Aus dem Glauben leben: Freikirchliche und römisch-katholische Perspektiven 9783897105324, 9783846901403, 3846901403, 3897105322

Christlicher Glaube will nicht nur gelehrt, sondern er will vor allem gelebt werden. Innerhalb der verschiedenen Kirchen

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German Pages 269 [271] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Das geistliche Leben in der katholischen Kirche seit der Reformation
Wurzeln und Wesen freikirchlicher Frömmigkeit
Pfingstliche Frömmigkeit in der Spannung zwischen Geistunmittelbarkeit und gesamtkirchlicher Tradition
Von der Freiheit eines katholischen Christenmenschen
Gottesdienst und Liturgie in freikirchlicher Sicht
Leben im Kirchenjahr
Herausforderungen für den Katholizismus in der Moderne
Aus dem Glauben leben
Ökumenische Spiritualität im Kontext des konfessionellen, interkonfessionellen und transkonfessionellen Christseins
Versuch einer Zusammenfassung
„Ihr alle zusammen seid der Leib Christi …“
„Den Leib hingeben zu einem vernünftigen Gottesdienst“
Autorenspiegel
Abkürzungen
Dokumentation der bisherigen Gespräche
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Aus dem Glauben leben: Freikirchliche und römisch-katholische Perspektiven
 9783897105324, 9783846901403, 3846901403, 3897105322

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Burkhard Neumann / Jürgen Stolze (Hg.)  Aus dem Glauben leben 

 

Burkhard Neumann  Jürgen Stolze (Hg.)   

   

Aus dem Glauben leben     

Freikirchliche und römisch‐katholische  Perspektiven                                Bonifatius  Edition Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlaggrafik: Christian Knaak, Dortmund ISBN 978-3-89710-532-4 (Bonifatius) ISBN 978-3-8469-0140-3 (Edition Ruprecht) Eine eBook-Ausgabe dieses Titels ist erhältlich unter DOI 10.2364/3846901403. © 2014 by Bonifatius GmbH Druck · Buch · Verlag Paderborn und Edition Ruprecht, Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung der Verlage. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG.

Satz: Andrea Pollmann, Johann-Adam-Möhler-Institut, Paderborn Gesamtherstellung: Bonifatius GmbH Druck · Buch · Verlag Paderborn

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Johannes Oeldemann

Das geistliche Leben in der katholischen Kirche seit der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Markus Iff

Wurzeln und Wesen freikirchlicher Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Bernhard Olpen

Pfingstliche Frömmigkeit in der Spannung zwischen Geistunmittelbarkeit und gesamtkirchlicher Tradition . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Burkhard Neumann

Von der Freiheit eines katholischen Christenmenschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Holger Eschmann

Gottesdienst und Liturgie in freikirchlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Stefan Richter

Leben im Kirchenjahr

Ein Beitrag aus der Herrnhuter Brüdergemeine . . . 149 Judith Könemann

Herausforderungen für den Katholizismus in der Moderne

Gesellschaftliche und innerkirchliche Perspektiven 165 5

Ralf Dziewas

Aus dem Glauben leben

Gesellschaftliche Herausforderungen für Spiritualität und Leben freikirchlicher Gemeinden . 189 Wolfgang Thönissen

Ökumenische Spiritualität im Kontext des konfessionellen, interkonfessionellen und transkonfessionellen Christseins

10 Thesen zur Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Burkhard Neumann / Jürgen Stolze

Versuch einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . 241 Michael Hardt

„Ihr alle zusammen seid der Leib Christi …“

Der eine Geist und die vielen Gaben 1 Kor 12,4-11.27 Morgenandacht am 1. März 2012 . . . . . . . . . . . . . 251 Jürg Bräker

„Den Leib hingeben zu einem vernünftigen Gottesdienst“

Leben im Glauben aus Mennonitischer Perspektive Röm 12,1-2a; 1 Kor 14,26 Morgenandacht am 2. März 2012 . . . . . . . . . . . . . 257 Autorenspiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Dokumentation der bisherigen Gespräche . . . . . . 269

6

Vorwort Mit diesem Dokumentationsband können wir nun schon auf die sechste Tagung römisch-katholischer und freikirchlicher Theologen zurückblicken. Das, was vor elf Jahren als Versuch begonnen wurde, hat sich inzwischen als eine feste Größe im Umgang aller beteiligten Kirchen erwiesen, und die äußerst positiven Reaktionen auf die bisherigen Bände ermutigen uns, auf diesem Weg weiterzugehen. Mit großer Dankbarkeit dürfen wir feststellen, dass in diesen Jahren ein Vertrauensverhältnis zwischen den Beteiligten entstanden ist, das ein interessiertes Kennenlernen anderer kirchlicher Traditionen, eine offene und zugleich kritische Auseinandersetzung mit den theologischen und historischen Wurzeln anderer Kirchen und die konstruktive Erarbeitung gemeinsamer theologischer Positionen ermöglicht. Dass diese vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre über die Jahre wachsen konnte, ist allen Beteiligten zu verdanken, die sich in das Gespräch eingebracht haben. Zugleich – und darüber hinaus – erkennen wir darin das Wirken des Heiligen Geistes, der das Band der Einheit ist. In dem hier dokumentierten Symposion haben wir uns im Anschluss an die beiden vorausgehenden Gespräche über die Kirche ausdrücklich der Frage zugewandt, wie der Glaube in unseren verschiedenen Kirchen und Gemeinden gelebt wird. Bei allen Unterschieden, die wir dabei festgestellt haben, verbindet uns das Bemühen, als Christen in der Welt von heute zu leben. Die Tatsache, dass wir dabei jenseits aller Unterschiede vor den gleichen Herausforderungen stehen, sollte uns ermutigen, auch hier mehr als bisher Wege zueinander zu suchen und gemeinsam zu fragen, was es heißt, in dieser Zeit 7

als Christ in der Welt zu leben. Wenn die Beiträge dieses Bandes entsprechende Überlegungen fördern, dann hätte dieses Buch sein Ziel erreicht. Abschließend möchten wir uns bei allen bedanken, die das Erscheinen dieses Buches möglich gemacht haben: Frau Annette Eggert, Frau Agnes Slunitschek und Herrn Dr. Gerhard Franke danken wir ganz herzlich für das Korrekturlesen in den unterschiedlichen Stadien der Entstehung dieses Bandes. Auch diesmal hat Frau Andrea Pollmann die Verantwortung für die Gestaltung der Druckvorlage getragen, wofür wir ihr zu besonderem Dank verpflichtet sind. Dass auch dieser Band wieder in der bewährten Kooperation der Edition Ruprecht und des Bonifatius-Verlags Paderborn erscheinen kann, dafür danken wir Frau Dr. Reinhilde Ruprecht von der Edition Ruprecht und Herrn Dr. Michael Ernst.

Paderborn/Magdeburg, im Januar 2013 Burkhard Neumann

Jürgen Stolze

Direktor am Johann-AdamMöhler-Institut für Ökumenik

Pastor der Evangelischmethodistischen Kirche

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Das geistliche Leben in der katholischen Kirche seit der Reformation Johannes Oeldemann

Am Beginn dieses Symposions soll der folgende Beitrag in einer Art Tour d’Horizon die Entwicklung der römisch-katholischen Frömmigkeit seit der Reformation darstellen. Über dieses Thema sind ganze Handbücher1 publiziert worden, sodass im Folgenden nur einige Grundlinien aufgezeigt werden können, die nicht den Anspruch erheben, auch nur annähernd vollständig zu erfassen, was das geistliche Leben katholischer Gläubiger in den vergangenen fünf Jahrhunderten geprägt hat. Bevor einzelne Ausprägungen christlicher Spiritualität in der katholischen Kirche in den Blick genommen werden, gilt es jedoch zunächst, einige Begriffsklärungen vorzunehmen.

1. Zugänge: Frömmigkeit – Spiritualität – geistliches Leben Im Konzept dieses Symposions stand der einleitende Vortrag unter dem Arbeitstitel „Die römisch-katholische Frömmigkeit seit der Reformation“. Diesen Arbeitstitel habe ich nicht übernommen, weil er dazu verführen könnte, bestimmte Frömmigkeitsformen in ein konfessi

1 Exemplarisch seien an dieser Stelle genannt: Geschichte der christ-

lichen Spiritualität, Bd. 3: Die Zeit nach der Reformation bis zur Gegenwart, hg. v. L. Dupré u. E. Saliers, Würzburg 1997; Quellen geistlichen Lebens, Bd. 3: Die Neuzeit, hg. v. G. Greshake u. J. Weismayer, Ostfildern 2008; C. Dahlgrün, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott, Berlin 2009.

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onalistisches Raster einzuordnen, wenn man versucht, „katholische Frömmigkeit“ von „evangelischer Frömmigkeit“ abzuheben oder sie von orthodoxen und freikirchlichen Frömmigkeitsformen zu unterscheiden. Zum anderen schien mir der Begriff der Frömmigkeit die Gesamtthematik unseres Symposions, das Leben aus dem Glauben, zu sehr auf den Aspekt der Innerlichkeit zu verengen. Zwar ist der Terminus begriffsgeschichtlich betrachtet sehr vielschichtig, insbesondere wenn man seine griechischen ( bzw. ) und lateinischen (pietas bzw. pius) Wurzeln berücksichtigt. So war das deutsche Adjektiv „fromm“ zu Luthers Zeiten noch ein Synonym zu Begriffen wie „tüchtig“ oder „rechtschaffen“. Erst in nachreformatorischer Zeit wurde der Begriff exklusiv auf das Gottesverhältnis des Einzelnen bezogen, sodass vor allem der Gottesfürchtige als fromm galt. Hinzu kamen „ein individualistisches Verständnis von Frömmigkeit sowie eine starke Betonung der Gefühlskomponente“.2 Im 19. Jahrhundert erhielt der Begriff wieder eine größere Weite durch die Betonung der christlichen „Weltfrömmigkeit“. Im 20. Jahrhundert wurde der Ausdruck „Frömmigkeit“ dann allmählich durch den Begriff der „Spiritualität“ verdrängt. Dieser nimmt Bezug auf den biblischen Begriff „“ und bezeichnet alle christlichen Lebensformen, die als ein „Leben im Geist“ verstanden werden können. Ausgehend vom französischen Katholizismus, wo der Begriff „spiritualité“ bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert war,3 breitete er sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Italien, Spanien und Deutschland aus. In den letzten Jahrzehn

2 J. Weismayer, Art. Frömmigkeit, II. Begriffsgeschichte, in: LThK3 4

(1995) 168-169, hier 169.

3 Vgl. das ab 1928 geplante und seit 1932 edierte, 17-bändige Dic-

tionnaire de spiritualité ascétique et mystique, Paris 1932-95.

10

ten ist der Begriff der Spiritualität „geradezu ein Modewort geworden, das umso hemmungsloser gebraucht wird, je weniger man auf den Sinn seines Gebrauchs reflektiert“.4 So ist der Begriff „Spiritualität“ heute auch im interreligiösen Gespräch und im esoterischen Bereich verbreitet. Er ist in gewisser Weise Ausdruck für eine „vagabundierende, weder institutionell noch dogmatisch festgelegte Religiosität“.5 „Spiritualität“ ist mithin ein zwar sowohl zeit- als auch sachgemäßer Begriff für unsere Thematik, dessen Verwendung im profanen Sprachgebrauch ihn jedoch leider ein wenig diskreditiert. Daher ist im Titel des vorliegenden Beitrags weder von „Frömmigkeit“ noch von „Spiritualität“, sondern vielmehr vom „geistlichen Leben“ in der katholischen Kirche die Rede. Denn einerseits verweist dieser Begriff ebenso wie der Terminus Spiritualität darauf, dass unser Leben aus dem Glauben sich letztlich der Initiative des Heiligen Geistes verdankt, und andererseits erstreckt sich die Bedeutungsbreite dieses Begriffs „auf alle individuellen und ekklesial-gemeinschaftlichen Ausdrucksformen des Glaubens, wie Gebet, Lebensstil u.a., bis hin zum Bereich des alltäglichen, profanen und gesellschaftlichen Lebens“.6 An dieser von Christian Schütz, dem Altabt der bayerischen Benediktinerabtei Schweiklberg, formulierten Definition sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: zum einen die Tatsache, dass der Begriff „geistliches Leben“ sich nicht auf den Bereich von Gebet und Gottesdienst beschränkt, sondern auch den christlichen Lebensstil und das alltägliche Leben der Christen umfasst, zum anderen der Hinweis, dass es so

4 U. Köpf, Art. Spiritualität, I. Zum Begriff, in: RGG4 7 (2004) 1589-

1591, hier 1590.

5 J. Sudbrack, Art. Spiritualität, I. Begriff, in: LThK3 9 (2000) 852-

853, hier 853.

6 Chr. Schütz, Art. Geistliches Leben, in: LThK3 4 (1995) 399.

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wohl um individuelle als auch um ekklesial-gemeinschaftliche Ausdrucksformen des Glaubens geht. Die letztere Unterscheidung liegt auch den weiteren Ausführungen zugrunde, in denen zunächst die gemeinschaftlichen Formen geistlichen Lebens in der katholischen Kirche in den Blick genommen werden, bevor dann auch die persönlichen Formen des geistlichen Lebens beschrieben werden. Dabei werden durchaus auch die Begriffe Frömmigkeit und Spiritualität verwendet, insofern sie fester Bestandteil mancher Wortprägungen sind. Der Begriff „geistliches Leben“ im Titel dieses Beitrags wird insofern nicht exklusiv, sondern inklusiv verstanden.

2. Gemeinschaftliche Formen geistlichen Lebens Durch die Taufe wird jeder Christ in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen. Ein christliches Leben aus dem Glauben ist daher ganz wesentlich ein Leben, das sich in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen vollzieht. Daher sollen in einem ersten größeren Abschnitt die gemeinschaftlichen Formen geistlichen Lebens in der katholischen Kirche näher betrachtet werden. 2.1 Die Pfarrgemeinde als Lernort geistlichen Lebens in der Gemeinschaft In volkskirchlich geprägten Gesellschaften, wie es alle westeuropäischen Staaten im 16. Jahrhundert waren, begegnet der Mensch dem christlichen Glauben primär im Rahmen der örtlichen Pfarrei. Das ganze Mittelalter hindurch bildeten die Ortsgemeinden nur die Basis einer in sich streng hierarchisch strukturierten Kirche. Erst durch die Reformation wurde die „congregatio fideli12

um“, die Versammlung aller Gläubigen vor Ort, theologisch aufgewertet zur Keimzelle der Kirche Jesu Christi. Phänomenologisch betrachtet war die Gemeinde jedoch auch in der katholischen Kirche der primäre Ort, an dem die Gläubigen ihren Glauben lernten und lebten. Die Pfarrgemeinde spielte und spielt im Leben der katholischen Gläubigen eine zentrale Rolle: bei Taufen und Trauungen, Gottesdiensten und Andachten, Prozessionen und Beerdigungen. Die kirchlichen Riten begleiten die Menschen durch den Lauf ihres Lebens und die kirchlichen Feste machen sie im Laufe des Kirchenjahres mit den wesentlichen Inhalten des christlichen Glaubens bekannt. Das Konzil von Trient bemühte sich um eine Stärkung der katholischen Pfarrei unter dem Leitgedanken „jeder und jedem Gläubigen ihre bzw. seine Pfarrei und jeder Pfarrei ihren Pfarrer“.7 Waren die Gemeinden bis zur Reformation vor allem dem Patronat eines Klosters, eines Kapitels oder eines weltlichen Herrn unterstellt, stärkte die tridentinische Reform ihre Bindung an die jeweilige Diözese durch regelmäßige Visitationen und die Ausbildung des Klerus in diözesanen Priesterseminaren. Eine herausragende Figur, an der man diese innerkatholischen Reformbemühungen studieren kann, ist Karl Borromäus (1538-1584), der sich als Bischof von Mailand und den damaligen Päpsten eng verbundener Kardinal in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts intensiv um die Umsetzung der Reformdekrete des Trienter Konzils bemühte.8 Er kümmerte sich nicht nur um 

7 M. Venard / B. Vogler, Die kollektiven Formen des religiösen

Lebens, in: Die Geschichte des Christentums, Bd. 8: Die Zeit der Konfessionen (1530-1620/30), Freiburg i.Br. 1992, 959-1029, hier 961. 8 Vgl. G. Alberigo, Karl Borromäus. Geschichtliche Sensibilität und pastorales Engagement, Münster 1995; M. Delgado / M. Ries (Hg.), Karl Borromäus und die katholische Reform, Freiburg/Schweiz-

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die Priesterausbildung, weshalb viele Theologenkonvikte bis heute den Namen „Collegium Borromaeum“ tragen, sondern auch um die religiöse Erziehung des Volkes durch Predigt und katechetische Unterweisung, woran der Name des Borromäusvereins erinnert, dessen Aufgabe in der Unterstützung katholischer öffentlicher Büchereien besteht. Eine wichtige Rolle bei der Erneuerung des Gemeindelebens in der katholischen Kirche spielten die sogenannten Volksmissionen, die ausgehend von Italien und Spanien sich im 19. Jahrhundert auch in Frankreich und Deutschland verbreiteten.9 Diese Volks- oder Gemeindemissionen zeichneten sich dadurch aus, dass wortbegabte Patres für eine Woche oder zehn Tage in die Gemeinden kamen, um durch tägliche Predigten und Gottesdienste, in neuerer Zeit auch durch dialogisch angelegte Gesprächsformen, zur Erneuerung und Vertiefung des Glaubens der Gläubigen vor Ort beizutragen. Eine Besonderheit der katholischen Gemeinden in Deutschland sind die zahlreichen kirchlichen Verbände und Vereine, die Ausdruck des Apostolats der Laien sind. Sie entstanden nach der Säkularisation im 19. Jahrhundert und bemühten sich zunächst vor allem darum, die Freiheit der Kirche gegenüber dem Staat zu verteidigen. Dementsprechend spielten sie eine wichtige Rolle im sogenannten Kulturkampf im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil trugen sie maßgeblich zur aktiven Beteiligung der Gläubigen am Gemeindeleben bei, wie sie vom Konzilsdekret über das Laienapostolat „Apostoli

Stuttgart 2010 (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 13). 9 Vgl. Th. Klosterkamp, Katholische Volksmission in Deutschland, Leipzig 2002 (EThS 83), 338-360.

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cam actuositatem“ ausdrücklich befürwortet worden war. 2.2 Der Pfarrklerus: Weltpriester als Vorbilder geistlichen Lebens Eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der Reformen des Trienter Konzils spielte der Pfarrklerus. In der Tat lag hier zu Beginn des 16. Jahrhunderts manches im Argen: Der niedere Klerus war oft nur unzureichend ausgebildet, der höhere Klerus war in der Regel Mitgliedern des Adels oder des höheren Bürgertums vorbehalten, viele Kleriker waren abhängig von den Pfründen ihrer weltlichen Herren und nur etwa ein Viertel aller Kleriker hatte überhaupt die Priesterweihe empfangen. Das Plädoyer des Trienter Konzils zur Gründung von Diözesanseminaren verfolgte daher ein doppeltes Ziel: zum einen die Anhebung des theologischen und geistlichen Niveaus im katholischen Klerus, zum anderen die Loslösung der Kleriker aus der Bindung an die weltlichen Herren und die stärkere Anbindung an den Diözesanbischof. „Die katholische Reform war auch eine Reform des Klerus, der einen zentralen Platz im religiösen Leben einnehmen sollte.“10 Allerdings verlief diese Reform nicht so gradlinig, wie sich die Konzilsväter das erhofft hatten. Es dauerte bis ins 17., teilweise bis ins 18. Jahrhundert hinein, bis in allen Diözesen entsprechende Seminare etabliert waren. Eine wichtige Rolle bei der Ausbildung der „Weltpriester“, wie katholische Geistliche, die im Dienst einer Diözese stehen, im Unterschied zu den Ordenspriestern 

10 B. Dompnier, Die Fortdauer der katholischen Reform, in: Die

Geschichte des Christentums, Bd. 9: Das Zeitalter der Vernunft (1620/30-1750), Freiburg i.Br. 1998, 215-347, hier 263.

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genannt werden, spielten Priesterkongregationen, die vor allem im 17. Jahrhundert gegründet wurden. Vorbild dieser Kongregationen war das Oratorium des Philipp Neri, das dieser in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Rom gegründet hatte.11 Kennzeichen dieser Priestergemeinschaften war es, dass sie ein gemeinsames Leben führten, ohne die üblichen Ordensgelübde abzulegen. Sie suchten „nach einem neuen Lebensstil, der mit dem bislang gepflegten Verhalten der Geistlichen brach und sich besser dem priesterlichen Ideal widmete“.12 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts breiteten sich die Oratorien auch in Frankreich aus, wo Pierre de Bérulle (1575-1629) eine zentrale Rolle spielte.13 Er widmete sich in vielen seiner Schriften der Theologie des Priestertums und gründete 1611 in Paris das erste französische Oratorium. Neben den Oratorianern entstanden noch weitere Priesterkongregationen wie z.B. die Lazaristen, die nach ihrem Gründer Vinzenz von Paul (1581-1660) auch Vinzentiner genannt werden.14 Die Pflege einer besonderen priesterlichen Spiritualität sowie persönliches Engagement im Dienste der Gläubigen waren die wesentlichen Merkmale dieser Kongregationen. Das von ihnen gepflegte neue Priesterideal stieß auf das Wohlwollen der Bischöfe, die ihnen nach und nach die 

11 Vgl. P. Türks, Philipp Neri. Prophet der Freude, München 1995,

bes. 165-189 („Die Spiritualität Philipp Neris und des Oratoriums“). 12 B. Dompnier (Anm. 10), 265. 13 Vgl. die informative Einführung in: Chr. Goldschmidt, Aus der Mitte leben. Einheit bei Pierre de Bérulle, Freiburg i.Br. 2009, 19-42. 14 Aus der umfangreichen Literatur über Vinzenz von Paul sei exemplarisch auf drei Werke verwiesen: M. Auclair, Vinzenz von Paul – Genie der Nächstenliebe, Freiburg i.Br. 1978; A.M. Richartz, Vinzenz von Paul. Stationen und Wege, Leutesdorf 2002; B. Pujo, Pionier der Moderne. Das abenteuerliche Leben des Vinzenz von Paul, Freiburg i.Br. 2008.

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Ausbildung der zukünftigen Kleriker in den Seminaren anvertrauten. Die Priesterseminare dienten der „Gewöhnung an den habitus des geistlichen Standes“ und pflegten aus diesem Grund eine „Kultur des Unterschieds“.15 Sie sollten die Kandidaten dazu anleiten, „die Besonderheit dieses göttlichen Standes ganz zu begreifen, seine Pflichten zu studieren, sich die damit verbundenen Gefahren vor Augen zu führen, dem Geist der Welt zu entsagen und sich ganz dem Geiste Jesu hinzugeben“.16 Die nachtridentinische Priesterausbildung trug insofern zur Entwicklung eines besonderen Priesterstandes bei, dessen Selbstverständnis auf einer inneren Distanz zu den Gläubigen in den Gemeinden gründete. Erst aufgrund dieser Entwicklung und des zunehmenden Bildungsniveaus des Klerus zählten die Priester in katholischen Gegenden ab dem 19. Jahrhundert zu den „Honoratioren“ des Dorfes oder der Stadt. Innerhalb der volkskirchlich geprägten Gesellschaft war der Priester in erster Linie „Funktionär des Sakralen“,17 der sich gleichwohl durch die Organisation von Wohltätigkeitsvereinen um eine Verbesserung der Lebensbedingungen seiner „Pfarrkinder“ bemühte. Erst im 20. Jahrhundert führten die zunehmenden Aktivitäten der Laien im Bereich von Apostolat und Katechese dazu, dass der Unterschied zwischen Klerikern und Laien nicht mehr so stark betont wurde. Dies spiegelt sich auch in der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils „Lumen gentium“ wider, in der das gemeinsame Priestertum aller Getauften unterstrichen wird (vgl. LG 10 u. 12). 

15 B. Dompnier (Anm. 10), 272. 16 Ebd. (zitiert nach A. Degert, Histoire des Seminaires Français, Bd.

2, Paris 1912, 441).

17 Ebd., 280.

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2.3 Die Bedeutung von Orden und Kongregationen Seit der frühen Kirche war das Mönchtum eine Art Gradmesser für die Vitalität des geistlichen Lebens in der Kirche. Insbesondere in der koinobitischen Lebensform, die sich seit dem 6. Jahrhundert im Abendland verbreitete und eng mit dem Namen des hl. Benedikt von Nursia (480-547) verbunden ist, galten die Klöster als Vorbilder eines gemeinschaftlichen Lebens aus dem Geist. Im Laufe des Mittelalters waren es dementsprechend auch zumeist Orden, aus denen Reformbewegungen in der Kirche hervorgingen. An dieser Stelle kann nur stichwortartig an die von Cluny ausgehende benediktinische Klosterreform im 10./11. Jahrhundert erinnert werden sowie an die Rolle, die den sogenannten Bettelorden (Dominikaner, Franziskaner, Augustiner) im 13./14. Jahrhundert bei der Erneuerung des geistlichen Lebens in der abendländischen Kirche zukam. Auch in nachreformatorischer Zeit spielten Ordensgemeinschaften eine wichtige Rolle bei der innerkatholischen Reform. Von zentraler Bedeutung war insbesondere die von Ignatius von Loyola (1491-1556) gegründete „Societas Jesu“.18 Die Jesuiten unterschieden sich von den klassischen Orden nicht nur durch das zusätzliche Gelübde des Papstgehorsams, sondern auch durch den Verzicht auf einen Ordenshabit, das gemeinsame Chorgebet und die Klausur. Anstelle der „stabilitas loci“, der Bindung an das Heimatkloster, wurden von den Jesuiten die Bereitschaft zur Mobilität und eine „gewöhnliche Lebensweise“ gefordert, wodurch sie flexibel einsetzbar waren. Nach der Anerkennung der Jesuiten durch Papst 

18 Aus der Fülle der Literatur über Ignatius und den Jesuitenorden sei

hier verwiesen auf: A. Falkner / P. Imhof (Hg.), Ignatius von Loyola und die Gesellschaft Jesu 1491-1556, Würzburg 1990; H. Feld, Ignatius von Loyola. Gründer des Jesuitenordens, Köln 2006.

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Paul III. im Jahr 1540 widmeten sie sich Predigt und Katechese, Exerzitien und Volksmissionen sowie dem Unterricht in höheren Schulen und der theologischen Ausbildung. Auch wenn die Jesuiten nicht zur Abwehr der Reformation gegründet worden waren, entwickelten sie sich im 16. und 17. Jahrhundert zu einem der Hauptakteure der sogenannten „Gegenreformation“.19 Die Spiritualität der Jesuiten hatte daher auch maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des geistlichen Lebens in der katholischen Kirche. Hier sind an erster Stelle die von Ignatius eingeführten „geistlichen Übungen“ zu erwähnen, aus denen sich die sogenannten „Ignatianischen Exerzitien“ entwickelten. Unter Exerzitien versteht man eine Zeit der Besinnung und des Gebets, die dabei helfen soll, das eigene Leben zu „ordnen“ und zu erkennen, auf welchen Weg Gott den Gläubigen ruft. Unter Anleitung eines Exerzitienmeisters geht es um eine „Unterscheidung der Geister“, um zu erkennen was Nachfolge Jesu für den Betreffenden konkret bedeutet. Die ignatianischen Exerzitien „lösten in der Neuzeit eine der größten geistlichen Bewegungen aus“.20 Die Praxis der geistlichen Übungen führte bei den Jesuiten jedoch keineswegs zu einer Fixierung auf das innere geistliche Leben, sondern diente im Gegenteil dazu, die Aufgaben in der Welt zu erkennen. Gemäß der ignatianischen Maxime „Gott in allen Dingen finden“ legten die Jesuiten nicht nur Wert auf eine fundierte philosophische und theologische Ausbildung, sondern auch auf ein Engagement im gesellschaftlichen und sozialen Bereich. 

19 Vgl. den Überblick über diese Epoche von D.J. Weiß, Katholische

Reform und Gegenreformation, Darmstadt 2005. Zur Diskussion über einen angemessenen Begriff vgl. ebd., 11-17. 20 P. Imhof, Art. Exerzitien, I. Allgemein, in: LThK3 3 (1995) 11061007, hier 1106.

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Auch wenn die Jesuiten ohne Zweifel von besonderer Bedeutung für die nachreformatorische Entwicklung der katholischen Kirche waren, nehmen sie keineswegs eine exklusive Stellung innerhalb der katholischen Kirche ein. Eine ebenso dynamische Entwicklung wie die Jesuiten nahm beispielsweise der 1528 von Papst Clemens VII. anerkannte Kapuzinerorden, ein Zweig der franziskanischen Ordensfamilie, der schwerpunktmäßig in Italien, Frankreich und Spanien tätig war. Während die Jesuiten vor allem Kollegien in größeren Städten gründeten, verfolgten die Kapuziner einen anderen Weg, indem sie bisweilen sehr kleine Konvente in möglichst vielen Dörfern gründeten. Wie die männlichen Ordensgemeinschaften verzeichneten auch die weiblichen Orden im 17. und 18. Jahrhundert einen beträchtlichen Zuwachs. Neben den klassischen Ordensgemeinschaften entstanden in dieser Zeit vor allem zahlreiche weibliche Kongregationen. Der Unterschied zwischen einem Orden und einer Kongregation besteht vor allem in der Ablegung der feierlichen bzw. der einfachen Gelübde sowie in der Betonung eines Lebens in Abgeschiedenheit von der Welt (die „Klausur“ bei den klassischen Orden) oder des Dienstes in der Welt (bei den Kongregationen). Weibliche Ordensangehörige werden als Nonnen bezeichnet, die Mitglieder weiblicher Kongregationen als Schwestern. Da jedoch sowohl Nonnen als auch Schwestern die drei klassischen Gelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams ablegen, die auch als „Evangelische Räte“ bezeichnet werden, hat das neue katholische Kirchenrecht von 1983 diese Unterscheidung aufgehoben und spricht in Anknüpfung an das 6. Kapitel von „Lumen gentium“ über die Ordensleute (LG 43-47) von „Instituten des geweihten Lebens“. Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert wurden zahlreiche weibliche Kongregationen gegründet, die sich je nach 20

Ausrichtung entweder dem Unterricht, der Krankenpflege oder der Fürsorge für Waisen und Behinderte widmeten. Zu den ältesten Frauenkongregationen zählen die von Mary Ward (1585-1645) gegründeten „Englischen Fräulein“, die gewissermaßen den weiblichen Zweig der Jesuiten bildeten,21 und die von Angela Merici 1535 gegründeten Ursulinen, die sich ebenso wie die Englischen Fräulein vor allem im Schulwesen engagierten.22 Durch die Gründung von Schulen für Mädchen wurden sie wegweisend für die gleichberechtigte Schulbildung für Jungen und Mädchen. Andere Gemeinschaften wie die zahlreichen Kongregationen der Franziskanerinnen widmeten sich stärker sozial-karitativen Tätigkeiten. Die weiblichen Ordensgemeinschaften entwickelten sich so dynamisch, dass nach einem in katholischen Kreisen bekannten Bonmot „der liebe Gott zwar allwissend sein mag, aber selbst er nicht weiß, wie viele katholische Ordensfrauen es gibt“. Nüchterner stellt das „Lexikon für Theologie und Kirche“ in seinem Artikel über die Franziskanerinnen fest: „Eine vollständige Aufzählung ist nicht möglich.“23 Das soll an dieser Stelle nicht deshalb betont werden, um mit einem gewissen stolzen Unterton die zahlreichen Berufungen zu einem geistlichen Leben in der katholischen Kirche hervorzuheben, sondern um anzudeuten, dass Ordensleute über Jahrhunderte hinweg im Leben der Katholiken eine bedeutende Rolle spielten. In beinahe jeder Familie gab es in der näheren oder entfernteren Verwandtschaft Ordensangehörige und in fast jeder Gemeinde gab es zumindest ei

21 Vgl. H. Peters, Mary Ward. Ihre Persönlichkeit und ihr Institut,

Innsbruck 1991; C. Kiesner, Die Congregatio Jesu – ein ignatianischer Frauenorden, in: MThZ 60 (2009) 199-205. 22 Vgl. A. Conrad, Mit Klugheit, Mut und Zuversicht. Angela Merici und die Ursulinen, Mainz 1994. 23 K.S. Frank, Art. Franziskanerinnen, in: LThK3 4 (1995) 37-41, hier 39.

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nen kleinen Schwesternkonvent. So hatte man in seinem Alltag wie selbstverständlich mit Schwestern zu tun, die entweder als Erzieherinnen im Kindergarten arbeiteten oder als Krankenschwestern sich um pflegebedürftige Familienangehörige kümmerten. Das Leben mit Menschen, die ihr ganzes Leben in den Dienst der Nachfolge Jesu gestellt haben, war und ist bis heute ein wichtiger Impuls für das geistliche Leben in der katholischen Kirche. 2.4 Gemeinschaften von Laien und neue geistliche Gemeinschaften Nicht nur die Angehörigen des Klerus, die im katholischen Sprachgebrauch meist schlicht als „Geistliche“ bezeichnet werden, und die Angehörigen der Ordensgemeinschaften, sondern auch die Laien in der katholischen Kirche suchten und suchen nach gemeinschaftlichen Formen des geistlichen Lebens. Eine zentrale Rolle spielten dabei im Mittelalter wie auch in nachreformatorischer Zeit die sogenannten Bruderschaften, die meist im städtischen Umfeld gegründet wurden. „Sie bildeten sich entweder im Anschluss an bestehende städtische Organisationsformen (Zünfte, Gilden, Rat) oder als freier Zusammenschluss mit bestimmten Aufgaben unter religiöser Motivation.“24 Die religiöse Motivation schlug sich entweder in gemeinsamen Gebetsverpflichtungen nieder oder in der gemeinsamen Verpflichtung zu einem sozial-karitativen Engagement, beispielsweise in der Krankenpflege, der Pilgerfürsorge oder der Totenbestattung. Die Mahnungen der matthäischen Perikope vom Weltgericht (Mt 25,31-46) zur Sorge um den Nächsten 

24 K.S. Frank, Art. Bruderschaft, II. Kirchengeschichtlich, in: LThK3 2

(1994) 718-719, hier 718.

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wurden auf diese Weise in die Tat umgesetzt. Im 19. Jahrhundert ging die Bedeutung der Bruderschaften, zumindest in Deutschland, allmählich zurück zugunsten der bereits erwähnten kirchlichen Verbände und Vereine. Eine neue Form von Laiengemeinschaften stellen die erst im 20. Jahrhundert entstehenden Säkularinstitute dar.25 Diese zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Mitglieder einerseits ihr Leben durch die Verpflichtung auf die drei Evangelischen Räte Gott weihen und sich an eine kirchlich approbierte Gemeinschaft binden, andererseits aber als Laien oder Priester weiterhin mitten in der Welt leben, um auf diese Weise Einfluss auf Kultur und Gesellschaft zu nehmen. Diese spezifische Welthaftigkeit unterscheidet sie von den Ordensgemeinschaften und wird als Ausdruck der Sendung der Kirche in die Welt verstanden. Das bekannteste und aufgrund seiner Tendenz zur Geheimhaltung auch umstrittenste Säkularinstitut ist sicherlich das „Opus Dei“, dem immer wieder restaurative Tendenzen unterstellt werden. Daneben gibt es aber auch andere, ökumenisch aufgeschlossene Säkularinstitute wie beispielsweise das eng mit der UnaSancta-Bewegung verbundene Christkönigs-Institut in Meitingen. Einen nochmals anderen Weg der Pflege einer gemeinschaftlichen Spiritualität stellen die geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen dar, die vor allem nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil entstanden sind.26 Diese 

25 Vgl. das von der Kongregation für die Ordensleute und Säkular-

institute hg. „informative Dokument“: Die Säkularinstitute, Bonn 1984 (VApS 73); G. Pollak, Der Aufbruch der Säkularinstitute und ihr theologischer Ort. Historisch-systematische Studien, VallendarSchönstatt 1986. 26 Vgl. F. Valentin / A. Schmitt (Hg.), Lebendige Kirche. Neue geistliche Bewegungen, Mainz 1988; Chr. Hegge (Hg.), Kirche bricht

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neuen geistlichen Gemeinschaften unterscheiden sich von den Säkularinstituten dadurch, dass sie nicht zu einer fest umrissenen Lebensform verpflichten, und von den kirchlichen Vereinen und Verbänden dadurch, dass sie einen stärker verpflichtenden Charakter haben. Zu den bekanntesten geistlichen Gemeinschaften gehören die Fokolar-Bewegung und die Schönstatt-Bewegung, die sich jeweils noch einmal in zahlreiche Untergruppen aufgliedern. Die von Rom ausgehende Gemeinschaft von Sant’Egidio und die ebenfalls im italienischen Kontext entstandene Bewegung „Comunione e Liberazione“ verbinden das gemeinsame Gebet mit dem Einsatz für sozial Benachteiligte. Mehr auf die Stärkung des eigenen Glaubens ausgerichtet sind der Cursillo und die Neokatechumenale Bewegung. Die „Charismatische Erneuerung“ in der katholischen Kirche versucht, die Impulse der Pfingstbewegung aufzunehmen, indem sie die Bitte um die Erfüllung mit dem Heiligen Geist und die Verleihung von Charismen in ihrer Spiritualität verankert. Schließlich gibt es die an einer bestimmten Ordensspiritualität ausgerichteten Laiengemeinschaften wie die Dominikanische Gemeinschaft oder die Franziskanische Gemeinschaft. Allen geistlichen Gemeinschaften gemeinsam ist das Bemühen um eine persönliche Erneuerung des Glaubens in Verbindung mit einer Vertiefung der Glaubensgemeinschaft.27 Sie sind eine Art Gegenbewegung zu den neuzeitlichen Trends der Säkularisierung und Individualisierung und bemühen sich, durch die gemeinschaftliche Glaubenserfahrung zu einer Änderung des persönlichen Lebensstils und damit zu 

auf. Die Dynamik der Neuen Geistlichen Gemeinschaften, Münster 2005. 27 Vgl. M. Tigges, Der Geist weht, wo er will. Zur Spiritualität neuer geistlicher Gemeinschaften und Bewegungen, in: LebZeug 54 (1999) 217-228.

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einer neuen Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses in der Welt beizutragen.

3. Persönliche Formen geistlichen Lebens Damit ist schon die Brücke geschlagen zum zweiten größeren Abschnitt dieses Beitrags, der sich mit persönlichen Formen geistlichen Lebens befasst. Dabei ist vorab daran zu erinnern, dass viele der im Folgenden beschriebenen persönlichen Formen der Spiritualität eingebettet sind in eine gemeinschaftliche Praxis des Gebetes und des Gottesdienstes. Insofern ist es schwierig, eine strikte Trennlinie zwischen persönlichen und gemeinschaftlichen Formen des geistlichen Lebens zu ziehen. Die Unterscheidung dient daher einzig der leichteren Erfassung der vielfältigen Formen geistlichen Lebens innerhalb der katholischen Kirche. 3.1 Die Familie als Lernort persönlicher Spiritualität In allen Kirchen, die die Kindertaufe praktizieren, kommt den Familien eine besondere Bedeutung für das Hineinwachsen der Kinder in den christlichen Glauben zu. Dieser Grundsatz gilt selbstverständlich auch für die katholische Kirche, in der die Familie über Jahrhunderte hinweg ein verlässlicher und nachhaltig wirksamer Lernort des Glaubens war. Auch wenn dieses Ideal heute vielfach nicht mehr der Realität entspricht, bemühen sich zumindest die katholischen Eltern, die ihren Glauben bewusst leben, auch weiterhin darum, ihre Kinder durch das eigene Vorbild in den Glauben einzuführen. Das beginnt mit einfachen Gebeten beim Zubettbringen der Kinder, mit dem gemeinsamen Tischgebet und dem 25

Vaterunser. Es wird vertieft durch das Vorlesen biblischer Geschichten und den gemeinsamen Besuch von Kinder- und Familiengottesdiensten. Die Bedeutung der Heiligen wird durch die Feier der Namenstage ins Bewusstsein gehoben. Manche Heilige wie Martin von Tours oder Nikolaus von Myra spielen in katholisch geprägten Regionen eine so große Rolle, dass sie bis heute durch Martinszüge und Nikolausfeiern auch im kirchenfernen Umfeld gefeiert werden. Erstkommunion und Firmung sind nicht nur kirchliche Feste, sondern auch Familienfeiern, die bestimmte Wegetappen auf dem persönlichen Glaubensweg markieren. Auch den Umgang mit Krankheit, Sterben und Tod lernte man im Kreis der Familie, begleitet durch kirchliche Riten wie die Krankenkommunion oder das Totengebet. Darüber hinaus war es in katholisch geprägten Regionen üblich, zu bestimmten Jahreszeiten gemeinsame Andachten zu feiern, d.h. Wortgottesdienste im Kreis der Familie oder der Nachbarschaft wie z.B. die Maiandachten im „Marienmonat“ Mai. Wenn diese kirchlichen Riten, angefangen vom täglichen Tischgebet bis hin zu den Maiandachten, heute in vielen Familien, die formell weiterhin der katholischen Kirche angehören, nicht mehr praktiziert werden, so ist das m.E. nicht allein Ausdruck einer Krise volkskirchlicher Religiosität, sondern vielmehr eine Konsequenz gesellschaftlicher Veränderungen, die von einer zunehmenden Individualisierung und einer abnehmenden Bedeutung familiärer Bindungen geprägt sind. Gerade die persönlichen Formen geistlichen Lebens waren und sind immer auch ein Spiegelbild des jeweiligen gesellschaftlichen Kontextes. Das gilt auch für bestimmte „typisch katholische“ Frömmigkeitsformen, die im Folgenden näher beschrieben werden.

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3.2 Eucharistische Frömmigkeit Ohne Zweifel kommt dem biblisch bezeugten Herrenmahl eine besondere Bedeutung im geistlichen Leben aller christlichen Kirchen zu. Dennoch prägte sich eine besondere eucharistische Frömmigkeit vor allem in der abendländischen Kirche aus, während sie im christlichen Osten weitgehend unbekannt blieb. Die besondere Verehrung der Gegenwart Jesu Christi in den eucharistischen Gestalten entwickelte sich in der lateinischen Kirche bereits im Mittelalter und ist insofern nicht auf antireformatorische Impulse zurückzuführen. Bereits im 12. Jahrhundert spielte die Verehrung des eucharistischen Brotes eine zentrale Rolle im Leben der Gläubigen. Zunächst war diese Eucharistieverehrung eingebunden in die Messfeier.28 Da aufgrund der strengen Buß- und Fastenvorschriften – die Gläubigen mussten vor dem Empfang der eucharistischen Gaben die Beichte abgelegt und durften ab Mitternacht nichts mehr gegessen oder getrunken haben – nur ein kleiner Teil der Gläubigen die Kommunion empfing, gewann die Schau der eucharistischen Gestalten zunehmend an Bedeutung. Diese sogenannte „Augenkommunion“ wurde ab dem 12. Jahrhundert durch die Elevation der Hostie nach den Einsetzungsworten zusätzlich befördert. Nachdem die Anbetung des Herrn in der Gestalt des eucharistischen Brotes sich in der Volksfrömmigkeit fest verankert hatte, verlagerte sich der eucharistische Kult allmählich aus der Messfeier heraus.29 In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts kamen Prozessionen mit den konsekrierten Hostien auf, von denen die Fronleich

28 Vgl. A. Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter,

Darmstadt 1997, 491-514.

29 Vgl. O. Nußbaum, Die Aufbewahrung der Eucharistie, Bonn 1979,

bes. 102-174 (§ 4: Die Verehrung der Eucharistie).

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namsprozession die bekannteste und bis heute weitgehend auch praktizierte ist. 1264 wurde das Fronleichnamsfest von Papst Urban IV. für die ganze lateinische Kirche vorgeschrieben.30 Aus dem Fronleichnamsfest gingen dann später die eucharistischen Andachten und der sogenannte „eucharistische Segen“ hervor. Beim eucharistischen Segen hält der Priester während des Segensgestus eine Monstranz, ein Schaugefäß mit dem ausgesetzten Leib Christi, in den Händen. An bestimmten Tagen wird eine solche Monstranz auch zur Anbetung durch die Gläubigen in der Kirche ausgesetzt. Dies geschah zunächst im Anschluss an die Eucharistiefeier zum Gedächtnis des letzten Abendmahles am Gründonnerstag. Hieraus entwickelte sich im 16. Jahrhundert das sogenannte vierzigstündige Gebet als eucharistische Andacht während der Zeit der Grabesruhe Christi. In nachreformatorischer Zeit entwickelte sich hieraus die sogenannte „Ewige Anbetung“ des heiligen Sakraments, die dadurch realisiert wird, dass die eucharistische Anbetung reihum in verschiedenen Kirchen durchgeführt wird. War es früher durchaus Praxis, dass die Gemeinden einer Diözese reihum die ewige Anbetung praktizierten, sind es heute meist nur noch spezielle Ordensgemeinschaften, die diese Form der eucharistischen Anbetung pflegen. Auch heute ist die eucharistische Frömmigkeit in der katholischen Kirche weiterhin von großer Bedeutung, auch wenn durch den inzwischen regelmäßigen Empfang der hl. Kommunion die sogenannte „Augenkommunion“ keine Rolle mehr spielt. Dennoch wird die eucharistische Verehrung weiterhin gepflegt. Sie vermag offenbar auch junge Menschen anzusprechen, wie das Beispiel der Weltjugendtage zeigt, bei denen die Verehrung des eucharistischen Brotes zum festen Bestandteil des Pro 30 Vgl. A. Heinz, Art. Fronleichnam, in: LThK3 4 (1995) 172-174.

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gramms gehört. Junge Menschen empfinden sie als eine Form der Meditation, ausgerichtet auf die Monstranz als ein Symbol, das die bleibende Gegenwart Jesu Christi unter uns in Erinnerung ruft. Dabei betonen alle offiziellen Dokumente zur Eucharistieverehrung in der katholischen Kirche, „dass alle ihre Formen den Zusammenhang mit der Eucharistiefeier wahren und auf den Genuss der eucharistischen Speise ausgerichtet sein müssen“.31 Die Förderung der eucharistischen Frömmigkeit in der katholischen Kirche ist Ausdruck des Bemühens der Gegenreformation um „Förderung neuer Formen christozentrischer Frömmigkeit“.32 Insofern könnte man sie als eine katholische Variante des reformatorischen Anliegens betrachten, Christus erneut in die Mitte des Glaubens zu stellen. Auch andere Frömmigkeitsformen wie die ab dem 17. Jahrhundert aufkommende HerzJesu-Verehrung sind Ausdruck dieser Christozentrik in der Spiritualität der „Katholischen Reform“ nach dem Konzil von Trient. 3.3 Die neuzeitliche Mystik Obgleich die Mystik in der abendländischen Kirche bereits im 13. und 14. Jahrhundert eine bedeutende Rolle spielte – erwähnt seien hier als Beispiele nur der Franziskaner Bonaventura (1217-1274) und der Dominikaner Meister Eckhart (1260-1328) als Vertreter der sogenannten Ordensmystik sowie Mechtild von Magdeburg (1207-1282) und Katharina von Siena (1347-1380) als Vertreterinnen der Frauenmystik –, erlebte sie auch in 

31 H.B. Meyer, Art. Eucharistie, IX. Eucharistieverehrung, in: LThK3 3

(1995) 964-965, hier 965.

32 K.P. Luria, Gegenreformation und Volksfrömmigkeit, in: Geschich-

te der christlichen Spiritualität, Bd. 3 (Anm. 1), 117-144, hier 138.

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nachreformatorischer Zeit eine neue Blüte, im 16. Jahrhundert vor allem in Spanien. Hier zählen Teresa von Avila (1515-1582) und der ihr nicht nur geistlich, sondern auch persönlich eng verbundene Johannes vom Kreuz (1542-1591) zu den bedeutendsten Mystikern, die in ihren Schriften das Ziel des mystischen Strebens als einen geistlichen Stufenweg zur Einigung mit Gott beschreiben. Im 17. Jahrhundert geriet die Mystik allmählich in eine Krise. Zwar gab es zu Beginn des Jahrhunderts noch einige herausragende geistliche Schriftsteller, die in ihren Schriften aus der mystischen Tradition schöpften – wie etwa Franz von Sales (1567-1622) oder der bereits erwähnte Pierre de Bérulle –, doch bei beiden verband sich das mystische Gedankengut bereits mit einem auf die Praxis ausgerichteten Engagement in der Seelsorge. Auf der anderen Seite kam es zu quietistischen Tendenzen, die die Bedeutung des innerlichen Gebetes so sehr betonten, dass das äußere Verhalten des Menschen nahezu bedeutungslos wurde. Aus diesem Grund wurde der Quietismus von der katholischen Kirche am Ende des 17. Jahrhunderts verurteilt.33 Nach der Verurteilung des Quietismus durch das kirchliche Lehramt lassen sich im 18. und 19. Jahrhundert kaum noch mystische Schriften ausfindig machen, bevor es im 20. Jahrhundert zu einem, wenn auch in seiner Breitenwirkung sehr begrenzten, Wiederaufleben kommt, für das Namen wie Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955), Edith Stein (1891-1942) oder Adrienne von Speyr (19021967) stehen.



33 Vgl. L. Dupré, Jansenismus und Quietismus, in: Geschichte der

christlichen Spiritualität, Bd. 3 (Anm. 1), 145-167.

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3.4 Marienverehrung Wenn man nach einer „typisch katholischen“ Frömmigkeitsform fragt, so würden die meisten Menschen vermutlich spontan die Marienverehrung benennen. In der Tat spielt Maria in der Glaubens- und Gebetspraxis vieler katholischer Gläubiger eine herausgehobene Rolle.34 Dennoch ist die Marienverehrung kein exklusives Merkmal katholischer Frömmigkeit, sondern ist beispielsweise in den orthodoxen Kirchen ebenso verbreitet. Auch in der abendländischen Kirche spielte der Marienkult bereits vor der Reformation eine wichtige Rolle in der Volksfrömmigkeit. Die Reformatoren lehnten die übertriebenen Formen dieser Volksfrömmigkeit wie die Verehrung wundertätiger Madonnenbilder ab, pflegten aber gleichwohl eine biblisch verwurzelte Marienfrömmigkeit, wie sie im Magnificat zum Ausdruck kommt, und hoben die Bedeutung der klassischen Marienfeste im Kirchenjahr im Blick auf ihre Beziehung zu Christus hervor.35 Die nachtridentinischen Reformen führten zu einer Bereinigung des Heiligenkalenders, deren indirekte Folge eine Aufwertung der Rolle Marias als Fürsprecherin bei Gott war. Maria wurde um Fürbitte angerufen bei Krankheit, Hunger und jeglicher Not. Sie wurde zur „Schutzpatronin der katholischen Welt gegen den vor

34 Vgl. K. Schreiner, Maria. Leben, Legenden, Symbole, München

2003.

35 Vgl. M. Heymel, Maria entdecken. Die evangelische Marienpre-

digt, Freiburg i.Br. 1991, 22-35; P. Reitz, Maria als von Gott gebeteter Mensch. Maria bei Luther (1483-1546) und den Lutheranern, in: Auf der Suche nach der Seele Europas. Marienfrömmigkeit in Ost und West, hg. v. P.L. Hofrichter, Innsbruck 2007 (ProOr 30), 281-313; E. Koch, „… von Glauben eine Jungfrau, von Liebe eine Mutter“. Marienverehrung im Bereich der Wittenberger Reformation, in: Th. Seidel / U. Schacht (Hg.), Maria. Evangelisch, LeipzigPaderborn 2011, 43-57.

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dringenden Islam und bei der Eroberung der Neuen Welt“.36 Im liturgischen Kalender wurden die bereits seit dem frühen Mittelalter etablierten Marienfeste wie das Hochfest der Gottesmutter Maria (1. Januar), das Fest Mariä Geburt (8. September) und das Fest Mariä Himmelfahrt (15. August) ergänzt durch weitere Gedenktage wie das Fest der Empfängnis Mariens (1476 eingeführt), das Fest „Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz“ (1571 nach dem Sieg über die Türken in der Schlacht von Lepanto eingeführt) und das Fest Mariä Namen (1683 nach dem Sieg über die Türken vor Wien eingeführt). Marienaltäre in den Kirchen und Marienwallfahrtsorte boten den Rahmen, um seine persönlichen Gebetsanliegen der Gottesmutter anzuvertrauen, die den Gläubigen gefühlsmäßig näher stand als Jesus Christus, der eher auf der Seite Gottes als auf der Seite der Menschen stehend empfunden wurde. Eine große Rolle für die persönliche Frömmigkeit spielte und spielt bis heute das Rosenkranzgebet. Es basiert auf dem verbreitetsten Mariengebet der mittelalterlichen Kirche, dem „Ave Maria“, das sich im Wesentlichen aus biblischen Zitaten aus der lukanischen Kindheitsgeschichte zusammensetzt. Es verbindet den Gruß des Erzengel Gabriels „Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir“ (Lk 1,28) mit den Worten Elisabeths „Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes“ (Lk 1,42). In der Volksfrömmigkeit wurde das Ave Maria zum bevorzugten Wiederholungsgebet. So ersetzte beispielsweise der sogenannte Marienpsalter (150 Ave Maria) die 150 Psalmen. Hieraus entwickelten sich bereits im 13. Jahrhundert Frühformen des Rosenkranzes, der dann von Papst Pius V. im Jahr 1569 eine verbindliche Form er

36 G. Voss, Art. Marienverehrung, I. Historisch-theologisch, in: LThK3

6 (1997) 1378-1379, hier 1379.

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hielt.37 Er besteht aus fünf Zehnergruppen des Ave Maria, die jeweils mit einem Vaterunser eingeleitet und einem „Ehre sei dem Vater“ beschlossen werden. Die Anrufung Marias erhält im Rosenkranz eine christologische Fokussierung durch die Einfügung der sogenannten „Gesätze“, durch die einzelne Ereignisse aus der Heilsgeschichte meditierend in das Gebet eingefügt werden. An die Worte „Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes“ schließt sich jeweils ein kurzer Nebensatz an, in dem das Christusereignis in heilsökonomischer Abfolge thematisiert wird. So heißt es beispielsweise „Jesus, den du, o Jungfrau, vom Heiligen Geist empfangen hast“ oder „Jesus, der für uns gekreuzigt worden ist“ oder „Jesus, der von den Toten auferstanden ist“. Je nach Inhalt der betrachteten Heilsereignisse unterscheidet man einen freudenreichen, einen schmerzhaften und einen glorreichen Rosenkranz. Im Jahr 2002 wurde durch Papst Johannes Paul II. den klassischen drei Fünfergruppen eine vierte Fünfergruppe hinzugefügt, die sogenannten „lichtreichen Geheimnisse“, die einige besonders bedeutende Momente des öffentlichen Lebens und Wirkens Jesu betrachten, wie die Taufe im Jordan, die Hochzeit zu Kana oder die Verklärung auf dem Berg Tabor. Das Rosenkranzgebet ist kein Pflichtgebet für katholische Gläubige, sondern eine empfohlene freiwillige Übung, die gleichwohl sehr beliebt ist. Das gilt sowohl für das persönliche Gebet wie auch für das Beten in Gemeinschaft beispielsweise auf Wallfahrten oder beim bis heute üblichen Nachbarschaftsgebet für die Verstorbenen. Neben dem Rosenkranzgebet spielt das Ave Maria auch noch eine zentrale Rolle beim sogenannten AngelusGebet, dem „Engel des Herrn“, der ab dem 13. Jahrhun

37 Vgl. L. Holtz, Mysterium und Meditation. Rosenkranzbeten heute,

Trier 1976; A. Heinz, Der Rosenkranz. Das immerwährende JesusGebet des Westens, in: LJ 55 (2005) 235-247.

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dert von den Franziskanern eingeführt wurde. Dabei ging es darum, dass die Gläubigen beim Läuten zur Komplet am Abend Maria grüßen sollten, die zur Abendzeit die Botschaft des Erzengels Gabriel empfangen habe. Das Angelus-Gebet besteht aus drei Ave Maria, die jeweils von biblischen Versen umfasst werden, und endet mit einem Schlussgebet, in dem Menschwerdung, Tod und Auferstehung Jesu Christi kommemoriert werden. Im 15. Jahrhundert kam das Morgenläuten hinzu und im 16. Jahrhundert das mittägliche Läuten, sodass das Angelus-Gebet schließlich dreimal täglich gesprochen werden sollte. Eine besondere Intensivierung der Marienverehrung in der katholischen Kirche ist etwa von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachten.38 In diesem in der einschlägigen Literatur als „marianisches Jahrhundert“ bezeichneten Zeitraum kam es zu einer Verselbstständigung der Mariologie, deren christologische Einbindung zunehmend in Vergessenheit geriet und die Maria zu einer beinahe eigenständigen Mittlerin zwischen Gott und Mensch werden ließ. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisteten sogenannte Marienerscheinungen, bei denen einzelne Gläubige bezeugten, Maria als sinnenhaft gegenwärtig erfahren zu haben.39 Allein von 1928 bis 1958 wurden 179 Erscheinungen der Gottesmutter gezählt. Zu den bekanntesten Marienerscheinungen zählen sicherlich die im französischen Lourdes (1858) und im portugiesischen Fatima (1917). Das Lehramt der katholischen Kirche stand dieser Fülle der Marienerscheinungen eher skeptisch gegenüber und erkannte weniger als ein Fünftel der Erscheinungen als au

38 Vgl. J. Imbach, Marienverehrung zwischen Glaube und Aberglau-

be, Düsseldorf 2008.

39 Vgl. A. Ziegenaus (Hg.), Marienerscheinungen. Ihre Echtheit und

Bedeutung im Leben der Kirche, Regensburg 1995 (MSt 10).

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thentisch an. Dennoch ist es wohl kein Zufall, dass dieser Gipfelpunkt marianischer Frömmigkeit mit der Definition zweier mariologischer Dogmen zusammenfällt, der Unbefleckten Empfängnis Mariens (1854) sowie der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel (1950). „Ohne diese Verehrung, die viel verbreiteter und populärer war als alle anderen Formen, hätte es keine theologischen, lehramtlichen und sogar dogmatischen Verdeutlichungen der Rolle der Mutter Jesu in den Heilsmysterien gegeben.“40 Festzuhalten bleibt, dass die Marienverehrung in der katholischen Kirche sich vor allem aus der Volksfrömmigkeit entwickelte und vonseiten der Hierarchie weniger inspiriert als vielmehr reguliert worden ist. Das Zweite Vatikanische Konzil verknüpfte die Mariologie mit der Ekklesiologie, indem es seine Aussagen über die Rolle Marias als 8. Kapitel an die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ anschloss und Maria als Vorbild der Gläubigen und der Kirche beschrieb. Das Konzil ermuntert zur Verehrung Marias, warnt jedoch zugleich vor „jeder falschen Übertreibung“ und unterstreicht, dass die „Aufgaben und Privilegien der seligen Jungfrau … sich immer auf Christus beziehen, den Ursprung aller Wahrheit, Heiligkeit und Frömmigkeit“ (LG 67). 3.5 Heilige, Reliquien und Wallfahrten Das, was das Konzil über Maria gesagt hat, gilt im Prinzip für alle Vorbilder im Glauben, die in der katholischen Kirche als Heilige verehrt werden. Schon das 

40 E. Fouilloux, Die katholische Frömmigkeit, in: Die Geschichte des

Christentums, Bd. 12: Erster und Zweiter Weltkrieg, Demokratien und totalitäre Systeme (1914-1958), Freiburg i.Br. 1992, 238-302, hier 245.

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Konzil von Trient betonte im Blick auf die Marien- und Heiligenverehrung deren fürbittende Rolle bei Gott. Es sei „gut und nützlich, sie flehentlich anzurufen und zu ihren Gebeten, ihrem Beistand und ihrer Hilfe Zuflucht zu nehmen“, doch das Trienter Konzil unterstrich zugleich, dass die Anrufung der Heiligen nur dazu dienen könne, „um von Gott durch seinen Sohn Jesus Christus, unseren Herrn, der allein unser Erlöser und Erretter ist, Wohltaten zu erwirken“ (DH 1821). Das Konzil hob somit die alleinige Heilsmittlerschaft Jesu Christi hervor und hielt an der altkirchlichen Unterscheidung zwischen der Verehrung der Heiligen und der Anbetung, die allein Gott zukommt, fest.41 In der Praxis rufen die Gläubigen im Gebet vor allem Heilige an, die ihnen besonders nahe stehen – sei es als Namenspatrone, sei es als Schutzpatrone eines bestimmten Standes oder einer Berufsgruppe (wie beispielsweise der hl. Florian als Schutzpatron der Feuerwehr, die hll. Cosmas und Damian als Schutzpatrone der Ärzte und Apotheker, der hl. Josef als Schutzpatron der Handwerker). Andere Heilige werden in bestimmten Lebenssituationen um ihre Fürsprache angerufen (der hl. Christophorus auf Reisen oder der hl. Antonius von Padua bei verlorenen Dingen). Dabei kam es im Laufe der Kirchengeschichte durchaus vor, dass in der Volksfrömmigkeit andere Heilige bevorzugt wurden als diejenigen, die vom kirchlichen Lehramt als besonders verehrungswürdig herausgestellt wurden (wie z.B. die „Kirchenlehrer“ Augustinus, Thomas von Aquin oder Bonaventura). Nach der Bereinigung des Heiligenkalenders durch das Konzil von Trient und durch die Förderung der eucharistischen und marianischen Frömmigkeit trat 

41 Zur theologischen Begründung der Heiligenverehrung vgl. G.L.

Müller, Gemeinschaft und Verehrung der Heiligen. Geschichtlichsystematische Grundlegung der Hagiologie, Freiburg i.Br. 1986.

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die Bedeutung der Heiligenverehrung in der katholischen Kirche zunächst ein wenig zurück, bevor sie im 19. und 20. Jahrhundert erneut auflebte. Kennzeichnend für die „neuen Heiligen“ der katholischen Kirche ist, dass sie aus allen Ständen und Berufsgruppen kommen, dass Männer und Frauen, Priester und Laien unter ihnen vertreten sind. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konzentrierten sich die Heiligsprechungen zunächst auf ein bestimmtes Frömmigkeitsideal, wie es der als „Pfarrer von Ars“ bekannt gewordene Jean-Baptiste-Marie Vianney (1786-1859) oder die schon im Alter von 24 Jahren verstorbene Thérèse von Lisieux (1873-1897) repräsentieren, die beide im Jahr 1925 heiliggesprochen wurden. Während Paul VI. in den 15 Jahren seines Pontifikats nur sechs Personen selig- bzw. heiliggesprochen hat, nahm Papst Johannes Paul II. in den 27 Jahren seines Pontifikats 1.345 Seligsprechungen und 482 Heiligsprechungen vor, darunter erstmals zahlreiche Personen aus dem nichteuropäischen Raum.42 Die Bedeutung der örtlichen, von einem bestimmten regionalen Kontext geprägten Heiligenverehrung stieg damit an, während gleichzeitig die Bedeutung der Heiligen als die Katholiken weltweit verbindende Identifikationsgestalten abnahm. Eng verbunden mit der Heiligenverehrung war seit der frühen Kirche die Verehrung ihrer Gräber und Reliquien.43 Zu den Reliquien zählt man nicht nur das, was von den Körpern der Heiligen erhalten blieb, sondern auch Dinge, die mit ihrem Leben in Berührung standen. 

42 Kurzbiographien der von Papst Johannes Paul II. kanonisierten

Seligen und Heiligen finden sich in: Die neuen Heiligen der katholischen Kirche. 7 Bde., hg. v. F. Holböck u. S. Wirth, Stein am Rhein 1991ff. 43 Vgl. A. Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, 123-182.

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Aus der Praxis der frühen Kirche, die Eucharistie an den Gräbern der Märtyrer zu feiern, entwickelte sich die Praxis, in jedem Altar zumindest kleine Reliquienpartikel aufzubewahren. Auf diese Weise bekam die Verehrung der Heiligen einen konkreten Ort, an dem sie vollzogen werden konnte. Kirchen mit den Gräbern berühmter Heiliger entwickelten sich zu Wallfahrtszentren, zu denen die Pilger strömten. In der Geschichte der Kirche wurden zunächst die Stätten des Lebens Jesu im Heiligen Land zum Ziel von Wallfahrten, wie das berühmte „Itinerarium Egeriae“ aus dem 4. Jahrhundert belegt.44 Im Mittelalter waren es dann vor allem die Apostelgräber, die die Wallfahrer anzogen, wie die Gräber der Apostel Petrus und Paulus in Rom oder das Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela.45 Ein dichtes Netz von Pilgerwegen führte zu diesen traditionellen Wallfahrtsorten, die als „Jakobswege“ in jüngster Zeit eine bemerkenswerte Renaissance erfahren. Andere Wallfahrten, wie die Wallfahrt zum Heiligen Rock in Trier, der 1512 erstmals öffentlich zur Verehrung gezeigt wurde, werden heute in modernisierter und ökumenisch sensibilisierter Form wieder aufgegriffen.46 In der katholischen Frömmigkeit seit der Reformation spiel 44 Egeria, Itinerarium – Reisebericht. Mit Auszügen aus: Petrus

Diaconus, De locis sanctis / Die heiligen Stätten. Lateinisch – deutsch. Übers. u. eingel. von G. Röwekamp unter Mitarbeit von D. Thönnes, Freiburg i.Br. 1995 (FC 20). 45 Vgl. K. Herbers u.a., Pilgerwege im Mittelalter, Darmstadt 2005. 46 Zur Geschichte der Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt vgl. E. Aretz u.a. (Hg.), Der Heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 21996. Zur ökumenischen Bedeutung dieser Wallfahrt vgl. S. Schmitt, ebd., 943-954 (zur Wallfahrt 1996); außerdem die Broschüre „Du setzt das Maß für Tritt und Schritt“. Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche im Rheinland zur Wallfahrt Trier 2012, Düsseldorf 2012 (Beilage zur Zeitschrift „Chrismon plus Rheinland“ 1/2012) sowie B. Rudolph, Eine ökumenische Herausforderung. Die Heilig-Rock-Wallfahrt 2012, in: MdKI 63 (2012) 23-26.

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ten Pilgerwege immer eine bedeutsame Rolle. Sie stehen sinnbildlich für den Wegcharakter des Glaubens und bieten dem einzelnen Gläubigen die Chance, auf dem Weg zum Ziel des Pilgerweges über das Ziel seines eigenen Lebensweges nachzudenken.47 Die Tatsache, dass damit die Sinnfrage in den Mittelpunkt des Pilgerns gestellt wird, dürfte der Grund für das Wiederaufleben der Pilgerbewegung in den letzten Jahrzehnten sein. Eine am jeweiligen Ort verbleibende Form der Wallfahrt stellen die Prozessionen dar, bei denen sich die Gläubigen vor Ort auf den Weg machen, um auf einem von verschiedenen Stationen markierten Weg bestimmten Aspekten des Glaubens meditierend nachzugehen. Zu den bekanntesten Prozessionen zählt sicherlich die bereits erwähnte Fronleichnamsprozession, bei der das eucharistische Brot in einer Monstranz durch die Stadt bzw. das Dorf getragen wird, um die Gegenwart Jesu Christi in dieser Welt zu „demonstrieren“. Prozessionen gibt es darüber hinaus am Palmsonntag, an den sogenannten „Bitttagen“ vor Christi Himmelfahrt, bei denen auf Flurprozessionen um eine gute Ernte gebetet wird, sowie bei Beerdigungen, wo der Trauerzug die Angehörigen zum Grab begleitet. Eine in der Volksfrömmigkeit besonders wichtige Form der Prozession stellt schließlich der „Kreuzweg“ dar, dessen 14 Stationen den Leidensweg Jesu von der Verurteilung durch Pontius Pilatus bis zum Tod am Kreuz in Erinnerung rufen.48 In (fast) jeder katholischen Kirche finden sich bildliche Darstellungen der 14 Kreuzwegstationen, die zum betenden Gedenken des Kreuzweges innerhalb des Kirchenraums  47 Vgl. E. Mielenbrink, Beten mit den Füßen. Über Geschichte, Fröm-

migkeit und Praxis von Wallfahrten, Kevelaer 1993; vgl. dazu aus protestantischer Sicht C. Dahlgrün (Anm. 1), 552-566. 48 Vgl. die Texte und Gebete zum Kreuzweg im „Gotteslob“, dem Katholischen Gebet- und Gesangbuch der deutschsprachigen Diözesen, Nr. 775.

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ermuntern. Darüber hinaus gibt es in katholisch geprägten Regionen auch Kreuzwegstationen im Dorf bzw. in der Stadt, die die Gläubigen vor allem am Vormittag des Karfreitags in einer Prozession aufsuchen. Diese „lokalen Pilgerwege“ rufen ebenso wie die Wallfahrten immer wieder in Erinnerung, dass unser irdisches Leben Teil der Pilgerschaft zum ewigen Leben ist. 3.6 Geistliches Liedgut Eine besondere Rolle bei der Ausprägung der persönlichen Frömmigkeit spielte das geistliche Liedgut.49 Insbesondere im deutschsprachigen Raum entwickelte sich, angestoßen durch die ersten reformatorischen Liedsammlungen, das Singen geistlicher Lieder zu einer weit verbreiteten Praxis. Wurden die Lieder anfangs auf Flugblättern verbreitet, ermöglichte der Buchdruck bald die Herausgabe umfangreicherer Gesangbücher. Die ersten katholischen Gesangbücher wurden von Johann Leisenritt 1567 in Bautzen und von Kaspar Ulenberg 1582 in Köln herausgegeben. Das 17. Jahrhundert erwies sich als eines der fruchtbarsten im Blick auf die geistliche Lieddichtung. Zu den bekanntesten Liedverfassern auf katholischer Seite zählte der Jesuit Friedrich Spee von Langenfeld, der in den 1620er-Jahren mehrere Jahre lang als Professor an der neu gegründeten Theologischen Fakultät Paderborn wirkte und vor allem durch seine scharfsinnige Kritik an den Hexenprozessen bekannt geworden ist. Da die Liturgie in lateinischer Sprache gefeiert wurde, setzten sich die deutschsprachigen  49 Vgl. P. Ebenbauer, Art. Gesangbuch, in: LThK3 4 (1995) 548-552;

H. Hucke, Das Kirchenlied, in: Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft, Bd. 3: Gestalt des Gottesdienstes. Sprachliche und nichtsprachliche Ausdrucksformen, Regensburg 1987, 165-179.

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Kirchenlieder zunächst in anderen Bereichen wie der häuslichen Andacht, bei der Katechese und bei Wallfahrten durch. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden zahlreiche diözesane Gesangbücher publiziert, die zumeist auch Anleitungen für das persönliche Gebet und die gemeinsame Andacht enthielten. Erst im 20. Jahrhundert setzten sich sogenannte Einheitsgesangbücher durch wie das „Gotteslob“, das 1975 für alle deutschsprachigen Diözesen eingeführt wurde. Parallel zum „Gotteslob“ wurden in vielen Diözesen Sammlungen mit neuen geistlichen Liedern veröffentlicht, die etwa seit den 1960er-Jahren entstanden und sich darum bemühten, den Stil der bei jungen Menschen beliebten Popkultur aufzugreifen.50 Aber auch die Gesänge der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, die sich eher am repetitorischen Stil des orthodoxen Kirchengesangs orientieren, fanden in den Gemeinden Anklang. Bei der momentan anstehenden Neuausgabe des katholischen Gebet- und Gesangbuches werden auch diese neueren Traditionen in das gemeinsame Liedgut einfließen. Damit steht am Abschluss dieses Überblicks über die Entwicklung des geistlichen Lebens in der katholischen Kirche ein Beispiel, wie die Volksfrömmigkeit Einfluss auf den Gottesdienst der Kirche nimmt. Liturgie und Volksfrömmigkeit bilden zwei Pole eines Spannungsfeldes, in dem das geistliche Leben der Gläubigen sich dynamisch weiterentwickeln kann. Diese Aussage leitet über zum abschließenden vierten Kapitel, in dem versucht werden soll, die Entwicklungslinien katholischer Spiritualität seit der Reformation zusammenfassend zu bewerten. 

50 Zur Bedeutung neuer geistlicher Lieder als einer Ausdrucksform

moderner Spiritualität vgl. P. Hahnen, Das „Neue Geistliche Lied“ als zeitgenössische Komponente christlicher Spiritualität, Münster 1997 (Theologie und Praxis 3).

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4. Fazit: Entwicklungslinien katholischer Spiritualität seit der Reformation Das geistliche Leben in der katholischen Kirche hat sich seit der Reformation auf vielfältige Weise weiterentwickelt und ausdifferenziert. Die sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts abzeichnende Spaltung der abendländischen Christenheit ließ die katholische Kirche nicht in eine innere Krise stürzen, sondern erweckte eine innerkatholische Reformbewegung, die sich auch im Streben nach einem authentischeren geistlichen Leben äußerte. Die sogenannte „Katholische Reform“ des 16. und 17. Jahrhunderts schwankte dabei zwischen innerer Erneuerung des kirchlichen Lebens einerseits und der von staatlicher Seite geförderten Rekatholisierung andererseits. Das beste Beispiel dafür ist der Jesuitenorden, der einen substanziellen Beitrag zur Erneuerung des geistlichen Lebens in der katholischen Kirche leistete, doch zugleich von den kirchlichen und weltlichen Machthabern als „Speerspitze“ der Rekatholisierung eingesetzt wurde. Eine bemerkenswerte, weil durchaus selbstkritisch formulierte Bestandsaufnahme der historischen Entwicklung enthält das am 17. Dezember 2001 von der römischen Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung veröffentlichte „Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie“.51 Im Kapitel über „Liturgie und Volksfrömmigkeit im Licht der Geschichte“ ist daher auch von negativen Folgen der Reformen des Konzils von Trient die Rede: „Die Liturgie schien zu erstarren, was mehr von der Einhaltung der sie reglementierenden Rubriken herrührte als von ihrer Natur“ 

51 Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung,

Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie. Grundsätze und Orientierungen, Bonn 2001 (VApS 160).

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(Nr. 40). Dementsprechend sei die nachtridentinische Liturgie von „substantieller Uniformität und statischer Unveränderlichkeit“ geprägt gewesen, während die Volksfrömmigkeit „eine außerordentliche Entwicklung“ nahm und sich „als wichtiges Mittel zur Verteidigung des katholischen Glaubens“ erwiesen habe, auch wenn es zum Teil „anomale Situationen“ gab, wenn beispielsweise „Andachtsübungen … zuweilen innerhalb der liturgischen Handlungen“ vollzogen wurden und diese „überwucherten“ (Nr. 41). In der Epoche der Aufklärung „nahm die Liturgie jene aristokratische Geisteshaltung an, welche in jener Zeit das ganze kulturelle Leben prägte“ (Nr. 42). Das 19. Jahrhundert war „von einem bisweilen autonomen Anwachsen der Volksfrömmigkeit“ geprägt, was – in Verbindung mit der Kultur der Romantik – zu einem „Aufwerten des volkstümlichen Elements auch im Bereich des Gottesdienstes“ führte (Nr. 45). Insgesamt, so resümiert das Direktorium, zeige die Geschichte, „dass die rechte Beziehung zwischen Liturgie und Volksfrömmigkeit immer dann gestört war, wenn in den Gläubigen das Bewusstsein für die wesentlichen Werte der Liturgie selbst geschwächt war“ (Nr. 48). Eine der Ursachen dafür war nach Ansicht der Kongregation, „mangelndes Verständnis für das Gemeinsame Priestertum, in dessen Kraft alle Gläubigen dazu befähigt sind … in vollem Umfang gemäß ihrer Berufung am Gottesdienst der Kirche teilzuhaben“ (ebd.). Neben dieser um Objektivität bemühten Beschreibung der katholischen Frömmigkeitsgeschichte sind auch die Prinzipien erwähnenswert, die das Dokument für die Beurteilung der Volksfrömmigkeit aufführt. Demnach zeichnen sich authentische Formen der Spiritualität durch (1) biblischen Geist, (2) liturgischen Geist, (3) ökumenischen Geist und (4) anthropologischen Geist aus (vgl. Nr. 12). Der ausdrückliche Hinweis auf die biblischen Wurzeln jeder Form des christlichen Gebets so43

wie die Forderung, die „Empfindungen und Überlieferungen“ der anderen Christen zu beachten (ebd.), geben diesem Direktorium eine ökumenische Note, die auch bei der Ausgestaltung jener „typisch katholischen“ Frömmigkeitsformen zu berücksichtigen ist, die in den folgenden Kapiteln dieses umfangreichen Dokuments beschrieben werden. Welches Resümee lässt sich am Ende dieses Überblicks über die Entwicklung des geistlichen Lebens in der katholischen Kirche seit der Reformation ziehen? Zunächst einmal lassen sich durchaus gewisse Gemeinsamkeiten mit der reformatorischen Spiritualität beobachten. Das Zerbrechen der mittelalterlichen Synthese von Thron und Altar und die Unterscheidung von Weltlichem und Geistlichem, von natürlicher und übernatürlicher Welt führten zur Auflösung der überkommenen Sozialstrukturen und zur „Subjektwerdung“ des Menschen. Die Erkenntnis, dass jeder Einzelne die Verantwortung für sein Leben vor Gott übernehmen muss, führte nicht nur bei Luther zu einem Umdenken in seinem Glauben, sondern war auch ein entscheidender Impuls für das Wirken des hl. Ignatius von Loyola. Stärker als zuvor nahm die katholische Reformbewegung den einzelnen Gläubigen in die Pflicht, ein gottgefälliges Leben zu führen. Dies führte zu einer Intensivierung der persönlichen Formen geistlichen Lebens wie der eucharistischen Frömmigkeit oder der Marienverehrung. Der entscheidende Wandel gegenüber der vorreformatorischen Zeit bestand darin, dass es zu einer Verinnerlichung des geistlichen Lebens kam. So wurde beispielsweise schon zu Lebzeiten Luthers festgelegt, dass Ablässe nicht mehr durch finanzielle Gaben, sondern nur durch fromme Übungen wie Gebete und Wallfahrten erworben werden konnten. Die Betonung der Bedeutung eines frommen Lebens und der Innerlichkeit des Glaubens erwies sich allerdings als ambivalent. Auf der einen Seite führte 44

sie zu einem neuen Höhepunkt der Mystik, beispielsweise in Spanien, auf der anderen Seite kam es zu den erwähnten quietistischen Tendenzen, die die Bedeutung des innerlichen Gebetes so sehr betonten, dass das äußere Verhalten des Menschen nahezu bedeutungslos wurde. Insbesondere in der Zeit nach der Aufklärung lässt sich eine zunehmende Dichotomie zwischen „gottloser“ Welt und „weltloser“ Frömmigkeit beobachten. Die Entwicklung des geistlichen Lebens in der katholischen Kirche seit der Reformation wäre jedoch unzureichend erfasst, würde man nur auf diese innerlichen Aspekte des geistlichen Lebens schauen. Denn der Betonung der persönlichen Frömmigkeit auf der einen Seite korrespondiert ein auf die Wirksamkeit des Glaubens nach außen hin bedachter Impetus auf der anderen Seite. Hierfür steht das Motto der Jesuiten „Gott in allen Dingen suchen“. Hier geht es um die Sendung in die Welt, die sowohl zum persönlichen Glauben als auch zum gemeinsamen Zeugnis der kirchlichen Glaubensgemeinschaft untrennbar hinzugehört. Das Engagement der katholischen Kirche im Bildungswesen, der Aufbau sozial-karitativer Strukturen, die Gründung kirchlicher Verbände und Vereine und das Engagement für die Mission in der sogenannten „Neuen Welt“ sind verschiedene Aspekte dieses nach außen wirksamen Glaubens. Die Entwicklung des geistlichen Lebens in der katholischen Kirche seit der Reformation ist mithin sowohl durch eine Intensivierung des spirituellen Lebens nach innen als auch durch die Betonung der apostolischen Sendung nach außen geprägt. Gebet und Engagement, Kontemplation und Aktion sind aus katholischer Sicht unauflösbar miteinander verknüpfte Dimensionen eines authentischen geistlichen Lebens. Ein dritter Aspekt der Entwicklung bleibt abschließend zu benennen. Er besteht in der engen Verknüpfung der persönlichen Spiritualität mit den gemeinschaftlichen 45

Formen geistlichen Lebens. Das in der Neuzeit erwachte Bewusstsein, dass der Glaube des Einzelnen eine entscheidende Rolle für sein Verhältnis zu Gott spielt, bleibt in der katholischen Kirche immer eingebunden in das Wissen um die Bedeutung der Glaubensgemeinschaft. Das, was am Glauben des Einzelnen unvollkommen sein mag, kann aufgefangen werden durch die Gemeinschaft der Kirche, wie es in dem alten Prinzip „ecclesia supplet“ zum Ausdruck kommt (die Kirche ergänzt, was am Glauben des Einzelnen fehlt). Das Ineinander von persönlichem und gemeinschaftlichem Glauben zeigt sich aber auch darin, dass viele Formen der persönlichen Spiritualität in gemeinsame Gottesdienstfeiern oder gemeinschaftliche Formen des geistlichen Lebens eingebettet sind. So wird die eucharistische Frömmigkeit von manchen Ordensgemeinschaften besonders gepflegt, die Marienverehrung ist oft eingebunden in gemeinsame Andachten oder das gemeinsame Rosenkranzgebet, die Anrufung der Heiligen um Fürsprache in ganz persönlichen Anliegen vollzieht sich oft im Kontext gemeinschaftlicher Wallfahrten. Auf diese Weise weiß der einzelne Gläubige sich hineingenommen in eine Gemeinschaft des Glaubens, die ihn durch bestimmte äußere Formen gewissermaßen an die Hand nimmt und ihn auf diese Weise mitnimmt auf seinem persönlichen Glaubensweg. Dieses Ineinander von persönlichen und gemeinschaftlichen Formen geistlichen Lebens prägt die katholische Kirche bis heute, was man an der Beliebtheit solcher Angebote wie „Kloster auf Zeit“, der Wiederbelebung der Pilgerwege oder der Attraktivität neuer geistlicher Gemeinschaften ablesen kann. Die katholische Spiritualität der Gegenwart ist „eine Spiritualität, welche den Glauben nicht als ein Für-wahr-Halten übernatürlicher Wahrheiten, sondern als eine durch Unterscheidung des Christlichen gekennzeichnete Lebenspraxis im Alltag in 46

den vielfältigsten Dimensionen des konkreten heutigen Lebens verwirklicht“.52 Trotz mancher unleugbarer Krisen in der katholischen Kirche, wie die Missbrauchsskandale, die zurückgehende Zahl der Priester- und Ordensberufungen oder die schrumpfende Zahl der Gottesdienstbesucher, lassen mich diese Beobachtungen durchaus optimistisch in die Zukunft der katholischen Kirche schauen. Wie schon in früheren Jahrhunderten bildet das geistliche Leben auch heute eine Kraftquelle für das pilgernde Gottesvolk auf seinem Weg durch diese Zeit und in dieser Welt. Diese Kraftquelle nährt sich aus dem Wertvollen, das die Kirche im Laufe ihrer Geschichte entwickelt und durch alle Zeiten bewahrt hat, und bringt zugleich neue „Ströme lebendigen Wassers“ (Joh 7,38) hervor, in denen der christliche Glaube in heutiger Zeit zum Ausdruck gebracht wird. Diese fruchtbare Spannung zwischen Kontinuität und Erneuerung prägt das geistliche Leben der katholischen Kirche, „weil das Neue nur echt ist, wenn es das Alte bewahrt, und weil das Alte nur lebendig bleibt, wenn es neu gelebt wird“.53

ZUSAMMENFASSUNG Der Beitrag gibt einen Überblick über die Entwicklung des geistlichen Lebens in der katholischen Kirche vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Ausgehend von der Pfarrgemeinde als dem Lernort geistlichen Lebens in der Gemeinschaft geht der erste Hauptteil zunächst auf den 

52 G. Greshake / J. Weismayer, Vorwort, in: dies. (Hg.), Quellen

geistlichen Lebens, Bd. 4: Die Gegenwart, Mainz 1993, 9-25, hier 17. 53 K. Rahner, Frömmigkeit früher und heute, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 23: Glaube im Alltag. Schriften zur Spiritualität und zum christlichen Lebensvollzug, bearb. v. A. Raffelt, Freiburg i.Br. 2006, 31-46, hier 46.

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Pfarrklerus und die Ordensgemeinschaften ein, bevor er an die Bedeutung die Gemeinschaften von Laien und der neuen geistlichen Gemeinschaften erinnert. Ein zweiter Hauptteil beschreibt, ausgehend von der Familie als Lernort des Glaubens, die persönlichen Formen geistlichen Lebens. Dazu zählen neben der eucharistischen Frömmigkeit und der Marienverehrung auch Wallfahrten und Pilgerwege sowie das geistliche Liedgut. Trotz äußerer Unterschiede ergeben sich aufgrund des großen Gewichts, das dem geistlichen Leben des Einzelnen beigemessen wird, gewisse Parallelen zur Entwicklung der reformatorischen Spiritualität. Insgesamt lässt sich sowohl eine Intensivierung des geistlichen Lebens nach innen als auch eine Verstärkung der apostolischen Sendung nach außen beobachten. Kennzeichnend für das katholische Verständnis eines „Lebens aus dem Glauben“ ist die enge Verknüpfung der persönlichen Spiritualität mit gemeinschaftlichen Formen geistlichen Lebens.

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Wurzeln und Wesen freikirchlicher Frömmigkeit Markus Iff

„Frömmigkeit“ ist ein im evangelischen Christentum seit der Reformation gebräuchlicher und die religiöse Praxis bezeichnender Begriff.1 In den evangelischen Freikirchen, die in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) zusammengeschlossen sind,2 begegnet der Begriff in einem durch den Puritanismus und Pietismus ausgeprägten Verständnis der Pflege der im christlichen Glauben gründenden Werke. Der Ausschluss von „Frömmigkeit“ aus dem Kanon der theologisch legitimen Begriffe im 20. Jahrhundert im Kontext der Dialektischen Theologie und deren Kritik, jegliche Befassung mit „Frömmigkeit“ sei eine Verfehlung der theologischen Aufgabe und führe zu einer anthropologischen Reduktion der Theologie, wurde in den Freikirchen weitestgehend nicht nachvollzogen.3 

1 Zum Begriff vgl. C. Burger, Frömmigkeit, in: RE3 6 (1899) 294f.;

W. Sparn, Art. Frömmigkeit II. Fundamentaltheologisch u. T. Koch, Art. Frömmigkeit, III. Dogmatisch, IV. Ethisch, in: RGG4 2 (1999) 389-392; C.H. Ratschow, Art. Frömmigkeit 2, in: EKL3 1 (1986) 1397-1400. 2 Vgl. dazu VEF (Hg.), Freikirchenhandbuch. Informationen – Texte – Berichte, Wuppertal 2004. Zur Geschichte und Prägung der evangelischen Freikirchen sowie ihrer Pluriformität vgl. K.H. Voigt, Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert), Leipzig 2004 (KGE III/6); E. Geldbach, Freikirchen – Erbe, Gestalt und Wirkung, 2. völlig neu bearb. Aufl., Göttingen 2005 (BenshH 70). 3 Zur Frage, warum „Frömmigkeit“ geradezu zu einem Unwort der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts werden konnte, vgl. W. Sparn, Frömmigkeit als Wesen des Christentums, in: D. Korsch / C. Richter (Hg.), Das Wesen des Christentums, Marburg 2002 (MThSt 62), 125-141, bes. 129-131. Die kritische Anfrage an den Begriff verdichtet sich bei K. Barth, wenn er formuliert: „Es war

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Den deutschen Sprachgebrauch des Wortes „fromm“ hat Martin Luther mit seiner Bibelübersetzung und durch seine Schriften entscheidend geprägt, wobei die Überführung des Wortes in die religiöse Sprache bei Luther von vornherein mit dem Nebenton der menschlichen Werkgerechtigkeit belastet ist.4 Das Wort hängt mit dem lateinischen primus im Sinne von praestans zusammen, und bedeutet daher im Alt-, Mittel- und noch im Frühneuhochdeutschen so viel wie „nützlich“, „förderlich“ oder, auf Personen angewandt, die moralische Eigenschaft „rechtschaffen“, „tüchtig“, „verlässlich“. Bei der Übertragung in die religiöse Sprache und Beschreibung für das angemessene Verhältnis des Menschen zu Gott (Gottesfurcht, Gottesverehrung, Gottesdienst) wurde die bisherige Bedeutung nicht einfach gegenstandslos; sie konnte sogar auf Gott angewandt werden.5 Luthers Bibelübersetzung verbindet die ethische Herkunftsbedeutung von „fromm“ und eine neue, das Gottesverhältnis betreffende, und insofern spezifisch religiö

eine äußerste und innerste Disposition und Bewegtheit des Menschen, nämlich seine Frömmigkeit – die dann wohl auch christliche Frömmigkeit sein mochte – das Phänomen und Thema der Theologie geworden … war uns der fromme Mensch, war uns die Religion, von deren Geschichte und Gegenwart wir auf der Universität so viel Herrliches gehört und nachher selbst noch zu sagen versucht hatten, nicht in unserer eigenen Person problematisch geworden?“ (K. Barth, Die Menschlichkeit Gottes, Zollikon-Zürich 1956, 5f.). 4 Im Zuge der Kritik an der zeitgenössischen Frömmigkeit macht Luther den Unterschied zwischen „frommer Mann“, was eine löbliche „Gottesgabe“ bezeichnet, und „Christ“, dem Namen für ein „Gotteskind“; gelegentlich wird „menschliche Frömmigkeit“ sogar als „eitel Gotteslästerung“ disqualifiziert. Zur kritischen Sicht Luthers auf den Begriff Frömmigkeit vgl. C.H. Ratschow (Anm. 1), 1397f. 5 Vgl. J. Heermann, „O Gott, du frommer Gott“, EG 495; P. Gerhardt, „… der fromme Menschenhüter“, EG 446.

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se Bedeutung.6 Das Wort steht sowohl für erwünschtes, richtiges menschliches Verhalten, z.B. als Name für die Geliebte (Hld 5,2), als Charakterisierung des treuen Knechts (Mt 25,21) oder auch dafür, dass nicht jegliches Verhalten „frommt“ (1 Kor 6,12). Es steht aber auch für das richtige Verhalten, sofern es „vor Gott“ gefordert, genauer: von Gottes Zuspruch „Ich bin der Herr, dein Gott“ nicht nur gefordert, sondern zugleich eröffnet wird; so wird es z.B. Abraham, Hiob und Jesus von Nazareth prädiziert (Gen 17,1; Ijob 2,3; Lk 23,47). Die Worte „fromm“ und „Frömmigkeit“ werden im freikirchlich-evangelischen Kontext vornehmlich in diesem Doppelsinn gebraucht. Es soll ein angemessenes Verhältnis des Menschen zu Gott beschrieben werden im Sinne von Gottesfurcht, Gottesverehrung und Gottesdienst und zugleich ein in ethischer Perspektive praktiziertes Christentum auf den Begriff gebracht werden. Mit Frömmigkeit wird wirklich gelebter, zumindest sich so äußernder Glaube als Ausrichtung auf Gott und Zuwendung zu ihm bezeichnet.7 Versteht man mit Carl Heinz Ratschow Frömmigkeit als „Lebensgestalt des Glaubens aus und vor Gott“,8 dann handelt es sich bei dem Wort Frömmigkeit nicht um ein Phänomen des religiösen Innenlebens oder aber des in ethischer Perspektive nach außen gerichteten Christenlebens, sondern um ein Phänomen der Vermittlung von Glauben und Sittlichkeit: eine Vermittlung, die daher in  6 Vgl. E. Axmacher, Fromm aus Glauben. Überlegungen zu einem

theologischen Begriff von Frömmigkeit, in: B. Jaspert (Hg.), Frömmigkeit. Gelebte Religion als Forschungsaufgabe, Paderborn 1995, 65-78. 7 Vgl. dazu W. Haubeck, Frömmigkeit und Theologie, Witten 1993 (Christsein heute Forum 65); G. Balders, Zur Frömmigkeitsgeschichte des deutschen Baptismus, in: ThGespr 18 (1994) 16-28. 8 C.H. Ratschow (Anm. 1), 1400. Vgl. ders., Eine Studie über das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit, in: ders. (Hg.), Ethik der Religionen, Stuttgart 1980, 11-77.

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einer individuellen, doch stets in Wechselbeziehung mit sozialer Praxis sich ausbildenden und verändernden Lebensgestalt existiert. Es ist zumal die Lebensgeschichte von Personen in ihrer Verflechtung mit und Sonderung von anderen Lebensgeschichten, in der Frömmigkeit als eine spezifische, irreduzible Form kultureller Rezeptivität und Produktivität gegenwärtig und wirksam ist. So gesehen spiegeln sich in den etablierten Freikirchen vielgestaltige Formen evangelischer Frömmigkeit, denen wiederum vielfältige historische Wurzeln zugrunde liegen. Daher beschränke ich mich im Folgenden hinsichtlich der Erfassung der Wurzeln und Struktur freikirchlicher Frömmigkeit auf das Beispiel des BFeG, beziehe allerdings auch in einzelnen Punkten den deutschen Baptismus ein.9 Abschließend werde ich mit meinen Überlegungen zu wesentlichen Grundzügen freikirchlicher Frömmigkeit über die spezifische und beispielhafte Perspektive hinausgehen.

1. Evangelikalismus, Pietismus und evangelischer Mystizismus: Wurzeln frei-evangelischer und freikirchlicher Frömmigkeit Die Freien evangelischen Gemeinden sind, darin dem deutschen und kontinentaleuropäischen Baptismus nahestehend,10 zunächst ganz unspezifisch aus der Erweckungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts entstan

9 Vgl. zu den Grundzügen der Frömmigkeit im deutschen Baptismus

G. Balders (Anm. 7).

10 G. Balders hat die historische Verwurzelung des kontinentaleuro-

päischen Baptismus im Pietismus nachgewiesen. Vgl. ders., Die deutschen Baptisten und der Herrnhuter Pietismus, Münster 1994 (Freikirchenforschung 3), 26-39; ders., Vom Verhältnis des deutschen Baptismus zum historischen Pietismus, in: ThGespr 27 (2003) 135-165.

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den. Diese weist allerdings nicht nur deutschlandweit unterschiedlich geprägte Zweige auf, sondern außerhalb Deutschlands weitere spezifische Ausprägungen, die als Wurzelboden für freikirchliche Frömmigkeit relevant sind.11 Bereits seit dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts wurden Mitglieder der anglikanischen Kirche, aber insbesondere die Dissenters vom sogenannten Evangelikalismus12 erfasst, zu dem eine biblizistische Grundhaltung sowie der Ruf zur Umkehr und die Betonung der Wie

11 Zur Erweckungsbewegung vgl. G.A. Benrath, Art. Erweckung/Er-

weckungsbewegungen, I. Historisch, in: TRE 10 (1982) 205-220. Vgl. auch M. Brecht, Pietismus und Erweckungsbewegung, in: PuN 30 (2004) 30-47. Zu den mit der deutschen Erweckungsbewegung vergleichbaren Vorgängen in Großbritannien, Genf, Frankreich und den Niederlanden aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. U. Gäbler, Evangelikalismus und Réveil, in: ders. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Göttingen 2000, 27-86. Zur Erweckungsbewegung und dem Evangelikalismus des 19. Jahrhunderts als Wurzelgrund für die Entstehung der Freien evangelischen Gemeinden vgl. R. Hoenen, Die Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland, Tübingen 1930; H. Weyel, Robert Haldane (1764-1842). Seemann, Erweckungsprediger und FeG-Ideengeber aus schottischem Adel, in: Christsein heute (2008/5-6) 4245, 56f. Vgl. auch ders., Robert Haldane (1764-1842). Seemann, Erweckungsprediger und Kongregationalist aus schottischem Adel, in: ders., Zukunft braucht Herkunft. Lebendige Porträts aus der Geschichte und Vorgeschichte der Freien evangelischen Gemeinden, Witten 2009 (GuTh 5.5/1), 47-72. 12 Zu den Begriffen Evangelicalism oder evangelical, die sich im Deutschen nicht präzise wiedergeben lassen, vgl. D.W. Bebbington, Evangelicalism in Modern Britain. A History from the 1730s to 1980s, London 1988; W.R. Ward, The Protestant Evangelical Awakening, Cambridge 2002. Im Reformationsjahrhundert konnte in England evangelical im selben Sinne gebraucht werden wie im deutschen Sprachbereich das Wort evangelisch. Allmählich engte sich jedoch der Anwendungsbereich ein, sodass evangelical ausschließlich zur Kennzeichnung der im 18. Jahrhundert aufkommenden Glaubens- und Frömmigkeitsbewegung inner- und außerhalb der Kirche von England reserviert wird.

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dergeburt von Individuen gehört und der damit von den pietistischen Leitvorstellungen wie „Biblizismus, Sündenbewusstsein, Errettung durch Christi Tod, Bekehrung und Wiedergeburt“13 nicht weit entfernt ist. Im Kontext der industriellen Revolution und einer zunehmenden „Entchristlichung“ der Gesellschaft besannen sich die Evangelikalen auf biblizistische Einfachheit, Bekehrungspredigt und missionarischen Aktivismus. Wichtige Instrumente für die Aktivitäten und gesellschaftliche Wirkung sind mit den Religious Societies geschaffen worden, nämlich der Society for Promoting Christian Knowlegde (1695) und der Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts (1701). Am Ende des 18. Jahrhunderts kamen die London Missionary Society, die Religious Tract Society (1804) sowie einige weitere Gesellschaften wie beispielsweise die eschatologisch bedeutsame Gesellschaft für Judenmission hinzu.14 Der großbritannische Evangelikalismus hat durch diese Gesellschaften einen länderübergreifenden Einfluss ausgeübt.15 Der entstehende Evangelikalismus des 18. Jahrhunderts speist sich allerdings zum einen aus den englischen puritanischen Quellen des 17. Jahrhunderts und zum anderen finden sich in ihm Einflüsse des kontinentaleuro

13 M. Brecht (Anm. 11), 41. 14 Zu den religiösen Gesellschaften und ihrer Prägung des britischen

Protestantismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. U. Gäbler, Evangelikalismus (Anm. 11), 31-33; E. Breest, Art. Bibelgesellschaften, in: RE3 2 (1897) 691-699; R.H. Martin, Evangelicals United. Ecumenical Stirrings in Pre-Victorian Britain, 17951830, Metuchen 1983. 15 M. Brecht spricht davon, dass in diesem Zusammenhang ein Kapitel übergreifender protestantischer Kirchengeschichte entstanden sei, das nicht auseinanderdividiert werden dürfe, nicht zuletzt auch wegen der Entstehung der Missionskirchen. Vgl. ders. (Anm. 11), 41.

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päischen Pietismus.16 Man wird Ulrich Gäbler in seiner Untersuchung zu den gegenüber der deutschen Erweckungsbewegung vergleichbaren Vorgängen in Großbritannien, Genf, Frankreich und den Niederlanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgen können, wenn er eine wechselseitige Beeinflussung zwischen dem britischen Evangelikalismus einerseits und dem kontinentaleuropäischen Pietismus sowie dem nordamerikanischen Puritanismus andererseits behauptet.17 Die bereits im 18. Jahrhundert bestehenden Gemeinsamkeiten zwischen Pietismus und britischem Evangelikalismus, der gemeinsame Bestand an essenziellen Glaubensvorstellungen und die Gleichgerichtetheit der missionarischen Aktivitäten, dazu die Bewegungen der Herrnhuter und die Methodisten in Großbritannien sprechen für eine Einbeziehung der Entwicklungen in Großbritannien in die Fortsetzungsgeschichte von Pietismus und Erweckungsbewegung.18 Aus dieser wechselseitigen Beeinflussung entsteht der komplex vernetzte Wurzelboden freikirchlicher Frömmigkeit, die sich je nach Freikirche aus unterschiedlichen Strängen aus diesem Wurzelboden bildet. Für die Frömmigkeit in Freien evangelischen Gemeinden ist der Genfer Réveil (die Erweckung) von unmittel

16 D.W. Bebbington (Anm. 12), 34f.; K. Deppermann, Der englische

Puritanismus, in: M. Brecht (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, 11-55. 17 M. Brecht, August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in: ders. (Anm. 16), 440-540, hier 521-527; G.F. Nutthall, Continental Pietism and the Evangelical Movement in Britain, in: J. van den Berg / J.P. van Dooren (Hg.), Pietismus und Réveil. Referate der internationalen Tagung: Der Pietismus in den Niederlanden und seine internationalen Beziehungen, Leiden 1978 (KHB 7), 207-236. 18 Vgl. dazu auch U. Gäbler, Auferstehungszeit. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts, München 1991.

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barer Bedeutung.19 Er wurde von der Frömmigkeit der Herrnhuter Gemeine in Genf geformt, aber auch entscheidend beeinflusst und in seiner organisatorischen Verselbstständigung ermöglicht durch die Begegnung mit dem britischen Evangelikalismus, insbesondere in der Person von Robert Haldane (1764-1842).20 Dieser hatte im Alter von 31 Jahren eine Bekehrung erlebt, die ohne direkte Mitwirkung eines Menschen zustande gekommen war. Er wandte sich nach seinem Selbstzeugnis „zum Worte Gottes und erhielt da allerlei köstliche, tröstliche Aufschlüsse und eine lebendige Erkenntnis des Herrn selber“.21 Bemerkenswert sind dabei die geradezu reformatorischen Entdeckungen, die er im Zusammenhang mit seinem Bekehrungserlebnis erfasst und erfahren hat: Die Unfähigkeit zur eigenen Erlösung, die Erkenntnis des Leidens und Sterbens Christi, seine versöhnende Gnade, die Zurechnung der Gerechtigkeit Gottes durch Christus und das Werk des Heiligen Geistes.22 Neben der sich hier abzeichnenden Bedeutung der Bekehrungserfahrung für die freikirchliche Frömmigkeit sind für diese auch das persönliche Bibelstudium sowie der missionarische Impetus kennzeichnend. 1797 gründete Haldane mit seinem Bruder die „Society for the Propagation of the Gospel at home“ und 1818 beteiligte 

19 Zum Réveil siehe U. Gäbler, Der Weg zum Réveil in Genf, in:

Zwing. 16 (1983) 142-167; R. Pfister, Kirchengeschichte der Schweiz, Bd. 3, Zürich 1984, 171-214; 240-243. 20 Zur Person und zum Wirken von R. Haldane vgl. A. Haldane, Memoirs of the lives of R. H. of Aiethrey, and of his brother J. A. H., London 1852; U. Gäbler, Evangelikalismus (Anm. 11), 36f., 43-44, 51, 59, 76-79. Zur Bedeutung von R. Haldane für den Genfer Réveil sowie die Entstehung und Frömmigkeit der Freien evangelischen Gemeinden ebd., 43f.; H. Weyel, Kongregationalist (Anm. 11), 51-61. 21 Anonym, Robert und Alexander Haldane, in: Der Christ, ein religiöses Volksblatt 23 (1856) 258f. 22 Vgl. H. Weyel, Kongregationalist (Anm. 11), 51.

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er sich an der Gründung der überkonfessionellen „Continental Society for the Diffusion of Religious Knowlegde over the Continent of Europe“.23 Vorausgegangen war der Gründung dieser Gesellschaft eine Korrespondenz von britischen Evangelikalen mit August Hermann Francke und dessen Sohn Gotthilf August, sodass das Hallesche Vorbild sich nachhaltig auf die Arbeit dieser einflussreichen Gesellschaft auswirkte.24 Schwerpunkte der Arbeit waren die Bibel- und Schriftenverbreitung, Bibel- und Gebetsversammlungen sowie die freie und erwecklich geprägte Verkündigung des Evangeliums. Während einer Evangelisationsreise nach Genf im Herbst 1816 traf Haldane dort auf eine von herrnhuterischer Frömmigkeit geprägte Gruppe von Theologiestudenten und Laien, die einen Bibelkreis gebildet hatten, der sich öffentlich gegen den Einfluss der rationalistischen Theologie in Kirche und Gesellschaft wandte und die Rückkehr zu den Glaubensartikeln der reformierten Bekenntnisse forderte. Nach Auskunft des Kirchenhistorikers Paul Wernle hatte Zinzendorf höchstpersönlich 1741 die Genfer Gemeinde gegründet.25 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzte allerdings ein Niedergang der bis dahin wachsenden Gemeinde mit rund 80 Mitgliedern ein, zu denen vor allem Frauen aus den oberen Gesellschaftsschichten gehörten. Der Leiter der Gemeinde konstatierte am 4. Dezember 1790: „Vom Réveil sehen wir nichts mehr in dieser Stadt.“26 Gleichwohl blieben 

23 Vgl. ebd., 53. 24 U. Gäbler, Evangelikalismus (Anm. 11), 29. Vgl. zum Hallischen

Pietismus und dessen Beziehungen zum angelsächsischen Bereich M. Brecht (Anm. 17), 521-527. 25 U. Gäbler, Evangelikalismus (Anm. 11), 40f. 26 Zitat bei P. Wernle, Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, Bd. 3: Religiöse Gegenströmungen. Die Ausstrahlun-

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einzelne der herrnhuterischen Frömmigkeit verbunden. So schickte der Organist Jean-Pierre-Marc Bost seinen Sohn Ami (1790-1874) im Jahre 1798 zur Ausbildung an die Herrnhuter Schule in Neuwied bei Koblenz. Nach dessen Rückkehr 1802 hielt Vater Bost für seinen Sohn und dessen Altersgenossen Erbauungsstunden ab. Unter den jugendlichen Teilnehmern an diesen Zusammenkünften finden sich neben Ami Bost mehrere spätere Wortführer des Réveil: Henri-Louis Empaytaz (17901853), Emile Guers (1794-1882) und Henri Pyt (17961835).27 Im Mittelpunkt des Unterrichts, den er der Studentengruppe in Genf erteilte, standen die Rechtfertigungslehre, die christologische Frage nach der Gottheit Christi und die Inspirationslehre. Haldane lehrte die Studenten, dass eine individuelle Bekehrung nötig sei wie auch die Rückkehr zu intensivem Bibelstudium. Vor allen Dingen aber kam es ihm darauf an, dass die Wahrheiten der Bibel nicht nur erkannt, sondern auch subjektiv geglaubt und existenziell gelebt wurden. Im Réveil lässt sich somit ein für den kontinentaleuropäischen Protestantismus ungewöhnlicher und für die Frömmigkeit in freikirchlichen Gemeinden zentraler Missionseifer erkennen, verbunden mit der Einsicht in die Notwendigkeit eines intensiven Bibelstudiums sowie dem Glauben an einen „persönlichen“ Gott.28 Die Frömmigkeit der Genfer Er

gen der französischen Revolution auf Schweizerboden, Tübingen 1925, 95. 27 U. Gäbler, Evangelikalismus (Anm. 11), 43f. 28 So schreibt Adolphe Monod, der wie kein anderer den französischen Réveil verkörperte, am 14. August 1827 in Neapel an seine Schwester: „… et maintenant j’ai un Dieu qui s’en est chargé pour moi. Cela me suffit” (A. Monod, Souvenirs de Sa Vie. Extraits de Sa Correspondence, Bd. 1, Paris 21885, 120). Zu A. Monod und dem französischen Réveil vgl. U. Gäbler (Anm. 18), 55-85; H. Weyel, Adolphe Monod (1802-1856). Reformierter Pastor und Theologe, in: ders., Zukunft (Anm. 11), 97-107.

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weckten beeindruckte wiederum nicht nur britische Evangelikale, sondern hatte großen Einfluss in Frankreich und in den umliegenden schweizerischen Kantonen.29 Im Réveil wurde die Verantwortung des Gewissens des Einzelnen in den Vordergrund gestellt und bei der Kirchenmitgliedschaft wurde auf die geistliche Qualität des Individuums abgehoben. Darin liegt erkennbar ein Konnex zum Pietismus vor, der in der Form und den Vertretern sowohl des sogenannten kirchlichen Pietismus, beispielsweise durch Theodor Undereyck (1635-1693) und Gerhard Tersteegen (1697-1769),30 als auch des radikalen Pietismus, durch Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1670-1721) sowie Jean de Labadie (16101674) und die Labadisten31 seine Spuren in frei-evan

29 Die Ausstrahlungen des Genfer Réveil in den umliegenden

schweizerischen Kantonen und in Frankreich führten unmittelbar zur Entstehung von „Freien Gemeinden“ in Bern und in Lyon. Vgl. J. Demandt, Der Wandel eines freikirchlichen Gemeindeverständnisses. Dargestellt am Beispiel des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, in: B. Neumann / J. Stolze (Hg.), Kirche und Gemeinde aus freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht, PaderbornGöttingen 2010, 87-122, hier 92-94; U. Gäbler, Evangelikalismus (Anm. 11), 51-64; H. Weyel, Kongregationalist (Anm. 11), 60-63; ders. (Anm. 28). 30 Zu Theodor Undereyck und Gerhard Tersteegen vgl. J.F.G. Goeters, Der reformierte Pietismus in Bremen und am Niederrhein im 18. Jh., in: M. Brecht / K. Deppermann (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1995, 390-410. 31 Zu Jean de Labadie und den Labadisten vgl. W. Goeters, Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1670, Leipzig 1911 (Nachdr. Amsterdam 1974), 139-143; A. de Groot, Jean de Labadie, in: M. Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 7, Göttingen 1982, 191-203; J. van den Berg, Die Frömmigkeitsbestrebungen in den Niederlanden, in: M. Brecht (Anm. 16), 57-112. Zu Hochmann von Hochenau vgl. H. Renkewitz, Hochmann von Hochenau, Witten 1969 (AGP 5), bes. 194-205. Zur Verbindung von Tersteegen mit Hochmann von Hochenau bzw. zum Einfluss von

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gelischer und freikirchlicher Frömmigkeit hinterlassen hat. So konnte Hermann Heinrich Grafe (1818-1869), der Gründer der Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland, von sich sagen: „In der Heilslehre bin ich reformiert, in der Gemeindeverfassung Independent und im Leben ein Pietist.“32 Die Unterscheidungen von zwei Hauptrichtungen innerhalb der pietistischen Bewegung, die beide als Wurzelgrund freikirchlicher Frömmigkeit zu gelten haben, hat Graf Zinzendorf trefflich beschrieben: „Es ist bekant, daß der so genante Pietismus sich bald Anfangs in zwey Branchen getheilet: In diejenigen Mysticos, die gemeiniglich ihre Aemter aufgegeben, und weil sie nichts mehr zu risquiren hatten, sehr wohl leiden konten, daß man sie mit dem Namen der Pietisten von andern unterschiede; und in diejenigen eifrigen und christlichen Lehrer, welche ihre Aemter und Beruff beyzubehalten vor gut befanden, und deshalb diese Notam [Bezeichnung] gänzlich ablehneten … Man hat diese letztere beschuldigen wollen …, daß sich nicht nur die Lehre von Zeit zu Zeit alterirt, sondern auch, bey einer Gemeinschaft ohne Aufsicht, viel anstössiges und unordentliches mit eingemenget. Wo aber diese beyderseits Arten ernsthaftiger Christen sich zu rechter Zeit [zusammen-] ge

Hochmann von Hochenau auf Wilhelm Hoffmann (1676-1746), den „geistlichen Vater“ Tersteegens vgl. M. Goebel, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westfälischen evangelischen Kirche, Bd. 3: Die niederrheinische reformirte Kirche und der Separatismus in Wittgenstein und am Niederrhein im 18. Jahrhundert, Nachdr. d. Ausgabe Koblenz 1860, Gießen 1992, hier bes. 293. 32 H.H. Grafe, Tagebücher Bd. IV, 14 (Eintrag vom 06.11.1855). H. Lehmann weist darauf hin, dass in den Freikirchen ein Teil der Ideen und der Frömmigkeit des älteren Pietismus weiterlebte. Vgl. ders., Die neue Lage, in: U. Gäbler, Geschichte (Anm. 11), 2-26, hier 3f.

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schlossen, da hat sich in Lehr und Leben ein reeller Segen gefunden.“33 Hier wird auf die in evangelischen Freikirchen zum Tragen kommende Separation und Heterodoxie, verbunden mit der Neigung zu Extremerscheinungen („viel Anstößiges und Unordentliches mit eingemengt“), verwiesen. Bei der Beschäftigung mit dem radikalen Pietismus ist in diesem Zusammenhang vor allem an die gesteigerte Bedeutung der Eschatologie zu denken, die für manche Gestalten und Gruppen geradezu die zentrierende Mitte ihrer Frömmigkeit und Theologie wurde.34 In dem zentralen Anliegen einer praxis pietatis allerdings attestiert Zinzendorf eine Einheit und Zusammengehörigkeit aller Pietisten („beide Arten ernsthafter Christen“). Versteht man den Pietismus als Frömmigkeitsbewegung,35 wird man insbesondere den hier vorliegenden Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung zu beachten haben. Das Wort Pietismus taucht bekanntlich erstmals um 1674 im Umkreis Philipp Jakob Speners (16351703) in Frankfurt am Main auf und wurde durch die 

33 [Zinzendorf], Denk- und Dank-Lied des Hauses Ebersdorf (1746),

23f. Anm. 48.

34 Die Verwandtschaft zum Evangelikalismus ist evident, da auch zu

dessen Gemeingut in Frömmigkeit und Theologie eine dezidiert endzeitliche Wirklichkeitsdeutung und ein betonter Prämillenarismus gehören, verbunden mit der Annahme einer buchstäblichen Erfüllung der biblischen Weissagungen in naher Zukunft. Vgl. U. Gäbler, Evangelikalismus (Anm. 11), zum radikalen Pietismus im 18. Jahrhundert und seinen theologischen Besonderheiten H. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, in: M. Brecht / K. Deppermann (Anm. 30), 107-188. 35 Vgl. M. Brecht, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, in: ders. (Anm. 16), 113-204; ders., Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, ebd., 281-390, bes. 371-390. Zur Frömmigkeit im Pietismus vgl. bes. J. Wallmann, Frömmigkeit und Gebet, in: H. Lehmann (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, 83-101.

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Leipziger Bewegung um August Hermann Francke (1663-1727) und seine Freunde in den Jahren 1689 und 1690 ein gängiges Wort.36 Damals hatte der Leipziger Professor der Rhetorik Joachim Feller, ein Freund Franckes, ein Gedicht verfasst, in dem es heißt: „Es ist jetzt stadtbekannt der Nam der Pietisten. Was ist ein Pietist? Der Gottes Wort studiert und nach demselben auch ein heilig Leben führt.“37 Der Begriff „heiliges Leben“ ist ein Zentralbegriff in Johann Arndts „Wahrem Christentum“.38 Für Arndt ist ein heiliges Leben ein Leben, das sich nicht bestimmen lässt von den Kräften der von Gott abgefallenen Natur, sondern allein von der Kraft des Heiligen Geistes. Ein heiliges Leben ist ein dem weltlichen Leben geradewegs entgegenlaufendes Leben. „Geht’s der Natur entgegen, so geht’s gerad und fein“ – so dichtet Gerhard Tersteegen ganz im Sinne Johann Arndts, und er meint das nicht im Sinne des „Zurück zur Natur“ Jean Jacques Rousseaus, sondern im Sinne der folgenden Worte: „die Fleisch und Sinnen pflegen, noch schlechte Pilger sein.“39 Pietistische Frömmigkeit ist somit zweifelsohne asketische Frömmigkeit. Für den älteren Pietismus ist dabei weniger der Sexualtrieb, der Fortpflanzungstrieb, sondern der Ich-Trieb bzw. der Geltungstrieb der vorherrschende Trieb der sündigen Natur. Deshalb steht unter den asketischen Tugenden, die Arndt in seinem „Wahren Christentum“ einzuüben Anleitung gibt, an erster 

36 Zum heutigen Verständnis des Begriffs vgl. J. Wallmann, Der Pie-

tismus, Göttingen 1990 (KIG 4/1), 7; ders., Der Pietismus, Göttingen 2005, 21f. 37 Zitiert nach ders., Was ist Pietismus?, in: ders., Pietismus-Studien, Tübingen 2008, 211-227, hier 213. 38 Vgl. J. Wallmann, Johann Arndt (1555-1621), in: ders., PietismusStudien (Anm. 37), 67-87. 39 In dem Lied „Kommt Kinder, lasst uns gehen“, EKG 272, Strophe 2.

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Stelle die Demut, die Selbstverleugnung. Allerdings ist ein pietistisches Verständnis von Heiligung nicht allein der Wurzelgrund für das in der Frömmigkeit der evangelischen Freikirchen gepflegte Traditionsgut eines geheiligten Lebens. Es ist nicht zuletzt die zwischen 1840 und 1850 in den methodistischen Denominationen Nordamerikas ihren Ausgang nehmende, angelsächsische Heiligungs- und Evangelisationsbewegung, die in der Frömmigkeit evangelischer Freikirchen ihre Spuren hinterlassen hat.40 Der Pietismus als Wurzelgrund freikirchlicher Frömmigkeit ist unvollständig erfasst, wenn man ihn als eine Bewegung zur Heiligung des Lebens, als innerweltliche Askese versteht. Man begreift ihn dann, ebenso wie freikirchliche Frömmigkeit, unter dem heutige Fragestellungen leitenden ethischen Aspekt, aber nicht nach seinem bzw. ihrem Selbstverständnis und der ihn bzw. sie antreibenden inneren Dynamik. In dem oben bereits zitierten Vers von Joachim Feller wurde gesagt: „Was ist ein Pietist? Der Gottes Wort studiert und nach demselben auch ein heilig Leben führt.“ Das Studium des Wortes Gottes, das Lesen der Bibel, die häusliche Bibellese des Einzelnen oder in der Familie, dazu das gemeinsame Lesen der Bibel in besonderen Erbauungsstunden – das gehört zum Wesenskern des Pietismus und zum Wurzelboden freikirchlicher Frömmigkeit. Die Mittelpunktstellung der Bibel, die wir überall im Pietismus finden, wird durch Philipp Jakob Spener begründet, der an die Spitze des Reformprogramms seiner „Pia Desideria“ den Vorschlag gesetzt hat, „das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen“.41 Die Bibel 

40 Vgl. dazu J. Ohlemacher, Evangelikalismus und Heiligungsbewe-

gung im 19. Jahrhundert, in: U. Gäbler, Geschichte (Anm. 11), 371-392 (vgl. auch die Literaturhinweise dort!). 41 Ph.J. Spener, Pia Desideria, Berlin 31964 (KlT 170), 31f.; 53.

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gehöre nicht allein in die Hand der Pfarrer, sondern in die Hand eines jeden Christen. Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden deutschen Baptistengemeinden und die Freien evangelischen Gemeinden bewegen sich ganz in pietistischen Bahnen und im Gefolge Zinzendorfs, der formulierte: „Was wollen wir werden? meine Geschwister! Bibelfest. Das heißt, mit dem Geist der Heiligen Schrift so bekannt, dass wir an einer jedweden Rede den [im selben] Augenblick hören, ob sie mit der Heiligen Schrift übereinkommt“, und daraus den für freikirchliche Frömmigkeit trefflichen Wunsch folgerte: „dass wir zu einer lebendigen Bibel werden … so kriegt man die Heilige Schrift ins Herz hinein … wenn man in dem Spiritu Scripturae [im Geist der Schrift] hat denken, beten, leben und wandeln lernen; und das gibt der Heiland aus Gnaden.“42 Die Hochschätzung der Bibel, die insbesondere im Baptismus auch ein calvinistisch-puritanistisches Erbe ist, verbindet diesen wie auch die Freien evangelischen Gemeinden mit dem historischen Pietismus. Dass der deutsche und kontinentaleuropäische Baptismus an die pietistische Bibelorientiertheit anknüpfte belegt die Tatsache, dass der baptistische Traktatverein August Hermann Franckes „Kurzer Unterricht, wie man die heilige Schrift zu seiner wahren Erbauung lesen solle“, verbreitete.43 Bei Hermann Heinrich Grafe spiegelt sich die pietistische Bibelorientiertheit in der Konzeption seiner „Selbststudien“, die er 1857 umbenannte in „Lebenszeichen oder Biblische Selbstbetrachtungen“, weil sich ihm „immer stärker die Wichtigkeit des persönlichen Lebens 

42 Aus: Die fünfzehnte Homilie (1747), in: M. Schmidt / W. Jan-

nasch, Klassiker des Protestantismus, Bd. 5: Das Zeitalter des Pietismus, photomech. Nachdr. der Ausg. Bremen 1965, Wuppertal 1988, 192-199, hier 193. 43 Vgl. G. Balders, Verhältnis (Anm. 10), 141.

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in der geoffenbarten Wahrheit Gottes der heil. Schrift“44 erschlossen hatte. Zum pietistischen Erbe in der Frömmigkeit der evangelischen Freikirchen gehört neben der Bibelorientierung die persönliche Frömmigkeit durch Wiedergeburt und Bekehrung bzw. die Bekehrungs- und Jesusfrömmigkeit. Das in der Bibel nur vereinzelt vorkommende Bild von der geistlichen Wiedergeburt als Voraussetzung wahrer Gottesbeziehung ist zentraler Ausdruck des Selbstverständnisses des Pietismus und prägt seine Theologie und Frömmigkeit. Die in dem Bild wirksame Analogie zur leiblichen Geburt und zum organischen Leben kommt dem Anspruch des Pietismus entgegen, auf das Christenleben zu dringen, die Lehre ins Leben zu verwandeln und Glauben als Glaubensleben zu beschreiben.45 Wiedergeburt und Bekehrung sind für Philipp Jakob Spener Ausdruck für die aus dem Wesen Gottes und Christi Heilstat notwendig zu folgernde Zusammengehörigkeit von Rechtfertigung und Heiligung. Im vornehmlich von August Hermann Francke geprägten Halleschen Pietismus tritt die Psychagogik der Bekehrung in den Mittelpunkt des religiösen Lebens, also die Hinführung des Menschen zu einer bewussten Bekehrungserfahrung, die ihm die Gewissheit verleiht, ein geistlich neugeborener Mensch zu sein. Weil Francke Bekehrung in erster Linie als eine nachhaltige Änderung des Willens versteht, kommt dem Eintritt in diesen neuen Stand eine große Bedeutung zu. Nur wenn die Bekehrung als ein die eigene Natur überwindendes Geschehen tief empfunden wird, sind ihre Echtheit und der göttliche Ursprung verbürgt. Die Tiefe der Bekehrungserfahrung, das Durchbruchserlebnis, ermöglicht dann auch eine klare 

44 H.H. Grafe, Tagebücher Bd. IV, 52 (Eintrag vom 10.01.1857). 45 Vgl. zum Folgenden M. Matthias, Bekehrung und Wiedergeburt,

in: H. Lehmann (Anm. 35), 49-82.

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Unterscheidung und damit Erfahrbarkeit des Lebens unter der Sünde und unter der Gnade. Die im Pietismus zu beobachtende seelsorgerliche Konzentration auf den Einzelnen und seine Wiedergeburt und Bekehrung, die Forderung nach spezieller, sich von der Welt unterscheidender Heiligung und schließlich die Idee eines freien Zusammenschlusses zu christlichen Gruppen und Gemeinden (Freikirchen), die sich aus dem pietistischen Verständnis des Christentums als Entscheidung ergeben, finden sich bereits ein Jahrhundert früher im Puritanismus. Wie immer man die Frage nach dem Verhältnis von Puritanismus und Pietismus beantworten mag, die reiche Entfaltung der Wiedergeburtsund Bekehrungsthematik ist ohne den traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Puritanismus nicht zu verstehen.46 Für die Entstehung einer speziellen Bekehrungsterminologie spielen dort verschiedene Faktoren eine Rolle. So hatte sich bereits Johannes Calvin durch eine plötzliche Bekehrung („subita conversione“) von der Papstkirche abgewandt und der evangelischen Frömmigkeit zugewandt. Zudem konnte die reformierte Prädestinationslehre die Menschen in Unruhe über ihren Gnadenstand versetzen und das Verlangen nach dessen individueller Erfahrung fördern. Und nicht zuletzt haben sich viele puritanische Gemeinden in England nicht volkskirchlich, sondern auf dem Boden eines gemeinsamen Vertrages (covenant) organisiert, wobei nur diejenigen Mitglied werden konnten, die ein (durch Bekehrung gewonnenes) entschiedenes Christentum glaubhaft machen konnten. Die auf Selbstprüfung und Gruppenbil 46 Vgl. P. Caldwell, The Puritan Conversion Narrativ. The Beginnings

of American Expression, Cambrigde (1983) 1985. Zur Definition, Geschichte, Theologie und den Auswirkungen des Puritanismus vgl. K. Deppermann, Der Englische Puritanismus, in: M. Brecht (Anm. 16), 11-56.

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dung hin angelegte puritanische Bekehrungstheologie entsteht zweifelsohne in einem anderen historischen (zeitlichen, geographischen und konfessionellen) Kontext. Aber sie beeinflusst das Traditionsmaterial des Pietismus und dessen Bekehrungsterminologie erheblich und ist damit auch Wurzelboden für freikirchliche Frömmigkeit. Johann Gerhard Oncken (1800-1884), Gründer der deutschen Baptistengemeinden, betonte vielfach die Notwendigkeit einer „gründlichen Bekehrung“, denn „der Totalität des Erbarmens Gottes entspricht die Totalität der Umkehr zu Gott“. So wurde die Bekehrung als erlebte Rechtfertigung zur entscheidenden Wendemarke im Leben eines Menschen.47 Für Hermann Heinrich Grafe und die Freien evangelischen Gemeinden bleiben persönliche Bekehrung und Wiedergeburt Grundpfeiler der Frömmigkeit. So schreibt Grafe: „Ich muss die Wahrheit des Christentums in der persönlichen Beziehung zu Christus selbst erleben, um ein wahrer und lebendiger Christ zu sein. Diese persönliche Beziehung zu Christus 

47 J.G. Oncken in einer Predigt über Jes 53,10-12: „Wie herrlich klar

ist doch Gottes Wort in der Lehre von der Rechtfertigung, dieser Kernlehre des Christentums. Wir alle hören, dass der Sünder und Gottlose durch Christum gerecht wird. Durch seine Erkenntnis, oder durch seinen Ausspruch, durch sein Wort. Wenn es mit gläubigem Herzen von uns aufgenommen wird, dann spricht Christus uns gerecht“ (Licht und Recht. Eine Sammlung von Predigten und Reden, gehalten von J.G. Oncken, hg. v. H. Windolf, Kassel 1901, 156). Wie hier erkennbar und von G. Balders in einer Untersuchung zum pietistischen Erbgut in der Frömmigkeit der deutschen Baptisten herausgearbeitet, verankert Oncken die Bekehrung in der Rechtfertigung und lehnt jede Methodisierung des Bekehrungsvorgangs ab. Vgl. dazu ders., Verhältnis (Anm. 10), 153-155. Balders zeigt auf, dass dieses Bekehrungsverständnis unter dem Einfluss der Erweckungsfeldzüge und der aus dem Methodismus stammenden arminianischen Prägung eine Wandlung im Baptismus erfährt, wobei die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Bekehrung an Bedeutung gewinnt (ebd., 155f.).

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als Lebenserfahrung kann durch nichts ersetzt werden; und es ist immer eine Abschwächung der Notwendigkeit der persönlichen Bekehrung zu Christus, um selig zu werden, wenn ich den Glauben an ihn durch einen Glauben an die Kirche, an gewisse Lehren oder auch nur an die Heilige Schrift (in toter Rechtgläubigkeit) ersetzen will.“48 Ein weiteres Merkmal freikirchlicher Frömmigkeit ergibt sich aus der dem Pietismus eigenen Spannung zwischen Herzensgebet und Gebetbuch, zwischen dem freien Gebet des Einzelnen und dem Beten nach vorliegenden Gebetsformularen.49 Spener war zweifelsohne ein Befürworter des freien Gebets. Statt das Vaterunser und die Psalmen zu beten und zu meditieren, hielt er es für besser, dass ein Gebet sich an gar keine Gebetsformulare, auch keine biblischen hält, sondern „aus dem Herzen allein“50 kommt und sich ganz dem Leiten des göttlichen Geistes überlässt. Spener übernimmt hier für das Gebet den Ansatz des Spiritualismus, dass man auf die innere Stimme des Geistes zu achten habe und sich der Göttlichkeit durch die Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift vergewissern könne. Auffällig an der Gebetspraxis Speners und vorbildlich für freikirchliche Frömmigkeit ist eine besondere Form des Bittgebets: die Fürbitte. Die Fürbitte war ihm so 

48 H.H. Grafe, Tagebücher Bd. II (Eintrag vom 08.01.1854). 49 Vgl. dazu: J. Wallmann, Herzensgebet oder Gebetbuch? Frömmig-

keit und Gebet im Pietismus, in: ders., Pietismus-Studien (Anm. 37), 284-307. 50 Im gleichen Zusammenhang spricht Spener davon, dass er ein Gebet „allemal vor kräfftiger halte, wo es nicht eben conceptis formulis aus dem buch hergelesen wird, sondern aus dem hertzen allein geht“ (Ph.J. Spener, Theologische Bedencken, Und andere Brieffliche Antworten auf geistliche, sonderlich zur erbauung gerichtete materien, zu unterschiedenen zeiten aufgesetzet, endlich auf langwieriges Anhalten Christlicher Freunde in einige Ordnung gebracht, Bd. 4, Halle 1715, 82).

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wichtig, dass er sie von seinen Freunden und Briefpartnern erbat. In den Briefen Speners gibt es kaum ein Thema, das so regelmäßig auftaucht und mit solcher Intensität von ihm behandelt wird wie die „Vorbitte“, die Spener verspricht und um die er im gleichen Atemzug den Adressaten bittet. Die Fürbitte ist für Spener keine fromme Übung, die zu der von ihm betriebenen religiösen Erneuerung der Kirche nachträglich den Segen Gottes erbittet, sondern in der wechselseitigen Fürbitte vollzieht sich die pietistische Erneuerung. „Mitstreiter im Gebet“, so nennt Spener diejenigen, deren Fürbitte er gewiss sein kann.51 Am Vorrang der Fürbitte wird am sinnfälligsten erkennbar, wie der durch den Gedanken der Sammlung der Frommen von Spener dem Pietismus eingestiftete Gemeinschaftsgedanke die Frömmigkeit ergreift und umbildet. Der Gedanke der Gebetsgemeinschaft ist nicht nur ein wesentlicher Beitrag Speners zur Geschichte des Gebets im Protestantismus, sondern nachhaltig prägend für die freikirchliche Frömmigkeit. Zum Wurzelgrund frei-evangelischer und freikirchlicher Frömmigkeit gehört in Verbindung mit dem Evangelikalismus und Pietismus nicht zuletzt ein evangelischer Mystizismus und Spiritualismus, der seinen Ausgang bei Jean de Labadie nimmt, der ursprünglich römisch-katholisch und Jesuit war.52 Bereits in dieser Eigenschaft arbeitete er 1644 in Amiens – so der Historiker Max Goebel – an einer „Reformation der Kirche nach dem Muster der alten Kirche und namentlich nach der ersten apostolischen Gemeinde zu Jerusalem, indem er … mit Erlaubniß seines Bischofs ‚die Frucht seiner Arbeit‘, die wirklich erweckten und bekehrten Seelen zu einer be

51 Ph.J. Spener, Theologische Bedencken (Anm. 50), Bd. 3, Halle

1715, 96 (01.02.1681).

52 Zu J. de Labadie siehe die Literaturhinweise in Anm. 31.

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sonderen und geschlossenen Gemeinde (‚Brüderschaft‘) sammelte“.53 Labadie hatte mitten in der Gemeinde, nicht durch Austritt aus ihr in einen alten oder neuen Orden eine besondere Gemeinde von Gläubigen aus den Ungläubigen gesammelt und demnach die Separation der Gläubigen in der Kirche von der Kirche aus Frömmigkeit begonnen, wie sie bis dahin nur vom linken Flügel der Reformation bzw. dem Täufertum vorgenommen worden war.54 Nachdem Labadie 1650 zur reformierten Kirche konvertiert war, wirkte er vor seiner Berufung in die wallonische Kirche in Middelburg in Genf, wo u.a. Philipp Jakob Spener unter seinen Hörern war, der von Labadies Frömmigkeitsanschauungen tief beeindruckt wurde und später Labadies Werk „La Pratique de l’oraison“ übersetzte.55 Während im Gebet die Seele Gott anredet und in ihrer Not um Hilfe bittet, will Labadie unter „l’oraison“ („Betrachtung“) eine allgemeine und unbestimmte Übung verstehen, in welcher die Seele schweigt, um durch die Versenkung in die göttlichen Geheimnisse



53 M. Goebel, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-

westfälischen evangelischen Kirche, Bd. 2: Das 17. Jahrhundert oder die herrschende Kirche und die Sekten. Nachdr. der Ausg. Koblenz 1852, Gießen 1992, 193f. 54 Vgl. dazu H. Fast (Hg.), Klassiker des Protestantismus, Bd. 4: Der linke Flügel der Reformation, photomech. Nachdr. der Ausg. Bremen 1965, Wuppertal 1988; U.B. Leu / Chr. Scheidegger (Hg.), Das Schleitheimer Bekenntnis 1527. Einleitung, Faksimile, Übersetzung und Kommentar, Zug 2004. 55 Kurtzer Underricht von Andächtiger Betrachtunge. Wie solche Christlich und Gottselig angestellet und geübet werden solle. Verfasset in einem Sendschreiben H. Johann von Labadie, und Auß der Frantzösischen den Teutschen zum besten in unsere Sprache übersetzet. Samt einem Zusatz deß Ubersetzers von Gewißheit der Seeligkeit, Frankfurt [a.M.] 1667.

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göttliche und heilige Bewegungen des Geistes zu empfangen.56 Labadies Mystizismus ist bei aller mönchisch anmutenden Weltabkehr ein evangelischer Grundzug, richtiger wohl ein quietistischer Zug, eigen. In die zentrale Stellung rückt die Betrachtung des unmittelbaren göttlichen Gnadenwirkens am Menschen, worauf das Wort hinweist. Dabei wird der Mensch als solcher ein Gegenstand frommer Betrachtung, denn in ihm als Gottes Ebenbild wird Gott selbst anschaulich, in seinem Geist leuchtet der Geist Gottes hervor.57 Das Gedankengut und die Frömmigkeitsanschauungen Labadies erreichten auch das Gebiet der reformierten Kirche am Niederrhein. Dort wurden seine Anschauungen im innerkirchlichen Pietismus Theodor Undereycks und dem Radikalpietismus Ernst Christoph Hochmanns von Hochenau rezipiert, der wiederum vermutlich in Mühlheim a. d. Ruhr war,58 wo ihm Gerhard Tersteegen begegnete. Tersteegen reiste seit 1732 häufig in die Niederlande und wirkte dort in den von labadistischer Frömmigkeit und labadistischem Gedankengut erweckten Kreisen.59 Seine Frömmigkeit und sein Mystizismus prägten – vermittelt durch Tersteegenkreise in Mühl

56 J. Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus,

Tübingen 1986, 145-150; 287f.

57 „Der Mensch sonderlich / welcher sein (sc. Gottes) schönstes

Ebenbild / ist auch sein natürliches Gemälde: man kann ihn nicht wol leben oder handlen sehen / daß man sich nicht in ihm über GOTT verwundere: Gottes Geist leuchtet in dem seinigen hervor / sein verstand in ein Straale der Sonne göttlicher Allwissenheit / und sein Urteil von göttlicher Allweißheit … So sage ich nun / daß nichts so leicht ist / als Gott in dem Menschen und der gantzen natur zu betrachten“ (Kurtzer Unterricht [Anm. 55], 227f.). 58 H. Renkewitz (Anm. 31), 210. Zu Theodor Undereyck vgl. Anm. 30. 59 J.F.G. Goeters (Anm. 30), 403f.

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heim – den Gründer der Freien evangelischen Gemeinden, Hermann Heinrich Grafe.60 Sehr bekannt wurde Labadies in Middelburg 1668 entstandenes Werk „Manuel de piété“, das Tersteegen 1727 unter dem Titel „Hand-Büchlein der wahren Gottseligkeit“61 übersetzte. Dies ist ein Indiz dafür, dass – so der Historiker Max Goebel – Tersteegen „äußerlich und innerlich die Brücke zwischen Labadie im siebzehnten und der neueren Erweckung im achtzehnten Jahrhundert“ bildete.62 Für Labadie ist die Idee der Nachfolge mit der dazugehörenden Absage an die Welt überaus wichtig für das christliche Leben. Die Möglichkeit, in der Welt und zugleich doch aus der Welt zurückgezogen zu leben, ist da wie ein Wunder: Man lebt, so Labadie, dann in den Flammen, ohne Feuer zu fangen.63 In ihrem weltabgewandten Lebensstil und in ihrer vergeistigten Spiritualität repräsentiert die Labadistengemeinde eine eigentümliche Form des Pietismus, welche zum Wurzelgrund frei-evangelischer und freikirchlicher Frömmigkeit zu rechnen ist.64



60 Vgl. dazu H. Lenhard, Studien zur Entwicklung der Ekklesiologie

61 62 63

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in den Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland, Wuppertal 1977, 93f. Vgl. auch H. Ruloff, Das Erbe Hermann Heinrich Grafes in unseren Gemeinden, in: Der Gärtner 76 (1969) 965-967, bes. 966. G. Tersteegen, Hand-Büchlein der wahren Gottseligkeit, Nachdr. der Ausg. Frankfurt-Leipzig 1727, Köln 1997. J.F.G. Goeters (Anm. 30), 403. J. de Labadie, Abrégé du véritable christianisme et téorique et pratique ou recueil des maximes chrétiennes, 2., durchges., korr. u. erw. Aufl., Amsterdam 1670, 85; 383. Vgl. dazu R. Hoenen, Die Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland, Tübingen 1930, 10; J. Demandt (Anm. 29), 87-122, bes. 88-92.

2. Zwischen Gnaden- und Geisteswirken, frommer Innerlichkeit und missionarischem Aktivismus: zur Struktur freikirchlicher Frömmigkeit Die wesentlichen Elemente freikirchlicher Frömmigkeit ergeben sich durch eine – vereinfacht gesprochen – Durchdringung von erwecklich-evangelikalem und pietistischem Erbgut, einem Zusammenspiel von frommer Innerlichkeit und missionarischem Aktivismus, das wiederum auf das gegenläufige Beieinander menschlichen Handelns und göttlichen Tuns zu beziehen ist. Beispielhaft dafür sind die Worte des Baptisten Johann Gerhard Oncken, der seinen Schülern zurief: „Teure Brüder, lasst euch … herzlich bitten, eure Herzen und Köpfe nicht mit allerlei Wind der Lehren anzufüllen. Jesus! Jesus!! Jesus!!! Sei das beständige Thema eurer Predigten. … Je mehr ihr der Welt erzählen könnt, was er getan hat und noch immer tut, desto mehr wird eure Arbeit gesegnet sein. Gott schaffe, dass Jesus den ersten Platz in euren Herzen einnehme, jetzt und immerdar!“65 Missionierend „der Welt erzählen …, was er getan hat“ und zugleich – in pietistischer Tradition – „Jesus den ersten Platz“ im Herzen einräumen, das ist die bipolare Grundstruktur freikirchlicher Frömmigkeit. Die Intentionalität dieser Frömmigkeit ist keine einheitliche Bewegung, sondern besteht in der Spannung zweier gegenläufiger Bewegungen. Diese Bewegungen können auch separat benannt werden, z.B. mit „Gottesfurcht“ oder „pietas“ einerseits, mit „Heiligung“ oder „neues Leben“ andererseits. Der Ausdruck „Frömmigkeit“ spannt beide als Gleichzeitigkeit eines Lebensvollzuges zusammen. Es sind die Bewegung nach innen, ins Gewissen, in das Reden des Herzens mit Jesus Christus 

65 Zitiert nach G. Balders, Verhältnis (Anm. 10), 153.

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einerseits, und die Bewegung nach außen, zum Nächsten und zum Dienst an der Welt andererseits. Die Grundstruktur dieser Frömmigkeit besteht darin, dass das religiöse Bei-sich- und Jesus-Christus-Sein und das ethische Bei-sich- bzw. Beim-anderen-Sein sich in einer beweglichen Spannung halten. Denn auch im religiösen Bei-sich-Sein als solchem ist eine Differenz gesetzt bzw. wird immer neu aufgespannt: die im rechtfertigenden Glauben bejahte Differenz zwischen extra me und in me, zwischen dem Grund meines Glaubens in Jesus Christus und meinem höchsteigenen, aber derart begründeten Glauben. Spezifisch für die Struktur freikirchlicher Bekehrungs-, Heiligungs- und Bibelfrömmigkeit sowie deren missionarischer Ausrichtung ist, dass diese Elemente vom Gnaden- und Geisteswirken her bestimmt werden und dass es ein Gefälle gibt vom religiösen Innenleben des Einzelnen, von der „geistlichen Persönlichkeit“,66 nach außen, zum Nächsten, in die Welt. Allerdings widerfährt dieses Gnaden- und Geisteswirken Gottes im Glauben seinerseits stets im Horizont gelebter Frömmigkeit, auch wenn der Glaube diese Lebensgestalt, als menschliches Verhalten, stets zugleich kritisch distanziert. Nur so sind und bleiben die religiöse fiducia und die ethische experientia, was sie sein sollen: freie, von religiösen Traditionen und Institutionen geförderte, aber nicht beschwerte Innerlichkeit und freie, von moralischen Normen und Instanzen unterstützte, aber nicht beschwerte Sittlichkeit. 

66 Zum Verständnis und zur Bedeutung des Begriffs „geistliche Per-

sönlichkeit“ in den Freien evangelischen Gemeinden vgl. M. Iff, Was sind Freie evangelische Gemeinden? Systematisch-theologische Grundzüge zum Selbstverständnis, in: W. Haubeck (Hg.), Gemeinde der Zukunft – Zukunft der Gemeinde. Aktuelle Herausforderungen der Ekklesiologie, Witten 2011 (ThImp 22), 138-168, hier 150-153.

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Der Historiker Wolfgang Heinrichs äußert die Auffassung, die theologische Mitte der ersten Freien evangelischen Gemeinden und damit die Grundlage für die Frömmigkeit sei „offenbar nicht in einer der reformatorischen Bekenntnisschriften zu suchen …, sondern in einem aus Pietismus und Erweckungsbewegung erwachsenen undogmatischen, am eigenen Bibelverständnis orientierten Erfahrungsschatz.“67 Man wird allerdings ergänzen müssen, dass der Inhalt dieses Erfahrungsschatzes einen starken Bezug auf das Evangelium von Gottes freier Gnade hatte und somit dogmatisch positiv gefüllt war. Das für seine Frömmigkeit grundlegende Motiv leitet Grafe von dem Begriff der „freien Gnade“ ab. Grafe versteht darunter den „einen Grund unseres Heils, Jesum Christum, den Gekreuzigten, sein Verdienst“.68 Es geht um die Einzigartigkeit des Christusgeschehens und um Jesus Christus selber, der allein Grund des Glaubens ist. Die Erweiterung des Begriffs Gnade durch das Attribut „frei“ entspricht bei Grafe dem reformatorischen sola gratia insofern, als damit die Unbedingtheit des Heils extra nos, aber pro nobis festgehalten werden soll.69 „Das Gesetz des Geistes ist durch den Geist in unsere Herzen geschrieben … und deshalb sind uns auch die Gebote Gottes so leicht … denn sie sind in unser Herz eingepflanzt, und wenn wir jetzt darnach thun, so thun 

67 W. Heinrichs, Ein Akt der Solidarität – Austrittserklärung … vom

19.12.1856, in: W. Dietrich (Hg.), Ein Act des Gewissens. Dokumente zur Frühgeschichte der Freien evangelischen Gemeinden, Witten 1988 (GuTh 2), 169-187, hier 170. 68 Vgl. dazu H. Neviandt, Erinnerungen an H. H. Grafe (1882), in: W. Dietrich (Hg.), Ein Act des Gewissens. Erinnerungen an Hermann Heinrich Grafe, Witten 1988 (GuTh 1), 32. 69 Darin betont H. Neviandt im Blick auf Grafe: „Die freie Gnade Gottes … war in seinen Augen das wirksamste Mittel, die Herzen solcher, die noch ferne standen, zu überwinden und die Herzen der Gläubigen neu zu erwärmen und zu beleben“ (ebd., 130).

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wir nur, was wir gerne thun. Das ist gerade die Freiheit der Kinder Gottes … Da muss man in den Wegen Gottes wandeln; weil man nicht anders kann, weil das Herz so drängt, und der alte Mensch? – ja, wo ist der? – Das Alte ist vergangen; siehe es ist Alles neu geworden. Das heiße ich Gnade, freie Gnade.“70 Dabei lebt der Christ in zwei Welten, denen er beiden in einer Art angehört. Sein Ziel ist es allerdings, sich mehr und mehr von der natürlichen Welt zu lösen, d.h. von seiner weltlichen Dimension und sich zu Jesus Christus hinzuwenden bis zur völligen Einswerdung mit ihm. „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen (Joh 3,30). Ich! Ich und der Herr Jesus! Der Herr Jesus und ich! Der Herr Jesus!“ Die sich hier abzeichnende Jesusfrömmigkeit hat auf den Spuren von Tersteegen einen mystizistischen Zug, der allerdings nicht mit einem monastischen Mystizismus zu identifizieren ist. Denn der Gläubige findet sich bleibend bezogen und unterschieden zur sozialen Umwelt.71 Sein „geistliches Wachstum“ besteht darin, dass der Gläubige sich zunehmend von den Ansprüchen der sozialen Umwelt, die zugleich die seines natürlichen Daseins ist, löst und seine Persönlichkeit aus Gottes Geist bezieht. Der Gläubige lebt in seiner Umwelt und partizipiert an ihr, ist jedoch zugleich von ihr ontisch unterschieden. Er hat die Aufgabe, sein äußeres Leben, d.h. sein soziales, von dem inneren, seiner geistgeprägten Überzeugung her, leiten zu lassen. Auch die für Freikirchen so zentrale Bekehrungs- und Bibelfrömmigkeit sowie der missionarische Eifer sind auf die Gnaden- und Geistesfrömmigkeit zu beziehen. Das Glaubensbekenntnis der deutschen Baptisten von 1847 

70 Zitiert ebd., 30f. 71 Vgl. dazu W. Heinrichs, Freikirchen – eine moderne Kirchenform,

Gießen 1989, 405-414.

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enthält einen speziellen Artikel (VII) „Von der Bekehrung des Sünders durch das Wort Gottes“, in dem es heißt: „Diese große Umwandlung in dem Herzen … ist ausschließlich das Werk des Heiligen Geistes, der, nach dem gnädigen Willen Gottes, das Wort mit seiner allmächtigen, erfolgreichen Wirkung begleitet, dadurch die Wiedergeburt des fleischlich gesinnten Sünders bewirkt, sein Herz auftut … und den lebendigen Glauben an Christum erzeugt.“72 Die große Umwandlung „Bekehrung“ geschieht als erlebte Rechtfertigung ausschließlich durch den Heiligen Geist und hat die gelebte Heiligung zur Folge. Entsprechend nennt das Glaubensbekenntnis 1847 in Art. XI die Heiligung eine Folge der Rechtfertigung des Sünders.73 Der den deutschen Baptismus neben Johann Gerhard Oncken prägende Gottfried Wilhelm Lehmann (17991882) hat 1854 in einem „Sendschreiben an den deutschen evangelischen Kirchentag“ formuliert: „Nach ihren Grundsätzen müssen die Baptisten die Mission aus allen Kräften treiben, wenn sie nicht vergehen wollen, sie ist ihr Lebensprinzip, Mission nach allen Seiten, in der Familie, in der Ortsgemeinde, im Lande, in der Welt“ – da „die Wiedergeburt sich nicht vererbt.“74 Und Johann Gerhard Oncken hebt auf die Frage, wie die missionarische Existenz von Gläubigen und Gemeinde zu fördern ist, hervor: „Da unsere Gemeinden sich in allem nach den apostolischen Gemeinden richten wollen, 

72 Glaubensbekenntniß und Verfassung der Gemeinden getaufter

Christen, gewöhnlich Baptisten genannt, Hamburg 1847, 17-19.

73 Ebd. 74 G.W. Lehmann, Offenes Sendschreiben an den deutschen evange-

lischen Kirchentag, Hamburg 1854. Zum 150 jährigen Jubiläum der Berliner Baptistengemeinden neu hg. u. eingel. v. E. Brandt, 28. Zu G.W. Lehmann s. H. Luckey, Gottfried Wilhelm Lehmann und die Entstehung einer deutschen Freikirche, Kassel o. J. (1939); G. Balders, Lehmann, Gottfried Wilhelm, in: NDB 14 (1985) 79f.

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so sei vor allen Dingen not, denselben immer wieder auf’s Neue das Vorbild der ersten Gemeinen in Wort und Wandel vorzuhalten. Doch dieses Vorhalten allein sei nicht genug. Hauptsächlich bedürfen wir, dass die Kräfte und Segnungen des heiligen Geistes uns und unsere Gemeinden mehr beleben und durchdringen.“75 Diese Art von Primitivismus, d.h. Leben nach dem „apostolischen Muster“, beschränkt sich nicht auf das formale Nachmachen, sondern weiß, dass Frömmigkeit eine geistliche Angelegenheit ist, ein Wirken des Geistes Gottes an Menschen. Es geht somit nicht darum, die Anweisungen des Neuen Testaments wörtlich zu praktizieren, sondern es geht um einen geistlichen Gehorsam, der in dem Schriftbuchstaben das Wirken des Geistes Christi erkennt und nach diesem Geist sich ausrichtet.76 Wie stark der Pietismus hier in der Struktur freikirchlicher Frömmigkeit seine Spuren hinterlassen hat, soll abschließend mit einem Spener-Zitat belegt werden, der bei seinen Reformvorschlägen zur „Besserung“ der Kirche ausdrücklich darauf hinweist, sie sei „nicht unmüglich, wie ihrer viel ihnen einbildung machen: Daher seye es unsere schuld, dass dergleichen Lob so ferne von uns ist. Dann ist es ja eben der Heilige Geist, welcher vor dem in solchen ersten christen alles gewircket, der uns von Gott geschencket ist, und heut zu tag weder unvermöglicher noch säumiger ist, das Werk der Heiligung in uns zu verrichten.“77 

75 Missionsblatt 1868, Beilage zu Nr. 11, 4 (Conferenz der Nord-

westlichen Vereinigung, Ihren 1868). Zitiert nach G. Balders, Verhältnis (Anm. 10), 145. 76 Für O. Schopf ist Schriftgehorsam letztlich „Geistesgehorsam“. Nicht der biblische Wortlaut ist dafür maßgebend, dass etwas biblisch ist, sondern „der Geist der Schrift“. Vgl. dazu O. Schopf, Was ist eine Freie evangelische Gemeinde?, in: Der Gärtner 19 (1911) 308f., 316f., 324f., 332, hier 308. 77 Ph.J. Spener (Anm. 41), 52.

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3. Wesentliche Grundzüge freikirchlicher Frömmigkeit Ungeachtet der sachlichen Vermittlung und inhaltlichen Ausgestaltung des Freiheitsbegriffs durch die Moderne, spricht das Neue Testament im Blick auf die Glaubenshaltung bzw. Lebensgestalt des Glaubens des Einzelnen wie hinsichtlich der Christusnachfolger von 78 (Freiheit) und 79 (Freimut). Die biblisch vorliegenden Begriffe und Haltungen werden freikirchlich besonders wertgeschätzt und verweisen auf wesenhafte Grundzüge freikirchlicher Frömmigkeit. Betont wird die befreiende Wirkung des Wortes Gottes im „Gewissen“ bzw. im „Herzen“, d.h. in ihrer existenziellen Bedeutung hinsichtlich der eigenen Lebensgeschichte wie auch in der Frage des religiösen (Non)Konformismus gegenüber der Gesellschaft. Freikirchen heben die existenzbezogene Bedeutung der Bibel als Wort Gottes hervor, das vermittels des Geistes Gottes Anredecharakter erlangt und damit zur Quelle der Frömmigkeit wird. Der Anredecharakter konkretisiert sich im Zuspruch neuen Lebens und im Anspruch an unser Leben. Eigentlicher Aussagegehalt der Bibel als Wort Gottes ist die Botschaft vom Heil, das letztgültig im Christusgeschehen besteht. Das mit Christus in Raum und Zeit eingetretene wahre und vollgültige Heil Gottes80 wird aus Gottes Gnade empfangen und aufgrund des Glaubens bzw. im Glauben wirklich (Röm 10,17). 

78 Joh 8,31f.36; Röm 6,18.22; Gal 5,1.13. 79 Missionarisch in Ausrichtung auf die Gesellschaft: Apg 4,13.29.31;

28,31; 1 Tim 3,13; religiös im Blick auf die Gottesbeziehung der Christusgläubigen: Hebr 4,16; 10,19.35; 1 Joh 2,28; 3,21; 4,17. 80 Im NT theologisch formuliert z.B. im Prolog des Johannesevangeliums, Joh 1,1-18.

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Die „freie“ persönliche Entscheidung für Christus in der Annahme der Erlösungsbotschaft mit der Folge einer persönlichen Christusbeziehung im Glauben (Gal 2,20) ist eine besondere „Note“ freikirchlicher Frömmigkeit. Dabei ist allerdings kein religiöser Voluntarismus mit Heilsqualität intendiert. Die Entscheidung des Menschen für den Glauben ist zwar dessen Tat, nicht aber als sein eigenes Werk im Sinne anrechenbarer Leistung vor Gott oder Menschen anzusehen. Paulinisch ausgedrückt: Nicht eigenes Rühmen und religiöser Stolz, sondern Dank gegenüber Gott kennzeichnet die Grundhaltung des Gläubigen. In freikirchlicher Frömmigkeitssprache steht das Angesprochenwerden des Menschen auf sein Inneres hin für die Kategorie der existenziellen Betroffenheit des Individuums, um die es in freikirchlicher Auffassung zentral geht. Zu den wesentlichen Grundzügen freikirchlicher Frömmigkeit gehört nicht zuletzt, dass die „Art des Christenlebens“81 bzw. dessen Stil eine Entsprechung von verborgenem Innen und leibhaftem Außen glaubwürdig machen sollte. Diese Entsprechung sollte sich im Verhältnis von religiöser und ethischer Praxis spiegeln. Freikirchliche Frömmigkeit will zudem essenziell davon geprägt sein, dass sie an sich selbst eine Differenz vollzieht, die beispielsweise kenntlich wird an der Äußerung des Bewusstseins der Differenz zwischen Glauben als eines selbsterfahrbaren Aspektes von Frömmigkeit, hierzu gehört unausbleiblich die Anfechtung, und Glauben im Sinn der fiducia; beispielsweise in dem der vita passiva nahen meditierenden, betenden Hören. 

81 Die Bezeichnung dieser „Art des Christenlebens“ ist eine eigene

Frage: Physiognomie, Habitus, Ethos, Stil? Zum letzteren Begriff vgl. H.-M. Barth, Protestantismus als Lebensstil? Anmerkungen zur reformatorischen Spiritualität, in: US 38 (1983) 23-32.

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Es bleibt freilich selbstkritisch zu fragen, ob diese Differenz vollzogen wird. Vielsagend über freikirchliche Frömmigkeit ist nicht zuletzt, ob es einen produktiven Umgang mit der sich immer wieder erneuernden Differenz zwischen individueller Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaft gibt. Deren hermeneutische Selbstverpflichtung ist es zweifelsohne, christliche Frömmigkeit zu überliefern und einzuüben, aber sie darf sich nicht anmaßen, das Widerfahrnis des Glaubens hervorzubringen. Hierher gehört auch die Frage nach dem Umgang mit dem Überschuss der Erfahrungen, die sich der Frömmigkeit verdanken, über das jeweils reflexiv ausgebildete und auch praktisch leitende Frömmigkeitsbild hinaus, also der Umgang mit der Differenz zwischen Frömmigkeit und theologischer Normativität. Es ist eine bleibende Herausforderung für freikirchliche Frömmigkeit, dass die Ausrichtung des Frommen auf Gott und seine Ausrichtung auf die Welt sich nicht ineinander schieben, sondern sich die Bewegung auf Identifikation und die Bewegung auf Differenz gegenseitig in einem Fließgleichgewicht halten.

ZUSAMMENFASSUNG Die Wurzeln und das Wesen freikirchlicher Frömmigkeit am Beispiel des BFeG werden über die Vielgestalt ihrer prägenden Traditionen dargelegt. Neben dem britannischen Evangelikalismus und dem evangelischen Mystizismus ist es nicht zuletzt der deutsche Pietismus, der den Wurzelboden freikirchlicher Frömmigkeit bildet. Charakteristisch für diese Frömmigkeit, verstanden als Verhältnis zwischen Mensch und Gott auf der einen und dem in ethischer Perspektive praktizierten Christentum auf der anderen Seite, sind die Bibelorientierung, der Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung, die individualisierte Gebetspraxis sowie der vom Mystizis81

mus herkommende Fokus auf den einzelnen Menschen, der in seiner Gottesebenbildlichkeit zum Bezugspunkt des göttlichen Gnaden- und Geisteswirkens wird. In ihrer bipolaren Struktur, zwischen einer inneren Betroffenheit und einem missionarischen Aktivismus, ist die befreiende Wirkung des Wortes und Geistes Gottes im „Gewissen“ bzw. im „Herzen“, d.h. in ihrer existenziellen Bedeutung hinsichtlich der eigenen Lebensgeschichte wie auch in der Frage des religiösen (Non)Konformismus gegenüber der Gesellschaft die Quelle freikirchlicher Frömmigkeit.

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Pfingstliche Frömmigkeit in der Spannung zwischen Geistunmittelbarkeit und gesamtkirchlicher Tradition Bernhard Olpen

1. Pfingstliche Frömmigkeit ist eingebettet in das gesamtkirchliche historische Spektrum der Spiritualität Zunächst muss die Frage gestellt werden, ob pentekostale Frömmigkeit, die fraglos eine Tendenz zur Geistunmittelbarkeit aufweist, an kirchengeschichtliche Kontinuitäten anknüpfen kann oder grundsätzlich in einem spannungsgeladenen Verhältnis zur gesamtkirchlichen Tradition beschrieben werden muss. Meine erste These lautet: kirchen- und theologiegeschichtlich gesehen steht die Pfingstbewegung in keiner Spannung zur gesamtkirchlichen Tradition. Der reformierte Theologe Lesslie Newbigin unterteilte 1953 die Christenheit in ihrem Verständnis von Glaube und Kirche, also ihren ekklesiologischen, spirituellen und soteriologischen Konstituanten, in drei Traditionen:1 – die katholische Perspektive, die das Heil priesterlichsakramental vermittelt, – die protestantische Perspektive, die das Heil worthaftpersonal vermittelt, 

1 L. Newbigin, The Household of God, London 1953, 113. Deut-

sche Ausgabe unter dem Titel: Von der Spaltung zur Einheit, Stuttgart 1956, zitiert bei: R. Hempelmann, Die Pfingstbewegung als Teil der Weltchristenheit und ökumenische Herausforderung, in: A.F. Gemeinhardt (Hg.), Die Pfingstbewegung als ökumenische Herausforderung, Göttingen 2005 (BenshH 103), 7-25, hier 7f.

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– die pfingstliche Perspektive, die das Heil prophetischunmittelbar vermittelt. Newbigin denkt in der Beschreibung der pfingstlichen Perspektive nicht an die zeitgenössische Pfingstbewegung, sondern identifiziert mit diesem Begriff eine Kontinuitätslinie in der Geschichte der Christenheit, die man als dritten Strang bezeichnen könnte und der in der gesamten Kirchengeschichte zu finden ist. Dabei versteht er das Wesen dieses Stranges darin, dass sich die persönliche Erfahrung Gottes in einem „Geistesfrühling“ vollziehe sowie in der subjektiven Aneignung des Heils. Damit stellt die so definierte pfingstliche Perspektive einen Flügel innerhalb des Christentums dar, der seit den Anfängen der Kirche je und dann in heiligungs- und geistorientierten Bewegungen sichtbar wurde, wenngleich häufig skeptisch beobachtet und meist wenig geliebt. Dabei reicht das Feld von den Montanisten im 2. Jahrhundert, die nicht etwa wegen ihrer Spiritualität aus der Kirche ausgeschieden wurden, sondern wegen der nachfolgenden theologischen Konsequenzen, was nicht unwichtig ist, bis hin zur modernen Pfingstbewegung. Dazu zählen Teile der monastischen Kongregationen des Mittelalters, insbesondere die zum Mystizismus tendierenden, ferner der sogenannte linke Flügel der Reformation mit Täufern und Spiritualisten2 wie etwa Cas

2 Die Gefahren, die Markus Liebelt zutreffend für den Spiritualismus

der Reformationszeit beschreibt, gelten prinzipiell für jede „Geistbewegung“ und weisen auch für die Pfingstbewegung auf die Grenzen gesunder Spiritualität hin: „Die Betonung der Geistunmittelbarkeit und des charismatischen Strukturideals stand jedoch zugleich in der latenten Gefahr einer ,unkritischen Überschätzung pneumatischer Unmittelbarkeit‘. Die durch die existenziellen Auseinandersetzungen bedingte polemische Abwertung von kirchlicher Amtsvollmacht und Ordination zog eine übersteigerte Geringschätzung verobjektivierender Strukturelemente nach sich. Die Folge war eine deutliche Neigung zum pneumatischen Enthusiasmus, in welchem geistliche Autorität und Offenbarung wesentlich

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par Schwenckfeld, und als wichtigste Ausprägung innerhalb des deutschen Protestantismus der Pietismus, wie er sich seit Ende des 17. Jahrhunderts entwickelt hat,3 und der die Erneuerung der Kirche aus dem Wirken des Heiligen Geistes heraus erwartet.4 Ebenso wie bei dem im angelsächsischen und besonders im nordamerikanischen Raum prägenden Methodismus kann beim Pietismus kaum von einer Randerscheinung gesprochen werden. Vielmehr dürfte der Methodismus wie kaum eine andere protestantische Gruppierung einen überragenden Einfluss auf die Herausbildung einer spezifischen Frömmigkeit Amerikas im 19. Jahrhundert gehabt haben, insbesondere in seinen Übergängen zur transkonfessionellen Heiligungsbewegung, aus der heraus 

auf subjektivistischen Momenten in Blick auf Wahrnehmung und Anerkenntnis von Legitimation basierten“: M. Liebelt, Allgemeines Priestertum, Charisma und Struktur. Grundlagen für ein biblischtheologisches Verständnis geistlicher Leitung, Wuppertal 2000 (STM 5), 45. Bernd Moeller weist zu Recht auf die Verbindungslinien von der deutschen Mystik zum Spiritualismus der Reformationszeit hin und sieht in demselben, geistesgeschichtlich, die Brücke von der mittelalterlichen Mystik zum modernen Individualismus und Subjektivismus; vgl. B. Moeller, Geschichte des Christentums in Grundzügen, Göttingen 102011, 230. 3 In der Forschung nach wie vor umstritten ist der Zeitpunkt, mit dem der eigentliche Beginn des Pietismus anzusetzen ist. Während ihn manche, zumindest unter der Bezeichnung „Vor- oder Frühpietismus“, bereits im Wirken Johann Arndts Anfang des 17. Jahrhunderts oder noch früher, im beginnenden englischen Puritanismus, verorten, bleibt für andere die Programmschrift Philipp Jakob Speners von 1675, Pia Desideria, Ausgangspunkt zumindest des deutschen, lutherischen Pietismus; vgl. M. Brecht, Einleitung, in: ders., Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, 1-10; vgl. auch H. Weigelt, Pietismusforschung in Bayern, in: PuN 13 (1988) 227-238, hier 227f.; J. Wallmann, Die Anfänge des Pietismus, in: PuN 4 (1979) 5-53, hier 17. 4 J. Wallmann, Geisterfahrung und Kirche im frühen Pietismus, in: T. von Rendtorff (Hg.), Charisma und Institution, Gütersloh 1985, 132-144, hier 132, zitiert bei: R. Hempelmann (Anm. 1), 9.

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Anfang des 20. Jahrhunderts die moderne Pfingstbewegung entstanden ist.5 In Deutschland fand diese Form der Frömmigkeit erstmals durch Robert Pearsall Smith Eingang in die pietistisch geprägte Gemeinschaftsbewegung. Seine sogenannte „Triumphreise“ durch Deutschland im Jahr 1875, vorbereitet und gefördert durch den Leiter der Pilgermission St. Chrishona, Heinrich Rappard, gewann erstmals auf breiter Front Aufmerksamkeit für eine angelsächsische, deutlich emotionaler geprägte Spiritualität.6 Erst in Folge der Berliner Erklärung von 

5 Wesley sprach als erster von einem „Zweiten Segen“ („Second

Blessing“), den er als Heiligungs-Erfahrung verstand, benutzte dafür aber nicht den Begriff „Geistestaufe“, sondern lehnte vielmehr die ähnlich klingende Bezeichnung „Pentecostal Baptism of the Holy Ghost“, wie sie sein Mitarbeiter John William Fletcher (1729-1785) dafür benutzte, ab: „The phrase in that sense is not scriptural and not quite proper; for they all ,received the Holy Ghost‘ when they were justified“; Brief von John Wesley an John Fletcher vom 28.12.1770, zitiert in: P. Schmidgall, 90 Jahre deutsche Pfingstbewegung, Erzhausen 1997, 30. Charles Finney gebrauchte den Begriff Geistestaufe dagegen ohne Bedenken und präzisierte das Erlebnis anhand seiner eigenen Erfahrung: „Ich empfing eine mächtige Taufe mit dem Heiligen Geist. Ohne die geringste Erwartung, ohne auch nur einen Gedanken gehabt zu haben … kam der Heilige Geist auf mich hernieder in einer Weise, dass es mich nach Leib und Seele zu durchdringen schien … wie Fluten flüssiger Liebe … wie der Odem Gottes …, keine Worte können die Liebe schildern, die in mein Herz ausgegossen wurde. Ich weinte laut vor Freude und Wonne und musste meinen Gefühlen schließlich durch lautes Schreien Ausdruck geben“; deutsch nach L. Steiner, Mit folgenden Zeichen. Eine Darstellung der Pfingstbewegung, Basel 1954, 164. Das Zitat ist entnommen: Ch. Finney, The power from on High. A series of sermons, Springdale 1996 (Neuauflage), Chapter 2: What is it? 6 Zur „Triumphreise“ Smiths und seiner Wirkungsgeschichte vgl. K.H. Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith im Jahre 1875 und ihre Auswirkungen auf die zwischenkirchlichen Beziehungen, Wuppertal 1996. Theodor Jellinghaus fasste die theologischen Überzeugungen der deutschen Heiligungsbewegung in seinem Standardwerk „Das völlige,

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1909, die zur Trennung der Gemeinschaftsbewegung von der Pfingstbewegung führte, verabschiedete sich die Gemeinschaftsbewegung wieder von dieser Richtung und wandte sich stärker einer lutherischen Nüchternheit zu.7 Newbigin unterstreicht, dass das primäre Anliegen der pfingstlichen Perspektive nicht ekklesiologisch, sondern pneumatisch motiviert ist. Sie drängt nicht in erster Linie zu kirchlichen Neubildungen, sondern zur Erneuerung eines geistlosen Gewohnheitschristentums und einer weithin geistlosen Theologie. Kirchengebilde, die nur auf die „Reinheit der Lehre“ oder die „Fehlerlosigkeit der Amtsnachfolge“ setzen, stellen, nach Newbigin, in dieser Perspektive nur noch „bloße Schale“ dar, haben lediglich die „Gestalt einer Kirche …, nicht aber deren Leben“.8 Die Betonung der subjektiv-individuellen Aneignung der Gnade gegenüber der Objektivität göttlicher Gnaden

gegenwärtige Heil durch Christum“, Basel 1880, zusammen. Das Werk erlebte bis 1903 fünf Auflagen. 7 Einer der führenden Köpfe der Gemeinschafts- und Evangelisationsbewegung in Deutschland, Elias Schrenk, der schon 1875 mit Rappard zusammen die Konferenz von Oxford besucht hatte, in deren Folge Robert Pearsall Smith seine „Triumphreise“ durch Deutschland antrat, verurteilte 1910 die Frömmigkeit der Heiligungsbewegung, der er 35 Jahre gefolgt war, nun als „undeutsch“; vgl. E. Schrenk, Der biblische Weg zu vermehrter Geistesausrüstung, Kassel 1910, hier v.a. 21f.; vgl. auch St. Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungsund Evangelisationsbewegung (1874 – 1909), Gießen 2005 (KGM 14), 590f.; 593f. 8 L. Newbigin (Anm. 1), 116f. Newbigin zitiert dazu die treffende Frage George Fox’ an Margaret Fell: „Was hat jemand mit der Schrift zu tun, wenn er nicht zu dem Geist kommt, der sie hervorgebracht hat? Ihr sagt: Christus sagt das, die Apostel jenes, aber was kannst denn du sagen?“ Für Newbigin korrespondiert diese Aussage Fox’ mit den Worten des Dämons an die sieben Söhne des Skevas: „Jesus kenne ich wohl, und auch Paulus ist mir bekannt; doch wer seid ihr?“ (Apg 19,15).

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mitteilung durch Amt, Schrift und Sakrament stellt keinen Gegensatz, sondern eine notwendige Ergänzung und Komplettierung dar, auch wenn Hempelmann in diesem Vorgang eine „gewisse Verlagerung des Akzentes von der Christologie auf die Pneumatologie“ sieht.9 Emil Brunner weist daher nicht zu Unrecht auf Luther selbst hin, der in der Lösung vom rein heteronomen, also objektiven Glaubensimpuls, trotz Schriftprinzip durchaus auch eine Errungenschaft der Reformation sieht. „Und is nit gnug, das du sagist: Luther, Petrus odder Paulus hatt das gesagt, ßondern du must bey dyr selbs ym gewissen fuhlen Christum selbs und unwengklich empfinden, das es gottis wort sey, wennauch alle welt da widder stritte.“ „Da kombt nu diss dritte stuck, das Gott den heiligen geist In die hertzen ausgeusst, der es In die hertzen saget, das wir wissen, das es in der wahrheit so ist und nicht anderst … das der heilig geist unserem Geist ein Zeugniss gibt, und der mensch so weyt kompt, das ers fulet, das es also sey, und gar kein zweivel darn habe, es sey gewisslich also.“10 Brunner sieht in der einseitigen Berufung auf die Schrift durch die lutherische Orthodoxie einen Rückfall gegenüber den Reformatoren, eine Rekatholisierung des Protestantismus, eine Rückwendung zum heteronomen Autoritätsglauben.11 Weder hat der Christ zuerst den Aposteln und ihren Nachfolgern zu glauben, noch der Schrift als Zeugnis der Apostel, so zuverlässig beide auch sein mögen. „Der christliche Glaube ist nicht Glaube an das geschlossene, sondern an das geöffnete Bibelbuch … Ich 

9 R. Hempelmann (Anm. 1), 9.

10 WA 10,2,23; 45,22; zit. bei E. Brunner, Offenbarung und Ver-

nunft. Die Lehre von der christlichen Glaubenserkenntnis, Zürich 1961, 191. 11 Ebd., 187.

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glaube nicht an Jesus Christus, weil mir ein Apostel sagt, er sei der Sohn Gottes, so dass ich also an Jesus Christus glaube, weil ich zuerst an den Apostel glaube; sondern ich glaube an Jesus Christus, weil Gott selbst ihn mir als den Christus bezeugt, genauso wie er ihn dem Apostel bezeugte.“12 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Spannung zwischen vermittelter und unvermittelter Gotteserfahrung und Spiritualität keine neue Erscheinung ist und die Sehnsucht pfingstlicher Frömmigkeit nach individueller Berührung durch Gott selbst, durch den Heiligen Geist, eine Sehnsucht ist, die von jeher zur Christentumsgeschichte gehört. Die Formen, dieser Sehnsucht Ausdruck zu verleihen, haben sich freilich verändert. Die Pfingstbewegung hat daher durchaus neue Ausdrucksweisen dazu entwickelt, der grundsätzliche Antrieb dazu ist jedoch eingebettet in eine lange Tradition christlicher Frömmigkeitsgeschichte.

2. Pfingstliche Frömmigkeit ist eingebettet in das gesamtkirchliche gegenwärtige Spektrum der Spiritualität Meine zweite These lautet: Pfingstliche Frömmigkeit stellt keine Randerscheinung innerhalb des heutigen Christentums dar, sondern prägt weltweit zunehmend das Gesicht gelebter Frömmigkeit in den verschiedenen christlichen Kirchen. Die These muss sogleich wieder eingeschränkt werden, soweit es sich um den Status quo christlicher Spiritualität in Deutschland und Europa handelt. In vielen Bereichen steht die kirchliche Realität auf dem alten Konti 12 Ebd., 188.

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nent in einer Sonderstellung zur weltweiten Entwicklung christlicher Kirchen. Das gilt auch für die Spiritualität. Wenn man daher nicht zu Unrecht sehr wohl von einer Spannung zwischen pfingstlich-charismatischer Spiritualität einerseits und westeuropäisch aufgeklärter Spiritualität in den Traditionskirchen andererseits sprechen kann, so bedeutet das doch nicht, dass eine solche Spannung auch in der globalen Perspektive existiert. Während es auch in den Großkirchen Europas in den 1960er- und 1970er-Jahren zu einem pfingstlich-charismatischen Aufbruch kam, so blieb dieser, im Gegensatz zur weltweiten Entwicklung, lediglich eine Randerscheinung. Die Katholisch-charismatische Erneuerungsbewegung (CE) rechnet heute mit etwa 12.000 Anhängern in Deutschland, die sich in rund 500 Gebets- oder Hauskreisgruppen treffen. Das entspricht etwa 0,05 % aller Katholiken in Deutschland. Weltweit rechnet die CE jedoch mit 120 Millionen Charismatikern innerhalb der katholischen Kirche,13 der katholische Neutestamentler Norbert Baumert spricht von 90 Millionen,14 was immerhin noch knapp einem Anteil von rund 10 % Charismatikern innerhalb der katholischen Kirche weltweit entspricht. Zur Geistlichen Gemeindeerneuerung in  13 www.erneuerung.de/index.php?option=com_content&view=cate-

gory&layout=blog&id=7&Itemid=17 (30.09.2011).

14 Norbert Baumert geht von einer relativ hohen Zahl „postcharisma-

tischer“ Katholiken aus, erkennt also einen Rückgang des Impulses. In Deutschland stagniert die Zahl der katholischen Charismatiker seit Jahren bei etwa 12.000 Aktiven, in Österreich liegt sie bei 7.000 und in der Schweiz bei 3.000 Aktiven. Anders sieht es dagegen in Italien aus. Hier treffen sich jährlich 50.000 katholische Charismatiker in Rimini; vgl. N. Baumert, Anstößig oder Anstoß. Zur Charismatischen Erneuerung, Online-Version: www.sanktgeorgen.de/leseraum/baumert4.html; eine gekürzte Fassung der ersten vier Kapitel des Artikels findet sich in: StZ 9 (1998) 594606, das fünfte Kapitel in: Gemeindeerneuerung 2 (1998) 10-12. Seine Zahlenangaben in der Online-Version stammen aus dem Jahr 2001.

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der Evangelischen Kirche (GGE) zählt Baumert etwa 500 Pfarrer und Diakone sowie 5.000 verbindliche Teilnehmer, die sich in Haus- und Gebetskreisen formieren, was etwa 0,025 % aller Christen innerhalb der Evangelischen Kirche Deutschlands entspräche.15 Nur im zahlenmäßig relativ unbedeutenden Spektrum der Freikirchen wurde der charismatische Impuls vergleichsweise stark aufgenommen. Im BEFG sind etwa ein Drittel aller Pastoren offen für die Anliegen und die Spiritualität der Pfingstlich-Charismatischen Bewegung.16 Eine ähnliche Plattform für charismatische Gemeinden gibt es auch in der EmK.17 Verglichen mit der weltweiten kirchlich-spirituellen Entwicklung nimmt die geringe Rezeption pfingstlicher Frömmigkeit in Europa eine Sonderstellung ein. Nach Angaben des amerikanischen Statistikers David Barratt aus dem Jahr 2001 fühlten sich im Jahre 2000 etwa 526 Millionen der zwei Milliarden Christen weltweit dem 

15 N. Baumert, Online-Version (Anm. 14). Baumert geht jedoch von

einer höheren Sympathisantenquote aus, die er für die Evangelische Kirche mit etwa 50.000 Personen angibt, bei den Katholiken vermutet er sogar 100.000. Baumert rechnet allerdings fälschlicherweise auch einige von der Landeskirche unabhängige Werke wie die Freie christliche Jugendgemeinschaft (FCJG) in Lüdenscheid oder das Jugend-, Missions- und Sozialwerk (JMS) in Altensteig zur GGE. Vgl. auch den Internetauftritt der GGE www.ggeonline.de (04.10.2011). 16 Nach Auskunft des GGE Büros im BEFG vom 05.10.2011: „Ein weiteres Drittel der Gemeinden sind weder offen noch verschlossen, aber zurückhaltend und ein Drittel sind eher zurückhaltend bis ablehnend.“ Hans Dieter Reimer gibt an, dass bereits in den 1970er-Jahren bis zu einem Drittel aller BEFG-Pastoren von der Charismatischen Erneuerung beeinflusst gewesen waren; vgl. H.D. Reimer, Wenn der Geist in der Kirche wirken will. Ein Vierteljahrhundert Charismatische Bewegung, Stuttgart 1987, 30. 17 Vgl. H.Ch. Rust (Hg.), Neue Wege gehen, Wuppertal-Kassel 1991, 126f.

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pfingstlich-charismatischen Lager zugehörig.18 Die Zahlen sind zugegebenermaßen umstritten, da von Doppelzählungen in erheblichem Umfang ausgegangen werden muss. Der Heidelberger Missionswissenschaftler Michael Bergunder rechnet daher 2005 mit einer Größenordnung von 400 Millionen Anhängern,19 immerhin noch rund 20 % der Weltchristenheit. Aufgrund der rasanten Ausbreitung pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit seit den 1960er- und 1970er-Jahren hat sich der Begriff der „Pentekostalisierung“, insbesondere des lateinamerikanischen Protestantismus, entwickelt.20 Angesichts dieses Trends innerhalb des Weltchristentums scheint es weniger eine Spannung zwischen pentekostaler Frömmigkeit und gesamtkirchlicher Tradition und Realität zu geben als vielmehr eine Spannung zwischen pentekostaler Frömmigkeit und der von Rationalismus und Aufklärung geprägten, im weltweiten Ver

18 D.B. Barratt / G.T. Kurian / T.M. Johnson, World Christian Ency-

clopedia. A comparative survey of churches and religions in the modern world. Second Edition, Vol. 1: The world by countries: religionists, churches, ministries, New York 2001, 9-11. 19 M. Bergunder, Die südindische Pfingstbewegung im 20. Jahrhundert. Eine historische und systematische Untersuchung, Frankfurt a.M. 2005 (SIGC 113), 1. 20 V. Garrard-Burnett, Protestantism in Guatemala. Living in the New Jerusalem, Austin (Tex.) 1998, 117; 119; P.A. Deiros, Fundamentalismus der kleinen Leute. Pfingstler und Charismatiker in Lateinamerika. Eine neue Form christlichen Lebens, in: dü 33 (1997) 4449, hier 44; vgl. auch K. Raschzok, Gottesdienst und Dramaturgie. Eine Einführung, in: I. Mildenberger / K. Raschzok / W. Ratzmann (Hg.), „Gottesdienst und Dramaturgie“. Liturgiewissenschaft und Theaterwissenschaft im Gespräch, Leipzig 2010 (BLS 23), 15-46, hier 33f. Raschzok findet das Phänomen der Pentekostalisierung lutherischer Gottesdienste immerhin auch in Deutschland, jedoch nur in der Sonderform der freien Gottesdienste neben dem liturgischen Hauptgottesdienst. Deiros rechnet damit, dass sich 80 % aller Protestanten in Lateinamerika inzwischen „pentekostalisiert“ haben.

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gleich wenig vitalen Spiritualität in den alten Kirchen Europas.

3. Pfingstliche Frömmigkeit und ihr möglicher Beitrag zu einer Neubelebung spirituellen Lebens in den Kirchen Europas Meine dritte These lautet: Angesichts der Herausforderung schwindender Vitalität geistlichen Lebens in allen europäischen Kirchen und gleichzeitig der Erfahrung der Neubelebung kirchlicher Spiritualität durch den Beitrag des pfingstlich-charismatischen Ansatzes auf der weltweiten Ebene bleibt es eine ökumenische Chance und Herausforderung, Wege zur Einbettung dieser spirituellen Form in die allgemeine kirchliche Praxis zu finden. Auf der lutherischen Seite wird ein Fortschritt in diese Richtung kaum gelingen ohne eine erneute Reflexion und Deutung der Grundpositionen Martin Luthers. Luther sah sich in seiner Zeit, auch spirituell gesehen, eingezwängt zwischen dem linken Flügel der Reformation und römisch-katholischen Überlieferungen. Die Frage der Geistunmittelbarkeit spielte dabei eine bedeutende Rolle, deren jeweilige Erscheinung er in drei Formen unterteilte:21 – eine papalistische Geistunmittelbarkeit (für Luther menschlicher Enthusiasmus) – die Geistunmittelbarkeit des Spiritualismus (für Luther menschlicher Enthusiasmus) – die Geistunmittelbarkeit, die aus Gottes Gnade fließt und in der sich Gott dem Menschen in souveräner und unverfügbarer Weise zuwendet, wie etwa im Kampf Gottes mit Jakob am Pniel (Gen 32,22-32).  21 U. Asendorf, Heiliger Geist und Rechtfertigung, Göttingen 2004,

464.

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Luther verneint eine Geistunmittelbarkeit nicht rundweg, betont aber, dass der Mensch keine Veranlagung dazu hat, diese Unmittelbarkeit von sich aus zu erlangen. Zudem bindet sich Geistunmittelbarkeit für Luther notwendigerweise und ausschließlich an die Schrift. Ulrich Asendorf folgert daraus, dass für Luther „Spiritus“ und „Littera“ insofern identisch sind, als der Heilige Geist sich nur durch die Schrift und nicht an ihr vorbei dem Menschen offenbart, wie etwa bei den Papisten und Spiritualisten.22 Luthers grundsätzliche Scheu vor Enthusiasmus, den er in den Schmalkaldischen Artikeln als Wurzel jeglicher Ketzerei verurteilt, hat sicher maßgeblichen Anteil daran, dass eine umfassendere Rezeption pfingstlicher Frömmigkeit im Rahmen der evangelischen Kirche Deutschlands noch nicht stattgefunden hat.23 Luther besteht darauf, dass Gott nur durch das äußerliche Wort und das Sakrament an uns handeln will, alles andere sei vom Teufel. Während die Täufer behaupteten, sie hätten den Geist vor dem Wort, rühme sich der Papst, alle Rechte wären im Schrein seines Herzens.24 Damit könne er Lehrentscheidungen treffen, auch wenn sie gegen oder über der Schrift ständen. Aus pfingstlicher Perspektive wäre es hilfreich, wenn die theologische Forschung stärker die historischen Rahmenbedingungen dieser Position Luthers berücksichtigen würde, mithin die zeitgeschichtliche Bedingtheit und damit auch Relativität herausstriche, um anhand tiefergehender theologischer Entwürfe Luthers eine neue Basis für die Rezeption von Elementen pfingstlicher Frömmigkeit zu schaffen.25  22 Ebd., 464. 23 Schmalkaldische Artikel, Teil 3,8. Von der Beichte, hier nach der

deutschen Textform in: BSLK 405-468.

24 Ebd.; vgl. auch U. Asendorf (Anm. 21), 30. 25 Beim Prinzip der Schriftbindung liegen durchaus Verbindungs-

linien zwischen Pfingstlern und Luther vor, bestehen doch auch

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In gewisser Weise stehen sich dagegen pfingstliche und katholische Spiritualität deutlich näher. Wenn der Katholizismus Lebensäußerungen des Heiligen Geistes auch unabhängig vom direkten Gebrauch des Wortes grundsätzlich für möglich hält und die Prüfung der so empfangenen Impulse unter kirchliche Autorität stellt, unter die Entscheidung des Apostolischen Stuhls, so geht der Pentekostalismus damit insofern konform, dass der Heilige Geist sich auf vielfältige Weise mitteilen möchte, nicht nur in Wort und Sakrament. Die Entscheidung über die Zulässigkeit der so empfangenen Wirkungen wollen Pfingstler aber nicht einer kirchlichen Autorität unterstellt sehen, sondern allein den Aussagen und den Grundlinien der Schrift, wie Luther. Grundlage pfingstlicher Überzeugungen zu Äußerungen des Heiligen Geistes jenseits von Schriftgebrauch und Ausübung der Sakramente, nicht aber jenseits von Schrift und Dogma, ist das mit Pfingsten angebrochene Zeitalter des Heiligen 

Pfingstler darauf, dass jedwede Geistwirkung an den Aussagen der Schrift zu prüfen ist (1 Kor 14,29; 1 Joh 4,1; 1 Thess 5,20f.; Gal 1,8), wenngleich damit auch deutlich wird, dass das initiative Moment der Inspiration nicht unbedingt im Betrachten der Schrift liegen muss. Nach pfingstlichem Verständnis ereignet sich der Charismenempfang eher in einer unmittelbaren Form, muss seine Validität jedoch anhand der Aussagen der Schrift erweisen. Gerhard Wehr verweist auf die These des italienischen Esoterikers und Kirchenkritikers Julius Evola, der einerseits eine „Horizontalverbindung“ des Menschen mit Gott und dem Geist beschreibt, die durch Amt, Dogma und Sakrament vermittelt wird, aber andererseits auch die Legitimität einer „Vertikalverbindung“ zu Gott anerkennt. Allerdings ist diese für Evola auf wenige Menschen beschränkt wie etwa den geistesmächtigen Görlitzer Schuster Jakob Böhme. Beide Verbindungslinien scheinen Pfingstlern angemessene Dimensionen für Geisterfahrungen zu sein, wenngleich sie der Esoterik freilich ablehnend gegenüberstehen und sich mit Evola auch in anderer Hinsicht keinesfalls identifizieren wollen; vgl. G. Wehr, Wesen und Legitimation christlicher Esoterik, in: R. Flasche / E. Geldbach (Hg.), Religionen, Geschichte, Ökumene. In Memoriam E. Benz, Leiden 1981, 105-115, hier 113.

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Geistes (vgl. Apg 2,16-17; 1 Kor 12,7-11; 1 Kor 14). Pfingstler glauben an eine täglich uns begleitende Führung durch den Heiligen Geist, an die Möglichkeit „Gottes Stimme“ zu hören. Auch wenn der Mensch, streng genommen und im Einklang mit Luther, nicht über eigene anthropologische Voraussetzungen verfügt, um von sich aus zu Gott „vorzustoßen“, so ist sein Mitwirken daran jedoch nicht zu leugnende Notwendigkeit. Der Mensch ist nicht rein passives Objekt der sich dann und wann äußernden Geistwirkung Gottes, sondern aufgerufen, aktiv in eine spirituelle Beziehung mit Gott einzutreten, wie es etwa Jak 4,8 nahelegt,26 in die dann auch unmittelbare Begegnungen mit Gott inkludiert sein können. In dieser Überzeugung berührt sich der Pentekostalismus mit dem Anliegen des Pietismus sowie monastischen Bewegungen mit ihrem Gebrauch von Exerzitien und geistlichen Übungen, die den Gläubigen empfänglich machen sollen für Gottes Wirken.27 Während in Mitteleuropa pfingstliche Impulse, auch aus den genannten Gründen, keine nennenswerte Rezeption in den Großkirchen gefunden haben, hat der Beitrag des 

26 „Suchet die Nähe Gottes, dann wird er sich euch nähern“ (EÜ). 27 Im Raum des Pietismus ist etwa an die Ratschläge Johann Arndts

zu denken, die durchaus als eine Form von Exerzitien bezeichnet werden können. In seinem „Paradiesgärtlein“ von 1612 betont Arndt, wie auch die augustinische Tradition, den Stufencharakter des Gebets, das uns immer näher in Gottes Gegenwart bringt, vergleichbar dem Hinaufsteigen der Himmelsleiter, die uns in Jakobs Traum gezeigt wird – ein beliebtes Bild der altkirchlichen Gebetspraxis. Arndt nennt folgende fünf Stufen: 1. Buße / Bußgebet; 2. Erneuerung – Bitte um den Empfang der Tugenden, damit unser Leben ein gelebtes Gebet sei; 3. Mit lauten kräftigen Seufzern beten, also inbrünstig und ergriffen; 4. Gebet mit großen Freuden; 5. Gebet „aus großer fewriger Liebe“, was einer Vereinigung mit Gott gleichkommt; vgl. J. Arndt, Paradiesgärtlein voller christlicher Tugenden. Wie solche zur Übung wahren Christenthums durch andächtige, lehrhaffte und trostreiche Gebete in die Seele zu pflanzen, Leipzig 1753, 20.

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Pentekostalismus und seiner Frömmigkeit fraglos breite Schichten der Bevölkerung Lateinamerikas und Afrikas für praktiziertes Christentum zurückgewinnen können. Dabei gelang es der pentekostalen Frömmigkeit, eine Symbiose mit kulturellen und mentalen Grundtendenzen der aufnehmenden Zielgruppe einzugehen und damit in gewisser Weise zu einer „Volksreligion“ zu werden.28 Dabei muss die theologische Dimension im Auge behalten werden, steht eine weitgehende Inkulturation doch meist in einem dialektischen Verhältnis zu theologischen Konsequenzen, was seit Beginn der neuzeitlichen christlichen Mission bekannt ist und wie es bereits in Form des Ritenstreites im 17. und 18. Jahrhundert  28 In einem Bericht über eine Tagung mit Prof. Dr. Samuel Escobar

(Eastern Baptist Seminary, Philadelphia) in Essen über die Pfingstbewegung in Lateinamerika konstatierte der Öffentlichkeitsreferent der Vereinigten Evangelischen Mission (VEM), Hermann Bollmann, bereits 1993, dass in Brasilien mehr Protestanten christliche Gottesdienste besuchen als Katholiken. 1993 waren Protestanten noch weit deutlicher in der Minderheit gegenüber der mehrheitlich katholischen Bevölkerung als heute, jedoch schon weitgehend pentekostalisiert. Escobar führt den Erfolg der Pfingstkirchen im Wesentlichen auf vier Gründe zurück: 1. Sie vermitteln eine unmittelbare Erfahrung mit Gott; 2. Sie verwirklichen das Prinzip des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen; 3. Die Pfingstpastoren kommen aus dem gleichen Milieu und der gleichen Bildungsschicht wie ihre Gemeindemitglieder; 4. Die Pfingstkirchen schaffen Gemeinschaft; vgl. H. Bollmann, Lateinamerika auf dem Weg zu einem protestantischen Kontinent? Samuel Escobar sprach in Essen, in: Schritte 5 (1993) 12-16. In Bezug auf Westafrika betont Paul Gifford dagegen, dass die Pfingstbewegung hinsichtlich der theologischen Dimension nur bedingt auf volkstümlichen Vorstellungen, etwa als Vorlage für die umstrittene Deliverance Praxis, aufbaut. Er weist nach, dass der starke Aufschwung der Deliverance-Theologie in den 1990er-Jahren in erster Linie auf Einflüsse aus den USA zurückzuführen ist und nur zum Teil auf indigene kulturelle Einflüsse; vgl. P. Gifford, The complex provenance of some elements of african pentecostal theology, in: A. Corten / R. Marshall-Fratani (Hg.), Between Babel und Pentecost. Transnational Pentecostalism in Africa and Latin America, Indianapolis 2001, 62-79, hier 74.

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zum Ausdruck kam.29 Dass aber auch die westliche Welt von pentekostaler Frömmigkeit profitieren kann, zeigt das Beispiel USA, aber auch das eher als atheistisch geltende Australien. Nach einer allerdings auf dünner Datenbasis beruhenden Umfrage des konservativen Meinungsforschungsinstitutes (Thinktank) Pew Research Center aus dem Jahre 2006 zählen sich zwar nur 5 % aller Amerikaner zu einer klassischen Pfingstkirche, weitere 18 % dagegen fühlen sich der charismatischen Bewegung zugehörig. Somit hat die Pfingstbewegung in den USA weitaus mehr Menschen in ihrer Frömmigkeit beeinflusst als sie selbst aufnehmen kann.30 Besonders einflussreich hinsichtlich der Verbreitung pfingstlicher Anbetungsformen ist seit den 1990er-Jahren die Hillsong Gemeinde in Sydney, Australien, zu der heute etwa 20.000 Mitglieder zählen. Ihre Lobpreiskultur und ihre Lieder sind weltweit absolut führend und werden in nahezu allen Ländern mit einem pfingstlich-charismatischen Spektrum rezipiert. Die Gemeinde gehört zur weltweit größten Pfingstkirche, den Assemblies of God, die sich in Australien von knapp 10.000 Mitgliedern im Jahre 1977 auf etwa 165.000 Mitglieder im Jahre 2004 

29 Den Jesuiten, deren China- und Ostasienmission seit Mitte des

16. Jahrhunderts als erste neuzeitliche Missionsbewegung gelten kann, warf man im „Ritenstreit“ infolge ihrer Bereitschaft, Konfuzius und seine Lehren als Vorläufer Christi anzusehen, eine Grenzüberschreitung zum Synkretismus vor. Jesuiten der Chinamission versuchten dabei auch, die Verehrung des Konfuzius wie auch teilweise der Ahnen auf eine Stufe mit der katholischen Heiligenverehrung zu stellen; vgl. dazu Th. Fuchs, Von der sinophilen Aufklärung zur Diskreditierung chinesischer Kultur. Funktion und Wandel des Chinabildes im frühneuzeitlichen Europa, in: Berliner China Hefte 17 (1999) 41-56. 30 Die Studie ist im Internet veröffentlicht und basiert für die USA auf einer Telefonumfrage mit insgesamt 739 Personen. Angaben, inwieweit die befragten Personen nach repräsentativen Kriterien ausgesucht wurden, werden nicht gemacht; vgl. www.pewforum.org/ Christian/Evangelical-Protestant-Churches/Spirit-and-Power.aspx

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entwickelt hat.31 Sowohl die Entwicklung der Hillsonggemeinde wie auch der gesamten Assemblies of GodKirche Australiens belegen, dass selbst in einem zumindest annähernd vergleichbaren kulturellen Umfeld nennenswerte Erneuerungen der Spiritualität, aber auch des gesamten christlichen Lebens im Bereich des Möglichen liegen. Auch die deutsche Hillsonggemeinde in Konstanz, die zum BFP gehört, erlebt seit ihrer Gründung im Jahre 2004 eine rasante Entwicklung. Begann die Gemeinde 2004 mit einem Hauskreis, besuchen heute bereits mehr als 300 Personen die wöchentlichen Gottesdienste, häufig junge Menschen und Studenten, die mit der herkömmlichen Spiritualität in den Großkirchen nichts anfangen können, hier aber eine ihnen adäquat erscheinende Ausdrucksform gefunden haben.32 Verschwiegen werden sollte jedoch nicht, dass die hier gelebte Spiritualität mit Bühnenshow und moderner Musik auch für manche Pfingstgemeinde eine innovative Herausforderung darstellt. In jedem Fall aber trifft sie den Nerv der Zeit und schafft die Symbiose zwischen postmoderner Jugendkultur und christlicher Frömmigkeit. In einer sich zunehmend diversifizierenden Gesellschaft muss sich Stil und Ausdruck selbstredend der jeweils unterschiedlichen Zielgruppe anpassen, es kann daher kein passendes Angebot für alle geben. Der pentekostale Grundansatz jedoch, der auf unmittelbare Gott- und Geisterfahrungen zielt, ist in einer wieder mehr nach religiösen Erfahrungen suchenden Zeit eine ernstzunehmende Chance. Da zudem pfingstlich-charismatische Frömmigkeit ein ökumenisches Allgemeingut und kein  31 Sh.J. Clifton, An Analysis of the Developing Ecclesiology of the As-

semblies of God in Australia, Dissertation an der Australian Catholic University in Fitzroy (Victoria) 2005, Appendix I: The Growth of the Assemblies of God in Australia, 295. Die Mitgliederzahl lag 1977 bei 9.446 und 2004 bei 166.408; ebd. 32 Vgl. www.hillsongkonstanz.de

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konfessionelles Eigen- oder Sondergut darstellt, liegt in der Entdeckung und Entfaltung dieser Spiritualität für jede christliche Kirche ein Schatz, der gehoben werden will.

ZUSAMMENFASSUNG Der Beitrag geht der Frage nach, inwieweit sich pfingstliche Frömmigkeit in einem historischen oder aktuellen Spannungsverhältnis zur gesamtkirchlichen Tradition und Wirklichkeit befindet. Im ersten Abschnitt wird dazu auf historische Kontinuitäten pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit innerhalb der gesamtkirchlichen Tradition hingewiesen, im zweiten Abschnitt auf die ökumenische Dimension derselben seit Aufbruch der charismatischen Bewegungen in den Traditionskirchen in den 1960er- und 1970er-Jahren. Der dritte Abschnitt widmet sich dem möglichen aktuellen Beitrag pfingstlicher Frömmigkeit zur Neubelebung der kirchlichen Spiritualität in Mitteleuropa und regt dabei eine Neuinterpretation konstitutiver Aussagen Martin Luthers an. Grundsätzlich kann von einer einheitlichen Spiritualität der Pfingstbewegung angesichts der Vielfalt des pentekostalen Spektrums zwar nicht die Rede sein,33 wohl 

33 Auch in Deutschland begegnet man einem mittlerweile stark auf-

gefächerten pfingstlich-charismatischen Spektrum, zu dem nicht nur die sogenannten klassischen Pfingstkirchen gehören, die zu großen Teilen im 1979 gegründeten Forum Freikirchlicher Pfingstgemeinden (FFP) lose zusammengeschlossen sind, sondern auch die charismatischen Bewegungen innerhalb der Traditionskirchen und der nichtpfingstlichen Freikirchen, wie sie seit Ausgang der 1960er-Jahre entstanden sind. Hinzu kommt seit Beginn der 1980er-Jahre ein mehr oder weniger unübersichtliches Feld „neopentekostaler“ Gruppierungen, das sich in zunehmendem Maße ausdifferenziert. Einen sachkundigen Überblick über das gesamte pfingstlich-charismatische Spektrum bieten: G. Schmid / G.O. Schmid (Hg.), Kirchen, Sekten, Religionen. Religiöse Gemeinschaf-

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aber von einer die Pfingstbewegung verbindenden Grundannahme, wie der Mensch in eine relevante Beziehung zu Gott treten und in derselben leben kann.



ten, weltanschauliche Gruppierungen und Psycho-Organisationen im deutschen Sprachraum, Zürich 72003.

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Von der Freiheit eines katholischen Christenmenschen Burkhard Neumann

1. Einleitung Dass ich mit dem Titel meines Beitrags auf Martin Luthers berühmte Freiheitsschrift aus dem Jahr 1520 anspiele, bedarf hier in diesem Kreis natürlich keiner weiteren Erklärung. Angesichts des Selbstverständnisses der Evangelischen Kirche in Deutschland als „Kirche der Freiheit“, wie es seit dem Impulspapier aus dem Jahr 2006 heißt,1 sieht man sich als katholischer Christ (und ich vermute, dass es den Mitgliedern sogenannter Freikirchen ähnlich geht) in besonderer Weise herausgefordert, über die Freiheit in und mit der eigenen Kirche nachzudenken.2 Dieser Spur möchte ich im Folgenden etwas nachgehen, nicht in Form eines systematischen und umfassenden Traktats über die christliche Freiheit und ihre Realisierung in der katholischen Kirche, sondern in der Wahrnehmung bzw. im Aufmerksam-Machen auf gewisse Punkte oder „Orte“, an denen im Glauben und im Leben katholischer Christen Freiheit präsent ist, sie mehr oder weniger ausdrücklich in den Blick kommt. Dass dabei auch mindestens indirekt eine Spannung zwischen diesen von mir vorgestellten „Orten“ der Freiheit einerseits und des tatsächlichen Umgangs mit der 

1 Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im

21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006; vgl. W. Huber, Im Geist der Freiheit. Für eine Ökumene der Profile, Freiburg i.Br. 2007. 2 Vgl. E. Schockenhoff, Theologie der Freiheit, Freiburg i.Br. 2007.

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Freiheit der Glaubenden in der katholischen Kirche andererseits deutlich werden kann, dürfte nur den überraschen, der nicht realisiert, dass eben diese Spannung zwischen dem, was Kirche tatsächlich ist, und dem, was sie ihrer Stiftung und ihrer Sendung entsprechend sein soll, zum bleibenden Wesen der irdischen Kirche gehört, und zwar aus einem doppelten Grund: Zum einen deshalb, weil die Kirche in ihrer sichtbaren, irdischen Gestalt immer nur „Zeichen und Werkzeug“3 der je größeren Gnade Gottes ist und bleibt und darum nicht identisch ist mit dem ihr bleibend vorausliegenden vollendeten Reich Gottes, und zum anderen, weil sie darüber hinaus als Kirche der Sünder immer neu an das „Werk der tatkräftigen Erneuerung und Reform“4 gehen muss. „Solange die Wiederkunft Christi noch aussteht, ist diese Kirche ja auch eine Gemeinschaft von Sündern, irdisch verfasst und rechtlich geordnet. Darum lebt sie in der Spannung zwischen Freiheit und Bindung.“5 Und, so darf man hinzufügen, muss sie immer neu darum ringen, in ihrer Gestalt wie in ihrem Leben von jener Freiheit Zeugnis abzulegen, die zum Kern des biblischen Glaubens gehört.



3 LG 1. 4 UR 4, vgl. LG 8; GS 21. 5 G. Feige, Gnadengewirkte Freiheit und Weite in der katholischen

Kirche. Statement beim Evangelischen Kirchentag in Bremen zur Einheit „Wie der Geist wirkt – Geist der Freiheit, Geist der Ordnung“ des Podiums „Die Sache Jesu braucht BeGEISTerte“ am 22. Mai 2009; in: ders., Auf ökumenischer Spur. Studien – Artikel – Predigten. Zum 60. Geburtstag von Bischof Dr. Gerhard Feige hg. v. J. Oeldemann, Münster 2011, 267-271, hier 269.

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2. Freiheit als biblische Grunderfahrung Denn zweifelsohne ist die Erfahrung der von Gott geschenkten Freiheit (auch wenn sie in andere Begriffe gefasst wird) eine der biblischen Grunderfahrungen6 und kann darum der christliche Glaube unter diesem Leitwort der Freiheit verstanden und gedeutet werden.7 Angefangen von der zentralen alttestamentlichen Erfahrung des Exodus, der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten (vgl. Ex 20,2), bis hin zu der programmatischen Aussage des Paulus: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1), wird diese Freiheit immer als eine von Gott bzw. bei Paulus von Christus und seinem Geist (vgl. 2 Kor 3,17) ermöglichte Freiheit wahrgenommen, die darum nicht in die Beliebigkeit oder in die moralische Ungebundenheit hineinführt, sondern als Freiheit von der Sünde und vom Tod und damit von allen gottwidrigen Mächten den Gehorsam gegenüber Gott (vgl. 1 Petr 2,16) und untrennbar davon die Nächstenliebe als den „Maßstab wahrer Freiheit“8 zur Folge hat (vgl. 1 Kor 8,713; Röm 13,8f.; 14,15-19).9 Und insofern kann Luthers paradoxe Formulierung in seiner Freiheitsschrift von 1520 tatsächlich als bündige Zusammenfassung des christlichen Freiheitsverständnisses dienen: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und nie-



6 Vgl. den Überblick bei J. Eckert, Art. Freiheit II. Biblisch, in: LThK3

4 (1995) 99f.; ferner E. Schockenhoff (Anm. 2), 193-247.

7 Vgl. beispielsweise W. Beinert, Das Christentum. Atem der Frei-

heit, Freiburg i.Br. 2000.

8 J. Eckert (Anm. 6), 99. 9 Vgl. Th. Söding, Die Freiheit des Glaubens. Konkretionen der So-

teriologie nach dem Galaterbrief, in: W. Kraus / K.-W. Niebuhr (Hg.), Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie, Tübingen 2003 (WUNT 192), 113-134.

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mandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“10

3. Kirche als „Sakrament der Freiheit“ Wenn das so ist, dann darf man die Kirche auch als „Zeichen und Werkzeug der Freiheit“11 und damit als „Sakrament der Freiheit“12 bezeichnen (denn nichts anderes meinen ja die beiden Begriffe des „Zeichens“ und des „Werkzeugs“13). Und Walter Kasper konkretisiert das folgendermaßen: „Die Kirche muss als göttliche Institution zugleich eine Institution menschlicher und christlicher Freiheit sein und als solche Modellcharakter besitzen.“14 Die Herausforderung in dieser Bestimmung liegt wohl weniger in der Aussage an sich, sondern darin, wie die beiden Begriffe der Freiheit, die menschliche und die christliche Freiheit, inhaltlich gefüllt werden, und dies gerade angesichts der neuzeitlichen Geschichte der Freiheit im gesellschaftlichen, politischen und ethischen Bereich. Und man kann wohl sagen, dass eine der gro

10 M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), hier

11 12 13 14

zit. nach: ders., Ausgewählte Schriften. Hg. v. K. Bornkamm u. G. Ebeling. Bd. 1: Aufbruch zur Reformation, Frankfurt a.M. 1982, 239-261, hier 239 (WA 7,20); vgl. dazu u.a. H.-M. Barth, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009, 299-321. Zur Differenz von Luthers Freiheitsverständnis zum Freiheitsverständnis der Neuzeit vgl. O. Bayer, Zweierlei Freiheit. Reformatorisches und neuzeitliches Verständnis: eine notwendige Unterscheidung, in: zeitzeichen 13 (2012/2) 16-19. W. Kasper, Art. Kirche III. Systematisch-theologisch, in: LThK3 5 (1996) 1465-1474, hier 1471; vgl. G. Feige (Anm. 5), 268f. H. Windisch, Art. Freiheit VI. Praktisch-theologisch, in: LThK3 4 (1995) 106f., hier 106. Vgl. LG 1. W. Kasper (Anm. 11), 1467.

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ßen Frontlinien innerhalb der katholischen Kirche der Gegenwart dadurch gekennzeichnet ist, wie man zu dieser neuzeitlichen Freiheitsgeschichte steht und wie man ihre verschiedenen Aspekte bewertet. Denn unbestritten, und damit bin ich bei meinem nächsten Punkt, zeigt sich Freiheit immer in einer Ambivalenz, die entsprechende Unterscheidungen und Wertungen notwendig macht.

4. Die Ambivalenz der Freiheit Wie alles, was Menschen in die Hand bekommen, kann auch die Freiheit missverstanden und missbraucht werden. Im Blick auf die christliche Botschaft musste ja bereits Paulus darauf hinweisen, dass die in Christus geschenkte Freiheit nicht „zum Vorwand für das Fleisch“ (Gal 5,13) genommen werden darf. Und diese Versuchung, Freiheit nicht als Hinwendung zum Guten zu verstehen, christlich gesprochen als die in Christus ermöglichte freie Hinwendung zu Gott und untrennbar davon zum Dienst am Nächsten, sondern als Zügellosigkeit, mit der einem alles erlaubt wird, taucht in der Geschichte der Freiheit immer wieder auf. Dementsprechend kennzeichnet diese ambivalente Wahrnehmung der Freiheit das Nachdenken über sie, und zwar nicht nur im religiösen, sondern auch im philosophischen, gesellschaftlichen und politischen Bereich.15 „Die Freiheit als Sehnsucht hatte eine verlockende Kraft, sie war ungeschmälert schön. Die Freiheit als Wirklichkeit ist nicht nur Glück, sondern auch Beschwernis“16 – so das Fazit angesichts der Sehnsucht nach Freiheit in 

15 Vgl. E. Schockenhoff (Anm. 2), 12-23. 16 J. Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen.

In Zusammenarbeit mit H. Hirsch, München 72009, 336.

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der DDR und ihrer Verwirklichung im wiedervereinigten Deutschland, das Joachim Gauck in seinen Erinnerungen zieht. Und wenig später fügt er hinzu: „Ganz offensichtlich gibt es keine ungestörte Beziehung zur Freiheit. Schon ihre zwei Gesichter mögen uns verwirren. Eines erweckt Vertrauen – es verspricht Selbstverwirklichung, Gestaltungsmöglichkeiten, Zukunft. Es lässt in der Begegnung und der Nähe zum Mitmenschen Empathie und Verantwortung wachsen, das Grundelement moralischen Verhaltens. Das andere Gesicht der Freiheit hingegen lässt uns erschrecken – wenn es als Raubtierkapitalismus, nacktes Kalkül, Gruppenegoismus, als unethischer Forschungseifer letztlich den Egoismus fördert und die Solidarität und das Mitleid mit den Anderen neutralisiert. Das Erschrecken über diese Seite der Freiheit ist letztlich ein Erschrecken über uns, über das destruktive Potential in uns.“17 So positiv besetzt der Begriff der Freiheit in unserer Zeit auch ist, so kann die Freiheit eben auch entstellt und missbraucht und letztendlich in ihr Gegenteil verkehrt werden, in eine Bindung, die die wahre Freiheit nicht befördert, sondern sie vielmehr unterdrückt und versklavt. In diesem Sinne ist der christliche Glaube immer neu herausgefordert, das Wesen der Freiheit als die von Gottes Gnade ermöglichte freie Bindung an Gott und den Nächsten und dementsprechend Gottes Weisung als Weg in die Freiheit deutlich zu machen.

5. Die Anfrage: Kirchlicher Gehorsam als Gestalt der Freiheit? Insofern gehören Freiheit und Bindung, Freiheit und Dienst untrennbar zusammen. Diese Spannung konkre 17 Ebd., 341.

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tisiert sich in der katholischen Kirche vor allem in der Spannung zwischen Freiheit und Gehorsam gegenüber der Kirche.18 Zugegebenermaßen sehr verkürzt und entsprechenden Missverständnissen ausgesetzt darf man wohl sagen, dass die katholische Lehre und damit verbunden die katholische Frömmigkeit bis in die Neuzeit hinein vom Gehorsam her auf die Freiheit hin denken. Im Gehorsam gegenüber Gott und gegenüber Christus, der sich im Gehorsam gegenüber der Kirche konkretisiert, findet der katholische Christ seine Freiheit. Beispielhaft scheint sich das an der katholischen „Gegengestalt“ zu Martin Luther zu zeigen, nämlich an Ignatius von Loyola, dem Gründer des Jesuitenordens. In den Regeln zur kirchlichen Gesinnung in den „Geistlichen Übungen“, dem Exerzitienbuch, lautet die berühmt-berüchtigte dreizehnte Regel folgendermaßen: „Wir müssen immer festhalten, um in allem das Rechte zu treffen: Von dem Weißen, das ich sehe, glauben, dass es schwarz ist, wenn die hierarchische Kirche es so bestimmt, indem wir glauben, dass zwischen Christus unserem Herrn, dem Bräutigam, und der Kirche, seiner Braut, der gleiche Geist ist, der uns leitet und lenkt zum Heil unserer Seelen.“19  18 Vgl. M. Theobald u.a., Art. Gehorsam, in: LThK3 4 (1995) 358-

364; B.J. Hilberath, Eine Theologie des Gehorsams aus römischkatholischer Sicht, in: US 61 (2006) 103-119, sowie den bisher unveröffentlichten Beitrag von K. Rahner, Über den der Kirche schuldigen Gehorsam des Christen, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 10: Kirche in den Herausforderungen der Zeit. Studien zur Ekklesiologie und zur kirchlichen Existenz. Bearb. v. J. Heislbetz u. A. Raffelt, Freiburg i.Br. 2003, 667-695. 19 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen Nr. 365, in: ders., Deutsche Werkausgabe Bd. 2: Gründungstexte der Gesellschaft Jesu. Übers. v. P. Knauer, Würzburg 1998, 266. Zur Interpretation dieser Regel und damit zusammenhängend zum Verständnis des Gehorsams bei Ignatius vgl. ebd., Anm. 88 sowie W. Kern, Die paradoxe Freiheit der Jesuiten, in: Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu. Hg. v. M. Sievernich SJ u. G. Switek SJ, Frei-

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Hier scheint auf den ersten Blick jener uneingeschränkte und vor allem auch unreflektierte Gehorsam des katholischen Christen gegenüber der Kirche eingefordert zu werden, wie er sich weithin in der Aufteilung zwischen der „lehrenden“ und der „hörenden“ Kirche zeigte und wie er bis heute für viele Menschen das Zerrbild katholischen Christseins prägt („Ich glaube alles, was die Kirche sagt, egal, ob es wahr ist oder falsch“). Kann man dann aber als katholischer Christ noch frei sein, wenn man auf die Aussage der Kirche hin das als schwarz annimmt, was man selber als weiß sieht? Und wird nicht gerade in der Betonung des Gehorsams, wie ihn Ignatius ja auch an anderer Stelle deutlich einfordert,20 dieser Gehorsam zur eigentlichen Tugend des katholischen Christen, demgegenüber reformatorische Lehre alles Recht hat, die biblisch bezeugte Freiheit des Glaubens einzufordern? Wie so oft sind die Dinge, schaut man genauer hin, etwas komplizierter, als es solche Schlagworte suggerieren. Bereits ein Blick auf die Persönlichkeit des Ignatius selber lässt erkennen, dass er durchaus bereit ist, um 

burg i.Br. 21991, 683-696; J.G. Gerhartz, „Sentire cum ecclesia“. Kirchliche Gesinnung im Geist der Regeln des hl. Ignatius, in: GuL 67 (1994) 15-28; A. Lefrank, Freiheit in Gehorsam. Kirchlichkeit bei Ignatius von Loyola, in: Zur größeren Ehre Gottes. Ignatius von Loyola neu entdeckt für die Theologie der Gegenwart. Hg. v. Th. Gertler SJ / St.Ch. Kessler SJ / W. Lambert SJ, Freiburg i.Br. 2006, 160-179; K. Mertes, Widerspruch aus Loyalität, Würzburg 2009 (Ignatianische Impulse 39), 23-25; G. Sans, Kriterien der kirchlichen Gesinnung bei Ignatius von Loyola, in: GuL 83 (2010) 445458. 20 Vgl. etwa den Brief vom 26. März 1553 an die Ordensgenossen von Portugal und die gesamte Gesellschaft Jesu in: Ignatius von Loyola, Deutsche Werkausgabe Bd. 1: Briefe und Unterweisungen. Übers. v. P. Knauer, Würzburg 1993, 458-469 mit den Erläuterungen von P. Knauer sowie die Einleitung zu diesem Brief von G. Greshake in: Quellen geistlichen Lebens. Bd. III: Die Neuzeit. Hg. u. eingel. v. G. Greshake u. J. Weismayer, Mainz 1989, 59.

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den eigenen, als richtig erkannten Weg in der Kirche zu kämpfen und dass er auch vor Kritik an der kirchlichen Autorität nicht zurückscheut.21 Bevor ich aber auf die Frage nach dem Verhältnis von Gehorsam und Freiheit unter den Bedingungen der Gegenwart näher eingehe, möchte ich auf zwei andere, miteinander zusammenhängende Punkte hinweisen, die sozusagen als Gegenanzeigen gegenüber diesem ersten Eindruck wahrgenommen werden können, weil sie für die Rolle der Freiheit im katholischen Glauben und Leben relevant sind.

6. Zwei theologische Gegenanzeigen a) Das Verhältnis von Gnade und Freiheit Die erste Gegenanzeige ist die (übrigens nicht nur kontroverstheologisch, sondern auch innerlutherisch relevante) Debatte um das Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit. In den kontroverstheologischen Auseinandersetzungen seit der Reformationszeit hat die römisch-katholische Lehre gegenüber der (angeblichen) Ansicht der Reformatoren und der reformatorischen Kirchen bei allem Wissen um die Notwendigkeit der Gnade Gottes für das Heil22 die Freiheit zum Glauben und die Freiheit im Glauben immer wieder vertei

21 K. Mertes (Anm. 19), 24: „Ein Blick auf seine Praxis zeigt, dass er

das offene Wort gegenüber Autoritäten durchaus führte, sogar in Anwesenheit der Vorgesetzten und des Volks, also öffentlich.“; vgl. ebd., 54-59. 22 Vgl. das Dekret über die Ursünde des Konzils von Trient, das dem Rechtfertigungsdekret vorausgeht: DH 1510-1516 und DH 1521 im Dekret und DH 1551-1553 in den canones über die Rechtfertigungslehre.

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digt.23 Es gehörte darum auch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zum kontroverstheologischen Arsenal römisch-katholischer Theologie, gegenüber einer Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes, wie man sie bei den Reformatoren zu finden glaubte, explizit die Freiheit des Menschen geltend zu machen.24 Diese Freiheit wurde immer als Teil seines von Gott geschaffenen Wesens betrachtet, der auch durch die Sünde nicht restlos aufgehoben ist, weshalb der Mensch der Gnade in Freiheit zustimmen muss bzw. sie ablehnen kann, ohne dass dadurch geleugnet wurde, dass diese Freiheit der Zustimmung zu Gott ganz von der Gnade getragen und ermöglicht ist. Das Bemühen, das Verhältnis beider Größen, der Gnade Gottes und der menschlichen Freiheit, in ihrer rechten Zuordnung zueinander zu bestimmen, findet in der katholischen Theologie der Neuzeit seinen vorläufigen Höhepunkt in dem sogenannten „Gnadenstreit“, der im Jahr 1607 sein Ende darin findet, dass der um Entscheidung angerufene Papst Paul V. keiner Partei Recht gibt, sondern die theologische Diskussion über diese Frage offen lässt.25 Bis heute zeigt sich diese besondere Beto

23 Vgl. K. Rahner, Art. Freiheit III. Kirchliches Lehramt, in: LThK2 4

(1960) 331f.

24 Für Franz Anton Staudenmaier (1800-1856) beispielsweise liegt

die Grunddifferenz zwischen katholischer und protestantischer Lehre in der Stellung zur Willensfreiheit: Während die katholische Lehre dem Menschen die sittliche Freiheit zuspricht, wird diese seiner Auffassung nach von der protestantischen Lehre abgelehnt. „In dieser ersten Unwahrheit haben alle übrigen Irrtümer ihren Ursprung“ (F.A. Staudenmaier, Zum religiösen Frieden der Zukunft, mit Rücksicht auf die religiös-politische Aufgabe der Gegenwart. Erster Theil. Der Protestantismus in seinem Wesen und seiner Entwicklung. Erster Theil, Freiburg i.Br. 1846. Nachdr. Frankfurt a.M. 1967, 150). 25 Vgl. DH 1997 und 1997a; L. Scheffczyk, Art. Gnadenstreit, in: LThK3 4 (1995) 797f.; G. Kraus, Gnadenlehre – das Heil als Gna-

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nung der Freiheit im Kontext der Gnade in zahlreichen neueren Entwürfen katholischer Anthropologie oder Gnadenlehre, die den Begriff der Freiheit häufig auch im Titel führen.26 Wohl am deutlichsten geschieht dies gegenwärtig im Denken des Münsteraner Theologen Thomas Pröpper, der die Freiheit ausdrücklich als philosophisches Prinzip der Dogmatik versteht27 und der (zusammen mit seinen Schülern) von da aus das gesamte System der katholischen Lehre neu zu denken versucht.28 Dabei bleibt es bis heute Gegenstand der Diskussion, ob das Verhältnis beider Größen, der umfas

de, in: W. Beinert (Hg.), Glaubenszugänge. Lehrbuch der Katholischen Dogmatik. Bd. 3, Paderborn 1995, 159-305, hier 253-257. 26 Vgl. beispielhaft O.H. Pesch, Frei sein aus Gnade. Theologische Anthropologie, Freiburg i.Br. 1983; K.-H. Menke, Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre, Regensburg 2003; G. Greshake, Gnade – Geschenk der Freiheit. Eine Hinführung, Regensburg 2004; E.-M. Faber, Du neigst dich mir zu und machst mich groß. Zur Theologie von Gnade und Rechtfertigung, Regensburg 2005, bes. 50-79. 27 Vgl. Th. Pröpper, Freiheit als philosophisches Prinzip der Dogmatik. Systematische Reflexionen im Anschluss an Walter Kaspers Konzeption der Dogmatik, in: E. Schockenhoff / P. Walter (Hg.), Dogma und Glaube. Bausteine für eine theologische Erkenntnislehre. FS W. Kasper, Mainz 1993, 165-192. 28 Vgl. Th. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 31991; ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i.Br. 2001; ders., Theologische Anthropologie, Freiburg i.Br. 2011. Zur Diskussion um diesen Ansatz und vor allem zu dem ihm zugrunde liegenden Freiheitsbegriff vgl. u.a. P. Platzbecker, Radikale Autonomie vor Gott denken. Transzendentalphilosophische Glaubensverantwortung in der Auseinandersetzung zwischen Hansjürgen Verweyen und Thomas Pröpper, Regensburg 2003 (ratio fidei 19); K. Müller / M. Striet (Hg.), Dogma und Denkform. Strittiges in der Grundlegung von Offenbarungsbegriff und Gottesgedanke, Regensburg 2005 (ratio fidei 25); Th.P. Fößel, Freiheit als Paradigma der Theologie? Methodische und inhaltliche Anfragen an das Theoriekonzept von Thomas Pröpper, in: ThPh 82 (2007) 217-251 sowie J. Werbick, Gott verbindlich. Eine theologische Gotteslehre, Freiburg i.Br. 2007, 405-407; 446-469.

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senden Gnade Gottes und der von ihr befreiten Freiheit des Menschen theologisch grundsätzlich lösbar ist29 oder ob es sachlich offen bleiben muss, weil es „nur der höchste Fall der Unbegreiflichkeit der Koexistenz von absolutem Sein Gottes und echter Seiendheit der Kreatur ist, einer Unbegreiflichkeit, die bleibend sein muss, soll Gott Gott sein“.30 b) Gewissen und Freiheit Mit dieser Betonung der Freiheit des Menschen im Geschehen der Rechtfertigung und auf dem Weg des Glaubens verbindet sich als zweite „Gegenanzeige“ die katholische Lehre vom Gewissen.31 „Nur frei kann der Mensch sich zum Guten hinwenden“ – so heißt es in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ in der Nr. 17, die auf das menschliche Gewissen zu sprechen kommt. Und weiter wird festgehalten: „Die Würde des Menschen verlangt daher, dass er in bewusster und frei

29 Vgl. G. Kraus (Anm. 25), 272-275; K.-H. Menke (Anm. 26), 156-

183; M. Greiner, Gottes wirksame Gnade und menschliche Freiheit. Wiederaufnahme eines verdrängten Schlüsselproblems, in: Th. Pröpper, Theologische Anthropologie (Anm. 28). Bd. 2, 13511436. 30 K. Rahner / H. Vorgrimler, Art. Gnadensysteme, in: dies., Kleines theologisches Wörterbuch, Freiburg i.Br. 101976, 160; vgl. E.-M. Faber, Art. Gnade VI. Systematisch-theologisch, in: LThK3 4 (1995) 779-785, hier 783; zur ökumenischen Sachlage vgl. D. Sattler, Libertas caritate formata. Ökumenische Wege der Erkundung göttlicher und menschlicher Freiheit, in: M. Böhnke u.a. (Hg.), Freiheit Gottes und der Menschen. FS Th. Pröpper, Regensburg 2006, 81106; H. Wagner, Das Verständnis von Freiheit zwischen den Konfessionen. Von der Kontroverse (Luthers „De servo arbitrio“, 1525) zum „differenzierten Konsens“ der Gemeinsamen Erklärung (1999), in: ebd., 71-79. 31 Vgl. dazu J. Eckert u.a., Art. Gewissen, in: LThK3 4 (1995) 620627; Katholischer Erwachsenen-Katechismus. Zweiter Band: Leben aus dem Glauben. Hg. v. der Deutschen Bischofskonferenz, Freiburg i.Br.-Kevelaer 1995, 119-144.

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er Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder bloßem äußerem Zwang.“32 In Verbindung mit der klassischen Lehre von der Verbindlichkeit auch des irrenden Gewissens, die Konrad Hilpert als „das bemerkenswerteste Element der traditionellen Lehre“33 vom Gewissen bezeichnet hat, hat diese Überzeugung in einem langen und nicht immer einfachen Prozess schließlich zur ausdrücklichen Anerkennung der Religionsfreiheit als einem zentralen Grundrecht des Menschen geführt. Die Erklärung des Konzils zur Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ hat diese Lehre für die römisch-katholische Kirche verbindlich festlegt, und sie ist seitdem von den Päpsten immer wieder in ihrer Bedeutung herausgestellt und eingefordert worden.34 In dieser Lehre vom Gewissen spiegelt sich die Überzeugung wider, dass der Mensch nur in Freiheit glauben kann. Wie alle sittlichen Entscheidungen kann auch die Entscheidung für den Glauben an Gott nur in Freiheit geschehen.35 Das hat verschiedene Konsequenzen, von denen ich einige nennen möchte. 

32 An der unterschiedlichen Bewertung dieses Abschnitts des Konzils

lassen sich die unterschiedlichen Positionen innerhalb der katholischen Kirche im Blick auf das neuzeitliche Freiheitsverständnis anschaulich machen, vgl. einerseits J. Ratzinger, Kommentar zum I. Kapitel, in: LThK.E 3, 313-354, hier 331-333 und demgegenüber H.-J. Sander, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: HThK Vat.II Bd. 4, 581-869, hier 733 mit Anm. 62. 33 K. Hilpert, Art. Gewissen II. Theologisch-ethisch, in: LThK3 4 (1995) 621-626, hier 625. 34 Vgl. N. Schwerdtfeger, Ökumene für ein Recht der Person. Die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ und ihr historischer Kontext, in: Cath(M) 65 (2011) 273-290. 35 Vgl. M. Striet, Der Sprung in die Gegenwart. Vierzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: CiG 57 (2005) Nr. 50, 413f., hier 414: „Nur wer frei glaubt, glaubt auch.“

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Zum einen gilt darum für die Verkündigung des Evangeliums in allen Bereichen, nach innen wie nach außen hin, dass sie auf diese Freiheit hinzielen muss und sie entsprechend zu respektieren hat, was darum jeden Zwang und jede Form der Manipulation ausschließen muss.36 Darüber hinaus hängen, wenn die Freiheit für den persönlichen Glauben unerlässlich ist, religiöse und gesellschaftliche Freiheit eng zusammen. Der Erfurter Bischof Joachim Wanke hat das einmal so ausgedrückt: „Nur in der Freiheit sind wahre sittliche Entscheidungen möglich. Insofern ist jeder Zugewinn an Freiheit, auch an gesellschaftlicher Freiheit, ein Fortschritt für die Verkündigung und die mögliche Annahme des Evangeliums. Was (auch seelsorglich gesehen) nicht in der Freiheit gedeihen kann, gedeiht überhaupt nicht.“37 Und schließlich gehört zu einer solchen verantworteten Entscheidung die Bildung des Gewissens als die „Königsaufgabe aller Erziehung“38 hinzu. Ihre zentrale Aufgabe ist demnach „der Erwerb der Kompetenz zu Gewissensentscheidungen im Laufe der Erziehung und des Lernens während der Lebens-Geschichte als Entfaltung einer Anlage zu tatsächlichem moralischem Wissen“.39 Innerhalb dieses letztendlich lebenslangen Prozesses der Gewissensbildung kommt nach katholischer Überzeugung dem Lehramt der Kirche eine wesentliche und unaufgebbare Funktion zu. Aber diese Funktion kann und 

36 Vgl. B. Neumann, „Sie sollen eins sein, damit die Welt glaubt!“.

Ökumenische Überlegungen im Blick auf eine missionarische Pastoral, in: ThG 54 (2011) 14-26, hier 17f. 37 J. Wanke, Deutschland als Missionsland – gibt es Antworten?, in: ders., Neue Herausforderungen – bleibende Aufgaben. Beiträge zur Pastoral in postsozialistischer Zeit, Leipzig 1995, 16. 38 A. Schavan, Art. Gewissen III. Praktisch-theologisch, in: LThK3 4 (1995) 626f., hier 626. 39 K. Hilpert (Anm. 33), 625.

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will die eigene Gewissenentscheidung nicht aufheben oder ersetzen, sondern sie ist Teil jener Bildung, die zu einer verantworteten Gewissensentscheidung hinführen will. In diesem Sinne gilt bis heute jenes viel zitierte Wort John Henry Newmans aus seinem Brief an den Herzog von Norfolk aus dem Jahr 1874: „Wenn ich genötigt wäre, bei den Trinksprüchen nach dem Essen ein Hoch auf die Religion auszubringen (was freilich nicht ganz das Richtige zu sein scheint), dann würde ich trinken – freilich auf den Papst, jedoch zuerst auf das Gewissen und dann erst auf den Papst.“40

7. Freiheit und kirchlicher Gehorsam heute Kommen wir von daher noch einmal auf das Verhältnis von Freiheit und kirchlichem Gehorsam zurück. Nach Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils ist die Wahrnehmung der Freiheit eines der „Zeichen der Zeit“, das die Kirche zu erkennen und „im Licht des Evangeliums zu deuten“ hat: „Niemals hatten die Menschen einen so wachen Sinn für die Freiheit wie heute, und gleichzeitig entstehen neue Formen von gesellschaftlicher und psychischer Knechtung.“41 Und es fügt an an

40 J.H. Newman, Kirche und Gewissen. Ein Brief an seine Gnaden,

den Herzog von Norfolk, anlässlich der jüngst erschienenen Beschwerdeschrift Mr. Gladstones, in: ders., Polemische Schriften. Abhandlungen zu Fragen der Zeit und der Glaubenslehre. Übers. v. M.E. Kawa u. M. Hofmann, Mainz 1959 (Ausgewählte Werke 4), 113-253, hier 171; vgl. dazu L. Kuld, „Zuerst das Gewissen, dann erst der Papst“. Religion und Gewissen bei John Henry Newman, in: BiHe Nr. 124 (1995) 96-98. 41 GS 4. Zum Verständnis des Ausdrucks „Zeichen der Zeit“ vgl. Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute. Hg. v. P. Hünermann in Verb. mit B.J. Hilberath u. L. Boeve, Freiburg i.Br. 2006.

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derer Stelle hinzu, dass die Menschen von heute „mit Recht“42 die Freiheit hochschätzen und erstreben. Diese Wahrnehmung und Achtung der Freiheit muss sich darum auch auf die Kirche auswirken, gerade wenn sie, wie oben gesagt, tatsächlich – in aller Vorläufigkeit und Begrenztheit – „Zeichen und Werkzeug der Freiheit“ sein soll und sein will. Dann scheint aber ein grundlegender Wandel in der Perspektive in der Zuordnung von Freiheit und kirchlichem Gehorsam notwendig zu sein. Denn zweifellos hat sich mit dieser Wahrnehmung der Freiheit ja auch das neuzeitliche Verständnis des Gehorsams gewandelt, und somit kann er nicht mehr undifferenziert und vor allem auch gesellschaftlich und politisch nicht mehr selbstverständlich „als Zusammenfassung und Grundhaltung christlicher Existenz sowohl vor Gott als auch in den Ordnungen des sozialen Miteinanders“43 verstanden werden. Um das deutlich zu machen, nenne ich eine Wahrnehmung des Schriftstellers Peter Schneider im Blick auf die mit dem Jahr 1968 verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen: „Die wichtigste Errungenschaft der 68er-Bewegung in Deutschland bleibt, dass sie massenhaft – und vielleicht für immer – mit der Kultur des Gehorsams gebrochen hat.“ Und er fügt unmittelbar hinzu (und macht damit wieder die Ambivalenz der Freiheit deutlich): „Ihre größte Sünde war, dass ihre Anführer nach einem basisdemokratischen und freiheitlichen Aufbruch am Ende einer im Kern antidemokratischen Doktrin erlagen und vor den Verbrechen ihrer revolutionären Vorbilder – in Kuba, in Vietnam, in Kambodscha und in China – die Augen schlossen.“44 Ähnlich hat der Schrift

42 GS 17. 43 K. Hilpert, Art. Gehorsam III. Theologisch-ethisch, in: LThK3 4

(1995) 360-362, hier 360.

44 P. Schneider, Rebellion und Wahn. Mein ’68, Köln 2008, 278.

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steller Uwe Timm in seinem eindrücklichen Buch „Am Beispiel meines Bruders“ den im Dritten Reich fehlenden „Mut, nein zu sagen, zu widersprechen, Befehle zu verweigern“ anstelle des in Deutschland erwarteten und anerkannten Mutes, „dessen Voraussetzung Gehorsam war“, beklagt.45 Eine unreflektierte, bloße Einforderung kirchlichen Gehorsams, die diese radikale Wandlung in der Bewertung von Gehorsam nicht wahrnimmt, wird darum schlicht und einfach ins Leere laufen oder kontraproduktiv sein. Die Herausforderung, die ich hier natürlich nur benennen kann, besteht darum darin, um das oben genannte Schlagwort aufzunehmen, nun umgekehrt von der christlichen Freiheit her auf den (kirchlichen) Gehorsam oder, wie man vielleicht besser sagen sollte, auf die Bindung46 bzw. die Loyalität mit der Kirche hin zu denken.47 

45 U. Timm, Am Beispiel meines Bruders, in: ders., Am Beispiel ei-

nes Lebens. Autobiographische Schriften, Köln 2010, 23-179, hier 166f.: „Der Wunsch, sie – der Bruder, der Vater – hätten sich so verhalten wie jener deutsche Offizier, der sich auf der Straße seiner Heimatstadt in Uniform mit einem befreundeten Juden zeigte, zu einer Zeit, als die Juden durch den Stern gebrandmarkt wurden. Der Offizier wurde unehrenhaft aus dem Heeresdienst entlassen. Sein Beispiel wird in dem Buch Die Wehrmacht von Wolfram Wette beschrieben. Ein mutiger Offizier. Aber ein so ganz anderer Mut als der in Deutschland erwartete, der sich immer im Verband mit anderen beweisen musste, dessen Voraussetzung Gehorsam war, eine der preußischen Tugenden, die den Mut zur Gewalt einschloss, Gewalt gegen andere, Gewalt auch gegen sich selbst, die standen, die haben den inneren Schweinehund besiegt, der Mut zu töten, der Mut, sich töten zu lassen. Was nicht galt, war der Mut, nein zu sagen, zu widersprechen, Befehle zu verweigern. Hätte nur jeder darauf verzichtet, Karriere zu machen. Die groteske Verachtung gegenüber den Offizieren und Soldaten, die im Widerstand waren, und die Verachtung für jene, die desertiert waren.“ 46 Vgl. J. Ratzinger, Freiheit und Bindung in der Kirche, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 8/1: Kirche – Zeichen unter den Völkern.

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Insofern muss man zum einen deutlich machen, dass nach christlicher Überzeugung „Gehorsam nur in Freiheit und bleibender Verantwortung für das eigene Tun möglich [ist]. Ich bleibe auch als Gehorchender für das, was ich im Gehorsam tue, selbst verantwortlich!“48 Zum anderen kann wahrer Gehorsam in der Kirche auch Widerspruch bedeuten. „Widerspruch aus Loyalität ist ein Dienst an jeder Gemeinschaft, die lebendig bleiben will.“49 Die konkrete Geschichte der Kirche zeigt ja immer wieder, dass notwendige Reformen aus solchem loyalen Widerspruch aufbrechen, der gerade aus dem rechten Gehorsam gegenüber dem Evangelium entsteht. Niemand anderer als Joseph Ratzinger hat daran erinnert, „dass der Freimut eine der im Neuen Testament am meisten genannten Grundhaltungen des Christenmenschen ist“.50 Und er fügt hinzu: „Die Kirche braucht den Geist der Freiheit und der Freimütigkeit mitten in ihrer Bindung an das Wort: ‚Löscht den Geist nicht aus‘ (1 Thess 5,19) – das gilt zu allen Zeiten.“51 Und – so darf man sicherlich hinzufügen – es hat auch und gerade heute seine Aktualität nicht verloren.

 47

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51

Schriften zur Ekklesiologie und Ökumene, Freiburg i.Br. 2010, 428-447. Vgl. K. Rahner, „Löscht den Geist nicht aus“ (1962), in: ders., Schriften zur Theologie. Bd. 7: Zur Theologie des geistlichen Lebens, Einsiedeln 21971, 77-90. Th. Gertler, Freiheit aus Entschiedenheit. Chancen des Christseins in einer pluralistischen Welt, in: GuL 67 (1994) 161-172, hier 164. K. Mertes (Anm. 19), 75. J. Ratzinger, Freimut und Gehorsam. Das Verhältnis des Christen zu seiner Kirche, in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 46), 448467, hier 467. Ebd., 466.

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8. „Orte“ der Freiheit Unter dieser Voraussetzung möchte ich abschließend und ohne Anspruch auf Vollständigkeit noch kurz einige „Orte“ solcher recht verstandenen Freiheit innerhalb der katholischen Kirche benennen. Als Ausgangspunkt nehme ich das Prinzip, dass das Zweite Vatikanische Konzil in seinem Dekret über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“ genannt hat: „Alle in der Kirche sollen unter Wahrung der Einheit im Notwendigen je nach der Aufgabe eines jeden in den verschiedenen Formen des geistlichen Lebens und der äußeren Lebensgestaltung, in der Verschiedenheit der liturgischen Riten sowie der theologischen Ausarbeitung der Offenbarungswahrheit die gebührende Freiheit walten lassen, in allem aber die Liebe üben.“52 Neben der Einheit im Notwendigen, im Kern, in der Mitte des Glaubens, werden hier als Räume der Verschiedenheit und damit der Freiheit genannt: die Formen des geistlichen Lebens und damit der gelebten Frömmigkeit, die äußere Lebensgestaltung, die Verschiedenheit der liturgischen Riten, d.h. der Formen des kirchlichen Gottesdienstes sowie die Verschiedenheit innerhalb der Theologie in ihrem Bemühen, die göttliche Offenbarung zu deuten. In all diesen Bereichen darf und soll es eine „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ geben und gibt es, wenn man genau hinschaut, tatsächlich eine viel größere Vielfalt und damit auch Freiheit innerhalb der katholischen Kirche, als es ihrem Bild in der medialen Öffentlichkeit entspricht, eine Vielfalt, die sich schon innerhalb der jeweiligen Ortskirchen zeigt und die noch viel größer wird, wenn man die katholische Kirche als Weltkirche in den Blick nimmt. Zu dieser Freiheit gehört, um nur  52 UR 4.

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ein Beispiel zu nennen, im Bereich der Frömmigkeit die Verehrung der Heiligen, die nach Aussage des kirchlichen Lehramtes zwar „gut und nützlich“53 ist, zu der aber niemand verpflichtet ist. Die Vielfalt der Liturgien, der Theologie und sogar des Kirchenrechts zeigt sich ausdrücklich in den sogenannten unierten Kirchen, die ein bisher (wohl auch innerkatholisch) viel zu wenig wahrgenommenes Zeichen der Vielfalt und damit der Freiheit innerhalb der katholischen Kirche darstellen,54 sie gilt aber selbstverständlich auch in der lateinischen Kirche. Neben diesen genannten Orten möchte ich kurz auf die konkrete Pastoral vor Ort hinweisen und den Umgang mit den Menschen dort. Auch wenn die katholische Kirche das orthodoxe Prinzip der oikonomia nicht formell übernimmt,55 so gibt es doch in der Überzeugung von dem Heil der Seelen als dem obersten Gesetz,56 im Respekt vor der Gewissensentscheidung der Menschen und im Wissen um die verschiedenen Wege des einzelnen Christen zum Glauben und im Glauben eine große Weite und dementsprechend auch eine große Freiheit im pastoralen Wirken vor Ort, das sich bemüht, nach dem Vorbild Jesu Christi mit dem Menschen und ihren individuellen Lebens- und Glaubensgeschichten umzugehen.57 Auf der einen Seite stehen natürlich die Weisungen des Evangeliums, auf der anderen Seite das Wis 53 DH 1821. 54 Vgl. dazu J. Oeldemann, Die Kirchen des christlichen Ostens. Or-

thodoxe, orientalische und mit Rom unierte Ostkirchen, Regensburg 22008, 111-137. 55 Vgl. A. Kallis, Art. Ökonomie II. Orthodoxe Kirche, in: LThK3 7 (1998) 1015f. 56 CIC can. 1752; vgl. auch die Lehre von der aequitas canonica, der kanonischen Billigkeit: H. Müller, Art. Aequitas canonica, in: LThK3 1 (1993) 185. 57 Vgl. die klassische Lehre von der Epikie: Katholischer Erwachsenen-Katechismus (Anm. 31), 134f.

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sen und Wahrnehmen darum, dass diese Weisungen immer eine „verpflichtende Utopie“58 sind, was den Umgang mit den Menschen und ihrer konkreten Lebensund Glaubengeschichte prägt. Und schließlich gibt es „das freie Wort in der Kirche“ und damit eine öffentliche Meinung auch innerhalb der katholischen Kirche, wie Karl Rahner bereits 1953 (übrigens in Aufnahme einer entsprechenden Aussage von Papst Pius XII.!) dargelegt hat.59 Dementsprechend haben die Gläubigen nach dem geltenden Kirchenrecht nicht nur das Recht, sondern „bisweilen sogar die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, den geistlichen Hirten mitzuteilen und sie unter Wahrung der Unversehrtheit des Glaubens und der Sitten und der Ehrfurcht gegenüber den Hirten und unter Beachtung des allgemeinen Nutzens und der Würde der Person den übrigen Gläubigen kundzutun“.60 Und in dem entsprechenden Abschnitt der Kirchenkonstitution Lumen gentium, der diesem Canon zugrunde liegt, heißt es, die Bischöfe „sollen die Würde und Verantwortung der Laien in der Kirche anerkennen und fördern. Sie sollen gern deren klugen Rat benutzen, ihnen vertrauensvoll Aufgaben im Dienste der Kirche übertragen und ihnen Freiheit und Raum im Handeln lassen, ihnen auch Mut machen, aus eigener Initiative Werke in Angriff zu nehmen.“ Denn sie „können mit Hilfe der Erfahrung der Laien in geistlichen wie in weltlichen Dingen genauer und besser urteilen“.61 

58 A. Keller, Grundkurs des christlichen Glaubens. Alte Lehren neu

betrachtet, Freiburg i.Br. 2011, 233.

59 K. Rahner, Das freie Wort in der Kirche, in: ders., Sämtliche Wer-

ke Bd. 10 (Anm. 18), 143-160.

60 CIC can. 212 § 3; vgl. LG 37. 61 LG 37; vgl. J. Freitag, Wachsende Bedeutung der Laien für die Kir-

che, in: Den österlichen Mehrwert im Blick. Theologische Beiträge zu einer Kirche im Umbruch. Im Auftrag der Katholisch-Theolo-

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Dahinter steht unübersehbar die Lehre vom sensus fidelium, dem Glaubenssinn als einer der verschiedenen Bezeugungsinstanzen der göttlichen Offenbarung in der Geschichte, auf dessen Bedeutung nicht nur innerkatholisch, sondern auch ökumenisch hier nur hingewiesen werden kann.62 Der Jesuit Thomas Gertler hat vor einigen Jahren im Kontext von Überlegungen zur christlichen Freiheit innerhalb unserer pluralistischen Welt die Freiheit durch das Seinlassen des anderen bestimmt: „Das Stichwort, das mir die Geisteshaltung der Freiheit am besten beschreibt, ist: den anderen sein lassen. […] Überall entfaltet sich Menschsein erst dann, wenn es sein gelassen wird, wenn es frei gegeben wird und wenn ein grundsätzliches Vertrauen da ist.“63 In diesem grundsätzlichen Vertrauen zeigt sich meiner Ansicht nach eben jene Liebe, von der das Konzil in der oben genannten Stelle als dem dritten Element neben der Einheit und der Vielfalt spricht. Und dieses Vertrauen ist unerlässlich für die Wahrnehmung und Anerkennung der Freiheit in der Kirche – egal welcher Konfession. Und ich möchte schließen mit den Wünschen, die Thomas Gertler an das Ende seines Beitrags stellt: „Wonach ich mich sehne in unserer Kirche, ist Mut zur Freiheit. Dass wir die gewonnene und gewählte Freiheit annehmen und bejahen und vor allem, dass wir sie christlich leben, also aus der Bindung an den Freiheits

gischen Fakultät der Universität Erfurt hg. v. B. Kranemann u. M. Widl, Würzburg 2012 (EThS 42), 51-61. 62 Vgl. Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, Paderborn-Frankfurt a.M. 2000, Nr. 4073; W. Beinert, Kann man dem Glauben trauen? Grundlagen theologischer Erkenntnis, Regensburg 2004. 63 Th. Gertler (Anm. 48), 167.

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willen Gottes, in der Nachfolge des freien und befreienden Jesus. […] Ich wünsche mir sehr, dass wir Christen besser mit der Freiheit umgehen können, dass wir freier sind als jene, die eine Freiheit ohne Bindung oder eine Bindung ohne Freiheit anstreben. Wir brauchen keine Angst zu haben vor der ‚freien‘ Welt. Wir können viel freier sein als andere in der pluralistischen Welt. Gott sei Dank!“64

ZUSAMMENFASSUNG Ausgehend von der biblischen Grunderfahrung der von Gott geschenkten Freiheit sowie der Herausforderung durch das neuzeitliche Freiheitsverständnis mit seinen Ambivalenzen behandelt dieser Beitrag das Verhältnis von Freiheit und Gehorsam gegenüber der katholischen Kirche. Wurde bis in die Neuzeit hinein vom kirchlichen Gehorsam her auf die Freiheit hin gedacht, so gilt es heute umgekehrt von der recht verstandenen Freiheit her auf den Gehorsam bzw. die Bindung an oder Loyalität mit der Kirche hin zu denken, was anhand einiger „Orte“ der Freiheit in Lehre und Praxis der katholischen Kirche konkretisiert wird.

 64 Ebd., 172.

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Gottesdienst und Liturgie in freikirchlicher Sicht Holger Eschmann

Die Freikirchen werden in historischer Perspektive normalerweise nicht zuerst als liturgische Erneuerungsbewegungen wahrgenommen. Vielmehr sieht man sie meist als „Protestbewegungen … gegen ein Staats- oder Landeskirchentum“1 an, die besondere Aspekte beim Kirchen- bzw. Gemeindeverständnis, bei der Gewissensfreiheit, der Evangelisation und der Heiligung setzen. So verwundert es auch nicht, dass in den Standardwerken des baptistischen Theologen Erich Geldbach und des methodistischen Konfessionskundlers Karl Heinz Voigt zu den Freikirchen unter den allgemeinen Kennzeichen von Freikirchen der Gottesdienst oder eine bestimmte freikirchliche Gottesdienstform nicht genannt werden.2 Dass der Gottesdienst bei den Freikirchen dennoch eine wichtige Rolle spielt, ist unbestreitbar. Den meisten gilt er als „das Herzstück im Leben der christlichen Gemeinde“,3 wie es beispielsweise in der Agende der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) formuliert wird. Im Folgenden versuche ich, in einem ersten Hauptteil typische Merkmale eines freikirchlichen Verständnisses von Gottesdienst und Liturgie zusammenzustellen. In einem zweiten Teil werde ich dies dann im Blick auf die EmK konkretisieren.  1 E. Geldbach, Freikirchen – Erbe, Gestalt und Wirkung, Göttingen 2

2005 (BenshH 70), 36.

2 Vgl. ebd., 5f.; K.H. Voigt, Freikirchen in Deutschland (19. und 20.

Jahrhundert), Leipzig 2004 (KGE III/6), 40-44.

3 Intranet-Agende der Evangelisch-methodistischen Kirche, hg. v.

der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland, Frankfurt a.M. 2008, 14.

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I. Merkmale freikirchlicher Gottesdienste 1. Die Orientierung am Neuen Testament Ein Grund, warum die Freikirchen häufig nicht als liturgische Erneuerungsbewegungen wahrgenommen werden, liegt meines Erachtens darin, dass sie sich nach ihrem Selbstzeugnis vor allem an der Bibel orientieren wollen – präziser gesagt: an den neutestamentlichen Aussagen über Kirche und Gemeinde. Und da im Neuen Testament von der liturgischen Vielfalt späterer kirchlicher Traditionen mit ihren Ritualen, Gewändern und Symbolen allenfalls ansatzweise die Rede ist, bringt die Rückbesinnung auf das urchristliche Feiern die typisch freikirchliche Schlichtheit des Gottesdienstes mit sich.4 Diese Schlichtheit liturgischen Feierns ist nun allerdings kein Alleinstellungsmerkmal freikirchlicher Gottesdienste, denn diese finden wir genauso auch in der reformierten Tradition.5 Überhaupt ist meine Aufzählung bestimmter freikirchlicher Gottesdienstmerkmale nicht so zu verstehen, als ob es diese Merkmale nicht auch in anderen kirchlichen Traditionen gäbe. Für mich macht eher die besondere Betonung eben dieser Charakteristika das aus, was wir als typisch freikirchlich bezeichnen können. Dass die Freikirchen in sich wiederum ganz unterschiedliche Traditionen aufweisen, und dass ich als evangelisch-methodistischer Christ nicht unbedingt auch für die anderen Freikirchen sprechen kann, muss ich 

4 Es soll an dieser Stelle nicht bewertet werden, ob es sich dabei um

eine angemessene Interpretation der biblischen Texte handelt oder eher um eine freikirchliche Idealisierung urchristlicher Verhältnisse. 5 Vgl. z.B. die Behandlung des freikirchlichen Gottesdienstes bei M. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, Tübingen 2011, 331-342, der zu Recht mehrfach die Nähe zwischen freikirchlicher und reformierter Gottesdiensttradition betont.

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nach so vielen Jahren des Dialogs zwischen Vertretern des Johann-Adam-Möhler-Instituts und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen nicht weiter ausführen.6 2. Die Zurückhaltung gegenüber agendarischen Formularen Mit der auf die Bibel zurückgeführten Schlichtheit der gottesdienstlichen Feier hängt als Zweites zusammen, dass es in den meisten Freikirchen keine gesamtkirchlich vorgegebenen agendarischen Formulare gibt. Das trifft zwar nicht auf die EmK zu, die von Umfang und Inhalt her ein stattliches Agendewerk, einen Ausschuss für Gottesdienst und Agende sowie einen Beauftragten für Gottesdienst und Agende vorweisen kann, aber doch zum Beispiel für die täuferische Tradition und weite Teile der Pfingstkirchen und charismatischen Gemeindegründungen. Das Fehlen von agendarischen Formularen war kein Ausdruck der Geringschätzung gottesdienstlichen Feierns, sondern eher die Ablehnung kirchlich vorgeschriebener Texte und erstarrter Formen, die – so die freikirchliche Meinung – das freie Wirken des Geistes und den persönlichen Ausdruck der Frömmigkeit einengen.7 

6 Zum Verhältnis von Landeskirchen und Freikirchen und zum hier

verwendeten Verständnis von Freikirche vgl. H. Eschmann / J. Moltmann / U. Schuler (Hg.), Freikirche – Landeskirche. Historische Alternative – Gemeinsame Zukunft?, Neukirchen-Vluyn 2008. 7 Vgl. V. Spangenberg, Aspekte freikirchlichen Gottesdienstverständnisses. Das Beispiel des Deutschen Baptismus, in: H.-P. Großhans / M.D. Krüger (Hg.), In der Gegenwart Gottes. Beiträge zur Theologie des Gottesdienstes, Frankfurt a.M. 2009, 48: Im Baptismus sind „(v)erbindliche oder doch zumindest zum Gebrauch empfohlene offizielle Agenden für den Gemeindegottesdienst und für Kasualgottesdienste … nach wie vor nicht vorhanden. Die freikirchliche Aversion gegen liturgische Verbindlichkeit erklärt sich

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3. Die Betonung der Gemeinschaft Als ein weiteres Kennzeichen freikirchlichen Gottesdienstes kann die besondere Betonung der Gemeinschaft genannt werden. Das ist vielleicht das Kennzeichen, das Gäste aus anderen kirchlichen Traditionen am deutlichsten wahrnehmen. Die Betonung der gottesdienstlichen Gemeinschaft hat aus meiner Sicht zwei Hauptursachen. Zum einen ist die Mitgliedschaft in einer Freikirche normalerweise mit der regelmäßigen Teilnahme am Gottesdienst der Gemeinde verbunden. Das heißt, dass der Gottesdienstbesuch in den Freikirchen hierzulande, prozentual gesehen, um ein Mehrfaches höher ist als in den evangelischen Landeskirchen und auch in der römisch-katholischen Kirche. Als Kinder war es für meine Schwester und mich selbstverständlich, mit den Eltern sonntagmorgens in die „Versammlung“ zu gehen, wie der Gottesdienst damals typischerweise genannt wurde. Durch die Regelmäßigkeit des Besuchs der Gemeindeveranstaltungen ist man miteinander vertraut, ja fast familiär verbunden, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. Neben der hohen Teilnahmeverbindlichkeit und Regelmäßigkeit wird der Gemeinschaftscharakter im Gottesdienst zum anderen auch durch den reformatorischen Impuls des Priestertums aller Glaubenden verstärkt. Der Gottesdienst ist „Sache der Gemeinde“ (Okko Herlyn) und jeder (und mittlerweile in fast allen Freikirchen auch „jede“) kann etwas in den Gottesdienst einbringen. Auch wenn die meisten Freikirchen ordinierte Pastoren und Pastorinnen haben, gibt es in den Gottesdiensten von Gemeinde

zunächst historisch als Akt der Abgrenzung gegen die großen Konfessions- und Staatskirchen, in deren liturgischen Formularen man eine zur Formelhaftigkeit erstarrte Frömmigkeit und eine das freie Wehen des Geistes verhindernde Zwangsjacke sah“.

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gliedern gestaltete liturgische Funktionen und Raum für persönliche Lebens- und Glaubenszeugnisse der Feiernden. Dafür ist in einigen freikirchlichen Traditionen im Gottesdienst eine besondere Zeit der Gemeinschaft fest etabliert.8 4. Die Wertschätzung der Predigt als Schriftauslegung und situationsbezogenes Wort Ein weiteres Kennzeichen des freikirchlichen Gottesdienstes, das die Freikirchen freilich auch aus der reformatorischen Tradition übernommen haben, ist die hohe Wertschätzung der Predigt. Dabei ist freikirchliche Verkündigung einerseits bemüht um sorgfältige biblische Auslegung, andererseits aber auch um Lebensnähe. Sie versucht, die biblische Tradition mit der Lebenswirklichkeit der Gemeinde in Beziehung zu setzen. Dem kommt entgegen, dass in vielen Freikirchen neben den Pastoren und Pastorinnen ganz selbstverständlich „Laien“ in der Verkündigung tätig sind, die ihre Predigten ohne kirchliche Vorgaben (wie Texte oder Lektorenpredigten) selbst erarbeiten, und die Erfahrungen aus ihrem beruflichen Alltag in die Predigt einbringen.9 Inhaltlich hat die freikirchliche Predigt von ihren Wurzeln in den Erweckungsbewegungen her häufig eine zum Glauben 

8 Zum Priestertum aller Glaubenden als Kennzeichen der Freikir-

chen vgl. E. Geldbach (Anm. 1), 110-113. Wie die Zeit der Gemeinschaft verstanden und gefüllt werden kann, beschreibt exemplarisch J. Georg, Gemeinschaft. Das dritte Kennzeichen des Gottesdienstes, Stuttgart 1994 (EmK.H 83), bes. 9-11; 28. 9 Zur freikirchlichen Homiletik vgl. A. Härtner / H. Eschmann, Predigen lernen. Ein Lehrbuch für die Praxis, Göttingen-Darmstadt 2 2008. Das Lehrbuch wendet sich ausdrücklich sowohl an Theologiestudierende als auch an Laien in der Verkündigung.

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rufende und in die Heiligung des Lebens führende Dimension. 5. Zuspruch und Anspruch Ein freikirchlicher Gottesdienst ist – und hier zeigt sich wieder seine besondere Nähe zur reformierten Tradition – durch die Kategorien von Zuspruch und Anspruch bzw. von Rechtfertigung und Heiligung gekennzeichnet. Damit ist gemeint, dass der Gottesdienst in den meisten freikirchlichen Selbstbeschreibungen zunächst ganz in evangelischer Tradition als Zuwendung und Dienst Gottes am Menschen verstanden wird.10 Als typisch freikirchlich kann nun aber bezeichnet werden, dass besonderer Wert darauf gelegt wird, dass dieser Dienst Gottes den Menschen verändert, dass er auf die menschliche Antwort im Glauben und im Lebensvollzug zielt. In der EmK werden diese beiden Elemente zum Beispiel darin sichtbar, dass mit der üblicherweise praktizierten Kindertaufe noch nicht die kirchliche Vollmitgliedschaft erworben wird – da noch die Antwort des Glaubens fehlt. Diese wird dann in einer meist im Alter zwischen 17 und 25 Jahren erfolgenden Gliederaufnahmefeier im Bekenntnis vor der Gemeinde gegeben.



10 Vgl. V. Spangenberg (Anm. 7), 40; W. Theis, Was ist Gottesdienst?

Ein praktisch-theologischer Beitrag in: W. Haubeck / W. Heinrichs / M. Schröder (Hg.), Gottesdienst feiern. Impulse für die Gemeinde, Witten 2000, bes. 76-79; Theologische Kommission des Europäischen Rates der Evangelisch-methodistischen Kirche (Hg.), Unterwegs mit Christus. Glaubensbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche, Zürich-Stuttgart 1991, 70.

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6. Freikirche als singende Kirche Auch wenn das nicht auf alle Freikirchen in gleichem Maß zutreffen mag, sind freikirchliche Gottesdienste häufig durch einen lebendigen Gemeindegesang gekennzeichnet. Dem Grafen Zinzendorf und den Brüdern Wesley verdanken wir Tausende von geistlichen Liedern.11 Auch in der Pfingstbewegung und in charismatischen Neugründungen spielen Musik und Gesang im Gottesdienst eine bedeutende Rolle. Viele freikirchliche Gemeinden übernahmen seit den 1980er-Jahren Lobpreislieder aus der charismatischen Bewegung, die von Bands mit Vorsängern und Vorsängerinnen begleitet werden.12 Man bekommt dadurch den Eindruck, als ob die freikirchliche Zurückhaltung gegenüber liturgischen Gesängen durch Priester, Pfarrer und Diakone mit einer gleichzeitigen Stärkung des Gemeindegesangs einhergeht. 7. Neuere Entwicklungen Es blieb den Freikirchen natürlich nicht verborgen, dass trotz der Betonung liturgischer Freiheit und der Abwehr fester, vorgeschriebener Formen recht bald ungeschrie

11 Vgl. E. Geldbach (Anm. 1), 121-123; T. Berger, Theologie in Hym-

nen? Zum Verhältnis von Theologie und Doxologie am Beispiel der „Collection of Hymns for the use of the People called Methodists“ (1780), Altenberge 1989; M.E. Brose, Charles Wesley. Der methodistische Liederdichter, Göttingen 1999; M. Brecht / P. Peucker (Hg.), Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung, Göttingen 2005 (AGP 47). 12 Vgl. J. Georg, „Wir loben unseren Gott von ganzem Herzen“ – Anbetung in der Evangelisch-methodistischen Kirche, in: Ch. Raedel (Hg.), Methodismus und charismatische Bewegung. Historische, theologische und hymnologische Beiträge, Göttingen 2007 (RTS 2), 85-108.

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bene, aber oft nicht minder festgelegte liturgische Abläufe in den Gemeinden zur Gewohnheit wurden. Es ist eben anstrengend, sich ständig neu zu erfinden, und auch eine geistliche Heimat findet man nur in wiederkehrenden und dadurch vertraut werdenden Formen. Nicht weniger festgelegt als schriftliche Vorlagen waren diese ungeschriebenen Liturgien deshalb, weil die Gemeinden oft ihre je eigene Identität an bestimmten Gottesdienstformen festmachten. Jede Veränderung führt unweigerlich zu Verunsicherungen.13 Im Blick auf diese sozialpsychologischen Phänomene und vor dem Hintergrund der wachsenden ökumenischen Verständigung zwischen den Kirchen gibt es seit einigen Jahrzehnten in vielen Freikirchen ein ernsthaftes Bemühen um die Theologie und die Gestaltung des Gottesdienstes. Man kann dies einfach schon an der vermehrt aufkommenden freikirchlichen Literatur zum Thema ablesen.14 Die Argumentation in dieser Literatur folgt häufig einem ähnlichen Schema: Man geht von einem Mangel aus, der vor allem in der fehlenden Reflexion über das gottesdienstliche Handeln der eigenen 

13 Vgl. V. Spangenberg (Anm. 7), 49: „Denn über kurz oder lang fan-

den viele Ortsgemeinden auch ohne vorgegebene Agenden und zumeist eher pragmatischen Erfordernissen als liturgischer Reflexion folgend ,ihre‘ Gottesdienstordnung. Diese entwickelte sich dann in vielen Fällen zum selbstgeschaffenen Identitätsmerkmal einer Einzelgemeinde und wurde auf diese Weise – der ursprünglichen Intention liturgischer Freiheit zuwiderlaufend – geradezu sakrosankt im Sinne eines ,Das haben wir immer schon so gemacht‘.“ Vgl. dazu auch die Anmerkungen von M. Meyer-Blanck (Anm. 5), 333. 14 Neben den bereits genannten Veröffentlichungen aus freikirchlicher Feder sind noch zu erwähnen: S. Nösser / E. Reglin, Wir feiern Gottesdienst. Entwurf einer freikirchlichen Liturgik, Wuppertal 2001; T. Mozer, Begeistert Gott feiern. Liturgie verstehen und gestalten, Göttingen 2005; Dozentenkollegium des Theologischen Seminars Elstal, Anmerkungen zum Thema Gottesdienst, in: ThGespr 27 (2003) 47-76.

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Freikirche und einer damit einhergehenden Verflachung des Gottesdienstes gesehen wird. Im Rückgriff auf biblische und – wenn auch meist zaghaft – auf liturgiereichere kirchliche Traditionen wird das Wesen des Gottesdienstes bestimmt und über das eigene liturgische Handeln aufgeklärt. Es geht vor allem um das Verstehen dessen, was man tut, um dadurch das gottesdienstliche Handeln bewusster, reicher und ansprechender zu gestalten. Dabei ist grundsätzlich zu beobachten, dass die intendierten Veränderungen im gottesdienstlichen Feiern in Richtung eines vermehrten „liturgisch-sakralen“ Bewusstseins gehen. Allzu Simples und Banales soll im Gottesdienst keinen Raum haben. Der Gottesdienst soll nicht zur Talkshow und zum bloßen Entertainment verkommen. Es ist also in diesen Erneuerungsbemühungen nach meiner Beobachtung weniger der Ruf der Gründergeneration nach neutestamentlicher Schlichtheit zu hören, als das Bemühen, mit den Einsichten der etablierten (vor allem evangelischen) Liturgik ins Gespräch zu kommen. Ich möchte hier einen Schnitt machen und das bisher Gesagte nun etwas differenzierter an einer Freikirche, nämlich der EmK, verdeutlichen. Man wird dabei feststellen können, dass die groben Linien, die ich bisher gezeichnet habe, auch für die EmK im Großen und Ganzen zutreffen. Man wird aber genauso sehen, dass im Detail manches anders aussieht – und daher wäre das bisher Gesagte eigentlich für jede Freikirche durchzubuchstabieren. Aber fangen wir mit der EmK an.

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II. Gottesdienst und Liturgie in Evangelisch-methodistischer Sicht 1. Zwischen Bewegung und Kirche Die EmK ist durch eine Grundspannung gekennzeichnet, die eigentlich in jeder Freikirche zu spüren ist. Es ist die Spannung zwischen Bewegung und Kirche, zwischen Freiheit und Ordnung, zwischen Charisma und Institution, zwischen Individualität und Gemeinschaft. Der methodistische Liturgieforscher David Tripp schreibt, dass es „zur Berufung des Methodismus zu gehören [scheint], … ein Gespür für Spontaneität wie den Sinn für Ordnung festzuhalten – und beides in Spannung zueinander“.15 Das ist schon bei den Brüdern Wesley zu erkennen. Einerseits wurden mit dem Predigen auf freiem Feld, mit der starken Beteiligung von Laien, mit dem lebendigen Gottesdienstgesang und mit freien Gebeten mit vorherrschenden Konventionen der Kirche von England gebrochen. Andererseits sammelten die Wesleys die von ihrer Verkündigung ergriffenen Menschen schon sehr bald in Gemeinschaften, Klassen und Banden – mit teilweise strengen Regeln –, um ihren Glauben zu stärken und die Erweckungsbewegung zu festigen. Und Wesley sandte 1784 den amerikanischen Schwestern und Brüdern mit dem sogenannten Sunday Service mit Bedacht keine selbst erstellte Liturgie, sondern agendarische Ordnungen, die bis auf wenige Veränderungen dem Book of Common Prayer der Kirche von England entsprachen.16  15 D. Tripp, Die Situation des Gottesdienstes in den methodistischen

Kirchen, in: M. Marquardt / D. Sackmann / D. Tripp, Theologie des Gotteslobs, Stuttgart 1991 (BGEMK 39), 39-61, hier 41. 16 Vgl. dazu K.B. Westerfield Tucker, Form and Freedom. John Wesley’s Legacy for Methodist Worship, in: dies. (Hg.), The Sunday Service of the Methodists. Twentieth-Century Worship in World-

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Die Spannung zwischen Bewegung und Kirche ist auch heute in der EmK wahrzunehmen. Eine gemeinsame Kirchenordnung in Deutschland und eine Agende mit Formularen zum Gottesdienst, zu den Kasualien und kirchlichen Amtshandlungen wollen auf der einen Seite der Stabilisierung und Identitätsbildung der Kirche dienen. Auf der anderen Seite ist aber vor Ort in den Gemeinden der Wunsch nach einer individuellen und kreativen Ausgestaltung des Gottesdienstes wohl noch nie so stark gewesen wie heute. Wie stark die gesellschaftlichen Einflüsse an dieser Stelle sind, kann man im Vergleich zur ehemaligen EmK in der DDR sehen, die lange und erfolgreich an einem einheitlichen Gottesdienstformular für alle Gemeinden festhalten konnte. In der gegenwärtigen Pluralisierung unserer Gesellschaft – bei der gleichzeitigen Individualisierung der einzelnen Lebensläufe – wird es dagegen immer schwerer, gemeinsame Vorgaben plausibel zu machen und durchzusetzen. Die britischen Methodisten machen aus dieser Not eine Tugend und nennen dies in Anlehnung an die Wirtschaftssprache „Mixed Economy“, eine gewollte Vielfalt unter einem gemeinsamen Dach. 2. Die theologisch-liturgischen Traditionen der EmK Allerdings geht es bei unserer Frage nach Einheit und Vielfalt nicht nur um gesellschaftliche Veränderungen und deren Folgen. Es ist nicht nur die Auseinandersetzung zwischen konservativen Kirchentreuen auf der einen Seite, die im Kampf gegen den Pluralismus nur nach Ordnung 1A ihren Gottesdienst feiern und nur Lieder aus dem Gesangbuch singen wollen, und postmodernen 

wide Methodism. Studies in Honor of James White, Nashville 1996, 17-30.

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Individualisten andererseits, die patchworkartig und kreativ mit ihrer Gottesdienstordnung umgehen und Folienlieder oder eigene Liederhefte bevorzugen. Es geht auch darum, dass in der Tradition der EmK selbst ganz unterschiedliche Strömungen vorhanden sind, und zu verschiedenen Zeiten die eine oder die andere stärker zum Ausdruck kam. a) Da ist einerseits das hochkirchliche Erbe. Die Brüder John und Charles Wesley waren und blieben Geistliche der Kirche von England und wollten dezidiert keine neue Kirche gründen. Der Sunday Service, das erste Gottesdienstformular, war – wie bereits gesagt – eine Bearbeitung des Book of Common Prayer von 1662. Die Sakramentsverwaltung ist im Methodismus streng an das ordinierte Amt gebunden.17 Dieses hochkirchliche Erbe war in der deutschsprachigen EmK lange Zeit eher verhalten rezipiert worden, wird aber in den letzten Jahren stärker betont. Dass im Gesangbuch der EmK das ausführliche, hochkirchliche Abendmahlsformular – von insgesamt vier Formularen – an die erste Stelle gesetzt wurde, ist genauso ein Ausdruck hierfür wie die Beobachtung, dass immer mehr – vor allem junge – Pastoren und Pastorinnen Collarhemden und einen Talar mit Stola zu verschiedenen Anlässen tragen und mit einem Kreuzzeichen segnen. b) Daneben findet sich aber genauso das Erbe aus der Erweckungsbewegung, das den Schwerpunkt auf Evangelisation und sozialdiakonisches Handeln legt. Der Methodismus war eben keine liturgische Erneuerungsbewegung, die besonderen Wert auf eine liturgisch anspruchsvolle Gottesdienstgestaltung gelegt hätte. Das 

17 Vgl. H. Eschmann, Ordinationsverständnis und Ordinationsliturgie

im Bereich der Evangelisch-methodistischen Kirche, in: I. Mildenberger (Hg.), Ordinationsverständnis und Ordinationsliturgien. Ökumenische Einblicke, Leipzig 2007, 137-150.

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hochkirchliche Formular, das Wesley den amerikanischen Methodisten schickte, wurde bald beiseite gelegt. Die ersten Versammlungen der Methodisten in England und in Deutschland hatten ihre theologischen Schwerpunkte bei Bekehrung und Heiligung, was sowohl bei den Räumlichkeiten als auch beim Ablauf der Versammlungen Freiheit, Emotionalität und Flexibilität mit sich brachte. Der Sonntagmorgengottesdienst wurde zunächst weiterhin in der Kirche von England bzw. in Deutschland meist in der evangelischen Landeskirche besucht, wo auch die Sakramente gefeiert wurden. Die eigenen eher formlosen Evangelisationsversammlungen und Erbauungsstunden waren nachmittags und abends und oft im Nebenraum des Dorfgasthofs. c) Im Zusammenhang damit sind drittens schließlich die engen Beziehungen der EmK vor allem zur Württembergischen Landeskirche zu nennen, die zwar ein lutherisches Bekenntnis, aber eine eher reformierte Liturgie hat, der die EmK sich in ihrem gottesdienstlichen Feiern in Deutschland und auch der Schweiz stark angeglichen hat. 3. Freiheit und Verbindlichkeit in der Agende der EmK Wie geht die EmK offiziell mit diesen historisch und gesellschaftlich bedingten Spannungen im Bereich des Gottesdienstes um? Im Vorwort der Agende aus dem Jahr 1991 heißt es: „Eine Agende ist ein Stück Lehre und Ordnung der Kirche; sie enthält Ordnungen für die liturgische Gestaltung der Gemeindegottesdienste … und macht sie in bestimmter Weise verbindlich. Feststehende, also nicht zu verändernde zentrale Stücke, deren Wortlaut nicht aufgegeben werden kann, sind zum Beispiel die Einsetzungsworte beim Abendmahl, das Bekenntnis zum dreieinigen Gott bei der Taufe, die Befra139

gung bei der Gliederaufnahme, das Treueversprechen bei der Trauung oder die Verkündigung der Auferstehungshoffnung bei einer Bestattung … Da die Agende theologische Aussagen in liturgischer Form macht, die von den Entscheidungsgremien der EmK getragen werden, kommt ihr eine richtungsweisende Funktion zu. Diese Verbindlichkeit möchte der Freiheit zum Wechseln liturgischer Stücke und Abläufe nicht wehren, sofern sie von der Gemeinde mitverantwortet werden … Die Einhaltung dieser Ordnungen fördert die kirchliche Gemeinschaft und erleichtert den Austausch zwischen den Gemeinden.“18 Wir sehen: Auch in diesen offiziellen Formulierungen drückt sich die beschriebene freikirchliche Spannung zwischen Freiheit und Ordnung deutlich aus, die letztlich dazu geführt hat – wie der frühere Bischof der EmK in Deutschland, Walter Klaiber, einmal schrieb –, dass „(a)nders als die römisch-katholische Kirche, die Anglikanische Gemeinschaft oder sogar als die Lutheraner … die Methodisten keine gemeinsame Gottesdienstordnung entwickelt [haben], die überall in der Welt als solche zu erkennen wäre“.19 Also doch: „Erlaubt ist, was gefällt?“ – Ich wäre nicht Beauftragter für Gottesdienst und Agende, wenn ich nicht einen Sinn in einer gemeinsamen Grundlage für das gottesdienstliche Feiern in meiner Kirche sähe. Allerdings muss es eine Grundlage sein, die sowohl die Gemeinsamkeit stärkt als auch die Freiheit für eine unterschiedliche Ausgestaltung unseres Feierns in verschiedenen gemeindlichen und gesellschaftlichen Kontexten zulässt, ja unterstützt. Wie könnte eine solche 

18 Agende (Anm. 3), 9f. 19 W. Klaiber, Building up the House of God. Sunday Worship in

German Methodism, in: K.B. Westerfield Tucker, Sunday Service (Anm. 16), 283-304, hier 283 (Übersetzung H.E.).

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gemeinsame Grundlage aussehen? Ich zitiere noch einmal aus dem Vorwort der Agende: „Bei der Bearbeitung der Agende sind … folgende Grundsätze maßgebend gewesen: – die Verwurzelung der liturgischen Aussagen und Vorstellungen in der Heiligen Schrift; – die Orientierung an dem Glaubensgut der evangelisch-methodistischen Tradition; – die Verbundenheit mit der allgemeinchristlichen Überlieferung im gottesdienstlichen Geschehen; – die Zeitgemäßheit in Sprache und theologischer Interpretation, in Vorstellungswelt und Struktur der gottesdienstlichen Formulare.“20 Drei der vier Kriterien dürften wohl (fast) alle christlichen Gottesdienste für sich in Anspruch nehmen, nämlich die Verwurzelung in der Heiligen Schrift, die Verbundenheit mit der allgemeinchristlichen Überlieferung und die Zeitgemäßheit in Sprache und Form. Das zweite Kriterium, die Orientierung an dem Glaubensgut der evangelisch-methodistischen Tradition, wäre nun noch weiter zu vertiefen, was ich aber in diesem Rahmen jetzt nur ansatzweise mit einigen Stichworten tun kann. 4. Spezifisch methodistische Akzente des Gottesdienstes Der Gottesdienst gehört nach methodistischer Tradition zu den von Gott geschenkten und verordneten Gnadenmitteln. Bei John Wesley bezeichnet der Begriff „Gnadenmittel“ (means of grace), den er aus der anglikanischen Tradition übernommen, aber recht eigenständig verwendet hat, die von Gott eingesetzten äußeren Mittel, mit deren Hilfe er den Menschen Gnade und 

20 Agende (Anm. 3), 9.

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Heil zufließen lässt.21 Neben dem Gottesdienst zählte Wesley das Abendmahl, das Gebet, das Forschen in der Heiligen Schrift und das Fasten zu den Gnadenmitteln. Wie auch sonst bei Wesleys Gnadenverständnis ist im Gottesdienst als Gnadenmittel sowohl Gottes vorlaufende Gnade am Werk, die allem menschlichen Tun zuvorkommt, als auch seine rechtfertigende Gnade, die den Menschen von Schuld befreit, und seine heiligende Gnade, die ihn in die Christusnachfolge führt. Deshalb hat der Gottesdienst nach evangelisch-methodistischem Verständnis sowohl eine missionarisch-evangelistische als auch eine befreiende und tröstende wie auch eine heiligende, ethische Dimension. Die Gnade Gottes zielt nach evangelisch-methodistischem Verständnis auf die Lebensantwort des Menschen – gerade auch im Gottesdienst. Diese kurzen Andeutungen zur Gottesdiensttheologie der EmK müssen an dieser Stelle genügen. 5. Freikirchlicher Gottesdienst und freikirchliche Liturgie aus Sicht der EmK Im Folgenden nenne ich einige Gesichtspunkte für ein freikirchliches liturgisches Handeln aus evangelisch-methodistischer Sicht. Dabei wird es zum einen zu Übereinstimmungen mit den im ersten Hauptteil aufgezählten Merkmalen freikirchlicher Gottesdienste kommen, zum anderen werden typisch evangelisch-methodistische Kennzeichen hervortreten. a) Ein Gottesdienst muss als Gottesdienst erkennbar sein. Das heißt für die EmK beispielsweise, dass der Gottesdienst im Namen des in der Bibel und der kirchlichen 

21 Vgl. J. Wesley, Predigt 16: Die Gnadenmittel, in: ders., Die 53

Lehrpredigten, hg. im Auftrag des Europäischen Rates der EmK, Stuttgart 1987, 287-310.

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Tradition bezeugten dreieinigen Gottes zu feiern ist, was im trinitarischen Eingangsvotum zum Ausdruck gebracht wird. Der Gottesdienst hat einer (theo-)logischen Grundform zu entsprechen, die Raum bietet für Sammlung und Anbetung, Verkündigung und Antwort, Fürbitte und Gemeinschaft und Sendung und Segnung. Diese Gottesdienstteile können anders benannt und unterschiedlich formuliert werden. Ihr Vorhandensein und ihre Reihenfolge sind aber nicht beliebig, sondern folgen theologisch-liturgischen und anthropologischen Gesetzmäßigkeiten. b) Der Gottesdienst sollte auch für Gäste nachvollziehbar und mitvollziehbar sein. Dies entspricht vor allem der missionarisch-evangelistischen Dimension im evangelisch-methodistischen Verständnis der Gnadenmittel. Wie wir eingangs sahen, teilen wir diese evangelistischmissionarische Dimension mit den anderen Freikirchen, die aus den Erweckungsbewegungen entstanden sind. Wenn Paulus in 1 Kor 14 dafür plädiert, um der Gemeinschaft und um der Fremden willen auf unverständliche Zungenrede im Gottesdienst zu verzichten, dann kann man das wohl auf die gottesdienstliche Sprache insgesamt übertragen. Man sollte weder ein liturgiewissenschaftliches Studium – so sinnvoll das ist! – absolviert haben müssen, um dem Gottesdienst folgen zu können, noch sollte sich eine Gemeinde so in eine traditionalistische oder auch selbst gebastelte Gottesdienstform eingesponnen haben, dass Gäste keinen Zugang dazu finden. c) Ein freikirchlicher Gottesdienst ist aus Sicht der EmK durch eine Verkündigung charakterisiert, die sowohl auf das biblische Zeugnis als auch auf die Lebenswelt der Hörer und Hörerinnen bezogen ist. Um dies zu erreichen, ist eine profunde Kenntnis der biblischen Botschaft und der Hörer und Hörerinnen nötig, wofür die eher familiäre, freikirchliche Gemeindesituation gute 143

Voraussetzungen bietet. Die Predigten von theologisch ausgebildeten Pastoren und Pastorinnen und die von Laienpredigern und -predigerinnen ergänzen sich durch einen unterschiedlichen Zugang zur biblischen Botschaft und zur Hörerschaft: Bringen die Theologen vor allem ihre theologische Kompetenz in die Verkündigung ein, liegt das Charisma der Laien insbesondere darin, dass sie als „Spezialisten des Alltags“ ihre Erfahrungen in Gesellschaft und Kirche zur Sprache bringen.22 d) Aus evangelisch-methodistischer Sicht sollte das Abendmahl im freikirchlichen Gottesdienst einen gebührenden Raum einnehmen. John Wesley feierte es mehrmals die Woche und empfahl den neuen Gemeinden in Nordamerika, es wenigstens jeden Sonntag zu feiern. Die Grundform des Gottesdienstes im britischen Methodismus ist ein Abendmahlsgottesdienst. Und das nordamerikanische Book of Worship der United Methodist Church beinhaltet keine Grundform eines Predigtgottesdienstes ohne Abendmahl mehr. Hier hat sich auch in Deutschland und der Schweiz das Bewusstsein bereits verändert. Aber von einer wöchentlichen Feier als Grundform des Gottesdienstes sind wir in den meisten Gemeinden noch weit entfernt. Eine ähnliche Wertschätzung des Abendmahls habe ich im BFeG gefunden, auch wenn das Abendmahlsverständnis und die Form der Feier dort weniger sakramental gedacht werden als im Methodismus.23 e) Ein freikirchlicher Gottesdienst hat aus evangelischmethodistischer Sicht vielfältige Möglichkeiten der Beteiligung zu bieten. Diese Beteiligung der ganzen Ge 22 Vgl. K.H. Voigt, Die Predigt durch Laien in der Evangelisch-metho-

distischen Kirche damals und heute, Stuttgart 1987 (EmK.H 51), bes. 26-34. 23 Vgl. dazu die Informationen über den BFeG in: Vereinigung Evangelischer Freikirchen (Hg.), Freikirchenhandbuch. Informationen – Anschriften – Texte – Berichte, Wuppertal 2004, 30f.

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meinde bei Gesang, freien Gebeten und in persönlichen Zeugnissen hat den Methodismus in seinen Anfängen als Freikirche von der englischen Staatskirche abgehoben und attraktiv gemacht. Von dem differenzierten Gnadenverständnis Wesleys her gedacht, sollten diese Beteiligungsmöglichkeiten Raum bieten für suchende Menschen (vorlaufende Gnade). Sie sollten Möglichkeit geben für die Umkehr zum Leben und für den Trost des Glaubens (rechtfertigende Gnade). Und sie sollten Gelegenheit bieten für die Hingabe des Lebens an Gott und im sozialdiakonischen Dienst für die Mitmenschen (heiligende Gnade). f) Ein freikirchlicher Gottesdienst aus evangelisch-methodistischer Sicht gibt der Musik einen hohen Stellenwert. Obwohl die wenigsten evangelisch-methodistischen Gemeinden in Deutschland angestellte Kirchenmusiker und -musikerinnen haben, spielt die Musik im Gottesdienst der EmK – und hier besonders der Gemeindegesang – eine bedeutende Rolle. Im Gesangbuch der EmK sind die Gemeindelieder mit Liedsätzen für den mehrstimmigen Gesang versehen. Die Organisten, Chorleiterinnen, Jugendbands kommen aus der Gemeinde und bringen ihre Musikalität als Gabe ein. Das Gesangbuch spielte im Methodismus immer eine wichtigere Rolle als die Agende.24 Die Pflege des gemeinsamen Singens stärkt sowohl die „vertikale“ Dimension des Gottesdienstes als Gotteslob als auch die „horizontale“ Verbundenheit der Gemeindeglieder untereinander. Das Singen schafft die Beteiligung aller, die am Gottesdienst teilnehmen, es wirkt emotionale Ergriffenheit und betont 

24 Zur Bedeutung von Liedgut und Gesangbuch in der EmK vgl.

H. Handt, Was ist eigentlich „methodistisch“ am neuen Gesangbuch der EmK, in: EmK.G 26 (2005) 17-27; S.T. Kimbrough Jr., Kirchenlieder Charles Wesleys – Ikonen der wesleyanischen Tradition, in: EmK.G 30 (2009) 5-25.

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die leibliche Dimension, die in der protestantischen Tradition häufig zu kurz kommt. g) Mit anderen Freikirchen betont die evangelisch-methodistische Tradition in besonderer Weise die Gemeinschaft vor Gott im Gottesdienst. Ein Kennzeichen dafür ist die „Zeit der Gemeinschaft“ (time of concern), die nach einigen Ortswechseln im liturgischen Ablauf in der EmK heute zentral vor der Verkündigung platziert ist. In dieser Zeit der Gemeinschaft haben die Abkündigungen zu den Veranstaltungen der jeweiligen Gemeinde Platz, es können aber auch besondere Erfahrungen und Lebensumstände der Gemeindeglieder zur Sprache kommen. Der Bonner Praktische Theologe Michael MeyerBlanck schreibt in seiner kürzlich erschienenen Gottesdienstlehre zu der Zeit der Gemeinschaft im Gottesdienst der EmK: „Bemerkenswert ist … nicht nur die sachliche Ausweitung des ‚Abkündigungen‘ oder ‚Bekanntmachungen‘ genannten Elementes. Durch die Stellung im Verlauf der Liturgie wird hier nicht der Weg in den Alltag eingeleitet, sondern die Predigt in den Kontext der Gemeinschaft gestellt. Die Predigt wird von der Gemeinschaft herausgefordert und damit selbst zu einer ‚time of concern‘.“25 6. Zusammenfassung und Ausblick Ich breche hier mit meiner Aufzählung ab und versuche zusammenzufassen: Ein freikirchlicher Gottesdienst lebt aus evangelisch-methodistischer Sicht vom Wechselspiel zwischen Freiheit und Ordnung. Er hat zum einen Akzentsetzungen aus der eigenen freikirchlichen Tradition liturgisch umzusetzen. Dass es sich dabei in der EmK um ein Gemisch aus ganz verschiedenen liturgischen  25 M. Meyer-Blanck (Anm. 5), 337.

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Erbmassen handelt, habe ich schon betont. Ein freikirchlicher Gottesdienst hat zum anderen aber genauso auch Freiräume zur Gestaltung in den unterschiedlichen gemeindlichen Situationen zu bieten. Die evangelisch-methodistische Agende in Deutschland kommt dem entgegen, indem sie nicht nur den Gottesdienst nach der Grundform 1A enthält, sondern daneben eine Form für einen „Gottesdienst mit Kindern“, eine „Kurzform“, eine Form, die sich „Sammlung und Sendung“ nennt, eine Form mit dem Namen „Lob- und Fürbittegottesdienst“ und die „Agape oder Gemeinschaftsfeier“. Zusätzlich enthält die Agende viele Wechselstücke zu den einzelnen liturgischen Elementen des Gottesdienstes. Diese gestalterische Vielfalt und Freiheit ist allerdings Lust und Last zugleich. Sie schafft Raum für Kreativität und kontextuelle Umsetzung. Sie legt aber auch die Bürde der Gestaltung auf diejenigen, die den Gottesdienst zu verantworten haben. Was Walter Klaiber angesichts dieser Gestaltungsfreiheit über die EmK sagt, könnte auch für die meisten anderen Freikirchen gelten: „Die Auswahl der Lieder und Schriftlesungen hat sehr sorgfältig zu geschehen, wenn man dem Gottesdienst ein schlüssiges und überzeugendes Profil geben will. Für viele ist das nicht leicht; das ist eine der Herausforderungen für die Zukunft.“26 Vermutlich besteht die wirkliche Alternative in freikirchlichen Gottesdiensten weniger zwischen traditionellen und kreativen Formen, also zwischen Ordnung und Freiheit, als vielmehr zwischen einerseits lieblosen und gedankenlosen Feiern und andererseits mit Sorgfalt, Sachverstand und Leidenschaft gestalteten Gottesdiensten. Denn das gilt für alle Gottesdienste: Wo Sorgfalt und Leidenschaft in Vorbereitung und Durchführung spürbar sind, werden Menschen bewegt.  26 W. Klaiber (Anm. 19), 293 (Übersetzung H.E.).

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III. Ökumenische Ermutigung In freikirchlichen und landeskirchlichen Zusammenhängen, in kleinen und in großen Kirchen geschieht im Gottesdienst – bei aller Gemeinsamkeit und Unterschiedenheit – die Begegnung mit dem lebendigen Gott durch den auferstandenen Christus in der Kraft des Heiligen Geistes. Gottes Geist schenkt den Gemeinden Freiheit, auf verschiedene Weise Gottesdienst zu feiern – entsprechend ihren Bedürfnissen und Herausforderungen. Gottes Geist ist aber auch die Quelle von Einheit und Wahrheit. Deshalb darf es uns nicht gleichgültig sein, wie unsere Schwestern und Brüder in anderen Gemeinden und Kirchen Gottesdienst feiern. Weil wir uns gemeinsam auf den dreieinigen Gott beziehen, darum sollten wir immer wieder neu zum gemeinsamen Zeugnis der Liebe Gottes finden – auch und besonders im Gottesdienst.

ZUSAMMENFASSUNG In diesem Beitrag werden zunächst allgemeine gottesdienstliche Merkmale herausgearbeitet, die für die meisten evangelischen Freikirchen trotz ihrer Unterschiedlichkeit gelten dürften. In einem zweiten Teil werden dann typisch evangelisch-methodistische Charakteristika des Gottesdienstes vorgestellt. Eine ökumenische Ermutigung bildet den Schluss des Beitrags.

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Leben im Kirchenjahr Ein Beitrag aus der Herrnhuter Brüdergemeine Stefan Richter

1. Vorbemerkung Folgenden Gedanken liegt keine wissenschaftliche Forschung zugrunde. Die Ausführungen beruhen zum großen Teil auf persönlicher Erfahrung und Reflexion und sind als solche dem Brauchtum der Herrnhuter Brüdergemeine zuzuordnen. Die liturgische Praxis in anderen Freikirchen ist nicht berücksichtigt worden.

2. Das Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine1 Wer sich über die Theologie und Frömmigkeit einer Kirche ein Bild machen möchte, der ist gut beraten, zunächst erst einmal das Gesangbuch der jeweiligen Kirche in die Hand zu nehmen. Denn Aufbau und Inhalt der Gesangbücher der unterschiedlichen Kirchen – und Freikirchen – folgen jeweils bestimmten theologischen und dogmatischen Schwerpunktsetzungen. Das Gesangbuch der Brüdergemeine folgt der Struktur des Apostolischen Glaubensbekenntnisses und nicht dem Ablauf des Kirchenjahres (wie das Evangelische Gesangbuch). Da das Kirchenjahr in seiner Struktur aber mehr oder weniger der Gliederung des Glaubensbekenntnis

1 Evangelische Brüder-Unität (Hg.), Gesangbuch der Evangelischen

Brüdergemeine, Bad Boll-Herrnhut-Zeist, 2007.

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ses folgt, ist auch in dieser Hinsicht belegt, dass das Kirchenjahr in der Frömmigkeit der Brüdergemeine fest verankert ist.

3. Das Kirchenjahr Das Kirchenjahr ist „eine eigene kirchliche Zeitgliederung von Advent bis zum letzten Sonntag nach Trinitatis“,2 dessen Grundlage ein christlicher Festkalender bildet. Die Eckdaten dieses Festkalenders – Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten – verinnerlichen die letzten Tage Jesu auf Erden und die Erfahrungen der Frauen und Männer, die sich zu Jesus gehalten hatten, nach seinem Tod und seiner Auferstehung. Das Geniale der Zuordnung der anderen Fest-, Gedenk- und Feiertage innerhalb des Kirchenjahres ist, dass sie sich an den sich stets wiederholenden Rhythmus der Schöpfung vom Säen, Keimen, Wachsen, Blühen, Absterben der Blüte, Heranreifen der Frucht, Reife und Ernte anlehnen. So können wir das Kirchenjahr als einen dem Rhythmus der Schöpfung eingepassten Feier- und Gedenktagskreis verstehen, dem jährlich wiederkehrend in der liturgischen Gestaltung der sonntäglichen Versammlungen der Gemeinde Ausdruck verliehen wird. Exkurs I: Der Begriff „Gottesdienst“ in der Brüdergemeine Da es in erster Linie um das Versammlungsleben an den Sonntagen geht, sei in diesem Zusammenhang hingewiesen auf den Gottesdienstbegriff in der Tradition der Herrnhuter Brüdergemeine. 

2 G. Kretschmar, Art. Kirchenjahr 1. Geschichtlich, in: RGG3 3 (1959)

1440-1442, hier 1440.

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Gottesdienst ist nach Herrnhuter Auffassung nicht zu verstehen als besondere Zusammenkunft zu einer bestimmten Zeit. Gottesdienst umfasst das ganze Leben eines Christenmenschen. Die Liturgie setzt dabei in erster Linie Gott selbst. Graf Zinzendorf hat diesen Gedanken folgendermaßen formuliert: „Liturgisch ist ein gewisses, gesetztes, solides Wesen, das sich immer gegenwärtig ist, das, wenn es zu einer heiligen, göttlichen Handlung berufen wird, niemals erst eine Fassung braucht, sondern allemal in seiner Naturellen Situation bleiben kann, wie ihm ohnedem ist, und so hingehen und tun kann, was zu tun ist. Dann geht’s in einem liturgischen Gang mit der Seele, und sie kommt nie aus ihrem liturgischen Fach; der Mensch gewöhnt sich nach und nach: alle seine Handlungen, auskehren, Häuser waschen, wie man’s nennen mag und was vorkommen kann, von der größten bis zur kleinsten und niederträchtigsten Verrichtung mit einer Dignität zu tun, dabei die Jesushaftigkeit herausblickt und nichts dabei verliert. Das heißt liturgisch.“3 Der tägliche Gottesdienst beginnt also am Morgen mit dem Aufstehen und endet am nächsten Morgen mit dem Aufwachen. Alles, was wir innerhalb dieser 24 Stunden tun – auch die alltäglichen Verrichtungen –, tun wir in Verbindung mit Gott. Zinzendorf hat dafür den Begriff geprägt: Konnexion mit dem Heiland.4 

3 Jüngerhaus Diarium, Bd. 2, 228 (20. April 1760); zitiert nach:

H.Ch. Hahn / H. Reichel, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder, Hamburg 1977, 212f. 4 „Was ist denn die Hauptsumme alles Evangelii, wonach man vor allen Dingen zu fragen hat und alle Gemeinschaft im Geistlichen darauf zu gründen hat? Das nenne ich nach meiner Art mich auszudrücken: Die persönliche Konnexion mit dem Heilande. Ich kann mich über keinen meiner Brüder trösten, bis ich versichert bin, dass sie in einer persönlichen Konnexion mit dem Heilande stehen.“ Ohne Quellenangabe; zitiert nach: O. Uttendörfer, Zinzendorfs religiöse Grundgedanken, Herrnhut 1935, 144.

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Deshalb nennt man in der Brüdergemeine das, was in anderen Kirchen als Gottesdienst bezeichnet wird, Versammlung – in Anlehnung an den biblischen Begriff „“. Jede Versammlung ist ein kleiner Teil des großen Gottesdienstes des Lebens und eingebunden in die göttliche Liturgie. „Das ganze Leben der Gemeinde und jedes Gemeindegliedes ist Gottesdienst. Hier geschieht in umfassender und oft sehr alltäglicher Weise Gebet und Lob, Verkündigung und Ermutigung, Gottes Dienst. Darum soll auf jeden Fall die Versammlung am Sonntagvormittag – auch wenn sie zur zentralen Gemeindeversammlung geworden ist – nie Gottesdienst genannt werden, sondern Predigtversammlung, um den umfassenden Gottesdienst der Gemeinde nie aus dem Blick zu verlieren.“5 Exkurs II: Der Versammlungsort Da das ganze Leben als ein Gottesdienst verstanden wird, erübrigt sich die Frage nach einem besonderen Gottesdienstraum. Gott ist überall spürbar und erlebbar. Die Versammlungen der Brüdergemeine finden statt in einem schlichten, weißen Saal. Der besondere Charakter der Versammlung ergibt sich durch das Zusammenkommen der Gemeine. Die Farbe gewinnt die Versammlung in der Regel durch das mehr oder weniger bunte Miteinander der Geschwister – nicht durch etwaigen Schmuck oder sonstige Verzierungen. Ausnahmen sind die christlichen Feiertage, an denen der Saal je nach Anlass geschmückt wird: Von Advent bis Ende Epiphanien der Herrnhuter Stern, zur Weihnachtszeit der Christbaum etc. 

5 Europäisch-Festländische Brüder-Unität (Hg.), Handbuch für Ver-

sammlungen in der Brüdergemeine, Herrnhut-Bad Boll 1989, 14, Abs. 4.2.

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Die liturgischen Farben des Kirchenjahres sind uns nicht fremd, spielen in den Versammlungen der Brüdergemeine aber keine Rolle. Alles spielt sich ab vor dem weißen Hintergrund des Saals: So ist Raum für das, was „dran“ ist, und der Gemeine wird eine Konzentration auf das Wesentliche ermöglicht. Das Weiß steht für das Schlichte, das Einfache – aber gleichzeitig auch für Gott, für den Himmel. 3.1 Die Liturgie des Kirchenjahres als Rhythmus des Lebens Versteht man das Kirchenjahr als eine der natürlichen, von Gott gesetzten Liturgie eingepasste Ordnung eines Festkreises, liegt es nah, diesen Zyklus als gegeben anzunehmen. Selbstverständlich feiert die Brüdergemeine Advent, Weihnachten, Ostern und Pfingsten! Nicht nur aus Respekt und Hochachtung vor der überkommenen Überlieferung, sondern weil diese Tradition die Lebensnähe christlicher Theologie widerspiegelt. Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass der kirchliche Jahreskreis zum Beispiel auch den Zyklus eines Menschenlebens projiziert und somit Themen, Empfindungen und Erfahrungen anspricht, die ein jedes Menschenkind irgendwie berühren. Zur Verdeutlichung sei das im Folgenden angedeutet: Die Adventszeit trifft mit ihren Themen „Ankunft“, „Erwartung“, „Hoffnung“, „Verheißung“, „Vorfreude“ mitten ins Herz von Menschen, die mit dem Dunkel und der Finsternis im Leben nicht zurechtkommen. Weihnachten als Fest der Geburt Christi – mit der starken Geschichte vom Anfang des Lukasevangeliums – lässt selbst kirchenferne Menschen mit seinen Themen „Fremdsein in der Welt“, „Geburt“, „Freude“, „ein Him153

mel voller Engel“, „Frohe Botschaft den Außenseitern“ nicht unberührt. Die Epiphanienzeit – Themen: „Licht“, „Aufwachsen“, „Kindheit“ – und die Leidenszeit mit der wechselnden Benennung der einzelnen Sonntage – Thema: „Erwachsenwerden“ – stehen für die bewegte Zeit der Kindheit und Jugend, mit den vielen wechselnden und den ersten leidvollen Erfahrungen. Die Karwoche und Ostern stehen dann für „Totale Hingabe“, „Liebe bis zum Letzten, um das Leben zu gewinnen“, die nachösterliche Zeit für „Freude“ und die wachsende „Gelassenheit“ nach einer Sturm- und Drangphase, Himmelfahrt bringt noch einmal einen Umbruch in der Mitte des Lebens, an dem der eigene Ort im Leben noch einmal neu gefunden oder definiert werden muss. Pfingsten ist mit den Themen „Verständnis füreinander“, „Gemeinschaft“, „Lebensgeist“ ebenso wie Trinitatis mit dem „erfüllten Leben“ ein Paradigma für das Erwachsensein. Im Kirchenjahr folgt darauf die lange Reihe der Sonntage nach Trinitatis. Analog dazu fehlen in der Psychologie des Erwachsenenalters nennenswerte Paradigmen.6 Erst am Ende des Kirchenjahres kommt wieder Bewegung in die Lebensthematik: Am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr und am Ewigkeitssonntag die Themen „Tod“ und „Ewigkeit“. Ähnlich ließe sich das Kirchenjahr aber auch in die natürliche Liturgie der Schöpfung einpassen – mit dem stetig wiederkehrenden Rhythmus von Spätherbst, Winter, Frühjahr, Sommer, Herbstbeginn.



6 J. Scharfenberg, Einführung in die Pastoralpsychologie, Göttingen

1985, 81.

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3.2 Die Betonung der Christologie Die Befürchtung, dass bei dem Ansatz, die Liturgie Gottes an den Jahreskreis anzulehnen, der Christozentrismus der Brüdergemeine übersehen würde oder gar verloren ginge, schwindet zum einen mit der Vergegenwärtigung des Gedankens, dass, „wenn sich im Kirchenjahr tatsächlich so etwas wie die Struktur eines Curriculum Vitae ausmachen lässt,“ es sich dabei „natürlich in erster Linie“ um „die ,Vita Jesu‘ und nicht die meine“ handelt. „Aber schließlich geht es doch dabei um die Aufgabe, mein Leben dem seinen ,anzuverwandeln‘, mich mit der Sache Jesu zu verbinden, meine Lebensgeschichte auf der Folie seiner Geschichte zu verstehen.“7 Der Vollständigkeit halber sei aber auch auf einen theologischen Kunstgriff Zinzendorfs hingewiesen: Schöpfungstheologie und Christologie mögen dogmatisch zwei gesonderte Disziplinen sein. Zinzendorf hat beides aber auf geniale Weise zusammengedacht: Christus ist für ihn Schöpfer und Heiland zugleich. Das heißt, in Jesus Christus hat sich der Schöpfer selbst ans Kreuz schlagen lassen. Das eigentliche Wunder in der Offenbarung Jesu Christi sind demnach nicht die Heilungsgeschichten oder andere wunderbar anmutende Erzählungen – dass Gott Wunder tut, ist kein Wunder, denn er ist ja Gott –, sondern dass Gott sich in Jesus ganz und gar verletzlich macht und stirbt: Das ist das Wunder! Die Bedeutung des Leidens und Sterbens Jesu findet noch immer – auch heute noch – Ausdruck im intensiven Versammlungsleben der Brüdergemeine in der Karwoche. Bereits in der Passionszeit stimmen spezielle liturgische Versammlungen mit Leidensbetrachtungen auf 

7 Ebd., 79. – Diese Ansicht stammt nicht aus der Brüdergemeine,

sondern ist für mich ganz persönlich die Weiterführung Zinzendorfischer Theologie.

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die Leidenszeit ein. In der Karwoche gibt es dann einen dichten Versammlungskreis mit Leseversammlungen, in denen die Leidensgeschichte in Abschnitten – jeweils unterbrochen von einem passenden Liedvers (oder mehreren) – gelesen wird. Höhepunkt in der Leidenswoche sind die Abendmahlsversammlung am Gründonnerstag und die Liturgie zur Sterbestunde am Karfreitag. Das, was in vielen Kirchen am Ewigkeitssonntag Brauch ist, geschieht in der Brüdergemeine am Ostermorgen: Die Gemeine versammelt sich – in Ortsgemeinen eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang – schweigend im Kirchsaal zu einer Liturgie, die mit dem dreifachen Ruf beginnt: „Der Herr ist auferstanden!“, den die Gemeine jeweils mit: „Er ist wahrhaftig auferstanden!“ erwidert. Nach dem ausführlichen Lobe Gottes zieht die Gemeine dann anschließend beim Sonnenaufgang auf den Gottesacker, wo die Liturgie fortgesetzt wird und in die Auferstehung hinein die Namen der (nach Ostern des Vorjahres) heimgegangenen Schwestern und Brüder verlesen werden. 3.3 Doppelmitgliedschaft und Kirchenjahr Viele Mitglieder der Brüdergemeine in Deutschland sind gleichzeitig auch Mitglied in den jeweiligen Landeskirchen und besuchen in der Regel auch deren Gottesdienste. Diese Mitglieder sind auf diese Weise selbstverständlich mit dem Rhythmus des Kirchenjahres vertraut. Zudem wäre es im Blick auch auf die gesamte Ökumene ein Missgriff, sich vom Kirchenjahr zu lösen. Denn gerade an den besonderen Feiertagen im Kirchenjahr wird doch am deutlichsten, dass Kirchen in der öffentlichen Wahrnehmung und auch inhaltlich für die gleiche Sache stehen. 156

Dadurch, dass der Pfarrer im Gemeinebereich einer Regionalgemeinde nicht überall gleichzeitig sein kann, ergeben sich in einer Regionalgemeinde zuweilen recht kuriose Versammlungsformen: Im Advent wird zum Beispiel in einer Advents-Versammlung an einem Nachmittag – auch liturgisch – der Bogen vom Ersten Advent bis zur Christnachtfeier gespannt und in der Karwoche wird etwa an einem Ort die Sterbestunde-Liturgie mit anschließendem Abendmahl am Gründonnerstag gehalten, und an einem anderen Ort folgt auf die SterbestundeLiturgie am Karfreitag das Abendmahl.

4. Gedenktage der Brüdergemeine Das Kirchenjahr in der Herrnhuter Brüdergemeine ist neben den allgemein kirchlichen Festen und Gedenktagen durchwoben von einer Vielzahl „brüderischer“ Feste, die ihrerseits jährlich zurückkehren und die Erinnerung an die eigene Geschichte wachhalten. Allerdings geht es dabei nicht einfach nur um den Blick zurück. Diese Tage sollen nicht der brüdergeschichtlichen Erinnerung dienen, sondern sie sind Exempel der Geschichte Gottes mit den Menschen. „Es sind Spuren Gottes, die wie in der Gegenwart, so auch in der Vergangenheit verfolgt werden. Wichtig sind die Tage als Anlässe, das Wirken Gottes an einem konkreten Punkt kennen zu lernen und dadurch in die Art des Reiches Gottes hineinzuwachsen. Deshalb stehen auch historische Gedenktage und dogmatisch bestimmte Gedenktage in buntem Wechsel nebeneinander.“8 

8 Zitiert nach: Direktion der Brüder-Unität (Hg.), Handbuch der Ver-

sammlungen in der Brüdergemeine. Eine Arbeitshilfe für Liturgen und Kirchenmusiker, Herrnhut-Bad Boll 1990, 36f.; W. Bettermann, Liturgik I-III (Vorlesungsnachschrift).

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Zinzendorf liebte Gedenktage; er sah sie in der Linie der alttestamentlichen Denktage und Denksteine. Schon in den Statuten „Brüderlicher Verein und Willkür“ vom 12. Mai 1727 heißt es: „Solange man siehet, dass kein Handwerk daraus wird, ist es gut, dass gewisse Tage bei der Gemeine überhaupt in sonderlichem Andenken der Treue Gottes mit Fasten und Beten oder Dank und Verherrlichung des Herrn zugebracht werden …“9 In der Kirchenordnung der Herrnhuter Brüdergemeine wird darauf noch einmal ausdrücklich hingewiesen: „Im Feiern kommt die Freude am Herrn und seiner Schöpfung, aneinander und an uns selbst zum Ausdruck. Unter den vielfältigen Anlässen ragen die Feste des Kirchenjahres, die Gedenktage der Brüder-Unität … hervor.“10 4.1 Gedenktage der Brüder-Unität – Das „Brüderische Kirchenjahr“ Wie eine Folie legt sich über den Zyklus des allgemeinen Kirchenjahres also ein brüderischer Festkreis mit Tagen aus der Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine. 1. März 1457 26. März 1467 12. Mai 1727 17. Juni 1722 6. Juli 1415

Gründung der Unitas Fratrum Wahl der ersten geistlichen Diener der Unitas Fratrum Unterzeichnung der „Statuten“ Herrnhuts Gründung Herrnhuts Todestag von Johan Hus



9 H.Ch. Hahn / H. Reichel (Anm. 3), 76, Punkt 4.

10 Evangelische Brüder-Unität (Hg.), Kirchenordnung, Bad Boll 1961,

§ 1601 Abs. 3.

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13. August 1727 17. August 1727 21. August 1732 16. September 1741 13. November 1741

Gemeinschaftserlebnis in Berthelsdorf Kindererweckung in Herrnhut Aussendung der ersten Missionare aus Herrnhut Jesus Christus als Haupt der Gemeine Proklamation des Ältestenamts Jesu Christi in der Brüdergemeine

4.2 Die Chorfeste Die Folie mit den brüderischen Gedenktagen wird mit der zusätzlichen Folie mit besonderen Festtagen für die natürlichen Gruppen in der Gemeinde überdeckt. Die Gemeinde ist seit den Gründungsjahren in Herrnhut eingeteilt in sogenannte Chöre, deren Zusammensetzung sich aus dem Geschlecht und dem Familienstand ergeben. Witwen bildeten einen Chor, wie auch die Witwer, die Eheleute, die ledigen Schwestern, die ledigen Brüder, die Großmädchen, die Großknaben und Kinder.11 Dieser Tradition nach feiern alle Chöre einmal im Jahr an bestimmten, festgelegten Feiertagen ein speziell für sie eingesetztes Fest: 7. September 4. Mai

Ehechorfest (Zinzendorfs Hochzeitstag 1722) Ledige Schwestern (Zusammenschluss der ledigen Schwestern mit Anna Nitschmann in Herrnhut 1730)



11 Handbuch der Versammlungen (Anm. 8), 39, Abs. 16.

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29. August

30. April 31. August 4. Juni 9. Juli 17. August

Ledige Brüder (Brüdereinrichtung durch Johannes von Wattewille) Witwen Witwer Großmädchen Großknaben Kinder

Aufgrund der veränderten Sozialstruktur vieler Gemeinden hat die traditionelle Choreinteilung an Bedeutung verloren und wird heute kaum noch im vollen Umfang praktiziert. Auch der Kreis der traditionellen Chorfeste wird nicht mehr durchgängig durchgehalten, wohl aber spielen bestimmte Feste wie Ehechorfest oder Kinderfest nach wie vor eine wichtige Rolle. 4.3 Die Gebetswacht Eine dem Jahresrhythmus angepasste Folie – ohne jegliche inhaltliche Bindung an das Kirchenjahr oder an irgendeinen anderen Festkreis – ist die Gebetswacht in der Brüdergemeine, die sich als selbstständige liturgische Einheit verstehen lässt. So ergibt sich nach dem Kirchenjahr, den brüderischen Gedenktagen und den Chorfesten eine vierte Folie eines liturgischen Zyklus in der Brüdergemeine. Die Gebetswacht ist eine ununterbrochene Gebetskette für die Kirche im Allgemeinen und die Brüder-Unität im Besonderen. Dieses Gebet wird rund um die Uhr unter Beteiligung der verschiedenen Unitätsprovinzen der Brüdergemeine gehalten. In der Regel hat jeweils eine Gruppe von drei bis vier Gemeinden einen Tag dieses Gebet zu halten und gibt es nach diesem Tag weiter an die nächste Gruppe von Gemeinden. So wandert diese 160

Gebetskette über den ganzen Globus und schafft eine kostbare Gemeinschaft im Gebet über Völker- und Ländergrenzen hinweg.

5. Die Losungen – Die ganz andere Liturgie innerhalb des Kirchenjahres Schließlich sei noch auf die aus der Brüdergemeine kommende Tradition der Losungen hingewiesen, die sich gewissermaßen als letzte Folie über die anderen liturgischen Zyklen legt. Die Losungsworte werden buchstäblich durch das Los bestimmt. Sie sind also nicht Resultat theologischer Überlegungen oder Zuordnungen. Die Losungen sind ein Relikt der Lospraxis in der Brüdergemeine: Gott spricht zu mir bzw. zu uns in jeweils besonderen Situationen des Lebens. So könnte es sein, dass es durch ein bestimmtes Bibelwort mitten im Sommer plötzlich Weihnachten für mich wird. – Wichtig ist, dass mir durch die Losungen deutlich werden darf, dass Gott an jedem Tag in meinem Leben zu mir spricht, mich anspricht, mich begleitet mit seinem Wort. Bei den Lehrtexten und Dritttexten der Losungen allerdings ist es durchaus auch üblich, dass zur Osterzeit gezielt österliche Worte und zur Weihnachtszeit weihnachtliche Worte den Losungsworten zugeordnet werden. Insofern ist das Losungsbuch beides: Frei von Einordnung in ein theologisches System, aber in das liturgische Leben der weltweiten Kirche eingebettet.

6. Kirchenordnung der Brüder-Unität Gleichsam als Fazit möchte ich drei Aussagen der Kirchenordnung der Brüder-Unität zitieren, die die theolo161

gischen Leitlinien für unseren Umgang mit dem gottesdienstlichen Leben und dem kirchlichen Kalender enthalten: „§ 667 Die Brüder-Unität hat aus ihrer Vergangenheit ein reiches Erbe an Gemeindegottesdiensten, Liedern, Liturgien, kirchlichen Bräuchen und der Feier des Kirchenjahres übernommen. Es gilt jedoch grundsätzlich, dass gottesdienstliche Formen nicht Selbstzweck sind, sondern Mittel zu einem Zweck, nämlich der Anbetung Gottes in Jesus Christus und der erneuerten Hingabe an seinen Dienst. § 668 Ferner ist es stets ein Grundsatz der Brüder-Unität gewesen, dass in allen Gottesdiensten die Gemeinde eine aktive Rolle spielen sollte. Das liturgische Leben ist in der Brüder-Unität daher nie festgelegt oder starr gewesen, sondern auf Beweglichkeit angelegt, um den Erfordernissen der Kirche am besten dienen zu können. § 669 Jede Provinz hat danach gestrebt, ihre eigenen Liturgien für öffentliche Versammlungen zu schaffen und zu entwickeln, aber die Formen, in denen die Sakramente verwaltet werden, und besondere ‚brüderische’ Gottesdienste wie das Liebesmahl und die Feier von Advent und Weihnachten, Karfreitag und Ostern haben sich in der gesamten Unität in ähnlicher Form erhalten.“12

ZUSAMMENFASSUNG Das Kirchenjahr als ein dem Rhythmus der Schöpfung eingepasster Feier- und Gedenktagskreis nimmt in seinen Festen den Zyklus eines Menschenlebens sowie den natürlichen Ablauf der Schöpfung auf und konzentriert diese zugleich auf ihre christologische Mitte hin. Neben den allgemein kirchlichen Festen und Gedenktagen ist  12 Kirchenordnung (Anm. 10).

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das Kirchenjahr zugleich durchwoben von einer Vielzahl „brüderischer“ Feste, die die Erinnerung an die eigene Geschichte wachhalten und Beispiele für die Geschichte Gottes mit den Menschen darstellen. Daneben sind die Gebetswacht und die Losungen prägende Elemente brüderischer Liturgie im umfassenden Sinn eines Gottesdienstes des ganzen christlichen Lebens.

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Herausforderungen für den Katholizismus in der Moderne Gesellschaftliche und innerkirchliche Perspektiven Judith Könemann

Dass es um den christlich institutionell verfassten Glauben und dessen Praxis, anders formuliert, um die Situation der institutionell verfassten Religion des Christentums in ihren konfessionellen Spielarten nicht ganz leicht bestellt ist, ist seit vielen Jahren zumindest in Westeuropa quasi zur religionssoziologischen Selbstverständlichkeit geworden. Dies gilt auch ungeachtet der Tatsache, dass der gesellschaftliche Diskurs in den letzten zwanzig Jahren wieder eher auf eine Wahrnehmung und Thematisierung von Religion in ihren verschiedenen Dimensionen eingeschwenkt ist. Allerdings hält die gesteigerte Wahrnehmung von Religion im politischen und öffentlichen Feld nicht die allmählichen, aber deutlichen Erosionsprozesse auf der Ebene der Pfarrgemeinden auf. Worin die Herausforderungen christlichen Glaubens, insbesondere der katholischen Tradition, bestehen, dem soll im Folgenden nachgegangen werden. Der institutionell verfasste Glaube in der konfessionellen Spielart des Katholizismus steht vor zwei Herausforderungen. Diese gründen in Entwicklungen und Phänomenen, die unmittelbar auf die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse zurückzuführen sind und diesbezüglich auch insgesamt für das institutionell verfasste Christentum gelten. Mit diesen beschäftigt sich der erste Teil des Aufsatzes, in dem die These vertreten wird, dass eine der wesentlichen Herausforderungen für die Religion und ihre institutionalisierten Organisationen, die Kir165

chen, im Phänomen der Konkurrenz besteht. Und zwar nicht in einer Konkurrenz bedingt durch religiöse Pluralisierungsprozesse durch andere religiöse Traditionen wie etwa den Islam, sondern vor allem in einer Konkurrenz durch das Säkulare, dem sich Religion überhaupt, aber insbesondere auch die Praxis des christlich institutionell verfassten Glaubens gegenüber sieht. Ein zweites Feld von Herausforderungen ist demgegenüber eher innerkirchlich begründet und richtet sich auf spezifische Reaktionsmuster der Institution und Organisation Kirche auf die Modernisierungsprozesse.

1. Religion und Moderne – ein spannungsreiches Verhältnis Das Verhältnis von Religion und Moderne ist in der Religionssoziologie seit Jahrzehnten Gegenstand intensiver Debatten. Dabei werden im Großen drei Theorieansätze unterschieden, die das Verhältnis von Religion und Moderne beschreiben. Alle drei Theorien erheben zugleich den Anspruch, die Situation von Religion in der Moderne zu erklären. Es handelt sich hier um die Modernisierungstheorie, die Theorie der Individualisierung und spirituellen Revolution sowie den aus den USA stammenden Theorieansatz des religiösen Marktes. 1.1 Die Modernisierungstheorie Im Mittelpunkt der Modernisierungstheorie, die auch unter dem Namen Säkularisierungstheorie bekannt ist, steht die schon von den Klassikern der Soziologie wie Auguste Comte, Herbert Spencer, Emile Durkheim und Max Weber vertretene Auffassung, dass die Folgen der 166

Aufklärung, das Voranschreiten der Industrialisierung und die zunehmende Arbeitsteilung langfristig zu einem Niedergang des Religiösen führen müssen. Je nach Facette der Modernisierungstheorie steht dabei entweder der Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung im Mittelpunkt des Theorieansatzes oder die Tatsache, dass eine – im Unterschied zur vormodernen – aufgeklärte Welt, in der es kaum noch Risiken gebe, eine Welt, die und in der (fast) alles erklärt werden könne, kaum noch der Religion bedürfe, da der Hauptgegenstand der Religion, nämlich Unerklärliches erklärbar zu machen und Sicherheit in Unsicherheit zu schaffen mehr und mehr entfalle.1 Je mehr man also erklären könne, desto weniger Religion bedürfe es. Auch falle es dem Individuum immer schwerer an „transzendente Mächte“, wie etwa Götter, Engel oder Teufel zu glauben, ein Grund liege – erneut – in der uns umgebenden modernen Gesellschaft, welche unerwartete Geschehnisse routinemäßig wissenschaftlich (geologisch, medizinisch, physikalisch usw.) erklärt. Ein anderer Grund für einen Bedeutungsverlust von Religion kann darin gesehen werden, dass moderne Gesellschaften immer plurale Gesellschaften sind. Das Individuum sieht sich vielen verschiedenen Religionen und ebenso nicht-religiösen Weltanschauungen gegenüber, die alle je einen – manchmal absoluten – Wahrheitsanspruch anmelden. Dies führt im modernen Bewusstsein zu einer Selbstrelativierung und zur Distanzierung vom eigenen religiösen Standpunkt. Alle Religion verliert damit an Gewissheit; es kommt, so Peter L. Berger, zum „Zwang zur Häresie“.2  1 So die Funktionszuweisung von N. Luhmann, Funktion der Religi-

on, Frankfurt a.M. 1977; ders., Die Religion der Gesellschaft. Hg. v. A. Kieserling, Frankfurt a.M. 2000. 2 P.L. Berger, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Aus dem Amerikan. v. W. Köhler, durchges. u. verb. Ausg. der 1980 ersch. dt. Ausg., Freiburg i.Br. 1992.

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1.2 Individualisierung und/oder Spiritualisierung der Religion Ein zweiter erklärender Theorieansatz ist der Ende der 1960er-Jahre durch Thomas Luckmann3 in die Diskussion gebrachte Ansatz der „unsichtbaren Religion“, der in der These der Privatisierung und dann auch Individualisierung von Religion mündete. Luckmanns Argumentation – zusammen mit dem eingängigen Buchtitel von der unsichtbaren Religion – inspirierte ganze Generationen von Religionssoziologen und -wissenschaftlern, an diversen, z.T. kontra-intuitiven Orten nach „unsichtbarer“ und durch die Forschung sichtbar zu machender Religion zu suchen. Der Grundgedanke dieses Ansatzes lautet, dass nicht die Religion zurückgehe, wir es also nicht mit einem Nachlassen von religiösen Bezügen zu tun haben, sondern sich die Formen des Religiösen veränderten und privatisierten. Die institutionalisierte, das „offizielle Modell“ der Religion, d.h. die traditionelle Kirchlichkeit würde ersetzt durch frei wählbare alternative Formen von Religiosität und Spiritualität. Damit pluralisierten sich auch die religiösen Angebote, sodass das Individuum immer mehr gezwungen ist, eine Wahl zwischen den verschiedenen Angeboten zu treffen. Als eine Variante zur Individualisierungsthese als unsichtbarer Religion kann auch die These betrachtet werden, Religion lagere sich zunehmend an kulturellen Beständen unserer Gesellschaft an, die ebenso ein „Bedürfnis nach letztem Sinn“ oder nach „Ritual“ abdecken; so käme es etwa zu Anlagerungen wie z.B. Fußball, Werbung oder



3 Vgl. Th. Luckmann, The invisible religion. The problem of religion

in modern society, New York 1967; ders., Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991.

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Wellness.4 In einer weiteren Variante wird die These vertreten, die unsichtbare Religion sei in bisher weniger beachteten Elementen der traditionellen Religiosität zu sehen. Zwar sinke die beobachtbare religiöse Praxis und die Verbindung zu den Kirchen, aber die Leute hielten doch an ihrem Glauben fest. Dies ist die berühmte These des „Believing without belonging“ von Grace Davie.5 Religiöse Individualisierung geht vielfach auch mit der Annahme eines großen und vor allem wachsenden Feldes alternativer Religiosität einher. Die „unsichtbare Religion“ wird dann in Phänomenen, die heute oft „New Age“ oder „alternative Spiritualität“ genannt werden, verortet. Paul Heelas und Linda Woodhead sprechen gar von einer „spirituellen Revolution“.6 Die kirchliche Religiosität würde langfristig durch Phänomene wie Astrologie, Yoga, Channelling, Engelsglauben, Kristall-Heilungen usw. ersetzt oder verwandle sich unmerklich in eine solche.7 

4 Vgl. H.-J. Höhn, Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion

im Wandel, Paderborn 2007; H. Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2009. 5 G. Davie, Religion in Britain since 1945. Believing without belonging, Oxford 1994. Eine von Davie selbst formulierte Variante des “Believing without belonging” ist das Konzept der “vicarious religion” (P.L. Berger u.a., Religious America, secular Europe? A theme and variations, Aldershot 2008, 39-41). Hiernach sind zwar viele Personen in westlichen Gesellschaften in der Tat kaum religiös, es gibt aber wenige religiöse Personen, die sozusagen stellvertretend für die anderen mit deren unausgesprochener Billigung die Religion praktizieren. Ablesbar ist diese Variante z.B. an Aussagen wie: Es ist gut, dass es die Kirchen gibt und Menschen sich engagieren, gerade für die Ärmeren etc. 6 P. Heelas / L. Woodhead, The spiritual revolution. Why religion is giving way to spirituality, Malden 2005. 7 Vgl. Ch. Bochinger u.a., Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur, Stuttgart 2009 (Religionswissenschaft heute 3). Siehe als wichtige Literatur hierzu auch J.P. Bloch, New spirituality, self, and belonging. How New Agers and Neo-Pagans talk

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1.3 Rational Choice oder Ansatz des Marktes Der dritte Theorieansatz stammt aus den USA und wurde von Forschern wie Rodney Stark,8 Roger Finke, William Bainbridge und Laurence Iannaccone Ende der 1980er-Jahre in die Diskussion gebracht. Hier wird im Unterschied zu den anderen beiden Ansätzen sehr stark die Tatsache, dass auch Religion ein Markt ist, in dem um Mitglieder oder auch „Kunden“ gekämpft wird und damit das Prinzip Konkurrenz herrsche, betont.9 Nun würde aber in regulierten Märkten mit einem religiösen Monopol wie z.B. in Deutschland der Markt mit zu teuren und qualitativ weniger guten religiösen Produkten versorgt, wodurch die Religion unattraktiv würde und deshalb wenig nachgefragt wird. Dadurch erkläre sich die niedrige Religiosität in Westeuropa. In Ländern ohne Regulierung, Ländern mit freier Konkurrenz also, stehen die religiösen Gemeinschaften miteinander im Wettstreit, eifern um die Gunst der Gläubigen und produzieren genau diejenigen religiösen Güter, welche den Men

about themselves, Westport 1998; Ch. Bochinger, „New Age“ und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen, 2., durchges. u. korr. Aufl., Gütersloh 1995; W. Gebhardt u.a., Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts. Der „spirituelle Wanderer“ als Idealtypus spätmoderner Religiosität, in: ZfRW 13 (2005) 133151; H. Knoblauch (Anm. 4). 8 Vgl. R. Stark, Secularization, R.I.P., in: SocRel 60 (1999) 249-273; R. Stark / W.S. Bainbridge, A theory of religion, New York 1987; R. Stark / L.R. Iannaccone, A Supply-Side Reinterpretation of the “Secularization” of Europe, in: JSSR 33 (1994) 230-252; R. Finke / R. Stark, The churching of America 1776-1990. Winners and losers in our religious economy, New Brunswick 1992. 9 Vgl. L.R. Iannaccone, The Consequences of Religious Market Structure. Adam Smith and the Economics of Religion, in: RatSoc 3 (1991) 156-177; ders., Introduction to the Economics of Religion, in: JEL 36 (1998) 1465-1495; R.St. Warner, Work in progress toward a new paradigm for the Sociological Study of Religion in the United States, in: AJS 98 (1993) 1044-1093.

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schen am besten zusagen. Die Konsequenz: eine hohe Gesamtreligiosität, wie wir sie etwa in den USA finden. Betont wird nun in jüngster Zeit auch, dass die Konkurrenz nicht nur zwischen den Anbietern religiöser Güter herrsche, sondern auch zwischen religiösen Gruppen auf der einen und säkularen Institutionen auf der anderen Seite.10 Der wichtigste Konkurrent der Religion oder der Kirchen ist damit nicht etwa eine andere Kirche, sondern die Tatsache, dass die Mitglieder viele andere, eben nicht religiöse Dinge tun können. So haben Forschungen gezeigt, dass Religiosität abnimmt, wenn z.B. verbesserte Einkaufsmöglichkeiten bestehen, der Wohlfahrtsstaat ausgebaut wird oder generell die Konsummöglichkeiten steigen.11

2. Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse und säkulare Konkurrenzen Die westeuropäischen Gesellschaften haben sich im Laufe des späten 19. und 20. Jh., vor allem nochmals in der zweiten Hälfte des 20. Jh., tiefgreifend modernisiert. Modernisierung drückt sich in verschiedensten Dimensionen aus. Ein oft verwendeter Indikator ist der „Human Development Index“ (HDI), der z.B. das Bruttoinlandsprodukt oder den Demokratisierungsgrad, das Bil

10 Vgl. J. Stolz, A silent battle. Theorizing the effects of competition

between churches and secular institutions, in: RRelRes 51 (2009) 253-276. 11 Vgl. J. Gruber / D.M. Hungerman, The church versus the Mall. What happens when religion faces increased secular competition?, in: QJE 123 (2008) 831-862; A. Gill / E. Lundsgaarde, State welfare spending and religiosity: A cross-national analysis, in: RatSoc 16 (2004) 399-436; J. Hirschle, From religious to consumption-related routine activities? Analyzing Ireland’s economic boom and the decline in church attendance, in: JSSR 49 (2010) 673-687.

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dungssystem u.a. misst. Demnach ist der Einzelne heute etwa fünf Mal wohlhabender als 1920, die Einschulungsquote ist im Laufe des 20. Jh. auf fast 100 % gestiegen, die Kindersterblichkeit von 250 pro Tausend im Jahr 1870 auf 25 pro Tausend 1970 gesunken.12 Bedeutende modernisierende Veränderungen zeigen sich im wohlfahrtsstaatlichen Bereich, etwa durch die Einführung von Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung, und ähnlich rasante Entwicklungen sind auch in der Mobilität und der Kommunikationstechnologie zu beobachten, man denke an den Arbeitsmarkt oder die Entwicklung des Internets. Zentral für den Gegenstand der Religion ist auch die Entwicklung der Freizeit. Seit der Industrialisierung wurde das Ausmaß der nicht für Arbeit verwendeten Zeit ständig erweitert und dementsprechend vermehrten sich die Möglichkeiten, die eigene Freizeit zu gestalten (Kino, Individualsport, Urlaub, Reiseziele) enorm.13 Ein besonderer Zug der Modernisierung liegt in der zunehmenden Ausweitung der Individualrechte, wodurch zum einen die Geschlechter immer mehr gleichgestellt wurden und zum andern immer weitere Gruppen von Personen in die Gesellschaft „inkludiert“ wurden,14 beredte Beispiele sind die zunehmende Anerkennung und teilweise Gleichstellung von Homosexuellen – wenn auch kirchlich höchst umstritten – und die Anerkennung anderer Religionen und Konfessionen. Wir können zusammenfassend sagen, 

12 Vgl. R. Münz / R. Ulrich, Demografischer Übergang – Theorie und

Praxis (Stand: Oktober 2007), www.berlin-institut.org/online-handbuchdemografie / bevoelkerungsdynamik / auswirkungen / demografischeruebergang.html (Zugriff 6. Juni 2012); O. Razum / J. Breckenkamp, Kindersterblichkeit und soziale Situation: Ein internationaler Vergleich, in: Deutsches Ärzteblatt 104 (2007) A-2950-A-2956. 13 Vgl. H.-W. Prahl, Soziologie der Freizeit, Paderborn 2002. 14 Vgl. R. Münch, Globale Dynamik, lokale Lebenswelten. Der schwierige Weg in die Weltgesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, 27-67.

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dass sich die Gesellschaft innerhalb des 20. Jh. in dramatischer Weise modernisiert hat, wodurch die einzelne Person (durchschnittlich) sehr viel reicher, besser gebildet, medizinisch besser betreut, mobiler, technisch besser ausgestattet wurde. Sie hat sehr viel mehr Freizeit und verfügt über die Ressourcen, um diese Freizeit ganz individuell auszufüllen. Sie ist freier in ihren Entscheidungen bezüglich Wohnort, Bildungsaspiration, sexueller Ausrichtung, Lebensstil – und nicht zuletzt religiöser Zugehörigkeit und Praxis. Die moderne Gesellschaft ist gekennzeichnet von einer hohen Pluralität und damit der Möglichkeit, aber auch dem Zwang, zwischen den vielen verschiedenen Angeboten und Optionen im materiellen, aber vor allem immateriellen Sinne wählen zu können und zu müssen. Dabei nimmt Religion nun keine Sonder- oder übergeordnete Rolle mehr ein, sondern ihre Angebote stehen neben den Angeboten anderer Religionen und vor allem auch neben säkularen Angeboten. Die Modernisierungsprozesse und ihre Konsequenzen stellen die religiösen Systeme im 20. und 21. Jh. in den westeuropäischen Gesellschaften unter erheblichen Druck. Für die Religion hat die Modernisierung vor allem drei zentrale Konsequenzen: Zum ersten kommt es zu einer Umstellung von religiösen Zwangs- zu Wahlmilieus. Individuen gehen nicht mehr einfach „selbstverständlich“ in die Kirche, Taufe und Konfirmation geschehen nicht mehr „automatisch“. Das Zuwiderhandeln wird nicht mehr negativ sanktioniert. Religiöses Handeln muss von nun an aufgrund eigener Präferenzen geschehen. Zweitens entsteht eine große Anzahl säkularer Handlungsoptionen, die eine Konkurrenz zu den Angeboten der religiös-spirituellen Milieus darstellen. Dabei sind die vielleicht wichtigsten Gebiete dieser Konkurrenz (a) andere, säkulare Zeitverwendungsmöglichkeiten, (b) säkulare Deprivationsbewältigungsstrategien und (c) säkulare Plausibilitätsstrukturen. Drittens kommt 173

es zu einer Konkurrenz zwischen religiösen und säkularen Sozialisationsprozessen. Sowohl in der Familie als auch im schulischen Bereich kommt es zur Frage, wie viel Raum der religiösen Erziehung gegenüber säkularer Erziehung und anderen Zeitverwendungsmöglichkeiten eingeräumt werden soll. 2.1 Zeit/Opportunitätskosten Noch im 19. Jh. und bis ins 20. Jh. hinein war religiöse Praxis eine sozial erwartete Tätigkeit. Sie gehörte zur öffentlichen Person und wurde nicht als „Freizeitbeschäftigung“ angesehen, wie überhaupt Freizeit noch nicht als Zeit individueller Selbstentfaltung, sondern als Moment der Erholung von der Arbeit betrachtet wurde.15 Durch die modernisierenden Tendenzen des 20. Jh. wird religiöse Praxis immer mehr zur Sache individueller Wahl und gerät in Konkurrenz mit Freizeitbeschäftigungen wie auch mit Erwerbsarbeit.16 Die „Opportunitätskosten“ religiösen Handelns werden bewusst: An einem Sonntagmorgen kann man in die Kirche gehen, aber man kann auch ausschlafen, joggen, sich einmal Zeit für die Familie nehmen, die Rechnungen bezahlen etc.17 Je mehr religiöse Normen fallen, desto stärker wird die Konkurrenz, z.B. durch Sonntagsshopping. Besonders für Frauen haben sich die Opportunitätskosten religiösen Handelns im Laufe des 20. Jh. dramatisch verändert. Während Frauen noch zu Beginn des 20. Jh. normalerweise nicht außer Haus arbeiteten, wurden sie 

15 Vgl. M. Lamprecht / H. Stamm, Die soziale Ordnung der Freizeit.

Soziale Unterschiede im Freizeitverhalten der Schweizer Wohnbevölkerung, Zürich 1994. 16 Vgl. N. Luhmann, Funktion (Anm. 1). 17 Vgl. J. Gruber / D.M. Hungerman (Anm. 11).

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im Laufe der Zeit immer mehr in den Arbeitsmarkt integriert. Die klassische weibliche religiöse Praxis erhielt durch Erwerbsarbeit eine deutliche Konkurrenz.18 2.2 Deprivation Es spricht viel für die Ansicht, dass es Religionen ganz generell darum geht, mit Hilfe überweltlicher Mächte Unheil abzuwenden und Heil zu spenden.19 So haben auch die christlichen Kirchen seit jeher Lösungen für menschliche Probleme aller Art angeboten. So kann z.B. der Gläubige im Gebet mit Gott seine Schwierigkeiten darlegen und um Lösung nachsuchen, eine Wallfahrt kann zu körperlicher oder seelischer Heilung führen, die Seelsorge spendet Trost, in der Diakonie hilft die Kirche konkret. Über Jahrhunderte hinweg waren die Kirchen zuständig für die Armen- und Krankenpflege. Im 19. Jh. widmeten sie sich mit dem Aufkommen der „sozialen Frage“ den wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben.20 Diese Aufgaben wurden mit Entwicklung unseres Wohlfahrtsstaats immer mehr von diesem übernommen und somit säkularisiert. Die voranschreitende Modernisierung führt zunehmend zu weiterer Konkurrenz zwischen kirchlichen 

18 Vgl. D. de Vaus / I. McAllister, Gender differences in religion. A

test of the Structural Location Theory, in: ASR 52 (1987) 472-481; H.R. Ebaugh, The growth and decline of catholic religious orders of women worldwide. The impact of women’s opportunity structures, in: JSSR 32 (1993) 68-75. 19 Vgl. M. Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007; M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, 9. Aufl., photomechan. Nachdr. der 1920 ersch. Erstaufl., Tübingen 1988. 20 Vgl. U. Altermatt, Schweizer Katholizismus von 1945 bis zur Gegenwart. Abschied vom „katholischen Milieu“, in: PolSt 32 (1981) 53-62; ders., Schweizerischer Caritasverband 1901-2001, in: ZSKG 95 (2001) 179-196.

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und säkularen Angeboten, als Beispiel sei hier die Konkurrenz zwischen Seelsorge und Psychotherapie genannt. Noch immer ist es möglich, für Heilung zu beten, einen christlichen Heilungsgottesdienst zu besuchen oder alternativ-spirituelle Heilungsmethoden anzuwenden. Dem steht jedoch eine äußerst wirkungsvolle, wissenschaftlich abgestützte Biomedizin gegenüber, welche sich ebenfalls für die Heilung des Körpers zuständig erklärt.21 So existiert heute für fast jedes ursprünglich kirchliche Feld auch ein säkulares Angebot. 2.3 Wissen und Werte Konkurrenz zeigt sich schließlich auch auf dem Gebiet des Wissens und der Werte. In der Alltagskommunikation hatten religiöse Erklärungsmuster lange Zeit das Monopol der Weltdeutung und Sinngenerierung und stellten so äußerst wichtige Ressourcen für einen großen Teil der Bevölkerung zur Verfügung.22 Die Redewendungen „Gott sei Dank“, „Behüt dich Gott“, „So Gott will“, „Der Mensch denkt, Gott lenkt“ sind sprachliche Zeugnisse. Vielerlei „letzte Fragen“ wurden wie selbstverständlich an die Religion delegiert und christlich beantwortet. Die Kirchengemeinden waren Orte des Informationsaustauschs und viele Medien, vor allem Printmedien, waren zunächst konfessionell geprägt. Auch auf diesem Gebiet des Wissens und der Werte kam es seit der Aufklärung und dann breitenwirksam im 20. Jh. zu einer fortschrei

21 Vgl. N. Gauthier-Durisch u.a., Quêtes de santé. Entre soins médi-

caux et guérisons spirituelles, Genf 2007.

22 Vgl. J. Könemann, „Ich wünschte, ich wäre gläubig, glaub’ ich”.

Zugänge zu Religion und Religiosität in der Lebensführung der späten Moderne, Opladen 2002.

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tenden Säkularisierung.23 Für „letzte Fragen“ lieferte die Wissenschaft eine Flut von säkularen Alternativerklärungen. Die Kirchen konkurrieren heute auch im Feld des Wissens und der Werte mit politischen Parteien, NGOs, Interessenverbänden, Unternehmen usw. 2.4 Konkurrenz durch säkulare Sozialisation Eine besondere Konkurrenz stellt die Ebene der Sozialisation dar. Hier ist ein Konkurrenzverhältnis von besonderer Bedeutung entstanden, weil die Weitergabe religiöser Traditionen – so eine der wichtigsten Erkenntnisse der religionssoziologischen Forschung – in besonderer Weise über Sozialisation erfolgt. Religiosität ist nicht einfach angeboren, Religionen sind Symbolsprachen, deren Riten, Mythen, Weltsichten und Heilsgüter vom Individuum erlernt werden müssen, bevor sie verwendet werden können.24 Sozialisation ist auch deshalb so wichtig, weil verschiedene Forschungen gezeigt haben, dass Individuen die in ihrer Jugend und im jungen Erwachsenenalter einmal internalisierten Werte, Normen und religiösen Überzeugungen meist ohne große Veränderungen „durch ihr weiteres Leben hindurch mitnehmen“.25 Noch bis ins 20. Jh. hinein war religiöse Sozialisierung im Elternhaus und in der Schule selbstverständlich. Die

23 Vgl. K. Imhof / P. Ettinger, Religionen in der medienvermittelten

Öffentlichkeit der Schweiz, in: M. Baumann / J. Stolz (Hg.), Eine Schweiz – viele Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens, Bielefeld 2007, 285-300. 24 Vgl. P.L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie. Aus dem Amerikan. v. M. Plessner, Frankfurt a.M. 1973. 25 Vgl. D. Voas / A. Crockett, Religion in Britain. Neither believing nor belonging, in: Sociology 39 (2005) 11-28.

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se Selbstverständlichkeit zerbrach zunehmend ab den 1950er- und 1960er-Jahren. Auch auf diesem Gebiet sind eine Wahl- und eine Konkurrenzsituation entstanden. Die Fragen, die viele heute stellen, heißen: Wozu braucht man die Taufe oder religiöse Rituale allgemein? Ist sie hilfreich, um die Kinder vor Unglück zu schützen? Wozu sollte man konfirmiert sein? Lernen die Kinder dort wichtige Werte? Immer stellt sich die Frage, was man in der betreffenden Zeit sonst noch tun könnte und was vielleicht mehr „Nutzen“ bzw. „Spaß“ bringt. Dabei ist nicht die Frage nach dem Nutzen an sich modern, diese stellte sich in Bezug auf Religion auch bereits in früheren Zeiten, modern ist die Konkurrenz, der sich das religiöse Angebot hier gegenübersieht. Betrachtet man die Entwicklung, so zeigt sich, dass die Richtung hin zu einer Durchsetzung des Säkularen geht, z.B. von dem ehemals kirchlichen Schulsystem zu einem staatlichen Schulsystem, von einem bekenntnisorientierten, konfessionellen zu einem religionskundlichen Religionsunterricht, zurzeit noch nicht in Deutschland, aber in den meisten anderen europäischen Ländern. Konkurrenz durch säkulare Angebote scheint eine der wesentlichen Herausforderungen der Moderne an die Religion zu sein. Demgegenüber tritt eine Konkurrenz durch religiöse Alternativen in den Hintergrund. Zwar gibt es auf der Ebene der gelebten und praktizierten Praxis kaum noch ein Christentum, das nicht in irgendeiner Form andere religiöse Traditionen einbezieht – dies gilt mindestens für die beiden Großkirchen –, aber dennoch sind die anderen Religionen, betrachtet man die Konversionszahlen, keine wirkliche Konkurrenz. Auch die alternative Religiosität stellt keine Konkurrenz oder Herausforderung dar, sie wird eher durch die Medien zu einem größeren Phänomen als sie ist. Empirisch verharrt sie seit Jahren auf den gleichen Werten. 178

3. Innerkirchliche Herausforderungen für den Katholizismus Wurde in den bisherigen Ausführungen der Katholizismus als Teil institutionalisierter Religion und ihrer Situation in der Gegenwart im Allgemeinen beleuchtet, wendet sich der zweite Teil nun dem Katholizismus im Besonderen zu. Im Folgenden werden einige innerkirchliche Entwicklungen betrachtet, die dem Katholizismus in der modernen Gesellschaft zur Herausforderung werden. Innerkirchliche Gründe für die Situation der katholischen Kirche zu Beginn des 21. Jh. liegen darin, dass es der katholischen Kirche auch heute nicht gelingt, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil erfolgte Öffnung für und in die Moderne auch innerkirchlich in den eigenen Strukturen und Handlungsweisen umzusetzen. So blieb die Modernisierung der katholischen Kirche, in der und für die das Zweite Vatikanische Konzil mit wesentlichen Beschlüssen wie z.B. der Anerkennung der Religionsfreiheit (DH), der Betonung der „Zeichen der Zeit“ als Ausdruck einer neuen Beschreibung des Verhältnisses von Kirche zur und in der Welt (LG; GS), dem Priestertum aller Gläubigen (GS), dem Volk-Gottes-Gedanken (LG) einen entscheidenden Beitrag leistete, doch auf die Außenseite der Kirche beschränkt und entfaltete in die Kirche selbst hinein nicht die gleiche Wirkkraft – zumindest nicht dauerhaft – wie nach außen. An der Außengrenze, an der Grenze des kirchlichen Handelns in die Gesellschaft hinein zeitigte das II. Vaticanum mittelbis langfristige Folgen, die durch das Pontifikat von Johannes Paul II. und sein politisches Engagement enorm befördert wurden. So kann die erhebliche Beteiligung der katholischen Kirche an den demokratischen Umbrüchen in Osteuropa als ein beredtes Beispiel für das politische Engagement und die Beförderung von Demokrati179

sierungsprozessen gesehen werden. Die eindeutige Positionierung gemeinsam mit der evangelischen Kirche im Sozialwort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage und die hohe Rezeption dieses Papiers ist ein anderes Beispiel für die öffentliche und in der Gesellschaft positiv wahrgenommene Wirkung der katholischen Kirche in die Gesellschaft hinein. Diese Prozesse veränderter Handlungsweisen und Inhalte der katholischen Kirche nach außen können aber nicht über die innerkirchliche Situation hinwegtäuschen, in der es nicht gelingt, die ursprüngliche Spannung zur Moderne wirklich aufzuheben. Innerkirchlich ist es der katholischen Kirche als Ganzer bis heute kaum gelungen, ein positives Verhältnis zu dem, was man auch die grundlegenden Errungenschaften der Moderne, nämlich Subjektivität, Emanzipation oder Autonomie nennen kann, zu entwickeln. Die sich unmittelbar im Nachgang des II. Vaticanums vollziehenden Veränderungen, die das Subjekt und seine Autonomie in positiver Weise wahrnahmen, z.B. die Veränderung im Gemeindeverständnis, das zwar formal am klassischen territorialen Parochialprinzip festhielt, aber gleichzeitig inhaltlich von einem vertikalen auf ein horizontales Beziehungsmuster einer Gemeinschaft von Christen und Christinnen untereinander, die gemeinsam versuchen, das Evangelium Jesu Christi zu leben, umstellte, oder auch die Liturgiereform, die das Subjekt im Sinne eines Verstehens des Geschehens und einer Entkleidung des Mysteriums in den Mittelpunkt stellte,26 zeitigten jedoch keine Verankerung derart, dass sich die katholische Kirche grundlegend auf 

26 Hier ist selbstverständlich an Bultmanns Entmythologisierung zu

denken: R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: H.-W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos, Bd. 1: Ein theologisches Gespräch, 5., erw. Aufl., Hamburg 1967 (ThF 1), 15-48.

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diese Prinzipien und die ihnen inhärenten Veränderungsprozesse eingelassen hätte. Gleiches gilt für die Durchsetzung theologischer Ideen und Konzepte, wie etwa die sogenannte anthropologische Wende oder die Befreiungstheologie, Konzepte und methodische Ansätze, die sich für jede theologische Disziplin ausmachen lassen und sich innerhalb der wissenschaftlichen Theologie durchsetzen, seitens des Vatikans jedoch teilweise mehr oder weniger kritisch betrachtet und in ihrer Entwicklung verfolgt wurden. Beredtes Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung um die Befreiungstheologie in den 1980er-Jahren.27 Es ist ein wichtiges Indiz einer nur halben Durchsetzung der in die Moderne weisenden Aussagen des II. Vaticanums, dass bestimmte Veränderungen wie z.B. die Einführung des Begriffs „Gemeinde“ als Ausdruck der theologischen „Volk-Gottes-Idee“ und des damit verbundenen Gemeinschaftsgedankens keinen Eingang in das 1983 novellierte kirchliche Gesetzbuch und somit keinerlei juristischen Niederschlag im Sinne einer Gläubige wie Kirchenverantwortliche bindenden Verbindlichkeit fand. Die Ambivalenz zur Moderne lässt sich neben diesen Beispielen auf das Zweite Vatikanische Konzil zurückgehend auch noch an zwei weiteren Beispielen zeigen, am Umgang mit der Freiheit auf der einen Seite und am Umgang mit der Genderfrage oder der Neuordnung der Geschlechterverhältnisse auf der anderen Seite. Die Frage nach der Freiheit ist innerkirchlich so alt wie die Kirche selbst.28 Die Ambivalenz der kirchlichen Haltung gegenüber der Freiheit wird deutlich, wenn zwei inner

27 Vgl. z.B. N. Greinacher (Hg.), Konflikt um die Theologie der Be-

freiung. Diskussion und Dokumentation, Zürich 1985.

28 Schon die Kirchenväter thematisierten sowohl die Freiheit Gottes

als auch die menschliche Freiheit, so etwa Hippolyt, Irenäus von Lyon, Gregor von Nyssa und Augustinus.

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halb der Theologie vertretene grundlegende Konzepte zur Freiheit einander gegenübergestellt werden: Der Freiheitsbegriff der kirchlichen Lehrmeinung zielt häufig auf eine gebundene Freiheit ab, insofern sie durch das an der Tradition der Kirche geschulte Gewissen des Einzelnen rückgebunden ist an den Willen Gottes, den dieser geoffenbart hat und den das kirchliche Lehramt überliefert und bewahrt. Freiheit wird so zu einem „freien Gehorsam“ gegenüber Gott und der Kirche. Eine so bestimmte Freiheit hat jedoch, so könnte man kritisch einwenden, nie die Möglichkeit, sich gegenüber der Tradition und dem Lehramt der Kirche frei, also auch kritisch zu verhalten. Diesem Verständnis von Freiheit kann das Modell einer theonomen Autonomie,29 wie es etwa von Franz Böckle entwickelt wurde und gegenwärtig auch von Thomas Pröpper u.a. vertreten wird, gegenübergestellt werden.30 Freiheit wird hier bestimmt als eine Freiheit, die sich Gott und dessen Freiheit verdankt, insofern Gott als absoluter Grund und Ursprung zugleich als absolut frei verstanden wird. Diese Freiheit Gottes ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Gott die Welt erschaffen, erhalten und vollenden kann. Der Mensch als Bild Gottes ist zugleich Bild göttlicher Freiheit, somit mit Freiheit begabt, auch Gott gegenüber. Gott anerkennt die menschliche Freiheit, die er selbst geschaffen und so zugelassen hat, weil sie seinem Wesen entspricht. Würde er sie missachten, würde er sich selbst widersprechen.31 Rückgebunden an Gott ist der 

29 Vgl. F. Böckle, Fundamentalmoral, München 1977. 30 Vgl. Th. Pröpper, Theologische Anthropologie, 2 Bde, Freiburg

i.Br. 2011; M. Heimbach-Steins u.a. (Hg.), Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch. Argumente zum Memorandum, Freiburg i.Br. 2011. 31 Vgl. Th. Pröpper (Anm. 30); S. Wendel, Sexualethik und Genderperspektive, in: K. Hilpert (Hg.), Zukunftshorizonte katholischer Sexualethik, Freiburg i.Br. 2011 (QD 241), 36-56.

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Mensch nun in dem Sinne frei, dass ihm diese Freiheit von Gott zur Verfügung gestellt wird. Ambivalenzen seitens des Lehramtes zeigen sich auch angesichts der Neuordnung der Geschlechterverhältnisse in der jüngeren Zeit sowie im Umgang mit Sexualität. Die Kirche tut sich bis heute mit einer Gleichberechtigung im Sinne gleicher Berechtigung, nicht misszuverstehen als Gleichheit zwischen den Geschlechtern, schwer. Die Ursachen sind nach wie vor in bestimmten, mit normativer Aufladung versehenen biologischen Prämissen und Geschlechterzuschreibungen zu suchen,32 die mit einer Ablehnung jeglicher neuerer Ansätze der Genderforschung einhergehen, die nicht mehr vom rein biologischen Geschlecht auf das soziale Geschlecht schließen. Jegliche Unterscheidung von „sex“ und „gender“ oder Ansätze, die die Zweigeschlechtlichkeit als solche infrage stellen, werden abgelehnt.33 Grundlage der Begründung ist eine naturrechtliche Argumentation, die Naturrecht mit göttlichem Recht und Natur mit göttlich gewollter Schöpfungsordnung identifiziert und gleichzeitig mit substanzmetaphysisch aufgeladenen Begriffen operiert.34 Ausgehend von diesen Prämissen führt diese Haltung auch zur Ablehnung aller Lebensformen, 

32 Vgl. z.B. ebd. 33 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischö-

fe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2004 (VApS 166); dazu ferner M. Heimbach-Steins, Ein Dokument der Defensive. Kirche und Theologie vor der Provokation durch die Genderdebatte, in: HerKorr 58 (2004) 443-447; M.-T. Wacker, Differenz, Solidarität und die Frage nach Gott. Literatur zur Theologischen Forschung von Frauen, in: ThRv 100 (2004) 353-368. 34 Vgl. aus soziologischer Sicht zur spezifisch naturrechtlichen Argumentation der katholischen Kirche F.-X. Kaufmann, Theologie in soziologischer Sicht, Freiburg i.Br. 1973, ferner F. Böckle (Anm. 29).

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die nicht der klassischen Ehe und dem Zölibat entsprechen und auch zur Ablehnung von Trans- und Intersexualität, ebenso auch zur Nicht-Zulassung von Frauen zum Amt. Die Beispiele zeigen die Spannung zwischen der geistesgeschichtlichen Tradition der Moderne und ihrer Entwicklung von Freiheit, Subjektivität und Autonomie, die zusammen mit anderen Modernisierungsprozessen zu einem modernen Lebensgefühl verschmelzen und bestimmten Positionen des Lehramtes der katholischen Kirche, etwa in Fragen der Geschlechterordnung, der Sexualmoral, des kirchlichen Amtsverständnisses, gegenüberstehen. Die Spannung verstärkte sich dahingehend, dass die katholische Kirche auf die für sie als Bedrohung empfundene Moderne bereits im 19. Jh. mit deutlichen Zentralisierungsprozessen auf der einen Seite und der Sakralisierung der vorhandenen und neu geschaffenen Strukturen auf der anderen Seite reagiert hat, die zu einem zentralistischen und klerikalen System führten, das zugleich in seiner Sakralität als unveränderlich erklärt wurde.35 Diese Reaktionsmuster treten mittlerweile wieder verstärkt ins Zentrum zulasten einer reformorientierten Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils. Für viele Menschen und auch Christen, für die das moderne Lebensgefühl von Freiheit, Subjektivität und Autonomie als moderne Errungenschaften selbstverständlich und unverzichtbar ist, ist die Haltung der katholischen Kirche nicht nachvollziehbar, nicht etwa weil sie klare Maßstäbe setzt und z.B. eine verantwortete Freiheit einklagt, sondern vor allem deshalb, weil sie grundlegende Errungenschaften wie etwa die gleiche Berechtigung der Geschlechter als strukturelles Ziel für sich selbst ablehnt. Dies erfolgt im Unterschied zur moder

35 Vgl. K. Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoder-

ne, Freiburg i.Br. 2000.

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nen Gesellschaft, in der zwar etwa eine Gleichberechtigung der Geschlechter noch nicht erreicht ist, aber nicht prinzipiell und strukturell abgelehnt wird. Die von vielen Menschen gewonnene Freiheit, die gestiegenen Ansprüche nicht nur an Individuen, sondern auch an soziale Institutionen und Organisationen, als auch die Tatsache, dass die individuelle Entscheidung für oder gegen Religion noch nie so (sanktions-)frei und befreit war wie heute, frei von sozialem Druck, befreit von Bedrohungsszenarien späterer Höllenqualen oder anderer Androhungen führen dazu, dass auch die Ansprüche an Integrität und Glaubwürdigkeit der Kirche sich den Ansprüchen der Kirche an die Menschen angeglichen haben. Mangelnde Integrität innerhalb der Kirche, das Zulassen von Verbrechen wie der sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie der kircheninterne Umgang mit diesem Skandal werden der Kirche in Westeuropa zur großen Herausforderung bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit und moralischen Integrität. Der katholischen Kirche werden die Fragen nach Möglichkeiten einer Glaubenspraxis und den Entscheidungen über die notwendigen und möglichen Sozialformen, in denen diese unter den Bedingungen der modernen Lebenswelt gelebt werden können, immer mehr zur inneren Herausforderung. Zurzeit erlebt die katholische Kirche den größten Veränderungsprozess in ihrer pastoralen Praxis seit Durchsetzung des volkskirchlichen Prinzips. Die Reaktionsweise der Kirche bestimmt sich dabei durch ein Festhalten an den gewachsenen Strukturprinzipien, die sich ihrerseits mit den im 19. Jh. veränderten Strukturen und deren Sakralisierung durchgesetzt haben und die nun auf größere Räume übertragen werden.36 Die Antwortversuche reichen von der Ge

36 In diesem Zusammenhang ist der These von Karl Gabriel, dass der

katholischen Kirche der Anschluss an die Moderne nur so lange

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sundschrumpfung zur kleinen Herde der Entschiedenen über die Betonung der Chancen der Bewegungen im Sinne einer sozialen Organisation im Bewegungskatholizismus bis zur Hoffnung auf die charismatischen Erneuerungsbewegungen, die in den anderen Kontinenten dem Katholizismus eine lebendige Kirche bescheren. Alle drei Varianten werden jedoch zumindest in Westeuropa nicht in der Lage sein, eine breite Schicht von Gläubigen anzusprechen und an die Kirche zu binden.37 Die katholische Kirche steht vielleicht geschichtlich betrachtet nicht vor ihrer größten, aber doch vor einer großen Herausforderung in den westeuropäischen Ländern. Das Heil in Prozessen der Charismatisierung und Zunahme des (evangelikalen) Pfingstlertums, wie sie sich in den anderen Kontinenten ereignen,38 zu suchen, wird angesichts des durch und durch modernen Lebensgefühls in Westeuropa immer nur für eine Minderheit eine Lösung sein, zumal diese Prozesse an der katholischen Kirche vielfach vorbeigehen. Das Erlangen von Glaubwürdigkeit und die Überzeugung, dass modernes Lebensgefühl und moderne Lebensweise und die damit einhergehenden Implikationen wie verwirklichte Freiheit, Subjektivität und Autonomie und kirchlich gebundener christlicher Glaube kein Widerspruch sein müs

gelingt, wie diese an die im 19. Jh. stattgefundene Zentralisierung und Klerikalisierung anschlussfähig ist, zuzustimmen. Vgl. dazu K. Gabriel, Die Zeichen der Zeit erkennen – die Situation der katholischen Kirche in soziologischer Sicht, in: M. Heimbach-Steins u.a. (Anm. 30), 48-57. 37 Hier ist einem Missverständnis vorzubeugen, denn im Mittelpunkt stehen nicht Rekrutierungsmaßnahmen, in der Hoffnung, dass durch Reformen wieder mehr Menschen zur Kirche finden. Es geht vielmehr um das kirchliche Selbstverständnis in der Moderne und um die Haltung der Kirche zur Moderne. 38 Vgl. hierzu J. Stolz / O. Favre, The evangelical milieu. Defining criteria and reproduction across the generations, in: SocComp 52 (2005) 169-183.

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sen, ist die große Herausforderung der katholischen Kirche in der Moderne. Dazu bedarf es vor allem auch der Bereitschaft, sich auf die Möglichkeiten der sozialen Gestalt(en) christlichen Glaubens so einzulassen, dass unter Umständen über die Frage von Wandelbarkeit und Unveränderlichkeit kirchlicher Strukturen dahingehend nachgedacht werden muss, wie sie Glaubenszugänge auf neue Weise so ermöglichen, dass kirchlich gebundener Glaube modernes Lebensgefühl anerkennt.

ZUSAMMENFASSUNG Der Beitrag fokussiert auf zwei wesentliche Herausforderungen, denen sich der Katholizismus in der Moderne gegenübersieht: Die erste liegt im Phänomen der Konkurrenz, nicht nur durch Prozesse religiöser Pluralisierung, sondern auch und vor allem durch säkulare Alternativen bedingt. Von diesen ist insbesondere die Praxis des christlich institutionell verfassten Glaubens betroffen. Die zweite Herausforderung liegt in den ambivalenten innerkirchlichen Entwicklungen, mit denen die katholische Kirche auf die Modernisierungsprozesse reagiert. Da es ihr bisher, so die These des Beitrags, nicht gelungen ist, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil erfolgte Öffnung für und in die Moderne auch innerkirchlich in den eigenen Strukturen und Handlungsweisen umzusetzen, liegt zumindest in den westlichen Ländern für sie gerade darin eine besondere Herausforderung.

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Aus dem Glauben leben Gesellschaftliche Herausforderungen für Spiritualität und Leben freikirchlicher Gemeinden Ralf Dziewas

1. Einleitung Wenn ich mich im Folgenden zu den gesellschaftlichen Herausforderungen für die Spiritualität und das Gemeindeleben freikirchlicher Gemeinden äußere, geschieht dies aus einer doppelten Erfahrung heraus.1 Ich war zwölf Jahre Pastor einer kleinen, heute knapp 50 Mitglieder umfassenden Gemeinde des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG), die im Speckgürtel von Berlin liegt. Andererseits kenne ich durch meine Tätigkeit als Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie am Theologischen Seminar Elstal, der Fachhochschule des BEFG, die Probleme und Herausforderungen vieler kleiner und großer Gemeinden dieses Gemeindebundes, weil ich an verschiedenen, 

1 Der Beitrag führt Überlegungen weiter, die ich auf der 90. Pasto-

renkonferenz des Bundes Freier evangelischer Gemeinden K.d.öR., gehalten am 23.03.2011 in Ewersbach vorgetragen habe. Vgl. R. Dziewas, Warum Gemeinden sich verändern. Theologische und soziologische Überlegungen zur Wandlungsfähigkeit von Ortsgemeinden im Kongregationalismus, in: W. Haubeck / W. Heinrichs (Hg.), Gemeinde der Zukunft. Zukunft der Gemeinde. Aktuelle Herausforderungen der Ekklesiologie, Witten 2011 (ThImp 22), 105-137. Eine grundlegende systemtheoretische Begründung meiner Deutung einer kongregationalistischen Gemeindestruktur findet sich abgedruckt in R. Dziewas, Verbindlichkeit im Kongregationalismus, in: M. Hailer / J.Ev. Hafner (Hg.), Binnendifferenzierung und Verbindlichkeit in den Konfessionen, Frankfurt a.M. 2010 (ÖR.B 87), 243-265.

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zum Teil empirisch ausgerichteten Forschungsprojekten über deren Gemeindewirklichkeit beteiligt bin. Wenn also im Folgenden von „gesellschaftlichen Herausforderungen aus freikirchlicher Sicht“ die Rede ist, dann sind die hier zusammengestellten Beobachtungen sicherlich durch meine persönliche Lebenserfahrung und das Umfeld geprägt, in dem ich arbeite. Sie sind aber wohl dennoch auch auf andere Freikirchen übertragbar, da die Arbeitsweisen und die Spiritualität freikirchlicher Gemeinden über die innerfreikirchlichen Konfessionsgrenzen hinweg zumindest so ähnlich sind, dass die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse der letzten zwei Jahrzehnte die Gemeinden vor vergleichbare Herausforderungen stellen. Seit der deutschen Wiedervereinigung hat sich die deutsche Gesellschaft massiv verändert. Dies gilt für die ostdeutschen Länder, die in dieser Zeit einen kompletten Systemwandel durchlebt haben, sicherlich in besonderem Maße, gilt aber auch für die westdeutsche Hälfte unseres Landes. Als die Mauer fiel, gab es das Internet in der heutigen Form überhaupt noch nicht und dort, wo es bereits Computer in privaten Haushalten gab, hatten diese Festplatten in Größenordnungen, die heute einzelne Dateien verbrauchen. Private E-Mails waren noch so gut wie unbekannt und man telefonierte noch in Telefonzellen statt mit Handys. Die Geschäfte schlossen abends um 18.30 Uhr und samstags war spätestens um 13.00 Uhr kaum noch ein Laden offen. Man rechnete in D-Mark und ging noch mit Überweisungsscheinen in die Bankfiliale statt Onlinebanking zu nutzen, und einen Ökumenischen Kirchentag oder eine Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre konnten sich vielleicht manche ökumenisch gesinnte Christen bereits vorstellen, aber noch niemand live erleben. Von all diesen Veränderungen sind die freikirchlichen Gemeinden in gleicher Weise überrollt worden wie der 190

Rest der Gesellschaft. Die Zeiten, in denen Freikirchler kleine marginalisierte Grüppchen am Rande der Gesellschaft bildeten, in denen man in klarer Abgrenzung zur „sündhaften Welt“ sein Gemeindeleben pflegte, sind längst vorbei.2 Freikirchliche Christen sind heute Bürger wie andere auch, nur dass sie mitunter erklären müssen, warum sie eine für deutsche Verhältnisse ungewöhnliche Konfession haben. Damit aber sind auch die Gemeinden freikirchlicher Prägung allen Veränderungsprozessen unterworfen, die die gesellschaftlichen Wandlungen ihnen zumuten, jedoch müssen sie sich diesen Veränderungsprozessen mit anderen Rahmenbedingungen stellen als die großen Kirchen. Ich möchte im Folgenden einige wesentliche gesellschaftliche Veränderungen der letzten beiden Jahrzehnte skizzieren, die sich unmittelbar auf die Gestaltung des Glaubenslebens in freikirchlichen Gemeinden ausgewirkt haben und diese weiterhin vor besondere Herausforderungen stellen. Dabei soll am Anfang die Veränderung der Zeitrhythmen und der Arbeitszeitstruktur der Gesellschaft stehen (2.) sowie die damit einhergehende gesteigerte Orientierung an Leistung und Effizienz (3.). Beides hat konkrete Konsequenzen für das gemeindliche Leben und die Spiritualität vieler Freikirchen. Hinzu kommt die gesteigerte Vielfalt möglicher Lebensstile in der Multioptionsgesellschaft (4.) und die Relativierung von konfessionellen Unterschieden durch die Entwicklung und Vertiefung der ökumenischen Kontakte (5.). Darüber hinaus möchte ich die Wirkung der neuen sozialen Medien thematisieren (6.), weil diese in der Zu

2 Vgl. R. Dziewas, Von der ‚Sünde der Welt’ zur ‚Sündhaftigkeit

sozialer Systeme’. Sünde als Kategorie der Gegenwartsanalyse aus freikirchlich-baptistischer Sicht, in: R. Leonhardt (Hg.), Die Aktualität der Sünde. Ein umstrittenes Thema der Theologie in interkonfessioneller Perspektive, Frankfurt a.M. 2010 (ÖR.B 86), 95-119.

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kunft das freikirchliche Leben aus dem Glauben noch einmal massiv verändern werden.

2. Die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft als Herausforderung für kleine Gemeinden 2.1 Der Verlust des gemeinsamen Wochenendes und der veränderte Gottesdienstbesuch „Am Freitag um eins macht jeder seins!“ Dieser Slogan formulierte Ende der 1980er-Jahre für viele Beschäftigte eine Normalität, denn das Wochenende begann am Freitagmittag. Die Gewerkschaften hatten seit den 1950erJahren mit Plakaten für die 40-Stundenwoche und das freie Wochenende geworben, auf denen ein Junge unter der Überschrift abgebildet war: „Samstags gehört Vati mir!“ und Ende der achtziger Jahre galt das gewerkschaftliche Engagement bereits der Durchsetzung der 35-Stundenwoche. Der Wochenrhythmus war klar gegliedert, 4 ½ bis 5 Tage Arbeitswoche und 2 bis 2 ½ Tage Wochenende. Nur Beschäftigte in Bereichen wie dem Gesundheitswesen, der Polizei und den Verkehrsbetrieben waren zu regelmäßiger Wochenendarbeit verpflichtet. Die Geschäfte waren zwar am Samstag noch bis 13.00 Uhr für Einkäufe geöffnet, spätestens danach aber begann die kollektive gesellschaftliche Ruhephase des Wochenendes, in dem sich dann auch das gottesdienstliche Leben der Kirchen und Freikirchen ungestört abspielen konnte. Da die meisten Freikirchen eher kleine Gemeinschaften bilden, verfügen die wenigsten traditionell über mehrere

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Gottesdienste.3 Der zentrale Punkt des Gemeindelebens ist der gemeinsame Gottesdienst am Sonntagvormittag. Der Samstag hingegen wird häufig ergänzend für andere Gemeindeaktivitäten wie Gemeindefeste, Ausflüge, Freizeiten oder Fortbildungen, Konferenzen oder Konzerte hinzugezogen. Zu Beginn der 1990er-Jahre konnte noch zu Recht unterstellt werden, dass fast alle Gemeindemitglieder im Normalfall kontinuierlich am wochenendlichen Gemeindeleben teilnehmen können. Dieses gemeinsame Wochenende als kollektiver Freiraum für die gesamte Gemeinde hat sich allerdings im Zuge der letzten Jahrzehnte nahezu aufgelöst. Manche Discounter schließen ihre Läden selbst am Samstag erst um 22.00 Uhr, in vielen Betrieben wird zur Auslastung der teuren technischen Infrastruktur auch am Wochenende weiterproduziert. Der Aktivitätslevel des gesellschaftlichen Lebens am Samstag liegt heute massiv höher als in den 1980er- und 1990er-Jahren und dementsprechend mehr Menschen müssen regelmäßig am Samstag arbeiten. In ähnlicher Weise ist mittlerweile der Sonntag unter Druck geraten. Immer mehr Geschäfte nutzen Sonderöffnungsregeln und die Zahl der verkaufsoffenen Sonntage konnte nur durch Klagen vor Gericht begrenzt werden. Das Gefühl jedoch, es gäbe so etwas wie ein Wochenende, an dem alle frei haben, ist längst verschwunden.4 Die Gesellschaft ist nach mehre

3 Die durchschnittliche Größe der 695 Gemeinden des BEFG lag

2011 bei 118,2 Mitgliedern. Vgl. Jahrbuch des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden 2012/2013, Kassel 2012, 100. 4 Laut Statistischem Bundesamt arbeiteten 2011 von den Arbeitnehmern 24,5 % regelmäßig oder ständig am Samstag und 13,4 % regelmäßig oder ständig am Sonntag, wobei 12 % samstags und sonntags arbeiten müssen. Bei den Selbstständigen findet sich Samstagsarbeit regelmäßig oder ständig bei 52,4 %, Sonntagsarbeit bei 23,6 % und beides bei 22,1 % aller Befragten. Nimmt man alle Erwerbstätigen zusammen, ist die regelmäßige bzw. ständige Samstagsarbeit zwischen 1992 und 2011 von 20 % auf 27 % gestiegen

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ren Jahrzehnten stetig wachsenden Zeitwohlstands seit Ende der 1980er-Jahre auf dem Weg zu einer Rund-umdie-Uhr-Gesellschaft, in der die kollektiv abgesicherten freien Zeiten wieder massiv zurückgehen.5 Die Einbeziehung des Samstags in den Aktivitätsrhythmus der Wochentage hat jedoch direkte Auswirkungen auf das Gemeindeleben am Sonntag. Der Sonntag wird zunehmend als letzter möglicher individueller Ruhetag wahrgenommen, den man ganz dem Ausschlafen und dem Familienleben widmet, weil Vati und mittlerweile auch Mutti eben am Samstag eher der Firma als der Familie gehören. Damit aber gerät auch der Sonntagvormittag als Zeitpunkt des traditionellen Gottesdienstes unter Druck und immer mehr Gemeindemitglieder tendieren dazu, der Normalitätserwartung wöchentlicher Teilnahme am Gemeindeleben nicht mehr zu entsprechen, sondern bestimmte Sonntage der Familie und andere der Gemeinde zu widmen. Zusammen mit der ohnehin gestiegenen Zahl derer, die zumindest immer wieder einmal auch am Sonntag arbeiten müssen, ist daher die Kontinuität des gemeindlichen Miteinanders am Sonntag, die zu den zentralen Erwartungen freikirchlichen Gemeindelebens gehörte, grundsätzlich infrage gestellt. Konnte man früher davon ausgehen, dass die Kerngemeinde jeden Sonntag im Gottesdienst ist, muss 

und die Sonntagsarbeit von 10 % auf 14,5 %. Daran habe wohl auch die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten einen wesentlichen Anteil. (www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/QualitaetAr beit/Dimension3/3_3_Wochenendarbeit.html, Stand: 28.11.2012) 5 Vgl. zum Begriff der Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft und ihrer Bedeutung für den Zeitwohlstand der Gesellschaft J.P. Rinderspacher, Auf dem Weg in die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft? in: J.J. Hesse / C. Zöpel (Hg.), Neuorganisation der Zeit. Baden-Baden 1987, 97-124 sowie J.P. Rinderspacher, „Ohne Sonntage gibt es nur noch Werktage“. Die soziale und kulturelle Bedeutung des Wochenendes. Unter Mitarbeit von Irmgard Herrmann-Stojanov, Bonn 2000 (Politik im Taschenbuch 28).

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man sich heute überraschen lassen, wer an diesem konkreten Sonntag anwesend sein kann. 2.2 Der Verlust des gemeinsamen Feierabends und das gemeindliche Leben unter der Woche Ähnliche Beobachtungen wie am Wochenende kann man auch unter der Woche machen. Die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten hat hier massive Veränderungsprozesse in allen Lebensbereichen ausgelöst. Als die Geschäfte noch um 18.30 Uhr schlossen, bestand auch für die meisten Beschäftigten die Notwendigkeit, rechtzeitig Feierabend zu machen, um die letzten Einkäufe erledigen zu können. Es war für jeden Vorgesetzten begründungsbedürftig, wenn er seine Mitarbeiter über 17.00 Uhr hinaus zur Arbeit verpflichtete. Außerdem sorgte die auf unter 40 Stunden begrenzte Wochenarbeitszeit dafür, dass es eine kollektive Freizeit nach dem Feierabend gab, denn wer bis 18.30 Uhr seine Einkäufe getätigt hatte, aß in Ruhe zu Abend und konnte dann immer noch um 19.30 Uhr zur Bibelstunde, zum Chor, zur Gemeindeleitungssitzung oder zur regelmäßigen Hauskreis- oder Gruppenstunde gehen. Mittlerweile ist die reale Wochenarbeitszeit in vielen Berufen deutlich angestiegen.6 Die Abendöffnung der Geschäfte zwingt nicht nur die dort Beschäftigten zur Arbeit in den Abendstunden, es ist auch der Begründungsdruck weggefallen, um 17.00 Uhr den Arbeits

6 Immerhin jeder achte Vollzeitbeschäftigte (13 %) gab im Jahr 2011

an, gewöhnlich mehr als 48 Stunden zu arbeiten. Dabei sind Arbeitnehmer zwischen 55 und 64 mit 17 % besonders betroffen. Bei den Führungskräften arbeiten sogar 39 % gewöhnlich mehr als 48 Stunden. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Qualität der Arbeit. Geld verdienen und was sonst noch zählt – 2012, Wiesbaden 2012, 26.

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platz zu verlassen, um noch einkaufen zu können. Reguläre Arbeitszeiten bis 19.00 Uhr sind auch in Büros längst keine Seltenheit mehr,7 aber wer häufig bis in den frühen Abend hinein berufstätig ist, wird an kontinuierlichen Gemeindeaktivitäten nur noch sporadisch teilnehmen können. Dadurch verringert sich nicht nur die wechselseitige Bindung der Gruppenmitglieder aneinander, sondern es wird auch schwerer, innerhalb einer Gruppe kontinuierlich zu arbeiten.8 Wenn man im Chor jede Woche mit einer anderen Besetzung probt, in der Bibelstunde die wenigsten einem Thema über mehrere Sitzungen folgen können, verlieren solche Angebote durch den ständigen Wechsel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nur an Effektivität, sondern auch an Verbindlichkeit. Aus der kontinuierlichen Gruppenarbeit wird eine Folge von Einzelevents, aus denen man sich dann und wann als potenzieller Teilnehmer einen Abend herausnimmt, wenn dieser gerade in die eigene Wochenplanung passt.9 Wenn in diesem Sinne eine kontinuierliche Zusammenarbeit von Gruppen unter der Woche kaum mehr erfolgreich durchzuführen ist – es sei denn, man arbeitet mit Menschen, die nicht mehr im Berufsleben stehen –, ver

7 Die Zahl der Erwerbstätigen, die regelmäßig abends von 18 bis 23

Uhr arbeiten, ist in den Jahren zwischen 1992 und 2011 von 15 % auf 27 % gestiegen. Bei den Selbstständigen waren es im Jahr 2011 sogar 48,5 %. Vgl. ebd., 28. 8 Eine Entwicklung, die Ende der 1980er-Jahre noch als Blick in die Zukunft formuliert werden musste, heute aber Wirklichkeit geworden ist. Vgl. R. Dziewas, Arbeitszeit und Gemeindewirklichkeit, in: Die Gemeinde 41 (18/1989) 4-6. 9 Dieses Grundproblem ist natürlich nicht nur für freikirchliche Gemeinden eine Herausforderung, sondern besteht in ähnlicher Weise für alle Vereine, die ein kontinuierliches Miteinander voraussetzen müssen, um ihren Zweck erfolgreich erfüllen zu können, wie z.B. Sportvereine mit Mannschaftssportarten, Gesangsvereine, Orchester oder Laienspielgruppen.

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liert die Gemeinschaft einer Gemeinde einen wesentlichen Aspekt ihrer kollektiven Entwicklung in Fragen der Spiritualität und des Glaubenslebens. Das Christsein wird – stärker als es eigentlich zur Identität freikirchlicher Gemeinde gehört10 – zu einem Sonntagschristentum mit gelegentlichen Einsprengseln im Wochenverlauf. 2.3 Die Ganztagsschule und die gemeindliche Kinder- und Jugendarbeit Eine ähnliche Entwicklung wie beim Feierabend hat sich gerade in den letzten Jahren auch für den Kinder- und Jugendbereich ergeben. Da in zunehmend mehr Familien beide Elternteile berufstätig sind und auch Alleinerziehende häufig länger arbeiten müssen als früher, ist auch der Wunsch nach einer längeren Betreuung der Kinder im schulischen Kontext gewachsen. Immer mehr Schulen werden zu Ganztagsschulen, die den Eltern eine schulische Betreuung der Schüler bis in den Nachmittag hinein zusichern und dafür alle Schüler deutlich länger durch schulische Angebote binden.11 Damit entfällt der frühe Nachmittag für die gemeindliche Kinderund Jugendarbeit und am späten Nachmittag konkurrieren die Angebote der Gemeinde nun mit den sonstigen Freizeitaktivitäten und dem Familienleben um die deut

10 Vgl. P. Beasley-Murray / H. Guderian, Miteinander Gemeinde

bauen. Ein anderer Weg, Kirche zu sein, Wuppertal-Kassel 1995, 129f. 11 Allein von 2002 bis 2010 hat sich die Zahl der Ganztagsschulen im Primar- und Sekundarbereich I in öffentlicher und freier Trägerschaft von 5.181 auf 15.796 Schulen mehr als verdreifacht. Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, Bielefeld 2012, 261.

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lich begrenztere Freizeit der Schülerinnen und Schüler. Die Verkürzung der Schuljahre bis zum Abitur und die Verdichtung der Lernstoffe hat ihr Übriges dazu getan, den Freiraum von Kindern und Jugendlichen für gemeindliche Aktivitäten massiv einzuschränken. Kinder- und Jugendgruppen aber fällt damit auch eine kontinuierliche geistliche Prägung der Jugendlichen zunehmend schwerer. Auch die Jugendlichen erleben, dass sie sich immer wieder neu entscheiden müssen, ob sie an einem regelmäßigen Angebot auch wöchentlich teilnehmen können, oder es ganz aufgeben müssen, weil die erwartete Kontinuität nicht gelebt werden kann. Oder sie entscheiden sich dafür, wenigstens hin und wieder dabei zu sein, ohne dadurch jedoch eine feste Bindung an die Gruppe zu finden. 2.4 Die verlorene Kontinuität der Spiritualität Alle skizzierten Veränderungsprozesse im Lebensrhythmus der Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft haben negative Auswirkungen auf die Kontinuität der im Gemeindekontext gelebten Spiritualität, die für freikirchliche Gemeinden über lange Zeit hinweg selbstverständlich war. Aus kontinuierlicher Teilnahme und Mitarbeit im Gemeindeleben wird eine selektive Wahrnehmung einzelner Angebote je nach Passung im ansonsten unrhythmisch gelebten Alltag. Wo aber die gemeindliche Kontinuität einer regelmäßigen gemeinsamen Gestaltung der Spiritualität nicht mehr gegeben ist, wird auch die individuelle Spiritualität leicht selektiv. Hat die regelmäßige Bibelstunde noch zur kontinuierlichen Lektüre ganzer Bücher der Bibel angeleitet und theologische Grundkenntnisse an die breite Gemeindebasis vermittelt, liest man nun die Bibel eher häppchenweise nach Bedarf und die Bibelkenntnis der Mit198

glieder wird auch in freikirchlichen Gemeinden immer lückenhafter. Führte eine regelmäßige Hauskreisarbeit Gemeindemitglieder früher noch zu einem kontinuierlichen Gebetsleben und einer verbindlichen wechselseitigen Gebetsgemeinschaft zusammen, schwindet die Bereitschaft, die eigenen Probleme miteinander zu teilen und füreinander zu beten, bei ständig wechselnder Zusammensetzung solcher Kreise. Einzelne werden in schwierigen Lebensphasen seelsorgerlich nicht mehr von einer Gruppe aufgefangen, in die sie fest eingebunden sind, sondern die seelsorgerliche Problembegleitung wird an die hauptamtlichen Geistlichen delegiert, die sich die Zeit dafür nehmen können, wenn diese benötigt wird. Die veränderten Lebensrhythmen der Gesellschaft beeinträchtigen also das Gemeindeleben freikirchlicher Gemeinden massiv und verstärken letztlich den Trend zu einer Individualisierung des Glaubenslebens ohne die Absicherung eines kontinuierlichen Bezugs zur Gemeinschaft der Gemeinde. Inwieweit freikirchliche Gemeinden hier ein Mittel zum Gegensteuern finden können, ist ungewiss. Eine Möglichkeit wäre es, den Sonntag als letzten verbliebenen kollektiven Ruhetag noch stärker mit regelmäßigen Angeboten für verschiedene Gruppen zu füllen. Allerdings ist abzusehen, dass dies zum einen nur ein Rückzugsgefecht wäre, da der Weg in die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft am Ende auch vor dem Sonntag nicht halt machen wird. Außerdem würde die Verlagerung von gemeindlichen Aktivitäten auf den Sonntag dessen Charakter als gesellschaftlichem Ruhetag noch weiter untergraben, woran mit allen anderen Kirchen auch die Freikirchen kein Interesse haben können.

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3. Die Leistungsgesellschaft als Herausforderung für die ehrenamtliche Mitarbeit Nicht nur die geringeren kollektiven Freizeitbereiche der modernen Gesellschaft setzen das freikirchliche Gemeindeleben unter Veränderungsdruck, auch die inhaltliche Verdichtung der Arbeitszeit und die gestiegenen Leistungsanforderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen haben Auswirkungen auf die Spiritualität und das freikirchliche Gemeindeleben. 3.1 Die Arbeitsbelastung der Leistungsträger als Herausforderung für die Gemeindeleitungsstruktur Freikirchliche Gemeindearbeit ist noch stärker als im landeskirchlichen Kontext vom Engagement ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abhängig. Viele, gerade kleine Gemeinden, haben gar keine voll- oder teilzeitlich tätigen Hauptamtlichen, sondern sowohl die Leitung der Gemeinde als auch die Organisation und Gestaltung aller Gemeindeaktivitäten liegt dort in der Hand Ehrenamtlicher.12 Es gibt zwar in der gegenwärti

12 So lag der Anteil der Gemeinden des BEFG, die über keine pasto-

ralen Hauptamtlichen verfügten und daher ihr Gemeindeleben weitgehend ehrenamtlich organisierten, im Jahr 2009 immerhin bei 44 %. Vgl. R. Dziewas, „Dazu liegen bisher noch keine ausreichenden Erkenntnisse vor …“. Zum Problem der empirischen Erforschung der Gemeindewirklichkeit im Kongregationalismus, in: ThGespr 34 (2010) 187-197, hier 190, Abb. 4. Für die Auswertung wurden die Angaben im Jahrbuch des BEFG genutzt, das die in den Gemeinden beschäftigten Pastorinnen und Pastoren auflistet. Es gibt allerdings auch Gemeinden, die anstelle eines Pastors andere Hauptamtliche in pastorale Dienste berufen. So verrichten auch ordinierte Diakone oder nicht ordinierte Gemeindereferenten mitunter pastorale Aufgaben. Hinzu kommen in den zum BEFG gehörenden Brüdergemeinden, die dem Pastorendienst insgesamt kritisch gegenüberstehen, eine ganze Reihe von Pastoralreferen-

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gen Gesellschaft durchaus eine bleibend hohe Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren, es fehlt aber zunehmend die Möglichkeit, Ehrenamtliche mit Leitungskompetenz für die Gemeindeleitungsarbeit und übergemeindliche Verantwortlichkeiten zu finden, da diese Gruppe innerhalb der Gesellschaft zunehmend stärker beansprucht wird. Dass sich die Wochenarbeitszeit in den letzten beiden Jahrzehnten erhöht hat, gilt in besonderer Weise für alle Personen mit Leitungskompetenz.13 Da von Führungskräften regelmäßig Überstunden und volle Konzentration auf den Beruf gefordert werden, bleibt dieser Personengruppe zumeist nur wenig Zeit für die Übernahme kontinuierlicher ehrenamtlicher Aufgaben. Hinzu kommt, dass mit der gestiegenen Mobilität auch die regelmäßige Präsenz am Gemeindeort bei Leitungspersönlichkeiten immer seltener vorausgesetzt werden kann. Dies erschwert zunehmend die Organisation der Gemeindeleitungsarbeit, weil sich schon die Suche nach einem gemeinsamen Termin für die Gemeindeleitungssitzung immer schwieriger gestaltet.14 Denjenigen, die in ihrem beruflichen Kontext überregional eingesetzt und terminlich stark eingebunden sind, fällt aber vor allem die regelmäßige Teilnahme an dem Gemeindeleben schwer, das sie eigentlich verantwortlich mitgestalten sollen. Dadurch kommt es immer häufiger dazu, dass die Leitungen von freikirchlichen Ge ten, die pastorenähnliche Aufgaben übernehmen und vom BEFG als Geistliche ordiniert werden. Diese anderen Gruppen mit pastoralen Aufgaben sind in den 44 % nicht mit berücksichtigt, sodass die Zahl der Gemeinden ganz ohne Hauptamtliche Mitarbeiter mit pastoralen Aufgaben im Endeffekt etwas geringer sein dürfte. 13 Vgl. Anm. 6. 14 Es haben schon Leitungssitzungen freikirchlicher Gemeindevorstände in Flughafenrestaurants und Bahnhofslokalen stattgefunden, um die Teilnahme möglichst vieler Gemeindeleitungsmitglieder zu ermöglichen.

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meinden nicht mehr mit den dafür begabtesten Mitarbeitern besetzt sind, sondern mit denjenigen, die dies am besten in ihren Lebensalltag einplanen können. 3.2 Die Mobilität und die Kontinuität ehrenamtlicher Mitarbeit Schaut man auf die Gruppenaktivitäten und die spirituellen Angebote des Gemeindelebens, so finden sich bei der Mitarbeit die gleichen Probleme wie beim Teilnahmeverhalten. Ist schon die regelmäßige Teilnahme vielen zunehmend kaum möglich, wie viel weniger die kontinuierliche Mitarbeit. Doch selbst diejenigen, die sich gerne verbindlich engagieren wollen, können dies mitunter nur bedingt leisten. Einer der Gründe dafür ist die in den letzten Jahrzehnten gestiegene Mobilität der Gesellschaft.15 Wohn- und Arbeitsort liegen heute häufig weiter auseinander als früher. Familienmitglieder bleiben, beruflich bedingt, oftmals nicht an einem Ort, sondern leben über die halbe Republik oder gar international verstreut. All dies erfordert häufigeres und weiteres Verreisen als in früheren Zeiten. Zwar haben die Reisezeiten durch schnellere Zugverbindungen und gestiegene Fluggastzahlen die Überwindung größerer Entfernungen in den letzten Jahrzehnten deutlich leichter gemacht. Genau dies aber macht auch die Wochenend-Stippvisite zur entfernt lebenden Großmutter überhaupt erst möglich und die Einladung zu einer Familienfeier am anderen Ende der Republik wahr

15 Insgesamt haben sich sowohl die Dauer der Wegstrecken in Minu-

ten und die Zahl derer, die längere Wege zurücklegen in allen Lebensbereichen von 1991/92 auf 2001/2 signifikant erhöht. Vgl. C. Kramer, Verkehrsverhalten und Mobilität, in: Statistisches Bundesamt (Hg.), Alltag in Deutschland. Analysen zur Zeitverwendung (Forum der Bundesstatistik 43/2004), 23-38, hier 27, Abb. 3.

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scheinlicher. Je größer der Mobilitätsradius und umso vielfältiger die dadurch gegebenen Möglichkeiten, umso unwahrscheinlicher wird die verbindliche Übernahme von Aufgaben, die eine regelmäßige Präsenz vor Ort notwendig machen. Das gesamtgesellschaftliche Setting gesteigerter Anforderungen an die Gruppe der Berufstätigen (wer erst einmal Arbeit hat, kann sich vor zusätzlichen Aufgaben meist nicht retten) führt immer stärker zu deren Rückzug aus der verantwortlichen und kontinuierlichen Gemeindearbeit. Dass damit auch die Wahrnehmung der Gemeinde als Bereich aktiven Engagements für den Glauben sinkt, ist verständlich. Die Spiritualität der Berufstätigen wird mehr und mehr zu einer Individualspiritualität. Die Vielfalt der Belastungen lässt den Wunsch nach Ruhe und Entlastung auch im Kontext der Gottesbeziehung und der Gemeindebeziehung in den Vordergrund treten. Die Gemeinde wird weniger als verbindliche Gemeinschaft wahrgenommen, der man verpflichtet ist, denn als Ort, an dem man sich wohlfühlen will, an dem man von der Hektik des Alltags ausruhen möchte, um Kraft zu tanken und Stärkung an Leib und Seele zu erfahren. Wer aber soll und kann dieses an die Gemeinde herangetragene Bedürfnis derer auf Dauer stillen, die in den Mühlen der Leistungsgesellschaft permanent zur Hochleistung angetrieben werden? Eine Spiritualität der Besinnung und der Meditation, des Gebets und des Loslassen-Könnens wäre notwendig, gehört aber eher nicht zu den aktivitätsorientierten Ausdrucksformen einer freikirchlichen Spiritualität, die sich stark an der aktiven Mitarbeit jedes Gemeindegliedes ausrichtet und eine überwiegend passive Teilnahme am Gemeindeleben, zumal wenn sie dann auch noch unregelmäßig erfolgt, eher kritisch beäugt. 203

3.3 Die demographische Entwicklung und die Doppelbelastung der mittleren Altersgruppen Ein weiterer Verlust an kontinuierlicher Mitarbeiterschaft ergibt sich aus der demographischen Entwicklung und der teilweise sehr lang gestreckten letzten Lebensphase der Hochbetagten. Die in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegene Lebenserwartung hat dazu geführt, dass auch der Altersdurchschnitt freikirchlicher Gemeinden angestiegen ist. Selbst dort, wo noch junge Menschen erreicht und für das Gemeindeleben begeistert werden können, nimmt die Zahl derer zu, die permanente Unterstützung brauchen. Was als gesamtgesellschaftliches Phänomen längst ins Bewusstsein getreten ist, dass nämlich immer weniger jüngere immer mehr ältere Menschen versorgen und unterstützen müssen, das trifft auch auf die Wirklichkeit freikirchlicher Gemeinden zu. Manche, die sich gerne stärker in der Mitarbeit engagieren möchten, können dies nicht verbindlich tun, weil sie durch familiäre Verpflichtungen wie die Pflege oder Versorgung der eigenen Eltern oder Großeltern so eingebunden sind, dass neben Beruf und Familie kein Platz mehr für die Gemeindearbeit bleibt.16 Menschen, die ohnehin am Rande ihrer Kraftreserven leben, die eigentlich selber Unterstützung und Entlastung bräuchten, können keine verlässlichen Mitarbeiter für die Gemeinde sein, oder der Burnout ist vorprogrammiert. 

16 Immerhin zwei Drittel aller Pflegebedürftigen (69 % bzw. 1,62

Millionen) wurden 2009 zu Hause allein von Angehörigen gepflegt (1,06 Millionen) bzw. mit Unterstützung ambulanter Pflegekräfte zu Hause versorgt (0,56 Millionen). Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2009. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. 2. Bericht: Ländervergleich – Pflegebedürftige, Wiesbaden 2011, 11.

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In der Folge all dieser Beobachtungen hinsichtlich der Probleme mit beruflich und familiär stark belasteten Mitarbeitenden müssen freikirchliche Gemeinden zum einen die Erwartungen an ihre Mitglieder realistischer ausrichten. Es muss für das einzelne Gemeindemitglied in solchen Fällen legitim sein, nicht aktiv und verantwortlich mitzuarbeiten, auch wenn sinnvolle Gemeindearbeit deswegen unterbleibt. Gleichzeitig aber muss die Gemeinde verstärkt mit Mitarbeitenden ihr Gemeindeleben gestalten, die dafür nicht die notwendigen Kompetenzen bereits mitbringen, sondern gezielt geschult werden müssen, um der übernommenen Verantwortung gerecht werden zu können. Darüber hinaus wird kein Weg daran vorbeiführen, gerade die Generation der Jungsenioren in der ersten Ruhestandsphase für die Mitarbeit zu gewinnen, auch wenn dann die Gefahr besteht, dass diese Generation die Gemeindearbeit so stark prägt, dass die Gemeinde für jüngere Menschen unattraktiv wird.

4. Die Multioptionsgesellschaft als Herausforderung für eine gemeinsame Spiritualität Nicht erst seit den 1990er-Jahren, aber doch seitdem verstärkt, hat sich die Zahl der in unserer Gesellschaft lebbaren Lebensentwürfe massiv erhöht.17 Neben der 

17 Als Multioptionsgesellschaft hat der Soziologe Peter Groß bereits

in den 1990er-Jahren die moderne Gesellschaft beschrieben, in der jedes Gesellschaftsmitglied vor sich ständig vervielfältigenden Handlungsmöglichkeiten steht. Da die Religion ihre normativ prägende Kraft gesamtgesellschaftlich eingebüßt hat, steht dem Einzelnen eine Pluralität von Werten und Lebensentwürfen zur Auswahl, wobei jede individuell gewählte Option wiederum zu einer Steigerung der Vielfalt beiträgt (vgl. P. Groß, Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a.M. 102005).

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Ehe haben sich mittlerweile eingetragene Lebenspartnerschaften für homosexuelle Paare ebenso etabliert wie zuvor nichteheliche heterosexuelle Lebensgemeinschaften. Das Bolognasystem der gestuften Bachelor- und Masterstudiengänge hat zu einer Vielzahl neuer Berufsqualifikationen geführt und die weltweite Verfügbarkeit tausender von Internetradio- und -fernsehsender ermöglicht, dass jeder sich nach seinen Bedürfnissen individuell das eigene Radio- und Fernsehprogramm zusammenstellen kann. Internetforen und Facebook-Communities, Newsletters und Blogs ermöglichen die Selektion von Inhalten und Nachrichten nach eigenem Gusto und per Suchmaschine findet jedes Kind die zu den eingegebenen Begriffen passenden Informationen im World Wide Web. Das meiste davon war vor zwanzig Jahren noch jenseits aller Vorstellungsmöglichkeiten und die sich daraus ergebende Vielfalt unterschiedlicher Möglichkeiten hat auch die freikirchliche Gemeindewirklichkeit massiv verändert. 4.1 Individualisierung von Lebensverläufen Freikirchliche Gemeinden sind traditionell von der Vorstellung geprägt, dass eine Gemeinde zwar dem einzelnen Gemeindemitglied die Verantwortung für seine Lebensentscheidungen zugesteht, andererseits sich aber alle Gemeindemitglieder bemühen, innerhalb des Gemeindekontextes eine gemeinsame Moral zu leben und das Miteinander in wechselseitiger Rücksichtnahme aufeinander zu gestalten.18 Dies wird angesichts der bunten Vielfalt gelebter Lebensstile und Ethiken zunehmend zum Problem. Während für die einen gelebte Homose

18 Vgl. R. Dziewas, Warum Gemeinden sich verändern (Anm. 1),

119ff.

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xualität eine Todsünde darstellt, die vom ewigen Himmelreich ausschließt, engagieren sich andere ganz offen für eine Akzeptanz schwuler und lesbischer Lebensentwürfe in den Gemeinden. Wo die einen sich an die Verteidigung traditioneller Familienbilder machen, gründen andere Gesprächskreise für feministische Theologie. Die einen wollen Gottesdienste mit poppigen Lobpreisandachten einführen, andere die traditionelle Form mit Chorälen bewahren, dritte mit ökumenisch inspirierten Liturgien und Taizé-Liedern neue Räume für Andacht und Gebet gestalten. Das Spektrum dessen, was in freikirchlichen Gemeinden theologisch und ethisch akzeptabel sein kann, ist vielleicht nicht ganz so breit wie das Angebot auf dem Markt der Möglichkeiten evangelischer Kirchentage, aber die in den letzten Jahren gewachsene Vielfalt ist eine große Herausforderung für Gemeindeformen, die aufgrund ihres engen Miteinanders der Mitglieder das Ideal von Einheit und Einmütigkeit hochhalten.19 Die Zeiten, in denen man z.B. wusste, was einen erwartete, wenn man eine Baptistengemeinde betrat, sind in Deutschland längst vorbei. Liturgisch reicht das Spektrum heute von der durchgestylten Medienshow à la Willow Creek bis zum traditionellen Predigtgottesdienst mit Orgelbegleitung. Ethisch gibt es konservativ-enge und liberal-offene Gemeinden und neben Gemeinden mit einem Altersdurchschnitt über 70 gibt es Gemeinden, in denen man zwischen den Scharen von Kindern und Jugendlichen kaum einen Menschen mit grauen Haaren sieht. Es ist ein Dauerproblem vieler Freikirchen, dass mit der Vielfalt der Lebensentwürfe auch eine Vielfalt von Ge

19 Vgl. zur Bedeutung des Prinzips Einheit und Einmütigkeit in frei-

kirchlichen Gemeinden meine Ausführungen in R. Dziewas, Verbindlichkeit im Kongregationalismus (Anm. 1), 243-265.

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meinden entstanden ist, die jeweils unterschiedliche Formen des Gottesdienstes gestalten und verschiedene Frömmigkeitsstile kultivieren. Damit aber hat die konfessionelle Identität und Identifizierbarkeit der einzelnen Freikirchen an Bedeutung verloren. Man empfindet mitunter eine größere Nähe zu einer ähnlich geprägten Gemeinde aus einer anderen Konfession als zu der eigenen Gemeinde im Nachbarort, weil diese vielleicht ganz andere Akzente im Gemeindeleben setzt. Es verwundert daher nicht, dass Mitglieder von Freikirchen im Falle eines Umzuges häufig zunächst alle freikirchlichen Gemeinden am neuen Wohnort daraufhin prüfen, in welcher sie sich am wohlsten fühlen, um sich dann, ungeachtet der eigenen konfessionellen Herkunft, derjenigen anzuschließen, die dem eigenen Frömmigkeitstyp am besten entspricht. 4.2 Milieuspezifische Spiritualitäten und milieuspezifische Gemeindearbeit Sowohl die evangelische Landeskirche als auch die römisch-katholische Kirche haben auf die erlebte Vielfalt der Gesellschaft mit Milieustudien reagiert.20 Ähnliche 

20 Während sich die katholische Kirche die Frage gestellt hat, welche

gesellschaftlichen Milieus sie noch erreicht, und dazu das aus dem Marketing bekannte Instrument der Sinus-Milieus verwendet (Vgl. M.N. Ebertz / B. Wunder (Hg.), Milieupraxis. Vom Sehen zum Handeln in der pastoralen Arbeit, Würzburg 2009), hat die EKD ihre vierte Mitgliederbefragung so gestaltet, dass sie die innerhalb der Kirche vorhandenen Lebensstile typisiert auswerten konnte. Vgl. dazu F. Benthaus-Apel, Lebensstilspezifische Zugänge zur Kirchenmitgliedschaft, in: W. Huber / J. Friedrich / P. Steinacker (Hg.), Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006, 205-236 sowie C. Schulz / E. Hauschildt / E. Kohler, Milieus praktisch. Analysen und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde, Göttingen 32010.

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Untersuchungen gibt es für den freikirchlichen Bereich bisher nicht, wie überhaupt die empirische Erforschung der Freikirchen in Deutschland ein Desiderat der theologischen Forschung darstellt.21 Für das freikirchliche Spektrum lässt sich beobachten, dass in kleinen Ortschaften, in denen oft nur eine oder zwei freikirchliche Gemeinden vertreten sind, die Gemeindearbeit weithin milieuübergreifend geschieht. Man versucht, innerhalb einer Ortsgemeinde die Vertreter unterschiedlicher Lebensstile miteinander im Gespräch zu halten. Die andauernde Suche nach lebbaren Kompromissen gestaltet sich allerdings vielfach schwierig und mitunter brechen Gemeinden daran auch auseinander oder verlieren Mitglieder an andere Gemeinden oder Konfessionen. Demgegenüber kann man in Großstädten beobachten, dass angesichts der Vielzahl vorhandener Gemeinden diese sich oft ungeplant zu milieuspezifischen Gemeinden entwickeln, weil ein bestimmter Stil von Gemeindearbeit und Frömmigkeit dazu führt, dass sich innerhalb einer Stadt die Frommen aus den verschiedenen Freikirchen eher nach ihren lebensstil-typischen Unterschieden sortieren, als nach ihrer konfessionellen Herkunft. Nur für die älteren Mitglieder besitzt die konfessionelle Identität noch eine so hohe Bindekraft, dass sie sich den Wechsel in eine andere Freikirche selbst dann versagen, wenn sie in ihrer eigenen Gemeinde das gewünschte Gemeindeleben nicht mehr vorfinden. Insgesamt kann man m.E. sagen, dass freikirchliche Gemeinden, solange es keine Alternative vor Ort gibt, versuchen, verschiedene Glaubensvorstellungen, Ethiken und Frömmigkeitsstile miteinander zu verbinden, um keine Mitglieder zu verlieren. Wenn jedoch verschiedene Gemeinden in erreichbarer Nähe liegen, entwickelt 

21 Vgl. R. Dziewas, „Dazu liegen bisher noch keine ausreichenden

Erkenntnisse vor …“ (Anm. 12), 178-197.

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jede für sich einen typischen, oft für ein bestimmtes Milieu anziehenden Frömmigkeitsstil mit dazu passenden Werten und Normen, wodurch wiederum gefördert wird, dass Mitglieder, die dem nicht entsprechen oder nicht entsprechen wollen, sich eine für sie passende Gemeinde suchen.

5. Die Ökumene als Herausforderung für die Gemeindetheologie Doch nicht nur in der innerfreikirchlichen Ökumene sind die Grenzen durchlässiger geworden. Ähnliches lässt sich auch auf der Ebene des theologischen Diskurses und bei der Übernahme von Spiritualitätselementen beobachten. 5.1 Der wissenschaftlich-theologische Diskurs und die freikirchliche Gemeindefrömmigkeit Der wissenschaftlich-theologische Diskurs ist international und auch in Deutschland schon seit langem kein konfessionell segmentierter Diskurs mehr. In allen theologischen Fachdisziplinen sind wissenschaftliche Publikationen anderer konfessioneller Herkunft zitier- und anschlussfähig, bereichern sich die verschiedenen theologischen Traditionsströme der Konfessionen wechselseitig. Durch die zunehmende Akademisierung der theologischen Ausbildung auch in den Freikirchen,22 werden auch die Beiträge freikirchlicher Theologinnen und Theo 22 Seit dem Jahr 2005 wurden nach und nach aus den Theologischen

Seminaren der verschiedenen Freikirchen staatlich anerkannte und vom Wissenschaftsrat akkreditierte Theologische (Fach)Hochschulen, die Bachelor- und Masterabschlüsse in Evangelischer Theologie vergeben.

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logen zunehmend stärker im wissenschaftlichen Diskurs wahrgenommen und konfessionsübergreifend rezipiert. Dies hat auch Rückwirkungen auf die freikirchliche Gemeindefrömmigkeit und das theologische Denken an der Gemeindebasis, denn diese wird durch die Transferleistungen ihrer theologischen Hochschulen verstärkt mit den Ergebnissen moderner Forschung konfrontiert. Blickt man auf die letzten Jahrzehnte, ist die Rezeption neuer theologischer Erkenntnisse in den Freikirchen alles andere als konfliktfrei verlaufen. Gerade die Akzeptanz der historisch-kritischen Exegese und ihrer Ergebnisse stößt in den Gemeinden mitunter noch auf erhebliche Vorbehalte, zum Teil auch auf scharfe Abwehr. Für freikirchliche Christinnen und Christen, die häufig aus der unmittelbaren Übertragung der biblischen Texte in ihr Leben die Motivation für eine dem Evangelium gemäße Gestaltung ihres Lebens zogen, bedeuten die Ergebnisse einer theologischen Wissenschaft, die zwischen der Historizität und der verkündigten Wahrheit biblischer Texte hermeneutisch unterscheidet, mitunter eine Infragestellung ihrer bisherigen Glaubens- und Lebenspraxis.23 

23 Die Vielfalt der im BEFG vertretenen Schriftverständnisse zeigt ein

unter dem bezeichnenden Titel „So! Oder auch anders?“ erschienene Sammelband, der das Ergebnis eines längeren Diskussionsprozesses zum Schriftverständnis im BEFG darstellt und verschiedene Zugänge zur Bibel nebeneinander stellt. Vgl. Präsidium des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (K.d.ö.R.) (Hg.), So! Oder auch anders? Beiträge aus dem BEFG zum Umgang mit der Bibel, Kassel 2008. Nach wie vor braucht es eine die Einwände der Gemeindefrömmigkeit aufnehmende Argumentationsweise, wenn sich freikirchliche Theologen gegenüber ihren Kirchen für die Anwendung der historisch-kritischen Methode einsetzen. Vgl. J. Demandt, Die Bibel – Gottes freundliche Einladung zur Wahrnehmung seiner Wirklichkeit. Anmerkungen zur theologischen Hermeneutik, in: ThGespr 25 (2001) 39-52 und A. Heinze, Verantwortung vor der Schrift in der Gegenwart, in: ThGespr 33 (2009) 159-180.

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Andererseits gibt es viele Freikirchlerinnen und Freikirchler, die sich durch die Vermittlung wissenschaftlich-theologischer Erkenntnisse zu einem zeitgemäßen und aufgeklärten Christsein befreit fühlen, weil sie sich nun nicht mehr an tradierte ethische Regeln gebunden fühlen, sondern die Herausforderung annehmen, ihr Glaubensleben verantwortlich aus dem Gesamtzusammenhang der biblischen Botschaft heraus zu begründen. Angesichts dieser Entwicklung verwundert es nicht, dass die theologische Diskussion um das Schriftverständnis zu einer permanent geführten Kontroverse in vielen Freikirchen geworden ist. Die fortschreitende Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften ist für die einen Ausdruck der Sündhaftigkeit der Welt, für die anderen ein Gebot der Nächstenliebe und der allen Menschen in gleicher Weise geltenden liebevollen Zuwendung Gottes. Für die eine Seite ist der Fall „Homosexualität“ mit dem Verweis auf die einschlägigen Bibelstellen klar, die andere Seite hingegen argumentiert mit Christus als der Mitte der Schrift und dem Gesamtzusammenhang des Evangeliums, und kann daher eine liebevolle, auf Dauer gestellte Beziehung zwischen zwei Menschen als dem Evangelium entsprechende Lebensform akzeptieren.24 Ähnliche Diskussionen gab es bereits in der Vergangenheit bei den Themen Wiederverheiratung Geschiedener, dem unverheirateten Zusammenleben von jungen Erwachsenen und dem ordinierten Dienst von Frauen und immer landete der freikirchliche Diskurs am Ende beim Dissens im Schriftverständnis, also auf der Ebene der Hermeneutik. Interessanterweise hat diese den Freikirchen und manchen Landeskirchen gemeinsame Erfah

24 Vgl. als freikirchliche Stimme für die Akzeptanz gleichgeschlecht-

licher Lebenspartnerschaften W. Bruske, Lesbisch, schwul und fromm, in: ZThG 14 (2009) 70-102.

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rung dazu geführt, dass die eigentlichen Konfliktlinien in ethischen und theologischen Positionen vielfach nicht mehr parallel, sondern quer zu den Konfessionsgrenzen verlaufen. Einen württembergischen Pietisten konservativer Prägung, einen Siegerländer aus einer darbystischen Versammlung und einen Baptisten mit theologischer Ausbildung an der fundamentalistisch geprägten Freien Theologischen Hochschule in Gießen verbindet hinsichtlich ihres Bibelverständnisses, ihrer gelebten Frömmigkeit und ihrer nach außen vertretenen Ethik und politischen Überzeugung über die Konfessionsgrenzen hinweg vermutlich mehr als sie mit ihren jeweiligen innerkonfessionellen Gegnern gemeinsam haben. Der Dissens über das richtige Schriftverständnis wird die Freikirchen auf absehbare Zeit begleiten. Er birgt ein massives Spaltungspotenzial für einzelne Gemeinden und ganze Gemeindebünde und könnte zu einer Neusortierung der (frei-)kirchlichen Landschaft in konservative, fundamentalistisch ausgerichtete und liberale, historisch-kritisch argumentierende Konfessionen führen. Schon jetzt sortieren sich die Frömmigkeitstraditionen durch die gemeinsame Lektüre entsprechender Zeitschriften, Bücher und Nachrichtenmagazine eher danach, welches Schriftverständnis darin propagiert wird, als nach den Konfessionsgrenzen.25 

25 Ein entsprechend klar sortiertes konservativ fundamentalistisches

Marktsegment auf der einen und ein liberal historisch-kritisch ausgerichtetes Verkaufsfeld auf der anderen Seite wäre auch gerade für die Medienlandschaft wirtschaftlich und politisch deutlich interessanter, weil leichter zu bedienen, als der derzeitige zersplitterte Freikirchensektor. So kämpfen die etablierten Konfessionszeitschriften und Verlage aufgrund sinkender Umsätze ums Überleben, während große Verlagszusammenschlüsse, die ihre Buchund Zeitschriftenproduktion überkonfessionell ausrichten, sich wirtschaftlich erfolgreich auf dem freikirchlichen Literaturmarkt etabliert haben.

213

5.2 Die ökumenische Bewegung als Inspirationsquelle freikirchlicher Spiritualität Aber auch die im ökumenischen Miteinander erlebte Gemeinschaft, wie sie in der Zusammenarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, gemeinsamen ökumenischen Gottesdiensten, Gebets- und Bibelwochen und missionarischen oder diakonischen Aktivitäten vor Ort vielfältig erlebbar ist, hat die vormals konfessionell differenzierte Spiritualität im Kontext der Freikirchen massiv verändert. Überall dort, wo in einem vertrauensvollen Miteinander die Mitglieder anderer Kirchen eher als Gleiche denn als Andere wahrgenommen werden, wächst auch die Bereitschaft, Elemente aus deren Gottesdiensten in die eigene Gottesdienstgestaltung zu übernehmen. Zunehmend häufiger werden liturgische, freie oder meditative Gebetsformen aus anderen konfessionellen Zusammenhängen entdeckt, ausprobiert und in die eigene Frömmigkeit integriert. Die evangelischen und katholischen Kirchentage, ProChrist, die Friedensdekade, die Ökumenische Bibelwoche, Jesus-House, Taizétreffen oder katholische Weltjugendtage sind auch für freikirchliche Christen mittlerweile selbstverständliche Inspirationsquellen für ein am Evangelium orientiertes Leben aus dem Glauben geworden. Spiritualitätsliteratur aus den verschiedensten konfessionellen Traditionen findet ihre Leserschaft auch im gesamten freikirchlichen Spektrum, wodurch aber auch innerhalb der einzelnen Freikirchen eine spirituelle Vielfalt entsteht, eine konfessionelle Patchwork-Spiritualität, die nicht mehr viel gemeinsam hat mit der ursprünglich einmal klar identifizierbaren baptistischen, methodistischen, pfingstlichen oder frei-evangelischen Ausprägung geistlichen Lebens. Es gibt Baptisten, die die ignatianischen Exerzitien als zentralen Bestandteil ihrer Frömmigkeit betrachten und solche, die Andachten mit Ge214

dichten und Texten von Dorothee Sölle gestalten. Andere orientieren sich am amerikanischen Fundamentalismus oder an pfingstlichen oder charismatischen Vorbildern und wieder andere pflegen althergebrachte Elemente der eigenen baptistischen Frömmigkeitstradition wie die morgendliche „Stille Zeit“ mit Losung und Bibellese, frei formulierter Fürbitte und stillem Hören auf Gottes Weisung für den Tag. All dies zu bündeln, zu verbinden und daraus eine gemeinsame gemeindliche Spiritualität in der Ortsgemeinde zu formen, ist sicherlich eine der zunehmend schwieriger werdenden Herausforderungen der Gegenwart.

6. Das Web 2.0 als Herausforderung für konfessionelle freikirchliche Identitäten Auch die in den letzten zwei Jahrzehnten erfolgte Entwicklung der elektronischen Medienwelt rund um Internet, Facebook, Twitter und Co. ist an den Freikirchen nicht vorübergegangen. Kaum eine Gemeinde kann es sich heute noch erlauben, nicht mit einer Homepage auf sich aufmerksam zu machen. Aber all dies ist eigentlich nur eine weitere Seite der klassischen Öffentlichkeitsarbeit, mit der man seine eigenen Angebote und Prägungen einer interessierten Öffentlichkeit vorstellt. Die wesentliche Herausforderung liegt in den neuen sozialen Interaktionsmedien, in denen Freundeskreise konstituiert werden und Kommunikationszirkel entstehen, denen kein reales Pendant im Alltagsleben der Gemeinde entsprechen muss.

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6.1 Zwischen Digital Natives und elektronischen Analphabeten Die neuen Formen der sozialen Medien sind binnen kurzer Zeit für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu einem wichtigen Teil ihres Lebens geworden, während es für viele Ältere eine fremde Welt geblieben ist. In der konkreten Gemeindearbeit bedeutet dies, dass es drei Gruppen von Gemeindegliedern gibt, die sich hinsichtlich ihres Kommunikationsverhaltens grundlegend unterscheiden: Zum ersten gibt es die meist im Seniorenalter stehenden elektronischen Analphabeten ohne Computer, E-Mail-Adresse oder Internetzugang. Zweitens begegnet man den gelernten Computernutzern im mittleren und fortgeschrittenen Lebensalter, deren Lieblingskommunikation längst die E-Mail geworden ist und die das Internet selbstverständlich als Informationsmedium nutzen, die aber vor den sozialen Medien eher zurückschrecken. Drittens gibt es schließlich noch die Digital Natives, die sich ein Leben ohne elektronische Medien aller Art gar nicht vorstellen können, weil sie nie ein Leben ohne Computer und Smartphone kennengelernt haben und die ganz selbstverständlich ihr privates Leben über Facebook oder andere soziale Netzwerke organisieren.26 

26 Vgl. zum Umgang von Kindern und Jugendlichen mit sozialen

Netzwerken U. Hasebrink / C. Lampert, Kinder und Jugendliche im Web 2.0 – Befunde, Chancen und Risiken, in: APuZ 3/2011 vom 17.01.2011, 3-9. Marc Prensky hat 2001 das Begriffspaar digital natives und digital immigrants geprägt, weil er die Generation derer, die mit dem Internet aufwuchsen, von denen unterscheiden wollte, die sich diese Kompetenzen erst in einer späteren Lebensphase aneignen mussten (M. Prensky, Digital Natives, Digital Immigrants, in: On The Horizon 9 [5/2001] und ders., Digital Natives, Digital Immigrants, Part II: Do They Really Think Differently? in: On The Horizon 9 [6/2001]).

216

Eine Prognose lässt sich diesbezüglich leicht aufstellen: Der gesellschaftliche Wandel der modernen elektronischen Kommunikationsformen wird eine weiter nachlassende konfessionelle Bindung und eine Schwächung konfessioneller Identitäten bedeuten und damit Veränderungsprozesse innerhalb des freikirchlichen Gemeindelebens massiv beschleunigen.27 6.2 Individualisierte Wahrnehmungshorizonte Entscheidend für die Prägung persönlicher Wertvorstellungen sind vor allem auch die Kontexte, in denen jemand permanent kommuniziert. Am Anfang des Lebens beschränkt sich das Kommunikationsfeld zumeist auf die Familie, dieses prägt die kindlichen Vorstellungen von Normalität und beeinflusst damit nachhaltig die Wertvorstellungen, aus denen heraus jemand sein Leben gestaltet. Neben die Familie mit ihren Wertvorstellungen treten im Lebensverlauf dann auch andere Bezugsgruppen, Kommunikationskontexte und Medien, die prägenden Einfluss auf Grundüberzeugungen und Entscheidungen haben. Dazu gehören der Freundeskreis, das Berufsfeld, aber auch die Gemeinde, die das Leben und Denken ihrer Mitglieder durch Predigt und Lehre, durch Unterweisung und Interaktion beeinflusst. Allerdings prägen auch Fernsehen, Literatur, das Internet und alle anderen Kommunikationszusammenhänge das Bild mit, das jemand von der Welt und den in ihr geltenden Regeln und Normen entwickelt. Die modernen Netzwerke wie Facebook erlauben es nun aber darüber hinaus, sich aus der Vielfalt weltweiter Kommunikationsangebote einen eigenen Bereich rele

27 Vgl. zum Folgenden: R. Dziewas, Warum Gemeinden sich verän-

dern (Anm. 1), 128ff.

217

vanter Informationen und Personen zusammenzustellen. Man kann selbstselektiert verfolgen, was bestimmte Personen posten oder twittern, kann bestimmte Sorten von Informationen herausfiltern, die einen interessieren, und die eigenen sozialen Bezüge im realen wie im virtuellen Leben über soziale Medien organisieren. Elektronische Netzwerke ermöglichen also die Schaffung individueller Lebenswelten, die nicht mehr konfessionell sortiert sind, sondern an den jeweiligen Vorlieben und Überzeugungen der Person ausgerichtet sind. Und in diesen Lebenswelten machen gemeindebezogene Kommunikationszusammenhänge nur noch einen kleinen Teil aus. Mit dem elektronischen „Freund“ in Amerika kommuniziert man mitunter häufiger als mit den realen Freunden aus der Gemeinde, der tägliche Blog eines säkularen Kommentators aus der Medienwelt kann sich als wichtiger für die Deutung der Welt erweisen als die am Sonntag gehörte Predigt. 6.3 Freikirchliches Gemeinde- und Glaubensleben im Social Web Es ist davon auszugehen, dass die neuen elektronischen Netzwerke für freikirchliche Gemeinden noch einmal einen Schub des Wandels auslösen werden. Dabei wird die individualisierte Kommunikations- und Informationswelt des Web 2.0 allerdings zunächst nur von den Digital Natives gestaltet, von den anderen beiden Gruppen im Gemeindeleben hingegen eher erlitten. Manche aus der Gruppe der gelernten Computeruser werden sich die Welt von Facebook, Twitter und Co. vielleicht noch erschließen, weil sie es aus beruflichen Gründen müssen, oder weil sie den Kontakt zur Jugend auch auf diesem Feld der Kommunikation weiter halten möchten. Die Generation der elektronischen Analphabeten wird 218

sich auf diese Wege allerdings wohl nicht mehr begeben und damit von einem immer wichtiger werdenden innergemeindlichen Feld religiöser Kommunikation komplett ausgeschlossen bleiben. Hat schon die Veränderung von Musikgeschmäckern im gemeindlichen Kontext zu massiven Friktionen zwischen den Generationen geführt, wird die Verlagerung zentraler theologischer und ethischer Diskurse in die sozialen Medien diese Kluft noch vertiefen. Im Extremfall wird es zukünftig auf der einen Seite vermehrt eine Präsenzgemeinde der Alten geben, die noch die Face-toFace-Kommunikation pflegt, und eine Gemeinde im Web 2.0, die medial vernetzt, ihren Glauben lebt, indem sie, egal wo die einzelnen Mitglieder sich gerade auf der Welt befinden, internetbasierte Kommunikationswege zur Diskussion religiöser Themen nutzt. Es ist kein Geheimnis, dass sich Jugendliche während einer gottesdienstlichen Predigt mit Hilfe ihrer Smartphones via SMS oder Facebook-Chat über das Gehörte oder ganz andere Dinge austauschen. Eine Kommunikationsform, die diese Altersgruppe auch sonst parallel zu anderen Tätigkeiten einsetzt. Daher hat eine evangelisch-freikirchliche Gemeinde in einem interaktiven Jugendgottesdienst versuchsweise angeboten, dass alle Gottesdienstbesucher während der laufenden Predigt dazu Kommentare via Twitter abgeben konnten. Diese neue Ebene gottesdienstlicher Kommunikation wurde zeitgleich im Gottesdienstraum via Beamer für alle sichtbar an eine Wand projiziert, eine auf die jugendliche Zielgruppe des Gottesdienstes zugeschnittene Form der parallelen interaktiven Kommunikation. Viele ältere Gemeindemitglieder werden über eine solche Verwahrlosung der Gottesdienstkultur nur konsterniert den Kopf schütteln, Jugendliche hingegen werden solche laufenden Einblendungen von Twitter-Kommentaren zur Predigt als attraktive moderne Gottesdienst219

form erleben, weil sie ähnliches aus vielen ihrer Fernsehsendungen kennen. Wie immer man solche vorerst experimentellen Versuche aus liturgischer Sicht beurteilen mag, für alle Prediger wird es sicherlich eine starke Herausforderung werden, wenn sie zukünftig ihre in Exegese und homiletischer Betrachtung am Schreibtisch erarbeiteten Erkenntnisse nicht mehr mittels Monolog, sondern im kommunikativen Diskurs mit kommentierenden Zuhörern entfalten müssen. Es ist momentan noch nicht absehbar, wie sehr die Kommunikationsformen des Web 2.0 das Glaubensund Gemeindeleben freikirchlicher Gemeinden verändern werden. Als relativ experimentierfreudige Gemeinden, die wenig bis gar nicht an feste Gottesdienstformen und Agenden gebunden sind, werden sich einzelne Gemeinden vermutlich zukünftig verstärkt für neue Formen innergemeindlicher und intergemeindlicher Kommunikation öffnen. Der im freikirchlichen Sektor auch sonst mit vielen Mitteln geführte Kampf um den jugendlichen Nachwuchs wird auch auf diesem Feld ausgefochten, nicht mehr nur mit Lobpreisliedern, Anspielen und einer rockigen Begleitband im Gottesdienst. Vor allem für Pastorinnen und Pastoren und die Mitarbeitenden im Jugendbereich wird es zukünftig notwendig werden, sich in diesen Netzen des sozialen Lebens auszukennen und in ihnen das Evangelium zu kommunizieren, um den Kontakt zur jungen Generation nicht zu verlieren. Es wird darum gehen zu verstehen, wie die Jugendlichen denken und ihren Glauben leben, um sie auch im Social Web seelsorgerlich und mit geistlichem Rat begleiten zu können.

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7. Ein Ausblick Angesichts der unterschiedlichen gesellschaftlichen Herausforderungen, die in den letzten Abschnitten umrissen wurden, fällt es schwer, die weitere Entwicklung zu prognostizieren. Die einzelnen Ortsgemeinden und die aus ihnen zusammengesetzten Gemeindebünde und Freikirchen werden sicherlich sehr unterschiedliche Antworten auf die gesellschaftlichen Veränderungen entwickeln und erproben. Solche, die sich bewähren, werden angesichts der intensiven Diskussionszusammenhänge im freikirchlichen Bereich sicherlich von verschiedenen Konfessionen übernommen werden. Dennoch wird angesichts der gesellschaftlichen Breite unterschiedlicher Lebensstile auch die Vielfalt innerhalb der einzelnen Freikirchen wachsen und die Unterscheidbarkeit der Konfessionen zueinander abnehmen. Es ist offensichtlich, dass die verschiedenen Freikirchen angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung zur Multioptionsgesellschaft und der ökumenischen Pluralität aufgenommener christlicher Traditionen lernen müssen, mit einer inneren Vielfalt gelebter Spiritualität und Lebensstile zu leben, ohne die eigene Identität völlig zu verlieren. Dies aber dürfte angesichts der geringen konfessionellen Unterschiede im freikirchlichen Bereich ein schwieriges Unterfangen werden. Wenn die gesellschaftliche Entwicklung so, wie dargestellt, weitergeht, wird in weiteren zwanzig Jahren vermutlich nicht mehr viel von den konfessionellen Unterschieden innerhalb des freikirchlichen Spektrums übrig sein. Stattdessen wird es ein großes, weites und buntes Feld freikirchlichen Lebens geben, in dem sich die einzelnen Christinnen und Christen jeweils eine Gemeinde ihrer eigenen Wahl suchen können. Und bei dieser Entscheidung wird vermutlich der Frömmigkeitsstil einer Gemeinde wichtiger sein als 221

der Konfessionsname, der auf dem Schaukasten der dazugehörigen Kirche steht.

ZUSAMMENFASSUNG Der Beitrag analysiert die massiven Veränderungen der deutschen Gesellschaft in den beiden vergangenen Jahrzehnten und zeigt auf, wie sie das freikirchliche Leben aus dem Glauben beeinflussen. Konkret genannt werden die Veränderungen der Zeitrhythmen und der Arbeitszeitstrukturen der Gesellschaft, die damit einhergehende gesteigerte Orientierung an Leistung und Effizienz, die größer gewordene Vielfalt möglicher Lebensstile und die Relativierung von konfessionellen Unterschieden durch die Entwicklung und Vertiefung der ökumenischen Kontakte. Abschließend wird die Wirkung der neuen sozialen Medien angesprochen, weil sie in der Zukunft das freikirchliche Leben stark verändern werden.

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Ökumenische Spiritualität im Kontext des konfessionellen, interkonfessionellen und transkonfessionellen Christseins1 10 Thesen zur Diskussion Wolfgang Thönissen

1. Gottesdienst und ökumenische Bewegung Die Liturgische Bewegung gehört zu den modernen Reformimpulsen in den Kirchen, die wesentlich zur ökumenischen Bewegung beigetragen haben. Christen beten gemeinsam, weil sie an den einen Herrn Jesus Christus glauben. Fragen des Gottesdienstes wurden daher schon sehr früh in der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen behandelt.2 Zwar galt der Gottesdienst zunächst als Hindernis auf dem Weg auf dem Weg zur Einheit, insofern gottesdienstliche Fragen unmittelbar mit der ekklesiologischen Problematik zusammenhängen, doch entwickelte sich in den ökumenischen Gremien bald ein Gespür für die Rolle des Gottesdienstes in der ökumenischen Bewegung. 1937 wurden während der zweiten Welt

1 Unter Spiritualität wird hier ein umfassender, vom einzelnen Gläu-

bigen gelebter Vollzug aus dem Glauben in kirchlicher Gemeinschaft verstanden. Sie umfasst Gebet, Andacht, ökumenischen Gottesdienst im Einzelnen. Der oecumenismus spiritualis wird im Ökumenismusdekret Unitatis redintegratio von der communicatio in sacris, der eigentlich sakramentlichen Feier, unterschieden, vgl. UR 8. 2 Vgl. hierzu insgesamt: D.R. Holeton / J.St.H. Gibaut, Gottesdienst und ökumenische Bewegung, in: Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche. Hg. v. H.-Ch. Schmidt-Lauber u. K.H. Bieritz, Leipzig-Göttingen, 1995, 195-206.

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konferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Edinburgh erstmals Fragen des Gottesdienstes diskutiert.3 1952 richtete die dritte Weltkonferenz eine theologische Kommission über die Frage des Gottesdienstes ein. Neben einer „Übereinkunft über fundamentale Prinzipien stand auch eine lange Liste ungelöster Probleme, die deutlich machte, dass es zwischen den Kirchen mehr Unterschiede als Übereinstimmungen gab“.4 Jeder Gottesdienst vollzieht sich in Übereinstimmung mit der Kirche, in deren Gemeinschaft der einzelne Gläubige den Gottesdienst feiert. Erst die Konferenz von Montreal von 1963 ebnete den Weg für das Gottesdienstthema im ökumenischen Dialog im Nachdenken über die gottesdienstliche Bedeutung von Taufe und Abendmahl. Dieser Weg mündete ein in die Verabschiedung der Konvergenzdokumente über Taufe, Eucharistie und Amt von 1982. Unmittelbares Ergebnis der Lima-Erklärung zur Eucharistie war die von Max Thurian und anderen Ökumenikern für diese Konferenz in Lima entworfene LimaLiturgie, die eine Wiederentdeckung und Wiederaneignung altkirchlicher Liturgiegebete in heutigen Liturgietraditionen verschiedener dem ÖRK angehörende Kirchen ermöglichte.5

2. Ökumene und liturgische Erneuerung in der katholischen Kirche Die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils hatten nicht nur Auswirkungen auf die römisch-katholische Kirche und ihre Liturgie, sondern auch auf die anderen 

3 Vgl. hierzu: Die Einheit der Kirche. Material der ökumenischen

Bewegung. Hg. v. L. Vischer, München 1965, 72f.,117-123.

4 Ebd., 197. 5 Ebd., 202f.

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westlichen Kirchen und die ökumenische Bewegung insgesamt, an der die katholische Kirche bis dahin selbst nicht beteiligt war, aber doch auf sie Einfluss genommen hat.6 Der innerkirchlichen Liturgiereform kommt daher eine hohe ökumenische Bedeutung zu.7 In der liturgischen Erneuerung der katholischen Kirche spielt die von der anglikanischen Atonementbewegung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ausgehende Weltgebetsoktav für die Einheit der Kirche, die in Europa von Abbé Couturier protegiert wurde, eine herausragende Rolle, eine von Laien getragene breite Bewegung in der katholischen Kirche mit erheblicher Auswirkung auf die ökumenische Bewegung. Darüber hinaus förderte die Wiedergewinnung alter Eucharistiegebete, die neu in das römische Messbuch integriert wurden, das Gespür für liturgische Traditionen über die engen Grenzen der römisch-lateinischen Kirche hinaus. Auf diesem Wege rücken ältere apostolische liturgische Traditionen in den Fokus der eigenen liturgischen Tradition. Hier ließe sich dann auch die Geschichte der konfessionellen Liedtraditionen über die Grenzen der Konfessionalisierung hinweg erzählen.8 Die Gesangbuchgeschichte kann an vielen Liedern aufzeigen, wie sich eine ökumenische Konvergenz auf liturgischem Boden über Jahrhunderte hinweg zwischen den konfessionellen Gemeinschaften entwickeln konnte.



6 Ebd., 201. 7 H.-B. Meyer, Gottesdienst und Spiritualität, in: GdK 2/2 (2008)

159-279, hier 261.

8 Vgl. hierzu: Das geistliche Wunderhorn. Große deutsche Kirchen-

lieder. Hg., vorgest. u. erl. v. H. Becker u.a., München 2001, mit einer Fülle von Hinweisen auf evangelisch-katholische Rezeptionsgeschichten.

225

3. Ökumenischer Gottesdienst und Konfessionalität Gebet und Gottesdienst stehen im Mittelpunkt christlicher Identität. Mit zunehmender Realität und Bedeutung ökumenischer Erfahrungen, dem Miteinander von Christen am Ort, wächst die Sehnsucht nach dem gemeinsamen Gebet. Die Konfessionalität des eigenen Kircheseins, die eigene ekklesiale Identität, wird für die das Miteinander erlebenden Christen unterschiedlicher konfessioneller Herkunft dann zu einer bedrängenden Frage. So sehr der Gottesdienst und seine Feier Quellen des eigenen Kircheseins sind, so steht die liturgische Beheimatung in ihrer konfessionellen Form einer ökumenischen Bewegung und Begegnung entgegen. Die Teilnahme an ökumenischer Liturgie und Gottesdienst verlangt vom einzelnen Gläubigen immer einen Spagat zwischen kirchlicher Beheimatung und ökumenischer Offenheit und ist Ausdruck für die paradoxe Situation, einer kirchlichen Gemeinschaft angehören und zugleich im gemeinsamen Gebet diese eine, konfessionell bestimmte Gemeinschaft je transzendieren zu müssen.

4. Vorläufige Formen ökumenischen Feierns Dieser Herausforderung des ökumenischen Miteinanders entsprechen verschiedene Formen des ökumenischen Feierns.9 (1) Der nächstliegende Weg führt zu einer Gottesdienstform, die einen Minimalkonsens in Gestaltungen liturgischen Handelns findet, die in den verschiedenen konfessionellen Traditionen nicht jeweils strittig sind. Dabei kann es sich nur um die Aufnahme  9 Vgl. H. Kornemann, Ökumenischer Gottesdienst, in: Handbuch

der Liturgik (Anm. 2), 88f.

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einzelner Elemente handeln, die in verschiedenen Traditionen jeweils gleichzeitig vorkommen, wie Fürbittgebete, Bußformen, Lieder, Andachten und Tagzeitengottesdienste. Grundformen bieten in dieser Hinsicht die üblich gewordenen Wortgottesdienste. In diesen Formen konzentriert man sich auf das gemeinsam vorhandene liturgische Gut. (2) Jede Konfession bringt die ihr unumgänglich erscheinenden Elemente in einen ökumenischen Gottesdienst ein. Hauptbeispiel für eine solche Form ist die sogenannte Lima-Liturgie von 1983. (3) Die Kirchen gewähren Mitgliedern anderer Kirchen und Gemeinschaften ökumenische Gastfreundschaft. Die weiteste Form dieser Gastfreundschaft besteht in der wechselweisen Teilhabe an der Eucharistiefeier der je eigenen Kirchengemeinschaft. Diese Form der gegenseitigen Teilhabe bietet die Leuenberger Konkordie. Die jeweilige Gottesdiensttradition bleibt erhalten, Mitglieder anderer Traditionen werden aber voll in diese integriert. Das geschieht wechselweise. Die Problematik dieser Formen des Feierns erscheint in einer paradoxalen ökumenischen Situation: Auf der einen Seite gibt es die eine Kirche und damit die eine Liturgie der Kirche, während alle anderen Formen als Derivate oder schlimmstenfalls Abirrungen erscheinen. Gegenüber der Pluralität verschiedener Liturgien erscheint ein Zustand bestmöglicher Toleranz, deren Differenz letztlich unaufhebbar ist.

5. Eine gemeinsame Gestalt für die Feier des Gottesdienstes setzt Einheit voraus Die Suche der Christenheit nach einer gemeinsamen Gestalt für die Feier des Gottesdienstes ist Ausdruck ökumenischer Gesinnung. Die Einheit der Kirche be227

stimmt die Einheit des Gottesdienstes. Ausdruck dieser Grundüberzeugung ist die seit alters her lebendige kirchliche Lehre: Eucharistiegemeinschaft ist Kirchengemeinschaft, Kirchengemeinschaft ist Eucharistiegemeinschaft. Oder Abendmahlsgemeinschaft ist Bekenntnisgemeinschaft und umgekehrt. Von dieser Grundüberzeugung her können Gestalten und Formen ökumenischer Gottesdienste nicht losgelöst betrachtet werden. Das bedeutet im Wesentlichen, dass es Einheit in der Gemeinschaft nur geben kann in den engen Grenzen einer erkennbaren kirchlichen Gemeinschaft. Die Feier der Eucharistie ist Koinonia und damit verwirklicht sie die Gemeinschaft, die sie bezeichnet. Von diesem Doppelcharakter her fordert die Feier der Eucharistie die Gemeinschaft aller Christen, die sie dann um des Zeichens der Einheit willen aber denen verweigert, die nicht dieser Gemeinschaft angehören. Damit schließt die Eucharistiegemeinschaft die Teilhabe der getrennten Geschwister nicht prinzipiell aus, wenn sie auch das letzte Zeichen des gemeinsamen Vollzugs verweigert.

6. Achtung vor dem Selbstverständnis der anderen. Die Rückkehr zur Konfessionalität des Gebetes Diese häufig als unbefriedigend empfundene liturgische Lage in der ökumenischen Bewegung wird heute wieder verstärkt dahin genutzt, konfessionelle Gottesdienste gegen interkonfessionelle Gottesdienste auszuspielen.10 Orthodoxe Theologen plädieren angesichts der Künstlichkeit interkonfessioneller Gottesdienste, ihres eklekti

10 Vgl. P. Bouteneff, Konfessioneller oder Interkonfessioneller Gottes-

dienst? Eine innere Auseinandersetzung, in: US 57 (2002) 178181.

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schen Charakters wegen, für die Rückkehr zu konfessionellen Gebeten. Da es keine ökumenische Kirche gebe, könne es auch keine ökumenischen Gottesdienste geben. Die Empfehlung des Ökumenischen Rates der Kirchen11 greift diese grundlegende Skepsis auf und votiert für Zurückhaltung bei ökumenischen Gottesdiensten. Interkonfessionelle Andachten sind besonderen ökumenischen Anlässen geschuldet und dürfen nur das Ergebnis ernsthafter Planung sein. Die Achtung vor dem Selbstverständnis der anderen gebietet die Zurückhaltung bei ökumenischen Gottesdiensten.

7. Neue transkonfessionelle Gemeinschaften Neue geistliche Gemeinschaften und Bewegungen, die in den letzten Jahren vermehrt entstanden sind, finden sich sowohl innerhalb als auch außerhalb konfessionell identifizierbarer Kirchentümer. Historisch betrachtet ist die Kirchengeschichte voll von Hinweisen auf Erneuerungsgruppen. Im Mittelalter waren es vor allem die monastischen Bewegungen und die Bettelorden, im nachreformatorischen Christentum ist es die Erweckungsbewegung, welche die innerkirchliche Erstarrung zu überwinden sucht. In der westlichen Welt sind es heute hauptsächlich konfessionsunabhängige charismatische Bewegungen und Gruppen. Konfessionskundlich spricht man von transkonfessionellen Bewegungen.12 

11 Ein Rahmen für die gemeinsame Andacht bei Versammlungen des

Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), in: US 57 (2002) 340352. 12 In der wissenschaftlichen Diskussion unterscheidet man heute drei Typen von Konfessionalisierungsmustern: Konfessionalität, Interkonfessionalität, Transkonfessionalität. Unter dem ersten versteht man territoriale, regionale und nationale Ausformungen konfessionskultureller Identitäten, unter dem zweiten wechselseitige Aus-

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In diesen transkonfessionellen Gruppen und Bewegungen vermittelt sich christlicher Glaube in kleinen überschaubaren Gemeinschaften. Die konfessionelle Bindung wird in solchen charismatisch und pfingstlerisch geprägten Gemeinschaften zwar nicht aufgehoben, aber weithin relativiert. Merkmale dieser Frömmigkeitsformen sind persönliches Gebet und individuelle Bibellektüre in flexiblen, nicht hierarchisch geordneten Strukturen des Gemeindelebens. Intensität religiöser Erfahrungen, missionarisches Sendungsbewusstsein und gewisse Modernitätskritik prägen die religiöse Identität. Der Aufbau religiöser Identität ist wichtiger als die Konfessionszugehörigkeit. Solche Gemeinschaften orientieren sich gruppenübergreifend. Merkmal der gemeinschaftsübergreifenden Verständigung ist die Zustimmung zur persönlichen Erfahrung. Charakteristisch ist die Ortsunabhängigkeit, die flexible Kommunikation, die Milieu-Unabhängigkeit.13 Erst mit dem Prozess der institutionellen Verkirchlichung beginnt auch wieder eine zunehmende Konfessionalisierung, d.h. ein Prozess der gegenseitigen Abgrenzung. Damit verlieren solche geistlichen Gemeinschaften den Charakter eines geistlichen Aufbruches. Solches Werden zu einer Kirche geht dann paradoxerweise mit anschließender ökumenischer Beteiligung einher. Das 

tauschprozesse zwischen einzelnen Personen und Gruppen verschiedener konfessioneller Milieus, unter dem letzten ein Hinausgehen über die Grenzen der jeweiligen Konfession, vgl. Th. Kaufmann, Einleitung, in: Transkonfessionalität, Interkonfessionalität, binnenkonfessionelle Pluralität – Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hg. v. K. von Greyerz u.a., Gütersloh 2003 (SVRG 201), 9-15. 13 Vgl. R. Hempelmann, Geistliche Bewegungen und die Suche nach Gemeinschaft der Kirchen, in: Katholizismus in moderner Kultur. Hg. v. H. Baer u. M. Sellmann, Freiburg i.Br. 2007, 173-184. Ebenso auch H.B. Meyer, Gottesdienst und Spiritualität (Anm. 7), 257262.

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könnte bedeuten, dass nur konfessionell erkennbare Kirchen miteinander ökumenisch kommunizieren. Kirchen und Gemeinschaften, die eine Mitgliedschaft etwa im Ökumenischen Rat der Kirchen oder den Arbeitsgemeinschaften Christlicher Kirchen anstreben, haben sich nicht selten zuvor aus einer Abspaltung einer bereits bestehenden Kirche oder Gemeinschaft gebildet, die eine Erneuerung suchen und gestalten. Auf dem Weg der späteren Institutionalisierung ergeben sich dann Motive zur ökumenischen Zusammenarbeit.

8. Umkehr als Ursprung der ökumenischen Bewegung14 Die Suche nach der Einheit unter den Christen war von Anfang an mit der Idee einer Umkehr zur Einheit verbunden. Ohne diesen Akt der Umkehr und der Buße ist der Ruf zur Einheit nicht verständlich. Die Gründe hierfür liegen vor allem in den missionarischen Initiativen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die die Spaltungen unter den Christen erst recht bewusst machten. Wer die Welt für Christus gewinnen will, kann dies nur aus einer Position der Glaubwürdigkeit heraus tun. Glaubwürdig sind Christen dann, wenn sie das Evangelium gemeinsam verkünden. Diese innere Zusammengehörigkeit von Mission und Verkündigung macht die Umkehr zur Einheit zu einer dringenden Notwendigkeit. 8.1 Diese Auffassung sucht dem Umstand gerecht zu werden, dass die ökumenische Bewegung zutiefst mit der Entstehung der christlichen Konfessionsbildung und des christlichen Konfessionalismus verbunden ist. Die 

14 Vgl. hierzu meine Ausführungen in: Dogma und Symbol. Eine

ökumenische Hermeneutik, Freiburg i.Br. 2008, 75-106.

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Dynamik der ökumenischen Bewegung verdankt sich dem Impuls, der konfessionellen Spaltung entgegenzuarbeiten, um der Konversion der Konfessionalität den Weg zu bereiten. So zeigt sich schließlich, dass der Einheitsimpuls der ökumenischen Bewegung und die Motivik der Umkehr in Konfessionalität und Konfessionalismus des 16. und 17. Jahrhunderts wurzeln.15 8.2 Alle Bemühungen um Umkehr und Erneuerung beziehen sich immer auf die konfessionelle Identität, wie sie sich in der Existenz konfessioneller Kirchen und Gemeinschaften widerspiegelt. Dieser Konflikt ist unausweichlich. Mit ihm hängt das Bewusstsein der Überwindung der Spaltung der Christenheit zusammen. Ihn so wahrzunehmen heißt auch, sich einzugestehen, dass die ökumenische Bewegung ein modernes Phänomen ist, und zwar deshalb, weil sie die historisch verifizierbare Konfessionalität voraussetzt. Die Toronto-Erklärung des ÖRK von 1950 erfasst die hier obwaltende Differenz in der Unterscheidung zweier Formen von Mitgliedschaften, die in der Kirche Jesu Christi einerseits und in der jeweils eigenen Kirche andererseits wurzeln.16 Beide Formen von Mitgliedschaft sind nicht deckungsgleich. Ganz parallel dazu hat auch das Ökumenismusdekret diese Differenz so aufgenommen, indem es zwischen der Einheit der Kirche einerseits und der Wiederherstellung der Einheit der Christen andererseits unterscheidet. Das Ökumenismusdekret geht sogar so weit, die Existenz der Spaltung der Christenheit als Hindernis für die kirch

15 Auf diesen Zusammenhang weist die Groupe des Dombes in ih-

rem bemerkenswerten Dokument „Für die Umkehr der Kirchen“ hin. Orig. franz.: Pour la conversion des Eglises, Paris 1991, dt. Für die Umkehr der Kirchen. Identität und Wandel im Vollzug der Kirchengemeinschaft, Frankfurt a.M. 1994. 16 Die Kirche, die Kirchen und der Ökumenische Rat der Kirchen, in: Die Einheit der Kirche (Anm. 3), 257.

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liche Identität zu bezeichnen.17 Nur wenn dieser Widerspruch als Skandal empfunden wird, lässt sich verstehen, worum es der ökumenischen Bewegung im Letzten geht. Der Wille zur Umkehr, wie er in der ökumenischen Bewegung artikuliert wurde und wird, ist die Antriebsfeder für alle Bemühungen um die Einheit der Kirche. Wer diesen Willen leugnet oder gar für historisch obsolet erklärt, nimmt der ökumenischen Bewegung ihren Stachel und stellt ihre berechtigte Existenz infrage. Doch die Problematik, die sich hier zeigt, geht tiefer. 8.3 Die Spannung zwischen der kirchlichen und der konfessionellen Identität ist die Wurzel für das Verstehen der ökumenischen Bewegung. Wir verstehen unter der kirchlichen Identität die Zugehörigkeit des getauften Christen zur Kirche Jesu Christi. Das ist gemeint, wenn die Kirchenkonstitution Lumen gentium von der durch die Taufe bewirkten Verbundenheit mit der Kirche spricht.18 Zugleich steht fest, dass Getaufte, die die Einheit mit dem Nachfolger Petri nicht gewahrt haben, eigenen Kirchen oder kirchlichen Gemeinschaften angehören. Diese historisch verifizierbare Zugehörigkeit zu solchen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ist als konfessionelle Identität anzusprechen. Christen leben in historisch, kulturell, dogmatisch und soziologisch feststellbaren Identitäten. Daneben tritt nun aber doch noch eine weitere Identitätsform auf. Auch auf diese weist das Konzil deutlich hin: Die Taufe verbindet mit Christus. Christliche Identität bezieht sich also auf die Beziehung, die den Gläubigen mit Christus verbindet, hierin wurzelt auch das spezifisch Christliche, oder wie es Lumen gentium formuliert, die von Gott zugesagte Vereinigung des 

17 Vgl. UR 4. 18 Vgl. LG 14; 15.

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Menschen mit ihm.19 Entscheidend ist nun, dass diese durch die Taufe mit Christus bewirkte Verbindung nicht sozusagen in der Luft hängt, sondern konkret wird, und zwar in der kirchlichen Identität. Genau diesen Zusammenhang behandelt die Kirchenkonstitution Lumen gentium an prominenter Stelle. Die Vereinigung des Menschen mit Gott realisiert sich in der Gemeinschaft der Kirche. Sie ist der Ort, an dem die Gemeinschaft mit Gott „da“ ist – gleichsam sakramental. Die Kirche ist – sakramental betrachtet – Zeichen und Werkzeug für die Gemeinschaft des Menschen mit Gott. Christliche und kirchliche Identität können nicht voneinander getrennt werden, sie sind aber auch nicht einfach identisch und müssen daher, wenn auch in einer komplexen Wirklichkeit miteinander verbunden, unterschieden werden.20 8.4 Von dieser komplexen Wirklichkeit kirchlicher und christlicher Identität kann schließlich die konfessionelle Identität nicht losgelöst werden, sie ist aber lediglich das Anerkenntnis einer Zugehörigkeit zu einer historisch gegebenen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft.21 Wenn keine konfessionelle Kirche sich ohne Umschweife mit der Kirche Jesu Christi identifiziert, wie das ökumenische Dokument der Groupe des Dombes formuliert, so ist die Katholizität verwundet, oder es ist, wie es das Ökumenismusdekret festhält, die Ausprägung der Katholizität behindert.22 Dieses Hindernis betrifft ursächlich die ökumenischen Bemühungen. Umkehr und Erneuerung beziehen sich danach auf Verurteilungen und Ab

19 Vgl. LG 1. 20 Auf diesen komplexen Wirklichkeitszusammenhang zielt das „sub-

sistit“ von LG 8.

21 Vgl. Für die Umkehr der Kirchen (Anm. 15), 34. 22 Vgl. ebd., 31; UR 4.

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grenzungen, die überwunden werden sollen. „Der Konfessionalismus ist die Verhärtung der konfessionellen Identität, verbunden mit einer Haltung der Selbstrechtfertigung.“23 Der Konfessionalismus ist darauf fixiert, die christliche und kirchliche Identität, die sich in der konfessionellen Identität ausdrückt und realisiert, zu verfestigen und integralistisch zu bewahren. Er ist ein historisches Phänomen, das jederzeit kirchliche und christliche Identität zu überformen sucht. Hier liegt die geschichtliche Hypothek jeder christlichen Kirche. Hier wurzeln Sünde und Schuld bei Verantwortlichen und Gläubigen der Kirchen, auf beiden Seiten. Diesen Zusammenhang erkannt zu haben, ist die historische Leistung der ökumenischen Bewegung. Es gibt keine Umkehr ohne Bekenntnis der „Sünden gegen die Einheit“.24 Insoweit ist klar: Jede Konfessionalität bedarf der Verwandlung, der Umkehr. Sie beinhaltet das Zugeständnis, Sünden gegen die Einheit zu bekennen, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Konfessionalität die Abgrenzung und den Ausschluss fördert und belebt. Unabhängig von der Tatsache, ob eine Kirche sich nun als Konfession versteht oder nicht, ist sie nicht frei vom Hang zur Selbstabschottung oder Selbstrechtfertigung. Diesen Prozess der Selbstreflexion in Gang gesetzt zu haben, ist das historische Verdienst der ökumenischen Bewegung. 8.5 Es kommt heute darauf an, die Zumutung der ökumenischen Bewegung für die Konfessionalität des Kircheseins herauszustellen. Wer die Kirchen dazu aufruft, sich mit der Konfessionalität zufrieden zu geben, hebelt den ökumenischen Grundimpuls aus. Die heute so oft vorgetragene Forderung nach einer gegenseitigen Aner

23 Für die Umkehr der Kirchen (Anm. 15), 34. 24 UR 7.

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kennung der Kirchen, ohne die Voraussetzung der Umkehr zu bedenken, gibt sich mit der Tatsache der Koexistenz der christlichen Kirchen oder Gemeinschaften zufrieden. Warum sollte gegenseitiges Vertrauen wachsen, wenn die Zumutung entfällt, Sünden gegen die Einheit zu bekennen? Hier liegt offenbar ein Missverständnis vor: Spaltungen zu beklagen ist nicht dasselbe, wie kontextuelle Vielfalt zu verstehen. Die erste Haltung will eine fundamentale Änderung, die zweite gibt sich mit dem Status quo zufrieden.

9. Geistliche Ökumene als Form transkonfessionellen Christseins Der oecumenismus spiritualis, wie er im Ökumenismusdekret genannt wird, will seiner Intention nach ein ganzheitlicher geistlicher Prozess sein. Der geistliche Ökumenismus ist „die Seele der ganzen ökumenischen Bewegung“.25 Hier ist Ökumene in den Fundamenten christlicher Spiritualität verwurzelt. In erster Linie ist hier das gemeinsame Gebet gemeint, das ein echter Ausdruck der gelebten Gemeinschaft ist. Sie lässt kirchliche Diplomatie, akademischen Dialog, soziales Engagement und pastorale Zusammenarbeit hinter sich. Sie setzt eine echte Wertschätzung der vielfältigen Elemente der Heiligung und der Wahrheit des christlichen Lebens des Anderen voraus. Hier gilt in aller Schlichtheit das Diktum: Was uns miteinander verbindet, ist stärker als das, was uns trennt. Wege der Verständigung auf spiritueller Basis zu suchen, setzt auf das Wachsen von echter Gemeinschaft untereinander. Solche Formen sind bereits heute lebendig. Hier beginnt ein neuer Prozess der Wiederannäherung, der über die Grenzen der engen  25 UR 8.

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Konfessionalität hinaus gemeinsame Elemente kennt und pflegt. Der geistliche Ökumenismus ist dabei nicht auf einzelne liturgische Formen und Gestalten beschränkt, sondern zielt auf eine umfassende Gemeinschaft untereinander. Sie liegt quer zur Konfessionalität des kirchlichen Lebens und übersteigt sie. Der geistliche Ökumenismus ist daher eine transkonfessionelle Weise christlichen Lebens und christlicher Existenz.

10. Beispiel Taizé Die ökumenische Bedeutung des spirituellen Ökumenismus wird besonders in der Gemeinschaft von Taizé deutlich. Das mutet zunächst traditionell an. Taizé ist aber eine echte ökumenische Herausforderung besonderer Art. Die Erfahrungen von Taizé leiten nämlich dazu an, die mit den bestehenden Kirchen einhergehende Konfessionalität zu überwinden. Dies liegt in der monastischen Tradition begründet. Charakteristisch ist daran die konsequente ekklesiologische Verankerung des gelebten Glaubens im Vollzug ganzheitlicher Spiritualität. Kein Gebet ohne Gemeinschaft, so könnte man diese Einsicht auf eine knappe Formel bringen. In diesem ekklesiologischen Bezug liegen verschiedene Zumutungen. Die protestantische Zumutung, so hat es Peter Zimmerling beschrieben,26 besteht in der Anerkenntnis der Vorläufigkeit der reformatorischen Kirchen. In der Anerkenntnis des Reformimpulses reformatorischer Anliegen könnte dann andererseits die Zumutung für die katholische Kirche liegen. Dieser hier beschrittene Weg stellt nach Peter Zimmerling eine ökumenische Gratwande

26 P. Zimmerling, Die Communauté von Taizé – eine ökumenische

Herausforderung an den deutschen Protestantismus, in: US 62 (2007) 199-209.

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rung dar.27 Sie ist, nochmals betont, ekklesiologisch in der in Christus lebendigen und gelebten Gemeinschaft begründet. Die im Glauben und im Gebet subjektiv erfahrene Teilhabe an Christus kann nur in der daraus folgenden und zugleich vorausgesetzten Gemeinschaft untereinander gelebt werden. Diese Gemeinschaft ist aber keine geschlossene Gesellschaft, sondern eine auf Vollendung hin angelegte Teilhabe aller Glaubenden an Christus. Sie transzendiert, darin liegt die Zumutung für alle Ekklesiologien, jede Form konfessioneller kirchlicher Selbstbehauptung.

ZUSAMMENFASSUNG Der Beitrag geht verschiedenen Aspekten einer ökumenischen Spiritualität im konfessionellen, interkonfessionellen und transkonfessionellen Christsein nach. Er verweist zunächst auf die liturgische Bewegung, die wesentlich zur Ökumene beigetragen hat. Die Feier ökumenischer Gottesdienste ist Ausdruck für die paradoxe Situation, einer kirchlichen Gemeinschaft angehören und zugleich im gemeinsamen Gebet diese eine, konfessionell bestimmte Gemeinschaft je transzendieren zu müssen. Die Suche der Christen nach einer gemeinsamen Gestalt für die Feier des Gottesdienstes ist darum Ausdruck ökumenischer Gesinnung, weil die Einheit der Kirche die Einheit des Gottesdienstes prägt. Zwar verstehen sich die in den vergangenen Jahren vermehrt entstandenen neuen geistlichen Gemeinschaften oft als transkonfessionell, nehmen aber mit dem Prozess einer Verkirchlichung zunehmend eine konfessionelle Gestalt an, um dann paradoxerweise ökumenische Kontakte zu suchen. Das könnte bedeuten, dass nur konfes 27 Ebd., 206.

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sionell erkennbare Kirchen miteinander ökumenisch kommunizieren. Weil die Idee einer Umkehr zur Einheit von Anfang an prägend für die Suche nach Einheit unter den Christen war, lässt sich Ökumene nur verstehen durch die Spannung zwischen kirchlicher und konfessioneller Identität. Deshalb kommt es heute wesentlich darauf an, die Zumutung der ökumenischen Bewegung für die Konfessionalität des Kircheseins herauszustellen. Dabei könnte der sogenannte „geistliche Ökumenismus“ hilfreich sein als eine transkonfessionelle Weise christlichen Lebens, wie am Beispiel Taizés deutlich wird.

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Versuch einer Zusammenfassung Burkhard Neumann / Jürgen Stolze

Auch wenn es diesmal nicht ganz einfach ist, eine Zusammenfassung der Beiträge des Symposions zu versuchen, weil es sich keiner dogmatischen Frage, sondern dem konkreten Leben aus dem Glauben zugewandt hat, lassen sich dennoch eine Reihe von Punkten nennen, die sich wie ein roter Faden durch die Beiträge und Gespräche gezogen haben.

1. Fremdheit Diesen ersten Punkt könnte man auch Unvertrautheit nennen. Er ist in keinster Weise negativ oder bedrohlich gemeint, sondern meint ganz sachlich die Fremdheit mancher Begrifflichkeiten, aber auch und erst recht mancher Formen der Frömmigkeit, des gelebten Glaubens, die so nicht bekannt waren und von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern jeweils mit großem Interesse wahrgenommen wurden (z.B. das Kirchenjahr der Herrnhuter Brüdergemeine oder das Rosenkranzgebet der katholischen Tradition). Dabei gibt es manche Ähnlichkeiten und vor allem auch gemeinsame Überlieferungen, daneben aber eben auch Unterschiede, die jedoch nicht trennend, sondern nur anders sind. Insofern haben wir auch in diesem Bereich die Aufgabe, uns noch besser kennen zu lernen und vertrauter miteinander zu werden.

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2. Gegenseitige Bereicherung des geistlichen und liturgischen Lebens Neben aller zu beobachtenden Fremdheit lässt sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Annäherung und wechselseitige Bereicherung der liturgischen Praxis beobachten. In diesem Bereich kann u.E von einer ersten Ernte der ökumenischen Früchte gesprochen werden, die in der Begegnung der Kirchen in den letzten Dekaden gewachsen sind. Liturgische Elemente, Symbole und Rituale werden heute mit einer großen Selbstverständlichkeit aus anderen kirchlichen und gottesdienstlichen Traditionen übernommen. Längst findet sich Liedgut aus der Feder katholischer Dichter und Komponisten in freikirchlichen Gesangbüchern. In manchen katholischen Gemeinden werden Bibelkreise oder Kleingruppen (Hauskreise) angeboten, die in der Vergangenheit Markenzeichen freikirchlicher Frömmigkeit und freikirchlichen Gemeindelebens waren. Freikirchliche Christen finden in ihrer privaten Andachtspraxis Inspiration in der katholischen Frömmigkeitsliteratur. Katholische Christen benutzen mancherorts die Herrnhuter Losungen, um ihre persönliche Frömmigkeit und das eigene Gebetsleben zu bereichern. Dass sich freikirchliche Christen zur Gestaltung ihrer Gottesdienste heute mit großer Selbstverständlichkeit aus den liturgischen Schätzen der anderen Kirchen (z.B. der Agenden der Evangelischen Landeskirchen oder den Gottesdienstbüchern der römisch-katholischen Kirche) bedienen, verdankt sich nach unserem Eindruck vor allem der gewachsenen Tradition ökumenischer Gottesdienste. Durch das gemeinsame gottesdienstliche Feiern hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Kennen- und Verstehenlernen der jeweils anderen Traditionen erge242

ben. Auch dies ist eine Frucht, die am Baum der Ökumene gewachsen ist.

3. Frömmigkeit und Tradition Frömmigkeit, gelebter Glaube fällt nicht vom Himmel, auch wenn er, wie wir überzeugt sind, letztendlich von Gottes Geist ermöglichter Glaube bzw. von ihm ermöglichte und getragene Frömmigkeit ist. Der gelebte Glaube ist vermittelt durch eine bestimmte Geschichte, durch eine bestimmte Tradition, in der wir alle stehen. Ob das in unseren Kirchen jeweils ausreichend bewusst ist, das ist eine ganz andere Frage. Hier gibt es sicherlich, etwa zwischen der römisch-katholischen und der pfingstlerischen Tradition (wir nennen bewusst diese beiden Seiten) große Unterschiede, die aber am Sachverhalt nichts ändern. Das liegt daran, dass wir an Gottes Offenbarung in Jesus Christus gebunden sind, die in der Heiligen Schrift normativ bezeugt ist und die in und durch die Geschichte weitergegeben und vermittelt wird. Wie der Zusammenhang von persönlicher Frömmigkeit und kirchlicher Tradition beschrieben wird, ist in den verschiedenen Kirchen sehr unterschiedlich. Gerade auch zwischen den verschiedenen Freikirchen sind sehr unterschiedliche Deutungsmuster erkennbar. Für die im pfingstlerischen Beitrag angesprochene Frage der Geistunmittelbarkeit, die uns latent begleitet hat, aber nicht weiter diskutiert werden konnte, wäre darum genauer zu fragen, ob es christlich eine Unmittelbarkeit geben kann, die sozusagen jenseits dieser Tradition steht, oder ob es sich nicht immer um eine vermittelte Unmittelbarkeit handelt, vermittelt einerseits durch den in der Schrift bezeugten Glauben der Kirche wie auch 243

durch die subjektiven Glaubens- und Verstehensvoraussetzungen des einzelnen. Das wäre dann durchaus eine kritische Anfrage an manche Formen angeblich geistunmittelbarer Frömmigkeit. Die Unterscheidung der Geister bleibt auch hier eine grundlegende kirchliche, gemeindliche Aufgabe.

4. Frömmigkeit und Kirche Damit hängt zusammen, dass unser gelebter Glaube wesentlich kirchlicher Glaube ist. Wir sprechen hier bewusst nicht nur von der Gemeinschaft oder der Gemeinde, weil dieser Zusammenhang über die konkrete Gemeinde oder Gemeinschaft, in der wir glauben und leben, hinausreicht. Christlicher Glaube hat unausweichlich diese kirchliche Dimension, deren Vielfalt uns in diesen Tagen wieder deutlich geworden ist. Dass persönliche Frömmigkeit in die Gemeinschaft der Gemeinde und der Kirche führt, wo sie Inspiration und Korrektur erfährt, verbindet die verschiedenen Kirchen.

5. Freiheit und Bindung Damit verbunden ist die Spannung von Freiheit und Bindung, und zwar in mehrfacher Weise. Zum einen sind wir davon überzeugt, dass der christliche Glaube uns befreit von allen widergöttlichen Kräften hin zum Glauben an Gott und zur konkreten Liebe zum Nächsten. Diese Freiheit vollzieht sich aber gerade in der Bindung, biblisch gesprochen im Gehorsam gegenüber Gott. Diese Bindung konkretisiert sich in der Bindung an die Kirche bzw. an die Gemeinde. Christlicher Glaube ist 244

auch in diesem Sinne verbindlicher Glaube, und zu dieser in Freiheit angenommenen und Freiheit ermöglichenden Verbindlichkeit wollen die Kirchen die Menschen hinführen. Gerade für viele Freikirchen stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang der persönlichen Frömmigkeit, die von der persönlichen Gotteserfahrung initiiert und dem eigenen Gewissen verantwortlich ist, und der Bindung an kirchliche Traditionen. Dabei ist uns zum einen bewusst geworden, wie sehr wir in beiden Traditionen, römisch-katholisch wie freikirchlich, bis weit in das 20. Jh. hinein den kirchlichen Gehorsam in den Vordergrund gestellt haben, während wir nun angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen wahrnehmen, dass wir das schon lange nicht mehr tun und tun können und nach neuen Wegen suchen, wie rechte Freiheit und Verbindlichkeit zusammengesehen und vermittelt werden können. Zur Geschichte freikirchlicher Traditionen gehört – was sich bis in die „Gattungsbezeichnung“ „Freikirche“ wiederfindet – die besondere Betonung der persönlichen Freiheit und des freien Willens. Gleichwohl stehen die Freikirchen vor der Aufgabe, diese Betonung der Freiheit theologisch aufzuarbeiten: zum einen aufgrund der Wirklichkeit in den Gemeinden und ihren Machtstrukturen, die eine starke Bindung, einen Gehorsam gegenüber der eigenen Gemeinde und ihrer prägenden Persönlichkeiten in der Vergangenheit eingefordert haben; zum anderen aufgrund aktueller philosophischer und neurologischer Forschungen, die die Existenz eines „freien Willens“ hinterfragen. Dass Freiheit und Verbindlichkeit, Freiheit und Ordnung zusammengehören, auch im Bereich des Glaubens, darin sind wir uns einig. Die konkrete Vermittlung dieser Beziehung aber ist für uns alle in gleicher Weise schwieriger geworden.

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6. Herausforderungen der Gegenwart Das zeigt uns, dass wir nicht nur, was ja selbstverständlich ist, vor den gleichen Herausforderungen der Gegenwart stehen, weil wir gemeinsam in dieser heutigen Zeit mit ihren gesellschaftlichen, soziologischen Umbrüchen leben. Sondern wir haben auch immer wieder wahrgenommen, dass diese Umbrüche in vielen Punkten ähnliche Entwicklungen in unseren Gemeinden zur Folge haben (Traditionsabbrüche, Individualisierung, Gemeinde als Ort, wo man Kraft tanken und nicht sich einbringen möchte, Schwierigkeiten bei der Gewinnung von Mitarbeitern usw.). Auch in diesen Punkten sind sich die sogenannten Volkskirchen und die Freikirchen viel ähnlicher, als es die konfessionellen Schablonen nahezulegen scheinen. Eine „Insel der Seligen“ ist keine Kirche mehr. Als Kirche insgesamt befinden wir uns heute in einer Konkurrenzsituation – und dies auf unterschiedlichen Ebenen. Dabei stellt sich uns die Konkurrenzsituation zwischen den einzelnen Kirchen und ihren jeweils besonderen spirituellen Angeboten als untergeordnet da. Für den säkularen Menschen der Gegenwart spielt der Unterschied zwischen einzelnen Kirchen nur noch eine marginale Rolle. Vielmehr wird „die Kirche“ in Konkurrenz zu anderen sinnstiftenden und orientierungsgebenden Institutionen und Angeboten wahrgenommen. Kirchliche Angebote der Sinnfindung für das menschliche Leben stehen auf dem Markt neben esoterischen, humanistischen und popularphilosophischen Formen. Dabei ist der heutige Mensch nicht mehr auf einen Anbieter festgelegt, sondern er bedient sich mancherorts und bildet seine ihm eigene „Religion“ (Patchwork-Religion). Wir alle leben in der Welt von heute und wir alle suchen danach, in dieser Welt von heute unseren Glauben 246

zu leben und den Menschen weiterzugeben. Vor allem die modernen Kommunikationsmedien und -strukturen stellen kirchliches Leben vor eine ganz neue Herausforderung. Wir haben dabei zum einen wahrgenommen, dass es kein Patentrezept dafür gibt, wie wir als Christen unseren Glauben heute zu leben haben. Wir alle suchen nach Wegen, wie wir mit den gesellschaftlichen Herausforderungen umgehen, wo wir Entwicklungen akzeptieren müssen oder sie uns sogar bereichern, und wo wir im Namen unseres Glaubens widersprechen müssen, wenn wir uns nicht selbst aufgeben wollen. Die Frage nach der eigenen christlichen Identität hat uns ebenfalls durchgehend begleitet und ist wahrscheinlich eine der wichtigsten Fragen unseres Gesprächs. Offenkundig also gibt es dieses Suchen in allen unseren Kirchen und verbindet uns mehr, als uns nach außen hin bewusst ist. Wir suchen alle den richtigen Weg zwischen „Widerstand und Ergebung“ (D. Bonhoeffer). Es könnte sich als lohnend erweisen, stärker als bisher gemeinsam zu suchen. An diesem Punkt kann auch die Relevanz einer ökumenischen Spiritualität deutlich werden. Zugleich dürfte hier ein großes Potenzial für die Bewältigung mancher Herausforderungen der Gegenwart liegen. Die meisten Kirchen in Deutschland sind zurzeit gezwungen, sich aufgrund sinkender Gliederzahlen mit der Veränderung und Anpassung ihrer Strukturen zu beschäftigen. Gemeinsam gefeierte Gottesdienste oder gemeinsame Gruppenangebote (z.B. Seniorenkreise oder Jugendgruppen) könnten an manchen Orten nicht nur das ökumenische Miteinander vertiefen, sondern auch eine Hilfe sein, trotz größer werdender Tätigkeitsfelder für die Geistlichen bzw. Hauptamtlichen kirchliches Leben aufrecht zu erhalten und attraktiv zu gestalten. Hier ergibt sich als Aufgabe für die Kirchen, weitere und 247

neue Formen gemeinsamen Gebets, ökumenische Andachtformen und Gottesdienste zu erarbeiten.

7. Glaube und Ethik Es ist immer wieder der Zusammenhang von Glaube und Ethik angesprochen worden. In den Diskussionen ist aufgefallen, dass es derzeit vor allem ethische Fragen sind, an denen sich innerkirchliche und zwischenkirchliche Diskussionen entzünden und oft entsprechende Trennungslinien verlaufen. Nun hängen zweifelsohne Glaube und Ethik wesentlich zusammen. Aus dem christlichen Glauben folgen unweigerlich bestimmte Handlungsoptionen. Und dass wir uns in den Gemeinden stärker der diakonischen Dimension unseres Glaubens in seiner ganzen Breite bewusst werden müssen, lässt sich als Konsens feststellen. Aber es bleibt offen, welche konkreten ethischen Normen und Verhaltensregeln aus dem Glauben heraus abzuleiten sind und wo es eine legitime Freiheit und Vielfalt gibt. Dahinter stecken Fragen nach der Interpretation der göttlichen Offenbarung und der Hermeneutik der Heiligen Schrift, deren Lösung angesichts der Schärfe mancher Konflikte umso dringlicher erscheint. Vor allem aber ist uns bewusst geworden, dass die Herausforderung darin besteht, diese ethischen Fragen vom gemeinsamen Glauben an den einen Herrn Jesus Christus anzugehen und nicht umgekehrt. Denn der Glaube an das befreiende, erlösende, vergebende und heiligende Handeln Gottes in Jesus Christus muss immer auch zum Maßstab und ggf. auch zum Korrektiv einer allzu einseitigen, einbahnigen und allzu leicht dann doch auch unbarmherzigen Forderung an die Menschen werden. 248

Da nun gerade die Fragen der Alltagspraxis des Glaubens und der ethischen Orientierung sowohl von innen als auch von außen an die Kirchen herangetragen werden, muss auf diesem Gebiet das ökumenische Gespräch in Bewegung bleiben. Einerseits darf und muss die Kirche zu den Fragen des menschlichen Zusammenlebens in unserer Zeit ihre Stimme erheben. Andererseits erleben die Kirchen gerade in diesen Fragen ihre Zertrennung als schmerzhaft. Darum muss um diese Fragen weiterhin gerungen und nach gemeinsamen Antworten gesucht werden, damit die Kirche – vielleicht auch polyphon – ihre Stimme erheben kann und sie nicht an Relevanz verliert.

8. Gottesbild Und ein letzter Punkt, der kaum direkt angesprochen worden ist, der uns aber unterschwellig begleitet hat, ist die Frage nach unserem jeweiligen Gottesbild, konkret nach der Größe und Weite des göttlichen Heils außerhalb der Grenzen unserer Kirchen und außerhalb der sichtbaren Christenheit. Wie die Diskussionen bei diesem Symposion gezeigt haben, scheint hier eine tiefe Übereinstimmung zu bestehen. Die Grundlage unseres Umgangs mit den Menschen, die dementsprechend auch für die pastorale Arbeit leitend ist, ist die gemeinsame Überzeugung, dass Gott als Schöpfer der Welt an den Menschen festhält, dass er die Gemeinschaft mit den Menschen sucht und alles getan hat und tut, damit sie das Heil finden. Die Bedeutung dieser gemeinsamen Basis unseres jeweiligen Lebens aus dem Glauben kann wohl kaum überschätzt werden.

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„Ihr alle zusammen seid der Leib Christi …“ Der eine Geist und die vielen Gaben 1 Kor 12,4-11.27 Morgenandacht am 1. März 2012 Michael Hardt

Zwei junge Leute in ihrem Heimatort: Franz und Franziska. Die beiden sind 16, 17, oder 20. Sie sehen sich, lernen sich näher kennen, kurzum, zwischen den beiden hat es gefunkt: die erste große Liebe. Sie wissen und spüren: Wir beide sind füreinander bestimmt. Wir gehören zusammen. Wir wollen in eine gemeinsame Zukunft gehen. Es kommt, wie es jetzt gar nicht in die Situation passt; durch Ausbildung, Studium oder Beruf müssen beide ihren Heimatort verlassen. Beide gehen in verschiedene Richtungen – in jeder Hinsicht. Sie verlieren sich allmählich aus den Augen. Jeder/jede lebt sein/ihr Leben und nach einiger Zeit haben sie sich aus den Augen verloren. Verloren ist das Gefühl: Wir sind füreinander bestimmt. Sie leben ihr eigenes Leben, entwickeln sich beruflich und familiär, jeder und jede in eine andere Richtung. 50 Jahre später – die beiden sind längst im Ruhestand – führt der Weg sie zurück nach Hause in den Heimatort von früher. Die beiden treffen sich wieder. Da ist es wieder, das Gefühl. Die große Liebe von damals ist wieder wach geworden: Wir sind füreinander bestimmt. Die beiden treffen sich, reden miteinander und merken, wie sich beide verändert haben. Sie können ihr Leben aber nicht am Punkt des Auseinanderge251

hens fortsetzen. Sie müssen wissen, was der andere / die andere erlebt hat. Um all das verstehen zu können, hören sie zu und lassen sie den anderen erzählen. Nach einiger Zeit beschließen die beiden: Wir wollen zusammenleben. Wir suchen uns eine gemeinsame Wohnung. Jetzt stehen beide vor vielen Fragen. Wie richten wir unsere Wohnung ein? Welchen Farbgeschmack hat der/die andere? Was machen wir mit unseren Möbeln? Plötzlich gibt es manche Sachen doppelt, dreifach, manche Sachen sind überflüssig und sie merken, was man noch alles im Haushalt gebrauchen kann. Die beiden müssen auch überlegen, wovon sie sich trennen müssen, aber – und das ist das Entscheidende – sie werden entdecken, was der/die andere an Neuem mit in die gemeinsame Zeit bringen kann. Bis beide nun wirklich in die neue Wohnung ziehen, dauert es noch eine lange Zeit. Ich denke, diese Liebesgeschichte lässt sich sehr gut auf unsere getrennten, christlichen Kirchen übertragen. Der Vergleich führt zu einigen hilfreichen Beobachtungen. Eines ist ganz anders: der Anfang. Es ist eher wie mit der Familie oder der Verwandtschaft. Familie und Verwandtschaft kennt man besser, als einem manchmal lieb ist. Anders als bei jung Verliebten knirscht es oder knallt es gelegentlich oder öfters. Dem einen geht die Freiheit über alles, der andere betont den unverlierbaren Wert des Überkommenen, der eine lebt aus der Kraft des Wortes, der andere aus der Kraft der Sakramente. Das Wissen um die Jahrhunderte der gemeinsamen Zeit trägt nicht mehr, das Gefühl, wir gehören zusammen, ist dahin. „Franz“ und „Franziska“ gehen – anders als in der Liebesgeschichte – im Streit auseinander. Es dauert nicht 50, sondern fast 500 Jahre, bis zuerst einzelne sich daran erinnern: Wir gehörten doch einmal zusammen. Wir sind füreinander bestimmt. Um wieder 252

zusammen zu kommen, braucht es Gespräch, braucht es Dialog. An erster Stelle muss die Motivation zur Einheit da sein.

Die Motivation: Wir sind füreinander bestimmt Zuerst machen sich die evangelischen Geschwister auf den Weg zueinander. Sie überlegen, wie sie gemeinsam den Glauben verkünden können. Denn nur das gemeinsame Tun kann vor der „Welt“ Gehör finden. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil klinken sich auch die katholischen Verwandten in diese Suche ein. Alle spüren: Die Spaltung der Familie, die Uneinigkeit in der Verwandtschaft widerspricht dem Willen und Auftrag dessen, der als der Schöpfer dieser Familie gilt.

Der Andere als Bereicherung Das gemeinsame Hören auf Wort und Geist des Gründers ermöglicht einen neuen Blick auf das, was dem anderen wertvoll und wichtig ist. Der andere wird auf einmal als Bereicherung erfahren. „Es gibt verschiedene Gaben, aber nur einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn“, den einen Vater der großen Familie. Nur zusammen sind alle die Erben des Vaters. Die Andersartigkeit wird nicht mehr als Verrat am Anliegen des Vaters wahrgenommen, sondern sie kann eine Bereicherung sein. Ein Katholik, der nicht evangelisch ist, ist nicht katholisch, und ein Evangelischer, der nicht katholisch ist, ist nicht evangelisch; jedes Familienmitglied, jede Konfession ist einen speziellen Weg der Verkündigung gegangen. Hierzu gehören auch die Mit253

glieder der orthodoxen Familie. Und am Ende dieser Suchbewegung machen sich auch die „Großen“ und die „Kleinen“ wieder auf den Weg zueinander. Dabei lernen die sogenannten „Großkirchen“, welch großes Maß an Glaubensstärke und Gemeinschaftsgeist die Freikirchen für den Weg in die größere Sichtbarkeit der Familieneinheit mitbringen. „Rom“, „Konstantinopel“, „Wittenberg“ und „Genf“ bleiben das „Zuhause“, aber darunter verborgen muss die gemeinsame „Heimat“ immer neu gesucht werden. Was ist größer, die Liebe zum „Zuhause“ oder die Liebe zur „Heimat“? Für eine gemeinsame Zukunft können die verschiedenen Wege nur förderlich für die Verkündigung des auferstandenen Christus sein. Alle Familienmitglieder, alle Kirchen sind gefordert, in der säkularisierten Welt mit ihren vielen kleinen „Herrgöttern“ den „liebenden Gott“ in die Mitte zu stellen. Und das ist die Aufgabe: ihn, Jesus Christus, zu verkünden. Als Chance haben sie den Reichtum, den die Konfessionen aus ihrer Tradition mitbringen. Ökumene ist ein Mehrungsprozess, nicht Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Wer die Anteile des Erbes zusammenbringt, vermehrt es. Wer die „Talente“ allein wirtschaften lässt, dem zerrinnen sie unter den Händen. Nur so wächst die Gewissheit von Neuem: Wir gehören zusammen, wir haben den gleichen Vater und sind als die „Erben“ eine große Familie. Nur so werden die „heiligen“ Worte: „Wir bleiben beieinander“, „unser Weg ist unumkehrbar“, Ausdruck einer wiedergefundenen Liebe. „Franz“ und „Franziska“ finden, „alt“ geworden, zur Weisheit und so zur Liebe zurück, und in der Liebe des Vaters zusammen. „Franz“ und „Franziska“, ihre vielen Nachkommen begreifen endlich – nach 500 Jahren –, dass sie durch die Taufe Brüder und Schwestern in Christus sind. Sie fin254

den den Mut, gemeinsam die Taufe zu feiern. Wer den Mut hat, gemeinsam die Taufe zu feiern, wird den Weg zur Versöhnung weitergehen, damit der HERR alle zum gemeinsamen Herrenmahl einladen kann. „Ihr alle zusammen seid der Leib Christi …“

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„Den Leib hingeben zu einem vernünftigen Gottesdienst“ Leben im Glauben aus Mennonitischer Perspektive Röm 12,1-2a; 1 Kor 14,26 Morgenandacht am 2. März 2012 Jürg Bräker

„Wenn ihr zusammenkommt, hat jeder einen Psalm, eine Lehre, eine Offenbarung, eine Zungenrede, eine Auslegung“ (1 Kor 14,26). „Ich bitte euch nun, liebe Brüder und Schwestern, bei der Barmherzigkeit Gottes: Bringt euren Leib dar als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer – dies sei euer vernünftiger Gottesdienst. Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes“ (Röm 12,1-2a). Diese Verse werden oft aufgenommen, wenn Mennoniten ihr Glaubensverständnis zum Ausdruck bringen wollen. Leben als Gottesdienst, Leib sein in Hingabe an die Welt, in der wir leben, aber ohne sich einzufügen. Im Glauben leben im Zusammenkommen, Teilen: nicht nur dort, wo sich eine Gemeinde zum sonntäglichen Gottesdienst zusammenfindet. Mennoniten wollen sich als eine hermeneutische Gemeinschaft verstehen, die nicht nur die Worte der Bibel interpretiert, sondern auch gemeinsam das konkrete Leben der Einzelnen in der Gemeinschaft zu interpretieren sucht. Man redet einander ins Leben, fällt einander ins Wort. Natürlich ist das kein exklusiv mennonitisches Glaubensverständnis. Dass man dieses aber an der Lebensgestaltung ablesen will, dass man den Glauben an der Gemeinschaftsgestaltung 257

sucht und nicht in theologischen Lehrsätzen, das dürfte schon eher typisch mennonitisch sein. Natürlich weiß man, dass diesem Suchen durchaus theologische Annahmen zugrunde liegen. Dieses Glaubensverständnis kann in verschiedenen Formen gelebt werden. Ich mache im Moment gerade die Erfahrung darin, wie es sich in Form einer Hausgemeinschaft spiegelt, in der ich seit einem Jahr mitlebe. Die Gemeinschaft lebt in einem Haus mit mehreren Wohnungen, in denen sowohl Familien, Ehepaare, kleine Wohngemeinschaften wie auch Alleinlebende wohnen. Einmal am Tag wird gemeinsam gekocht und gegessen. Die Gemeinschaft ermöglicht gegenseitige Unterstützung im Alltag, und so werden Kräfte frei, die über die Gemeinschaft hinaus ins Leben greifen können. Die Gemeinschaft bietet mir die Möglichkeit, Glauben gerade als das Alltagsleben zu erfahren, nicht nur den Alltag aus Glaubensansichten heraus zu gestalten. Das heißt: immer wieder Christus im andern suchen, Christus im andern begegnen, in seiner Fremdheit. In den täglichen Gesprächen, Interessenkonflikten, aber auch in den Lichtmomenten, wo die Gemeinschaft des Heiligen Geistes aufleuchtet und sichtbar wird, wie Reich Gottes in dieser Welt Gestalt annimmt. Aber auch Gotteserfahrung in der und durch die Herausforderung, die ja Gemeinschaft doch vor allem ist – wenn ich mich auf Veränderungen einlasse, wenn mir im Spiegel das vorgehalten wird, was ich längst für überwunden hielt. Das alles bedeutet den eigenen Leib hingeben zu einem Gottesdienst, im Kochen für andere, im Unkraut jäten, im Feste feiern. Auch das sind Psalmen, Loblieder, die Klage der andern kann als Rede in einer andern Sprache aufgefasst werden, die interpretiert wird, gedeutet, sodass sie als Rede des Heiligen Geistes etwas von Gottes Wirklichkeit unter uns offenbart. 258

Ich greife aus all diesen Leben, die sich da in der Hausgemeinschaft für eine Zeit kreuzen, eines heraus. Ich wähle Marius, weil sich in seiner Biographie ganz unterschiedliche Aspekte mennonitischen Glaubens begegnen. Marius ist in einer der ältesten und traditionsreichsten Mennonitenkirchen Hollands groß geworden. Die Gemeinde sieht Liberalität als einen zentralen Glaubensausdruck. Aus der Erfahrung, dass die Vorfahren wegen ihres Glaubens als Minderheit verfolgt wurden, wird abgeleitet, dass es Verpflichtung des Glaubens ist, sich für alle benachteiligten, gesellschaftlich unterdrückten Minderheiten einzusetzen. Für Marius aber war nicht einsichtig, warum es dazu Glaubenstraditionen braucht. Expliziter Glaubensausdruck und Gottesdienstformen erlebte er als wenig lebendig, sie erschienen als äußerliche Formen, die kaum mehr in Verbindung standen mit den politisch-gesellschaftlichen Anliegen der Leute. Er engagierte sich lieber in der Hausbesetzer-Szene, entfernte sich innerlich von diesem Mennonitentum. Marius studierte Philosophie, tauchte ganz in die postmoderne Hermeneutik ein; Wahrheitsansprüche werden grundsätzlich problematisiert. Im Rahmen postmoderner Hermeneutik wird für ihn aber die eigene Tradition wichtig, die seinen Blickwinkel doch geformt hat. Er muss sie kennen, um seinen eigenen hermeneutischen Ansatz einschätzen zu können. Marius beschließt, sich in die Friedensarbeit im Nahen Osten einzubringen. Er geht nach Syrien, um Arabisch zu lernen. In einem Wüstenkloster in Syrien taucht er in eine ganz andere Frömmigkeitswelt ein. Stille, Meditation, meditative Gesänge werden hier verbunden mit sozial-politischem Engagement. Marius macht dort eine tiefe mystische Erfahrung, erfährt eine Gottespräsenz, die er schwer in Worte fassen kann. Es ergreift ihn etwas, und nun wird diese Gotteserfahrung zur großen Herausforderung. Kann er sie mit seinem philosophisch259

kritischen Denken zusammenbringen, das nur Relativitäten kennt? Das persönliche, eigene Bekenntnis wird wichtig, sich Rechenschaft darüber ablegen, in welcher Tradition er steht. Das führt ihn neu und anders zurück zur Mennonitischen Gemeinschaft. Er macht Einsätze mit Christian Peacemaker Teams (CPT), einer Organisation, die gewaltfreie Präsenz markiert in Regionen, die von bewaffneten Konflikten gezeichnet sind, zunächst in Palästina. Da begleitet er palästinensische Schulkinder auf dem Weg zur Schule, was diese vor Übergriffen von Seiten jüdischer Siedlern schützt. Die Situation der Palästinenser und die Spannungen mit jüdischen Siedlern werden protokolliert, aber es wird ebenso viel geübt und geforscht in gewaltfreier Konfliktlösung. CPT sucht nach Methoden, wie politisch agiert werden kann ohne Zwang, sucht nach Alternativen zu Befriedungs-Einsätzen bewaffneter Einheiten. Gewaltfreiheit wird nicht primär als Enthaltung von Gewalt gesehen, sondern als ein konstitutives Element von Befriedungsprozessen. Marius steht mitten in gewaltsamen Auseinandersetzungen, hier sind gewaltfreie Lösungsansätze keine weltfremde Theorie, sondern werden da erprobt, wo Gewalt Menschen und ihre gesellschaftlichen Strukturen zerstört. Oft genügt die Anwesenheit eines Teams, das nicht direkt Teil des Konflikts ist, um die Bevölkerung vor Übergriffen zu schützen. Marius kommt in unsere Hausgemeinschaft als Freiwilliger beim Deutschen Mennonitischen Friedenskomitee. Zunächst arbeitet er für das Military Counselling Network, eine Organisation, die US-amerikanische Soldaten berät, wenn sie während ihrer Aktivzeit aus dem Kriegsdienst aussteigen möchten. Manchmal kennen sie ihre Rechte nicht, manchmal begehen sie Verfahrensfehler oder werden als Deserteure unehrenhaft entlassen; der Kontakt mit den Beratern hilft auch, dass sie nicht ent260

gegen ihrer Rechte zu weiteren Kriegseinsätzen gezwungen werden. Marius macht einen weiteren Einsatz mit CPT im Irak und gerät in die Aufbrüche des arabischen Frühlings hinein. Wegen der viel größeren Medienpräsenz der Geschehnisse in Tunesien, Libyen und Ägypten erhält die Region, in der er sich aufhält, kaum öffentliche Aufmerksamkeit. Marius berichtet in Blogs über die Hoffnungen und Schwierigkeiten. Die Situation vor Ort droht zu eskalieren, nachdem die militärischen Ordnungsmächte fünf demonstrierende Jugendliche erschossen haben. Journalisten, Schriftsteller und andere Aktivisten bilden eine „Weiße Friedensmauer“, Menschen, die sich mit weißen T-Shirts zwischen die Fronten, zwischen militärische Ordnungsmacht und Demonstranten stellen. Auch Marius reiht sich in die Mauer ein. Es gelingt, dass es nicht zu weiteren gewaltsamen Eskalationen kommt. Allein dadurch, dass Menschen sich als gewaltfrei markieren und durch ihre Präsenz eine Grenzlinie setzen, sich auf keine Seite stellen. Aber es ist eine heikle Situation, so zwischen den Fronten, so ganz verletzlich zu stehen, nur seinen eigenen Leib schutzlos da hinzustellen. Auch das: den Leib hingeben zu einem vernünftigen Gottesdienst. Marius spricht über seine Arbeit in den Mennonitengemeinden Süddeutschlands und trifft da manchmal auf evangelikal geprägtes Christentum. Er findet nicht leicht hinein in diese Glaubensansichten, er steht z.B. christlich-missionarischen Bemühungen gegenüber dem Islam und der Ausbreitung einer christlichen Kultur kritisch gegenüber. Er muss lernen, mit Menschen versöhnt zu leben, die den heutigen Staat Israel als Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen sehen und jede Kritik an Israels Siedlungspolitik ablehnen; die kein Verständnis dafür haben, dass es auch eine christlich-palästinensische Seite gibt, die ebenso unter der Verheißungslinie Gottes 261

steht. Auf Versöhnung und Verstehen hinzuarbeiten, ist auch in diesem Kontext eine große Herausforderung. Heute arbeitet Marius in Berlin in einem Projekt des Mennonitischen Friedenszentrums Berlin, das sich für die Integration von unterschiedlichen Migrationskulturen engagiert. Es ist Netzwerkarbeit in einem sozialen Brennpunkt, er organisiert interreligiöse Begegnungstreffen, das Projekt will dort präsent sein und christliche Versöhnungsbotschaft leben, wo unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen und gewaltsame Auseinandersetzungen drohen. Die Geschichte von Marius ist nur eines von vielen Beispielen, wie sich Menschen in Friedensarbeit einbringen. Das Friedenszeugnis Christi wird in ganz unterschiedlichen Kontexten gelebt. Es bleibt für uns Mennoniten eine ständige Herausforderung, Formen zu finden, wie sich die Pax Christi in aktiver und gestaltender Verantwortung in den politischen und sozialen Wirklichkeiten dieser Welt bezeugen lässt, sodass Gewaltverzicht nicht zum Rückzug aus einer verantwortlich mitgestalteten Welt wird. Sie gründet sich in Christi Hingabe seines eigenen Leibes, durch die auch unsere Hingabe in unserem Leib zum Gottesdienst werden kann, im Einsatz dafür, dass Gottes Reich in Gestalt von Frieden und Gerechtigkeit in den politischen und sozialen Strukturen dieser Welt Gestalt annehmen kann.

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Autorenspiegel Dr. des. Jürg Bräker Pastor aus der Arbeitsgemeinschaft mennonitischer Gemeinden in Deutschland Dr. Ralf Dziewas Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie und Leiter des Instituts für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie am Theologischen Seminar Elstal (FH) des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden Dr. Holger Eschmann Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen (FH) der Evangelisch-methodistischen Kirche, Beauftragter für Gottesdienst und Agende der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland Msgr. Dr. Michael Hardt Ordinariatsrat, Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut Dr. Markus Iff Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach (FH) des Bundes Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland Dr. Judith Könemann Professorin für Didaktik religiöser Bildungsprozesse (Religionspädagogik) am Institut für Katholische Theologie und ihre Didaktik der KatholischTheologischen Fakultät der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster

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PD Dr. Burkhard Neumann Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut Dr. Johannes Oeldemann Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut Bernhard Olpen Pastor im Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden, Lehrbeauftragter für Neuere Kirchengeschichte am Theologischen Seminar des BFP „Beröa“ Stefan Richter Pfarrer der Herrnhuter Brüdergemeine für die Region Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen (östlich der Weser) Jürgen Stolze Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche in Magdeburg und Genthin, Beauftragter für Ökumenische Beziehung der Zentralkonferenz in Deutschland Dr. Wolfgang Thönissen Professor der Ökumenischen Theologie an der Theologischen Fakultät Paderborn, Leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts

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Abkürzungen AGP AJS APuZ ASR BEFG BenshH BFeG BFP BGEMK BiHe BLS BSLK Cath(M) CIC CiG DH

dü EG EKG EKL3

Arbeiten zur Geschichte des Pietismus American Journal of Sociology Aus Politik und Zeitgeschichte American Sociological Review Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden Bensheimer Hefte Bund Freier evangelischer Gemeinden Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden Beiträge zur Geschichte der EvangelischMethodistischen Kirche Bibel heute Beiträge zu Liturgie und Spiritualität Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche Catholica. Vierteljahresschrift für ökumenische Theologie Codex Iuris Canonici Christ in der Gegenwart H. Denzinger, Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Übers. u. hg. v. P. Hünermann, Freiburg i.Br. 402005 Der Überblick. Zeitschrift für ökumenische Zusammenarbeit und weltweite Begegnung Evangelisches Gesangbuch Evangelisches Kirchengesangbuch Evangelisches Kirchenlexikon, 3. Auflage, Göttingen 1986-1997 265

EmK EmK.G EmK.H EThS EÜ FC GdK

Evangelisch-methodistische Kirche EmK Geschichte EmK heute Erfurter theologische Schriften Einheitsübersetzung Fontes christiani Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft GGE Geistliche Gemeindeerneuerung GS Gaudium et spes. Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute GuL Geist und Leben. Zeitschrift für Aszese und Mystik GuTh Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden HerKorr Herder-Korrespondenz HThK Vat.II Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil JEL Journal of economic literature JSSR Journal for the scientific study of religion KGE Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen KGM Kirchengeschichtliche Monographien KHB Kerkhistorische Bijdragen KIG Kirche in ihrer Geschichte KlT Kleine Texte für (theologische und philologische) Vorlesungen und Übungen LebZeug Lebendiges Zeugnis LG Lumen gentium. Dogmatische Konstitution über die Kirche LJ Liturgisches Jahrbuch Lexikon für Theologie und Kirche, LThK2 2. Auflage, Freiburg i.Br. 1957-1967 Lexikon für Theologie und Kirche, LThK3 3. Auflage, Freiburg i.Br. 1993-2001

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LThK.E

MdKI MSt MThSt MThZ NDB ÖR.B ÖRK PolSt ProOr PuN QD QJE RatSoc RE3 RGG3 RGG4 RRelRes RTS SIGC SocComp SocRel STM StZ SVRG ThF

LThK2. Das Zweite Vatikanische Konzil. Dokumente und Kommentare, Freiburg i.Br. 1966-1968 Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Mariologische Studien Marburger theologische Studien Münchener theologische Zeitschrift Neue deutsche Biographie Beiheft zur Ökumenischen Rundschau Ökumenischer Rat der Kirchen Politische Studien Pro Oriente Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus Quaestiones disputatae Quarterly Journal of Economics Rationality and Society Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Auflage, Gotha 1896-1913 Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Auflage, Tübingen 1956-1962 Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Tübingen 1998-2005 Review of religious research Reutlinger theologische Studien Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums Social compass Sociology of Religion Systematisch-theologische Monographien Stimmen der Zeit Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Theologische Forschung 267

ThG ThGespr ThImp ThPh ThRv TRE UR US VApS VEF WA WUNT ZfRW ZSKG ZThG Zwing.

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Theologie der Gegenwart Theologisches Gespräch Theologische Impulse Theologie und Philosophie Theologische Revue Theologische Realenzyklopädie Unitatis redintegratio. Dekret über den Ökumenismus Una Sancta Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Vereinigung Evangelischer Freikirchen Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe) Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Zeitschrift für Religionswissenschaft Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte Zeitschrift für Theologie und Gemeinde Zwingliana

Dokumentation der bisherigen Gespräche Rechtfertigung in freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht. Hg. v. W. Klaiber u. W. Thönissen, Paderborn-Stuttgart: Bonifatius/Anker 2003 Glaube und Taufe in freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht. Hg. v. W. Klaiber u. W. Thönissen, Paderborn-Stuttgart: Bonifatius/Anker 2005 Die Bibel im Leben der Kirche. Freikirchliche und römisch-katholische Perspektiven. Hg. v. W. Klaiber u. W. Thönissen, Paderborn-Göttingen: Bonifatius/Edition Ruprecht 2007 Kirche und Gemeinde aus freikirchlicher und römischkatholischer Sicht. Hg. v. B. Neumann u. J. Stolze, Paderborn-Göttingen: Bonifatius/Edition Ruprecht 2010 Ursprung und Sendung der Kirche. Apostolizität und Katholizität in freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht. Hg. v. B. Neumann u. J. Stolze, Paderborn-Göttingen: Bonifatius/Edition Ruprecht 2011 Aus dem Glauben Leben. Freikirchliche und römischkatholische Perspektiven. Hg. v. B. Neumann u. J. Stolze, Paderborn-Göttingen: Bonifatius/Edition Ruprecht 2013

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