203 8 4MB
German Pages 163 [164] Year 1996
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 83
Rainer Moritz (Hg.)
Begegnung mit Hermann Lenz Kiinzelsauer Symposion
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Würth, Künzelsau
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Begegnung mit Hermann Lenz : Künzelsauer Symposion / Rainer Moritz (Hg.). Tübingen : Niemeyer, 1996 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 83) NE: Moritz, Rainer [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-32083-4
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Hugo Nadele, Nehren
Inhalt
Vorwort Rainer Moritz Uber Hermann Lenz' literarhistorischen Ort
VI
ι
Peter Hamm Hermann, der Held. Lobrede auf Hermann Lenz
19
Heinz Schumacher Realitätsflucht und Bewußtseinskritik. Zum Frühwerk von Hermann Lenz
36
Hermann Wallmann Hermann Lenz' Erzählung Die Abenteurerin (1952) als frühes Spätwerk. Prolegomena zu einer künftigen Lektüre
63
Wolfgang Everling Der Clown und das Licht. Zur Lyrik von Hermann Lenz . . . .
72
Manfred Durzak Magischer Realismus bei Hermann Lenz
106
Hans-Martin Gauger Zum Stil von Hermann Lenz
121
Hans Maier Der Roman als Geschichtsquelle. Anmerkungen zu Hermann Lenz
141
Hermann Lenz Rebellen-Stammtisch
152
Vorwort
Ein Symposion in Künzelsau? Manch einer mag sich gewundert haben, als die hohenlohische Kreisstadt im vergangenen Jahr zu einer zweitägigen Literaturtagung einlud. Nicht in Tübingen, Heidelberg oder Stuttgart, sondern in Künzelsau kamen am 12. und 13. Mai 1995 Wissenschaftler und Kritiker zusammen, um über Hermann Lenz' Werk zu referieren. Sie erinnerten so daran, daß Lenz die ersten elf Lebensjahre, von 1 9 1 3 bis 1924, dort verbrachte, und sie trösteten jene, die beklagen, daß sich Künzelsau nicht als Geburtsort des Schriftstellers bezeichnen darf. Denn die väterliche Vorsorge wollte es seinerzeit anders: Hermann Lenz sen., Zeichenlehrer in Künzelsau, hatte für seine Frau ein Bett in der Württembergischen Landeshebammenschule in Stuttgart reserviert. D o r t wurde sein Sohn am 26. Februar 1 9 1 3 geboren - und umgehend nach Hohenlohe zurückgebracht. Die Intention der Tagung lag darin, das vielfältige Interesse für Hermann Lenz, diese »Vaterfigur« (Manfred Durzak) der Gegenwartsliteratur, zu spiegeln und so gleichsam eine Zwischenbilanz zu ziehen. Die Auswahl der Referenten orientierte sich absichtlich nicht allein an germanistischen Maßstäben. Wiewohl sich das literaturwissenschaftliche Augenmerk in den letzten Jahren verstärkt auf die Lenzschen Bücher richtete,' gingen seit Peter Handkc immer wieder Impulse von anderer Seite aus. Der Politologe und Philosoph Hans Maier und der Romanist Hans-Martin Gauger liefern Anschauung hierfür. 1
Ablesbar zum Beispiel an den Dissertationen von Birgit Graafen: Konservatives Denken und modernes Erzählbewußtsein im Werk von Hermann Lenz, F r a n k f u r t / M . [u.a.] 1992 und T h o m a s Schönert: Figurengestaltung, Autobiographie und Fiktion. Eine Untersuchung zum literarischen Werk von Hermann Lenz, F r a n k f u r t / M . [u.a.] 1992, an der stärkeren Berücksichtigung in Literaturgeschichten (etwa bei Wilfried Barner [Hg.]: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 1994, S. 4 0 3 - 4 0 7 ) oder an einzelnen Essays (etwa Werner Jung: Schauderhaft Banales. U b e r Literatur und Alltag, Opladen 1994, S. 2 0 4 - 2 1 5 ) .
Vorwort
VII
D e r Band umfaßt die überarbeiteten Referate des Kiinzelsauer S y m posions, ergänzt durch Texte von Wolfgang Everling, Peter H a m m und H e i n z Schumacher und durch ein kleines Prosastück von Hermann Lenz. Den resümierenden Uberblicken, die Peter H a m m und der H e r ausgeber liefern, schließen sich Studien an, die insbesondere das vernachlässigte F r ü h w e r k (Heinz Schumacher, Hermann Wallmann) und die nicht minder beiseite gedrängte L y r i k (Wolfgang Everling) ausleuchten. Von übergreifendem Charakter sind die Interpretationen zum M a gischen Realismus (Manfred Durzak), zum Geschichtsroman
(Hans
Maier) und zum Stil (Hans-Martin Gauger). Alles in allem gelingt es diesem Band hoffentlich, die Facetten des Lenzschen Werkes zu verdeutlichen und zu weiterer oder erster Beschäftigung einzuladen. Denn es gelten allemal die Worte der Literaturkritikerin Andrea Köhler: » U n d siehe da: L e n z - L e s e r kann man
werden.«
N e b e n den Beiträgern danke ich allen, die die Organisation der Tagung unterstützten, insbesondere der Stadt Künzelsau, namentlich B ü r germeister Volker Lenz, Stadtarchivar Stefan Kraut und der Kulturbeauftragten Petra Brüning, die mit unerschöpflichem Engagement f ü r einen reibungslosen Tagungsablauf sorgte. D e r Stiftung Würth, Künzelsau, sei f ü r den unbürokratisch
eingeräumten
Druckkostenzuschuß
herzlich gedankt, und nicht zuletzt bin ich Hanne und Hermann L e n z dankbar, daß sie die Reise nach Künzelsau, ins »Eulenkräut«, nicht scheuten und am Symposion teilnahmen. Leipzig, im N o v e m b e r 1995
Rainer Moritz
Rainer Moritz Uber Hermann Lenz' literarhistorischen Ort
Da hilft kein Drumherumreden, da müssen erklärende Worte vorangeschickt werden. Läßt sich bei einem Schriftsteller der Gegenwart, bei einem, der regelmäßig mit Neuerscheinungen aufwartet, ein »literarhistorischer Ort« fixieren? Ist ein solches Werk dem Standpunkt des Analysierenden nicht viel zu nahe? Bedarf es nicht der vielbeschworenen Distanz, um angemessen urteilen zu können? Vielleicht ja legt Hermann Lenz alsbald ein Buch vor, das die Kategorien, mit denen zur Zeit die Literatur beschrieben wird, pulverisiert, ein Buch womöglich, das die Postmoderne Postmoderne sein läßt und die Kritiker in Ratlosigkeit stürzt. Das alles sind Fragen, wie sie jeden überkommen, der sich in die unvergorene Jetztzeit stürzt, und das alles sind Fragen, die stereotyp in den Vorworten der nicht wenigen Gegenwartsliteraturgeschichten als Rechtfertigungsformeln wiederkehren. Wer immer sich unter literarhistorischem Blickwinkel mit Luise Rinser, Sten Nadolny, Josef Haslinger oder Brigitte Kronauer befaßt, tut gut daran, im vorhinein einen Verteidigungswall aufzubauen. Warum? Wie immer auch die Prozesse des Kanons funktionieren mögen: Es ist nicht zu leugnen, daß die Literaturgeschichte reich an Beispielen ist, wie ein von Zeitgenossen hochgepriesenes Werk nach und nach in Vergessenheit gerät oder schließlich gar mit Verachtung gestraft wird. Nobelpreisträger Paul Heyse ist so ein Fall, und selbst aus der deutschen Nachkriegsliteratur lassen sich heute, knapp fünzig Jahre später, Bücher wie Hermann Kasacks Stadt hinter dem Strom oder Ernst Kreuders Gesellschaft vom Dachboden aufzählen, die viel von ihrem einstigen Renommee eingebüßt haben. Selbst wenn man zwischen dem »literarhistorischen Ort« und der zeitenüberdauernden Bedeutsamkeit, der »Wirkungsrepräsentativität«, wie dies der Germanist Wilfried Barner nennt,1 unterscheidet: Es bleibt das Dilemma des voreiligen Einord1
Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 1994. S. X X .
Rainer Moritz
2
nens, der möglicherweise falschen, von den Zeitläuften bald widerlegten Kategorien, die zur Vorsicht mahnen, wenn man über die Platzverteilung in der Literaturgeschichte nachdenkt. Immerhin hat der Autor, der hier, zumindest vorläufig, auf der historischen Landkarte verzeichnet werden soll, vor 25 Jahren selbst versucht, sich ins Gefüge unseres Jahrhunderts einzustellen. 1970 veröffentlichte Hermann Lenz in der von Karl Heinz Kramberg herausgegebenen Anthologie Vorletzte Worte den kleinen Text Wie ich ihn sehe, einen Nachruf zu Lebzeiten. Diese Selbstbeschreibung wurde am 1 1 . September des Jahres 2009 zu Papier gebracht, eine Woche, nachdem der 97jährige Hermann Lenz bei einer »Rast am Waldesrand« 2 im Bayerischen Wald friedlich verschieden war. Das Prosastück ist, wie so oft, wenn sich Hermann Lenz theoretisch äußert oder, besser gesagt: wenn er zu theoretischen Äußerungen genötigt wird, eine ironisch-selbstbewußte Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Zeitgenossenschaft. Ob in der Autobiographie, ob in den magischen Erzählungen oder in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen - wieder und wieder reflektieren die Texte über ihre Zugehörigkeit zum 20. Jahrhundert, zur Moderne oder Postmoderne. Es ist mehrfach darauf hingewiesen, daß diese Gedankenspiele ihre Wurzeln in den Jahren des Nationalsozialismus haben. Die autobiographischen Romane wie Andere Tage oder Neue Zeit (aber nicht nur diese) zeichnen diess Dilemma minutiös nach. Der Student, der angehende Schriftsteller und der Soldat, sie stehen unstrittig in Opposition zum herrschenden Geist. Eine Isolation, die nicht allein das Politische betrifft, sondern auch das Private und das Literarische. Das, was die Nationalsozialisten als die adäquate Kunst propagieren, kommt nicht in Frage; die heimlichen Komplizen müssen andernorts aufgespürt werden, und sie werden bekanntlich im Biedermeier und im Wiener Fin de siècle gefunden. In der NS-Zeit, wie gesagt, gründet das Lenzsche Gefühl, im Gegenwärtigen nicht zu Hause zu sein, in dieser Zeit wächst eine Haltung heran, die, als das Kriegesende die Befreiung bringt, nicht einfach abgeschüttelt wird. Hermann Lenz hat diese Divergenz in vielen Arbeiten festgehalten. Die autobiographischen Romane, die die fünfziger, sechziger und sieb-
2
Hermann Lenz: Wie ich ihn sehe [1970], In: Helmut Kreuzer/Ingrid Kreuzer (Hg.): Uber Hermann Lenz. Dokumente seiner Rezeption (1947-1979) und autobiographische Texte, München 1981, S. 24.
Über Hermann Lenz' literarhistorischen Ort
3
ziger Jahre beschreiben, oder die bereits erwähnten Frankfurter Vorlesungen betonen dies in aller Breite, mitunter nicht ohne Schärfe und Bitterkeit, und sie belegen damit auch, wie lange es dauerte, bis man Hermann Lenz rezipierte, wahrnahm. In seinen eigenen Worten: »[D]enn mir kommt's ab und an so vor, als ob ich kein >Zeitgenosse< sei.«3 Teile der Literaturkritik und Literaturwissenschaft greifen dies bis heute unbesehen auf: der »Stille im Lande«, der »Außenseiter«, der »Einzelgänger«, so lauten seit vierzig Jahren die Gebetsmühlenvokabeln des Feuilletons. Was den einen der »Solitär« Ernst Jünger, ist den anderen der »Fremdling« Hermann Lenz. Aber: Insistierende Kritiker und Germanisten geben sich nicht mit dem zufrieden, was ein Autor über sein eigenes Werk sagt. Ja, es scheint für sie mitunter ein Ansporn, diese Selbstcharakteristiken zu widerlegen, und so muß der bekümmerte Dichter mitansehen, wie das gelehrte Kritikerwort das Gegenteil dessen behauptet, was er sich selbst zurechtgelegt hat. Ein legitimer Vorgang - auch Hermann Lenz weiß um dieses grausame Schicksal: »Was der Autor sich beim Schreiben gedacht hat, mag vielleicht den einen oder anderen interessieren, aber wichtig ist seine Meinung nicht. Man könnte fast sagen, sie sei bedeutungslos, zumindest neben den Äußerungen der Kritiker und Literarhistoriker.« (Leben und Schreiben, S. 24). Es geht mir im folgenden nicht um die hermeneutische Frage, inwieweit Schreibende Herr ihres eigenen Textes sind; die avancierten literaturtheoretischen Diskussionen der letzten Jahre haben ja mancherorts Zweifel gesät, ob es den Schreibenden überhaupt gibt, ob sich Texte nicht irgendwie ganz von alleine schreiben. Darüber soll, wie gesagt, nicht gehandelt werden. Statt dessen will ich in einem Parforceritt die bislang 58 Jahre der Lenzschen Produktivität durchlaufen, beginnend mit den Gedichten von 1936 und zwangsläufig endend mit der Erzählung Zwei Frauen von 1994, und mit Nachdruck nach Hermann Lenz' Bezug zur nichtlenzischen Literatur dieser 58 Jahre fragen. Fangen wir also mit den Anfängen an, mit der Lyrik und Prosa, die Lenz Mitte der dreißiger Jahre vorlegt. Die erste Strophe des oft zitierten Gedichts Das Blatt geht so:
3
Hermann Lenz: Leben und Schreiben. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/ Main 1986, S. 9.
Rainer Moritz
4 In ein gerolltes Weinblatt möcht ich kriechen, Sein mürbes Sterben knistern hören, um In Spinnenfasern lässig hinzusiechen Bei einer Wespe brüchigem G e b r u m m . 4
Ein Ich möchte sich verstecken, um dem Sterben, das es umgibt, unauffällig beizuwohnen. Mürbe, brüchig, zittrig, spät - so klingen die Adjektive der drei Strophen, und es fällt nicht schwer, eine Verbindung herzustellen zwischen dieser latent morbiden Naturlyrik und dem Zeitgeschehen. Wo andere vitalistisch und viril ins Dritte Reich aufbrechen, imaginiert der gerade mal 20jährige Hermann Lenz eine künstliche, abgeschottete Welt des natürlichen Verfalls. Seine frühe Lyrik ist vielfach Wunschlyrik, in der Sehnsüchte, auch erotischer Art, benannt werden, doch grundiert ist dieses Verlangen allenthalben vom nahenden, vom drohenden Niedergang. »In den ausgedörrten Büschen / Vieler leer gefegter Gärten / Suche ich nach sauren Beeren / Meine Lippen zu verhärten« (Zeitlebens, S. 23), heißt es im Gedicht Trauben und Schlehen, in einer Bildlichkeit, deren Signale lauthals vom Leid der Zeit künden, ohne ein politisches Konkretum ins Feld zu führen: die Lippen verhärten, um die harte Zeit zu überstehen - so lautet der Wahlspruch, faute de mieux. Vergleichbares läßt sich auch über die erste Prosa sagen. 1938 erscheint, von Karl Korn befördert, in der »Neuen Rundschau« die Erzählung Das stille Haus, die stark erweitert 1947 als eigenständiges Buch und 1982 nochmals in einer leicht modifizierten Neuausgabe erscheinen wird. Auch dies, nebenbei bemerkt, ein Beispiel für Lenzsche Kontinuität. Das stille Haus ist gleichfalls Prosa der sehnsüchtigen Art. Ihr Autor schreibt sich zurück ins Wien der Jahrhundertwende, in ein Wien - ich erinnere: der erste Text erscheint 1938 - , das mit dem nationalsozialistischen Unheil nichts zu tun hat und deshalb als Kontrastfolie taugt, taugen muß. Daß in diesem kleinen Text dennoch keine beschwingte Heurigenseligkeit herrscht, versteht sich fast von selbst: Schließlich hatte Lenz seinen Schnitzler und seinen Hofmannsthal gelesen. Es ist gerade diese Fin-de-siècle-Verfeinerung, mit der der junge Student sich das N S Regime und den nahenden Kreig vom Leib halten will, wenigstens in den Augenblicken der Schreibtischversenkung. Die frühe Lyrik und die frühe Prosa, sie sind eingebettet in ein Segment der deutschen Literatur, der man später das Namenschild der >In4
Hermann Lenz: Das Blatt. In: H . L.: Zeitlebens. Gedichte München 1 9 8 1 , S. 20.
1934-1980,
Über Hermann Lenz' literarhistorischen Ort
5
neren Emigration anheften wird, ein Schild, das aufgrund seiner Mißverständlichkeit nie wohlgelitten war. Bergenguen, Lehmann, Wiechert oder Carossa werden dem gemeinhin zugeschlagen, unterschiedliche Figuren, Namen, deren Nachruhm verblaßt ist. Hermann Lenz äußerte sich in einem Gespräch mit Manfred Durzak selbst zum Terminus der Inneren Emigration. Einerseits sieht er, daß man »meiner Haltung und meiner Verhaltensweise im Dritten Reich zweifellos das Etikett Innere Emigration aufkleben« könne. Andererseits hält er fest: »Innere Emigration, das hat ja einen Geschmack und Geruch, den ich schon damals, als das Wort aufgekommen ist, gar nicht gemocht habe.«5 Wie man es auch nennen mag: Hermann Lenz gehört in dieses Umfeld junger Autoren, die dem NS-Geist ziselierte, oft aus künstlichen, entlegenen Welten stammende Texte entgegenhalten. Hans Dieter Schäfers 1984 erschienenes Lesebuch Am Rande der Nacht. Moderne
Klassik
im Dritten Reich versammelte viele dieser Stimmen, und selbstverständlich ist Lenz eine von ihnen. Die Erzählung Das stille Haus erschien, wie gesagt, zuerst 1938 und 1947 in wesentlich erweiterter Fassung - ein Faktum, das literarhistorisch von einiger Brisanz ist. Denn Lenz belegt, was die Germanistik immer wieder aufs neue beschäftigt: die über die sogenannte Stunde Null hinausreichende Kontinuität der deutschen Literatur. Das Stille Haus hatte Lenz während des Krieges fortgeschrieben und nach Kriegsende nochmals neu gefaßt. Es ist, auch in der Nachkriegsfassung, die Geschichte eines jungen Wiener Adligen, dessen Mutterbindung im Zentrum steht und der nach erotischen Wechselbädern zuletzt in den Hafen einer gesicherten Existenz einläuft, nicht in der gefahrvollen Metropole Wien, sondern in der ruhigeren Wachau. In diesem Text Auswirkungen einer Stunde Null festzumachen wäre vertane Philologenmüh'. Welchen Stellenwert man dieser Kontinuität einräumen muß - gerade im Kontrast zu den Kahlschlagbeteuerungen anderer - , sei dahingestellt. Günter Eich, Wolfgang Koeppen, Marie Luise Kaschnitz, Hans Erich Nossack und eben Hermann Lenz - das alles sind Autoren, deren Debüt in den Dreißigern oder späten Zwanzigern liegt und deren
s
Manfred Durzak: Vor deiner Haut beginnt die Fremde. Gespräch mit Hermann Lenz. In: M. D.: Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen, Frankfurt/Main 1976, S. 236.
Rainer Moritz
6
Schreiben nach 1945 keineswegs einen völligen Bruch mit den Anfängen bedeutet. Auch Hermann Lenz' zweiter Nachkriegsband - die Erzählungen Das doppelte Gesicht von 1949 - knüpft mit seinem magischen Realismus einerseits an ältere Traditionen an und läßt sich andererseits an Zeitgleiches anschließen, an Kasacks Stadt hinter dem Strom, Nossacks Nekyia oder Aichingers Größere
Hoffnung.6
Festhalten möchte ich indes eines: Lenz ist kein singulares Phänomen der deutschen Nachkriegsliteratur; er zählt lediglich nicht zu jenen, die auf Tabula rasa und Kahlschlag setzten. Sein historisch geschärftes Bewußtsein nimmt dergleichen nicht ernst. Ein nüchterner Realismus à la Faulkner oder Hemingway ist Lenzens Sache nicht. Der grundsätzlichen Absage an metaphysischen Konstruktionen halten Das stille Haus und Das doppelte Gesicht Texte entgegen, die das Gegenwärtige transparent machen wollen, transparent im Hinblick auf die Vergangenheit, im Hinblick auf ein »Dahinter«, auf ein »Anderes«, das - um eine beliebte Lenzsche Formel aufzugreifen - »mehr ist als Druck und Papier«. Und Hermann Lenz teilt die zeittypische Hoffnung, daß nach 1945 eine wahrlich >neue Zeit< beginnen möge. Die Loge zum geheimen Einverständnis, die im Stillen Haus und im Doppelten
Gesicht zusammen-
kommt, leugnet ihre auffordernden Momente nicht; ein Zusammenschluß der Empfindsamen und Verletzten ist die Vision der besseren Welt, eine Hoffnung, die für ihn - es läßt sich recht genau datieren Anfang der fünfziger Jahre brüchig wird. Spricht man über Hermann Lenz' Verbindung zur Literatur dieser Zeit, muß ein Wort fallen über seinen Auftritt vor der gestrengen Gruppe 47. 1951 fand deren 9. Tagung im Welzheimer Wald statt, und zur Freude seines damaligen Verlages, der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart, flatterte Lenz eine Einladung auf den Tisch. Es war seine erste Teilnahme an einer Gruppensitzung, und es sollte seine letzte sein. Das aus dem Umfeld der Erzählung Die Abenteurerin
Vorgetragene kam
nicht an; das Gelesene fiel durch, im autobiographischen Roman Ein Fremdling
hat Lenz dies kurz und bündig referiert:
Dann also auf den elektrischen Stuhl·. E r las drei Seiten, die der Verlagskaufmann ausgewählt hatte, und hernach sagte einer, der vom Vorsteher nach seiner Meinung gefragt worden war, er habe >rein akustisch< nichts 6
Vgl. dazu Manfred Durzaks Beitrag in diesem Band.
Über Hermann Lenz' literarhistorischen Ort
7
verstanden. Ein zweiter sagte, das Gelesene seit nichts, er wundere sich nur, daß zuvor all dies so groß angekündigt worden sei. [...] Ein älterer Herr, der emigriert gewesen war, sagte, er halte es f ü r eine Arbeit von genialer Simplizität. Z w e i Damen tuschelten schnippisch und lachten leise. E i n Pudel, der bei einem Mann mit Knotenstock lag, blaffte, und es hieß, das sei ein literarischer Hund; wenn etwas Schlechtes vorgelesen werde, dann belle der. 7
So ergeht es Nachwuchsdichtern. Wer heute nach Klagenfurt zum Ingeborg-Bachmann-Preis reist, kann ein Lied davon singen. Weitere Gruppenauftritte blieben Lenz erspart; der Versuch, am Einfluß der 47er zu partizipieren, war fehlgeschlagen. Hermann Lenz hat - und der zitierte Auszug deutet dies an - seinen lieben Kolleginnen und Kollegen im nachhinein einige Giftpfeile hinterhergeschickt. Die wenigen Seiten, die den Welzheimer Vortrag resümieren, sind im Detail maliziös konstruiert und revanchieren sich ein klein wenig an den kaum verfremdeten Größen der Gruppe 47. Lenz' Rückblick erschien in Buchform zuerst 1983, also zu einer Zeit, da sich das literarische Blatt gewendet hatte. Leise Genugtuung darüber ist dem Roman Ein Fremdling
anzumerken.
Der Fehlschlag vor der Gruppe 47 hat, wie Hermann Lenz dies später sah, natürlich mit dem dort dominierenden Realismuskonzept zu tun. Nach subtilen psychologisierenden Feinheiten à la viennoise stand kaum jemandem der Sinn. Freilich sollte man nicht vergessen, daß sich dies Anfang der fünfziger Jahre zu verschieben begonnen hatte. Bolls Schwarze Schafe, für die er 1951 den Preis der Gruppe 47 erhielt, oder Aichingers berühmte Spiegelgeschichte
sind keine Belege für kühle He-
mingway-Lakonie. Die plakativen Bekenntnisse zur Kahlschlag- oder zur Trümmerliteratur verdeckten diese allmähliche konzeptionelle A u f weichung innerhalb der Gruppe 47. Überdies waren die fünfziger Jahre ein Krisenjahrzehnt für Hermann Lenz. Die Sekretärspflichten in einem Kulturverein und in einem Schriftstellerverband blockieren das Schreiben; zwischen 1952 und 1959 erscheint kein einziges Buch von ihm. Und darüber hinaus ist die 1952 erschienene Erzählung Die
Abenteure-
rin in ihren Kolportageelementen vielleicht ein »frühes AlterswerkAlt-Fränkische seines Wesens< schon ewig. Er weiss, dass Lenz >noch nie in diese Zeit gepasst< hat und diese Fremdheit Buch für Buch beglaubigt. Und er schätzt es, dass dem schwäbischen Stoiker die inneren Bezirke mehr bedeuten als die Geschäftigkeiten des Tages. Wir haben diesen eigenwilligen Wanderer durch die Zeiten und >das Hohenlohische< erst spät kennengelernt. Und siehe da: Lenz-Leser kann man immer noch werden.« (Α. K.: An das Innere von Muscheln denken. Hermann Lenz' Erzählung »Zwei Frauen«. In: Neue Zürcher Zeitung, 8.12.1994) Hermann Lenz: Weder Wegweiser noch Polizist. In: Volker Michels (Hg.), Über Hermann Hesse, Bd. 2, Frankfurt/Main 1977.
IO
Rainer Moritz
zu haben zahlte sich aus, obschon spät, und ich bin sicher, daß man Lenz künftig, bis ins Jahr 2009 mindestens, aus diesen Gründen immer neu lesen wird. Genug der Abschweifung zur Wirkungsgeschichte. Mit meinem Thema, dem literarhistorischen Ort, hatte dies dennoch zu tun. Denn Jahrzehnte gehen oft ins Land, bis das einmal gefaßte Klischee eines Schriftstellers korrigiert wird, und man muß es mit Nachdruck sagen: Feuilleton und Germanistik haben sich dabei nicht mit Ruhm beklekkert. Zurück ins Jahr 1959, das, so eine weithin akzeptierte Einschätzung, als Wendejahr in der deutschen Nachkriegsliteratur gilt, ablesbar zum Beispiel am gleichzeitigen Erscheinen einflußreicher Romane: Bolls Billard um halbzehn, Blecktrommel.
Johnsons Mutmassungen
über Jakob
und Grass'
Im selben Jahr meldet sich auch Hermann Lenz wieder
zu Wort, und selbst wenn man seinen schmalen Roman Der russische Regenbogen
nicht mit den genannten drei Büchern messen will, bleibt
auch ein Einschnitt für das Lenzsche Werk festzuhalten. Der russische Regenbogen
entledigt sich erstmals auf längerer Strecke der wienerisie-
renden oder magisierenden Erzähltöne; es ist der erste Text, der relativ unverblümt auf Kriegsepisoden in Rußland zurückgreift. Lenz ist auf dem Wege zur Autobiographie noch nicht so weit, daß er sich selbst oder wenigstens seinen literarischen Stellvertreter Eugen Rapp ins Spiel zu bringen wagt, doch immerhin: Die Geschichte der Tamara Lasowskaja verläßt wie die Blechtrommel
das Terrain der bis dato vertrauten
Nachkriegsliteratur. Wie auch immer: Mit dem, was heute in Literaturgeschichten über diese Zeit nachzulesen ist, hat Lenz wenig gemein. Einer konkreten Poesie, die wie bei Helmut Heißenbüttel oder Franz Mon vorrangig das Sprachmaterial als solches bearbeitet und reflektiert, kann er, der PaulCelan-Leser, nichts abgewinnen, und im Blick auf die politisch-dokumentarischen Formen, wie sie die sechziger Jahre propagieren, sieht das nicht anders aus. Wer den »Tod der Literatur« fordert - und sei es noch so rhetorisch - , der muß bei einem Autor, für den Literatur stets therapeutische Bedeutung hatte, auf schroffe Ablehnung stoßen. Freilich, Hermann Lenz nimmt sehr genau wahr, wo die ersten und zweiten Geigen der Literatur gespielt werden. Im Schriftstellerverband erklangen diese allwöchentlich, und an konkreten Poeten mangelte es gerade im Raum Stuttgart nicht. Heißenbüttel, Harig, Döhl waren dort,
Über Hermann Lenz' literarhistorischen Ort und mit M a x Bense agierte an der Technischen Hochschule ein Literaturtheoretiker mit professoralem Gütestempel. So wandeln sich die Zeiten: Max Benses Leser ließen sich heute per Handschlag begrüßen, und L u d w i g Harig ist zwischenzeitlich als Romancier zu ganz anderen U f e r n aufgebrochen (und, wie erwähnt, zu einem Lenz-Enthusiasten geworden). L e n z ' Aversion gegen das Experimentelle der Konkreten Dichtung läßt sich auf einen Nenner bringen: »Gedichtemachen« ist f ü r ihn, wie er es am Beispiel seines schwäbischen Landsmannes Christian Wagner einmal notierte, »mehr als bloß Sprachmaterial zusammenbosseln«. 1 1 Die Literaturauffassung, wie sie L e n z etwa bei Heißenbüttel oder Bense vertreten sieht, droht zu zerstören, was für ihn seit der ersten Stifterund Mörike-Lektüre Literatur bedeutet: die Andeutung - nicht mehr und nicht weniger - eines nicht zu durchdringenden metaphysischen Hintergrundes. Hermann L e n z nimmt, wie gesagt, rege am Stuttgarter Geschehen teil, wiewohl er selbst dort kaum goutiert wird. In den autobiographischen Romanen Ein Fremdling
oder Seltsamer Abschied
hat L e n z später
einige Nettigkeiten retourniert. 1 2 U n d er liest, wenn auch nicht immer freiwillig, sehr viel v o n dem, was um ihn herum publiziert wird. Vor allem für den Süddeutschen R u n d f u n k schreibt er eine Fülle v o n Rezensionen. Weitgehend auf theoretisierende und scharf urteilende T ö n e verzichtend, referiert L e n z die unterschiedlichsten literarischen Positionen. Gelegentlich freilich kann der freundliche Berichterstatter nicht an sich halten und läßt seinem U n m u t freien Lauf. U b e r Gisela Eisners zwerge,
Riesen-
seinerzeit, 1964, viel beachtet, heißt es: »Ein unerbittliches Buch
also, das sich bezahlt macht, weil sein rühriger Verleger dafür gesorgt hat, daß die Autorin den Prix Formentor bekam, was einen dicken H a u fen G e l d und R u h m bedeutet« (Stuttgart, S. 44), und über Rolf H o c h huths Stellvertreter:
»Das tut uns gut, das befreit uns von der G e w i s -
senslast, denn jetzt sind wir nicht mehr an den Judenmorden mitschuldig; Schuld allein hat ein toter Papst, er ist der Sündenbock. U n d wenn einer wissen will, wie man Bestseller schreibt, dann braucht er's nur Hochhuth nachzumachen« (Stuttgart, S. 21). D a s ist ungewöhnlich hef-
11
12
Hermann Lenz: Stuttgart. Aus zwölf Jahren Stuttgarter Leben. Hg. von Günter Beysiegel, Stuttgart/Zürich 1983, S. 85. Vgl. auch den Prosatext »Rebellen-Stammtisch« in diesem Band.
Rainer Moritz
12
tig und mit Groll geschrieben, doch vor allem zeigt sich am Kontrast mit Gisela Eisner und Rolf Hochhuth, wie weit entfernt Lenz in den sechziger Jahren vom Zeitgeschmack stand. Anders sieht es mit dem Nouveau roman aus, jener Neuorientierung der erzählenden Prosa, die vor allem mit den Franzosen Alain RobbeGrillet, Nathalie Sarraute und Michel Butor verbunden ist. Deren Hauptwerke entstanden in den vierziger und fünfziger Jahren und entfachten, ohne daß dies Leserscharen angelockt hätte, ordentlichen Disput, den Robbe-Grillet 1963 selbst mit seiner Essaysammlung Pour un nouveau
roman theoretisch untermauerte. Offensichtliche Spuren da-
von in der deutschen Literatur nachzuweisen ist nicht einfach. Man hat dies bei U w e Johnson, Walter Helmut Fritz, Peter Weiss oder Jürgen Becker versucht und hier und dort auch Hermann Lenz ins Kalkül gezogen. 1 3 Das mag auf den ersten Blick überraschen: Wer Robbe-Grillets La jalousie oder Butors La modification liest, wird in der höchst artifiziellen Beschreibung von Außenwelt wenig Anknüpfung an Lenz' impressionistisch geprägte Prosa sehen. Indes, Lenz selbst betonte, daß ihm das Monologische des Nouveau romans nahestehe. 1961 schließlich schreibt er für den Süddeutschen Rundfunk eine Sammelrezension unter der Uberschrift »Der Roman auf neuen Wegen«, die sich vornehmlich mit dem >neuen Roman< in Frankreich auseinandersetzt, darunter mit Nathalie Sarrautes Das Planetarium.
Hermann Lenz dazu:
Ein aussergewöhnliches, ein gespenstisches Buch. Hinter dem veränderlichen, in ständiger Wandlung brodelnden M o n o l o g - und Gesprächstext ö f f nen sich Ausblicke in mythische Bereiche. 1 4
Und am Ende dieser Radiorezension resümiert Lenz die Beispiele modernen Erzählens mit Worten, die unverkennbar das eigene Bemühen charakterisieren: »[del Castillos] Buch beweist, dass es auch dem modernen Autor möglich ist, jenen Bezirk zu erreichen, in dem das Beständige herrscht.« Hermann Lenz und der Nouveau roman - das wäre ein prächtiges Thema für Doktorarbeiten, und vermutlich eines, das das gängige Bild widerlegen würde, hier habe einer in den Sechzigern gedankenverloren 13
14
Vgl. insbesondere Jürgen H . Petersen: D e r deutsche Roman der Moderne. Grundlegung - Typologie - Entwicklung, Stuttgart 1 9 9 1 , S. 342. Hermann Lenz: D e r Roman auf neuen Wegen. Eine Bücherrezension. In: Süddeutscher Rundfunk, 1. Programm, 2 5 . 7 . 1 9 6 1 .
Über Hermann Lenz' literarhistorischen Ort
13
an Biedermeier-Romanen gebastelt, das Drumherum der Zeit außer acht lassend. Kurzer Zwischenhalt: Konkrete Poesie, Dokumentarliteratur, Nouveau roman - Hermann Lenz hält unterschiedliche Distanz zu den markanten Trends der Zeit; die dominierenden Richtungen sind seine Sache nicht, doch das Beispiel des Nouveau roman zeigt, daß es Uberschneidungen, Anregungen gibt. Vor allem aber schrieb Hermann Lenz unverdrossen an seinen Geschichten weiter, und von 1963 an, als er mit dem Auch-Künzelsau-Roman Verlassene Zimmer beginnt, ist es vor allem seine eigene Geschichte. Man muß es klar sagen: Verlassene Zimmer (1966) und Andere
Tage
(1968), die ersten beiden Bände des Eugen-Rapp-Zyklus, wagen sich auf autobiographisches Gelände, lange bevor es Mode wurde, dies zu tun. Es gibt Parallelen, Peter Weiss' kurz zuvor erschienene Bücher Fluchtpunkt und Abschied von den Eltern etwa, derer sich Lenz wiederum in Rezensionen annimmt. Doch die große Welle der Erinnerungs-, Bekenntnis- oder Verständigungsliteratur setzt erst zehn Jahre später ein, als man meinte, der Tod der Literatur lasse sich durch Authentizität um jeden Preis am leichtesten umgehen. Hermann Lenz' autobiographische Recherche im engeren Sinne umfaßt bis heute acht bzw. neun Bücher, je nachdem, ob man die im Herbst 1994 vorgelegte Erzählung
Zwei
Frauen hinzuzählt, Bücher, die über einen Zeitraum von knapp 30 Jahren erschienen. Es wird sich, diese unmutige Prognose seit gewagt, künftig deutlicher herausschälen, in welchem Maße die Geschichte des autobiographischen Schreibens von Hermann Lenz geprägt ist. Vergleichbare Unternehmungen gibt es nur wenige, und die Eugen-RappBände zeigen aufs schönste, daß autobiographische Literatur nicht gleichzusetzen ist mit quälender Nabelschau, mit Formen der Introspektion, vor der auch namhafte Autoren nicht haltmachten. In literarhistorischer Perspektive lädt die Lenzsche Autobiographie dazu ein, ihn - endlich, möchte man ausrufen - einer Literaturrichtung zuzuschlagen oder ihn zumindest als einer ihrer Vorläufer zu taxieren. »Neue Subjektivität« oder »Neue Innerlichkeit«, so lauten die längst in den Literaturgeschichten fest verankerten Kapitelüberschriften für die siebziger und frühen achtziger Jahre, und es ist typisch, daß ein Germanist wie Ralf Schnell in seiner Geschichte der deutschsprachigen
Litera-
tur seit 194f Hermann Lenz dieser Richtung, als Vorläufer wenigstens, zuschlägt. So wenigstens hat Lenz seinen Platz in diesem 600-Seiten-
H
Rainer Moritz
Buch gefunden. Ob Karin Strucks Klassenliebe, Max Frischs Montauk, Nicolas Borns Erdabgewandte Seite der Geschichte, Peter Handkes Wunschloses Unglück, Martin Walsers Fliehendes Pferd oder die Vielzahl der Vater-Töchter-Mütter-Söhne-Texte - auf allen Etagen bahnt sich, wie unterschiedlich auch begründet, ein Rückzug in private Sphären an, der für die Literatur nicht selten mit einer Aufgabe des Literarischen Hand in Hand geht. Das Mißtrauen gegenüber der Kunst, das ein Grundmotiv der dokumentarischen Literatur war, setzt sich in der geballt autobiographischen fort. Wer Kunst macht, läuft - so der Gedankengang - Gefahr, das wahre psychische Elend zu verschleieren, deshalb die Neigung, ganz echt und ganz betroffen von eigenen Ich zu erzählen. Adolf Muschgs Vorlesungen Literatur als Therapie? von 1980 summieren in gewisser Weise die Diskussion dieser Jahre. Was hat Hermann Lenz damit zu tun? Zuerst einmal ist er, es sei wiederholt, ein durch und durch autobiographischer Erzähler und Lyriker, obwohl ihm selbst diese Formulierung eher unangenehm ist. Daß Schriftsteller letzten Endes und vor allem in unserem Jahrhundert permanent von sich selbst berichten, ist eine Binsenweisheit. Manche kaschieren es lediglich geschickter. Ein Blick genügt auf jene Bücher Hermann Lenz', die gemeinhin als nicht-autobiographisch firmieren, auf Der Kutscher und der Wappenmaler, Der Letzte, Jung und Alt oder Das stille Haus, und es ist zu sehen, wie unverhohlen Eugen-Rapp-Grundzüge, Eugen-Rapp-Themen immer wieder zutage treten, selbst wenn die Texte vermeintlich völlig andere Szenarien anzubieten scheinen oder wenn sie wie in Nachmittag einer Dame eine weibliche Perspektive einnehmen. Hermann-Lenz-Texte sind thematisch wie stilistisch gut erkennbare Texte, und auch deshalb hin und wieder unter das parodistische Seziermesser geraten. Und es ist, zumindest für mich, keine Überraschung, daß Arbeiten wie Der Tintenfisch in der Garage oder Spiegelhütte, in denen Hermann Lenz versucht, bewußt unlenzische Lebenswelten wiederzugeben, zu - um den leidgeplagten Autor selbst zu zitieren - »Zankäpfeln« (Leben und Schreiben, S. 61) der Kritik wurden. Es ist richtig und mehrfach gesagt geworden, daß man sich vorsehen sollte, Lenz als Exponenten oder Vorläufer der Neuen Subjektivität einzustufen. Dennoch ist nicht minder offensichtlich, daß das Autobiographische den Brennpunkt seiner Literatur bildet. Diese hat keine pragmatischen, keine ideologischen Aufgaben; sie ist vorrangig »Heilmittel«, wie die Büchnerpreis-Rede überschrieben ist. Im frühen Werk gibt es
Über Hermann Lenz' literarhistorischen Ort
!5
auch bei Lenz Stücke, die unentschlossener sind und appellative Passagen einflechten, doch spätestens seit Anfang der sechziger Jahre ist die Funktion der Literatur für ihn klar umrissen. Und mit diesem Zutrauen in das Autobiographische gehört er unzweifelhaft in die Literatur der siebziger Jahre, ungeachtet aller anderen Teilhaber. Freilich: Hermann Lenz wollte die Eugen-Rapp-Romane nie so verstanden wissen, daß es primär um die erinnerten Befindlichkeiten des Schreibers gehe. Nein, auch das detaillierteste Ausbreiten von Lebensumständen wie im Tagebuch vom Uberleben und Leben etwa, das die ersten Nachkriegsjahre spiegelt, soll ein Mehr aufzeigen, ein »Dahinter«, einen »großen Zusammenhang«, wie ihn tagtägliches Erleben nicht bloßlegt. Das »Immaterielle mit Wörtern sichtbar zu machen« (Leben und Schreiben, S. 44) heißt die Maxime, und das ist ein Ziel, das mit »Neuer Subjektivität« herzlich wenig zu tun hat. Literatur hat somit eine gleichsam metaphysische, wenn man will, religiöse Komponente, zwischen den Zeilen wohlgemerkt, denn dieses Spürbarmachen des Nicht-Materiellen erfolgt allein über das konkrete Detail, über die behutsame Beschreibung eines Tannendickichts oder einer Akademiesitzung zum Beispiel. Es ist Zeit, über Peter Handke zu reden. Natürlich haben die Versuche, Lenz einer wie auch immer definierten >Subjektivität< zuzuordnen, mit jenem vorweihnachtlichen Geschenk des Jahres 1973 zu tun, mit einem Geschenk, daß die gestreßten Kritiker in ihren Artikeln nicht müde werden als Textbaustein einzusetzen. In der Ausgabe der »Süddeutschen Zeitung« vom 22-/23.12.1973 publizierte Handke seinen Essay Tage wie ausgeblasene
Eier. Einladung,
Hermann
Lenz zu lesen,
der für Furore sorgte. Rekapitulieren wir ganz kurz die Ausgangssituation: Lenz' kontinuierlich vorgelegten Büchern war das verdiente Echo versagt geblieben; große Ehrungen und Preise gingen an ihm vorüber, und zu allem Uberfluß geriet sein Verlag Jakob Hegner in Schwierigkeiten. Und in diesem Augenblick legt Peter Handke, damals der James Dean unter den deutschen Dichtern, einen Aufsatz vor, der mit Emphase und Sympathie die Lenzschen Bücher pries. Handke, wie gesagt, galt trotz seiner Jugend bereits als arrivierter Autor: In Princeton hatte er die Gruppe 47 aufgeschreckt; Bücher wie Der Hausierer,
Die
Angst des Tormanns beim Elfmeter oder Wunschloses Unglück wurden eifrig diskutiert und gekauft, und 1971 schließlich wurde Handke der renommierteste deutsche Literaturpreis überreicht, der Georg-BüchnerPreis.
16
Rainer Moritz »Hätte Peter Handke nicht auf Hermann Lenz aufmerksam ge-
macht, wir hätten ihn nicht bemerkt«, schrieb Hans Dieter Zimmermann später über diese Weihnachtsbescherung. 15 Bei aller Spekulation über ein Was-wäre-passiert-wenn: Handke ebnete Lenz den Weg zum Suhrkamp/Insel-Verlag; der erste 1975 dort erschienene Roman Neue Zeit erfuhr breite Aufmerksamkeit, und drei Jahre später erhielt Lenz selbst den Büchner-Preis - mirakulöser literarischer Markt. Peter Handke und Hermann Lenz - das wurde für viele eine Zwillingsformel, auch wenn manchen dies damals suspekt blieb. Bis in die Gegenwart hinein begleiten die beiden Autoren ihre Werke wechselseitig, in Rezensionen und Aufsätzen, und der »Bunten« gelang es 1983 gar, ein gemeinsames Interview zu arrangieren. Man muß diese vermeintlichen Äußerlichkeiten betonen, weil Handkes Einsatz für das Werk des älteren Kollegen Hermann Lenz' literarhistorischen Ort, wie er sich heute zeigt, maßgeblich bestimmt. Darüber hinaus ist natürlich eine innere Affinität vorhanden, die sich in der Poetik niederschlägt. Handkes komplexe, bis zur Niemandsbucht
reichen-
den Anstrengung, der Wirklichkeit eine andere »Lehre« abzulauschen, läßt sich mit Hermann Lenz' kontemplativen Texten vergleichen. Gemeinsam ist ihnen, dokumentarischen Formen - gleichgültig, ob sie sich auf die Arbeitswelt oder die Psyche richten - oder dem Allheilmittel der Postmoderne zu mißtrauen. Die stilistischen Mittel, die beide dabei einsetzen, sind freilich sehr unterschiedliche. Das Zauberwort >Postmoderne< ist gefallen, denn in einem ordentlichen Aufsatz Mitte der Neunziger darf es nicht fehlen. Wo der Boxer Muhammad Ali als »vielleicht erste[r] postmoderne[r] Stratege«" 5 eingestuft wurde, wäre es gelacht, könnte man nicht auch Hermann Lenz auf diesen Zug setzen. Zumal er selbst - ich unterschlage die Ironie - F r a n z Grillparzers armen Spielmann als »durch und durch unmoderne, aber vielleicht postmoderne Figur« (Leben und Schreiben, S. 140) gedeutet hat. 150 Jahre Postmoderne - warum nicht? Ich werde der - zugegeben geringen - Versuchung widerstehen, Hermann Lenz auf die Postmoderne, auf Süskind, Ortheil, Ransmayr, Ulrich Woelk oder Robert 15
16
Hans-Dieter Zimmermann: »Das Versunkene, das Abgelegte, das Vergessene ...«. Zu zwei Romanen von Hermann Lenz. In: Rainer Moritz (Hg.): Einladung, Hermann Lenz zu lesen. Frankfurt/Main 1988, S. 119. Jan Philipp Reemtsma: Mehr als ein Champion. Uber den Stil des Boxers Muhammad Ali, Stuttgart 1995, S. 31.
Über Hermann Lenz' literarhistorischen Ort
17
Schneider, zu beziehen. Immerhin hat sein in den Grundzügen so konstantes Werk in den letzten Jahren eine kleine, aber nicht unerhebliche Verschiebung genommen. Während Erzähltexte wie Schwarze
Kutschen
oder Jung und Alt den Kosmos dieses Jahrhunderts mit Nebenhandlungen aus dem Schwäbischen und Osterreichischen weiter ausschmücken und die Lyrik ihren Tonfall des Zwiegesprächs fortsetzt, wurde der Autobiographie ein ungeahntes Schicksal zuteil: Sie löste sich zusehends auf, drängte ihren Protagonisten Eugen Rapp sanft an die Seite und ließ ihn so einen erzählerisch kühnen Abschied nehmen. Bücher wie Ein Fremdling
(1983) und Seltsamer Abschied (1988) fingen die fünfziger
und die siebziger Jahre ein, während sich der 1992 erschienene achte Band Herbstlicht
auffällig darum bemühte, das Erzähltempo zu be-
schleunigen und möglichst nahe an den Erzählzeitpunkt zu rücken. Ein wenig schien es, als wollte Hermann Lenz das ihm noch so nahe Münchener Leben der achtziger Jahre nicht en détail ausbreiten. 1994 nun erschien Zwei Frauen, eine Erzählung, die chronologisch an Herbstlicht anschließt, einen gewissen Eugen Rapp gleich zu Anfang durchs Hohenlohische wandern l ä ß t . . . und dennoch ist das vertraute autobiographische Alter ego kein sich entwickelndes mehr, steht es, der Titel zeigt es an, nicht mehr im Zentrum. Eugen Rapp bewegt sich kaum merklich durch die Landschaft seiner Kindheit, nimmt kaum merklich am Leben der >zwei Frauen< kurzfristig anteil und verschwindet wieder, irgendwo bei Gerabronn oder Waldenburg. Anders gesagt: Hermann Lenz' Autobiographie scheint einen Punkt der Ruhe erreicht zu haben, und so ist es Eugen Rapp vergönnt, sich, zumindest vorübergehend, aus seinem eigenen Text auszuklinken. Diese Entwicklung - einen Ansatz dazu gab bereits der 1986 erschienene sechste Teil Der Wanderer - ist auch für die Geschichte der modernen Autobiographie aufschlußreich. Hermann Lenz hat nie die gerade auch von Literaturwissenschaftlern beförderte Rede von der Unmöglichkeit der Autobiographie in der Moderne gestützt; er hat seinen eigenen Text weitergeschrieben, und für den, der es wahrzunehmen vermag, könnte das allmähliche Verschwinden des Eugen Rapp ein höchst aktuelles Phänomen sein. Im letzten Band der Hanserschen Sozialgeschichte der deutschen Literatur, erschienen immerhin 1992, spricht Herausgeber Klaus Briegleb von den »Idyllentexten« 17 eines Ludwig 17
Klaus Briegleb: Weiterschreiben! Wege zu einer deutschen literarischen
Rainer Moritz
ι8
Harig oder Hermann Lenz. Man sieht, auch eine Germanistikprofessur feit nicht vor akuter Leseschwäche. Mein Hinweis auf den neunten Eugen-Rapp-Band Zwei Frauen hat absichtsvoll kein Etikett, keinen Ismus verteilt. E r sollte deutlich machen, daß ein Werk, das so kontinuierlich erarbeitet wurde wie das Lenzsche, sich immer wieder an Textformen und Strömungen anschließt, die andere forciert bemühen. Innere Emigration, magische Nachkriegsliteratur, Autobiographiewelle und Neue Subjektivität - es ist zu einfach, Hermann Lenz als bloßen Außenseiter zu charakterisieren. Die Verbindungen zum literarischen Kontext waren oft markant und manchmal wiederum fast gänzlich abgebrochen.' 8 Ganz zu schweigen von jenen Aspekten, die ich sträflich vernachlässigt habe: vom Ökoautor Hermann Lenz, vom Konservativen, vom Monarchisten oder Präfeministen - an potentiellen Schubladen mangelt es nicht. »Was aber sind die Taten eines Schriftstellers?« (Leben und Schreiben, S. 43) fragt Hermann Lenz in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen, und er gibt die Antwort für sein eigenes Schreiben: einen »meditativen Text« zuwege bringen. Das ist eine Form der Literatur, das ist ein Weg, und diesen ist Hermann Lenz mit staunenswerter Konsequenz gefolgt. Und das ist gut so.
18
>Postmoderne