch den Ersten Weltkrieg die Landwirtschaft geschwächt worden war, da viele Bauern an der Front kämpfen mussten und es keine staatliche Unterstützung für diesen Bereich gab. Nach dem Krieg kam es zu Arbeitskämpfen und Unruhen, da die Bauern dem Versprechen der Regierung, Land im Austausch für den Kriegseinsatz zu verteilen, Nachdruck verleihen wollten. Es ist nicht verwunderlich, dass die Anfänge des Faschismus hier zu finden sind, der zuvorderst ein Agrarfaschismus war. Um das ganze Problem zusammenzufassen: „Die inländische Nahrungsmittelproduktion konnte mit der Nachfrageentwicklung nicht mehr Schritt halten.“298 Nachdem es 1924 und 1925 zu einer erhöhten Inflation der Lira kam, erhöhte sich auch das Handelsbilanzdefizit mit dem Ausland, weil Italien viele Waren (darunter Weizen) importieren musste. Um diesen Trend aufzuhalten, änderte die Regierung den wirtschaftsliberalen Kurs und führte die auf Unabhängigkeit ausgerichtete neo-merkantilistische Kampagne Battaglia del grano ein. „Durch einen Abbau der Getreideeinfuhr ließ sich das Handelsbilanzdefizit somit theoretisch um die Hälfte vermindern.“299 Lag der Beginn der Battaglia, „die erste große, mit modernen Propagandamitteln betriebene Mobilisierungskampagne des Faschismus“300, bereits in 296 Vgl. Mariani (1976: 168). 297 Mussolini OO (26: 377): „La battaglia del grano, o signori, significa liberare il popolo italiano dalla schiavitù del pane straniero.“ Eine technisch-sachliche Definition der Battaglia gibt Mussolini 1933 in OO (26: 102). Eine Kurzfassung des damaligen BattagliaMythos findet man bei Todaro (1950). 298 Nützenadel (1998: 285). 299 Ebd. (289). 300 Nützenadel (1997: 149).
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Kapitel 4
den zwanziger Jahren, wurde sie ab 1929 zu einer auch national sichtbaren Veranstaltung. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Bekanntgabe des Gewinners des Concorso per la Vittoria del Grano zentral in Rom, meist im Teatro Argentina (manchmal auch im Teatro Costanzi), im Beisein von Regierung und Würdenträgern abgehalten. Mussolini hielt dort die einschlägigen Reden zur Battaglia und führte die Prämierung der Landwirte durch, die sich mit besonders hohen Ernteerträgen ausgezeichnet hatten. Ab 1927 wurden die Reden im Radio übertragen und erschienen am Tag darauf – wie bei fast allen Reden Mussolinis – in seiner Hauszeitung, dem Il Popolo d’Italia, und in anderen Zeitungen des Landes.301 Aufbau und Struktur der Battaglia Wie der Name der Kampagne leicht zu erkennen gibt, ist die Hauptmetaphorik für dieses Politikgebiet als Kampf konzeptualisiert. Hierin ist Mussolini mit Lenin vergleichbar, der wirtschaftliche Prozesse in kriegerische Termini fasste, was laut Joseph Klein ein Modell mit Langzeitwirkung gewesen sei, „[d]enn bis zum Ende der kommunistischen Herrschaftssysteme bleiben dort Kriegsmetaphern für ökonomische Phänomene gang und gäbe (‚Sieg in der Produktionsschlacht‘, ‚Kampf an der Erntefront‘ u.ä.).“302 Folgende Tabelle zeigt, was aus dem Quellbereich wie übertragen wurde: Quellbereich: Kampf Akteure
Zielbereich: Landwirtschaft ⇒
Mittel
Veliti (römische Soldaten), Heer Capitano/Heerführer Feind (Waffen)
⇒
Ursachen
Sklaverei, Fremdherrschaft
⇒
Handlungen
kämpfen, vorrücken, Position halten, siegen, ab 1931: verteidigen
⇒
301 Vgl. ebd. (153 f.). 302 Klein (2003: 1503).
Landwirte, Techniker, Geistliche Regierung/Mussolini Natur/Ausland Technische Verbesserungen (Methoden), Schutzzölle Abhängigkeit vom Ausland, (Krise) Getreide anbauen, ernten, etc.
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Reden- und Mythenanalyse (fortges.)
Quellbereich: Kampf Ziele
Befreiung von Sklaverei und Fremdherrschaft
Zielbereich: Landwirtschaft ⇒
Steigerung der Getreideprodukte, Unabhängigkeit von ausländischen Importen (sowie verdeckt: Ausgleich des Außenhandelsdefizites)
Die Veranstaltungen in Rom kamen einer Heeresschau gleich („Rapporto militare“303). Das Comitato Permanente del Grano und dessen Vorsitzender Mussolini wurden seit Anfang an als stato maggiore/Heeresleitung und als capitano/Heerführer bezeichnet.304 Die teilnehmenden Landwirte wurden soldati/camerati oder, in Anlehnung an römische Heeresabteilungen, veliti genannt: „die tüchtigen Bauern […], die an vorderster Front kämpfen, haben sich den Namen der Velites verdient, das heißt schnelle Soldaten der italienischen Landwirtschaft“305. Die Gesamtheit aller Bauern bildete ein „immenses, geordnetes, diszipliniertes, treues Heer“306. Lob erteilte Mussolini allen Mitwirkenden, die sich durch Zähigkeit und Durchsetzungskraft hervorgetan hätten und auch im Kampf nicht zurückblickten: L’agricoltura italiana è veramente e particolarmente provata. Come è accaduto alle fanterie rurali, è giunta per prima alla quota ed ha lasciato lungo il cammino morti, feriti, dispersi.307 303 Mussolini OO (24: 299). 304 Vgl. Mussolini OO (21: 407). 305 Mussolini OO (24: 175): „i bravi rurali […] che combattendo nelle prime linee, si sono meritati il nome di vèliti, cioè soldati veloci dell’agricoltura italiana.“ Interessanterweise taucht die romanità in diesem von Mussolini konstruierten Mythos nur durch den Rückgriff auf das Wort Velites auf sowie zur 2000 Jahrfeier des Dichters Vergil, „il poeta dell’Impero e dei campi“, s. Mussolini OO (24: 178). Zu velite vgl. das entsprechende Lemma im VDLI (1994, Vol. 4: 1124). 306 Mussolini OO (24: 178): „[l’] esercito […] immenso, ordinato, disciplinato, fedele“. 307 Ebd. (318). Vgl. ebenso OO (25: 67): „Tutti coloro che hanno direttamente o indirettamente partecipato alla battaglia granaria e agricola dell’anno nono, proprietari, contadini, maestri, tecnici, cattedratici, esperimentatori, sacerdoti, meritano il mio elogio.“ Herv. v. F.S.
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Kapitel 4 Die italienische Landwirtschaft ist wahrlich besonders leidgeprüft. So wie es bei den bäuerlichen Infanterietruppen geschah, hat sie als erste die Quote erreicht und auf dem Wege dahin Tote, Verwundete und Vermisste hinterlassen.
Die Metapher, nämlich Verluste in der Landwirtschaft zu erleiden – was auch immer darunter zu verstehen sei –, wurde mit einem Vergleich zum Weltkrieg unterstützt. Ferner erteilte Mussolini auch den Teilnehmern ein ausdrückliches Lob für ihre Mühen und die verbale Prämierung wurde im Anschluss mit Geldpreisen symbolisch wiederholt, die, wie Mussolini sagte, „den Auszeichnungen auf dem Schlachtfeld entsprechen“308. Damit angesprochen waren auch katholische Priester, die von Anfang an an der Battaglia teilnahmen. „Die Pläne Mussolinis, die Agrarwirtschaft und die traditionelle ländliche Lebenswelt gesellschaftlich aufzuwerten, ließen sich mit den kirchlichen Zielen einer moralisch-religiösen Erneuerung durchaus vereinbaren.“309 Hierin zeichnete sich eine Annäherung an die katholische Kirche schon vor dem Konkordat 1929 ab, was bei philofaschistischen Klerikern durchaus Zuspruch fand. Über die Ursachen für die Battaglia verlor Mussolini kaum ein Wort. Ein einziges Mal sprach er von „den widrigen Gründen für den Anbau“310, denen man beikommen müsse. Vielmehr war der Mythos ein die Ernte abschließendes Resümee und diente der unermüdlichen Mobilisierung. Mussolini stellte jeweils jährlich die Ergebnisse, die die Battaglia erzielte, dar, indem er die Ernte von Region zu Region mit den Zahlen des Vorjahres verglich. Dieser Sachvergleich wurde durch die dynamisierende Metaphorik des Marsches verdeutlicht, den die Soldaten/Landwirte zurücklegten, wenn sie am ‚Kampf‘ teilnahmen. „Wir stehen jetzt bei 14 Doppelzentnern pro Hektar. Wie sind die Regionen marschiert? Nicht alle im selben Tempo.“311 Und weiter: Possiamo gridare vittoria? No. Non ancora. Il raccolto di quest’anno lo chiameremo semplicemente un successo. Non basta, o camerati, conquistare una posizione, bisogna rimanervi. Anzi bisogna partire di lì per ulteriori avanzate.312 308 Mussolini OO (24: 178): „mi piace di continuare la similitudine militare, equivalgono alle medaglie sul campo.“ 309 Nützenadel (1997: 154). 310 Mussolini OO (24: 300): „cause nemiche delle coltivazioni“. 311 Ebd. (175): „[S]iamo ai quattordici quintali per ettaro. Come hanno marciato le regioni? Non tutte con lo stesso ritmo.“ Vgl. ferner: OO (25: 67): „L’agricoltura italiana anche nell’anno nono ha velocemente camminato“ oder OO (26: 102): „Concorso complesso, le cui norme vanno ben studiate, che farà fare un altro balzo avanti a tutta l’agricoltura italiana“, Herv. v. F.S. Der Fortschritt wirkt dynamischer durch den „Sprung nach vorne“ oder durch die Betonung der Schnelligkeit, mit der sich die Bewegung vollziehe. 312 Mussolini OO (24: 175).
Reden- und Mythenanalyse
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Können wir den Sieg verkünden? Nein, noch nicht. Die diesjährige Ernte nennen wir einfach einen Erfolg. Es reicht nicht, o Kameraden, eine Position zu erobern, man muss dort auch ausharren. Besser noch, von dort aus muss man zu weiteren Vorstößen aufbrechen.
Die Ertragssteigerung wird – wie in einem Krieg – als Halten und Vorrücken von Stellungen beschrieben. Jeder Meter bzw. Zentner muss erkämpft und verteidigt werden. In diese Richtung des Ansporns gehen dann auch andere Tropen, die Mussolini nutzte. Da wäre z.B. der Metaphernkomplex zu nennen, der die italienische Landwirtschaft zu einem Kind machte: [L]’agricoltura italiana, e non soltanto l’italiana, è ancora bambina; si va avviando soltanto ora alla scuola, dico alla scuola elementare; grandi progressi ha da compiere ancora ed è lunga la strada che deve portare all’università.313 Die italienische Landwirtschaft, und nicht nur die, ist noch ein Kind; sie macht sich erst jetzt auf den Weg in die Schule, ich meine in die Grundschule. Große Fortschritte muss sie noch machen und der Weg, der sie zur Universität führt, ist noch lang.
Der Beginn einer Sache oder eines Projektes wird mit dem Beginn eines Menschenlebens, mit dem ersten Stadium der Lebensalter konzeptualisiert. Der Weg, der noch bis zum Erfolg zurückgelegt werden müsse, wird als Bildungsweg beschrieben. In derselben Rede wird auch die Vergangenheit für die Zukunft dynamisiert: Vi ho fatto rilevare, due anni or sono, che un giornale francese parlava della possibilità di ottenere cento quintali di grano per ettaro, e tale notizia […] ha dato nuove ali all’entusiasmo di quegli uomini fattivi, scienziati ed agricoltori, i quali, a fatti, dimostrano di non credere all’esistenza di colonne d’Ercole per il progresso agricolo.314 Nun sind es zwei Jahre her, da ich euch wissen lassen habe, dass eine französische Zeitung über die Möglichkeit sprach, hundert Doppeltzentner Weizen pro Hektar zu gewinnen und solch eine Nachricht […] hat dem Enthusiasmus jener tatkräftigen Männer, Wissenschaftler und Bauern neue Flügel verliehen, die in der Tat beweisen, dass sie nicht an die Existenz der Säulen des Herkules für den landwirtschaftlichen Fortschritt glauben.
313 Ebd. (301). 314 Ebd. (300 f.). Herv. v. F.S. Hier sei schon angemerkt, dass die ali in Beziehung zu Dantes Inferno, XXVI, v. 125 gesetzt werden müssen („de remi facemmo ali al folle volo“). Die Interpretation wird dies gleich ausführlicher zeigen.
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Kapitel 4
An dieser Stelle nutzte Mussolini eine Flügel-Metonymie (Flügel-Vogel-Flug). Er sprach den Flug durch die ali an und übertrug ihn in den Kontext der Emotion. Der Enthusiasmus als positives Gefühl liegt nämlich konzeptuell ‚oben‘. Die Emotion konnte das Publikum, zu dem Mussolini sprach, zu neuen Taten anspornen. Tatkräftige Männer scheuten keine Grenze, nicht einmal jene herkulischen Säulen am Ende der Welt. Aus der antiken Mythologie stammend sind diese Säulen zu einem Symbol für Demut, aber auch für Wagemut geworden. In Italien kennt man sie vor allem durch die Göttliche Komödie: „Da war mein Schiff am engen Schlunde dort / Wo Herkuls Säulenpaar gebeut: Nicht weiter!“315 Macht man sich die von Dante erzählte Handlung bewusst, so werden jene als Vorbild dienenden Männer mit der Mannschaft des Odysseus gleichgestellt, für die das Wagnis zur moralischen Pflicht wurde: „Nicht um dem Viehe gleich zu brüten, nein / Um Wissenschaft und Tugend zu erstreben.“316 In diesem Sinne sollten auch die italienischen Bauern den wagemutigen Taten der dantischen compagna picciola folgen. Die Verstetigung eines Mythos in den 30er Jahren und seine Bewertung Im Laufe der Jahre hatte sich die Battaglia als interpretativer Rahmen etabliert, was die vielen Rückverweise Mussolinis erkennen lassen, die man mit dem Begriff der Kalendarisierung fassen kann: „Kameraden Landwirte! Wir sind mit dem Jahr VIII [faschistischer Zeitrechnung] in das fünfte der Getreideschlacht eingetreten.“317 Im Zuge der Weltwirtschaftskrise wurde der Mythos der Battaglia erweitert, denn nun wurde die Landwirtschaft als von Krankheit befallen (1930/31) konzeptualisiert: Le conferenze indette all’uopo sono state finora dei tentativi infecondi. Allora non v’è altro rimedio che comprimere sui costi di produzione[.]318
315 Dante, Inf., XXVI, vv. 107 ff.: „venimmo a quella foce stretta / dov’Ercule segnò li suoi riguardi / acciò che l’uom piú oltre non si metta“. Für die Übers v. Karl Streckfuß. s. Alighieri (18713: 143 f.). 316 Ebd. vv. 119 f.: „fatti non foste per viver come bruti, / ma per seguir virtute e canoscenza“. Für die Übers. ebd. 317 Mussolini OO (24: 173): „Camerati agricoltori! Siamo entrati con l’anno VIII [= 28.10.1929, F.S.] nel quinto anno della battaglia del grano.“ S. ferner: ebd. (299) oder OO (26: 108 f.). Vgl. Desideri (1984: 74). Die Wiederaufnahme und Verweise zeigen als Indiz genommen, dass sich die Metaphorisierung faschistischer Agrarpolitik als Krieg ab einem gewissen Zeitpunkt fest etabliert hatte. Ferner sieht man auch, dass der Rückgriff auf bereits Gesagtes die Beschränktheit des Konzepts offenbart. 318 Mussolini OO (24: 301), Herv. v. F.S.
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Die zu diesem Zweck angesetzten Tagungen waren bislang unfruchtbare Versuche. Folglich gibt es nur ein Heilmittel, nämlich die Produktionskosten zu drücken[.] Un prodotto agricolo la cui situazione minacciava di diventare cronica, cioè il riso […] ha attirato l’attenzione del Governa fascista.319 Ein landwirtschaftliches Erzeugnis, dessen Lage chronisch zu werden drohte, nämlich die des Reises […] hat die Aufmerksamkeit der faschistischen Regierung auf sich gezogen.
Die hier für diesen Themenzusammenhang angeführten Beispiele entsprechen dabei der von Mussolini gewählten Darstellung der Wirtschaftskrise. Ab 1933 wurde die Battaglia innerhalb der generell protektionistischen Ausrichtung der italienischen Wirtschaft in Richtung Verteidigung des Gewonnenen ausbuchstabiert. Er verkündete, das Ziel sei erreicht worden, sprich der Sieg der Getreideschlacht errungen. Nun müsse der Sieg konsolidiert, das heißt verteidigt werden: „Die diesjährige Ernte markiert den Sieg der Getreideschlacht“320. Der Fokus verschob sich somit von der Offensive zur Defensive. „Für die Verteidigung der Preise hat die faschistische Regierung alle möglichen Mittel zur Verfügung gestellt“321. Der Grund hierfür war die Wirtschaftskrise und die damit einhergehende Abschottung vom Welthandel, wie dies u.a. bei vielen Nationen geschah. Zeitgenössisches Presseecho und heutige Einschätzung Die Berichterstattung, besonders diejenige der ausländischen Presse, übernahm nicht ohne Weiteres die Terminologie Mussolinis. Der L’Osservatore Romano war sachlicher und sprach vom „Zuwachs in der italienischen Landwirtschaft und Entwicklung der Getreideproduktion“322. Für die inner319 Mussolini OO (25: 66), Herv. v. F.S. 320 Mussolini OO (26: 98): „Il raccolto di quest’anno segna la vittoria della battaglia del grano“, vgl. auch ebd. (101). 321 Ebd. (100): „Per la difesa dei prezzi il Governo fascista ha posto in essere tutti i mezzi possibili“, vgl. auch ebd. (101) („difesa del mercato granario“). Implizit sind die geschaf fenen Mittel und Maßnahmen im Konzept KRIEG als ‚Waffen‘ aufzufassen. 322 L’Osservatore Romano (9–10.12.1929): L’incremento dell’agricoltura italiana e lo sviluppo della produzione granaria. N° 287, ohne Paginierung. 1931 nimmt zwar der L’Osservatore die Battaglia del grano auf, setzte sie aber in Anführungszeichen und markierte somit die uneigentliche Bedeutung, vgl. ebd. (7–8.12.1931): Il Capo del Governo ha premiato i vincitori della „battaglia del grano“. N° 286, ohne Paginierung. Ein Jahr später war die battaglia nicht mehr markiert. Die Le Temps berichtete in La politique du blé von der Prämierung und nimmt auch den Vergleich der Medaillen auf, Le Temps (10.12.1929): La politique du
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italienischen Zeitungen galt allerdings, dass die Battaglia affirmativ in Szene gesetzt wurde.323 Die deutsche Vossische Zeitung mutmaßte hingegen über die erzielte Wirkung der Battaglia innerhalb der Bevölkerung: Die Getreideschlacht als ‚die Schlacht, der wir den Vorzug geben‘, ist, wie die Resonanz seiner Rede wieder beweist, tief in das Bewußtsein des italienischen Volkes gedrungen. Zu ihrem Teil mögen auch die Feste dazu beigetragen haben, die das faschistische Regime in der Erntezeit als ‚Fest der Traube‘ und ‚Fest des Kornes‘ zu feiern versteht.324
Die Battaglia, innerhalb derer die Ernte erfolgte, war begleitet durch ludische und folkloristische Elemente. Sie wurde auf diese Weise zu einem sozialen Bindeglied für die ländliche Bevölkerung, zu der sich auch Mussolini oft gesellte – was die vielen für die Propaganda geeigneten Posen seines Auftretens, nämlich oberkörperfrei mitten unter den Bauern, bezeugen.325 Wie ist die Battaglia nun aus Sicht der Zeitgenossen und vom Gesichtspunkt der heutigen Forschung aus zu bewerten? Die Kriegsmetaphorik hatte sich mit dem Andauern der Kampagne eingeschliffen und wurde als solche sogar vom eher distanzierten L’Osservatore Romano nicht mehr markiert. Dies kann als Normalisierungsprozess und Durchsetzung des Battaglia-Mythos angesehen werden. Außerdem trug die Battaglia dazu bei, das Außenhandelsdefizit zu verringern, was gleichzeitig die Konsolidierung des italienischen Haushaltes bedeutete. Das eigentliche Ziel, unabhängig von ausländischen
blé. N° 24948, p. 1 f. Auch die Folgeartikel legen mehr Wert auf die eigentliche Benennung der Agrarpolitik: Le Temps (08.12.1931): Le Duce e l’agriculture. N° 25672, p. 2. Oder: Ebd. (23.11.1933): La culture du blé, N° 26384, p. 2. 323 Auszugsweise seien zwei Zeitungstitel pars pro toto erwähnt: Alpenzeitung (10.12.1929): Die Regierung und die Probleme der Landwirtschaft. S.E. Mussolini prämiert die Sieger der Getreideschlacht. Nr. 294, S. 1., ein autorenloser Kommentar in der La Stampa (22.11.1933): Vittoria. Mattino, N° 277, p. 1 hielt fest: „non era soltanto per il grano che l’Italia era tributaria all’estero. Ci sono insomma altre ‚libertà‘ da conquistare, e il popolo italiano sotto la guida del Duce saprà conquistarle tutte.“ Der Kommentar feierte die „grande e miracolosa realizzazione del Regime“. Staatliche Stellen, u.a. Mussolini höchstpersönlich, legten fest, wie über faschistische Politik zu berichten sei, vgl. Kap. 4.1. Dass die aufgeführten Zeitungen den Mythos der Battaglia propagierten, ist der Presselenkung geschuldet. 324 Vossische Zeitung (23.11.1933): Die Getreideschlacht in Italien. Nr. 540, S. 2. Die metaphori schen Termini sind im Artikel durch Markierung gekennzeichnet. 325 Vgl. Cavazza (1997: 249): „La linea vincente non fu quella di ripristinare realmente una cultura tradizionale, ma quella di usare tale cultura come strumento di educazione e di comunicazione nei confronti dei ceti inferiori e, su un piano diverso, come forma di organizzazione del consenso degli intellettuali provinciali.“
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Weizenimporten zu werden, wurde zwar erreicht, aber auf Kosten der Bevölkerung, deren Ernährung sich infolgedessen verschlechterte.326 Die Maßnahmen der Battaglia dienten also nicht dem öffentlich verkündeten Ziel, das sie suggerierten. Infolgedessen muss man zweierlei festhalten: Die Battaglia als Projekt war in Zahlen gemessen erfolgreich. Der Mythos, der hierfür eingesetzt wurde, nämlich Italien vom ausländischen Korn zu befreien, erfüllte seine mobilisierende Funktion. Zweitens ist die Battaglia rückblickend jedoch als irreführend und manipulativ im Sinne einer Verschleierung von hintergründigen Zielen einzustufen. Thematisch überschnitten sich die Bonifica und die Battaglia, waren sie doch beide Kampf-Mythen und bildeten die Vorhut für eine stetig geistige wie echte Militarisierung des Landes. Spätestens 1933/34 kam es dann im Zuge der allgemeinen politischen Verschärfung infolge der Weltwirtschaftskrise zu einer Konvergenz auch in anderen Politikfeldern. Im nächsten Kapitel soll die Wirtschaftskrise im Vordergrund stehen. 4.3.2 Der Korporatismus als Heilmittel in der Weltwirtschaftskrise „Ma cos’è questa crisi?“ Was ist das, diese Krise? Diese so einfache, aber fundamentale Frage stellte der Kabarettist Rodolfo De Angelis in seinem gleichnamigen und damals beliebten Lied im Jahr 1933. Auf diese Frage musste Mussolini im Laufe der Jahre unterschiedliche Antworten geben, denn die Wirtschaftskrise stellte eine große Gefährdung seiner Legitimation und Herrschaft dar. Um die Vielfalt der Konzeptualisierung von Krise aufzuzeigen, wurde ein Querschnitt angelegt, der von 1929 bis 1934 verläuft. In der chronologischen Darstellung kommt es zu Überschneidungen oder Doppelungen der Metaphoriken, aber gerade im Verzicht auf eine systematische Anordnung sieht man deren Persistenz, aber auch deren Wandel im untersuchten Zeitraum.327 Am Ende des Kapitels steht ein Vergleich zum Deutschen Reich, der den Vorteil hat, eventuell unterschiedliche Diskursstrategien zum Thema Krise herausstellen zu können. Wenn hier von Krise gesprochen wird, dann soll damit ein diskursiv bearbeitetes Ereignis, nämlich die Weltwirtschaftskrise von 1929, gemeint 326 Vgl. Nützenadel (1997: 422 f.): „Die Funktion der Landwirtschaft als Devisenquelle hatte allerdings zur Folge, daß immer weniger Agrarprodukte für den inländischen Verbrauch zur Verfügung standen. Zur sozialen Kehrseite der Autarkiepolitik gehörte daher ein deutlicher Rückgang des Nahrungsmittelkonsums in den dreißiger Jahren.“ 327 Für dieses Kapitel wurde vor allem auf die Studien von Drommler/Kuck (2013), Wengeler (2015) und Klammer (2019) zurückgegriffen. Einen breiten Überblick über das Thema Krise geben die Sammelbände von Grunwald/Pfister (2007) sowie Meyer/Patzel-Mattern/ Schenk (2013).
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sein.328 Politische und gesellschaftliche Bedeutungen einer Krise werden erst im Diskurs erzeugt. Hier wird ausgehandelt, ob eine Krise vorliegt und wie sie einzuschätzen sei.329 Selbstverständlich bedingen sich diskursive und außerdiskursive Elemente wechselseitig. 4.3.2.1 Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 Nachdem die Spekulationsblase auf dem amerikanischen Markt 1929 geplatzt war, wurden weltweite Investitionen zurückgenommen und der internationale Handel kam zum Erliegen. Auswirkungen der Krise waren Produktions- und Konsumrückgang sowie Massenarbeitslosigkeit. Italien stand im Vergleich zu anderen Staaten besser da, war aber schon davor wirtschaftlich angeschlagen. Erst ab 1930 wurde die Krise von Mussolini in seinen Reden thematisiert. Das erste Mal vor den faschistischen Podestà (Bürgermeistern) am 30. Januar 1930. Er nutzte den Vergleich zu anderen Ländern, um klar zu machen, dass die Krise alle betreffe und sie in Italien weniger schwerwiegend sei als anderswo. Dieses relativierende Vorgehen wird er für weitere Reden beibehalten. Gestützt wurde dies im vorliegenden Fall mit einem literarischen Motiv aus dem Decamerone von Boccaccio: „es ist höchst lächerlich, zu glauben, dass wenn ganz Europa und die ganze Welt sich in einer Krise befinden, Italien dann ein Schlaraffenland sei“330. 328 Eine begriffsgeschichtliche Definition der Krise, wie sie z.B. Koselleck (1982) vorgenommen hat, ist für die Untersuchung nicht minder relevant. Koselleck zeichnet die drei Herkunftsbereiche des Begriffes nach (Medizin, Gerichtswesen, Religion). Im 17. Jahrhundert sei das Wort Krise erstmalig durch Übertragung im politischen Bereich verwendet worden. Ab dem 19. Jahrhundert sei Krise zu einem Schlagwort geworden, das seinen Eingang in die Wirtschaft über die Politik gefunden habe. „‚Krise‘ wird zur strukturellen Signatur der Neuzeit“, ebd. (627). 329 Vgl. Nünning (2013: 128): „[W]eder Krisen noch Katastrophen [sind] etwas objektiv Gegebenes oder Naturwüchsiges […]. Vielmehr sind sie einerseits als das Ergebnis von Selektion, Abstraktion und Auszeichnung, mithin als diskursiv erzeugte Konstrukte, zu begreifen. Andererseits handelt es sich offensichtlich nicht um völlig willkürliche Zuschreibungen, da eine relativ ereignisarme Situation, die als ‚Krise‘ diagnostiziert wird, ebenso Voraussetzungen erfüllen muss wie ein ereignishaftes Geschehen, das als Katastrophe wahrgenommen wird.“ 330 Mussolini OO (24: 190): „è supremamente ridicolo credere che quando tutto l’Europa e tutto il mondo sono in crisi, l’Italia sia il felice paese di Bengodi.“ Das Motiv des paese di Bengodi stammt aus dem Decamerone von Boccaccio (1914: 370, 8. Tag, 3. Novelle). An anderer Stelle betonte er: „né cerchiamo in questa constatazione alibi o giustificazioni di sorta. Coloro che credono ai paradisi altrui possono liberamente andare a vedere, a sentire, a provare“, Mussolini OO (24: 259). Ein weiteres Beispiel hierfür ist der schon in Kap. 4.1 angeführte Ideal vs. Materie-Topos, der zur Relativierung eingesetzt wurde, vgl. Mussolini OO (24: 233).
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Darüber hinaus waren die Presseanweisungen, wie über die Krise zu berichten sei, klar: „Man darf dem Ausland nicht den Eindruck von schwerem Elend vermitteln, das es nicht gibt.“331 Ausweichen, totschweigen und nur die positiven Dinge hervorheben – das war die geläufige Gangart, der Krise zu Beginn zu begegnen. Krankheits- und Schifffahrtsmetaphorik in den Jahren von 1930 bis 1932 Mussolini beschrieb die Krise zuerst als schwerwiegendes Ereignis, das von außen auf Italien hereinbreche.332 Der Beginn der Weltwirtschaftskrise wird von Mussolini mit dem Börsencrash gleichgesetzt. Das Krisen-Narrativ wurde also durch eine Katastrophe eröffnet. Zur Verdeutlichung der Auswirkungen griffen Politiker gerne auf das Bildfeld der Schifffahrt und des Unwetters oder aber auf andere destruktive Erfahrungen zurück. In der wichtigen Wirtschaftsrede vom 1. Oktober 1930, die als zentrale Frage die Dauer der Krise zu beantworten suchte, schilderte Mussolini den Beginn der Krise als Explosion: „Der Beginn des – man könnte sagen hochexplosiven – Ausbruchs der amerikanischen Krise ist in der Tat der Oktober 1929“333. Von den Ereignissen quasi überrannt, blieb Mussolini nicht viel Handlungs- und Darstellungsspielraum. Gino Olivetti, der Sekretär der Confindustria, schrieb in seinem Kommentar Orientamento, Italien könne den Auswirkungen jenes ‚Zyklons‘ und ‚Tiefdruckgebietes‘, das die Wirtschaft erfasst habe, nicht entkommen. Zeitgleich wurde noch ein weiteres Konzept angewandt, indem die Wirtschaft zu einem Organismus oder einer Person gemacht wurde. Der wirtschaftliche Organismus, führte Olivetti weiter aus, sei ‚vergiftet‘ worden und die Krise diene der Selektion, also dem Ausscheiden der Schwachen und der Förderung 331 So in den Direttive per la stampa, Abschnitt 5 zu lesen. Sie wurden 1931 von Gaetano Polverelli erstellt, zit. n. Cannistraro (1975: 420). Colarizi (1991: 94) schreibt dazu treffend: „Non importa che tutti siano perfettamente a conoscenza del fenomeno della disoccupazione; vale l’adagio popolare ‚occhio non vede, cuore non sente‘.“ Was nicht ausgesprochen werde, das gebe es nicht, so die dahinterstehende naive Logik. Die Presse konnte allerdings nicht komplett kontrolliert werden. Wer konnte, beschaffte sich seine Informationen über ausländische Zeitungen, vgl. Prezzolini (19782: 525). 332 Vgl. Nünning (2013: 126 f.): Krise zeichne sich durch eine Latenzphase aus, die gerade nicht mit einem konkreten, einschneidenden Ereignis beginne und paradoxerweise ein NichtEreignis darstelle. Im Gegensatz dazu stehe die Katastrophe, die plötzlich und abrupt hereinbreche, rein destruktiv sei und nur einen sehr engen Handlungsspielraum biete. Krise sei – im Gegensatz zur Katastrophe – viel ambivalenter, das heißt offen im Ausgang. Sie sei Gefahr und Chance zugleich und biete somit einen größeren Handlungsspielraum. 333 Mussolini OO (24: 259): „È infatti dell’ottobre del ’29 lo scoppio – potrebbe dirsi ad alto esplosivo – della crisi americana.“
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Kapitel 4
der Starken, und damit einer strengeren Disziplinierung des wirtschaftlichen Lebens.334 Die Regierung reagierte erst einmal und wurde helfend tätig, was durch die Krankheitsmetaphorik zum Ausdruck kam, die Mussolini benutzte. Die Grundstruktur dieses kleinen Mythos lässt sich aus der Tabelle entnehmen: Quellbereich: Medizin, Organisches
Zielbereich: Wirtschafts- und Finanzpolitik
Akteure
Arzt, Patient
⇒
Mussolini, ital. Wirtschaft
Mittel
Medizin/Heilmittel, Selbstheilungskräfte der Natur, Sanatorium Erst akute, dann chronische Krankheit: Vergiftung, Fieber, Anämie (Blutmangel), Blutstau Anamnese, Diagnose, pflegen im Krankenhaus, kontrollieren, vorbeugen, heilen
⇒
Abwarten, finanzielle Hilfe, Verstaatlichung
⇒
Börsencrash, Ungleichgewicht zw. Angebot und Nachfrage, Protektionismus
⇒
Über Problem reden und es definieren, Verstaatlichung von Banken und Schlüsselindustrien (Sofindit, Istituto di liquidazione), (institutionalisierte) Bankenaufsicht Ende der Rezession, wirtschaftlicher Aufschwung
Ursachen
Handlungen
Ziel
Gesundheit
⇒
Die wirtschaftliche Lage der Nation wurde zu einem kranken Patienten meta phorisiert, das Regime und Mussolini waren der behandelnde Arzt. Damit einher ging auch eine Kompetenzzuschreibung, denn nur der behandelnde ‚Arzt‘ Mussolini wisse, wie weiter vorzugehen sei: Il Governo fascista non è insensibile o estraneo alla situazione di disagio, come l’antifascismo vociferatore e vile va insinuando. Esso ha il polso della nazione nelle mani!335
334 Vgl. La Stampa (02.10.1930): Orientamento. Mattino, N° 234, p. 1. 335 Mussolini OO (24: 260). Zu avere il polso nelle mani, vgl. die Phraseologismen bei Casadei (1996: 282, 288).
Reden- und Mythenanalyse
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Die faschistische Regierung ist nicht gefühllos oder unbeteiligt gegenüber den Missständen, wie es der gerüchtestreuende und feige Antifaschismus insinuiert. Sie hat den Puls der Nation in den Händen!
Das Pulsfühlen kann als besondere Nähe gedeutet werden, weist aber auch auf die Praxis des Arztes hin, der damit den Herzschlag und somit die Vitalität des Patienten kontrolliert und prüft. Ferner gab Mussolini zu verstehen, dass der Staat alles im Griff habe, was einen zuversichtlichen, aber auch drohenden Unterton mitschwingen lässt. Der Staat könne nur unterstützend helfen, das System müsse sich von allein heilen. „Es bleibt nur die Möglichkeit, die Kräfte der Natur mit Intelligenz und Timing, zu kontrollieren und anzuregen“336. Mussolini hielt sich vorerst an das Sprichwort medicus curat, natura sanat. Der Arzt unterstütze nur die Selbstheilungskräften der Natur bzw. der Wirtschaft. Mussolinis Wirtschaftsverständnis zu diesem Zeitpunkt schwankte noch zwischen einem dirigistischen und liberalen.337 Seinem Publikum legte er den Eingriff des Staates in rhetorischen Fragen nahe: Domando: poteva lo Stato disinteressarsi della sorte della Cosulich, società di navigazione e cantiere, dal momento che la Cosulich è fattore essenziale dell’economia della Venezia Giulia? Poteva lo Stato imitare il non lodevole gesto di Ponzio Pilato di fronte alle Cotoniere meridionali, una grande industria napoletana che assicura il lavoro a circa diecimila operai?338 Ich frage: Konnte der Staat gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Cosulich sein, einer Gesellschaft für Schifffahrt und -bau, da die Cosulich ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor der Provinz Venezia Giulia ist? Konnte der Staat die tadelnswerte Geste des Pontius Pilatus angesichts der süditalienischen Baumwollindustrie nachahmen, einer neapolitanische Großindustrie, die ca. zehntausend Werktätigen Arbeit sichert?
An diesem Beispiel erkennt man, wie selbstverständlich Mussolini auf christliche Bildsprache zurückgriff. Allerdings ist sie in einer vom Katholizismus 336 Mussolini OO (24: 324): „Non v’è che da sorvegliare ed eccitare le forze della natura con intelligenza e tempestività.“ 337 Vgl. Mussolini OO (24: 259): „Va da sé che il Governo non assiste, da spettatore impassibile, allo svolgersi del fenomeno, né fa soltanto assegnamento sulle forze equilibratrici e riparatrici della natura. Interviene come è suo diritto e dovere.“ 338 Mussolini OO (24: 259), Herv. v. F.S. Die Stelle zu Pilatus findet sich in Mt. 27, 24. Sprichwörtlich geworden ist sie in der Formel: „lavarsi le mani come Pilato“. Im GDLI (1995, Vol. 13: 474) wird unter dem zweiten Lemma Pilato angegeben: „Persona che, per vigliaccheria o per desiderio del quieto vivere, rifiuta di assumere le responsabilità inerenti al proprio grado“. Davon abgeleitet auch: pilateggiare oder ponzio-pilateggiare.
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Kapitel 4
geprägten Kultur nichts Außergewöhnliches. In Anlehnung an die Episode aus der Passionsgeschichte dürfe der Staat sich nicht in Unparteilichkeit wie Pontius Pilatus üben. Im Umkehrschluss hieß das, der Öffentlichkeit verstehen zu geben, dass die Regierung entschlossen handeln werde. Andererseits war Mussolini im Jahr 1930 noch vorsichtig, was die staatlichen Eingriffe anging. Er warnte noch ausdrücklich vor einem Übermaß an wirtschaftlichem Protektionismus: Accade per i dazi doganali, come per certe medicine, che, oltre una certa dose, diventano veleni, come un veleno può giovare da medicina preso sino a certe dosi[.]339 Bei den Zollsätzen kommt es vor, dass sie – jenseits einer gewissen Dosis – zu Gift werden, wie auch ein Gift in gewissen Dosen als Medizin eingenommen, nutzen kann[.]
Ellwanger kommentierte 1939 den Einsatz von Arzt-Metaphern und -Vergleichen folgendermaßen: „Überhaupt sollen diese ‚Medizinen‘ klug und mit Masshaltung angewendet werden, denn das sinnvolle Ab- und Zugeben ist ein wichtiges Moment einer weisen Staatskunst.“340 Die Metaphorisierung ist zwar schon damals festgestellt worden, die Deutungen derselben können jedoch verschieden ausfallen. Aus der ‚ärztlichen Vorsicht‘ kann man auch Unsicherheit angesichts der offenen Krisensituation herauslesen. Der Diktator griff auf den ursprünglich medizinischen Sinn des Wortes Krisis zurück, nämlich den des entscheidenden Punktes zwischen zwei gleichwahrscheinlichen Alternativen: zwischen Leben oder Tod. Das Wort Krisis war dabei schon längst in den italienischen Sprachgebrauch eingegangen. Im Wörterbuch von Tommaseo/Bellini ist zu lesen: „Die Mod[ernen] missbrauchen diesen medizinischen Ausdruck, wie auch andere Rückgriffe aus der Humanmedizin.“341 339 Mussolini OO (24: 259). Vgl. ebd. OO (25: 6): „Questa politica delle riduzioni di salari e stipendi, per influire sui prezzi al minuto, che noi abbiamo praticato per i primi, è stata adottata in quasi tutta l’Europa. Ma anche qui si è, oramai, arrivati al limite oltre il quale non si può andare, senza correre il pericolo che l’antidoto diventi, a sua volta, veleno.“ Herv. v. F.S. Auch hier werden die Maßnahmen als Medizin aufgefasst, die moderat eingesetzt werden müssten, um nicht zu schädigen. 340 Ellwanger (1939: 109). Zur unterschiedlichen Nutzung der Metaphorik später einige Bemerkungen. 341 Tommaseo/Bellini (1865, Vol. 1, 2: 1825), Kurs. i. Orig. In den verschiedenen Auflagen des Vocabolario degli Accademici della Crusca (VdAC) findet sich das Lemma crisi mit übertragendem Sinn erst ab der fünften (unvollständig gebliebenen) Edition (18875, Vol. 3: 995). Im Vocabolario della lingua italiana von Giuseppe Manuzzi (1833: 859) ist die crisi noch immer ein medizinischer Fachbegriff. Man kann nach dieser Stichprobe davon
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Dies muss man also in Rechnung stellen, wenn Mussolini von einer Krise als Krankheit verstanden sprach. Das Deutungsmuster war sprachlich etabliert und flexibel anwendbar: A che punto siamo? Quanto durerà? È la domanda che gli uomini delle trincee si facevano nel passare degli anni. La stessa domanda viene avanzata da coloro che da tre anni ormai tengono duro nelle trincee dell’economia italiana. Quello che io sto per dirvi non dovete interpretarlo in senso assoluto, ma come un punto di vista, risultato di un esame diligente e continuativo della situazione. […] In altri termini, la crisi ha toccato proprio in questi giorni, coi nuovi tracolli americani, la sua acme, dopo di che l’alternativa è semplice: o la fine o la ripresa. Ma poiché né l’economia mondiale né l’umanità possono perire, è la ripresa che si verificherà.342 An welchem Punkt sind wir? Wie lange wird es dauern? Dies ist die Frage, die sich die Männer im Laufe der Jahre in den Schützengräben stellten. Dieselbe Frage wird von jenen vorgebracht, die seit nunmehr drei Jahren in den Schützengräben der italienischen Wirtschaft die Stellung halten. Das, was ich euch gleich sagen werde, dürft ihr nicht im absoluten Sinn deuten, sondern als eine Sichtweise, die aus einer sogfältigen und kontinuierlichen Prüfung der Situation entspringt. […] Anders gesagt, die Krise hat genau in diesen Tagen mit den neuen Zusammenbrüchen in Amerika ihre Akme berührt, danach ist die Alternative einfach: entweder das Ende oder der Aufschwung. Weil aber weder die Weltwirtschaft noch die Menschheit untergehen kann, wird sich der Aufschwung bewahrheiten.
Um das Ausmaß der Krise begreiflich zu machen, parallelisierte er die Erfahrung des Ersten Weltkrieges mit dem wirtschaftlichen Ungemach. Er sprach sogar von den Schützengräben der italienischen Wirtschaft, d.h. die Arbeiter stünden in einem Krieg wie die Soldaten damals. Ferner warnte Mussolini davor, seine Aussagen überzubewerten, gab dem Publikum aber zugleich Zuversicht auf Besserung. Die zwei Alternativen nach dem Höhepunkt der
ausgehen, dass sich der übertragene Gebrauch des Begriffes – obwohl es Belege seiner metaphorischen Nutzung schon im 16. Jahrhundert gab – erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert hatte. Einordnend dazu Goeze/Strobel (2012: 512): „In England bereits im 17. Jh., in Kontinentaleuropa spätestens im 18. Jh. und in Deutschland erst nach der Französischen Revolution […] wird die antike metaphorische Auffassung vom ‚Gemeinwesen als Körper‘ reaktiviert, die es ermöglicht, den krisis-Gedanken auch auf gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Vorgänge zu übertragen, bei denen – wie bei einem krisengeschüttelten, fieberhaften Leib – ein Wendepunkt der Veränderung zum Besseren oder Schlechteren erreicht ist.“ Kurs. i. Orig. Vgl. auch Koselleck (1982: 620–624), der für das Deutsche eine ähnlich späte Nutzung wie im Italienischen feststellen konnte. 342 Mussolini OO (24: 260 f.).
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Kapitel 4
Erkrankung (Akme)343 werden als Dilemma eingeführt. Dass eine wirtschaftliche Besserung eintreten werde, klingt zwar optimistisch, aber wenig fundiert. Es scheint so, dass Mussolini zu diesem Zeitpunkt noch Vertrauen in die selbstausgleichenden Kräfte des Wirtschaftssystems hatte. Auch die Metaphorik der Schifffahrt kam zum Einsatz: Die wirtschaftlich schwer zu überblickende Lage wurde als ‚Schiff auf stürmischer See‘ konzeptualisiert. Quellbereich: Schifffahrt
Zielbereich: Wirtschaftspolitik
Akteure
Steuermann, Mannschaft
⇒
Mittel
Kompetenz des Steuermanns, Öl, Schiff
⇒
Ursachen
Sturm, Unwetter, Schiffbruch, Haie (pescecanismo) Kurs halten/ändern, Öl ins Wasser gießen, retten – untergehen lassen Hafen
⇒
Handlungen
Ziel
⇒
⇒
Mussolini, ital. Wirtschaft/ Nation Reden/Wissen Mussolinis, Übernahme von Kredit verpflichtungen Dritter Börsencrash, Börsenspekulanten Situation beobachten, Intervention oder Indifferenz des Staates Bessere wirtschaftliche Lage
Die Krankheits- und Schifffahrtsmetaphoriken ergänzten sich und traten oft verbunden miteinander auf: Tutti i febbricitanti, i malati, i naufraghi gli [= al governo fascista, F.S.] lanciano il loro S.O.S., ma non tutti possono essere salvati; alcuni meritano anzi di colare a picco.344 Alle Fieberkranken und Schiffbrüchigen schmettern ihr [= der faschistischen Regierung] ihr S.O.S. entgegen, aber nicht alle können gerettet werden; manche verdienen es hingegen unterzugehen. 343 Anstelle von Akme hätte Mussolini auch auf culmine, apice, cima, punta zurückgreifen können, die einen Höhepunkt einer Sache oder Situation ausdrücken. Bezeichnend ist aber die Wortwahl acme, die nicht nur den Moment höchsten Glanzes einer Kultur etc., sondern in der Medizin auch den Gipfel der Fiberkurve benennt und sich folglich in das Gros der Krankheits-Metaphorik einfügt. 344 Mussolini OO (24: 260).
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Die Wirtschaftskrise wurde nicht nur mit der Krankheit verblendet (Fieberkranke), sondern auch mit dem Schiffbruch, denn die notleidenden Industrien seien von einem heftigen ‚Sturm‘ überrascht worden und bäten nun dringend um Hilfe. Die italienische Wirtschaft habe viele Versehrte vorzuweisen, aber nicht allen dürfe der Staat helfen, denn er „weigert sich energisch, den Toten Sauerstoff zu geben“345. Die Krise wurde so zur Selektion von nicht mehr lebensfähigen Wirtschaftsbereichen genutzt, die Verweigerung der ‚ärztlichen Behandlung‘ war von einer sozialdarwinistischen Warte aus gesehen ein natürliches Mittel zur Auslese des Stärkeren. Ähnlich hatte der Sekretär der Confindustria Olivetti argumentiert. Ausgeschlossen von diesem Rettungsprozess wollte Mussolini „die echten Cagliostros der Wirtschaftswelt“346 wissen, die er als antifaschistische Spe kulanten beschrieb. Jene hätten sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichert. Die Spekulanten benannte Mussolini mit der Antonomasie Cagliostro und griff damit auf Alessandro Cagliostro, einen Magier und Betrüger aus dem 18. Jahrhundert, zurück. Damit schürte er Empörung gegenüber der Spekulation, verkannte aber zugleich ihren genuinen Wert, denn sie war „eine notwendige Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu wirtschaftlicher Entwicklung […] [kam] und nicht zu einer Wiederholung des bereits bekannten.“347 Die Urheber für die Krise wurden nach außen projiziert, denn die Antifaschisten (auch fuoriusciti genannt) wurden mit dem Ausland gleichgesetzt.348 Auf seiner Toskana-Rundreise im Jahr 1930 griff er das Motiv der Krise, die von außen komme, mehrmals auf und beschwor die Geschlossenheit Italiens gegen die ‚Feinde von außen‘.349 Dieser so hergestellte „Konflikt zwischen der 345 Ebd. (191): „rifiutandosi energicamente di dare ossigeno ai morti“. 346 Ebd. (260): „[v]eri Cagliostro del mondo economico“. Hierbei handelt es sich um eine Vossianische Antonomasie: „Synekdoche species pro genere (Einzelnes für Gattung)“, s. Drews (1992: 753), Kurs. i. Orig. Der Name von A. Cagliostro wird zur Bezeichnung für alle Betrüger erweitert. Kurz zuvor sprach Mussolini noch von den „acrobati dell’industria e della finanza“. Für diese Personen sei das Handeln ein Spiel, ein Jonglieren, ein Selbstzweck. 347 Plumpe (2010: 12) spricht von „populären Vorurteilen“, unter denen die Spekulation begraben sei. S. auch Drommler/Kuck (2013: 229), denen im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise 2008 „das Bild von Finanzakteuren als eine Art Zauberlehrlinge“ aufgefallen ist. 348 Vgl. Mussolini OO (24: 281): „L’antifascismo non è morto, l’opposizione esiste ancora. Soltanto il terreno della lotta si è dilatato: ieri era l’Italia, oggi è il mondo“. 349 Hier z.B. eine unverhüllte Drohung nach außen bei Mussolini OO (24: 227 f.): „non siamo ansiosi di avventure precipitate, ma se qualcuno attentasse alla nostra indipendenza o al nostro avvenire, esso non sa ancora a quale temperatura io porterei tutto il popolo italiano! […] Allora, tutto il popolo, vecchi, bambini, contadini, operai, armati ed inermi, sarebbe una massa umana e più che una massa umana un bolide, che potrebbe essere
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eigenen Gruppe und einem äußeren Feind […] sorgt in einer von Ungewißheit geprägten, unübersichtlichen Situation für Orientierung und stellt klar, wer auf der (moralisch) richtigen und wer auf der falschen Seite steht“350. An diesen Appell schlossen sich Aufrufe zur Opferbereitschaft und zum Lohnverzicht an, um Italiens Wettbewerbsfähigkeit zu sichern: „Sie [= die Angestellten des Staates, F.S.] müssen die Ersten sein, die die notwenigen Opfer erbringen“351. Gegenüber den Arbeitern müsse man den Verzicht ebenso einfordern: „die Pflicht des Faschisten ist es zu sagen: ‚Erbringt dieses Opfer‘“352. Und Mussolini selbst nahm sich, so behauptete er, von dieser Pflicht nicht aus.353 Das Wort sacrificio/sacrifizio (Opfer) ist in den Reden der Wirtschaftskrise zwar präsent, aber an sich kein ureigentliches faschistisches Lexem. Das macht ein Blick auf das Deutsche Reich in derselben Situation klar: „Nicht nur in Weimar, sondern in allen drei Krisen [1929–1933, 1966/67, 1973–76] kamen unmittelbar ‚Opfer‘-Formulierungen auf. Sie dienten nicht allein der Beschreibung, sondern eigneten sich angesichts des religiösen Restbestandes
350 351 352 353
scagliato contro chiunque e dovunque.“ Herv. v. F.S. Das menschliche Aufgebot, das für den Faschismus dann kämpfen sollte, wird hier 1. zu einer Masse, 2. zu einem Meteor, einem Stern, der gegen die Feinde geschleudert werden könne. Die innere Einheit wird beispielsweise als implizite Erzeuger-Kind-Analogie formuliert: „moltitudine fremente, nella quale il fascismo è diventato carne della sua carne, sangue del suo sangue“, s. ebd. (234), Herv. v. F.S. So wie das Kind ein Teil der Mutter ist, so sei die Menge ein Teil des Faschismus. Beide bestünden aus derselben Substanz. Dies ist eine Anspielung auf 1. Gen. 2, 23. Goeze/Strobel (2012: 527). Sie nennen dieses auslagernde Vorgehen Externalisierung. Reden, die damit arbeiten, ordnen sie der Epideixis zu. In ihnen wird das kollektive Selbstbild angesichts einer Krise aufrechterhalten. Mussolini OO (24: 316): „Essi [= gli impiegati dello Stato, F.S.] devono essere i primi a fare i necessari sacrifici“. Mussolini OO (26: 251): „il dovere del fascista è quello di dire: ‚Fate questo sacrifizio‘“. Vgl. ebd. (244). Weitere Stellen finden sich bei Mussolini OO (27: 159 und 246). Dort geht es um die Sanktionen des Völkerbundes gegen Italien: „Alle sanzioni economiche opporremo la nostra disciplina, la nostra sobrietà, il nostro spirito di sacrificio“ und „evento che impone i più severi sacrifici alla nazione“. Im selben Zusammenhang wird die Sammlung der Eheringe (giornata della fede) als sacrificio bezeichnet, s. ebd. (138). Ansonsten wurde sacrificio von Mussolini mehr im Sinne von Heldentot oder Einsatz verwandt. Susanne Kolb schrieb diesbezüglich: „Offensichtlich wurde damals mit dem Wort sacrificio sehr großzügig umgegangen, denn damit waren nicht nur Opfer im engeren Sinne gemeint, sondern auch Entbehrungen jeglicher Art. Diese semantische Erweiterung wird von P[anzini] erwähnt: ‚nel senso di privarsi di qualcosa = estensione non bella presa dal fr., ma anche l’uso antico tosc., quindi tollerato‘ (1927, 1931 u. 1935).“ Kolb (1990: 168), Kurs. i. Orig.
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im ‚Opfer‘-Begriff auch, um individuellen Verzicht als Mittel zur Krisenüberwindung zu preisen.“354 Im Jahr 1931 hatte sich die Lage kurzzeitig wieder gebessert. Mussolini sprach in diesem Zusammenhang vom „günstigeren politischen Klima“355, das dazu beitrüge, erkennbare „Symptome der Besserung“ auszumachen. Politische Verhältnisse wurden oft mit der Wetter- oder Himmel-Metaphorik kenntlich gemacht,356 Näheres hierzu in Kap. 4.3.3.4. Um die anfängliche, aber allmähliche Erholung zu verbildlichen, griff Mussolini auf die kleine Gruppe von Wachleuten zurück, die schnell sind und überall auftauchen können. Er benannte dies als „Patrouillenbewegungen“357, die er einer noch trägen Masse gegenüberstellte. Den Symptomen und dem Spähtrupp (pattuglia di esplorazione) ist eigen, dass sie relativ klein sind und zur Erschließung eines größeren Ganzen dienen bzw. auf es verweisen. Daran zeigt sich der moderate und vorsichtige Ton, den Mussolini hier anschlug. Sicher war allerdings eine Sache: Wer die notwendigen Opfer erbrachte, musste Anerkennung erhalten. Mussolini lobte den Durchhaltewillen aller Italiener, die dem ‚Sturm‘ Paroli geboten hätten: In questa pagina, accanto ai fatti, alle leggi, agli interventi di varia specie, ci saranno anche i nomi, e, ad onore dell’Italia fascista, molti nomi. Quelli di coloro, agricoltori, industriali, banchieri, commercianti, navigatori, che hanno tenuto duro, serrando i denti, dinanzi alla tempesta e non hanno mai disperato, perché non si erano mai dati al gioco d’azzardo ed erano stati previdenti, nei tempi della fortuna.358
354 Klammer (2019: 438). 355 Mussolini OO (25: 2): „clima politico più favorevole“. 356 Ein Beispiel sei hier dennoch angebracht: „Die Wolken der Weltwirtschaftskrise von 1930 haben ihre Entwicklung verlangsamt, aber der neue Geist, der sich in Italien verbreitet, und die stetige Entwicklung der korporativen Ordnung haben bewirkt, daß trotz der ununterbrochenen auftauchenden neuen, immer komplizierteren und immer dinglicheren Probleme das Gefühl der Sicherheit der Gegenwart gegenüber und das Vertrauen auf die Zukunft nicht verlorenging.“ Travaglini (1934: 86), Herv. v. F.S. 357 Mussolini OO (25, 5): „movimenti di pattuglia“. Dann wiederholte er 1934 seine Prognose der Besserung (OO (26: 258)): „Ora che mi avvio alla conclusione, voi mi domanderete: a che punto siamo? Questa crisi si risolve, si complica, peggiora? Ci sono evidentemente dei sintomi favorevoli. C’è una diminuzione di fallimenti, di protesti cambiari, un aumento abbastanza considerevole di taluni rami di produzione.“ Herv. v. F.S. Auch hier werden bestimmte Entwicklungen als oberflächliche Zeichen, im medizinischen Sinne als Symptome, für eine grundlegende Besserung gedeutet. 358 Mussolini OO (25: 6). Bei diesem Lob mag auch das Sprichwort: Chi la dura, la vince (Die Beharrlichkeit trägt den Sieg davon) hereinspielen, vgl. Krieg/Grillo (2018: 37).
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Kapitel 4 Auf jener Seite [der Geschichte] werden neben den Fakten, den Gesetzen, den Eingriffen unterschiedlichster Art, auch die Namen verzeichnet sein, und dies werden – zur Ehre des faschistischen Italiens – viele Namen sein. Namen der Bauern, der Industriellen, der Bankiers, der Händler, der Schiffer, die widerstanden haben, indem sie angesichts des Sturmes die Zähne zusammengebissen und nie die Hoffnung aufgegeben haben, weil sie sich nie dem Glücksspiel hingaben und sie in besseren Zeiten vorausschauend gewesen waren.
Widerstand zu leisten bedeutet in diesem Fall, die Zähne wie bei großem physischen Schmerz zusammenzupressen (serrando i denti), sich also zu verhärten. Unabdingbare Voraussetzung hierfür seien, so Mussolini, ein untadeliger Lebenswandel – ein Lob ex negativo – und die Klugheit zur Vorsorge. Der letzte Satz erinnert zusätzlich an Äsops Fabel Die Ameise und der Mistkäfer, in der die fleißige Ameise sich für schlechtere Zeiten rüstet, während der Mistkäfer ein unbedarftes Leben führt. Nur wer sich klugerweise vorbereitet, übersteht auch jede Not, so die Moral von der Geschichte.359 Rückblickend beschrieb Mussolini die Wirtschaftskrise im Jahr 1931 wiederum mit einer Metaphorik aus der Seefahrt: Ma molto di più avremmo fatto se, alla fine del 1929, quando la nostra nave era già in vista del porto, non si fosse scatenata la bufera mondiale che ci ha costretti a rallentare il ritmo della nostra fatica. Quali sono le direttive in fatto di politica mondiale della rivoluzione fascista, sulla soglia dell’anno decimo?360 Aber Vieles mehr hätten wir unternommen, wenn nicht Ende 1929, da unser Schiff bereits in Sichtweite des Hafens war, der weltweite Sturm losgebrochen wäre, der uns zwang, den Rhythmus unserer Mühen zu verlangsamen. Was sind nun die Richtlinien der faschistischen Revolution hinsichtlich der Weltpolitik an der Schwelle zum Jahr X?
Den Staat mit einem Schiff gleichzusetzen, ist eine im europäischen Denken verankerte alte Metapher, die man schon bei Platon findet.361 Die Verbindung 359 Vgl. Aisop. Fabel 112. 360 Mussolini OO (25: 49). Richtlinien werden von Mussolini auch als bussola (Kompass) bezeichnet, vgl. Mussolini OO (25: 143). 361 Vgl. Plat. pol. 487e–489e. Münkler (1994: 129 f.) zu Platons Ausdeutung der Metapher: „Der Steuermann muß den Kurs bestimmen, und keiner weiß besser als der Arzt, was dem Patienten zuträglich ist – um zwei der wichtigsten Metaphern Platos zu zitieren. Freilich: daß Steuerleute und nicht Leichtmatrosen das Schiff führen und Ärzte, nicht Quacksalber, die Patienten behandeln, war für Platon selbstverständlich. […] Unmerklich fast hat Platons Metaphorisierung des wahren Politikers als kompetenter Steuermann die bürgerliche Einheit, die politische Gemeinde der Freien und Gleichen aufgelöst: Eine
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der Bereiche Staat und Schifffahrt kommt durch die Gemeinsamkeit zustande, dass beide eine organisierte Gemeinschaft von Personen sind, die durch den gleichen Ort verbunden auf ein und dasselbe Ziel zugehen wollen.362 Das Ziel variiert in der Politik, im Bild ist es aber immer der sichere und hoffnungsverheißende ‚Hafen‘, der beinahe erreicht worden wäre, wenn nicht eine Katastrophe von außen eingebrochen wäre und den Lauf der Dinge gestört hätte. Mit dem „weltweite[n] Sturm“ von 1929 ist die Wirtschaftskrise gemeint, die aber den Vorhaben des Faschismus nichts anhaben könne. Bei Schwierigkeiten müsse man gemäß der Bildlogik ‚auf Sicht fahren‘ und vorsichtig handeln, den ‚Kurs‘ aber beibehalten. Die Direktiven für das kommende Jahr in der Politik entsprechen dem Vorhaben des weisen Steuermanns, den Kurs beizubehalten. Unausgeführt bleibt zwar die Zuschreibung, dass Mussolini der ‚Steuermann‘ Italiens sei, doch lässt sich dies leicht erschließen. Wie Dietmar Peil in seiner Untersuchung gezeigt hat, deutet diese auf Dynamik hin angelegte Metapher auf die Notwendigkeit zu „flexible[m], den jeweiligen Umständen angepaßte[m] Handeln“363 hin. Sie rückt das ethische Profil des Steuer- und Staatsmanns in den Vordergrund, dem sich alle bei Gefahr unterordnen müssten. Ab 1933: Radikale Kritik am Wirtschaftssystem und der Korporatismus als Lösung In der vorangegangenen Ärzte- und Schifffahrtsmetaphorik kam der Glaube an die Beherrschbarkeit der Krise und die damit einhergehende Zuversicht zum Ausdruck, die Mussolini seinem Publikum vermitteln wollte. Diese dirigistische Einstellung hielt sich bis weit in die 1970er Jahre hinein, als das Bewusstsein für die Komplexität des wirtschaftlichen Systems zunahm und der Glaube an dessen einfache Steuerung schwand.364 Mit dieser Sicht ging auch eine weitere Metapher konform, die Mussolini benutzte, um die Weltwirtschaft zu beschreiben:
Handvoll Kompetenter steht der Masse der Inkompetenten gegenüber.“ Dass diese Sicht, nämlich die Aufspaltung in Masse und Anführer, auch bei Mussolini gegeben war, hat das Kap. 3.5 gezeigt. Vgl. ferner zur Geschichte der Staatsschiffsmetaphorik, Peil (1983: 702): „in der Flotte der verschiedenen Schiffsvergleichstypen [ist] das Bild vom Staatsschiff eines der ältesten und dauerhaftesten“. 362 Vgl. das Lemma nave im GDLI (1999, Vol. 11: 255). 363 Peil (1983: 865). 364 Vgl. Winkel (1985: 38). Dazu auch Wengeler (2015: 32).
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Kapitel 4
Quellbereich: Maschine/Technik
Zielbereich: politische Wirtschaftsordnung
Akteure Mittel Ursachen
Techniker, Maschine Werkzeuge Verschleiß und Abnutzung der Teile
⇒ ⇒ ⇒
Handlungen
Reparieren, Elemente auswechseln, ersetzen, Neubau Funktionstüchtigkeit der Maschine, Ersetzung der Maschine
⇒
Ziele
⇒
Mussolini, Wirtschaftssystem Korporationen – (Denkbar wäre die von Mussolini postulierte Dekadenz des liberalen Wirtschaftssystems) Intervention des Staates, Bildung der Korporationen Funktionierende Wirtschaft, Korporationen, (langfristig: Wohlstand)
E quanto tempo dovrà ancora passare per convincerci che nell’apparato economico del mondo contemporaneo c’è qualche cosa che si è incagliato e forse spezzato?365 Und wieviel Zeit muss noch vergehen, um uns davon zu überzeugen, dass etwas im wirtschaftlichen Apparat der gegenwärtigen Welt ins Stocken gekommen und vielleicht sogar zerbrochen ist?
Wenn die Weltwirtschaft als ‚Maschine‘ verstanden wird, dann ist der Normalfall der reibungslose Betrieb dieser Maschinerie. Wirtschaftlich schwere Zeiten werden als Hemmfaktoren begriffen, die es zu ‚reparieren‘ gelte. Insofern sind Eingriffe in die Wirtschaft als Reparaturen notwendig und legitim. Für Mussolini war die Wirtschaft spätestens 1933 jedoch dysfunktional geworden, die Maschine sei gänzlich kaputt: „[D]ie Krise ist so tief in das System eingedrungen, dass sie zu einer Krise des Systems geworden ist“366. Diese Behauptung ist insofern sehr interessant, als sich im Deutschen Reich zur selben Zeit ähnliche Aussagen finden lassen. Politiker der KPD und der NSDAP nutzten die Krise, um ihre Sichtweise der Dinge zu untermauern. 365 Mussolini OO (25: 50). 366 Mussolini OO (26: 87): „la crisi è penetrata così profondamente nel sistema che è diventata una crisi del sistema“. Ähnlich so schon 1932, s. Mussolini OO (25: 136): „O questa è una crisi ciclica ‚nel‘ sistema e sarà risolta; o è una crisi ‚del‘ sistema, ed allora siamo davanti a un trapasso da un’epoca di civiltà ad un’altra.“
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„Nicht als Folge der Krisenerfahrungen schrieben Links- und Rechtsextreme ihre Aussagen immer wieder in den Diskurs ein, sondern weil dieser ihnen scheinbar eine Bestätigung ihrer Kernerzählungen bot. Die Systemkritik war folglich kein Produkt des Diskurses.“367 Doch wie setzte Mussolini die Krise ein, um das Scheitern der liberalen Wirtschaftsordnung zu betonen? Dem Faschismus hätte nichts ‚Besseres‘ geschehen können, als die Krise von 1929, denn mit ihr besaß er die geeignete Legitimation, um die korporative Umgestaltung der Wirtschaft voranzutreiben.368 Die Krise wurde somit in den Mythos der Dekadenz eingefügt. Dass Italien weniger stark von der Krise betroffen war, konnte Mussolini sich als Verdienst und Bestätigung seiner Ansicht anrechnen lassen. Während die Katastrophenmetaphorik in erster Linie die destruktiven Kräfte und das Überraschungsmoment in den Vordergrund stellt, richtet sich die Mechanikmetaphorik auf ein eher konstruktives Feld. Diese Konzeptualisierung lässt es zu, analytisch an das Problem ‚Krise‘ heranzugehen, Fehler und Fehlerquellen im System aufzuspüren und Reparaturmaßnahmen zu entwickeln.369
Die Kritik Mussolinis bezog sich nicht so sehr auf die ‚Bedienungsfehler‘ des Systems. Hier ging es also nicht darum, konstruktive Lösung innerhalb des Vorgegebenen zu finden, sondern den Rahmen selbst zu ändern. Gerade wegen der inhärenten Dysfunktionalität der liberalen Wirtschafts ordnung müsse man nun zu einem anderen System übergehen. Der Kor poratismus als erstrebenswertes Gegenmodell war an das Versprechen einer neuen „civiltà economica“370 gebunden. Um diesen Bereich abzuschließen, sei vorweggenommen, dass die Korporationen dann erst 1934 ins Leben gerufen wurden. „Heute, am 10. November im Jahr XIII [faschistischer Zeitrechnung], setzt sich die große Maschine in Bewegung.“371 Die defekte Maschine wurde also durch eine bessere ersetzt. Über die Korporationen wurde zu diesem Zeitpunkt eine rege Debatte geführt: Wie sollten sie konkret aussehen? Ideell 367 Klammer (2019: 172). 368 Vgl. Dobbert (1934: XVI): „Die Wirtschaftsordnung, die heute in Italien im Entstehen ist, ist eine Reaktionserscheinung auf die Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems.“ 369 Drommler/Kuck (2013: 226) sowie: „Die Mechanik-Metaphorik des Finanzkrise-Diskurses bietet also auch die Möglichkeit zur Systemkritik, wenn es um die KONSTRUKTION der MASCHINE WIRTSCHAFT geht.“ Ebd. (228), Versalien i. Orig. 370 Mussolini OO (25: 50). 371 Mussolini OO (26: 379): „Oggi, 10 novembre dell’anno XIII, la grande macchina si mette in moto.“ Vgl. auch: OO (26: 93). Dort werden die staatlichen Korporationen als ‚Getriebe‘ (ingranaggio) aufgefasst. Der Korrespondent der Le Temps hob hervor, dass die Korporationsrede von 1934 nichts Neues sage, vgl. Le Temps (12.11.1934): ITALIE. Le discours du Duce aux corporations. N° 26735, p. 1.
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verhießen sie den sozialen Ausgleich zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit und nationaler Größe. [Das] korporative System [fand] eine Zeitlang großen Anklang und war in den Jahren zwischen 1931 und 1935 […] der Mittelpunkt eines wirklichen Interesses. Gewisse Kreise der Jugend und der Studenten, also hauptsächlich junge Leute, die den Gedanken einer dauernden persönlichen Diktatur ablehnten, sahen in der Ausarbeitung des korporativen Systems einen Ausweg aus dem Engpaß der absoluten Diktatur und eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung. Während dieser ganzen Zeit war das korporative System auch das einzige Thema, das in Italien relativ frei diskutiert werden konnte.372
Neben der Jugend waren es vor allem Intellektuelle, wie Traute Rafalski ausführt, die vom Korporatismus angezogen und zu Befürwortern dieser Neuordnung wurden.373 Durch die Unbestimmtheit der Zielsetzung und die daraus entstandene Offenheit in der Diskussion, wirkte sich der Korporatismus integrierend aus. Zusätzlich involvierte der Korporatismus Modernisierungsbefürworter und Nationalisten, Gewerkschaftsvertreter und ehemalige Sozial isten, die alle in ihrem Sinne dieses neue Unternehmen prägen wollten. 4.3.2.2 Gründe für die Krise Zwei Jahre nach dem Börsencrash verlor die Krise ihren Charakter der Ereignishaftigkeit und ging in einen Dauerzustand über. Mussolini begegnete der andauernden wirtschaftlichen Misere unterschiedlich: Erstens durch Normalisierung der Krise. In einer Rede an italienische Ärzte forderte er sein Publikum auf – quasi als autoritative Multiplikatoren – der Bevölkerung Geduld in der Krise anzuempfehlen: „Wirtschaftskrisen hat es immer schon auf der Welt gegeben“374. In diesem Fall spielte er die Tragweite wie schon 1930 herunter. 372 Chabod (1965: 59). 373 Vgl. Rafalski (1984: 364 f.) sowie: „Der korporativen Ideologie kamen also in Italien in hohem Maße initiative und vorantreibende Funktionen zu für den grundlegenden Transformationsprozeß der Produktionsstrukturen und der Formen der Arbeitsorga nisation.“ Ebd. (365). 374 Mussolini OO (25: 62): „di crisi economiche ce ne sono sempre state nel mondo“. Gerade in dieser Rede wird besonders klar, dass für Mussolini der Staat und die Aufgaben, die er zu erfüllen hat, den Aufgaben von Ärzten gleichkommt, indem er beide parallelisiert: „Il medico ci protegge la salute del corpo che, anch’essa, è essenziale, tanto è vero che quando non c’è si fa tutto il possibile per recuperarla. Ma su questo settore bisogna soprattutto, a mio avviso, prevenire. Anche qui noi siamo antiliberali e preferiamo prevenire piuttosto che intervenire dopo per correggere. Il Governo fascista previene con tutta la sua politica igienica, che va dalle bonifiche al risanamento dei quartieri infetti delle grandi città, anche se talvolta è necessario passare oltre le rispettabili manie di
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Zweitens ging er dazu über, die Krise zu historisieren, das heißt zu schildern, was überhaupt vorgefallen sei und, für ihn typisch, eine historische Entwicklung der Weltwirtschaft und derjenigen Italiens nachzuzeichnen. Der Grund hierfür lag, wie Kristoffer Klammer überzeugend zeigen konnte, im Suchen nach schlüssigen Erklärungen für die Krise. Die Ursachen wurden nun aufgefächert und in der nahen oder entfernt liegenden Vergangenheit gesucht.375 Mussolini gebrauchte aber im Unterschied zum deutschen Reichskanzler Heinrich Brüning die Vergangenheit nicht dazu, um Verantwortung auf andere abzuschieben, da dies aufgrund seiner langen Amtszeit gar nicht möglich war. Der Blick in die Geschichte musste also tiefer gehen und wurde von Mussolini mit der Systemfrage verknüpft. „Auch in diesem Zeitraum [= 1830–1870, F.S.] gibt es Krisen, aber es sind zyklische, keine langanhaltenden, keine universellen Krisen“376. Die Krise lud er in seiner Rede vom 14. November 1933 zu einer Epochenschelle auf, in der es konsequent erschien, epochale Änderung im Bereich der Wirtschaft und Gesellschaft vorzunehmen. Die ökonomische Destabilisierung des ganzen Systems wurde 1931/1932 durch eine zusätzliche Finanz- und Bankenkrise verschärft. Den Ernst der Lage fasste Mussolini 1934 in einer aus der Architektur entnommenen Metapher bzw. Allegorie zusammen.
Akteure Mittel Ursachen Handlungen
Ziel
Quellbereich: Architektur
Zielbereich: Polit. Wirtschaftsordnung
Architekt, Tempel, weitere Nutzer der baulichen Einheit Baumaterial/-steine Baufällige Strukturen Zusammenstürzen, bergen, neu bauen
Mussolini, Faschisten, Intellektuelle, Nationen Regulierung, Korporationen Liberales Wirtschaftssystem Abkehr vom internationalen Freihandel, Protektionismus, Errichtung der Korporationen Korporatismus
Neue bauliche Struktur errichten
⇒ ⇒ ⇒
⇒
quelli che non vorrebbero spostare una pietra del passato.“ OO (25: 59). Siehe dazu auch die Ausführungen bei Spackmann (1998: 144–155). 375 Vgl. Klammer (2019: 116). 376 Mussolini OO (26: 87): „Anche in questo periodo [= 1830–1870, F.S.] ci sono delle crisi, ma sono crisi cicliche, non lunghe, non universali“.
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Pittoresk schilderte er den Zusammensturz des liberalen Wirtschaftssystems seinem Mailänder Publikum: Cinque anni fa, in questi stessi giorni, le colonne di un tempio che pareva sfidare i secoli, crollavano con immenso fragore. Innumeri fortune si annientavano, molti non seppero sopravvivere al disastro. Che cosa c’era sotto a queste macerie? Non solo la rovina di pochi o molti individui, ma la fine di un periodo della storia contemporanea, la fine di quel periodo che si può chiamare dell’economia liberale-capitalistica.377 Vor fünf Jahren, in ebendiesen Tagen, stürzten die Säulen eines Tempels, der die Jahrhunderte herauszufordern schien, mit immensem Getöse ein. Unzählige Vermögen gingen zunichte, viele überlebten die Katastrophe nicht. Was lag unter den Trümmern? Es war nicht nur der Ruin einiger oder vieler Menschen, sondern das Ende eines Abschnittes in der heutigen Geschichte. Es war das Ende jener liberalen und kapitalistischen Wirtschaft.
Das Wirtschaftssystem sei zuvor so stabil und abgeschlossen wie ein Gebäude gewesen. Darüber hinaus machte Mussolini es zu einem quasi religiösen Gebäude, nämlich zu einem ‚Tempel‘, der aufgrund seiner Qualität als Wohnort eines Gottes Ehrfurcht gebiete. Die zum Paradigma gewordene liberale Wirtschaftsordnung konnte damals nicht infrage gestellt werden. Anzeichen dafür, dass dies nicht immer so bleiben könne, erblickte Mussolini in der Entwicklung der Monopolisierung vieler wirtschaftlicher Bereiche schon vor der Krise. „Das Gesetz von Angebot und Nachfrage ist kein Dogma mehr, weil man durch Kartelle und Trusts auf Angebot und Nachfrage Einfluss nehmen kann“378. Die wirtschaftlichen Veränderungen im Zuge der Krise wurden nun mit dem Zusammenbruch der tragenden Struktur, der ‚Säulen‘, erklärt. Der 377 Ebd. (356). Jedes komplexe, aus mehreren Teilen zusammengesetzte Artefakt kann als Gebäude metaphorisiert werden. Peil (1983: 597) führt mit seinem Schwerpunkt zum Staatsgebäude dazu aus: „Die Frage nach den verschiedenen Bauelementen und ihren Bedeutungen berücksichtigt das Staatsgebäude als ein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes und betont einen eher statischen Aspekt. Die Erörterung der Prinzipien politischer Baukunst läßt das Staatsgebäude als Produkt und Objekt der Geschichte erscheinen; unter der Einwirkung der Zeit kann das Staatsgebäude vom Verfall und Zusammenbruch bedroht werden, so daß Reparaturen oder auch der Abbruch und Neubau unumgänglich sind.“ Dies gilt dann analog auch für das Wirtschaftssystem. Ein weiteres Beispiel findet sich in Mussolini OO (26: 248): „21 settembre 1931. Fu una grande data. Il tempio inglese aveva tre colonne: la dinastia, la flotta, la sterlina. Ad un certo momento una di queste colonne crolla.“ Herv. v. F.S. Die drei Säulen betonen die Gleichrangigkeit der folgenden Glieder und das Ausmaß, das die Entkopplung des Pfunds vom Goldstandard für das britische Imperium gehabt habe. 378 Mussolini OO (26: 89), Kurs. i. Orig.: „La stessa legge della domanda e dell’offerta non è più un dogma perché attraverso i cartelli ed i trusts si può agire sulla domanda
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Glaube an das System sei nunmehr ganz und gar erschüttert und werde nicht mehr als solches wie ein Glaubensartikel (dogma) hingenommen. Folgen dieser Veränderungen seien schwerwiegend, in der bemühten Metapher des einstürzenden Tempels waren dies verletzte oder erschlagene Menschen. Doch was so in sich zusammengebrochen sei, sei schwerlich wiederaufzubauen, die quasi-religiöse Ordnung der liberalen Wirtschaft habe ein Ende gefunden. Man müsse sie von Grund auf neu und anders gestalten. Mussolini hatte bereits 1930, demselben Bildbereich der Architektur entnommen, betont: „Die korporative Gewerkschaftsordnung – Wiederholung ist nie überflüssig – ist der Eckstein des faschistischen Staates, ist jene Schöpfung, die unserer Revolution ‚Originalität‘ verleiht.“379 Der Eckstein ist das wichtigste Bauelement, da er nicht nur zu Beginn gesetzt werden muss, sondern auch für die ganze Struktur eine tragende Funktion erfüllt. Diese Funktion komme sodann den faschistischen Korporationen im Staatsgebäude zu. Säulen und Ecksteine sind von ihrer Funktion her gleich wichtig, der Eckstein allerdings konnotiert jedoch stärker das radikal Neue. Um dies noch deutlicher vor Augen zu führen, stellte Mussolini diesem Neuanfang das Ende der liberalen Wirtschaftsordnung entgegen, indem er auf Metaphern wie Tod und Bestattung zurückgriff. Hier zwei Beispiele aus derselben Rede: „Der Freihandel, der nur ein Aspekt der umfangreicheren Lehre des Wirtschaftsliberalismus ist, wurde tödlich getroffen“380 und: „Heute begraben wir den Wirtschaftsliberalismus.“381 e sull’offerta“. Der Wirtschaftsliberalismus als Abgott sei, so Mussolini, zusammengebrochen: „precipitare dei vecchi idoli“, ebd. (191). 379 Mussolini OO (24: 258): „L’ordinamento sindacale corporativo – ripeterlo non è mai superfluo – è la pietra angolare dello Stato fascista, è la creazione che conferisce ‚originalità‘ alla nostra rivoluzione.“ Panzini (196310: 515) führt dazu aus: „Pietra: molte locuzioni proprie e figurate sono fatte con questa parola: pietra angolare o fondamentale = prima pietra di un edificio, e con senso mistico e figurato, base, fondamento, cfr. Il motto evangelico: tu sei Pietro e sopra questa pietra edificherò la mia chiesa. S. Matteo XVI.“ Kurs. i. Orig. Passender jedoch ist wohl die Äußerung: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden“, ebenfalls biblischen Ursprungs, vgl. Mt. 21, 42. Erwin v. Beckerath (1934: 5) bemerkte das vorsichtige Vorgehen Mussolinis, das er in das folgende Bild fasste: „Italien endlich hat es im Zuge seiner Staatsschöpfung unternommen, die Linien einer faschistisch-korporativen Wirtschaft zu entwerfen und allmählich in die Realität zu übertragen. Daß es vorsichtig tastend geschieht, ist kein Zeichen von Unsicherheit; ein Umbau, welcher unter so schwierigen ökonomischen und außenpolitischen Umständen erfolgt, muß jeden Pfeiler, der eingefügt werden soll, genau auf seine Haltbarkeit untersuchen. Ein Fehler in der Konstruktion muß verhängnisvolle Folgen haben.“ 380 Mussolini OO (26: 89): „Il liberismo, che non è che un aspetto più vasto della dottrina del liberalismo economico, il liberismo viene colpito a morte.“ 381 Ebd. (94): „Oggi noi seppelliamo il liberalismo economico.“ Ähnliches sei bereits mit dem politischen Liberalismus geschehen, vgl. ebd.: „Quando nel giorno 13 gennaio 1923 si creò
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In diesem Sinne setzte der Korporatismus nicht nur einen Eckstein, sondern vielmehr einen Grabstein auf den Freihandel. Am Ende dieser Entwicklung stand der Umbau der italienischen Institutionen, die mit Dekadenz, Dysfunktionalität und Altersschwäche charakterisiert wurden: E poiché non si può continuare a versare eternamente il vino nuovo negli otri vecchi, poiché il parlamentarismo non cadde mai più in basso di quanto non lo sia ora e dove non è abolito, agonizza, è chiaro, è logico, è fatale che la corporazione funzionante superi, in quanto sistema di rappresentanza, questa istituzione che ci viene dall’altro secolo, prodotto di un determinato movimento di idee, esaurita oramai nel suo ciclo storico.382 Weil man nicht ewig weitermachen kann, neuen Wein in alte Schläuche zu füllen, weil der Parlamentarismus nie tiefer als jetzt gefallen ist und wo er nicht abgeschafft wurde, er dahinsiecht, ist es klar, logisch, unvermeidlich, dass die funktionierende Korporation als Repräsentationsform diese Institution überwindet. Sie stammt nämlich aus einem anderen Jahrhundert, ist das Produkt einer bestimmten Ideenbewegung, deren historischer Zyklus nunmehr erschöpft ist.
Der Faschismus als ‚Bewegung der Jugend‘ müsse neue Formen finden. Dies kommt durch das christliche Sprichwort ‚neuen Wein in alte Schläuche füllen‘ zum Ausdruck. Ein ‚Weiter so‘ wäre paradox, „[d]enn der neue Wein zerreißt die Schläuche; er läuft aus und die Schläuche sind unbrauchbar. Neuen Wein muss man in neu Schläuche füllen.“383 Um der Kohärenz willen, besonders hervorgehoben durch das Trikolon klar-logisch-unvermeidlich, sei es also notwendig, auch die parlamentarische Form dem Faschismus anzupassen. Drittens griff Mussolini weiterhin auf die Krankheits-Metaphorik zurück, entwickelte sie aber weiter. Er änderte innerhalb des Bildrahmens die Deutung der Krise, die sich nunmehr etabliert hatte und ‚chronisch‘ geworden sei. Ersichtlich wird dies an folgender Aussage: „Sie [die Krise] ist kein Trauma mehr, sondern eine konstitutionelle Krankheit.“384 Ein weiteres Beispiel dafür wäre: „Das, was natürlich war, wird nun krankhaft, alles wird abnorm.“385 Das Eingreifen des Staates respektive Mussolinis ist dem eines Arztes vergleichbar, der genau hinschauen und seine Begutachtung am lebenden Objekt vornehmen, eine Vivisektion durchführen muss:
382 383 384 385
il Gran Consiglio, i superficiali avrebbero potuto pensare: si è creato un istituto. No: quel giorno fu sepolto il liberalismo politico.“ Herv. v. F.S. Ebd. (193). Lk. 5, 37 f. Mussolini OO (26: 87): „Non è più un trauma, è una malattia costituzionale.“ Ebd. (90): „Quello che era fisiologia diventa patologia, tutto diventa abnorme.“
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Ma le cifre non dicono nulla se non sono interpretate. Può essere vero, anzi è vero quello che diceva Pitagora, che nel numero è l’universo, ma il numero è un segno grafico, che poi conviene interpretare, vivisezionare.386 Aber Zahlen sagen nichts, wenn man sie nicht deutet. Es mag wahr sein, ja es ist wahr, was Pythagoras sagte, dass in der Zahl das Universum steckt, aber die Zahl ist ein graphisches Zeichen, das man deuten, vivisezieren [eingehend prüfen] muss.
„Mit ‚klinischem Auge‘ beobachtet und prüft Mussolini die politische Lage“387, kommentierte Ellwanger dessen Vorgehen. Das Urteil ist insofern interessant, da es eine ganz andere Verwendungsweise von medizinischer Metaphorik ins Bild rückt. In diesem Zusammenhang verliert sie nämlich ihre polemische Ausrichtung, die Cortelazzo oder aber auch Rigotti für die sozialistische und frühe Regierungszeit Mussolinis festgestellt haben.388 Die Aufgaben des politischen Arztes haben sich jedoch in den 30er Jahren verschoben: Eine ständige Prüfung des Zustandes – sei es der des Patienten oder der Wirtschaft – gehörte nun dazu, um ein glaubwürdiges Urteil abgeben zu können. Dies hing mit der Unterscheidung zwischen einer akuten und einer chronischen Krise zusammen: „Viele Male habe ich gesagt, dass man in der Politik die Chirurgie anwenden kann, in der Wirtschaft aber nicht immer. Hier nützt die Medizin, die ihrerseits drastisch sein kann.“389 Mussolini ist nun weniger ‚Chirurg‘ als ‚Internist‘; er ‚amputiert‘ weniger und ‚heilt‘ mehr mit ‚Medikamenten‘. Das ärztliche Vorgehen ist durch diese Art der Metaphorik als ‚konservativ‘ zu bezeichnen. Und zwar in dem Sinne, dass es zu keinen radikalen Einschnitten kommt. Daran ist zu erkennen, dass man innerhalb des Bildes, je nach Lage, differenzieren und es vielseitig einsetzen kann. Die unter der Malaise leidendende Wirtschaft sei behandelt worden: Molti, invece, ne abbiamo salvati; con le operazioni solite, con degli innesti, con delle fusioni, con degli aiuti diretti o indiretti, e con quell’ospedale bancario che si chiama l’Istituto di liquidazione.390
386 Ebd. (238). 387 Ellwanger (1939: 106). Er führt viele Beispiele zu Mussolini als Chirurg an. Vgl. auch: OO (18: 399) (= Gewalt müsse zielgerichtet wie der chirurgische Eingriff sein). 388 Vgl. Cortelazzo (1978: 69) und Rigotti (1987: 288 ff.). 389 Mussolini OO (26: 18): „Più volte ho detto che se nella politica la chirurgia è applicabile, non così e non sempre è nell’economia. Qui vale la medicina, la quale può essere a sua volta drastica.“ 390 Mussolini OO (24: 312).
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Kapitel 4 Viele [der Unternehmen] haben wir aber gerettet, mit den üblichen Operationen, mit Transplantationen, mit Fusionen, mit direkten oder indirekten Hilfen sowie mit dem Krankenhaus für Banken, das sogenannte Istituto di liquidazione.
Die Metapher änderte sich 1934 geringfügig, da die Krise nun keine Behandlung in der Notaufnahme, sondern einen längeren Pflege-Aufenthalt erzwinge. Aus dem Krankenhaus wurde eine Heilanstalt, in der der Patient seiner Genesung entgegensehen konnte. Insofern zeigte sich darin der weniger akute Zustandes der Krise: La ‚Sofindit‘ non è una industria; è un convalescenziario (si ride), dove vengono collocati in osservazione e in cura degli organismi più o meno deteriorati. Voi non sarete così indiscreti, io spero, da domandarmi chi paga le rette di queste più o meno lunghe degenze. (Applausi. Si ride).391 Die ‚Sofindit‘ ist kein Industrieunternehmen, sie ist ein Sanatorium (Lachen), in dem mehr oder weniger beschädigte Organismen unter Beobachtung gestellt und behandelt werden. Ihr werdet nicht so taktlos sein, so hoffe ich, mich zu fragen, wer die monatlichen Beiträge für diese mehr oder weniger kurzen Aufenthalte zahlt. (Applaus. Lachen).
Der Wirtschaftswissenschaftler Giorgio Mortara sah diese Entwicklung bereits 1932 kommen, als er schrieb: „Dieser [der Staat] wird heute lediglich als Arzt gerufen, um die Übel der privaten Unternehmen auf Kosten aller Beitragszahler zu heilen, morgen wird er aber als Hygieniker auftreten müssen, um jene Übel für das Allgemeinwohl, sofern möglich, zu verhindern.“392 Seine Prognose bewahrheitete sich 1934 mit dem Gesetz über die Korporationen.393 Die Ursachen für das Andauern der Krise lägen, so Mussolini, in der übervorsichtigen Kreditvergabe der Banken, in der allgemeinen Exportschwäche Italiens, im geminderten Konsum und, mehr ideologisch begründet, in der Geburtenschwäche.394 Zur Verbildlichung des ersten Punktes griff er auf einen 391 Mussolini OO (26: 149), Kurs. i. Orig. Vgl. Rafalski (1984: 101). 392 Mortara (1932: XVII). 393 Vgl. Mussolini OO (26: 151): „Comunque, anche se per avventura domani vi fosse una ripresa economica generale e si tornasse a quelle condizioni di latitudine economica del 1914, che testé venivano ricordate, soprattutto allora sarà necessaria la disciplina perché gli uomini facili a dimenticare, sarebbero indotti a ricommettere le stesse sciocchezze, a ripetere la stessa follia.“ Die pessimistische Sicht auf den Menschen, dass er nämlich lernunfähig sei, zwinge den Staat geradezu, den sporadischen Maßnahmen durch Institutionalisierung Dauer zu verleihen. 394 Ganz so eindeutig wie Mussolini die Ursachen der Krise darstellte, war es allerdings nicht. Weder war der Börsencrash von 1929 der wirkliche Beginn, noch hatte die Krise etwas mit der Geburtenrate zu tun. Der Wirtschaftshistoriker Plumpe (2010: 89) hält fest: „Die
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Vergleich mit der damals noch weitverbreiteten Krankheit der Anämie (Blutarmut) zurück: Altro elemento di disordine: la congestione dell’oro in due soli Stati, Stati Uniti e Francia. Non vi è dubbio che la congestione o indigestione, come l’anemia, può dare luogo a seri disturbi. Finalmente siamo alla ragione madre, cioè allo squilibrio che si è determinato tra la produzione ed il consumo.395 Ein weiteres Element der Misswirtschaft: die Ansammlung von Gold in allein zwei Staaten, den USA und Frankreich. Es besteht kein Zweifel, dass die Stauung oder Verdauungsstörung wie die Blutarmut ernsthafte Störungen bewirken kann. Schließlich sind wir bei dem Hauptgrund angelangt, das heißt beim Ungleichgewicht, das sich zwischen Produktion und Konsum eingestellt hat.
Für Italien stellte er 1934 fest: Abbiamo avuto un’emorragia di circa settecento milioni di oro. In questa emorragia le cause obiettive giocano per due terzi.396 Wir hatten einen Abfluss von circa 700 Mio. an Gold gehabt. Zwei Drittel von dieser Blutung haben objektive Gründe.
Und 1936: Per quanto riguarda il settore del credito – che sta all’economia come il sangue all’organismo umano – i recenti provvedimenti lo hanno logicamente portato sotto il controllo diretto dello Stato.397 Was den Kredit-Bereich angeht – der zur Wirtschaft sich so verhält wie das Blut zum menschlichen Körper – haben ihn die jüngsten Maßnahmen folgerichtig unter die unmittelbare Kontrolle des Staates gebracht.
Diesen drei Beispielen ist jeweils gemeinsam, dass sie die Geldwirtschaft auf zweierlei Art konzeptualisieren: Zum einen wird das Geld als Flüssigkeit Wirtschaftsgeschichtsschreibung ist sich daher nicht wirklich einig, was die Ursachen und die Tiefe der Weltwirtschaftskrise bestimmte.“ 395 Mussolini OO (24: 323), ebenso: OO (26: 246): „Voi avete in queste cifre la sensazione, oserei dire tattile, dell’anemia progressiva dei traffici internazionali.“ Herv. v. F.S. Bereits 1926 nutzte Mussolini das Anämie-Bild, vgl. OO (22: 177): „La lira è malata ed allora noi, che sentiamo la nostra responsabilità, abbiamo cominciato con l’esaminare quali potevano essere le cause di questa anemia.“ Noch expliziter ist er 1928: „La Finanza è il sangue che circola nell’organismo dello Stato. Ove il sangue non circoli, lo Stato diventa anemico e muore.“ OO (23: 250). 396 Mussolini OO (26: 250). 397 Mussolini OO (27: 245).
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gesehen, in diesem Fall als Blut. Zum anderen wird eine Teil-Ganzes-Beziehung (Synekdoche) aufgemacht, denn das Blut ist die lebenswichtige Flüssigkeit des Körpers schlechthin und muss nicht nur ausreichend vorhanden, sondern auch immer in Bewegung sein.398 Geld muss, so dem Bild folgend, zirkulieren und darf nicht untätig sein. Es kommt ansonsten zu Finanzierungsproblemen, den angesprochenen Stauungen. Die Wirtschaft wird ähnlich wie bei der Blutarmut oder dem Aderlass geschwächt. Das sei auch der Grund, warum sich der Staat bei der Vermittlung von Krediten besonders engagieren müsse. Der Eingriff wird durch die Analogie begünstigt, erfülle der Finanzsektor doch lebenswichtige Funktionen für die gesamte Wirtschaft. Eine Verstaatlichung wurde dadurch plausibel gemacht.399 Mit dem Punkt der Geburtenschwäche brachte Mussolini eine ausgesprochen ideologische Sicht in die Suche nach den Ursachen für die Krise ein, erweiterte er doch zugleich die Erklärung für die Krise, indem er sie auf entfernter liegende Gründe zurückführte. Economisti di fama additano nella denatalità una delle cause della crisi: infatti chi dice denatalità dice sottoconsumo o niente consumo. I paesi a più forte denatalità sono quelli dove la crisi si è cronicizzata.400 Wirtschaftswissenschaftler von Renommee weisen auf den Geburtenrückgang als eine der Ursachen der Krise hin; und tatsächlich, wer Geburtenrückgang sagt, sagt geringen Verbrauch oder gar keinen Konsum. Die Länder mit dem stärksten Geburtenrückgang sind jene, in der die Krise chronisch geworden ist.
Diese ‚Diagnose‘ ist durch ihre lineare Verkettung der einzelnen Teilgründe sehr eingängig und suggeriert direkt zur ‚eigentlichen‘ Krisenursache zu führen. Mussolini berief sich vage auf Autoritäten, um seine Sichtweise zu untermauern. „Welche Krankheit genau diagnostiziert werden muss und was die krank machenden Faktoren gewesen sind, ist offenbar Ansichtssache. Der
398 Vgl. Stein (2015: 22): „[D]as weit verbreitete Konzept von Geld- und Finanztransaktion als Wasser bzw. als Flüssigkeit [lenkt] die Aufmerksamkeit auf herkunftsspezifische Aspekte wie Quelle, Flexibilität (in Menge, Verlauf usw.), Regulierbarkeit und Lebensnotwendigkeit“. 399 Neben dem starken Staat beschwor Mussolini auch den wachsamen Staat, der weitere wirtschaftliche Katastrophen abwenden müsse: „Siamo a questo punto: che se in tutte le nazioni d’Europa lo Stato si addormentasse per ventiquattro ore, basterebbe tale parentesi per determinare un disastro.“ OO (26: 90). Es wird klar, dass im Krisen-Narrativ der Topos ex consequentia eine wichtige Rolle spielt. 400 Mussolini OO (26: 191).
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Streit um ein Verständnis der Krisenursachen lässt daher einen Kampf um die gültige Sichtweise der Krise selbst durchscheinen.“401 Mit der Auffächerung der Krisengründe ließ sich dann auch eine Bevölkerungs- und Rüstungspolitik betreiben, denn: „Man muss vor allem zahlenmäßig stark sein, denn wenn die Wiegen leer sind, altert und verfällt die Nation“402. Mit Hilfe einer Metonymie des Typs Gefäß-Inhalt (Wiege = Kind) wies Mussolini auf den Geburtenrückgang hin und erhob dessen Bekämpfung zur staatlichen Aufgabe. Er verband dadurch gleich drei Politikfelder miteinander: nämlich die Demographie, die Wirtschafts- und die Außenpolitik. Alle Spuren für die desolate Lage führten in seiner Sicht zur Demographie: Mehr Geburten sollten zu einer höheren militärischen Schlag- und Kaufkraft führen. Ein Kampf-Mythos zur Begründung für politische Maßnahmen 4.3.2.3 Ein weiteres Metaphernfeld, das Mussolini mehr oder weniger die ganzen Jahre hindurch bediente, ist das des Kampfes und des Krieges. Damit bildete er wiederum einen Kampfmythos wie auch schon in den vorherigen Kapiteln zur italienischen Landwirtschaft. Die Kampfmetaphorik wurde oft wegen ihres Dramatisierungspotenzials genutzt.403 Das trifft auf die verschärften Handelsbedingungen ab 1934 zu, besonders aber auf den Äthiopienkonflikt, im Zuge dessen jedes anti-italienische Vorgehen als ‚Kriegshandlung‘ geframt und zur Mobilisierung eingesetzt wurde (vgl. Kap. 4.3.3.2). Für den Krisendiskurs bedeutete die Nutzung militärischer Metaphorik, dass es nicht mehr darum ging, Ursachen aufzuspüren, sondern die Krise selbst einem Ende zuzuführen. Michael Drommler und Kristin Kuck führen hierzu aus: „In diesem typischen Gebrauch der Kriegs- und Kampf-Metaphorik stehen Staat und Wirtschaft auf der gleichen Seite und kämpfen gemeinsam. Das erlaubt eine starke Argumentation für die Legitimation der Maßnahmen, die zwar ergriffen werden sollen, am Anfang des Diskursverlaufs aber noch umstritten waren.“404
401 Drommler/Kuck (2013: 223). 402 Mussolini OO (26: 47): „Bisogna essere forti prima di tutto nel numero, poiché se le culle sono vuote la nazione invecchia e decade.“ Vgl. auch seinen Artikel mit dem bezeichnenden Titel: Il numero è forza, ebenfalls aus dem Jahr 1933, ebd. (52 f.). Die Junggesellensteuer (imposta sui celibi) wurde 1934, nachdem sie 1928 eingeführt worden war, nochmals erhöht, vgl. Rafalski (1984: 42). 403 Vgl. Klammer (2019: 147). 404 Drommler/Kuck (2013: 233).
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Kapitel 4
Quellbereich: Krieg Akteure
Oberster Befehlshaber, Heeresleitung, Offiziere und Soldaten
Zielbereich: Handelspolitik ⇒
Feinde
Mittel
Waffen, Befestigungen, Fahne, Disziplin
⇒
Ursachen
Bombenexplosion, Angriff von außen Verteidigen/kämpfen, Linien befestigen, Moral aufrechterhalten, Opfer erbringen, u.a auch sterben
⇒
Territoriale Unabhängigkeit
⇒
Handlungen
Ziel
⇒
Mussolini, Consiglio Nazionale delle Corporazioni, Intellektuelle, Beamte, Arbeiter Ausländischer Wirtschaftsmarkt, später: Völkerbund Zölle, Wechselkursfestlegung (Goldstandard), Durchhaltewillen stärken durch Reden Börsencrash, bilaterale Clearingabkommen Zölle erheben und erhöhen, Clearingabkommen, Löhne senken (lassen), Steuern erhöhen; mehr produzieren, um Exportrate zu erhöhen und Importrate zu senken, z.B. bei Getreide (vgl. Kap. 4.3.1.2) Wirtschaftliche Unabhängigkeit (Autarkie)
Half der Staat anfänglich dem ‚Patienten‘, also der Wirtschaft, so änderte sich nun die Konstellation, weil viele andere Staaten zu protektionistischen (Gegen-)Maßnahmen gegriffen hatten und es nur noch darum ging, den eigenen Vorteil im zusammenbrechenden Welthandel zu sichern. „Im Februar 1932 konstatierte Brüning, ‚in wirtschaftlicher Beziehung [sei] ein Krieg auf der ganzen Welt entbrannt‘“405 und der Wirtschaftsprofessor Volrico Travaglini bezeichnete die Jahre zwischen 1930 und 1934 als „Periode der Verteidigung“406.
405 Brüning (= Reichstag, 5. WP, 59. Sitzung, 25.02.1932, S. 2323) zit. nach Klammer (2019: 149). 406 Travaglini (1934: 96), vgl. ferner Rafalski (1984: 279).
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Die italienische Wirtschaft wurde zu einem nationalen Territorium gemacht, das es nach außen zu verteidigen gelte, so z.B. in der Währungskrise 1931/32. Als Folgekrise von 1929 war sie durch die Entkoppelung des Pfund Sterling vom Goldstandard entstanden. Italien reagierte nicht auf die Entkoppelung und hielt an seiner hohen Kursbindung der Lira am Pfund Sterling fest. Die Lira sei nämlich „die unantastbare Fahne der Nation“407, so Mussolini. Eine Fahne ist das Symbol für territoriale Oberhoheit, die in einem Kampf als Standarte und Orientierung vorangetragen wird. An ihr zu rühren oder sie gar zu verlassen, käme einem Verrat gleich. An ihr festzuhalten bedeutet hingegen, sich durch Fahnentreue/Prinzipienfestigkeit auszuzeichnen. Die Lira wurde in diesem Beispiel zu einem Symbol Italiens gemacht und umgab die Währung mit patriotischen Gefühlen, aus denen heraus es verständlich wird, warum Mussolini sich so gegen einen Kurswechsel einsetzte. Akteure in diesem ‚Krieg‘ um den nationalen Wirtschaftsraum waren die Arbeiter, die Mussolini schon 1930 mit den Soldaten aus den Schützengräben des Ersten Weltkrieges verglich. Sie alle hätten soldatischen Mut bewiesen. Den Mut jedoch durchzuhalten, musste Mussolini aktiv durch die Angabe von ‚Kriegszielen‘ fördern. Warum sollten die Arbeiter überhaupt Opfer erbringen? Es gehe nicht nur um das bloße Überleben, sondern vielmehr um Ideale, die mit dem Wirtschaftskrieg verfolgt würden: Così stando le cose voi non vi sorprenderete che noi oggi parliamo decisamente sulla preparazione integrale e militare del popolo italiano. Questo è l’altro aspetto del sistema corporativo. Perché il morale delle truppe del lavoro sia alto come è necessario, noi abbiamo proclamato il postulato della più alta giustizia sociale per il popolo italiano.408 Da die Dinge so stehen, werdet ihr nicht überrascht sein, dass wir heute entschlossen über die vollständige und militärische Vorbereitung des italienischen Volkes sprechen. Dies ist der andere Gesichtspunkt der korporativen Ordnung. Damit die Moral der Arbeitertruppen so hoch wie nötig sei, haben wir das Postulat der höchsten sozialen Gerechtigkeit für das italienische Volk ausgerufen.
Der Kampfgeist der Arbeiter wird benötigt, wenn man einen ‚Krieg‘ gewinnen möchte. Auf diese Moral wollte Mussolini mit dem Hochwertwort soziale 407 Mussolini OO (25: 144): „la bandiera intangibile della nazione“. In der bekannten Rede zu Pesaro (1926), in der Mussolini die Schlacht um die Lira ausrief, formulierte er bereits ähnlich: „la nostra lira, che rappresenta il simbolo della nazione, il segno della nostra ricchezza, il simbolo delle nostre fatiche, dei nostri sforzi, dei nostri sacrifici, delle nostre lacrime, del nostro sangue, va difesa e sarà difesa.“ OO (22: 197). 408 Mussolini OO (26: 359).
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Gerechtigkeit Einfluss nehmen. Die gesamte korporative Wirtschaft wurde in diesem Zusammenhang zu einer ‚militärischen Hierarchie‘ umgebildet, in der alle ‚diszipliniert‘ zu sein hätten.409 „Unabhängig von den politischen Präferenzen der Einzelnen erwies sich der Wunsch nach einer autoritären Überwindung des institutionellen Status quo in Unternehmerkreisen als sehr weit, wenn nicht gar allgemein, verbreitet.“410 Besonders deutlich wird diese Militarisierung bei seiner ersten Bestimmung des die Korporationen vorbereitenden Consiglio nazionale delle corporazioni: La definizione può essere questa: il Consiglio nazionale delle corporazioni è, nell’economia italiana, quello che lo Stato Maggiore è negli Eserciti: il cervello pensante che prepara e coordina. La similitudine militare non vi dispiacerà, poiché quella che l’economia italiana deve combattere è veramente una rude, incessante guerra che richiede uno Stato Maggiore, dei quadri, delle truppe che siano, per il loro compito, all’altezza della situazione.411 Die Definition kann folgende sein: Der Consiglio nazionale delle corporazioni ist für die italienische Wirtschaft das, was die Oberste Heeresleitung für das Heer ist: das denkende Gehirn, das vorbereitet und koordiniert. Der Vergleich wird euch nicht missfallen, weil das, was die italienische Wirtschaft ausfechten muss, ein wahrlich harter, ununterbrochener Krieg ist, der Heeresleitung, Kader und Truppen erfordert, die ihrer Aufgabe gewachsen sind.
Mussolini gab an, dass es sich nur um einen Vergleich handle. Er hatte vielleicht gemerkt, dass die Rahmung des Consiglio als Heeresleitung ungewöhnlich war und sich für diese abschwächende Formulierung entschieden. Der Vergleich ist jedoch eine viergliedrige, nicht voll ausgebildete Analogie (Consiglio – Wirtschaft : denkendes Gehirn – ausführender Körper). Die Rezeption wird durch die Verkürzung des Teil-Ganze-Verhältnisses (Gehirn – Kopf – Körper) auf den ersten Teil, das Gehirn, fokussiert. Dadurch wird besonders die leitende Position des Gremiums in den Vordergrund gerückt. Alle anderen Teile sind nur als davon abhängige zu bezeichnen. Der militärische Rahmen allerdings, den Mussolini dann aufrief, konzipierte die ganze Situation als Krieg, der eine straffe Organisation erforderlich mache. 1934 rief Mussolini dann den ‚Wirtschaftskrieg‘ aus:
409 Vgl. ebd. (95, 150). Diese Ordnung sollte sich in Gesinnung und Struktur am Militär orientieren und bediente diffuse Erwartungshaltungen. Disciplina war nämlich während des Faschismus zusätzlich militärisch konnotiert, vgl. Kolb (1990: 171). 410 Petri (1998: 206). 411 Mussolini OO (24: 214).
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Tutto questo costa e si traduce in impostazioni di bilancio necessario. Perché è necessario? Perché oggi siamo in uno stato di vera e propria guerra economica, per cui certe formule che andavano prima di oggi, nelle condizioni attuali non funzionano più.412 All dies [gemeint ist die finanzielle Intervention des Staates] kostet und schlägt sich nieder in den Posten eines erforderlichen Haushalts. Warum ist dies erforderlich? Weil wir uns heute in einem wirklichen Wirtschaftskrieg befinden, weswegen gewisse Rezepte, die früher wirkten, unter den jetzigen Umständen nicht mehr funktionieren.
„Von einzelnen Vorzeichen wie den battaglie del grano abgesehen, schwenkte Italien erst 1933/34 unter dem Druck des drohenden Zusammenbruchs der Banken und Industrien und – was die Außenwirtschaftspolitik betraf – im Sog protektionistischer Maßnahmen der USA und anderer Handelspartner zu entsprechenden Positionen über.“413 Der ‚Wirtschaftskrieg‘ tauchte dann anlässlich des italienisch-äthiopischen Krieges 1935/36 erneut auf und zwar in Bezug auf die wirtschaftlichen Sanktionen des Völkerbundes. Drei Verwendungsweisen von ‚Wirtschaftskrieg‘ lassen sich generell unterscheiden: 1. Ein Krieg, der primär aus wirtschaftlichen Zielen herausgeführt wird. 2. Ein Kampf gegen die feindliche Kriegswirtschaft, um diese zu schwächen. 3. Ein „staatliche[r] Kampf ohne physische Gewaltanwendung gegen die Wirtschafts- und Finanzkraft und/oder Willensfreiheit eines Gegners, mit dem man sich nicht im bewaffneten Konflikt befindet. Ein solcher Wirtschaftskrieg bedient sich ausschließlich wirtschaftlicher und finanzieller Mittel.“414 Gerade die Vieldeutigkeit des Begriffes ‚Wirtschaftskrieg‘ begünstigte einen ambivalenten Gebrauch und konnten einen unmerklichen Wechsel hin zu einer Kriegswirtschaft vorbereiten. Und tatsächlich war dies der Fall: Im Hintergrund liefen bereits seit 1932 die Planungen für einen Angriffskrieg gegen Äthiopien. Vi è un settore nel quale soprattutto si deve tendere a realizzare questa autonomia: il settore della difesa nazionale. Quando questa autonomia manchi, ogni possibilità di difesa è compromessa. La politica sarà alla mercè delle prepotenze 412 Mussolini OO (26: 257). Auch die Frühphase des Kapitalismus benannte Mussolini als sozialdarwinistischen ‚Krieg‘, vgl. OO (26: 87). 413 Petri (1998: 208), Kurs. i. Orig. 414 Vgl. Oermann/Wolff (2019: 22–28, Zitat hier: 28), Kurs i. Orig. Die Verfasser sehen die Gefahr, dass die dritte Variante zu unpräzisem Gebrauch verleitet und grenzen sie auf zwischenstaatliche, im kriegerischen Geist geführte sowie strategisch absichtsvolle Wirtschaftshandlungen ein, vgl. ebd. (31).
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Kapitel 4 straniere, anche soltanto economiche; la guerra economica, la guerra invisibile – inaugurata da Ginevra contro l’Italia – finirebbe per aver ragione di un popolo anche se composti di eroi.415 Es gibt einen Bereich, in dem man zuvorderst danach streben muss, diese Autonomie zu verwirklichen: den Bereich der nationalen Verteidigung. Wenn diese Autonomie fehlt, wird jede Möglichkeit, sich zu verteidigen, aufs Spiel gesetzt. Die Politik wird den ausländischen Übergriffen – und seien es auch nur wirtschaftliche – ausgeliefert sein. Der Wirtschaftskrieg, der unsichtbare Krieg – der von Genf gegen Italien begonnen wurde – würde mit einem Sieg über ein Volk enden, auch wenn es aus Helden bestünde.
Dass der Krieg invisibile sei, also unsichtbar, machte nicht nur Angst, sondern wies implizit darauf hin, dass dies kein echter Krieg zwischen Italien und dem Völkerbund im Sinne der ersten Variante war. Der Begriff ‚Wirtschaftskrieg‘ war allerdings schon seit 1934 im politischen Diskurs präsent und zwar im dritten Sinne der Unterscheidung. Der shift zwischen den beiden Varianten ist unmerklich, konnte aber im Zusammenhang mit der Wirtschaft dazu eingesetzt werden, eine innere Ordnung zu stabilisieren und Konflikte nach außen zu verlagern. Das Publikum konnte mit dieser Metaphorik mental auf einen echten Krieg vorbereitet werden, ein Szenario, das 1935 eintrat. Presseecho und Thematisierung der Krisenrhetorik Kommen wir nun zur Wahrnehmung der Krise in den Medien. Für die ita lienische Zeitung La Stampa ist festzustellen, dass sie in Überschriften und Zwischentiteln oft zentrale Passagen der Reden Mussolinis aufgriff. Es ist nicht verwunderlich, dass es sich hierbei meist um die Metaphern handelte, die er benutzt hatte, vermittelten sie doch eine prägnante Idee, was man sich unter der Krise vorzustellen habe. Es lassen sich Titel wie folgende finden: „La crisi: malattia costituzionale“, „Fenomeni patologici“ oder „La sepoltura del liberalismo“.416 In den Kommentaren tauchten oft Formulierungen auf, die dem Leser Vertrauen zur Politik Mussolinis einflößen wollten. Der Vorsitzende der Confindustria Olivetti schrieb über eine Rede Mussolinis 1930 sie
415 Mussolini OO (27: 242). Zum uneigentlichen Wirtschaftskrieg s. Mussolini OO (26: 63 und 257). 416 La Stampa (15.11.1933): La crisi del sistema capitalistica e la Rivoluzione sociale del Fascismo in una mirabile sintesi economica e politica del Duce. N° 271, p. 1. Herv. v. F.S.
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sei „ein edles und sachliches – aber auch hartes wie präzises – Wort“417, das der Orientierung in der aktuellen Krisenlage dienen könne. Darüber hinaus fällt auf, dass die Berichterstatter die Art, wie Mussolini über die Krise sprach, thematisierten: sie sei ruhig und moderat. In der Vossische Zeitung wurde dies so ausgedrückt: „Der Duce ging in seinen Darlegungen, die sich wieder durch eine bewundernswerte Maßhaltung in der sachlichen Beurteilung wie in der Formulierung auszeichneten, davon aus, daß die korporative Wirtschaft als erstes Prinzip den Grundsatz des Privateigentums achte.“418 In der Berichterstattung der Le Temps war zu lesen: „Le ton du discours a été calme, presque serein. Il n’a pas eu l’éclat des allocutions devant le peuple, les problèmes les plus ardus ont été exposés dans une forme compréhensible, même pour l’ouvrier et le paysan.“419 Der erstaunlich ruhige Ton rührte wahrscheinlich daher, dass Mussolini um die Mehrfachrezeption seiner Reden wusste. Viele seiner Reden über Wirtschaftspolitik wurden vor Fachgremien, in der Abgeordnetenkammer oder im Senat gehalten, was zur Folge hatte, dass ein aggressiver Ton unangebracht gewesen wäre. Die verbale Mäßigung lässt sich damit auch aus dem Setting herleiten. Obwohl immer wieder betont wurde, wie konkret und gehaltvoll Mussolini seine Reden ausgestalten würde – dies vor allem in italienischen Artikeln – wichen ausländische Zeitungen von dieser Sicht beträchtlich ab: „Mais il n’a donné aucun détail précis sur la constitution, les pouvoirs, le fonctionnement de cette nouvelle Chambre, pas plus que sur ses rapports avec les autres corps de l’État. […] Il semble que rien de définitif n’ait encore été décidé.“420 Dabei war es überhaupt nicht so einfach, dem breiten Publikum wirtschaftliche Themen näherzubringen. Eine direkte Reflexion über diesen Sachverhalt stellte Mussolini 1934 an, als er über die Beschaffenheit des Redegegenstandes und über die notwenige Kompetenz, diesen zu vermitteln, nachdachte:
417 La Stampa (02.10.1930): Orientamento. Mattino, N° 234, , p. 1. Ferner: La Stampa (28.05.1934): Richiamo estremo. N° 125, p. 1: „Il fondamentale discorso del Duce getta fasci di luce nei più spinosi problemi della vita attuale: dovremo ad esso ritornare costantemente ogni qualvolta si presentino dei dubbi; nelle sue constatazioni realistiche, spesso dure, è, come tutte le manifestazioni mussoliniane, un atto di fede.“ Herv. v. F.S. Bei dem geringsten Zweifel solle man die Reden Mussolinis in die Hand nehmen und sich an ihnen erbauen. 418 Vossische Zeitung (14.01.1934): Mussolini vor dem Senat. Nr. 12/S2 , S. 1. Kurs. i. Orig. gesperrt. 419 Le Temps (25.03.1936): Le discours du Duce aux Corporations. N° 27131, p. 2. 420 Ebd.
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Kapitel 4 Non stupitevi se di quando in quando introdurrò delle intercapedini letterarie nella trattazione così arida di questa materia per alleggerirvi il compito come ascoltatori.421 Verwundert euch nicht, wenn ich ab und an literarische Zwischenräume in die so trockene Behandlung der Materie einfüge, um euch das Zuhören zu erleichtern. Io credo che il grosso del pubblico avrà detto, leggendo comunicato: ‚Le cose vanno meglio!‘. Effettivamente è così! Ma gli iniziati (si ride) avranno detto: ‚Che cosa c’è dietro questo comunicato?‘. Ve lo spiego subito.422 Ich glaube, dass das Gros der Öffentlichkeit nach der Lektüre der Meldung gesagt haben wird: ‚Die Lage wird besser!‘ Tatsächlich ist es so! Aber die Eingeweihten (Lachen) werden gesagt haben: ‚Was steckt hinter dieser Meldung?‘ Ich erkläre es euch sofort. È questo il momento in cui invece del nome appare la sigla. Soltanto coloro che sono praticamente iniziati a questa specie di misteriosofia finanziaria sanno leggere sotto il ‚velame de li versi strani‘. Il senatore Bevione vi ha parlato e vi ha citato la ‚Sofindit‘, ma io credo che molti di voi non sanno precisamente che cosa si nasconda sotto questa parola dal sapore vagamente ostrogoto.423 Das ist der Moment, in dem statt des Namens das Akronym erscheint. Nur wer praktisch in diese Art des finanziellen Mysterienkultes eingeführt wurde, weiß hinter dem ‚Schleier der seltsamen Verse‘ zu lesen. Der Senator Bevione hat zu euch gesprochen und die ‚Sofindit‘ angeführt, doch ich glaube, dass viele von euch nicht genau wissen, was sich hinter diesem Fachchinesisch versteckt.
Bei der Wirtschaftskrise handelte es sich um einen Spezialdiskurs, der einiges an Vorwissen erforderte, um verstanden zu werden. Dies deutete Mussolini im zweiten und dritten Zitat mit den ‚Eingeweihten‘ und dem ‚Mysterienkult‘ an. Nur wer sich auskenne, also dem inner circle einer Fach- und Kultgemeinde angehöre und dadurch Spezialwissen erworben habe, wisse auch die von außen als seltsam und unverständlich erscheinenden Zeichen – das Fachchinesisch nämlich – zu deuten. Mussolini nahm somit eine vermittelnde Position ein, denn er erklärte wie ein Deuter die seltsamen Verse (Dante). In 421 Mussolini OO (26: 235). 422 Ebd. (256), Kurs. i. Orig. 423 Ebd. (148). Das Dante-Zitat lautet vollständig: „O voi ch’avete li’ ntelletti sani, / mirate la dottrina che s’asconde / sotto ’l velame de li versi strani“ (Inf. IX, vv. 61–63). Bei dem Wort ostrogoto kommt noch neben der Unverständlichkeit eine pejorative Konnotation hinzu, die sich mit barbarisch und unkultiviert fassen lässt. Diese Nuance fehlt in der Übersetzung.
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dieser Rolle wollte er zeigen, dass er das notwendige Wirtschaftswissen besitze und es auch vermitteln könne. Der Spezialdiskurs müsse, so Mussolini, ansprechend gestaltet werden, damit er für eine breitere Öffentlichkeit interessant und verständlich sei. Deswegen werde er seine Rede durch Exkurse – die literarischen Zwischenräume – auflockern. Die Rede erhielt wie ein Gebäude tragende und schmückende Elemente. Sie dienten einerseits dazu, Wissen zu vermitteln, andererseits die dafür erforderliche Aufmerksamkeit zu erhalten. Das komplexe Sachgebiet der Wirtschaft erklärt das Vorkommen der bereits dargelegten Metaphoriken. Die Verbindung von Ziel- und Quellbereich war historisch verankert und flexibel auf einen abstrakten Sachverhalt wie den der Wirtschaft anwendbar. Vor allem die zugrunde liegende Metaphorik ermöglicht es dem Leser-Betrachter, das schwer fassbare wirtschaftliche Phänomen der Währungsturbulenzen und Reaktionen der politischen Führung an die ‚normale‘ Vorstellungs- und Erfahrungswelt anzuschließen. Metaphorische Konzeptualisierung und phra seologische Ausdrucksformen erweisen sich damit als konstitutiv für die Realitätserschließung und Wahrnehmung.424
Besonders trifft diese Beobachtung auf das Konzept der Krise als Krankheit und als Kampf zu, waren doch diese Erfahrungen allgemein oder zumindest durch den Ersten Weltkrieg weit verbreitet gewesen. Die Krise als Schifffahrt zu begreifen ist tendenziell nur einem kleineren Publikum aus dessen Lebenswelt bekannt, kulturell jedoch ebenso stark verankert wie die anderen Bildspender. Eine anschauliche Vermittlung der Krise sowie eine vertrau ensbildende Darstellung der Regierungsmaßnahmen waren essenziell für Mussolini, um seine Herrschaft zu sichern und auszubauen. Simona Colarizi entnimmt den Meldungen der Sicherheitsdienste, dass sich 1931 landesweit Unmut breitmachte und man schon auf das Ende des Faschismus hoffte. Die Zahl der Proteste stieg signifikant an.425 Den Beteuerungen Mussolinis, die 424 Stein (2015: 23). 425 Vgl. Colarizi (1991: 43, 83). Dass sich die Lage, trotz der zahlreichen Versicherungen Mussolinis nicht gebessert hatte, bemerkte auch Giuseppe Prezzolini, der ab und an die Sommer in seiner alten Heimat Italien verbrachte. Er schrieb am 24.08.1930 in sein Tagebuch: „La situazione del fascismo in Italia mi pare cambiata. Il periodo di entusiasmo è finito. Il governo vuol fare tutto, e su lui ricade la colpa di quel che va male, anche se non è interamente sua, come della crisi economica, che è generale in tutto il mondo. Si regge perché non ha contro nessun che valga. Ma i suoi seguaci son senza passione.“ Prezzolini (19782: 461). Im Folgejahr fällt sein Urteil wohlwollender aus (29.08.1931): „Tornando dall’Italia mi pare che in questo momento di crisi economica il fascismo faccia del bene all’Italia, come uno stupefacente fa bene ad un corpo ferito. L’Italia sopporta meglio la
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Krise werde bald überwunden sein, schien die Mehrheit dennoch Glauben zu schenken, ja geradezu schenken zu wollen. Colarizi fasst die Situation wie folgt zusammen: „Von dem komplexen Wirtschaftsmanöver der Regierung sowie von dem komplizierten Vorhaben der Korporationen verstehen die Arbeiter wenig. Ihnen reicht die Gewissheit, dass Mussolini in der Lage ist, sie ohne weitere Kosten aus der Wirtschaftskrise zu führen.“426 Die Aussagen über die Lira, sie wie die Nationalflagge zu verteidigen, wurden durch die Börse begrüßt und demonstrierten das Vertrauen, das man Mussolini schenkte.427 Letzterer war sich bewusst, dass in einer Krise das Befinden der Betroffenen genauso ausschlaggebend ist wie harte Fakten und Zahlen. Non bisogna stupirsi di tutto questo, perché i risparmiatori hanno una psicologia speciale, di cui bisogna tener conto. Non solo noi non meditiamo niente di tutto ciò, ma è mia convinzione che bisogna versare dell’olio sulle acque agitate, in modo che tutti i risparmiatori riacquistino la loro più completa tranquillità.428 Das sollte nicht verwundern, denn die Sparer haben eine besondere Psychologie, die man berücksichtigen muss. Wir denken überhaupt nicht daran, so etwas zu tun [nämlich eine neue Staatsanleihe auszugeben, F.S.], sondern es ist meine Überzeugung, dass man Öl auf das aufgewühlte Wasser gießen muss, damit alle Sparer ihre vollkommene Seelenruhe zurückerlangen.
prova della miseria che paesi in libertà.“ Ebd. (482). Grund hierfür mögen auch die Hilfsgelder für Bedürftige, die Suppenküchen, etc. gewesen sein, die eingerichtet wurden. Colarizi (1991: 88 f.) bezeichnet diese Maßnahmen sogar als „carta vincente“, mit der sich der Faschismus wieder beliebter bei der einfachen Bevölkerung machen konnte. 426 Colarizi (1991: 153). 427 Vgl. Colarizi (1991: 108): „La conferma non si fa attendere: la Borsa riprende fiducia. Le solenni riaffermazioni del Duce sulla intangibilità della lira hanno avuto il plauso dei risparmiatori […] [Relazione fiduciaria in data Roma 30 settembre 1931].“ Kurs. i. Orig. 428 Mussolini OO (26: 235). Die doppelte Verneinung macht die Aussage schwerer verständlich. Vgl. ferner OO (25: 5): „Si attende che entri in gioco, simultaneamente e cumulativamente, il complesso dei fattori di ripresa; in primo luogo i fattori morali, nel qual caso si potrà parlare di fine del periodo più acuto della crisi.“ Dem Korrespondenten Mario Passarge fiel Mussolinis Strategie, eine positive Stimmung im Land zu erzeugen, ebenfalls auf: „In einem Telegramm an die Leitung der soeben eröffneten XIV. Mailänder Mustermesse hat Mussolini eine Formulierung gebraucht, die uns besonders vertraut klingt, wenn er von einem ‚gewissen Lichtschimmer am Horizont‘ spricht. Dieser Lichtschimmer, meinte er, könnte weniger schwere Zeiten ankündigen, wenn die Politik imstande sein wird, die Wege der Wirtschaft vorzubereiten, indem sie die entscheidende Voraussetzung schafft, nämlich das Vertrauen in die Zukunft.“ Vossische Zeitung (20.04.1933): Römische Ostern. Abend-Ausgabe, Nr. 188, S. 1. Kurs. i. Orig. gesperrt. Zum Metaphernfeld Himmel/Horizont/Schifffahrt s. auch Kap. 4.3.3.4
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Wichtig sei es also in der Wirtschaftskrise dem psychologischen Faktor Rechnung zu tragen. Seine Reden zielten darauf ab, diesen Faktor zu beeinflussen. Alle von der Krise Betroffenen seien sehr sensibel und sähen ihrem Ausgang, je nach rhetorischem Eingriff, mit Sorge oder Zuversicht entgegen. Die Reden verglich Mussolini mit Öl, das das Wasser respektive die Stimmung der Sparer beruhigen soll. Die Technik, Öl auf Wasser zu gießen, wurde und wird zur Abwendung von Schiffbruch verwendet.429 Das Öl schmiegt sich wie ein Teppich an die vom Wind aufgepeitschte Wasseroberfläche (acque agitate) und bietet ihm somit keine Angriffsfläche mehr. Seit 1930 behauptete der Diktator, dass der Höhepunkt der Krise überschritten sei und wollte damit – psychologisch gesehen – Zuversicht verbreiten. Gleichzeitig dämpfte er die Erwartungen, indem er von einer nur langsamen Wirtschaftserholung ausging. 1935 musste er nochmals an die Öffentlichkeit gehen, um dasselbe Manöver durchzuführen. Den Höhepunkt der Krise hatte Italien erst 1932 erreicht und Mussolinis Prognose aus dem Jahr 1930 stellte sich als falsch heraus. Weltwirtschaftskrise im Vergleich: Italien – Deutsches Reich 4.3.2.4 Am Ende dieses Kapitels steht ein Vergleich der verwendeten Metaphoriken während der Weltwirtschaftskrise in Italien und dem Deutschen Reich. Dafür wird auf Klammers Studie „Wirtschaftskrisen“: Effekt und Faktor politischer Kommunikation. Deutschland 1929–1976 zurückgegriffen. Methodisch ist der Vergleich aus vier Gründen möglich: erstens sind die Untersuchungszeiträume fast identisch und gleich lang; zweitens untersuchte Klammer Äußerungen politischer Akteure und deren mediale Verarbeitung; drittens wurde hier wie da bei der Analyse auf die Einbettung in den historischen Kontext geachtet; viertens war das Forschungsinteresse, nämlich den Sprachwandel mithilfe von Isolierung der Metaphoriken nachzuzeichnen, ebenfalls deckungsgleich.430 Sinnvoll ist darüber hinaus solch ein Vergleich, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten in einem transnationalen Kontext ausfindig zu machen. Die Ähnlichkeit der von Mussolini benutzten Metaphorik zu Politikern jeglicher Couleur aus der Weimarer Republik ist frappierend und aufschlussreich. Politiker in Regierungsverantwortung wie der Reichskanzler Brüning beschrieben die Krise ebenfalls mit der Krankheits- oder SchlechtwetterMetaphorik. Darin kommen einerseits Einschätzung aus der Sicht der Akteure 429 Man nennt es auch Wellenberuhigungsöl; physikalisch betrachtet, wird dadurch die Oberfläche entspannt, vgl. Dizionario di Marina (1937: 534). 430 Vgl. Klammer (2019: 46 f.). Er bezeichnet seine Studie als „historisch-semantisch angelegte […] Sprach- und Argumentationsgeschichte“, ebd. (13).
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zum Vorschein, wie groß bzw. klein sie den eigenen Handlungsspielraum bemaßen. So lassen sich z.B. die Metaphern von Sturm und Unwetter vor allem als reaktive Muster der Akteure deuten: Ihnen selbst war wahrscheinlich nicht klar, wie sie damit am besten umgehen sollten. Brüning bilanzierte das Jahr 1931 beispielsweise wie folgt: Eine „Sturmflut der Krise [habe] die Völker der ganzen Welt erfaßt.“431 Auch Mussolini nutzte wie sein deutscher Amtskollege ähnliche Muster zur Beschreibung der Krise, um die Eigenverantwortung zu Beginn möglichst gering zu halten. Die Nationalsozialisten hingegen „monierten einen ‚Verblutungsprozeß der deutschen Wirtschaft‘ […] [und] erklärten explizit, ‚die Wirtschaft im Staate mit dem Blutkreislauf im menschlichen Körper‘ zu vergleichen, und warnten davor, ‚weiter Blut aus diesem Körper abzuzapfen und somit den Körper langsam aber sicher zum Erliegen zu bringen.“432 Wie gesehen, metaphorisierte Mussolini die Liquiditätsprobleme Italiens in gleicher Weise, indem er die Wirtschaft zu einem Organismus machte. Es ist gleichfalls ein ähnlicher shift im Metapherngebrauch bei den Politikern im Deutschen Reich und bei Mussolini zu erkennen. Klammer stellte für das Deutsche Reich fest, dass es zu einer „Verschiebung im dominierenden Metaphernfeld – genauer die Abkehr von Reinigungs- und biologistischen Sprachbildern und schrittweise[n] Hinwendung zu bildhaften Ausdrücken mechanistisch-maschinistischer Art [kam]. Mit diesem Wandel wurde das Ökonomische weit stärker als zuvor als ein Raum konzeptualisiert, der aktiver Steuerung bedurfte.“433 Für den italienischen Kontext vollzog sich diese Verschiebung in drei Phasen und umfasste etliche Mikro-Mythen: 1. Zu Beginn der Krise dominierten Wetter- bzw. Naturmetaphern, die die Krise als eine von außen hereinbrechende Katastrophe erscheinen ließen. 2. Die Krise wurde sodann als Schwebezustand mittels der Krankheitsmetaphorik charakterisiert. In diesem Zeitraum bestimmte Mussolini auch, was die Krise überhaupt sei, d.h. er suchte nach ihren Ursachen. 3. Hinwendung zu mechanistisch-technizistischen sowie militärischen Metaphern. Die militärische Metaphorik wurde in Weimar hauptsächlich von Kommunisten und Nationalsozialisten verwendet, um dadurch ihre systemablehnende Haltung zum Ausdruck zu bringen.434 Daran kann man erstens erkennen, dass die politische Kultur im Deutschen Reich 431 Vossische Zeitung (25.12.1931): Brünings Weihnachtsbotschaft. Staatsführung nutzte den historischen Augenblick! Morgen-Ausgabe, Nr. 607, S. 1. Der Staatssekretär Brünings, Hermann Pünder, verwandte dieselbe Metaphorik des Sturms, um über die Krise zu sprechen, vgl. ebd. unter dem Titel Deutsche Weihnachten 1931. 432 Klammer (2019: 156). 433 Ebd. (122). 434 Vgl. ebd. (181).
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und in Italien durch dieselben metaphorischen Konzepte geprägt war und sie über Ländergrenzen hinweg genutzt wurden. Zweitens ist eine spezifisch faschistische Metaphorik allerhöchstens in der Konzeptualisierung der Krise als Kampf und Krieg erkennbar. Aber auch Regierungsvertreter in Weimar riefen dazu auf, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und Opfer zu erbringen, ohne systemkritische Ziele zu verfolgen.435 Es war deswegen wichtig, den Verwendungskontext nachzuzeichnen, d.h. den Gebrauch der Metaphern an politische Ziele rückzubinden, von denen her sie erst eine Einfärbung in die eine oder andere politische Richtung erhielten. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die untersuchten Jahre bilden keinen einheitlichen Krisen-Mythos. Wenn überhaupt ergibt er sich rückblickend als ein Muster, das aus Reaktion und Aktion zu beschreiben ist und aus vielen einzelnen Metaphernfeldern bestand, die Mussolini geschickt eingesetzt hatte, um situativ beschränkt rhetorische Wirkung zu entfalten. Nachdem Mussolini erst einmal das Phänomen gänzlich ignoriert und es zu relativieren versucht hatte, wälzte er die Verantwortung durch die SchiffbruchMetapher nach außen hin ab (Reaktion). Mit der Krankheitsmetaphorik konnte er sich in die Rolle des kompetenten und fürsorglichen Arztes begeben, der am Krankenbett seines Patienten wachte (Aktion). Dadurch wurde ein Abhängigkeits- und Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Wirtschaft begründet, das er sich zu Nutze machen konnte, um die kritische Lage – auch für sein Regime – zu entschärfen. Der Gefühlshaushalt konnte damit ebenso gesteuert werden, ging es doch um nichts Geringeres als um Tod oder Leben oder emotional gesprochen um Angst oder Hoffnung. War erst eine Ursache der Krise ausgemacht, konnte sie auch behoben und von Mussolini ‚bekämpft‘ werden. Dass dies nicht immer adäquat im Sinne einer rationalen Erklärung war, hat das Beispiel der Lira als nationales Symbol gezeigt, denn ökonomische oder politische Beweggründe wurden dadurch zugunsten patriotischer Gefühle ausgeblendet. So können Metaphern durch ihre Komplexitätsreduktion den Diskurs überformen, indem sie ihm ihre Bildlogik aufzwingen.436 Dass Mussolini mit seinen Reden und mit 435 Vgl. ebd. (147). Für die Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 haben Wengeler (2015: 32) und im Besonderen Drommler/Kuck (2013: 231–234) nicht nur Krankheits- und Technik-, sondern auch Kampfmetaphern nachweisen können. In der Finanzkrise kam noch eine der Kriegsmetaphorik abgewandelte Form, nämlich diejenige aus dem Bereich des Sports, hinzu. In den drei von Klammer (2019: 444) untersuchten Krisendiskursen wurde die Krankheitsmetaphorik im Vergleich zu anderen Quellbereichen am meisten genutzt. 436 Vgl. Nünning (2013: 136–140), der die verschiedenen Funktionen der Metaphorik für das Thema Krise zusammengestellt hat.
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der Vermittlung seiner Sichtweise erfolgreich war, lag vermutlich einerseits an den Metaphern selbst, die kulturell verankert und somit vertraut waren. Andererseits wollten die direkt Betroffenen auch, dass sich die Lage bessere und waren bereit, an die Versicherungen Mussolinis zu glauben. Der Korporatismus war Kristallisationspunkt vieler Hoffnungen. Er wurde von Mussolini zu einer aussichtsreichen Chance gegenüber der dunklen Alternative einer wirtschaftlichen Katastrophe stilisiert und zog außerhalb Italiens großes Interesse auf sich. Ob er effektiv funktioniert hat oder nicht, soll außen vor bleiben. Vielmehr war er ein integratives Projekt, das schon in seinen Vorstufen partizipative und gesellschaftsformierende Prozesse zwischen Industrie, Handel und Arbeitgebervertretungen kanalisierte und die damit einhergehenden Erwartungen erst spät – nach den Niederlagen in Al Alamein und Stalingrad – enttäuscht zurücklassen sollte.437 Wurden bis dato die Bemühungen des faschistischen Regimes um eine neue Kultur für die Innenpolitik betrachtet, so verschiebt sich nun der Fokus hin zur Außenpolitik. Auch auf diesem Gebiet hatte Mussolini Großes vor, denn er wollte das alte Imperium Romanum wieder aufleben lassen. 4.3.3 Das Imperium als Auftrag und Sendung Italien habe endlich sein Imperium, verkündete Mussolini 1936.438 Mit diesem vermeintlichen Verdienst wollte Mussolini in die Geschichtsbücher eingehen. Wie kam es dazu, dass der Begriff Impero (Imperium/Herrschaft/Reich) so wichtig für die italienische Politik und für den Faschismus wurde? Hierzu soll zuerst der historische Hintergrund des Begriffes geklärt werden. Sodann gilt es die Frage zu beantworten, welche spezifischen Interessen unterschiedliche Personengruppen an den Begriff geknüpft hatten. Darüber hinaus sollen die diplomatischen und kriegerischen Verwicklungen zwischen Italien, Äthiopien und dem Völkerbund betrachtet werden. Hierfür wurde auf die zehn Prinzipien der Kriegspropaganda von Anne Morelli zurückgegriffen.439 Von den vielen Reden, die Mussolini hielt, haben drei aus dieser Periode Eingang ins kollektive Gedächtnis Italiens gefunden. Aus diesem Grund werden sie als Ganze vorgestellt und mittels close reading erschlossen.
437 Vgl. Rafalski (1984: 383–390) und Petri (1998: 220 ff.). 438 Vgl. Mussolini OO (27: 268). 439 Vgl. Morelli (2004).
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4.3.3.1 Begriffsgeschichte des Imperiums Das Wort Imperium440 übte auf die Zeitgenossen Mussolinis einen suggestiven Reiz aus. Ein Tag nach der Proklamation des Imperiums 1936 lieferte der Kommentator der La Stampa in seinem Artikel Una nuova èra nochmals ein anschauliches Beispiel für diese Begeisterung: Imperium! Dieses Wort, von dem Generationen und Generationen von Italienern geträumt haben, dieses Wort, das uns in der Jugend faszinierend aufblitzte, das uns manchmal mit der Sehnsucht des Unerreichbaren einhüllte, ist nun eine glänzende, unerschütterliche Wirklichkeit.441
Was machte dieses Imperium für wen genau attraktiv? Aus dem Zitat wird deutlich, dass dem Begriff eine treibende Kraft, eine Sehnsucht innewohnte. Er war schon seit längerer Zeit im kollektiven italienischen Gedächtnis verankert. Aus den Schulbüchern des klassisch-humanistischen Gymnasiums kannte man das Imperium vom Hörensagen. Das Imperium war das nach außen gewendete Ziel des Italien-Mythos. Hierfür wurde es auch argumentativ eingesetzt. In den 20er und 30er Jahren widmeten sich einschlägige Wissenschaftsgebiete diesem Thema, u.a. die klassische Philologie, die Literaturwissenschaft oder Archäologie. Vor allem in Italien wurden aktualisierende – ganz im Sinne des Regimes – propagandistische Arbeiten über das Imperium verfasst, wie z.B. von Pericle Ducati, Ettore Pais oder Pietro De Francisci.442 Jan Nelis konnte nachweisen, dass die eben Genannten und weitere Wissenschaftler den Begriff Imperium unbestimmt ließen: „In a sense the notion of empire seemed ‚too hot an issue‘ to be treated elaborately, or in a scientifically sound manner, not at least because of its political sensitivity and usefulness.“443 Der Begriff war in Italien sehr vage und positiv konnotiert.444 Deswegen ist es unerlässlich zu 440 Eine Übersicht über die italienische Kolonialgeschichte sowie über den Begriff Imperium/ Impero geben Moos (2014), Labanca (2002) und Del Boca (1996). Eine Sicht der Zeitgenossen findet sich bei Pagliaro (1940). 441 La Stampa (10.05.1936): Una nuova èra. Mattino, N° 112, p. 1. 442 Vgl. Nelis (2011: 55, 65, 163 f.). 443 Ebd. (65). Nelis kommt am Ende seiner Studie zum Schluss: „On a general level, the impression that first emerges is one of a sterile, homogenised intellectual climate in which many intellectuals became enmeshed with the general fascist discourse“ Ebd. (169 f.). 444 Um 1900 entstanden bereits die ersten kritischen Imperialismus-Theorien, die den Begriff des Imperiums negativ einfärbten. Vgl. Osterhammel (2008: 536), s. auch Münkler (2010), der den analytischen Mehrwert des Begriffs Imperium angesichts seiner „negativen semantischen Prägung“ diskutiert, die nach 1945 wieder im Vordergrund steht.
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verstehen, was genau einzelne Personengruppen sich unter ihm vorstellten. Die Geschichte des Begriffs speiste sich aus mehreren kleinen Zuflüssen. Einen ersten Strang bildete die spirituell-kulturelle Facette: Der Faschismus trat mit dem Anspruch auf, eine ‚neue Zivilisation‘ zu schaffen. Dieser Anspruch stammte aus dem militanten Frühsozialismus und dem Florentiner La Voce-Kreis. Die Weitung des Begriffs in diese Richtung deckte nicht nur Modernisierungsbestrebungen von Futuristen oder Syndikalisten ab, sondern schloss ebenso an klassisch gewordene Vorstellungen von Italien als Kulturnation und Nachfolgerin des römischen Reiches an. Im Hintergrund stand die Reichs-Idee, wie sie schon von Vergil in seiner Aeneis propagiert wurde. Vermittelt über das Christentum gelangte sie über Dante ins kulturelle Gedächtnis des neu gegründeten Staates Italien. Die zwei wohl meistgebrauchten Vergil-Zitate in diesem Zusammenhang waren „imperium sine fine dedi“ (eine Herrschaft ohne Ende habe ich ihnen vergönnt) und „Tu regere imperio populos, Romane, memento / hae tibi erunt artes – pacique imponere morem, / parcere subiectis et debellare superbos.“445 (Du aber, Römer, gedenke den Völkern mit Macht zu gebieten. Das sei dein Beruf, Gesittung und Frieden zu schaffen, Unterworfene zu schonen und niederzuringen die Stolzen!). Die Verse enthielten bereits den Kern der RomIdeologie, die zur Legitimierung einer expansionistischen Großmacht herangezogen wurde. Eroberung stellte darin einen göttlichen Auftrag dar. Später wird diese Mission christlich umgedeutet, sodass Expansion immer auch Christianisierung bedeutete. Im 19. Jahrhundert wurde der Missionsgedanke dann säkularisiert, indem die christliche Motivation durch die zivilisierende Fortschrittsidee ersetzt wurde.446 Implizit kommt dadurch zum Ausdruck, dass die wie auch immer geartete ‚Mission‘ ein Geschenk an die ‚unterentwickelten‘ Völker sei. Das Imperium bringe ihnen Sicherheit und Frieden, stelle eine pax romana her. Imperium und Rom wurden auf diese Weise aufs Engste durch einen materiellen wie durch einen geistigen Diskurs miteinander verbunden. Rom als Symbol göttlicher Ordnung und das Imperium als dessen Entfaltung wurde geschichtsphilosophisch zum Letztziel allen Seins aufgeladen. „Rom nimmt in der europäischen Geistes- und Politikgeschichte einen festen Platz als paradigmatisches Imperium und Ressource der Legitimation und Selbstreflexion ein“447. 445 Verg. Aen. I, 279 und VI, 851 ff. Übers. v. Gerhard Fink. Die ewige Herrschaft wurde den Römern vom Göttervater Zeus zugesichert. Der pagane Ursprung dieser Zusage wurde später christianisiert. 446 Vgl. Hausteiner (2015: 245). 447 Ebd. (28).
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Ideengeschichtlich lebte darin die Vorstellung der Vier-Reiche-Lehre aus dem Buch Daniel (2, 31–2, 45) fort. Nach dem letzten Großreich, das in der antiken und nachantiken Deutung mit dem Imperium Romanum gleichgesetzt wurde, könne es kein weiteres Reich mehr geben. Aus dieser Beschränkung auf die vier Reiche wurde das letzte immer wieder fortgesetzt, d.h. das Römische Reich erlebte sozusagen mehrere Neuauflagen: zuerst in Byzanz (Zweites Rom), dann im Heiligen Römische Reich deutscher Nationen oder im Zarenreich (Drittes Rom). Auch andere Staaten und Dynastien beriefen sich darauf, Rom fortzusetzen. „In den Debatten um das British Empire avanciert Rom bei imperialen Eliten zur äußert populären Legitimationsressource.“448 Dieses Vorgehen wird auch als translatio imperii beschrieben. Das römische Imperium sei nicht untergegangen, denn dies widerspräche der literarischen Verheißung Vergils, der das Imperium als ewig – sine fine – charakterisiert hatte. Italien war mit der Beschwörung des Imperiums also nicht alleine. Andere Großmächte – oder die es werden wollten – beriefen sich ebenfalls auf das Imperium Romanum. Der Unterschied im Verständnis der translatio imperii lag in Italien nicht nur in der Zählweise, sondern auch in der geographischen Zuordnung der Nachfolge: Erstens firmierte das byzantinische Reich nicht unter dem Namen des Zweiten Rom, sondern das Rom der mittelalterlichen Päpste. Das Dritte Rom wurde sodann in das neu gegründete Italien respektive in die von den Faschisten gestaltete Zukunft verlegt.449 Zweitens blieb das Imperium für die Italiener über die ganze Zeit geographisch an Italien gebunden. Das British Empire griff „auf das antike Rom konsequent analogisierend und nur in Ausnahmefällen genealogisierend“450 zurück. Italiens behauptete Sonderstellung drückte sich gerade im umgekehrten Vorgehen aus: Italien erwartete als natürliche Nachfolgerin der Römer eine große imperiale Zukunft. Galt für die Briten „Ubi imperium, ibi Roma“451, so drehten die Italiener die Aussage einfach um: Ubi Roma, ibi imperium. Deswegen erfuhren die Ausgrabungen in Rom, die Freilegung von Ruinen und deren Aufbereitung durch das Regime 448 Ebd. (1). 449 Vgl. Mazzini (18722: 52): „Due volte Roma fu la Metropoli, il Tempio del mondo Europeo: la prima, quando le nostre aquile percorsero conquistatrici da un punto all’altro le terre cognite e le preparono all’Unità colle istituzioni civili; la seconda, quando […] il genio d’Italia s’incarnò nel Papato e adempì la solenne missione, cessate da quattro secoli, di diffondere la parola d’Unità dell’anime ai popoli del mondo Cristiano. Albeggia oggi per la nostra Italia una terza missione“. Ähnlich Mussolini: „Dopo la Roma dei Cesari, dopo quella dei Papi, c’è oggi una Roma, quella fascista, la quale con la simultaneità dell’antico e del moderno, si impone all’ammirazione del mondo.“ OO (26: 187). 450 Hausteiner (2015: 354). 451 Ottmann (2002: 2).
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eine besondere Aufmerksamkeit, denn damit ließen sich augenscheinlich die imperialen Ansprüche legitimieren.452 Einen zweiten Strang des Imperiums bildete der extreme Nationalismus mit dessen Partei Associazione Nazionalista Italiana (ANI). Mit der Fusion von ANI und den Fasci Italiani di Combattimento im Jahr 1923 zum sogenannten Nazionalfascismo wurde der Rom-Mythos teilweise modifiziert und verstärkt. Aus einem rein fundierenden Mythos wurde ein auf die Zukunft ausgerichteter mobilisierender Mythos.453 Der idealistische Gehalt der ersten Facette wurde durch eine militärische angereichert. Besonders der Erste Weltkrieg und der Sieg Italiens über die Mittelmächte führte zu einem Nationalisierungsschub.454 Der Faschismus knüpfte daran an, „nahm eine bereits recht ausgebildete RomIdeologie nationalistischer Provenienz auf und vermischte sie teilweise mit anderen Elementen. Dabei war die Topik dieser Rom-Ideologie soziologisch vor allem an die bürgerlichen, meist aus Rom selbst stammenden Nationalisten gebunden“455, so Friedemann Scriba. Das Imperium als territoriale Expansion war allerdings nicht nur für ein nationalistisch gesinntes Kleinbürgertum interessant, das sich wünschte, Italien endlich als ebenbürtige Großmacht in den Reihen der anderen Mächte aufgenommen zu sehen. Ebenso anziehend war es für das italienische Heer. Bauern, Arbeits- und Besitzlosen verhieß das Imperium Arbeit und Ackerland in den neu gewonnenen Kolonien. Ein dritter Strang ergab sich aus dem Kolonialismus, der die Welt damals in große Reiche und Einflusszonen aufteilte. In den Geschichtswissenschaften wird der Zeitabschnitt von ca. 1870–1914/18 als Zeitalter des Imperialismus bezeichnet. Das Expansionsstreben hörte jedoch nach dem Ersten Weltkrieg nicht einfach so auf. 1913 waren 39 % der gesamten Landfläche der Welt kolonialisiert, 1938 waren es dann 42 %.456 Die großen Kolonialreiche wie das englische oder französische lösten sich erst im Zuge der Dekolonialisierung in den 50er und 60er Jahren auf. „Neben die alten Kolonialreiche traten in
452 Vgl. Curtius (1934: 11 f.): „Dieses herrliche Unternehmen [nämlich die Freilegung der Kaiserforen und die Errichtung der Via dell’Impero im Zentrum Roms] ist viel weniger ein rein archäologisches, als es zunächst scheint. Seine gedanklichen Hintergründe sind politische und verkehrstechnische, die schließlich zusammenfallen.“ Für neuere Arbeiten zu dieser Thematik s. Gentile (2007) und Arthurs (2012). 453 Vgl. Gentile (2006: 171). 454 Auch der Gefallenenkult, der mit dem Ersten Weltkrieg einsetzte, trug zur Nationalisierung bei und zeigt, wie sehr sich der Nationalismus mental ausgebreitet hatte, vgl. Janz (2009: 389). 455 Scriba (1995: 289). 456 Vgl. Burbank/Cooper (2012: 361).
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den 1930er Jahren neue Imperialismen […] von unerhörter Aggressivität: der japanische, der italienische und der deutsche.“457 Der Begriff Imperium wurde in Italien als Idee der Gleichheit gegenüber anderen Kolonialreichen in Stellung gebracht. Hierin lag ein revisionistisches Bestreben gegenüber der Versailler Ordnung und dem Völkerbund. Italien als verspätete und ‚proletarische‘ Nation müsse sich gegen die reichen Nationen und Imperien zur Wehr setzen. Daraus ergab sich eine wertbasierte Argumentation, die soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit nach innen und nach außen für Italien verlangte.458 Dieser Punkt sprach vor allem die Arbeiterschaft an, die der rein nationalistischen Rhetorik von ehemaliger Größe indifferent bis skeptisch gegenüberstand.459 Ferner sei noch erwähnt, dass der Begriff des Imperiums verstärkt ab 1926 in den Diskurs über Zeitschriften, Kolonialtage oder Institute (Istituto Coloniale Fascista) eingespeist wurde. Zuerst geschah dies in der spirituell-kulturellen Lesart, in den 30er Jahren überwog dann die militärische Facette. Das Imperium hielt sich als Ziel faschistischer Politik bis 1936, danach ging es um die Konsolidierung und Absicherung des neuerworbenen Kolonialreichs.460 Der Begriff Imperium wurde zu einem unspezifischen Herrschaftskonzept entwickelt, das wirtschaftliche, religiöse, kulturelle und militärische Ziele miteinander verschmolz. Es war somit ein catch-all-Wort, das sich an viele Kontexte anpassen konnte, weil es unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen in sich vereinte.461 Das Imperium in der Reden Mussolinis Vor dem Äthiopienkrieg im Jahr 1935 kam Mussolini nur vereinzelt auf das Imperium zu sprechen. In verschiedenen Reden streifte er das Thema sehr kurz. Jan Nelis kommt deswegen zu folgender Einschätzung: During the Ethiopian campaign (1935), Rom’s Mediterranean mission and destiny again came to the fore in Fascist classicism. Although Mussolini doubtless shared these views, in his writings and speeches he did not make frequent references to classical antiquity. The cult of romanità, which was at its height in this period, seemed to be supported by Il Duce, but he cannot be called a real cultore 457 458 459 460 461
Osterhammel (2008: 536), Kurs. i. Orig. Vgl. Zunino (2013: 357 f.). Vgl. Coralizi (1991: 188). Vgl. Borgini Künzi (2006: 136). Vgl. Ludwig (1932: 63). Mussolini war sich der vielen Bedeutungen des Imperiums bewusst. Dies erklärte er zumindest gegenüber einem amerikanischen Journalisten 1925, vgl. Mussolini OO (22: 44).
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Kapitel 4 della romanità (promoter of Romanness). It is, sadly, in a racist context that classical antiquity prominently resurfaced in Mussolini’s oratory.462
In den gleich vorgestellten Reden aus den Jahren 1935 und 1936 kann Mussolini hingegen schon als cultore della romanità bezeichnet werden. Die Proklamation des Imperiums ist thematisch schlechthin an das Konzept der romanità gebunden. Dass die Themen der romanità und des Imperiums in den späten 30er Jahren noch mehr an Prominenz im politischen Diskurs gewannen, ist verständlich, denn nun hatte Italien ein echtes Imperium, das aufgebaut und befriedet werden musste. War Mussolini Nelis zufolge nicht der Hauptförderer der romanità, so hatten seine Äußerungen allerdings wohl das größte Prestige in einem Mediensystem, das verpflichtet war, alle seine Äußerung zu verbreiten und zu loben. Einige Beispiele seien angeführt, um aufzuzeigen, in welcher Weise Mussolini vor 1936 vom Imperium sprach. Zum Jahreswechsel 1929 und 1930 thematisierte er es im Zusammenhang der Battaglia del grano: Il 1930, o camerati agricoltori, sarà l’anno di Virgilio, il poeta dell’Impero e dei campi. Noi lo celebreremo fascistamente, al lavoro e col lavoro, facendo compiere un altro balzo innanzi a tutta l’agricoltura italiana.463 1930, o Kameraden Bauern, wird das Jahr von Vergil sein, der Dichter des Imperiums und der Felder. Wir werden ihn auf faschistische Art feiern, bei der Arbeit und mit der Arbeit, sodass dadurch die ganze italienische Landwirtschaft einen weiteren Sprung nach vorn machen wird.
Das Imperium ist, wie Kap. 4.3.1 gezeigt hat, eine landschaftliche Idylle, die Berührungspunkte zur römischen Herrschaft aufwies. In der faschistischen Politik des ruralismo finden sich diese zwei Sichtweisen vereint. Sodann wird das Imperium als Zeitalter militärischer Stärke von Mussolini herangezogen und zum Vergleichspunkt gemacht: Gli italiani del nostro eccezionale e durissimo tempo, che questo hanno fatto, non sono nuclei rari, ma milioni, da un capo all’altro d’Italia, disciplinati, per la prima volta dopo l’Impero di Roma, in masse di combattimento.464 Die Italiener unserer außergewöhnlichen und sehr harten Zeit, die dies unternommen haben [scil. Garibaldis Mission weiterzuführen], sind keine vereinzelten 462 Nelis (2007: 400 f.), Kurs. i. Orig. 463 Mussolini OO (24: 178), dann später ebenso, s. ebd. (287) zur Übergabe einer AeneisAusgabe. 464 Mussolini OO (25: 109). Auch in die Topographie wurde das Imperium eingeschrieben, vgl. die Via dell’Impero in Rom (heute Via dei Fori Imperiali).
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Gruppen, sondern Millionen, von einem bis zum anderen Ende Italiens, massenweise zum Kampf diszipliniert, zum ersten Mal nach dem Imperium Romanum.
Soldatischer Geist von damals sei wieder erneuert worden und man knüpfe an vergangene Größe an, auch was die innere Haltung anging (disciplinati). Und weiter: Noi abbiamo dimostrato nella maniera più ferma, più schietta e più reale che desideriamo la pace, ma con onore e giustizia per tutti. […] La pace con onore e con giustizia è la pace romana, quella che dominò nei secoli dell’impero, di cui vedete qui attorno le formidabili vestigia. Pace conforme al carattere e al temperamento della nostra razza latina e mediterranea, che voglio esaltare dinanzi a voi, perché è la razza che ha dato al mondo, fra i mille altri, Cesare, Dante, Michelangelo, Napoleone. Razza antica e forte di creatori e di costruttori, determinata ed universale ad un tempo, che ha dato tre volte nei secoli e darà ancora le parole che il mondo inquieto e confuso attende.465 Wir haben auf mehr als entschlossene, aufrichtige und sachliche Art bewiesen, dass wir den Frieden wünschen, jedoch einen mit Ehre und Gerechtigkeit für alle. […] Der Friede mit Ehre und Gerechtigkeit ist römischer Friede, jener, der Jahrhunderte das Imperium beherrschte, von dem ihr hier rings die großartigsten Spuren seht. Ein Friede, der dem Charakter und dem Temperament unserer lateinischen und mediterranen Rasse entspricht. Diese Rasse will ich vor euch lobpreisen, weil sie es ist, die der Welt – unter den tausend anderen – Cäsar, Dante, Michelangelo und Napoleon geschenkt hat. Eine alte und starke Rasse von Erfindern und Erbauern, konkret und universal zugleich, die drei Mal in den vergangenen Jahrhunderten Antworten gegeben hat und der Welt, die – unruhig und verworren – darauf wartet, erneut geben wird.
Zum faschistischen Jahreswechsel konstruierte Mussolini 1933 eine Genealogie italischer und römischer Geistesgröße, die pars pro toto, für die ganze Rasse stünde: Cäsar als römischer Eroberer, Dante als Befürworter der römischen Universalmonarchie und Schöpfer der italienischen Sprache, Michelangelo als göttlicher Künstler und Napoleon als in Korsika geborener, cäsarischer Wiedergänger und Eroberer Europas. Gerade die letzte, so selbstverständlich vorgenommene Einordnung, mag irritieren, war Napoleon doch Kaiser der 465 Mussolini OO (26: 78 f.). Dass hier razza als Rasse übersetzt wurde und nicht etwa als Geschlecht hat den Grund, dass Mussolini schon damals zum Äußerungszeitpunkt 1932 Rassist war. Woller (2016: 164) erhellt dies in seiner Mussolini-Biographie: „Der Antisemitismus avancierte bereits in den zwanziger Jahren zu einem tragenden Pfeiler seiner Ideologie, auch wenn das in der praktischen Politik noch nicht gleich zu erkennen war.“ Ein weiteres Beispiel für den strategischen Einsatz des Imperiums findet sich auch bei Mussolini OO (26: 319). Die Wirkmechanismen zu dieser Rede finden sich analysiert bei Schuhmacher (2019).
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Franzosen. Sie lässt sich aber aus dem Geniekult der damaligen Jahre erklären sowie aus der ‚logischen‘ Tatsache, dass wenn Napoleon militärisch erfolgreich war, er dies nur seiner römischen Abstammung zu verdanken hätte.466 Die Namen für diesen so geführten Beweis können variieren, meist sind es aber Männer, die Geschichte machten. Das Imperium wurde durch die Nennung dieser Namen zum Wohnort der Kultur schlechthin gemacht und gegen die Barbaren nach außen abgegrenzt. Das können Germanen oder Karthager sein, obwohl letztere auch eine Hochkultur an den Küsten Afrikas errichteten: Noi fummo grandi quando dominammo il mare. Roma non poté arrivare all’impero prima di avere schiacciato la potenza marinara di Cartagine. Perché il Mediterraneo, che non è un oceano e che ha due sbocchi vigilati da altri, non sia il carcere che umilia il nostro vigore di vita, bisogna essere forti sul mare.467 Wir waren groß, als wir das Meer beherrschten. Rom konnte kein Imperium erlangen, bevor es nicht die Seemacht Karthago zerschlagen hatte. Damit das Mittelmeer, das kein Ozean ist und zwei von anderen bewachten Mündungen hat, nicht zum Kerker werde, der unsere Lebenskraft bezwingt, müssen wir stark auf dem Meer sein.
Die historischen Bezüge fielen oft stereotyp aus und wurden von Mussolini als politische Orientierungsfolie für die Zukunft genutzt. Im selben Zuge wurden auf diese Weise Feindbilder nach außen und Identität nach innen konstruiert, die durch den Äußerungskontext leicht auf die aktuelle Politik übertagen werden konnten. Dass der Begriff Imperium überhaupt Überzeugungskraft für ein heterogenes Publikum entfalten konnte, beruhte auf der Anknüpfung mit den oben ausgeführten Punkten. Die Offenheit spielte dabei eine herausragende Rolle. Der Journalist Giovanni Ansaldo hatte dies deutlich erkannt und notierte in seinem Tagebuch: [S]ie [die Jungfaschisten, F.S.] wollen mehr als je zuvor Ruhm, Macht, den Flug der Adlerstandarten, das Imperium. Dieselben enormen Kundgebungen der Menge, die in diesen Tagen [scil. 1932] stattgefunden haben, bestätigen – falls es dessen noch bedarf – diese vage Erwartung eines ganzen Volkes. Es ist mehr ein ahnendes Verlangen nach Zukünftigem als ein Zeichen der Zustimmung über 466 Vgl. Kap. 3.5 und Mussolini OO (25: 136) sowie (26: 377 f.). Korsika wird damit implizit zur italienischen Einflusszone gemacht. Das weist auf die Ansprüche Italiens hin, das Mittelmeer (mare nostrum) zu beherrschen. „Für das faschistische Establishment war die Vorstellung eines Herrschaftsraums, der das Mittelmeer und den Balkan umfasste, geradezu eine Selbstverständlichkeit.“ Moos (2014: 1157). 467 Mussolini OO (26: 323). Zur Vertiefung s. Schuhmacher (2018). Zu einem ähnlichen Thema hatte Mussolini einen Vortrag an der Università degli Studi in Perugia 1927 gehalten: Roma antica sul mare, vgl. OO (22: 213–227).
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die vergangenen Angelegenheiten. 150 tausend Personen versammeln sich nicht, um ihren Dank für Brücken und Urbarmachung auszudrücken, sie versammeln und begeistern sich für anderes. Letztendlich liegt diesen Kundgebungen eine große Implikation [gran sottinteso] zugrunde und, wenn man will, ein großes Missverständnis.468
In diesem Missverständnis lag die eigentliche Funktionsweise des Imperiums begründet: Es war ein leerer Signifikant, versehen mit vielen, auch widersprüchlichen Bedeutungsschichten.469 Die Italiener konnten sich – je nach Kontext – etwas anderes darunter vorstellen. Für eine rhetorische Nutzung war der Begriff so geeignet, weil er als integrativer Sinnhorizont die Folie für unausgesprochene Partikularinteressen abgab. Die erzeugten Wünsche und Sehnsüchte mussten jedoch irgendwann einmal gestillt werden, um nicht in eine Glaubwürdigkeitsfalle zu geraten. Ansaldo hatte diese Zwickmühle scharfsinnig analysiert: Nach einem Jahrzehnt kriegerischer Predigt, nationalistischer Übertreibung, heroischer Verherrlichung schließt Mussolini schließlich den Viererpakt [= Patto a Quattro, F.S.]. Und die ‚Impero‘ kündet triumphierend auf einer ganzen Seite ‚Das Imperium gegründet – für uns, Duce‘. […] Ich glaube, dass dies der Kern der Sache ist: Der Krieg war und bleibt das Hauptziel Mussolinis. […] Und nun: Friede, selbstredend pax romana. Da er nicht als Protagonist eines siegreichen Krieges erscheinen konnte, erscheint er zumindest als erster Akteur eines europäischen Friedens. […] Einer Minderheit von Überzeugten und von Fanatikern muss Mussolini in Bezug auf den Pakt Rechnung tragen. Mit ihnen muss er zurechtkommen. In der Politik ist alles möglich, ausgenommen den Enthusiasmus und das Vertrauen zu betrügen.470
Mit dem Viererpakt kann man das erste Kriegspropaganda-Prinzip von Morelli in Verbindung bringen: Man solle sich als friedliebend darstellen. Dass sich aus Kriegsrhetorik und Friedensbeteuerung kein Widerspruch ergeben musste, zeigt sodann das zweite Prinzip: Die Kriege würden immer von außen aufgezwungen, denn von sich aus käme man gar nicht auf die Idee, einen Angriffskrieg zu führen.471 Mussolini verflocht in seinen Reden immer wieder Drohung und Beschwichtigung, Kriegs- und Friedensaussicht miteinander. Das war darüber hinaus für ihn nichts Ungewöhnliches und fand in vielen Kontexten 468 Ansaldo (2000: 44), Kurs. i. Orig. 469 Vgl. Reckwitz (2006: 344). 470 Ansaldo (2000: 44 f.) Die ‚Impero‘ war eine in Rom ansässige, nationalistische Zeitung. Die Formulierung des Zeitungstitels ist im Original eine rituelle Antwort, der eine Frage vorausging: Wem der Sieg? Wem das Imperium? – Uns! Auf Inschriften oft in Latein: Nobis. 471 Vgl. Morelli (2004: 11–33).
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Anwendung.472 Die zugrundeliegende Denkfigur ist ein Dualismus, der durch (Selbst-)Zuschreibung erzeugt wird: Mussolini und Italien seien friedliebend, die anderen hingegen immer aggressiv. 4.3.3.2 Überfall auf Äthiopien: der Discorso della mobilitazione Im Jahr 1934 begann die vorbereitende Phase für den Überfall auf Äthiopien auf diplomatischer und militärischer Ebene.473 Um nicht als Kriegstreiber dazustehen, suchte Mussolini nach einer Gelegenheit, die er zum casus belli machen konnte. Hierfür boten sich die Zwischenfälle vom 5. Dezember 1934 in der italienisch-abessinischen Grenzregion bei Ual Ual an, bei denen es ungewollt zu Kämpfen und Toten auf beiden Seiten kam. Mussolini nahm am 25. Mai 1935 vor dem Senat Stellung und beschrieb die Lage wie folgt: Lo scontro di Ual-Ual è stato il campanello segnalatore di una situazione che veniva maturando da tempo, situazione che impone all’Italia fascista l’adempimento di imprescindibili doveri.474 Der Zusammenstoß von Ual Ual war die Alarmglocke für eine Situation, die sich schon seit längerem entwickelte, eine Situation, die dem faschistischen Italien die Erfüllung unumgänglicher Pflichten auferlegt.
Und weiter: Così nessuno deve sperare di fare dell’Abissinia una nuova pistola, che sarebbe puntata perennemente contro di noi e che in caso di torbidi europei renderebbe insostenibile la nostra posizione nell’Africa Orientale.475 Niemand sollte hoffen aus Abessinien eine neue Waffe zu schmieden, die ständig auf uns gerichtet wäre und die im Falle von europäischen Unruhen unsere Position in der Kolonie Westafrika unhaltbar machen würde.
Deutlich werden hier Spannungen, die es tatsächlich auch gab, zu einem Bedrohungsszenario aufgebaut: Äthiopien/Abessinien wurde zum Aggressor, zur Schusswaffe (pistola) gemacht. Das Land könnte Italien bei der erstbesten Gelegenheit hinterhältig in den Rücken fallen. Kriegerische Vorbereitungen seitens Äthiopiens seien schon länger im Gange und zwängen Italien nun nachzuziehen. Die Öffentlichkeit wurde medial schon seit geraumer Zeit auf einen Krieg vorbereitet. Doch noch im Juni 1935 zeigte sich die Bevölkerung, die Mussolini 472 473 474 475
Vgl. Salustri (2018: 138). Vgl. Borgini Künzi (2006: 164). Mussolini OO (27: 79). Ebd. (80).
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für sein vermeintliches Friedenswerk zwischen Frankreich, Großbritannien und dem Deutschen Reich gefeiert hatte, skeptisch.476 Der Schweizer Diplomat Georges Wagnière befand: „Il est certain […] que cette campagne africaine ne soulève aucun enthousiasme dans la population.“477 Wenig später wurde er eines Besseren belehrt. Er hielt an seiner Einschätzung dennoch fest, dass nämlich de l’avis de beaucoup d’Italiens, le gouvernement aurait dû accepter les propositions franco-britanniques tendant à assurer à l’Italie des avantages considérables en Éthiopie tout en évitant le conflit armé. Cet avis si sensé est partagé par des militaires préoccupés des difficultés que cette conquête africaine représentera pour l’Italie pendant longtemps.478
Nachdem Italien sich mit England und Frankreich diplomatisch abgesichert hatte, erklärte Mussolini am 3. Oktober 1935 die Generalmobilmachung des italienischen Volkes und den Beginn des ‚Kolonialkonfliktes‘. Eine offizielle Kriegserklärung war dies nicht und wurde vielleicht gegenüber einem afrikanischen und als barbarisch erachteten Land für nicht notwendig befunden.479 Die Rede wurde durch eine große Inszenierung eingerahmt: Glocken und Sirenen riefen zu einem landesweiten Appell. Ab 15:30 Uhr liefen im Radio Anweisung, sich zu versammeln. Die Geschäfte schlossen, die Arbeit wurde niedergelegt. Tausende von Italienerinnen und Italienern gingen nach Hause, um das Schwarzhemd oder andere Uniformen anzuziehen und fanden sich auf den Plätzen ein. Aus den öffentlichen Lautsprechern erklang Marschmusik, die Häuser waren mit Trikoloren geschmückt. Zu Beginn der Rede war es dunkel geworden, aber die Häuser und Paläste waren hell erleuchtet. Zugeschaltet über das Radio waren alle Plätze Italiens und selbst das Ausland durch eine simultane Übersetzung.480 Mussolini erschien auf dem Balkon des Palazzo Venezia in Rom und sprach: 476 Vgl. Del Boca (1996: 422): „Per quasi due anni, dal dicembre del 1934 alla tarda estate del 1936, gli organi del ministero della Cultura popolare intensificano la diffusione di messaggi a tutte le categorie della società italiana attraverso la radio, la stampa, e il cinema.“ Vgl. zur Stimmung in der Bevölkerung Colarizi (1991: 184). Für das Radio, das die Möglichkeit eröffnete, fast in Echtzeit an den Ereignissen teilzunehmen, hat Salustri (2018: 146–156) das Programm und seine Inhalte untersucht. Hier ist vor allem die ruhige Darstellungsweise des damals beliebten Sprechers Roberto Forges Davanzati zu nennen, der anscheinend gerade dadurch sehr überzeugend für das Regime wirkte. 477 Wagnière (1944: 226). 478 Ebd. (234). 479 Vgl. Fazal (2018: 87). 480 Vgl. Le Temps (04.10.1935): L’accueil fait au discours. En Grande-Bretagne. N° 27059, p. 2: „Le discours prononcé à Rome par M. Mussolini a été traduit et diffusé de Rome en anglais
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[1] Camicie nere della rivoluzione! Uomini e donne di tutta Italia! Italiani sparsi nel mondo, oltre i monti e oltre i mari! Ascoltate! [2] Un’ora solenne sta per scoccare nella storia della patria. Venti milioni di uomini occupano in questo momento le piazze di tutta Italia. Mai si vide nella storia del genere umano, spettacolo più gigantesco. Venti milioni di uomini: un cuore solo, una volontà sola, una decisione sola. La loro manifestazione deve dimostrare e dimostra al mondo che Italia e fascismo costituiscono una identità perfetta, assoluta, inalterabile. Possono credere il contrario soltanto i cervelli avvolti nella più crassa ignoranza su uomini e cose d’Italia, di questa Italia 1935, anno XIII dell’era fascista. [3] Da molti mesi la ruota del destino, sotto l’impulso della nostra calma determinazione, si muove verso la mèta: in queste ore il suo ritmo è più veloce e inarrestabile ormai! Non è soltanto un esercito che tende verso i suoi obiettivi, ma è un popolo intero di quarantaquattro milioni di anime, contro il quale si tenta di consumare la più nera delle ingiustizie: quella di toglierci un po’ di posto al sole.
(1) Schwarzhemden der Revolution! Männer und Frauen ganz Italiens! Italiener, verstreut in der Welt, jenseits der Berge, jenseits der Meere: Hört! (2) Eine feierliche Stunde schlägt nun in der Geschichte des Vaterlandes. 20 Millionen Menschen bevölkern in diesem Augenblick die Plätze ganz Italiens. Nie sah man in der Geschichte der Menschheit ein gigantischeres Schauspiel. 20 Millionen Menschen – aber nur ein Herz, ein Wille, ein Entschluss. Ihre Kundgebung soll der Welt zeigen und zeigt, dass Italien und der Faschismus eine vollkommene, absolute und unerschütterliche Einheit bilden. Nur in krasse Ignoranz eingehüllte Gehirne können das Gegenteil von Italien annehmen, von diesem Italien 1935, im XIII. Jahr faschistischer Zeitrechnung. (3) Seit vielen Monaten bewegt sich das Rad des Schicksals durch den Antrieb unserer ruhigen Berechnung in Richtung Ziel. In diesen Stunden ist sein Rhythmus schneller und nunmehr unaufhaltsam geworden! Es ist nicht nur gegen ein Heer, das seinem Ziel zustrebt, sondern gegen ein ganzes Volk von 44 Millionen Seelen, gegen das man die schwärzeste aller Ungerechtigkeiten zu begehen versucht: jene nämlich, uns einen Platz an der Sonne zu rauben.
par les soins de la radiodiffusion italienne. Les auditeurs londoniens ont donc pu suivre tout au long les déclarations du Duce que traduisait, au fur et à mesure, une femme à la diction parfaitement intelligible.“
Reden- und Mythenanalyse [4] Quando nel 1915 l’Italia si gettò allo sbaraglio e confuse le sue sorti con quelle degli Alleati, quante esaltazioni del nostro coraggio e quante promesse! Ma, dopo la vittoria comune, alla quale l’Italia aveva dato il contributo supremo di seicentosettantamila morti, quattrocentomila mutilati, e un milione di feriti, attorno al tavolo della esosa pace non toccarono all’Italia che scarse briciole del ricco bottino coloniale altrui. Abbiamo pazientato tredici anni, durante i quali si è ancora più stretto il cerchio degli egoismi che soffocano la nostra vitalità. Con l’Etiopia abbiamo pazientato quaranta anni! Ora basta! [5] Alla Lega delle nazioni, invece di riconoscere i nostri diritti, si parla di sanzioni. Sino a prova contraria, mi rifiuto di credere che l’autentico e generoso popolo di Francia possa aderire a sanzioni contro l’Italia. I seimila morti di Bligny, caduti in un eroico assalto, che strappò un riconoscimento di ammirazione allo stesso comandante nemico, trasalirebbero sotto la terra che li ricopre.
Io mi rifiuto del pari di credere che l’autentico popolo di Gran Bretagna, che non ebbe mai dissidi con l’Italia, sia disposto al rischio di gettare l’Europa sulla via della catastrofe per difendere un paese africano, universalmente bollato come un paese senza ombra di civiltà.
305 (4) Als Italien 1915 alles aufs Spiel setzte und sein Schicksal mit dem der Alliierten verband, wie viel Lob gab es da für unseren Mut und wie viele Versprechen! Nach dem gemeinsamen Sieg jedoch, für den Italien den höchsten Beitrag, nämlich 670.000 Tote, 400.000 Verstümmelte und 1.000.000 an Verletzten, leistete, fielen Italien rund um den Tisch des verhassten Friedens nur wenige Krümel der reichen Kolonialbeute anderer zu. Wir haben uns 13 Jahre in Geduld geübt, währenddessen sich der Kreis der Egoismen, die unsere Lebenskraft ersticken, noch enger zog. Mit Äthiopien haben wir 40 Jahre Geduld gehabt! Nun ist Schluss damit! (5) Im Völkerbund spricht man, anstatt unsere Rechte anzuerkennen, von Sanktionen. Bis zum Beweis des Gegenteils weigere ich mich zu glauben, dass das wahre und großzügige Volk Frankreichs sich an Sanktionen gegen Italien beteiligen kann. Die 6.000 Toten von Bligny, gefallen in einem heroischen Angriff, der selbst dem feindlichen Kommandanten anerkennende Bewunderung entlockte, würden unter der sie bedeckenden Erde empört auffahren. Ich weigere mich desgleichen zu glauben, dass das wahre Volk Großbritanniens, das nie im Zwist mit Italien lag, bereit ist das Risiko einzugehen, Europa in eine Katastrophe zu stürzen, um ein afrikanisches Land, das überall als gänzlich kulturlos gebrandmarkt ist, zu verteidigen.
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(6) Wirtschaftlichen Sanktionen werden wir unsere Disziplin, unsere Genügsamkeit, unseren Aufopferungswillen entgegensetzen. Militärische Sanktionen werden wir mit militärischen Maßnahmen beantworten. Auf kriegerische Handlungen werden wir mit ebensolchen antworten. Niemand komme auf die Idee uns zu beugen, ohne davor schwer gekämpft zu haben. Ein auf seine Ehre bedachtes Volk kann weder anders sprechen noch handeln! (7) Es sei noch einmal auf ent[7] Ma sia detto ancora una volta, schiedenste Weise gesagt – und ich nella maniera più categorica – e io ne verspreche euch in diesem Moment prendo in questo momento impegno hier hoch und heilig –, dass wir alles sacro davanti a voi – che noi faremo tutto il possibile perché questo conflitto Mögliche unternehmen werden, damit dieser koloniale Konflikt di carattere coloniale non assuma il nicht den Charakter und das Auscarattere e la portata di un conflitto maß eines europäischen annehme. europeo. Ciò può essere nei voti di Dies wünschen sich gerade jene, die coloro che intravvedono in una nuova guerra la vendetta di templi crollati, non in einem neuen Krieg Rache für ihre zusammengestürzten Tempel erhoffen. nei nostri. Mai come in questa epoca Wir wollen dies aber nicht. Nie wie in storica il popolo italiano ha rivelato le dieser historischen Epoche zuvor hat qualità del suo spirito e la potenza del das italienische Volk die Eigenschaften sua [sic] carattere. seines Geistes und die Stärke seines Charakters offenbart. (8) Gegen dieses Volk, dem die Mensch[8] Ed è contro questo popolo, al quale heit einige seiner größten Errungenl’umanità deve talune delle sue più schaften schuldet, gegen dieses Volk grandi conquiste, ed è contro questo von Dichtern, Künstlern, Helden, popolo di poeti, di artisti, di eroi, di Heiligen, Seefahrern, Entdeckern, wagt santi, di navigatori, di trasmigratori, è contro questo popolo che si osa parlare man von Sanktionen zu sprechen. di sanzioni. [6] Alle sanzioni economiche opporremo la nostra disciplina, la nostra sobrietà, il nostro spirito di sacrificio. Alle sanzioni militari risponderemo con misure militari. Ad atti di guerra risponderemo con atti di guerra. Nessuno pensi di piegarci senza avere prima duramente combattuto. Un popolo geloso del suo onore non può usare linguaggio né avere atteggiamento diverso!
Reden- und Mythenanalyse [9] Italia proletaria e fascista, Italia di Vittorio Veneto e della rivoluzione! In piedi! Fa’ che il grido della tua decisione riempia il cielo e sia di conforto ai soldati che attendono in Africa, di sprone agli amici, e di monito ai nemici in ogni parte del mondo: grido di giustizia, grido di vittoria!481
307 (9) Proletarisches und faschistisches Italien, Italien von Vittorio Veneto und der Revolution! Auf! Lass den Schrei deines Entschlusses den Himmel erfüllen. Er sei für die Soldaten, die in Afrika warten, Ermutigung; den Freunden Ansporn und den Feinden in aller Welt eine Warnung: ein Schrei nach Gerechtigkeit, ein Siegesschrei!
Die Rede war aus vier Gründen keine formale Kriegserklärung: Erstens wurde nicht der diplomatische Weg eines offiziellen Kommuniqués eingehalten, wie z.B. in der Kriegserklärung von 1915 an Österreich-Ungarn oder 1940 an die Alliierten. Zweitens tauchte nirgends expressis verbis ein deklarativer Sprechakt im Auftrag des Königs auf, wie beispielsweise hiermit erkläre ich Äthiopien den Krieg. Mussolini spricht immer nur von Konflikt. Drittens lagen militärische und viertens juristische Bedenken vor, eine formale Erklärung abzugeben, denn so konnte man sich einen taktischen Überraschungsmoment sichern und sich dem Anschein entziehen, ein Aggressor zu sein.482 Die Rede war dennoch notwendig: einerseits, um den Krieg nach innen zu begründen und die Bevölkerung zu mobilisieren. Deswegen wurde die Rede dann auch Discorso della mobilitazione genannt. Andererseits war sie notwendig, um den Konflikt lokal in Afrika zu begrenzen. Dies geschah durch Versicherung der Friedensabsicht, aber auch durch die parallel aufgebaute Drohung mit Gegenmaßen. Der erste Abschnitt ist eine Anrede an die Italiener im In- und Ausland. Das imperativische Ascoltate! ist die wohl direkteste Art das Publikum 481 Mussolini OO (27: 158 ff.). (Die Gliederung der aufgeführten Reden in Abschnitte stammt von F.S. Die Absätze sind aus OO übernommen worden.) Eine weitere Analyse dieser Rede findet sich bei Simonini (1978: 70–82), sein Fokus liegt auf der Rhythmisierung der Rede. 482 Die militärische Operation begannen schon in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober. Sie wurde im Nachhinein öffentlich legitimiert. Eine Kriegserklärung musste, wie Fazal (2018: 78 f.) nachgewiesen hat, nicht zwingend vor dem Beginn des Krieges getätigt werden. Man verzichtete oft darauf, um die humanitären Verpflichtungen, die mit der Haager Landkriegsordnung einhergingen, zu umgehen. Zur damaligen vieldiskutierten Praxis der unterlassenen Kriegserklärung vgl. Catellani (1906: 12), der auch offizielle Reden im Nachhinein als äquivalente Kriegserklärung ansieht. Für die historischen Details s. Borgini Künzi (2006: 203 f., 216).
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anzuweisen, einem Redner zu folgen und weist nichts Einladendes auf, wie es die klassische Exordialtopik im Sinne der captatio benevolentiae vorschreibt.483 Die Formulierung oltre i monti e oltre i mari lässt eine Parallelstruktur erkennen, die jedoch erst im Nachhinein in die publizierte Fassung eingefügt wurde. Monaldi konnte zeigen, dass Mussolini oceani, jenseits der Ozeane, gesagt hatte.484 Bereits hier lässt sich eine besondere stilistische Bearbeitung erkennen, denn monti und mari weisen einen ähnlichen Klang auf. Ferner, und das wird gleich noch deutlicher, schien sich Mussolini an einer Vorgängerrede Giovanni Pascolis, nämlich an La grande proletaria si è mossa, zu orientieren. Der Dichter Pascoli benutzte ebenso das Binom „oltre alpi e oltre mare“485. Die Mussolini-Rede zeigte viele Übereinstimmungen zur Rede Pascolis auf, die dieser anlässlich des italienisch-osmanischen Krieges 1911 gehalten hatte. Die drei wichtigsten Anleihen sind folgende: Erstens wird die Niederlage von Adua (1896) gegen Abessinien thematisiert.486 Zweitens wird der Krieg als Verteidigung aufgefasst.487 Drittens sei der Krieg ein karitatives Werk der Befreiung und Zivilisierung.488 Im zweiten Abschnitt nutzte Mussolini die zweite Strategie der Exor dialtopik, nämlich das attentum parare. „Die Aufmerksamkeit der Zuhörer erregt vor allem alles, was bedeutend ist, sie selbst betrifft, bewunderungswürdig und erfreulich ist.“489 Hier wie auch später sprach Mussolini von der Bedeutsamkeit des Ereignisses ([2] Un’ora solenne sta per scoccare nella storia della patria,490 [7] questa epoca storica), das allein schon, was die Ausmaße betreffe, beindruckend sei ([2] Mai si vide nella storia del genere umano, spettacolo più gigantesco). Mit diesen Hyperbeln und Vergleichen sicherte er sich die Aufmerksamkeit, die allerdings in diesem Fall garantiert vorhanden 483 484 485 486 487 488
489 490
Vgl. Wessel (1994: 121 ff.). Vgl. Monaldi (2015: 135). Pascoli (1978: 607). Vgl. ebd. (608): „il vostro esercito s’è fatto vincere e annientare da africani scalzi! Viva Menelik!“ / „euer Heer hat sich von barfüßigen Afrikanern besiegen und vernichten lassen! Menelik lebe hoch!“ Vgl. ebd. (610): „diritto di non essere soffocata“ / „das Recht, nicht erstickt zu werden“. Vgl. ebd. (614): „combattiamo […] non per asservire ma per liberare […] guerra non offensiva ma difensiva“ / „wir kämpfen […] nicht, um zu knechten, sondern um zu befreien […] kein Angriffs-, sondern ein Verteidigungskrieg“. S. auch ebd. (610): „contribuire per sua parte all’umanamento e incivilmento dei popoli“ / „auf seine Weise zur Humanisierung und Zivilisierung der Völker beizutragen“. Arist. Rhet. III, 14, 7. Mit der fast gleichklingenden Phrase wandte sich König Vittorio Emanuele III. 1915 in seiner ersten Proklamation im Krieg an sein Heer: „L’ora solenne delle rivendicazioni nazionali è suonata.“ Zit. n. Grasselli Barni (1922: 55).
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war, hatte sein Publikum doch schon länger auf eine Entscheidung gewartet.491 Es folgte dann eine Beschwörung zur Einheit, die durch die gesteigerte Antithese 20 Millionen – ein Herz – Wille – Entschluss zum Ausdruck kommt. Wer dies nicht erkenne, verkenne die Realität und wurde mit Polemik bedacht, die im mündlichen Originaltext noch um einiges harscher ausfiel: „Solo dei cervelli illanguiditi da puerili illusioni, o intorpiditi in una crassa ignoranza possono pensare il contrario“492 (Nur durch kindische Illusionen geschwächte oder durch krasse Unwissenheit abgestumpfte Gehirne können das Gegenteil denken). Die vielen i-Laute trugen zu einem phonetischen Effekt bei, der die angestrebte Verachtung untermalte. Im nächsten Abschnitt wurde dann das Thema der Rede angekündigt: Kriegsvorbereitung von Volk und Heer. Mussolini griff zur Verbildlichung des Vorgangs auf das Rad des Schicksals zurück. Das Schicksal erhält ein Rad als Attribut, dadurch ist es als Glücksgöttin Fortuna erkennbar. Dieses Motiv bezeichnet nicht nur Willkür und Unberechenbarkeit, sondern ebenso das Gegenteil: Kontrolle und Steuerung. Das Glück wird gemeinhin am Schopfe gepackt und bewältigt. Das Motiv mag aus Machiavellis Il Principe entnommen worden sein. In seinem Denken spielte Fortuna eine wichtige Rolle: Sie wird der virtù, der Tüchtigkeit, beigeordnet und kann von dieser auch überlistet werden. Es erfordert ein ‚männliches‘, energisches Vorgehen, um die Göttin zu bezwingen. All diese Martialität schwingt mit, wenn das Motiv aufgerufen wird.493 An dieser Stelle kommt noch hinzu, dass das Rad durch Mussolini selbst gesteuert wird, es aber gleichzeitig auch für Notwendigkeit und Unumkehrbarkeit steht (ritmo è più veloce e inarrestabile ormai). Verfügbares wie Unverfügbares werden durch ein und dasselbe Motiv verbunden, der innere Widerspruch dabei bleibt unbemerkt. Nun erscheint der aus Mussolinis Sicht stärkste Kriegsgrund: Italien müsse sich gegen die schwärzeste Ungerechtigkeit der anderen Kolonialmächte wehren. Der genannten Farbe liegt ein implizit dichotomischer Code zugrunde: Weiß gegen schwarz, gut gegen böse.494 Die alten und saturierten 491 Vgl. Wessel (1992: 1162), er erklärt: „Dort, wo etwa der Redegegenstand an sich aufgrund seiner Sensationalität für Aufmerksamkeit sorgt, scheint eine zusätzliche Motivation durch den Redner nicht notwendig zu sein. Dies ist vor allem im genus honestum der Fall, wo die Zuhörer schon der Sache wegen dem Redegegenstand ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit entgegenbringen“. Kurs. i. Orig. 492 Monaldi (2015: 136). 493 Vgl. Machiavelli (2009: Kap. 25). Weitere Stellen, an denen Mussolini das Schicksalsrad bemüht sind: OO (27: 244) (= im Zusammenhang von notwendiger Aufrüstung) und OO (22: 100) (= Erkennen des richtigen Timings). Vgl. zur Fortuna als literarisches Motiv: Daemmrich, H./Daemmrich, I. (19952: 163). 494 Vgl. Yngborn (20122: 386 f.).
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Kolonialmächte England und Frankreich verweigerten dem jungen Italien, was ihm zurecht zustünde: einen Platz an der Sonne. Dieses Motiv, geäußert in der Rede von Bernhard von Bülow am 6. Dezember 1897, wurde zu einem Allgemeinplatz, um kolonialen Ansprüchen Geltung zu verschaffen.495 Mit der Nennung der Bevölkerungszahl ruft Mussolini die Demographie als Stütze des italienischen Anspruchs auf, denn die Kolonien sollten als Ventil für die anwachsende Bevölkerung dienen. Im vierten Abschnitt leitete er das angesprochene Unrecht historisch her. Zweimal habe Italien sich aufgeopfert, aber keine entsprechende Kom pensation erhalten. Das erste Unrecht: Der italienische Beitrag im Ersten Weltkrieg sei immens gewesen, was durch die dreigliedrige Aufzählung deutlich wird. Bei den Friedensverhandlungen in Versailles sei Italien allerdings leer ausgegangen. Beim Verteilen der Beute hätten sich die anderen Staaten die besten Kolonien gesichert, Italien hätte nur ‚Krümel‘ erhalten. Mussolini machte damit ein Gefälle sicht- und spürbar. Italien sei damals noch immer nicht gleichberechtigt behandelt worden. Mit dem Bild der Beuteverteilung als Aufteilung von Essensrationen variierte Mussolini den Mythos der vittoria mutilata von D’Annunzio.496 Der Krieg sei gewonnen, aber doch irgendwie ‚verloren‘. Mit den Krümeln stellte Mussolini den Prozess der Verteilung in den Vordergrund, der seiner Ansicht nach falsch abgelaufen sei. Emotional kreierte er nicht nur Empörung über das gierige Verhalten der anderen, sondern steigerte diese Einstellung bis zum Hass, denn nichts Geringeres als das Grundnahrungsmittel ,Brot‘ sei Italien vorenthalten worden. Deswegen sprach Mussolini in den folgenden Reden auch von vitalen Interessen. Die anderen wollten Italien benachteiligen und ‚aushungern‘. Das zweite Unrecht: Äthiopien habe Italien bei der Schlacht von Adua 1896 eine große Schmach zugefügt. Damals wie heute sei dieses Land ein Aggressor und nun sei der Zeitpunkt der Rache gekommen, um die verlorene Ehre wiederherzustellen.497 Damit sind Ehrgefühl und Rache als Emotionen gegen den Feind aufgerufen. Abermals wird die Geduld und der Friedenswille 495 Vgl. Bülow (1907: 8) sowie Panzini (196310: 534). Nicht zu vernachlässigen ist auch das beliebte Lied Me ne frego, in dem der ‚Platz an der Sonne‘ eingefordert wurde, vgl. die Fassung bei De Marzi (2004: 227 f.). 496 Vgl. D’Annunzio (1984: 853): „Vittoria nostra, non sarai mutilata. Nessuno può frangerti i ginocchi nè tarparti le penne.“ 497 Adua ist so etwas wie die italienische Variante der Dolchstoßlegende: Weder Heer noch Feind wären an der Niederlage schuld, sondern die Verräter im eigenen Land: „Adua fu perduta non dalle nostre truppe, bensì da un Governo che non si preoccupava del sacrificio dei soldati, ma delle abiette manovre parlamentari.“ Mussolini OO (27: 103). In dieser Deutung erhält Adua eine antiparlamentarische Stoßrichtung.
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betont, der sich aber immer schwerer aufrechterhalten lassen würde, da die äußeren Umstände immer lebensbedrohlicher geworden seien. Mussolini nannte diesen Umstand etwas nebulös den cerchio degli egoismi che soffocano la nostra vitalità, was aber den diffusen Bedrohungscharakter unterstrich. Seit 1934 sprach er von diesem einengenden Kreis, der Italien zu ersticken drohe, meist im Zusammenhang mit dem Mittelmeer, dann ebenfalls bei der Kriegserklärung 1940.498 Sehr pathetisch war die in dieser Version fehlende Apostrophe „O Etiopia“, die in der gesprochenen Variante enthalten war.499 Die Geduld sei erschöpft, die Umzingelung müsse aufgebrochen werden. Diese Aussagen können alle unter das zweite Prinzip der Kriegspropaganda subsumiert werden: zum Krieg wird man von außen gezwungen.500 Im fünften Abschnitt versuchte Mussolini mit einer populistischen Dissoziation (wahres Volk vs. falsche Volksvertreter), die öffentliche Meinung in Frankreich und England zu beeinflussen. Das wahre Volk habe für Italien Verständnis, die Regierenden hingegen agierten nicht im Sinne des Volkswillens. Die als Zeugen aufgerufenen italienischen Gefallenen in Bligny würden sich, wenn sie könnten, ebenso darüber empören. Darüber hinaus stellte Mussolini Äthiopien als barbarisches Land dar, das zivilisatorisch nicht auf derselben Stufe wie England stünde. Ihm zu helfen, komme einer Selbstentwürdigung gleich. Diese Empörung über das hypothetische Verhalten Englands kam besonders in der Original-Version zum Tragen, wo Mussolini von einem „paese barbaro e indegno di stare tra i popoli civili“501 sprach. Der Krieg Italiens wurde ganz im Sinne des Italien-Mythos und der Rede Pascolis zu einer menschlichen Wohltat umgedeutet, denn Italien bringe den Barbaren Kultur und, so ergänzte die Katholische Kirche in ihren Predigten, auch den ‚wahren‘ christlichen Glauben.502 498 Vgl. Mussolini OO (28: 58 oder 71) und OO (29: 404). Eine ähnliche Bemerkung, nunmehr in eine Gefängnis-Metapher gekleidet, findet sich in OO (26: 323): „il Mediterraneo, che non è un oceano e che ha due sbocchi vigilati da altri, non sia il carcere che umilia il nostro vigore di vita, bisogna essere forti sul mare.“ Immer geht es darum, dass der Lebensraum (spazio vitale) aufs Äußerste eingeschränkt werde und man sich dagegen wehren müsse. 499 Vgl. Monaldi (2015: 137). 500 Vgl. Morelli (2004: 24, 26), die für das Deutsche Reich dieselben Argumentationsmuster am Vorabend des Zweiten Weltkriegs festgestellt hat. 501 Monaldi (2015: 138), „ein barbarisches Land, das unwürdig ist, den zivilisierten Völkern anzugehören“. 502 Vgl. Terhoeven (2003), die nicht nur von einer Sakralisierung der Politik, sondern auch von einer Politisierung der Religion (450) spricht. „Der christliche Pazifismus-Gedanke trat gegenüber jahrhundertealten missionarischen Traditionen in den Hintergrund, im Namen derer die Kirche die weißen Kolonisatoren seit jeher bei ihren Eroberungsfeldzügen begleitet hat.“ Ebd. (157). Geradezu paradox muss es anmuten, dass Äthiopien seit
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Insofern trifft zu, was Morelli als drittes und neuntes Prinzip in der Kriegspropaganda mit Uneigennützigkeit und Missionsgedanken benennt: Ökonomische oder geostrategische Gründe werden meist mit humanitären Idealen wie Freiheit oder Zivilisierung überformt, wenn nicht sogar überdeckt.503 Dadurch erhält der vermeintlich zum Angriff Gedrängte eine weitere moralische Legitimation. Die Figur des Barbaren führte einen Dualismus ein, welcher der Feindbildkonstruktion diente, denn der Barbar bildet die „Trennlinie zwischen Kultur und Nichtkultur“504. In einer späteren Rede wird Mussolini die abessinische Elite zu „blutrünstigen und gierigen Anführern“505 degradieren und hob somit ihren inferioren, animalischen Status hervor. Sei der Krieg erst einmal gewonnen, so könne die Barbarei durch Kultur respektive durch Verrechtlichung und durch (religiöse) Erziehung überwunden werden. Dass Mussolini auf den Barbar als Feindbild zurückgriff, lag in der Logik des Rom-Mythos begründet. In den folgenden zwei Teilen drohte Mussolini durch drei parallel gebauten Sätze mit Gegenwehr, falls Italien in irgendeiner Art sanktioniert werden sollte. Der Konflikt müsse ausgetragen werden, denn das gebiete die Ehre. Eine diplomatische Vermittlung wurde damit ausgeschlossen, denn einen Kompromiss einzugehen hieße, die Ehre und das Selbstwertgefühl zu verlieren. Mit dem Versprechen, den ‚Konflikt‘ zu begrenzen, beteuerte Mussolini den abermaligen Friedenswillen. Er nannte den Krieg nicht bei seinem Namen und spielte ihn mit dem Wort Konflikt herunter. Italien sehe die ganze Angelegenheit nüchtern, wolle nur, was ihm zustehe. Zum Schluss der Rede wurde der Eindruck erlittener Ungerechtigkeit nochmals gesteigert. Die Emotion des Stolzes wurde in einem ersten Schritt durch Aufzählung der eigenen Leistungen aufgebaut, indem Mussolini – auf Pascoli zurückgreifend – die kulturellen und zivilisatorischen Verdienste Italiens hervorhob. Sodann konnte dem Völkerbund vorgeworfen werden, diese Leis tungen zu missachten. Daraus ergab sich dann die Emotion der Empörung. Der Völkerbund wage es gegen ein popolo di poeti, di artisti, di eroi, di santi, vielen Jahrhunderten eine ausgeprägte christliche Kultur aufwies, die dem Missionsgedanken so gesehenen den Boden entzog. Doch dabei handelte es sich, aus der Sicht des nationalimperialistischen italienischen Klerus eben nicht um den ‚rechten‘ katholischen Glauben. 503 Vgl. Morelli (2004: 59, 113). 504 Schneider (1997: 21). Der Barbar kann, so Schneider, für eine ‚fremde Kultur‘ oder für ‚Natur‘ stehen und wird meist auf eine out-group projiziert. Auch kann der Barbar ins Innere einer Kultur selbst verlagert werden und symbolisiert dann zersetzende Eigenschaften und Dekadenz. Drittens kann der Barbar positiv aufgefasst werden. Er wird dann mit dem ‚edlen Wilden‘ identifiziert. 505 Mussolini OO (27: 247): „capi sanguinarî e rapaci“.
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di navigatori, di trasmigratori zu handeln! Zum Vergleich die Aufzählung bei Pascoli: das Vaterland „che aveva dato i più potenti conquistatori, i più sapienti civilizzatori, i più profondi pensatori, i più ispirati poeti, i più meravigliosi artisti, i più benefici indagatori, scopritori, inventori, del mondo“506 (das der Welt die mächtigsten Eroberer, die weisesten Zivilisatoren, die tiefgründigsten Denker, die geistvollsten Dichter, die wunderbarsten Künstler, die wohltätigsten Forscher, Entdecker und Erfinder geschenkt hatte). Die Aufzählung ist bei Mussolini zwar kürzer als bei Pascoli, aber zu lang als dass dies reiner Zufall sein könnte. Der Appell an das faschistische und proletarische Italien – auch hier Pascoli im Hintergrund – schwankte zwischen Mobilisierung (sprone) für die eigene Seite und Drohung (monito) an die Gegner. Das Motiv der Gerechtigkeit fasste die Rede zusammen: Das proletarische Italien kämpfe für eine ihm bis dato verweigerte, bessere Ordnung. Der Klassenkampf werde nun auf internationaler Ebene ausgetragen.507 In der Live-Übertragung nahm Mussolini den Anfang mit oltre i monti e oltre i mari erneut auf, erzeugte damit eine Ringkomposition, die in der offiziell veröffentlichten Regime-Fassung indes fehlte.508 Zustimmung von Seiten der Presse Die Reaktionen auf die Rede waren äußerst positiv, wie die geheimen Berichterstatter aus ganz Italien zu melden wussten. Sowohl der Satz, Italien setze nur seine legitimen Rechte durch, hätte überzeugt als auch die Behauptung, Frankreich und England wollten Italien klein halten. Selbst das zum Faschismus distanzierte Arbeitermilieu hatte die Anspielungen auf Pascoli verstanden und erhoffte sich, besonders nach der langen Krisenzeit, mit der Unternehmung in Afrika eine bessere ökonomische Zukunft.509 Le Temps bewertete die Rede wie folgt: Il est important, sur le terrain de la politique intérieure, tout d’abord. On disait qu’il aurait coïncidé avec le début des opérations en Afrique. Officiellement tout au moins, il n’en fut pas question. C’est une manifestation du régime destinée à renforcer une sorte d’union sacrée à la veille d’événements que l’on s’accorde à considérer comme décisifs pour le fascisme. […] En style militaire, on dirait 506 Pascoli (1978: 607 f.). 507 Die Idee ist, wie Galli della Loggia (20182: 25) zu berichten weiß, schon lange im politischen Diskurs in Italien vorhanden. Italien sei stets von anderen ausgebeutet worden und deswegen arm gewesen. Der Nationalist Enrico Corradini (1914: 158 f.) hat mit seinem nationalen Sozialismus zur Verbreitung dieser Idee beigetragen. 508 Vgl. Monaldi (2015: 140). 509 Vgl. Colarizi (1991: 185–193).
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Kapitel 4 que c’est une reprise en main de la nation à la veille du combat. […] Le discours commençait par cette phrase: ‚Une heure solennelle va s’inscrire dans l’histoire de la patrie.‘ C’est le meilleur commentaire que l’on puisse faire à la manifestation des vingt millions d’Italiens.510
Das innenpolitische Moment, nämlich die Einheit der Nation zu konsolidieren, den Krieg auszunutzen, um den Patriotismus mit dem Faschismus zu verschmelzen (union sacrée), wog in der Sicht des Korrespondenten am schwers ten. Darüber hinaus unterstrich er, dass der für uns heute hochtrabende Ton passend angesichts der sehr beeindruckenden Situation gewesen sei. Der Korrespondent brachte im Laufe des Artikels für Italiens ‚Ansprüche‘ Verständnis auf, denn er beschrieb Italien als verspäteten Nation, die nur das Erlangen wollte, was Frankreich und Großbritannien seit Jahrzehnten bereits besäßen: ein Weltreich. Die Sanktionen und ihr propagandistischer Nutzen für Italien Wie von Mussolini prophezeit, wurden vom Völkerbund am 18. November 1935 Sanktionen verhängt.511 Sie umfassten ein Waffenembargo, Kreditsperren und weitere wirtschaftliche Beschränkungen. Am selben Tag ging Italien zu Gegenmaßnahmen über. In Zuge dessen wurde der Völkerbund von Mussolini zu einem Feind stilisiert: La pena di morte, per asfissia economica, decretata dagli umanitarî di Ginevra, non fu mai irrogata prima del 1935, non sarà probabilmente mai più tentata e viene soltanto oggi, inferta all’Italia.512 Die Todesstrafe, nämlich unsere Wirtschaft zu ersticken, wurde von den Menschenfreunden in Genf angeordnet. Sie wurde nie vor 1935 verhängt und wird es vielleicht nie mehr, allein heute wird sie Italien zugefügt.
Die Sanktionen nahmen in Mussolinis Darstellung lebensbedrohliche Züge an. Sie wollten Italien „ungestraft erdrosseln“513 und seien noch nie angewendet worden. Besonders der Kontrast zwischen Todesstrafe und dem ironischem ‚Menschenfreunde‘, weist auf die verlogene Niedertracht hin, die Mussolini dem Völkerbund andichten wollte. Die Kulturnation Italien sei entwürdigt 510 Le Temps (04.10.1935): Le conflit italo-éthiopien. Le Duce en appelle au peuple italien. La mobilisation civile fasciste. N° 27059, p. 1–2. Herv. v. F.S. 511 Vgl. Borgini Künzi (2006: 318). 512 Mussolini OO (27: 198). 513 Ebd. (203): „impunemente iugulare“.
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worden, indem man sie auf dieselbe Stufe wie Äthiopien gestellt und behandelt hätte „wie ein Versuchsobjekt, an dem die Genfer Experten ungestraft ihre grausamen Experimente durchführen können“514. Der Völkerbund – oft auch nur metonymisch Genf genannt (Ort für Institution) – avancierte zum Inbegriff für Habgier, Heuchelei und advokatische Winkelzüge: Genf sei eine Koalition aus Egoismen und Plutokratien, das eine Belagerung (assedio) gegen Italien durchführe.515 Das Motiv der Habgier war durch den Begriff Plutokratie benannt und war zentral im Konzept des internationalen ‚Klassenkampfes‘. Genf wurde somit zum eigentlichen Feind, der gegen Italien einen unsichtbaren Krieg führe (vgl. Kap. 4.3.2.3). Im Kriegszustand verschwanden die feinen Unterscheidungen. Die Sanktionen wurden als militärische, nicht als wirtschaftliche Maßnahmen wahrgenommen, obwohl sie durch ein klar geregeltes juristisches Prozedere zustande gekommen waren. Nach innen wurde ein positives Selbstbild sowie der Durchhaltewillen der Bevölkerung gestärkt, indem die Sanktionen zum alles beherrschenden Thema gemacht wurden. Sei es bei der Eröffnung der neuen Universitätsgebäude in Rom im ersten Kriegsmonat, sei es bei der Einweihung der Stadt Pontinia im Agro Pontino: Überall verwies Mussolini auf den Krieg und rief zur Geschlossenheit auf. Am 31. Oktober 1935 sprach Mussolini Folgendes in der großen Aula der Universität La Sapienza: Ma il nuovo Studium Urbis si inaugura in un particolare momento della vita italiana. Non si può fare una celebrazione come questa, senza inquadrarla necessariamente nel momento storico che la nazione attraversa. Si inaugura l’Università di Roma nel momento in cui i nostri soldati, portatori di civiltà, avanzano con il loro coraggio, con il loro sacrificio, senza chiedere niente a nessuno. […] Voi, camerati goliardi, sarete sulle prime linee. […] Farete di questa, come di tutte le Università d’Italia, una palestra, un baluardo, una fortezza dello spirito e delle armi, che, quando siano associati, assicurano la vittoria.516 Aber das neue Studium Urbis [die Universität La Sapienza] wird in einem besonderen Moment des italienischen Lebens eingeweiht. Man kann keine Feierlichkeit wie diese hier begehen, ohne sie nicht zwangsläufig in den historischen Moment einzubetten, den die Nation gerade durchlebt. Die Universität von Rom wird in dem Augenblick eingeweiht, da unsere Soldaten, Träger 514 Ebd. (192): „come un oggetto da laboratorio, sul quale gli esperti ginevrini possano compiere impunemente le loro crudeli esperienze.“ 515 Vgl. ebd. (178 und 241). Vgl. ferner OO (28: 58): Der Völkerbund sei eine „congrega di fanatici laici“. Auch später hob Mussolini die Sanktionen immer wieder hervor, vgl. OO (28: 68). 516 Mussolini OO (27: 178), Kurs. i. Orig.
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Kapitel 4 der Kultur, mit ihrem Mut, mit ihrer Aufopferung vorrücken, ohne jemanden um etwas zu bitten. […] Ihr, Kameraden Studenten, werdet an vorderster Front sein. […] Ihr werdet aus dieser wie aus allen Universitäten Italiens eine Turnhalle, ein Bollwerk, eine Feste des Geistes und der Waffen machen, die, sobald beide vereint sind, den Sieg sicherstellen.
Wiederum scheint das humanitäre Motiv auf. Nicht der Krieg sei grausam, sondern die Barbarei der anderen sei es. Die Studenten im Festsaal stünden wie die Soldaten in Afrika an vorderster Front. Die Universität wurde vereinnahmt und militarisiert, dies geschah aber nicht nur metaphorisch, denn die Turnhallen, über die Mussolini redete, deuteten die paramilitärischen Übungen an, die auf den Kampf vorbereiten sollten. Erziehung wurde zu einem wichtigen Element der Landesverteidigung gemacht, das symbolisieren baluardo und fortezza dello spirito, denn beides sind militärische Anlagen, um Grenzen im Falle einer Belagerung zu sichern. Den Belagerungsfall sah Mussolini mit den Sanktionen des Völkerbundes gegeben. Auch hier waren die Grenzen zwischen Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit fluide geworden, denn das Metaphorische erhielt durch den Kriegszustand Realität. Es handelte sich dabei um eine wirkliche zivile Mobilmachung. Den rhetorischen Vorteil, den solch eine Annäherung von Metaphorik und eigentlicher Beschreibung der Lage bot, wird verständlich, wenn man eine von Rainer Küster vorgenommene Unterscheidung der Rezipienten heranzieht.517 Für einen naiven bzw. nicht kompetenten Rezipienten lagen mit solchen metaphorischen Äußerungen gar keine Übertragungen vor. Er nahm sie für bare Münze und richtete dementsprechend sein Handeln danach aus. Die Studenten vor Ort hatten Mussolini wortwörtlich verstanden und sich, da ihnen die Fronterfahrung nicht möglich war, zur englischen Botschaft begeben und sie tatsächlich angegriffen.518 Ein kompetenter bzw. kritischer Rezipient, der genügend Wissen aufgrund seiner eigenen Kriegserfahrung mitbrachte und die Metaphern als solche erkannte, war entweder gewillt der gewählten Darstellung zu folgen, oder sie zu verwerfen. Weil der Zielbereich nun durch den 517 Vgl. Küster (1993: 408 f.). Er schlägt drei Typen von Rezipienten vor: Erstens den naiven, der gar nicht merkt, dass Metaphern vorliegen. Zweitens der unzureichend kompetente. Er kennt sich zu wenig im Zielbereich aus und ist damit auf die Metapher als aufschlussreiches Erkenntnismittel angewiesen. Drittens der kompetente Rezipient, der Quell- und Zielbereich kennt und selbst beurteilen kann, ob die Übertragung für ihn adäquat sei. 518 Vgl. die Meldung der Le Temps (02.11.1935): Manifestation d’étudiants. N° 27088, p. 2: „Après l’inauguration de la Cité universitaire où ils furent harangués par M. Mussolini, des groupes d’étudiants se sont concentrés sur la place de Porta-Pia, dans le but de se livrer à une manifestation hostile devant l’ambassade et le consulat général de Grande-Bretagne. Les jeunes gens se sont heurtés à un solide barrage de carabiniers et, au bout d’une demiheure d’efforts, ils se sont dispersés. Quelques arrestations ont été opérées.“
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Kontext nah an den Quellbereich herangerückt war, ist es sehr wahrscheinlich, dass auch ein kritischer Rezipient den vorhandenen metaphorischen Sprung ausblendete und Mussolini folgte. Im zweiten Beispiel weihte Mussolini zwei Monate später die neugegründete Stadt Pontinia ein. Das zentrale Thema der Rede war auch hier der Äthiopienkrieg. Mussolini wies nämlich auf eine zur selben Zeit stattfindende Treuekundgebung in Rom und ganz Italien hin: Inauguriamo Pontinia oggi, giorno della fede, giorno nel quale tutte le feconde madri d’Italia recano sull’Altare della patria o attorno ai monumenti dei caduti il loro anello nuziale, ma giorno anche di fede del popolo italiano nei suoi diritti, giorno di fede sicura e indefettibile nei destini della patria.519 Wir weihen heute [18.12.1935] Pontinia ein, am Tag des Glaubens. An diesem Tag bringen alle fruchtbaren Mütter Italiens ihren Ehering zum Altar des Vaterlands oder zu den Monumenten für die Gefallenen. Doch ist dies auch ein Tag des Glaubens des italienischen Volkes an seine Rechte, Tag des sicheren und unfehlbaren Glaubens an das Schicksal des Vaterlandes.
Die sogenannte Giornata della fede – Tag des Glaubens – war der propa gandistische Höhepunkt während des Äthiopienkrieges. Er hatte zum Ziel, (Edel-)Metalle wie z.B. Eheringe (im Italienischen auch als fede bezeichnet) für die Kriegswirtschaft zu sammeln. Petra Terhoeven hat in ihrer Monographie Liebespfand fürs Vaterland gezeigt, in welchem Ausmaß die Sammelaktion von patriotischer Propaganda und klerikaler Schützenhilfe, aber auch von Gruppenzwang begleitet war.520 Der hohe Symbolwert, der den Eheringen und dem ‚Opfer‘ auf dem ‚Altar des Vaterlandes‘ zukam, ist daran zu ermessen, dass die Ringe nicht nur einen besonderen emotionalen Stellenwert hatten, sondern auch daran, dass selbst Regimegegner spendeten, so z.B. Benedetto Croce, der seine Ehrenmedaille als Senator abgab.521 Wer also seinen fede (Ring) abgab, der signalisierte seinen fede (Glauben) an die Sache und an das Regime. Im Gegenzug erhielt man einen ehernen Ring. Auf diese Weise band der Ringaustausch Geber und Nehmer wie bei einer Hochzeit enger aneinander. Für das Regime bedeuteten die Sanktionen einen für die Innenpolitik erfolgsversprechenden, weil mobilisierenden und integrativen Faktor, den es sich geschickt zu Nutze machte, um auch Frauen gezielt in eine sonst ‚männliche‘ Angelegenheit wie den Krieg miteinzubeziehen. Gut sichtbar wurde das bei einem Empfang faschistischer Frauen am 7. Mai 1936, als Mussolini die Pflichten der Frauen thematisierte: 519 Mussolini OO (27: 202). 520 Vgl. die Ergebnisse der Arbeit bei Terhoeven (2003: 449 f.). 521 Vgl. Colarizi (1991: 194, 205).
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Kapitel 4 L’Italia fascista, cinta dall’assedio societario organizzato da cinquantadue paesi, vi aveva affidato un compito delicato e decisivo: quello di fare di ogni famiglia italiana un fortilizio per resistere alle sanzioni.522 Das faschistische Italien, umzingelt von der Völkerbund-Belagerung, die 52 Staaten organisieren, hatte euch eine schwierige und entscheidende Aufgabe anvertraut: aus jeder italienischen Familie eine kleine Festung zu machen, um den Sanktionen zu widerstehen.
Die Rolle der Frauen wertete Mussolini auf, indem er sie als kriegswichtig herausstellte. Sie sollten die ‚Heimatfront‘ zusammenhalten. Der Sanktionen wurde anschließend jährlich in einer Feierstunde gedacht, um auf diese Weise ein Feindbild aufrechtzuerhalten. 4.3.3.3 Vollzugsmeldung: die Rede Etiopia è italiana Nach einem grausam geführten Krieg gegen schlecht ausgerüstete Äthiopier, die den Bomben und dem Senfgas aus der Luft nichts entgegenzusetzen hatten,523 marschierten die Italiener am 5. Mai 1936 in die Hauptstadt Addis Abeba ein. Der Kaiser Haile Selassie war geflohen. Mussolini hielt hierzu anlässlich die Rede, die unter den Namen Etiopia è italiana in die Opera Omnia Eingang gefunden hat. Das Prozedere der Inszenierung war vergleichbar mit der gerade besprochenen Mobilmachungsrede. [1] Camicie nere della rivoluzione! Uomini e donne di tutta Italia! Italiani e amici dell’Italia al di là dei monti e al di là dei mari! Ascoltate! [2] Il maresciallo Badoglio mi telegrafa: ‚Oggi, 5 maggio, alle ore 16, alla testa delle truppe vittoriose, sono entrato in Addis Abeba‘. Durante i trenta secoli della sua storia, l’Italia ha vissuto molte ore memorabili, ma questa di oggi è certamente una delle più solenni.
(1) Schwarzhemden der Revolution! Männer und Frauen Italiens! Italiener und Freunde Italiens jenseits der Berge und jenseits der Meere. Hört! (2) Marschall Badoglio telegraphiert mir: ‚Heute, am 5. Mai, bin ich um 16 Uhr an der Spitze der siegreichen Truppen in Addis Abeba eingezogen.‘ In den 30 Jahrhunderten seiner Geschichte hat Italien viele denkwürdige Stunden erlebt, doch die heutige ist gewiss eine der feierlichsten.
522 Mussolini OO (27: 266). 523 Zu den Kriegsverbrechen, die die Italiener in Äthiopien mit höchster Genehmigung Mussolinis begangen haben, vgl. Del Boca (20176: 193–236). Del Boca schrieb mit seinem Buch gegen die weitverbreitete Vorstellung an, die die Kolonisatoren überall propagiert hatten: Sie hätten mit ihren Kolonien zur Befreiung aus der Barbarei beigetragen und diese ‚Wohltat‘ wäre gewaltlos vonstattengegangen.
Reden- und Mythenanalyse [3] Annuncio al popolo italiano e al mondo che la guerra è finita. Annuncio al popolo italiano e al mondo che la pace è ristabilita. Non è senza emozione e senza fierezza che, dopo sette mesi di aspre ostilità, pronuncio questa grande parola. Ma è strettamente necessario che io aggiunga che si tratta della nostra pace, della pace romana, che si esprime in questa semplice, irrevocabile, definitiva proposizione: l’Etiopia è italiana!
[4] Italiana di fatto, perché occupata delle nostre armate vittoriose; italiana di diritto, perché col gladio di Roma è la civiltà che trionfa sulla barbarie, la giustizia che trionfa sull’arbitrio crudele, la redenzione dei miseri che trionfa sulla schiavitù millenaria. Con le popolazioni dell’Etiopia, la pace è già un fatto compiuto. Le molteplici razze dell’ex-impero del leone di Giuda hanno dimostrato, per chiarissimi segni, di voler vivere e lavorare tranquillamente all’ombra del tricolore d’Italia. I capi ed i ‚ras‘ battuti e fuggiaschi non contano più e nessuna forza al mondo potrà mai più farli contare.
319 (3) Ich verkünde dem italienischen Volk und der Welt, dass der Krieg beendet ist. Ich verkünde dem italienischen Volk und der Welt, dass der Frieden wiederhergestellt ist. Nicht ohne Rührung und Stolz spreche ich, nach sieben Monaten erbitterter Feindseligkeiten, dieses Wort aus. Aber es ist unbedingt notwendig, dass ich hinzufüge, es handelt sich hierbei um unseren Frieden, pax romana, der sich in diesem einfachen, unwiderruflichen, definitiven Satz ausdrückt: Äthiopien ist italienisch! (4) Italienisch de facto, weil es von unseren siegreichen Truppen besetzt ist. Italienisch de iure, weil mit dem Schwert Roms die Kultur über die Barbarei triumphiert, die Gerechtigkeit über grausame Willkür, die Erlösung der Elenden über tausendjährige Sklaverei. Bei den Bevölkerungsgruppen in Äthiopien ist der Friede bereits eine vollendete Tatsache. Die zahlreichen Rassen des Ex-Imperiums des Löwen von Juda haben mit eindeutigen Zeichen gezeigt, dass sie im Schatten der Trikolore Italiens leben und in Ruhe arbeiten wollen. Die geschlagenen und flüchtigen Häuptlinge und Ras zählen nicht mehr und keine Macht auf der Welt wird ihnen jemals mehr Geltung verschaffen können.
320 [5] Nell’adunata del 2 ottobre, io promisi solennemente che avrei fatto tutto il possibile onde evitare che un conflitto africano si dilatasse in una guerra europea. Ho mantenuto tale impegno, e più che mai sono convinto che turbare la pace dell’Europa significa far crollare l’Europa. Ma debbo immediatamente aggiungere che noi siamo pronti a difendere la nostra folgorante vittoria con la stessa intrepida ed inesorabile decisione con la quale l’abbiamo conquistata.
[6] Noi sentiamo così d’interpretare la volontà dei combattenti d’Africa, di quelli che sono morti, che sono gloriosamente caduti nei combattimenti e la cui memoria rimarrà custodita per generazioni e generazioni nel cuore di tutto il popolo italiano, e delle altre centinaia di migliaia di soldati, di camicie nere, che in sette mesi di campagna hanno compiuto prodigi tali da costringere il mondo alla incondizionata ammirazione. Ad essi va la profonda e devota riconoscenza della patria, e tale riconoscenza va anche ai centomila operai che durante questi mesi hanno lavorato con un accanimento sovrumano.
Kapitel 4 (5) Auf der Versammlung vom 2. Oktober versprach ich feierlich, dass ich alles unternehmen würde, um zu verhindern, dass ein afrikanischer Konflikt sich zu einem europäischen Krieg ausweite. Ich habe dieses Versprechen eingehalten und bin mehr denn je überzeugt, dass den Frieden in Europa zu stören bedeutet, es in eine Katastrophe zu stürzen. Doch muss ich sofort hinzufügen, dass wir bereit sind, unseren glänzenden Sieg mit derselben unerschrockenen und unerbittlichen Entschlossenheit zu verteidigen, mit der wir ihn auch erkämpft haben. (6) Wir fühlen, dass wir auf diese Weise den Willen der Kämpfer in Afrika zum Ausdruck bringen, auch den Willen derer, die gestorben und glorreich im Kampf gefallen sind. Ihr Andenken wird von Generation zu Generation im Herzen des italienischen Volkes bewahrt werden und in den Herzen der hunderttausend Soldaten und Schwarzhemden, die in den sieben Monaten des Feldzuges solche Wunder gewirkt haben, dass sie der Welt uneingeschränkte Bewunderung abnötigten. Ihnen gilt die tiefe und ergebene Anerkennung des Vaterlands und dieser Dank gebührt auch den hunderttausend Arbeitern, die während dieser Monate mit übermenschlicher Beharrlichkeit zu Werke gingen.
Reden- und Mythenanalyse [7] Questa d’oggi è una incancellabile data per la rivoluzione delle camicie nere, e il popolo italiano, che ha resistito, che non ha piegato dinanzi all’assedio ed alla ostilità societaria, merita, quale protagonista, di vivere questa grande giornata. [8] Camicie nere della rivoluzione! Uomini e donne di tutta Italia! Una tappa del nostro cammino è raggiunta. Continuiamo a marciare nella pace, per i compiti che ci aspettano domani e che fronteggeremo con il nostro coraggio, con la nostra fede, con la nostra volontà. Viva l’Italia!524
321 (7) Dieser Tag heute ist ein unauslöschliches Datum für die Revolution der Schwarzhemden. Das italienische Volk, das Widerstand geleistet hat, das sich angesichts der Belagerung und der Feindseligkeit des Völkerbundes nicht gebeugt hat, verdient als Protagonist diesen großen Ehrentag zu erleben. (8) Schwarzhemden der Revolution! Männer und Frauen ganz Italiens! Eine Etappe auf unserem Weg ist erreicht. Wir marschieren im Frieden weiter, für die Aufgaben, die auf uns morgen warten. Auch ihnen werden wir begegnen mit unserem Mut, unserem Glauben, unserem Willen. Es lebe Italien!
Mit dem Wort ‚Freunde‘ bezeichnete Mussolini in seiner Einleitung die treu zu Italien stehenden Staaten (Ungarn, Österreich, Deutsches Reich). Wer an den Sanktionen teilgenommen hatte, war also hiervon ausgeschlossen. Im zweiten Abschnitt wurde die Bedeutsamkeit durch die hyperbolische Sprechweise von trenta secoli in Relation zu der punktuellen Zeitangabe oggi betont. Ferner wurde der Anlass der Rede mittels eines Zitates (Telegramm) genannt, nämlich der Einmarsch in Addis Abeba. Der dritte Abschnitt ist der zentrale der gesamten Rede: Italien habe sein Ziel erreicht und es herrsche wieder Frieden. Damit kommt ein deklarati ver Sprechakt zum Tragen, denn der vormalige Kriegszustand wurde für beendet und Äthiopien zu einem Teil Italiens erklärt. Danach erfolgte in den Abschnitten fünf und sechs eine zweifache Begründung (de jure – de facto) der als fait accompli dargestellten Lage. Zuerst wurde das moralisch hochwertigere juridisch-historische Argument genannt, das den Krieg als Befreiung und Zivilisierung deutete und antithetisch der Barbarei und Sklaverei entgegenstellte. Bereits während des Krieges wurde versucht, das Argument mit Tatsachen zu stärken. Gerne wurde darauf hingewiesen, in welchen eroberten Gebieten, wie viele Sklaven befreit worden waren. In dieselbe Stoßrichtung 524 Mussolini OO (27: 265 f.), Kurs. i. Orig.
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Kapitel 4
ging bekanntlich das populäre Lied Faccetta nera, in dem die Befreiung der Abessinier durch die italienischen Soldaten gefeiert wurde.525 Die Aufhebung der Sklaverei war jedoch nicht das erklärte Hauptziel bei der Kriegsführung vor Ort und sie wurde nicht energisch verfolgt. General Pietro Badoglio machte mehrmals darauf aufmerksam, dass man für die Versorgung der Befreiten aufkommen müsse und sich somit die verbündeten Stammesfürsten zum Feind mache. Aus diesen Gründen wurde nach der Besetzung die Sklaverei beibehalten und die gemeldeten Zahlen waren entweder für die Presse geschönt oder gänzlich erfunden.526 Den Krieg stellte Mussolini in ein verklärendes Licht, wenn er archaisierend vom Schwert Roms (gladio di Roma) sprach. Damit wurde der Krieg zu einem heroischen Einzelkampf romantisiert. „Das Schwert des Krieges verweist auf das Schwert der Justitia. Wo die Kanonen sprechen, schweigt das Recht, sagt man; wo hingegen das Schwert gezogen wird, wird der Anspruch erhoben, hier werde dem Recht Geltung verschafft.“527 In Äthiopien wurde bei weitem nicht so ritterlich gekämpft, sodass diese Idealisierung die Wirklichkeit des Krieges zu überdeckten half. Die vom Regime geschaffene Realität sei bereits durch den fliehenden Kaiser – hier mit einer Antonomasie Löwe von Juda benannt – anerkannt worden.528 In den folgenden Abschnitten inszenierte sich Mussolini als glaubwürdig, indem er einen Promessa-Topos anführte: Dass der Konflikt sich nicht ausgeweitet habe, habe er versprochen und dies auch eingehalten. Er drohte damit, das Gewonnene zu verteidigen, indem er auf die Figur des Deuters und 525 Vgl. De Marzi (2004: 108): „Faccetta nera rappresentò indubbiamente il maggiore successo dell’epoca“. Der Liedtext (Renato Micheli) und die Musik (Mario Ruccione) seien so erfolgreich gewesen, weil sie den italienischen Soldaten als Befreier einer schönen Abessinierin anpriesen. Sowohl der missionarische Zivilisationsgedanke als auch das Faszinosum um die exotisch weibliche Bevölkerung traten zuhauf im Liedgut der damaligen Zeit auf, vgl. ebd. (303–309). So wurde die militärische Eroberung Abessiniens zugleich eine amouröse. Zusätzliche Popularität erhielt Faccetta nera durch den römischen Dialekt, in dem es oft gesungen wurde, was das antidialektal eingestellte Regime später dazu veranlasste, das Lied umzuschreiben und dann ganz aus der Öffentlichkeit zu verbannen. 526 Vgl. Borgini Künzi (2006: 167 f.). 527 Münkler (1994: 64). Alfredo Signoretti ging in seinem Kommentar Pace romana auf diesen Anspruch Italiens ein und bemühte für seine Argumentation das römische Recht, vgl. La Stampa (07.05.1936): Pace romana. Mattino. N° 109, p. 1. 528 Der Ausdruck Löwe von Juda zeigte nicht nur die hohe Stellung des Bezeichneten an, denn der Löwe gilt gemeinhin als ‚König‘ im Tierreich, sondern auch die von der äthiopischen Herrscherdynastie konstruierte Traditionslinie bis zu König Salomo. Dessen Sohn soll der Gründer des äthiopischen Reiches gewesen sein. Die Antonomasie war damals offizielles Herrschaftssymbol und konnte als solche, auch ohne das geschilderte Hintergrundwissen, verstanden werden. Vgl. Asserate (2014: 10) und Rösch (20122: 249 f.).
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Vollstreckers des Volkswillens zurückgriff (Noi sentiamo così d’interpretare). Er lobte darüber hinaus alle, die am Krieg teilgenommen hätten (riconoscenza, ammirazione). Sein Lob galt besonders den Soldaten, den Arbeitern und dem italienischen Volk. In der Live-Version wurde speziell das Volk hervorgehoben: „merita pienamente, quale unico protagonista, di vivere questa grande ora.“529 (es verdient vollauf als einziger Protagonist diese große Stunde zu erleben). Der Krieg sollte ein Krieg des Volkes und für das Volk sein. In diesem Sinne sprach Mussolini Italien das Attribut proletarisch zu. Der Schluss war ähnlich wie in den anderen Reden gestaltet und glich dem Anfang mit der Nennung des dreigliedrigen Adressatenkreises. In der gedruckten Fassung fehlte der eigentliche Schlusssatz, den Mussolini nach dem Viva l’Italia-Ruf vor Ort noch angebracht hatte, quasi als Deutung des aufschreienden Publikums: „Und dieser Schrei möge bis zu den Soldaten gelangen, die vielleicht in Afrika darauf warten! […] Es lebe Italien!“530 Der Journalist Giovanni Ansaldo hielt folgenden Eindruck über diese Rede in seinem Tagebuch fest: Die Rede Mussolinis war gemäßigt und die darin enthaltene nachdrückliche Friedenserklärung an die Welt, die ihr Dreh- und Angelpunkt ist, wird eine immense Wirkung haben. Die ganze Angelegenheit scheint mit großer Sicherheit schneller als geglaubt zu einem Ende zu kommen. Und das mit großem Erfolg für Mussolini, der sich in dieser Sache seine Sporen als Staatsmann und für Italien verdient hat.531
Auch Le Temps oder die Wiener Zeitung hoben den gemäßigten Ton hervor, den sie in der Rede wahrzunehmen glaubten. „Der italienische Ministerpräsident hat es in seiner markanten Siegesrede vermieden, Rekriminationen oder Anklagen zu erheben. Er hat als Realpolitiker gesprochen.“532 In der Le Temps wurde die Konfliktbegrenzung und der Friedensappell unterstrichen. Mussolini habe klar gemacht, dass der Krieg alleinige Angelegenheit Italiens gewesen sei und es nun zum Status quo ante zurückkehren wolle. Alles in allem versuchte Mussolini in dieser und in den folgenden Reden des Jahres 1936 immer wieder die italienische Friedfertigkeit in den Vordergrund zu rücken, um die politischen Verbindungen nach Frankreich und England neu 529 Monaldi (2015: 134), Kurs. i. Orig. gefettet. Mit der Hervorhebung gibt Monaldi an, welche Wörter besonders akzentuiert wurden. 530 Monaldi (2015: 143), „E questo grido giunga ai combattenti che forse lo aspettano in terra d’Africa! […] Viva l’Italia!“ 531 Ansaldo (2000: 117). 532 Wiener Zeitung (06.05.1936): Der Friede ist wieder hergestellt. Nr. 125, S. 1. Sowie: Le Temps (07.05.1936): L’enthousiasme à Rome. Le discours du Duce. N° 27274, p. 1 f.
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Kapitel 4
zu beleben. Erleichtert wurde ihm diese Aufgabe, weil das im Krieg erschaffene Feindbild, nämlich der Völkerbund, weiterhin existierte und Frankreich wie England davon herausgelöst werden konnten. 4.3.3.4 Die Verkündung des Imperiums auf den schicksalhaften Hügeln Um den erreichten Stand erst einmal abzusichern, war es nötig, dass Äthiopien auch formal-juridisch in das Königreich Italien eingegliedert wurde. Dies geschah mit einem Erlass vom 9. Mai 1936, also nur wenige Tage nach der offiziellen Beendigung des Kriegszustandes. Aus dem Kommentar der Le Temps wird das Kalkül ersichtlich, warum Mussolini in so kurzen Abständen diese Reden hielt, es ging ihm nämlich ums Timing: „Lorsque le conseil de la Société des nations se réunira demain [scil. 12.05.1935], à Genève, pour examiner la situation créée par la fuite du négus et la fin de toute résistance éthiopienne, il se trouvera devant un fait accompli auquel il ne semble point y avoir de remède du point de vue genevois.“533 Daraus lässt sich die gewählte Textsorte der Proklamation besser einordnen, zielt sie doch darauf ab, einen Zustand juristisch abzusichern, indem ein Gesetzestext vorgelesen und veröffentlicht wird. Der Völkerbund stand nach dem deklarativen Sprechakt in der Proklamation des Imperiums vor vollendeten Tatsachen. Die Textsorte Proklamation stammte aus dem 19. Jahrhundert und etablierte sich im Zuge der napoleonischen Kriege in der Form, wie sie Mussolini dann verwandte. Sie hat appellativ-deklarativen Charakter, ist normalerweise kurz und dreigliedrig aufgebaut. Nachdem die Adressaten angeredet wurden, wird die Botschaft und die ihr Rechtskraft verleihende Institution oder Person genannt.534 Oft kommt sie im Zusammenhang mit kriegerischer Auseinandersetzung zum Einsatz und stellt dann die „übliche […] Form der Feldherrenrede“535 dar. In der heute unter dem Titel La proclamazione dell’Impero bekannten Rede war nun das große Ziel des Italien-Mythos erreicht. Die Stimmung vor Ort war wie bei allen gerade besprochenen Reden volksfestartig. Der deutsche Botschafter Ulrich von Hassel schilderte seiner Frau wenige Tage später die Szenerie auf der Piazza Venezia folgendermaßen:
533 Le Temps (11.05.1936): L’annexion de l’Éthiopie. N° 27278, p. 1. 534 Vgl. Hambsch (2005: 193 ff.). Für Italien sind die aus dem Risorgimento stammenden Ansprachen und Proklamationen Giuseppe Mazzinis nennenswert, deren Stil im Ersten Weltkrieg – will man Santini (1938: 187 f., 326) Glauben schenken – wieder auflebte. Die Beredsamkeit Mussolinis wird von Santini ebenso der oratorischen Gattung proclama zugeordnet, ebd. (337). 535 Hambsch (2005: 195).
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Die Massen auf dem Platz, bis in die Via Nazionale und die Via del Impero [sic] hinein und – die Truppen – bis auf das Denkmal hinauf, waren ein gewaltiger Eindruck. Neulich, nach der Einnahme von Addis Abeba, waren es vielleicht noch mehr. […] Einige meinten auch, die Begeisterung, besonders hinten, sei diesmal nicht so groß gewesen wie nach Addis Abeba und sogar am 2. Oktober. […] Am letzteren Tage war ich gerade bei Mussolini. Wenn damals wirklich ‚das Volk‘ begeistert war, so war vorgestern jedenfalls er selbst und seine Leute in etwas anderer Stimmung als damals!536
Das Ambiente – das Kapitol und der beleuchtete Vaterlandsaltar – sowie die späte Uhrzeit (ca. 21:00) trugen dazu bei, eine suggestive Kulisse für die Rede zu schaffen. Nach Schätzung der Le Temps waren 600 000 Menschen zusammengekommen.537 Vom Balkon des Palazzo Venezia verkündete Mussolini seinem Publikum die Erfüllung all der unterschiedlichen Wünsche, die latent im Imperiums-Begriff vorhanden waren: [1] Ufficiali! Sottufficiali! Gregarî di tutte le Forze Armate dello Stato, in Africa e in Italia! Camicie nere della rivoluzione! Italiani e italiane in patria e nel mondo! Ascoltate! [2] Con le decisioni che fra pochi istanti conoscerete e che furono acclamate dal Gran Consiglio del fascismo, un grande evento si compie: viene suggellato il destino dell’Etiopia, oggi, 9 maggio, quattordicesimo anno dell’èra fascista. [3] Tutti i nodi furono tagliati dalla nostra spada lucente e la vittoria africana resta nella storia della patria, integra e pura, come i legionari caduti e superstiti la sognavano e la volevano.
(1) Offiziere! Unteroffiziere! Soldaten aller Streitkräfte des Staates – in Afrika und in Italien! Schwarzhemden der Revolution! Italiener und Italienerinnen im Vaterland und in der Welt! Hört! (2) Mit den Entscheidungen, die ihr in wenigen Augenblicken erfahren werdet und die per Akklamation im Großen Rat des Faschismus angenommen wurden, vollzieht sich ein großes Ereignis: das Schicksal Äthiopiens wird besiegelt, heute am 9. Mai, im XIV. Jahr faschistischer Zeitrechnung. (3) Alle Knoten wurden von unserem strahlenden Schwert zerschlagen und der Sieg in Afrika verbleibt in der Geschichte des Vaterlandes, vollständig und rein, wie die gefallenen und lebenden Legionäre ihn erträumten und wollten.
536 Hassel (2004: 137 f.). 537 Vgl. Le Temps (11.05.1936): L’annexion de l’Éthiopie. N° 27278, p. 1. Und: La Stampa (06.05.1936): La guerra è vinta. Mattino, N° 108, p. 1.
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[4] L’Italia ha finalmente il suo impero.
(4) Italien hat endlich sein Imperium.
Impero fascista, perché porta i segni indistruttibili della volontà e della potenza del Littorio romano, perché questa è la meta verso la quale durante quattordici anni furono sollecitate le energie prorompenti e disciplinate delle giovani, gagliarde generazioni italiane.
Ein faschistisches Imperium, weil es die unzerstörbaren Zeichen des Willens und der Stärke des römischen Liktorenbündels trägt; weil es das Ziel ist, für das wir all die ungestümen und zugleich disziplinierten Kräfte der jungen, tapferen italienischen Generationen während der 14 Jahre [faschistischer Herrschaft] mobilisierten.
Impero di pace, perché l’Italia vuole la pace per sé e per tutti e si decide alla guerra soltanto quando vi è forzata da imperiose, incoercibili necessità di vita.
Ein Imperium des Friedens, weil Italien für sich und für alle den Frieden will und sich nur zum Krieg entscheidet, wenn es von dringenden, unaufhaltsamen, vitalen Notwendigkeiten gezwungen wird.
Impero di civiltà e di umanità per tutte le popolazioni dell’Etiopia. Questo è nella tradizione di Roma, che, dopo aver vinto, associava i popoli al suo destino.
Ein Imperium der Zivilisation und der Menschlichkeit für alle Bevölkerungsgruppen Äthiopiens. Dies liegt in der Tradition von Rom, das – nachdem es gesiegt hatte – die Völker mit seinem Schicksal verband. (5) Hier nun das Gesetz, o Italiener, das einen Abschnitt unserer Geschichte schließt und einen neuen Abschnitt wie einen breiten Weg, offen hin auf all die Möglichkeiten der Zukunft, aufmacht:
[5] Ecco la legge, o italiani, che chiude un periodo della nostra storia e ne apre un altro come un immenso varco aperto su tutte le possibilità del futuro:
1. – I territorî e le genti che appartenevano all’impero di Etiopia sono posti sotto la sovranità piena e intera del Regno d’Italia.
1. – Die Gebiete und Völker, die zum Kaiserreich Äthiopien gehörten, werden unter die volle und uneingeschränkte Souveränität des Königreichs Italien gestellt.
2. – Il titolo di imperatore d’Etiopia viene assunto per sé e per i suoi successori dal re d’Italia.
2. – Der Kaisertitel Äthiopiens wird vom König Italiens für sich und für seine Nachfolger angenommen.
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Reden- und Mythenanalyse [6] Ufficiali! Sottufficiali! Gregarî di tutte le Forze Armate dello Stato, in Africa e in Italia! Camicie nere! Italiani e italiane!
(6) Offiziere! Unteroffiziere! Soldaten aller Streitkräfte des Staates – in Afrika und in Italien! Schwarzhemden! Italiener und Italienerinnen!
Il popolo italiano ha creato col suo sangue l’impero. Lo feconderà col suo lavoro e lo difenderà contro chiunque con le sue armi.
Das italienische Volk hat mit seinem Blut das Imperium geschaffen. Es wird dieses mit seiner Arbeit fruchtbar machen und es mit seinen Waffen gegen jeden verteidigen.
In questa certezza suprema, levate in alto, o legionarî, le insegne, il ferro e i cuori, a salutare, dopo quindici secoli, la riapparizione dell’impero sui colli fatali di Roma.
In dieser höchsten Gewissheit erhebet – o Legionäre – die Feldzeichen, das Eisen und die Herzen in die Höhe, um nach 15 Jahrhunderten das Wiedererscheinen des Imperiums auf den Schicksalshügeln Roms zu grüßen.
Ne sarete voi degni? (La folla prorompe in un formidabile: ‚Sì‘!). Questo grido è come un giuramento sacro, che vi impegna dinanzi a Dio e dinanzi agli uomini, per la vita e per la morte!
Seid ihr dessen würdig? (Die Menge bricht in ein heftiges: ‚Ja!‘ aus). Dieser Schrei ist wie ein heiliger Schwur, der euch vor Gott und den Menschen verpflichtet – auf Leben und Tod!
Camicie nere! Legionari! Saluto al re!538
Schwarzhemden! Legionäre! Gruß dem König!
Von den drei vorgestellten Reden ist diese die kürzeste. In den Abschnitten 1 und 6 wurde nunmehr ein rein italienischer Adressatenkreis benannt. Der militärische Charakter ist daran zu erkennen, dass das Heer differenziert auf mehreren Ebenen angesprochen wurde. Dann wurde der Anlass mit der Datumsnennung genannt und mit Bedeutsamkeit aufgeladen. Erst danach führte Mussolini die der Proklamation zur Rechtskraft verhelfende Institution an, den Gran Consiglio del Fascismo. Im dritten Abschnitt bemühte er das Bild des gordischen Knotens und rief die Eroberungen Alexanders des Großen damit auf. Das als unlösbar geltende Problem, die Entwirrung einer komplizierten 538 Mussolini OO (27: 268 f.), Kurs. i. Orig.
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Angelegenheit, sei zielstrebig, tatkräftig und schnell gelöst worden. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Mussolini dieses Bild für sich und den Faschismus gebrauchte, passte es doch zum neuen politischen Stil, den er in Abgrenzung zu den demokratischen Politikern pflegen wollte.539 Das nunmehr Erreichte wurde in absolute und schützenswerte Begriffe gefasst (integra e pura) und mittels eines autoritativen Aktes in einen festen und sicheren Zustand überführt: Mussolini benannte dies auch als viene suggellato (besiegeln).540 Das Erreichte müsse erhalten werden, denn das sei man schließlich den Gefallenen schuldig. Somit wird wiederum der Totenkult als Legitimation für zukünftiges Handeln eingesetzt (vgl. Kap. 4.2.2). Dann erfolgte der für das breite Publikum wichtigste Satz: L’Italia ha finalmente il suo impero.541 Dieses Imperium wurde sodann in drei Abschnitten charakterisiert. Das Verdienst um das Imperium komme allein dem Faschismus zu, der kontinuierlich darauf hingearbeitet habe (quattordici anni). Der Krieg sei Italien aufgezwungen worden und trüge dem Umstand Rechnung, dass Italien Lebensraum benötige. Immer und immer wieder scheint in den Reden das erste von Morelli aufgestellte Prinzip der Kriegspropaganda auf: Man müsse beteuern, den Frieden mehr zu lieben als den Krieg. Die versöhnlichmenschliche Seite zeigte sich darin, dass die Tradition Roms aufgerufen wurde, in der den Besiegten mit Milde begegnet wurde. Daraufhin erfolgte die Verlesung des Ediktes, das die rechtliche Funktion der Proklamation erfüllte und als etwas ganz Neues angekündigt wurde (ne apre un altro [periodo] come un immenso varco aperto): Abessinien werde Teil des Königreichs Italien und König Vittorio Emanuele III. übernehme erblich Titel und Würden des verjagten Haile Selassie. Der letzte Abschnitt – ein im Vergleich zu den anderen Reden etwas längerer Schluss – besaß eine appellative Funktion. Das Erworbene müsse verteidigt werden, was als indirekte Drohung an jene adressiert war, die diesen Sieg infrage stellten. Wie in der katholischen Liturgie forderte Mussolini nun die Anwesenden auf, das Eisen (Synekdoche des Typs materia pro opere)542 und die Herzen (Synekdoche des Typs pars pro toto) in die Höhe zu richten (sursum corda), um den Beginn des Imperiums zu begrüßen. Hierbei bediente er sich der Formulierung a salutare, dopo quindici 539 Weitere Stellen, an denen Mussolini den „gordischen Knoten“ löste: OO (18: 463), OO (21: 309), OO (24: 233 gleich zwei Mal), OO (29: 273), OO (34: 127). 540 Vgl. Sproll (20122: 400). 541 Saturiert war dieses Imperium aber gerade nicht, vgl. Moos (2014: 1144). 542 Ähnliche Stellen finden sich in OO (24: 247 f.) und OO (26: 79). Zur theoretischen Einordnung vgl. Lausberg (19765: 70), Eggs (2015: 246) spricht hingegen von einer materialen Metonymie.
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secoli, la riapparizione dell’impero sui colli fatali di Roma. Generationen von Schülern lernten die Verse des Nationaldichters und Literaturnobelpreisträgers Giosuè Carducci auswendig.543 Seine Dichtung inspirierte sie zur Vorstellung von ehemaliger römischer Größe, die in ferner Zukunft wieder einmal Wirklichkeit werden könnte. Mussolini knüpfte mit seiner Formulierung an zwei Gedichte aus der Sammlung Odi barbare (1. Buch), vor allem an Nell’annuale della fondazione di Roma und an die Ode Roma an. Hier seien zwei Auszüge daraus präsentiert: Nell’annuale della fondazione di Roma te dopo tanta forza di secoli aprile irraggia, sublime, massima, e il sole e l’Italia saluta te, Flora di nostra gente, o Roma. […]
April umstrahlet, Hehre und Höchste, dich Nach so gewalt’ger Wucht von Jahrhunderten; Die Sonne und Italien grüßt dich, Unsere Völkerschaft Flora, Roma! […]
E tu dal colle fatal pe ’l tacito Fòro le braccia porgi marmoree, a la figlia liberatrice additando le colonne e gli archi:
Vom Schicksalshügel streckst du die marmornen Arme durchs tiefe Schweigen des Forums aus, Die Säulen und die Ruhmesbogen Deiner befreienden Tochter zeigend:
gli archi che nuovi trionfi aspettano non piú di regi, non piú di cesari […] ma il tuo trionfo, popol d’Italia, su l’età nera, su l’età barbara, su i mostri onde tu con serena giustizia farai franche le genti.544
Die Bogen, welche neuer Triumphe harr’n Doch nicht von Kön’gen oder Cäsaren mehr […] Nein, dein Triumph, italisches Volk, allein, Über die düst’re Zeit des Barbarentums Und über Ungeheuer, die du Richtend wirst reißen aus Völkermitte.545
543 Vgl. Braccesi (1999: 165–170), der Bezüge zwischen Carducci und Mussolini herausstellt. Luigi Volpicelli (1935) diskutierte rhetorische und literarische Einflüsse auf Mussolini. Es stand die These im Raum, Mussolini sei durch Carducci geprägt worden. Er kam zum Schluss, dass Mussolini mehr seiner eigenen Natur folge als literarischen Vorbildern, vgl. ebd. (47). Volpicelli mag darin recht haben, dass Syntax und Darstellung zwischen Carducci und Mussolini sehr unterschiedlich waren (vgl. Tomasin (2007)), sie sich jedoch in den Motiven, wie diese Analyse zeigt, durchaus entsprechen. 544 Carducci (1940: 16 f.), Herv. v. F.S. 545 Carducci (1969: 162), im Orig. ohne Enjambements. Übers. v. Bettina Jacobson.
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Und die Ode Roma: E tu da i setti colli protendi, o Roma, le braccia A l’amor che diffuso splende per l’aure chete […] mentr’io dal Gianicolo ammiro l’imagin de l’urbe, nave immensa lanciata vèr l’impero del mondo.546
[…] Rom, von den sieben Hügeln streckst du die Arme Nach der Liebe, die rings leuchtet in heiterer Luft […] Während ich, vom Janiculum aus, das Stadtbild bewund’re: Das zur Herrschaft der Welt eilende, riesige Schiff.547
Wie aus den Hervorhebungen ersichtlich wird, stammen die Elemente des Grußes (l’Italia saluta / te), die schicksalsumwobenen Hügel (colle fatal und i setti colli), die Antithese zwischen Kultur und Barbarentum (l’età barbara), die renovatio imperii mit dem Volk als seinem Träger (il tuo trionfo, popol d’Italia und vèr l’impero del mondo) allesamt aus Carducci. Die Reminiszenzen verliehen dem Schluss etwas Klassisches und Erhabenes. Die oben geschilderte Kulisse verstärkte sicherlich diesen suggestiven Effekt. Mit einer das Publikum involvierenden rhetorische Frage (Ne sarete voi degni?) und bindendem, religiös aufgeladenen Schwur (giuramento sacro […] dinanzi a Dio) nebst einer verbalen Verneigung vor dem König endete die Rede. Absicherung eines zweischneidigen Erfolges Mussolinis Triumph wurde durch drei Sachverhalte geschmälert. Erstens erhoffte man sich einen schnellen Sieg, der zwar eintrat, aber die neue Kolonie war damit noch lange nicht befriedet. Das hatte Auswirkungen auf die geweckten Hoffnungen, dort leicht an Ackerland zu kommen und wirtschaftlich neu anfangen zu können. Viele der gestellten Anträge zur Übersiedlung wurden abgelehnt.548 Zweitens wirkte sich der Krieg auf die italienische Wirtschaft aus. Es kam zu Preiserhöhungen bei den Lebenshaltungskosten und die rückkehrenden Soldaten erzählten vereinzelt von ihren grausamen Maßnahmen gegen ein ihnen an Zahl und Ausrüstung unterlegenes Volk. So wurde schon die ‚Befriedung‘ der italienischen Kolonie in Libyen von 1923 bis 1932 durch den 546 Carducci (1940: 31), Herv. v. F.S. 547 Carducci (1969: 173 f.), im. Orig. ohne Enjambements. Übers. v. Fritz Sternberg. 548 Vgl. Del Boca (1996: 425 f.), Moos (2014: 1155): „Die italienischen Kolonien waren – entgegen den bombastischen Versprechen des Regimes – alles andere als agrarische Siedlungskolonien. […] Faktisch waren sie Unterwerfungskolonien einheimischer Bevölkerungen und insofern mit anderen, aber früher entstandenen europäischen Kolonien vergleichbar.“
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Schlächter Rodolfo Graziani der italienischen Öffentlichkeit verheimlicht, denn dieses Vorgehen war weder mit dem Selbstbild des ‚guten Diktators‘, noch mit den zivilisatorischen Ansprüchen, die in Äthiopien dann zum Einsatz kamen, vereinbar.549 Zweifellos hätte Presse über die verübten Massaker dem Regime geschadet und Ähnliches stand ihm nach dem Äthiopien-Krieg bevor. Die Inkongruenz von Erwartung und eingetretener Realität veranlasste die italienische Bevölkerung, so Colarizi, zu einer Korrektur ihres MussoliniBildes: Der ‚Duce‘ hätte zwar Gutes tun wollen, würde aber von den Parteibonzen systematisch hintergangen.550 Der Vorgang wiederholte sich in Deutschland und schlug sich symptomatisch im Satz: Wenn das der Führer wüsste! nieder. Am Festhalten der Erwartung und ihrer langsamen Korrosion zeigte sich die Persistenz des rhetorisch aufgebauten Ethos Mussolinis, das mit den Gegenerfahrungen in Einklang gebracht werden musste. Noch überwog eine positive Sicht auf Mussolini, die sich aber im Laufe des Zweiten Weltkrieges mit der verschlechterten Versorgungslage in Italien schnell änderte. Drittens war die außenpolitische Lage zu den anderen europäischen Staaten angeschlagen. Diese Schräglage wollte Mussolini mit seinen Reden in den folgenden Monaten wieder ausgleichen. An die Welt ‚jenseits der Berge und Meere‘ lancierte Mussolini die zwiespältige Botschaft den Frieden zu wollen, aber nur unter seinen Bedingungen: È dunque un grande ramo d’ulivo che io innalzo alla fine dell’anno XIV e agli inizi dell’anno XV. Attenzione! Questo ulivo spunta da una immensa foresta: è la foresta di otto milioni di baionette, bene affilate e da giovani intrepidi cuori!551 Es ist also ein großer Olivenzweig, den ich am Ende des Jahres XIV und am Beginn des Jahres XV hochhebe. Aber Achtung! Dieser Ölzweig sprießt aus einem immensen Wald heraus, ein Wald von acht Millionen Bajonetten, gut geschärft und von jungen, unerschrockenen Herzen!
Pedrotti hat die gestische Untermalung dieser Aussage untersucht und konnte zeigen, dass Mussolini bei dem Wort Achtung! den Zeigefinger der rechten Hand in die Höhe streckte. Mussolini generierte damit Aufmerksamkeit, um dann szenisch den Olivenzweig/das Bajonett zu verdeutlichen, indem er den Arm ganz über den Kopf ausstreckte.552
549 550 551 552
Vgl. Mallett (2000: 32 f.). Vgl. Colarizi (1991: 218–224). Mussolini OO (28: 59). So schon ähnlich 1934, vgl. OO (26: 358). Vgl. Pedrotti (2017: 163 f.).
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Der Olivenzweig als christliches Symbol für Frieden und Hoffnung wurde auf diese Weise durch seinen Arm verkörpert.553 Der Diktator wollte Frieden für die kommende Zeit, deswegen wurde der Zweig auch am Jahreswechsel des faschistischen Kalenders erhoben: Altes wird abgeschlossen, Neues begonnen. Das hieß aber nicht im Umkehrschluss, dass Italien seine neue Position aufgegeben werde. Das Symbol des Olivenzweigs baute Mussolini zu einer offenen Allegorie aus, die er mit Erklärungen des übertragenen Sachverhaltes versah.554 Der Zweig stamme aus einem Wald aus Bäumen, was eine große Menge bedeuten soll, der wiederum aus Bajonetten und Gewehren bestehe. Und hinter dieser Masse an Waffen stünden kampfwillige Soldaten (hier abermals die Herzen-Synekdoche). Dass neben dem Friedensangebot zugleich eine Drohung ausgesprochen war, wurde durch Gestik und Referenzherstellung zu den Bajonetten verständlich. Später wiederholte Mussolini sein Angebot mit der paradox klingenden Formel einer „pace armata“555 (einem bewaffneten Frieden): das Kriegerische der Waffen qualifizierte diesen brüchigen und konditionierten Frieden. Für Mussolini war der Satz si vis pacem, para bellum konvertibel, denn der Friede in Europa war aus strategischen Gründen für Italien wichtig. Die Umkehrung des Satzes, nämlich si vis bellum, para pacem, hatte er zur Vorbereitung des Äthiopienkrieges angewandt. Die Presse hatte den Sinn der Rede verstanden. Le Temps fasste sie wie folgt zusammen: Le principale intérêt du discours de Bologne réside dans la volonté de paix exprimée de nouveau avec force par le Duce à l’adresse des autres nations de l’Europe, sans négliger de laisser entendre que, plus que jamais, les peuples pacifiques doivent, avant tout, être forts et que leur volonté de paix ne sera d’aucune utilité s’ils s’affaiblissent moralement et matériellement.556
In der Zeit nach dem Äthiopienkrieg nutzte Mussolini immer wieder einen Typ der Übertragung, die man Orientierungsmetapher nennt. Diese entnahm er aus den Quellbereichen der Natur und, ähnlich wie während der
553 Vgl. Meineke (20122: 304). 554 Vgl. Lausberg (19765: 139), dieser Typ der Allegorie unterscheidet sich zur geschlossenen Allegorie dadurch, dass sie nicht rätselhaft ist und den Interpretationsschlüssel ihrer Bedeutung mitliefert. 555 Mussolini OO (27: 71). 556 Le Temps (26.10.1936): Italie. Le discours de Duce à Bologne. N° 27444, p. 2. Vgl. auch den Titel der Wiener Zeitung (25.10.1936): Friedensbotschaft Mussolinis aus Bologna. Nr. 294, S. 4.
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Wirtschaftskrise, aus dem der Schifffahrt.557 Räumliche Kategorien, die zur Orientierung genutzt werden wie markante Punkte in der Landschaft, Lichtsignale, aber auch der Himmel werden auf eine politische Situation übertragen. Einige Beispiele mögen diesen Sachverhalt vor Augen führen: Da questa Bologna, che è stata nei secoli un faro per l’intelligenza umana, da questa Bologna, che ha dato il più grande sacrificio per la causa della rivoluzione, io desidero lanciare un messaggio che deve andare oltre i monti e oltre i mari.558 Von diesem Bologna, das Jahrhunderte lang ein Leuchtturm menschlicher Intelligenz gewesen ist, von diesem Bologna aus, das das größte Opfer für die Sache der Revolution erbracht hat, möchte ich eine Botschaft verbreiten, die über Berge und Meere gehen soll.
Der faro per l’intelligenza umana meint die 1088 gegründete Universität Bologna, die mit ihrem Wissen die Welt bereichert habe. Das Wissen wird als Licht gegenüber dem dunklen Nichtwissen metaphorisiert. Der Leuchtturm ist ähnlich wie der Kompass oder der Polarstern, eine räumliche Richtgröße der Schifffahrt, um vor Untiefen zu warnen oder den rettenden Hafen zu markieren.559 Der gewählte Ort und die Botschaft Mussolinis sind funktional mit dem Leuchtturm vergleichbar, denn sie sollten die diffus Angesprochenen jenseits der Grenzen wissen lassen, wie Italien sich in Zukunft verhalten werde. Ferner nutzte Mussolini das Wort orizzonte als Orientierungsmetapher. Der Horizont bezeichnet den mit bloßen Augen am weitesten entfernten Punkt, wo sich Land oder Wasser mit dem Himmel verbinden. Als Interpretament wird er im übertragenen Sinn für die politische Lage herangezogen: Die Deutung des Himmels – einst Aufgabe von Auguren oder Astrologen – wurde der Idee nach in den Bereich der Politik überführt. Mussolini nahm nun die Stelle der Auguren ein und versuchte Indizien ausfindig zu machen, die als gute oder
557 Vgl. Lakoff/Johnson (20117: 22, 24). Die Schifffahrtsmetaphern sind nicht ganz deckungsgleich mit dem, was Lakoff/Johnson unter der Orientierungsmetapher verstehen, da in ihnen kulturelles Wissen des Konzeptes SCHIFFFAHRT vorausgesetzt wird. Meist kommen sie aber mit Wetter- und Horizontmetaphern vor und haben somit indirekt mit Orientierung zu tun. 558 Mussolini OO (28: 59). 559 Vgl. Peil (1983: 722, Fußnote: 112): „Gemessen an der Häufigkeit der Kompaß- und Nordstern-Metapher ist der Leuchtturm nur selten politisch gedeutet worden.“ Weitere Stellen, an denen Mussolini den Leuchtturm bemüht, sind: „Il fascismo […] è ormai un faro che splende a Roma ed al quale guardano tutti i popoli della terra“ OO (20: 170) sowie: „Si può immaginare l’Accademia come il faro della gloria che addita la via e il porto ai naviganti negli oceani inquieti e seducenti dello spirito“, OO (24: 153).
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schlechte Vorzeichen für die Zukunft gelesen werden konnten.560 Sich nach den Begebenheiten auszurichten, kann man ferner als Orientierung an der Wirklichkeit verstehen. Alfredo Panzini empfiehlt in seinem Wörterbuch direkt das Wort orizzontarsi, anstelle des als französisch wahrgenommenen orientarsi.561 Bereits im Dizionario von Tommaseo/Bellini sind Beispiele dieser übertragenen Nutzung zu finden, was für seine Etablierung im Italienischen spricht, doch von der Nutzung wurde zugleich abgeraten.562 Mussolini charakterisierte die politische Lage 1936 folgendermaßen: Mentre gli orizzonti europei incupiscono sotto le brume dell’incertezza e del disordine, l’Italia offre al mondo uno spettacolo mirabile di compostezza, di disciplina, di civica e romana virtù.563 Während sich der europäische Horizont im Nebel von Unsicherheit und Unordnung verfinstert, bietet Italien der Welt ein wundervolles Schauspiel von Ordnung, Disziplin und bürgerlich-römischer Tugend.
Für den Zielbereich der Politik verheißen Wolken oder Nebel eine Verschlechterung der Lage, andererseits können Licht oder neue Objekt am Horizont als positive Zeichen gewertet werden. Emotional schwingen in dieser Metapher je nachdem Hoffnung oder Furcht mit. Mit dem metaphorischen Horizont wurden auch nautische Begriffe aufgerufen: Del resto per fare una politica di pace non è necessario di passare per gli ambulacri della Società delle nazioni. Qui, o camerati, io faccio quello che nella navigazione si chiama il punto.564 560 Zum Himmel als Symbol von Stimmungslagen, vgl. Schneider (20122: 183). Zur Himmelsdeutung als Strategie der Zukunftsbewältigung, vgl. Assmann (1999: 83 f.). Was die metaphorische Verwendung der Himmelsdeutung in der Politik begünstigt, ist die Strukturähnlichkeit bei der Zukunftsbewältigung, denn Divination und Rhetorik arbeiten bei der Erschließung der offenen Zukunft mit Indizien. Ähnliche Verfahren kommen auch in der politischen Beredsamkeit zum Tragen. 561 Vgl. Panzini (196310: 471). 562 Vgl. Tommaseo/Bellini (1869, Vol. 3: 663 f.): „I giornali abusano del trasl. L’orizzonte politico. – Un nuovo orizzonte. † † [T.] Plur., ancora più da evitarsi. Aprirsi nuovi orizzonti. […] Può dirsi Prospetto, Spazio, Regione, e altri assai.“ Kurs. i. Orig. 563 Mussolini OO (28: 5). Weitere Stellen, an denen Mussolini vom Horizont sprach, sind: „Il giro di orizzonte si limiterà agli Stati coi quali confiniamo e a taluni problemi di ordine generale“, OO (26 188); „Ci siamo riuniti per tentare di disperdere le nuvole che offuscano l’orizzonte della vita politica europea“, ebd. (264); „Ad esplorare un po’ l’orizzonte si vede qualche leggero segno di miglioria. C’è uno schiarimento nella foschia che fu così densa in questi ultimi anni“, ebd. (391). 564 Mussolini OO (28: 68).
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Übrigens ist es nicht nötig durch die Wandelhallen des Völkerbundes zu gehen, um eine Friedenspolitik zu betreiben. Hier, o Kameraden, mache ich das, was man in der Schifffahrt Positionsbestimmung zu nennen pflegt.
Das fare il punto bezieht sich auf die Bestimmung der Position auf der Karte mithilfe von Kompass oder Astrolabium.565 Diese Lagebestimmung durchzuführen weist darauf hin, dass Italien unabhängig sei und nicht in den Vorhallen der Reichen als Bittsteller oder Ränkeschmied auftreten müsse. In derselben Rede nahm Mussolini dann auf verschiedene Länder Bezug, sodass er mithilfe eines Nah-Fern-Verhältnisses die „Koordinaten“ Italiens entwarf. Notwendig sei diese Operation auch geworden, um weiteren Schaden zu vermeiden. Ein Negativ-Beispiel hatte Mussolini kurz davor angeführt: Se si vuole chiarificare l’atmosfera europea, bisogna in primo luogo fare tabula rasa di tutte le illusioni, di tutti i luoghi comuni, di tutte le menzogne convenzionali che costituiscono ancora i relitti del grande naufragio delle ideologie wilsoniane.566 Wenn man die europäische Atmosphäre klären will, muss man zuerst mit allen Illusionen, Gemeinplätzen und herkömmlichen Lügen tabula rasa machen, die zusammen immer noch die Wrackteile des großen Schiffbruchs der Wilson’schen Ideologie bilden.
Die Stimmung sei eingetrübt und die Lage werde als unsicher empfunden. Deswegen müsse sie geklärt, erhellt werden. Als Vorbedingung für diese Klärung gab Mussolini an, sich von alten Überzeugungen, die er abwertend mit ideologie wilsoniane titulierte, zu verabschieden. Mit Woodrow Wilson (1856–1924) brachte er den amerikanischen Präsidenten ins Spiel, der sich im Ersten Weltkrieg für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ausgesprochen und gegen die Gebietserweiterungen Italiens gestellt hatte. Diese Ideologie habe sich als nicht tragfähig erwiesen, denn aufgrund der Tatsache, dass sie sich nicht
565 Vgl. Dizionario di Marina (1937: 697) und Panzini (196310: 552). 566 Mussolini OO (28: 67), Kurs. i. Orig. Die Wiener Zeitung kommentierte die Rede folgendermaßen: Mussolini habe sich „zur Aufgabe gemacht, die Atmosphäre von Schlagworten und Lügen zu reinigen. Sein rhetorischer Schwung sollte also wie ein reinigendes Gewitter wirken, sollte nicht neue Spannung schaffen, sondern Klärungen herbeiführen.“ Und weiter: „Der Stachel der wirtschaftlichen Belagerung ist in den Erklärungen, die Mussolini den Bundesgenossen von einst widmete, noch erkennbar; allein man sieht auch die Friedenshand. Diese Geste der Versöhnung wird, wie aus bedeutsamen englischen Kommentaren zu der Mailänder Rede hervorgeht, als ein positiver Beitrag gewertet.“ Wiener Zeitung (03.11.1936): Reinigendes Gewitter. Nr. 303, S. 1.
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ausreichend an der Realität orientiert habe (illusioni), habe sie nun Schiffbruch (naufragio) erlitten.567 Bemerkenswert war die Rede in Mailand, weil sie – wie so oft – vom Metaphorischen ins Eigentliche überging. Der nautische Interpretationsrahmen war von Mussolini gewählt worden, um seine Deutungshoheit in der italienischen und weltweiten Öffentlichkeit durchzusetzen. Die Metaphern unterstützen das geopolitische Anliegen Italiens insofern, als dass Mussolini wenig später wirklich Fragen über die Schifffahrt thematisierte. Geostrategische Interessen Italiens nötigten Mussolini, das Problem des Mittelmeeres anzugehen. „Wenn für andere das Mittelmeer eine Straße darstellt, so ist es für uns Italiener das Leben“568. Mussolini argumentierte also mit vitalen Interessen, zeigte sich zugleich zuversichtlich, dass auf dem Mittelmeer eine Lösung mit den Engländern in Sicht sei. Als Druckmittel führte Mussolini ferner die Annäherung mit Hitler-Deutschland an (Achse Berlin-Rom). Wie in der Wirtschaftskrise wandte er die Natur- und Seefahrtsmetaphorik an, nutzte sie in diesem Fall aber im aktivischen Sinn. Eine Vorab-Fixierung von Metaphorik mit bestimmten Wirkungsabsichten ist deswegen nicht sinnvoll, weil sie sich erst aus dem Kontext ergeben. In dieser konkreten Situation wollte er mit den gewählten Orientierungsmetaphern nicht Furcht, sondern Hoffnung und Vertrauen in Italien generieren. Das Bild der Natur hatte nichts Furchterregendes und sie brach auch nicht von außen herein. Im Mittelpunkt standen die zuversichtliche Deutung und der Deuter Mussolini selbst. In diesem Zusammenhang griff dann wiederum seine Ethos-Inszenierung und unterstützte seine Aussagen. Im Jahr 1936 hätte niemand gedacht, dass der langersehnte Traum des Imperiums nach gerade einmal fünf Jahren schon wieder zerplatzen würde. Mit der Ausrufung des Imperiums kam der nationale Italien-Mythos an sein 567 Vgl. Peil (1983: 849): „Das Bild vom politischen Schiffbruch hat zwar bereits in manchen Wendungen Ciceros nur noch den Status einer Exmetapher […], kann aber wie etwa auch die verblaßte Metapher vom politischen Kurs aufgrund der Geläufigkeit der Vorstellung vom Staatsschiff stets wieder aufgefrischt werden; aber gemessen an den zahlreichen Bildern, die das Staatsschiff im gefährlichen Unwetter zeigen, sind detailliert beschriebene Szenen vom Untergang des […] Staatsschiffes sehr selten“. 568 Mussolini OO (28: 71): „Se per gli altri il Mediterraneo è una strada, per noi italiani è la vita“. Weniger versöhnlich zeigte sich Mussolini mit Frankreich. In den Bemerkungen über die lateinische Schwester beschrieb er die Beziehungen zu Italien als frostig: „Ma vennero le sanzioni. Naturalmente l’amicizia subì un primo congelamento. Eravamo alle soglie dell’inverno. Passò l’inverno e giunse la primavera e con la primavera le nostre trionfali vittorie.“ Ebd. (68). Die Freundschaft wurde „auf Eis gelegt“, sodann trat nach der Kriegserklärung im Oktober der Winter ein. Es scheint so, als ob sich die Beziehungen nach den Jahreszeiten ausrichteten.
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vorläufiges Ende. Auf die mobilisierende Wirkung, die sich aus diesem Begriff ziehen ließ, konnte Mussolini nicht mehr zurückgreifen. Manches Element, das gerade vorgestellt wurde, wie z.B. der Revisionismus gegen eine ungerechte Nachkriegsordnung oder die vitalen Interessen im Mittelmeer, fanden sich auch in späteren Reden wieder – beispielsweise in der Kriegserklärung von 1940. Einen großen integrativen Faktor gab es aber nach 1936 nicht mehr. Dem Kampf im Spanischen Bürgerkrieg, den Kampagnen gegen die Bourgeoise und gegen die Juden kann zwar nicht die mobilisierende Struktur abgesprochen werden, doch richteten sich gerade die letzten beiden nach innen und führten so zur gesellschaftlichen Spaltung einer davor von Mussolini vielbeschworenen und aufgebauten nationalen Einheit. Aus diesen Gründen endete 1936 der alles umfassende Konsens mit dem Beginn des faschistischen Imperiums. Nach dem Kriegseintritt Italiens an der Seite Nazideutschlands 1940 bedurfte es nur eines Jahres bis die italienischen Kolonien durch die Alliierten erobert wurden. Das Ende des Imperiums bedeutete allerdings mitnichten das Ende der Faszinations- und Wirkkraft dieser die italienische Außenpolitik leitenden Idee. Es blieb ein Phantomschmerz zurück, der noch im Nachkrieg dazu führte, dass sich Politiker jeglicher Couleur darum bemühten, die verlorenen Kolonien zurückzuerhalten.569 4.4
Zusammenfassung
Mussolini erzeugte gezielt ein positives Bild von sich, und setzte dieses strategisch wirkungsvoll ein: Er wusste sich als verantwortungsbewussten Staatsmann zu inszenieren, besonders dann, wenn er Handlungsmotive wie Gerechtigkeit, Selbstaufopferung oder Pflichterfüllung für sich geltend machte (Kap. 4.1). Er zeigte eine menschliche Seite, wenn er Mitleid und Freude bekundete, und erzeugte damit Nähe zu seinem Publikum und somit Glaubwürdigkeit. Letztere wurde gerade dadurch gesteigert, dass er die Rolle des Parrhesiastes einnahm, vor Demagogie warnte und seinem Publikum auch unbequeme Wahrheiten nicht vorenthalten wollte. Ergänzend setzte er seine vermeintlich überlegene Sachkompetenz ein, womit er ein Redner-PublikumsGefälle zu seinen Gunsten erzeugte. Hier und da tauchten biblisch-christliche Motive, Fabeln und vor allem kleinere Dante-Zitate auf, mit denen er ostentativ seine Reden ausschmückte und ihnen einen Hauch von Bildungsbürgertum verlieh. Gleichzeitig waren diese Elemente oft mehr als nur schmückendes Beiwerk, denn sie stützen seine 569 Vgl. Del Boca (1996: 434 f.).
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Aussagen argumentativ. Häufig bediente er sich der Denkfigur des Deuters oder des Testamentsvollstreckers: Beiden ist gemeinsam, dass sie Latentes oder Gewünschtes zum Vorschein bringen und ins Werk umzusetzen wollen: „Der Populist ist Volksversteher […]. Besonders geschickt ist es, wenn der Populist seine Einsichten auch noch auf eine exklusive Begabung zur Interpretation von Zahlen, Daten und Statistiken oder Traditionen stützt. Diese Selbstermächtigung zur privilegierten Interpretation der Welt und des Volkswillens markiert den Kern des Populisten-Selbstimages.“570 Überträgt man das Zitat auf die Ergebnisse der Analyse, dann sieht man, dass Mussolini zweifelsohne ein Populist im kommunikativen Sinne war. Dass der Faschismus kein reiner Populismus im Wortsinne war, wird aus seinem Eliten-Konzept ersichtlich. Die asymmetrische Konstellation von Volk einerseits und faschistischer Elite andererseits fungierte als Selbstermächtigung der Letzteren. Zusätzliche Bekräftigung fand der faschistische Populismus in der Abgrenzung zu den liberalen Vorgängern.571 Der Volksversteher war Teil des Volkes und ihm zugleich enthoben. Dabei ist dies keine absolute Selbstermächtigung, denn sie war – im Falle des Totenkultes – abhängig vom vermeintlichen Willen der Gefallenen. Ferner präsentierte sich Mussolini als erfolgreichen Macher und bediente damit eine seit den 20er Jahren virulent gewordene Vorstellung, wie der ideale Politiker zu sein habe. Mussolini setzte eine Anti-Rhetorik ein, die performative Wirksamkeit proklamierte und sich vorzugsweise im Gewand des sprachgewaltigen Redners zeigte. Seine Reden beruhten meist auf einem dreigliedrigen Schema: Zuerst kam eine stark konventionalisierte Exordialtopik zum Einsatz, dann wurde das Thema abgehandelt und zum Schluss stand ein Appell. Mussolini griff gerne auf historische Themen zurück, ging dabei aber nicht in die Tiefe. Seine Reden bereitete er vor, suggerierte aber eine spontane Entstehung aus dem Moment heraus, was seiner Glaubwürdigkeit wiederum zugutekam. Dies war allerdings nur eine geschickte Strategie des Verbergens rhetorischer Kunstfertigkeit.572 In seinem Arbeitsalltag wurde Mussolini von einem persönlichen Mitarbeiterstab unterstützt, behielt aber die Oberhand in der Konzeption und Endfassung der Reden. Daran zeigte sich eine „Rationalisierung der Redepraxis“ (Schulz), die auf Versatzstücken und Arbeitsteilung beruhte.
570 Knape (2012: 62). 571 Zum Unterschied zwischen heutigem Populismus und Faschismus/Nationalsozialismus, vgl. Müller (20163: 52). 572 Vgl. Schloemann (2019: 43 f.).
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In Kapitel 4.2 wurde aufgezeigt, dass sich Mussolini den schon seit Jahrhunderten virulenten Dekadenz- und Rom-Mythos aneignete. In diesem Mythos wurde das imperiale Rom für einen Vergleich mit der Jetztzeit herangezogen und somit eine Verfallsgeschichte erzählt. Neu daran war hingegen die alleinige Beschränkung auf den Rom-Mythos, das heißt die Konzentration auf eine große Meistererzählung. Das Spezifische an der Dekadenzerzählung war dabei die Nutzung von moralischen Kategorien, um eine negative Bewertung der Gegenwart mittels historischer Genese zu etablieren. „Politikanalyse gerät zur Misere-Analyse.“573 Ergänzt wurde diese Kritik mit dem Versprechen, zu einer vermeintlich goldenen Vergangenheit zurückzukehren.574 Hierin manifestierte sich ein zyklisches Geschichtsverständnis, das den Ursprung verklärte und auch überbieten wollte. Der imperiale Rom-Mythos nahm in dieser Geschichte die Funktion einer Erwartungsfolie ein. Die in die Zukunft projizierte Vergangenheit sollte integrativ und mobilisierend wirken. Die darauffolgenden Unterkapitel demonstrierten, wie dieser méta récit an die nahe Vergangenheit angebunden wurde und es zu einer vereinfachten Deutung für das politische Funktionsgedächtnis kam. Die Denkfigur der Präfiguration, die Parallelisierung und die historische Genese waren drei Strategien, die Mussolini einsetzte, um den nationalen Mythos in seinem Sinne fort- oder umzuschreiben. Mit der Rückbindung an das Risorgimento gewann er eine wichtige Legitimationsquelle. Zugleich rief Mussolini zur Nachahmung der risorgimentalen Helden auf. Geschichte wurde auf diese Weise instrumentalisiert und mittels Sakralisierung, Heroisierung und Prototypisierung zum Mythos gemacht. Im Anschluss daran wurden drei Politikfelder betrachtet: Das erste gehörte der Landwirtschaft und der Regionalplanung an. Das zweite war der Wirtschaftskrise und das dritte der Außenpolitik gewidmet. Mit der landwirtschaftlich ausgerichteten bonifica (Kap. 4.3.1.1) sollte malariaverseuchtes Land fruchtbar gemacht werden. Sie stellte ein Prestigeprojekt des Regimes dar und evozierte Emotionen wie Stolz, Hoffnung und Zuversicht. Der von Mussolini in seinen Reden entworfenen Bonifica-Mythos arbeitete mit militärischer Metaphorik und diente der Mobilisierung der Mitwirkenden. Er war nur kurzfristig erfolgreich, vor allem dann, wenn er nur indirekt über die Medien oder aus dem Ausland wahrgenommen wurde. Die erreichten Ergebnisse konnten mit diesem Mythos auf Grund seiner mobilisierenden Natur nicht verstetigt werden.
573 Knape (2012: 63). 574 Zur ‚guten alten Vergangenheit‘ s. Till (2019: 42), vgl. auch Baumann (2017).
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Kapitel 4
Anders verhielt es sich bei der Battaglia del grano (Kap. 4.3.1.2): Diese Propagandakampagne hatte zum Ziel, den Ertrag von Weizen zu steigern. Die ‚Getreideschlacht‘ war ebenfalls ein mobilisierender Kampf-Mythos, der sein angestrebtes Ziel erreichte und Italien somit weitgehend unabhängig von ausländischen Getreideimporten machte. Dieser Mythos ist allerdings als strikt manipulierend in dem Sinne einzustufen, insofern er das hintergründige Ziel der Haushaltskonsolidierung zu verschleiern half. Die angestrebte Unab hängigkeit von ausländischen Importen kam nicht der Bevölkerung, sondern der Staatskasse und der Rüstungsindustrie zugute. Im Politikfeld der Wirtschaft fiel die Bandbreite von Medizin-, Natur-, Schifffahrts- und Militärmetaphern auf (Kap. 4.3.2). Das Zusammenspiel dieser Mikro-Mythen ergab retrospektiv ein Erzählmuster der Krise: Standen bei Mussolini zuerst rein reaktive Elemente in Bezug auf die Weltwirtschaftskrise im Vordergrund, nutzte er schnell die entstandene Notsituation, um die faschistische Umgestaltung der Wirtschaft mit der passenden Metaphorik zu plausibilisieren. Die Korporationen, das heißt die Umgestaltung der liberalen Wirtschaftsordnung hin zu einer stärker koordinierten und kontrollierten Form, waren ein großes Versprechen auf mehr soziale Gerechtigkeit. Ihre konkrete Ausgestaltung jedoch blieb relativ lange vage. Diese Vagheit konnte erhebliche Bindekraft entfalten und versorgte das Publikum mit Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Am anderen Ende der Emotionsskala standen Empörung über unverantwortliche Wirtschaftsakteure und die Furcht vor einem ungewissen Krisenausgang. Das lag auch daran, dass die Ursprünge der Krise nur schwer zu verstehen waren. Mit der angewandten Metaphorik, die bereits kulturell fest verankert war, konnte Mussolini einen Spezialdiskurs für die Öffentlichkeit zugänglich machen und seine Lösungen als plausibel und notwendig präsentieren. Im letzten Politikfeld (Kap. 4.3.3) wurden zuerst die gesellschaftlichen Erwartung für die Außenpolitik rekonstruiert. Das Imperium als Ziel des Rom-Mythos setzte Mussolini als integrierenden Sinnhorizont ein. Der vage und offene Begriff des Imperiums kanalisierte verschiedene gesellschaftliche Erwartungen in einem großen Versprechen.575 Mit dem Imperium gingen Emotionen wie Stolz auf frühere Leistungen sowie Ehrgeiz, diese zu wiederholen, einher. Unterstützend kam ein dualistisches Freund-Feind-Schema hinzu, das mit dem Rom-Mythos verblendet wurde. Für den Äthiopienkrieg rief Mussolini einerseits Emotionen wie Empörung und Rache auf und zielte 575 Vgl. Knape (2012: 63): „Der Populist setzt auf Allgemeinplätze, greift impressionistisch die Träume, Gefühle, Affekte und Glückserwartungen von Menschen auf, deklariert sie als erfüllbar und verschweigt die Kostenrechnung.“
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andererseits auf eine Wagenburgmentalität ab, indem er den Faschismus mit Italien verschmolz. Gesteigert wurden diese Emotionen durch ihren gegenseitigen Kontrast. Auffällig war, dass Krieg und Frieden, Drohung und Beschwichtigung in den Reden Mussolinis stets anwesend waren und die Innen- mit der Außenpolitik in ein wechselseitiges Verhältnis gesetzt wurde. Auf dieser Weise wurde alles bedeutsam, weil alles miteinander verbunden war. Die von den Zeitgenossen attestierte Eindeutigkeit Mussolinis wird gerade durch die ambivalenten und lavierenden Aussagen konterkariert. Gleichzeitig konnten seine Reden so mit mehreren Botschaften versehen und an bestimmte Adressaten ausgerichtet werden. Weiterhin kam es zu einer Aufweichung der metaphorischen Grenze zwischen Quell- und Zielbereich. Das unsichere Oszillieren konnte mehrere Lesarten zulassen und unterschwellig einen echten Krieg vorbereiten. Die unmarkierte Übernahme bestimmter metaphorischer Formulierungen in der Presse wiesen darauf hin, dass sich die Konzepte zur Genüge etabliert hatten. Dies kann als Indiz für den erreichten Konsens gewertet werden.
Fazit: Konsens durch Mythen Im Laufe dieser Untersuchung wurden viele einzelne Ergebnisse erzielt, die es hier nun zusammenzuführen gilt. Ausgangspunkt für diese Studie war die These, dass Mussolinis rhetorischer Erfolg auf der geschickten Einbindung der Meinungen seines Publikums und dessen emotionaler Beeinflussung beruhte. Bei einer Sichtung der einschlägig relevanten Forschungsliteratur (Kap. 1) konnte festgestellt werden, dass latente Vorurteile gegenüber der Rhetorik Mussolinis und ihrer Wirkweise am Werk waren und es bis dato nicht möglich war, die hier aufgestellte These zu formulieren. Ein innerhalb der Forschung implizit rationalistischer Bewertungsmaßstab, der an die Reden Mussolinis angelegt wurde, verhinderte eine unvoreingenommene Sicht auf dieselben. Dem Forschungsfeld der politischen Rede Rechnung tragend, mussten andere Rationalitätskriterien angelegt werden, um damit neue Interpretationsmöglichkeiten zu eröffnen. Eine andersgeartete Form von Rationalität stellte die für diese Arbeit verwendete spezifische Theorie des Mythos dar, der auf einer funktionalistischen Sichtweise aufbaut. Unter Zuhilfenahme der Mythos-Theorie von Giambattista Vico wurden die verschiedenen Verwendungsweisen von Sprache dargelegt, u.a. die bewusstseinsformende Wirkung von Tropen (Kap. 2). Werden diese systematisch analysiert und deren implizite Präsuppositionen entfaltet, kann über die Einbettung in einen Langzeitkontext die Anbindung an gesellschaftlich geteilte Meinungen aufgezeigt werden. Damit wurde der Ansatz einer persuasiven Semantik als moderne Weiterentwicklung der aristotelischen éndoxa-Lehre verfolgt. Der Grundgedanke dabei ist einfach: Wer auf etablierte Tropen zurückgreift, der formuliert sein Anliegen in kulturell akzeptierten und plausiblen Codes. Die rhetorischen Wirkungsbedingungen Mussolinis wurden dann durch eine Genese seines rednerischen Werdeganges offengelegt (Kap. 3). Dafür wurde er in den rhetorisch-geschichtlichen Kontext wie in einem Koordinatensystem eingebettet. Das weit gezeichnete Panorama der rhetorischen Kultur in Italien war notwendig, um damit die wirkliche ‚Neuheit‘ der faschistischen Rhetorik Mussolinis kenntlich zu machen. Rednerideale und ihre präfigurative Wirkung Grundlegend für die Rhetorik in Italien war zunächst ein ciceronianischer Klassizismus, der sich bis weit über das 19. Jahrhundert hinaus hielt. Aus den rhetorisch-ästhetischen Debatten um diese dominierende Rhetorikform
© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846767474_006
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entstand als Reaktion eine vermeintlich natürliche Anti-Rhetorik. Vorläufer dieser romantischen Rhetorik fanden sich im Tacitismus des 16. Jahrhunderts. Dieses Gegenmodell nutzte Mussolini, um seine Gegner stilistisch zu kritisieren und sich von ihnen sozikulturell wie politisch abzugrenzen. Gleichzeitig konnte er damit sein Ethos steigern, denn allem Rhetorischen lag das Vorurteil der Lüge zugrunde. Neuartig war dieser Gebrauch einer Anti-Rhetorik jedoch nicht. Auch der Liberale Giovanni Giolitti griff auf sie wirksam zurück. Neu hingegen war, dass Mussolini die Topik einer nationalistisch gewen deten Patria-Rhetorik mit einfacheren kommunikativen Codes verbunden hatte, die massentauglicher waren. Seine Sozialisation im Umfeld eines militanten Sozialismus, sein berufliches Profil und mithin die mediale und ästhetische Entwicklung seiner Zeit führten zu einer Ökonomisierung und Rationalisierung der Redepraxis, die geeignet war, große Volksmengen vor allem über eine bilderreiche Sprache zu erreichen. Neben Cicero wurde immer öfter Demosthenes als Rednerideal aufgerufen und präfigurierte die Wahrnehmung der Zeitgenossen. Sie hoben bei Mussolini Eigenschaften wie Männlichkeit, Ehrlichkeit, Kürze und Effizienz hervor und nahmen ihn als höchst wirksamen Redner wahr. Die Thematisierung der Wirksamkeit fungierte quasi als selbsterfüllende Prophezeiung und verstärkte zusätzlich seine rednerischen Eigenschaften. Theoreme wie die Massenpsychologie eines Gustave Le Bon oder die sozialen Mythen von Georges Sorel lieferten mit ihren elitebefördernden Vorstellungen eine zusätzliche Absicherung für die von Mussolini geübte Praxis. Eine Scharnierfunktion zur Mythenanalyse (Kap. 4) nahm die Untersu chung der Inszenierungs- und Arbeitsstrategien Mussolinis ein. Seine hohe Glaubwürdigkeit war fundamentale Voraussetzung für die Akzeptanz seiner Reden. Folgende Ergebnisse wurden durch die Analyse erzielt: 1.) Inszenierung als mitfühlender Staatsmann Mussolini wusste sich als verantwortungsbewussten Staatsmann zu insze nieren, der seine Pflichten wahrnahm und sie den Italienerinnen und Italienern freimütig ins Gewissen rief. Der Darstellung von Verantwortung entsprach die Zurschaustellung von hoher Sachkompetenz. Beide wurden zusätzlich an ein imperatives Mandat rückgebunden. Diese Konstellation stiftete Vertrauen, da man Mussolini als eingebunden in ein gegenseitiges Netz von Verpflichtungen ansehen konnte. Mit seiner menschlichen Seite erzeugte er Wohlwollen und versuchte sein Publikum in einem Wechsel von Distanziertheit und Nähe zu binden: Das doppelte Ethos aus Staatsmann einerseits und einfachem Mann aus dem Volk andererseits ließ viele Identifikationspunkte zu. Einfache
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Redeformen, die Mussolini benutzte, erweckten den Eindruck einer spontanen Entstehung aus der Situation heraus und suggerierten dadurch Glaubwürdigkeit. Liest man Aristoteles’ Bemerkungen über die zwei Arten der Tyrannei, so könnte man aus der zweiten Variante eine Ethos-Strategie ableiten, die haargenau auf Mussolini zutrifft: Denn das Ziel ist offenbar, daß er sich nicht als Tyrann den Beherrschten gegenüber zeigen soll, sondern als Hausverwalter und König, und nicht als jemand, der sich öffentliches Gut anmaßt, sondern als Beschützer; und im Leben soll er der Bescheidenheit folgen und nicht der Übertreibung, weiterhin die Anerkannten für sich einnehmen, die Vielen aber leiten.1
Die Sorge um das öffentliche Wohl und den Frieden, die Warnung vor Dem agogen, der überraschend gemäßigte Ton in Krisenzeiten sowie der symbolische Schulterschluss mit Kirche und Monarchie verhalfen Mussolini zu einer langen Regierungszeit. Wie erfolgreich diese Strategie war, zeigten die sich im Nachkriegsitalien herausgebildeten Erinnerungsmilieus: In neofaschistischen und konservativen Milieus wurde und wird Mussolini als ein ‚guter Diktator‘ angesehen, der das Land modernisiert und es aus reinem Patriotismus heraus vor größerem Übel – vor Hitler nämlich – bewahrt hätte.2 Diese Legenden sind mitnichten erst nach dem Sturz des Regimes entstanden, sondern ihr Grund wurde von Mussolini selbst gelegt. Damit bewahrheitet sich auch Mallets Vermutung, dass zur Stützung des Regimes – neben den repressiven Mitteln – vor allem die Selbstinszenierung Mussolinis beigetragen habe. Die von Mussolini geschaffene vertrauensfördernde Struktur innerhalb seiner Reden legte die Grundlage für eine höhere Akzeptanz seitens des Publikums. Somit war das Ethos Mussolinis ebenso für den Konsens wichtig, denn es unterstütze seine Äußerungen. Die inhaltliche Betrachtung der Reden hat weitere Konsens-relevante Punkte zum Vorschein gebracht. 2.) Fortführung und Vereinfachung des Nationalmythos Mussolini griff auf ein bereits etabliertes mythisches Paradigma der Nation zurück, das er einheitlicher gestaltete. Der Italien-Mythos sei, wie Pauls bemerkte, sehr heterogen und wenig integrativ gewesen, was für den jungen
1 Arist. Pol. 1315a 40–1315b 5. 2 Vgl. Mattioli (2010: 147).
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Staat an sich ein Problem darstellte.3 Bei Mussolini reduzierte sich der Nationalmythos auf ein Dekadenz- und Rom-Narrativ, innerhalb dessen aber konkurrierende Sichtweisen immer noch möglich waren, weil die narrativen Elemente meist nur angedeutet wurden. Frank Vollmer bezeichnete dieses Charakteristikum des Faschismus als fuzziness, d.h. semantische Unschärfe.4 Sie wurde von Mussolini bewusst eingesetzt, um Zustimmung seitens der italienischen Bevölkerung zu erlangen. Der Rom-Mythos mit seinem vagen Ziel des Imperiums absorbierte eine breite Skala an unterschiedlichen Erwartungen. 3.) Vagheit als Schlüssel für eine integrative Interpretation Die Schlüsselbegriffe der faschistischen Rhetorik zeichneten sich durch große Widersprüchlichkeit aus: Zum einen waren sie sehr vage, zum anderen wurden sie als äußert ‚präzise‘ deklariert. Wegen ihrer Offenheit entfalteten sie eine erhebliche Bindekraft. Die abstrakten Äußerungen von Größe, Macht und Imperium evozierten eine Kette von Assoziationen. Darüber hinaus trugen die behaupteten Attribute wie Konkretheit und Klarheit der Reden dazu bei, dass das Publikum in seiner jeweils rezipierten Botschaft bestärkt wurde und diese als die einzig richtige ansah. Es wirkte sich also der von Mussolini, der Propaganda und den Intellektuellen in die Welt gesetzte ideale Rezeptionsmodus auf die tatsächliche Rezeption insofern aus, dass jeder meinen konnte, die von ihm empfangene Botschaft sei auch tatsächlich jene, die der Diktator intendiert habe. Infolgedessen konnte diese paradoxe offene Klarheit zu einer erhöhten Involvierung der Angesprochenen führen. 4.) Argumentation aus allgemeinen Ansichten Mussolini bezog sich in seinen Reden auf Inhalte und Vorstellungen aus der Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges und gab vor, sie fortzuführen oder gestaltete sie für seine Zwecke um. Er rekurrierte für seine Argumentation auf präexistente und allgemeine Ansichten und schrieb seine Partikularziele 3 Vgl. Pauls (1996: 149 f.), sie vermutete: „Mussolini muß erkannt haben, daß er noch simplere mythopoietische Zitate mithilfe der sich entwickelnden Medien streuen mußte, um diesmal wirklich alle Schichten an sich zu binden.“ Ebd. (150). 4 Vgl. Vollmer (2007: 713 f.): „Die Produktion von Uneindeutigkeit, die das faschistische Regime mit großer Energie betrieb, ist deshalb nicht nur der ‚cry of pain‘[…] einer im Innersten zerrissenen und an sich selbst leidenden Modernität. Sie ist auch die konsequente und radikale Manifestation (ob auch bewusst, das wäre zu untersuchen) ihrer Akzeptierung und ihrer deutenden Nutzbarmachung.“
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darin ein. Anknüpfungspunkte boten der Rom-Mythos, der Garibaldi-Kult, das Totengedenken oder der auf die internationale Bühne gehobene Klassenkampf des jungen und proletarischen Italiens. Letztendlich waren diese Anbindungen konservativer, monarchischer oder nationalistischer, in geringem Maße auch sozialistischer Natur. Ausgeschlossen davon war ein rein liberales Milieu. Mit den verwendeten Metaphoriken erzeugte Mussolini darüber hinaus eine quasi argumentative Beweiskraft, die sich vor allem aus deren visuellen Evidenz ergab. 5.) Metaphorik als unterschwelliges Mittel zur Etablierung faschistischer Ziele Den Metaphoriken kam ein ungekanntes Maß an Realität zu, da sie kulturell oder erfahrungsgesättigt fundiert waren. Dadurch waren sie leicht verständlich und geeignet, komplexe politische Situationen und Prozesse einem weiten Publikum verständlich zu machen. Durch ihre langzeitige Etablierung im Diskurs hatten sie den überzeugungsgünstigen Vorteil, geringere Reaktanz zu verursachen. Mithilfe der Eigenlogik der Metaphoriken ließen sich faschistische Ziele plausibel und zwingend darstellen. Besonders das Konzept P O L I T I K I S T K R I E G wurde von Mussolini in den unterschiedlichsten Spezialfeldern der Politik angewendet. Mussolini kons truierte vor allem eine kriegerische Sicht auf die Realität und konnte somit die in der faschistischen Ideologie enthaltenen Ziele wie beispielsweise die koloniale Eroberung peu à peu verwirklichen. Im Dekadenz-Narrativ war die militärische Schwäche einer der zentralen Punkte, um den Niedergang Italiens und dessen Wiederaufstieg zu begründen. Die Gründungsmythen des Risorgimento basierten auf den Einigungskriegen. Das Militär wurde seit der Einigung als Schule der Nation angesehen, dementsprechend gestaltete sich die Schulbuchliteratur, z.B. das auflagenstarke Buch Cuore (1886) von Edmondo De Amicis. Der Erste Weltkrieg als einschneidendes Geschehen in der nationalen Erfahrungswelt tat sein Übriges, um dieser Metaphorik ein hohes Anschlusspotenzial an die Lebenswelt des adressierten Publikums zu verleihen. Den benutzten Tropen verlieh Mussolini durch Rückbezüge auf die Kriegserfahrungen seines Publikums zusätzliche Glaubwürdigkeit. 6.) Etablierung der Botschaften durch dauerhafte Rezeption Ferner hat sich gezeigt, dass die Kontinuität der geäußerten Botschaften und damit ihre dauerhafte Rezeption dazu beitrug, dass sich der metaphorische Rahmen abgeschwächt hatte und die Sichtweise Mussolinis teilweise auch
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von ausländischen Zeitungen übernommen wurde. Das Persuasionspotenzial hing dabei vom Grad der Unmittelbarkeit ab: War die Bewertung von Sachverhalten allein auf die Darstellung Mussolinis bzw. auf diejenige der Zeitungen beschränkt, d.h. nicht durch direkte Überprüfung des Gesagten abgestützt, erschien die von Mussolini geäußerte Botschaft als glaubwürdig. 7). Identität durch Emotionen Es wurden stark gruppenbildende Emotionen festgestellt, wie Stolz, Eifer, Dankbarkeit und Freude. Negative Emotionen waren moralische Entrüstung, Verachtung und Rache. Zu ausgesprochen heftigen Emotionen wie Liebe und Hass wurden nur vereinzelt Befunde gemacht. Indirekt traten diese Emotionen unter den Bezeichnungen fede oder passione ardente einerseits oder in den zahlreichen Polemiken andererseits auf. Die ungewisse Lage der Wirtschaftskrise trug sicherlich dazu bei, dass die von Mussolini geweckten Emotionen wie Furcht und Zuversicht ihre Wirkung bei einem verunsicherten Publikum nicht verfehlten. Die Natur der Emotionen war grosso modo vereinend und mobilisierend auch und gerade durch die negative Abgrenzung. Die explizit thematisierten oder rhetorisch induzierten Emotionen mithilfe der Metaphorik zielten auf eine gemeinsame emotionale Disposition des Publikums und somit auf ein con-sentire ab. Identität hieß in diesem Zusammenhang, dasselbe zusammen zu fühlen und dieselben Emotionsauslöser (Italien – Feinde Italiens) zu teilen. Auf diese Weise modellierte Mussolini einen gefühlsmäßigen Konsens, der jedoch aufgrund der flüchtigen Natur der Emotionen selbst immer wieder erneuert werden musste. Bis hierher wurde noch kein Vergleich zwischen Benito Mussolini und Adolf Hitler geführt, obwohl doch beide großen Wert auf einen emotionalen Konsens legten. Dabei lohnt sich ein kurzer Blick auf die Analyse der Rhetorik Hitlers von Kenneth Burke. Man wird schnell der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Diktatoren gewahr: Gerade die dichotomische Aufteilung scheint hier wie da ein herausragendes Strukturmerkmal der angewandten Mythen zu sein. Allein die größere Mobilisierung ging wahrscheinlich von der Teufelsfunktion aus, mit der Hitler die Menschen jüdischen Glaubens zu einem omnipräsenten Feind stilisiert hatte.5 Der größte Unter5 Vgl. Burke (1967: 9 ff.). Damit wurde zugleich der psychologische Effekt der Entschuldung der eigenen Gruppe erreicht und ein Sündenbock für alle Übel gefunden. Ferner sei auf die Sprachrohrfunktion Hitlers (22) und auf die Logik verwiesen, die in unserem Zusammenhang Ideale vs. Materie-Topos genannt wurde, die auch auf Hitler zutraf (30). Zu den
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schied ist gerade im Feindbild zu erblicken, denn bei Hitler ergab sich daraus ein oppositiver Apokalypse-Mythos, bei Mussolini – aufgrund der Hervorhebung der altrömischen Abstammung – ein zyklischer und integrativer Mythos, der auf der Imperiumsidee beruhte. Der Feind kam damit nur als Bedingung für weitere Ruhmestaten in den Blick und war nicht Selbstzweck.6 War im deutschen Mythos die Nicht-Vermischung und die Vernichtung bereits angelegt, so stand im italienischen das Messen am Vergangenen und dessen Überbietung im Vordergrund. Wie erzeugte Mussolini für sich und für sein Regime Konsens? Ziel der Analyse war es, die Frage nach dem potenziellen Konsens aus rhetorischer Sicht beantworten zu können. Dafür wurden die Begriffe von Konsens und Gewalt aufgebrochen und über ein Kontinuum verteilt. Die infrage stehenden Kriterien waren: a) rationale Überzeugung (‚reiner‘ Logos), b) rhetorische Überzeugung, c) Manipulation, d) Drohen, e) Befehl und f) offene Gewaltanwendung. Dass der erste Punkt, der ‚reine‘ Logos, außen vor blieb, ist aus rhetorischer Sicht nicht verwunderlich, da die rein logische Argumentation mehr ein normatives Ideal darstellt, als dass es je in Reinform im Bereich der Politik vorkäme. Von den auf Aristoteles zurückgehenden rhetorischen Überzeugungsmitteln benutzte Mussolini, das sei an dieser Stelle deutlich hervorgehoben, alle drei gleichermaßen: das Ethos zur fundierenden Absicherung für seine Aussagen; das Pathos, um sein Publikum in eine bestimmte emotionale Disposition zu bringen; den Logos, um an Wünsche und vorgefasste Meinungen argumentativ anzuknüpfen. Die von Thomas Mann gezeichnete Figur des hypnotisierenden Zauberers Cipolla aus der Einleitung war also ein Zerrbild und entspricht nur teilweise den hier gezeitigten Ergebnissen über den Redner Mussolini. Berücksichtigt man die Logos-Komponente, die in den einzelnen Kapiteln unter verschiedenen Mythen zusammengefasst wurde, sieht man, dass Mussolini nicht inhaltsleere Rhetorik betrieb, sondern seinem Publikum das gab, was es sich wünschte und mithin das bekräftigte, wovon es bereits allgemein überzeugt war. Als nächstes Mittel im Kontinuum stand die Manipulation. Sie manifes tierte sich da, wo vorgegebenes und wirklich angestrebtes Ziel voneinander Unterschieden zwischen italienischen und deutschen Nationalmythos s. auch Poliakov (1993). 6 Zum Problem der immer wechselnden Feindbilder des italienischen Faschismus sei auf Zunino (2013: 366 f.) verwiesen.
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abwichen. Manipulation war auch da vorhanden, wo Mussolini Druck auf sein Publikum ausübte. Dies geschah erstens durch den Verweis auf sein imperatives Mandat, zweitens durch die Sprecherrolle des Deuters. Beide Male war dies ein positiver Zwang, der Mussolini zum Handeln veranlasste. Drittens trat Manipulation auf, wo Motive wie Notwendigkeit oder Schicksal heraufbeschworen wurden. Militärische Sprache und Metaphorik verstärkten die Zwangsmomente, da sie den Entscheidungsspielraum durch eine dem Ausgangskonzept entsprechende Hierarchie beschränkten. Die Wahl der Metaphoriken brachte folglich nicht nur eine Verdeutlichung oder einen Erkenntnisgewinn über einen Sachverhalt, sondern auch eine dem Quellbereich entstammende Eigenlogik und -dynamik mit sich. Als charakteristisches Merkmal der rekonstruierten Kampf-Mythen hatte sich die klare Aufteilung von innen und außen erwiesen, dabei spielte es keine Rolle, ob sich die sogenannten Feinde tatsächlich in Italien oder außerhalb befanden. Das Lagerdenken diente dazu, eine innere Gemeinschaft und die mit ihr verbundenen positiven Emotionen zu stärken. Zur Abgrenzung nutzte Mussolini die offene Drohung und in abgemilderter Form die Polemik oder Ironie – oftmals von Friedensbeteuerungen begleitet. Damit wandte er kommunikativ das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche an, denn er dehnte mit dieser eigenartigen Mischung aus Drohung und Beteuerung die Grenzen des allgemein Akzeptierten aus. Dieses kommunikative Spiel konnte aber immer Gefahr laufen ins Negative zu kippen. Die offene Drohung wurde durch die Vorstufe der impliziten dementsprechend vorbereitet. Offene Gewaltanwendung konnte man da erblicken, wo Mussolini Abessinien geradezu überfiel; die Gewalt wurde als solche indes sublimiert und infolgedessen unkenntlich gemacht. Dem Äthiopienkrieg ging eine verharmlosende und kriegslegitimierende Sprachverwendung voran, die Krieg zum Normalfall von Politik und Frieden zum Ausnahmezustand machte. Damit initiierte Mussolini einen „Prozeß der Gewöhnung an die Vorstellung von Krieg und Gewalt“7 mittels seiner aggressiven und gewaltaufgeladenen Kommunikation, die er in verharmlosend archaische Formen kleidete. Der ‚underlying consensus‘, den Mussolini für sich und für sein Regime reklamieren konnte, muss somit in zwei Blöcke aufgeteilt werden: Nach innen kam vor allem ein um die klassisch rhetorischen Überzeugungsmittel errichtetes, mit manipulativen und zwingenden Elementen versetztes Konsens-Angebot zum Tragen, das ständig erneuert werden musste. Die Thematisierung des Konsenses durch Mussolini wies darauf hin, dass Konsens erst dadurch erzeugt wurde. 7 Baldauf (1997: 241).
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Der zweite Block bildete eine auf Abgrenzung setzende und nach außen hin gewendete Kriegsrhetorik, die innenpolitische Einheit herstellen und außenpolitische Stärke demonstrieren sollte. Weil sich das italienische Volk im inner circle des allumfassenden Mythenkomplexes wiederfinden konnte und die damit einhergehenden Ziele vage blieben, ist das Konsens-Potenzial als sehr hoch einzuschätzen. „Für jede Schicht, für jedes lokale Milieu hatte ‚Konsens‘ verschiedene Bedeutungen – passive Hinnahme, duldendes Stillhalten, bereitwillige Akzeptanz, begeisterte Aufnahme, willige Mitwirkung. Alle diese Einstellungen und Verhaltensweisen trugen jedoch zur Stabilität und Kontinuität des faschistischen Regimes bei.“8 Die Kehrseite der Medaille war der drohende Ausschluss aus der Nation, was den Schritt zur Akzeptanz oder wenigstens Hinnahme des Regimes seitens der Kritiker oder der Gegner erheblich beförderte. So spiegelte sich auf dieser Ebene ebenso das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche wider. Sollte sich im Laufe der Studie der Eindruck ergeben haben, dass Mussolini – vielleicht sogar im Vergleich zu Hitler – eine weniger repressive und aggressive Rhetorik genutzt habe, dann muss man sich lediglich die Zweischneidigkeit des gerade angesprochenen Prinzips vor Augen führen. Gerade der positive Eindruck von Mussolini täuscht darüber hinweg, dass dieser Eindruck rhetorisch beabsichtigt und erzeugt wurde. Darüber hinaus wurden die negativen Züge der Diktatur in ein institutionelles Halbdunkel verlegt und von Mussolini ferngehalten. Mythenkritik ist Kulturkritik Mussolini erzeugte tatsächlich Konsens durch Mythen, doch nicht in dem Sinne, dass er Mythen ex novo geschaffen hätte, sondern insofern, als er vorhandene erfolgreich adaptierte und sich auf diese Weise eine hohe Anschlussfähigkeit zur italienischen Bevölkerung sicherte. Ist der zweite konsensstiftende Block, der über Gewalt und Ausgrenzung funktionierte, an sich schon ethisch fragwürdig, so sollte sich die Kritik gleichfalls den Mythen und ihren inhärenten Zielen zuwenden. Die Ziele hätten von der Gesamtheit der Betroffenen auf ihre Konsequenzen hin geprüft werden müssen, doch dazu hätte sie auch ausreichend demokratisch eingebunden gehört. Die vorgestellten Ideale waren schon länger im politischen Diskurs präsent, also schon vor der Herrschaft Mussolinis, und entfalteten so ihre Wirkkraft, denn fata trahunt: Der Mythos ließ das Ziel imperialer Größe als schicksalhaft erscheinen und schottete es, das liegt in der Natur des Mythos, vor Kontingenz und somit vor Kritik ab. Als plausibles 8 Vollmer (2007: 711).
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und selbstreferenzielles System barg und birgt der Mythos die Gefahr, dass er schlussendlich zu reibungslos funktioniert. Die Konsequenz daraus kann sein, dass die Erzähler des Mythos wie Mussolini oder Hitler irgendwann selbst daran glauben.9 Dieser Gefahr hätte durch historische und sprachkritische Bildung der Bevölkerung begegnet werden können. Nur so wären sie auf ihren Eintritt in die Politik vorbereitet gewesen, doch zugleich wäre das mythische Paradigma selbst geschwächt worden. Dieses wurde jedoch benötigt, um dem jungen Nationalstaat Italien eine kollektive Seele zu geben. Daran anschließend ergibt sich auch die Frage nach einem wünschenswerten Wesen einer Gesellschaft, nach deren Identität. Italien hatte sich für eine unitarische Identität entschieden und trug seit seinen Anfängen die Ausgrenzung der vielen Unterschiede, die es ausmachte, in seiner DNA. Zudem ließen Geniekult, Elitentheorie und Massenpsychologie eine plurale Ausrichtung des Nationalmythos nicht zu, beförderten hingegen zentralistische Tendenzen. Mythenkritik heißt in diesem Zusammenhang, die leitenden Ideen einer politischen Kultur nach ihren Konsequenzen und Auswirkungen zu befragen und ob es nicht sinnvoll sei, andere Leitbilder heranzuziehen. Elio Vittorini brachte dieses Ansinnen bereits 1945 in der ersten Ausgabe des Il Politecnico zum Ausdruck: „Die italienische Kultur wurde besonders in ihren Illusionen herausgefordert. […] Kann der Versuch, eine neue Kultur erstehen zu lassen, die den Menschen verteidigt und nicht tröstet, die Idealisten und Katholiken weniger interessieren als uns?“10 Was Vittorini anprangerte, waren Kulturmilieus, die dem Faschismus nichts entgegenzusetzen wussten, weil sie ihn nolens volens – so sein Vorwurf – sogar befördert hätten. Dass seine Kritik berechtigt war, wurde hier zur Genüge gezeigt. Als Quintessenz der Untersuchung lässt sich festhalten: Erstens war Mussolini sehr überzeugend, weil er sich geschickt als fürsorglichen Staatsmann zu inszenieren wusste. Zweitens war seine Rhetorik so wirksam, weil er das Ideal eines sprachgewaltigen Redners bediente, dessen Äußerungen an sich schon Wirksamkeit zugeschrieben wurde. Diese Vorstellung einer performativen Rhetorik war sozusagen ein Unterpfand, das Mussolini in seinen Reden nur noch oberflächlich bedienen musste. Die Zuschreibungen seiner Zeitgenossen taten ihr Übriges, um Mussolini solch einen Nimbus der Wirksamkeit zu verleihen. Die beiden genannten Punkte ergänzten und verstärkten sich folglich komplementär. 9 10
Vgl. Blumenberg (2014: 32 f.). Vittorini (1945: 1).
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Drittens konnten sich viele in den von Mussolini genutzten Mythen einer großen Nation wiederfinden, basierten sie doch auf Vorstellungen und Wünschen, die schon lange Zeit im politischen Diskurs präsent waren und nun einer Erfüllung entgegengeführt werden sollten. Das Schlusswort gebührt Emilio Lussu, der diese Einsicht schon vor knapp 90 Jahren in folgende prägnante Worte fasste: „Imagination spielt in Zeiten politischer Unruhen immer eine große Rolle.“11
11
Lussu (201912: 20).
Literaturverzeichnis A.
Archivalien (unveröffentlicht)
ACS, Autografi del duce = Archivio Centrale dello Stato, Roma: Segretaria particolare del Duce, Carteggio riservato, Carte della casetta di zinco, Autografi del duce (1922–1945): – Scat. 9, fasc. 10.1.5, All. 1 – Scat. 9, fasc. 10.1.7 – Scat. 9, fasc. 10.1.7, All. 1–3 – Scat. 9, fasc. 10.1.8
B.
Veröffentlichte Periodika
Alpenzeitung, Jahrgang: 1929 Berliner Börsen-Zeitung, Jahrgang: 1929 La Stampa, Jahrgänge: 1929, 30, 33–36 Le Temps, Jahrgänge: 1929, 31–36 L’Osservatore Romano, Jahrgänge: 1929, 1931 Vossische Zeitung, Jahrgänge: 1929, 31–34 Wiener Zeitung, Jahrgang: 1936
C.
Lexika und Wörterbücher
Dizionario di Marina medievale e moderno. A cura della Reale Accademia d’Italia. Roma, 1937. (= Dizionari di Arti e Mestieri, 1) GDLI = Grande dizionario della lingua italiana. A cura di Salvatore Battgalia. Voll. 21. Torino, 1961–2002. Lexicon Vallardi = Lexicon Vallardi. Enciclopedia universale illustrata. Grande dizionario grafico, storico … Voll. 10. Milano, 1889. Manuzzi (1833) = Vocabolario della lingua italiana. A cura di Giuseppe Manuzzi. Vol. 1, parte 1. Firenze, 1833. Molossi (1839–41) = Nuovo elenco di voci e maniere di dire biasimate e di altre che sembrano di buona ragione e mancano ne’vocabolarj italiani compilato da Lorenzo Molossi. Parma, 1839–41. Tommaseo/Bellini = Dizionario della lingua italiana nuovamente compilato dai signori Nicolò Tommaseo e cav. Professore Bernardo Bellini… . Voll. 4. Torino, 1861–1879.
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Literaturverzeichnis
VdAC = Vocabolario degli Accademici della Crusca. Voll. 11. Firenze, 1863–19235. VDLI = Vocabolario della lingua italiana. A cura dell’Istituto della Enciclopedia Italiana. Autore e direttore: Aldo Duro. Voll. 4. Roma, 1986–1994.
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1 Legende: Die Buchstaben hinter den Reden benennen das Setting. P = Piazza, C = Camera dei Deputati, S = Senato, T = Theater, A = Andere Örtlichkeit.
394 1932 Discorso ai medici (28.01.1932) (A) Epopea Garibaldina (04.06.1932) (P) Per il monumento al bersagliere (18.09.1932) (P) Primo discorso per il decennale (16.10.1932) (P) Al popolo di Torino (22.10.1932) (P) Al popolo di Milano (25.10.1932) (P) Discorso alla Camera dei Deputati per il Decennale (16.11.1932) (C) Discorso al Senato per il Decennale (05.12.1932) (S) I leoni di Traù (14.12.1932) (S) La nascita di Littoria (18.12.1932) (P) 1933 Alla Conferenza del Commercio (19.04.1933) (A) Il patto a quattro (07.06.1933) (S) Al popolo di Cuneo (24.07.1933) (P) Alle camicie nere fiorentine (23.10.1933) (P) Discorso del XIV novembre per lo Stato Corporativo (14.11.1933) (C) La vittoria del grano (21.11.1933) (A) Ai coloni dell’Agro Pontino (18.12.1933) (P) 1934 Discorso al Senato per lo Stato Corporativo (13.01.1934) (S) Sintesi del Regime (18.03.1934) (T) La festa del Lavoro (21.04.1934) (P) La situazione economica (26.05.1934) (C) Al popolo di Venezia (26.06.1934) (P) Al popolo di Bari (06.09.1934) (P) Al popolo di Lecce (07.09.1934) (P) Al popolo di Taranto (07.09.1934) (P) Al popolo di Brindisi (08.09.1934) (P) Al popolo di Foggia (08.09.1934) (P) Discorso agli operai di Milano (06.10.1934) (P) Alla prima Assemblea delle Corporazioni (10.11.1934) (A) L’undecima vittoria del grano (03.12.1934) (T) L’aratro e spada (18.12.1934) (P)
Appendix
Appendix
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1935 XVI Annuale dei Fasci (23.03.1935) (P) Guidonia (27.04.1935) (P) Dichiarazioni al Senato per la vertenza italo-etiopica (14.05.1935) (S) La vertenza italo-etiopica e la politica estera italiana alla Camera dei Deputati (25.05.1935) (C) Discorso ai centomila soldati (31.08.1935) (A) Il discorso della mobilitazione (02.10.1935) (P) Ai bonificatori (26.10.1935) (A) Studium Urbis (31.10.1935) (A) Alle donne d’Italia (01.12.1935) (A) Dichiarazioni alla Camera dei Deputati contro la politica sanzionista (07.12.1935) (C) Dichiarazioni al Senato contro la politica sanzionista (09.12.1935) (S) Inaugurazione di Pontinia (18.12.1935) (P) 1936 Il piano regolatore della nuova economia italiana (23.03.1936) (A) Fondazione di Aprilia (24.04.1936) (P) L’Etiopia è italiana (05.05.1936) (P) La proclamazione dell’Impero (09.05.1936) (P) L’ulivo e le baionette (24.10.1936) (P) Discorso di Milano (01.11.1936) (P)
Index Anschlussfähigkeit xv, 18, 351 Aristoteles 61, 165, 345, 349 Battaglia del grano 247 Bonifica 238 brevitas 83, 148, 160, 170 Burke, Kenneth 45, 348 Carducci, Giosuè 8, 79, 108, 116, 222, 329 Cassirer, Ernst 38 Cavour, Benso Camillo 95, 212 Ciceronianismus 75, 79, 159, 343 Cortelazzo, Michele 8 Crispi, Francesco 104 D’Annunzio, Gabriele 3, 8, 107, 159 Demosthenes 91, 161, 344 Drohung 301, 307, 350 Einbildungskraft xvi, 18, 28, 143 Emotionen 15, 61, 141, 177, 348 Ethos 106, 165, 344 Einsicht 166, 167 Tugend 166, 169 Wohlwollen 167, 176 Evidenz 58, 151, 347 Faschismus 21 Feindbild 132, 312, 315, 349 Gedächtnis, kollektives xii, 47, 197, 204, 223, 229, 230, 292 Genie 88, 145 genus humile 87, 160 Geschichte 194, 197, 210, 226, 230, 271 Gestik 15, 157 Giolitti, Giovanni 344 Goebbels, Joseph 185, 245 Gorgias 5, 48 Hitler, Adolf xii, 7, 15, 348 Imperium 191, 202, 212, 292 Journalismus 132
Konferenz 119 Konsens 28, 199, 349 Korpus 66 Kritik 351 Lakoff, George/Johnson, Mark 55 Lateran-Verträge 204 Le Bon, Gustave xiv, 143, 344 Leso, Erasmo 2 Machiavelli, Niccolò 81, 174, 191 Manipulation xii, 255, 349 Masse 123, 138, 145 Metaphorik Architektur 271 Kampf/Krieg 208, 238, 248, 279 Krankheit 13, 208, 252, 258, 274 Maschine/Technik 268 Religion 212, 217 Schifffahrt 262, 332 Vergleich 289 Mobilisierung 250, 279, 348 Mussolini, Benito Argumentation 153, 181, 219, 346 Bildung 130, 156, 168, 180 Emotionen/Pathos 15, 177, 339, 348 Ethos 165 Gestik 157 Klarheit 149, 182, 346 Metaphorik 150, 347 Redeaufbau 154, 180 Rhetorik/Fazit 352 Stil 147, 161 Syntax 3, 135, 148 Topik 131, 156, 181, 308 Vita 71 mythisches Denken 36, 40, 50 Mythos 28, 31, 345 Definition 46 Dekadenz 193, 269 due Italie 98, 132 Garibaldi, Giuseppe 224 Kunstmythen 42, 47 Mythisierung 226 Narrativ 49
398 romanità 200, 222, 298 Sorel 139 Urspung 195 Narrativ 45, 49, 200, 257, 346 Nation 43, 281, 345 Opfer-Narrativ xii, 7 Oriani, Alfredo 8, 135 Parrhesiast 171 Pascoli, Giovanni 108, 116, 308 Patria-Rhetorik 90, 114, 344 Piazza 103, 123, 157 Präfiguration 51, 213, 227, 232 Presseecho 218, 242, 253, 284, 313, 323 Propaganda 116, 125, 185, 317 Prophet 110, 173, 220 Querelle des Anciens et des Modernes 84, 100 Questione della lingua 78, 85 Redner-Vergleich 104, 114, 135, 158, 348 Revolution, faschistische 187, 201, 232 Rezeption 30, 65, 182, 316, 347 Rhetorik Identität 10, 41, 45, 245, 300, 348 ontogenetische Funktion 36, 45
Index Wirkung 5, 30, 46, 55, 64, 152, 213, 291, 343, 352 Risorgimento 194, 223, 232 Sorel, Georges 139, 344 Sprachrohr 7, 179, 322, 348 Sprachzauber xiv, 4, 36, 110 Stilkritik 82, 90 symbolische Formen 39 Tacitismus 81, 106, 137, 158, 344 Topik 98, 114, 119, 296 Topos 91, 110 Anti-Rhetorik 11, 89, 344 ex consequentia 278 Ideale vs. Materie 174, 348 Metapher 57 Mortui viventes obligant 233 Promessa/Versprechen 175, 322 Worte vs. Taten 170 translatio imperii 191, 295 Tropen 34, 54, 64, 343 Vico, Giambattista 33, 343 Wirtschaftskrise 245, 253, 255 Zusammenfassung 162, 337, 343