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German Pages 254 Year 2021
Cornelia Escher, Nina Tessa Zahner (Hg.) Begegnung mit dem Materiellen
Architekturen | Band 56
Cornelia Escher, geb. 1981, ist Juniorprofessorin für Architekturtheorie und -geschichte an der Kunstakademie Düsseldorf. Sie promovierte zu Utopien der mobilen Architektur um 1960 an der ETH Zürich. Danach war sie Postdoktorandin in der Leibnizpreis-Forschungsgruppe »Global Processes« unter der Leitung von Jürgen Osterhammel an der Universität Konstanz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Architekturgeschichte des 19./20. Jahrhunderts, Architektur- und Raumtheorie sowie globale Architekturgeschichte. Nina Tessa Zahner, geb. 1972, ist Professorin für Soziologie an der Kunstakademie Düsseldorf. Sie promovierte zur Transformation des Kunstfeldes in den 1960er Jahren bei Richard München an der Universität Bamberg. Von 2006 bis 2017 forschte sie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig u.a. als Juniorprofessorin zur Soziologie des kulturellen Feldes. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kunstsoziologie, relationale Soziologie, Soziologie der Sinne und des Wahrnehmens sowie historisch-komparative Soziologie.
Cornelia Escher, Nina Tessa Zahner (Hg.)
Begegnung mit dem Materiellen Perspektiven aus Architekturgeschichte und Soziologie
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© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Stephanie A. Frank Satz: Torsten Leder Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5160-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5160-1 https://doi.org/10.14361/9783839451601 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt Vorwort / 7 Einleitung
Begegnung mit dem Materiellen in Architekturgeschichte und Soziologie Cornelia Escher und Nina Tessa Zahner / 9
1. Schaffensprozesse Kreative Materialitäten und Artefakte Between Man and Matter
Eine situierende Relektüre der Tokio-Biennale 1970 Gabrielle Schaad / 31
Materielles in Aktion
Zum Einsatz von Materialien in der künstlerischen Praxis Christiane Schürkmann / 53
»An experimental mistbeet«
Ding- und Objektbezüge im Wohnhaus und der Architektur Jože Plečniks Eva Maria Froschauer / 67
Kinderschuhe aus Plastilin
Wie die Architekturmoderne im 19. Jahrhundert erknetet wurde Ralf Liptau / 89
2. M aterielle Bedeutungskonstitution Ausstellen und Erinnern »Konfrontation unter Einbeziehung des Publikums«
Die Ausstellung MAN transFORMS (1976) und die Materialität der Postmoderne Cornelia Escher / 109
Entwerfen im kulturellen Gedächtnis
Zur atmosphärischen Herstellung von Architekturen in urbanen Ruinen Hanna Katharina Göbel / 129
Kunstbetrachtung in Interaktion
Die Bedeutung von Materialität und Körperlichkeit für die Kunstwahrnehmung in Museen Dirk vom Lehn / 141
Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext
Das Go-Along Interview als Instrument zur Rekonstruktion des perceptual space in Kunstausstellungen Nina Tessa Zahner / 155
3. Mensch-Technik Erfahrungen Die Materialität des sozialen Gebrauchs
Der Architekt Ludwig Leo im West-Berlin der langen 1960er Jahre Gregor Harbusch / 179
Der ›Geist in der Kiste‹
Begegnungen mit dem Materialen in der Architektur nach dem digital turn Alina Wandelt und Thomas Schmidt-Lux / 197
Körper, Leib und Mystifizierung in der Gestaltung von Mensch-Roboter-Interaktion Andreas Bischof / 213
Die Herstellung von Materialität(en) beim Sichten Arbeitspraktiken der digitalen Filmproduktion Ronja Trischler / 229
Autorenbiographien / 249
Vorwort Dieser Band geht auf eine Ringvorlesung an der Kunstakademie Düsseldorf im WS 2018/2019 zurück. Hier wurden Beiträge aus Architekturgeschichte und -theorie sowie der Soziologie versammelt, die in einer interdisziplinären Perspektive »Begegnungen mit dem Materiellen« in Architektur und Kunst untersuchten. Diese wurden für die Publikation mit Beträgen aus der Ding- und Techniksoziologie ergänzt. Wir danken der Kunstakademie Düsseldorf für die finanzielle Unterstützung der Publikation, sowie Stephanie A. Frank, Irene Kastner, David Keuer und Torsten Leder für die Mithilfe bei Lektorat, grafischer Gestaltung und Bildredaktion. Cornelia Escher, Nina Tessa Zahner
Einleitung Begegnung mit dem Materiellen in Architekturgeschichte und Soziologie Cornelia Escher und Nina Tessa Zahner
In Bildender Kunst, Architektur und Technik spielt die Begegnung mit Materialien, Dingen, Artefakten und materiellen Strukturen eine zentrale Rolle. Die Frage, wie die in diesen Begegnungen stattfindenden Erfahrungen wahrgenommen, beschrieben und verstanden werden können, wird seit einigen Jahrzehnten in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften wie auch in Architektur und Kunst vermehrt diskutiert.1 Die Diskussion bleibt jedoch oftmals im allzu Abstrakten.2 Der vorliegende Band begegnet diesem Defizit, indem er Zugänge aus der Architekturtheorie und -geschichte sowie der der Kunst- und Dingsoziologie versammelt, die Begegnungen mit dem Materiellen in Kunst, Architektur und Technik im Konkreten thematisieren. Ziel ist es, diese Zugänge miteinander in einen produktiven Dialog zu führen. Denn das Materielle ist zwar seit den 1990er Jahren wieder vermehrt in den Fokus der Geistes- , Kultur- und Sozialwissenschaften gerückt, hatte jedoch zuvor in Architekturgeschichte und Soziologie – bedingt durch den Gegenstandbereich der Fächer – einen grundlegend anderen Stellenwert. Die Frage, inwieweit sich aus dieser unterschiedlichen Stellung des Materiellen
1 Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias (Hg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn: Wilhelm Fink 2016; Rübel, Dietmar/Wagner, Monika/Wolff, Vera (Hg.): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin: Reimer 2017; Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: Beck 2013; Wagner, Monika/Rübel, Dietmar (Hg.): Material in Kunst und Alltag. Universität Hamburg, Berlin: Akad.-Verl. 2002; Lehmann, Ann-Sophie: How Materials Make Meaning, in: Netherlands Yearbook for History of Art 62, (Meaning in Materials. 14001800), (2012), S. 6-27.
2 Dörfling, Christina: »Let’s get anti-intellectual«, in: Kathrin Busch/Christina Dörfling/Kathrin Peters et al. (Hg.), Wessen Wissen? Materialität und Situiertheit in den Künsten, Paderborn: Wilhelm Fink 2018, S. 9-29, hier S. 9.
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unterschiedliche Zugänge zu diesem Thema ergeben und inwieweit sich diese gegenseitig befruchten können, steht im Fokus dieses Bandes. Die Soziologie als Wissenschaft vom Sozialen hat sich lange Zeit vor allem als sinndeutende und verstehende Wissenschaft definiert und das menschliche Handeln und Erkennen in den Mittelpunkt ihrer Forschungen gestellt.3 Zwar war bereits Georg Simmel der Ansicht, dass eine Soziologie der Sinne einen wesentlichen Zugang zu Fragen der Vergesellschaftung böte, Karl Marx sah in Anschluss an Rousseau das Sinnlich-Affektive in einer umfassenden menschlichen Praxis verortet, die er als Gegenpol des Rationalismus stilisierte,4 Helmut Plessner verwies in seiner Philosophischen Anthropologie auf die Verbindung von Körper und Geist und eine in diesem Sinne grundlegende Einheit der Sinne,5 und Erving Goffman macht die Sinne in seiner Soziologie alltäglicher Interaktionen und deren Ordnung zum Thema,6 allerdings wurde der Stellung des Sinnlich-Materiellen in diesen Zugängen in der Soziologie lange Zeit eher wenig Aufmerksamkeit zuteil. Auch Pierre Bourdieu, der in seiner Praxis- und Habitustheorie u.a. an Marx anschließt, wurde kaum hinsichtlich seiner Überlegungen zur Stellung des Sinnlich-Materiellen gelesen, sondern der Habitus stattdessen vor allem hinsichtlich seiner Bedeutung für den sozialen Status rezipiert.7 Ein vermehrtes Interesse für Fragen der Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Materialität und deren Bedeutung für das menschliche Zusammenleben lässt sich in der Soziologie erst seit den 1990er Jahren beobachten. Die Fokussierung der Soziologie auf Konstruktivismus, Strukturalismus, Systemtheorie und einer Wahrnehmung der Welt als Text wurde nun von einem vermehrten Interesse für die Bedeutung von Artefakten, Dingen, Werkzeugen, Praktiken, Orten, Körpern und Architekturen für
3 Kalthoff, Herbert: »Einleitung zur Dialektik von qualitativer Forschung und soziologischer Theoriebildung.«, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 8-32, hier S. 11.
4 Zahner, Nina T.: »Interpassivität, Affekt und Desubjektivierung – Fragmente einer Theorie aus Gegenbegriffen. Rezension zu Seyfert, Robert: Beziehungsweisen. Elemente einer relationalen Soziologie«, in: Christian Dries/Takemitsu Morikawa (Hg.), Das postpoietische Paradigma. Sonderband der Zeitschrift für theoretische Soziologie 2020, (im Erscheinen).
5 Vgl. hierzu den Beitrag von Bischof in diesem Band. 6 Vgl. hierzu die Beiträge von vom Lehn und Zahner in diesem Band. 7 Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias: »Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft«, in: Herbert Kalthoff/Torsten Cress/Tobias Röhl (Hg.), Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 11-41; Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2009. Für eine stärker auf Fragen des Sinnlichen fokussierte Lesart von Bourdieu vgl. Zahner, Nina T.: »Sinnlichkeit und Sinn. Kulturen der Kunstbetrachtung«, in: Oliver Berli/Stefan Nicolae/ Hilmar Schäfer (Hg.), Kulturen der Bewertung, Wiesbaden: Springer VS 2020.
Einleitung
das Soziale abgelöst.8 Praxistheorien, Netzwerktheorien, Techniksoziologie und STS (Science and Technology Studies) gewannen hier vermehrt an Bedeutung,9 und die empirische Erforschung der Stellung des Materiellen im Handeln und die Rahmung des Handelns durch das Materielle wurden zu legitimen Untersuchungsgegenständen. In der Theoriegeschichte der Architektur hat Materialität und ihr Zusammenspiel mit Form, Ästhetik, Konstruktion und Produktion seit den Anfängen Beachtung gefunden. Architektonische und gestalterische Haltungen zum Materiellen haben sich in Artefakten und Diskursen abgelagert.10 Theoretische Überlegungen zur Materialität entstanden vor allem im Bemühen, die architektonische Praxis mit zeitgenössischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Tendenzen und technologischen Entwicklungen in Verbindung zu bringen und diese zu ref lektieren, zu ordnen und zu lehren. Seit den 1960er Jahren ist vor dem Hintergrund einer gesteigerten Sensibilität für subjektives Wahrnehmen ein Wandel in der Bewertung von Materialität zu beobachten, die den Materialitätsdiskursen in Kunst und Architektur dieser Phase möglicherweise eine besondere Stellung zuweist und auch unsere aktuelle Aufmerksamkeit für das Materielle mit initiiert hat.11 Ansätze des »neuen« Materialismus, wie er in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern diskutiert wird, sind in der Architekturgeschichte und -theorie seit den 2000er Jahren besonders aufgegriffen worden. Dadurch gerieten die Artefakte, Materialien und Werkzeuge des Entwerfens verstärkt in den Blick.12 Materialität und ihrem Zusammenspiel mit der körperlichen Wahrnehmung wurde nun ein neuer Stellenwert im kreativen Prozess zugewiesen; Aura und Authentizität architektonischer Elemente sowie deren Potential, körperlich zu affizieren, erfuhren eine neue Aufmerksamkeit.13 Diese Aufwertun8 Göbel, Hanna K./Prinz, Sophia: »Herausforderungen und Potentiale einer Soziologie der Sinne. Einleitung«, in: Hanna K. Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld: transcript 2015, S. 9-49.
9 H. Kalthoff/T. Cress/T. Röhl: Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft. 10 Vgl. Froschauer, Harbusch und Liptau in diesem Band. 11 Vgl. Escher und Schaad in diesem Band. 12 Latour, Bruno/Yaneva, Albena: »Give Me a Gun and I Will Make All Buildings Move. An Ant‘s View of Architecture«, in: Reto Geiser (Hg.), Explorations in Architecture. Teaching, Design, Research, Basel: Birkhäuser 2008, S. 80-89, insbes. S. 86; Froschauer, Eva M.: Entwurfsdinge. Vom Sammeln als Werkzeug moderner Architektur, Basel: Birkhäuser 2019; Liptau, Ralf: Architekturen bilden. Das Modell in Entwurfsprozessen der Nachkriegsmoderne, Bielefeld: transcript 2019; Lloyd Thomas, Katie (Hg.): Material Matters. Architecture and Material Practice, Abingdon, New York: Routledge 2007; Mindrup, Matthew (Hg.): The Material Imagination. Reveries on Architecture and Matter, Farnham: Ashgate 2015.
13 Sölch, Brigitte: »Architektur bewegt. Pugets Rathausportal in Toulon oder Schwellenräume als ›sympathetische‹ Interaktionsräume«, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in
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gen des Materiellen in Soziologie und Architekturtheorie lassen sich als Teil einer Entwicklung betrachten, in deren Rahmen das Materielle nicht mehr als ein dem menschlichen Handeln Untergeordnetes erschien, sondern zunehmend als gleichwertiger Akteur in den Blick geriet, bzw. als Sozio-Materialität als grundsätzlich verschränkt mit menschlicher Praxis gedacht wurde.
1. Vom Ding und seinen Netzwerken zur dinglichen Erfahrung Mit dem Begriff der Materialität werden in der Soziologie alternative Zugänge zu Welt und Wirklichkeit erschlossen: Materialen, Artefakte und Objekte werden zunehmend als Akteure bzw. Moderatoren gedacht, ihnen wird ein spezifischer Aufforderungscharakter, eine affordance, zugeschrieben.14 In der Philosophie, der Soziologie, den Material Culture Studies oder den Kunstwissenschaften ist nun ein gewachsenes Interesse am Einbezug der Dinge, Artefakte und Materialien zu beobachten.15 In der Sozialwissenschaft beziehen besonders die Akteur-Netzwerk-Theorien (ANT)16, die Praxistheorien17 sowie die anverwandten Science and Florenz 56 (2014), S. 71-94; Lending, Mari: Plaster Monuments. Architecture and the Power of Reproduction, Princeton: Princeton University Press 2017; Löschke, Sandra K. (Hg.): Materiality and Architecture, London, New York: Routledge 2016.
14 Bspw. hat Tia DeNora das aus der Psychologie stammende Konzept der af fordance von James J. Gibson (1979) für die Musiksoziologie fruchtbar gemacht und nutzt es um zu thematisieren, inwieweit bestimmte Wahrnehmungsweisen durch ein bestimmtes Musikstück begünstigt werden, vgl. DeNora, Tia: After Adorno. Rethinking Music Sociology, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2003, S. 48. Zur Interpretation des Begriffs durch das japanische Architektenduo Atelier Bow-Wow vgl. Escher, Cornelia: »Affordance«, in: Laurent Stalder/Cornelia Escher/Megumi Komura et al. (Hg.), Atelier Bow-Wow. A Primer, Köln: Walther König 2013, S. 33-35.
15 Zahner, Nina T./Schürkmann, Christiane: »Einleitung. Wahrnehmen als Soziale Praxis. Soziologische Perspektiven auf Wahrnehmen«, in: Christiane Schürkmann/Nina T. Zahner (Hg.), Wahrnehmen als Soziale Praxis, Wiesbaden: Springer 2020. (im Erscheinen)
16 Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008; Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Berlin: Suhrkamp 2010; Latour, Bruno: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin: Suhrkamp 2018; Callon, Michel: »Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung. Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht«, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology: Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 135-174; Law, John: After Method. Mess in Social Science Research, London: Routledge 2004.
17 Schatzki, Theodore: »Materialität und soziales Leben«, in: Herbert Kalthoff/Torsten Cress/ Tobias Röhl (Hg.), Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 63-88; Reckwitz, Andreas: »Sinne und Praktiken. Die sinnliche Organisation des Sozialen«, in: Hanna K. Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld: transcript 2015, S. 441-455.
Einleitung
Technology Studies (STS)18 verstärkt materielle Entitäten und Arrangements in ihre Analysen sozio-materieller bzw. sozio-technischer Welten ein. Sinnbildung wird nun vermehrt durch den räumlich und zeitlich verorteten, sozial(isiert)en Leib geprägt gedacht. Hier wird eine neue, integrative Verortung von Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Materialität in der sozialwissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung propagiert, die sich im Aufschwung einer Soziologie der Sinne und des Körpers sowie neuerer Praxistheorien,19 der Neo-Phänomenologie,20 den STS und der ANT21 manifestiert. Im Rahmen der seit Mitte der 1980er Jahre von Bruno Latour und Michel Callon entwickelten Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) gewinnt ein Denken vermehrt Konjunktur, das Sinn und Bedeutung in Netzwerken aus menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren als performativ erzeugt vorstellt. Die ANT sucht die seit der Auf klärung vorherrschende Trennung von Subjekt und Objekt, Natur und Gesellschaft zugunsten eines Denkens zu verabschieden, dass die Dinge, die Natur und die Menschen in verschiedensten Beziehungen netzwerkartig miteinander verbunden sieht.22 Auf dieser Grundlage werden Gegenstände nicht mehr als willenlose Objekte betrachtet, sondern als Dinge mit Eigenleben, mit Handlungskraft (agency). Die Dinge werden so zu Mischwesen, zu sogenannten Quasi-Objekten23 oder Hybriden, die in Netzwerken mit menschlichen Wesen in Beziehung treten. In den so entstehenden Kollektiven findet ein »Austausch menschlicher und nichtmenschlicher Eigenschaften«24 statt. Die ANT spricht den Dingen so eine wesentliche soziale Bedeutung zu. Soziale Phänomene sollen im Rahmen der 18 Bauer, Susanne/Heinemann, Torsten/Lemke, Thomas (Hg.): Science and technology studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Berlin: Suhrkamp 2017; Mol, Annemarie: »Krankheit tun«, in: Susanne Bauer/Torsten Heinemann/Thomas Lemke (Hg.), Science and technology studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 429-469; Haraway, Donna: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Susanne Bauer/Torsten Heinemann/Thomas Lemke (Hg.), Science and technology studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 369-428.
19 Prinz, Sophia: Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld: transcript 2013; Schäfer, Hilmar (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld: transcript 2016.
20 Schürkmann, Christiane: Kunst in Arbeit. Künstlerisches Arbeiten zwischen Praxis und Phänomen, Bielefeld: transcript 2017.
21 Acord, Sophia K.: »Beyond the Head. The Practical Work of Curating Contemporary Art«, in: Qualitative Sociology 33 (2010), S. 447-467; DeNora, Tia: Music in Everyday Life, Cambridge: Cambridge University Press 2009; Yaneva, Albena: »When a Bus Met a Museum. Following Artists Curators and Workers in Art Installation«, in: Museum & Society 1 (2003), S. 116-131.
22 Ruffing, Reiner: Bruno Latour, Paderborn: Fink 2009, S. 9. 23 Serres, Michel: Der Parasit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. 24 B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 282.
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ANT durch die Beschreibung dessen, »wie sich Handlungsketten, Institutionen, Fragestellungen, Problemkreise netzwerkartig ausdehnen und an welchen Punkten sie stehen bleiben oder sich zurückentwickeln«25 erfasst werden. Methodologisch gilt der Grundsatz: follow the actors, das heißt, sich frei von Vorannahmen auf das Geschehen einzulassen und den sich aufzeigenden Verästelungen der Netze zu folgen.26 Für die Kunstsoziologie wurde die ANT prominent durch die Musiksoziologie Antoine Hennions und Tia DeNoras fruchtbar gemacht. Hennions Untersuchungen bringen eine Vorstellung von Wahrnehmen zur Anwendung, die die Eigenschaften von Objekten als von Subjekten in spezifischen Situationen für ihre Wahrnehmung eingesetzt (deployed) denkt und damit als wesentlich abhängig von erworbenen Fähigkeiten, Sensibilitäten aber auch situationalen Bedingungen und Eigenschaften des Objektes. Ein Objekt wird hier definiert als »a reservoir of differences that can be brought into being«.27 In diesem Sinne wird es vom Handelnden ebenso geschaffen, wie es den Handelnden schafft: »There is co-formation. The ›object‹ […] is in itself a deployment, a response, an infinite reservoir of differences that can be apprehended and brought into being.«28 Kunsterfahrung wird damit als Aktivität gedacht, die darauf ausgerichtet ist, die Eigenschaften der Dinge in Erscheinung treten zu lassen.29 Hier wird eine starke, an klassische bildungsbürgerliche Ideale anschließende, fast schon kunstreligiös anmutende Stellung des Kunstwerks im Prozess der ästhetischen Erfahrung propagiert: Man überantwortet sich dem Werk, das Werk übernimmt »die Führung«.30 Tia DeNora fragt, wie Akteure ästhetische Objekte in ihrer Materialität für ihre soziale Praxis nutzen: »the meaning of the artistic object (be it physical, verbal, or aural) in interaction is driven by its materiality and cannot be detached from matters of matter.«31 In Verbindung von Ethnomethodologie, STS und ANT untersucht DeNora die historische Bedingtheit unserer Wirklichkeitserfahrung und unseres Handelns und fokussiert hierbei nicht primär sinnhafte Rahmungen, wie die Ethnomethodologie,32 sondern »namely situated, temporal and 25 B. Latour: Wir sind nie modern gewesen, S. 32. 26 Kneer, Georg/Schroer, Markus/Schüttpelz, Erhard (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 389.
27 Hennion, Antoine: »Those Things That Hold Us Together: Taste and Sociology«, in: Cultural Sociology 1 (2007), S. 97-114, hier S. 100-101.
28 Ebd., S. 101. 29 Ebd. 30 N. T. Zahner: Sinnlichkeit und Sinn. 31 Acord, Sophia K./DeNora, Tia: »Culture and the Arts: From Art Worlds to Arts-in-Action«, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science (2008), S. 223-237, hier S. 228.
32 Vgl. hierzu vom Lehn und Zahner in diesem Band.
Einleitung
collaborative forms of action or the drawing-together of people, meaning and things.«33 Materialitäten oder Objekten kommt hierbei nach DeNora keine Wirklichkeitsstatus jenseits ihrer Verwendung zu. Die in den Objekten angelegten Aufforderungsstrukturen (affordances) werden vielmehr in spezifischen Situationen aktualisiert und überarbeitet.34 Der Soziologie Tia DeNoras erwächst so eine ethisch-moralische Aufgabe35 in dem Sinne, als sie fragt, »how [music] can be used to regulate and structure social encounters«.36 Die Fokussierung auf die Beschreibung von Kräftekonstellationen und das Affiziert-Werden durch Objekte führt paradoxerweise dazu, dass die ANT einer »sinnlichen Wüste«37 gleicht, da sie sich wenig auf das tatsächliche Wahrnehmen, die Wahrnehmenden und die Körperlichkeit des Wahrnehmens konzentriert, sondern vor allem auf die Beschreibung von Netzwerkstrukturen und die Beschreibung von Praktiken des Kunstwahrnehmens. Zwar rückt die ANT in der Theorie die Objekte im Sinne der in ihnen angelegten Aufforderungsstrukturen in den Fokus der Betrachtung und betont fortwährend, dass Orten, Objekten und Praktiken keine fixe Identität jenseits ihrer Verwendung zukommt, allerdings bleiben die in der Tradition der ANT arbeitenden empirischen Studien eigenartig fragmentarisch.38 Sie können in ihrer Fokussierung auf Orte, Objekte und Praktiken als Figurationen letztlich nicht wirklich klären, wie die Beziehung und der Kontakt zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren konkret aussieht und wie dem Aufforderungscharakter der Dinge genau auf die Spur zu kommen ist. Sie bleiben so letztlich in ihrem Nachweis diffus, wie und wodurch Materialitäten, Praktiken und Dinge soziale Praxis vermitteln.39 Seit einigen Jahren gibt es auch in der Architekturgeschichte und -theorie ein verstärktes Interesse an den Dingen und Materialitäten der Architektur, das dezidiert durch Ansätze des neuen Materialismus geprägt ist. Zu Beginn des Jahrtau33 DeNora, Tia: Making Sense of Reality. Culture and Perception in Everyday Life, Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington, DC: Sage Publications 2014, S. 81.
34 Ebd., S. 93. 35 DeNora, Tia: Music Asylums. Wellbeing through Music in Everyday Life, Farnham, Surrey: Ashgate 2013, S. 124.
36 Ebd., S. 110. 37 Röhl, Tobias: Dinge des Wissens. Schulunterricht als sozio-materielle Praxis. Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 2012, Stuttgart: Lucius & Lucius 2013, S. x.
38 Yaneva, Albena: The Making of a Building. A Pragmatist Approach to Architecture, Oxford, Bern: P. Lang 2009; Hennion, Antoine: The Passion for Music. A Sociology of Mediation, Farnham: Ashgate 2015; T. DeNora: Music Asylums.
39 Gugutzer, Robert: »Leibliche Interaktion mit Dingen, Sachen und Halbdingen. Die Entgrenzung des Sozialen (nicht nur) im Sport«, in: Hanna K. Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld: transcript 2015, S. 105-122, hier S. 105107.
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sends konzentrierte sich die kritische Architekturgeschichtsschreibung, die an diskursanalytische, neomarxistische und gendertheoretische Ansätze anknüpfte, in erster Linie auf architektonische Diskurse. Der Begriff des Diskurses würde dabei dezidiert gegenüber dem kunsthistorisch geprägten Begriff des Stils in Stellung gebracht.40 Als definierend für architektonische Tendenzen erscheinen in dieser Perspektive nicht mehr Ähnlichkeiten und Kontinuitätslinien zwischen den architektonischen Objekten selbst, die durch Formensprache und Ästhetik entschlüsselt werden können und einer Zuordnung zu spezifischen Epochen dienen. Stattdessen wurde Architektur vor allem in Bezug auf Diskurse und in ihrer Verbindung mit politischen, ökonomischen und sozialen Machtkonstellationen interpretiert und analysiert.41 Ausgehend von einer grundlegend an gesellschaftlichen Prozessen orientieren Architekturgeschichtsschreibung und -kritik wird in der jüngeren Forschung auch die soziologische Hinwendung zum Materiellen interessiert rezipiert. Dabei werden vor allem Ansätze der STS, insbesondere die Schriften Bruno Latours zum Berliner Schlüssel und ähnlichen Artefakten aufgegriffen, die Dinge als materielles Bindeglied zwischen sozialen und technischen Prozessen beschreiben, das durch seine spezifische Ausgestaltung diese Prozesse aktiv beeinf lusst.42 Anwendung finden diese Übernahmen etwa in Bezug auf technische Elemente der Architektur, die somit breiter eingebettet werden können und jenseits einer reinen Technik- und Konstruktionsgeschichte bedeutsam werden.43 Auf der Ebene der Analyse ganzer Gebäude oder Gebäudekomplexe lässt sich nun das Entwerfen als Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen beteiligten Akteur*innen und Artefakten verstehen.44 Diese Ansätze bieten das Potential, die Diskursorientierung der Architekturgeschichtsschreibung ein 40 Williams Goldhagen, Sarah: »Something to Talk About. Modernism, Discourse, Style«, in: Journal of the Society of Architectural Historians 64 (2005), S. 144-176.
41 Ein Klassiker der Foucault-Rezeption ist etwa Rabinow, Paul, French Modern: Norms and Forms of the Social Environment, Cambridge, Mass. 1989. Zu den späteren Ansätzen, die Architekturtheorie und Diskursanalyse verbinden, vgl. etwa Martin, Reinhold: The Organizational Complex. Architecture, Media, and Corporate Space, Cambridge, Mass.: MIT Press 2003; Heynen, Hilde/Baydar, Gülsüm (Hg.): Negotiating Domesticity. Spatial Productions of Gender in Modern Architecture, London: Routledge 2005.
42 Vgl. etwa Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie Verlag 1996.
43 Vgl. etwa ARCH+ 191/192: Schwellenatlas (2009). 44 In der Soziologie etwa durch Gieryn, Thomas F.: »What Buildings Do«, in: Theory and Society 31 (2002), S. 35-74; Herberg, Jeremias: »Putting Architecture in its Social Space. The Fields and Skills of Planning Maastricht«, in: Anna-Lisa Müller/Werner Reichmann (Hg.), Architecture, Materiality and Society. Connecting Sociology of Architecture with Science and Technology Studies, London: Palgrave Macmillan 2015, S. 166-197. In der Architekturgeschichte vgl. Escher, Cornelia/ Förster, Kim: »Revisiting Görlitzer Park: Material Practices and the Postmodern Landscape«, in: Landscript (2017), S. 154-173.
Einleitung
Stück weit zu revidieren und soziale, ökonomische und politische Kontexte neu mit dem Gegenstand, der gebauten Architektur, zu verbinden. Tatsächlich lassen sich mit der Thematik der »Ökologie«, von der her Latour seinen Gestaltungsbegriff begründet,45 neue gesellschaftspolitische Anknüpfungspunkte für die Analyse von Architektur finden. So wird die Materialität der Architektur etwa in der Debatte um das Anthropozän zum Brennpunkt geopolitischer, naturgeschichtlicher und ökonomischer Prozesse und Konf likte.46 Mit der Perspektivierung auf Technik, Gesellschaft und nicht zuletzt dem Glauben an die aktive Wirkmacht des Materiellen replizieren die Anwendungen der STS-Ansätze jedoch vor allem ein modernes Architektur- und Designverständnis. Die ästhetischen und künstlerischen Dimensionen des Gebauten, sowie der jeweilige konzeptuelle Ansatz der Gestalter rücken in dieser Perspektive eher in den Hintergrund. Zwar ergänzt Latour seinen Gestaltungsbegriff um phänomenologische Dimensionen, um sich vom purifizierten und aufs Funktionale reduzierten Objekt- und Materiebegriff der Moderne abgrenzen.47 Wenn Gebäude als »technological artifacts, made material objects, and humanly constructed physical things«48 beschrieben werden, so dienen jedoch technologische Apparate und Settings als Modell. In der Konsequenz werden dann funktionale Aspekte sowie räumliche Organisationsformen des Sozialen, wie sie sich in der Ordnung des Grundrisses oder der formalen Beschaffenheit des Objekts in Bezug auf mögliche Nutzungen manifestieren, analysiert – beides Aspekte, die sich in der Architektur der Moderne in einem weiten Verständnis, also seit dem 19. Jahrhundert, herausgebildet haben.49 Hier wird auch deutlich, dass im Begriff des Artefakts nicht notwendigerweise eine differenzierte Ref lexion über das Materielle zur Anwendung kommt, in dem etwa zwischen Form und Materie oder diversen, 45 Vgl. Latour, Bruno: »Ein vorsichtiger Prometheus? Design im Zeitalter des Klimawandels«, in: Arch+ 196/197 (2010), S. 22-27; Latour, Bruno: »Modernisierung oder Ökologisierung? Das ist hier die Frage«, in: Arch+ 196/197 (2010), S. 12-21.
46 Vgl. etwa Weizman, Eyal: »Introduction: Forensis«, in: Eyal Weizman/Anselm Franke (Hg.), Forensis. The Architecture of Public Truth, Berlin: Sternberg Press 2014, S. 9-32. Vgl. auch Kim Förster, »NEST – A Grey Castle«, e-flux architecture, Positions (2020), im Erscheinen. Stärker als historische Materialgeschichten lesen sich Hutton, Jane: Reciprocal Landscapes. Stories of Material Movements, Milton Park, New York: Routledge 2019; Le Roux, Hannah: »Northern/ Cape: The Fibrils of an Asbestos History«, in: Perspecta 52 (2019), S. 258-262.
47 Hier bezieht sich Latour insbesondere auf Heidegger und Sloterdijk, vgl. Latour, Bruno: »Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern«, in: Critical Inquiry 30 (2004), S. 225-248, hier S. 232-234; B. Latour: Ein vorsichtiger Prometheus?, S. 25.
48 T. F. Gieryn: What Buildings Do, S. 41. 49 Vgl. Evans, Robin: Translations from Drawing to Building and Other Essays, London: Architectural Association 1997; Stalder, Laurent/Gleich, Moritz: »Introduction«, in: gta papers 1: Architecture/ Machine (2017).
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historisch spezifischen Positionen zu diesen Größen unterschieden würde. Vielmehr scheinen Architektur und Materialität oftmals als gleichbedeutend und austauschbar. Gerade Ästhetik und Sinnlichkeit werden in dieser Perspektive häufig ausgeklammert. Die Frage nach der Verortung der sinnlichen Erfahrung innerhalb einer grundlegend in das Soziale eingebetteten Architektur wird so letztlich mit der ANT nicht gelöst, da auch diese die materielle Komponente von Architektur in ihrer erlebten und wahrgenommenen Qualität am Ende nicht thematisiert.50 Durchaus bedenkenswerte Anregungen liefern demgegenüber jüngere architektursoziologische Ansätze. Die Architektursoziologie interessiert sich grundsätzlich für die »Relevanz der gebauten Umwelt für die Strukturierung des sozialen Handelns«51 und fokussierte insbesondere in Deutschland im Rahmen ihrer vermehrten Etablierung in den 2000er Jahren zunächst vor allem auf die Symbolsprache von Architektur und die »Lesbarkeit« eines Gebäudes.52 Typisch für den Zugang über die Lesbarkeit ist die Interpretation baulicher und materialer Elemente als Zeichen.53 Jüngere Ansätze sehen demgegenüber die Architektur als ein Feld an, auf dem die Soziologie sich von ihrer zu geringen Gewichtung des Materiellen lösen und Dinge und Architekturen nicht länger als passiv, als reine Projek-
50 Vgl. dazu etwa ARCH+ 191/192: Schwellenatlas (2009), insbesondere die Kurztexte zu den einzelnen Schwellenelementen der Architektur. In soziologischen Anwendungen steht vor allem die räumliche Anordnung und deren handlungssteuernde Wirkung der Architektur im Vordergrund, vgl. Reichmann, Werner/Müller, Anna-Lisa: »The Secrets of Architecture‘s Actions«, in: Anna-Lisa Müller/Werner Reichmann (Hg.), Architecture, Materiality and Society. Connecting Sociology of Architecture with Science and Technology Studies, London: Palgrave Macmillan 2015, S. 2-23; Stang Valand, Marianne/Susse, Georg: »Designing a Counter. The Constitutive Entanglement of the Social and the Material in Architectural Design«, in: Anna-Lisa Müller/Werner Reichmann (Hg.), Architecture, Materiality and Society. Connecting Sociology of Architecture with Science and Technology Studies, London: Palgrave Macmillan 2015, S. 24-47. Dagegen rückt Leuenberger die wahrgenommenen atmosphärischen Qualtitäten von Architektur in den Blick und ordnet diese dem Vorwissen der wahrnehmenden Akteure zu, vgl. Leuenberger, Theresia: »The Emergence of Architecture-Transformations. An Examination of Architecture Experience from the Perspective of the Sociology of Space and Actor-Network-Theory«, in: Anna-Lisa Müller/Werner Reichmann (Hg.), Architecture, Materiality and Society. Connecting Sociology of Architecture with Science and Technology Studies, London: Palgrave Macmillan 2015, S. 6998. Allerdings bleibt diese Analyse wiederum auf die Dimension des Wahrnehmens von Architektur beschränkt.
51 Schäfers, Bernhard: »Architektursoziologie«, in: Georg Kneer (Hg.), Handbuch spezielle Soziologien, Wiesbaden: Springer VS 2010, S. 37-49, hier S. 37.
52 Im angelsächsischen Sprachraum wurde das Theorieangebot der STS hier schon früher aufgegriffen, vgl. T. F. Gieryn: What Buildings Do.
53 B. Schäfers: Architektursoziologie, S. 41.
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tionsf läche konzipieren kann.54 Dabei verbinden sie den Blick auf atmosphärische und leiblich wahrgenommene Qualitäten der Architektur mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem räumlichem Handeln und der gebauten Struktur. In Anknüpfung an Peter Berger und Thomas Luckmann55 zielt Silke Steets darauf, deren Begriff der Objektivationen für materielle Gegenstände fruchtbar zu machen und das postmoderne Paradigma der Zeichenhaftigkeit von Architektur, das sie von Denise Scott Brown und Robert Venturi herleitet, mit dem Blick auf den Umgang mit den Dingen zu verbinden. Sie hält fest, dass Gebäude »durch ihre Raumorganisation, ihre Gestaltung und die sie umhüllenden Atmosphären« auf menschliche Handlungsweisen einwirken können. 56 Eine über Materialität oder Form generierte kontextunabhängige Wirkmacht schreibt sie diesen allerdings nicht zu. An dieser Stelle bleibt der Ansatz letztlich stark dem Sozialkonstruktivismus verhaftet und reaktiviert zudem eine dezidiert postmoderne architektonische Position, die sich aus architekturhistorischer Perspektive geradezu als manifesthafte Opposition zu einer materialitätsbezogenen Architektur begreifen lässt. Für Erkenntnisse und Einordnungen aus dem Bereich der Architekturgeschichte und -theorie ist die Analyse damit weitestgehend blind. Im Unterschied hierzu fokussiert die phänomenologisch und philosophisch-anthropologischen orientierte Architektursoziologie von Heike Delitz, die auch stärker an die architektonische Debatte angebunden erscheint, vor allem auf die Interaktion mit dem gebauten Raum. So zeigt Delitz im Rahmen ihrer Untersuchung, dass die Verbindung von Material und Bedeutung, von Sinn und Sinnlichkeit eben nicht beliebig ist, sondern der Bedeutungsgehalt eines Stoffes auch durch dessen konkrete physikalische Eigenschaften geprägt ist.57 Damit knüpft sie an theoretische Positionen der Architektur und Gestaltung an, die insbesondere seit dem 19. Jahrhundert Form, Konstruktion und Ausdruck als eng miteinander verknüpft ansehen und davon ausgehen, dass jene nicht jenseits des Stoffes, aus dem sie gemacht sind, erdacht, geplant und erzeugt werden können. In Anschluss an Henri Bergson und Gilles Deleuze nimmt sie die »Dinge als Elemente des Sozialen«58 wahr und spricht den Dinge und den Artefakten den gleichen Realitätsstatus wie dem Denken zu: Handeln, Intentionen, Affekte und Artefakte liegen demnach auf einer Ebene des sozialen Seins. Im Rahmen von »Gefüge- und Gestaltanaly54 Delitz, Heike: Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen. Zugl.: Dresden, Techn. Univ., Diss., 2009, Frankfurt am Main: Campus 2010, S. 39; Steets, Silke: Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt. Eine Architektursoziologie, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 8-9.
55 Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main: S. Fischer 1977.
56 S. Steets: Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt, S. 204-205. 57 Delitz, Heike: Architektursoziologie, Bielefeld: transcript 2009, S. 85-86. 58 H. Delitz: Gebaute Gesellschaft, S. 31.
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sen« sucht sie hieran anschließend zu zeigen, inwieweit das Soziale erst durch das Gebaute Realitätscharakter erhält. In diesem Sinne erweisen sich ihre Überlegungen über die Wirksamkeit von Architektur auch als ästhetischer Entwurf eines Gesellschaftlichen, der körperlich und sinnlich erfahren werden kann und darin transformierende Kraft entfaltet.59 Allerdings gilt es hier zu fragen, welche »Gesellschaft« man jeweils in den Blick bekommt, wenn man Bauten als Verkörperung des Gesellschaftlich-Geschichtlichen analysiert. Architekturen werden dann allzu schnell aus einer Perspektive heraus wahrgenommen, gesellschaftliche Differenzierungen, die Situiertheit des Wahrnehmens und soziale Konf likte geraten so aber tendenziell aus dem Blick.60 Auch die Architektursoziologie von Delitz verbleibt so letztlich im allzu Abstrakten, ihr gelingt es nicht, die Begegnungen mit dem Materiellen im Konkreten in den Blick zu nehmen.
2. M aterialistischer Essentialismus und die Situiertheit des Begegnens In der aktuellen Annäherung an Architektur, Kunst und technische Dinglichkeit ist insbesondere in der Soziologie eine Dominanz verschiedener Formen phänomenologischer oder über die ANT an den Pragmatismus anschließender Positionen zu beobachten, die auf die subjektive alltagsweltliche Erfahrung der Akteur*innen in Begegnung mit Kunst, Architektur oder Technik fokussieren.61 Dabei darf jedoch nicht in Vergessenheit geraten, dass die phänomenologische und pragmatistische Aufwertung der Alltagswelt dazu neigt, soziale Differenzierungen und Machtstrukturen zu ignorieren.62 Vor diesem Hintergrund gilt es auch, Vorbehalte gegenüber einigen aktuell vertretenen Positionen zum Materiellen zu unterstreichen, die Gefahr laufen, eine Verabsolutierung von Sinnlichkeit und Materialität zu betreiben. In diesen Positionen situiert sich eine quasi inhärente Wirksamkeit des Materiellen, die sich, wie im Performativitätsdiskurs um 2000 angelegt, prozessual generiert. 59 Delitz, Heike: »Architektur, Artefakt, Kreativität. Herausforderungen soziologischer Theorie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungsband des 33. Kongresses der DGS, Frankfurt am Main: Campus 2008, S. 5827-5836.
60 Schmidt-Lux, Thomas: »Architektursoziologie«, in: Soziologische Revue 35 (2012), S. 63-69, hier S. 66.
61 Hennion, Antoine: »Music Lovers. Taste as Performance«, in: Theory, Culture & Society 18 (2001), S. 1-22; T. DeNora: Music Asylums; Christiane Schürkmann: Kunst in Arbeit. Künstlerisches Arbeiten zwischen Praxis und Phänomen, Bielefeld: transcript 2017; Christiane Schürkmann: »Über das Sichtbare hinaus. Eine Soziologie künstlerischer Praxis«, in: Zeitschrift für Soziologie 47 (2019), S. 438-453.
62 Vgl. der Beitrag von Zahner in diesem Band und N. T. Zahner: Sinnlichkeit und Sinn.
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Sinn- und Bedeutungsfragen, Ref lexion und Konzeptualität, Unterscheiden und Benennen werden zugunsten einer unmittelbaren Wirksamkeit von Sinnlichkeit und Materialität abgewertet. So sehen Kritiker*innen bspw. im gegenwärtig vor allem im Kunstdiskurs äußerst prominenten Agentiellen Realismus der Physikerin und Wissenschaftstheoretikerin Karen Barad an verschiedenen Stellen Vorstellungen von einer Materialität per se aufscheinen, einer primären Bedeutung von Materie und Materialität.63 Auch in der Object Orientied Ontology von Timothy Morton wird die Materialität massiv gegen das Geistige aufgewertet.64 Die materielle Kultur wird hier als tendenziell unentzifferbar vorgestellt: »Von den Dingen geht etwas Unheimliches aus […]. Die Gegenwart der Dinge geht weit über das Sagbare hinaus.«65 Hier findet eine gewisse Re-Ontologisierung des Denkens statt, die eine massive Mystifizierung des Materiellen, des Dinglichen und des Sinnlichen betreibt.66 Aber auch weniger problematische Ansätze des neuen Materialismus offenbaren Blindstellen. Wenn die ANT Fragen nach Macht und Herrschaft tendenziell zugunsten der Rekonstruktion eines Verknüpfungsgef lechts bzw. die NeoPhänomenologie zugunsten der Rekonstruktion von sinnlichen Erfahrungen aufgeben,67 geraten die unhinterfragten und unbewusst anerkannten, »geerbten« historischen Annahmen aus dem Blick: die Macht des familiär, pädagogisch, wirtschaftlich, kulturell, politisch, religiös usw. Überlieferten, das unser Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln steuert und beschränkt. Indem das Interesse an eben diesen Rahmenbedingungen des Handelns verloren geht, werden die Akteure – ganz in Einklang mit der Ideologie des Individualismus – zur allein verantwortlichen Instanz ihres Lebens und Erlebens erklärt.68 Soziale Konf likte 63 Jasbir Puar etwa verweist darauf, dass der Versuch, den linguistic turn zu überwinden hier in einem »ontologische[n] Essentialismus oder materialistische[n] Essentialismus« mündet, vgl. Puar, Jasbir K.: »I would rather be a cyborg than a goddess. Becoming-Intersectional in Assemblage Theory«, in: philoSOPHIA: A Journal of Continental Feminism 2 (2012), S. 49-66, hier S. 64-65.
64 Morton, Timothy: »Poisoned Ground«, in: symbloke 21 (2013), S. 37-50, hier S. 38. 65 Hahn, Hans P.: »Das Wuchern der Dinge. Über Sachuniversen und die vergessenen Teile unseres Sachbesitzes«, in: Hanna K. Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld: transcript 2015, S. 62-78, hier S. 66.
66 N. T. Zahner/C. Schürkmann: Einleitung. 67 Loheit, Jan: »Ein abgründiges Theorieangebot. Oliver Marcharts Latour-Rezeption«, in: Das Argument 313 (2015), S. 338-350, hier S. 339.
68 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986; Nassehi, Armin: »Vom Ende der zweiwertigen Soziologie zu einer operativen Theorie der Gesellschaft. Zu Walther Bühl: ›Das Ende der zweiwertigen Soziologie. Zur logischen Struktur der soziologischen Wandlungstheorien‹, Soziale Welt 20, 2 (1969)«, in: Norman Braun/Julian Müller/Armin Nassehi et al. (Hg.), Begriffe – Positionen – Debatten. Eine Relektüre von 65 Jahren Soziale Welt, Baden-Baden: Nomos-Verl. 2014, S. 99-107.
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werden so enthistorisiert und dem analytischen Zugriff entzogen. Diesen Tendenzen gilt es mit dem Verweis auf die Situiertheit des Handelns entgegenzutreten. An dieser Stelle kann es nützlich sein, sich auf Ansätze zu fokussieren, die Materialität auch als Ausdruck einer sozialen Ordnung denken. Hier setzen die klassischen Feministischen STS an. Diesen geht es vor allem darum, in der Betrachtung von Materialität die historische Hergestelltheit menschlicher und nicht-menschlicher Akteur*innen nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern das Forschungsbemühen gerade auf die historische Rekonstruktion der Bedingungen sozialer Praxis in konkreten Situationen zu legen. Sie verfolgen hierbei einen Ansatz, der in der Fokussierung auf Sozio-Materialität über die klassische Kritische Soziologie in der Tradition Bourdieus deutlich hinausgeht. Bourdieu, dessen Analysen zu architektonischen und räumlichen Themen auch in der Architekturtheorie rezipiert wurden,69 sucht in seinen feldanalytischen Studien zu zeigen, dass unsere als selbstverständlich angenommene Realität Ergebnis historischer Auseinandersetzungen um die Durchsetzung spezifischer Weltsichten ist, die in der Praxis fortwährend aktiviert werden. Im Handeln werden demnach immer »zwei Zustände der Geschichte miteinander in Verbindung [ge]setzt: die Geschichte im objektivierten Zustand, d.h. die im Lauf der Zeit in den Dingen (Maschinen, Gebäuden, Monumenten, Büchern, Theorien, Sitten, dem Recht, der Sprache usf.) akkumulierte Geschichte und die Geschichte im inkorporierten Zustand, die Habitus gewordene Geschichte.«70 Dieser doppelte Prozess der Reproduktion von Geschichte durch die Instituierung in die Dinge und die Inkorporation in die Körper hat die Funktion, alternative Möglichkeiten von Wirklichkeit unsichtbar zu halten.71 Sprache, Dinge, Gebäude, Traditionen, Körper etc. stellen so für Bourdieu vor allem Instrumente zur Reproduktion sozialer Macht dar, die die sozialen Herrschaftsverhältnisse reibungslos perpetuieren. Da sie auf der Ebene des Sinnlichen wirken, sieht sie Bourdieu einer Ref lexion kaum zugänglich.72 Damit ist dem Theorieangebot Bourdieus ein grundsätzliches
69 Vgl. etwa Bourdieu, Pierre: »Sozialer Raum, symbolischer Raum (1989)«, in: Susanne Hauser/ Christa Kamleithner/Roland Meyer (Hg.), Architekturwissen – Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes, Bielefeld: transcript 2011, S. 304-315; Bourdieu, Pierre: »Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum (1991)«, in: Susanne Hauser/Christa Kamleithner/Roland Meyer (Hg.), Architekturwissen – Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes, Bielefeld: transcript 2013.
70 Bourdieu, Pierre: »Der Tote packt den Lebenden«, in: ders.: Der Tote packt den Lebenden, Hamburg: VSA-Verl. 2011, S. 17-54, hier S. 26.
71 Ebd., S. 48. 72 Marcoulatos, Iordanis: »Merleau-Ponty and Bourdieu on Embodied Significance«, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 31 (2001), S. 4-27, hier S. 2-4.
Einleitung
Misstrauen gegenüber dem Sinnlichen eingeschrieben,73 das im Lichte aktueller Debatten zurecht infrage gestellt wird.74 Zwar fragen auch die Feministischen STS, wie Realitäten sinnlich-performativ hervorgebracht werden, allerdings tritt das Materielle hier als ein aus Relationen Zusammengesetztes in Erscheinung, das je nachdem, welche Perspektive der Betrachter einnimmt, als etwas Anderes sichtbar und wirksam wird: »Technowissenschaften und Technoscience Studies vermitteln […] die Erkenntnis, dass es nichts All-Menschliches, keine All-Maschine, All-Natur, All-Kultur gibt. […] Es gibt nur spezifische Welten, und diese sind unwiderruf lich tropisch und kontingent.«75 Diese ökofeministischen Positionen gehen zwar ähnlich der sozialkonstruktivistischen, postmodernen und poststrukturalistischen Erkenntniskritik von der Situiertheit jeglichen Wissens aus,76 stellen hierbei jedoch deutlich stärker als diese auf die Untersuchung der Sozio-Materiellen Bedingtheit von Wissen ab. Statt essentielle Wesenheiten zu bestimmen – wie dies teilweise im Neuen Materialismus erfolgt – wird so eine Ref lexion über Erkenntnisstrategien und -perspektiven angestoßen. Was als Wissen gelten kann, wird so zu einer ethischen und politischen Frage. Im Folgenden möchten wir eine Position stark machen, nach der Materialität oder Sinnlichkeit alleine keine Bedeutung generieren kann. Zwar gestalten, beschränken und beeinf lussen materielle oder körperliche Dispositionen und Eigenschaften, wie Dinge, Objekte oder Körper im Rahmen sozialer Interaktionen von einem Stück Zeug in ein soziales Objekt transformiert werden und haben insofern daran teil, wie Sinn generiert wird und Herstellungs- und Nutzungsformen entstehen. Zugleich kann die physisch vorhandene Welt aber nicht als objektiver Wahrnehmungsgegenstand gedacht werden, Sinnesempfindungen können vielmehr nicht von Prozessen des Erfahrens, Deutens und Wissens getrennt betrachtet werden. Eine Historisierung von Materialitätskonzepten und Diskursen und die Verortung unterschiedlicher Akteur*innen in Bezug auf diese erscheint aus dieser Perspektive ebenso zentral, wie die Betrachtung und Analyse von Dingen und Wahrnehmungen in ihrer Interaktion mit dem Sozialen. Denn 73 Zahner, Nina T.: »Das Publikum als Ort der Auseinandersetzung um legitime Formen des Kunstund Weltwahrnehmens«, in: Christiane Schürkmann/Nina T. Zahner (Hg.), Wahrnehmen als Soziale Praxis, Wiesbaden: Springer 2020 (im Erscheinen).
74 Rancière, Jacques: Wider den akademischen Marxismus, Berlin: Merve-Verlag 1975, S. 29; Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen-Verl. 2009.
75 Haraway, Donna: »Das Abnehmespiel. Ein Spiel mit Fäden für Wissenschaft, Kultur und Femininismus«, in: dies.: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft, Hamburg: Argument-Verl. 1995, hier S. 142.
76 Weber, Jutta: »Feministische STS. Einführung«, in: Susanne Bauer/Torsten Heinemann/Thomas Lemke (Hg.), Science and technology studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 339-369, hier S. 344-345.
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auch die sinnliche Wahrnehmung wird auf Basis individueller, historischer und soziokultureller Bedingungen prozessförmig konstituiert: »Etwas Auffindbares wird also zugleich erfunden, das ist die Merkwürdigkeit.«77 Wirklichkeit konstituiert sich demnach über materielle und immaterielle Rahmungen, Wahrnehmen und Wissen bedingen sich wechselseitig, man gelangt wahrnehmend zu Wissen und vermag zugleich nur das wahrzunehmen, was man weiß. Es ist demnach die Begegnung von Wissen und Wahrnehmung, von Sinn und Sinnlichkeit, von Form und Material, von Konzepten und Praktiken in der sich Wirklichkeit konstituiert. In der Wechselwirkung von Materiellem und Immateriellem wird Wirklichkeit performativ generiert. Eben dieser Fokus liegt dem vorliegenden Band zugrunde: Er fragt, wie Menschen dem Materiellen in Prozessen der Gestaltung, Nutzung und Deutung konkret begegnen. Er unternimmt dies in einer interdisziplinären Ausrichtung und sucht so zugleich auszuloten, wie Soziologie und Architekturgeschichte diese Begegnungen jeweils durch das ihnen eigene Wahrnehmen rahmen und inwieweit sie sich hier befruchten können. Für die Architekturgeschichte bietet sich durch den Austausch mit soziologischen Ansätzen ein spezifisches neues Potential: Sie kann einen neuen Blick auf ihren materiellen Gegenstand werfen, ohne dabei die Ref lektion des konzeptuellen und diskursiven aufzugeben; sie kann die Verbindung von ästhetischen und gesellschaftlichen Dimensionen neu knüpfen. Die Soziologie kann durch die Integration von Analysen der Kunst-, Architekturund Designgeschichte das eigene Wahrnehmen, die eigene Rahmung durch die Einbeziehung von Fragen nach der Gemachtheit der Objekte ergänzen, nach den ihnen eingeschriebenen Rahmungen und Selbstverständlichkeiten. Der rege Austausch dieser Formen des Wahrnehmens kann zu einem differenzierteren Blick auf die Wirklichkeit führen und damit zu einem differenzierteren Wissen. Der vorliegende Band gliedert sich entsprechend dieser Potentiale in drei Teile, die disziplinübergreifend bespielt werden. In einem ersten Teil wird die Rolle von Materialitäten und Artefakten in kreativen Prozessen diskutiert, anschließend werden in einem zweiten Teil die materiellen Bedeutungskonstitutionen des Ausstellens und Erinnerns untersucht und in einem dritten und letzten Teil das Materielle in Mensch-Technik Erfahrungen thematisiert. Im ersten Teil »Schaffensprozesse: Kreative Materialitäten und Artefakte« gehen die Beiträge der Frage nach, welche Rolle Artefakte und Materialien innerhalb künstlerischer Schaffensprozesse einnehmen. Gibt es so etwas wie eine aktive Rolle des Materials und wie wird diese begriffen? Wie verhält sich Materialität zu konzeptuellen, diskursiven oder immateriellen Komponenten des Entwerfens und Schaffens? Und wie sind diese mit konzeptionellen, historisch spezifischen 77 Schürmann, Eva: Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 57.
Einleitung
Haltungen der Akteur*innen verknüpft? Gabrielle Schaad zeigt in ihrer Analyse der Tokio-Biennale von 1970 die Bandbreite neo-avantgardistischer Positionen in Japan. Hier stand die Tendenz einer mit Technik und Informationstheorie verknüpften Entmaterialisierung der Kunst einer phänomenologisch begriffenen Materialität entgegen. Die Konfrontation mit dem Materiellen in der Kunst speiste sich zunächst, so Schaad, möglicherweise aus einer kriegsbedingten Erfahrung von materieller Zerstörung. Zum Ende der 1960er Jahre verschoben Künstler*innen dann in der Abwehr technologischer Diskurse den »Schauplatz der Bedeutungskonstruktion durch Materialien auf das intersubjektive Zusammenspiel zwischen Stoff lichkeiten und Menschen im Prozess der Wahrnehmung«. Christiane Schürkmann macht in ihrem Beitrag geltend, dass die Vorstellung einer aktiven Materialität in der Gegenwartskunst auch angesichts der Digitalisierung eine anhaltend große Rolle spielt. In ihrer soziologisch-phänomenologischen Analyse künstlerischer Schaffensprozesse verdeutlicht sie, dass und wie konzeptionelle Dimensionen von Materialien sowie die Ref lexion ihrer künstlerischen Bearbeitung konstitutiv für den Sinn des Kunstwerks sein können. Sie zeichnet dabei konkret nach, wie hier Fund-Sammelstücke transformiert und »rekontextualisiert« werden, andere Materialien in ihrer Eigenwüchsigkeit aktiviert oder in ihrer Widerständigkeit im Zusammenspiel mit Körpern dargestellt werden. Eva Maria Froschauer stellt anhand der »Entwurfsdinge« Jože Plečniks dar, welche Rolle Artefakte in Entwurfsprozessen besitzen. Ausgehend vom Hiša Plečnik, dem ehemaligen und heute musealisierten Wohnhaus des Architekten, lenkt sie den Blick auf die Artefakte in Plečniks Umgebung ebenso wie auf dessen Auseinandersetzung mit vorgefundenen Strukturen und Objekten. Jenseits von Faktoren wie der Biografie, der Ausbildung oder etwa verbalisierten Haltungen und konzeptuellen Skizzen tritt so ein dinglicher Kosmos in Erscheinung, der unmittelbar in Schaffensprozesse einf ließt. Demgegenüber verfolgt Ralf Liptau in einer Art Diskursgeschichte des Materiellen das Material Plastilin und seine Verwendung für das Herstellen architektonischer Modelle. Er zeigt dabei auf, dass die Vorstellung von einem »Denken« mit plastischen Materialien weit vor ähnlichen Argumentationen in der modernen Architekturdebatte von der Pädagogik und von den Materialherstellern geprägt wurden. Von hier ausgehend geht er Wiederklängen in den aktuellen Positionen der Theorie, die von einer Eigenmächtigkeit des Materiellen ausgehen, nach. Der zweite Teil des Bandes »Materielle Bedeutungskonstitution: Ausstellen und Erinnern« fragt nach der Rolle der Materialität und Dinglichkeit in Verhandlungen über deren Deutung. Wie wird Bedeutung in kulturellen Gegenständen angelegt? Wie ist sie abruf bar? Wie wird Potentialität und Intention in der Rezeption verbunden? Welche Wirkung kommt hierbei den Dingen und den Materialitäten zu, welche der Sprache, der Vermittlung und Prozessen der Sinngenerierung und Deutung? In welchem Verhältnis stehen ästhetische und intellektuelle
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Cornelia Escher und Nina Tessa Zahner
Erfahrung? Cornelia Escher zeigt anhand der Ausstellung MAN transFORMS (1976) konkurrierende Annahmen der Protagonist*innen, wie Objekte und Inszenierungen wirken. Es wird dargestellt, wie die an der Konzeption und Gestaltung der Ausstellung Beteiligten ihr spezifisches Theorie- und Praxiswissen in die Ausstellung einbringen und wie hierbei inhärente Spannungen einer postmodernen Materialität des Ausstellens deutlich werden: auf der einen Seite werden die Objekte als sprachmächtige und lesbare Bedeutungsträger interpretiert, auf der anderen wird die emotionale und handlungspraktische Wirkmächtigkeit der Dinge jenseits der Sprache betont. Aus der Erhebung des Publikumsechos wird darüber hinaus deutlich, dass und wie für die Besucher*innen auch die gemeinsame Erfahrung des Ortes eine entscheidende Rolle spielte. Hanna Katharina Göbel beschreibt am Beispiel des Café Moskau, das 1961-64 im Osten Berlins erbaut und in den 1980er Jahren umgestaltet wurde, die Praxis von Rundgängen durch das Gebäude als ein Herstellen von Atmosphären durch Gestik und Sprache. Gegenüber dem denkmalpf legerischen Anspruch, der unterschiedliche Zeitschichten als relevant herausstellt, findet hier eine selektive Anknüpfung an bevorzugte Schichten des kulturellen Gedächtnisses statt, die eine nostalgisch geprägte Rekonstruktion gegenüber komplexeren Vorstellungen des Erinnerns bevorzugt und durchsetzen hilft. Dirk vom Lehn beschreibt in seinem Beitrag, wie die Bedeutung von Kunstwerken im Rahmen von Ausstellungen durch die körperliche (Ko)Präsenz von Rezipienten und die materielle Ausgestaltung der Ausstellungsumgebung in sozialen Interaktionen erschaffen wird. Die Bedeutung des Kunstwerks wird dabei durch eine Reihe von Handlungen und Positionierungen im Ausstellungsraum etabliert. Gegenüber dem Boudieuschen Fokus auf die soziale Rahmung des Wahrnehmens gerät hier der Prozess der aktiven Bedeutungskonstitution durch die Rezipienten in den Blick, ohne sich auf eine visuelle, technisch messbare Blickanalyse zu beschränken. Nina Tessa Zahner stellt in ihrem Beitrag dar, wie die Rezeption von Kunstausstellungen in der Gegenwart neu konzipiert werden kann. Dabei skizziert sie mit dem Go-AlongInterview eine Forschungsperspektive, die auf die soziale, materielle und sinnliche Konstitution von Bedeutung am Objekt und im konkreten Ausstellungsraum eingeht. Sie plädiert hier für den Rückbezug von Kunstwahrnehmungsprozessen auf historisch-biografisch ausgebildete Relevanzen anstelle sozialer Schichtung. Der dritte und letzte Teil des Bandes fokussiert unter dem Titel »MenschTechnik Erfahrungen« auf Situationen, die eine enge Kooperation von Menschen, (Sozio-)Technik und räumlicher Ordnung voraussetzen. Hier wird untersucht, inwieweit Artefakte und Techniken in diesen Kooperationen eine aktive Rolle übernehmen und wie sie körperlich und sinnlich erfahren werden. Entstehen in der Interaktion Formen des Wissens, die in räumlichen Konstellationen, Artefakten und Praktiken aufgehoben sind und auf welche Weise werden sie sprachlich artikuliert oder analytisch verhandelt? Gregor Harbusch zeigt an den spätmoder-
Einleitung
nen Entwurfszeichnungen Ludwig Leos, wie eng der Architekt die entworfenen Räume und deren Ausstattung mit den Handlungsweisen der Nutzer verbindet. In seinen Entwürfen sind Raumgestaltung, technisches Equipment, Möblierung und menschliche Akteure bisweilen so dicht verzahnt, dass sie ein kooperatives Ensemble zu bilden scheinen. Die von Leo gestalteten Ausstattungsgegenstände, die originell und spezifisch erscheinen und doch eine gewisse Offenheit bewahren, nehmen einen engen Bezug auf menschliche Nutzungsweisen und Körpermaße und thematisieren die Frage nach dem Angebotscharakter der Gegenstände. Mit der Materialität digitaler Entwurfsprozesse in der Architektur beschäftigen sich Alina Wandelt und Thomas Schmidt-Lux. Unter Rückgriff auf Interviews mit Architekt*innen analysieren sie, als wie f lexibel diese verschiedene Entwurfswerkzeuge wahrnehmen. Hierbei wird deutlich, dass durch die Einführung digitaler Hilfsmittel zwar architektonische Entwürfe leichter modifiziert werden können, jedoch in bestimmter Hinsicht zugleich eine zeitlich frühere Festlegung im Entwurfsprozess erfolgen muss. Digitale Entwurfstools disziplinieren so den Entwurfsprozess zu einem sehr frühen Zeitpunkt, während sich die Handzeichnung als deutlich f lexibler erweist. Im Beitrag von Andreas Bischof wird deutlich, von welchen Asymmetrien bzw. Divergenzen die Interaktion von Menschen und Robotern geprägt ist. Er zeigt auf, wie Roboter durch anthropomorphisierende Inszenierungen erst in soziale Wesen verwandelt, wie er sagt, zu diesen »bezaubert« werden. Damit werden sie in einen Zustand versetzt, leiblich zu affizieren und machen so die Grenze zwischen Mensch und Maschine leiblich erfahrbar. Diese Aspekte werden von Entwickler*innen vorwiegend zu Image- und Werbezwecken genutzt, aus den Designs ihrer wissenschaftlichen Studien jedoch ausgeklammert, so dass ein wesentlicher Aspekt der Interaktion unref lektiert und in seinen Potentialen ungenutzt bleibt. Ronja Trischler analysiert in ihrem Beitrag den Prozess der Postproduktion visueller Effekte. Im Sichten, das in einer spezifischen räumlichen Situation stattfindet, entsteht eine körperliche Form des Wissens, die als Schulung der Sinnlichkeit innerhalb der sozialen und technischen Praktiken wertschätzende Akteur*innen (= Expert*innen) erzeugt und als Körpertechnik abruf bar bleibt. Dabei werden die prinzipiell veränderlichen digitalen Filmsequenzen in der Situation des Sichtens für einen Moment bewusst stillgestellt, um sie als Gegebenes kritisch betrachten zu können.
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1. Schaffensprozesse Kreative Materialitäten und Artefakte
Between Man and Matter Eine situierende Relektüre der Tokio-Biennale 1970 Gabrielle Schaad
Im Frühjahr 1970 eröffnete das Tokyo Metropolitan Art Museum die Tokio-Biennale Between Man and Matter. Gleichzeitig strömten Besucher*innen in die Agglomeration vor Osaka um die erste Weltausstellung in Asien, die Expo ’70, unter dem Motto Progress and Harmony for Mankind zu erkunden. Welche Aspekte einer Beziehung zwischen Menschen und Material nahmen die damals in Tokio vorgestellten Arbeiten zum Ausgangspunkt? Und wie lassen sich die anlässlich der zehnten Tokio-Biennale gezeigten Arbeiten im Kontext anderer, früherer und zeitgleich ausgestellter Arbeiten verorten und deuten? Die folgende Betrachtung lokalisiert die Tokio-Biennale 1970 an einer Scharnierstelle: Nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, in der sogenannten »langen Nachkriegszeit«1, loteten neo-avantgardistische Künstler*innen-Gruppen aus, wie Kunst innerhalb und jenseits bildlicher Darstellungs- und Präsentationsmodi die Realität und deren physische Stoff lichkeit zu ref lektieren vermag. Darüber entspann sich bis in die 1950er Jahre hinein die sogenannte »Realitätsdebatte«, die zunächst insbesondere das Medium der Malerei betraf.2 Nachdem sich Japan in den Boom-Jahren des Wirtschaftswachstums (1955-1965) zu einer der weltweit stärksten Konsumgesellschaften gewandelt hatte, sahen sich Künstler*innen mit einer veränderten Ausgangslage konfrontiert. Die neue Materialkultur, ein erwachendes ökologisches Bewusstsein, aber auch die Semiotisierung von Materialien, d.h. unter anderem deren Übersetzung in Daten, belebte im Rahmen der Kunst körperliche Auseinandersetzungen mit gewachsenen, bearbeiteten und neuen synthetischen Stoffen. Wie der Titel der Tokio-Bien1 Gluck, Carol: »The past in the present«, in: Andrew Gordon (Hg.), Postwar Japan as History, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1993, S. 64-98, S. 66.
2 Mitsuda, Yuri: »The Realism Debate, 1946-1950«, in: Doryun Chon/Michio Hayashi/Kenji Kajiya/ Fumihiko Sumitomo (Hg.), From Postwar to Postmodern. Art in Japan 1945-1989 (Primary documents), New York: Museum of Modern Art 2012, S. 49.
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nale 1970 suggeriert, problematisierte die in diesem Rahmen gezeigte Kunst das Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur sowie die Rolle des Menschen darin. Bislang wurde die Ausstellung insbesondere unter dem Aspekt einer zunehmenden Internationalisierung lokaler Kunstszenen in den 1960er Jahren bzw. der »Biennalisierung«3 untersucht.4 Obwohl dieser Essay die Tokio-Biennale in der transnationalen Ausstellungsgeschichte des 20. Jahrhunderts verortet und damit Kontinuitäten oder inhaltliche Dialoge zwischen Kuratoren- oder Künstlerpersönlichkeiten antippt, widme ich mich im Folgenden den Kontexten von ausgewählten künstlerischen Arbeiten im Rahmen der Tokio-Biennale 1970, die ich im Weiteren als exemplarisch diskutieren werde.
1. Materialisierung der Kontaktzone Nähern wir uns der Tokio-Biennale 1970 Between Man and Matter5 (Ningen to busshitsu) retrospektiv über den zweibändigen Ausstellungskatalog, materialisiert das Cover von Band eins zunächst einen Begegnungsort und übersetzt das Anliegen der Ausstellung in ein visuelles Format (Abb. 01). Es zeigt mehrfach überlagerte Reifen-, Raupenfahrzeug- und Fussspuren im Erdreich eines durch Kranfahrzeuge am oberen Bildrand als Bau- oder Lagerplatz auszumachenden Terrains. Die bodennah gewählte Perspektive resultiert nicht nur in einem vertikalen Bildauf bau, der Vorder-, Mittel- und Hintergrund f liessend ineinander übergehen lässt. Sie holt den tastenden Blick der Betrachter*innen möglichst nah an die körnige Textur der schlammig wirkenden Bodenf läche heran. Während das Katalog-Cover seinen Betrachter*innen einen durchweicht erscheinenden Geröllboden in die Hand legt, distanzieren die darauf eingeprägten Spuren menschlicher Begegnung mit dem Untergrund als Fluchtlinien zu den unscharf erkennbaren Kranauf bauten am oberen Bildrand zugleich die Unmittelbarkeit der Situation. Für die Gestaltung der Ephemera, die die Ausstellung bewarben, zeichnete der Fotograf Takuma Nakahira (1938-2015) verantwortlich. Obwohl Nakahira durch das Medium Fotografie die unmittelbare Begegnung zwischen Mensch 3 Filipovic, Elena/van Hal, Marieke/Øvstebø, Solveig: The Biennial Reader. An Anthology on LargeScale Perennial Exhibitions of Contemporary Art, Ostfildern: Hatje Cantz 2010.
4 Tomii, Reiko: »Toward Tokyo Biennale 1970: Shapes of the ›International‹ in the Age of International Contemporaneity«, in: Midori Yoshimoto (Hg.), Expo ’70 and Japanese Art: Dissonant Voices (Jôsai University Review of Japanese Culture and Society, 23), Tokio: Jôsai University 2011, S. 191-211.
5 Tokyo Biennale ’70. Between Man and Matter. Dai jû-kai nihon kokusai bijutsu ten. Ningen to busshitsu, Ausst.-Kat. Tokyo Metropolitan Museum of Art, 1970, Tokio: Mainichi Newspaper and Japan International Art Promotion Association 1970.
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und Material mediiert, spiegelt sich in seinen für die Ausstellung zur Verfügung gestellten Fotografien der Anspruch, über deren abbildhaften Charakter hinaus ihre Qualitäten als Aufzeichnungen bzw. Resultate eines Einschreibungsprozesses zu betonen.6 Diese Haltung zeigte sich nicht nur anhand der gewählten Sujets, oder der im Effekt rau, körnigen, vernebelt-unscharfen (are-bure-boke) und bisweilen bewusst zum dilettantischen tendierenden Aufnahmetechnik, sondern auch Abbildung 01: Takuma Nakahira, Between Man and Matter, Cover des Ausstellungskatalogs der 10. TokioBiennale, 1970.
Foto: Takuma Nakahira.
im Umgang mit dem Medium Fotografie als selbsttätigem Lichtabdruck einerseits, anhand von materiellen Eingriffen beim Entwickeln der Abzüge andererseits.7 Eine Annäherung an die Ausstellung über diese Werbematerialien lässt im Ansatz erahnen, unter welchen Prämissen die Kunstwerke am Hauptschauplatz 6 Nakahira war Teil des Fotografen-Kollektivs Provoke, das seit 1968 in experimentellen Fotopublikationen auslotete, wie bzw. ob Fotografie die stoffliche Welt viel eher als abbilden auch materiell und in ihrer politischen Dimension befragen könne. Siehe: PROVOKE: Between Protest and Performance, Ausst.-Kat. Le Bal, Paris 2016, hrsg. v. Matthew S. Witkovsky, Diane Dufour, Duncan Forbes und Walter Moser, Göttingen: Steidl 2016.
7 Witkovsky, Matthew S.: »Provoke: Photography up for discussion«, in: PROVOKE: Between Protest and Performance, Ausst.-Kat. Le Bal, Paris 2016, hrsg. v. Matthew S. Witkovsky, Diane Dufour, Duncan Forbes und Walter Moser, Göttingen: Steidl 2016, S. 469-479.
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der Ausstellung in Erscheinung traten, wählte Nakahira doch die rohe, sich wohl bald weiter transformierende Ansicht eines noch unbebauten Lagerplatzes. Die im Mai 1970 während 20 Tagen parallel zur ersten Weltausstellung in Asien abgehaltene Tokio-Biennale fand im Tokyo Metropolitan Art Museum statt.8 Ausgerichtet wurde sie von der Tageszeitung Mainichi Shimbun. Kleinere B eiträge an die Transportkosten der meist installativen, teilweise auch ortspezifischen Arbeiten lieferten neben der Organisatorin Mainichi Shimbun, auch Fuji Xerox und Sony.9 Das städtische Kunstmuseum funktionierte seit den 1920er Jahren als Ausstellungsort für eher konservative, staatlich finanzierte Gruppenausstellungen oder aber die im Gegenzug von Tageszeitungen gesponserten »Salons des Indépendants«.10 Seit Beginn der 1960er Jahre kam das als Mietgalerie und ohne Sammlung funktionierende Tokyo Metropolitan Art Museum aber immer stärker unter Druck einer neuen Generation von Künstler*innen-Gruppen, die etablierte Konventionen zwischen japanischer und westlicher Kunst sprengen wollten. Die von ca. 1960 bis 1965 von Künstler*innen-Gruppen wie Neo-Dada-Organizers (19601963), Hi Red Center (1960-1963) oder Zero Jigen (Zero Dimension, 1963-1972) verfolgten Kunstpraxen stellten sich mit Taktiken des Exzesses, der Intervention in den Alltag oder ritualistischen Aktionen ebenso gegen traditionelle wie modernistische Kunstbegriffe. Sie prägten damit eine von der Kunstkritik bald als »Anti-Art«11 (Han-Geijutsu) bezeichnete künstlerische Haltung.12 Die Tokio-Biennale hatte über 20 Jahre hinweg regulär im Zweijahresrhythmus stattgefunden. Dabei folgte die Ausstellung zunächst dem Modell der Venedig- und Sao Paolo-Biennalen mit Länderbeiträgen, wobei die gezeigten Positionen aus Japan eher konservativ orientierten Kunstzirkeln angehörten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg im japanischen Kunst- und Kulturfördersystem wieder etabliert hatten.13 Es mag den seit 1968 andauernden, mit Polizeigewalt bekämpften Studentenunruhen und weitläufigen Protesten gegen den Vietnamkrieg, gegen die erneute Ratifizierung des Abkommens zur wirtschafts- und 8 Osaka Expo (nihon bankoku hakurankai), 15.3.-13.9.1970 Suita (Vorort der japanischen Stadt Osaka).
9 Minemura, Toshiaki: »What is Tokyo Biennale, 1970?«, in: Tokyo Biennale ’70. Between Man and Matter. Dai jû-kai nihon kokusai bijutsu ten. Ningen to busshitsu, Ausst.-Kat. Tokyo Metropolitan Museum of Art, 1970, Tokio: Mainichi Newspaper and Japan International Art Promotion Association 1970.
10 Siehe https://www.tobikan.jp/en/outline/history.html vom 21.11.2018. 11 Tomii, Reiko: »Geijutsu on Their Minds. Memorable Words on Anti-Art«, in: Charles Merewhether/Rika Iezumi Hiro (Hg.), Art Anti-Art Non-Art. Experimentations in the Public Sphere in Postwar Japan, 1950-1970, Los Angeles: Getty Research Institute 2007, S. 35-62, hier S. 36-41.
12 Ebd. 13 R. Tomii: Toward Tokyo Biennale 1970: Shapes of the ›International‹ in the Age of International Contemporaneity, S. 195.
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sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zwischen den USA und Japan (genannt ANPO) sowie gegen die anberaumte Osaka Expo in Tokio und anderswo in Japan geschuldet gewesen sein, dass der Kulturbeauftragte der Zeitungsgesellschaft Mainichi Shimbun, Toshiaki Minemura, für die zehnte Ausgabe der Tokio-Biennale ein neues Konzept aus der Taufe hob.14 Minemura ließ das eigentliche Austragungsjahr 1969 verstreichen. Stattdessen lud er den umtriebigen Kurator und Kunstkritker Yûsuke Nakahara (1931-2011) 1969 ein, für 1970 eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst auf internationalem Niveau zusammenzustellen. Dabei sollten die Künstler*innen nicht ihr Land, sondern sich selbst vertreten. Nakahara war gerade von einem mehrmonatigen Aufenthalt in den USA zurückgekehrt und akzeptierte die Einladung nach längerer Bedenkzeit. Er machte sein Mitwirken davon abhängig, dass die Sponsoren kein inhaltliches Mitspracherecht hatten.15 Aus Nakaharas Aufzeichnungen geht hervor, dass er die Ausstellung AntiIllusion: Procedures/Materials im Whitney Museum in New York bereits vor seiner Ernennung zum Biennale-Kurator im Sommer 1969 besucht hatte.16 Nur aus zweiter Hand war er mit Harald Szeemanns inzwischen legendär gewordenen Ausstellung Live in Your Head: When Attitudes Become Form in Bern vertraut,17 die ebenfalls 1969 stattgefunden hatte (Abb. 02). Ein Blick auf die Künstler*innenlisten zeigt aber – neben der heute undenkbaren, nahezu kompletten Absenz von Künstlerinnen – deutliche Überschneidungen unter den 1970 in Tokio vertretenen künstlerischen Positionen aus Europa und den USA, insbesondere mit der Berner Ausstellung.18
14 Ebd. T. 15 T. Minemura: What is Tokyo Biennale, 1970?. 16 R. Tomii: Toward Tokyo Biennale 1970: Shapes of the ›International‹ in the Age of International Contemporaneity, vgl. Anti-Illusion: Procedures/Materials, kuratiert von Marcia Tucker und James Monte, 19.5.-6.7.1969, Whitney Museum of American Art, New York; Künstler*innen: Carl André, Michael Asher, Lynda Benglis, Bill Bollinger, John Duff, Rafael Ferrer, Robert Fiore, Philip Glass, Eva Hesse, Neil Jenney, Barry Le Va, Robert Lobe, Robert Morris, Bruce Nauman, Steve Reich, Robert Rohm, Robert Ryman, Richard Serra , Joel Shapiro, Michael Snow, Keith Sonnier, Richard Tuttle.
17 Vgl. Live in Your Head: When Attitudes Become Form (Works – Concepts – Processes – Situations – Information), kuratiert von Harald Szeemann, 22.3.-27.4.1969, Kunsthalle Bern.
18 Künstler*innen-Liste der Tokio-Biennale 1970: Dietrich Albrecht, Carl André, Marinus Boezem, Daniel Buren, Christo, Jan Dibbets, Ger van Elk, Kôji Enokura, Luciano Fabro, Barry Flanagan, Hans Haacke, Michio Horikawa, Kenji Inumaki, Stephen J. Kaltenbach, Tatsuo Kawaguchi, On Kawara, Kazushige Koike, Stanislav Kolibal, Susumu Koshimizu, Jannis Kounellis, Edward Krasinski, Sol Le Witt, Roelf Rouw, Yutaka Matsuzawa, Mario Merz, Katsuhiko Narita, Bruce Nauman, Hitoshi Nomura, Panamarenko, Giuseppe Penone, Markus Raetz, Klaus Rinke & Monika Baumgartl, Reiner Ruthenbeck, Jean-Frédéric Schnyder, Richard Serra, Satoru Shôji, Keith Sonnier, Jirô Takamatsu, Shintarô Tanaka, Gilberto Zorio.
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Die Biennale Between Man and Matter steht für die um 1970 zu beobachtende Internationalisierung der japanischen Kunstszene. Gleichzeitig müssen wir uns aber in Erinnerung rufen, dass Japan trotzdem geografisch von zentraleuropäischen oder nordamerikanischen Diskussionen weit entfernt blieb. Das Publikum der Tokio-Biennale war vornehmlich japanisch.19 Durch Nakaharas Ausstellungskonzept konnten sich die teilnehmenden Künstler*innen von nationalen RepräsentaAbbildung 02: Live in Your Head: When Attitudes Become Form (Works – Concepts – Processes – Situations – Information), 1969. Ausstellungsansicht Kunsthalle Bern.
Foto: Balthasar Burkhard / Courtesy Getty Research Institute.
tionszwängen distanzieren. Gleichzeitig sahen sie sich in ihrem neu auf keimenden Selbstverständnis als Gegenwartskünstler*innen bestärkt. Die von ihnen provozierten Begegnungen mit dem Materiellen konstituierten und ref lektierten Wahrnehmungs- und Lebensrealität. Vor ihrem Erfahrungshorizont stellten sie Arbeiten vor, die mühelos mit den material-, prozess- oder konzeptorientierten Beiträgen der westlichen Künstler*innen in Dialog traten, während sich die alltäglichen, kulturellen oder theoretischen Referenzen und damit auch die Ausdrucks-Intention teils komplett voneinander unterschieden.
19 R. Tomii: Toward Tokyo Biennale 1970: Shapes of the ›International‹ in the Age of International Contemporaneity, S. 195.
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2. Materielle Realität und städtische Umweltgestaltung Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren Stoff lichkeit, Material und Materialität aus phänomenologischer oder semiotischer Perspektive zunehmend in den Fokus künstlerischen Schaffens gerückt. Künstler*innen vermaßen den Zwischenraum zwischen Mensch und dinglicher oder prozesshaft-stoff licher Wirklichkeit mit unterschiedlichen Mitteln. Rieben sich Künstler*innen in J apan nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – wie auch beispielsweise im Nachkriegsdeutschland – an der Angemessenheit oder Korrumpierbarkeit abbildender Kunstformen, veranlasste sie dies nicht nur dazu, die Abstraktion auszuloten, sondern vielmehr, die Abbildbarkeit und Unmittelbarkeit der Wirklichkeit zu befragen. Die sogenannte Reportage-Malerei,20 eine wiederentfachte Begeisterung für surrealistische Stilmittel sowie die mit den französischen InformelKünstler*innen korrespondierenden Entgrenzungen der Malerei in konkreten körperlich-kinetischen Materialexperimenten durch Angehörige des KunstKollektivs Gutai (konkret) sind Beispiele dieser unterschiedlich zugespitzten Auseinandersetzung. In den Arbeiten der schon seit Mitte der 1950er Jahren aktiven, neo-avantgardistischen Gruppe Gutai ging es u. a. darum, die sich wandelnde Alltagswelt in der Kunst einzufangen. Die von den Gutai-Künstler*innen mit den Einwohner*innen des westjapanischen Künstlerstädtchens Ashiya installierten Freiluftausstellungen stechen dabei in ihrer Offenheit für den Einbezug ortsspezifischer Faktoren und Alltagsmaterialien hervor.21 Saburo Murakami (1925-1996) zeigte beispielsweise anlässlich der Experimental Outdoor Exhibition of Modern Art to Challenge the Mid-Summer Burning Sun im Juli 1955 die Arbeit Ohne Titel (1955, zerstört) (Abb. 03). Er materialisierte damit Kontaktzonen zwischen Menschen und Material mit abgerissenem Isolationsmaterial. Mit einem Sprung vom Dach eines zerfallenden Hauses hatte er den zähen Abdeckstoff heruntergerissen, um ihn anschliessend während der Ausstellung im öffentlichen Stadtpark auszubreiten. Die eher diskursfeindlichen Künstler*innen der Gruppe Gutai pf legten im Dialog mit Künstler*innen und Kurator*innen in Italien und Frankreich zwar die Rhetorik metaphysisch-transzendenter Ereignishaftigkeit. Dabei entzogen 20 Hayashi, Michio: »Tracing the Graphic in Postwar Japanese Art«, in: Tokyo 1955-1970: A New Avant-Garde, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York, 2012, hrsg. v. Doryun Chong, New York: MoMA, 2012, S. 94-119, hier S. 112-114; Alexandra Munroe (Hg.): »To Challenge the MidSummer Sun: The Gutai Group«, in: Japanese Art After 1945. Scream Against The Sky, Yokohama Museum of Art, Ausst.-Kat. Guggenheim Museum SoHo, San Francisco Museum of Modern Art, 1994-1995, New York: Henri N. Abrams 1994, S. 83-123, S. 83.
21 Siehe: Experimental Outdoor Exhibition of Modern Art to Challenge the Mid-Summer Burning Sun, Ashiya, Juli, 1955; Outdoor Gutai Art Exhibition, Ashiya, Juli, 1956.
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sie sich aber bewusst der Theorieproduktion. Stattdessen betonten sie die körperliche, gelebte Erfahrung in der gegenseitigen »Beseelung«22 von Mensch und Material. Sie inszenierten Materialität, d.h. Oberf lächenerscheinungen von Material als durch ein Zusammenwirken beim Handeln hervorgebracht. Dabei konnte sich dieses Handeln auch in Abhängigkeit zu physischen Kräfteverhältnissen oder chemischen Prozessen konkretisieren. Obwohl das Werk damit als Abbildung 03: Saburo Murakami, Ohne Titel, 1955. 6 x 7m; 27 x 1m, Isolationsmaterial, Textilien, Asphalt und Gummi. Ausstellungsansicht Experimental Outdoor Exhibition of Modern Art to Challenge the MidSummer Burning Sun, Ashiya, 1955.
Foto: Kazuo Shiraga / Copyright: Hisao Shiraga.
22 »In Gutai Art, the human spirit and matter shake hands with each other while keeping their distance«, vgl. Yoshihara, Jirô: »Gutai Art Manifesto«, übers. v. Reiko Tomii, in: Gutai. Splendid Playground, Ausst.-Kat. The Solomon R. Guggenheim Museum New York, 2013, hrsg. v. Alexandra Munroe und Ming Tiampo, New York: Guggenheim Museum Publications 2013, S. 18-19, [zuerst: Ders., »Gutai bijutsu sengen«, in: Geijutsu shinchô [Neue Kunstströmungen], 7, 12 (1956), S. 202-204].
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durch verschiedene Faktoren geformt begriffen wurde, blieben eine vorausgehende, künstlerische Intention und Innovationsgeist bestimmend. Dennoch lässt sich das angestrebte Zusammenwirken durch ein Entfesseln von in Materialien und im menschlichen Körper durch Affekt angeregten Energiepotenzialen auch als Kritik an einer egozentrisch-individualistischen Vorstellung von mental kontrollierter Autorschaft und Genie interpretieren. Neben der Verortung innerhalb eines Spektrums avantgardistischer Positionen prägten historische Erfahrungen die Haltungen japanischer Künstler*innen zum Materiellen: So mag die Erfahrung der zerstörenden und deformierenden Atomexplosionen über Hiroshima und Nagasaki das Bewusstsein für in Materialien angelegte Energiepotenziale mitgeprägt haben. Dass periodisch auftretende Naturkatastrophen die Materialkultur der Menschen wegzuwischen vermögen, war indes schon seit Jahrhunderten im kollektiven Bewusstsein verankert. Zudem verwandelte der seit 1955 anhaltende Wirtschaftsboom die ehemalige Kriegsverlierernation nach und nach in eine potente Konsumgesellschaft. Staatliche Investitionen in Infrastrukturprojekte, teils verbunden mit der 1964 in Tokio ausgetragenen Olympiade, veränderten die städtische und verstädternde Alltagswelt ebenso grundlegend wie rasch. Dass Begegnungen mit dem Materiellen an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen sozialen Kreisen in Japan während der 1960er Jahre nicht ohne die erlebten Transformationen der (gebauten) Umwelt denkbar sind, zeigt der vom marxistischen Kritiker Noboru Kawazoe in der manifestartigen Architektur-Projektbroschüre Metabolism 1960 veröffentlichte Essay Between Material and Man (Busshitsu to ningen).23 Kawazoe gehörte als Kunst- und Architekturkritiker zur um den Architekten Kenzô Tange versammelten Gruppe junger Architekten, die in einer anlässlich der World Design Conference 1960 herausgegebenen, programmatischen Essay- und Projektsammlung die Rolle der Architektur in der materiellen Kultur des Atomzeitalters in die Zukunft dachte: »It is important for architects to believe in the existence of physical things, but they must also know that energy too is a form of material existence, since it causes development of material. […] Nebulae are born one after another from a tiny atom to the greatest nebula, every piece of matter is a dynamic body ever changing and developing. We are all included in process. Life, the highest among the things made from matter, is the one […] most concerned with metabolism.«24
23 Kawazoe, Noboru: »Material and Man«, in: , Yasuko Kawazoe (Hg.), Metabolism 1960. The proposals for new urbanism, illustriert v. Kiyoshi Awazu,Tokio: Bijutsu Shuppan-sha 1960, S. 48-49.
24 N. Kawazoe: Material and Man, S. 42-51.
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Dieser Beobachtung begegnete die neue Generation von Architekt*innen in der Folge mit erweiter- und abbaubaren, zellenartigen Strukturmodellen als Vorschlägen für Wohn-, Verwaltungs-, Kommunikations- und Infrastrukturbauten. Neben dem rasanten Bevölkerungswachstum, das konkrete Anforderungen an die Aufteilung und Bebauung des zur Verfügung stehenden Bodens beziehungsweise Raums stellte, warfen neuere Erkenntnisse in der Elementarteilchenphysik, die japanischen Forschern wie Hideki Yukawa (1949) und Shin’ichiro Tomonaga (1965) unter anderem den Physik-Nobelpreis einbrachten, Fragen über die Zusammensetzung und Gesetzmässigkeiten der nicht menschgemachten noch menschzentrierten Welt auf. Mit matter (busshitsu) war in diesem Fall allerdings eher von Stoff bzw. Materie im physikalischen als im phänomenologischen Sinn die Rede. Mit dem ab 1960 von Wirtschaftswissenschaftler*innen, Architekt*innen und Technologie-Optimist*innen gleichermassen prophezeiten Zeitalter der Informationsgesellschaft erhielt die um 1950 angesichts der verursachten und erlebten Kriegsgräuel entfachte Realitätsdebatte eine neue Richtung: Zwischen Mensch und Material stand nun das Zeichen, die Kommunikation, die Übersetzung von konkret-stoff lichen Phänomenen in Daten und schliesslich deren Rückprojektion auf die Menschen als Sound- und Lichteffekt, als olfaktorischer oder visueller Reiz. In ihren Überlegungen zum Verwoben-Sein der Menschen mit ihrer materiellen Umwelt zogen der Medien-Künstler Katsuhiro Yamaguchi (1928-2018) und der Architekt Arata Isozaki (*1931) als Mitglieder der von ihnen selbst in Tokio ins Leben gerufenen Environment-Society (enbairanmento no kai) bei ihrer Ausstellung im Matsuya Department Store From Space to Environment 1966 die jüngsten Medientheorien Marshall McLuhans zurate.25 Zugleich sprachen sie von einer kybernetischen Beziehung zwischen Mensch und (menschgemachter) Umwelt. Wobei kinetische und Op-Art-ähnliche Installationen ihrer Überzeugung nach einem solchen Modell folgend ein adaptives Wechselwirkungsnetz im Prozess körperlicher Wahrnehmung aufspannten (Abb. 04). In ihren vielmehr kybernetisch inspirierten als tatsächlich Computer- bzw. Magnetband-technisch gesteuerten Raum-Installations-Experimenten, die ab 1966 entstanden, nahmen sie nicht nur den Menschen als sich selbst-regulierendes, adaptives System an, sondern auch dessen Umwelt. In diesem Systemdenken machten die Art & Technology-Künstler*innen in Tokio eine Art Ermöglichungsarchitektur aus, die den Handlungsspielraum der Menschen erweitern, und diese in ihrer Selbstbestimmung 25 McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man, New York: McGraw-Hill 1964 (übers. v. Goto Kazuhiko und Takagi Susumu, Tokio: Takeuchi Shoten 1967); Ders.: The Mechanical Bride: Folklore of Industrial man (übers. v. Isaka Manabu, Tokio: Takeuchi Shoten 1968) und ders.: The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man (übers. v. Takagi Susumu, Tokio: Takeuchi Shoten 1968), siehe: M. Hayashi: »Tracing the Graphic in Postwar Japanese Art«, in: Tokyo 1955-1970. A New Avant-Garde, S. 94-119.
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und -entfaltung unterstützen würde. Die Einsicht, dass diese adaptiven, aber von Dritten vorprogrammierten und kontrollierten Umwelten die partizipierenden Menschen eher subjektivierten und disziplinierten als emanzipierten, entzog sich den Utopie-affinen Kreisen der damaligen Kunst- und Architekturwelt. Abbildung 04: From Space to Environment, 1966. Ausstellungsansicht Matsuya Department Store Ginza, Tokio.
Foto: Kuniharu Sakumoto, reproduziert aus: Interia [Japan Interior Design], 46, (Januar, 1967).
Inzwischen schritt die Planung der auf März 1970 angesetzten Weltausstellung in Osaka weiter voran. Im Bestreben mit den 1967 anlässlich der letzten Weltausstellung in Montreal erstmals vorgestellten, vielfältigen multimedialen Technologien mindestens Schritt halten zu können, bereiteten die neben den Ländervertretungen vom Organisationskomitee eingeladenen Großkonzerne in ihren kommerziellen Ausstellungspavillons Interieur-Inszenierungen mit aufwändigen Multiscreen-Filmprojektionen, Sound- und Lasershows vor. Das Thema der Kommunikation griff unter anderem eine Präsentation im Furukawa Pavillon auf, wo eine frühe Technologie der Gesichtsbildübertragung vorgestellt wurde.26 26 Meyer, Roland: »False Positives: Operative Bilder der Gesichtserkennung 1970/1991/2014«, in: Hanne Loreck (Hg.), Visualität und Abstraktion. Eine Aktualisierung des Figur-Grund-Verhältnisses, Hamburg: Materialverlag 2017, S. 144-159.
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Dabei zeichnete sich ab, dass es den Firmenkonglomeraten weniger darum ging, ein materiell isolierbares Produkt anzupreisen, als vielmehr über atmosphärische, affektorientierte Interaktions-Erfahrung ein Image für ihre Marken zu prägen. Um die von Magnetband-Rechenzentren und Menschenhand gesteuerten multimedialen Environments der Expo einzurichten, engagierten die ausstellenden Firmen die bekanntesten Künstler*innen der auf keimenden Art & TechnologyKunstszene aus Tokio. Sie ließen diese in transdisziplinären Projektgruppen mit Mathematiker*innen, Ingenieur*innen, Grafikdesigner*innen und Werbefachleuten zusammenarbeiten. Diese Allianzen provozierten im Vorfeld der Expo heftige Auseinandersetzungen in Künstler*innenkreisen von Tokio bis Osaka. Trotz des Vorwurfs staatlicher Indienstnahme der Kunst, der Massenmanipulation und ihrer eigenen Zweifel entschieden sich zahlreiche der angefragten Künstler*innen dafür, unter dem Motto Progress and Harmony for Mankind lieber intervenierend zur Osaka Expo ’70 beizutragen, als ihr opponierend fernzublieben.
3. Vom Material zu Konzept und Situation Gezielt wählte Nakahara für die Tokio-Biennale offenbar Positionen aus, die wenig bis gar keine Berührung mit der Osaka Expo ’70 aufwiesen. Keine der gezeigten Künstler*innen wirkte an der Weltausstellung in den genannten und teils schwer überschaubaren Projektgruppen mit. Trotz Affinitäten zur Naturwissenschaft, etwa der Mathematik oder Physik, schienen die von Nakahara auserkorenen Künstler*innen einen anderen Kunstbegriff für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vorauszusetzen. Obwohl Nakahara darauf bedacht war, seine Ausstellung fernab des intermedial geprägten Expo-Kunst-Milieus anzusiedeln, regte sich auch gegen die Tokio-Biennale heftiger Widerstand. Das 1969 in Kyôto ins Leben gerufenen Artist Joint Struggle Committee (Bikyôtô, Bijutsuka Kyôtô Kaigi) rief zum Boykott beider Ausstellungen auf. In Pamphleten und auf Handzetteln warfen die BikyôtôAktivist*innen beide Ausstellungen als internationale Leistungsschauen in einen Topf. Besonders verwerf lich schien ihnen die Tatsache, dass der Staat sich damit als kulturell avanciert auf einer internationalen Bühne profilieren konnte27. Die Kritik bezog sich indes auf die ökonomische Wachstums- und Fortschrittspolitik Japans während der letzten Dekade, die nun allenthalben ihren Tribut an der Umwelt forderte und Japan mit über zehn US-Militärstützpunkten auf Okinawa zum Vorposten der USA im Kalten Krieg machte. Dass die Tokio Biennale von einer Tageszeitung ohne Mitspracherecht organisiert wurde, fiel für die Kritiker*innen dabei wenig ins Gewicht. 27 R. Tomii: Geijutsu on Their Minds, S. 57-58.
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Nehmen wir uns die Künstler*innenliste der Tokio Biennale hier noch einmal etwas genauer vor, so lassen die Namen erahnen, dass es sich um eine Zusammenstellung zwischen Konzept-Kunst, Arte Povera, Prozesskunst und post-minimaler Installationskunst mit performativem Einschlag handelte. Nakahara stellte es den beteiligten Künstler*innen zudem frei, innerhalb oder ausserhalb des Museumsbaus auszustellen. Besonders wichtig war ihm außerdem, dass die gezeigten Arbeiten neu und spezifisch für die Ausstellung entstanden. Entgegen der mit der Erwähnung von Material im Ausstellungstitel geweckten Assoziationen, waren viele der Arbeiten konzeptuell angelegt: »It is obvious enough that the artist cannot bend matter completely to his own ideas. Thus the artist’s ideas are brought into focus precisely. At a glance this seems paradoxical, but matter possesses an existence hard to grasp, and to take seriously the artist’s idea or concept is to preserve a completely mutual relationship. Neither is placed in a position of superiority. Both parties control the other mutually, and are placed in a situation of dynamic relationship.« 28 Nakahara reagierte in seiner kuratorischen Arbeit aber keinesfalls schlicht ref lexartig auf die mitteleuropäischen oder nordamerikanischen Kunstszenen. Vielmehr erweiterte er die international aktuelle Auseinandersetzung indem er Positionen aus Japan miteinschloss, die sich im lokal situierten Diskurs an spezifischen Akteur*innen abarbeiteten. Denn spätestens seit 1968 zeichnete sich in Japan ein Kurswechsel in der Kunst ab29. Dabei keimte insbesondere die Diskussion 28 Siehe: Nakahara, Yûsuke: »Between Man and Matter«, übers. v. Joseph Love, in: Tokyo Biennale ’70. Between Man and Matter. Dai jû-kai nihon kokusai bijutsu ten. Ningen to busshitsu, Ausst.-Kat. Tokyo Metropolitan Museum of Art, 1970, Tokio: Mainichi Newspaper and Japan International Art Promotion Association 1970. Eine ähnliche aber zugleich kritischer auf den Technologieoptimismus der vorangehenden Jahre fokussierte Passage über die gestaltende Einwirkung des Menschen auf Materialien findet sich auch in Szeemanns Berner Ausstellungskatalog »Auffällig ist die vollständige Freiheit in der Verwendung der Materialien sowie die Berücksichtigung der physikalischen und chemischen Eigenschaften im Werk. Während vor zwei Jahren Polyester und Computer den progressiven Künstler als Medien faszinierten und zugleich die Aussage bildeten, so scheint in dieser Kunst das Medium nicht mehr wichtig: der Glaube an die Technologie ist durch den Glauben an den künstlerischen Vorgang abgelöst worden. Nicht mehr das Hauptmerkmal heutiger Kunst: die Gestaltung des Raumes, sondern die Tätigkeit des Menschen, des Künstlers ist Hauptthema und Inhalt. […] Die Künstler dieser Ausstellung jedoch sind keine Objektmacher, sie suchen im Gegenteil Freiheit vom Objekt und erweitern dadurch dessen Bedeutungsschichten über das Objekt hinaus zur Situation.« Zit. nach: Szeemann, Harald (Hg.), »Zur Ausstellung«, in: Live in Your Head. When Attitudes Become Form. Works – Concepts – Processes – Situations – Information, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bern, 1969, Bern: Kunsthalle Bern 1969.
29 Vgl. Japan: The New Art (USA 1970, R: Michael Blackwood).
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um eine nicht-manipulative Wahrnehmungs-Prozesskunst bzw. in Japan auch als Non-Art30 angesprochenen Kunst auf. Mit 16 Onenesses, 37 Onenesses verfolgte Jirô Takamatsu (1936-1998) die Idee, einer prinzipiell beliebig erweiterbaren Reihe bereits im unbearbeiteten Rohstoff Holz angelegter, materialinhärenter Formen zum Ausdruck zu verhelfen, ohne dass diese von seinem konkreten Gestaltungswillen abhängig wären. Die Beobachtung, dass die Wahrnehmung von Ganzheit letztlich auf willkürlich gesetzten Abbildung 05: Jirô Takamatsu, 16 Onenesses, 37 Onenessses, 1970. Dimension variabel, Japanische Zeder. Ausstellungsansicht Tokyo Metropolitan Art Museum, 1970.
Foto: Kiyoji Ôtsuji / Copyright: Seiko Ôtsuji.
Parametern beruhe, veranlasste Takamatsu in der vorgestellten Refraktion von Materialien auf ihre stoff liche Zusammensetzung aus Elementarteilchen anzuspielen; theoretisch bis hin zur letzten, nicht weiter spaltbaren Einheit. Obwohl Takamatsus Beitrag in Form von Zedern-Strünken sinnlich anmutet und im Ausstellungsraum den Geruch des vor kurzem bearbeiteten Rohmaterials verbreitete, tendierte seine Arbeit gleichzeitig vom Material weg, hin zur konzeptuellen Äußerung (Abb. 05). Auch Kôji Enokuras (1942-1995) Arbeit stellte eine sinnlich affizierende Situation her. Für seinen Beitrag legte er den ihm zur Verfügung gestellten Ausstellungsraum mit Blättern saugfähigen Papiers aus, das er mit Maschinenöl bestrich, 30 R. Tomii: Geijutsu on Their Minds, S. 57-58.
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während er inmitten dieser Auslegeordnung in rechteckiger Ausrichtung ein Maschinenöl-Depot platzierte. Wie der Ausbreitungsprozess stattgefunden haben mochte, ob er von Menschenhand ausgeführt worden oder stoff lichen Materialeigenschaften wie Saugfähigkeit geschuldet war, blieb für die Besucher*innen der Ausstellung dabei nicht eindeutig rekonstruierbar. Denn die Installation suggerierte eine selbsttätige, horizontale Ausbreitung des Öls im Papier über Zeit (Abb. 06). Abbildung 06: Kôji Enokura, The Field, 1970. Papier, Maschinenöl und Acrylplatte, 700 x 920 cm. Ausstellungsansicht Tokyo Metropolitan Art Museum, 1970.
Foto: Kiyoji Ôtsuji / Copyright: Seiko Ôtsuji.
Katsuhiko Narita (1944-1992) hatte 1969 an der Paris Jugend-Biennale teilgenommen und dort seine Arbeit Sumi erstmals einem internationalen Publikum vorgestellt. Es handelte sich dabei um große, rechteckig zugeschnittene Stücke verkohlten Holzes, japanisch auch Sumi für Holzkohle genannt. Die im Feuer transformierten Holzstücke entziehen sich – gerade durch das Feuer – einem im Detail gestaltenden Zugriff durch die Hand des Künstlers. Narita appropriierte die Technik für seine künstlerische Arbeit aus dem alltäglichen Gebrauch beziehungsweise der traditionellen Holzkohleherstellung (Abb. 07). Den genannten Künstlerpositionen ging es im Wesentlichen – und dies auch noch prononcierter als den früher in Osaka und Ashiya wirkenden Gutai-
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Materialkünstler*innen – darum, vom Begriff gestalteter Schöpfung wegzukommen. Stattdessen setzten sie sich zum Ziel, inhärent vorhanden Qualitäten und Eigenschaften lediglich zu re-arrangieren. Die autorschaftliche Subjektposition seitens der Künstler*innen sollte damit weiter gebrochen werden. Stattdessen kam das nicht endgültig zu kontrollierende Verhältnis zwischen einer mehr oder weniger belassenen Setzung im Raum und den sie Betrachtenden als Kunst zum Tragen. Obwohl die in der Tokio-Biennale vertretenen Künstler*innen situativmomenthaftes Bewusstsein schufen bzw. dessen Erfahrungsrahmen betonten, kritisierte der damals in Tokio ansässige, Englisch und Japanisch sprechende Kritiker Joseph Love, dass in die Arbeiten oft Fotografien als Platzhalter einbezogen wurden. Deren Status als Dokumentationsmaterial oder eigenständige künstlerische Äußerungen bliebe dabei aber – und dies im Unterschied zum für die Ausstellungspublikation gewählten Close-up einer Baustelle von Takuma Nakahira – weitgehend unref lektiert, so Love.31
4. Situierte Begegnungen gegen Bedeutung Eine eigenständige Position zur Materialität entwickelte die sogenannte Non-Art (Hi-Geijutsu), deren zwar jüngere aber nicht minder meinungsstarke Vertreter mit dem über Theorie und (Institutions-)Kritik in eine künstlerische Praxis hineingewachsenen Lee Ufan (*1936), Kishio Suga (*1944) oder Nobuo Sekine (*1942), allerdings in der Tokio-Biennale fehlten. Seit 1968 konnte Sekine sich in der japanischen Kunstszene soweit durchsetzen, dass er für das Jahr 1970 immerhin entsandt wurde, den japanischen Pavillon auf der Biennale di Venezia zu bespielen. Nachdem Sekine ein Masterstudium in Ölmalerei an der Tama Kunsthochschule abgeschlossen hatte, war er 1968 mit Phase – Mother Earth im Rahmen der Contemporary Sculpture Exhibition im Suma Rikyû Park in Kobe auf freiem Feld an die Öffentlichkeit getreten. Bei seinem Beitrag zur Skulpturenausstellung handelte es sich um einen mit Zement verfestigen Erdzylinder, den er aus dem Boden gehoben und neben dem dadurch entstandenen Loch gleichen Durchmessers aufgestellt hatte. Die zeitgenössische japanische Kunstzeitschrift Bijutsu techô (Kunst-Notizbuch) griff Sekines Beitrag zur Skulpturenausstellung in Kobe im Februar 1970 in einem Artikel unter dem Titel Voices of Emerging Artists – From the Realm of Non-Art 32 auf (Abb. 08). Sekine präsentierte den Zylinder darin bewusst 31 Love, Joseph: »The Tenth Tokyo Biennale of Contemporary Art«, Art International, 14, 6 (Sommer 1970), S. 70-74.
32 »Hatsugen suru shinjintachi: Hi-geijutsu no chihei kara« [Stimmen des künstlerischen Nachwuchses. Aus der Sphäre der Non-Art, Spezialausgabe], Bijutsu techô [Kunst-Notizbuch] 324 (Februar 1970), S. 12-53.
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nicht als Objekt an sich, sondern lediglich als eine zeitliche und räumliche Verschiebung dessen, was bereits dagewesen war. Zwar verwies sein Zylinder auf das Moment des Aushubs. Indem er Aushub und Loch als Teile eines vorausgehenden Ganzen aber aufeinander bezog, wies er ein Selbstverständnis als Schöpfer oder Abbildung 07: Katsuhiko Narita, Sumi 7–22, 1970. Holzkohle, jedes Stück 30 x 30 x 140 cm. Ausstellungsansicht Tokyo Metropolitan Art Museum, 1970.
Foto: Kiyoji Ôtsuji / Copyright: Seiko Ôtsuji.
künstlerischer Autor zurück. Grenzen zwischen Subjekt, Objekt und Ort würden dadurch aufgeweicht, so Sekine. Erst herantretende Betrachter*innen würden das Kunstwerk durch die eigene Wahrnehmung installieren und aktualisieren. An der Kunsthochschule Tama hatte Sekine Kurse beim bereits erwähnte Konzept-Künstler Jirô Takamatsu besucht. Zwischen 1968 und 1972 versammelte sich ein Kreis Interessierter um Takamatsu, der beispielsweise den bereits erwähnten Katsuhiko Narita sowie den seit 1956 in Japan lebenden Philosophie-Studenten Lee Ufan einschloss. Takamatsu hatte Japan bereits 1968 auf der Venedig-Biennale vertreten. Seine Arbeiten galten unter der nachrückenden Generation ihrer Konzeptlastigkeit wegen auch als »intellektualistisch«.33 Für einen kleinen um 33 Minemura, Toshiaki: »What was ›Mono-ha‹?«, übers. v. Jean Campignon, Ausst.-Kat. Kamakura Gallery, Tokio: 1986, siehe: https://www.kamakura.gallery/mono-ha/minemura-en.html vom 21.11.2019.
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ihn versammelten Kreis erwies sich Takamatsus intellektuelle Haltung aber als richtungsweisend. In seinen Seminaren entspannte sich die Diskussion darum, wie sich Künstler*innen in die Gesellschaft als Kunst-Schaffende einbringen sollten. Die Haltung des Kreises folgte dem Poststrukturalisten und Semiotiker Roland Barthes. Barthes hatte Japan 1966 erstmals bereist und stieß mit seinem Aufsatz über den Tod des Autors 34 (1968) auch in Japan rasch auf breite Resonanz.35 Abbildung 08: Nobuo Sekine, Phase Mother Earth, 1968, temporäre Freiluf t-Installation. Erde, 270 x 270 x 220 cm. Ausstellungsansicht Kobe Biennale, Suma Palace Park, 1968.
Foto: Osamu Murai.
Darüber hinaus äußerte sich in Takamatsus Klasse an der Tama Kunsthochschule eine geteilte Abneigung gegenüber neuen synthetischen, industriell verwertbaren Materialien. Während seines Philosophiestudiums an der Nihon Universität in Tokio hatte sich der Südkoreaner Lee Ufan mit den Philosophen Kitarô Nishida (1870-1945) und Martin Heidegger (1889-1976) auseinandergesetzt.36 Beide befassten sich in ihren Überlegungen damit, was den Ort und das vor Ort Seiende bzw. das (menschliche Da-)Sein ausmacht. Die philosophische Schule der Kyoto Universität um Nishida 34 Barthes, Roland: »Der Tod des Autors«, in: Jannidis, Fotis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 186; [Barthes’ Text wurde allerdings bereits 1967 in englischer Sprache erstveröffentlicht Aspen Magazine, 5/6 (1967) und erschien als »La mort de l’auteur«, Manteia, (1968)].
35 Kee, Joan: »Points, Lines, Encounters: The World According to Lee Ufan«, Oxford Art Journal, 31, 3 (2008), S. 405-425, hier S. 415.
36 J. Kee: Points, Lines, Encounters, S. 411.
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hatte nationalistisch orientierten Wortführern während des Zweiten Weltkriegs in Japan Argumente geliefert, um auf der Einzigartigkeit des Japanisch-Seins zu beharren.37 Noch während der Nachkriegszeit in Japan als essentialistisch argumentierend kritisiert, unterzog Ufan, als Nicht-Japaner Nishidas Theorie, dass der Körper (shintai) eines selbstvergessenen Menschen in der Begegnung mit dem Materiellen zum Wahrnehmungsinstrument werde,38 einer Relektüre,39 um seine Vorstellung, wie sich ein Subjekt-, Objekt-, Ort-Verhältnis als gemeinsam konstituierter Zwischenraum in der Kunst neu definieren ließ, voranzutreiben. Fundamental unterschied er dabei zwischen Kunst als einer interpretierenden Auseinandersetzung mit Zeichen einerseits und Kunst als aus der Begegnung mit der Welt als solcher entstehend andererseits: Dem Künstler oder der Künstlerin, die Bild und Bedeutungen manipulierten, gelte die Welt als Material. Dagegen grenzte er die von ihm bevorzugte Position des Künstlers und der Künstlerin ab, die Material nicht als strukturell vorgängig betrachteten, sondern in der Interdependenz von verschiedenen Involvierten erst als stoff lich wahrnehmbar verstanden. Dabei sei die Künstlerin oder der Künstler lediglich einer der möglichen Handelnden, sicher nicht der oder die zentrale. Vielmehr entstehe aus der Begegnung der Betrachter*in mit den mehr oder weniger zufällig ausgelegten Materialien erst ein Bezug zur Welt, den die Künstler*in weder definitiv vorhersehen, noch beeinf lussen könne.40 Dem Artikel über die neue Non-Art in der japanischen Kunstzeitschrift Bijutsu techô, in dem also beispielsweise Sekine und Lee figurierten,41 folgte im Mai 1970 ein im Eigenverlag von Lee herausgegebenes Büchlein mit dem Titel Ba sô toki/ Place-phase-time: open. Es enthielt schwarz-weiße Abbildungen von Lee Ufans und Nobuo Sekines Arbeiten, sowie Texte von Lee und dem bereits genannten Kunstkritiker Joseph Love. Jenseits des in dieser Beziehung produzierten Diskurses reagierte die Kunstkritik in Japan zunächst allerdings durchaus ablehnend auf die aus Holz, Stein, Lehm, Stahl, Glas oder Baumwolle gefügten nicht-künstlerischen Installationen. Ab 1973 verwendeten Kritiker*innen für die zunächst als NonArt bezeichneten Arbeiten daher abfällig gemeint den Begriff Mono-Ha (Schule der Dinge). Unter diesem Schlagwort ist eine Handvoll japanischer Künstler der 37 Siehe: Heisig, James W./Maraldo, John C. (Hg.): »Rude Awakenings: Zen, the Kyoto School, & the Question of Nationalism«, in: Nanzan Studies in Religion and Culture, Honolulu: The University of Hawaii Press 1995.
38 Baek, Jin: »From the Topos of Nothingness to the Space of Transparency: Kitarô Nishida’s Notion of Shintai and its Influence on Art and Architecture« (part 1), Philosophy East and West, 58, 1 (Januar 2008), S. 83-107, S. 85.
39 J. Kee: Points, Lines, Encounters, S. 413. 40 Ufan, Lee: »Sekai to kôzô« [Welt und Struktur], Design hihyô [Design-Kritik], (Juni 1969), S. 132. 41 Hatsugen suru shinjintachi: Hi-geijutsu no chihei kara, S. 12-53.
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frühen 1970er Jahre aus Takamatsus Hörerkreis an der Tama Kunsthochschule schliesslich durch die Kunstgeschichtsschreibung auch als Gruppe Mono-Ha verfestigt worden. Tatsächlich legt das Wort mono, das im Japanischen sowohl für einen Gegenstand, einen Menschen wie eine Situation verwendet wird, die von den Künstlern damals geforderte Offenheit der Handlungsmacht (Agency) nahe.42 Abbildung 09: Nobuo Sekine, Phase Mother Earth, 1968, temporäre Freiluf t-Installation. Erde, 270 x 270 x 220 cm. Ausstellungsansicht Kobe Biennale, Suma Palace Park, 1968.
Foto: Osamu Murai.
Es lässt sich hier höchstens darüber spekulieren, weshalb Sekine und Lee in Nakaharas Tokio Biennale 1970 nicht vertreten waren. Möglicherweise hatte der Kurator sie angefragt und ihr Fernbleiben war pragmatischen Überlegungen geschuldet. Sekine bespielte im selben Jahr den Japanischen Pavillon auf der Venedig-Biennale. Außerdem steuerte er weitere Varianten seiner ersten Phase-Mother Earth-Installation zur Gestaltung des Mitsui Pavillons unter der künstlerischen Leitung von Katsuhiro Yamaguchi bei und war damit in die umstrittene Expo ’70 involviert (Abb. 09). Lee Ufan wurde im Unterschied dazu 1970 noch hauptsächlich als philosophisch inspirierter Kunstkritiker wahrgenommen. Er hatte zwar 42 Für eine ausführliche Diskussion und Situierung der durch Begriffszuschreibung als Mono-ha von der Kritik homogenisierten Gruppe von Künstlern siehe: Yoshitake, Mika: »What is Monoha?«, in: Working Words. New Approaches to Japanese Studies (Review of Japanese Culture and Society 25), Tokio: Jôsai International Center for the Promotion of Art and Science, Jôsai University 2013, S. 202-213 und Tomii, Reiko: »Six Contradictions of Mono-ha«, ebd., S. 214-222.
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bereits die Relatum-Serie, eine Reihe von aufeinander und die Besucher*innen in unkalkulierbarem Maße einwirkenden Primärmaterialien in Galerien ausgestellt (Abb. 10). Dennoch produzierte er eher einen Überhang an theoretischen Schriften. Lees frühe Arbeiten schienen seine oft Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung 43 zitierenden Aufsätze dabei illustrieren zu wollen. Der von Abbildung 10: Lee Ufan, Kankei-kô [Relatum] (formerly system A), 1969. Stahl und Baumwolle, ca. 170 x 160 x 150 cm. Ausstellungsansicht Tamura Gallery, Tokio 1970.
Foto: Shigeo Anzaï.
ihm verbalisierte phänomenologische Diskurs44 schob sich zugleich in den von ihm philosophisch postulierten Zwischenraum der Wahrnehmung und teilweise vor die unmittelbare Erfahrung between man and matter. Hatte Nakahara es verpasst oder bewusst unterlassen, die prononciertesten Positionen der sogenannten Non-Art zu berücksichtigen oder gab er eher e iner 43 Merleau-Ponty, Maurice: »Chikaku no genshô-gaku 1« [Phänomenologie der Wahrnehmung], übers. v. Yoshiro Takeuchi, Hajime Kida, Tadao Miyamoto, Tokio: Misuzushobô 1967 [zuerst: Phénoménologie de la Perception, Paris: Gallimard 1945].
44 Ufan, Lee: Deai o motomete – Gendai no bijutsu no shigen [The Search for Encounter – The Sources of Contemporary Art], Tokio: Bijutsu Shuppan-sha 2000, S. 181-182.
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konzeptuell-physikalischen statt einer philosophisch-wahrnehmungstheoretisch basierten Artikulation der Verhältnisse zwischen Mensch und Materie bzw. Material den Vorzug? In den 1950er Jahren hatten Künstler*innen in Japan mit industriellen und naturbelassenen Materialien interventionistisch gearbeitet. Sie waren sich bewusst, dadurch ein zwar von ihnen abhängiges Werk zu schaffen, zielten aber darauf, schließlich den Kunstbegriff über herkömmliche Rahmungen hinaus zu erweitern. Dabei verarbeiteten sie einen breiten Erfahrungshorizont. Er reichte von den nicht abbildbaren Deformationen sowohl von Menschen wie Materialien während des Zweiten Weltkriegs bis hin zur Umformung der städtischen und ländlichen Lebensformen durch neue Infrastrukturen und Konsumprodukte. Die Auseinandersetzung mit Materialien stand dabei in der avantgardistischen Tradition der Suche nach neuen Ausdrucksformen der Kunst in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft und gebauten Umwelt. Künstler wie Lee Ufan sahen sich zu Beginn der 1970er Jahre dazu veranlasst, die schwelende Diskussion von Informationstheorie und Kontrolle, in der jede künstlerische Setzung auch als Teil eines reziprok-kommunikativen Aktes der Umweltgestaltung in Zeichen übersetzt und rück-projiziert werden sollte, durch eine phänomenologisch basierte Theorie unmittelbarer Begegnung zu konterkarieren. Dabei unterschied sich ihr Zugang von aktivistischen Gegenhaltungen oder -praxen. Stattdessen suchten Sekine und Ufan sowie Takamatsu, Enokura und Narita – obgleich mit anderen Taktiken – den Schauplatz der Bedeutungskonstruktion durch Materialien auf das intersubjektive Zusammenspiel zwischen Stoff lichkeiten und Menschen im Prozess der Wahrnehmung zu verlagern.45 Sie widersprachen dabei aber der strukturalistischen geprägten Auffassung, dass Bedeutung in Material und Gegenständen vorgängig angelegt sei und gewissermassen nur darauf warte, entfesselt und gelesen zu werden. Den vorgängigen Bedeutungsaspekt ersetzten sie durch eine offene Reihe von Formpotenzialen, die neue Beziehungen und so potenziell unbeabsichtigte, aber welthaltige Lesarten situativ ermöglichten. Weil sie sich dabei nicht auf eine synkretistische Verzahnung ihrer Haltungen mit Informationstheorie und Semiotik einließen, übten sie Kritik an Formen von Kunst und Architektur, die auf die Gestaltung von Umwelt oder Erfahrung zwar partizipativ, aber schliesslich kontrollierend einwirkten.
45 J. Kee: Points, Lines, Encounters, S. 406.
Materielles in Aktion Zum Einsatz von Materialien in der künstlerischen Praxis Christiane Schürkmann
Der Einsatz von Materialien ist Bestandteil des Arbeitsalltags von Künstler*innen. So gehen Künstler*innen im Zuge der Hervorbringung ihrer Werke mit diversen Artefakten, Stoffen und Substanzen um.1 Die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Materialien in der künstlerischen Praxis bedeuten neben der Alltäglichkeit zudem eine enorme Herausforderung: Materialien werden von Künstler*innen selektiert, gesucht, gefunden, gesammelt, erzeugt und gekauft; sie werden manuell oder mit Hilfe von Apparaturen, Maschinen und Chemikalien bearbeitet und formiert; auch werden sie sich ab und an in ihren Eigenschaften eine Zeit lang überlassen, liegengelassen oder gelagert. So geht es mitunter auch darum, mit und durch Materialien Überraschendes und Irritierendes in künstlerische Prozesse einzuspeisen, mit Materialien zu experimentieren und Materialien auszuprobieren. Neben konventionellen Verfahren der Materialbearbeitung im Rahmen künstlerischen Arbeitens werden daher auch alternative Methoden des Umgangs mit Materialien entwickelt und erprobt, um Materialien bestimmte Wirkweisen und Qualitäten zu entlocken, die sich sodann im Kontext des Werks zeigen beziehungsweise zeigen sollen. In dieser Weise wird Material gleichsam zu einem Substrat beziehungsweise zum Konstitutiv künstlerischer Praxis. In der Kunstsoziologie ist es vor allem Theodor W. Adorno, der dem Material eine mitunter gar dominierende Rolle innerhalb des künstlerischen Prozesses zuschreibt. Adorno sieht die Tätigkeit des Künstlers etwa darin, »[…] zwischen dem Problem zu vermitteln, dem er sich gegenübersieht und das selber bereits
1 Wagner, Monika/Rübel, Dietmar/Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst. Von Abfall bis Zinn, München: Beck 2010; mein herzlichster Dank geht an die Künstler*innen Myriam Holme, Miriam Jonas und Marten Schech, die mir detaillierte Einblicke in ihre Arbeitsweisen gewährt haben und die für Nachfragen stets geduldig zur Verfügung standen.
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vorgezeichnet ist, und der Lösung, die ebenso potentiell in dem Material steckt«2. Künstler*innen werden hiernach zum »Vollzugsorgan«3 einer Praxis, in der es darum geht, das im Material lauernde Werk zu enthüllen. Auch Howard S. Becker weist in seiner pragmatistischen Kunstsoziologie auf den Einbezug des Materials in der künstlerischen Praxis als Ressource hin4 sowie auf Umgangsweisen mit Materialien im Bereich der Kunst im Unterschied zum Handwerk.5 Besonders in den letzten Jahrzehnten ist das Material künstlerischer Werke auch verstärkt in den Fokus der Kunstwissenschaften und Kunstgeschichte gerückt. Entgegen einer idealistischen Kunstgeschichte haben zunächst Wagner6 und Rübel et al.7 das Material als eigenständigen Zugang der Kunstgeschichte profiliert. Auch neuere kunsthistorische und kunstwissenschaftliche Forschungen greifen die Relevanz des Materiellen auf.8 Zudem nehmen kunstwissenschaftliche Studien zum Einbezug des Materiellen konzeptionelle Anregungen aus der sozialwissenschaftlichen Forschung auf, wie etwa die Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours9 als methodischen Impulsgeber für die Berücksichtigung technischer Zugänge zur Kunst und ihrer Produktion.10 Neben der Wissenschafts- und Technikforschung11 betonen auch sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungen den Bereich der materiellen Kultur und damit den nicht zu vernachlässigenden Stellenwert von Dingen, Artefakten und Objekten in ganz verschiedenen sozia2 Adorno, Theodor: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 249.
3 Ebd. 4 Becker, Howard S.: Art Worlds, Berkeley: University of California Press 2008, S. 68 ff. 5 Ebd. S. 272 ff. 6 Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: Beck 2001.
7 Vgl. M. Wagner/D. Rübel/S. Hackenschmidt (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. 8 Naumann, Barbara/Strässle, Thomas/Torra-Mattenklott, Caroline (Hg.): Stoffe. Zur Geschichte der Materialität in den Künsten und Wissenschaften, Zürich: vdf 2006; Strässle, Thomas/Kleinschmidt, Christoph/Mohs, Johanne (Hg.): Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien, Praktiken, Perspektiven, Bielefeld: transcript 2013; Lange-Berndt, Petra: Materiality. Documents of Contemporary Art, Cambridge, Mass: MIT Press/London: Whitechapel Gallery 2015; Finke, Marcel/Weltzien, Friedrich (Hg.): State of Flux. Aesthetics of Fluid Materials, Berlin: Reimer 2017.
9 Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010.
10 Lehmann, Ann-Sophie: »Das Medium als Mediator. Eine Materialtheorie für (ÖI-)bilder«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 57, 1 (2012), S. 79-88.
11 Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein-Verlag 2001; Knorr-Cetina, Karin: »Objectual Practice«, in: Massimo Mazzotti (Hg.): Knowledge as Social Order. Rethinking the Sociology of Berry Barnes, Aldershot: Ashgate 2008, S. 83-97
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len Kontexten.12 Im Zuge neumaterialistischer Ansätze wird das Materielle in jüngerer Zeit zunehmend in seinen vitalistischen und aktiven Potenzialen sowie im Hinblick auf seine Positionierung zum Menschen diskutiert.13 In diesem Aufsatz folge ich aus einer ethnografischen Perspektive14 dem Einsatz von Materialien, die Künstler*innen zur Entwicklung ihrer Arbeiten ausgewählt, vorgefunden und behandelt haben. Entgegen der Vorstellung, dass Material ein bloßer Werkstoff für die Gestaltung und Umsetzung zuvor feststehender Ideen der Künstler*innen ist, wird deutlich, dass nicht zuletzt die Materialien selbst den Künstler*innen in ihren Erfordernissen, Potenzialen und Widerständigkeiten gegenübertreten und den Arbeitsprozess respektive die künstlerische Praxis in situ mitgestalten – kurzum: Das Material macht mit!15 Aus dieser Perspektive wird Material damit nicht nur »Ausgangsstoff jeder künstlerischen Gestaltung«16, sondern Stabilisator und Experimentator einer situierten künstlerischen Praxis, indem es einmal im Umgang mit ihm durch die Künstler*innen Routinen, aber auch konstruktive Unvorhersehbarkeit und Unsicherheit in den Arbeitsprozess integriert.17 Fragen, die hieran anschließen, lauten etwa: Wie wird Material in der künstlerischen Praxis wirksam? Wie werden Materialien Qualitäten von den mit ihnen umgehenden Künstler*innen zugesprochen? Hierzu werden im Folgenden am Beispiel dreier künstlerischer Arbeitsweisen verschiedene Begegnungen mit dem Materiellen diskutiert, in denen ästhetisches, kritisches 12 Vgl. Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin: Reimer 2005; Hahn, Hans Peter/Neumann, Friedemann: Dinge als Herausforderung. Kontexte, Umgangsweisen und Umwertungen von Objekten. Bielefeld: transcript 2018; Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias (Hg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn: Wilhelm Fink 2016.
13 Bennett, Jane: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham/London: Duke University Press 2010; Barad, Karen: Agentieller Realismus, Berlin: Suhrkamp 2012.
14 Im Zuge einer mehrjährigen Forschung im Feld der bildenden Kunst ist ein heterogener Datenkorpus generiert worden, dem sowohl ethnografische Protokolle, hervorgehend aus teilnehmenden Beobachtungen (Breidenstein, Georg/Hirschauer, Stefan/Kalthoff, Herbert/ Nieswand, Boris: Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung, Konstanz: UTB 2013), ethnografische Interviews (Spradley, James P.: The Ethnographic Interview, New York [u.a.]: Holt, Rinehart and Winston 1979) sowie Audio-, Video- und fotografisches Material (Pink, Sarah: Doing Visual Ethnography: Images, Media and Representation in Research, London: Sage 2009) zugrunde liegen.
15 Schürkmann, Christiane: Kunst in Arbeit. Künstlerisches Arbeiten zwischen Praxis und Phänomen, Bielefeld: transcript 2017, S. 135 ff.
16 M. Wagner: Das Material der Kunst, S. 12. 17 Schürkmann, Christiane: »Eisen, Säure, Rost und Putz. Zum Arbeiten mit Material in der bildenden Kunst«, in: Herbert Kalthoff/Torsten Cress/Tobias Röhl (Hg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn: Fink 2016, S. 366; C. Schürkmann: Kunst in Arbeit, S. 145 ff.
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und epistemisches Potenzial freigesetzt wird. Dabei handelt es sich um individualisierte künstlerische Arbeitsweisen, die dem Material unterschiedlich begegnen. Die künstlerische Praxis und die jeweilige Auswahl von und Umgangsweise mit Materialien in der heutigen Kunst ist in hohem Maße individualisiert – Künstler*innen suchen sich ihr Material und entwickeln mit diesem spezifische und geradezu personalisierte Verfahren, was nicht zuletzt die Wiedererkennung von Werken einschließlich ihrer jeweiligen Autor*innen ermöglicht. Im Folgenden werden individuelle Begegnungen mit dem Materiellen in der künstlerischen Praxis elaboriert, die eine Spannbreite von stoff lich, körperlich bis konzeptionell hervortreten lassen.
1. Das Eigenwüchsige des Materiellen: Das Material machen lassen Künstler*innen etablieren mitunter Arbeitsweisen, in denen das Material den künstlerischen Prozess phasenweise nicht nur aufrechthält und diesem als Ressource dient, sondern die Praxis gar dominiert. Dabei tritt die Künstler*in beziehungsweise der Künstler*innenkörper zurück – das Material übernimmt gleichsam die Arbeit – in diesem Kontext ein Ausschnitt aus einem ethnografischen Interview mit der Künstlerin Miriam Jonas, die für ihre Arbeiten in ihrem Atelier unter anderem Kristalle heranwachsen lässt. Dabei werden Impf kristalle gezüchtet und in eine vorher hergestellte Form beispielweise aus Gips eingepf lanzt. An den Kristallen setzt unter Zugabe von Lösungsmittel aus mit lichtechter Tusche versetztem Kaliumaluminiumsulfat ein Kristallisationsprozess ein. Nach dem Heranreifen der Kristalle in der Form gibt die Künstlerin weitere Lösung hinzu, sodass die Kristalle die violett schimmernde Farbigkeit eines Amethysten annehmen – ein Edelstein aus Quarz, dem reinigende und entgiftende Wirkungen nachgesagt werden. Sie teilt mir mit: »Ich darf den Raum nur ab und an betreten und muss die Schuhe ausziehen und auf Zehenspitzen gehen. Jede Erschütterung zerstört die Kristalle, die sich im Wachstum suchen und vernetzen. Sie zerfallen und wachsen. Ich weiß vorher nie genau, wie eine Arbeit wird und was aus ihr herauskommt.« Die Künstlerin konstruiert ein Setting, in dem die Materialien – in diesem Fall die Kristalle – eigendynamisch wachsen beziehungsweise in einem chemischphysikalischen Prozess Strukturen entwickeln und Form annehmen. Dabei ordnet sich die Künstlerin den Erfordernissen des Materials und dessen stofflichen Eigenschaften unter, um bestimmte Effekte – das ungestörte Wachstum der kristallinen Strukturen – zu erzielen, die im Kontext der entstehenden Arbeit formgebend sind. Es ist das Material, das hier im Zuge der künstlerischen Arbeit
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von der Künstlerin in spezieller Weise eingesetzt wird: Die Impf kristalle werden besorgt und im Atelier präpariert, die Lösung vorbereitet und zwischendurch mit Vorsicht hinzugegeben. Die Form, in welcher die Kristallisierung stattfinden soll, wird zuvor aus Polymergips, PU-Schaum und Lack von der Künstlerin angefertigt und bereitgestellt – eine weiße, fast klinisch anmutende puristische Form, die an ein Waschbecken erinnert, was die Bedeutungsebene des reinigenden Gesteins Abbildung 01: Miriam Jonas, Druse, 2016. Kaliumaluminiumsulfat, Tusche, Polymergips, PU-Schaum, Lack, 60 cm x 95 cm x 6 cm.
© Miriam Jonas, mit Genehmigung der Künstlerin verwendet als Bildzitat.
in ironischer Weise aufnimmt. Zugleich ist es das Material, das – so der Kristallisierungsprozess begonnen hat – die Situation dominiert und in seinen formgebenden Wachstumsprozessen ästhetisch wirksam wird. Die Künstlerin hingegen nimmt sich in ihren Bewegungen und ihrer Präsenz im Atelier zurück. Sie muss – so sie den von ihr initiierten Vorgang nicht stören beziehungsweise zerstören möchte – jede Erschütterung des Atelierbodens vermeiden, auf dem die Form mit den Kristallen auf einer Tischvorrichtung aufgestellt ist. Zugleich muss die Lösung hinzugegeben werden, um den Kristallisierungsvorgang und die Farbgebung zu initiieren. Was zeigt sich hier? Das Material wird seitens der Künstlerin als ein aktives Material zum Einsatz gebracht und für die künstlerische Praxis gewonnen – als vitalistische Entität im Sinne von »vibrant matter«18 beziehungsweise als produk18 J. Bennett: Vibrant Matter.
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tive Materie im Sinne eines »Agens«19 wird der künstlerische Prozess vom Material ausgehend figuriert. Oder anders formuliert: Eine solche künstlerische Praxis bezieht die agency20 von Stoffen und ihren Eigenschaften, Dynamiken und Potenzialen ein. In dieser Weise gibt sich die Praxis hier nicht als vornehmlich ideelle, sondern primär als materielle Praxis zu erkennen, in der die Künstlerin sich zuvor ein bestimmtes Materialwissen aneignet (wie gelingt es Kristalle zu züchten?), um dann das Material machen zu lassen (kristallisieren). Ein derartiges Verständnis von künstlerischer Praxis geht nicht per se von einem universell und omnipräsenten Künstler*innensubjekt aus, sondern vielmehr von einer Kooperation mit der Welt der Objekte, Dinge und Stoffe, die ihren Raum und ihre Zeit bekommen, um sich im Kontext der künstlerischen Arbeit zu entfalten. So gibt die Künstlerin auch ein Stück weit die Kontrolle an das Material ab, ihre Körperlichkeit wird zum Risikofaktor des Arbeitsprozesses. Eine solche künstlerische Praxis verortet sich auch in einer Haltung gegenüber materiellen Entitäten und deren Dynamiken, denen formgebende und ästhetische Qualitäten nicht nur symbolisch zugeschrieben, sondern auch auf stoff licher Ebene entlockt werden.
2. D as Konzeptionelle des Materiellen: Material zwischen Natur und Kultur Auch Fund- und Sammlungsstücke finden in der künstlerischen Praxis Verwendung und werden transformiert in Material für künstlerische Arbeiten. Dabei transportieren die gefundenen und gesammelten Dinge und Artefakte nicht selten ihren vorherigen Kontext mit in die entstehende Arbeit, was dieser in ihrer ästhetischen, diskursiven sowie interpretativen Anschlussfähigkeit zur Ressource werden kann. Materialien sind immer auch in gewachsene Bedeutungen und kulturelles Wissen um differenzierte Materialwertigkeiten eingebettet, was den Blick auf einzelne Materialien präformiert.21 So besteht eine Erwartung in der künstlerischen Praxis auch darin, dass Künstler*innen respektive die Arbeiten selbst plausibilisieren, wie es zu diesem oder jenem Materialeinsatz kommt und welche Effekte und Deutungen damit einhergehen können. Die Plausibilisierung ist dabei nicht allein in einem pragmatischen Zugang zu finden, sondern geht auch mit konzeptionellen Auf ladungen einher. Material im Einsatz 19 Barad, Karen: »Agentieller Realismus«, in: Susanne Bauer/Torsten Heinemann/Thomas Lemke (Hg.): Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 574-643, hier S. 580.
20 Vgl. B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. 21 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt am Main und New York: Campus 1991.
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künstlerischer Praxis ist daher keineswegs unschuldig oder neutral, da es dem jeweiligen Werk immer auch Bedeutung einschreibt.22 Wie diese konzeptionelle Dimension des Materiellen durch die Auswahl und die Behandlung von Materialien Einzug in die künstlerische Praxis und damit auch in die entstehende Arbeit erhält, wird im Folgenden an einem Beispiel einer Installation des Künstlers Marten Schech beschrieben – ein Protokollausschnitt: »Für seine Installation in einem schwarzen, cineastisch anmutenden Raum hat der Künstler Stämme, Äste und Zweige von verschiedenen Bäumen gesammelt. Er plant – so teilt er mir schriftlich und auch in einem anschließenden Gespräch mit –, diese zu einem fiktiven Baumgebilde zusammenzubauen, das er pink anmalen möchte. Entstehen soll ein blattloses, fast tot wirkendes, rosa Baumgebilde, das aus dem Betonboden des Raumes ‚bricht‘ und das leicht geneigt bis in den Bereich der Decke hineinragt – eine Art künstliches Baumwesen, bestehend aus dem Holz toter Bäume, das irgendwo zwischen Leben und Tod eine Assoziation an Mary Shelley’s weltbekannten romantischen Schauerroman »Frankenstein or The Modern Prometheus« wecken könnte und das Fragen aufwirft: Ist das Wesen lebendig oder tot? Wo kann es zwischen »künstlich« (menschengemacht) und »natürlich« (gewachsenes Holz) eingeordnet werden? Parallel zum Sammeln und Auswählen der Äste und Zweige baut der Künstler ein Modell von dem Szenario – auch, um sich dieses Vorhaben im Kleinen vor Augen zu führen. Die Installation des Baumgebildes soll den Titel PINKHOUSE tragen, was mit Referenz auf den vieldiskutierten Greenhouse Effect nicht zuletzt den Eingriff von Menschen in so etwas wie ›Natur‹ und damit auch menschliches Schöpfertum zur Disposition stellt.« Der Künstler entwirft für das Ausstellungssetting – das Einraumhaus – eine Arbeit, in der das Material (unbehandeltes Holz beziehungsweise Stämme, Äste und Zweige) und dessen Bearbeitung (Zusammenbau der verschiedenen Stämme, Äste und Zweige und deren rosa Bemalung) in den konzeptionellen Rahmen einer Rauminstallation gestellt werden. So wird auch das künstlerische, schöpferische Arbeiten mit vermeintlich Natürlichem als Prozess ref lexiv zu einer Frage, da quasi Natürliches in Artifizielles, Künstliches und im weiteren Sinne Fremdes verwandelt wird. In dieser Weise ref lektiert der Künstler in seinem konzeptionellen Herangehen im Umgang mit dem Material hier nicht nur seine eigene Praxis des Kreierens eines Gebildes oder gar Geschöpfes im Sinne des bekannten Frankenstein-Motivs, sonders schließt damit auch an aktuelle Diskurse an, die menschliche Eingriffe hinterfragen: Etwa den Diskurs um das Anthropozän23 22 C. Schürkmann: Kunst in Arbeit, S. 140. 23 Crutzen, Paul J./Stoermer, Eugene: »The Anthropocene«, Global Change Newsletter, 41 (2000), S. 17-18.
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und im Weiteren die Auseinandersetzung mit Natur/Kultur-Verhältnissen in Zeiten des menschengemachten Klimawandels. Diese Diskurse sind auch den Sozialwissenschaften bestens bekannt, deren Vertreter*innen mitunter die Überwindung von Natur/Kultur-Dualismen fordern und hybride Konstellationen von menschlicher und materieller Welt vorschlagen – wie Bruno Latour beispielsweise schreibt: »Die Hybriden breiten sich aus«.24 Die These der Hybridisierung von Natur und Kultur, von natürlich und künstlich ist auch mit Einbezug posthumanistischer Ansätze etwa in Form der Cyborg-Metapher konzipiert worden.25 Mit dieser wird eine feministische Gesellschaft entworfen, die ihre Differenzierungen entlang Klasse, Geschlecht und Herkunft, aber auch in Bezug auf Natur und Kultur fortlaufend politisiert und dynamisiert, indem sie hybride Entitäten und Identitäten erschafft und ermöglicht. Die als Cyborgs beschriebenen Verbindungen zwischen Mensch-Maschine, Mensch-Tier, zwischen Geschlechtern sowie Natur-Kultur gehen dabei neue Beziehungen ein, mit dem Potenzial, gesellschaftliche Machtverhältnisse, manifeste Hierarchien und soziale Strukturen zu transformieren und zu kritisieren. Deutlich wird: Auch in der künstlerischen Praxis finden konzeptionelle und theoretische Überlegungen Eingang und präformieren die Auswahl von Materialien und deren Bearbeitung – hier die Erschaffung eines pinken, quasi aus einzelnen Baumteilen konstruierten Gebildes, das sich nur schwer in binäre und dichotome Kategorien und Verhältnisse einordnen lässt. Das Material wird in Form der raumgreifenden Installation auch in den Kontext von Diskursen gestellt, sodass die Installation über ihre materielle Erscheinung hinausgehend transzendiert wird. Mit der konzeptionellen Einbettung des Materials werden dabei nicht nur ästhetische, sondern auch kritische Potenziale in der Begegnung zwischen Material und Künstler sowie im Weiteren zwischen der künstlerischen Arbeit und ihren Betrachter*innen freigesetzt, so sich diese mit ihren Dispositionen und Betrachtungsweisen derartigen Fragen in Anbetracht des blattlosen, geneigten, rosa Baumgebildes vor schwarzer Kulisse aussetzen.
24 Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017, S. 7.
25 Haraway, Donna J.: A Cyborg Manifesto: Science, Technology and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century, in: Donna J. Haraway (Hg.): Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature, London: Free Association Books 1991.
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Abbildung 02: Marten Schech, Pinkhouse, 2019. Holz, Holzkitt, Farbe, Lack, Estrich. Ausstellungsansicht Einraumhaus c/o, Mannheim.
© Marten Schech, mit Genehmigung des Künstlers verwendet als Bildzitat.
3. D as Widerständige des Materiellen: Körper und Materialien im Eifer des Gefechts Der Einsatz von Material in der künstlerischen Praxis geht nicht selten mit körperlichen Anstrengungen in Auseinandersetzung mit materieller Widerständigkeit einher. Das Material setzt seiner Manipulierbarkeit, Formbarkeit und Bearbeitbarkeit etwas entgegen und ringt den mit ihm umgehenden Künstler*innenkörpern Einsatz und Anstrengung ab: So steht nicht allein das Material im Dienst der Arbeit, auch der Körper der Künstler*innen fügt sich in die Praxis des Arbeitsprozesses ein. Nicht selten nehmen Künstler*innenkörper Kontakte mit verschiede-
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nen Stoffen und Konfrontationen mit materiellen Widerständen auf sich – zum Teil gar verbunden mit enormen gesundheitlichen Risiken.26 Aber auch abseits des Umgangs mit giftigen Stoffen, scharfen Klingen, oder schwerem Gerät, wie Kettensägen und Schneidemaschinen, setzt sich der Körper der Anstrengung im Gefecht mit den eingesetzten Materialien aus,27 wobei das Ringen zwischen Künstler*in und Material mitunter gezielt zur Ressource für den künstlerischen Prozess wird – hierzu ein Ausschnitt aus einem ethnografischen Protokoll, das einen Einblick in den Besuch des Ateliers der Künstlerin Myriam Holme gibt, verbunden mit einem ethnografischen Interview. »Ich betrete das Atelier der Künstlerin. Der auf in einer ehemaligien Industrieanlage befindliche Raum ist geräumig und hell. Ich sehe mich um. Große schimmernde Aluminiumplatten liegen am Boden des Ateliers, weitere hängen bereits als ›fertige Arbeiten‹ an der Wand. Auf ihnen zeigen sich farbige Spuren, Sprenkel und Spritzer. Die an der Wand hängenden Aluminiumplatten wölben sich in faszinierend unwahrscheinlicher Weise und ragen in den Raum hinein. Die Künstlerin erklärt mir, dass sie für diese Arbeiten mit gebrauchten Offset-Platten arbeitet: ›Ich gehe in meiner Arbeit mit den Gebrauchsspuren der Platten, die von der Hitze und den Walzen stammen, einen Dialog ein.‹ Es sei für sie undenkbar, auf einem neuen, unangetasteten Bildträger wie etwa einer weißen Leinwand zu arbeiten. Zudem spielen die Reaktionen verschiedener chemischer Komponenten, die sie nicht immer vorhersehen könne, eine große Rolle. Auch die Verformung der flachen Platten sei wichtig, damit sich die Malerei – hier auf Aluminium – in den Raum ausdehnen und sich von engen zweidimensionalen Bildformaten befreien könne – sie sagt: ›Das Material und ich kämpfen miteinander und müssen in den Dialog kommen. Ich weiß, was ich von dem Material will.‹« Die Offenheit und Neugier der Künstlerin gegenüber dem unbekannten Zusammenspiel der verschiedenen Stoffe treffen auf eigendynamische chemische und physikalische Reaktionen der kombinierten Materialien. Künstlerin und Materialien arbeiten zusammen – ringen aber auch miteinander, wenn es zum Beispiel darum geht, Aluminium dazu zu veranlassen, dass es die von der Künstlerin aufgetragene Farbe als ihr Träger akzeptiert, oder etwa darum, das Metall durch Körperkraft weitergehend zu biegen. Dabei werden die Spuren des Gebrauchs der Aluminiumplatten für die Künstlerin und ihre Materialbehandlungen dahingehend orientierungsgebend, dass sie auf diese reagiert und sie als Ressource für ihre malerischen Eingriffe nutzt: Was findet sie bereits vor und wo kann 26 McNeill, Moon: Wenn Kunst krank macht. Vom allzu sorglosen Umgang mit Künstlermaterialien, Norderstedt: Books on Demand 2010.
27 C. Schürkmann: Kunst in Arbeit, S. 159.
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sie mit ihren Gesten und Eingriffen ansetzen? In dieser Weise wird das Material als gebrauchtes Material für die künstlerische Praxis Stabilisator und Impulsgeber zugleich. Jedoch ist die Praxis auch von einem Spannungsverhältnis zwischen Künstlerin und Materialien geprägt – wie die Künstlerin formuliert: »Das Material und ich kämpfen miteinander«. Dieses Spannungsverhältnis wird von Abbildung 03: Myriam Holme, an deinem leuchtfeuer, 2019. Aluminium, Beize, Blattgold, Lack, Tusche, Acrylfarbe, Bleistif t, 257 x 300 x 45 cm. Sammlung Städtische Galerie Karlsruhe.
© Myriam Holme, mit Genehmigung der Künstlerin verwendet als Bildzitat.
der Künstlerin geradezu erzeugt und ist von Professionalität im Umgang mit den unterschiedlichen zum Einsatz gebrachten Stoffen geprägt – oder in den Worten der Künstlerin: Sie weiß, was sie »von dem Material will«. Dass das Material – hier die eingesetzten Aluminiumplatten – seiner Bearbeitung in gewisser Weise Widerstand leistet und einer leichtgängigen Behandlung etwas entgegensetzt, ist von der Künstlerin intendiert und wird für sie zur konstruktiven Bedingung für ihren Arbeitsprozess: Mit Körperkraft biegt sie die metallenen Platten, mit quasi experimentellen Versuchen erprobt sie, welche Stoffe und Pigmentgemische auf dem Trägermaterial Aluminium überhaupt haften können. Getragen wird dieses Herangehen auch von der Ambition der Künstlerin, die Möglichkeiten von Malerei in den Raum hinein zu erweitern und Malerei und Skulptur, Malerei und Installation zusammen zu denken. Das Material wird in der künstlerischen Praxis in seinen initiierenden, quasi autonomen und experimentellen Potenzialen zu deren Mitspieler sowie bis zu einem gewissen produktiven Grad zum herausfordernden Gegenspieler gemacht,
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um den künstlerischen Prozess zu irritieren und Neues beziehungsweise Anderes zu erzeugen – oder anders formuliert: Es wird in einer derartigen künstlerischen Praxis nicht einseitig manipuliert oder domestiziert, um zuvor erdachte Effekte zu erzielen, sondern die künstlerische Arbeit entwickelt sich erst im Zusammenspiel mit den zum Einsatz gebrachten Materialien, die ihre Qualitäten und Erfordernisse in die Praxis des Arbeitens transportieren.28 Material wird dabei zu einem »epistemischen Ding«29 beziehungsweise zu einem epistemisch-ästhetischen Ding des künstlerischen Prozesses, dem sich die Künstlerin in ihrer Arbeitsweise offensiv stellt und welches sie für ihre Praxis einzusetzen weiß (Abb. 01).
4. Schluss Welche Rolle spielt Material in der gegenwärtigen künstlerischen Praxis? Diese Frage stellt sich nicht zuletzt in Anbetracht aktueller Diskussionen um Digitalisierung und Virtualisierung – auch im Bereich der Kunst in ihren Arbeitsweisen und Werken. So wird Material in der Kunst derzeit nicht selten im Verhältnis zu deren Immaterialität in den Blick genommen, etwa in Bezug auf Konzeptkunst, Netzkunst, oder Kunst, die mit Virtual Reality arbeitet, wobei diese Diskurse in ihren Argumentationen keineswegs brandneu sind. Entgegen einer materialistischen Sicht auf Kunst sind in der Kunst selbst immer wieder »Vorstellungen von der Überwindung des Materials, der Unabhängigkeit von materiellen Bindungen – Ideen vom Immateriellen […]«30 präsent gemacht geworden. Zunächst transparente Materialien wie Glas, aber auch Zeichen, Informationen und Daten sind im Zuge des Auf kommens von Informations- und Kommunikationstechnologien als »Materialien des Immateriellen«31 diskutiert worden. Gegenwärtig betrifft dies beispielsweise die Digitalisierung künstlerischer Prozesse, die ihr Material in Codes und Algorithmen finden.32 Dabei kann festgehalten werden, dass in einer Zeit, in der Digitalisierung und Algorithmen auch in der Kunst eine zunehmende Rolle spielen, der Umgang mit dem Materiellen in seinem Facettenreichtum eine nach wie vor relevante Stellung zuteilwird. Material in der Kunst ist nach wie vor in Aktion!
28 C. Schürkmann: Eisen, Säure, Rost und Putz, S. 365 ff. 29 H.-J. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 24. 30 Rübel, Dietmar/Wagner, Monika/Wolff, Vera: Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin: Reimer 2005, S. 323.
31 Ebd, S. 322 ff. 32 Huber, Hans Dieter: »Materialität und Immaterialität der Netzkunst«, in: kritische Berichte, Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften. Sonderheft Netzkunst 26, 1 (1998), S. 39-53.
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Deutlich gemacht wurde diese Aktivität und Aktivierung des Materiellen im Einsatz künstlerischer Praxis durch die ethnografische Fokussierung dreier exemplarischer Arbeitsweisen von Künstler*innen, die mit ganz verschiedenen Materialien umgehen – Kristall, Metall und Holz – und die Materialien in unterschiedlichen Weisen zur Entwicklung ihrer Arbeiten einsetzen. Dabei konnten besonders drei Dimensionen des Materiellen herausgearbeitet werden, die dem jeweiligen künstlerischen Arbeitsprozess zur Ressource werden: 1) In seiner Eigenwüchsigkeit formt und strukturiert Material die künstlerische Praxis in ästhetischer Weise und dezentriert humane Eingriffe beziehungsweise Eingriffe durch die Künstler*in als alleinige Instanz künstlerischen Arbeitens; 2) in seinen konzeptionellen Potenzialen induziert das gewählte Material in seiner ihm zugeschriebenen Qualität und Wertigkeit die künstlerische Arbeit mit Theorie – es schließt in seiner Selektivität und kulturellen Einbettung die Arbeit in ihren kritischen Implikationen an aktuelle Diskurse innerhalb und außerhalb der Kunst an; 3) in seiner Widerständigkeit ringt das Material dem Künstler*innenkörper Anstrengung ab und bietet Möglichkeiten, Konventionen zu irritieren, zu erweitern und als epistemisch-ästhetisches Objekt wirksam zu werden. Abschließend lässt sich festhalten, dass das Materielle die künstlerische Praxis als eine in den Blick geraten lässt, in der Menschen und Artefakte, Menschen und Stoffe, Menschen und Substanzen kooperieren und in Zusammenarbeit etwas hervorbringen, das sich sodann zeigt – die künstlerischen Arbeiten, die zunächst im Atelier den Künstler*innen und sodann im Rahmen ausgestellter Werke einem Publikum begegnen. Im Feld der Kunst mit besonderem Blick auf die künstlerische Praxis und die Zusammenarbeit zwischen Künstler*innen und Materialien wird oftmals eine Haltung erkennbar, in der die Welt des Materiellen als Koexistenz von Künstler*innen vorausgesetzt wird: Nicht ein das Material beherrschendes Künstler*innensubjekt domestiziert hiernach die Dinge, sondern Künstler*innen und Materialien gehen Bündnisse ein, die von Spannungen, Möglichkeiten und Überraschungen geprägt sein können. Begegnungen mit dem Materiellen sind in der künstlerischen Praxis somit einmal alltäglich und werden zugleich doch immer wieder erprobt und ausgehandelt, um neue und andere Werke hervorzubringen, die das Material transzendieren und in denen es zu etwas anderem emergiert.
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»An experimental mistbeet« Ding- und Objektbezüge im Wohnhaus und der Architektur Jože Plečniks Eva Maria Froschauer
Die Entwürfe, Bauten und Objekte, die Stadtplanungen und -regulierungen Jože Plečniks (1872-1957) sind bis heute von enormer Überzeugungskraft: für diejenigen, die darin den Ausdruck eines Traditionalismus schätzen, und ebenso für diejenigen, die damit eine geniale Idiosynkrasie umgesetzt sehen. Von Prag bis Ljubljana schuf der Architekt Werke, die sich schwer typisieren lassen und denen die Rezeption genauso Humanismus wie Pre-Postmodernismus zuweist.1 Die folgende Analyse will den existierenden, oftmals um stilistische Zuordnung ringenden Ausdeutungen eine erweiterte Lesart hinzustellen. Die Auseinandersetzung mit der eigentümlichen Präsenz architektonischer Elemente in den Werken Plečniks sieht sowohl die Vorgänge des Entwerfens als auch dessen Ding- und Objektbezüge in neuen Zusammenhängen, wie beispielsweise dem Forschungsfeld der materiellen Kultur. Der Gegenstand, in dem sich die Dingwelt2 des Architekten auf das Anschaulichste entfaltet, ist dessen eigenes (Sammlungs-)Haus in Ljubljana, das Hiša Plečnik, das er von 1921 bis zu seinem Tod 1957 bewohnte und formte und das ihm, nach seinen Worten, mehr als ein Experimentierfeld des Entwerfens ‒ »an experimental mistbeet«3 ‒, denn als ein bloßes Gebäude galt. Gerade diese 1 Valena, Thomáš: »Plečniks Ljubljana als humanistischer Stadtumbau«, in: archimaera 7 (2018), S. 45-61. URN: urn:nbn:de:0009-21-47007 vom 10.9.2019; Burkhardt, François: »Modern or Postmodern: A Question of Ethics?«, in: François Burkhardt/Claude Eveno/Boris Podrecca (Hg.): Jože Plečnik. Architect: 1872-1957, Cambridge, Mass.: MIT Press 1989, S. 108-118.
2 Dieser Aufsatz entstand vor dem Hintergrund der Forschung der Autorin zur Werkzeughaftigkeit von Sammlungsdingen in architektonischen Entwurfsprozessen, Froschauer, Eva Maria: Entwurfsdinge. Vom Sammeln als Werkzeug moderner Architektur, Basel: Birkhäuser 2019.
3 Porok, Ana: »Architecture begins and ends with Stone«, in: Museum and Galleries of Ljubljana (Hg.): Hiša Plečnik House. On the centenary of the purchase of the house at 4 Karunova Street and in the year of Plečnik House’s comprehensive renovation (1915-2015), Museum and Galleries of Ljubljana, Ljubljana 2019, S. 17-37, hier S. 35.
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Vorstellung lässt sich, seit das Haus im Jahr 2015 neu saniert als Abteilung der städtischen Museen und Galerien in Ljubljana betrieben wird,4 mit der ganzen Überzeugungskraft des Materialen nachvollziehen (Abb. 01).
1. Diskursive Hinführung zum Ding bei Plečnik Um den Ding-Bezug in Plečniks Werk in eine aktuelle Auslegung zu überführen, muss er zunächst dort aufgegriffen werden, wo er bereits einmal thematisiert worden ist: Thomáš Valena nimmt im Zuge des 2018 eingebrachten slowenischen Weltkulturerbe-Antrags, der eine Reihe baulicher und stadtgestalterischer Maßnahmen Jože Plečniks unter dem Schlagwort einer »timeless, humanistic architecture«5 listen lassen will, eine Begriffsklärung vor, in der das Ding als Fazit aufscheint. Valena begründet die Feststellung eines »konkreten architektonischen Humanismus« bei Plečnik gleich dreifach: mit dem Nutzen des menschlichen Maßes, mit der Anwendung einer universell verständlichen »klassischen Architektursprache« und durch die »Einfügung architektonischer Elemente in urbane Räume«, die in der Lage seien, »Gespräche, Dialoge, Diskurse« zwischen Architektur, Stadt und Mensch zu führen und – nach Martin Heidegger – den »Aufenthalt bei den Dingen« im Sinn des Wohnens und Geviert Schonens zu regeln.6 Mit dieser stichwortartigen Nennung des Schlagworts Ding gemäß Heidegger endet diese Bezugnahme bei Valena auch bereits wieder, sein Text kreist im Kern weiter um die Charakteristik architektonischer Humanismus. Viel früher und im Kontext der Suche nach Versprachlichung und Zeichenhaftigkeit (postmoderner) Architektur kommt 1989 Boris Podrecca anhand der Architekturelemente wie etwa Säulen, die Plečnik archaisiert und so vielfach verwendet hat, zum Schluss, dass dessen Objekte im Disput mit der Geschichte als Wortfetzen des Gesprächs gelten könnten.7 Architektonische Elemente, vielleicht auch aufgrund ihrer Dingoder Objekthaftigkeit, werden hier zu Medien der Kommunikation. Nun könnte zwar die erstgenannte Dingerklärung von Thomáš Valena weitergetrieben werden, welcher Heidegger heranzieht, jedoch nicht das zunächst Gegebene und dessen »Seinscharaktere wie Substanzialität, Materialität, Ausge4 Plečnikova Hiša ist heute Teil des 2009 gegründeten Verbundes Muzej in galerije mesta Ljubljane (MGML), Haus und Interieur wurden von 2013 bis 2015 umfassend saniert und konserviert.
5 Zur slowenischen Tentative List, URL: https://whc.unesco.org/en/tentativelists/6295/ vom 10.9.2019.
6 Valena, Thomáš: »Plečniks Ljubljana als humanistischer Stadtumbau«, in: archimaera 7 (2018), S. 47. URN: urn:nbn:de:0009-21-47007 vom 10.9.2019.
7 Podrecca, Boris: »Columns, Walls, Space«, in: François Burkhardt/Claude Eveno/Boris Podrecca (Hg.): Jože Plečnik. Architect: 1872-1957. Cambridge, Mass.: MIT Press 1989, S. 166-185, hier S. 166.
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dehntheit, Nebeneinander«8 bedenkt, sondern gleich die Diskursteilnahme des Dings sucht. Doch sollen die Ding- oder Objektbezüge in der Architektur Plečniks hier auf eine andere Weise festgestellt werden, nämlich, indem die Gegenstände, mit denen sich der Architekt umgab, als Material gesehen und in den Vordergrund geholt werden, um eine Verbindung zu seinem Architekturdenken und Entwerfen herzustellen. Abbildung 01: Gartenansicht des Hiša Plečnik mit Wintergarten und Spolien. Laibacher Privathaus des Architekten, umgebaut 1923-30, 2015 nach umfangreicher Sanierung wiedereröf fnet.
Foto: Eva Maria Froschauer, 2019.
Der Architekt eignet sich für eine solche Blickrichtung, da er, wie so viele Künstler*innen oder Kolleg*innen, in der eigenen Arbeitsanordnung gewohnt und entworfen hat: in einem Wissensraum, der sich über Ateliersujets der freien Künste hinaus ebenso in der Architektur finden lässt. Das historische Muster für einen solchen Raum ist das sogenannte studiolo, in welchem Gelehrte und Denker mit ihren Wissens- und Sammlungsdingen symbiotisch verbunden waren oder mindestens mit ihnen repräsentiert haben.9 Zwar war Plečnik nicht der prototypische Sammlerarchitekt, doch besaß er mit seinem Haus im Laibacher Stadtteil Trnovo, unweit seiner langjährigen Wirkungsstätte als Hochschullehrer, der Architekturfakultät an der heutigen Universität Ljubljana, ein studiolo. Dieses Arbeits- und 8 Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927], Tübingen: Niemeyer 1967, S. 68. 9 Vgl. die Kontextualisierung des studiolos als Sammlungsanordnung bei E. M. Froschauer: Entwurfsdinge, 2019, S. 197f.
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Wohnhaus zeigt bis heute, dass er von Dingen nicht nur umgeben war, sondern diese auch arrangierte, nutzte und sich anverwandelte, dass er die ihn umgebenden Dinge in seinen Kreationsvorgängen wirksam werden ließ (Abb. 02). Das Haus, das sich heute in einem hervorragend restaurierten Zustand befindet und das neben permanenten wie temporären Ausstellungen rund um Plečnik ein eigenständiges/ergänzendes Exponat darstellt, ist vergleichbar mit Architektenhäusern, die zugleich Sammlungs-, Arbeits- und Ausstellungshäuser sind, so etwa jenes von Ernö Goldfinger in London oder jenes Renaat Braems in Antwerpen.10 Zudem wird in Ljubljana eine ähnliche Ausstellungspolitik betrieben: das Haus wird gezeigt, als ob der Architekt nur eben einmal kurz den Raum verlassen hätte.11
2. Ding oder Objekt – was ist gemeint? Das Plečnik-Haus ist zunächst ein Museum über die Arbeits- und Lebensumgebung eines Architekten, ein Ausstellungshaus in dem ein bestimmter kuratorischer Ansatz – die Darstellung eines authentischen Alltagsabbildes – gepf legt wird. Die Dinge und Objekte des Museums haben aus dieser Perspektive eine museologische Vermittlungs- und eine didaktische Erzählerrolle. Doch geht es im Folgenden nicht nur um Museumsobjekte, sondern vielmehr um Entwurfsdinge in der Verwendung eines schaffenden Architekten. Deren mögliche Wirksamkeit soll im Fall Jože Plečniks näher beschrieben werden. Und dabei ist genauer zu fragen, ob es sich bei all dem, was den Architekten umgab, um Dinge oder um Objekte handelt und welche Definition der materiellen Kultur hier am besten greift. In der großen Zahl bestehender Ding- und Objektcharakterisierungen unterschiedlicher Forschungsfelder besteht für einen Begriff weitestgehend Einigkeit, nämlich in der Beschreibung der Artefakte als in jedem Fall Menschenwerk. Übereinstimmung besteht oft auch darin, dass es sich beim Ding zunächst um einen Oberbegriff handelt.12 Über den phänomenologischen Zugang hinaus, den Valena mit Heidegger einbringt, lassen sich weitere Konzepte heranziehen, so Hart10 Ebd., siehe Fallbeispiele unter dem Titel »Verräumlichte Sammlungen – Wirksame Entwurfsdinge«, S. 197-264; vgl. Hans-Peter Schwarz/Heike Lauer/Jörg Stabenow (Hg.): Künstlerhäuser. Eine Architekturgeschichte des Privaten. Ausstellungskatalog Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main, Braunschweig: Vieweg 1989.
11 Über das kuratorische Konzept bei Toman Kracina, Katarina: »Over 1.000 Objects of Plečnik in the Conservation Workshop of the Museum & Galleries of Ljubljana«, in: Museum and Galleries of Ljubljana (Hg.): Hiša Plečnik House. On the centenary of the purchase of the house at 4 Karunova Street and in the year of Plečnik House’s comprehensive renovation (1915-2015), Museum and Galleries of Ljubljana, Ljubljana 2019, S. 89‒103, hier S. 101f.
12 Korff, Gottfried: »Sieben Fragen zu den Alltagsdingen«, in: Gudrun M. König (Hg.): Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, Tübingen: Tübinger Verein für Volkskunde 2005, S. 29-42,
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mut Böhmes Verortung der Dinge als Fetische der Moderne, mit der er eine Reihe verschiedener Dingkonzepte durchdenkt und das definitorische Feld weit öffnet.13 Hinzu kommt die Umkreisung des Dings aus dem anglo-amerikanischen Raum, wo die material culture studies sich viel deutlicher den Gebrauchswerten und -formen der Dinge zuwenden, als etwa, so Gottfried Korff in seinen »Sieben Fragen zu den Alltagsdingen«, die in der deutschsprachigen Debatte gepf legte Sicht, die Abbildung 02: Werkzeuge und Instrumente, Erinnerungs- und Gebrauchsgegenstände. Im Vordergrund Filzhut und in der Schublade zahlreiche Brillen als Attribute des Architekten.
Foto: Eva Maria Froschauer, 2019.
möglicherweise weit mehr »an höheren Bedeutungen, symbolischen und ästhetischen Ordnungen« der Objekte interessiert sei.14 Bill Brown, eigentlich Literaturwissenschaftler, zugleich prominenter Vertreter der US-amerikanischen Ding-Forschung, sieht das Objekt, das aus dem Gebrauch gefallen ist, zum Ding werden.15 hier S. 35; Ludwig, Andreas »Materielle Kultur«, in: Docupedia-Zeitgeschichte online, 30.5.2011. DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.300.v1 vom 12.9.2019, o. S.
13 Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006; vgl. A. Ludwig: Materielle Kultur, er schreibt, das Feld der Objektforschung sei »extrem offen«.
14 G. Korff: Sieben Fragen zu den Alltagsdingen, S. 37. 15 Brown, Bill: »Thing Theory«, in: Critical Inquiry 1 (2001), S. 1-22; vgl. Rezension zu Bill Brown: Other Things. Chicago 2015 von Dini, Rachele: »Bill Brown, Other Things«, in: European Journal
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Die Offenheit und Unschärfe des Definitionspaares Ding/Objekt beschreibt Gottfried Korff als einen möglichen Vorteil, denn solcherart Unbestimmtheit ermögliche viele Deutungen.16 Andreas Ludwig bringt trotz des offenen Feldes ein wenig Klarheit: Er spricht vom Ding immer dann, wenn es um sein dreidimensionales »Vorhandensein«, den »Gebrauchswert« oder einen »historischen Nutzungskontext« geht. Das Objekt versteht er als mit »kulturelle[r] Codierung und historische[r] Interpretation« versehen.17 Beide Gegenstandsdeutungen greifen im Fall Jože Plečniks. Was hinzukommt ist die Rolle, die Ludwig den Dingen in der Geschichtsforschung zumisst: Indem sie musealisiert werden, seien sie mehr als »Überreste«, nämlich intentionale »Quellen«.18 Die Kuratoren des Plečnik-Hauses haben den Quellencharakter des Hauses und der Sammlung hervorgehoben ‒ und sie eröffnen damit die Möglichkeit, Dinge und Objekte in der Zeugenschaft »eingefrorener Handlungen«19 zu betrachten. Diese Sichtweise ermöglicht es, Dinge im Besitz von Kreativen nicht nur in ihrer Erscheinung, sondern auch ihren möglichen Gebrauch als inspirierende Objekte und Bedeutungsträger zu untersuchen, das heißt, sie als Entwurfsdinge zu verstehen. Sie sind auf diese Weise Gegenstände, die zwischen nutzendem Subjekt und entstehender Repräsentation, dem Entwurf, vermitteln. Plečnik besaß in diesem Sinn Dinge wie Objekte. Nach Ludwig handelt es sich um Dinge, wenn die heute musealisierten Gegenstandsarrangements sein Alltagsleben mit den Artefakten wiedergeben, so zum Beispiel die vielen Stifte auf seinem Schreibtisch, die Brillen in der Schublade, der Hut und der Zeitschriftenstapel (vgl. Abb. 02). Mit Objekten haben wir es zu tun, wenn aus den Alltagsdingen besondere Gegenstände herausragen, wie etwa ein sakraler Leuchter, oder die eigenwillig gestaltete Butzen-Scheibe im Gästekabinett, oder die im Garten lagernden überzähligen Bauelemente. Manches ist letztlich nicht sauber in Ding oder Objekt zu trennen, gut, dass das Feld der materiellen Kultur offen ist!
of American Studies, 28.11.2017. URL: http://journals.openedition.org/ejas/12329 vom 12.9.2019, Abs. 6.
16 G. Korff: Sieben Fragen zu den Alltagsdingen, S. 35. 17 A. Ludwig: Materielle Kultur, o.S. 18 Ebd. 19 G. Korff: Sieben Fragen zu den Alltagsdingen, S. 31.
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3. Vor den Dingen – Quellen der Inspiration Noch ehe über Plečniks Dinge weiter gemutmaßt wird, noch ehe die Entwurfsdinge in seinem Haus genauer betrachtet werden und noch ehe die Dinglichkeit seiner Architektur selbst zu überlegen ist, soll das Inspirationsrepertoire erwähnt sein, auf das der Architekt zeit seines Lebens zurückgriff. Gemeint ist die Auseinandersetzung Plečniks mit historischen Bauformen. Dabei ist nicht allein der Umstand interessant, dass die altägyptische Baukunst, die griechisch-römische Antike und einige ihrer Spielarten sowie etruskische Vorbilder seine InspirationsMatrix bildeten,20 sondern eher, wie er sich diese angeeignete und wie er sie verarbeitete. Zunächst ist davon auszugehen, dass er als Architekt seiner Zeit selbstverständlich in den historischen Bauformen gebildet war.21 Doch suchte er nicht in der bloßen Nachahmung oder eklektischen Wahl den Ausdruck der Gegenwart, sondern bereits seinem Lehrer Otto Wagner fiel auf, dass ihm die »morphologische[-] und syntaktische[-] Weiterführung der klassischen Antike« in besonderer Weise zu gelingen schien.22 Diese Überschreitung des vorhandenen Formenkanons war nur möglich, indem Plečnik sich beständig mit eben diesem Kanon auseinandersetzte, sei es auf der ausgedehnten Italienreise nach erfolgreich abgeschlossenem Studium 1898,23 sei es, als er, inzwischen längst Architekturprofessor in Ljubljana, 1927 mit seinen Studierenden endlich Griechenland (und Dalmatien) kennenlernte.24 Zu den weiteren Aneignungsformen eines Stammvokabulars zählten Besuche im Wiener Kunsthistorischen Museum, die ihm Ägypten näher brachten, und der branchenübliche Inspirationsweg über Kunst- und Architekturzeitschriften25 (Abb. 03). Ein Ding- oder besser Sammlungsbezug ergibt sich in mehrfacher Hinsicht: Zunächst ging es dem Architekten immer wieder darum, aus seinem angeeigneten Repertoire zu wählen, hernach die Einzelteile neu zu arrangieren, ihnen immer wieder neue Standorte und Sinnzusammenhänge in seinen Formenschöpfungen zuzuweisen. So arbeiten kann nur, wer sich zuvor eine Sammlung – aus materiel20 Die Baugeschichte als Plečniks Lernfeld und Inspiration ist vielfach bekannt, hier Prelovšek, Damjan: Josef Plecnik. 1872-1957. Architectura perennis, Salzburg: Residenz-Verlag 1992, S. 2022.
21 Ebd., S. 8-10, der Autor beschreibt die Aneignungswege historischer Formen während Plečnik beim Wiener k. u. k. Hof Bau-Kunsttischler J. W. Müller arbeitete, ebenso die Befreiung hin zu neuen Formenvorbildern während seines Studiums bei Otto Wagner an der Wiener Akademie der bildenden Künste.
22 Ebd., S. 12. 23 Ebd., S. 24-30. Beschreibung der Reise infolge des Rompreises, welche Plečnik außerdem nach Spanien, Portugal und Frankreich führte.
24 Ebd., S. 156. 25 Ebd., S. 20.
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len Vorbildobjekten und immateriellen Referenzideen – zurechtgelegt hat, wobei die Einträge, also die Dinge dieser Sammlung verschieblich bleiben müssen. François Burkhardt beschreibt Plečniks Agieren folgendermaßen: »He freed himself from all dogmatic canons, thus opening his work to experimentation and the invention of variations on the theme of classical Mediterranean architecture. Abbildung 03: Abbildungen zu italienischen Baudenkmälern, die der Architekt auf seiner großen Studienreise 1898 kennenlernte. Von ihm selbst im Treppenhaus zur Schau gestellt.
Foto: Eva Maria Froschauer, 2019.
His idea was to use the classical repertoire freely, in very personal montages.«26 Dies umfasste überdies eine freimütige Interpretation historischer Entwicklungslinien, zum Beispiel, wenn der Architekt aufgrund der Ähnlichkeit «etruskischer Artefakte» mit seinen eigenen Gestaltungen schloss, »dass es sich bei den Etruskern um die fernen Vorfahren der Slowenen handle.«27 Laut Burkhardt lei26 F. Burkhardt: Modern or Postmodern: A Question of Ethics?, S. 118. 27 Prelovšek, Damjan: »Der Architekt Jože Plečnik«, in: Adolph Stiller (Hg.): Josef Plečnik. 1872-1957. Architekt in Wien, Prag, Laibach, Salzburg: Pustet 2006, S. 38-51, hier S. 41.
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tet sich Plečniks Formensprache von klassischen Vorbildern ab, die sie mit traditionellen Elementen paarte und so eine Art regional oder ethnisch begründete Architekturidentität mit hohem Mitteilungs- und Vermittlungspotential schuf: »Like that of the postmodernists, Plečnik’s architecture speaks; it serves first and foremost to communicate.«28 Insgesamt bleibt Burkhardt bei der Anwendung jeglicher Stilformeln auf Plečnik skeptisch, mehr versteht er den Baukünstler als einen, der die überzeitliche Vision verfolgt habe, mittels Symbol- und Zeichenhaftigkeit die Architektur wieder in ein kollektives Bewusstsein einzuschreiben.29 Man sollte hier hinzufügen, dass nicht nur Symbole und Zeichen, sondern genauso Dinge und Objekte diesen Anspruch eingelöst haben. Der kurze Blick in das Vorbildrepertoire lässt sich mit jenem Zitat beschließen, das Damjan Prelovšek an den Anfang seiner Plečnik-Monografie stellt ‒ damit ist eine weitere wichtige Inspirationsquelle des Architekten zumindest genannt, nämlich Gottfried Semper, der im zweiten Band von »Der Stil« schreibt, »denn in Wahrheit, die Kunst erfindet nichts, – alles, worüber sie schaltet, war thatsächlich schon vorher da, ihr gehört nur das Verwerthen!«30
4. Der Dingkosmos des Hauses – ein Rundgang Jože Plečniks Wohn- und Arbeitshaus war in dem von Semper beschriebenen Sinn eine Verwertungsmaschine und spiegelt bis heute eine Vielzahl von Einf lüssen auf Plečniks Werk wider, wobei die Dinge/Objekte auch der Repräsentation seiner Vorbilder und Muster dienen. Mit dem Antritt seiner Professur an der Architekturfakultät in Ljubljana zum Wintersemester 1920/21 ließ er sich erneut in seiner Geburtsstadt nieder und adaptierte, ursprünglich für seine Geschwister und sich selbst, von 1923 bis 1925 ein bestehendes Haus in der Karunova ulica 4. Plečnik sollte bis zu seinem Tod hier wohnen bleiben, allerdings hat nur sein jüngerer Bruder Janez tatsächlich für kurze Zeit bei ihm gelebt. Zu verschieden waren die Wohnvorstellungen, obgleich Janez das komfortable obere Zimmer innerhalb des auffälligen Rundbaus zustand.31 Dieser spätestens 1925 fertiggestellte zylindrische Anbau über zwei Geschosse war überdies die Erfüllung eines lang gehegten Wunschs Plečniks, einmal in einem Turm wohnen zu können.32 Zwei Jahre später 28 F. Burkhardt: Modern or Postmodern: A Question of Ethics?, S. 114. 29 Ebd., S. 112. 30 Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Bd. 2, München: Bruckmann 1863, S. 91 [Hervorhebungen im Original].
31 A. Porok: Architecture begins and ends with Stone, S. 20-24. 32 Ebd., S. 23.
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errichte er zwischen Alt- und Rundbau eine großf lächig verglaste Veranda, die als Empfangsraum und Lapidarium zugleich diente. 1928 erwarb er das Nachbarhaus und vergrößerte den Garten, bis 1930 kam noch ein säulenumstandener Wintergarten hinzu. Nach dem Tod Plečniks erbte sein Neffe Karel Matkovič das Haus und bewohnte es bis zu seinem Ableben im Jahr 1971. Der pf legliche Umgang Matkovičs mit der Hinterlassenschaft seines Onkels ließ Bausubstanz und Interieur quasi konserviert zurück. Matkovičs Erben verkauften das Haus und die darin gesammelten Dinge an die Stadt Ljubljana, welche es nach der ersten Renovierung 1974 als Museum der Öffentlichkeit übergab.33 Bereits diese erste Hausausstellung stand vor der Herausforderung, Plečniks vielgestaltigen Nachlass, der ein Materialmix aus Wohnpretiosen, Testlösungen seines Entwerfens sowie übrig gebliebene Versatzstücken seines Bauens darstellte, angemessen zu zeigen.34 Die damalige wie die aktuelle Präsentation der Arbeits- und Wohnumgebung Plečniks fußt zu guten Teilen auf dokumentarischen Schwarzweiß-Aufnahmen, die nach dessen Tod von dem Fotografen Joško Šmuc angefertigt wurden.35 Letztlich friert jedoch eine solche Hausausstellung, so sehr sie um Authentizität des damaligen, bewegten Alltags- und Arbeitslebens des Besitzers bemüht ist, immer einen bestimmten Zustand ein, und gleicht damit in ihrem Stillstand selbstverständlich einer Inszenierung. Die Material- und Ideencollage des Hauses lässt sich am besten bei einem Rundgang36 durch die signifikantesten Räume ermessen: Bereits die Eingangsveranda wirkt wie ein Sammlungskabinett der Baugeschichte, das Besucherinnen und Besucher inmitten aller möglicher Materialien, zwischen Spolien, Fundstücken und Pf lanzen empfängt. Kapitelle als Tischbeine, Steinproben aller Größen und Formen, Architekturfragmente aus dem Laibacher Urgrund, der römischen Stadt Emona, Statuetten, Ton- und Gipsmodelle und selbstverständlich christliche Kunstwerke, die auf die Gläubigkeit des Architekten verweisen, offenbaren sofort bei Eintritt den engen Bezug Plečniks zur Baugeschichte (Abb. 04).
33 Ebd., S. 27. 34 Vgl. Krečič, Petr: »Jože Plečnik and the Ljubljana Museum of Architecture«, in: François Burkhardt/Claude Eveno/Boris Podrecca (Hg.): Jože Plečnik. Architect: 1872-1957, Cambridge, Mass.: MIT Press 1989, S. 6-8, hier S. 8.
35 K. Toman Kracina: Over 1.000 Objects of Plečnik in the Conservation Workshop of the Museum & Galleries of Ljubljana, S. 96.
36 Nachvollzogen an einer Hausführung, an der die Autorin im Juli 2019 teilgenommen hat. Ergänzt durch vertiefende Aussagen aus dem Katalog zum Haus: Museum and Galleries of Ljubljana (Hg.): Hiša Plečnik House. On the centenary of the purchase of the house at 4 Karunova Street and in the year of Plečnik House’s comprehensive renovation (1915-2015), Museum and Galleries of Ljubljana, Ljubljana 2019; eine kurze Beschreibung des Hauses findet sich auch in D. Prelovšek: Josef Plecnik. 1872-1957, S. 266.
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Auch der folgende Raum, die Küche ‒ Teil des Bestandsbaus von 1716, mit einem f lachen Korbbogen eingewölbt ‒ gleicht einem Testfeld des Entwerfens, in dem die Möbelstücke von Plečnik selbst gestaltet und durch Klassiker von Thonet ergänzt sind. Die Bevorzugung des Materials Naturstein zeigt sich in der Abdeckplatte einer schlichten Holzkommode, die wie ein großf lächiges Mosaik aus allerlei Steinstücken zusammengefügt ist. Ein Verfahren, das sich ähnlich im Abbildung 04: Verglaste Eingangsveranda, die 1927 dem Haus hinzugefügt wurde. Diente dem Hausherrn als Empfangsraum und Lapidarium.
Foto: Eva Maria Froschauer, 2019.
Wintergarten des Hauses wiederholt, dort allerdings vollf lächig den Fußboden bedeckt.37 Ein regelrechtes Arbeitswerkzeug ist außerdem der vom Architekten entworfene Kaffeetrink-, Lese- und Zeichenstuhl mit integriertem Stauraum und Klapptisch. Über wenige Stufen erreicht man den angrenzenden Rundraum, Plečniks Schlaf- und Arbeitszimmer mit angeschlossenem Bad. Der in jeder Hinsicht pri37 Zur Steinsammelei von Architekten vgl. E. M. Froschauer: Entwurfsdinge, S. 94-98.
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vateste Raum des Hauses wird geprägt durch kräftige, strukturierende Holzelemente, das sind die Türlaibungen, der Einbauschrank und ein die Zimmerdecke teilender Balkenunterzug, welcher die Trennung zwischen Schlafen und Arbeiten markiert. Dieser Balken wird symbolisch getragen von einer Frauenfigur, eine angeblich etruskische Inspiration.38 Das zweite dominierende Element ist Plečniks Schreib- und Zeichentisch, der heute das musealisierte Arrangement seiner damaligen Arbeitsanordnung ‒ die nachvollzogene Laborsituation eines Architekten in seiner Werkstatt ‒ darstellt, und der über und über mit Dingen und Objekten bedeckt ist. Zu den Dingen zählen die vielleicht beiläufig benutzten Artefakte des Alltags: Zeichenwerkzeug, kleine Schachteln, Flaschen, Gläser, Kaffeetassen, Kerzenständer mit abgebrannten Stummeln, Papier und Kladden, Reiseführer, ein Zollstock, Tintenfässchen und vieles mehr. Objekte haben einen in sich heraushebenderen oder im Gesamtarrangement einen inszenierteren Charakter, es sind kleine Modelle, die mit einem Tuch abgeschattete Schreibtischlampe, Plečniks wie zufällig hingeworfener schwarzer Filzhut39 und vor allem der hoch aufragende Kerzenständer, der ein eigenwilliges materiales und formales Komposit aus abstrakten (Kuben und Kugeln) und figürlichen (Drache und Stier) Elementen darstellt und die Schreibtischanordnung in eine regelrecht sakrale Situation verwandelt. Hier ist der Architekt in seiner Glaubenswelt, der Arbeitstisch ist sein Altar, der Hut sein Habit (vgl. Abb. 02). Weitere solcher Komposita erwecken den Eindruck, beim Architekten habe es sich um einen wahren Materialfetischisten gehandelt, der selbst in seinem Haus keine Gelegenheit ausließ, unterschiedlichste Stoff lichkeiten darzustellen, auszuprobieren und testweise anzuordnen: so etwa ein neben der Badezimmertür hängender Holzrahmen mit eingelegten römischen Fundstücken aus den Ausgrabungen zu Emona, oder Steinmosaike im Badezimmer. Die vielfache Nutzung des Werkstoffes Holz gründet in der familiären Prägung; Plečnik war Sohn einer Tischlerfamilie und hatte selbst eine Ausbildung zum Tischler durchlaufen.40 Die Liebe zum Stein allerdings wurde zum Leitbild seines Werkes.41 Auf der Ebene des Erdgeschosses liegt ein weiterer eigentümlicher Raum, eine Art Gästezimmer, allerdings ohne Schlafstatt, das gänzlich in Kiefernholz ausgeschlagen ist und beengt Platz für eine kleine Gesprächsrunde an einem schmalen 38 A. Porok: Architecture begins and ends with Stone, S. 30. 39 Auch in Ernö Goldfingers Londoner Sammlungshaus, 2 Willow Road, hat ein Hut – der seines Lehrmeisters Auguste Perret – einen inszenierten Platz. Allerdings gibt es keine Angaben dazu, wie der Hut in das heute vom National Trust verwaltete Haus gelangt ist. URL: http://www. nationaltrustcollections.org.uk/object/112836 vom 19.9.2019.
40 D. Prelovšek: Der Architekt Jože Plečnik, S. 39. 41 Gemäß dem Motto und zugleich Aufsatztitel bei A. Porok: Architecture begins and ends with Stone, zitiert nach Grabrijan, Dušan: Plečnik in njegova šola, Maribor 1968, S. 8.
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Tisch oder auf der Ofenbank bietet. Der Raum enthält eine Reihe von Trouvaillen, die Plečnik entweder hier parkte, oder die ihm die Gäste übereigneten, wie beispielsweise eine Kuckucksuhr. Neben dem mächtigen Kachelofen, der die Stube heimelig beheizt haben dürfte, findet sich der Prototyp eines Stuhles, den der Architekt für das Laibacher Gebäude der Versicherungsgesellschaft VzajemAbbildung 05: Metallleuchte aus der Wiener Arbeitsphase Plečniks. Ausstattungsobjekt im kleinen holzvertäfelten Gästekabinett.
Foto: Eva Maria Froschauer, 2019.
na (1928 bis 1930) entworfen hat sowie eine Lampe im Stile der Wiener Sezession, die auf diese Arbeitsepoche Plečniks verweist.42 Es scheint gerade so, als sei dieses Zimmer dazu angetan gewesen, Gäste auf seine Formenwelt einzuschwören, vielleicht sogar zu disziplinieren (Abb. 05). Vergleicht man dieses Interieur mit zeitgleich entstandenen Innenräumen der klassischen Moderne, so wirkt es wie ein Demonstrationsobjekt der Eigenheit und Widerspenstigkeit der Formensprache Plečniks, die den Worten nachkommt, die sein ehemaliger Student Vinko 42 A. Porok: Architecture begins and ends with Stone, S. 32.
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Lenarčič aus der Erinnerungen zitiert: »Utilitarismus, Typus und Standard sind der Tod jeglicher Kunst; die Kunst kann nicht industrialisiert werden.«43 Gegenüber dem Gäste-Séparée führt eine geschwungene Treppe in das erste Obergeschoss, das Treppenhaus ist ebenso Ausstellungsraum, in dem auf Nischen und Absätzen Gefäße, Materialproben, Modelle und Statuetten platziert sind. Den Aufstieg begleiten zwei große Bilderrahmen, in die Plečnik 18 Fotografien montiert hat, die an seine Italienreise erinnern und Klassiker der Baugeschichte wiedergeben, wie zum Beispiel den Turm zu Pisa oder den venezianischen Markusdom. Die Fotografien vergegenwärtigen abermals die Grundlagen seines architektonischen Denkens (vgl. Abb. 03). Der Rundraum im Obergeschoss war ursprünglich das Reich seines Bruders. Nach dessen Auszug wurde er zum Zeichenzimmer, das während des Zweiten Weltkriegs den Studierenden Plečniks zur Verfügung stand. Demgemäß finden sich auf dem großen Arbeitstisch erneut die klassischen Attribute des Berufs, über den Raum verteilt stehen Modelle, Materialproben und Standardwerke der Fachliteratur, darunter Publikationen von Autoren wie Eugène Viollet-le-Duc oder Cornelius Gurlitt.44 Der letzte Raum des Rundgangs zeigt den südlich zum Garten hin angeordneten Wintergarten, dessen Ding- und Objektversammlung bereits zur Frage nach deren Nutzen im Entwerfen des Architekten überleitet. Dieser Raum war ein Testraum, in dem Plečnik beispielsweise die Säulen für sein zeitgleich in Celje entstandenes Bankgebäude verbaute oder ein Heizsystem installierte, das winters den Pf lanzen im Raum zuträglich sein sollte.45 Der angrenzende Garten des Architekten erscheint mit seinen verstreuten Säulenfragmenten und anderen Bauelementen wie ein Ersatzteillager seiner Architekturpraxis (Abb. 06).
5. Vom entwurflichen Nutzen der Dinge im Haus Nicht nur die Restauratorinnen und Konservatoren der jüngsten denkmalgerechten Wiederherstellung des Hauses bedauern, dass sie auf keine dokumentarischen Aufnahmen zurückgreifen konnten, die Plečnik inmitten seiner Dinge und Objekte, inmitten seiner Arbeitsanordnungen zeigen, um dem Anspruch, das Ding-Ensemble weitestgehend im Originalzustand zu belassen, gerecht zu wer-
43 D. Prelovšek: Josef Plecnik. 1872-1957, S. 266. Der Autor gibt die Aussage Plečniks nach Vinko Lenarčič wieder.
44 Zu Plečniks auch mit Studierenden genutzter Literatur, siehe D. Prelovšek: Josef Plecnik. 18721957, S. 162.
45 A. Porok: Architecture begins and ends with Stone, S. 35.
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den.46 Noch viel mehr wünscht sich die Entwurfsforschung einen fotografisch festgehaltenen Beweis des Hantierens mit Vorbildgegenständen, der den Nutzen der Dinge und Objekte als Arbeits- und Hilfsmittel, als Werkzeuge des Entwerfens belegen könnte. Jedoch existiert wahrscheinlich keine Aufnahme, die Jože Abbildung 06: Sammlung von Balustern im Garten des Hauses Plečnik. Bauteile derselben Art wurden für die Drei Brücken in Ljubljana verwandt, 1930/31.
Foto: Eva Maria Froschauer, 2019.
Plečnik in enger Beziehung etwa zu einem steinernen Fundstück (wie den Zeitgenossen Le Corbusier) oder zu einer Nautilus-Schale (wie den jüngeren Renaat Braem) darstellt.47 Allerdings gibt es Fotografien, die die Person Plečnik und sein Verhältnis zu Vorbildern andeuten und die ihn inmitten von Dingen und Objekten seines Interesses zeigen. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1912 setzt ihn zu entwurfsleitenden oder vermutlich im Unterricht entstandenen Gegenständen, religiösen und kunstgewerblichen Artefakten, an der Prager Kunstgewerbeschule in Bezug. Eine weitere Fotografie, datiert auf 1926, bildet ihn versunken in ein Buch ab. Im Vordergrund liegt das Arbeitswerkzeug des Architekten, Papier, Maßstab
46 K. Toman Kracina: Over 1.000 Objects of Plečnik in the Conservation Workshop of the Museum & Galleries of Ljubljana, S. 96. Man griff bei der Wiedereinrichtung auf Fotos nach 1957 zurück.
47 Abbildungen bei Michels, Karen: Der Sinn der Unordnung. Arbeitsformen im Atelier Le Corbusier, Braunschweig: Vieweg 1989, S. 85 und bei E. M. Froschauer: Entwurfsdinge, S. 230, S. 233.
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und Reißschiene, den Hintergrund bilden mögliche Referenzen, ein Tempel und diverse Büsten (Abb. 07).48 Wie ist, abgesehen von dieser losen Spurensicherung, der und das Nutzen der Dinge und Objekte bei Plečnik festzumachen? Über drei Hypothesen: Das Haus und seine Dinge standen als Demonstrationsobjekte für die architektonische Abbildung 07: Jože Plečnik lesend und von lehrreich, inspirierenden Gegenständen umgeben. Im Vordergrund weitere Werkzeuge des Architekten, Aufnahme 1926.
Quelle: François Burkhardt/Claude Eveno/Boris Podrecca (Hg.): Jože Plečnik. Architect: 18721957, Cambridge, Mass.: MIT Press 1989, S. 119.
Formfähigkeit und Kompositionsgabe des Architekten; das Haus und seine Dinge waren ein Testfeld der Materialanwendung und das Haus und seine Dinge zeichnen wie ein Protokoll den (Entwurfs-)Charakter des Architekten auf. Der beschriebene Rundgang macht an vielen Stellen deutlich, wie und was der Architekt in seiner engsten Umgebung sowohl konzeptionell als auch formal ausprobierte. Auf den Punkt bringt dies Ana Porok in ihrer umfassenden Kon48 Abbildungen bei D. Prelovšek: Josef Plecnik. 1872-1957, S. 96; F. Burkhardt/C. Eveno/B. Podrecca: Jože Plečnik. Architect: 1872-1957, S. 119.
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textualisierung des heutigen Museums, indem sie den Begriff der Versuchsbrutstätte einführt. Sie stellt fest, dass das Haus in der Karunova geprägt gewesen sei vom unermüdlichen Forschergeist Plečniks, der dort so manches Experiment durchführte, um es dann in späteren Projekten zur Reife zu bringen. Und weiter: »Plečnik himself calls his house an‚ experimental mistbeet – not a building, that is, a testing hotbed. He tested different combinations of home-produced materials and their treatments, as equipment he often used construction elements and prototypes of his other projects.«49 Diese Aussage leitet über zur zweiten These, gemäß der Plečniks Sammeln und Montieren von Bauteilen einem pre-use und einem re-use nachkam. So nutzte er Teile, die von laufenden Baustellen übriggeblieben waren, also rohe oder bearbeitete Steine, Säulen, Kapitelle, Kuben, Platten, Holz- und Keramikstücke; hinzu kamen archäologische Artefakte, Freskenfragmente oder römische Amphoren etc.50 Ebenso beschreibt Prelovšek, dass Plečnik die Zuwegung zu seinem Haus mit »Ausschuß-Betonplatten vom Stadion« (Orlovski, heute Bežigrad Stadion, Ljubljana 1925-39) gestaltete und im »Wintergarten die alten ebenso übriggebliebenen Fenster des Jesuitenklosters« (Umbau Kirche und Jesuitenkloster Osijek, ab 1937) verbaute, teils wohl aus Geldmangel.51 Dabei folgte die Verwendung von Bruch- und Versatzstücken im Haus keinem starren System, wie einmal eingebaut, nie mehr verändert, sondern, so vermuten die Hauskuratoren, das Material habe immer wieder seinen Platz gewechselt oder sei an ungewöhnlichen Stellen angebracht worden. Ähnlich hat Plečnik seine Souvenirs behandelt und wiederholt neue Ding- und Objektkombinationen ausprobiert.52 So bezeugt das Gesamtarrangement des Hauses samt Inhalt, dass Plečnik sich nicht nur auf seinen Arbeitstischen, sondern in seiner unmittelbaren räumlichen Umgebung eine Art nützliche Sammlung bereitlegte, eine Sammlung, die bis heute durch die Evidenz des Materials besticht.53 Die letzte These bezieht sich auf eine interpretative Fußnote, welche sich vom faktischen in den spekulativen Bereich bewegt. Sie steht trotzdem hier, um zu zeigen, welche Krücken bisweilen von der Rezeption genutzt werden, um bei undeutlich ausformuliertem Ding- und Objektbezug im Entwerfen eine Erklärung zu finden: So unterwirft beispielsweise Borut S. Pogačnik, welcher ein psychologisches Porträt des Architekten zeichnet, aus dem sich der eine oder andere Rückschluss auf dessen Wesen als Entwerfer ziehen lasse, die Handschriften Plečniks 49 A. Porok: Architecture begins and ends with Stone, S. 35 [Hervorhebungen im Original]. 50 Aufzählung bei K. Toman Kracina: Over 1.000 Objects of Plečnik in the Conservation Workshop of the Museum & Galleries of Ljubljana, S. 90.
51 D. Prelovšek: Josef Plecnik. 1872-1957, S. 266. 52 K. Toman Kracina: Over 1.000 Objects of Plečnik in the Conservation Workshop of the Museum & Galleries of Ljubljana, S. 90f.
53 Ebd., S. 93.
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einer inhaltlichen und grafologischen Untersuchung und kommt zum Schluss, dass sich archaische wie mystische Elemente darin spiegelten.54 Carl Gustav Jung folgend, sei der Architekt der psychologische Typ des extravertierten Empfindens gewesen, den eine besondere Nähe zu Gegenständen auszeichne. Pogačnik bringt seine Überlegungen zu folgendem Fazit: Der Architekt habe über sein (objekthaftes) Werk vor allem (unterbewusst) kommuniziert und dabei Stein, Holz und Metall als Vehikel seiner Botschaften genutzt (Abb. 08).55 Abbildung 08: Objektarrangement aus Architekturdingen. Hier am Beispiel einer der Auf bahrungskapellen am Friedhof Žale, 1938-40, Ljubljana.
Foto: Eva Maria Froschauer, 2019.
54 Pogačnik, Borut S.: »Figures of Life. An Attempt at a Psychological Portrait of Jože Plečnik«, in: Museum and Galleries of Ljubljana (Hg.): Hiša Plečnik House. On the centenary of the purchase of the house at 4 Karunova Street and in the year of Plečnik House‘s comprehensive renovation (1915-2015), Museum and Galleries of Ljubljana, Ljubljana 2019, S. 121-127, hier S. 121.
55 Ebd., S. 124.
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6. Beispiele der Verdinglichung in Plečniks Werk Nun steht noch die Frage im Raum, welche Ding- und Objektcharaktere diese gebauten Mitteilungen angenommen haben. Wie materialisierten sich überdies die Wesenszüge des Experimentierenden und zugleich Prototypischen, des Collagierenden und Re-Arrangierenden in zwei Laibacher Realisierungen Plečniks? Unweit des Hiša Plečnik gelegen, erstrecken sich in ostwestlicher Richtung, entlang des Straßenzuges Mirje, die Reste der römischen Stadtmauer des ehemaligen Emona. Die erste Ausgrabung, Sicherung und Teilrekonstruktion der Mauer erfolgte bereits nach dem Ersten Weltkrieg durch den steirischen Prähistoriker und Archäologen Walter Schmid, ehe Plečnik sich ab 1932 damit beschäftigte, das nunmehr vernachlässigte Stück Stadtgeschichte wieder erlebbar zu machen und durch begleitendes Grün aufzuwerten.56 Die umformenden Eingriffe des Architekten in das stadtgeschichtliche Zeugnis wurden nicht überall goutiert, jedoch habe der Architekt in Summe, so schreibt etwa Prelovšek, den »archäologischdidaktischen Teil der Aufgabe« mit seiner Fantasie gut gelöst, mehr noch, das Stadtmauer-Projekt zähle zu den »komplexesten ästhetisch-philosophischen Aussagen, dessen Vielschichtigkeit nicht immer leicht zu ergründen ist«.57 Selbstverständlich ist dieses Stück Stadtreparatur, dieses archäologische Fenster, ohne die freigeistige Antikenrezeption des Architekten nicht zu denken, der darin nicht nur bauhistorische Zitate, eigene Anschauungen und Reiseerfahrungen verarbeitete, sondern auf gewisse Weise Geschichtskonstruktion und insgesamt die Freude an der Nacherzählung verfolgte. Dies gelang ihm in diesem Projekt erneut mit den Mitteln der Collage, die ihm die freie Zuordnung der architektonischen Dinge und Objekte über Orte und Zeiten hinweg gestattete. Damit schrieb Plečnik die Geschichte des Denkmals fort; indem er wahrte, ergänzte er zugleich, so durch ursprünglich drei Pyramiden (zwei aus Erde sind nicht mehr erhalten), die sowohl ägyptische wie römische oder vage etruskische Zitate sein konnten.58 Die heute noch bestehende, mit Treppen durchformte Steinpyramide, die einen Tordurchgang markiert, ist ein typisches Objekt des Architekten, das vermittelt und erzählt (Abb. 09). Obgleich Pyramiden zu seinem geläufigen Repertoire gehörten, mag diese hier die Erinnerung an die Cestius-Pyramide in Rom (18-12 v. Chr.) aufrufen. In deren Nähe, und der Hinweis ist möglicherweise an der Stelle nicht unwichtig, liegt einer der wichtigsten Stichwortgeber Plečniks begraben, Gottfried Semper. Als weiteres Geschichtszitat wird von der Rezeption die antike Via Appia und die 56 Zur Freilegungs-, Rekonstruktions- und Baugeschichte siehe D. Prelovšek: Josef Plecnik. 18721957, S. 291f.; zur Situierung des Projekts innerhalb des humanistischen Stadtumbaus siehe T. Valena: Plečniks Ljubljana als humanistischer Stadtumbau, S. 51f.
57 D. Prelovšek: Josef Plecnik. 1872-1957, S. 292. 58 Ebd.
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an ihr entlang aufgereihten urtypischen Grab- und Gedenkarchitekturen angeführt, die der Architekt von seiner großen Romreise kannte.59 Freilich schuf Plečnik entlang der Mauer keine Piranesi’sche Verdichtung, eine solche gelingt ihm tatsächlich dann innerhalb der faszinierenden Friedhofsstadt Žale. Von 1938 bis 1940 entwarf und baute er ein neues Entree für den städtischen Friedhof Ljubljana, das aus triumphbogenartigen Propyläen, einer Abbildung 09: Pyramidenartig überbauter Durchgang in den Resten der römischen Stadtmauer Laibachs. Überformung des archäologischen Zeugnisses durch Plečnik, 1932-37.
Foto: Eva Maria Froschauer, 2019.
Zentralkapelle und 13 kleinen Auf bahrungskapellen besteht, die dem örtlichen Brauch des intimen Familiengedenkens Raum geben sollten. Außerhalb dieses Allerheiligengartens ‒ die Benennung, die der Architekt dafür ursprünglich vorsah ‒, liegt noch ein eigenwilliges Werkstattgebäude, dessen aufgelöste Fassadengestaltung von bemerkenswert taktilem und textilem Charakter ist.60 Darüber hinaus ist das Friedhofsgeviert durch Heckenpf lanzungen räumlich gegliedert, mit Stelen, Beleuchtungskörpern und Sitzgelegenheiten, Bildwerken und einem Brunnen ausgestattet. Die einzelnen Bauwerke, abgesehen von ihrer originellen Formgebung, sind mit historisierenden, meist antikisierenden Baugliedern wie Architraven, Säulen, Kapitellen, Friesen oder Fresken gestaltet und mit Elementen wie Amphoren, in Öffnungen eingestellte Einzelsäulen und Statuen geschmückt, 59 Ebd., S. 28, S. 292. 60 Ausführliche Baubeschreibung, ebd., S. 308-314.
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im Innern mit prägnanten Leuchtern Pompejanischer Anmutung dekoriert. Tomáš Valena nennt diese »Architekturen für alle Sinne«61 ‒ er folgt erneut der Leitidee vom humanistischen Stadtumbau Plečniks, der einerseits den Maßstab menschenbezogen anlegte und andererseits eine universale Verständlichkeit der Architektursprache anstrebte; Jörg Stabenow äußerte zuvor schon, dass dieses Bauensemble die klassische architektonische Typenlehre »zum Gegenstand Abbildung 10: Friedhoferweiterung Žale, 1938-40. Kapellen der Hl. Maria und des Hl. Peter als freie Interpretationen der Baugeschichte, umgeben von raummöblierenden Elementen.
Foto: Eva Maria Froschauer, 2019.
eines teils gelehrten, teils volkstümlichen Gespräches macht.« Die Architektur tritt also erneut als Vermittlerin auf, es diskutiere »Architektur über Architektur«62. Plečnik nahm klassische Typen zur Hand, Rundtempel, Antentempel, sogar einen Tumulus, paarte sie mit Kirchengrundrissen und gestaltete deren Fassaden als ein erfinderisches Baugeschichtslehrbuch. Dabei brach er alle Regeln und setzte neue in Kraft, als ob er die Dinge und Objekte, die ihn umgeben, neu sortieren wollte (Abb. 10). Gerade die dialogfähigen Architekturteile, die Gegenstände der Gestaltung, die Referenzen historischen Wissens bei gleichzeitiger Freude am Spiel, die der Architekt mit den Dingen der Geschichte treibt, scheint Jože Plečnik im Friedhofsprojekt Žale zur Meisterschaft getrieben zu haben. Man kommt unweigerlich zum 61 T. Valena: Plečniks Ljubljana als humanistischer Stadtumbau, S. 59. 62 Stabenow, Jörg: Jože Plečnik. Städtebau im Schatten der Moderne, Braunschweig: Vieweg 1996, S. 67.
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Schluss, dass das Entwerfen des Architekten – bei aller im Ergebnis sichtbaren Präzision – ein offener und damit hochmoderner Prozess des Entwerfens im Sinne der Referenzverwendung gewesen sein muss.
Kinderschuhe aus Plastilin Wie die Architekturmoderne im 19. Jahrhundert erknetet wurde Ralf Liptau
Entwerfende Architektinnen und Architekten begegneten dem Materiellen seit Beginn des 20. Jahrhunderts in einer kaum je dagewesenen Vielfalt. Die architektonische Moderne, so die Kernthese des folgenden Beitrags, ist nicht nur durch neue Materialien beim eigentlichen Bau ihrer Architekturen geprägt worden, sondern ebenso durch neue Materialien bereits beim Entwerfen. Der Umgang etwa mit neuartigen Pappen, Acrylglas, Plastilin und Schaumstoffen wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend auch in den Debatten um ein zeitgemäßes architektonisches Entwerfen zum Thema. Im Zentrum des folgenden Beitrags steht der Diskurs um den wortwörtlichen Zugriff auf das Materielle beim Entwerfen am Modell. Modellierenden Praktiken sind in der architektonischen Kultur des 20. Jahrhunderts besondere Bedeutung zugekommen: Für die Entwicklung erster Ideen und Konzepte speziell am Beginn der jeweiligen architektonischen Entwurfsprozesse haben vor allem Klötzchen in unterschiedlicher Materialität sowie das frei formbare Plastilin eine wesentliche, den Entwurf fundierende Rolle gespielt. Im Folgenden möchte ich die gestiegene Bedeutung des modellierenden Entwerfens seit dem frühen 20. Jahrhundert zunächst im Zusammenhang einer architekturimmanenten Entwicklung grundsätzlich herleiten und rekapitulieren,1 bevor ich die Perspektive gewissermaßen umdrehe: Ich will fragen, ob sich die beschriebenen Entwicklungen innerhalb der architektonischen Entwurfspraxis nicht (auch) aus der Entwicklung des Plastilins in den 1890er Jahren heraus erklären lassen, sowie aus einer pädagogisch-didaktischen Haltung, die bereits 1 Diese Ausführungen grundsätzlich zur gestiegenen Rolle des Modells in Entwurfsprozessen der Moderne beruhen im Wesentlichen auf der Dissertation des Verfassers: Liptau, Ralf: Architekturen bilden. Das Modell in Entwurfsprozessen der Moderne, Bielefeld: transcript 2019.
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seit den 1820er Jahren in Verbindung mit dem berühmten Anker-Steinbaukasten vorbereitet und mit der Entwicklung des Plastilin weiter genährt worden ist. Daraus ergäbe sich die Frage, ob sich ganz wesentliche Entwicklungen der architektonischen Moderne nicht schon aus der Erfindung und dem kommerziellen Vertrieb bestimmter Materialien, gepaart mit den an sie geknüpften Erziehungsleitbildern, heraus ergeben haben, bevor sie – Jahrzehnte später – von den Architektur-Protagonist*innen der Avantgarde betrieben worden sind. Waren die Kinderschuhe, in denen die Moderne steckte, aus Anker-Steinbauklötzchen und Plastilin?
1. Das Modell in Entwurfsprozessen der Moderne Das Modellieren als Teil des architektonischen Entwurfsprozesses hatte im 20. Jahrhundert Konjunktur. Von einem »regelrechten Kampf gegen die aufwändige Perspektivzeichnung« zwischen 1900 und 1920 schreibt der Architekturkritiker und Kurator Oliver Elser:2 Einem Kampf, »aus dem das Architekturmodell als Sieger hervorgegangen zu sein scheint.«3 Tatsächlich lässt sich – wie später noch anhand einzelner Fallbeispiele zu sehen sein wird – für zahlreiche Architekt*innen der Zeit der produktive Umgang mit Modellen unterschiedlichster Art beim Entwerfen heute noch nachweisen. Aus architekturhistorischer Perspektive füllt das Modell als eines der dominierenden architektonischen Entwurfsmedien im 20. Jahrhundert eine Lücke. Nämlich: Es löst das seit der Renaissance tradierte Ideal des disegno4 in seiner Vormachtstellung ab und bildet wiederum seinerseits den Vorläufer von computergestützten Entwurfsmethoden, die seit den späten 1970er 2 Elser, Oliver: »Zur Geschichte des Architekturmodells im 20. Jahrhundert«, in: ders., Peter Cachola Schmal (Hg.): Das Architekturmodell. Werkzeug, Fetisch, Kleine Utopie, Ausst.-Kat. DAM Frankfurt, Zürich: Scheidegger & Spiess 2012, S. 11-22, hier S. 12.
3 Ebd. 4 Auf die Bedeutung von Modellen speziell auch in der Renaissance ist wiederholt hingewiesen worden. Historische Architekturmodelle lassen sich wohl eher als Materialisierung von Entwurfsideen, also als erste bauliche Realisation des Entwurfs- und Konstruktionskonzeptes lesen und damit als Medium der Präsentation und Beweisführung gegenüber Dritten. So formuliert etwa Andres Lepik in Hinblick auf Modelle der Renaissance: »Das Architekturmodell ist ein Medium der Darstellung. Es bündelt ästhetische und technische Informationen, die zuvor auf anderen Ebenen festgelegt wurden, und übersetzt sie in eine plastische Form.« Lepik, Andres: »Das Architekturmodell der frühen Renaissance. Die Erfindung eines Mediums«, in: Bernd Evers (Hg.): Architekturmodelle der Renaissance. Die Harmonie des Bauens von Alberti bis Michelangelo, Ausst.-Kat. Architekturmuseum der TU München, München/New York: Prestel Verlag 1995, S. 10-20, hier S. 10. Im Unterschied dazu, so will ich zeigen, liegt die Besonderheit der Modellverwendung im 20. Jahrhundert darin, am und mit dem Modellierungsmaterial den architektonischen Entwurf überhaupt erst zu entwickeln.
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Jahren das Architekturschaffen zunehmend bestimmten. Dass die architektonische Entwicklung im 20. Jahrhundert so grundlegend mit der Verwendung von Modellen im Entwurfsprozess zusammenhängt, lässt sich meiner Meinung nach auf drei wesentliche Gründe zurückführen: Ein erster Grund liegt darin, dass moderne Architekturen im 20. Jahrhundert als allansichtige, zuweilen sogar skulptural aufgefasste Körper verstanden worden sind. Das Verständnis vom Bau als dreidimensionalem Körper führte weg von der bisherigen Konzentration auf die zweidimensional-zeichnerisch angelegte Schmuck- bzw. Hauptfassade als der wesentlichen Spielf läche architektonischer Entwurfs- und Aussagequalitäten. Diese Entwicklung hat bereits 1915 der Kunsthistoriker Heinrich Wölff lin in seinen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen beschrieben: »Wenn die Frontansicht immer eine Art Ausschließlichkeit für sich in Anspruch nehmen will, so trifft man jetzt doch überall Kompositionen, die deutlich darauf ausgehen, die Bedeutung dieser Ansicht zu entwerten.«5 Dass dieses veränderte Verständnis von Architektur verbunden gewesen ist mit einer neuartigen Praxis des Entwerfens, betont etwa die Architekturhistorikerin Karen Moon: »The twentieth‘ century focus on form (as opposed to the nineteenth‘ century focus on ornament) encouraged the need for three-dimensional exploration.«6 Die – wohl durchaus als Überspitzung zu verstehende – Folge: »If the architect of the nineteenth century could be characterized primarily as a draftsman, then the architect of the twentieth century might more readily be described as a sculptor.«7 Das Verständnis von der Einzelarchitektur als dreidimensionalem Körper war mit ein Auslöser dafür, dass die Werkzeuge und Medien des architektonischen Entwurfs dreidimensional, also ebenfalls körperlich zu sein hatten. Ein zweiter Grund für die steigende Bedeutung des Modells liegt in der zunehmenden Komplexität der Bauten auf gleich mehreren Ebenen: Neue Baumaterialen und damit verbunden neue Konstruktionsmethoden – etwa aus Eisen und Beton – führten dazu, dass neben formalen auch konstruktive Eigenschaften geplanter Bauten im Vorfeld ihrer Realisierung am Modell getestet wurden. Zwar hatte es diese Materialien auch schon im 19. Jahrhundert gegeben. Im 20. Jahrhundert sind die daraus resultierenden konstruktiven Möglichkeiten und Grenzen dann aber systematisch ausgelotet worden, etwa durch die Konzeption ungeometrisch angelegter Konstruktionen beispielsweise in Schalenbauwerken oder durch die auf Materialeinsparung hin angelegte Leichtbauweise. Die zunehmende Größe von Baukomplexen wie Bildungsstätten, Verwaltungsbauten, Krankenhäusern und Verkehrsbauwerken, die vor allem ab den 1960er Jahren zu 5 Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München: Bruckmann 1915, S. 70. 6 Moon, Karen: Modelling Messages. The Architect and the Model, New York: Monacelli 2005, S. 84.
7 Ebd.
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Megastrukturen anwachsen sollten,8 hatte darüber hinaus zur Folge, dass auch Baukörperanordnungen, Raumabfolgen, Funktionsabläufe und ähnliches am Modell geprüft wurden, weil sie die Vorstellungskraft der Planenden sowie die Möglichkeiten des zeichnerisch Visualisierbaren überstiegen. In seiner Publikation über Architekturmodelle schrieb der Architekt Rolf Janke 1962: »Gerade bei Bauaufgaben, bei denen es wegen der verschiedenartigen Funktionen zur Aufteilung in einzelne Baukörper oder sogar zu unterschiedlichen Gebäudeformen kommen muß […], werden die gestalterischen Überlegungen immer häufiger direkt am Modell vorgenommen. […] Mann kann sogar behaupten, daß der Architekt durch umfassende Modelluntersuchungen schneller und wesentlich freier zu einer ästhetisch befriedigenden Konzeption gelangt.«9 Mit Jankes Hinweis auf die durch das Modell gegebene Freiheit bei der Entwicklung einer architektonischen Konzeption ist der Hinweis auf den dritten – und für den vorliegenden Text wesentlichen – Grund für die gestiegene Bedeutung von Modellierungspraktiken im Entwurf gegeben: Spätestens seit den 1920er Jahren dominierte für den Bereich des architektonischen Schaffens der Topos des unverkopften, des unbeeinf lussten und damit auch von der Geschichte unverstellten Entwerfens. Seit Beginn der frühen Avantgarde war das Entwickeln architektonischer Konzepte gemäß diesem Ideal innovatives Erfinden, das sich ganz grundlegend vom angeblich bloßen Kopieren traditioneller Stilformen im Historismus distanzierte. Architekturschaffende bezogen – und beziehen teilweise bis heute – ihr Selbstbild aus dem Ideal des absoluten Bruchs mit dem Vergangenen. Der Berliner Architekt Wassili Luckhardt hatte bereits im Jahr 1921 eine Entwurfspraxis eingefordert, die seiner Ansicht nach auf völlige Originalität und Authentizität setzte. Er empfahl hierfür das Modellieren: »Man nehme den heutigen Architekten Lineal und Zirkel beim Entwerfen und 80 Prozent werden vielleicht ihren Beruf aufgeben müssen. […] Ich möchte hiermit ein Mittel verraten, das uralt ist, das alle Architekten zu können glauben, und das doch den allerwenigsten wirklich bekannt ist. Das Modellieren. Man lege Bleistift und Lineal beiseite, nehme Ton und Plastelin und fange an, ganz von vorn, ganz unvermittelt und unbeeinflußt zu kneten.« 10 8 Vgl. Hnilica, Sonja: Der Glaube an das Große in der Architektur der Moderne: Großstrukturen der 1960er und 1970er Jahre, Zürich: Park Books 2018.
9 Janke, Rolf: Architekturmodelle. Beispielsammlung moderner Architektur, Stuttgart: Gerd Hatje 1962, S. 39.
10 Luckhardt, Wassili: »Vom Entwerfen« [1921], in: Akademie der Künste Berlin (Hg.): Brüder Luckhardt und Alfons Anker. Berliner Architekten der Moderne, Berlin: AdK Berlin 1990, S. 122.
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Der Architekt selbst hat die knetende Entwicklung seiner Architektur im gleichen Jahr, 1921, auch praktisch vorgeführt: Auf einer Architekturschau im Rahmen der Großen Berliner Kunstausstellung zeigte er zwei von ihm geschaffene Skulpturen unter den Titeln Formspiele und Formphantasie und stellte sie einem ästhetisch wie formal sehr ähnlichen Modell für sein Volkstheater zur Seite.11 Sowohl die Skulpturen als auch das Modell waren aus Ton oder Plastilin in unsymmetrischer und nicht-geometrischer Formensprache durchgebildet, wie sie aus der gleichen Zeit von Entwürfen von Architekten wie Hans Poelzig, Bruno Taut oder Otto Bartning bekannt ist. Dass Luckhardt mit dem Nebeneinander von Skulptur und Modell in der Ausstellung die unbeeinf lusste, originäre Entwicklung auch seiner eigenen architektonischen Ideen aus dem plastischen Formen heraus verdeutlichen wollte, liegt auf der Hand. Dieses Ideal der freien, nur aus der Zwiesprache von Subjekt und Objekt hervorgehenden Formfindung hatte zu diesem Zeitpunkt in der Lehre des Staatlichen Bauhauses in Weimar bereits seinen prominenten Ort gefunden. Besonders im Vorkurs, den Johannes Itten seit 1919 angeboten hat, lagen die pädagogischen Grundabsichten darin, so Itten selbst, »die schöpferischen Kräfte und damit die künstlerische Begabung der Lernenden freizumachen. […] Die Schüler sollten sich nach und nach von aller toten Konvention befreien und Mut fassen für eigene Arbeit.«12 So beschrieb er es in seiner Rekapitulation der Bauhaus-Zeit in den 1960er Jahren. Dem Materiellen sprach er dabei eine ganz aktive Rolle zu, welche diejenige der entwerfenden Personen stellenweise sogar dominieren sollte. So berichtet er aus seiner Unterrichtspraxis: »Jeder Studierende fand in kurzer Zeit heraus, welches Material ihn ansprach, ob Holz, Metall, Glas, Stein, Ton oder Gesponnenes ihn zum schöpferischen Tun anreizten [Hervorhebungen R. L.].«13 Auch wenn Itten hier nicht explizit von Modellen spricht, betont er doch den aus seiner Sicht so wichtigen Einf luss des Materiellen und den schöpferischen Umgang damit, um so Kreativität ganz grundlegend zu befördern oder überhaupt zu ermöglichen. Ähnlich argumentiert der Berliner Architekt Georg Steinmetz 1928 im Rahmen seines Plädoyers für ein organisches Entwerfen: »Nicht Stil- und Einzelformen bestimmen das Kunstwerk, sondern Gestaltung und Abstimmung des Organismus in seiner Raum und Körperbildung.«14 Und daraus folgert er:
11 Ebd., S. 39. 12 Itten, Johannes: Mein Vorkurs am Bauhaus. Gestaltungs- und Formenlehre, Ravensburg: Otto Maier Verlag 1963, S. 10.
13 Ebd. 14 Steinmetz, Georg: Grundlagen für das Bauen in Stadt und Land. Bd. 1: Körper und Raum, München: Callwey 1928, S. 5.
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»Empfehlenswert ist es, bei der Entwurfsbearbeitung, mehr noch als es bisher geschieht, die Vorstellung der körperlichen Bildung durch gleichzeitiges Modellieren in Ton oder Plastilin zu unterstützen. Ein solches Arbeiten an Hand eines Versuchsmodells begünstigt lebendiges Gestalten […].« 15 Etwa zeitgleich sprach sich auch der Hamburger Stadtbaurat und Architekt Fritz Schumacher gegen das zeichnerische und für das modellierende Entwerfen aus: »Tausende architektonischer Arbeiten werden alljährlich […] erzeichnet. Es sind gewiß recht geschickte Lösungen darunter. Was ist also dagegen grundsätzlich einzuwenden? […] Die Gefahr liegt darin, daß durch dieses virtuose Handhaben der zeichnerischen Zerlegungskunst des baulichen Vorganges unfehlbar eine Mechanisierung unserer schöpferischen Vorstellungswelt eintreten muß. […] Man vergegenwärtige sich ferner, daß das Wesen baulichen Schaffens darin liegt, das Innere und Äußere des werdenden Werkes als etwas Einheitliches, gleichsam wie in einer durchsichtigen, unter den Fingern des Schöpfers beweglichen Masse zu sehen.« 16 Während Schumacher das entstehende Bauwerk hier nur im abstrakten Gedankenbild als »bewegliche Masse« durchmodellieren lässt, schlägt er diese Praxis nur kurz darauf auch konkret vor: »Für das, was der Schaffende zur architektonischen Klärung braucht, genügen ihm meist anspruchslose Linienzüge […]. Da aber, wo es sich um ein verwickeltes Gefüge kubischer Massen handelt, da hilft ihm schließlich in Wahrheit nur das plastische Modell.«17 Für das Ziel einer scheinbar unverstellten und geschichtslosen modernen Architektur wurden in der Ausbildung von Architekt*innen in der Folge auch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg kreative Potenziale in den Dienst genommen, die der Praxis des Modellierens zugeschrieben wurden. Offensichtlich in der Tradition der beschriebenen pädagogischen Ideale der Vorkriegszeit schrieb der Bauingenieur Walter Moest im Jahr 1947 in der Zeitschrift Neue Bauwelt: »Wenn man sich Gedanken darüber macht, warum wohl unser Baumeisterberuf so schön ist und warum uns die Leidenschaft des Bauens so tief ergreift, so kommt der, der sich mit den Dingen der menschlichen Seele ein wenig befaßt hat, leicht auf die Idee, es liege wohl daran, daß unser Beruf der Tätigkeit so nahe kommt, die man die leidenschaftlichste nennen kann, die einem Menschen beschieden ist, dem Spiel des Kindes.« 18 15 Ebd., S. 16. 16 Schumacher, Fritz: Das bauliche Gestalten [1926], Basel/Berlin/Boston: Birkhäuser 1991, S. 59. 17 Ebd., S. 60. 18 Moest, Walter: »Lob des Steinbaukastens«, in: Neue Bauwelt 27 (1947), S. 423.
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Walter Moest folgert aus seinen Beobachtungen zum Baumeisterberuf konkrete Handlungsvorschläge. Er fordert seine Kolleg*innen dazu auf, architektonische Entwürfe mithilfe eines Steinbaukastens anzugehen: »Nehmt den Kasten selber in die Hand und ihr werdet sehen, was er euch für Phantasien entlockt.«19 Zwei Jahre später forderte der Berliner Architekt und Hochschulprofessor Eduard Ludwig ebenfalls den Einsatz eines Klötzchen-Baukastens für die Ausbildung von Architekt*innen, um »ihre Phantasie zu wecken und ihren Spieltrieb zu nutzen.« Denn: »Die Studenten sollen nicht nach Vorlagen bauen, sondern aus der gegebenen Aufgabe heraus die Dinge selbständig entwickeln lernen.«20 Tatsächlich ist das Modellieren sowohl mit Klötzchen als auch mit Plastilin spätestens ab den 1960er in der Breite der architektonischen Praxis zur Anwendung gekommen, etwa in der Entwurfsabteilung des Hamburger Wohnungsbauunternehmens Neue Heimat (Abb. 01), beim Stuttgarter Architekten Rolf Gutbrod (Abb. 02) sowie den österreichischen Kollegen Ottokar Uhl (Abb. 03) und Günther Domenig (Abb. 04). Auch aktuell werden dem plastischen Modellieren weiterhin die gleichen Potentiale zugeschrieben. So formuliert der Architekt Alexander Schilling in seiner Publikation über Architekturmodelle auch im Jahr 2018 noch: »Plastilin […] ist einfach in der Bearbeitung […]. Es trägt damit besonders dem experimentellen Ansatz Rechnung, da der Modellkörper additiv und substraktiv verändert werden kann, während die Masse homogen bleibt.«21
2. Pädagogische Grundlegungen; neue Materialien Ab den 1920er Jahren sind sich Architekt*innen, vor allem aber Architekturlehrende also grundsätzlich einig: Um die Kreativität der Entwerfenden beim Entwickeln von moderner Architektur maximal zu fördern und auszunutzen, wird das weiterhin praktizierte zeichnerische Entwerfen um modellierende Praktiken zumindest ergänzt. Weitgehend gleichgültig, ob nun der versuchsweise Umgang mit Klötzchen oder das Durchbilden von Ton oder Plastilin in den frühen Entwurfsprozess integriert wird – das Modellieren wird als grundlegende Praxis für Architekturschaffende im 20. Jahrhundert dargestellt. In den oben angeführten Zitaten wird immer wieder aufs Neue aus der je aktuellen Architekturauffassung heraus hergeleitet, mit welchen erkenntnis- und kreativitätsfördernden Potentialen das Modellieren zur Bewältigung der jeweiligen Herausforderungen beim Entwerfen beitragen mag. Auch wenn vor allem in den 1920er Jahren 19 Ebd. 20 Ludwig, Eduard: »Der Baukasten. Weisheit für die Jugend«, in: Neue Baukunst 5 (1949), S. 21. 21 Schilling, Alexander: Architektur und Modellbau. Konzepte – Methoden – Materialien, Basel: Birkhäuser 2018, S. 145.
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immer wieder betont wird, dass das Modellieren in der Praxis von Architekt*innen lange Zeit nicht in ausreichendem Maße genutzt worden sei und nun entsprechend wiederentdeckt werden müsse, ist es dennoch erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit das Modellieren an sich – also unabhängig von der architektonischen Praxis – als gegebene Praxis vorausgesetzt wird. Auch die konkreAbbildung 01: Entwurfsabteilung Neue Heimat, Modellvarianten zum Projekt Wohndichte, datiert auf den 20. September 1967. Holzklötze auf Grundplatte.
Quelle: Hamburgisches Architekturarchiv, Bestand Neue Heimat, Neue_Heimat_FA_026_S_41.
ten Modellierungsmaterialien wie etwa Klötzchen oder Plastilin werden schlicht nur benannt, allerdings nie als solche und in ihren spezifischen Eigenschaften analysiert, geschweige denn historisiert. Sie scheinen einfach immer schon da zu sein und geduldig darauf zu warten, von den Entwerfenden endlich wieder in die Hand genommen zu werden. Erstaunlich ist das deshalb, weil dem beschriebenen architektonischen Diskurs ein bis zwei Generationen zuvor im 19. Jahrhundert ein reformpädagogischer
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Abbildung 02: Rolf Gutbrod, Entwurfsmodell zur Aula der Waldorfschule Am Kräherwald, Stuttgart, vor 1963. Ton oder Plastilin auf Grundplatte.
Quelle: saai | Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Karlsruher Institut für Technologie KIT, Werkarchiv Rolf Gutbrod.
Abbildung 03: Ottokar Uhl, Modellvarianten zum Wohnheim B.R.O.T. in Wien, ca. 1986. Holzklötzchen auf Grundplatte.
Quelle: Archiv Architekturzentrum Wien, Bestand Uhl, N3-210-69-F.
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Diskurs vorausgegangen war, bei dem genau diejenigen kreativen und kognitiven Fähigkeiten von Kindern – und damit automatisch später auch Erwachsenen – mit im Fokus gestanden hatten, die dann mit dem Modellieren seit dem frühen 20. Jahrhundert für das Entwerfen in Dienst genommen werden sollten. In konkreten Einzelfällen ist auf diesen Konnex zwar schon hingewiesen worden, Abbildung 04: Günther Domenig, Entwurfsmodell TU Graz, 1990. Plastilin auf Grundplatte.
Quelle: Archiv Architekturzentrum Wien, Bestand Domenig, N54-143-4-F.
etwa im Fall von Frank Lloyd Wright, der bekanntermaßen als Kind mit FroebelBausteinen gespielt hat und dies als Einf luss auf seine spätere Entwurfstätigkeit selbst immer wieder benannt hat.22 Darüber hinausgehend will ich allerdings der These nachgehen, dass es in der Folge reformpädagogischer Ansätze – vor allem durch Froebel – im 19. Jahrhundert zur Entwicklung neuer Modellierungsmaterialen gekommen ist, die ganz grundsätzlich genau jenes Kreativitätsideal bedienten, welches dann ab dem frühen 20. Jahrhundert Eingang gefunden hat in die architektonische Praxis. Neben dem direkt mit Froebel in Verbindung gebrachten Anker-Steinbaukasten seit den 1870er Jahren war dies, wie weiter unten ausgeführt wird, vor allem die Entwicklung des Plastilins parallel in England und Deutschland in den 1880er und 90er Jahren. Jenseits von Einzelfällen wie Frank Lloyd Wright hätte die Entwicklung neuer Modellierungsmaterialen 22 Rubin, Jeanne S.: »The Froebel-Wright Kindergarten Connection. A New Perspective«, in: Journal of the Society of the Architectural Historians, 1 (1989), S. 24-37.
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in der Folge reformpädagogischer Ansätze im späten 19. Jahrhundert damit ganz grundsätzlich wesentliche Praktiken des Entwerfens in der Moderne vorbereitet. Der Kern der Theorie, mit der der thüringische Pädagoge Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782-1852) nicht nur die Kindergarten-Bewegung, sondern die Erziehungspraxis von Kindern insgesamt bis heute prägen sollte, versteckt sich in einer durchaus komplexen Formulierung: »Denn wie Jeder weiß, daß wir, echt und wahrhaft lehrend, an Erkenntniß und Einheit vorwärts schreiten; so weiß auch Jeder, und die Natur schon lehrt es Jedem, daß der Gebrauch der Kraft die Kraft nicht allein weckt, sondern sie ganz besonders auch erhöhet und steigert; und wie schon das Aufnehmen und Auffassen der Sache im Leben und Handeln selbst bei weitem mehr entfaltend, ausbildend und stärkend ist, als das bloße Aufnehmen und Empfangen im Worte und Begriffe, so ist auch das Gestalten an und durch Stoff im Leben und Thun, geknüpft an Denken, Gedanken und Wort für die Entwicklung und Ausbildung des Menschen beim weitem höher als die Darstellung […] durch Begriffe und durch Wort ohne Gestaltung.«23 Ähnlich wie sich Muskeln durch Betätigung trainieren lassen, ist dies laut Fröbel also auch bei den geistig-kognitiven Fähigkeiten der Fall, explizit aber im Umgang mit dem »Stoff im Leben«, also mit materiellen Artefakten, der einerseits die Auffassungsgabe des Menschen schule, andererseits explizit auch seine Fähigkeiten zur Gestaltung. In seiner 1826 erschienenen Schrift gibt Fröbel gleich konkret an, welche Art von Artefakten sich im Sinne des beschriebenen Effekts für die geistig kognitive Entwicklung des Kleinkindes besonders eignen: »Das Material zu bauenden Darstellungen ist zum Beginne am besten ein Menge von Holzklötzern, deren Stirnf läche immer 1 Zoll [= 2,54 Zentimeter] ist, und deren Länge von 1 bis 12 Zoll zollweise zunimmt.«24 Mit zunehmendem Kindesalter und damit zunehmenden geistigen Fähigkeiten sollten immer neue Bauklötze, nun auch in komplexeren Formen, also etwa als Dreiecke, hinzukommen. Am Ende dieser Entwicklung stünde dann das formende Bauen mit zunehmend frei formbaren Materialien: »Noch bildender und entwickelnder, aber auch nur für schon mit einem bestimmten Grade geistiger Kraft Ausgerüstete, ist das Formen aus bildsamer weicher 23 Fröbel, Friedrich: »Die Menschenerziehung. Die Erziehungs-, Unterrichts- und Lehrkunst, angestrebt in der allgemeinen deutschen Erziehungsanstalt zu Keilhau« [1826], in: Wichard Lange (Hg.): Friedrich Fröbel’s gesammelte Schriften. Bd. 2: Ideen Friedrich Fröbel’s über die Menschenerziehung und Aufsätze verschiedenen Inhalts, Berlin: Enslin 1863, S. 1-335, hier S. 45.
24 Ebd., S. 249.
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Masse, und zwar nach den durch die würflige Gestalt selbst gegebenen Gesetzen; doch gehöret dieß, wie das freie Bilden und Gestalten aus derselben Masse, mehr dem folgenden späten Knabenalter an.«25 Während sich das erste Formen in nicht weiter bestimmter weicher Masse also noch an der durch die Holzteile eingeführten, standardisierten Klötzchenform zu orientieren habe, entwickelt sich im späteren »Knabenalter« die Fähigkeit zum vollständig freien Durchbilden des Materials und zur freien Entwicklung von Formen. Auf bauend auf die pädagogischen Konzepte Fröbels entwickelten die Brüder Gustav und Otto Lilienthal bis 1880 den Anker-Steinbaukasten.26 Ihr Konzept verkauften die Brüder an den Unternehmer Friedrich Adolf Richter, der den Baukasten 1880 patentieren ließ.27 Dass in den darauffolgenden Jahrzehnten namhafte Architekten der Moderne wie Frank Lloyd Wright und Walter Gropius selbst darauf hingewiesen haben, wesentliche Inspirationen aus ihrem kindlichen Spiel mit den Steinbaukästen bezogen zu haben, ist in der Architekturgeschichte bereits mehrfach hervorgehoben worden.28
3. Entwerfen nach der plastic method? Erstaunlich wenig beachtet worden sind hingegen bisher Fröbels Äußerungen zur weiteren – und weiterhin materialgebundenen – Ausbildung der kognitiven Fähigkeiten des Kindes durch eine »bildsame weiche Masse«, die sich zu Beginn der Entwicklung noch an der Quaderform der Klötzchen orientieren und später gänzlich von formalen Setzungen lösen solle. Im Sinne der Fröbel’schen Pädagogik würden Entwerfende, die beim Modellieren zu Bauklötzchen greifen, demnach auf halber Strecke stehen bleiben.
25 Ebd., S. 250. 26 Das Material, eine gepresste Mischung aus Sand, Kreide und Leinöl ist 1875 von den Lilienthals entwickelt worden, vgl. Vale, Brenda/Vale, Robert: Architecture on the Carpet. The Curious Tale of Construction Toys and the Genesis of Modern Buildings, New York: Thames & Hudson 2013, S. 24-26.
27 US-amerikanisches Patent vom 26.10.1880 abrufbar unter: http://www.ankerstein.ch/ US0233780.pdf; vom 22.5.2019.
28 J. S. Rubin: The Froebel-Wright Kindergarten Connection, O. Elser: Zur Geschichte des Architekturmodells im 20. Jahrhundert, S. 15; Noell, Matthias: »Des Architekten liebstes Spiel: Baukunst aus dem Baukasten«, in: figurationen 1 (2004), S. 23-40, v.a. S. 25, 32. Natürlich verweist auch die Herstellerfirma Ankerstein bis heute stolz auf Gropius‘ Anwendung der Bausteine hin: http:// www.ankerstein.de/index.php?option=com_content&task=view&id=36&Itemid=31; vom 22.5. 2019.
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Auch für das freiplastische Modellieren ist bald – um 1890 – von der Industrie der passende Stoff entwickelt worden, der in der Folge Eingang in die Architekturateliers der Moderne finden sollte: Plastilin. Wohl weitgehend unabhängig voneinander ist das Material vom deutschen Apotheker Franz Kolb erfunden worden sowie vom englischen Künstler William Harbutt. Kolb gründete bereits 1890 in München eine Firma auf seinen Namen, die das von ihm entwickelte Plastilin vor allem für Bildhauer*innen vertrieb, der Kund*innenkreis der heutigen Tochterfirma Kolb Design Technology im bayerischen Deggendorf besteht vor allem aus Autodesigner*innen.29 Für die hier verfolgte Frage nach dem Zusammenhang von Reformpädagogik des 19. Jahrhunderts, Modellierungsmaterial und modernen architektonischen Entwurfsprozessen ist der Blick in Richtung England allerdings gewinnbringender, weil Harbutt, der sich sein Plasticine Ende der 1890er Jahre patentieren ließ, gemeinsam mit dem eigentlichen Material hierfür auch eine Art Gebrauchsanweisung vorlegte, die, ohne von ihm explizit so verortet zu werden, in den Kontext der zeitgenössischen Pädagogik gestellt werden kann: Harbutt’s plastic method30 von 1897 lässt sich als konkrete Erfüllung dessen lesen, was Fröbel in Deutschland rund 70 Jahre zuvor mit seinem Ausblick auf die kognitive Förderung durch eine »bildsame weiche Masse« angerissen hatte (Abb. 05). Die besonderen Eigenschaften des Plastilins – vor allem im Vergleich mit Ton und Wachs – beschrieb Harbutt in seiner Publikation von 1897: »The following are some of its advantages: 1. Its ductility is permanent, being unaffected by heat, dryness, damp, cold, or time; the longer it is used the greater its utility becomes. […] 2. Its plasticity is greatly superior to that of the best modelling clay, or wax; while it is tenacious in form, it is responsive to touch.« 31 Und daraus folge, im Unterschied zum austrocknenden Tonmodell: »The model […] is always in a fit and inviting condition for immediate work in all weathers, and will not fall to pieces or disappoint the operator in the way clay does so frequently.«32 Was Harbutt hiermit eigentlich ausdrückt ist, überspitzt formuliert, die Aussicht darauf, dass das Plastilin sich mit keinerlei aus seiner Materialität resultierenden Beschränkungen dem freien Entwickeln von Formen – und damit der Kognition insgesamt – in den Weg stellen würde. Die Verbindung zwischen einerseits der Pädagogik bzw. Erziehung und andererseits der Kunst stellt er selbst her. 29 https://www.kolb-technology.com/unternehmen/geschichte.html; vom 22.5.2019. 30 Harbutt, William M.: Harbutt’s Plastic Method and the Use of Plasticine in the Arts of Writing, Drawing & Modelling in Educational Work, London: Chapman and Hall 1897.
31 Ebd., S. 1. 32 Ebd., S. 9.
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Denn er behauptet vollmundig: »The material ‚Plasticine‘ perfected by the author is a modelling paste possessing all advantages both of clay and the expensive wax of the artist without the disadvantage of either.«33 Indem er das Plastilin als Arbeitsmittel von Kunstschaffenden einführt, um es dann in der Folge seiner Entwicklung einer Plastic Method vor allem für erzieherische Zwecke in Dienst zu nehmen, setzt er Fröbels Grundannahme stillschweiAbbildung 05: Modellieren von architektonischem Dekor nach der ‚Plastic Method‘, ca. 1897. Plastilin auf Grundplatte.
Quelle: William M. Harbutt: Harbutt’s Plastic Method and the Use of Plasticine in the Arts of Writing, Drawing & Modelling in Educational Work, London: Chapman and Hall 1897, Tafel 43.
gend heraus: Diejenige nämlich, dass das formende Gestalten von Artefakten und Materialien kognitive Fähigkeiten ausbilde und befördere. In dieser Verbindung von kognitivem Training und Kunstschaffen sei das Plastilin gemäß Harbutt zu verwenden »as a means for the development of that freedom of hand and arm so necessary in all arts and in handicrafts, and of the training of the eye and mind to the appreciation of form.«34 Die Freiheit, die durch das form- und willenlose Plastilin ermöglicht wird, und die ja bereits Fröbel als Steigerung der edukativen Potentiale der Bauklötzchen skizziert hatte, könne laut Harbutt schließlich konkret dazu führen, dass 33 Ebd. S. vii f. 34 Ebd. S. xiii.
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das – offenbar von ihm als defizitär empfundene – Niveau der Kunstproduktion seiner Zeit wieder steige. Diese Chance sieht er ganz konkret in der Hinwendung zu »primitiven« Entwurfsmethoden, wie sie das Plastilin ermögliche: »It is not improbable that the primitive method of teaching writing in dry sand scattered on the floor, and the use of the brush and reed in drawing, has contributed to the greater excellence and manipulative skill displayed in the arts and crafts of many Oriental nations. On the other hand, it is more than probable that the excessive use of the hard steel pen and the discouragement of the modelling tool has hindered and diverted our own artistic development as a nation.«35 Die Folgerung ist klar: »It may safely be asserted that nothing can do more to awaken and stimulate the perceptive and creative faculties of the young than modelling.«36 Unabhängig von der Frage, ob die von Harbutt als primitiv bezeichneten Praktiken in der Realität der »orientalischen« Nationen der damaligen Realität entsprachen und unabhängig von seiner nationalistischen Argumentationsweise bleibt dennoch festzuhalten, dass er die Gestaltungswerkzeuge und -techniken seiner Zeit und innerhalb seines Kulturkreises als entmutigend, vor allem aber als einschränkend beschreibt. Ohne es explizit zu machen, schlägt Harbutt damit die argumentatorische Brücke zur Fröbel‘schen Pädagogik, vor allem aber auch zu den zeitgenössisch beschriebenen Qualitäten des Modellierens mit dem Steinbaukasten. Und ohne es zum Zeitpunkt des Verfassens seiner Schrift – um 1897 – wissen zu können, stellt er damit eine Verbindung her zu den Diskussionen um ein zeitgemäßes Entwerfen in der Architektur, wie sie seit den 1920er Jahren geführt und zu Beginn des vorliegenden Textes skizziert worden ist. Mit dem dortigen Ruf nach dem Modellieren beim Entwickeln moderner Baukörper, aus den oben beschriebenen formalästhetischen, raumkonzeptionellen und konstruktiven Gründen wurden eben genau jene Potentiale abgefragt, die speziell das Plastilin zu bieten versprach Mit der von Fröbel begründeten Richtung der Pädagogik, die, wie gezeigt, von den Entwicklern sowohl des Anker-Steinbaukastens als auch des Plastilins aufgegriffen worden ist, sind zudem Grundideen vorformuliert, die den heute aktuell geführten Debatten des New Materialism zugrunde liegen. Wenn Praktiken des modellierenden Entwerfens auf ihre kognitiven Potentiale hin analysiert werden, können hierfür Fragestellungen und Methoden in Anschlag gebracht werden, die vor allem an der Analyse von Wissensprozessen in den (Natur-)Wissenschaften entwickelt worden sind. Für den dabei stattfindenden produktiven Austausch von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen hat sich Bru35 Ebd. S. xiv. 36 Ebd. S. xv.
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no Latour in seiner Akteur-Netzwerk-Theorie interessiert, auch Hans-Jörg Rheinberger hat mit seiner Beschreibung der Experimentalsysteme den Blick mit auf die Objekte gerichtet.37 An ihrer Kritik der tradierten ontologischen Trennung von Objekt- und Subjektwelt und der damit verbundenen Vorstellung eines rational denkenden, von der Welt losgelösten forschenden Subjekts setzten auch andere Wissenstheoretiker*innen an. Zunächst sehr ähnlich wie Latour fragt auch der englische Anthropologe und Archäologe Lambros Malafouris: »Where does the mind stop and the world begin?«38 Der Fokus von Malafouris liegt dabei vor allem auf der Frage, wie Materialien und Objekte das Denken selbst beziehungsweise die kognitiven Fähigkeiten des Menschen prägen. »Things mediate, actively shape, and constitute our ways of being in the world and of making sense of the world.«39 Dinge üben damit nicht nur aktiven Einf luss auf Erkenntnis-, Wissens- und Entwurfsprozesse aus, sondern auch auf uns als handelnde und denkende Subjekte. Malafouris‘ Überlegungen zum produktiven Ineinandergreifen und zur gegenseitigen Bedingtheit von menschlichem (Denk)Vermögen und seiner menschlichen und/oder nicht-menschlichen Umwelt hat er unter dem Label Material Engagement Theory (MET) entwickelt. So schreibt er: »A good deal of […] thinking happens in interaction of brain and body with the world. […] Thinking is interactions of brain and body with the world.«40 Besonders erhellend in Hinblick auf die Analyse des architektonischen Modellierens ist Malafouris‘ Entwicklung der These einer »material agency« am Beispiel des Töpferns. So schreibt er: »I consider pottery making as a prototypical exemplar and one of the best and diachronic models of active mind. […] I see the ways of potmaking as ways of thinking.«41 Seine Beobachtungen hierfür lassen sich wegen der großen Nähe zum Modellierungsmaterial Plastilin besonders anschaulich parallel lesen zu den Eigenschaften, die Wissensprozessen beim Modellieren zu37 Latour, Bruno: »Glaubst du an die Wirklichkeit? Aus den Schützengräben des Wissenschaftskriegs«, in: ders.: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 7-36; Rheinberger, Hans-Jörg/ Hagner, Michael: »Experimentalsysteme«, in: dies. (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften. 1859/1950, Berlin: DeGruyter 1993, S. 7-27.
38 Malafouris, Lambros: »The Cognitive Basis of Material Engagement. Where Brain, Body and Culture Conflate«, in: Elizabeth de Marrais/Chris Gosden/Chris Renfrew (Hg.): Rethinking Materiality: The Engagement of Mind with the Material World, Cambridge: McDonald Institute for Archaeological Research 2004, S. 53-62, hier S. 55.
39 Malafouris, Lambros: How Things Shape the Mind. A Theory of Material Engagement, Cambridge, Massachusetts u.a.: Springer 2013, S. 44
40 Ebd., S. 38. 41 Malafouris, Lambros: »At the Potter’s Wheel: An Argument for Material Agency«, in: ders., Carl Knappet (Hg.): Material Agency. Towards a Non-Anthropocentric Approach, New York 2008: Springer, S. 19-36, S. 22.
Kinderschuhe aus Plastilin
kommen. Malafouris geht von einer »reciprocality between the crafted and the crafter«42 aus. Damit lasse sich eine Dominanz innerhalb der Wissenshandlung weder der einen, der Subjektseite, noch der anderen, der Objektseite, vollständig zuschlagen: »While agency and intentionality may not be properties of things, they are not properties of humans either: they are the properties of material engagement, that is, of the grey zone where brain, body and culture conf late.«43 Mit der Betonung eines produktiven Zusammenspiels von »brain«, »body« und »culture«, wie sie Malafouris tätigt, schließt er – ohne explizite Bezugnahme – genau an der Argumentation an, die Fröbel rund 180 Jahre vorher in seiner Schrift zur Erziehung des Menschen formuliert hatte: »[…] auch das Gestalten an und durch Stoff im Leben und Thun, geknüpft an Denken, Gedanken und Wort [ist] für die Entwicklung und Ausbildung des Menschen beim weitem höher als die Darstellung […] durch Begriffe und durch Wort ohne Gestaltung.« 44 Damit macht er diejenigen materialbasierten Modellierungspraktiken begrifflich fassbar, die das moderne Architekturschaffen wesentlich prägten – und die grundlegend auf pädagogische Leitideen Fröbels sowie des Plastilin-Erfinders Harbutt zurückzuführen sind.
42 Ebd., S. 20. s 43 Ebd., S. 22. 44 F. Fröbel: Die Menschenerziehung, S. 245.
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2. M aterielle Bedeutungskonstitution Ausstellen und Erinnern
»Konfrontation unter Einbeziehung des Publikums« Die Ausstellung MAN transFORMS (1976) und die Materialität der Postmoderne Cornelia Escher
Ein Stein in der Hand: Das solide, kantige Objekt ist in den festen Griff der halbgeschlossenen Faust gebettet. Noch bevor das Auge diese Situation mit einem Set von modernen Variationen des Werkzeugs Hammer auf der gegenüberliegenden Seite verbindet, konfrontiert das Bild uns mit einer archaisch anmutenden Begegnung von Mensch und Material (Abb. 01). Die Gegenüberstellung findet sich im Katalog der Ausstellung MAN transFORMS: Aspects of Design, die der Architekt Hans Hollein für das Cooper-Hewitt Museum in New York 1976 kuratierte. Sie verweist auf die Figur des homo faber als Archetypus des gestaltenden Menschen. Anhand dieser Figur lokalisierten Archäologie und Philosophie den Ursprung der menschlichen Intelligenz in der Konfrontation mit festen Materialien und der Erfindung von Werkzeugen und stellten ihn gewissermaßen als Gegenpart dem homo sapiens gegenüber. Für die Berufsgruppe der Gestalter*innen mag die Figur des homo faber besonders plausibel erscheinen. Dennoch verkörpert dieses Bild eine doppelte Unwahrscheinlichkeit. Innerhalb der postmodernen Architekturwelt der 1970er Jahre, für die auch Hollein eine zentrale Rolle spielte, diente der Bezug auf die Sprache als neuer Code, hinter dem das Interesse für das Materielle scheinbar zurücktrat.1 Aber auch die museologischen Theorieansätze zum Ausstellen, die in dieser Phase entscheidend geprägt wurden, fallen oft bis heute zeichen- und sprachfixiert aus. Ausgehend von diesen Widersprüchen soll nach der Bedeutung der Materialität in der Ausstellung MAN transFORMS insbesondere aus der Perspektive Holleins gefragt werden. Annahmen über die Begegnung mit dem Materiellen äußern sich darin, wie die Ausstellung das Thema Design behandelt, aber auch auf der Ebene 1 Zu Hollein vgl. Branscome, Eva: Hans Hollein and Postmodernism. Art and Architecture in Austria, 1958-1985, London, New York: Routledge 2018.
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der musealen und kuratorischen Objektkonzeptionen und Präsentationsstrategien. Werden hier, wie es die Bilder suggerieren, materielle und sinnliche Erfahrung als unmittelbar sinnkonstituierend gedeutet?
1. Zwischen Bedeutung und Aktion Die Ausstellung MAN transFORMS wird in der aktuellen Forschung als »Environment« und als Auseinandersetzung mit der »Lesbarkeit« der menschlichen Umwelt beschrieben.2 Beide Aspekte hängen mit Entwicklungen zusammen, die die international vernetzte Museumswelt in den 1970er Jahren entscheidend veränderten. Historiker*innen verzeichnen eine Boomphase für Biennalen im Bereich der Kunst; ab der Mitte der 1970er Jahre entwickelte sich die Biennale in Venedig zum wichtigen Forum auch für Architekt*innen, die einen Anspruch auf internationales Prestige erhoben.3 Zudem häuften sich in diesen Jahren die BlockbusterAusstellungen; das Museum als konservierter und konservatorischer Ort verlor gegenüber wechselnden Präsentationen an Bedeutung.4 Mit dieser Entwicklung und neuen Bemühungen um die museale Didaktik im Sinne einer Demokratisierung und Öffnung musealer Institutionen ging ein verstärktes Interesse am Museumsobjekt und seiner theoretischen Fassung einher.5 Doch die Analyse der materiellen Gegenstände war von strukturalistischen Ansätzen geprägt, die vom sprachlichen Zeichen ausgingen und materielle Kultur in Analogie zum »Text« deuteten.6 Besonders deutlich zeigt sich dies etwa in einer der einf lussreichsten Theoriebildungen zum musealen Objekt, die Krzysz2 Keslacy, Elisabeth M.: »The Legibility of Environment. Cooper Hewitt, Smithsonian Design Museum (1968-1976)«, in: Journal of Architectural Education 71 (2017), S. 154-170; Korn, Samuel: »An Environment of Environments. MAN transFORMS - Curatorial Modes, Designs, Structures«, in: Architectural Theory Review 23 (2019), S. 59-89. Die von Laurent Stalder und Samuel Korn kuratierte Ausstellung MAN transFORMS: The Documents an der ETH Zürich (2016) hat die Entstehungsgeschichte umfangreich aufgearbeitet.
3 Green, Charles/Gardner, Anthony: Biennials, Triennials, and Documenta. The Exhibitions that Created Contemporary Art, Chichester: Wiley Blackwell 2016; Szacka, Léa-Catherine: Exhibiting the Postmodern. The 1980 Venice Architecture Biennale, Venedig: Marsilio 2017.
4 Schulze, Mario/te Heesen, Anke: »Einleitung«, in: Mario Schulze/Anke te Heesen/Vincent Dold (Hg.), Museumskrise und Ausstellungserfolg. Die Entwicklung der Geschichtsausstellung in den Siebzigern, Berlin 2015; Mai, Ekkehard: Expositionen. Geschichte und Kritik des Ausstellungswesens, München: Deutscher Kunstverlag 1986.
5 Zur Herausbildung einer transnationalen Museologie oder Museumswissenschaft vgl. te Heesen, Anke: Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg: Junius 2012, S. 147-149.
6 Für eine detaillierte Darstellung semiotischer Zugänge siehe Schulze, Mario: Wie die Dinge sprechen lernten. Eine Geschichte des Museumsobjektes 1968-2000, Bielefeld: transcript 2017, S. 186-191, S. 205-209.
»Konfrontation unter Einbeziehung des Publikums«
tof Pomian seit Mitte der 1970er Jahre entwickelte. Unter anderem am Beispiel der Vasen der Medici-Sammlungen kontrastierte er die relativ statische Geschichte der materiellen Objekte mit der wechselhaften Geschichte der Bedeutungszusammenhänge, in die die Vasen im Laufe ihrer Lebenszeit gestellt wurden. Laut Pomian gehören die Vasen als gesammelte oder musealisierte Objekte zur Kategorie der Semiophoren, die zwei unterschiedlich geartete Ebenen in sich vereinen: Abbildung 01: Hammers. Katalog der Ausstellung MAN transFORMS, 1976. Gestaltung: George Nelson.
Quelle: MAN transFORMS. Aspects of Design: an International Exhibition for the Opening of the Smithsonian Institutionʹs National Museum of Design Cooper-Hewitt Museum, Washington: Smithsonian Institution 1976.
einerseits die »materielle« Ebene des Objekts – seine besonderen Materialeigenschaften, die Art der Bearbeitung, seine Gebrauchsform und nicht zuletzt seinen materiellen »Wert«, andererseits eine »semiotische« Ebene, eine wandlungsfähige Bedeutungsebene. Mit seinen materiellen Eigenschaften verweist der Semiophor auf einen bestimmten (immateriellen) Bedeutungsgehalt, der sich jedoch wesentlich aus dem Kontext der Sammlung und ihrer jeweiligen Präsentationsweise ergibt. Die Beziehungen zwischen Objekt und Bedeutung, so Pomian, werden dabei »im Gegensatz zu physischen Beziehungen nicht so sehr durch die Hand hergestellt, sondern durch Blick und Sprache«. Die »eigentümlichen Merkmale« des Gegenstands haben lediglich eine negativ begrenzende Wirkung, bildeten sie doch »die Konturen einer leeren Fläche, die von der Geschichte aufzufüllen ist«.7
7 Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin: Klaus Wagenbach 1988, S. 80 u. S. 84. Kursivierung im Original.
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Die Vasen erscheinen also als leere Gefäße für eine überschäumende und produktive Fülle an Interpretationen. Pomians Sichtweise bietet eine Grundlage, um die Objekte in unterschiedlichen Wechselausstellungen zu platzieren und sie damit beständig in neue, sogenannte »Narrative« einzubetten. Damit entspricht sie in der Tendenz der Praxis der 1970er und 1980er Jahre, in denen Ausstellungen zunehmend thesenhaft angelegt wurden. Im Zentrum stand dabei vor allem eine didaktische Absicht, die darauf zielte, den Besucher*innen bestimmte Inhalte zu vermitteln.8 In diesem Zusammenhang ist das Ausstellungsobjekt dort interessant, wo es als Zeichen wirkt. Und es ist dort besonders wirksam, wo es wissensbasierte Erkenntnis provoziert. Neben den strukturalistischen und sprachanalogen Deutungsansätzen kamen jedoch auch gestalterische Ansätze und Praktiken auf, in denen materielle Konstellationen und situatives Erfahren im Vordergrund standen. Mit der Aufwertung thesenbasierter Ausstellungen und der Aufmerksamkeit für das jeweilige Narrativ wuchs das Interesse an der Ausstellungsgestaltung als Mittel der räumlichen Inszenierung.9 Szenografische Elemente und Präsentationsformen bildeten eine weitere materielle Ebene neben der Objektebene und dem architektonischen Raum des Museums, die Anteil an der ästhetischen Wirkung der Ausstellungen hatte und als bedeutungskonstitutiv erachtet wurde. Indem sie Objektkonstellationen herstellten, Deutungsrahmen schufen oder selbst Assoziationen und Bilder hervorriefen, waren diese Formen der Inszenierung ein eigentlich kuratorisches Instrument. Entworfen wurden sie zunächst meist von Architekt*innen und Bühnenbildner*innen. Zudem boten sich neue Möglichkeiten für Ausstellungsmachende, die weniger in der traditionellen Rolle als Kustod*innen – als Hüter*innen der musealisierten Objekte –, sondern als involvierte, nach Gegenwartserkenntnis strebende und kreative Figuren wirken wollten.10 Mit der Lösung aus den festen Strukturen des Museums erlangte die Selbstinszenierung charismatischer Gestalten insbesondere im Bereich der Biennalen und temporären Ausstellungen an Bedeutung. Anhand der emblematischen Figur des Kunstkurators Harald Szeemann lässt sich nachvollziehen, wie dabei künstlerische Gesten und performative Formate genutzt wurden.
8 M. Schulze: Wie die Dinge sprechen lernten, S. 149. 9 Vgl. dazu Walz, Markus (Hg.): Handbuch Museum. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2016, S. 261-266; Paul, Stefan: »Kommunizierende Räume. Das Museum«, in: Alexander C. T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold (Hg.), Ortsgespräche Bielefeld. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2005, S. 341-357.
10 A. te Heesen: Theorien des Museums zur Einführung, S. 24-28, siehe auch S. 150, S. 187-188.
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Diese Rolle passte auch zum Selbstbild Holleins, der sich in einer kunstaffinen Umgebung zu Hause fühlte. Seit Beginn der 1960er Jahre hatte er sich im Umfeld der Wiener Galerie St. Stephan einen Namen gemacht. 1967 wurde er als Professor an die Kunstakademie Düsseldorf berufen; dies geschah, wie es auch von ihm selbst gerne kolportiert wird, auf Initiative von Joseph Beuys.11 Im Januar 1967 hatte er einen Vortrag an der Kunstakademie gehalten, in dem er sein Projekt einer Architekturpille vorstellte: Habe man diese eingenommen, könne man sich ins Gras legen und die herrlichste aller Raumwelten träumerisch erfahren.12 Gegen Ende der 1960er Jahre inszenierte sich Hollein selbst in unterschiedlichen Posen in seinen pneumatischen Architekturen aus aufgeblasenem Kunststoff, die als leichte, transportable und transparente Hüllen für ein performatives Architekturverständnis standen und daher häufiger durch die aktive Anwesenheit der Gestaltenden bezeugt wurden.13 In dieser Form des Selbstporträts erschien Architektur als Beruf, in dem das Machen und das Sich-Zeigen in neuer Weise zusammengehörten.14 Weitere zeitgenössische Fotografien zeugen von Holleins Umtriebigkeit, die ihn etwa 1972 in Beuys‘ Büro für Direkte Demokratie auf der documenta IV in Kassel und 1976 auf die Biennale in Venedig führte. Hollein war so präsent, dass der Theoretiker der postmodernen Architektur Charles Jencks dessen Einladung zur Architekturbiennale 1980 rückblickend lapidar kommentiert, jener hätte bei solcherart Ereignissen nie gefehlt.15 Während die Architekturpille für eine immaterielle Architektur stand, die jenseits der imaginären Räume keiner eigentlichen räumlichen Situation bedurfte, drängte sich in Holleins Ausstellung Hans Hollein: Alles ist Architektur: Eine Ausstellung zum Thema Tod am Museum Abteiberg in Mönchengladbach 1970 ein anderer Ansatz ins Licht der Aufmerksamkeit. Möglicherweise beeinf lusst durch seine Kontakte zur Kunstszene rückte Hollein hier die Stoff lichkeit und das Dasein der Dinge neu in den Blick. Entsprechend der Thematik arbeitete die Ausstellung mit organischen Materialien, die der klinischen Funktionalität der Gegenwart plakativ entgegengesetzt wurden: mit Erde, f ließendem Wachs und welkenden Blumen. Erhalten blieb aber auch diesem Projekt ein performativer Aktionismus, der
11 Vgl. etwa Branscome, Eva: »Triptych for an Ideal Museum: Hollein, Beuys and Cladders«, in: AA Files 71 (2015), S. 92-103.
12 Archiv der Kunstakademie Düsseldorf – LN 1.9.-A1. 13 Zu dieser Form der performativen Räume vgl. Escher, Cornelia: Zukunft entwerfen. Architektonische Konzepte des GEAM (Groupe d’Études d’Architecture Mobile) 1958–1963, Zürich: gta Verlag 2017, S. 300-314.
14 Zu dieser Entwicklung vgl. auch Zimmerman, Claire: Photographic Architecture in the Twentieth Century, Minneapolis, Minn.: Univ. of Minnesota Press 2014, S. 269.
15 L.-C. Szacka: Exhibiting the Postmodern, S. 167.
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von Hollein gemeinsam mit Beuys exerziert wurde und die Besucher*innen zum Graben in einem künstlichen »archäologischen Feld« animieren sollte.16
2. Inszenierung und Environment Als Eröffnungsausstellung des Cooper-Hewitt Museums am neuen Standort in der Carnegie Mansion, New York, sollte die Ausstellung MAN transFORMS einen programmatischen Neubeginn darstellen. Die museologischen Eckpfeiler wurden von der Direktorin Liza Taylor vorgegeben, die Hollein als Gestalter und Kurator der Ausstellung engagierte. Das Ziel des Museums war von Beginn an eine experimentelle Inszenierung, die das Thema Design in einer kulturanthropologisch geprägten Perspektive behandelte und Gestaltung gemäß der neuesten museologischen Theorie als Ausdruck der materiellen Kultur deutete. Damit wurde hier eine im Grunde kunstgewerbliche Sammlung mit den neueren, innovativen Praktiken kulturhistorischen Ausstellens verbunden.17 Neben Hollein hatten neun andere Architekten, Kunsthistoriker und Gestalter eigenständige Beiträge zur Ausstellung entworfen, die nicht in eine lineare Argumentationsstruktur eingebunden wurden, so dass Samuel Korn die Ausstellung als »Environment of Environments« bezeichnet.18 Im Begriff Environment laufen unterschiedliche Dimensionen zusammen, die den Gebrauch bisweilen etwas unscharf machen. Als Environments wurden in den 1960er Jahren künstlerische Praktiken benannt, die als Ausweitung des künstlerischen Mediums in den Raum verstanden wurden. Zum anderen findet sich die Bezeichnung im Bereich der Welt- und Landesausstellungen, die stärker an werbewirksame Strategien anknüpften als Museen und dabei die Potentiale einer räumlichen Inszenierung ausschöpften.19 In seiner Rezension der Expo 64 in Lausanne beschrieb der Architekturkritiker und Soziologe Lucius Burckhardt die »environmentalen« Raumgestaltungen als multisensorielle Beschallungsräume, in denen die Anwesenden von multiplen Sinneseindrücken überwältigt werden.20 16 Hans Hollein: Alles ist Architektur. Eine Ausstellung zum Thema Tod, Mönchengladbach: Städtisches Museum Mönchengladbach 1970.
17 Zu den 1970er und 1980er Jahren als »Sattelzeit« kulturhistorischen Ausstellens vgl. M. Schulze/ A. te Heesen: Einleitung.
18 S. Korn: An Environment of Environments. 19 Zur Wechselwirkung von musealen und kommerziellen Präsentationsformaten vgl. Korff, Gottfried: »Omnibusprinzip und Schaufensterqualität. Module und Motive der Dynamisierung des Musealen im 20. Jahrhundert«, in: Michael Grüttner/Rüdiger Hachtmann/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt am Main, New York: Campus 1999, S. 728-754.
20 Burckhardt, Lucius: »Die Kunst des Ausstellens«, in: Werk 51 (1964), S. 313-318, hier S. 314.
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Diese Ansätze bilden eine Art Wurzel der musealen Inszenierungen der 1970er und 1980er Jahre, die der Kurator und Historiker Gottfried Korff rückblickend in Anlehnung an Jakob von Uexkülls biologisches Konzept der »Merkwelt« beschrieben hat. Inszenierungen, so Korff, wirken gesamtsinnlich und räumlich; sie bilden eine Art didaktisches und intentional gestaltetes Ensemble, das ganz auf die Sinne der Besucher*innen zugeschnitten ist.21 Holleins Ausstellung ist ein Beispiel für eine Überführung externer Gestaltungsansätze in den musealen Kontext. Sein Feld war nicht allein die Kunst, sondern auch die Welt der trivialen oder designten Produkte. Aus diesen Bereichen hatte Hollein Bruchstücke direkt wiederverwertet. So war etwa die Installation eines halb natürlichen, halb zum Balken beschlagenen Baumstammes vor dem Eingang des Museums in ähnlicher Form in der Ausstellung Papier (Design-Center Wien, 1972) zu sehen gewesen. Auch das Motiv der Tür hatte Hollein bereits in anderen Zusammenhängen in den Blick genommen. Das Collagenhafte der Ausstellung ist nicht nur eine ästhetische Strategie, sondern auch ein Ausdruck der beschleunigten Arbeitsweise Holleins, der während der Planung der Ausstellung in andere Projekte involviert blieb. Neben einzelnen Fragmenten nutzte Hollein auch Erfahrungen mit räumlichen Inszenierungen im Bereich der Produktausstellungen und mit künstlerischen Environments. Anders als die von Burckhardt beobachteten »Ambiancen« der Expo ist Holleins Inszenierung jedoch nicht immersiv – das heißt auf ein Aufgehen der Betrachter*innen im Medium hin– gestaltet. Dies hat ganz entscheidend damit zu tun, dass Hollein die Dimension der Materialität der Ausstellungsobjekte und die Interaktion der Besucher*innen mit der räumlichen Anordnung, und nicht die Projektion von Bildern und Klängen, in seiner Inszenierung in den Vordergrund stellte. Holleins Aufmerksamkeit für die Materialität liegt zunächst in seiner Annäherung an das Ausstellungsthema »Gestaltung« begründet. Sein Ansatz ist theoriegeleitet, folgt dabei jedoch weniger den kulturanthropologischen Ansätzen des Museums als seiner eigenen professionellen Vorprägung. Das menschliche Gestalten denkt Hollein vom Stoff her. Dabei kann er sich unter anderem auf die architekturhistorische Autorität von Gottfried Semper stützen, der sich ausgehend von der Weltausstellung 1851 in London den Stoffen und den zugehörigen Fertigungstechniken als Elementen des Stils – und damit kultur- und epochenspezifischer Formprägungen – gewidmet hatte.22 In Holleins konzipierten, aber 21 Korff, Gottfried: »Speicher und/ oder Generator. Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum«, in: Martina Eberspächer/Gudrun M. König/Bernhard Tschofen (Hg.), Gottfried Korff, Museumsdinge. Deponieren - exponieren, Köln: Böhlau 2007, S. 167-178.
22 Vgl. dazu Hildebrandt, Sonja: »Gottfried Semper (1803-1879)«, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Klassiker der Kunstgeschichte, Bd. 1: Von Winckelmann bis Warburg, München: Beck 2007, S. 62-75.
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unrealisierten Materialräumen, die etwa dem Beton oder dem Flechtwerk gewidmet waren, stellte er den Zusammenhang von Stoff lichkeit, Bearbeitungstechnik und Formsprache dar. Während das Flechtwerk gekrümmte Formen erzeugt, ist der Beton in kantige, von der hölzernen Schalung definierte rechte Winkel gegossen (Abb. 02, 03). Aus diesen Räumen wird deutlich, dass Hollein MateriaAbbildung 02 und 03: Hans Hollein, Materialraum Beton und Materialraum Flechtwerk.
Quelle: Hans Hollein (Hg.): Design. MAN transFORMS. Dokumente einer Ausstellung, Wien: Stöcker 1989.
lität nicht auf ihre Zeichenhaftigkeit innerhalb eines kulturellen Systems reduzierte, wie zeitgenössisch bei Baudrillard beschrieben und etwa in James Stirlings Verkleidung der Staatsgalerie Stuttgart (1984) inszeniert.23 Ihr Sinn bleibt vielmehr eng mit der sinnlichen Erscheinung und mit den physischen Eigenschaften des Stoffes verbunden.24 In der Ausstellung selbst entwickelte Hollein diesen Ansatz in der Sektion A Piece of Cloth weiter, die fast das gesamte Obergeschoss des Ausstellungsgebäudes umfasste. Ziel war hier zunächst die Konfrontation der Besucher mit der materiellen Erscheinung des Gegenstands, seinen Eigenschaften, seiner Wirkung auf die Sinne und nicht zuletzt auch seinem konstruktiven Verhalten. Vor 23 Baudrillard, Jean: »Die Sprache der Gegenstände (1968)«, in: Susanne Hauser/Christa Kamleithner/Roland Meyer (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes, Bielefeld: transcript 2011, S. 295-303.
24 Vgl. dazu Delitz, Heike: Architektursoziologie, Bielefeld: transcript 2009, S. 85-86.
»Konfrontation unter Einbeziehung des Publikums«
der Wand wellt sich ein großes Stoffstück und veranschaulicht die Unsteifigkeit des Materials und die durch die Webtechnik erzeugte kontinuierliche Oberf läche. Demgegenüber steht die Härte der hölzernen Displaystrukturen, die als überdimensionale Rahmen in den Raum gestellt sind (Abb. 04). Auf der Ebene der Inszenierung stellt Hollein hier noch einmal die Materialeigenschaften im Echo auf die Abbildung 04: Hans Hollein, A Piece of Cloth: The Cloth Embellished, 1976. Installationsansicht, Cooper-Hewitt Museum, New York.
Foto: Norman McGrath. Quelle: Hans Hollein (Hg.): Design. MAN transFORMS. Dokumente einer Ausstellung, Wien: Stöcker 1989.
Objekte dar und lässt diese selbst in der Verfremdung – der wellenförmig »abgebrochenen« Ecke des Displays, die die wellenförmige Inszenierung des Stoffs an der Wand aufgreift – noch einmal zur Erscheinung treten. In einem weiteren Schritt wird das Tuch im Zusammenhang kulturspezifischer Faltungstechniken, handwerklicher Verarbeitungsweisen und in seiner Bezugnahme auf menschliche Körper gezeigt. Exponate aus der Sammlung und anderen Quellen wie Flaggen, Zelte, besondere Gewänder und ein Flaschenschiff werfen die Frage auf, was das eigentlich Verbindende dieser Materialkategorie ausmacht und ob sich aus der Objektwelt des Stoffs ein gemeinsames Sinnpotential destillieren lässt. Trotz der angenommenen Verbundenheit ist der Bezug
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zwischen Material und Form nicht als ein eindeutiger angelegt. In einer Neuinterpretation architekturtheoretischer Ansätze stellt Hollein auf unterschiedlichen Ebenen die Thematik des Stoffwandels – die Frage nach dem Erhalt der Formensprache bei Verwendung eines neuen, mit anderen Eigenschaften ausgestatteten Materials – zur Schau.25 So enthält die Installation Metamorphosis of a Piece of Cloth die Konfrontation einer wehenden Flagge mit der marmornen Nachbildung einer Momentaufnahme derselben und lässt dabei den mit dem Monumentalbau und Dauerhaftigkeit assoziierten Marmor auf die f lüchtige Bewegtheit des Stoffes als Material für temporäre Zeltkonstruktionen treffen. Weiterhin thematisiert Hollein die unterschiedlichen Aggregatzustände in seinen den vier Elementen gewidmeten Installationen, sowie Mensch-Tier-Metamorphosen und spielt auf das Abendmahl und damit gemäß der römisch-katholischen Interpretation auf die Wandlung von Brot und Wein in den Leib Christi an. Trotz dieser Wandlungsprozesse geht es hier nicht um die Simulation von kulturell definierten Stimmungswerten eines Materials, die zu reinen Zeichen werden; vielmehr wird das Verhältnis von Materialität und Sinnhaftigkeit befragt und von einer engeren Bindung zu einem höheren Abstraktionsgrad durchdekliniert. Andererseits zeigt sich in seinem Umgang mit räumlichen Konstellationen, wie sehr er Gestaltung und materielle Anordnungen als handlungssteuernd verstand: Besucher*innen konnten an mehreren Stellen mit der Ausstellung interagieren und die Effekte von Gestaltung körperlich nachvollziehen. Besonders deutlich wird dies in der Installation Doors. Hier setzte Hollein eine Reihe unterschiedlich gestalteter Türen hintereinander und ermöglichte es, beim Durchschreiten etwa die Wirkung unterschiedlicher Größendimensionen in Bezug auf die Maße des eigenen Körpers zu erfahren. Auch die bedienungsfreundliche Gestalt und deren Gegenpart, das Heideggersche Frustrationspotential der Dinge durch deren Widerständigkeit im Gebrauch,26 thematisiert er durch das Anbringen von mehreren und nicht immer funktionsfähigen Türgriffen (Abb. 05, 06). Obwohl Hollein damit dem Materiellen – verstanden als Material mit bedeutungs- und formrelevanten stoff lichen Eigenschaften und als materieller Struktur, die das Nutzungsverhalten beeinf lusst – eine zentrale Rolle einräumte, finden sich in der Ausstellung auch gegenläufige Positionen. Dies wird im Beitrag des deutschen Architekten Oswald Mathias Ungers besonders deutlich, der 25 Vgl. S. Hildebrandt: Gottfried Semper (1803-1879), S. 70. Zu einer breiteren Perspektive auf Materialität und Simulation vgl. auch Poerschke, Ute: »›Stein nicht Stein? Holz nicht Holz?‹ Zur konkreten Materialität von Architektur«, in: Wolkenkuckucksheim 14 (2009).
26 Zu Heidegger vgl. Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias: »Einleitung. Materialität in Kultur und Gesellschaft«, in: Herbert Kalthoff/Torsten Cress/Tobias Röhl (Hg.), Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 11-43, hier S. 21-22.
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sich der Stadt als gestalteter Umwelt widmete. In einer Serie von City Metaphors versammelte Ungers jeweils einen stadtplanerischen Entwurf, eine Fotografie der menschlichen Lebenswelt und einen Begriff, der die beiden bildlichen Darstellungen zusammenband. Für Ungers bildete diese Installation ab, was er in einem ausführlichen Katalogtext darlegte: das Gestalten als ein Denken in Bildern, als ein Arbeiten mit einem abstrakten inneren Bild, das sich materialisiert. Der Bezug auf Denken und Sprache, auf das Konzept als eigentliche Kraft hinter der Form, ist hier deutlich und wird von Ungers durch philosophische Referenzen unterstrichen.27 Abbildung 05 und 06: Hans Hollein, Doors, 1976. Installationsansicht, Cooper-Hewitt Museum, New York.
Quelle: Hans Hollein (Hg.): Design. MAN transFORMS. Dokumente einer Ausstellung, Wien: Stöcker 1989. Fotos: Dorothy Alexander.
Auch einige von Holleins Inszenierungen widmen sich der Suche nach dem Prinzip hinter der Form und präsentieren vergleichende Sammlungen von Variationen zu einem Thema. Die gemeinsam mit der Museumsmitarbeiterin Dorothy Globus erarbeiteten Arrangements unter den Titeln Daily Bread, Hammers und Stars bieten eine Art visuelles Suchspiel für Betrachtende, die angesichts der vorgefundenen Vielfalt über das eigentliche Wesen von Stern oder Brot grübeln können (vgl. Abb. 07). Wenn Hollein im Katalogtext zur Hammer-Sammlung auf den Zusammenhang von Werkzeuggebrauch und -form verweist,28 so ist dieser Blick auf die Praktiken und der damit verbundene Exkurs in die Technikphilosophie nur ansatzweise ins Ausstellungsdesign übersetzt. Zwar finden sich in einer 27 Ungers beruft sich auf Kant, dessen Erkenntnistheorie er möglicherweise vermittelt über die morphologischen Theorien Hermann Friedmanns rezipiert, vgl. Ungers, Oswald M.: »Designing and Thinking in Images, Metaphors and Analogies«, in: MAN transFORMS. Aspects of Design: an International Exhibition for the Opening of the Smithsonian Institutionʹs National Museum of Design Cooper-Hewitt Museum, Washington: Smithsonian Institution 1976, S. 98-104.
28 MAN transFORMS. Aspects of Design: an International Exhibition for the Opening of the Smithsonian Institutionʹs National Museum of Design Cooper-Hewitt Museum, Washington: Smithsonian Institution 1976, S. 54.
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Schale arrangierte, haptisch interessante urzeitliche Werkzeug-Steine, der Griff der Hand selbst bleibt jedoch unsichtbar und ist für die Besucher*innen im Raum lediglich als Greif-Impuls nachvollziehbar.29 Anders als in der Installation zum Thema Stoff bietet die Sammlung der Hammer ein statisch-vergleichendes Tableau dar, in dem der eigentliche Prozess der Formentstehung hinter dem Ergebnis verschwindet und das Material als gestalterischer Faktor unbedeutend wird. Abbildung 07: Hans Hollein, mit Dorothy Globus, Variations of a Product: Daily Bread, 1976. Installationsansicht, Cooper-Hewitt Museum, New York.
Quelle: Smithsonian Institution Archives, Bild Nr. 95-20304.
Dennoch zeigte sich auch in diesem Ausstellungsteil, dass selbst spirituell geladene Präsentationen, wie etwa das Arrangement der Brot-Sammlung auf einem langgezogenen Tisch, als materielle Konstellation lesbar bleiben. So kann das Motiv der langgestreckten Tafel auf das festliche Zusammenkommen verweisen und wurde von Hollein selbst auf die christliche Ikonografie des letzten Abendmahls bezogen. Zugleich jedoch sind die rituellen Praktiken im Objekt der
29 In den Fotografien diente die Hand auch als Maßstab, um die unterschiedlichen Größen der Hämmer zu erfassen, vgl. Stalder, Laurent/Korn, Samuel: MAN transFORMS: Die Dokumente, Zürich 2016.
»Konfrontation unter Einbeziehung des Publikums«
Tafel mit angelegt, das der Zusammenkunft ihre spezifische räumliche Form aufprägt (Abb. 07). Insgesamt wurde die Fragmentiertheit der Präsentation ergänzt durch eine eklektische Verarbeitung unterschiedlicher theoretischer Inspirationen. Hollein hatte sich nicht nur in der räumlichen Abfolge, sondern auch in den konzeptuell widerstrebenden Perspektiven auf das Ausstellungsthema einem didaktischen und in sich stimmigen Environment, wie es bei Korff vorgestellt wird, entzogen. Damit aber stellt sich die Frage nach der spezifischeren Rezeptionsform, die in der Ausstellung angelegt war, oder, anders formuliert, nach der Verknüpfung von ästhetischem Erfahren und kognitiver Verarbeitung, von Denken und Materialität, die in der Ausstellung erprobt wurde.
3. Rezeptionssituationen: »Presented with a series of exposures« Im Arbeitsprozess an der Ausstellung war Hollein durch den Dialog mit dem Museum dazu angehalten, seine Vorstellungen auch schriftlich zu fassen. In einer manifesthaften Liste ist daher seine kuratorische Haltung formuliert. Sie unterstreicht die Unmittelbarkeit, mit der die Ausstellung auf Besucher*innen wirken sollte: »Der Ausstellung liegt kein didaktisches Konzept zugrunde, sondern sie überträgt ihre Botschaft mittels verschiedener Arten von Konfrontation unter Einbeziehung des Publikums.«30 Hier ist also nicht von Lesbarkeit im Sinne zeitgenössischer museologischer Ansätze die Rede, sondern von einem physischen Akt, der durch die Ausstellung selbst aktiv und sogar mit einer gewissen Aggressivität vollzogen wird. Als Kurator sträubte sich Hollein explizit gegen Begleittexte und Beschilderung und verbannte jegliche Form von textlicher Erläuterung in den Katalog. Auch George Nelson, der Gestalter des Katalogs, hob in seiner Einleitung hervor, dass ein Ausstellungsbesuch sich nicht als Lektüre, sondern als »Spaziergang« vollziehe, die Textbeigabe in den Räumen müsse daher »im Telegrammstil« erfolgen.31 Geht man davon aus, dass eine Ausstellung zwischen ästhetischem und konzeptuellem Produkt changiert und entsprechend wahrgenommen werden muss, so wird hier eindeutig für eine ästhetische Wahrnehmungsweise
30 Hollein, Hans: »Ansatzpunkt (Aus dem Exposé vom September 1974)«, in: Hans Hollein (Hg.), Design. MAN transFORMS. Dokumente einer Ausstellung, Wien: Stöcker 1989, S. 17-18, hier S. 17.
31 Nelson, George: »Introduction«, in: MAN transFORMS. Aspects of Design: an International Exhibition for the Opening of the Smithsonian Institutionʹs National Museum of Design CooperHewitt Museum, Washington: Smithsonian Institution 1976, S. 5-7, hier S. 7.
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optiert; die Ausstellung wird als Kunstwerk gedeutet, das sich nicht angemessen in Worte fassen lasse.32 Im Katalog wurde Hollein als Kurator mittels einer Serie von Kontaktabzügen präsentiert, denen ein einzelnes Röntgenbild seines Schädels gegenübergestellt war. Wir können hierin einen makabren Witz Holleins und Nelsons über die Thematik der Varianzen des Ausdrucks und des zugrundeliegenden Prinzips vermuten (Abb. 08). Zugleich lässt sich diese Anordnung auch auf die kuratorische Abbildung 08: 26 Views of Hans Hollein, Conceptualizer. Katalog der Ausstellung MAN transFORMS, 1976. Gestaltung: George Nelson.
Quelle: MAN transFORMS. Aspects of Design: an International Exhibition for the Opening of the Smithsonian Institutionʹs National Museum of Design Cooper-Hewitt Museum, Washington: Smithsonian Institution 1976.
Autorschaft in der Ausstellung beziehen: Hollein, der eigentliche und doch zugleich verborgene Star der Show, präsentiert sich in multiplen Gesichtern. Statt einem greif baren Sinn bleibt den Besuchenden eine Vielfalt von subjektiven Positionen und die schockhafte Konfrontation mit der Materialität des Kuratorenschädels. Das Ausweichen vor klaren Argumentationslinien ist jedoch nicht als generelle Verweigerung von Bedeutung zu verstehen, sondern wirft eher die Frage auf, wie der Prozess der Begegnung mit dem Materiellen und die Konstitution oder Übermittlung von Sinn im Zusammenhang der Ausstellung angelegt ist. Diese Frage bezieht ihre Berechtigung auch aus dem Umstand, dass die Ausstellung im 32 Vgl. Hollein, Hans: »Ansatzpunkt (Aus einem Brief Hans Holleins an die Auftraggeberin Liza Taylor, Direktorin des Museums, Juni 1974)«, in: Hans Hollein (Hg.), Design. MAN transFORMS. Dokumente einer Ausstellung, Wien: Stöcker 1989, S. 16.
»Konfrontation unter Einbeziehung des Publikums«
Format zwischen einer kulturanthropologischen Schau zum Thema Design und der Präsentation individueller Künstlerpositionen oszillierte. Thomas Thiemeyer hat anhand der Objekte im Museum die Spannung zwischen den »wilden Semiosen« der Kunstobjekte und der didaktischen Funktion von Objekten als Zeugen für darzustellende Themen im Sinne Pomians aufgezeigt.33 Eine ähnliche Spannung weitete sich hier auf die gesamte Inszenierung aus und trat auch in unterschiedlichen Positionen der Museumsleitung und der Gestaltenden zu Tage. Fredric Jameson hat in seiner Rolle als Theoretiker und Kritiker der Postmoderne deren ästhetische Wirksamkeit als schizophrene Erfahrung beschrieben, sei sie doch »auf die Erfahrung einer reinen Materialität der Signifikanten eingeschränkt, anders gesagt: auf eine Serie reiner, nicht zusammenhängender Gegenwartsmomente«.34 Exemplarisch lässt sich eine solche Tendenz an der Präsentation der Stoffexponate in der Installation A Piece of Cloth nachvollziehen (vgl. Abb. 04). Die einzelnen Exponate kommen ohne Beschilderung aus und stehen somit jenseits chronologischer oder räumlicher Einordnungen. Die Trennung in ethnologische Schmuckstücke, namenlose Produkte und aktuelles Design wird in der Installation aufgehoben; die klassifizierende Einordnung tritt zugunsten der materiellen Erscheinung und der ästhetischen Erfahrung des Objekts zurück. Folgt man Jameson, so zerschlägt die Inszenierungsweise das historisch und regional geordnete Narrativ kunstgewerblicher Museen und ersetzt es durch intensive Momente. Gestützt wird diese Lesart durch Holleins Begriff der Konfrontation und Nelsons Beschreibung der Ausstellung als »series of exposures«.35 Beide betonen das Momenthafte und Ausgesetzte der Erfahrung anstelle des Zusammenhangs. Aus dem Bericht, den das Museum zu den Reaktionen des Publikums erstellte, geht hervor, dass das Publikum auf die Ausstellung tatsächlich eher mit emotionalen Begriffen reagierte und auf die Gesamtaussage kaum abhob. Auch kommt die Erhebung des Museums zu dem Schluss, dass einzelne Räume für Besucher*innen eher obskur blieben.36 Folgt man Nelsons Erläuterungen, so offenbart diese Strategie jedoch ihren eigenen Sinn: Gemäß einer avantgardistischen Haltung will Nelson die »spirituelle«, allgemein menschliche Dimension von Gestaltung her33 Thiemeyer, Thomas: Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung, in: AlltagsKultur.info (2013), https://www.alltagskultur.info/wp-content/uploads/2017/ 07/Die_Sprache_der_Dinge._Museumsobjekte_zw.pdf vom 1.4.2020.
34 Jameson, Fredric: »Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus (1984)«, in: Andreas Reckwitz/Sophia Prinz/Hilmar Schäfer (Hg.), Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 335-352, hier S. 349.
35 G. Nelson: Introduction, S. 7. 36 Cooper-Hewitt Museum of Design, Smithsonian Institution: Comments about the CooperHewitt Museum. October 7-29, 1976, Mappe »Cooper-Hewitt/City Metaphors«, Ungers Archiv für Architekturwissenschaft, Köln.
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vorheben und deren Gegenstand wieder in der Totalität der Lebenszusammenhänge restituiert sehen.37 Dieses Designverständnis wird insbesondere auch in der Inszenierungsweise transportiert, in der Objekt und Raumgestaltung zum Träger von Emotion und Erfahrung werden. Die Inszenierung stützt so das Ziel des Museums, die Ausstellung als Ausgangspunkt für einen neuen Designbegriff im Sinne museologischer Objekttheorien zu nutzen. Die Vorstellung einer allein ästhetischen Rezeption der Ausstellung wurde jedoch von Seiten des Museums nicht vollauf geteilt. Das neue Angebot an Rezeptionsweisen entsprach zwar einem intendierten Besucherwandel, für den eine Enttäuschung des Stamm- und Fachpublikums in Kauf genommen wurde. Dennoch hielt das Museum an verbalen Vermittlungsstrategien fest und blieb von deren Notwendigkeit überzeugt. Legitimiert durch entsprechende Publikumswünsche fügte das Museumspersonal nachträglich textliche Ergänzungen in die Räume ein.38 Damit passte es die Ausstellung ein Stück weit an klassische Präsentationen an, nahm seine didaktische Aufgabe wahr und lebte ein eher textbasiertes und wissenschaftsnahes Denken aus. Der Bericht über das Publikumsecho führte außerdem an, dass die Ausstellung nach anfänglicher Kritik positiver bewertet worden sei. Als Grund für diese Verbesserung wird die Vorbereitung der Besucher*innen durch Presseberichte ausgemacht.39 Das Museum ging also davon aus, dass sich durch die Presse eine öffentliche Meinung etabliert hatte, die, f lankiert durch die Öffentlichkeitsarbeit des Museums, zu mehr Verständnis für das Gezeigte geführt habe. Tatsächlich deuten einige Artikel auf die Nähe zwischen der Museumstheorie und zeitgenössischen Rezensionen hin. Wenn die Fachjournalistin Lindsay Stamm-Shapiro die Ausstellung unter dem Titel »Design as Sign« als »strukturalistisch« deutete,40 lässt sich dies mit Teilen der Ausstellung nur sehr bedingt in Übereinstimmung bringen, jedoch sehr wohl mit den zeichentheoretischen Ansätzen der Museologie. Flankierend zu den Bemühungen des Museums finden sich in den Äußerungen der Besucher Indizien, dass der Prozess der kollektiven Meinungsbildung über die neue Ausstellung auch während des Ausstellungsbesuchs und in der Konfrontation mit dem Raum, der Inszenierung, den Objekten und nicht zuletzt weiteren anwesenden Personen getroffen wurde. Wenn die Besucher*innen die vom Museum als trivial gewerteten Bedürfnisse nach zusätzlichen Mülleimern, Telefonen und Bänken äußerten, wird deutlich, dass sie das Museum in seiner 37 G. Nelson: Introduction, S. 7. 38 Der Text benennt diese als »explanatory labels«, siehe Cooper-Hewitt Museum of Design, Smithsonian Institution: Comments about the Cooper-Hewitt Museum, S. 2.
39 Ebd., S. 1. 40 Stamm-Shapiro, Lindsay: »Design as Sign. The New Cooper-Hewitt Museum Opens its Great Collection in a Challenging Context«, in: Craft Horizons 36 (1976), S. 28-29, S. 66-67.
»Konfrontation unter Einbeziehung des Publikums«
Qualität als Aufenthaltsort bewerteten. Der Bericht erwähnt auch die Anwesenheit von Kindern, die, aus den anliegenden Schulen kommend, das Museum für ihr Spiel nutzten und mit ihrem Lärm in Konf likt zu traditionsorientierteren Besuchenden traten.41 Diese Form der Rezeption war kein Zufall, sondern entsprach Abbildung 09: Arata Isozaki, Angel Cage, 1976. Installationsansicht, Cooper-Hewitt Museum, New York.
Quelle: Smithsonian Institution Archives, Bild Nr. 95-20303.
der Intention der Ausstellung; sie war in deren partizipativen Bereichen, wie etwa der Installation der Türen, angelegt und wurde etwa in den Fotografien von Dorothy Alexander dokumentiert (vgl. Abb. 06, 07). Gestaltung dürfte sich hier nicht so sehr zeichenhaft, sondern körper- und handlungsbezogen vermittelt haben; die Konfrontationssituation wurde durch Einbeziehung abgemildert. Als »universal favorite« der Besucher*innen erwies sich die räumliche Inszenierung Angel Cage des japanischen Architekten Arata Isozaki,42 in der er sich mit der umfangreichen Sammlung von historischen Vogelkäfigen im Bestand des Museums auseinandersetzte. Die ausgestellten Vogelkäfige waren vor die 41 Cooper-Hewitt Museum of Design, Smithsonian Institution: Comments about the CooperHewitt Museum, S. 1 u. 5.
42 Ebd., S. 6.
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vom historistischen Interieur vorgegebenen Wandsegmente auf Sockel platziert (Abb. 09). Sie standen vor dem Hintergrund eines luftig bewölkten Sommerhimmels, auf dem die Abbildungen eines vergitterten Ausblicks wie Fenster wirkten. Dieses Spiel mit der Verunklarung von Innen- und Außenraum wird noch einmal gedoppelt, indem Isozaki ein auf menschliche Maße abgestimmtes Käfigsegment vor den Zugang zum Raum platziert. Je nachdem, von wo Besuchende den Raum betreten, finden sie sich also entweder selbst im Käfig wieder, oder potentiell mit darin »gefangenen« Mitbesichtiger*innen konfrontiert. Der an einer verspiegelten Wand im Käfig angebrachte Verkündigungsengel nach Fra Angelico ist der christlichen Mythologie und der europäischen Kunstgeschichte entnommen, lässt sich jedoch als Figur universeller deuten. Denn im Bild eines menschenähnlichen Wesens mit Flügeln müssen wir nicht zwangsläufig die Botenfigur zwischen Mensch und Gott erkennen, um auf die metaphorische Verbindung von Vogel und Mensch, Erde und Himmel, Freiheit und Gebundenheit zu stoßen. Die Poetik des surrealen Raumbildes verbindet sich mit der Raumerfahrung der Besucher*innen und bleibt nicht, wie in anderen Teilen der Ausstellung, im Unklaren. Das KäfigMotiv wird in Begegnung nicht nur mit der materiellen Raumdisposition und der Macht der Gestaltung erfahrbar, sondern auch in der Begegnung mit anderen Besucher*innen des Museums. In diesem Text wurde der Versuch unternommen, eine Ausstellung zunächst von der Perspektive des Gestaltens zu lesen und diese mit den museologischen Tendenzen der Zeit in Einklang zu bringen. Hollein hat als Gestalter der Ausstellung MAN transFORMS Ansätze entwickelt, die das Materielle als bedeutungskonstitutiv verstanden und gegen textfixierte Ansätze der Museologie anzuführen sind. Damit öffnet er den Blick für die häufig unterbelichtete Rolle von Inszenierung, Raum, Objekt sowie nicht zuletzt den musealen Fokus auf den Sehsinn, der sich aus den tradierten Präsentationsformen des Museum ergibt. Für die Konzeption der Ausstellung schöpft er sowohl aus ihm verfügbaren, eklektisch verwendeten Theorieansätzen als auch aus seiner praktischen Vorerfahrung als Ausstellungsmacher und Architekt, die durch nichtmuseale Räume geprägt ist. Insofern begreift Hollein die Dinge nicht nur als sprechend, sondern in ihrer Eigenlogik, die sich in besonderer Weise im Dialog mit dem Publikum ergibt. In der Ausstellung zeigt sich daher eine Annäherung an die Gestaltung, die gängigen Annahmen über die Postmoderne widerspricht. Vielmehr finden sich Belege, dass die postmoderne Fixierung auf die Sprache als Medium im Bereich der Gestaltung nicht notwendig in einer strukturalistischen – und damit Materie und Geist trennenden – Position aufgeht. Aber auch das Gegenstück dieser Auffassung, in dem die reine Materialität ohne zusammenhängendes Narrativ die Besuchenden schockhaft trifft und in einer direkten, ästhetisierten Affiziertheit mündet, wird von Hollein und Nelson zwar in Teilen bedient, im Gesamtbild der
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Ausstellung jedoch nicht bestätigt. Zwar war die Zurückweisung von Sprachlichkeit und verbaler Eindeutigkeit für Hollein und Nelson ein zentrales Ziel des Experiments. Dennoch wird dieser Haltung von Seiten des Museums ebenso wie dort, wo die Besuchenden selbst in einer aktiven Rolle das Geschehen mitbestimmen, ein Korrektiv entgegengesetzt. Die Ausstellung offenbart sich so als Mischform, in der konzeptuelle, gestalterische und ästhetische Positionen miteinander konkurrieren und – wenn auch bisweilen widerstrebend – ineinandergreifen.
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Entwerfen im kulturellen Gedächtnis Zur atmosphärischen Herstellung von Architekturen in urbanen Ruinen* Hanna Katharina Göbel
1. Artefakte ohne kulturelles Gedächtnis? Entwurfspraktiken wurden in den letzten Jahren in ethnografischer Perspektive meist im Büro von Architekt*innen und Designer*innen untersucht, um Erkenntnisse über die Gestaltungsprozesse von Artefakten zu gewinnen. Der Fokus lag auf den grundlegenden Praktiken des Wissens, die die Zukunft des Gebauten imaginieren und über materielle Vehikel modellieren (wie zum Beispiel im Zeichnen, dem Bauen von Modellen sowie im computergestützten Simulieren).1 Die Kulturalitäten des Wissens wurden in dieser Perspektive ausschließlich implizit verhandelt – und somit spielte der Bezug auf die Vergangenheit dieser architektonischen Artefakte aus dem historischen Archiv oder im Kontext ihres Entstehungsortes meist keine große Rolle. Der Einbezug eines existierenden kulturellen Gedächtnisses, das immaterielle Rituale, Atmosphären und soziale Routinen des jeweiligen Ortes vermittelt, war bislang ebenso wenig von Belang, wie die Bezugnahme auf existierende ästhetische Formen und typologische Klassifikationen aus dem Archiv, die in die Gestaltung mit einf ließen. Diesen immateriellen wie materiellen Formen von Kulturalität, die Architekturartefakten immer auch eingeschrieben ist, wurde somit wenig Handlungsmacht oder Mitspracherecht ein-
*
Die folgenden Ausführungen sind ein Ausschnitt und basieren auf einer kultursoziologischen Arbeit zur atmosphärischen Um- und Weiternutzung von Ruinen in Berlin, vgl. Göbel, Hanna: The Re-Use of Urban Ruins. Atmospheric Inquiries of the City, London: Routledge 2015.
1 Vgl. Yaneva, Albena: The making of a building. A pragmatist approach to architecture. Oxford: Peter Lang, 2009; vgl. Degen, Monica/Melhuish, Claire/Rose, Gillian: »Producing Place Atmospheres Digitally: Architecture, Digital Visualisations Practices and the Experience Economy«, in: Journal of Consumer Culture 17, 1 (2016), S. 3-24.
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geräumt. Im Gegenteil, in Gestaltungsprozessen werden architektonische Artefakte oft ohne jegliche Kulturalität in Bezug auf ihre Vergangenheit gedacht und analysiert, und als neutralisierte, zeitlose Materialitäten verhandelt.2 Nur wenig Interesse bestand deshalb darin zu fragen, wie sich die Modellierung von Vergangenheiten etwa durch das Entwerfen im Bestand, die Um- und Weiternutzung von Ruinen, die Bezugnahmen auf das bereits bestehende kulturelle Gedächtnis des Ortes vollzieht. Diese Fragestellungen legen den Fokus darauf, wie ein kulturelles Gedächtnis in die zu entwerfenden Artefakte gerät, wie die Materialitäten dieses Gedächtnisses in Entwurfsprozesse intervenieren und Praxis irritieren.3 Wie werden Kontroversen um diese Artefakte verhandelt und wie vollzieht sich die Einschreibung von Archivmaterialien zur Rekonstruktion von Bauten oder Bauteilen in gegenwärtigen Praktiken des Entwerfens? Im folgenden Beitrag steht die Frage im Vordergrund, wie sich – zugespitzt – das Entwerfen im und mit dem kulturellen Gedächtnis vollzieht. Über welche Praktiken und welche Ordnungen des Wissens wird das kulturelle Gedächtnis zum Gegenstand des Entwerfens? Dies umfasst sowohl Perspektiven auf den Umgang mit dem baulich vorhandenen Material, den Ruinen und deren kulturelle Bedeutungen, als auch Einblicke in die Rekonstruktionsprozesse aus dem Archiv und deren Einbindung in die Praxis des Entwerfens. Zunächst soll kurz geklärt werden, was gemeint ist, wenn hier von Praxis die Rede ist, wenn also eine praxistheoretische Perspektive4 auf architektonische Artefakte eingenommen wird, worin diese besteht und wie sie sich auf die atmosphärische Vermittlung des kulturellen Gedächtnisses beziehen lässt.
2. A rchitektur und kulturelles Gedächtnis – eine praxistheoretische Perspektive Der material turn der sozialwissenschaftlichen Architektur- und Designforschung hatte die Abkehr von der Dominanz semiotischer Ansätze zum Thema. Architekturen werden nun weder als Bild noch als Text aufgefasst.5 Sie werden als Artefakte untersucht, die in und durch Praxis hergestellt werden. 2 Vgl. Gagliardi, Pasquale/Latour, Bruno/Memelsdorff, Pedro: Coping with the Past: Creative Perspectives on Conservation and Restoration, Florenz: Olschki 2010.
3 Yaneva, Albena: »How Buildings Surprise: The Renovation of the Alte Aula in Vienna«, in: Science Studies 21, 1 (2008), S. 8-28.
4 Vgl. Schäfer, Hilmar (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Bielefeld: transcript 2015.
5 Latour, Bruno/Yaneva, Albena: »Give me a gun and I will make all buildings move: An ANT’s view of architecture«, in: Reto Geiser (Hg.), In Explorations in Architecture. Teaching. Design. Research, Basel: Birkhäuser 2008, S. 80-89.
Entwerfen im kulturellen Gedächtnis
Der Fokus liegt in dieser Perspektive darauf, die black box der Herstellungsprozesse von Artefakten zu öffnen. Diese Perspektive, die durch die Studien der Wissenschafts- und Technikforschung (STS), Ansätze der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) sowie der material culture studies bef lügelt wurde, läutete den practice turn der sozialwissenschaftlichen Architektur- und Designforschung ein: Diese fragt, wie architektonische Artefakte, die mit eigenen sinnlichen Wahrnehmungsordnungen6 ausstaffiert werden, soziale Praktiken stabilisieren. Darüber hinaus rückt sie in den Fokus, wie umgekehrt, architektonische Artefakte durch soziale Praktiken der Gegenwart erzeugt und dauerhaft stabilisiert werden. Zum anderen gerät nun auch in den Blick welche kulturellen Wissensordnungen, die als Stabilisatoren von Praktiken gelten, zur Beständigkeit von architektonischen Artefakten beitragen.7 Die Praktiken des Entwerfens und Programmierens architektonischer Artefakte interessieren deshalb immer auch hinsichtlich der Frage, welche Register und kulturellen Ordnungen des Wissens eingeschrieben werden. So wird nun auch sichtbar, wie die Teilnehmer*innen von Praktiken des Entwerfens und Programmierens durch diese Perspektive neu ausgehandelt und bestimmt werden können: Neben den konventionalisierten Expert*innen, die qua ihres professionellen Status (Architekt*innen, Designer*innen etc.) als Teilnehmer*innen qualifiziert werden, gerät damit auch unkonventionalisierte Expertise von Projekten der Partizipation und des politischen Protests in den Blick. Die praxistheoretische Perspektive schließt so in einem weiteren Sinne an soziologische Betrachtungen an, die bereits zur Jahrhundertwende bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts architektonische Artefakte nicht nur als neutrale Bauten in den Blick nahmen, sondern in ihrer räumlich ausladenden Gestalt immer auch ein kollektives bzw. ein kulturelles Gedächtnis konstituiert und kollektiv vermittelt sahen. Sie setzten sich auf diese Weise mit der sozialen Wirksamkeit von Artefakten auseinander:8 Georg Simmel etwa sah in Architekturen das »Senkblei« von Gesellschaften. Für ihn waren es gerade die Materialitäten der Architektur, über die sich Gesellschaften im Boden verankern und die über Generationen hinweg, unter anderem in Form der Ruine, an der Gestaltung des Sozialen beteiligt sind.9 Der Philosoph Henri Bergson plädierte ebenfalls dafür, kulturelle Artefakte 6 Vgl. Göbel, Hanna Katharina/Prinz, Sophia (Hg.): Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld: transcript 2015.
7 Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32, 4 (2003), S. 282-301.
8 Vgl. Delitz, Heike: Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Frankfurt am Main: Campus 2010.
9 Simmel, Georg: Die Ruine. Ein ästhetischer Versuch, in: ders. Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, Berlin: Wagenbach [1907] 1998, S. 118-125.
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weniger von ihrer Räumlichkeit her zu denken, stattdessen ihre »Dauerhaftigkeit« als das sozial stiftende Moment ihrer Materialität anzuerkennen.10 Maurice Halbwachs sah aus diesen Gründen in architektonischen Artefakten die konstitutiven Merkmale für die Bildung von kollektiven Gedächtnissen. Nicht die persönlichen Erinnerungen, die an den Artefakten haften, sondern die kollektiven Strategien der praktischen Bindungen an diese Materialitäten machte er zum Thema.11 In den Kulturwissenschaften wurde diese Perspektive von Jan und Aleida Assmann aufgegriffen und in dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses überführt.12 Anders als das kommunikative Gedächtnis der Zeitzeugenschaft, das in f lüchtige Kommunikationsgemeinschaften und Lebenswelten eingebettet ist, geht es bei dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses darum, herauszustellen, wie orale Formen von Erinnerung in Monumente überführt werden, die für die Nachwelt gedacht sind. Architekturen stiften so – ähnlich wie Traditionen, Rituale und Gebräuche – über Generationen hinweg dynamische Erinnerungskulturen. Sie sind als Monumente an Betrachter*innen und auf Adressat*innen gerichtet. Hier konstituiert und vermittelt sich mitunter über Generationen hinweg ein materielles kulturelles Gedächtnis. Jedoch liegt die Verfügbarkeit über die Gestaltung und die Modellierung dieses kulturell und kollektiv bindenden Gedächtnisses in der Hand der Expert*innen für Gestaltungen bzw. derjenigen, die hier kulturelle Expertise einbringen. In solch einer Perspektive wird Geschichte zur »plastischen Verfügungsmasse [...], über deren Gestalt die jeweilige Gegenwart entscheidet.«13 Eine praxistheoretische Perspektive schließt hier gut an. Denn sie ist in der Lage, die Praktiken in den Blick zu nehmen, durch die die Artefakte in ihrer kulturellen Plastizität in Bezug auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft modelliert werden. Anders als viele Artefakte und Dinge des Gebrauchs, die durch unterschiedliche Kulturen und Gesellschaften zirkulieren, wurden Architekturen als »immobile Artefakte« bestimmt.14 Zwar sind sie in einem topografischen Sinn unbeweglich, erhalten allerdings eine Prägung durch die wechselnden Programmierungen, die sie an soziale und politische aber auch an kulturelle Ordnungen binden. Für eine praxistheoretische Perspektive ist hier besonders interessant, 10 Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg: Meiner [1896] 1991.
11 Halbwachs, Maurice/Lhoest-Offermann, Holde/Maus, Heinz: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke [1939] 1967.
12 Assmann, Aleida: »Kultur als Lebenswelt und Monument«, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt am Main: Fischer 1991, S. 11-24.
13 Assmann, Aleida: »Rekonstruktion – Die zweite Chance, oder: Architektur aus dem Archiv«, in: Winfried Nerdinger (Hg.), Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte, München: Prestel Verlag 2010, S. 16-23.
14 Guggenheim, Michael: »Building memory: Architecture, networks and users«, in: Memory Studies 2, 1 (2009), S. 39-53.
Entwerfen im kulturellen Gedächtnis
wie diese hergestellt werden und die Artefakte dauerhaft und beständig stabilisieren oder auch in ein Stadium des Wandels überführen.
2.1 Ruinen und kulturelles Gedächtnis Ruinen, speziell urbane Ruinen, sind ein sehr gutes Beispiel für die Stabilisierung oder Destabilisierung der kulturellen Ordnungen architektonischer Artefakte. In der Form der Ruine ist bereits strukturell ein politischer oder sozialer Konf likt und ein noch offener Prozess des Wandels eingeschrieben: als verlassene Orte der Industriemoderne, als post-sozialistisches oder auch post-kolonialistisches Erbe, oder als kapitalistisches Spekulationsobjekt oder Fehlinvestment; meist sind diese Artefakte in unterschiedliche Formen von Kollektivierung und einen Kampf um Eigentum, Bewohnerschaft und kultureller Repräsentation bzw. Anwartschaft auf kulturelle Neubewertung eingebunden. Sie erscheinen genau aufgrund dieser Umkämpftheit und des politischen Verhandlungscharakters als die prädestinierten Artefakte für das architektonische Entwerfen und Programmieren eines kulturellen Gedächtnisses (oder auch mehrerer, wechselnder Gedächtnisse). Aufgrund der Tatsache, dass sie als »disordered messy sites«15 im urbanen Raum ihren architektonischen Klassifikationen als auch ihrer sozialen, politischen und kulturellen Programmierung enthoben sind, bieten sie eine Vielzahl an Modellierungsmöglichkeiten an. Sie fordern zu einem »aesthetic encoding«16 auf, einer Technik der Umwidmung und kulturellen Neuinterpretation, die neue ästhetische Bezüge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellt. Die ästhetische Kulturtechnik des Zugreifens auf die Vergangenheit ist einerseits im Kontext von historischen urbanen Avantgardebewegungen wie beispielsweise den Situationisten in den 1960er Jahren und deren Methode der dérive zu sehen. Sie entwickelten das zweckfreie Umherschweifen im urbanen Raum als explorative Form der Neuaneignung von bestehenden Bauten und Architekturen aus dem Archiv. Die Kulturtechnik im Umgang mit Vergangenheit steht andererseits in der Tradition der as found Bewegung in der Kunst und Architektur der 1950er und 1960er Jahre, in der performative Prozesse mit vorgefundenen Artefakten oder Architekturen im Vordergrund standen. Das Vorgehen betrifft Bauten, die nicht mehr bewohnt oder anderweitig genutzt wurden, und die das historische Material für die Anwendung dieser ästhetischen Techniken und Praktiken der Herstellung eines kulturellen Gedächtnisses liefern. Diese Kulturtechnik lässt sich auch in der Modellierungspraxis von architektonischen Artefakten wiederfinden und deshalb für die Analyse von Entwurfs- und Programmierungsprak15 Vgl. Edensor, Tim: Industrial ruins: spaces, aesthetics, and materiality, Oxford: Berg 2005. 16 Ebd.
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tiken in der Architektur fruchtbar machen. Wie ich argumentieren möchte, ist es ein strukturelles Merkmal von Ruinen, dass hier eine Auseinandersetzung mit dem kulturellen Gedächtnis im Ästhetischen stattfindet und in die Modellierung von architektonischen Atmosphären mündet.
2.2 Atmosphärische Praktiken des Entwerfens Mich interessiert also, wie sich die kollektive Vermittlung in der Konstitution eines kulturellen Gedächtnisses in Entwurfs- und Programmierungspraktiken denken lässt und wie sich dies auf das Bauen im Bestand, Rekonstruktionen aus dem Archiv und andere Umgangsweisen mit materiellem, teilweise umkämpftem Erbe auswirkt. Ich plädiere hier dafür, den Begriff der Atmosphäre näher in den Blick zu nehmen und die Aufmerksamkeit auf die atmosphärischen Vermittlungen des kulturellen Gedächtnisses in und durch Praktiken des architektonischen Entwerfens und Programmierens zu lenken.17 Der Begriff der Atmosphäre hat einen besonderen Stellenwert in der phänomenologisch orientierten Architekturtheorie.18 Über den Begriff der Atmosphäre wurde das Spezifikum von Architekturen als räumlich ausladende Artefakte argumentiert: In den Formen, Typologien und Ausprägungen ihrer Stile transportieren diese Artefakte stets eine immaterielle Hülle, die die Subjekte ergreift und hierdurch die kulturellen Werte einer Architektur vermittelt. Die Architektur ergreift atmosphärisch subtil und macht leiblich betroffen, so dass sich das Subjekt ihr nicht entziehen kann. Die Formungsprozesse des Artefakts wirken so unmittelbar auf die kulturellen Wahrnehmungsordnungen und -praktiken ein, in die das Subjekt eingebettet ist. In der Soziologie der Artefakte wurde ebenfalls vielfach auf die kulturellen attachments19 hingewiesen, die sich zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Teilnehmer*innen von Praktiken ausbilden können. Atmosphärische attachments können alle sinnlichen Dimensionen ansprechen, aber natürlich auch spezifische sinnliche Erfahrungen priorisieren. Sie wirken affizierend, produzieren Freude, Lust, Leidenschaft, Wut, Hass und Abneigung gleichermaßen. Eine praxistheoretische Perspektive, die sich für die Vermittlungen des kulturellen Gedächtnisses in Entwurfs- und Programmierungspraktiken interessiert, ist auch an einer Rekonstruktion dieser affizierenden attachments interessiert. Diese geben nämlich, wie ich im Folgenden zeigen werde, Aufschluss über die Art und 17 Vgl. H. K. Göbel: The Re-Use of Urban Ruins. 18 Vgl. Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München: Fink 2006. 19 Gomart, Emilie/Hennion, Antoine: »A sociology of attachment: music amateurs, drug users«, in: John Law/John Hassard (Hg.), Actor Network Theory and After, Oxford: Blackwell Publishers/ The Sociological Review, 1999, S. 220-248.
Entwerfen im kulturellen Gedächtnis
Weise wie ein kulturelles Gedächtnis von architektonischen Artefakten modelliert wird.
3. D ie Modellierungen von Atmosphären der Vergangenheit: Café Moskau, Berlin Das Beispiel, das ich hier diskutieren werde, ist die Neuprogrammierung des Café Moskau in Berlin in den 2000er Jahren. 1964 wurde das Restaurant Moskau im Ensemble mit dem Kino International, der Mokka-Milch-Eisbar und dem Hotel Berolina an der Karl-Marx-Allee eröffnet (Architekt: Josef Kaiser) (Abb. 01). 1982 und Abbildung 01: Josef Kaiser, Restaurant Moskau, Berlin, 1964. Foto aus dem Jahr der Eröf fnung.
Quelle: Bundesarchiv.
1987 erfolgte die Renovierung und Sanierung mit einer Verkleinerung des Restaurants, der Herabsetzungen der Decken, der Wegnahme der Glasfensterfronten, einer neuen Inneneinrichtung und Wandgestaltungen mit dunklen Holzvertäfelungen und Verzierungen. Nach dem Mauerfall 1989 wurde die Überführung des Gebäudes in die Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft (TLG) vollzogen. 1995 wurde das Restaurant geschlossen und diente von 1995 bis 1997 als Kulisse für Filmproduktionen und Ort der Zwischennutzung für Clubkulturen. 2000 erfolgte die Sanierung des Daches und eine Verlängerung der Zwischennutzungsphase um weitere vier Jahre wurde genehmigt. Ein erster Bericht des Denkmalschutzamtes im Kontext der Listung des architektonischen Ensembles als Gesamtanlage wurde veröffentlicht. 2002 erfolgten weitere Sanierungsarbeiten, die durch das Bezirks-
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amt Mitte beauftragt wurden. 2007 wurde das Gebäude an Investoren verkauft, die es seit 2010 als Café Moskau, als historische location für Events, Veranstaltungen und Kongresse betreiben und als Grundlage für die Neuprogrammierung eine Interpretation des Originalentwurfs der 1960er Jahre heranzogen. Im Folgenden wird ein zentraler Komplex atmosphärischer Praktiken diskutiert, den ich im Detail in dem Buch,20 auf das dieser Beitrag auf baut, in dem Kapitel »The stabilization of memory. Cultural engineering of ruins as buildings« analysiert habe. Ich habe diesen Komplex an Praktiken im Kontext dieses Beitrags ausgewählt, da an ihm exemplarisch verdeutlicht werden kann, wie sich ein kulturelles Gedächtnis konstituiert und in die Entwürfe und Programmierungen gerät. Es wird deutlich werden, dass die Art der Vermittlung und Konservierung einer Atmosphäre der Vergangenheit einer eigenen sozialen Dynamik folgt, die bestimmte Zeitschichten des Gebäudes priorisiert und andere vernachlässigt. Die Daten basieren auf ethnografischen Erhebungen und leitfadengestützten Interviews aus den Jahren 2008 bis 2010. Das Ziel war, den Prozess der Neuprogrammierung im Zusammenspiel von Vertreter*innen des Denkmalamts, Architekt*innen und Vertreter*innen des Investors sowie den künftigen Betreiber*innen zu begleiten.
3.1 Rundgänge durchführen: Konservierung und Isolierung von Atmosphären Der hier vorgestellte Komplex an Praktiken besteht aus regelmäßigen Rundgängen durch die urbane Ruine während der Transformationsphase des Gebäudes. Die Rundgänge dienten dazu, den Gestaltwandel von einer Ruine zu einer neuprogrammierten Architektur zu gestalten und zu kontrollieren. Rundgänge durch Gebäude sind eine routinemäßige Praxis für Architekt*innen, die auf das Bauen im Bestand spezialisiert sind, Denkmalpf leger*innen, die ihre Gutachten auf Basis von Materialeinschätzungen erstellen und Investoren, Entwicklungsfirmen sowie Betreiber*innen, die alle an der Vermarktung der künftigen location interessiert sind. Im hier betrachteten Entwurfs- und Programmierungsprozess des Café Moskau besteht die Besonderheit der Rundgänge gerade darin, dass grundlegendes kulturelles Wissen über die zukünftige Atmosphäre der neuen Architektur generiert werden soll. Alle Teilnehmer*innen haben aufgrund ihres professionellen Status hierzu bereits Dokumente erstellt, die wissenschaftliche oder anderweitige Einschätzungen liefern. Um eine Entscheidung treffen zu können, geht es deshalb darum, eine in der Praxis und durch Interaktionen generierte »Expertise«21 kollektiv herzustellen. 20 Vgl. H. K. Göbel: The Re-Use of Urban Ruins. 21 Vgl. Collins, Harry M./Evans, Robert: Rethinking expertise, Chicago: University of Chicago Press. 2006.
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Diese Expertise unterscheidet sich, wie ich an anderer Stelle22 argumentiert habe, von der in Dokumenten hergestellten Expertenschaft, als sie in der Situation kollektiv bindend wirkt: Sie stellt die implizite Einigung dar, die in der Gruppe getroffen wird. Wesentlich hierbei ist, dass auf zahlreichen Rundgängen immer wieder auf die körperliche Erfahrung im Durchlaufen des Gebäudes oder einzelner Teile des Gebäudes referiert wird. Wie ich anhand meiner Studien zeigen konnte, wird auf die hieraus gewonnene kulturelle Kompetenz in der Interpretation der Dokumente und Unterlagen vertraut. Sie ist unter den beteiligten Teilnehmer*innen höher angesehen als die einzelne schriftliche Einschätzung. Es gibt zwei Typen von Rundgängen, die jeweils von unterschiedlichen Expert*innen der Gruppe angeführt und moderiert werden: Rundgänge durch Gebäudeteile und zu spezifischen Themen (bspw. Wandvertäfelungen), und Rundgänge im gesamten Gebäude. Das Gebäude bot in seinem Status als Ruine viele einzelne Zugangsmöglichkeiten zu Gebäudeteilen über die beiden Geschosse und den Keller an. Es ist zudem durch die vielen Blickachsen und die Offenheit der durchgehenden Fensterglasf lächen zum urbanen Außenraum der Karl-MarxAllee sowie in den Innenhof ein idealer Zugang zur Bestimmung von atmosphärischen Grundmarkern der künftigen Architektur. Auf den Rundgängen durch Gebäudeteile bestand die Aufgabe vor allem darin, einzelne Details zu bewerten. Die Interpretation von schriftlichen Unterlagen und das Referieren von Expertenmeinungen war hier meist schnell zweitrangig. Das erfahrungsbasierte Tasten oder Fühlen von Bestandsmaterialien wie Holzverkleidungen der Wände, Skulpturen oder Fenstern, stand meist im Vordergrund. Ebenso ging es oft um das Testen von Blickwinkeln des Sehens oder einen meist humorvollen Austausch über die materiellen Symboliken (bspw. Sputnik). Auch das Riechen der Vergangenheit, das über bestimmte Materialien (bspw. Textilien) vollzogen wurde, gab immer wieder Anlass zur Wiederbewertung. Die erfahrungsbasierten Wahrnehmungen rückten hierdurch stark ins Zentrum der Entscheidungsfindung. Die Rundgänge durch das gesamte Gebäude galten immer wieder dem Abgleich der zu gestaltenden Gesamtatmosphäre im Sinne eines containerartigen Gebildes. Dies zeigt sich über das Ablaufen von einzelnen Gängen, einen Vergleich zwischen den Aussichten durch unterschiedliche Fensterfronten in den Außenraum, die Vermessung von Räumen und den Versuch der Bestimmung einer atmosphärischen Qualität durch akustische Messungen. All diese Elemente erfüllten eine spezifische soziale Funktion, denn schon sehr bald im Prozess zeichnete sich ab, dass die Neuprogrammierung eine Rückkehr zu den 1960er Jahren bedeuten und hiermit eine Konservierung dieser Zeit einhergehen sollte. Argumentiert wurde dies recht früh im Prozess über die wiederherzustellen22 H. K. Göbel: The Re-Use of Urban Ruins, S. 151-171.
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den Blickachsen auf die Karl-Marx-Allee (vgl. Abb. 01) und das (nur noch in Teilen) existierende Ensemble der 1960er Jahre.23 Das symbolische Wahrzeichen des Gebäudes, Sputnik, wurde auf diesen Rundgängen immer wieder angeführt als das Zeichen, das die Rückkehr auf den Originalentwurf in der Gegenwart legitimiert (Abb. 02): »When it was built, they hung Sputnik up there. That was a present from the Russian ambassador, because they had this feeling: Now we’re ahead! And we can show this to everybody. And we did just that!« (Interview, Architekt) Abbildung 02: Das Café Moskau mit neuer architektonischer Programmierung im Jahr 2010.
© Stefan Müller, HSH Architekten.
Beide Formen der Rundgänge dienten dazu, mittels ästhetischer Überhöhungen der Wahrnehmungsapparatur oder auch der Wahrnehmung der Gesamtatmosphäre, ein Vehikel des Wissens zu schaffen, um im sprichwörtlichen Sinn ein nostalgisches Eintauchen in diese Zeit der 1960er Jahre zu ermöglichen. Die von den Denkmalpf legeexpert*innen als eigenständige Zeitschicht identifizierten 1980er Jahre wurden auf den Rundgängen systematisch isoliert oder auch ausgeblendet. Die Begründung hierfür wurde über die Differenzmarkierung zu den 1960er Jahren und der hier identifizierten positiven sozialen wie politischen Konstellationen argumentiert. 23 Vgl. Göbel, Hanna Katharina: »The Aesthetic Composition of a Common Memory. Atmospheres of Revalued Urban Ruins«, in: Ignacio Fariás/Anders Blok (Hg.), Urban Cosmopolitics. Multiplicity, Place, Atmospheres, London/New York: Routledge 2016, S. 167-186.
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»It [the building in the 1980s] was not this piiiuh [indicates an arrow in the sky] like in the 1960s. [...] this 1980s renovation, this occurred based on the idea, huh [sniffs], this is a little bit too transparent! Well. And not without reason, because it was 1980, and it started before this in individual rooms, but then 1980 somehow, it fit the historical Zeitgeist. It was somehow, yeah, Russia, this was already the Brezhnev era, there was [pause] I guess somehow a different feeling. So. […] And the story was then more like, well, that more and more everything was becoming a little bit more unsophisticated, fusty, small-town or small-minded. And I guess this is what occurred in the design as well. And because of this there wasn’t the quality that we have nowadays.« (Interview, Architekt) Die Gutachten der Denkmalpf lege, die den starken materiellen Verfall der 1980er Jahre-Zeitschicht im Bestandsgebäude dokumentierten, wurden hier zum Ausgangspunkt genommen, um auch die kulturelle Geringschätzung dieser Elemente (insbesondere Textilien wie Teppiche oder Vorhänge und Holzvertäfelungen der Wände) auszudrücken. Auf einem der Rundgänge durch das Gebäude entstand hier nun eine Idee, die sich abermals atmosphärisch vermittelte: »And, yeah, in some places we kept elements from the 1980s. But this was almost a bit in the spirit of irony. So, we put things [the 1980s elements] up, like pictures hanging on the wall, in order to exhibit the elements’ decorative character [laughing]. You could simplify it like that [laughing]. This was a very conscious decision. So, these attachment points are still there.« (Interview, Architekt) In den Rundgängen als Praxisformen der atmosphärischen Wissensproduktion wird somit eine der grundlegenden Modellierungen des kulturellen Gedächtnisses vollzogen. Es werden Strategien der Ästhetisierung entwickelt, die die Konservierung einer containerartigen Atmosphäre der 1960er Jahre zum Ziel hat. Ebenso birgt der Praktikenkomplex der Rundgänge Elemente des Isolierens von atmosphärischen Elementen der 1980er Jahre. Diese werden allerdings entweder als ironisches Zitat angeführt oder ausschließlich über ihren dekorativen Charakter thematisiert (wie bspw. Wandmalereien oder erneut gehängte Bilder).
4. Die politics von Entwurfspraktiken und die Politik der Weitergabe Die Rundgänge, die hier als ein zentraler Praktikenkomplex für das Entwerfen in einem kulturellen Gedächtnis diskutiert wurden, geben Aufschluss darüber, wie die Produktion eines kulturellen Gedächtnisses der Gegenwart angelegt ist. Die Modellierung entsteht situativ, und folgt dadurch einer eigenen institutionalisierten Politik der Praxis (politics), die sich in dem Identifizieren von atmosphärischen
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Qualitäten und dem erfahrungsgeleiteten Neubewerten von Zeitschichten äußert. Wie sich anhand des transformierten Artefakts Café Moskau zeigt, lässt sich dies auch im Sinne einer Politik der kulturellen Weitergabe abschließend ref lektieren. Wie Jan und Aleida Assmann ebenfalls erarbeitet haben, ist die Unterscheidung zwischen dem, was von Zeitzeugen im kommunikativen Gedächtnis erinnert und dem, was an einem Gedächtnisort, wie zum Beispiel in einem Archiv gespeichert wird, gravierend in politischer Hinsicht.24 Ein kulturelles Gedächtnis, so wie es im Café Moskau konstituiert wurde, ruft zu einer Politik der Weitergabe auf, da es für die Nachwelt geschaffen wird. In beiden Fällen, dem Rekurs auf die 1960er Jahre und ebenfalls in der Auseinandersetzung mit den 1980er Jahren, zählen die Erinnerungen kaum. Es überwiegt ein sehr enger Archivbegriff, der selektiv operiert: es werden die Originalentwürfe der 1960er Jahre herangezogen und im Sinne der historischen Rekonstruktion adaptiert. Da es sich um ein Bestandsprojekt handelt, zeigt sich hier, dass es nicht um eine bloße Wiederherstellung oder eine Kopie geht, sondern um ein Einpassen der damaligen Entwürfe des Restaurant Moskau in das nicht mehr vollständige Ensemble an der Karl-Marx-Allee. Dennoch wird durch die Ausklammerung der 1980er-Jahre Zeitschicht des Gebäudes, die ebenfalls über Archivmaterialien rekonstruierbar gewesen wäre, deutlich, dass die Entwurfspraxis auf die explizite Konservierung von einem Entwurf abzielt. Dieser wird aus dem Archiv materialisiert als eine soziale Totalität, die in sich geschlossen ist, indem sie die kulturellen, sozialen und politischen Konstellationen der 1960er Jahre zu stabilisieren versucht. Diese ästhetische Überhöhung der sozialistischen Ära in der ehemaligen DDR steht somit auch für ein recht konventionelles Verständnis in der Vermittlung von Atmosphären und im Zugriff auf das kulturelle Gedächtnis: Die politics der Entwurfspraktiken beziehen sich nicht so sehr auf die Frage, ob die ehemalige DDR hierdurch bejaht und beglaubigt oder verneint und abgelehnt werden sollte. Die subtile Wirksamkeit der Nostalgie, verstanden als die Sehnsucht nach der Wiederherstellung von sozialgeschichtlichen Zusammenhängen, wird in Bezug auf diesen konventionellen ästhetischen Umgang mit dem kulturellen Gedächtnis verdeutlicht. Im Vergleich, so wie ich ihn zwischen unterschiedlichen Neuprogrammierungen von urbanen Ruinen in Berlin angestellt habe (2015), wird deutlich, dass eine Politik der Weitergabe auch darin bestehen kann, die atmosphärische Vermittlung von einem kulturellen Gedächtnis in der Entwurfspraxis offener zu halten und damit die ästhetischen Zugänge im Sinne von einem Arbeiten an möglichen anderen Wahrnehmungen performativer zu gestalten.
24 Assmann, Jan: »Einleitung«, in: Jan Assmann (Hg.), Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 2002, S. 15-25.
Kunstbetrachtung in Interaktion Die Bedeutung von Materialität und Körperlichkeit für die Kunstwahrnehmung in Museen Dirk vom Lehn
Kunstwahrnehmung wird häufig als ein Prozess vorgestellt, der hauptsächlich im Kopf der Betrachter*innen abläuft. Soziolog*innen, von Bourdieu1 bis zu den symbolischen Interaktionisten,2 konzipieren das Wahrnehmen von Kunst als einen Prozess, in dessen Rahmen Akteur*innen Kunstwerke interpretieren und dabei auf spezifische Codes zurückgreifen, die sie durch Sozialisation und Erziehung erlernt und internalisiert haben. In ihren Forschungen analysieren sie diese Interpretationsprozesse, indem sie Interviews mit Ausstellungsbesucher*innen führen und zeigen, wie das Kunstwahrnehmen durch sozialisierte Schemata sozial beeinf lusst wird. Diese Studien fokussieren vor allem auf die soziale Basis der Interpretation von Kunst und kritisieren die Theorie der »Autonomie von Kunst«,3 indem sie die soziale Bedingtheit allen Kunstwahrnehmens herausstellen. Durch die Fokussierung auf die Identifikation von Interpretationsschemata, die der Kunstwahrnehmung zugrunde liegen, führen diese Studien die Kunstbetrachtung auf semiotische Deutungsprozesse eng. Der konkrete empirische Prozess des Betrachtens von Kunstwerken in spezifischen Situationen gerät so nicht in den Blick. Der Untersuchung empirisch stattfindender Prozesse des Kunstwahrnehmens widmen sich Kulturwissenschaftler*innen, Kunsthistoriker*innen, Psycholog*innen und Kognitionswissenschaftler*innen. Sie führen Studien durch, die unter experimentellen oder quasi-experimentellen Bedingungen 1 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis: auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979; Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987.
2 Bruder, Kurt A./Ucok, Ozum: »Interactive Art Interpretation: How Viewers Make Sense of Paintings in Conversation«, in: Symbolic Interaction 23, 4 (2000), S. 337-358.
3 Karstein, Uta/Zahner, Nina T.: Autonomie der Kunst? Zur Aktualität eines gesellschaftlichen Leitbildes, Springer VS 2016.
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untersuchen, wie das Gehirn oder der physische Körper der Betrachtenden auf die Konfrontation mit Kunstwerken reagieren. Fragebögen werden mit eye-tracking Methoden bzw. Messungen von körperlichen Reaktionen, wie Veränderungen des Herzschlags und des Hautwiderstandes, gekoppelt, um Typen von Besuchserlebnissen zu konstruieren;4 Kirchberg und Tröndle5 bspw. bestimmen so drei Typen von Besuchserlebnissen in Ausstellungen: kontemplative, begeisternde und soziale. Eine andere Gruppe von Forscher*innen untersucht, inwieweit Kunstwerke helfen können, etwas über das menschliche Sehen und über die visuelle Erfahrung zu lernen. Zu dieser Gruppe gehören Forscher*innen, die Eyetracker oder fMRI Scanner verwenden, um Reaktionen von bestimmten Hirnregionen auf die Konfrontation mit künstlerischen Arbeiten zu messen.6 Diese Untersuchungen interessieren sich häufig für die Beziehung zwischen Kunstwerken und dem menschlichen Wahrnehmungs- und Kognitionsapparat. Sie unterliegen zumeist der Annahme, dass Künstler*innen oder Kunstexpert*innen über besondere Wahrnehmungsfähigkeiten verfügen und daher bei ihnen die Potentiale der menschlichen Sehfähigkeiten besonders klar zutage treten.7 All diese Studien fokussieren – obwohl sie aus der Perspektive unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen durchgeführt wurden – ausschließlich die visuellen Aspekte von Kunstwerken, und schenken der Materialität der Werke und der Situation ihrer Inszenierung im Ausstellungskontext kaum Aufmerksamkeit. Sie alle konzeptualisieren zudem die visuellen Aspekte von Kunstwerken als Auslöser körperlicher Reaktionen, und degradieren die Betrachter*innen und ihre Körper so zu Objekten der Einf lussnahme von Kunstwerken. Die Kunst4 Tröndle, Martin/Greenwood, Steven/Kirchberg, Volker/Tschacher, Wolfgang: »An Integrative and Comprehensive Methodology for Studying Aesthetic Experience in the Field: Merging Movement Tracking, Physiology, and Psychological Data«, in: Environment and Behavior, 46, 1 (2012), S. 102-135; Tröndle, Martin/Tschacher, Wolfgang: »Art Affinity Influences Art Reception (in the Eye of the Beholder)«. Empirical Studies of the Arts 34, 1 (2016), S. 74-102, vgl. https://doi. org/10.1177/0276237415621187 vom 1.4.2020; Tschacher, Wolfgang/Greenwood, Steven/Kirchberg, Volker/Wintzerith, Stéphanie/van den Berg, Karen/Tröndle, Martin: »Physiological Correlates of Aesthetic Perception of Artworks in a Museum«, in: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 6, 1 (2012), S. 96-103.
5 Kirchberg, Volker/Tröndle, Martin: »The Museum Experience: Mapping the Experience of Fine Art«, in: Curator: The Museum Journal 58, 2 (2015), S. 169-193.
6 Leder, Helmut/Tinio, Pablo P. L./Brieber, David/Kröner, Tonio/Jacobsen, Thomas/Rosenberg, Raphael »Symmetry Is Not a Universal Law of Beauty«, in: Empirical Studies of the Arts 37, 1 (2019), S.104-114; Ramachandran, Vilayanur S./Hirstein, William: »The Science of Art: A neurological theory of aesthetic experience«, in: Journal of Consciousness Studies 6, 6-7 (1999), S. 15-51; Solso, Robert L.: Cognition and the Visual Arts. Cambridge/MA: MIT Press 1994.
7 Csikszentmihalyi, Mihaly/Robinson, Rick E.: The Art of Seeing. An Interpretation of the Aesthetic Encounter, Malibu: Getty 1990; V. S. Ramachandran/W. Hirstein: The Science of Art, S. 15-51.
Kunstbetrachtung in Interaktion
werke werden hier wie visuelle Reize behandelt, die bestimmte Reaktionen im Sehapparat bzw. im Gehirn der Betrachter*innen auslösen. Weder der körperlichen-materialen Praxis des Betrachtens noch den materialen Charakteristika der Kunstwerke oder der Ausstellung wird eine Bedeutung für die Kunstwahrnehmung zugeschrieben. Im Folgenden stelle ich die »ethnomethodologische Interaktionsanalyse«8 als eine soziologische Analyseform vor, die diese Reduktionismen vermeidet und so zu einem umfassenderen Verständnis des Kunstwahrnehmens gelangt. Im Rahmen dieses Ansatzes wird sowohl eine ausschließliche Fokussierung auf die Interpretation von Kunstwerken durch sozial verortete Betrachter*innen wie auch eine Fokussierung auf die physiologische Wirkung von Kunstwerken vermieden. Stattdessen wird das Betrachten und Wahrnehmen von Kunstwerken in der konkreten Situation, d.h. in der konkreten Konfrontation der Kunstwerke in ihrer materiellen und sinnhaften Erscheinung in der konkreten räumlich-materiellen Situation in Museen und Galerien untersucht. Im Folgenden gebe ich zunächst einen kurzen Überblick über jüngere Forschung zur Kunstbetrachtung und -wahrnehmung bevor ich die Methode vorstelle, mit der ich anschließend eine Interaktionssequenz, die ich vor einem Gemälde gefilmt habe, analysiere. Das Kapitel endet mit einer kurzen Diskussion zu Vorschlägen für Kooperationsmöglichkeiten zwischen Forscher*innen, deren Untersuchungen die ethnomethodologische Interaktionsanalyse zugrunde liegt, und (Sozial-)Wissenschaftler*innen, die sich aus anderen Perspektiven mit der Kunstbetrachtung und -wahrnehmung beschäftigen.
1. Kunstbetrachtung und Kunstwahrnehmung in Museen In Museen findet Kunstbetrachtung in öffentlichen Räumen, also in sozio-materiellen Situationen statt. Besucher*innen gehen durch die Ausstellung oder stehen vor Kunstwerken, während sich andere Besucher*innen in der gleichen Ausstellung befinden und ebenfalls Ausstellungsstücke betrachten. Die Besucher*innen können in diesem situationalen Setting ihre Handlungen wechselseitig beobachten und durch die Gestaltung ihrer Handlungen den Status ihres Engagements mit bestimmten Exponaten beobachtbar machen. Diese Beobachtbarkeit von Handlungen ist für andere Besucher*innen eine wichtige Ressource, um u.a. einzuschätzen, was an Ausstellungsstücken erlebt werden kann, oder wie lange sich die Besucher*innen am benachbarten Kunstwerk vermutlich noch mit diesem beschäftigen werden. 8 vom Lehn, Dirk: Ethnomethodologische Interaktionsanalyse. Videodaten analysieren und die Organisation von Handlungen darstellen, Weinheim & Basel: Belz Juventa 2018.
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Die Möglichkeit zur wechselseitigen Beobachtbarkeit beruht auf der Körperlichkeit der ausgeführten Handlungen. Ausstellungsräume und Museen sind z.T. sogar bewusst so angelegt, dass eine wechselseitige Beobachtung der Besucher*innen ermöglicht wird und als Mittel sozialer Kontrolle genutzt wird.9 In diesem Sinne basiert die »Disziplin« des Verhaltens, die in Kunstmuseen beobachtet werden kann,10 nicht auf sozialen Konventionen, die das Besucherverhalten reglementieren und bestimmen, oder auf der Architektur des Gebäudes, das das Besucherverhalten physisch beschränkt.11 Vielmehr bieten die Materialität und Gestaltung der Ausstellung Besucher*innen Ressourcen für die Organisation ihres Blickens und ihres Handelns sowie der Ausübung sozialer Kontrolle.12 Während die Mainstream-Besucherforschung eine messbare, werkspezifische »Anziehungskraft« von Ausstellungsstücken13 behauptet und diese den Objekten als eine Eigenschaft zuschreibt, die sie anhand der Zeit, die Besucher*innen vor den Objekten verbringen, misst,14 interessiert sich die vorliegende Studie vor allem für die sozio-materielle Organisation des Ausstellungsbesuches und identifiziert diese als wesentlicher für die konkrete Organisation der Praxis des Ausstellungsbesuchs als die Eigenschaften der ausgestellten Werke. Im Folgenden soll also gerade der sozialen Organisation des Ausstellungsbesuchs und der Betrachtung von Kunstwerken umfassende Aufmerksamkeit geschenkt werden. Es wird an einer Interaktionssequenz vor einem Gemälde eines Malers der Rembrandt-Nachfolge im Detail gezeigt werden, was eine ethnomethodologische Interaktionsanalyse über die Kunstbetrachtung und -wahrnehmung in Erfahrung bringen kann. Zu diesem Zweck werden im nächsten Abschnitt kurz die Daten vorgestellt, die zur Analyse herangezogen wurden und die Methoden der Datenanalyse beschrieben, die zur Anwendung kamen.
9 Bennett, Tony: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London: Routledge 1995. 10 Hirschauer, Stefan: »Scheinlebendige«, in: Soziale Welt 53 (2002), S. 5-29. 11 Damit streite ich natürlich nicht ab, dass es eine Beziehung zwischen Architektur und Besucherverhalten gibt. Interessant sind hier beispielsweise die Arbeiten zur »Space Syntax« (Bafna, Sonit: »Space Syntax: A Brief Introduction to its Logic and Analytical Techniques«, in: Environment and Behavior 35 (2003), S. 17-29; Tzortzi, Kali: »Movement in museums: mediating between museum intent and visitor experience«, in: Museum Management and Curatorship 29, 4 (2014), S. 327-348).
12 Z.B. Trondsen, Norman: »Social Control in the Art Museum«, in: Journal of Contemporary Ethnography 5, 1 (1976), S. 105-119.
13 Bitgood, Stephen: Attention and Value: Keys to Understanding Museum Visitors, Milton Park: Routledge 2013; Schäfer, Hermann. Museen und ihre Besucher. Herausforderungen in der Zukunft. Bonn & Berlin: Argon Verlag 1998.
14 Vgl. Shettel, Harris: »Do we know how to define exhibit effectiveness?« in: Curator 44, 4 (2001), S. 327-334.
Kunstbetrachtung in Interaktion
2. Methoden und Daten: ethnomethodologische Interaktionsanalyse Die Interaktionssequenz, die im Detail analysiert werden wird, stammt aus einem größeren Datenkorpus, der 2006 in einer Ausstellung zu Ehren des 400. Geburtstag von Rembrandt in der National Gallery in London15 mit Videoaufnahmen erstellt wurde. Zum Zwecke der Datenerhebung wurden drei Kameras in den Ecken des Ausstellungsraumes auf Stativen aufgestellt, um die Geschehnisse vor den Kunstwerken aufzuzeichnen. Besucher*innen, die bereit waren an der Forschung teilzunehmen, wurden mobile Mikrofone, die mit den Kameras verbunden wurden, mitgegeben, während sie durch die Ausstellung gingen, was die Aufzeichnung der Gespräche zwischen Besucher*innen ermöglichte. Die audio-/visuellen Aufzeichnungen sind die Grundlage für die detaillierte Analyse der Organisation des sprachlichen und körperlichen Handelns vor den Gemälden. Die Analyse der aufgezeichneten Interaktionssequenzen basiert auf Garfinkels Ethnomethodologie16 und der auf dieser auf bauenden Konversationsanalyse.17 Es handelt sich hierbei um Methodologien, die es erlauben die Organisation von Handlungen so zu rekonstruieren, wie sie von den Interaktionsteilnehmer*innen selbst erfahren wurde. Beide Methodologien befragen Interaktionssequenzen explizit danach, warum eine bestimmte Handlung in einem bestimmten Moment in einer bestimmten Art und Weise produziert wird. Wesentlich hierbei ist, dass diese Frage nicht vom Standpunkt des soziologischen Beobachters aus beantwortet wird, sondern von dem der Teilnehmer*innen: Es sind die Teilnehmer*innen selbst, die durch ihre Anschlusshandlungen anzeigen, wie sie die vorangegangene Handlung interpretieren, mit Sinn versehen und so Möglichkeiten für nachfolgende Handlungen schaffen. Durch die sukzessive Ausführung von Handlungen entsteht so ein Handlungszusammenhang oder Kontext, der durch immer weitere Handlungen erneuert wird.18 Die ethnomethodologische Interaktionsanalyse19 geht also davon aus, dass der Kontext den Handlungen nicht vorgegeben ist, sondern dass die Handlungen ihren Kontext fortwährend erneuern und hierbei zugleich von ihrem Kontext geformt werden. Die Bedeutung oder der Sinn von Handlungen ist demnach nicht in diesen selbst enthalten, sondern wird erst durch nachfolgende Handlungen 15 https://www.nationalgallery.org.uk/artists/rembrandt vom 21.3.2020. 16 Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology, Cambridge: Polity Press 1967; vom Lehn, Dirk: Harold Garfinkel, Köln: Herbert von Halem Verlag 2012.
17 Bergmann, Jörg R.: »Ethnomethodologische Konversationsanalyse«, in: Sprachwissenschaft. Ein Reader, Berlin: De Gruyter 2010, S. 258-274; Sacks, Harvey: Lectures on Conversation, Oxford: Blackwell Publishing 1992.
18 Heritage, John: Garfinkel and Ethnomethodology, Cambridge & New York, N.Y: Polity 1984. 19 D. vom Lehn: Ethnomethodologische Interaktionsanalyse.
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hergestellt. Ebenso ist die Bedeutung von Objekten, wie beispielsweise Gemälden, diesen nicht vorab gegeben, sondern Betrachter*innen verleihen ihnen Gemälden Bedeutung erst durch ihre konkreten Handlungen in bestimmten Situationen.20 Zur Analyse dieser praktischen Interpretationen erstellt die Konversationsanalyse eine Transkription der in der jeweiligen Situation stattfindenden Handlungen. Diese Transkripte erfassen jeden in der Situation gesprochenen Laut,21 jede Bewegung sowie deren Orientierung an der materialen und visuellen Umgebung.22 Transkripte erlauben so die genaue Rekonstruktion der sequentiellen Organisation von Handlungen.
3. Kunstbetrachtung in Interaktion Die folgende Interaktion wurde vor einem Gemälde (»Man seated reading at a table in a lofty room«) eines Malers der Rembrandt-Nachfolge in der National Gallery in London23 aufgenommen. Das Gemälde zeigt einen Mann, der an einem Tisch in einem von einem Kamin dominierten Raum sitzt. Der Raum wird durch ein Fenster hinter dem Mann beleuchtet, wodurch ein langer Schatten auf die Situation fällt. In dem hier analysierten Fragment24 stehen zwei Frauen, Jo und Paula, vor dem Gemälde. Das folgende Transkript 1 gibt das Gespräch zwischen ihnen wieder.
20 Vgl. vom Lehn, Dirk/Heath, Christian/Knoblauch, Hubert: »Configuring Exhibits: The Interactional Production of Experience in Museums and Galleries«, in: Hubert Knoblauch/Helga Kotthoff (Hg.), Verbal Art across Cultures. The Aesthetics and Proto-Aesthetics of Communication, Tübingen: Gunter Narr Verlag 2001, S. 281-297.
21 Jefferson, Gail: »Transcript notation«, in: J. Maxwell Atkinson/John Heritage (Hg.), Structures of Social Action, Cambridge: Cambridge University Press 1984, S. ix–xvi.
22 Gibson, Will/Webb, Helena/vom Lehn, Dirk: »Analytic Affordance: Transcripts as Conventionalised Systems in Discourse Studies«, in: Sociology 48, 4 (2014), S. 780-794; Heath, Christian/Hindmarsh, Jon/Luff, Paul: Video in Qualitative Research, SAGE Publications Ltd. 2010; Mondada, Lorenza: »Multiple temporalities of language and body in interaction. Challenges for transcribing multimodality«, in: Research in Language and Social Interaction 51, 1 (2018), S. 85-106; D. vom Lehn: Ethnomethodologische Interaktionsanalyse.
23 Das Bild kann im Internet auf der folgenden Adresse gesehen werden: https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/follower-of-rembrandt-a-man-seated-reading-at-a-table-in-a-lof tyroom vom 21.3.2020.
24 Die Interaktionssequenz habe ich zuvor in einem Zeitschriftenartikel zur Methode der Interaktionsanalyse diskutiert. Vgl. vom Lehn, Dirk: »Examining »Response«: Video-based Studies in Museums and Galleries«, in: International Journal of Culture, Tourism and Hospitality Research 4, 1 (2010), S. 33-43.
Kunstbetrachtung in Interaktion
Transkript 125 National Gallery - Rembrandt 400 Jo (J) and Paula (P) A man seated reading at a table in a lofty room (1628-30) 1 P: 2 3-> 4-> 5-> J: 6 P: 7 J: 8 P:
.hhhh (.2) look at all that (.) porcelain thats a fireplace isn’t it (.) theres a tall fireplace [
] quite difficult to see::? isn’t it? =yes thats the sort of darkness =yea::h
In dem Gespräch zeigen die beiden Frauen einander an, welche Aspekte des Werkes sie gesehen haben und für bemerkenswert halten. Zudem umfasst das Gespräch Äußerungen, durch die die beiden einander bestätigen, dass sie die Aspekte des Werkes, auf die die Begleiterin hingewiesen hat, gesehen haben bzw. wie sie diese Aspekte des Gemäldes gesehen haben. Das Fragment beginnt mit Paulas hörbarem Einatmen (Zeile 1) und der anschließenden Äußerung, »look at all that (.) porcelain thats a fireplace isnt it (.) theres a tall fireplace« (Zeile 2-3). Diese Handlungen ermuntern Jo dazu, den Aspekt auf den Paulas Äußerung verwiesen hat, als schwer erkennbar zu charakterisieren; »quite difficult to see, isn’t it?« (Zeile 5). Sie äußert dies, nachdem Paula zweimal auf den Kamin im Gemälde hingewiesen hat, und gibt somit gleichzeitig eine Erklärung dafür ab, dass sie nicht sofort auf die Referenz ihrer Begleiterin geantwortet hat. Paula stimmt der Charakterisierung dieses Aspektes des Werkes durch ihre Begleiterin zu, »yes« (Zeile 6), was Jo wiederum zu einem Hinweis auf die Dunkelheit eines Teiles des Gemäldes ermuntert, »thats the sort of darkness« (Zeile 7). Diese Äußerung qualifiziert den zuvor hervorgehobenen Aspekt des Gemäldes und bietet gleichzeitig eine mögliche Erklärung für die schwere Erkennbarkeit des Objektes im Gemälde. Auch dieser Qualifikation und möglichen Erklärung durch Jo stimmt Paula wieder zu, »yeah« (Zeile 8). Um weiteren Aufschluss darüber zu bekommen, wie die beiden Besucherinnen den Aspekt des Gemäldes, den sie für bemerkenswert halten, charakteri25 Das Transkript folgt Jefferson’s Konventionen. Vgl. G. Jefferson: Transcript notation. Eine ‘[‘ steht für Überlappungen in vokalen Äußerungen, ein ‘:’ für in die Länge gezogene Äußerungen, ein ‘=’ für Äußerungen, die direkt an vorangegangene Äußerungen eines anderen Teilnehmers anschließen, ein ‘(.)’ für eine sehr kurze, aber hörbare Pause und ein ‘.hhhh’ für einen hörbares Einatmen.
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Dirk vom Lehn
sieren, und warum sie dies in dieser Weise tun, wende ich mich jetzt ihren körperlichen Handlungen und deren Organisation in Hinblick auf die sprachlichen Äußerungen zu. Wir sehen, dass in dem Moment in dem Paula ihr hörbares Einatmen produziert, Jo neben ihr steht und die Beschriftung liest, die an der Wand rechts neben dem Gemälde angebracht ist (Abb. 01). Während Paula hörbar einatmet, richtet sie ihren Oberkörper auf und wendet sich dem Gemälde zu. Anschließend adressiert sie Jo und muntert sie auf, sich auch dem Gemälde zuzuwenden, »look at all that«. Einen Moment später stehen beide Besucherinnen nebeneinander und schauen sich das Gemälde leicht nach vorne gebeugt an (Abb. 02). Paula setzt ihre Äußerung fort, indem sie auf Form und Material eines bestimmten Objektes im Gemälde hinweist. Als sie das Wort Abbildung 01-04.
P: .hhh
P: (.2) look at all that
P: procelain…
P: ... it‘s a fireplace...
»porcelain« ausspricht, dreht sie ihre linke Schulter nach vorn und beginnt eine Geste vor dem Gemälde, mit der sie das Objekt im Gemälde demarkiert (Abb. 03). Als die Geste ihren höchsten Punkt erreicht, gibt Paula zu verstehen, dass sie das Objekt als einen Kamin wahrnimmt: »it’s a fireplace« (Abb. 04). Bis zu diesem Moment zeigt Paula nicht an, dass sie bemerkt hat, dass ihre Begleitung auf ihre Demarkierung und Beschreibung des Kamins reagiert hat. Sie formuliert ihre Beschreibung des Objektes erneut, indem sie noch einmal zum Gemälde hin gestikuliert und sagt, »theres a tall fireplace«. Diese sprachlichen und körperlichen Handlungen ermuntern Jo sich weiter nach vorne zu lehnen und dadurch beobachtbar zu machen, dass sie das Gemälde genauer betrachtet (Abb. 05). Paulas Geste erreicht ihren Höhepunkt mit dem Aussprechen des Wortes, »tall«, anschließend führt sie ihre Hand zurück in die Ruheposition am eigenen Gesicht (Abb. 06-07). Während Paula ihre Handlungen vor dem Gemälde vollzieht, beginnt Jo auf die Schwierigkeiten, die sie hat das angezeigte Objekt zu sehen, hinzuweisen. Sie zeigt diese Schwierigkeiten körperlich durch das Vorlehnen ihres Körpers an (Abb. 07). Die Gestaltung ihrer Handlungen sowie die Überlappung ihrer Äußerung mit Paulas Beschreibung zeigt Jo an, dass sie ihrer Begleitung hinsichtlich der Cha-
Kunstbetrachtung in Interaktion
rakterisierung des Objektes als Kamin zustimmt (Abb. 06). Jo und Paula stehen noch für einige Moment nebeneinander und schauen für etwa eine Sekunde in Richtung des Gemäldes (Abb.0 7), bevor Paula sich nach rechts wendet, während Jo beginnt, sich noch dem im Gemälde sichtbaren Schatten zu zuwenden. Sie sagt: »thats the sort of darkness« und zeigt mit ausgestecktem Arm auf den dunklen Bereich im Gemälde (Abb. 08). Einen Moment später dreht Paula ihren Kopf wieder zum Gemälde hin und stimmt mit einem kurzen »yes« ihrer Begleiterin zu (Abb. 09). Auf Basis der Analyse der Interaktionssequenz vor dem Gemälde können wir sehen, wie die beiden Frauen spezifische Aspekte des Gemäldes durch die Organisation ihrer körperlichen und sprachlichen Handlungen füreinander in Abbildung 05-07.
P: ... . [tall fireplace J: [quite dif ficult]
to
see
isn‘t it?
P: yes
einer bestimmten Art und Weise sichtbar machen. Welche Aspekte des Gemäldes die beiden Besucherinnen inspizieren, und wie sie diese sehen, ist Ergebnis der konkreten Interaktion vor dem Ausstellungsstück. So wird die Dunkelheit des Gemäldes beispielsweise erst durch die Organisation der sprachlichen und körperlichen Handlungen für die beiden Besucherinnen relevant. Abbildung 08-09.
J: thats the sort of darkness
P: yes
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4. Kunstbetrachtung, Materialität und Körperlichkeit Kunstbetrachtung und Kunstwahrnehmung werden häufig als Prozesse beschrieben, an denen der Körper nur als reaktives Objekt beteiligt ist. Wie wir oben gesehen haben, gehen Untersuchungen, die Eyetracker verwenden oder physiologische Messungen durchführen davon aus, dass die Charakteristika von Kunstwerken bestimmte körperliche Reaktionen bei der Betrachter*in hervorrufen.26 Die vorgestellte Analyse der Interaktion in der Rembrandtausstellung gibt Anlass, Kunstbetrachtung und -wahrnehmung in einer alternativen Weise zu konzipieren. Die sprachlichen und körperlichen Handlungen der Besucher*innen in der Ausstellung sind für andere beobachtbar und werden so für deren Kunstbetrachtung und -wahrnehmung relevant. Sie erlauben es anderen Besucher*innen zu erkennen, wohin und in welcher Art und Weise sich andere Besucher*innen in der Ausstellung orientieren. So macht Jo beispielsweise durch ihre Annäherung an das Gemälde und das Vorlehnen sowie durch ihre sprachliche Äußerung beobachtbar, dass sie einen Aspekt des Ausstellungsstückes genauer inspiziert, und dass dieser Aspekt schwierig zu sehen ist, was Paula durch ihren Blick zum Gemälde und ihr kurzes »yes« bestätigt. Kunstbetrachtung und -wahrnehmung werden also durch sozial organisierte Handlungen vollzogen. Sie schließen nicht etwa nur den Sehapparat oder kognitive Prozesse der Besucher*innen ein, sondern den ganzen Körper, mit dem sich Besucher*innen in einer bestimmten Art und Weise durch die Ausstellungsräume bewegen und vor den Kunstwerken positionieren. Besucher*innen, die, wie die beiden Frauen in der hier analysierten Interaktionssequenz, eine Ausstellung gemeinsam durchschreiten, konfigurieren füreinander die Standpunkte und Perspektiven vor Kunstwerken. Wo Besucher*innen vor Gemälden zu stehen kommen, und wie sie die Werke betrachten und wahrnehmen, ergibt sich aus der Interaktion miteinander. Standpunkt und Perspektive vor Ausstellungsstücken sind also keineswegs durch die Charakteristika der Werke vorgegeben, sondern sie werden durch die Interaktion der Besucher*innen konfiguriert.27 Zudem modifizieren Besucher*innen durch ihre Handlungen fortlaufend die Standpunkte und Perspektiven, die sie vor Gemälden einnehmen. Sie lehnen sich vor und zurück, gehen näher an das Werk heran oder machen einen Schritt zurück und verändern dadurch nicht nur ihren eigenen Standpunkt, sondern ermuntern auch andere ihren Standpunkt zu verändern. Die Analyse der Sequenz hat 26 M. Tröndle et al.: An Integrative and Comprehensive Methodology for Studying Aesthetic Experience in the Field, S. 102-135; W. Tschacher et al.: Physiological Correlates of Aesthetic Perception of Artworks in a Museum, S. 96-103.
27 vom Lehn, Dirk: »Configuring standpoints: Aligning perspectives in art exhibitions«, in: Bulletin suisse de linguistique appliquée 96 (2012), S. 69-90.
Kunstbetrachtung in Interaktion
zudem sichtbar gemacht, dass die Handlungen, die Besucher*innen vor Gemälden in Museen ausführen, in einen sozialen Kontext eingebettet sind. Das Betrachten eines Werkes ist nicht nur für andere beobachtbar, sondern es beeinf lusst auch, wie andere das Werk betrachten und wahrnehmen. Neben visuellen Eigenschaften von Kunstwerken, sind bei deren Betrachtung auch die Materialitäten der Ausstellung und der Ausstellungsstücke sowie die Körperlichkeit der Besucher*innen und ihrer Handlungen von Bedeutung. So führt der Holzfußboden vieler Ausstellungsorte dazu, dass Stimmen und zuweilen auch Schritte durch einen Echoeffekt weithin hörbar sind und die Besucher*innen hierauf in ihrem Besuchshandeln durch Flüstern reagieren. Besucherforscher*innen haben zudem auch auf Spuren, wie Nasenabdrücke an Glaskästen und Aquarien, hingewiesen, an denen sie sich in ihren Handlungen an Ausstellungsstücken orientieren.28 Darüber hinaus haben auch materiale Eigenschaften von Kunstwerken und anderen Ausstellungsstücken eine Bedeutung für die Organisation des Ausstellungsbesuchs. Ist bspw. die Farbe in mehreren Schichten auf die Leinwand aufgetragen, die sicht- und fühlbar sind, treten Besucher*innen sehr nah an die Werke heran, um diese Schichten und die Technik, die die Künstler*innen bei der Arbeit am Werk verwendet haben, zu begutachten. Diese genaue Inspektion von Gemälden wird von den Gestalter*innen von Kunstausstellungen zuweilen erschwert, wenn, wie beispielsweise in der Rembrandtausstellung, in einer Entfernung von etwa 30 Zentimetern von der Wand und 15 Zentimeter vom Boden ein rotes Band gespannt wird, das den Werkraum vom Besucherraum bemerkbar abtrennt. Besucher*innen versuchen zuweilen trotzdem in den Werkraum einzudringen, indem sie sich über das rote Band nach vorne lehnen, so dass sie das Gemälde genauer begutachten können, wie dies in unserem Beispiel Jo getan hat.
5. Kooperationsmöglichkeiten zur Erforschung der Kunstwahrnehmung Das Forschungsinteresse an der Kunstbetrachtung und Kunstwahrnehmung wird in verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen theoretischen und methodologischen Ansätzen verfolgt. Die Neuro- und Kognitionswissenschaften, die Vision Science und auch einige Kunsthistoriker*innen fokussieren in ihren Untersuchungen hierbei beispielsweise die strukturellen Charakteristika des Seh-
28 Wagner, Kathleen F.: »Acceptance or Excuses? The Institutionalization of Evaluation«, in: Visitor Studies Today! 11, 2 (1996), S. 11-13.
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apparates bzw. des Gehirns und die Strukturen der Kunstwerke.29 Die Soziologie der Kunst wird von Untersuchungen dominiert, die sich an Bourdieus Analysen30 orientieren. Sie hat über die vergangenen 50 Jahre gezeigt, dass Kunstwahrnehmung nicht allein im Sehapparat und/oder Gehirn verortet werden kann. Vielmehr wird sie von sozialen Mustern und Codes beeinf lusst, die Betrachter sich im Laufe ihrer Biografie angeeignet haben. An diese Beobachtungen anschließend haben Soziolog*innen jüngst Untersuchungen durchgeführt, die beispielsweise mithilfe der »go-along« Ethnografie31 analysieren, wie Besucher*innen Kunst wahrnehmen, während sie ihr im Museum gegenüberstehen.32 In diesem Kapitel habe ich die ethnomethodologische Interaktionsanalyse, die sich hauptsächlich auf Videoaufnahmen und ethnografische Beobachtungen verlegt, als eine weitere Methode zur Analyse der Kunstbetrachtung und -wahrnehmung vorgeschlagen. Diese Methode erlaubt es die konkrete Interaktion vor dem Ausstellungsstück zu inspizieren und herauszuarbeiten, wie Betrachter*innen ihre Wahrnehmung von Kunstwerken miteinander organisieren. Dabei wird die Bedeutung der Materialität und Visualität der Ausstellungsstücke und der Ausstellungsarchitektur für die Kunstwahrnehmung ebenso »beobacht- und berichtbar«33 wie die Körperlichkeit der Besucher*innen.34 Nun war es nicht meine Absicht, das Feld der Forschung zur Analyse der Kunstwahrnehmung weiter zu fragmentieren, indem ich ihm eine weitere Analysemethode hinzufüge. Vielmehr verfolge ich mit diesem Kapitel die Absicht, Kooperationsmöglichkeiten mit anderen Wissenschaftler*innen, die sich für 29 H. Leder et al.: Symmetry Is Not a Universal Law of Beauty, S.104-14; Livingstone, Margaret: Vision and Art: The Biology of Seeing, New York: Harry N. Abrams 2008.
30 P. Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis; P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. 31 Kusenbach, Margarethe: »Street Phenomenology: The Go-Along as Ethnographic Research Tool.«, in: Ethnography 4, 3 (2003), S. 455-485, vgl. https://doi.org/10.1177/146613810343007 vom 1.4.2020.
32 Zahner, Nina T.: »Zwischen Sinnlichkeit und Sinn. Kulturen der Kunstbetrachtung als Gegenstand von go-along-Ethnographien«, in: Oliver Berli (Hg.): Kulturen der Bewertung, Cham: Springer 2020.
33 H. Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. 34 Die Beobachtungen, die mit Hilfe der ethnomethodologischen Interaktionsanalyse in Museen gemacht wurden, haben nicht nur Diskussionen in der Soziologie angestoßen, sondern konnten auch zu Debatten um das informelle Lernen in Ausstellungen beitragen. So wurde bspw. untersucht, inwieweit interaktive, mobile und stationäre Geräte und Installationen das Wahrnehmen von Kunst und das Lernen an Ausstellungsstücken verändern. Vgl. Bekerman, Zvi/Burbules, Nicholas C./Silberman-Keller, Diana (Hg.): Learning in Places: The Informal Education Reader, New York: Peter Lang Publishing 2006.; vom Lehn, Dirk/Heath, Christian: »Social Interaction in Museums and Galleries: a note on video-based field-studies«, in: Ricki Goldman/Roy Pea/Brigid Barron: Video in the Learning Sciences, Mahwah/NJ.: LEA 2007, S. 287303.
Kunstbetrachtung in Interaktion
die Kunstbetrachtung und -wahrnehmung interessieren, zu eröffnen. Während sich die ethnomethodologische Interaktionsanalyse mit der interaktiven Situierung der Kunstwahrnehmung beschäftigt, verlegen sich Soziolog*innen, die sich aus der Bourdieuschen Perspektive mit der Kunstwahrnehmung beschäftigen, zumeist auf Interviews, um der sozialen Grundlage der Wahrnehmung von Kunst in Museen nachzuspüren. Die Verwendung der »go-along« Ethnografie durch Soziolog*innen, deren Forschung von Bourdieus Analysen inspiriert wurde, kann als eine Annäherung an die Positionen der Ethnomethodologie angesehen werden. Sie eröffnet Möglichkeiten für Kooperationen mit ethnomethodologischer Forschung, um die soziale und interaktive Fundierung von Kunstwahrnehmung in konkreten Ausstellungssituationen zu analysieren. Auch Forschung zur Kunstwahrnehmung, die Eyetracker verwendet, um die Organisation des Betrachtens im Detail zu untersuchen, hat in den vergangenen Jahren ein Interesse an sozialen Umständen der Kunstbetrachtung entwickelt. Beispielsweise haben Klein und Kolleg*innen35 vor kurzem begonnen zu untersuchen, inwieweit die Organisation des Betrachtens eines Gemäldes durch Sprechen beeinf lusst wird. Hier könnte die ethnomethodologische Interaktionsanalyse einen Beitrag leisten, um die soziale Organisation des Blickens und Sprechens in der Interaktion zwischen Teilnehmer*innen im Detail herauszuarbeiten. In den kommenden Jahren hoffe ich, dass sich zumindest einige dieser Kooperationen in die Tat umsetzen lassen.
35 Klein, Christoph/Betz, Juliane/Hirschbuehl, Martin/Fuchs, Caroline/Schmiedtová, Barbara/ Engelbrecht, Martina/Mueller-Paul, Julia/Rosenberg Raphael: »Describing Art – An Interdisciplinary Approach to the Effects of Speaking on Gaze Movements during the Beholding of Paintings«, in: PLoS ONE 9, 12 (2014): e102439, https://doi.org/10.1371/journal.pone.0102439 vom 1.4.2020.
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Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext Das Go-Along Interview als Instrument zur Rekonstruktion des perceptual space in Kunstausstellungen Nina Tessa Zahner
Kunstausstellungen sind Orte, an denen materielle Objekte oder Praktiken als Kunst präsentiert werden. Zum Ende des 19. Jahrhunderts als Form bzw. Format der bürgerlichen Gesellschaft entstanden, etablierte sich die Kunstausstellung als ein Ort, an dem die »Auratisierung des Materiellen«1 der bürgerlichen Gesellschaft aufgeführt wurde, der religiöse Kult der vorbürgerlichen Gesellschaft wurde hier allem Anschein nach zunehmend durch einen bürgerlichen »Kult der Dinge«2 ersetzt:3 »Im Ritual der Ausstellung wird das bloße Ding zu einem autonomen Werk erhöht, dem ein ebenso autonom wie vereinzelt konzipierter Betrachter in stiller Versenkung gegenübertritt«.4 Die im bürgerlichen Zeitalter entstandene Praxis des Ausstellens verhalf so dem Kunstwerk im Sinn einer modernen Ästhetik – d.h. als Gegenstand ästhetischer Kontemplation – zur Erscheinung und brachte so zugleich das ästhetische Subjekt hervor, das ein rein ästhetisches Verhältnis, ein interesseloses Wohlgefallen (Kant) gegenüber dem Kunstwerk unterhält. Spätestens seit den 1960er Jahren und dann vermehrt in der Postmoderne diagnostizieren viele Beobachter*innen eine grundlegende Transformation des bürgerlichen Ausstellungsraums. Die Kunstausstellung wird nun zum Erfahrungsraum.5 Sie wird zu einem Ort, der sich der Erfahrung eines differenzierten Verhältnisses eines selbstbewussten Betrachtenden zu Objekten, Praktiken und 1 Hantelmann, Dorothea von/Meister, Carolin: »Einleitung«, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich: Diaphanes 2010, S. 7-18, hier S. 14.
2 Ebd. 3 Zu diesem Prozess der Auratisierung der Dinge vgl. ausführlich Lahire, Bernard: This is not just a painting. An inquiry into art, domination, magic and the sacred, Cambridge: Polity 2019.
4 D. von Hantelmann/C. Meister: Einleitung, S. 14. 5 Ebd., S. 16-17.
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Nina Tessa Zahner
sich selbst widmet. Mit dieser Öffnung der Konzeption des Wahrnehmens und Erfahrens von Kunst rückte die Kunstausstellung vermehrt in den Fokus sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Denn nun ist es nicht mehr das materielle Objekt, das seine Betrachtung und die Auseinandersetzung mit ihm in der Praxis des Rezipierens anleitet, vielmehr rückt nun das individuell betrachtende Subjekt, die sozio-materielle Situation des Betrachtens und die Praxis des Betrachtens in den Fokus der Überlegungen.6
1. Die Beforschung des Kunstwahrnehmens Die Soziologie thematisiert Fragen des Wahrnehmens und Wertens von Kunst lange Zeit vor allem im Rahmen von Untersuchungen der Konsum- und Geschmackssoziologie.7 Diese Forschungen wurden seit den 1980er Jahren von den einf lussreichen Arbeiten Pierre Bourdieus zu Geschmack und kultureller Teilhabe8 dominiert. Diese Forschungstradition stützt sich stark auf die kantische Ästhetik und konzentriert sich hauptsächlich auf die Identifikation konstanter und konsistenter ästhetischer Orientierungen.9 Sie prozessiert eine Vorstellung vom Betrachten und Sehen von Kunst als Dekodierungsprozess, als Rezeption und unterscheidet so implizit eine angemessene, richtige von einer unzureichenden,
6 Zahner, Nina T.: »Das Publikum als Ort der Auseinandersetzung um legitime Formen des Kunstund Weltwahrnehmens«, in: Christiane Schürkmann/Nina T. Zahner (Hg.), Kunstwahrnehmen als Soziale Praxis, Wiesbaden: Springer 2020 (im Erscheinen); Zahner, Nina T.: »Sinnlichkeit und Sinn. Kulturen der Kunstbetrachtung«, in: Oliver Berli (Hg.), Kulturen der Bewertung. Wiesbaden: Springer 2020 (im Erscheinen).
7 Quinn, Malcolm/Beech, Dave/Lehnert, Michael et al. (Hg.): The Persistence of Taste. Art, Museums and Everyday Life after Bourdieu, Milton: Routledge 2018; Rössel, Jörg/Roose, Jochen (Hg.): Empirische Kultursoziologie. Festschrift für Jürgen Gerhards zum 60. Geburtstag, Wiesbaden: Springer 2015.
8 Bourdieu, Pierre/Darbel, Alain: Die Liebe zur Kunst. Europäische Kunstmuseen und ihre Besucher, Konstanz: UVK 2006; Bourdieu, Pierre: »Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung«, in: Ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 159-201; Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987; Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
9 Hennion, Antoine: »“Dinge, die dauern…“. Objekte, Vermittlung, Soziologie«, in: Tristan Thielmann/Erhard Schüttpelz/Peter Gendolla (Hg.), Akteur-Medien-Theorie, Bielefeld: transcript 2013, S. 81-105; Zahner, Nina T.: »Zur Soziologie des Ausstellungsbesuchs. Positionen der soziologischen Forschung zur Inklusion und Exklusion von Publika im Kunstfeld«, in: Sociologia Internationalis. Europäische Zeitschrift für Kulturforschung 50 (2012), S. 209-232.
Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext
falschen Sichtweise auf Kunst.10 Die starke Dominanz dieser Forschungstradition im Feld der Publikumsforschung profilierte eine semiotische Perspektive auf die Erfahrung und Interpretation von Kunstwerken und beförderte eine Sichtweise, die auf Sinn- und Bedeutungsfragen fokussiert und die Auseinandersetzung mit Kunst so durch in diesen Prozess eingebrachte Wissensbestände strukturiert sieht.11 Der Nichtbesuch kultureller Angebote wird dann vor allem auf »fehlende Teilhabevoraussetzungen«12 zurückgeführt und fehlende Bildung als »entscheidende Steuerungsvariable des kulturellen Interesses«13 identifiziert. Dass diese Studien eine spezifische Kultur – nämlich die der bildungsbürgerlichen gesellschaftlichen Gruppen – systematisch präferieren und als normatives Ideal setzen, wird im Rahmen dieser Forschungstradition bis heute kaum ref lektiert.14 Studien der Geschmacks- und Konsumforschung in der Tradition Bourdieus wurden in den letzten Jahren verschiedentlich dafür kritisiert, dass sie kaum in den Blick nehmen, wie Menschen Kunstwerke in der konkreten sozio-materiellen Situation der Ausstellung wahrnehmen und erleben.15 Diese Lücke suchten Studien zu schließen, die in der Tradition der Kognitionswissenschaften und/ oder der Psychologie die Beziehungen zwischen ästhetischem Empfindungen und der Struktur des Gehirns bzw. des physischen Wahrnehmungsapparats untersuchen. Mithilfe von tragbaren Augenscannern wurden so im Rahmen von Eye-Tracking-Studien die physischen Aspekte des Kunstsehens beforscht.16 An10 Behnke, Christoph: »Gründe für den Besuch von Ausstellungen und Fragen der Kunstvermittlung«, in: Ulf Wuggenig/Heike Munder (Hg.), Das Kunstfeld. Eine Studie über die Akteure der zeitgenössischen Kunst, Ennetbaden: Lars Müller 2012, S. 125-141; Rössel, Jörg: »Kulturelles Kapital und Musikrezeption. Eine empirische Überprüfung von Bourdieus Theorie der Kunstwahrnehmung«, in: Soziale Welt 60 (2009), S. 239-257.
11 Wuggenig, Ulf/Drechsel, Saskia: »Kulturelles Kapital und soziale Schließung in den Kunstfeldern von Hamburg, Wien und Paris«, in: Kunst auf Schritt und Tritt, Hamburg: Kellner 1997, S. 68-75.
12 Renz, Thomas: Nicht-Besucherforschung. Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development, Bielefeld: transcript 2015, S. 180.
13 Frank, Bernward/Maletzke, Gerhard/Müller-Sachse, Karl H.: Kultur und Medien. Angebote Interessen - Verhalten, Baden-Baden: Nomos 1991, S. 341; Anheimer, Helmut K./Gerhards, Jürgen/Romo, Frank P.: »Forms of Capital and Social Structure in Cultural Fields: Examing Bourdieu’s Social Topography.«, in: American Journal of Sociology 100 (1995), S. 859-903.
14 Dätsch, Christiane (Hg.): Kulturelle Übersetzer. Kunst und Kulturmanagement im transkulturellen Kontext, Bielefeld: transcript 2018.
15 Hanquinet, Laurie/Savage, Mike: »Contemporary challenges for the sociology of art and culture. An introductory essay«, in: Laurie Hanquinet/Mike Savage (Hg.), Routledge International Handbook of the Sociology of Art and Culture, London & New York: Routledge 2016, S. 1-18, hier S. 11-12.
16 Leder, Helmut/Augustin, Dorothee/Belke, Benno: »Art and Cognition! Consequences for experimental aesthetics«, in: Bulletin of Psychology and the Arts 5 (2005).
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dere Studien fokussierten die Messung der Reaktionen auf Kunstwerke, indem sie im Rahmen ausgefeilter technischer Setups eine Vielzahl physiologischer Daten – Bewegungsverfolgung, Herzfrequenz, Hautleitfähigkeit – mit Fragebogenerhebungen zusammenzuführten, um im Rahmen komplexer Kartographien das räumliche Besuchsverhalten von Besucher*innen mit deren physiologischen Reaktionen zusammenzuführen und zu visualisierten.17 All diese Studien konzentrierten sich – bedingt durch die Anlage ihres Forschungsdesigns – auf singuläre Betrachter*innen.18 Indem sie das Sehen, Betrachten, Erleben und Deuten von Kunst als eine individualistische Praxis untersuchen, bringen sie ganz selbstverständlich eine Ästhetik zur Anwendung, die die Auseinandersetzung mit Kunstwerken als eine solipsistische Praxis denkt. Sie nehmen so in ihrem Forschungsdesign eine spezifische normative Reduktion vor, indem sie implizit die Rezeptionsästhetik des bürgerlichen Zeitalters in ihrer Forschung zur Anwendung bringen. Demgegenüber profilieren an einem phänomenologischen Denken anschließende Positionen den Besuch von Kunstausstellungen als eine immens kollektive Praxis: Gemäß dieser Positionen findet Kunstwahrnehmen und -sehen in einem sozio-materiell strukturierten Raum statt und engagiert im Sehen für das Betrachten geschaffene bzw. inszenierte Objekte. Das Sich-Bewegen in Ausstellungen wird als mit der körperlichen Bewegung anderer und räumlich-architektonischen, vom Menschen geschaffenen Ordnungen verf lochten gedacht19 und auch das Sehen selbst wird als mit dem Sehen anderer koordiniert oder vor anderen in einer spezifischen Art und Weise aufgeführt betrachtet.20 Die Praxis des Kunstbetrachtens im Ausstellungskontext gerät so als eine höchst soziale Praxis in den Blick 21 und hat kaum etwas mit tradierten Vorstellungen einer solipsistischen Kunstversenkung gemein. Diese Perspektive hat vor allem Dirk vom Lehn (in diesem Band) für die empirische Beforschung der Erfahrungen von musealen Ausstellungen für die Soziologie fruchtbar gemacht.
17 Tröndle, Martin/Kirchberg, Volker/Wintzerith, Stéphanie/van den Berg, Karen/Greenwood, Steven: »Innovative Museums- und Besucherforschung. Am Beispiel des Schweizerischen Nationalforschungsprojektes eMotion«, in: Kulturmanagement-Newsletter (2008), S. 33-36.
18 Lamont, Michèle/Swidler, Ann: »Methodological Pluralism and the Possibilities and Limits of Interviewing.«, in: Qualitative Sociology 37 (2014), S. 153-171.
19 Göbel, Hanna K./Prinz, Sophia: »Herausforderungen und Potentiale einer Soziologie der Sinne. Einleitung«, in: Hanna K. Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld: transcript 2015, S. 9-49.
20 Heath, Christian/Vom Lehn, Dirk: »Configuring Reception. (Dis-)Regarding the ›Spectator‹ in Museums and Galleries«, in: Theory, Culture & Society 21, 6 (2004), S. 43-65.
21 Zum Wahrnehmen als einer sozialen Praxis vgl. auch Schürkmann, Christiane/Zahner, Nina T. (Hg.): Kunstwahrnehmen als Soziale Praxis, Wiesbaden: Springer 2020 (im Erscheinen).
Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext
2. Wahrnehmen als situativ gerahmte Praxis In seinen Studien stellt Dirk vom Lehn darauf ab, die Interaktionsordnungen zu rekonstruieren, die in Kunstausstellungen »in und durch die Produktion von Handlungen und Interaktionen, die für andere Besucher sichtbar und nachvollziehbar aufgeführt werden«.22 Er untersucht konkret, wie sich diese Interaktionsordnungen auf das Betrachten, Benutzen und Verstehen von Ausstellungsstücken in Kunstmuseen und -galerien auswirken. Die video-basierten Untersuchungen vom Lehns fokussieren hierbei vor allem die verbalen, körperlichen und materialen Handlungen und Interaktionen mit Kunst. Sie rücken so – im Unterschied zur Gesprächsforschung, die vor allem auf verbale Aspekte der Interaktion im Rahmen von Kunstrezeptionsprozessen fokussiert23 – gerade die körperlich-materialen Aspekte des Kunstbetrachtens in den Blick. Theoretisch schließt diese Perspektive an Erwin Goffman und die Ethnomethodologie Harold Garfinkels an.24 Diese Forschungen zielen vor allem darauf, die normativen Ordnungen aufzudecken, »die innerhalb und zwischen diesen Einheiten herrscht, d.h. die Verhaltensregeln, die es überall gibt, wo Leute sind«.25 Die Handlungen der Akteure werden hierbei als Darstellung der sozialen Ordnung, in der sie hervorgebracht werden, angesehen: »Der Untersuchungsgegenstand […] sind jene Ereignisse, die im Verlauf und auf Grund des Zusammenseins von Leuten geschehen. Die Grundelemente des Verhaltens sind Blicke, Gesten, Haltungen und sprachliche Äußerungen, die Leute ständig in die Situation einbringen.«26 Ziel dieser Forschung ist es, auch zu verstehen, wie die spezifische Stellung eines Objektes durch den konkreten Kontext, in dem dieses zum Wahrnehmen präsentiert wird, erst hergestellt wird.
22 Vom Lehn, Dirk: »Die Kunst der Kunstbetrachtung. Aspekte einer pragmatischen Ästhetik in Kunstausstellungen.«, in: Soziale Welt 57 (2006), S. 83-99, hier S. 85.
23 Hausendorf, Heiko: »Gibt es eine Sprache der Kunstkommunikation?«, in: Paragrana 15 (2006), S. 65-98; Hausendorf, Heiko: »Die Sprache der Kunstkommunikation und ihre interdisziplinäre Relevanz«, in: Heiko Hausendorf (Hg.), Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst, München: Fink 2007, S. 17-51.
24 Goffman, Erving: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974; Garfinkel, Harold: Studien zur Ethnomethodologie, Frankfurt: Campus 2017.
25 E. Goffman: Das Individuum im öffentlichen Austausch, S. 7. 26 E. Goffman: Interaktionsrituale, S. 7.
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In Anschluss an diese Positionen fokussieren Christian Heath und Dirk vom Lehn in ihrer gemeinsamen Studie auf den Kontext, in dem künstlerische Arbeiten wahrgenommen werden: »It would seem inappropriate to suggest that abstract perceptual principals, cognitive models, or socially constructed dispositions predetermine the perception and experience of the picture. Rather, it emerges progressively through a complex configuration of action, bodily and spoken, through which the participants come to discover, see and experience the painting in particular ways.«27 In den Untersuchungen vom Lehns wird so deutlich, dass und wie Museen und Galerien als Orte wesentlich daran beteiligt sind, die Erfahrung der künstlerischen Arbeiten bzw. der musealen Ausstellungsstücke zu formen.28 Es ist dann die Ausstellungssituation, die ein bestimmtes Wahrnehmen und Erfahren der ausgestellten Werke nahelegt. Denn die Interaktionen in Ausstellungssituationen in Museen und Galerien folgen, wie Heath und vom Lehn zeigen können, einem bestimmten Skript, das die Wahrnehmung von Objekten nach ästhetischen Kriterien organisiert, indem es das Objekt in das Zentrum der Interaktion stellt: »In and through their talk and bodily conduct, the participants transpose action to the object and encourage the co-participant(s) to see and respond to the ‚enlivened’ exhibit. [..] The spectator or recipient is encouraged not so much to respond to the action of the other, but rather the en-lived object, the exhibit in and through which action is embodied. The interactional and sequential force of the participant’s action are entailed in the object; it is the object to which the co-participant responds not to the ways in which it is rendered visible or significant by the other. In one sense, therefore, we find a powerful and distinctive example of ‚mediation’, and the ways in which actions are configured within an object to create and engender a particular response to the object itself.«29 Die Interaktionen inszenieren demnach das Objekt in einer Weise, dass die Aktionen des Gegenübers zwar im Rahmen der Interaktion gesehen, aber nicht bemerkt werden und so eine Interaktionssituation kreiert wird, die sich ganz auf das
27 C. Heath/D. vom Lehn: Configuring Reception, S. 52. 28 Vom Lehn, Dirk/Heath, Christian/Knoblauch, Hubert A.: »Configuring Exhibits: The Interactional production of Experience in Museums and Galleries.«, in: Helga Kotthoff/Hubert A. Knoblauch (Hg.), Verbal Art across Cultures. The Aesthetics and Proto-Aesthetics of Communication, Tübingen: Narr 2001, S. 281-297, hier S. 295.
29 C. Heath/D. vom Lehn: Configuring Reception, S. 60.
Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext
behutsame Abtasten (Adorno) des Objektes in der Interaktion fokussiert.30 In diesen Interaktionen scheinen historisch überlieferte Vorstellungen ästhetischen Wahrnehmens auf: »While the aesthetic attitude or standpoint is often associated with reflection and contemplation, it is also believed to entail raw, unadulterated experience; a confrontation with and reflection on the object in its own right. Here lies a pervasive distinction in aesthetics between seeing for oneself and having an object described, between immediate experience and a mediated encounter, be it a picture, a sculpture, novel or building. […] The object retains an element of surprise, of curiosity, by virtue of the ways in which one participant configures how it is seen and experienced by another, the confrontation with the object giving rise to pleasure, curiosity and surprise.« 31 Vom Lehn kann in seinen Studien so zeigen, dass die Rezeptionspraxis von Ausstellungsbesucher*innen die ausgestellten Objekte in ihrer Eigenständigkeit zum Erscheinen bringt. Die Interaktionsordnungen in Kunstausstellungen inszenieren demnach ein Wahrnehmen des betrachteten Objektes als eine vom Objekt geführte Erfahrung.32 Die empirischen Studien vom Lehns treffen sich hier mit den Analysen Niklas Luhmanns. Auch Luhmann sieht Wahrnehmen an spezifische Erfahrungsräume im Sinne Goffmans geknüpft.33 Er erkundet allerdings vor allem die historische Gewachsenheit dieser Erfahrungsräume, indem er sie zum Gegenstand seman30 Ritsert, Jürgen: »Methode«, in: Richard Klein/Johann Kreuzer/Stefan Müller-Doohm (Hg.), Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2011, S. 223-232.
31 C. Heath/D. vom Lehn: Configuring Reception, S. 61. 32 Zu dieser Konzeption von Kunsterfahrung vgl. auch Hennion, Antoine: »Those Things That Hold Us Together: Taste and Sociology«, in: Cultural sociology 1 (2007), S. 97-114.
33 Zwar richtet Luhmann im Unterschied zu vom Lehn, Goffman und Garfinkel sein Augenmerk nicht primär auf Interaktionssituationen, in denen die Akteure körperlich kopräsent und insofern sinnlich füreinander wahrnehmbar sind, sondern fokussiert seine Analysen auf durch Medien vermittelte Kommunikationssituationen, die er für paradigmatisch für moderne Gesellschaften hält, allerdings kann auch Luhmanns Theorie des Sozialen im Sinne einer »operativen Phänomenologie« gelesen werden, denn sie versteht die soziale Welt als eine sinnhaft generierte und beschäftigt sich intensiv mit dem Bezugsproblem konstitutionslogischer Erfassung von Wirklichkeit. Vgl. Nassehi, Armin: »Phänomenologie und Systemtheorie«, in: Jürgen Raab/Jochen Dreher/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Wiesbaden: VS 2008, S. 163-173, hier S. 163; Schützeichel, Rainer: »Transzendentale, mundane und operative (systemtheoretische) Phänomenologie.«, in: Jürgen Raab/Jochen Dreher/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Wiesbaden: VS 2008, S. 175-183, hier S. 175.
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tisch-historischer Analysen macht. Luhmann macht sich also im Rahmen seiner Forschungen ebenfalls auf die Suche nach den sinnstiftenden Strukturen, in der der Mensch und seine Welt verankert sind und erkennt diese in der Semantik einer Gesellschaft, ihrem Vorrat an Sinnverarbeitungsregeln34, auf die im Erleben und Handeln zurückgegriffen werden kann.35 Luhmanns empirische Untersuchungen zielen so darauf ab, die semantische Praxis einer Gesellschaft anhand ihrer »gepf legten Semantik«, ihrer »Ref lexionstheorien«36 zu untersuchen und liefert so weitreichende Einsichten hinsichtlich der Frage, wie die sinnhaften Strukturen einer Gesellschaft – ihre Kultur – historisch spezifisch kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert werden, und so Erwartbarkeiten im sozialen Leben geschaffen werden. Museen und Ausstellungshäusern fällt hier die Aufgabe zu, in bestimmten Situationen Kunstverdacht zu erzeugen, das heißt zu vermitteln, dass etwas als Kunst beobachtet werden soll.37 Etwas als Kunst zu beobachten, heißt nach Luhmann zu erkennen, dass ein Arrangement vorliegt, das so, wie es vorliegt für ein Beobachten produziert ist.38 Der Beobachter muss sich dann auf eine spezifische Form des Weltwahrnehmens einlassen: »Zunächst durch die Sinne angesprochen, ist der Rezipient gefordert, mit einer Art intellektuellem Spürsinn seinem Erleben oder seiner Intention nachzugehen«39 und so zu einer ästhetischen Erfahrung zu gelangen. Luhmann und vom Lehn kommt das Verdienst zu, das Wahrnehmen von Kunst im Ausstellungskontext als eine spezifisch gerahmte Praxis sichtbar zu machen. Hierbei werden die Orte des Ausstellens als Institutionen und Instanzen der Vermittlung einer spezifisch gewachsenen Kultur des Wahrnehmens offenbar, die das Kunstwahrnehmen in historisch gewachsener spezifischer Art und Weise kontrollieren, selektieren, organisieren und kanalisieren. Allerdings geraten bei beiden Forschern die sozialen Trägergruppen dieser Selektionen und
34 Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 17-18.
35 Schützeichel, Rainer: »Systemtheoretische Wissenssoziologie«, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz: UVK 2007, S. 258-267, hier S. 262-263.
36 Saake, Irmhild: »Theorien der Empirie. Zur Spiegelbildlichkeit der Bourdieuschen Theorie der Praxis und der Luhmannschen Systemtheorie«, in: Armin Nassehi/Gerd Nollmann (Hg.), Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 85-117, hier S. 85.
37 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 244-249. 38 Ebd., S. 188. 39 Kreysing, Anna: »Das Kunstwerk als verkörperte Intention«, in: Daniel M. Feige/Judith Siegmund (Hg.), Kunst und Handlung. Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven, Bielefeld: transcript 2015, S. 195-214, hier S. 207.
Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext
mögliche Konf likte um die Legitimität der beobachteten Rahmungen aus dem Blick. Während vom Lehn in seinen Studien Gefahr läuft, eine spezifische Form des Kunstwahrnehmens überzugeneralisieren, indem er seine Studien auf Ausstellungen klassischer Kunst in Museen, als dem Reproduktionsort bürgerlicher Kultur, fokussiert,40 betreibt Luhmann einen gewissen Begriffsimperialismus, indem er in seinen Untersuchungen ausschließlich die semantische Praxis der wissenschaftlichen Ästhetik und der Kunstgeschichte als Untersuchungsmaterial heranzieht.41 Beide Positionen fokussieren im Rahmen ihrer Studien auf von spezifischem Wissen dominierte Sozialräume und präferieren so implizit deren Setzungen gegenüber anderen. Gegenwartsgesellschaften sind nun aber gerade durch eine wachsende Heterogenität von Wertvorstellungen und Lebensstilen sowie einer massiven Aufwertung des Alltagswissens im öffentlichen Diskurs geprägt.42 Sie bleiben so tendenziell hinter dem großen Potential der Phänomenologie – die kontrollierte Ref lexion auf Akte der Bedeutungs- und Sinnkonstitution43 – zurück und ref lektieren letztlich zu wenig die Praxis ihres eigenen Wahrnehmens. Beide Studien müssen sich, bei aller Wertschätzung für ihre detailreichen Einsichten in spezifische situative und semantische Rahmungen des Kunstwahrnehmens den Vorwurf gefallen lassen, dass sie eine gewisse (Re) Mystifizierung der Kunst betreiben, propagieren sie doch durch die spezifische Materialauswahl in ihren Studien letztlich implizit eine bürgerliche Ästhetik des Wahrnehmens, nach der sich das Werk ereignet bzw. erscheint.44 Im Rahmen einer
40 Bennett, Tony: The reluctant museum visitor. A study of non-goers to history museums and art galleries, Redfern: Australia Council for the Arts 1994; Hetherington, Kevin: »From Blindness to blindness. Museums, heterogeneity and the subject«, in: Actor network theory and after, Oxford: Blackwell 2005, S. 51-73; Fyfe, Gordon: Art, power and modernity. English art institutions, 1750-1950, London: Leicester Univ. Press 2000.
41 I. Saake: Theorien der Empirie, S. 85-86; Nassehi, Armin: Geschlossenheit und Offenheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 80.
42 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986; Giddens, Anthony: »Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft.«, in: Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash (Hg.), Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 113-194; Wehling, Peter: Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens, Konstanz: UVK 2006; Hörning, Karl H.: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist: Velbrück 2001.
43 Schnettler, Bernt: »Soziologie als Erfahrungswissenschaft. Überlegungen zum Verhältnis von Mundanphänomenologie und Ethnophänomenologie«, in: Jürgen Raab/Jochen Dreher/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Wiesbaden: VS 2008, S. 141-149, hier S. 141.
44 Zur Werkzentriertheit des Kunstwahrnehmens bei Luhmann vgl. Lehmann, Harry: Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann, München: Fink 2006.
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Praxis des Sich-Überlassens an das Kunstwerk wird hier eine Mystifizierung des Kunstwahrnehmens und der Eigengesetzlichkeit der Kunst kolportiert.45 Dennoch, und dies erscheint mir wesentlich, fällt Dirk vom Lehn der kaum zu unterschätzende Verdienst zu, die Bedeutung des sozio-materiellen Kontextes für das Kunstwahrnehmen herausgearbeitet zu haben und diesen gegenüber den ebenfalls eine bürgerliche Ästhetik propagierenden semiotischen Betrachtungen der Geschmackssoziologie in den Fokus gerückt zu haben. Darüber hinaus gerät im Rahmen seiner empirischen Studien das Kunstwahrnehmen als soziale Praxis und eben nicht als bürgerlich-solipsistische in den Fokus, wie dies bei den Kognitionswissenschaften der Fall ist. Eben hier möchte ich im Folgenden anschließen. Ich möchte ein Verständnis des Kunstwahrnehmens zur Anwendung bringen, das dieses als eine Begegnungspraxis anlegt, in der künstlerische Objekte und Praktiken in einer spezifischen, von Konventionen gerahmten sozio-materiellen Situation mit soziokulturell verorteten Akteur*innen in Wechselwirkung treten und von diesen in einer spezifischen Art und Weise (auch kollektiv) erschlossen werden. Eine derartige Konzeption denkt die Kunstausstellung in Anlehnung an Simmels Begriff der Wechselwirkungen46 und in gewisser Ähnlichkeit zur Tradition des Denkens der ANT, von Bruno Latour, Michel Callon, Madeleine Akrich und John Law als Figuration.47 Im Rahmen einer derart angelegten Perspektive kommen (1) dem Ort Ausstellung als einer sozio-materiellen Konfiguration, (2) der Materialität bzw. Körperlichkeit der ausgestellten Objekte bzw. Praktiken und (3) der Wechselwirkung von Sinnlichkeit und Sinn im Erfahren der Ausstellungsfiguration und der künstlerischen Arbeiten eine ganz neue Stellung zu: »The production of knowledge, talk, organizational regimes, and embodied practice is seen to emerge from within a matrix of social relations and things, rather than from within individual consciousness. Unlike the sign (collective consciousness manifested as totem, ritual, or belief), the meaning of the artistic object (be it physical, verbal, or aural) in interaction is driven by its materiality and cannot be detached from matters of matter.« 48
45 Knapp, Lore: Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke – Christoph Schlingensief, Paderborn: Fink 2015, S. 293.
46 Den Begriff der Wechselwirkungen nach Georg Simmel habe ich an anderer Stelle für eine Soziologie des Kunstwahrnehmens fruchtbar gemacht. Vgl. Zahner, Nina T.: Art Perception and Power. A Plea for Relational Sociological Aesthetics, in: Volker Kirchberg/Lisa Gaupp/Alenka Barber-Kersovan (Hg.), Art and Power, Cham: Springer 2020 (im Erscheinen).
47 Für eine dezidierte Abgrenzung zu Positionen in Anschluss an die ANT vgl. ebd. 48 Acord, Sophia K./DeNora, Tia: »Culture and the Arts: From Art Worlds to Arts-in-Action.«, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science (2008), S. 223-237, hier S. 228.
Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext
Der Fokus der Betrachtung liegt nun auf der »interaction between humans and aesthetic/artistic materials at the level of the senses, the body, and the emotions«.49 Hier rücken die Objekte im Sinne der in ihnen angelegten Aufforderungsstrukturen (affordances)50 stärker in den Fokus, als dies bei vom Lehn der Fall ist, der allzu stark auf die soziale Rahmung der Ausstellungssituation fokussiert und hierbei die Objekte tendenziell aus dem Blick verliert. Zugleich steuern die Objekte aber nicht, wie sie konkret wahrgenommen werden sollen – wie in der Geschmackssoziologie oftmals implizit mitgedacht. Sie bieten nur – und hier schließe ich an Tia DeNoras Lesart von Gibson an – einen Grundstock, einen Vorrat, einen Fundus an möglichen Verwendungen, die im Umgang mit ihnen in spezifischen Situationen aktualisiert und überarbeitet werden. Orten, Objekten und Praktiken kommt hier keine fixe Identität zu, sie besitzen keinen festgelegten Wirklichkeitsstatus, keinen Realitätsstatus jenseits ihrer Verwendung: »Thus, objects do not offer, in any fixed sense, some pre-given set of affordances that can be described in advance of how objects come to be used. One cannot make definitive lists of what something means, what it might offer users, independent of use, because use (realignment, reappropriation) may profoundly transform what we discover about objects.« 51 Orte, Objekte und Praktiken werden dann als Figurationen gedacht werden, die in der jeweiligen Situation auf verschiedenste Weise Gestalt annehmen können.52 Die künstlerische Arbeit entsteht dann performativ im Wahrnehmen in einer spezifischen sozio-materiellen Situation als eine spezifische Form der Erfahrung, die sowohl von der sinnlich-sinnhaften Beschaffenheit der künstlerischen Arbeit, von der sozio-materiellen Rahmung der Situation als auch vom sozio-kulturellen Hintergrund der Betrachtenden geprägt ist.53
49 Ebd., S. 235. 50 Tia DeNora hat das aus der Psychologie stammende Konzept der af fordance (Gibson) für die Musiksoziologie fruchtbar gemacht und nutzt es um zu thematisieren, inwieweit bestimmte Wahrnehmungsweisen durch ein bestimmtes Musikstück begünstigt werden. DeNora, Tia: After Adorno. Rethinking music sociology, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2003, S. 48.
51 DeNora, Tia: Making sense of reality. Culture and perception in everyday life, Los Angeles et al.: Sage 2014, S. 93.
52 Ebd., S. 138. 53 Der soziale Hintergrund wird verschiedentlich auch als eine materielle Vermittlung gedacht, sind soziale Relationen doch immer ein Stück weit auch durch Dinge vermittelt, vgl. hierzu Emirbayer, Mustafa: »Manifesto for a Relational Sociology«, in: American Journal of Sociology 103 (1997), S. 81-317, hier S. 288; Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Paderborn: Voltmedia 2004, S. 696.
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Einen hochinteressanten methodischen Zugang für eine derartige Konzeption des Kunstwahrnehmens liefert die in der Tradition der Phänomenologie stehende Methode des Go-Along Interviews nach Margarethe Kusenbach. Denn während die in der Tradition der ANT arbeitenden Studien von Sophia K. Acord54 und Tia DeNora55 eigenartig fragmentarisch bleiben und nicht wirklich klären können, wie die Beziehung und der Kontakt zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren konkret aussieht und wie dem Aufforderungscharakter der Dinge genau auf die Spur zu kommen ist, und so letztlich in ihrem Nachweis diffus bleiben, wie und wodurch Materialitäten, Praktiken und Dinge soziale Praxis vermitteln,56 eignet sich das Go-Along in herausragender Art und Weise, um Wahrnehmungsprozesse und die Rolle von Materialität in denselben zu beforschen.
3. Wahrnehmen als eine ortsgebundene Praxis im perceptual space Die Methode des Go-Along Interviews ist eine ethnologische Forschungsmethode, die von Margarethe Kusenbach für die Stadtteilforschung entwickelt wurde. Als Verfahren der Feldforschung strebt das Mitgehen als Methode die systematische Erforschung kultureller Sachverhalte an, indem sich die Forschenden in den Lebensraum der untersuchten Menschen begeben und deren Alltagsleben zeitweise teilen, indem sie mit diesen mitgehen. Es verbindet hierbei die Methode des Interviews mit der Beobachtung alltagsweltlicher Schauplätze. Dem Go-Along liegt hierbei ein Verständnis zugrunde, nach dem unsere Erfahrung der Umwelt im Wesentlichen, wie von Mereau-Ponty herausgearbeitet,57 eine körperliche ist, und so dem Ort des Wahrnehmens eine wesentliche Bedeutung zukommt.58 Die Idee ist, dass die Körperbewegungen ein ursprüngliches, sinnliches Gefühl für
54 Acord, Sophia K.: »Beyond the Head. The Practical Work of Curating Contemporary Art.«, in: Qualitative Sociology 33 (2010), S. 447-467.
55 DeNora, Tia: Music in everyday life, Cambridge: Cambridge University Press 2009. 56 Gugutzer, Robert: »Leibliche Interaktion mit Dingen, Sachen und Halbdingen. Die Entgrenzung des Sozialen (nicht nur) im Sport«, in: Hanna K. Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld: transcript 2015, S. 105-122, hier S. 105107.
57 Zur Konzeption des Wahrnehmens im Anschluss an Merleau-Ponty vgl. Prinz, Sophia: Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld: transcript 2013; Schürkmann, Christiane: Kunst in Arbeit. Künstlerisches Arbeiten zwischen Praxis und Phänomen, Bielefeld: transcipt 2017.
58 Kusenbach, Margarethe: »Street phenomenology. The Go-Along as ethnographic research tool«, in: Ethnography 4 (2003), S. 455-485, hier S. 456.
Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext
unsere Umwelt als eines perceptual space,59 als eine Vielfalt von Orten oder Zentren persönliche Signifikanz konstituiert.60 Das Go-Along eignet sich damit hervorragend, um dem Stellenwert von Orten, Materialitäten und Körpern in der Alltagserfahrung nachzugehen. Es beinhaltet daher ein großes Potential für die Untersuchung der Erfahrung von Kunst an Ausstellungsorten. Im Rahmen des klassischen Go-Along Interviews begleiten Feldforscher*innen Stadtteilbewohner*innen auf ihren Streifzügen durch den öffentlichen Raum und versuchen aktiv durch Fragen, Zuhören und Beobachten deren Erfahrungen und Handlungen zu begreifen. Das Dabeisein ist hierbei ein wichtiger Bestandteil der ethnografischen Untersuchungen, bietet es doch die Gelegenheit, die phänomenologischen Strukturen der Alltagserfahrung in den konkreten soziomateriellen Situationen zu beobachten. Nach Margarethe Kusenbach liegt ein besonderes Potential der Go-Along Methode in der Möglichkeit »die komplizierte Filterung unserer Wahrnehmung«61 zu erforschen, denn im Mitgehen zeigen sich der Ethnograf*in, »wie persönlichen Relevanzen unsere Erfahrung der materiellen und sozialen Umwelten strukturieren«.62 Es wird so sichtbar, wie Menschen ihrer Umwelt in der Erfahrung derselben Bedeutung verleihen. Insofern ist das Go-Along dem klassischen Interview ebenso wie der ethnografischen Beobachtung überlegen. Denn während das off-site Interview die Grenzen der Erzählbarkeit einer ortsspezifischen Erfahrung schnell erreicht, da ihm der konkrete situativ-räumliche, materielle Bezug zur Ausstellungssituation oder zu den ausgestellten Kunstobjekten fehlt, und so oftmals unklar bleibt, worüber eigentlich gesprochen wird,63 kann die solitäre Beobachtung die Umwelt-Erfahrungen anderer letztendlich nicht rekonstruieren, denn Menschen sprechen normalerweise nicht während ihrer Alltagsbeschäftigung über das, was gerade passiert oder über ihre Gedanken zu den Dingen, die sie umgeben. Damit ist es aber kaum möglich, auf die hier stattfindenden Interpretationen durchzugreifen.64 Die Verbindung von teilnehmender Beobachtung und Befragung im Go-Along birgt gro59 Das Konzept des perceptual space stammt von dem Humangeografen Edward Relph. Es konzipiert den Wahrnehmungsraum als in Orte von besonderer persönlicher Bedeutung differenziert und schließt neben tatsächlichen Orten auch vorgestellte und erinnerte Orte ein. Vgl. Relph, Edward: Place and placelessness, London: Pion 1976.
60 M. Kusenbach: Street phenomenology, S. 456. 61 Kusenbach, Margarethe: »Mitgehen als Methode. Der »Go-Along« in der phänomenologischen Forschungspraxis«, in: Jürgen Raab/Jochen Dreher/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Wiesbaden: VS 2008, S. 350-258, hier S. 353.
62 Ebd. 63 M. Lamont/A. Swidler: Methodological Pluralism and the Possibilities and Limits of Interviewing.
64 M. Kusenbach: Street phenomenology, S. 458-463.
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ße Potentiale für die Kunsterfahrung im Ausstellungskontext, bindet sie doch die Akteure in situ in eine Diskussion ihres Wahrnehmens und Interpretierens ein und erweist sich so gerade für eine empirische Untersuchung des Kunstwahrnehmens als hoch funktional: »Go-Alongs unveil the complex layering and filtering of perception they can help ethnographers reconstruct how personal sets of relevances guide their inform-ants’ experiences of the social and physical environment in everyday life.«65 Dem Forschenden wird gerade durch das Zuhören und Beobachten ein außergewöhnlich naher Einblick in die Kunst- bzw. Ausstellungserfahrung der Betrachtenden zuteil. Im Folgenden stelle ich einige Ergebnisse eines im SS 2019 und WS 2019/2020 an der Kunstakademie Düsseldorf durchgeführten Lehrforschungsprojektes vor, in dessen Rahmen Go-Along Interviews in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst durchgeführt wurden.66
4. Das Go-Along in der Praxis Im Seminar wurde u.a. die Ausstellung Parallax Symmetry, die vom 28.09.2019 bis 19.01.2020 im K21 in Düsseldorf stattfand, als Ort für die Untersuchung der ortsspezifischen Erfahrung von Kunst im Ausstellungskontext ausgewählt. Bei der Ausstellung Parallax Symmetry handelt es sich um eine Einzelausstellung des Künstlers und Musikers Carsten Nicolai in der Kunstsammlung NordrheinWestfalen in Düsseldorf. Mit rund 40 multimedialen Installationen, Modellen, Filmen, Skulpturen, Drucken und Tafelbildern aus den Jahren 2000 bis 2019 gibt die Ausstellung einen Überblick über das Werk des Künstlers. Nicolai sucht in seiner Arbeit Schall- und Lichtfrequenzen für Augen und Ohren wahrnehmbar zu machen. Der Künstler greift dafür häufig auf mathematische Muster wie Raster und Codes sowie Fehler-, Zufalls- und selbstorganisierende Strukturen zurück. Die multimedialen Installationen und Skulpturen der Ausstellung weisen daher überwiegend eine streng minimalistische Ästhetik auf. In der Ausstellung wurden sieben Go-Along Interviews durchgeführt. Die Befragten wurden im Rahmen eines Schneeballverfahrens aus dem weiteren Bekanntenkreis der Studierenden und der Lehrenden ausgewählt, hierbei wurde besonders darauf geachtet, allzu asymmetrische Beziehungen zwischen Interviewer*innen und Befragten zu vermeiden. Denn viele Ausstellungsbesucher*innen scheuen, insbesondere, wenn sie keine regelmäßigen Besucher*innen von Kunstausstellungen sind, Konversationen über Kunst und dies umso mehr, je kunstaffiner sie das Gegenüber einschätzen. Zudem gibt 65 Ebd., S. 466. 66 Ich greife in der Darstellung der Ergebnisse des Forschungsprojektes besonders auf die Untersuchungen und Forschungsberichte von Jean Mullan und Charlotte Klausener zurück.
Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext
es je nach Kunstaffinität große Unterschiede hinsichtlich der Fähigkeit, über künstlerische und ästhetische Themen sprechen können.67 Aus diesem Grund hat das Team beschlossen, im Rahmen eines Grounded Theory Theoretical Samplings68 Interviewpartner*innen zu suchen, die hinsichtlich ihrer Kunstaffinität eine gewisse soziale Nähe zu den Interviewer*innen aufweisen, um so die Bedingungen für eine symmetrische Kommunikation zu schaffen. Die Go-Along-Interviews stellten so in gewisser Weise eine Zwei-Personen-Sozio-Analyse dar, bei der sowohl die Forscher*innen als auch die Teilnehmer*innen einer Beobachtung unterzogen werden. Für die Aufnahme der Go-Alongs wurden Aufnahmegeräte oder Mobiltelefone verwendet und das Gesprochene im Anschluss transkribiert. Die Teilnehmer*innen des Forschungsprojektes haben ihre Wege durch die Ausstellung selbst bestimmt, verbrachten zwischen 45 und 105 Minuten in der Ausstellung und waren vor dem Besuch der Ausstellung mehrheitlich noch nicht mit der Kunst Carsten Nicolais vertraut. Im Folgenden sollen einige Ergebnisse des Forschungsprojektes vorgestellt werden. Ein wesentliches Ergebnis der Forschung war, dass sie zeigen konnte, wie das Wahrnehmen von Kunst durch soziale Faktoren in Form praktischer Wissensbestände geprägt wird. Praktische Wissensbestände sind eng mit persönlichen Interessen, Talenten, Dispositionen und Empfindsamkeiten – mit Schütz Relevanzen69 – verf lochten.70 Im Folgenden sollen zwei der beobachteten Positionen herausgegriffen werden und an diesen verdeutlicht werden, wie der perceptual space der Ausstellung durch die praktischen Wissensbestände der Probanden geformt wurde. Hierbei wurde deutlich, dass für einen Interviewpartner – einen Bildhauer – vor allem die Gemachtheit der Objekte im Vordergrund stand und er die Ausstellung vor allem hinsichtlich der handwerklichen Umsetzung ihrer künstlerischen Konzeption beurteilte. Ein anderer Interviewpartner, ein Lehramtsstudent, näherte sich der Ausstellung hingegen sehr interpretationsorientiert, mit einem kunsthistorisch geprägten Instrumentarium und suchte über eine intensive Auseinandersetzung mit den einzelnen Arbeiten eine einheitliche inhaltliche Thematik der Ausstellung zu identifizieren. Ob man eine künstlerische Arbeit bzw. eine ganze Ausstellung hinsichtlich ihrer handwerklichen Ausführung oder ihrer 67 Bourdieu, Pierre: »Verstehen«, in: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz: UVK 2002, S. 779-822.
68 Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, München: Oldenbourg 2010.
69 Berndt, Thorsten: »Das beobachtende Interview. Zur relevanztheoretischen Rekonstruktion und innovativen Ergänzung qualitativer Interviews.«, in: Jürgen Raab/Jochen Dreher/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Wiesbaden: VS 2008, S. 359-368.
70 M. Kusenbach: Mitgehen als Methode, S. 354.
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inhaltlichen Thematik betrachtet und bewertet, hängt damit offensichtlich von den eigenen persönlichen bzw. professionellen Relevanzen ab. Hier wird deutlich, in welchem Ausmaß diese das Wahrnehmen des Betrachtenden steuern und letztlich völlig unterschiedliche Ausstellungswahrnehmungen und -erfahrungen begründen. Mittels Go-Alongs können derartige Wahrnehmungsfilter, die nicht nur bestimmen, was wahrgenommen wird, sondern auch bestimmen, wie es wahrgenommen und interpretiert wird, in ihrem Vollzug nachvollzogen und untersucht werden. Letztlich können so durch Vergleiche allgemeine Muster und Prinzipien identifiziert werden. Hierzu bedarf es einer umfassenderen Forschung, die deutlich mehr Positionen integrieren muss, als das hier vorgestellte Lehrforschungsprojekt es leisten kann. Die vorgestellten Go-Alongs machen jedoch deutlich, welch grundlegend andere Wahrnehmungen durch unterschiedliche Relevanzsysteme generiert werden und wie sehr diese die Einschätzungen künstlerischer Objekte und Praktiken prägen. So setzt sich der erste Proband, ein Bildhauer, beim Betrachten der Arbeiten vor allem damit auseinander, inwieweit die Ausstellung, einzelne Räume bzw. Kunstwerke »funktionieren«. Beim Betrachten von void (Abb. 01) äußert er: »Ich finde die Dinger funktionieren echt nur, wenn du die so auf mega Hochglanz poliert hast, weil wenn man so guckt und man sieht da so Fettschmiere drauf… So Fingertapser oder irgendwie vom, ich weiß nicht ob vom Aufbau und nicht gesehen oder doch angetoucht oder so. Eigentlich hätte da jemand nochmal richtig drüber polieren müssen. Das sind so Dinge die finde ich gehen halt nicht. … Und das stört diese Sterilität, irgendwie. Das sind so Minidetails. […] Ja, ich finde, wenn man irgendwie so eine abstrakte oder konzeptuelle Arbeit macht, was es ja alles für mich ist, dann finde ich, ist da halt auch so eine Konsequenz wichtig, oder so ’ne... also es darf so keine Beliebigkeit stattfinden.« Die Ausstellung »funktioniert« für diesen Betrachter dann, wenn eine konzeptionelle Konsequenz auch handwerklich bis in jedes Detail aufrechterhalten wird. Um ihre Inhalte und Konzepte zu kommunizieren, muss die Ausstellung bzw. die einzelne künstlerische Arbeit für diesen Betrachter konsequent ge- und verarbeitet sein, und dies muss klar erkennbar sein. Dies wird an seinen Kommentaren zu zwei Arbeiten – cluster (Abb. 02) und sekundenschlaf (Abb. 03) – besonders deutlich sichtbar: »Das ist jetzt zum Beispiel so was, was mich überhaupt nicht anspricht. Für mich ist es echt so voll so’n Design-Deko-Ding. So es ist irgendwie ganz nice, dass das diese gelben Teile (Bilder an der Wand) spiegelt. Aber, das könnte jetzt auch irgendwie in ’ner, weiß ich nicht, Penthouse-Wohnung, irgendwo in ’ner Ecke von ’nem Fenster liegen, vor einer Skyline oder so. (lacht) Und könnte halt echt aus so
Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext
einem Deko-Shop sein, sorry. Da verbinde ich jetzt auch nicht irgendwelche Steine oder irgendwie mondmäßiges oder irgendetwas sowas mit... völlig beliebig. […] hier habe ich halt das Gefühl die könnten auch anders sein und es ist so völlig egal, weil dir damit keine bestimmte Information übermittelt wird, außer dass du denkst, ah ok ich hab‘ jetzt ’ne Mondstein-Assoziation oder sonst irgendwas. Und bei der Welle [sekundenschlaf] hab‘ ich jetzt irgendwie das Gefühl so, die muss genauso sein und wenn sie anders wäre, dann würde die Information die gegeben wird, auch ’ne ganz andere sein. Und das finde ich dann irgendwie schon wieder gut, weil das für mich so eine Konsequenz hat. So bis ins Detail halt einfach.« Eine ohne sichtbare Bearbeitung erfolgte Integration alltagweltlicher Gegenstände in den Ausstellungskontext lehnt dieser Betrachter ab und thematisiert das an Arbeit telefunken-anti (Abb. 04): »Genauso wie diese Fernseher von hinten ... das ist für mich so ’n ganz alltägliches Ding und ich kann da jetzt auch irgendwie nicht vorstehen und da jetzt irgendwie reininterpretieren: »den Bildschirm sieht man nicht«, und bla bla bla. Das sind für mich einfach zwei Fernseher von hinten. (lacht)« Als Bildhauer scheint der Interviewpartner von künstlerischen Arbeiten zu erwarten, dass erkennbar ist, dass diese mit einer Intention gemacht sind und hierbei eine absolute Konsequenz an den Tag gelegt wurde. Hier scheint ein eher handwerkliches Kunstverständnis auf, das der Idee der Ready Mades und der Konzeptkunst eher ablehnend gegenübersteht. Demgegenüber formuliert ein zweiter Go-Along-Partner, ein Lehramtsstudent, eine andere Position. Er setzt sich zunächst sehr dezidiert mit den einzelnen Arbeiten auseinander, indem er genau – auch unter Hinzunahme kunsthistorischer Vergleiche – zu beschreiben sucht, was es wahrzunehmen gibt. Hierbei interessiert er sich für die Thematik und den Herstellungsprozess einzelner Arbeiten, wie auch für eine mögliche Verbindung zwischen den Ausstellungsstücken. Auffällig ist, dass er seine Eindrücke häufig in erkennbarer Reihenfolge, artikuliert. Er beginnt mit (bildhaften) Assoziationen und (kunsthistorischen) Vergleichen, untersucht dann Handwerkliches und die Wirkung einzelner Arbeiten und stellt anschließend einen interpretatorischen Bezug zu anderen Arbeiten her. Zu diesem Vorgehen eine exemplarische Sequenz zu dem vom vorherigen Interviewpartner völlig anders wahrgenommenen Arbeit sekundenschlaf (vgl. Abb. 03): »Das sieht ja interessant aus. … Sieht auch schwer aus. … Wenn man es hinstellen würde, hätte es ein bisschen so etwas von den Cragg-Figuren, finde ich. … Es sieht auch ein wenig aus wie mit einem 3D-Drucker gedruckt. … Der Schatten ist auch schön. Guck’ mal, das hat da schon diese weicheren Übergänge, so wie man das bei
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Abbildung 01: Carsten Nicolai, void, 2002-2019. Ausstellungsansicht Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, 2019.
Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin / VG Bild-Kunst, Bonn 2020; Foto: Charlotte Klausener, Düsseldorf ([email protected]).
Abbildung 02: Carsten Nicolai, cluster, 2008. Ausstellungsansicht Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, 2019
Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin / VG Bild-Kunst, Bonn 2020; Foto: Charlotte Klausener, Düsseldorf ([email protected]).
Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext
Abbildung 03: Carsten Nicolai, sekundenschlaf, 2018. Ausstellungsansicht Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, 2019.
Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin / VG Bild-Kunst, Bonn 2020; Foto: Charlotte Klausener, Düsseldorf ([email protected]).
Abbildung 04: Carsten Nicolai, telefunken-anti, 2004. Ausstellungsansicht Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, 2019.
Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin / VG Bild-Kunst, Bonn 2020; Foto: Charlotte Klausener, Düsseldorf ([email protected]).
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einem Tischbein hat. Ich würde es gerne anfassen. [Sieht auf das Schild] Es heißt »Sekundenschlaf«.« Die systematische Herangehensweise erinnert dabei an die im Lehramtsstudium erlernte Methode der Werkanalyse in drei Schritten: Beschreibung, Analyse, Interpretation (mit Kontextualisierung und Vergleich zu anderen Werken). Der Interviewpartner studiert Kunst für das Lehramt und hat im Rahmen dieses Studiums die Methode der Werkanalyse erlernt, die er nun – unbewusst oder bewusst – in seine Betrachtungen einf ließen lässt. Auch die kunsthistorischen Bezüge, die er wiederholt herstellt, hat er wohl im Rahmen seines Studiums erworben. Im Lauf des Ausstellungsbesuchs sucht der Interviewpartner zudem über die Betrachtung und Analyse einzelner Werke schrittweise eine übergreifende Gesamtthematik der Ausstellung auszumachen. Eine erste These hierzu entwickelt es bei der Betrachtung einer Videoarbeit future past perfect pt. 03 nach ungefähr der Hälfte des Ausstellungsbesuchs. Diese sucht er im Rahmen der Betrachtung weiterer Arbeiten zunehmend zu erhärten: »Jetzt kann man das Ganze natürlich auch sehr gesellschaftlich auslegen. Und kritisch. […] Ja, Massenkonsum und so. Ich glaube, es geht auf jeden Fall um Reizüberflutung. In alledem hier.« und bei der Betrachtung einer weiteren Videoarbeit future past perfect pt. 04 »Ein Flugzeug ist auch die absolute Überforderung für den Körper. Ein Flugzeug, das ist Stress, weil du so schnell von A nach B kommst. Auch Reizüberflutung. […] Ja genau, das ist es ja wieder auch. Man ist da auch wieder überfordert an der Masse, die man da sieht. Man will eigentlich endlich ’ne Grenze haben. Man will den Horizont. […] Es geht schon immer um ähnliche Dinge.«
5. Fazit Die Methode des Go-Alongs erlaubt es, die Art und Weise, wie Menschen ihre Wissensbestände und Lebenserfahrung in die Wahrnehmung künstlerischer Arbeiten in spezifischen sozio-materiellen Umwelten einbringen in situ zu untersuchen. In der Methode des Go-Alongs wird so die Trennung zwischen betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt ein Stück weit aufgehoben und so sichtbar gemacht in welch umfassender Art und Weise uns unser In-der-Welt-Sein im Wahrnehmen prägt.71 Akteur*innen betrachten und deuten Ausstellungen und künstleri71 Ebd., 357.
Kunstwahrnehmen im Ausstellungskontext
sche Arbeiten je nach ihrem biografischen Hintergrund, ihren Erfahrungen und Wissensbeständen in unterschiedlicher Art und Weise. Im Wahrnehmen scheinen hier unterschiedliche Relevanzen auf, die unser Weltwahrnehmen fundamental prägen. Das Go-Along macht so radikal deutlich, dass »die physisch vorhandene Welt als solche kein objektiver Wahrnehmungsgegenstand ist, sondern etwas, das nach Maßgabe individueller und soziokultureller Bedingungen prozessförmig konstituiert wird« und »als Auffindbares so immer zugleich erfunden«72 wird. Hier wird zugleich deutlich, dass die institutionelle Rahmung der Situation zumindest in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst nicht so wirkmächtig ist, wie uns Garfinkel und Goffman und in Anschluss an diese vom Lehn und Luhmann glauben machen wollen. Die Situationen sind nicht so eng gerahmt, nicht so homogen struktureiert, wie die Idee der Interaktionsordnung uns nahelegt. Zumindest die Situationen der Ausstellung zeitgenössischer Kunst scheint deutlich heterogener angelegt, sie scheint eine gewisse interpretatorische Offenheit sogar einzufordern.73 Hier manifestiert sich allem Anschein nach ein umfassender gesellschaftlicher Individualisierungsprozesses im künstlerischen Feld. Dieser tritt gesellschaftsweit als einen Aufstand der Laien gegen die vielerorts akzeptierten Dominanz von Expert*innen und Expertenwissens in Erscheinung. In Berufung auf die eigene Authentizität74 wird die Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen und damit die Frage der Legitimität eines von individuellen Relevanzen geprägten Alltagswissens gegenüber einem Objektivität für sich beanspruchenden Wissens der Expert*innen aufgerufen. Ein umfassender Kulturwandel nimmt hier Form an, in dessen Rahmen die subjektive Meinung und die auf individuellen Erfahrungen basierenden alltagsweltlichen Relevanzen zunehmend aufgewertet werden und hinsichtlich der Legitimität von Verfahren, Ansichten oder
72 Schürmann, Eva: Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 98.
73 Hanquinet, Laurie: »’J’adore!’ Aesthetics in Bourdieu’s Account of Taste«, in: Malcolm Quinn/ Dave Beech/Michael Lehnert et al. (Hg.), The Persistence of Taste. Art, Museums and Everyday Life after Bourdieu, Milton: Routledge 2018, S. 141-152, hier S. 149; D. von Hantelmann/C. Meister: Einleitung; Huber, Hans D.: Kunst des Ausstellens. Beiträge, Statements, Diskussionen, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002; Schade, Sigrid: Ausstellungs-Displays, Zürich: Hochschule für Gestaltung und Kunst 2007; von Hantelmann, Dorothea/Meister, Carolin (Hg.): Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich: Diaphanes 2010.
74 Gerhards, Jürgen: »Der Aufstand des Publikums. Eine systemtheoretische Interpretation des Kulturwandels in Deutschland zwischen 1960 und 1989.«, in: Zeitschrift für Soziologie 30 (2001); Nassehi, Armin: Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 61.
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Meinungen vermehrt auf das Individuum, auf das Subjekt, das selbstbestimmt sein Leben schreibt, verwiesen wird.75 So interessant die vorgestellten Ergebnisse auch sind und so deutlich sie die Bedeutung alltagsweltlicher Relevanzen für die Kunstwahrnehmung herausarbeiten, so sehr muss sich die vorliegende Auswertung der Go-Along Interviews den Vorwurf machen, in ihrer Auswertungspraxis doch wieder allzu stark auf die individuelle Praxis der Auseinandersetzung mit den künstlerischen Arbeiten konzentriert zu haben. Erste Auswertungsansätze in diese Richtung zeigen jedoch bereits die Grenzen des Go-Alongs für die Beforschung der Ausstellungserfahrung als einer sozialen Praxis auf. Zwar ist eine Gesprächsanalyse der Dialoge der Teilnehmer*innen auf Basis des erhobenen Materials durchaus möglich, hier wird allerdings mehr als deutlich, dass die körperlich-materialen Aspekte der Koordination des Betrachtungsprozesses eben nicht protokolliert werden können. Gerade die kleinen unbewussten Gesten und Bewegungen, die hier so wichtig sind, fehlen. Folglich bleibt oftmals auch hier unklar, worüber eigentlich gesprochen wird und wie durch die räumlich-materielle Verortung der Akteur*innen und die Koordination ihrer Handlungen und Bewegungen ein gemeinsamer perceptual space hergestellt wird. Hier erweist sich eine Ergänzung der Untersuchung mit Video-Daten und deren Auswertung in der Tradition der von vom Lehn durchgeführten Studien als notwendig.
75 Junge, Kay/Šuber, Daniel/Gerber, Gerold (Hg.): Erleben, Erleiden, Erfahren. Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft, Bielefeld: transcript 2008; Knaller, Susanne/ Müller, Harro (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, Paderborn, München: Fink 2006.
3. Mensch-Technik Erfahrungen
Die Materialität des sozialen Gebrauchs Der Architekt Ludwig Leo im West-Berlin der langen 1960er Jahre Gregor Harbusch
Die soziale Wirksamkeit von Architektur ist neuerdings vermehrt in den Fokus soziologischer Forschung gerückt, insbesondere als Anspruch der architektonischen Moderne.1 Auf der Ebene architektonischer Gestaltung spielten Fragen der Materialität – so die Kritik der Nachwelt – allerdings gerade in der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts oft eine gewisse Nebenrolle. So könnte man den Funktionalismus der Zwischenkriegszeit mit seinem programmatischen Interesse an weißen und transparenten Baukörpern als eine geradezu anti-materielle Architektur beschreiben, die in erster Linie an optimierten Ordnungen in möglichst leicht und glatt wirkenden Raumgefügen arbeitete. Das Material rückte dabei in visueller und taktiler Hinsicht in den Hintergrund. Es spielte nur dann eine Rolle, wenn es um experimentelle Neuerungen ging, die mit Geschichte und Tradition brachen. Nach dem brachialen Klassizismus des Nationalsozialismus schloss man in Deutschland an diese Tradition der Avantgarde im eigenen Land an. Die Bauten der 1950er Jahre sind eng mit der Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders verbunden. Rasterfassaden zwischen Eleganz und Beliebigkeit, leichte Vor- und Flugdächer, offene und helle Raumgefüge, beschwingte Treppenläufe und filigrane Details aus Messing bildeten den räumlichen Rahmen, in dem sich der geschichtsvergessene Optimismus und der vermeintliche gesellschaftliche Neuanfang nach dem Ende des Krieges abspielte. In den 1950er Jahren setzte zugleich aber auch eine Tendenz ein, den Umgang mit dem Materiellen neu zu befragen. Junge Architekt*innen, die gegen die als erstarrt und eigenschaftslos wahrgenommene Architektur der Nachkriegszeit opponierten, reagierten mit unterschiedlichen Ansätzen, doch fast immer 1 Delitz, Heike: »Architektur, Artefakt, Kreativität. Herausforderungen soziologischer Theorie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungsband des 33. Kongresses der DGS, Frankfurt am Main 2008, S. 5827-5836, hier S. 5827.
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spielte eine neue Wertschätzung der Materialität in der Architektur eine entscheidende Rolle – sofern es nicht um technologische Ansätze oder gleich um die weitgehende Negation des westlichen Architekturdenkens ging.2 Am konsequentesten fand die Hinwendung zum Materiellen im Brutalismus statt.3 Der béton brut (rohe Beton) im Spätwerk Le Corbusiers gilt als ein entscheidender Schritt hin zu einer internationalen Bewegung, die durch die theoretischen Überlegungen von Alison und Peter Smithson sowie Reyner Banham im London der 1950er Jahre ihr entscheidendes konzeptionelles Fundament bekam. Die Smithsons verstanden unter dem von ihnen verwendeten Begriff New Brutalism jedoch keine exaltierten Formen aus Sichtbeton, für die der Brutalismus später global berühmt und berüchtigt werden sollte. Vielmehr begriffen sie die Arbeit mit rohen, ungekünstelten und offen gezeigten Materialien auch unter ethischem Vorzeichen als eine Form der Ehrlichkeit, die unter dem Stichwort as found eine positive Auseinandersetzung mit den baulichen Gegebenheiten des Ortes und ein anthropologisches Interesse an alltäglichen, sozialen Lebensgewohnheiten umfasste. Fragen des Materials und des sozialen Gebrauchs wurden hier also zusammen gedacht. Auf internationaler Ebene galt damals die von den Smithsons 1953 mitbegründete Vereinigung vornehmlich europäischer Avantgardisten Team X als entscheidende Institution, in der solche und vergleichbare Fragen nach der gesellschaftlichen Relevanz der Architektur diskutiert wurden.4 Der Berliner Architekt Ludwig Leo (1924-2012) war ein lokal verwurzelter Einzelgänger und stand mit dem Team X nur mittelbar in Verbindung. Im fest umrissenen Raum des insularen Westteils der ehemaligen deutschen Reichshauptstadt verfolgte er jedoch ähnliche Ansätze und interessierte sich für Fragen des emanzipatorischen Gehalts einer zeitgemäßen Architektur.5 Charakteristisch waren insbesondere seine konzeptionelle Herangehensweise, der Fokus auf die sozialen Dimensionen der Architektur, das Interesse an den Spezifitäten jeder individuellen Bauaufgabe und die kritische Bezugnahme auf die Moderne der Zwischenkriegszeit. In seiner Haltung zur Architektur als materieller Anordnung, die er immer im engen Zusammenhang mit den individuellen Verhaltensweisen der Nutzer 2 Überblick über entscheidende Ansätze der Erneuerung geben: Goldhagen, Sarah Williams/ Legault, Réjean (Hg.): Anxious Modernisms. Experimentation in Postwar Architectural Culture, Cambridge (Mass), MIT Press 2000.
3 Einen umfassenden Überblick über den internationalen Brutalismus gibt: Elser, Oliver et al. (Hg): SOS Brutalismus. Eine internationale Bestandsaufnahme, Zürich: Park Books 2017.
4 Risselada, Max/van den Heuvel, Dirk (Hg.): Team 10. 1953-1981. In Search of a Utopia of the Present, Ausst.-Kat. Nederlands Architectuurinstituut Rotterdam, Rotterdam 2005.
5 Grundlegend zu Leo: Buchholz, Antje et al. (Hg.): Ludwig Leo Ausschnitt, Ausst.-Kat. Architectural Association London, London 2015. Das Buch ist die erweiterte englischsprachige Version der vergriffenen Publikation BARarchitekten und Harbusch, Gregor: Ludwig Leo. Ausschnitt, Ausst.-Kat. Galerie die raum Berlin, Berlin/Ludwigsburg 2013.
Die Materialität des sozialen Gebrauchs
seiner Bauten dachte, zeigt sich – trotz aller Verbindungen zur internationalen Avantgarde – das Eigenwillige und Singuläre von Leos Arbeitsansatz. Leo hat sich nicht schriftlich zu seiner Architektur geäußert, doch aus seinen Entwurfszeichnungen und aus den wenigen realisierten Entwürfen kann seine langjährige konzeptuelle Auseinandersetzung mit dieser Frage abgeleitet werden. Leo war Teil der Architektenkohorte, die den Krieg noch als Soldaten erlebt hatte, direkt im Anschluss studierte und ab Mitte der 1950er Jahre zu arbeiten und in vielen Fällen den damaligen Status quo der Architektur in Frage zu stellen begann. Auch wenn er mit seiner Sporthalle Charlottenburg das erste komplett betonsichtige Gebäude Berlins errichtete, kann er im engeren Sinn sicherlich nicht als Vertreter des Brutalismus gelten. Seine wenigen realisierten Bauten sind formal vielfältig und spiegeln das klarsichtige Aufgreifen unterschiedlichster Referenzen wider, aus denen Leo immer wieder überraschende architektonische Lösungen entwickelte. Fragen nach der Materialität und dem sozialen Gebrauch der Architektur adressierte Leo über bewegliche Elemente, originelle Möbel und Einbauten, räumliche Kompaktheit sowie mechanische Vorrichtungen. Wesentlich war dabei nicht die Fixierung auf ein bestimmtes Material und dessen Oberf lächeneigenschaften, sondern eine umfassende und kritische Befragung der jeweiligen Bauaufgabe, was zu ungewöhnlichen Entwürfen führte, die sich wiederum aus einem zu- und bisweilen überspitzten Funktionalitätsbegriff ableiteten. Leo war ein Protagonist der sogenannten langen 1960er Jahre, die die zeithistorische Forschung ungefähr auf den Zeitraum 1957 bis 1974 datiert und die als »die Take-off-Phase zu einer Moderne als ›Lebensweise allgemein‹, die Transformation zu einer postindustrialisierten Gesellschaft und die nochmalige Dynamisierung des Wiederauf bau-Booms« gilt.6 Der Bauboom und der Fortschrittsglaube dieser Jahre gingen mit einer Verwissenschaftlichung der Architektur und einer Technokratisierung der Planungskultur einher, denen Leo jedoch skeptisch gegenüberstand. Allein schon auf Grund seines Architekturstudiums an der Hochschule für bildende Künste – die Max Taut direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Schule aufgebaut hatte, die über Anspruch, Lehrmethoden und Personen den Anschluss an das Bauhaus suchte7 – war er von einem klassisch modernen Berufsverständnis geprägt, das den Architekten als individuellen Akteur sieht. Als solcher eignete er sich selektiv Wissen verschiedener Disziplinen an und überführte es am Schluss in eine verbindliche architektonische Form. Ähnlich distanziert war sein Verhältnis zur Studentenbewegung 1968. Leo galt bei den Zeitgenossen zwar als überzeugter Marxist, doch weder suchte er den Kontakt zu Gruppen, noch exponierte er sich öffentlich. Beruf liche Kontakte in den 6 Schildt, Axel/Siegfried, Detlef: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München: Carl Hanser Verlag 2009, S. 181.
7 Menting, Annette: Max Taut. Das Gesamtwerk, München: DVA 2003, S. 170-175.
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Osten sind nicht nachweisbar, doch auf privater Ebene gab es eine starke Affinität Leos und seiner Frau Sheila zur DDR; beispielsweise besuchten die beiden noch 1960 die Paraden und öffentlichen Veranstaltungen zum 1. Mai in Ost-Berlin. Der langjährige Freund Dieter Hoffmann-Axthelm brachte Leos politische Haltung treffend auf den Punkt: »Eigentlich, sagte [Leo], hätte er auf die andere Seite der Mauer und des Kalten Krieges gehört. Sicherlich wußte er aber, daß er als der Unabhängige, der er war, dort, auf der anderen Seite, zerstört worden wäre«.8 Diese etwas spekulativen Andeutungen über Leos politische Haltung sind näher an der Frage der Architektur, als man im ersten Moment vielleicht glauben mag. Denn unabhängig von parteipolitischen Positionierungen gab es bei Leo eine feste Überzeugung, dass Alternativen zum gesellschaftlichen, ökologischen, technologischen oder auch pädagogischen Ist-Zustand möglich sind.9 Seine Entwürfe sind in diesem Sinne als Werkzeuge zu verstehen, die insbesondere das gemeinsame Lernen, Arbeiten und Wohnen eben nicht nur zu organisieren, sondern als soziales Miteinander zu fördern versuchen. Die Begegnung mit dem Materiellen meint in Leos Fall keinen Fokus auf Materialgebrauch und -ikonografie,10 sondern bedeutet, dass man seine Projekte mit Blick auf die Frage analysiert, inwiefern hier materielle Strukturen sozial wirksam werden sollten. Bewusst soll dabei die Begriff lichkeit Materialität des sozialen Gebrauchs verwendet und das Wort Nutzung vermieden werden, da Letzteres im architektonischen Diskurs immer ein Stück weit technisch-rationales Abstraktum ist. Demgegenüber ging es Leo immer um konkrete Alltagssituationen, um sozialen Austausch, um die Bewegung und die körperliche Präsenz der Menschen im Raum. Leo war ein passionierter und hochgradig begabter Zeichner, der an entscheidenden Stellen seiner Skizzen und Pläne menschliche Figuren einfügte, die eindrucksvoll klar machen, wie er sich sowohl die Interaktion der Menschen untereinander, als auch die Interaktion der Menschen mit dem Raum und seinen Einbauten, Vorrichtungen und Möbeln vorstellte. Die dargestellten Situationen sind wiederum das Ergebnis einer minutiösen und immer auch kritischen Auseinandersetzung Leos mit der Bauaufgabe und den Vorstellungen der zukünftigen Nutzer. Dass Leo Menschen in seine Architekturpläne eingezeichnet hat, ist im Kontext der internationalen Avantgarde nicht ungewöhnlich – doch wie er sie an entscheidenden 8 Das Zitat entstammt dem deutschen Originaltext, der unveröffentlicht ist. Die entsprechende Textstelle in der englischen Übersetzung ist: Hoffmann-Axthelm, Dieter: »Ludwig Leo: Architecture on this Side of Disintegration«, in: Antje Buchholz et al. (Hg.), Ludwig Leo Ausschnitt, Ausst.-Kat. Architectural Association London, London 2015, S. 147-150, hier S. 150.
9 »Die Katze gegen den Strich bürsten. Gespräch mit Justus Burtin, Thomas Krebs und Karl Pächter«, in: BARarchitekten und Gregor Harbusch: Ludwig Leo. Ausschnitt, Ausst.-Kat. Galerie die raum Berlin, Berlin/Ludwigsburg 2013, S. 40-44, hier S. 43.
10 Siehe aktuell hierzu beispielsweise: Wagner, Monika: Marmor und Asphalt. Soziale Oberflächen im Berlin des 20. Jahrhunderts, Berlin: Wagenbach 2018.
Die Materialität des sozialen Gebrauchs
Punkten einfügte, ist nicht nur innerhalb des lokalen Bezugsfelds der West-Berliner Kollegen weitgehend beispiellos. Leos erstes eigenständiges Gebäude in Berlin ist eine kleine Kindertagesstätte in der Loschmidtstraße in Charlottenburg, die in den Jahren 1957 bis 1959 entstand (Abb. 01). Das Interesse an Fragen der Materialität und des sozialen Gebrauchs lässt sich hier bereits nachzeichnen, auch wenn Leo bei der Realisierung des Hauses einige Kompromisse eingehen musste und er seine Ideen später noch weitaus Abbildung 01: Ludwig Leo, Kindertagesstätte in der Loschmidtstraße in Berlin-Charlottenburg, 1957–59.
Foto: E. &. H. Fischer. Quelle: Ludwig-Leo-Archiv (LLA) im Baukunstarchiv der Akademie der Künste, Berlin, Nr. 103, Bl. 49.
konsequenter umsetzen konnte. Bemerkenswert ist das leider unrealisiert gebliebene Möblierungssystem für die Gruppenräume. Leo sah ein System aus Wandbänken und Liegen für den Mittagsschlaf der Kinder vor: simple, fest montierte Bänke an den Wänden, die hinten über einen langen Schlitz verfügten, in den man die Holzpritschen der Kinder für den Mittagsschlaf aufrecht hätte hineinstellen können, wenn man sie nicht benötigte. Leo war so überzeugt von seiner Idee, dass er einen Prototyp in den Rohbau des Hauses montieren ließ (Abb. 02). Die Bauherrschaft entschied sich jedoch für konventionelle Möbel. Der Blick auf Leos System ist instruktiv, denn so seltsam es im ersten Moment anmuten mag, so deutlich materialisiert sich hier ein für Leo typischer Denkansatz, die Funktionalität eines Objekts nicht nur zu optimieren, sondern so zu erweitern, dass man sich mit überraschenden Formen und Nutzungsabläufen konfrontiert sieht. Denn im Alltag der Kita verschwenden die Liegen vor allem Platz. Sie werden jeden Tag nur wenige Stunden benötigt und stehen den Rest der Zeit nutzlos herum. Das primäre Element der Liege ist wiederum ihre Fläche. Die ungenutzte R ückseite
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der Liege interpretierte Leo als Tafel und entwickelte dadurch ein Objekt, das den ganzen Tag und in zweifacher Funktion im Gebrauch hätte sein können. Vergleichbare Einbauten und Ideen für die doppelte Nutzbarkeit von Objekten und Räumen sind in ihrer seltsamen, manchmal geradezu dysfunktionalen und zugleich spielerischen Überspitzung ein Charakteristikum von Leos Arbeit, das sich auch in späteren Bauten immer wieder findet. Dabei ging es um nicht weniger als um eine klar definierte Verschränkung von Raumgestaltung und menschlichem Handeln. Abbildung 02: Ludwig Leo, Kindertagesstätte in der Loschmidtstraße in Berlin-Charlottenburg, 1957–59, Prototyp des unrealisierten Möblierungssystems im Rohbau.
Foto: Leo. Quelle: LLA, Nr. 98, Bl. 370. © Morag Leo.
Ausgehend von der Kita kann man einige interessante Bezugslinien nachzeichnen, um zu verstehen, in welchem Kontext Leos damalige Architektur zu verorten ist. Der kompakt organisierte, kubisch gestaffelte und komplett in Petrol gestrichene Bau stand im West-Berlin der ausgehenden 1950er Jahre singulär für sich. Entscheidende Inspirationen für seinen Wettbewerbsentwurf hatte Leo vermutlich aus dem Schulbauprogramm der britischen Grafschaft Hertfordshire gezogen, das er wenige Jahre zuvor bei einem Aufenthalt in London kennengelernt hatte, als er für einige Monate im renommierten Büro Yorke Rosenberg Mardall arbeiten konnte. In Hertfordshire – direkt nördlich von London gelegen – entstanden in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre über 40 Schulen, die auf einem Set von gut 50 standardisierten Bauelementen basierten.11 Ein modulares Bausystem schwebte 11 Llewelyn-Davies, Richard/Weeks, John: »The Hertfordshire Achievement«, in: The Architectural Review 111 (1952), Nr. 666, S. 367-387.
Die Materialität des sozialen Gebrauchs
auch Leo anfänglich vor, doch diese Idee musste er bald aufgeben. Wegweisend an den Bauten in Hertfordshire war auch deren farbige Gestaltung, denn die Architekten setzten in den Innenräumen großf lächig Farben ein, um einzelne Bauteile und Wände zu akzentuieren. Vergleichbares versuchte auch Leo in der Kita, musste aber auch hier wieder Kompromisse mit den Bauherren eingehen. Das Bauprogramm in Hertfordshire war ein international herausragender Ansatz, auf der Basis modularer Vorfertigung und mit architektonischem Anspruch räumlich ausdifferenzierte Schulen zu errichten, die als f lache, vielfach gestaffelte Pavillonanlagen den Kontakt zum Grünraum suchten. In eine strukturell vergleichbare, materiell aber ganz andere Richtung weist ein zweites Projekt, das Leo inspirierte: das Institut zur Erlangung der Hochschulreife in Oberhausen von Oswald Mathias Ungers. Das Oberhausener Institut war ein reformpädagogisches Kolleg und richtete sich nicht zuletzt an Arbeiter*innen, die auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur machen wollten. Das Haus gilt – neben den frühen Wohnhäusern – als ein Schlüsselbau des jungen Ungers.12 Leo hatte 1955 einige Monate in Köln bei Ungers am Oberhausener Institut mitgearbeitet und dort den Trakt mit den Wohnbereichen gezeichnet. Die Architekten arbeiteten hier mit einer Struktur aus vier Quadraten, die leicht versetzt zusammengeschoben wurden, so dass ein windmühlenartiger Grundriss entstand, der eine verdichtete und in sich zentrierte räumliche Ordnung schafft. Leo griff diese Struktur beim Entwurf seiner Kita auf und entwickelte sie weiter. Im Gegensatz zu Ungers gelang es ihm, fast vollständig auf Flure zu verzichten – zu Gunsten eng miteinander verschalteter Räume, die man als Katalysatoren sozialen Austausches verstehen kann (Abb. 03). Architektonisch weitaus ambitionierter und bekannter als das Oberhausener Institut ist das im Frühjahr 1960 eröffnete Waisenhaus in Amsterdam, das als Schlüsselbau des niederländischen Strukturalismus gilt.13 Architekt des Waisenhauses war Aldo van Eyck, der ein Mitbegründer des Team X war. Immer wieder wird Leos Kita als ein frühes und fast schon apokryphes Beispiel des architektonischen Strukturalismus beschrieben und mit dem Waisenhaus verglichen. Zumindest auf der Ebene der Grundrissorganisation ist das nicht wirklich zielführend, denn Leo ging es weniger um eine repetitive und offene Struktur mit großzügigen Erschließungsbereichen, sondern um ein in sich geschlossenes und genau durchdachtes Raumgefüge. Interessanter sind die geometrisch strengen Einbauten van Eycks, die sowohl im Gebäudeinneren als auch im Außenbereich zum konkreten Gebrauch einladen. Überall findet man fest installierte Bänke, 12 Klotz, Heinrich: O. M. Ungers. 1951-1984. Bauten und Projekte, Braunschweig/Wiesbaden, Vieweg 1985, S. 10-14.
13 Bekkers, Gaston: Aldo van Eyck. Orphanage Amsterdam. Building and Playgrounds, Amsterdam: Architectura & Natura 2018.
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Stufen, Tische, halbhohe Mauern, Nischen, Leseecken, Spielhäuser oder offen im Raum stehende Küchenzeilen aus Sichtbeton und Ziegeln, die sich in geradezu poetischer Abstraktion in den Raum einschreiben. In ihrer materiellen Präsenz und Konzeption als physische Objekte, in denen sich Gebrauch und räumliche Gestaltung verdichten, weisen sie in eine vergleichbare Richtung wie Leos Ein- und Ausbauten, auch wenn diese weitaus bescheidener ausfielen – und eher als simpler Gebrauchsgegenstand und weniger als ästhetisches Objekt gedacht waren. Abbildung 03: Ludwig Leo, Kindertagesstätte in der Loschmidtstraße in Berlin-Charlottenburg, 1957–59, Grundriss.
Quelle: LLA, Nr. 98, Bl. 357. © Morag Leo.
Nachdem er mit der Kita reüssiert hatte, wurde Leo 1960 vom damals neu berufenen Senatsbaudirektor Werner Düttmann als einer von sechs Architekten eingeladen, am Bauwettbewerb für die Sporthalle Charlottenburg teilzunehmen. Leo konnte das Verfahren für sich entscheiden und wurde mit dem 1964 eröffneten größten Neubau einer Sporthalle in West-Berlin seit dem Krieg über den Kreis der Fachkollegen hinaus als Architekt bekannt. Die Sporthalle ist Leos erstes Bauprojekt, zu dem sich ein umfangreicher Bestand an knapp 300 Zeichnungen im DIN A4-Format erhalten hat, die eindrucksvoll belegen, wie er alle Details eines großen öffentlichen Gebäudes akribisch durchplante, weitgehend selbst zeichnete und welchen gestalterischen Anspruch er dabei auch an scheinbar nebensächliche Details des Gebäudes stellte – etwa an Geländer, Griffe und Stufen. Neben der herausragenden Konstruktion der eigentlichen Halle – bei der sich Leo und sein Bauingenieur Joachim Tesch an den Bauten des Italieners Pier Luigi Nervi orientierten und lokale Entwicklungen des Bauens mit Fertigteilen
Die Materialität des sozialen Gebrauchs
aufgriffen – ist insbesondere interessant, wie Leo eine »Materialität des sozialen Gebrauchs« umzusetzen versuchte, indem er die gemeinhin nebensächlichen Verkehrsf lächen und Zuschauerbereiche durcharbeitete. Raumbegrenzungen, Ausbauten und architektonische Details wurden so gestaltet, dass sie einfache physische Interaktionen zwischen Mensch und Architektur anregen. Die FiguAbbildung 04: Ludwig Leo, Sporthalle Charlottenburg, 1960–64, Querschnitt durch oberste Bankreihe.
Quelle: LLA, Nr. 99, Bl. 157. © Morag Leo.
ren in Leos Plänen machen diese Bemühungen visuell nachvollziehbar: Sie zeigen, wie sich Leo der Maßstäbe und Proportionen seines Entwurfs versicherte und wie er die Potentiale des konkreten Gebrauchs zeichnerisch überprüfte (Abb. 04). So unauffällig diese Aspekte des beiläufigen Gebrauchs auch erscheinen mögen, so deutlich ziehen sie sich durch die architektonischen Details und fast immer ging es Leo dabei auch um soziale Interaktion. Die besonderen Qualitäten dieser Lösungen in der Sporthalle sind das Nebensächliche und ihre Offenheit, in der eine bestimmte Nutzungsweise zwar durchdacht, aber durch die Ausgestaltung
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nicht offensiv nahegelegt wird, und die wiederum mit der robusten Präsenz und Ausführung in Sichtbeton und Stahl korrespondieren. Vor dem Hintergrund der Frage nach der »Materialität des sozialen Gebrauchs« sind Leos Zeichnungen auch deswegen hochinteressant, da sie der Phase der Ausführungsplanung und damit dem letzten zeichnerischen Planungsstand vor der Realisierung entstammen. Für gewöhnlich kommt diese Phase ohne Abbildung 05: Ludwig Leo, Sporthalle Charlottenburg, 1960–64, Blick auf die Regiekanzel.
Foto: Leo. Quelle: LLA, Mappe 89, Bl. 1. © Morag Leo.
menschliche Darstellungen aus, da sie allein auf die technische und bauliche Umsetzung der Idee des Architekten durch den Fachplaner oder Handwerker zielt.14 Leos Figuren brechen mit dieser zeichnerischen Konvention des Planungsprozesses, indem sie genau an dem Punkt, an dem die Idee zur materiellen Realität wird, daran erinnern, dass das gebaute Ergebnis als Gegenstand der physischen Erfahrung und Interaktion funktionieren muss. Das Einschreiben von Gebrauchsmomenten in die architektonische Form trieb Leo bei der Regiekanzel hoch über dem Spielfeld ins Extreme (Abb. 05 und Abb. 06). Die Kanzel ist eine schmale Konstruktion aus weiß lackiertem Metall und Glas, die auf relativ beengtem Raum drei Plätze für Kommentatoren und Regie bietet. Ein horizontaler Streifen teilt die großf lächige Verglasung in einen oberen und 14 Ganzoni, David: »Archive der Arbeit. Vermittlung zwischen Zeichentisch und Baustelle«, in: Annette Spiro/David Ganzoni (Hg.), Der Bauplan. Werkzeug des Architekten, Zürich: Park Books 2013, S. 264-266.
Die Materialität des sozialen Gebrauchs
einen unteren Bereich. In der Seitenansicht zeigt sich die Regiekanzel mit ihrer geknickten Umrisslinie als eine sprechende Form, die ihre Funktionen – Überblicken und Kontrollieren – auf technisch konnotierte und abstrahierte Weise zum Ausdruck bringt. Wer die Regiekanzel betritt und sich auf einen der niedrigen Klapphocker setzt, wird augenblicklich erkennen, dass die fest installierte Möblierung und die Fensterform die Betrachter*innen physisch zur Konzentration Abbildung 06: Ludwig Leo, Sporthalle Charlottenburg, 1960–64, Querschnitt durch die Regiekanzel mit Anmerkungen für eine Publikation der Zeichnung.
Quelle: LLA, Nr. 99, Bl. 81. © Morag Leo.
auf das Spielgeschehen zwingen, denn der geschlossene Streifen zwischen unterer und oberer Fensterf läche versperrt den geraden Blick nach außen und verlangt ein Vorbeugen und Hinabblicken auf das Spielfeld. Raum, Möblierung und Fensteröffnungen konfigurieren einen präzisen Gebrauch, indem sie die Körper in ein knapp bemessenes räumliches Gefüge setzen, das mit einfachen Mitteln die Fokussierung der Beobachter*innen auf das sportliche Geschehen einfordert und dies in eine sprechende architektonische Form übersetzt. In der Regiekanzel verschmelzen zwei für Leo entscheidende, konzeptionelle Themen auf geradezu paradigmatische Weise, nämlich das komplexe Verhältnis von innerer Funktion
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und äußerer Form – und eine rigide Innenraumorganisation, die Leo aus der zugespitzten Interpretation von Nutzerbedürfnissen ableitete und die auf minimale Abmessungen und feste Einbauten setzt. 1967, also drei Jahre nach Fertigstellung der Sporthalle entwarf Leo schließlich sein wichtigstes und anspruchsvollstes Gebäude: die Bundeslehr- und Forschungsstätte der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft DLRG am Ufer der Havel in Berlin-Spandau (Abb. 07). Die sogenannte DLRG-Zentrale umfasst eine große Bootswerkstatt, eine Einsatzleitstelle, Schulungsräume, Büros und Unterkünfte. Zusätzlich diente das schmale, 11-geschossige Gebäude ursprünglich als Winterlager für die Boote der Wasserrettung. Ein Sliplift, den Leo in die 44 Grad schräg ansteigende Westfassade einbauen ließ, hob die Rettungsboote aus dem Wasser und beförderte sie in das Haus hinauf, wo sie auf acht Ebenen eingelagert werden konnten. Durch diese originelle technische Lösung konnte Leo auf eine eigentliche Lagerhalle verzichten. Diese hätte viel Platz im sensiblen Uferbereich der Bucht verbraucht und wäre im Sommer monatelang leer gestanden. Im Gegensatz dazu erlaubte Leos Lösung, dass die Bootslagerf lächen im Sommer durch die Menschen im Haus für die unterschiedlichsten Zwecke genutzt werden können. Mit dem Sliplift und der Frage des Winterlagers ist man wieder dort angekommen, wo es am Anfang mit den Liegen für den Mittagsschlaf in der Kita begonnen hatte: Leo wollte Raumvergeudung vermeiden und versuchte deshalb Objekte zu entwerfen, die mehr als eine einzelne Funktion erfüllen können. Durch den spektakulären Sliplift konnte er auf eine banale Lagerhalle verzichten – ganz ähnlich wie sein unrealisiert gebliebenes System aus Liegen mit Malf lächen Stauraum in der Kita gespart hätte. Auf konzeptueller Ebene ist die DLRG-Zentrale freilich ganz anders zu verorten als die Kita, wo die Frage der doppelten Nutzbarkeit sich auf Einbaumöbel reduzierte. Die DLRG-Zentrale ist ein echter Hybrid aus Maschine und Architektur. Hier wurde die technische Anlage zu einem substantiell bestimmenden Faktor des architektonischen Entwurfs. Das Haus kann als eine Art optimierter Apparat verstanden werden, der an die technologischen Utopien der britischen Gruppe Archigram und den russischen Konstruktivismus der Zwischenkriegszeit erinnert. Die von Leo vorgeschlagene Winterlagerung scheiterte aber bereits nach wenigen Jahren am hohen Arbeitsaufwand, der den ehrenamtlichen Mitgliedern der DLRG zu viel wurde. Leos Interesse an mechanischen Lösungen wie dem Sliplift reicht bis in seine Studienzeit Anfang der 1950er Jahre zurück. Damals arbeitete er bei den Brüdern Hans und Wassili Luckhardt – zwei bereits ergrauten Protagonisten der Berliner Avantgarde der goldenen 1920er Jahre. Hans Luckhardt war der Tüftler des Architekten-Duos, der bereits nach dem Ersten Weltkrieg mit neuen Materialien und Bautechniken experimentiert hatte. Für ihn baute der Student Leo aus Steinpappe, Gummibändern, Nadeln und Zwirn Funktionsmodelle für soge-
Die Materialität des sozialen Gebrauchs
nannte »Bewegungsstühle« – das sind mechanisch verstellbare Sitzmöbel, die es bereits seit dem späten 19. Jahrhundert gab und die in Flug- und Fahrzeugen zum Einsatz kamen oder als Lazarettstühle und später als hochwertige Sessel verkauft wurden.15 In diesen Möbeln überlagern sich zwei Themenkomplexe, die Leo zeitlebens beschäftigt haben. Erstens haben diese Stühle mit der Ausstattungspraxis kompakter und enger Fahrzeugräume zu tun – etwa Schlafwagenkabinen oder Abbildung 07: Ludwig Leo, DLRG-Zentrale in Berlin-Spandau, 1967-71, Blick in die geöf fnete Werkstatt und auf den Sliplif t.
Foto: Ingeborg Ullrich. Quelle: LLA, Nr. 96, Bl. 14.
Schiffe –, die nicht nur Leos Entwurfsdenken inspirierten, sondern bereits viele Architekt*innen der Zwischenkriegszeit fasziniert hatten. Zweitens zielen diese Stühle – sofern es nicht um Luxus und Bequemlichkeit ging – oft auf körperlich Beeinträchtige. Die Relevanz mechanischer Hilfsmittel im Alltag körperlich beeinträchtigter Menschen konnte Leo aus eigener Erfahrung sehr genau erfassen, 15 Schliephacke, Fridtjof: »Erinnerungen an Hans Luckhardt. Erfinder, Konstrukteur, Architekt«, in: Brüder Luckhardt und Alfons Anker. Berliner Architekten der Moderne, Ausst.-Kat. Akademie der Künste Berlin, Berlin 1990, S. 98-112.
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denn er war kurz vor Ende des Krieges schwer verletzt worden und hatte ein Bein verloren. Leos Zusammendenken von gestaltetem Objekt, Körperlichkeit der Nutzer und Performanz hat in der Arbeit für Hans Luckhardt sicherlich eine ihrer entscheidenden Wurzeln. Hier lernte er eine sehr spezielle Form der Begegnung mit dem Materiellen kennen, die man vielleicht am besten als ein materielles Begreifen des Mechanischen beschreiben kann. Bezeichnenderweise hat man es hier Abbildung 08: DLRG-Zentrale in BerlinSpandau, 1967-71, Längsschnitt durch die Einsatzleitstelle auf Deck B.
Quelle: LLA, Nr. 93D, Bl. 136. © Morag Leo.
auch mit einer Verschiebung innerhalb des Feldes der gestalterischen Praxis zu tun – hin zu einem Spezialbereich des Designs, der eng mit dem Denken von Ingenieuren verbunden ist. In der DLRG-Zentrale konnte Leo diese Erfahrungen konsequenter als in jedem seiner anderen Projekte zum Einsatz bringen. Geradezu manisch arbeitete er sich an der räumlichen Organisation, der Enge und den funktional optimierten Möbeleinbauten von Schiffen ab und brachte in einem nur zehn Meter schmalen Haus ein komplexes Raumprogramm unter. Der außen liegende Sliplift ist zwar konstitutiv für das Haus, doch erst ein Blick in das Innere verdeutlicht, dass es Leo bei seinem Entwurf nicht nur um eine ästhetische
Die Materialität des sozialen Gebrauchs
Inszenierung technischer Zusammenhänge ging, sondern dass er durch die interne Organisation und die Ausgestaltung der Räume die Formation von unterschiedlichen Gruppen des Arbeitens, Lernens und temporären Wohnens fördern wollte. Herzstück des Hauses ist die Einsatzleitstelle, von der aus die Einsätze koordiniert wurden und werden (Abb. 08). Leo organisierte die Leitstelle als engen, schlauchartigen Raum, in dem die Arbeitsplätze kompakt hintereinander liegen: Ganz vorne sitzen Einsatz- und Stationsleiter, dahinter der Funker und ganz hinten der technische Leiter des Hauses. Zwischen den Arbeitsplätzen befinden sich fest installierte Tische, die jeweils die ganze Raumbreite einnehmen und genau definierten Aufgaben dienen. Für den nächtlichen Wachdienst plante Leo anfänglich klappbare Schlafsessel, später skizzierte er die potentielle Umnutzung eines der Tische als Schlafplatz. Die Hängung der Einsatzkarten sowie die Anordnung der Telefon- und Funkplätze sind genau festgelegt. Obwohl es de facto nur vier Arbeitsplätze gibt, fügte Leo auffällig viele Figuren in seine aufwändigen Zeichnungen des engen Raums ein, dessen räumliche Logik irgendwo zwischen Fahrzeug und begehbarem Kleiderschrank zu verorten ist. Eine vergleichbar enge Verknüpfung von Raum, Einbaumöbeln und Gebrauchsabläufen findet man in der nur 17 Quadratmeter kleinen und fensterlosen Küche der DLRG-Zentrale (Abb. 09). Leo realisierte eine Einbauküche mit zwei beweglichen Elementen, die unterschiedliche Nutzungssituationen ermöglichen. In die Mitte des Raums setzte er eine Küchenzeile, durch die er nicht nur die Bewegungsmöglichkeiten der Nutzer und ihre Arbeitsbereiche klar definierte und beschränkte, sondern deren Arbeitsplatte auf Schienen montiert wurde. Die Platte kann so verschoben werden, dass man entweder auf der einen oder der anderen Seite um die zentral im Raum platzierte Küchenzeile herumgehen kann. Das zweite bewegliche Element ist ein kleiner Tresen, der so vor die Tür zum großen Saal der DLRG-Zentrale geschoben werden kann, dass der Durchgang zu einer Essens- und Getränkeausgabe wird. Durch seine Küchengestaltung forderte Leo die Bereitschaft der Nutzer, diszipliniert und kooperativ im Raum zu agieren. Doch bevor man die Küche als autoritäre und abgehobene Setzung des Architekten kritisiert, sollte man wissen, dass sie in enger Verbindung mit Leos eigener Küche steht. Diese konnte er kurz nach Fertigstellung der DLRG-Zentrale Anfang der 1970er Jahre realisieren. Damals baute er in den sieben Meter langen und maximal 126 Zentimeter breiten Flur im Seitenf lügel seiner großbürgerlichen Altbauwohnung eine graue Einbauküche ein, die an der schmalsten Stelle einen nur 40 Zentimeter breiten Durchgang hatte und deren abgehängte Decke auf genau zwei Meter Höhe lag. Seine eigene Küche war also noch weitaus kompakter als die Küche in der DLRG-Zentrale. Hier trieb Leo die Idee des funktional optimierten Arbeitsraums auf minimaler Grundf läche bis zur Grenze des Möglichen. Funktionalität kippte ins
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Dysfunktionale, der tägliche Gebrauch wurde zum radikalen Wohnexperiment. Aufwändig gekocht hat Leo in seiner Küche nicht, aber er hat sie unverändert vier Jahrzehnte lang bis zu seinem Tod genutzt. Die Küche der DLRG-Zentrale ist bis heute im Gebrauch, Leos Einbauten im zweigeschossigen Saal haben sich nicht bewährt und existieren nicht mehr. Leo arbeitete hier mit zwei an der Galerieebene drehbar gelagerten TribünenelemenAbbildung 09: Ludwig Leo, DLRG-Zentrale in Berlin-Spandau, 1967-71, Schnitt durch Küche und Einbaumöbel.
Quelle: LLA, Nr. 93A, Bl. 234. © Morag Leo.
ten, die bei Bedarf nach unten geklappt werden konnten, um als steil ansteigende Sitzränge zu dienen. Die beiden schmalen Galerien seitlich dieser Tribünen konzipierte er wiederum auf sehr ungewöhnliche Weise als Stahlgerüste mit einfachen Holzbänken, die dem Aufenthalt möglichst vieler Personen dienen sollten, die hier Vorträge hörten oder an Lehrgängen teilnahmen. Eine Schnittzeichnung mit Figuren erläutert den Gebrauch der Vorrichtung, die Sitz- und Stehmöglichkeiten für drei Reihen Menschen hintereinander anbot (Abb. 10). Entscheidend ist die simple Form. Leo begriff das Gerüst als Werkzeug und vertraute auf eine geradezu asketische Materialisierung: Das Objekt ist reduziert auf das funktional
Die Materialität des sozialen Gebrauchs
Notwendige, ein abstraktes, robustes und spartanisches Gerüst aus Stahlrohren und Holzbrettern, einfach, hart und abweisend in der Form, dessen Zweck sich erst durch die Benutzung verdeutlicht. Durch die Gestaltung der Galerien und die klappbaren Tribünen wollte Leo nicht nur ein Maximum an Menschen in den zweigeschossigen Saal bringen, sondern schuf die räumliche Voraussetzung für ein dichtes, zentriertes Setting – eine Arena des gemeinsamen Lernens. Abbildung 10: Ludwig Leo, DLRG-Zentrale in BerlinSpandau, 1967-71, Querschnitt durch die Galerie im doppelgeschossigen Saal.
Quelle: LLA, Nr. 93A, Bl. 221. © Morag Leo.
Die drei gezeigten Beispiele sind gerade in ihrer Überspitzung aussagekräftig. Räumliche Enge, fest installierte Möbel, eine akribisch durchgeplante Ausstattung sowie minutiöse Vorstellungen über die Bewegungsabläufe und den sozialen Gebrauch des Raumes verdichten sich hier idealtypisch zu materiellen Settings, in denen Nutzer und Objekte zur präzisen Interaktion gezwungen werden. Die gezeigten Räume verraten ein extremes Engagement Leos, auf der materiellen Ebene von Raum und Möblierung eine Ordnung zu fixieren, die eine spezifische physische Nutzung erzwingt, die wiederum als Grundlage sozialer Prozesse des
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gemeinsamen Arbeitens und Lernens begriffen wurde. Leos Architektur definiert sich dabei weniger über die Materialästhetik als über die materiellen Anordnungen und Gebrauchsweisen; sie erinnert bisweilen an Versuchsanordnungen aus Mensch, technischem Objekt und architektonischer Konstruktion. Auch die Materialwahl unterstützt die technische Erscheinung, sie wirkt mitunter kalt und abweisend. Leo setzte auf Sichtbeton, Stahl und Farbe. Die Qualitäten des gemeinhin als warm und positiv konnotierten Materials Holz spielten für ihn nur eine untergeordnete Rolle. Dies ist nicht nur eine ästhetische Vorliebe, sondern entspringt seinem Verständnis von Architektur. Leo interessierte sich nicht für Atmosphären, stattdessen inszenierte er in seinen Entwürfen das Spartanische und das Technisch-Mechanische. Seine Architektur sollte in den Alltag eingreifen, das Handeln des Einzelnen und damit letztlich die Gesellschaft verändern. Sie war nie utopisch gedacht, sondern zielte immer auf den konkreten Gebrauch der gesellschaftlichen Realität. In diesem Sinne ist Leos Architektur einerseits das Ergebnis einer sehr individuellen Vorstellungswelt, anderseits in ihrem Glauben an die Veränderungspotentiale des architektonischen Projekts auch ein typisches Beispiel für die spätmoderne Avantgarde der langen 1960er Jahre.
Der ›Geist in der Kiste‹ Begegnungen mit dem Materialen in der Architektur nach dem digital turn Alina Wandelt und Thomas Schmidt-Lux
Nach den Möglichkeiten befragt, die digitale Entwurfstechniken der Architektur heute bieten, greift ein von uns interviewter Architekt zum Vergleich: Das 3D-Modell des geplanten Gebäudes, ermöglicht durch einen zentralen Computer, »wo das alles reingeht und wo alle drin arbeiten«, sei im Grunde »ja, wie soll man sagen, als Geist in der Kiste« zugegen. Flüchtig, kaum greif bar und raumfüllend der Geist, fest und unveränderlich die Kiste. Mit dieser Metapher ist das Interesse und Thema des folgenden Aufsatzes so genau wie kryptisch benannt. Es geht im Folgenden um Begegnungen von Architekt*innen mit Materialem im digitalen Zeitalter 1. Mit Begegnungen meinen wir das Verhältnis von Architekt*innen und ihren Entwurfs- und Arbeitsmitteln, die auf eine ganz bestimmte Art und Weise wahrgenommen, mit spezifischen Eigenschaften beschrieben werden und den Arbeitsprozess der Architekt*innen auf spezifische Weise beeinf lussen. Wir interessieren uns für die unterschiedlichen Eigenschaften der Materialitäten, die in diesen Beschreibungen zutage treten und die damit verbundenen Konsequenzen für das Arbeiten unter digitalen Bedingungen. Wie lassen sich die unterschied1 Wir sprechen im Folgenden vom Materialen statt vom Materiellen, um die Assoziation zum antithetischen Immateriellen soweit als möglich zu vermeiden. Analog zu Derrida, der im Gespräch mit Lyotard vom »Immaterialien« spricht, um eine Struktur zu benennen, »in der der herkömmliche Gegensatz zwischen Geist und Materie keinen Platz mehr hat« aus: Lyotard, Jean-François: Immaterialität und Postmoderne, Berlin: Merve-Verl. 1985, S. 23. Der Begriff des Materialen bietet insofern den Vorteil eines begrifflichen Zwischenbereichs, wie Christiane Schürkmann schreibt: »Was eröffnet der Blick auf das Material? Während das Ding vornehmlich auf seinen Gebrauch, das Artefakt auf seine Inskriptionen und das Objekt auf seine Differenz zum Subjekt verweisen, wird mit dem Material ein Zwischenbereich hinzugewonnen«, Schürkmann, Christiane: »Eisen, Säure, Rost und Putz. Material in der bildenden Kunst«, in: Herbert Kalthoff/Torsten Cress/Tobias Röhl (Hg.), Materialität: Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 373-374.
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lichen Materialitäten differenzieren? Und welche Konsequenzen ergeben sich aus der unterschiedlichen Wahrnehmung der Arbeitswerkzeuge für die Praxis des Entwurfsprozesses?2 Wir gehen diesen Fragen auf der Grundlage von Interviews nach, die wir zwischen 2018 und 2019 im Rahmen des BMBF-Projekts Die digitale Stadt erhoben haben. Die offenen, leitfadenorientierten3 Interviews wurden in Architekturbüros durchgeführt, die nach ihrer Sichtbarkeit im Feld der Architektur ausgewählt und nach regionaler Varianz zusammengestellt worden sind. Die Sichtbarkeit im Feld bemisst sich dabei auf der Grundlage von Besprechungen in einschlägigen Architekturfachzeitschriften. Insgesamt liegen zwölf Gespräche mit einer Dauer von jeweils etwa anderthalb Stunden vor. Die Gespräche sind transkribiert und anschließend unter Bezugnahme auf Auswertungstechniken der Grounded Theory4 und der Objektiven Hermeneutik 5 sequentiell interpretiert worden. Damit ist keine thematische Zusammenfassung oder Paraphrasierung des Gesagten gemeint, sondern eine Analyse, die eine Theoretisierung des Zusammenhangs der Wahrnehmungen der Entwurfsmittel der Architekt*innen und den damit verbundenen Folgen für das architektonische Arbeiten anstrebt. Ein solcher rekonstruktiver Zugang bietet sich insofern an, als er es ermöglicht zu sehen, ob und inwiefern Materiales für das Arbeiten von Architekt*innen eine Rolle spielt – anstatt dessen Wirkmächtigkeit im Voraus festzulegen. Die Theoretisierung erfolgt also nicht hypothesenprüfend, sondern in Interaktion mit den generierten Daten in einem fortlaufenden Wechsel von Datenerhebung und -auswertung. Zusammengefasst werden wir feststellen, dass die Begegnung der Architekt*innen mit ihren Entwurfsmitteln unterschiedlich ausfällt: Je nach Entwurfsmittel unterscheiden sich Zustand und Erscheinung der jeweiligen Materialität in ihrer Beschaffenheit und ihren Eigenschaften. Wir schlagen vor, diese unterschiedlichen Wahrnehmungen des Materialen analytisch mithilfe von drei Aggregatzuständen – fest, gasförmig und f lüssig – zu differenzieren. Diese Unterscheidung von Materialitäten und ihre Typisierung als Aggregatzustände bezieht 2 Unter Arbeitswerkzeugen des Entwurfsprozesses fassen wir im Beitrag Werkzeuge im engeren Sinne (z.B. Stifte und Rechner), als auch Werkzeuge im weiteren Sinne auch als diejenigen Werkzeuge, die dem Entwurfsprozess in irgendeiner Form dienlich sind und damit Zwischenergebnisse des Entwurfsprozesses beinhalten können (z.B. Zeichnungen und Renderings), die beim Entwerfen entstehen und im weiteren Prozess als Werkzeuge zum Einsatz kommen.
3 Damit wurde gewährleistet, dass die uns im Speziellen interessierenden Themen ausreichend Berücksichtigung fanden, wir aber zugleich offen blieben für eigene Schwerpunktsetzungen und Relevanzen der Befragten.
4 Vgl. Corbin, Juliet/Strauss, Anselm: Basics of Qualitative Research: Techniques and Procedures for Developing Grounded Theory, California: SAGE Publications 2008.
5 Vgl. Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika: Qualitative Sozialforschung: Ein Arbeitsbuch, München: Oldenbourg 2008, S. 240-271.
Der ›Geist in der Kiste‹
sich dabei nicht auf eine tatsächliche, chemisch-physikalische Unterscheidung verschiedener Erscheinungs- und Zustandsformen von Materie, sondern dient als Analogie, um die unterschiedlichen Wahrnehmungen prägnanter beschreiben zu können. Die Kategorien fest, f lüssig, gasförmig sind insofern weniger als starre Typen, denn als Ausprägungen auf einem Kontinuum zu verstehen, das es erlaubt, Materialitätswahrnehmungen innerhalb des Spektrums vom festeren zum gasförmigeren zu verorten. Der Aggregatzustand des Flüssigen erscheint uns dabei als charakteristischer Aggregatzustand des Digitalen. In einem zweiten Teil fragen wir nach den damit verbundenen Folgen digitalen Entwerfens für das Arbeiten von Architekt*innen. Welche Konsequenzen ergeben sich aus Sicht der Architekt*innen? Wie zu zeigen sein wird, hängen die unterschiedlichen Wahrnehmungen des Materialen mit unterschiedlichen Zeitwahrnehmungen zusammen. Digitales Entwerfen führt dabei – entgegen der Erwartung – nicht zwangsläufig zu einer Zeitwahrnehmung, die sich als kürzer, schneller, f lexibler darstellt, sondern kann, je nach Entwurfsmittel, auch als arbeitsintensiver, träger und unf lexibler erscheinen. Daraus lassen sich Hinweise für das Verständnis von Digitalisierung und ihrer Folgen ableiten, die häufig immer noch zu linear und undifferenziert dargestellt werden.
1. Entwerfen und der digital turn Mit Reckwitz lässt sich Digitalisierung als ein gesellschaftlicher Strukturwandel beschreiben, der im »Zusammenspiel algorithmischer Verfahren des Computing, der Digitalisierung medialer Formen und des Kommunikationsnetzwerks des Internets« besteht6. Dieser Strukturwandel technologischer Systeme hin zu Digitalisierung, Computerisierung und Vernetzung hat auch die Architektur nicht unberührt gelassen, wenn nicht sogar verhältnismäßig früh beeinf lusst: Schon in den 1980er Jahren nutzen Architekt*innen sogenannte CAD-Programme (Computer Aided Design), die Entwurfsprozesse rechnergestützt erleichtern. Mit Hilfe der CAD-Programme wird sowohl die (zweidimensionale) Erzeugung und Bearbeitung eines Entwurfsmodells, als auch die Modellierung und Berechnung mittels Software unterstützt. Gleichzeitig hat sich das Arbeiten von Architekt*innen mit dem Einzug digitaler Technologien nur scheinbar entmaterialisiert.7 Denn auch 6 Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten: zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 226
7 Vgl. Kittler, Friedrich. A.: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 1992; Passoth, Jan-Hendrik.: Hardware, Software, Runtime: Das Politische der (zumindest) dreifachen Materialität des Digitalen, in: Behemoth 10, 1 (2017). Siehe: https://doi.org/10.6094/behemoth.2017.10.1.946.
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digitale Technologien beruhen auf ganz konkreter Hardware, Serverräumen, Kabeln und Siliziumchips. Dass Materialität für das architektonische Arbeiten auch im digitalen Zeitalter eine Rolle spielt, steht insofern außer Frage. Offen bleibt hingegen, wie Digitalisierungsprozesse und deren materiale Dimensionen architektonisches Arbeiten genau beeinf lussen und wie Architekt*innen in der Folge Materialität begegnen. In der Architekturtheorie werden diese Wandlungsprozesse durch Digitalisierung unter dem Begriff digital turn verhandelt, der in Regel auf das Jahr 1990 8 oder 1992 datiert9 wird. Er bezeichnet eine Reihe von Veränderungen in der Arbeit von Architekt*innen, die im Wesentlichen der von Reckwitz aufgerufenen Trias entsprechen: Erstens die zunehmende Verwendung von Computern beim Entwerfen und Entwickeln von Bauten, zweitens die Produktion und Verwendung von digitalen Zeichnungen, Bildern und Ansichten, und drittens das vernetzte Arbeiten, das sich anfangs noch auf die interne Zusammenarbeit von Büros beschränkte und nunmehr büroübergreifende, globale Kooperationen zulässt. Diese drei Entwicklungen treffen heute vor allem im sogenannten Building Information Modeling (BIM) zusammen, das darauf abzielt, Entwurf, Planung, Produktion und Instandhaltung von Architektur in einem digitalen Modell zu integrieren und mit Hilfe standardisierter Datenformate so vollständig wie möglich maschinenles- und berechenbar zu machen. Der wesentliche Unterschied zum (individuellen) computerunterstützten Zeichnen liegt hier darin, mithilfe von BIM ein digitales Modell für alle herzustellen und damit nicht nur alle möglichen Aspekte der Architektur (Entwurf, Planung, Konstruktion, Instandhaltung) zu integrieren, sondern auch alle Beteiligten zu vernetzen.10 Damit sind die umfassenden Veränderungen und neuen Bedingungen skizziert, vor deren Hintergrund wir der Frage nachgehen, wie und auf welchen Ebenen sich heute die vielfältigen Beziehungen von Architekt*innen und Materialität konstituieren und welche Folgen das für das Arbeiten der Architekt*innen im digitalen Zeitalter hat. 8 Vgl. Schirrmacher, Carin: Paradoxien des Digital Turn in der Architektur 1990–2015. Von den Verlockungen des Organischen: Digitales Entwerfen zwischen informellem Denken und biomorphem Resultat, Diss. Uni Heidelberg 2017.
9 Vgl. Carpo, Mario/Gleiter, Jörg H.: Alphabet und Algorithmus: Wie das Digitale die Architektur herausfordert, Bielefeld: transcript 2012; Carpo, Mario (Hg.), The Digital Turn in Architecture 1992-2012, Chichester: Wiley 2013.
10 BIM wird von den interviewten Architekten als das Thema aufgerufen, wenn es um Digitalisierung geht. Eine informierte Genese von BIM findet sich vor allem bei Bovelet, dessen genaue, technische Bestimmung in diesem Beitrag keine weitere Rolle spielen soll, da wir stärker – aus Sicht der Architekt*innen – an den Folgen für die Arbeit mit digitalen Entwurfswerkzeugen und -methoden interessiert sind. Vgl. Bovelet, Jan: »Digitale Standards – Eine kurze Geschichte der Gebäudedatenmodellierung«, in: ARCH+ 233 (2018), S. 73.
Der ›Geist in der Kiste‹
2. Aggregatzustände digitalen Entwerfens Wurde Materiales lange als »das ausgeschlossene Dritte« marginalisiert,11 betrachten es die Sozial- und Geisteswissenschaften mittlerweile überwiegend als konstitutive Dimension des Sozialen.12 Was genau dieses Materiale aber ist, wird in einem Großteil der Positionen entweder implizit vorausgesetzt oder verkürzend auf das Feste begrenzt gedacht: Das Materiale ist dann die »konkrete, physische Beschaffenheit«13, zeichnet sich durch die Benennbarkeit seiner »physischen Bestandteile und Eigenschaften«14 und/oder seine »Stoff lichkeit«15 aus. Diesem spezifischen Verständnis von Materialem als etwas Festem stehen die Beschreibungen der Entwurfsmittel aus unseren Interviews gegenüber, die sich für die Architekt*innen ganz unterschiedlich darstellen und mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften versehen sind. Um diese differenzierten Wahrnehmungen fassen zu können, schlagen wir eine Typologie der unterschiedlichen Wahrnehmungen von Materialem entlang von Aggregatzuständen vor, die drei Formen unterscheidet: fest, gasförmig und f lüssig. Ausgangspunkt der Unterscheidung ist der wahrgenommene Aggregatszustand, also die Erscheinungs- und Zustandsform des Materialen aus Sicht der Architekt*innen. Unsere Frage lautet damit nicht, ob architektonisches Arbeiten nach dem digital turn eine materiale Dimension hat (denn diese Frage lässt sich schnell mit ja beantworten), sondern wie dieses Materiale wahrgenommen wird und welche Eigenschaften diesem zugeschrieben werden.16 11 Henkel, Anna: »Einleitung«, in: Anna Henkel (Hg.), 10 Minuten Soziologie: Materialität, Bielefeld: transcript 2018, S. 7-15; Serres, Michel: Der Parasit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987.
12 Vgl. Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias (Hg.), Materialität: Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn: Wilhelm Fink 2016; Kissmann, Ulrike T./Van Loon, Joost (Hg.), Discussing new materialism, New York, NY: Springer 2019.
13 H. Kalthoff/T. Cress/T. Röhl: Materialität: Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, S. 26.
14 Schatzki, Theodore: »Materialität und soziales Leben«, in: Herbert Kalthoff/Torsten Cress/ Tobias Röhl (Hg.), Materialität: Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 63-88.
15 Ebd. 16 Eine solche Perspektive wird auch von Kalthoff, Cress und Röhl eingefordert, wenn diese vor der Artefakt-Zentriertheit soziologischer Forschung warnen und für eine Ausweitung des Materialitätskonzeptes plädieren. Es sei eben zu beachten, »dass nicht-dingliche materielle Entitäten mitunter Eigenschaften aufweisen, die durch die bisherige Materialitätsforschung mit ihrem Fokus auf Artefakte verfehlt worden sind. So sind beispielsweise Substanzen (etwa Ölfarbe) anders als Dinge nicht klar begrenzt, behalten bei Teilung aber ihre Eigenschaften bei […]. Dementsprechend müssen Überlegungen zur Wirkung und Handlungsinitiative dieser materiellen Entitäten überdacht und neu entworfen werden«, in: Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias: »Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft«, in: Herbert Kalthoff/
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Wie die Interviews zeigen, unterscheiden sich Entwurfsmittel für die Architekt*innen darin, wie stark und auf welche Weise auf sie zugegriffen werden kann. Das daraus abgeleitete Konzept Zugriffsmöglichkeit verweist wiederum auf zwei Dimensionen: Erstens die wahrgenommene Wandelbarkeit des Entwurfsmittels; zweitens den Grad der Kontrolle, die sich über ein Arbeitsmittel aus Sicht der Architekt*innen ausüben lässt. Nehmen die Architekt*innen etwas als relativ beständig bzw. stabil, damit begrenzt wandelbar und zugleich gut kontrollierbar wahr, ordnen wir das Entwurfswerkzeug als fest ein. Nehmen die Architekt*innen etwas als f lexibel bzw. schnell wandelbar und damit aber auch weniger kontrollierbar, bezeichnen wir es als gasförmig oder f lüssig.17 Die Fragen, die die Einordnung zu den verschiedenen Typen von Aggregatzuständen leiten, lauten also: Wie gut lässt sich das Arbeitsmittel (aus Sicht der Architekt*in) in etwas anderes verwandeln? Sowie: Wie gut lässt sich Kontrolle über das jeweilige Arbeitsmittel ausüben? Diese Systematik soll im Folgenden exemplarisch anhand von einzelnen Interviewstellen deutlich gemacht werden.
2.1 Fest »Jemand, der früher zeichnen konnte, der beherrschte seinen Bleistift und der beherrschte seinen Tuschefüller Punkt Ende. Und wenn er das nicht beherrscht hat, dann konnte er es lernen, weil es war ja immer der gleiche Bleistift, da hat da hat sich ja nichts geändert [...]« Der Interviewte beschreibt hier den Umgang mit zwei recht traditionellen Entwurfswerkzeugen: dem Bleistift und Tuschefüller. Die charakteristische Eigenschaft, die diesen zugeschrieben wird ist, dass sie in einem hohen Maße beherrscht werden können. Selbst wenn dies (noch) nicht der Fall sei, fügt der Architektur hinzu, sei dieser Zustand leicht zu ändern und Kontrolle zu erzielen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens, liegt die Kontrolle nur bei der ausführenden Person, also der Architekt*in selbst. Die Handhabung ist einfach und unabhängig von anderen möglich. Der Stift lässt sich, zweitens, gut beherrschen, weil es immer der Torsten Cress/Tobias Röhl (Hg.), Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 11-41.
17 Die vorgeschlagene Typologisierung ist als Heuristik zu verstehen, die Qualitäten in ihrer wechselseitigen Differenz verdeutlicht und zeitlich sowie räumlich situiert ist. Auch wenn wir die drei Wahrnehmungsformen des Materialen analytisch voneinander trennen, tauchen sie in den ausgewerteten Interviews häufig simultan oder im schnellen Wechsel auf. So kann sich beispielsweise ein gasförmiger Aggregatzustand (der sich aus dem geisterhaften Prozessieren des Computers ergibt) unter Verwendung einer spezifischen Software schnell verflüssigen, genauso wie ein am Computer erstelltes 3D-Modell zu einem anderen Zeitpunkt äußerst starr, als fest, erscheinen kann.
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gleiche Bleistift ist. Er ist wenig wandlungsfähig und widersetzt sich einer starken Veränderung und Transformation. Anders gesagt: Die Chance zur Durchsetzung beruht hier darauf, dass sich das Werkzeug nicht verändert. Die Wahrnehmung von Materialem als etwas Festem findet sich in den Interviews vor allem in Bezug auf traditionelle Entwurfswerkzeuge, deren Wandelbarkeit begrenzt, deren Beherrschbarkeit dadurch aber hoch ist. Die Festigkeit ergibt sich aus der Gegebenheit, den Umgang autonom, also unabhängig von anderen Entitäten steuern zu können und der gleichbleibenden Form des Arbeitswerkzeuges, mit dem zu jeder Zeit auf gewohnte Art und Weise umgegangen werden kann. Stift und Tusche verhalten sich vorhersehbar und können gezielt eingesetzt werden. Zu diesem, als fest wahrgenommenem Entwurfsprozess, zählt auch der klassische Modellbau aus Holz, der sich durch eine hohe Kontrolle über die verfügbare Materialität, aber eben auch eine begrenzte Wandelbarkeit auszeichnet. Die Form des Festen ist aber nicht unbedingt nur im vor-digitalen Entwerfen zu finden. Auch Renderings, also fotorealistische und computersimulierte Darstellungen von noch nicht gebauten Gebäuden, die von Bauherren immer häufiger erwartet werden, gehen aus den Interviews als eine Materialität hervor, die sich zwar gut kontrollieren, aber schlecht wandeln lässt. Die Bilder, die vor allem in größeren Büros im Entwurfsprozess von externen Agenturen angefertigt werden, werden als ein Mittel beschrieben, dessen Wirkung sich in hohem Maße steuern und beherrschen lässt, dessen Wandelbarkeit aber äußerst gering ist. Die geringe Wandelbarkeit ist hier eine Folge der foto- bis hyperrealistischen Qualität von Renderings, die jedes einzelne Entwurfselement bis hin zur Farbe der Fensterrahmen expliziert und dadurch eine feste Erwartungshaltung aufseiten des Bauherren schafft, die als kaum veränderbar beschrieben wird. Andere Entwurfsmittel, insbesondere die Handzeichnung ermöglichen es – trotz ihrer physikalischen Festigkeit – jedem Betrachter, so ein Architekt, »noch mehr reinzulegen von seinen Sichtweisen, Vorstellungen und Wünschen«. Dies unterschiedet sie von der beschriebenen festen Materialität des Renderings: »Ein computergeneriertes, gutes Rendering ist hilfreich, aber es schließt eigene Einschätzungen, Bewertungen aus. Das muss ich so konsumieren«.
2.2 Flüssig »Ich kann natürlich in ’nem digitalen Modell am Computer schnell sagen, nee halt, ich mach’ da jetzt ’nen anderen Boden, ich mach’ den Boden jetzt ’nen schwarzen Lino oder weißes Parkett oder oder ..., das kann ich dann per Knopfdruck, kann ich klick klick klick, kann man das durchändern. Und es entsteht dann jeweils ein anderes Bild, ein anderer Raumeindruck, da ist man extrem schnell.«
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Der Wahrnehmung von Materialem als etwas Flüssigem begegnen wir in den Interviews an den Stellen, an denen die Wandelbarkeit von Dingen betont wird, zugleich aber auch die Kontrollmöglichkeiten des Materialen – im Vergleich zum Festen – begrenzter erscheinen. Die stärkere Wandelbarkeit ist vor allem bei Software der Fall, deren Nutzung die Architekt*innen gut beherrschen und die es zulässt, Materialität schnell von einem Zustand in einen anderen zu übersetzen: Mit ihrer Hilfe lassen sich Wände verrücken, Werkstoffe verändern und unterschiedliche Wettereinf lüsse simulieren. Wie im oben angeführten Beispiel, lassen sich dann schnell und per Kopfdruck unterschiedliche Beschaffenheiten des Bodens simulieren, ausprobieren, austauschen. Die Materialität ist also leichter beweglich und veränderbar, obgleich die Transformationsprozesse der einzelnen Stufen nicht immer nachvollziehbar sind. Die jedoch im Vergleich zum Festen geringere Kontrollmöglichkeit von als f lüssig wahrgenommenen Materialitäten wie Software dokumentiert sich etwa in Interviewpassagen, in denen es um Updates geht, die über Nacht erfolgen können und gewohnte Arbeits- und Bedienroutinen in Frage stellen. Wirklich sicher kann man sich nicht mehr sein, dass man am nächsten Morgen die Arbeit des vorherigen Abends in gleicher Weise fortsetzen kann und ist so dazu gezwungen ständig im Training zu sein, wie es einer der Interviewten beschreibt: »Ich hab die Haltung, ich möchte bei den Werkzeugen, die wir haben stets up to date sein und ich möchte mit den Werkzeugen versuchen möglichst viel rauszuholen. Ich weiß nicht genau, ob uns das gelingt oder wie es uns gelingt, aber die Frage ist wie viel mehr wäre noch möglich, [...] da will man einfach mehr rausholen und das beeinflusst unsere Arbeitsweise, weil wir im Prinzip ständig im Training sind.« Wie auch im Festen, das nicht nur den Umgang mit traditionellen Entwurfswerkzeugen wie Stift und Holzbau, sondern auch Renderings umfassen kann, ist auch die Erscheinungsform des Flüssigen nicht zwangsläufig auf digitale oder nicht-digitale Entwurfsmittel begrenzt. Die Qualitäten, die dem Arbeiten mit erprobter Software zugeschrieben werden, finden sich genauso in Beschreibungen von Handzeichnungen, deren f lexible Handhabung und Wandlungsfähigkeit wiederholt herausgestellt wird: »Also mit ‚ner Handskizze kann man wunderbar Dinge ausprobieren, ganz schnell Schichten übereinanderlegen, Strukturen legen, Volumen ausprobieren, Proportionen untersuchen«. Gerade die f lüssige, also dynamische, wandelbare Variante taucht in den Interviews als wichtige Qualität von Materialität im digitalen Arbeiten auf. Damit unterlaufen unsere Interviews auch eine in der Literatur dominante Vorstellung von Software als etwas, das sich notorisch der konkreten Vorstellung verweigere, wie Chun es beschreibt: »Software is, or should be, a notoriously dif-
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ficult concept. Historically unforeseen, barely a thing, software’s ghostly presence produces and defies apprehension, allowing us to grasp the world through its ungraspable mediation«18. Das erklärt sich dadurch, dass sich die wahrgenommene Kontrolle auf die Funktions-, aber auch die Nutzungsweise beziehen lässt. Auch wenn sich die Funktionsweise der Software nicht unbedingt verstehen, deren Regeln und Regeln nicht unbedingt im Einzelnen nachvollziehen lassen, ist der Umgang und die Anwendung mit Software für Architekt*innen in vielen Fällen selbstverständlich und gestaltet sich damit überwiegend f lüssig.19
2.3 Gasförmig »Wir haben jetzt grad über Weihnachten hab’ ich gedacht, ich mach’ Werkzeugpflege, so wie man das früher in ’ner Werkstatt auch gemacht hat, in der Winterzeit. Machen die Handwerker erstmal ihre Werkzeugpflege, dass sie im Sommer wieder gescheit arbeiten können und dann sind die Probleme schon losgegangen. Da machst Du ein Update und mittlerweile ist es so, dass diese ganze Infrastruktur, die man dazu braucht, [...] mit irgendwelchen Datenbanken verknüpft ist und wenn da der Wurm drin ist, dann ist es immer gleich etwas, dass man nicht mehr selbst lösen kann.« Die Wahrnehmung von Materialem als etwas Flüchtigem, in unserer Terminologie also Gasförmigem, findet sich in den Interviews vor allem in Bezug auf das sogenannte Building Information Modeling, eine noch recht neue Methode, die die vernetzte Planung, Ausführung und Bewirtschaftung von Gebäuden mithilfe von Software vorsieht. Fachplaner*innen und Architekt*innen arbeiten dabei gemeinsam an einem 3D-Gebäudemodell, das zusätzlich mit allen notwendigen Informationen versehen wird. Die Gas- oder Geisterhaftigkeit von BIM entsteht hier vor allem daraus, wie auch die zitierte Interviewstelle zeigt, dass die Kontrolle nicht mehr autonom abläuft. Sie ist von anderen am Prozess Beteiligten, aber auch von Datenbanken abhängig: »Wenn da der Wurm drin ist, dann ist es immer gleich etwas, dass man nicht mehr selbst lösen kann«. 18 Chun, Wendy H. K.: Programmed visions: Software and memory, Cambridge, Mass: MIT Press 2011, S. 3.
19 Inwiefern dieser Unterschied seit den 1980er Jahren als grundlegender Konflikt in der Architektur vorhanden ist, ist auch bei Turkle nachzulesen: »If designers did not understand how their tools were constructed, they would not only be dependent on computer experts but less likely to challenge screen realities. Other architects disagreed. They argued that, in the future, creativity would not depend on understanding one’s tools but on using them with finesse; the less one got tied up in the technical details of software, the freer one would be to focus on design«. Vgl. Garber, Richard: BIM design: Realising the creative potential of building information modelling, Chichester: Wiley 2014, S. 177.
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Im Vergleich zum Arbeiten mit Software, die auch nur in einem begrenzten Maße kontrollierbar ist, wenn z.B. Funktionsweisen nicht klar sind oder Updates diese ändern, ist die Kontrolle mit BIM noch schwieriger, da sie von anderen, nicht selbst steuerbaren Entitäten (das können hier andere am Prozess Beteiligte, aber auch die Datenbanken sein) abhängig ist. Auch hier lässt sich neben dem Beispiel aus dem digitalen Arbeiten ein ganz klassisches Beispiel des Entwerfens anführen: der f lüchtige, künstlerisch-kreative Ideenfindungsprozess selbst, der in hohem Maße als wandelbar dargestellt, aber eben auch als nur sehr begrenzt kontrollierbar beschrieben wird: »Entweder Sie haben eine Idee oder nicht. Aber das zu provozieren, [...] eine Idee zu bekommen, das kann man ja nur bedingt«. Die Entwurfsidee entzieht sich also genau wie das Arbeiten in BIM der Kontrolle: In der Wahrnehmung sind scheinbar weitere, nicht steuerbare Entitäten beteiligt, die den Ideenfindungsprozess weder vorherseh- noch beeinf lussbar machen und sich damit gasförmig der Kontrolle entziehen.
3. Die Eigenzeitlichkeit digitalen Entwerfens Digitales Entwerfen geht aber nicht nur mit einer spezifischen Wahrnehmung von Materialität einher, sondern auch mit einer Reihe von Effekten für das Arbeiten der Architekt*innen. Diese Effekte sind vor allem ganz konkrete zeitliche Folgen, genauer: eine andere zeitliche Wahrnehmung und stehen in einem engen Zusammenhang mit der differenzierten Wahrnehmung der Materialitäten der Entwurfsmittel, die in Abschnitt 2 beschrieben worden sind. Einerseits bietet sich für die Architekt*innen die Möglichkeit, Probleme früher zu lösen, weil potentielle Probleme und offene Fragen schneller als bisher sichtbar werden. Andererseits erfordert dies schon vergleichsweise früh in einem hohen Detaillierungsgrad zu entwerfen. Die Architekt*innen beschreiben dies als Zwang, Entwurfsfragen früher zu entscheiden. Prozesse, die im vor-digitalen Entwerfen erst später an die Reihe kamen, verschieben sich im digitalen Entwerfen also nach vorne.
3.1 »Es zwingt uns, Dinge früher zu lösen«: Die Verschiebung der Zeit nach vorne »Es zwingt uns, es diszipliniert uns, Entscheidungen früh zu treffen, weil wir sie aber auch früh erkennen können, also über die Sichtbarkeit in einem Modell. Selbst wir geschulten Augen wundern uns, was wir plötzlich im Modell alles entdecken, was wir wahrscheinlich in der zweidimensionalen Planung übersehen hätten. Es ermöglicht uns viel früher Dinge, früh die Dinge zu lösen [...] und zwingt uns auch, sie früh zu entscheiden.«
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In der zitierten Passage geht der Architekt auf die Eigenheiten dreidimensionalen Entwerfens ein, mit dem sich aus seiner Sicht zwei Effekte verbinden: Einerseits die Möglichkeit, Dinge früher zu lösen, andererseits der Zwang, sie früher zu entscheiden. Interessanterweise besteht die Modulation der Zeitstruktur dabei nicht in einer Zeitersparnis. Die zur Planung eingesetzte Zeit verringert sich nicht, sondern schichtet sich sequentiell anders auf. Mit BIM, so eine der Befragten, entsteht »sehr früh am Anfang ‚nen sehr hoher Zeitaufwand«, der zu einem späteren Zeitpunkt kompensiert werden kann: »Du sparst dir die Zeit hinten raus«. An der Menge der Zeit verändert sich aus Sicht der Befragten also nichts. Die temporale Modulation stellt sich hier vielmehr als eine Art zeitneutraler Handel oder Tauschgeschäft dar, bei dem ein Mehraufwand an Zeit, der zu Beginn eingesetzt wird, zu einem späteren Zeitpunkt eingespart wird. Das ist insofern überraschend, als dass der Mehrwert der Nutzung digitaler Methoden in erster Linie zeitlich begründet wird: BIM sei, so nicht nur von Anbieterseite, sondern auch durch das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) und das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) proklamiert, der effizientere Weg der Planung, der Projektrisiken und Fehler minimiere und Zeitpläne und Ausgaben optimiere.20 Im Juni 2019 ist dazu der Vertrag über die Einrichtung eines nationalen BIM-Kompetenzzentrums geschlossen worden, das ab 2020 seine Arbeit aufnehmen soll. In den Interviews wird hingegen deutlich, wie die versprochene Zeitersparnis erst durch ein stärkeres Vordenken der Architekt*innen, also eine Intensivierung von Arbeit, ermöglicht wird. Im Gegensatz zum vor-digitalen Entwerfen muss man »sehr viel in Vorleistung gehen«. Das Gebäude muss »komplett vorgedacht« werden und zwar in einer »wahnsinnigen Tiefe, inklusive Materialien, Öffnungsf lügel, wo sind die Lichter, [...] eigentlich, so Sachen, die manchmal erst viel später im Entwurf kommen.« Die veränderte Modellpraxis im digitalen Entwerfen, die Elemente des Entwurfs, die bislang in impliziter Denkleistung konsistent gehalten werden mussten, jetzt zu einem Teil des Modells werden lassen,21 vollzieht sich also alles andere als automatisch, sondern erst durch einen höheren Aufwand an kognitiver Leistung. Entwurfsprogramme und Planungsmethoden treten für Architekt*innen also als Disziplinierungsmaschinen in Erscheinung, die einen Zwang (zur frühen Entschei20 Vgl. BMVI – Bundesregierung treibt Digitalisierung des Bauwesens voran, (o. J.), https://www. bmvi.de/SharedDocs/DE/Pressemitteilungen/2019/051-scheuer-bim-kompetenzzentrum.html vom 12.7.2019.
21 Geyer, Philipp: »Von der digitalen Linie zum Systemmodell. Information und Wissen in der Entwurfsmodellierung mit dem Computer«, in: Sabine Ammon/Eva Maria Froschauer (Hg.), Wissenschaft entwerfen: Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, München: Wilhelm Fink 2013, S. 233.
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dungsübung) ausüben, Prozesse aber nicht unbedingt automatisieren. Indem zu einem »massiv frühen Projektzeitpunkt Dinge entschieden [werden müssen], die man noch gar nicht weiß, und wenn sie dargestellt sind, ist es vielleicht schon eingeloggt«, wie einer der Befragten berichtet, schreibt sich in den Prozess außerdem eine Unumkehrbarkeit ein. Sind die Dinge dargestellt, ist das Ergebnis eingeloggt und lässt sich nicht mehr zurückdrehen oder verändern: »Es kann sich nichts mehr entwickeln.«
3.2 Die Trägheit digitalen Entwerfens: Die Aufwertung der Handzeichnung »Und wenn es erstmal gebaut ist, dann ist es ganz schön schwierig in Optionen zu arbeiten. Und dann wieder Dinge rauszurechnen – das ist dann natürlich auch viel träger. Und das ist ein Problem mit dem ich gehadert habe jetzt in der Zeit, weil wir auch in der Vorplanung noch waren und da ja auch noch viel in Optionen, in Varianten und so gearbeitet wird«. Die zitierte Passage zeigt, inwiefern Digitalisierung Entwurfsprozesse nicht einfach beschleunigt, sondern zeitlich moduliert. Die Unumkehrbarkeit von Entscheidungen, die früh getroffen und schlecht rückgängig gemacht werden können, lassen digitales Entwerfen als besonders träge erscheinen. Als Prozess charakterisiert, in dem nicht oder nur sehr schwer in Varianten gearbeitet werden kann, tritt im digitalen Entwerfen scheinbar eine schnellere Erstarrung des Entwurfsprozesses ein. Unserer Typologie folgend, wäre Software hier dann nicht als f lüssig, also schnell und f lexibel, sondern als zähf lüssig zu beschreiben; die Übersetzungsprozesse von Idee zu Entwurf laufen schwerfälliger und lassen sich weniger gut umkehren. Das Arbeiten in BIM schränkt ein, legt schneller fest, verbaut Rückkehrmöglichkeiten. So ähneln sich die Arbeit in BIM und im Modellbau zwar im Hinblick auf die Transformation von etwas Gedachtem in etwas Festes, die Offenheit des digitalen Prozesses ist aus Sicht der Architekt*innen im Digitalen aber eingeschränkt. Der Ausweg besteht bei überraschend vielen Interviewten im Rückzug auf ein festes Arbeitsinstrument: Stift und Papier ermöglichen das Arbeiten in einer anderen Zeitlichkeit. Mit der Handzeichnung seien »die Ideen noch ein bisschen freier unterwegs als am Computer«. Die Denkarbeit, die notwendig sei, um am Computer beispielsweise eine gekrümmte Linie zu zeichnen, entfiele dabei, weil die Linie auf direktem Wege aufs Papier gelange: »Ich kann‘s hier ganz locker mit diesem Stift und schon ist sie da, ja? Das ist ein bisschen direkter vom Kopf zur Hand [...]. So geht das für mich immer gefühlt einen Umweg.« Es ist frappierend, wie vor allem Skizzen mit Schnelligkeit und Flexibilität in Verbindung gebracht werden, die Modellierungsvorgängen in Software deutlich seltener zugeschrie-
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ben werden. (Dabei ist es unerheblich, ob der Entwurf auf einem Blatt Papier oder beispielsweise auf einem Tablet skizziert wird). Die Handzeichnung wird dabei auch mit einer höheren Unbestimmtheit in Verbindung gebracht und deshalb geschätzt: »Und eigentlich ist uns der Prozess [...] lieber, wenn man das noch ein bisschen länger offen hält.« Gerade auch in technisch avancierten Büros kommen Handzeichnungen anscheinend wieder verstärkt zum Einsatz: »Aber das Schöne ist ja, dass es bei mir und bei anderen im Projekt dazu geführt hat, dass wieder viel mehr mit Handskizze [...], es gibt auf einmal auch super viele Detailzeichnungen mit Hand oder Perspektiven, die mit Hand skizziert werden.« Die als langsam, träge und unf lexibel wahrgenommenen Entwurfsmöglichkeiten digitaler Programme werden also teils mit einer Rückkehr zur Handzeichnung konterkariert, die sich als schnelle und variantenreiche Alternative präsentiert.
3.3 »Die Anfangseingabe in den Computer«: Das Ende des Neuanfangs im digitalen Entwerfen »Also früher haben wir ein Blatt Papier aufgespannt und haben den Vorentwurf 1:200 gezeichnet. So, dann war das abgeklärt, ’nen bisschen Veränderung, so, jetzt macht bitte den Entwurf. Dann haben wir wieder ein Blatt Papier aufgespannt, und haben diesen 1:200 Vorentwurf in einen 1:100 Entwurf gemacht. Das ist ja ein anderer Maßstab, musste man ja auch zeichnen, wir konnten das ja auch nicht anders machen. Und dann, wenn das dann geklärt war, in Ordnung war, dann haben wir wieder ein Blatt Papier aufgespannt und haben dann 1:50 Pläne gezeichnet. Dieser ganze, komplexe Vorgang mit den verschiedenen Entwurfsteilen in verschiedenen Maßstäben, der beginnt heute mit der Eingabe, mit der Anfangseingabe in den Computer.« In der zitierten Passage stellt der befragte Architekt das Vorher und Nachher digitalen Entwerfens gegenüber. Der vor-digitale Entwurfsprozess beginnt mit einem Blatt Papier, auf das ein Vorentwurf gezeichnet wird. Ist diese Phase abgeschlossen, wird für den nächsten Entwurfsteil eine weitere, ebenfalls leere, unbeschriebene bzw. unbezeichnete Seite zum Ausgang genommen. Wenn diese Phase abgeschlossen ist, beginnt der Prozess von neuem mit einem weiteren Blatt Papier. Einer leeren, weißen Seite, die zwar durch die Maße der Seite am Rand begrenzt, ansonsten aber frei ist. Der Vorgang digitalen Entwerfens beginnt demgegenüber mit der Anfangseingabe in den Computer und zwar in ein Modell und eine Software, die auf spezifische Weise vorstrukturiert ist. Über bestimmte Eingabefelder, Standardoptionen und eine begrenzten Auswahl von Varianten stellt sich der Entwurfsprozess
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in der Wahrnehmung der Architekt*innen damit determinierter dar als in der Arbeit auf einem weißen Blatt Papier.22 Das charakteristische Merkmal digitalen Entwerfens besteht dann genau darin, »nicht immer wieder neue Pläne aufspannen zu müssen«, »sondern im Grunde genommen, ein beginnendes Produkt, ein digital begonnenes Produkt, immer weiter zu verfeinern und zu vertiefen«. Während das vor-digitale Entwerfen als ein kontinuierliches Wieder-Anfangen wahrgenommen wird, indem immer wieder und für jede einzelne Entwurfsphase ein neues, weißes, unbeschriebenes Blatt Papier einen Neuanfang herstellt, kennt das digitale Entwerfen genau einen Anfang. Wie bereits beschrieben, ist dafür allerdings ein stärkeres Vordenken auf Seiten der Architekt*innen gefragt: »Das bedeutet wir müssen uns schon zu Beginn sehr viele Gedanken machen, wie das denn jetzt im Detail aussieht. Denn wir können ja nicht hinterher wieder, dieses digitale Teil, was wir da erarbeitet haben, wegwerfen und nochmal von vorne anfangen.«
4. Fazit Mit dem Einzug digitaler Methoden in die Architektur haben sich die Möglichkeiten für Architekt*innen verändert. Informiert durch eine Soziologie, die das Materiale als konstitutiven Teil des Sozialen versteht, haben wir uns insbesondere für die Frage interessiert, wie sich dieses Arbeiten aus Sicht von Architekt*innen darstellt. Orientiert an den Deutungsweisen der Architekt*innen selbst, ist daraus die von uns vorgeschlagene Typologie einer Differenzierung von Materialem entstanden. Die Kategorien, die wir als verschiedene Aggregatzustände von Materialem benennen, sind auf einem Kontinuum von fest, f lüssig und gasförmig zu verorten und unterscheiden die verschiedenen Wahrnehmungen nach Zugriffsmöglichkeiten. Mit Zugriffsmöglichkeiten meinen wir den Grad der Wandelbarkeit, den Architekt*innen Materialem zuschreiben, sowie den Grad der Kontrolle, den 22 Architekt Peter Eisenmann vertritt demgegenüber Anfang der 1990er Jahre genau die Gegenposition: Anders als die von uns befragten Architekt*innen, sieht er in der Arbeit mit dem Computer die Möglichkeit, den Bedingungen und Beschränkungen des Entwerfens mit der Hand zu entgehen, die davon abhängig seien, was der oder diejenige gelernt hätte und so stilistisch immer wieder ähnlich aussehe: »In the past, the architect manipulated something that was known to him or her a priori, in other words, what he or she had leamed. Therefore, design always Iooks more or less the same because if one designs with the hand, all one can do is draw what is already in one’s head or else freely associate. This process then involves correcting what is drawn towards some pre-conceived image in the mind.« Eisenmann zitiert nach Höfler, Carolin: »Initiator, Geburtshelfer, Regisseur. Tradierte Autorschaftsmodelle im Computational Design«, in: Ekkehard Drach (Hg.), Das Verschwinden des Architekten: zur architektonischen Praxis im digitalen Zeitalter, Bielefeld, transcript 2016, S. 103-138, hier S. 107.
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sie im Umgang mit den Zugriffsmöglichkeiten erleben. Statt also Materiales verkürzt nur als das Feste zu verstehen, kann es dann differenziert beschrieben und eingeordnet werden und zwar auf der Grundlage der Wahrnehmung der Akteure. Diese Herangehensweise führt im Ergebnis zu einer Reihe von überraschenden Einsichten: Nicht nur traditionelle Entwurfswerkzeuge wie Stift und Holzmodellbau, sondern auch Renderings sind aus der Perspektive der Architekt*innen fest. Als gasförmig lässt sich sowohl das vernetzte Arbeiten im BIM, als auch die f lüchtige und schwer beherrschbare künstlerisch-kreative Entwurfsidee selbst beschreiben; Software ist wiederum mal fest, mal gasförmig, mal f lüssig – je nachdem, wie wandel- und beherrschbar sie erscheint. Gerade das Flüssige erscheint dabei als spezifisch digitale Zustands- und Erscheinungsform des Materialen, das die Architekt*innen anstreben – und zwar mithilfe von Software, aber auch durch Skizzen. Aus dem Analysefokus auf die Wahrnehmung von Materialität hat sich in der Auswertung eine zweite Perspektive herausgebildet, die nach den Folgen für die Arbeit der Architekt*innen fragt. Das Arbeiten mit digitalen Entwurfswerkzeugen, so unsere Argumentation, bildet eine spezifische Eigenzeitlichkeit digitalen Entwerfens aus, die sich aus den verschiedenen Wahrnehmungsformen von Materialität ableitet und durch drei temporale Modulationen auszeichnet: Erstens eine Verschiebung der Zeit nach vorne im digitalen Entwerfen, zweitens ein als träge wahrgenommener, digitaler Entwurfsprozesses, und drittens die Existenz genau eines Anfangs im digitalen Entwerfen, der durch die Anfangseingabe in den Computer gegeben ist. Zusammenfassend werden also insbesondere zwei Befunde deutlich: Erstens eine (wahrgenommene) Verflüssigung der Materialität im digitalen Entwerfen. Mithilfe von Software können Architekt*innen Bewegung modellieren und Licht und Schatten simulieren; Dateneingaben übersetzen sich in Materialien, Wände, Decken, Möbel, die von einer Form in die andere transformiert werden können. Zweitens zeigt der Abschnitt zur Zeitwahrnehmung der Architekt*innen im digitalen Arbeiten, dass diese Verf lüssigung nicht mit einer Beschleunigung einhergeht, sondern auch als Erstarrung von Zeit zu lesen ist. Das ist weniger als Paradox des digitalen Zeitalters zu verstehen, denn als ein wesentliches Merkmal von Digitalisierung. Genauso wie digitale Methoden also eine Beschleunigung ermöglichen, ist ihnen eine spezifische Trägheit und Erstarrung eingeschrieben, die aufschlussreich für den gesellschaftlichen Umbruch Digitalisierung im Allgemeinen sein kann. Digitalisierung darf nicht als ubiquitäre Triebfeder gesellschaftlicher Prozesse überschätzt werden; 23 sie schafft Arbeit nicht notwendigerweise ab, noch macht 23 So schon Rosa in Bezug auf die Überschätzung von Technik als alleinigem Beschleunigungsmotor. Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung: die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 117.
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sie Prozesse zwangsläufig schneller oder f lexibler. Die Interviews zeigen exemplarisch, wie Digitalisierungsprozesse weder ihr Heilsversprechen (Automatisierung des Entwurfsprozesses) einlösen, noch ein grundsätzliches Problem (Abschaffung der Architekt*in) darstellen. Mit Digitalisierung ergeben sich vielmehr neue Problemlagen, die von den Akteuren kompetent in neue Handlungsstrategien überführt werden. Nicht immer ist die digitale Variante dabei die schnellere und effizientere, nicht immer ist Software die f lexiblere und beweglichere Option. Erzählungen, die Technik als bloße Vereinfachung und Automatisierung darstellen, werden dadurch zwar nicht umkehrt, zumindest aber irritiert: Digitales ist materiell – auch wenn es in der Regel als Immaterielles dargestellt wird – erfordert Arbeit – auch wenn es in der Regel als bloße Arbeitseinsparung dargestellt wird – und situiert – auch wenn es in der Regel als zeitlich und räumlich unabhängig dargestellt wird. Dies präzise zu beschreiben und zu analysieren, bleibt weiterhin ein Kerngeschäft der Soziologie. Der Fokus auf Materiales ist dazu nur ein neuer, womöglich aber vielversprechender Blick, um Veränderungen abseits binärer Kategorien in den Blick zu bekommen und damit eine lohnenswerte Ergänzung einer Soziologie, die zu lange nur auf Zwischenmenschliches beschränkt geblieben ist.
Körper, Leib und Mystifizierung in der Gestaltung von Mensch-Roboter-Interaktion * Andreas Bischof Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet die Robotik, die Wissenschaft von den verkörperten Computern, in ihren wissenschaftlichen Selbstdarstellungen keine Kategorien der leiblichen Erfahrung kennt. Vielmehr verschreibt sich das Feld bei der Bewertung und Analyse von Mensch-Roboter-Interaktion ingenieurwissenschaftlichen und psychologischen Kategorien, die einen höheren Grad an Objektivität versprechen.1 Beobachtet man die Kunst und das Können der Robotiker*innen aber aus der Nähe,2 entdeckt man sehr wohl eine zentrale Rolle alltagsweltlicher Erfahrungen des Ästhetischen, des Emotionalen und des Affektiven in der Begegnung mit Robotern. Allerdings verbleiben diese Erfahrungen der unmittelbaren Konfrontation mit Robotern in einer undokumentierten, beinahe idiosynkratrischen Form der Beobachtung erster Ordnung und irritieren dadurch gar nicht erst die prädominante positivistische Wissenschaftssprache des Feldes. In diesem Beitrag wird nun gerade die konstitutive Rolle der leiblichen Erfahrung bei der Begegnung mit Robotern für die Robotik als Praxis untersucht. Dabei
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Für Hinweise und Anregungen zum Text danke ich Herausgeberin Nina Zahner, sowie Anna Henkel und Johannes F. Burow, die Teile einer früheren Fassung des Manuskripts für ihren Band zu digitalen Lebenswelten ausführlich kommentiert haben, vgl. Bischof, Andreas: »Die natürliche Künstlichkeit der Mensch-Roboter-Interaktion als leiblich erfahrbare Irritation des anthropologischen Quadrats«, in: Johannes F. Burow/Lou-Janna Daniels/Anna-Lena Kaiser/Clemens Klinkhamer/Josefine Kulbatzki/Yannick Schütte/Anna Henkel (Hg.), Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung. Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Plessners, Dimen sionen der Sorge, Bd. 2, Baden-Baden: Nomos 2019, S.129-142.
1 Vgl. Bischof, Andreas: »Wie Laborexperimente die Robotik erobert haben. Einblick in die epistemische Kultur der Sozialrobotik«, in: Arne Maibaum/Julia Engelschalt (Hg.), Auf der Suche nach den Tatsachen: Proceedings der 1. Tagung des Nachwuchsnetzwerks INSIST, SSOAR 2015, S. 113-126.
2 Vgl. Bischof, Andreas: Soziale Maschinen bauen. Epistemische Praktiken der Sozialrobotik, Bielefeld: transcript 2017.
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greife ich auf empirisches Material zurück, das ich im Rahmen einer ethnografischen Studie über drei Jahre in Robotik-Laboren in den USA und Europa erhoben habe. Konkret beziehe ich mich auf teilnehmende Beobachtungen an Entwicklungspraktiken und Analysen von narrativen Interviews mit an Mensch-Roboter-Interaktion Forschenden.3 Im Gegensatz zum Diskurs der offiziellen Robotik spielen in diesen Daten drei Kategorien eine zentrale Rolle, die die Begegnung mit Robotern als Praxis ästhetischer Erfahrung beschreiben. Diese drei Kategorien sind die mystifizierende Inszenierung von Roboterverhalten, die Herstellung menschlicher Körper als Gegenstände wissenschaftlicher Forschung, und das Erleben leiblicher Affekte bei der Begegnung mit Robotern. Im Folgenden werde ich zeigen, dass und wie Roboter durch inszenatorische Praktiken überhaupt erst zu quasi-sozialen Akteuren bezaubert werden. Der Blick auf diese Kategorie von Praktiken ist daher zentral, weil er zeigt, wie Erwartungen über Roboterverhalten – und damit der Rahmen für die Erfahrung von Robotern – hergestellt werden (Abschnitt 1). Untersucht man nun, wie in der Praxis der Robotik Bezugnahmen auf die menschliche Erfahrung geschehen, zeigt sich ein bereits von Plessner beschriebener konstitutiver Doppelaspekt. Plessner unterscheidet die menschliche (Selbst-)Erfahrung in Körper (haben) und Leib (sein), um Erleben nicht als losgelöstes geistiges Phänomen, sondern aus einer körperlichen Perspektive heraus zu entwickeln (Abschnitt 2.1). Ein solcher Leib-Körper-Dualismus findet sich auch in der Praxis der Robotik. Menschliche Erfahrung gerät einerseits durch Laborexperimente und quantifizierbare Zugriffe als körperlich in den Blick (Abschnitt 2.2). Andererseits wissen Robotiker*innen um die affizierbare Leiblichkeit menschlicher Interaktionspartner: In der Begegnung mit Robotern tritt der Leib aus seiner Latenz hervor, in Präsenz eines Roboters wird er zum erlebten und gespürten Leib (Abschnitt 2.3). Dieser Leib-Körper-Dualismus ist für die epistemischen Ressourcen von Robotik als Praxis nach meiner Überzeugung zentral: Die leibliche Erfahrung von Robotern tritt dann nicht als Entfremdung oder Störung auf, sondern als Erweiterung und Inspiration der offiziellen, wissenschaftlichen Zugänge zur Mensch-Roboter-Interaktion. Abschließend werden zwei problematische Implikationen dieser Leib-KörperTrennung für die Praxis des Roboterbauens diskutiert. Im Rückgriff auf Plessners anthropologische Philosophie wird die inszenatorische Qualität von MenschRoboter-Interaktion als künstliche Natürlichkeit gedeutet, die vor allem als »diskursiv-dramatisierende Infragestellung der Grenzen des Anthropologischen«4 funktioniert (Abschnitt 3). 3 Ebd. 4 Fritzi, Gregor: »Statusanerkennung von Robotern im Kulturvergleich: Europa und Japan«, Manuskript 2015, zitiert nach Lindemann, Gesa/Hironori, Matsuzaki, Die Entwicklung von Servicerobotern und humanoiden Robotern im Kulturvergleich – Europa und Japan, in: DFG-Ab-
Körper, Leib und Mystifizierung in der Gestaltung von Mensch-Roboter-Interaktion
1. Die Inszenierung von Robotern als sozialen Maschinen Wer schon einmal Gelegenheit hatte, Roboter und ihre Konstrukteur*innen aus der Nähe zu erleben, weiß, dass der Siegeszug von Robotern auf absehbare Zeit an Türschwellen, schlechten Funkverbindungen, Treppenstufen, Akkulaufzeiten und der geringen Anpassungsfähigkeit an typisch menschliche Umwelten scheitert. Roboter sind mit fundamentalen Problemen bei der Bewältigung der Realwelt – so die treffende Bezeichnung im Feld – beschäftigt, die eine Transformation des Alltags durch sie mittelfristig eher unwahrscheinlich machen.5 Für eine Mensch-Roboter-Interaktion im engeren, soziologischen Sinne bräuchte es zudem nicht nur verlässlichere Hardware, sondern eine neue Mathematik, auf deren Grundlage auch Ambiguität, Erwartungserwartungen und Indexikalität von Interaktionen modelliert werden können.6 Das ist bislang nicht der Fall und der im Feld vorherrschende methodologische Individualismus, Mensch-RoboterInteraktion als psychologischen Effekt beim (Einzel-)Nutzer zu messen,7 nährt wenig Hoffnung, dass es hier bald zu einem Paradigmenwechsel kommen wird. Dennoch wird nicht nur in Science-Fiction-Werken und populärwissenschaftlichen Diskursen der Eindruck erweckt, Roboter seien bereits oder sehr bald interaktive Gefährten. Nein, das Feld der Robotik selbst ist ganz wesentlich darum bemüht, seine Maschinen immer wieder als interaktionsfähig darzustellen.8 Untersucht man den interaktiven Status von Robotern dagegen empirisch, zeigt schlussbericht 2017. https://www.uni-oldenburg.de/fileadmin/user_upload/sowi/ag/ast/DFGProjekt_LI_9763-1_Abschlussbericht_2017.pdf vom 17.9.2019; Matsuzaki, Hironori: »Grenzfragen der Mensch-Maschine-Beziehungen. Eine soziologische Vergleichsanalyse der soziotechnischen Vergesellschaftungsprozesse am Beispiel der Entwicklung von Service- und humanoiden Robotern (Arbeitstitel). Dissertationsmanuskript, zitiert nach Lindemann, Gesa/Matsuzaki, Hironori, Die Entwicklung von Servicerobotern und humanoiden Robotern im Kulturvergleich – Europa und Japan, in: DFG-Abschlussbericht 2017. https://www.uni-oldenburg.de/fileadmin/ user_upload/sowi/ag/ast/DFG-Projekt_LI_9763-1_Abschlussbericht_2017.pdf vom 17.9.2019.
5 Šabanović, Selma: Imagine all the Robots: Developing a Critical Practice of Cultural and Disciplinary Traversals in Social Robotics, Doctoral Thesis, Rensselaer Polytechnic Institute 2007, S. 76.
6 Lindemann, Gesa: »Social interaction with robots: three questions«, in: AI & Society 31, 4 (2016), S. 573-575.
7 Vgl. A. Bischof: Wie Laborexperimente die Robotik erobert haben; vgl. A. Bischof: Soziale Maschinen bauen, S. 213-230.
8 Fink, Julia: »Anthropomorphism and human likeness in the design of robots and human-robot interaction«, in: International Conference on Social Robotics (ICSR) 2012, Heidelberg: Springer 2012, S. 199-208; Böhle, Knut/Bopp, Kolja: »What a Vision: The Artificial Companion. A Piece of Vision Assessment Including an Expert Survey«, Science, Technology & Innovation Studies (STI Studies) 10, 1 (2014), S. 155-186; Złotowski, Jakub/Yogeeswaran, Kumar/Bartneck, Christoph: »Can we control it? Autonomous robots threaten human identity, uniqueness, safety, and resources«, in: International Journal of Human-Computer Studies 100 (2017), S. 48-54.
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sich schnell, »dass dies nicht der Fall ist«.9 Der Eindruck von Robotern als autonomen Gefährten ergibt sich erst durch die kulturelle, soziale und raum-zeitliche Situierung durch die menschlichen Protagonisten selbst.10 Erst durch jede Menge Einordnungs- und Einbettungsarbeit und inszenierende Praktiken11 werden Roboter überhaupt zu sozialen Maschinen. Zu diesen Bezauberungen gehört zuvorderst die anthropomorphisierende Gestaltung der Maschinen. Die allermeisten Sozialroboter haben ein humanoides Aussehen mit Torso und Extremitäten und einem gesichtsähnlichen Fokuspunkt, der durch Ausdrucksmodalitäten wie rudimentäre Mimik oder Augenbewegungen als zentrale Schnittstelle zur Interaktion dienen soll.12 Hinzukommt, dass die Roboter im Forschungs- und Präsentationskontext immer einen eigenen Namen erhalten und damit subjektiviert werden. Zu den Inszenierungen von Roboterverhalten gehören darüber hinaus Praktiken wie das Erstellen und Filmen von Demonstrationen. Hierbei wird ein technisch realisiertes, oder auch erst noch zu erreichendes Roboterverhalten teils durch Fernsteuerung oder computer-grafische Manipulation erzeugt und als Video-Clip beispielsweise auf YouTube zirkuliert. Die Rolle solcher Clips ist sowohl für den spielerischen Ausdruck der Identität der Forschenden,13 als auch die Erzeugung von Erwartungen bei der breiteren Öffentlichkeit, Stakeholdern wie Krankenkassen14 und auch die wissenschaftsinterne Kommunikation nicht zu unterschätzen.15 9 Lindemann, Gesa/Matsuzaki, Hironori: »Die Entwicklung von Servicerobotern und humanoiden Robotern im Kulturvergleich – Europa und Japan«, in: DFG-Abschlussbericht 2017, https://www. uni-oldenburg.de/fileadmin/user_upload/sowi/ag/ast/DFG-Projekt_LI_9763-1_Abschlussbericht_2017.pdf vom 17.9.2019, S. 7.; vgl. Muhle, Florian: »Humanoide Roboter als ›technische Adressen‹. Zur Rekonstruktion einer Mensch-Roboter-Begegnung im Museum«, in: Sozialer Sinn 20, 1 (2019), S. 85-128.
10 Alač, Morana/Movellan, Javier/Tanaka, Fumihide: »When a robot is social: Spatial arrangements and multimodal semiotic engagement in the practice of social robotics«, in: Social Studies of Science 41, 6 (2011), S. 893-926; Pentzold, Christian/Bishof, Andreas: »Making Affordances Real: Socio-Material Prefiguration, Performed Agency, and Coordinated Activities in Human–Robot Communication«, in: Social Media+Society 5, 3 (2019), 2056305119865472.
11 A. Bischof: Soziale Maschinen bauen, S. 249-265. 12 Vgl. z.B. Thrun, Sebastian et al./Bennewitz, Maren/Burgard, Wolfram et al.: »MINERVA: A second-generation museum tour-guide robot«, in: Robotics and automation, Proceedings 1999 IEEE International Conference on Robotics and Automation, 1999-2005, New York: IEEE 1999.
13 Both, Göde: »Youtubization of Research. Enacting the High-Tech Cowboy in Video Demonstrations«, in: Sarah Davies/Maja Horst/Erik Stengler (Hg.), Studying Science Communication, Bristol: University of the West of England 2015, S. 24-27.
14 Winthereik, Brit Ross/Johannsen, Nis/Strand, Dixi Louise: »Making technology public: Challenging the notion of script through an e-health demonstration video«, in: Information Technology & People 21, 2 (2008), S. 116-132.
15 A. Bischof: Soziale Maschinen bauen, S. 259-263.
Körper, Leib und Mystifizierung in der Gestaltung von Mensch-Roboter-Interaktion
Die Inszenierungen von Roboterverhalten in Demonstrationen, Demo-Videos oder experimentellen Anordnungen sind im Feld der Robotik allgegenwärtig. Die Inszenierung des Maschinenverhaltens zielt in mehrfacher Hinsicht auf eine Belebung der Maschinen. In öffentlichen Vorführungen sollen sie unterhalten und begeistern, in Demo-Videos den Beweis für ihre Tauglichkeit erbringen. Der inszenatorische Charakter der damit verbundenen Praktiken besteht vor allem darin, dass die Herstellung ihrer Belebung unsichtbar gemacht, verborgen wird. Hierin besteht die »Bezauberung«16 der Roboter. Suchman vergleicht die inszenierenden Praktiken der Sozialrobotik mit Schilderungen aus der ethnografischen Literatur zur Mystifizierung von Fetischfiguren, die wie die Clan-Totems bei Durkheim17 so mit hoher symbolischer Bedeutung aufgeladen werden. 18 Die Inszenierung der Roboter stellt die Eigenschaften her, die die Maschinen selbst nicht generieren können: soziale Situiertheit, symbolische Eingebundenheit, Subjektivität und Historizität. Solche persuasiven rhetorischen Strategien der Gestaltung zeigen sich an einer besonderen Gattung bezauberter Roboter: Seit 2007 wurden mindestens drei Roboter gebaut, deren äußere Erscheinung möglichst detailgetreu existierende Menschen nachbildet: Die Robotiker*innen, die mit diesen Maschinen forschen.19 Diese »Androiden« sind auf Fotografien und im ausgeschalteten Zustand von ihren menschlichen Vorbildern beinahe nicht zu unterscheiden. Ihre hohe Menschenähnlichkeit hat für die Forschung an ihnen eine besondere Funktion: Das wissenschaftliche Ziel dieses Forschens ist es, durch die Konfrontation mit einem sehr menschenähnlichen Roboter Thesen für ein zukünftiges Zusammenleben mit Robotern – wenn deren Präsenz in unseren Gesellschaften erst einmal normal geworden sein wird – abzuleiten. Diese Konfrontationstherapie ist erkenntnistheoretisch und methodisch extrem zugespitzt, wie im Rahmen meiner Ethnografie deutlich wurde.20 Der folgende Fall wurde per Feldnotizen dokumentiert und später in ein Beobachtungsprotokoll ausnotiert, das anschließend interpretiert wurde.21
16 Gell, Alfred: Art and agency: an anthropological theory, Oxford: University Press 1998. 17 Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984.
18 Suchman, Lucy: Human-machine reconfigurations: Plans and situated actions, Cambridge: University Press 2007, S. 243ff.
19 Nishio, Shuichi/Ishiguro, Hiroshi/Hagita, Norihiro: »Geminoid: Teleoperated Android of an Existing Person«, in: Armando Carlos de Pina Filho (Hg)., In Humanoid robots: New developments, London: InTech Books 2007, S. 343-352.
20 A. Bischof: Soziale Maschinen bauen, S. 253-256. 21 Ebd., S. 105-135.
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Anstatt sich mit mir wie vereinbart in seinem Arbeitszimmer auf ein Interview zu treffen, erwartete mich der Robotik-Professor im Flur, um mit mir in ein anderes Büro des Universitätsgebäudes zu gehen. Nach etwa drei Minuten Fußweg stoppte er vor einem Raum, öffnete mir die Tür und bat mich, vor ihm hineinzugehen. In dem Büro saß sein Roboterdoppelgänger. Mir wurde der Stuhl gegenüber dem Roboter zugewiesen, um dort, in doppelter Anwesenheit des Professors, das Interview zu führen. Ich fühle mich überrascht und unwohl: Es ist merkwürdig, dem Roboter gegenüber zu sitzen. Er sieht dem Professor auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich. Irritierend finde ich, dass er eher unmotiviert seinen Kopf immer wieder kreisend bewegt und blinzelt. Die Motoren an Hals und Gesicht verursachen außerdem leise Geräusche, da sie, wie ich später erfahre, mit Druckluft betrieben werden. Außerdem zeigt der Roboter keinerlei Reaktion auf unseren Eintritt ins Büro; er lief offenbar bereits in diesem Modus, bevor wir eintraten. Ich würde den Roboter gern noch näher betrachten, fühle mich aber beobachtet. Ich befinde mich sowohl in der Blickachse des Roboters als auch in der des Professors. Ich wende mich beim Ablegen meiner Tasche und Auspacken meines Notizblocks und Mikrofons daher eher zum Fenster und verberge meinen Blick. Ich beginne die normale Interviewroutine mit Informationen vorab und der Bitte, aufzeichnen zu dürfen. Währenddessen hat der Professor einen Laptop aufgeklappt. Ich gehe zunächst davon aus, dass er während unseres Gesprächs seine Mails überprüfen oder Notizen machen möchte. Nach einer knappen Viertelstunde im Gespräch wird mir jedoch klar, dass er mithilfe des Laptops das Gesicht des Roboters ansteuert, um verschiedene Effekte zu erzielen, zum Beispiel ein schnelles Bewegen der Pupillen. Er beginnt eine längere Ausführung zu den Reaktionen von Menschen auf den Roboter und fragt mich, wie ich mich in dessen Anwesenheit fühle. Ich antworte, dass er mich irritiert und ich deshalb versuche, die Blickachse des Roboters zu vermeiden. Im Anschluss analysiert der Professor meine Antwort und weist mich unter anderem darauf hin, dass ich mir zur Erklärung meiner Gefühle ins Gesicht gefasst hätte, was ein Zeichen von Unsicherheit sei. An dem Vorgehen des Professors wird zunächst eine gewisse Präsentationsund Vorführroutine sichtbar. Der Roboter wurde vor dem Termin gestartet, um lebendig im Raum zu warten. Er trug denselben Anzug wie der Professor und saß in einem herkömmlich eingerichteten Universitätsbüro. Durch diese rahmende Inszenierung wurde die Maschine mit einer Bedeutung aufgeladen, die ihre Funktionalität jedoch nicht aufrechterhalten konnte. Zwar war die äußere Erscheinung der Maschine sehr menschenähnlich, ihr Verhalten allerdings weniger. In dem »Demo-Modus«, in dem sich der Roboter beim Eintreten befand, öffnete und schloss er Mund und Augen in einer gleichmäßigen Abfolge und drehte den Kopf dabei hin und her. Die Maschine besaß bis auf die Fähigkeit zur Blick-
Körper, Leib und Mystifizierung in der Gestaltung von Mensch-Roboter-Interaktion
verfolgung kein autonomes Verhalten und wurde von einem Menschen via Laptop gesteuert. Sollte dieser Roboter spezifisches Verhalten wie etwa eine Dialogsituation mit seinem menschlichen Ebenbild für Vortragszwecke vorführen, so müsste diese einstudiert und die Sprachsequenzen vorproduziert werden. Die Belebung dieser Art von scheinbar menschenähnlichen Robotern erforderte dieselbe Vorbereitung und inszenatorische Qualität wie ein Zaubertrick. Auf der Bühne dieser Inszenierung stand aber nicht nur der Roboter, sondern auch der Interviewer – als unfreiwilliger Proband. Die Feststellung der psychologischen Effekte der Konfrontation war das Ziel der hergestellten Experimentsituation. Die Inszenierung im Büro fungierte als Labor. Das mystifizierende Moment des Falls lag in der Verschleierung der umfassenden Vorbereitung und Herstellung des epistemischen Objekts der Mensch-Roboter-Interaktion. Der Zweck solcher Roboter ist es, die durch sie erwirkten Effekte zu testen. Der Professor hat sich in dem Doppelgänger-Roboter ein Experimental-Instrument geschaffen, das einen medial äußerst wirksamen Anlass zu Berichterstattung und weiterer Forschungsfinanzierung bietet, hierbei autonomes Verhalten lediglich öffentlichkeitswirksam inszeniert, jedoch letztlich nicht praktizieren kann. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Robotik die Bedingungen, unter denen Mensch-Roboter-Interaktion denkbar und messbar wird, durch Praktiken der Inszenierung und leiblichen Konfrontation nicht unwesentlich selbst erschafft. Abgesehen von der notwendigen methodologischen und erkenntnistheoretischen Kritik an einem solchen Vorgehen22 ist hier Folgendes hervorzuheben: Die Praxis der Robotik ist mindestens ebenso mit der Herstellung von Erfahrungen befasst, wie mit Schaltkreisen, Laufrädern und Steuerungssoftware. Sicherlich ist die inszenatorische Qualität von Robotikforschung nicht immer so stark ausgeprägt wie im dargestellten Extremfall der »Doppelgänger«, aber die Bezugnahme auf und Herstellung von Erfahrungskategorien in Betrachtenden ist eine zentrale epistemische Praxis der Robotik.23
2. Mensch-Roboter-Interaktion zwischen Körper und Leib 2.1 Körper-Leib-Doppelaspekt bei Plessner Um die Rolle von menschlichen Erfahrungskategorien für die Robotik besser verstehen zu können, soll hier mit Plessner auf einen konstitutiven Doppelaspekt des menschlichen Erlebens geblickt werden. Grundlage der folgenden Gedanken ist
22 A. Bischof: Soziale Maschinen bauen, S. 277-280. 23 Ebd., S. 249-265.
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die Unterscheidung von Leib und Körper.24 Diese lässt sich grundlegend so beschreiben, dass der Mensch einen Körper hat, den er vermittelnd, distanzierend betrachten kann, aber gleichzeitig immer Leib ist, ohne den diese Betrachtung des Körpers niemals stattfinden kann. Plessner will mit diesem Doppelaspekt auf den körperlich-performativen Vollzug von Erfahrung abstellen: Egal wie rational wir uns den Körper erklären (und auch bewusst formen), es gibt immer eine unhintergehbare gewissermaßen unmittelbare Erlebensdimension, die Plessner Leib nennt. Plessner führt diesen Doppelaspekt ein, um sich von der klassischrationalistischen Leib-Seele-Dichotomie abzugrenzen. Anstatt Bewusstsein und Sein zu trennen, führt Plessners philosophische Anthropologie einen Doppelaspekt von Körper-Leib ein, aus dem sich eine Grundspannung aus Mittelbarkeit (Körper) und Unmittelbarkeit (Leib) ergibt, die den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheide. Am besten greif bar wird dieser Doppelaspekt im Unterschied zur Wahrnehmungsform des Tieres. Das Tier, so Plessner, gehe »im Hier-Jetzt auf«, es erlebe sich nicht im Erleben.25 Der Mensch ist fähig zu Ref lexivität und Selbstbewusstsein, was ihn nicht nur zentriert (wie das Tier), sondern gleichzeitig exzentrisch sein lässt:26 Er erlebt sein Erleben. Der Mensch ist Plessner damit nicht als LeibSeele-Dichotomie, sondern dreifach bestimmt: Der Mensch als Lebendiges ist Leib, ist aber auch Körper im Sinne eines bewussten Innenlebens und drittens Blickpunkt, von dem aus er beides ist. Die Unterscheidung von Körper und Leib darf also nicht als ontologische Verdopplung des Menschen in Leib und Körper gedacht werden, sondern betrifft vielmehr eine Korrelation, die eben spezifisch menschlich27 ist: Es handelt sich »um eine Unterscheidung von Perspektiven, in denen wir unsere Körperlichkeit thematisieren«. Der auf eine unauf lösbare Spannung angelegten theoretischen Figur folgend, darf man sich diese Perspektiven aber nicht getrennt vorstellen, sondern immer nur durcheinander realisierbar: »Der Mensch ist weder ganz sein Leib, noch hat er ihn ausschließlich (Weder‐noch). Zugleich ist das leibhafte Dasein des Menschen sowohl durch das Leib‐sein als auch durch das Leib‐haben bestimmt (Sowohl‐als‐auch)«.28 Spezifisch für Plessners anthropologische Denk24 Plessner, Helmuth: »Lachen und Weinen«, in: Helmuth Plessner (Hg.), Philosophische Anthropologie, Frankfurt am Main: Fischer 1970, S. 11-171.
25 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch: Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin [u.a.]: de Gruyter 1975, S. 288.
26 Ebd. 27 Schürmann, Volker: »Max Scheler und Helmuth Plessner – Leiblichkeit in der Philosophischen Anthropologie«, in: Emmanuel Alloa/Thomas Bedorf/Christian Grüny/Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: UTB 2012, S. 207.
28 Sychowski, Gaja von: Korrelationen von Leib-sein und Leib-haben – Helmuth Plessners anthropologische Grundfiguren der Conditio humana als Grundlagen einer Pädagogischen Anthro-
Körper, Leib und Mystifizierung in der Gestaltung von Mensch-Roboter-Interaktion
figur ist, dass die Korrelation von Körper und Leib als »Kluft«29 gedacht ist. Der Körper liegt nur in Bezug auf den Leib vor, der nie vollständig verfügbar ist, und gleichzeitig gibt es für den Menschen kein Zurück zu einer rein unmittelbaren, zentrischen Daseinsform, er ist zum Hin- und Herpendeln zwischen Erleben und Erleben des Erlebens gezwungen.30 Dieser konstitutive Doppelaspekt des Menschen als Wesen, das gleichsam Leib ist, aber auch einen Körper hat, spiegelt sich nach meiner Überzeugung in zwei komplementären Gruppen von Praktiken der Robotiker*innen wieder, wie ich im Folgenden zeige. Die meisten der offiziellen Praktiken der Robotik betreffen die Körperlichkeit des Menschen, also eine Verfügbarmachung von zumeist quantifizierbarem »Innenleben«. Dieser starken Fixierung auf das Erleben des Erlebens steht aber eine oftmals nicht berichtete Gruppe von Praktiken entgegen, die eine spezifisch leibliche Erfahrungsform realisiert: die Affektion des leiblichen Erlebens durch die Begegnung mit Robotern.
2.2 Laboratisierte Körper erzeugen Beschäftigt man sich mit den Theorien, Methoden und Publikationen der Robotik, gerät der Mensch beinahe ausschließlich als messbarer, quantifizierbarer Körper in den Blick. Die überwältigende Mehrheit der Forschungsberichte aus dem Feld greift auf quantifizierende Experimente zurück, um Faktoren und Effekte der Mensch-Roboter-Interaktion zu testen. Körper werden im Labor erzeugt, um Mensch-Roboter-Interaktion zu modellieren und zu messen.31 Diese im Labor erzeugten Körper rekurrieren durchaus auf Zeichen von Leiblichkeit, zum Beispiel auf Mimik als Ausdruck von unmittelbaren Emotionen.32 Dieser Aspekt von unmittelbarer Leiblichkeit wird aber nicht in seiner Erlebensqualität erfasst, sondern in biophysiologischen Messungen, wie etwa Hautwiderstandsmessungen oder Pupillenbewegungsanalyse in Zahlen und Bilder übersetzt. Laboratisierungen von Körpern dienen eben dazu, Leiblichkeit von der Unmittelbarkeit des
pologie und poststrukturalistischer (Körper-)Utopien (2012), urn:nbn:de:0111-opus-55795 vom 17.9.2018, S. 6.
29 Mitscherlich, Olivia: Natur und Geschichte, Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie, Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 163.
30 Ebke, Thomas: »Die offene Organisationsform der Pflanze, die geschlossene Organisationsform des Tiers und der Grundriss der Körper-Leib-Differenz des Lebendigen«, in: Hans-Peter Krüger (Hg.), Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/Boston: de Gruyter 2017, S. 133.
31 A. Bischof: Wie Laborexperimente die Robotik erobert haben; A. Bischof: Soziale Maschinen bauen, S. 214-230.
32 Ebd., S. 217-220.
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Erlebens zu lösen und bspw. durch die Erzeugung von Zeichen in einen transferier- und bearbeitbaren Zustand zu überführen. Ein anschauliches Beispiel dafür gibt das Annotationssystem FACS (Facial Action Coding System), das im Forschungsfeld Mensch-Roboter-Interaktion sehr weit verbreitet ist. FACS geht auf den US-amerikanischen Psychologen Paul Ekman zurück.33 Es basiert auf der Annahme, dass Mimik und die ihr zugrundeliegenden Emotionen in ihren Grundzügen anthropologisch universell sind. Die Grundthese von FACS lautet also, dass Mimik ein Affekt-Programm ist, also direkter Ausdruck der Emotionen eines Menschen. Mittels FACS werden die Bewegungen der 98 Gesichtsmuskeln in 44 sogenannten Action Units kodiert, die wiederum den Grundemotionen zugeordnet sind. Die Zuordnung von Gesichtsausdrücken (leicht gekräuselte Nasenwurzel, gehobene/gesenkte Mundwinkel, Augenbrauen etc.) zu Emotionen basiert auf Datenbaken von zehntausenden Bildern aus interkulturellen Vergleichsstudien, die den universellen Charakter der Zuordnung ermöglichen sollen. Eine Variante der Methode samt zugehöriger Software stellt auf diese Action Units ab, für die der empirisch nachweisbare Zusammenhang von Gesichtsaffekt und Emotion besonders groß ist. Um diese zu messen und zu analysieren, werden kleinere Laborexperimente vorbereitet, die beispielsweise darin bestehen, dass ein Proband einen Raum betritt und dort von einem Roboter begrüßt wird. Diese Begegnung wird aus mehreren Kamerawinkeln gefilmt und das Videomaterial anschließend kodiert. Es wird empfohlen, dass zwei Kodierende unabhängig voneinander die Gesichtsausdrücke in Videosequenzen scoren, um ein reliables Ergebnis zu erhalten. Die Zurechnung von Emotionen anhand des Gesichtsausdrucks ist in einer hypothesenprüfenden Forschungslogik durchaus plausibel. Experimente mit FACS versuchen, subjektive Verzerrungen zu minimieren und ein komplexes Phänomen wie Emotion auf überprüf bare und reproduzierbare Maße einzugrenzen. Allerdings geht mit seiner Anwendung ein methodologischer Irrtum einher: Das Verfahren als solches wird durch seinen objektivierenden Charakter als objektiv betrachtet, obwohl zwei wesentliche Aspekte der laboratisierenden Anordnung konsequent unbeleuchtet bleiben: Einerseits werden die Selektivität und Kontextualität der Entscheidungen der Experimentatoren nicht Teil der Ergebnisse und ihrer fachöffentlichen Darstellung, womit das Verfahren selbst zu einer »black box« wird.34 Andererseits bleibt das Erleben aus Sicht der Erlebenden, also wie 33 Ekman, Paul/Friesen, Wallace: Facial action coding system. A Technique for the Measurement of Facial Movement, Palo Alto: Consulting Psychologists Press 1978; Hager, Joseph C./Ekman, Paul/ Friesen, Wallace: Facial action coding system. A Human face, Salt Lake City: UT 2002.
34 Passoth, Jan-Hendrik/Wehner, Josef: Quoten, Kurven und Profile, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2014, S. 208.
Körper, Leib und Mystifizierung in der Gestaltung von Mensch-Roboter-Interaktion
die Probanden sich in der Begegnung mit dem Roboter tatsächlich gefühlt haben, unerhoben und damit außerhalb der weiteren Auswertung. In der Anwendung von FACS wird das technische Instrument, das Aufzeichnungs- und Annotationssystem, synonym zum Erkenntnisobjekt Emotion verstanden, sammelt es doch empirische Hinweise zur Stärke und Art von emotionalen Affekten. In Bezug auf den Doppelaspekt von Körperlichkeit und Leiblichkeit in der Begegnung mit Robotern wird jedoch deutlich, dass es als Instrument der Erzeugung und Messung eines Körpers nicht an das eigentliche Erkenntnisobjekt des Erlebens heranreicht. Der Zweck dieser laboratisierenden Zugriffe liegt in der Abstraktion von subjektivem Erleben hin zu numerischen Werten, die eine wissenschaftliche Zirkulation,35 vor allem aber eine Parametrisierung der Maschine erlauben. FACS bietet als Netzwerk aus Aufzeichnungs- und Annotationssystemen samt kommerzieller Software und Zertifizierungskursen gut aufeinander abgestimmte Instrumente für das Design von Laborexperimenten. Dadurch können der Begriff Emotion und die Idee seiner Funktion für soziale Interaktion in einem eher technischen Forschungsprojekt bearbeitbar gemacht werden. Dies jedoch zu dem Preis, den Doppelaspekt von Leib sein und Körper haben einseitig so überzubetonen, dass nur noch der Körper, als im Labor erzeugter Körper, thematisierbar wird. Zwar gründen die den Instrumenten und Messungen zugrundeliegenden Theorien in Theoremen über den leiblichen Affekt, dieser wird in der empirischen Bearbeitung aber ausschließlich als Körper erfasst und gemessen. Diese Reduktion des Emotionsbegriffs auf einen mimischen Affekt bar jedes Erlebensgehalts bleibt in der epistemischen Kultur der Sozialrobotik36 allerdings nicht ohne funktionalen Widerpart.
2.3 Schlüsselmomente leiblichen Erlebens Im Schatten dieser Laboratisierungen lässt sich eine bedeutsame Gruppe epistemischer Praktiken beobachten, die den isolierenden und dekontextualisierenden Umgang mit Leiblichkeit komplementär ergänzt. Diese Gattung epistemischer Praktiken wird in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht besprochen. Sie tritt vor allem alltagsförmig in Erscheinung. Es handelt sich hier um Praktiken, die tief in konkreten Erfahrungen, biografischen Erlebnissen und Räsonierweisen der Forschenden selbst verankert sind. Die Forschenden als leibliche Wesen werden hier selbst zu Instrumenten der Robotik.37 Ich möchte hier eine 35 Dror, Otniel Yizhak: The scientific image of emotion: Experience and technologies of inscription, Configurations 7, 3 (1999), S. 355-401.
36 A. Bischof: Soziale Maschinen bauen. 37 Ebd., S. 230-249.
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Form dieser alltagsweltlichen Heuristiken,38 den forschungsbiografischen Schlüsselmoment, herausgreifen und ausführlicher vorstellen. In narrativen Interviews beschrieben die Forschenden wiederholt bestimmte Begebenheiten als konstitutiv für ihr Interesse an Mensch-Roboter-Interaktionen. Es handelt sich um Erzählungen von Erlebnissen,39 in denen die Interviewten die Mensch-Roboter-Interaktion auf spezifische Weise erlebt haben. Zum einen fungierten diese Erzählungen als Ankerpunkte der eigenen Forscherbiografie, die als die weitere Entwicklung bis zum Punkt des Interviews entscheidend prägend wahrgenommen wurden. Zum anderen wurden diese persönlichen Schlüsselmomente als beispielhafte Analogie für Mensch-Roboter-Interaktion als solche herangezogen. Eine Post-Doktorandin beschrieb ihren Weg ins Feld der Robotik als vorgezeichnet durch ein Sommerpraktikum, bei dem sie einen Roboter, der ein Ausstellungsobjekt für eine Konferenz war, technisch vor Ort betreute. Es handelte sich um die eher künstlerische Installation eines Roboter-Wurms aus GlasfaserRöhrchen, der, unterstützt von wechselnder Beleuchtung, eine Art Tagesrhythmus aus Aktivität und Ruhe vollzog. Faszinierend sei für sie dabei nicht nur die technische Arbeit an der Maschine gewesen, sondern: »I got to watch all the people coming through the conference interacting with the system without needing really explanation […] so for me I got into robots by building them but also by seeing people interact with them.«40 Insbesondere, dass die Besucher*innen keine Erklärung gebraucht hätten, um mit der Installation »zu interagieren«, verweist auf ein von den Robotiker*innen häufig in diesen Erzählungen angeführtes Kriterium guter Mensch-Roboter-Interaktion: Intuitivität. Durch die Beobachtung von Besucher*innen, die die Installation zum ersten Mal sahen, wurden der Forschenden die vorsprachliche, expressive Qualität und der leibliche Effekt des Roboters auf Betrachtende erlebbar und somit erstmals bewusst. Die meisten Forschenden erklärten mir die besondere Eindrücklichkeit ihrer Schlüsselmomente damit, dass die Qualität der Interaktion im Kontrast zur Ingenieursperspektive stünde:41 Eine Mensch-Roboter-Interaktion, die in den Worten 38 Zu diesen alltagsweltlichen Heuristiken gehören implizite Methoden und alltagsweltliche Annahmen wie die I-Methodology, vgl. Akrich, Madelaine: »The De-Scription of Technical Objects«, in: Wiebe E. Bijker/John Law (Hg.), Shaping Technology / Building Society. Studies in Sociotechnical Change, Cambridge: MIT Press 1992, S. 205-224. Zur Laien-Ethnografie, vgl. A. Bischof: Soziale Maschinen bauen, S. 243. Zur Alltags-Expertise der Forschenden selbst, vgl. Collins, Harry/Evans, Robert: Rethinking expertise, Chicago: University of Chicago Press 2008.
39 Schütze, Fritz: »Zur soziologischen und linguistischen Analyse von Erzählungen«, in: Günther Dux/Thomas Luckmann (Hg.), Internationales Jahrbuch für Wissens- und Religionssoziologie, Opladen: Westdt. Verlag 1976, S. 7-41.
40 A. Bischof: Soziale Maschinen bauen, S. 237. 41 Ebd., S. 231-239.
Körper, Leib und Mystifizierung in der Gestaltung von Mensch-Roboter-Interaktion
der Forschenden »intuitiv« funktioniert, fördert demnach den spezifisch leiblichen Erlebensgehalt der menschlichen Beteiligten zu Tage. Sie ist nicht im Labor provoziert, sondern ergibt sich aus der Unmittelbarkeit der Begegnung, die von den Forschenden als »natürlich« beschrieben wird. Eine gute Mensch-RoboterInteraktion knüpft in dieser Wahrnehmung »intuitiv« an das Vorhandene an. Und das Vorhandene ist in den geschilderten Fällen die Leiblichkeit der Erfahrung der Begegnung von Mensch und Roboter. Ich lese diese epistemischen Schlüsselmomente des Selbst- und Weltbezugs der Forschenden mit Plessner als Erfahrungen von Leiblichkeit. Egal ob am eigenen Leib erfahren (auch dafür finden sich Schilderungen) oder durch die Beobachtung eines Mitmenschen – in der Begegnung mit Robotern tritt die Erfahrung des Leibs aus ihrer Latenz hervor, in Präsenz eines Roboters wird er zum erlebten und gespürten Leib. Viele der Inszenierungen, die Robotiker*innen mit ihren Maschinen vornehmen, zielen ganz gezielt auf diesen affizierbaren Leib. Sie erzeugen durch Gewalt beispielsweise Momente der Empathie für den robotischen Körper, wie etwa die berühmt gewordenen Experimente, bei denen Menschen aufgefordert wurden, Roboter, die Schmerzgeräusche von sich gaben, zu quälen.42 Durch überraschende Bewegungssequenzen oder unerwartete Konfrontation43 werden Roboter in Inszenierungen zudem eingesetzt, um den medialen und spontanen Charakter des Leibs der Beobachter*innen zu stimulieren, wie im geschilderten Fall der Mystifizierung des »Doppelgängers« (siehe Abschnitt 1). Parallel zur Laboratisierung des Körpers beispielsweise durch Annotationssysteme wie FACS verfügt die Sozialrobotik also über ein großes Reservoir der leiblichen Erfahrung von Mensch-Roboter-Interaktion bzw. deren Affizierung. Dieses ist allerdings implizit, ist gewissermaßen Teil des Betriebswissens und in den Akteuren selbst und ihren leiblichen Erfahrungen inkorporiert. Der Leib als Unmittelbares tritt in dieser Gruppe epistemischer Praktiken nicht als Entfremdung oder Störung auf, sondern als Erweiterung und Inspiration der offiziellen, wissenschaftlichen Zugänge zur Mensch-Roboter-Interaktion.
42 Darling, Kate: »Extending Legal Protection to Social Robots: The Effects of Anthropomorphism, Empathy, and Violent Behavior Towards Robotic Objects«, in: Ryan Calo/A. Michael Froomkin/ Ian Kerr (Hg.), Robot Law. We Robot Conference 2012, University of Miami 2012. Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=2044797 vom 17.9.2019.
43 A. Bischof: Soziale Maschinen bauen, S. 253-256.
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3. Mensch-Roboter-Interaktion als künstliche Natürlichkeit Ich habe gezeigt, dass die vermeintliche Handlungsfähigkeit von Robotern zu einem nicht unerheblichen Teil in deren Inszenierungen als menschenähnlich durch die Konstrukteur*innen selbst gründet. Weiter wurde rekonstruiert, dass in der Robotik zwei Bezugnahmen auf den Menschen als materielles Gegenüber typisch sind: einerseits die Laboratisierung von Affekten und Emotionen als messbare Werte an Körpern (Abschnitt 2.2), andererseits das leibliche Erleben von Mensch-Roboter-Interaktion als implizite Ressource der Robotiker*innen (Abschnitt 2.3). Diese Janusköpfigkeit im Umgang mit leiblichen Erfahrungskategorien ist durchaus typisch für ingenieurwissenschaftliche Felder. Schon Latour hat in seinen Laborstudien darauf hingewiesen, wie der vermeintlich abgeschlossenen Natur des verfertigen Computersystems komplementär immer eine praxisförmige Vollzugsform von »science in action« zur Seite steht, die nicht unwesentlich im Ausprobieren, Unsauberen, Unabgeschlossenen besteht.44 Für das Feld der Robotik selbst ist die Auslagerung leiblicher Erfahrungskategorien in alltagsweltliche Beobachtungen funktional auch kein größeres Problem. Mit Formaten wie Vorführungen auf Konferenzen, den erwähnten Demo-Videos oder Alltagsexperimenten schaffen sich die Forschenden Gelegenheiten, die Effekte und Affekte ihrer Maschinen außerhalb laboratisierter Ordnungen leibhaftig zu erleben. Worin liegt aber das Problem oder die verpasste Chance, wenn die Robotik und das interdisziplinäre Feld der Mensch-Roboter-Interaktion die unsicheren Gefilde der ästhetischen und leiblichen Erfahrung in ihrer wissenschaftlichen Selbstverständigung weitgehend ausklammert? Die Gefahr besteht nach meiner Überzeugung darin, dass die Forschenden selbst, ihre eigenen Erwartungen, Erfahrungen und Ziele, durch dieses Vorgehen aus der Gleichung der zu erforschenden Mensch-Roboter-Interaktion verschwinden und dies obwohl sie sehr aktiv zu deren Inszenierung beitragen, wie wir gesehen haben. Dieses Problem lässt sich einerseits methodologisch verstehen: Die alltagsweltlichen Erfahrungskategorien erster Ordnung, wie die vorgestellten Schlüsselmomente, beobachten ihr Beobachten nicht. Sie ref lektieren nicht, unter welchen Bedingungen und aus welcher Perspektive dieses Beobachten stattfindet, und suchen deswegen auch nicht systematisch nach Kontrasten und blinden Flecken. Das stellt einerseits eine Gefahr für die Einbindung von zukünftigen Nutzer*innen dar. Denn deren Erwartungen und Bedürfnisse stehen oftmals gegen die Forschungspraktiken der Robotik, die vor allem darauf ausgerichtet ist, handlungsfähige computerisierte Maschinen möglich zu machen – unabhängig
44 Latour, Bruno: Science in action: how to follow scientists and engineers through society, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1987.
Körper, Leib und Mystifizierung in der Gestaltung von Mensch-Roboter-Interaktion
davon, ob sich diese in Begegnungen mit Alltagswelt und untrainierten Nutzern bewähren. Wendet man diesen Befund auf die Forschenden selbst an, so kann man feststellen, dass in der Sozialrobotik nur in wenigen Fällen ein Bewusstsein dafür herrscht, was die Entwickler selbst konfiguriert – wie also ihre eigenen Praktiken und Zielstellungen im Hinblick auf ihre Gegenstände zustande kommen und welche Implikationen sie in sich tragen.45 Für die Frage der leiblichen Erfahrungskategorien heißt das, dass das Potential des (Selbst-)Erlebens nur selten ausgeschöpft wird. In nur einem Fall begegnete ich einer Forscherin, die durch Schauspielunterricht und Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Tanz versuchte, ein besseres Verständnis für die wortlose Interaktion zwischen ihren Maschinen und Menschen zu entwickeln.46 Stellt man sich diese Ausnahme als Regel vor, wird besonders deutlich, worin die verpasste Chance der Robotik besteht, wenn sie leibliche Erfahrungskategorien aus ihren offiziellen Darstellungen ausklammert: Robotik-Konferenzen könnten große, transdisziplinäre Forschungsräume an der Schnittstelle von Wissenschaftsausstellung, Performance-Kunst und wissenschaftlichem Symposium sein. Robotikforschende würden von ihrem Ausprobieren und Erleben berichten, Nicht-Technikwissenschaftler*innen ihre Expertise und Erfahrung einbringen und in der Begegnung könnten nicht nur Forschungsergebnisse präsentiert, sondern leibhaftig erarbeitet werden. Im aktuellen Modus der verunsichtbarten Inszenierung von Roboterverhalten trägt die Robotik dagegen vielmehr zu einer »diskursiv-dramatisierende[n] Infragestellung der Grenzen des Anthropologischen«47 bei: Das Feld weiß, dass Menschen im Angesicht einer Maschine, die in ihrem Äußeren und ihren Bewegungen Lebendigkeit oder gar Menschlichkeit imitiert, auf besondere Art und Weise affiziert werden. Die Verkörpertheit der Roboter evoziert eine spezifisch leibliche Erfahrungsqualität. Mit Plessner gesprochen stellt die Begegnung mit Robotern der natürlichen Künstlichkeit des Menschen eine »künstliche Natürlichkeit« gegenüber. Mensch-Roboter-Interaktion ist nicht einfach eine Frage der technischen Ähnlichkeit der Nachbildung (vermeintlich) natürlicher Verhaltensweisen. Sie greift vielmehr eine der konstitutiven Grenzziehungen des modernen Verständnisses von Menschsein an: In der Figur des anthropologischen Quadrats 45 Bischof, Andreas: »The Challenge of Being Self-Aware when Building Robots for Everyday Worlds«, in: Athanasios Karafillidis/Robert Weidner (Hg.), Developing Support Technologies (Biosystems & Biorobotics 23), Cham: Springer 2018, S. 127-135.
46 Ebd., S. 176. 47 G. Fitzi: Statusanerkennung von Robotern im Kulturvergleich: Europa und Japan; H. Matsuzaki: Grenzfragen der Mensch-Maschine-Beziehungen; A. Bischof: Die natürliche Künstlichkeit der Mensch-Roboter-Interaktion als leiblich erfahrbare Irritation des anthropologischen Quadrats.
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Andreas Bischof
beschreibt Lindemann, dass die Mensch-Maschine-Differenz ebenso wie die Mensch-Tier-Differenz (statt beispielsweise Mensch/Gott oder Mensch/Dämon) in der Moderne zu den kategorialen Grenzen des Menschseins wird.48 Die Begegnung mit Robotern ist derzeit vor allem wiederkehrender Anlass der Thematisierung dieser Mensch-Maschine-Differenz. Die Mensch-Maschine-Grenze wird durch Roboter nicht überschritten, aber durch Mensch-Roboter-Interaktion leiblich erfahrbar.
48 Lindemann, Gesa: »Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung«, in: Zeitschrift für Soziologie 38, 2 (2009), S. 94-112.
Die Herstellung von Materialität(en) beim Sichten Arbeitspraktiken der digitalen Filmproduktion Ronja Trischler
Filmen begegnet man, physisch gesehen, meist als Lichtstrahlen auf Leinwänden oder als Flüssigkristalle in LCD-Bildschirmen. Tritt man einen Schritt zurück und erweitert den Rahmen der Filmbetrachtung, sieht man Kabel, Projektoren, Speicherkarten und andere Hardware. Nähert man sich, verweisen quadratische Pixel oder Filmkörner auf Kameras oder Software, die zur Filmproduktion verwendet wurden. Diese Medien des Films lassen sich anfassen, aber ein Film selbst? Ist das audiovisuelle Artefakt materiell? Welche Rolle spielt seine Materialität in der Herstellung und Stabilisierung filmischer Bedeutung? Diese Fragen sind nicht nur filmwissenschaftlich relevant, sondern auch soziologisch, denn sie stellen sich als praktisches Problem für die Zusammenarbeit in Filmproduktionen. Besonders deutlich wird dies in digitaler Postproduktion. Denn digitale Designs können als Dateien kopiert, verschickt und auf diversen Geräten abgespielt werden und bleiben per Software veränderbar,1 ihre materielle Form scheint folglich unterbestimmt. So konstatieren auch die Herausgeber*innen eines Handbuchs für digitale Filmeffekte: »All of the improvements and progress in visual effects […] have opened creative options well into the post-production process, virtually until the last possible moment.«2 Zudem entziehen sich diese digitalen »visuellen Effekte« verbreiteten Alltagsvorstellungen, in denen Materialität mit distinkten Dingen gleichgesetzt wird. Denn ihre Gestalt verteilt sich als Pixel über Filmbilder und verpufft im filmischen Artefakt. Inwiefern hilft ein soziologisches Konzept von Materialität dabei zu verstehen, wie digitale Technologie die Möglichkeiten der Gestaltung und Erfahrung von Film beeinf lusst? Und wie kriegt man die Materialität(en) von Dateien und Software analytisch zu fassen? 1 Vgl. Manovich, Lev: »Inside Photoshop«, in: Computational Culture 1, 1 (2011), S. 1-12. 2 Fink, Michael/Morie, Jacquelyn F.: »Introduction«, in: Jeffrey A. Okun/Susan Zwerman (Hg.): The VES Handbook of Visual Effects Industry, Standard VFX Practices and Procedures. Focal Press, 2010, S. 1-16, hier S. 13.
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Ronja Trischler
Um diese Fragen zu beantworten, schlage ich vor, digitale Technologien als soziale Form zu konzipieren, deren Wirkung nur als Teil spezialisierter Praktiken erkennbar wird. Begegnungen mit Film werden in diesem Beitrag folglich als soziale, genauer noch kooperative Praktiken gedacht: In einem ersten Teil stelle ich ein soziologisches Konzept von Materialität vor, das nicht primär von physischen Gegebenheiten ausgeht, sondern von solchen Elementen sozialer Praktiken, die sich in diesen Praktiken der Einf lussnahme ihrer Teilnehmer*innen entziehen. Demnach kann man untersuchen, wie die Veränderbarkeit (von Filmeffekten) praktisch eingeschränkt wird: Die materielle Form der digitalen Arbeitsobjekte ist in der Arbeitspraxis mit der Organisation von Zusammenarbeit verbunden. So führen auch Fink/Morie3 das oben begonnene Zitat zur digitalen Postproduktion wie folgt fort: »Now, […] everything can be constantly manipulated and changed – although often with extraordinary effort.« Die bleibende Wandelbarkeit digitaler Entwürfe, ihre mediale Form, zeigt sich in der Praxis als »Mühe« für die Beteiligten, sprich als Kooperationsproblem. In der anschließenden Analyse geht es daher um die alltägliche soziotechnische Koordination von Arbeit in der Visual-Effects-Produktion. Auf Grundlage einer soziologischen Ethnografie in Visual-Effects-Studios argumentiere ich, dass die spezialisierte Herstellung von – und körperliche Begegnung mit – Materialität(en) Kooperation in der arbeitsteiligen digitalen Gestaltung ermöglichte. Im Speziellen geht es um die dort beobachtete Praxis des Sichtens, die als eine spezialisierte Begegnung mit Film verstanden wird, in der Filmeffekte bewertet und entworfen wurden: Während des Sichtens materialisierten sich Arbeitsobjekte erst als bewertbare visuelle Effekte, die die beteiligten Produzent*innen als Publikum formierten, anschließend als veränderbare Entwürfe vor einem arbeitsteiligen Projektteam. Mitarbeiter*innen erlebten Arbeitsobjekte folglich während der Sichtung abwechselnd als wiedergegeben und eingegeben. Die spezialisierten Seh- und Wiedergabepraktiken des Sichtens waren weder technisch-materiell noch kulturell durch geteilte Vorstellungen (über Filme) determiniert, sondern zeichneten sich durch ein situiertes Erleben der Arbeitsobjekte aus, die sich im soziotechnischen Zusammenspiel materialisierten.
1. Sichten als materielle Praxis Materialität und Körperlichkeit spielen im aktuellen soziologischen Verständnis sozialer Praxis eine bedeutsame Rolle.4 Für die vorliegende Untersuchung der 3 Ebd. 4 Prinz, Sophia: »Dispositive und Dinggestalten. Poststrukturalistische und phänomenologische Grundlagen einer Praxistheorie des Sehens«, in: Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie. Ein soziolo-
Die Herstellung von Materialität(en) beim Sichten
Sichtung digitaler Gestaltung betrachte ich einleitend zentrale praxistheoretische Annahmen5 zu Materialität mit Blick auf digitale Technologie (1.1) und Sehen (1.2). Es handelt sich beim Sehen demnach um keinen primär kognitiven Prozess: Als spezialisierte materielle Arbeitspraktiken (des Entwerfens und Bewertens) verstanden, wird es im Sichten soziologisch beobachtbar.
1.1 Praxistheorie und (digitale) Materialitäten Eine grundlegende praxistheoretische Annahme liegt in der wechselseitigen Konstitution von Praxis und Materialität:6 Soziale Praktiken sind essentiell an materielle Arrangements gebunden und bringen diese gleichzeitig in ihrer je spezifischen Form hervor. Hierzu zählen auch menschliche Körper, deren sinnliche Wahrnehmung ebenso eine Voraussetzung für Materialität darstellt.7 Jedoch sind nicht nur Menschen an der Herstellung des Sozialen beteiligt. Eine praxistheoretische Soziologie fragt vielmehr nach Einheiten und Gebilden, in und mit denen sich soziale Phänomene zusammensetzen.8 Sie geht damit nicht von physisch definierten Eigenschaften aus, sondern vollzieht nach, wie konkrete Dinge in der Praxis abgegrenzt werden. Beispielsweise bespricht Scheffer9 als Materialitäten eines Gerichtsverfahrens neben Raumausstattungen auch Fallgeschichten: Demnach ist materiell, was in der jeweiligen Interaktion als gegeben behandelt wird. Mit dieser Konzeption von Materialität rücken die Elemente, die zeitweigisches Forschungsprogramm, Bielefeld: transcript 2016, S. 181; Materialität wird jedoch weder im soziologischen Diskurs noch im ebenso erstarkten interdisziplinären Interesse einheitlich konzipiert. Vgl. Gießmann, Sebastian/Röhl, Tobias/Trischler, Ronja (Hg.): Materialität der Kooperation, Wiesbaden: Springer VS 2019; Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias (Hg.): Materialität: Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, München: Wilhelm Fink 2016.
5 Zur Differenzierung der Praxistheorie(n) seit dem Ausruf eines »Practice Turn« vgl. Schatzki, Theodore R./Knorr-Cetina, Karin/von Savigny, Eike (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London: Routledge 2001; Schäfer, Hilmar (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld: transcript 2016.
6 Schatzki, Theodore R.: »Praxistheorie als flache Ontologie«, in: Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld: transcript 2016, S. 33.
7 Hillebrandt, Frank: »Die Soziologie der Praxis als poststrukturalistischer Materialismus«, in: Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld: transcript 2016, S. 71
8 Schmidt, Robert: »Materiality, Meaning, Social Practices: Remarks on New Materialism«, in: Ulrike T. Kissmann/Joost van Loon (Hg.): Discussing New Materialism. Methodological Implications for the Study of Materialities, Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 147.
9 Scheffer, Thomas: »Materialitäten im Rechtsdiskurs. Von Gerichtssälen, Akten und Fallgeschichten«, in: Kent T. Lerch (Hg.): Recht vermitteln. Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 349–376.
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se als unveränderlich behandelt werden, in den Blick der vorliegenden Untersuchung. Das impliziert erstens, dass was sich auf welche Weise materialisiert, vom jeweiligen Kontext abhängt. Zweitens sind multiple, verbundene Materialitäten an Praktiken beteiligt. In den hier untersuchten Gestaltungsprozessen geht es um die gezielte Hervorbringung kultureller Artefakte. Dazu tragen unterschiedliche Einheiten bei, deren materielle Eigenlogiken im Kontext digitaler Technologie sozialwissenschaftlich thematisiert werden: Gegen eine initiale Beschreibung digitaler Virtualität wird der Einf luss von (Computer-)Hardware hervorgehoben, beispielsweise in Form von verwendeten Rohstoffen, Computerschnittstellen oder »e-waste«10. Und auch Software bzw. Code11 beeinf lussen Praxis, z.B. durch ihre »Runtime«12. Ebenso formen menschliche Körper (und ihre sinnlichen Grenzen) digitale Praktiken.13 Aus praxistheoretischer Sicht sollten diese Kategorien des Materialen jedoch nicht starr gedacht werden, denn sie greifen sozialer Realität voraus, in der die jeweiligen Einheiten und ihre Skalierungen praxisbedingt als für die Praxis als gegeben entstehen. Software und Dateien werden beispielsweise immer über spezifische Hardware gebraucht, die deren Nutzung beeinf lusst. Nach Rammert14 können Körper, Zeichen bzw. Software oder Dinge bzw. Hardware vielmehr als Medien verstanden werden, in deren Verbindung sich soziotechnische Wirkungen wiederholbar materialisieren. Das heißt, um die Materialitäten der Postproduktion zu bestimmen, ist man auf ihre spezialisierten Praktiken zurückgeworfen. Gestalten kommt somit als soziomaterielle und kooperative Praxis in den Blick,15 auch im Fall computerisierter Arbeit.16 Aus diesen Überlegungen ergibt sich auch, dass Praktiken, weil sie sich in verschiedenen Medien materialisieren, (soziologisch) beobachtbar werden. Dies ist die Grundlage für die vorliegende Untersuchung von Visual-Effects-Sichtungen 10 Parrika, Jussi: »New materialism as media theory: Medianatures and dirty matter«, in: Communication and Critical/Cultural Studies 9, 1 (2012), S. 95-100.
11 Chun, Wendy H. K.: Programmed Visions. Software and Memory, Cambridge: MIT Press 2011. 12 Passoth, Jan-Hendrik: »Hardware, Software, Runtime. Das Politische der (zumindest) dreifachen Materialität des Digitalen«, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 10, 1 (2017), S. 57-73.
13 Vgl. Knorr-Cetina, Karin: Die synthetische Situation, in: Ruth Ayaß/Christian Meyer (Hg.): Sozialität in Slow Motion: theoretische und empirische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 81-110.
14 Rammert, Werner: Technik – Handeln – Wissen. Zu einer pragmatistischen Technik- und Sozialtheorie. Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 16.
15 Vgl. Farías, Ignacio/Wilkie, Alex (Hg.): Studio studies: notes for a research program, London, New York: Routledge 2015.
16 Vgl. Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin: Suhrkamp 2012; Krämer, Hannes: Die Praxis der Kreativität. Eine Ethnografie kreativer Arbeit, Bielefeld: transcript 2014.
Die Herstellung von Materialität(en) beim Sichten
mittels »fokussierter Ethnografie«17: Im vorliegenden Beitrag berichte ich aus zwei Visual-Effects-Firmen in England und Deutschland, die ich zwischen 2014 und 2018 jeweils wiederholt ein bis zwei Wochen besucht habe. Vor Ort habe ich Arbeitstätigkeiten beobachtet und teils aufgezeichnet.18 Die hier fokussierten Visual-Effects-Sichtungen erlebte ich als besonderen Aspekt des Arbeitsalltags: Wie ich noch zeige, kamen die Produzent*innen dafür regelmäßig in kinoartigen Sichtungszimmern zusammen, um ihre Arbeits(zwischen)ergebnisse auf dem big screen zu sichten. Im nächsten Abschnitt elaboriere ich, wie die dort erfolgten Arbeitstätigkeiten als körperliche Sehpraktiken beobachtet werden konnten.
1.2 Sehen als materielle Arbeitspraxis Wie ich argumentiere, lassen sich Sehpraktiken, wie das hier untersuchte Sichten von digitalem Filmmaterial, als spezifische Form der Begegnung mit dem Materiellen verstehen. Was in Praktiken sichtbar wird, ist dabei medial vermittelt. Demnach ist Sehen erstens eine materielle Praxis zwischen wahrnehmenden Körpern und wahrnehmbaren Dingen in situierten räumlichen Arrangements, die sich zweitens beim Sichten (von Filmmaterial) auf spezialisierte Art vollzieht, sprich als Teil alltäglicher Arbeitsprozesse bestimmte Menschen, Zeichen und Dinge umfasst. Im hier untersuchten Fall digitaler Postproduktion geht es drittens um ein bewertendes Sehen als ein Aspekt ästhetischer Arbeit. In der Soziologie ist weitgehend unbestritten, dass wie jemand (etwas) sieht, – zu großen Teilen – sozial bedingt ist. Das heißt, was Menschen sehen, gestaltet sich unterschiedlich, jedoch nicht willkürlich. Aus praxistheoretischer Sicht bringen sich dabei Wahrnehmende und Wahrgenommenes während des Sehens in ihrer Form gegenseitig hervor. So entsteht z.B. ein »visueller Eigenwert« von Bildern laut Burri, indem diese auf bestimmte Art angeschaut oder besprochen werden.19 (Dabei kommt Bildern ein Doppelstatus zu,20 denn auch ihre materielle Konstitution als kulturelle Artefakte ergibt sich in den Praktiken, in denen sie produziert, transportiert oder gelagert werden.) Auf der Seite der Wahrnehmenden basiert, wie Bilder wahrgenommen werden, nicht ausschließlich auf dem menschlichen Auge, sondern auf verschiedenen Sinnen, die in der Praxis zusam17 Knoblauch, Hubert: »Fokussierte Ethnographie: Soziologie, Ethnologie und die neue Welle der Ethnographie«, in: Sozialer Sinn 2, 1 (2001), S. 123-141.
18 Dieser Beitrag basiert auf meiner Doktorarbeit zur Arbeitsorganisation in Visual-EffectsFirmen, in der die methodischen Prämissen der Studie ausgiebiger besprochen werden. Vgl. Trischler, Ronja: Visual Effects. Digitale Gestaltung organisieren. Doktorarbeit, Institut für Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt 2019.
19 Burri, Regula V.: »Bilder als soziale Praxis: Grundlegungen einer Soziologie des Visuellen«, in: Zeitschrift für Soziologie 37, 4 (2008), S. 348.
20 Ebd.
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menspielen.21 Körper werden beim Sehen nicht nur positioniert, ausgerichtet und fokussiert, um (etwas) sehen zu können. Ihre Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Form wird durch »wiederholte Konfrontation mit den Gestalten ihrer Welt« geprägt.22 Je nach Praxis sind hierfür außerdem Sehwerkzeuge nützlich oder notwendig, sodass die Wahrnehmenden auch nicht in jedem Fall entlang der physischen Grenzen menschlicher Körper gedacht werden können. Um die Begegnung mit entstehenden Visual Effects in Sichtungen zu verstehen, frage ich demnach nach Spezialisierungen des Sehens, die mit den wiederholten Wahrnehmungen zusammenhängen. Sehpraktiken können sich zu einer »professional vision«23 bündeln, im hier untersuchten Fall sind sie Teil einer Arbeitspraxis, in der Bilder durch spezialisierte Praktiken sinnhaft und relevant werden. Daher wird Sichten im Sinne einer Workplace Study24 im Kontext arbeitsteiliger soziotechnischer Prozesse untersucht. Diese (Erwerbs-)Arbeit umfasst körperliche Praktiken (wie z.B. Filmprojektion25), die auf spezifische Werkzeuge angewiesen sind (z. B. zur Videowiedergabe26). Dies schließt ein »sensorial work«27 ein, d.h. Sinne werden für und in der Arbeit grundlegend geschärft und genutzt. In der Postproduktion kann Sichten dabei analog zu anderen Formen des »tasting«28 verstanden werden, das heißt als eine Bewertungspraxis,29 die primär körperlich vollzogen wird. Hennion beschreibt in diesem Kontext eine praktische Bindung zur Welt, in deren Vollzug wertvolle Objekte wie wertschät-
21 Burri, Regula V./Schubert, Cornelius/Strübing, Jörg: »Introduction: The Five Senses of Science. Making Sense of Senses«, in: Science, Technology Innovation Studies 7, 1 (2011), S. 3-7.
22 S. Prinz: Dispositive und Dinggestalten. S. 182; vgl. Göbel, Hanna K./Prinz, Sophia (Hg.): Die Sinnlichkeit des Sozialen: Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld: transcript 2015, S. 9-49.
23 Goodwin, Charles: »Professional Vision«, in: American Anthropologist 19, 3 (1994), S. 441-447. 24 Knoblauch, Hubert/Heath, Christian: »Technologie, Interaktion und Organisation: Die Workplace Studies«, in: Schweizer Zeitschrift für Soziologie 25, 2 (1999), S. 163-181.
25 Vgl. Cartwright, Lisa.: »The Hands of the Projectionist«, in: Science in Context 24, 3 (2011), S. 443464.
26 Vgl. Tuma, René: Videoprofis im Alltag. Die kommunikative Vielfalt der Videoanalyse, Wiesbaden: Springer VS. 2017.
27 Gibson, Will/vom Lehn, Dirk: »Seeing as accountable action: The interactional accomplishment of sensorial work«, in: Current Sociology (2019).
28 Mondada, Lorenza: »The multimodal interactional organization of tasting: Practices of tasting cheese in gourmet shops«, in: Discourse Studies 20, 6 (2018), S. 743-769.
29 Vgl. Janetzko, Alexandra: »Professionelles Sehen. Sichtungspraktiken im Tanzsport«, in: Sport und Gesellschaft 12, 2 (2015), S. 105-131. Bewertung und ihre Praktiken haben zuletzt auch jenseits von Gestaltung vermehrt Aufmerksamkeit erfahren. Vgl. Peetz, Thorsten/Aljets, Enno/ Meier, Frank/Waibel, Désirée/Ettrich, Frank (Hg.): »Soziologie der Bewertung«, in: Sonderheft Berliner Journal für Soziologie 26 (2016), S. 3-4.
Die Herstellung von Materialität(en) beim Sichten
zende und zur Wertschätzung fähige Akteure entstehen.30 Damit kann »tasting« beispielsweise von quantifizierbaren technischen Messungen abgegrenzt werden und erscheint als typisch für schöpferische Arbeit an Neuem:31 Für das hierbei erfolgende Testen (von Entwürfen, Versionen etc.) ist die körperliche Wahrnehmung durch kompetente Tester*innen entscheidend. Dabei sind Bewerten und Entwerfen eng verstrickt32 und Wechsel zwischen unterschiedlichen Materialisierungen des zu gestaltenden Dings hilfreich, da dieses dadurch gleichzeitig stabilisiert und veränderbar erscheint.33 Sehen wird demnach als Teil spezialisierter Praktiken soziologisch beobachtbar. Auch wenn es erlernt und erprobt ist, und standardisierte Sehwerkzeuge vorliegen, kann es als situierte »practical accomplishments«34 nachvollzogen werden: Damit ist erstens gemeint, dass in jeder Sichtung erneut das Sehen der Arbeitsobjekte im Hinblick auf die vollzogene Arbeitstätigkeit gemeistert werden muss; zweitens, dass die beobachteten Menschen hierbei als kompetente Mitglieder dieser Praxis begriffen werden. Dieser gekonnte praktische Vollzug zeigt sich besonders deutlich im Kontext von Gestaltung, in der stets neue bzw. veränderte Bilder betrachtet werden. Um nachzuvollziehen, wie Visual-EffectsProduzent*innen in Sichtungen Filmeffekte sehen, habe ich mich also am Produktionsort mit den Arbeitspraktiken vertraut gemacht:35 Dafür habe ich Sichtungen und anderen Arbeitsaktivitäten beigewohnt sowie ergänzende Gespräche mit den Beteiligten geführt. Durch die Analyse von Feldnotizen wurde eine methodische Distanzierung von Praktiken wie Filmegucken oder E-Mails schreiben möglich, die mir als Beobachterin kulturell vertraut waren. Durch diesen systematischen Wechsel zwischen Befremdung und Vertrautmachen36 konnte der professionelle Blick beim Sichten als gekonnter und voraussetzungsreicher Vollzug 30 Hennion, Antoine: »Paying attention: What is tasting wine about?«, in: Ariane Berthoin Antal/ Michael Hutter/ David Stark (Hg.): Moments of valuation. Exploring sites of dissonance, Oxford: Oxford University Press 2015, S. 37-56.
31 Hutter, Michael/Farías, Ignacio: »Sourcing newness: Ways of inducing indeterminacy«, in: Journal of Cultural Economy 10, 5 (2017), S. 442.
32 Vgl. Janda, Valentin: Die Praxis des Designs. Zur Soziologie arrangierter Ungewissheiten, Bielefeld: transcript 2018; Krämer, Hannes: »Graphic Vision. Praktiken des Sehens im Grafikdesign«, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hg.): Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 205-226.
33 Yaneva, Albena: »Scaling up and down: Extraction trials in architectural design«, in: Social Studies of Science 35 (2005), S. 867-894.
34 Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, N.J.: Prentice Hall 1967. 35 Vgl. Broth, Mathias: »The studio interaction as a contextual resource for TV-production«, in: Journal of Pragmatics 40, 5 (2008), S. 904-926.
36 Amann, Klaus/Hirschauer Stefan: Die Befremdung der eigenen Kultur: Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.
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spezialisierter kooperativer Praktiken erkannt werden. Er baute auf die Koordination und Gestaltung verschiedener Körper, Dinge und Zeichen, die im Gegenzug zur Ordnung der kooperativen Praxis beitrugen.
2. Filmeffekte sichten Das regelmäßige, meist kollektive Sichten von Arbeitsresultaten zeigte sich in den besuchten Visual-Effects-Firmen als eine zentrale Produktionspraxis. Hier entschieden die Beteiligten anhand der visuellen Erscheinung der Effekte, wie sie mit ihnen weiter verfuhren. Sichtungen fanden als Teamtreffen in separaten Zimmern mit Spezialausstattung statt; es entstand eine klare zeitlich, räumlich und personell gerahmte »Gesamtsituation«37. An den dabei beobachteten Praktiken, in denen Arbeitsobjekte getestet, bewertet, analysiert und weiterverarbeitet wurden, zeige ich, dass die spezialisierte Hervorbringung der Arbeitsobjekte als materielle Artefakte – und die dadurch ermöglichten unterschiedlichen Begegnungen der Produzent*innen mit ihren Arbeitsobjekten – wichtige Grundlagen für die geteilte Arbeit an Filmeffekten darstellten. Die Praktiken stelle ich im Folgenden analytisch verdichtet als zwei spezialisierte Sichtweisen der Postproduktion dar, die ich als Super-Vision und Re-Vision38 bezeichne. Ging es in der Super-Vision (2.1) zunächst um die binäre Frage, ob gesichtete Effekte wirkten (oder nicht), wurden die gleichen Entwürfe in der anschließenden Re-Vision (2.2) nach vergangenen Arbeitsschritten und zukünftigen Gestaltungsmöglichkeiten befragt. Die Sichtweisen unterschieden sich im praktischen Bezug der Anwesenden zu den Effekten und darin, wie letztere inszeniert wurden. Diese Varianz stelle ich als ein entscheidendes Element digitaler Postproduktion heraus: Sichtungen zeichneten sich durch unterschiedliche Begegnungen mit dem Materiellen aus; und das, obwohl für Super-Vision und Re-Vision dieselben Dateien und Soft- und Hardware verwendet wurden. Die spezialisierte Praxis lese ich damit als organisatorische Antwort auf die Anforderungen digitaler Arbeitsobjekte, die jederzeit gesichtet werden können,39 deren Aussehen jedoch von den jeweils verwendeten Dateiformaten (wie Videodateien,
37 Goffman, Erving: Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum, Gütersloh: Bertelsmann 1971.
38 Durch die Bindestriche wird angezeigt, dass es sich um analytische Konzepte handelt, die (lediglich) in Anlehnung an Feldbegriffe gewählt wurden.
39 Laurier, Eric/Strebel, Ignaz/Brown, Barry: »Video Analysis: Lessons from Professional Video Editing Practice«, in: Forum Qualitative Social Research 9, 3 (2008), S. 42.
Die Herstellung von Materialität(en) beim Sichten
Computersimulationen) und Geräten (Laptop, Leinwand)40 sowie Praktiken des Sehens (z.B. anschauen, besprechen, zeigen) und der Wiedergabe (z.B. abspielen, anhalten, skalieren) abhing. Ein Mitarbeiter bezeichnete dementsprechend Sichtungen als »controlled conditions«41 und grenzte sie von anderen Rezeptionssituationen während der Produktion ab.
2.1 Wiedergegebene Effekte Beim Sichten erfuhren Visual Effects zunächst eine binäre Bewertung: Wirken sie – oder nicht? Um ihr ästhetisches Potenzial zu ermessen, wurden die Arbeitsobjekte dabei aus dem restlichen Arbeitskontext freigestellt und als Teil einer Kinoatmosphäre getestet: Der spezialisierte Umgang erlaubte es Produzent*innen ihre Arbeitsdinge, die sie vor- und nachher als gestaltbar erlebten, als distinkte, stabile »Visual-Effects-Shots« zu sehen – und zu bewerten. Sie behandelten diese dabei temporär als »gegeben«42, genauer als wiedergegebene Effekte, deren Wirkung jenseits ihrer situierten Einf lussnahme als Publikum lag. Diese Materialisierung ermöglichte also eine Bewertung der Gestaltung, die durchaus heikel war. Denn damit wurden nicht nur Effekte, sondern ebenso getane Arbeit einzelner Mitarbeiter*innen durch die Projektleitung autorisiert. Die spezialisierte Sichtung federte die Hierarchieausübung praktisch ab, indem das Projektteam die Arbeitsobjekte als Publikum ähnlich erleben und gleichermaßen Anteil an der Schöpfung von Effekten haben konnte. Diese Analyse, wie sich in einer Super-Vision Effekte materialisierten und wie dies Kooperation stiftete, stelle ich in den folgenden drei Unterkapiteln beispielhaft an einer ethnografischen Episode dar, die typisch für das Vorgehen in VisualEffects-Sichtungen war: Feldnotiz (Firma UK2, 11.11.2016) Gegen 10 Uhr gehe ich [F] in den »Screening Room«, laut Firmenkalendar sind Sichtungen angesetzt. Die Tür steht offen, Projektkoordinator [K1] sitzt an der Steuerungseinheit hinten im Zimmer, Koordinator [K2] steht daneben. Als K1 sagt, er sei soweit, erwidert K2, er hole die Leute und verlässt den Raum. Ich setze mich in die letzte Reihe der Kinobestuhlung. Wenig später kommen Producerin [P1], dann K2 und Supervisor [S1] mit einer Gruppe Artists [A] herein. Alle setzen sich zügig, nur wenige Sessel bleiben frei. Jemand schließt die Tür, um 10:04 Uhr geht das Licht aus und die Wiedergabe beginnt auf der Leinwand: Zwei Frauen laufen eine Stra40 Vgl. Finance, Charles/Zwerman, Susan: The Visual Effects Producer. Understanding the Art and Business of VFX, Elsevier Inc. New York, London: Focal Press 2010, S. 256.
41 Zitate aus dem Untersuchungsfeld sind kursiv und in doppelte Anführungszeichen gesetzt. 42 T. Scheffer: Materialitäten im Rechtsdiskurs, S. 351.
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ße entlang. Die Anwesenden schweigen, ihre Köpfe sind auf die Leinwand ausgerichtet. Die Wiedergabe wiederholt sich in Schleife, bis [S1] das Schweigen bricht: »ok«. Die Wiedergabe eines anderen »Shots« beginnt und wird wiederholt.
2.1.1 »Visual-Effects-Shots« freistellen In der dargelegten Episode wurden die gesichteten Entwürfe freigestellt, um bewertet zu werden. Damit ist gemeint, dass sie durch eine spezialisierte Behandlung vor Ort als distinkte visuelle Objekte, – auch für die Forscherin als »Shots« erkennbar – aus dem sonstigen Produktionskontext gelöst wurden. Dass und was dabei zu sehen war, wurde im Sichtungsraum performativ hergestellt; 43 hieran waren verschiedene Möbel (z.B. »Kinobestuhlung«), Technologien (»Licht«, »Wiedergabe« etc.) und Körper (»sitzen«, »Köpfe«) beteiligt, ohne die Praxis jeweils zu determinieren. So zeigten sich die Anwesenden mit ihrer anhaltenden körperlichen Ausrichtung auf die Wiedergabe und der Minimierung sprachlicher Äußerungen gegenseitig an, dass es jetzt darum ging, was sie sahen. Im Gegenzug erzeugte die stete Projektion im Vollbild optisch einen Rahmen im abgedunkelten Zimmer; eine wichtige Komponente für die Einheit ästhetischer Objekte, wie bereits Simmel für analoge Kunstwerke formulierte.44 Durch die automatisierte Wiedergabeschleife wurden die kurzen Videodateien zeitlich als unterscheidbare »Shots« erkennbar. Auch das »Ok« (oder in anderen Episoden häufig auch »next«) des »Supervisors« untermalte diese Rhythmisierung des zu Sehenden. Und die räumliche Trennung von Leinwandwiedergabe und Steuerungseinheit hinter der Kinobestuhlung stützte den Eindruck freigestellter Effekte als »Wahrnehmungsschranke«45, indem sie die Kontrolle über die Projektion (zwischen Vorführer K1, Steuerungscomputer, Firmennetzwerk und Projektor) auf die Hinterbühne der Sichtung verlegte. D amit wurde weder sprachlich noch praktisch deutlich, wer die gesichteten Effekte zeigte46 – oder durch die Wiedergabe »autorisierte«47: Die Videodatei wurde damit insbesondere vom Mitarbeiter gelöst, der diese erstellt hatte und dessen Anwesenheit in der Sichtung auch folgerichtig nicht für mich beim Protokollieren ersichtlich wurde, sondern erst durch Kontextwissen erschlossen werden konnte. 43 R. V. Burri: Bilder als soziale Praxis, S. 348. 44 Vgl. Simmel, Georg: Der Bilderrahmen, in: Der Tag, vom 18.12.1902. Siehe: http://socio.ch/sim/ verschiedenes/1902/bildrahmen.htm vom 26.8.2019.
45 Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 2000 [1956], S. 286.
46 Knoblauch, Hubert: »Wissens-Präsentationen. Zeigen und Wissen bei Powerpoint-Präsentationen«, in: Renate Lachmann/Riccardo Nicolosi/Susanne Strätling (Hg.): Rhetorik als kulturelle Praxis, München: Fink 2008, S. 267.
47 Przyborski, Agjala: Bildkommunikation. Qualitative Bild- und Medienforschung, Berlin, Boston: de Gruyter 2018, S. 346.
Die Herstellung von Materialität(en) beim Sichten
Diese Übergabe des »Shots« vom Mitarbeiter an die Sichtung wurde auch durch die Anwesenheit anderer Mitarbeiter*innen gestützt, in deren Gruppe der Einzelne aufgehen konnte. Aufgrund ihrer performativen Gleichförmigkeit erschien diese Gruppe als Publikum. Dabei prägten die vorinstallierten Sitzmöbel buchstäblich die Perspektive der Teilnehmer*innen auf die Arbeitsdinge und untereinander. Sie bereiten einen geteilten Fokus vor, indem sie die Körper erwartbar im Raum verteilten und relationale Blickpositionen anboten.48 Die serielle, erhöhte Reihenbestuhlung erleichterte den Blick auf die Arbeitsobjekte; die Ränge standardi-sierten gleichzeitig die Verteilung der Körper im Raum. In der Super-Vision sprach die Raumgestaltung damit nicht nur symbolisch ein »kulturelles Hintergrundwissen«49 zum Kino an, sondern wirkte situativ handlungsentlastend: Aus dem physischen Einf luss gerückt, konnten sich die Produzent*innen hier zurücklehnen und in das Publikum integriert nur noch schauen.
2.1.2 Erfahrung testen Wie im »Ok« des Projektleiters erkennbar, waren Begegnungen zwischen Publikum und »Shot« in der Super-Vision auf eine binäre Bewertung ausgerichtet. Wie ich nun zeige, erforderte diese von den Produzent*innen ein körperliches Erleben der Arbeitsobjekte, das sich auf deren affektiv-ästhetisches Potenzial50 richtete. Hier war beobachtbar, dass als Teil der Arbeit an Visual Effects eine Atmosphäre hergestellt wurde, in der die Arbeitsobjekte für Produzent*innen als Filmeffekte erlebbar und bewertbar wurden. Der Ausgang der Super-Vision war stets ungewiss: Wie die arbeitsalltägliche Wiederholung des Prozedere verdeutlicht, musste jeder einzelne Effekt gesehen und getestet werden, um zu entscheiden, ob er wirkte (oder nicht). Diese visuelle Hervorbringung ist typisch für (grafische) Gestaltung.51 Laut Hennion stehen bei einem solchen »tasting« bewertete Objekte und Tester*innen in praktischer Verbindung.52 Die je ähnlich wiederholte Bewertung in Sichtungen zeigt, dass es 48 T. Scheffer: Materialitäten im Rechtsdiskurs. S. 356. 49 Hirschauer, Stefan: »Intersituativität: Teleinteraktionen und Koaktivitäten jenseits von Mikro und Makro«, in: Bettina Heintz/Hartmann Tyrell (Hg.): Interaktion – Organisation – Gesellschaft. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen, Stuttgart: Lucius Lucius 2014, S. 113.
50 Obwohl die kulturell geprägte leibliche Wahrnehmung der untersuchten Produzent*innen von der soziologischen Beobachterin nicht empfunden werden konnte, wurde sie – in der Verbindung ethnografischer Gespräche, der Beobachtung von Sichtungen und insbesondere meines eigenen Empfindens währenddessen –, als beruflich spezialisiert nachvollziehbar. Vgl. Simmel, Georg: Soziologische Ästhetik, Wiesbaden: Springer VS 2009; Pfaller, Larissa/Wiesse, Basil: »Affektive Gestimmtheiten in den Sozial- und Kulturwissenschaften«, in: dies. (Hg.): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 1-27.
51 H. Krämer: Graphic Vision, S. 217 f. 52 Vgl. A. Hennion: Paying attention, S. 37-56.
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dabei nicht (nur) darum ging, dass Effekte gesehen wurden, sondern auch wie. Teilnehmer*innen und Effekte kamen dafür meist in kinoartigen Sichtungszimmern zusammen, deren spezialisierte Ausstattung und Nutzung wiederum die Einbettung des dort vollzogenen Sehens in andere körperliche Praktiken jenseits des Sehens offenlegt. So trugen die körperliche Anwesenheit der Teammitglieder in den Zimmern, ihre anhaltende bequeme Sitzhaltung auf den Polstermöbeln, ihre Ausrichtung auf die Leinwand, ihre Verteilung auf den Sitzreihen, ihr Schweigen als Publikum wie auch die Abdunklung zur Projektion im geschlossenen Zimmer Anteil daran, wie sie den Arbeitsobjekten lokal begegneten. Indem sich die Teilnehmer*innen in diesem Setting per Sitzen, Ausrichten, Schweigen etc. körperlich bereit machten, die Effekte zu sehen, trugen sie zur Möglichkeit des Testens bei. Das körperliche Bereitmachen war entscheidend, da die Bewertungspraxis auf die affektive Qualität der Effekte zielte. Deutlich wird das in der Aussage eines Projektleiters, der mir außerhalb der Sichtung seine Bewertung wie folgt beschrieb: »So yeah you always go with your gut reaction when you see somethin’ you go – somethin’s not right«. Beim Testen prüfte der Interviewte demnach die Effekte über seine leibliche Erfahrung. Aus praxistheoretischer Sicht besitzen alle Praktiken eine affektive Intensität, die sich aus dem Zusammentreffen ihrer Elemente ergibt, zur Teilnahme motiviert und Aufmerksamkeit lenkt.53 Während dies aber in vielen Praktiken im Hintergrund abläuft, richtete sich die Praxis der Super- Vision auf ihre eigene Affektivität. Dabei wurde das ästhetische Potenzial der Effekte (als eine spezifische affektive Qualität) getestet. Ästhetik meint hier, dass sinnliche Wahrnehmung zum Selbstzweck der Sichtung wurde:54 In der Super-Vision war beobachtbar, dass Effekte in den Fällen positiv bewertet wurden, in denen die Anwesenden nichts weiter tun mussten, als diese wahrzunehmen. Dies wurde als Anforderung durch die kinoartige Einrichtung des Sichtungszimmers expliziert – aber durch diese gleichfalls in ihrer handlungspraktischen Entsprechung erleichtert. Betrachtet man die ästhetische Praxis in Verbindung mit der eindeutigen zeitlichen, räumlichen und personellen Rahmung der Sichtungstreffen, kann sie als Herstellung einer lokalisierten Atmosphäre verstanden werden, in der Arbeitsobjekte als Filmeffekte erlebbar wurden. Damit ist gemeint, dass die ästhetische
53 Reckwitz, Andreas: Praktiken und ihre Affekte. Zur Affektivität des Sozialen, in: ders.: Kreativität und soziale Praxis, Bielefeld: transcript 2016, S. 100.
54 Krämer, Hannes: »Was ist ästhetisch an ästhetischer Arbeit? Zur Praxis und Kritik zeitgenössischer Erwerbstätigkeit«, in: Ove Sutter/Valeska Flor (Hg.): Ästhetisierung der Arbeit: Empirische Kulturanalysen des kognitiven Kapitalismus, Münster: Waxmann 2017, S. 277-292.
Die Herstellung von Materialität(en) beim Sichten
Arbeit in der Sichtung Aussehen und Ausstrahlung erzeugte.55 Die Einrichtung des Sichtungsraums trug zur Erleichterung des Übergangs von den Arbeitstätigkeiten am Schreibtisch hin zur Sichtung bei. Denn wie Meyer/von Wedelstaedt am Beispiel der »Einstimmung« im Profi-Sport beschreiben, müssen solche Sprünge von den Teilnehmer*innen interaktiv gemeistert werden.56 In der Sichtungsatmosphäre erfuhren die Anwesenden die Wiedergabe dann durch ihren Leib im Publikum: »Die atmosphärische Erfahrung [...] ist eine anonyme, eine Man-Erfahrung. Der eigene Leib, die Leiber der anderen und die Welt der Gemeindinge werden in ihrem Zusammenspiel als extern erfahren«.57 Als Teil des Sichtens hatte das immersive mediale »Präsenzerleben«58 seine Bedingungen in der simultanen Wahrnehmung des eigenen Leibs und des lokalen Umfelds aus Filmprojektion und Publikum im Sichtungszimmer.
2.1.3 Arbeit abnehmen Auch wenn Effekte zur Bewertung wie dargelegt von einzelnen Produzent*innen freigestellt wurden, verschwand der Produktionszusammenhang jedoch nicht vollständig aus der Super-Vision. Nicht nur fand die Sichtung während der Arbeitszeit und in Firmenräumlichkeiten statt. Die Bewertung nahm auch stets der »Visual-Effects-Supervisor«59 vor: In der Super-Vision wurden gelungene Filmeffekte und gelungene Arbeit produziert. Das Projektteam formierte sich dabei gleichzeitig als gleichförmiges Publikum und in hierarchischer Relation. In dieser Begegnung mit den Arbeitsobjekten wurde die Arbeitsteilung der Gestaltung praktisch versöhnt: Sie ermöglichte eine Bewertung durch die Projektleitung, in deren Ausübung sich letztere jedoch performativ zurücknahm und die Arbeitsobjekte auf das Publikum wirken ließ. Eine Autorisierung durch fachliche Expertise ist keine Einbahnstraße,60 vielmehr benötigte die Ausübung personeller Autorität des Supervisors in der Praxis des Sichtens auch die gesichteten Effekte. In der Beispielepisode setzte sich der 55 Vgl. Böhme, Gernot: »Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie«, in: Kaspar Maase (Hg.): Die Schönheiten des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, Frankfurt am Main, New York: Campus 2008, S. 29; A. Reckwitz: Praktiken und ihre Affekte, S. 111 f.
56 Meyer, Christian/von Wedelstaedt, Ulrich: »Zur Herstellung von Atmosphären. Stimmung und Einstimmung in der Sinnprovinz Sport«, in: Larissa Pfaller, Basil Wiesse (Hg.): Stimmungen und Atmosphären, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 233-262.
57 Ebd, S. 236. 58 Vgl. Wirth, Werner/Hofer, Matthias: »Präsenzerleben. Eine medienpsychologische Modellierung«, in: Montage AV, 17, 2 (2008), S. 159-175.
59 Die Deklination richtet sich nach dem Feldgebrauch der Anglizismen im generischen Maskulinum.
60 Vgl. Daston, Lorraine/Galison, Peter: »The Image of Objectivity«, in: Representations 40 (1992), S. 81-128.
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Supervisor durch einen kurzen Redebeitrag in eine normative Beziehung zum Arbeitsobjekt, womit er die vorhergehende Freistellung wiedergegebener Effekte beendete und das zu Sehende »autorisierte«61. Anders als z.B. bei Briefen, in denen Verfasser*innen von Aussagen expliziert werden, realisierte sich die Verantwortung für das Gesagte im Sprechakt selbst. Denn die Stimme konnte von den Anwesenden zugeordnet werden; im Beispiel deutete der Filmvorführer Abbildung 01: Sitzordnung der Sichtung aus den Feldnotizen (Firma UK2, 11.11.2016).
- Leinwand – K2 — — A A A P1 — S1 A A A A A A K1
— F
das gehörte »Ok« als Anweisung, den nächsten »Shot« abzuspielen. So klar die Bewertung damit auch formuliert war, subsumierte der Supervisor die bewerteten Effekte mit dem »Ok« jedoch nur minimal durch andere (verbale) Zeichen. Er unterstrich damit deren eigenständige (visuelle) Wirkung als evident – und zwar für das Publikum. Denn die Kommunikation war nicht nur an den Vorführer gerichtet: Im »Ok« manifestierte sich gleichfalls eine Hierarchie als Kompetenzund Weisungsabstufung gegenüber den anderen Anwesenden, die diese Bewertung nicht trafen bzw. treffen durften und für die es von Relevanz war, wie ihre Arbeit bewertet wurde. Gleichzeitig inszenierte es den Abnahmeakt nicht groß symbolisch gegenüber den Mitarbeiter*innen. Die Performanz von Autorität erfolgte also gegenüber den Arbeitsobjekten und Mitarbeiter*innen in reduzierter Form. Deutlich wurde diese zurückhaltende Hierarchieausübung auch in der freien Platzwahl der Sichtung (vgl. »S1«, Abb. 01): Die Projektleitung nahm hier üblicherweise mittig Platz; aus der Frontalperspektive wurden die geringsten Verzerrungen der Wiedergabe und die höchste Deckung ihres Sichtfelds erreicht. Gleichzeitig blieben sie somit meist Teil des gleichförmigen Publikums in den
61 A. Przyborski: Bildkommunikation, S. 347.
Die Herstellung von Materialität(en) beim Sichten
Kinoreihen, was den Eindruck der gesichteten Effekte als Medienerzeugnisse mit genereller, sprich exportierbarer Wirkung unterstützte. Als Teil von Arbeit hatte die Materialität der Filmeffekte in der Sichtung also auch Anteil an den Arbeitsrelationen zwischen den Beteiligten inklusive der Hierarchie im Projektteam. Arbeitsteilige »Kreativarbeit« zeichnet sich durch multiple Autor*innenschaften aus, in der Postproduktion arbeiteten an einem »Shot« meist verschiedene »Artists«. Die Autorisierung in der Super-Vision markierte einen kooperativen Übergang in dieser Arbeitsteilung: Die Zuständigkeit einzelner Mitarbeiter*innen wurde durch die Abnahme an den Supervisor übertragen, der gelungene Effekte später gegenüber Kund*innen vertrat. Indem in der Super-Vision ein einheitliches ästhetisches Objekt auf eine einheitliche Gruppe traf, wurden die medialen und organisatorischen Formen praktisch versöhnt. Damit ist gemeint, dass aus dem Publikum heraus das differenzierte Projektteam gleichermaßen Anteil an der Schöpfung wiedergegebener Effekte haben konnte.
2.2 Eingegebene Effekte Identifizierten Produzent*innen unerwünschte Effekte, lief die Sichtung zwar weiter, es brach aber eine andere Sichtweise in die etablierte Gesamtsituation hinein. Wie ich anhand eines Beispiels zeige, änderte sich in dieser Re-Vision der Blick der Anwesenden auf die gleichen Dateien als eingegebene Effekte: gestalterische Probleme wurden markiert, gesichtete Visual Effects als Arbeitsergebnisse aufgeschlüsselt und Vorschläge zur individuellen Weiterarbeit erarbeitet. Entlang der temporären Entwurfsform differenzierte sich das Publikum dabei zum arbeitsteiligen Projektteam, das die Weiterarbeit an den Entwürfen vorbereitete. Diese visuelle Analyse in der Sichtung vollziehe ich im Folgenden, wie schon im Kapitel zur Super-Vision, an Daten beispielhaft nach. In diesem Fall handelt es sich um ein transkribiertes Feedback eines Projektleiters [S1] zu einem geloopten »Shot«, aus einer Sichtung in einer deutschen Firma: Das schaut ja alles schon super cool aus. Ich (finds) jetzt nur, ähm also was mich einfach stört is, ob wir ob wir so so Löcher einfach noch ein paar da rein machen // Mitarbeiter1: mhm// Und auch hier, {9m57s Laserpointer} also, man sieht die ja eh immer nur wenn man so fast frontal drauf gucken, sobald=s so seitlicher wird wie hier, da wird=s ja dann schwierig (1) aber ich glaub wir müssen noch so=n bisserl ausdünnen (.) [D3/16/E2: 9m42s–10m40s]
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2.2.1 Gemeinsam(e) Probleme sichtbar machen Eine Re-Vision begann mit der Markierung visueller Irritationen, meist während der Wiedergabeschleife der Super-Vision. In der obigen Bewertung ging es darum, was in der Darstellung »störte«: Der Projektleiter lenkte die Aufmerksamkeit verbal wie per Laserpointer auf bestimmte Aspekte der Projektion (»Löcher«), die er als sichtbar (»man sieht«, »drauf gucken«) markierte. Das Hervorheben war Teil spezialisierter »Praktiken der Sichtbarmachung«62: Was zu sehen war, wurde mittels berufsspezifischen »Kodierschemata«63 transformiert und relevant gemacht. Hier deutet sich vage an, dass diese einerseits Filmhandlung und Glaubhaftigkeit der Darstellungen64 andererseits Ästhetik und Stimmigkeit betrafen: Wie sich während der Firmenbesuche zeigte, wurden diese Kategorien von den Teilnehmer*innen auch jenseits der Sichtung aufgerufen.65 Doch erst im lokalen Umgang wurden solche visuelle Probleme mit- und füreinander identifiziert, die relevant für die derzeitige Weiterarbeit waren. Da sich die Anwesenden hier nicht mehr auf den »Shot« als Ganzen (wie in der Super-Vision), sondern auf verschiedene Aspekte des zu Sehenden bezogen – wie Komposition (»Löcher«), Perspektive (»frontal«) und zeitlichen Verlauf (»sobald=s«) der Darstellung – erforderte die Analyse präzise Kommunikationen und Zeigegesten (»hier«, »da«), um einen geteilten Fokus der Interaktion beizubehalten. Die Teilnehmer*innen der Sichtung zeigten sich damit an, was sie sahen. Hierbei trug auch die Wiedergabe zur lokalen Ordnung des Gesprächs bei,66 so folgte der Redebeitrag der Wiedergabesequenz (»und auch hier«) und war ohne sie auch nur teils nachvollziehbar. Beispielsweise war in der Analyse der Daten per Audiotranskript allein nur schwer verständlich, dass sich der Projektleiter im Redebeitrag auf die Dichte einer Menschenmenge bezog, die computersimuliert wurde. In der lokalen Situation verstanden die Anwesenden diesen Bezug jedoch durch die zeitliche Anpassung des Redebeitrags und Laserpointereinsatzes an die Wiedergabe: Der Mitarbeiter signalisierte (»mhm«), dass die Problemidentifizierung für ihn nachvollziehbar war und lud damit ein, weiterzureden.67
62 R. Tuma: Videoprofis im Alltag, S. 303. 63 C. Goodwin: Professional Vision, S. 606. 64 Rüling, Charles-Clemens/ Duymedjian, Raffi: »Digital bricolage: Resources and coordination in the production of digital visual effects«, in: Technological Forecasting and Social Change 83 (2014), S. 108.
65 R. Trischler: Visual Effects. 66 Henderson, Kathryn: »Flexible Sketches and Inflexible Data Bases: Visual Communication, Conscription Devices, and Boundary Objects in Design Engineering«, in: Science, Technology Human Values 16, 4 (1991), S. 451.
67 Gardner, Rod: When Listeners Talk: Response Tokens and Recipient Stance with Special Reference to ‘Mm’, Amsterdam: John Benjamins 2002.
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2.2.2 Arbeitsergebnisse analysieren In der obigen Bewertung verband der Projektleiter visuelle Probleme (»stört«, »gucken«) mit Produktionsschritten (»reinmachen«, »ausdünnen«): Es ging nun darum, was die Effekte zum Zeitpunkt der Sichtung als (Zwischen-)Resultate von Arbeit leisten sollten. Neben dem Laserpointereinsatz kamen beim Sichten auch Wiedergabevariationen vor wie z.B. Standbild oder die Darstellung von Farbkanälen. Für den Status der Arbeitsobjekte bedeutete dies eine Verschiebung. Das, was auf Leinwand oder Bildschirm zu sehen war, verlor zumindest graduell seine Eigenständigkeit (der Super-Vision): In der Re-Vision wurde durch die Wiedergabevariationen für die Anwesenden ersichtlich, dass die Effekte gesteuert und manipuliert werden konnten. Mit dem Arbeitsobjekt veränderten sich auch die Arbeitsrelationen in diesen Episoden. Auch wenn sie auf ihren Sitzplätzen verblieben, differenzierten sich Produzent*innen während der Analyse, denn die Problemidentifizierung hatte für sie verschiedene Implikationen. Erstens dehnte sich die Bewertungsarbeit des Projektleiters gegenüber der vorhergehenden einsilbigen Abnahme aus, wie in dessen langen Redebeitrag im Beispiel erkennbar. Mit den bewerteten Teilen waren zweitens vergangene und zukünftige Arbeitsschritte verbunden, die nur bestimmte anwesende Mitarbeiter*innen betrafen. Im Zitat zeigt sich dahingehend der typische Kommunikationsmodus der Re-Vision in den Raum hinein, bei dem die anwesenden Körper weiterhin auf die Leinwand ausgerichtet und ansprechbar waren. Die Projektleitung blieb Dreh- und Angelpunkt der Re-Vision. Ihre zentrale räumliche Positionierung war nicht nur für die Wahrnehmung der Wiedergabe wichtig; in der Zimmermitte hatte sie auch den geringsten Abstand zu den verteilten potentiellen Adressat*innen. Dass hierbei wie im Beispiel oft keine explizite Adressierung vorgenommen wurde (»wir«), lässt darauf schließen, dass den Anwesenden klar war, wer angesprochen war: Im vorselegierten Kreis des Projektteams richtete sich die Anweisung zu den »Löchern« an denjenigen Mitarbeiter, der die Computersimulation bearbeitete. Umgekehrt richteten Mitarbeiter*innen Erläuterungen zur getanen Arbeit an den Supervisor: Hierarchie wurde in den beobachteten Sichtungen in verschiedenen Graden markiert; auch da zur Analyse verschiedene Kenntnisse jenseits der gesichteten Videodatei notwendig waren.
2.2.3 Arbeitsvorschläge entwerfen Wie im f ließenden Übergang von Bewertung (des zu Sehenden) zur Gestaltung (des noch nicht Sichtbaren) im obigen Beispiel erkennbar (»was mich einfach stört is, ob wir…so Löcher einfach noch ein paar da reinmachen«), gehörte zur Re-Vision auch die Entwicklung neuer Gestaltungsideen. Damit wurden gesichtete Effekte als ein Entwurf markiert, an dem nun weitergearbeitet wurde. Um passende Gestaltungsmöglichkeiten zu entwerfen, konnten sich die Beteiligten auf beruf liche
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Konventionen68 sowie spezialisierte Ausstattungen69 stützen, die performativ auf die jeweils gesichteten Effekte angewandt wurden. Hierbei lösten sich Redebeiträge und Zeigegesten graduell vom zu Sehenden, es wurden kommunikativ neue Bilder entworfen, die sich nur begrenzt auf der Leinwand materialisierten, sondern auch sprachlich und gestisch. Dabei wurde nicht nur eine gewisse Ungewissheit darüber ausgehalten, wie Effekte aussehen sollten, wie sich beispielsweise in der Vagheit des »ich glaub« oder »bisserl« andeutet. Vielmehr wurden Variationen der visuellen Form in der performativen Kombination von Softwarefunktionen, Sprache und Zeigegesten methodisch hergestellt: Sie zerlegten die eindeutige und reproduzierbare, sprich gesicherte Zuweisung von Zeit und Farbe der abgespielten Videodatei in multiple Formmöglichkeiten. Dabei wurden Bildmanipulationen mittels Videosoftware in der Re-Vision jedoch nur recht eingeschränkt, sprich für die Anwesenden erwartbar genutzt. Dies trug zur Fokussierung der lokalen Interaktion auf bestimmte Gestaltungsaspekte bei, sowie zur Gleichförmigkeit der entstehenden kommunikativen Entwürfe. Denn laut Farías70 erleichtern gleichwertige Alternativen Gestaltung, da sie verglichen werden können. Die Methodik des Vorgehens lässt sich auch in der arbeitsteiligen Interaktion zwischen Projektleitung und Vorführer*in in der Re-Vision nachvollziehen: Letztere nutzten sogenannte »hot keys«, voreingestellte Tastenkombinationen, um auf typische Wiedergabeanweisungen der Projektleitung schnell zu reagieren. Zur Herstellung eines gemeinsamen Fokus der Sichtung vermittelten die Anwesenden Wiedergabe und Gespräch mit routinierten Mitteln, um die zügige zeitlichen Entfaltung des Entwerfens zu ermöglichen und sie intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Die dabei entstehenden Entwürfe selbst blieben temporär: Die Re-Vision veränderte die mediale Form gesichteter Videodateien nicht dauerhaft, d.h. die Beteiligten befragten und probierten gemeinsam aus, ohne dass die bisher erreichte Gestaltung gefährdet wurde. Organisatorisch gesehen wurden damit auch Zuständigkeitsbereiche abgegrenzt: Es verblieb in der Verantwortung und Fähigkeit der entsprechenden Mitarbeiter*innen, der »Visual-Effects-Artists«, das Feedback der Projektleitung in der Software einzuarbeiten. Dazu trug bei, dass die technische Umsetzung (z.B. der »Löcher«) hierbei zunächst ausgeklammert wurde, und vorrangig gestalterische Fragen (»ausdünnen«) adressiert wurden. So wurden die – technisch gesehen – ungesicherten Effekte durch eine schriftliche 68 R. V. Burri: Bilder als soziale Praxis, S. 352. 69 R. Tuma: Videoprofis im Alltag, S. 240. 70 Vgl. Farías, Ignacio: »Epistemische Dissonanz. Zur Vervielfältigung von Entwurfsalternativen in der Architektur«, in: Simone Ammon/Eva Maria Froschauer (Hg.): Wissenschaft entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, München: Wilhelm Fink 2013, S. 76-107.
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Dokumentation des Feedbacks als »Notes« im geteilten Informationssystem für den weiteren Schaffensprozess auch sprachlich (und nicht visuell) gesichert.
3. Fazit: Technisierte Körper der Sichtung In der dargelegten Analyse wurde einerseits der soziotechnische Aufwand erkennbar, der in digitaler Postproduktion aufgebracht wird, um Gestaltungsentwürfe in der Sichtung als eindeutige wiedergegebene Effekte zu bewerten: Neben körperlicher »Einberufung«71 und Performanz der Mitarbeiter*innen als Publikum und der Wiedergabeordnung zählten hierzu auch umfangreiche und zeitaufwendige Vorbereitungen, wie die Einrichtung und Wartung von Sichtungszimmern oder das Erstellen von Videodateien aus Computeranimationen in Spezialsoftware. Andererseits habe ich auch die praktischen Mühen dargelegt, digitale Entwürfe wieder methodisch aufzubrechen und zu veränderbaren eingegebenen Effekten zu machen, die (sinnvoll) weiterbearbeitet werden können. Dieser beobachtbare Wechsel zwischen Begegnungen mit den Arbeitsobjekten als materielle A rtefakte in der Sichtung zeigt, dass weder die mediale Form der Arbeitsobjekte – ihr Dateiformat –, das gleichbleibenden physische Setting noch die geteilten Vorstellungen der Anwesenden allein hinreichend erklären, wie Visual Effects wirkten. Die spezialisierte Gestaltungs- und Bewertungspraktiken erfolgten stattdessen stets situiert am jeweiligen Arbeitsobjekt. Die methodischen Begegnungen mit den sich je unterschiedlich materialisierenden Arbeitsobjekten stellten folglich eine Grundlage der spezialisierten Kooperation dar.72 Sie verlangten nach Vor- und Nachbereitung: Wie die gewissenhafte schriftliche Dokumentation der Sichtung zeigt, in der Bewertungen für alle Beteiligten im Nachhinein über die Datenbank der Firmen verfügbar gemacht wurden, erzeugte die Sichtung geteilte Bezugspunkte für den kooperativen Schaffensprozess. Gleichfalls wurde in der visuellen Analyse ansatzweise beobachtbar, wie viele Arbeitsschritte nötig waren, damit Arbeitsobjekte als wiedergegebene Effekte in der Super-Vision zu einem f lachen, beurteilbaren Bild werden konnten. Dabei hat sich gezeigt, dass nicht nur die Wiedergabeschleife in der Software automatisiert war, die zur Herstellung und Abnahme wiedergegebener Filmeffekte beitrug. Auch die Steuerung von Effekten beim Entwerfen war »technisiert«73, wenn auch auf andere Weise: Sie verließ sich stärker auf habitualisiertes Wissen, wie sich in zügigen akkuraten Laserpunkten und routinierten Anweisungen eben71 K. Henderson: Flexible Sketches and Inflexible Data Bases, S. 452. 72 Zum Verhältnis von Materialität und Kooperation allgemein vgl. S. Gießmann et al.: Materialität der Kooperation.
73 W. Rammert: Technik – Handeln – Wissen, S. 9.
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so wie in deren zeitnahen Ausführung zeigte. Wenn der routinehafte Wechsel zwischen unterschiedlichen Materialisierungen zuträglich für Entwerfen ist, weil das zu gestaltende Ding so gleichzeitig stabilisiert und veränderbar erscheint,74 zeigten sich in der Sichtung gleichsam die Anforderungen an Körper, die mit der Performanz solcher Wechsel in digitalen Medien verbunden ist – insbesondere in kooperativen Kontexten. So verweist in der Postproduktion beispielsweise die Nutzung von »hot keys«, sprich voreingestellten Tastenkombinationen, die einen schnellen Wechsel zwischen verschiedenen Arten der Wiedergabe in der Sichtung ermöglichen (sollen), eindrücklich auf die delikate soziotechnische Koordination, die in jeder Sichtung aus Neue nötig ist, um lokal einen geteilten Fokus der Beteiligten auf die digitalen Dateien herzustellen. Bereits die Temperaturmetapher75 im Namen der »hot keys« impliziert, dass für digitales Entwerfen wie Bewerten eine körperliche Affizierung der Produzent*innen relevant war. Wie maschinelle Techniken können solche Körpertechniken kombiniert werden – jedoch nicht beliebig, »ohne dass man wieder verlernt oder nicht mehr vertiefen kann, was in einer einzelnen Körpertechnik gelernt oder zur Virtuosität getrieben werden konnte«76. Die kooperative Filmproduktion erfordert Materialisierungen und fordert die beteiligten Körper. Dahingehend wird Sichten als materielle Praxis sichtbar, in der die Technisierung von Körpern nutzbar ist, ebenso wie deren Grenzen.
74 A. Yaneva: Scaling up and down. 75 Im emischen Begriff spiegeln sich folglich klassische sozial- und medientheoretische Konzepte, etwa bei Marshall McLuhan’s »hot« und »cold media« oder Claude Lévi-Strauss‘ »sociétés froides« und »chaudes«.
76 Schüttpelz, Erhard: »Die Irreduzibilität des technischen Könnens«, in: Sebastian Gießmann/ Tobias Röhl/Ronja Trischler (Hg.): Materialität der Kooperation, Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 433.
Autorenbiographien
Andreas Bischof leitet eine Nachwuchsgruppe zur interdisziplinären und partizipativen Technikentwicklung an der TU Chemnitz. Der studierte Kulturwissenschaftler und Soziologe forscht zu Mensch-Technik-Relationen, digitalen Medien und Methoden der Technikentwicklung. Neben seinem Engagement in verschiedenen interdisziplinären Netzwerken leitet er drei Forschungsprojekte, von denen eines alternative Konzepte für Pf legeroboter-Anwendungen erforscht. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören die Monografie Soziale Maschinen bauen (transcript 2017), sowie Studien auf ACM-Konferenzen wie SIGCHI (2018), DIS (2019) und NordiCHI (2020). Für den Kontext dieses Bands ist zudem sein praxistheoretischer Beitrag zum Affordance-Konzept gemeinsam mit Christian Pentzold relevant, wie er u.a. für Social Media+Society (2019) formuliert wurde. Cornelia Escher ist Juniorprofessorin für Architekturtheorie und -geschichte an der Kunstakademie Düsseldorf. Sie promovierte zu Utopien der mobilen Architektur um 1960 an der ETH Zürich. Danach war sie Postdoktorandin in der Leibnizpreis-Forschungsgruppe Global Processes an der Universität Konstanz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Architekturgeschichte des 19./20. Jahrhunderts, Architektur- und Raumtheorie, die Grenzbereiche von Architektur und Kunst sowie die globale Architekturgeschichte. Zu ihren Publikationen zählen ihre Dissertation Zukunft entwerfen (gta Verlag 2017) sowie Artikel in Arch+, im Journal of Urban History und im Journal of Architecture. 2019 kuratierte sie Ausstellungen am CIVA Brüssel (Negotiating Ungers: The Solar House, mit Lars Fischer) und am FRAC Centre, Orleans (Homo faber: un recit). Eva Maria Froschauer ist Professorin für Baugeschichte und Architekturtheorie an der Beuth Hochschule für Technik Berlin. Architektur-Studium an der Kunstuniversität Linz sowie postgraduales Studium an der ETH Zürich, seit 1998 freiberuf liche Tätigkeit als Autorin und Fachjournalistin. Von 2001–07 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bauhaus-Universität Weimar; dort 2008 Promotion im Fach Architekturgeschichte; von 2009–11 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus, Lehrstuhl Theorie
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Begegnung mit dem Materiallen in Architekturgeschichte und Soziologie
der Architektur; Gründung und bis 2017 Vorstand des Netzwerk Architekturwissenschaft e.V.; 2011/12 Research Fellow am IKKM-Weimar; 2013–17 akademische Mitarbeiterin im Fachgebiet Kunstgeschichte an der BTU Cottbus-Senftenberg, ebendort Habilitation 2017 und bis 2019 Vertretungsprofessorin für Kunstgeschichte. Hanna Katharina Göbel ist Kultursoziologin und arbeitet an den Schnittstellen von Kulturtheorien und Soziologie, Praxistheorien, Kunstsoziologie sowie Urban Studies, Science & Technology Studies (STS), Material Culture Studies und Sense Studies. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post-Doc) an der Universität Hamburg, Institut für Bewegungswissenschaft/Performance Studies. Im thematischen Kontext dieses Bandes sind ihre folgenden Publikationen besonders relevant: The Re-Use of Urban Ruins. Atmospheric Inquiries of the City (Routledge 2015) sowie die Herausgaben der Sammelbände Performance und Praxis (zusammen mit Gabriele Klein, transcript 2017) und Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur (zusammen mit Sophia Prinz, transcript 2015). Gregor Harbusch promovierte an der ETH Zürich über den Architekten Ludwig Leo. Er ist Senior Editor bei der Online-Plattform BauNetz. Außerdem arbeitet er als freischaffender Autor, Kurator und Forscher in Berlin. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf Architektur und Stadt des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. 2007–13 verantwortete Harbusch am gta Archiv der ETH Zürich zwei Forschungs- und Publikationsprojekte über Sigfried Giedion und die Fotografie sowie den vierten CIAM-Kongress im Jahr 1933. Zusammen mit BARarchitekten hat er die Ausstellungen Ludwig Leo Ausschnitt (Berlin, Stuttgart und London, 2013–15) und Architektur als Experiment (Leipzig und Berlin 2020) über Leo kuratiert. In Zusammenarbeit mit Antje Buchholz entstand 2019 der Animationsfilm Ludwig Leo Werkfilm. Dirk vom Lehn ist Reader in Organisational Sociology an der King‘s Business School am King‘s College London. Er promovierte zu Interaktion zwischen Besuchern in Museen an der University of Nottingham und am King‘s College London. Seither beschäftigte er sich in Forschungsprojekten mit der visuellen Wahrnehmung in Museen und in den Untersuchungsräumen von Optikern, mit interaktiven Bewertung von Objekten auf Straßenmärkten, sowie mit dem Erlernen von Tanzschritten im Lindy Hop. Seine Forschung ist in der ethnomethodologischen Interaktionsanalyse verortet. Er veröffentlichte Bücher zu Harold Garfinkel, der Entwicklung der Ethnomethodology (von Halem Verlag 2012) und zur Ethnomethodologischen Interaktionsanalyse (Beltz Juventa 2018) sowie auch Artikel in Human Studies, Sociology, Academy of Management Journal, British Journal of Management, etc.
Autorenbiographien
Ralf Liptau ist Kunst- und Architekturhistoriker, er arbeitet als Universitätsassistent am Institut für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpf lege der TU Wien. Bis 2014 hat er Kunstgeschichte in Berlin und Paris studiert und war von 2014 bis 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg Das Wissen der Künste der Universität der Künste Berlin. 2019 erschien seine Dissertation Architekturen bilden, die die Rolle von Architekturmodellen in Entwurfsprozessen der Nachkriegsmoderne untersucht. In seinem aktuellen Forschungsprojekt fragt er nach einer ›visuellen Epistemologie‹ in der architektonischen Kultur der Moderne seit dem 19. Jahrhundert und verbindet dabei Theorien der Architekturwissenschaft, der Denkmalpf lege und der kritischen Bildtheorie. Gabrielle Schaad unterrichtet als Postdoktorandin am Lehrstuhl Geschichte und Theorie von Architektur, Kunst und Design an der TU München und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bachelor Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Sie studierte Kunstgeschichte in Zürich, Paris und Tokio. Ihre Promotion (Performing Environmental Textures ETH Zürich 2016) thematisierte die Tücken des Technologie-Optimismus in Kunst und Architektur Japans der 1960er Jahre durch die Begriffe Emanzipation, Environment und Kontrolle. Sie hat Essays zu Performativität in Kunst und Design mit einem Fokus auf Material- und Gender-Aspekte im transkulturellen Kontext verfasst. Ihre Kunstkritiken erscheinen in artforum, frieze, f lash art, domus, archithese, PIN-UP, u. a. Thomas Schmidt-Lux ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften (Bereich Kultursoziologie) der Universität Leipzig. Er promovierte 2006 zum einem religionssoziologischen Thema und habilitierte sich 2016 mit einer Arbeit zu Selbstjustiz und Vigilantismus. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie von Recht und Gewalt, Architektursoziologie und Qualitative Methoden. Er co-leitet derzeit ein BMBF-Projekt Die digitale Stadt und ein von der Gerda Henkel Stiftung gefördertes Projekt zu Lost Cities im Oman. Zu seinen Publikationen zählt der mit Uta Karstein herausgegebene Band Architekturen und Artefakte (Springer Verlag 2017), und eine mit Monika Wohlrab-Sahr und Alexander Leistner geschriebene Einführung in die Kultursoziologie (Beltz Juventa 2016). Christiane Schürkmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie promovierte zu künstlerischem Arbeiten in der bildenden Kunst aus ethnografischer Perspektive. Derzeit ist sie Sprecherin der Arbeitsgruppe Posthuman. Perspektiven auf Natur/Kultur am Forschungsschwerpunkt SOCUM. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kunstsoziologie, Wissenssoziologie, Qualitative Methoden, Praxistheorie, Phänomenologie, Posthumane Theorien, Theorien der Materialität sowie Umweltsoziologie. Zu ihren Publikationen zählen die Monographie Kunst in Arbeit (transcript 2017)
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Begegnung mit dem Materiallen in Architekturgeschichte und Soziologie
sowie Artikel in der Zeitschrift für Soziologie, in Soziologie und Nachhaltigkeit u.a. 2017 kuratierte sie die Ausstellung What Can Be Done to Make Trouble? im Kunstverein Familie Montez, Frankfurt. Ronja Trischler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie promoviert zu Kooperation in digitaler Gestaltung am Beispiel von Visual-Effects-Produktion für Film und Fernsehen. Zuvor war sie an der Universität Siegen tätig, erst als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Werkstatt Praxistheorie am SFB 1187 Medien der Kooperation, danach in der Koordination des Graduiertenkollegs Locating Media. Ihre Forschungsschwerpunkte sind digitale Arbeit, Visualität und Technik sowie Methoden qualitativer Sozialforschung. Sie war Mitherausgeberin von Materialität der Kooperation (Springer VS 2019) und hat u.a. Beiträge zu Videographie und kooperativem Warten veröffentlicht. Alina Wandelt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt Die digitale Stadt (DIGISTA), das sich am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig mit dem Zusammenhang von Architektur und Digitalisierung befasst. Sie studierte Politikwissenschaften, Anglistik und Wirtschaft, u.a. an der Freien Universität in Berlin und der Sciences Po in Paris. In ihrem Promotionsprojekt untersucht sie den Wandel von Bibliotheken in Zeiten der Digitalisierung auf der Ebene von Diskursen, Materialität und Praxis. Nina Tessa Zahner ist Professorin für Soziologie an der Kunstakademie Düsseldorf. Sie studierte Soziologie und Anthropologie in Bamberg und London und promovierte zur Transformation des Kunstfeldes in den 1960er und 1970er Jahren in den USA bei Richard Münch. Danach war sie zunächst Wissenschaftliche Mitarbeiterin, dann Juniorprofessorin am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Historisch-rekonstruktive Kunstfeldforschung, Soziologie der Sinne und des Wahrnehmens, Soziologie des Publikums und des Kunstmarktes. Zu ihren Publikationen zählen Die Neuen Regeln der Kunst (Campus, 2006), Autonomie der Kunst?! (mit Uta Karstein, VS Verlag 2017), Wahrnehmen als soziale Praxis (mit Christiane Schürkmann, VS Verlag 2020) sowie Beiträge in der Zeitschrift für Theoretische Soziologie, Sociologia Internationalis, der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie und der Zeitschrift für Kulturmanagement.
Architektur und Design Daniel Hornuff
Die Neue Rechte und ihr Design Vom ästhetischen Angriff auf die offene Gesellschaft 2019, 142 S., kart., 17 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4978-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4978-3
Katharina Brichetti, Franz Mechsner
Heilsame Architektur Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen 2019, 288 S., kart., 22 SW-Abbildungen, 57 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4503-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4503-7
Annette Geiger
Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs 2018, 314 S., kart., 175 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4489-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4489-4
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Architektur und Design Andrea Rostásy, Tobias Sievers
Handbuch Mediatektur Medien, Raum und Interaktion als Einheit gestalten. Methoden und Instrumente 2018, 456 S., kart., 15 SW-Abbildungen, 211 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-2517-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2517-6
Ulrike Kuch (Hg.)
Das Diaphane Architektur und ihre Bildlichkeit Januar 2020, 228 S., französische Broschur, 43 SW-Abbildungen, 15 Farbabbildungen 24,99 € (DE), 978-3-8376-4282-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4282-1
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 1/2020) April 2020, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4936-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4936-3
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