Baukultur des Öffentlichen: Themen, Debatten, Strategien 9783034610445

Bildung, Freiraum, Verkehr – Schlüsselthemen der öffentlichen Baukultur.   Überblick zur aktuellen Diskussion für Fa

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German Pages 136 Year 2012

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Table of contents :
Editorial
Der Konvent K-2010
Verantwortung für Baukultur - Der Konvent K-2010
Primat der Ethik – Baukultur und die Idee der Bürgerschaft
Das Öffentliche in Deutschland – Die deutsche Gesellschaft und ihre Kultur des Bauens
Debatten um die Baukultur des Öffentlichen – Eine Reportage
Die Nachdebatte – Wer trägt Verantwortung für Baukultur?
Empfehlungen und Ausblick – Der Konvent K-2010
Bauen in der offenen Gesellschaft
Bauen in der offenen Gesellschaft – Strukturen und Werte
Baukultur in der offenen Gesellschaft – Ein Gespräch mit Werner Sewing
Bauen für den Verkehr – Strategien des Bundes für eine bessere Verkehrsbaukultur
Mobilität und Baukultur – Anmerkungen zu einer Vogel-Strauß-Strategie
Stadtumbau für (Zukunfts)Bildung – Die Perspektive der Landespolitik
Eine gute Schule macht Stadt, und mehr – Reflexionen über Baukultur und Schulpolitik
Veränderungen der Stadtgestalt – Strategien auf kommunaler Ebene am Beispiel München
Draußen vor der Tür – Höchste Aufmerksamkeit für vorhandene Strukturen
Baukultur der Zukunft – Ansichten und Perspektiven junger Akteure: ein Gespräch
Wie weiter? – Die Strategie der Bundesstiftung Baukultur
Photoessays
Steffen Wirtgen
Petra Steiner
Petra Steiner
Wolfram Janzer
Willfried Dechau
Juri Gottschall
Gerhard Zwickert
Barbara Metselaar
Mitwirkende
Bildnachweis
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Baukultur des Öffentlichen: Themen, Debatten, Strategien
 9783034610445

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Baukultur des Öffentlichen

Bericht_DER_Baukultur_2010_________ Band 4

Michael Braum (Hg.)

Baukultur des Öffentlichen Bauen in der offenen Gesellschaft

Birkhäuser Basel

Die Bundesstiftung Baukultur wird vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung finanziell gefördert. Durch ihre Gremien wird sie in ihrer konzeptionellen Ausrichtung und inhaltlichen Arbeit beraten und begleitet. Stiftungsrat Staatssekretär Rainer Bomba (Vorsitzender), Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt­entwicklung; Andrea Gebhard, Berlin/München, Bund Deutscher Landschaftsarchitekten (stellvertretende Vorsitzende); Sören Bartol, Marburg, MdB, Fraktion SPD; Dr. Ingeborg BerggreenMerkel, Berlin/Bonn, Ministerialdirektorin beim Bundesbeauftragten für Kultur und Medien; Heidrun Bluhm, Schwerin, MdB, Fraktion Die Linke; Peter Conradi, Stuttgart; Peter Götz, Rastatt, MdB, Fraktion CDU/CSU; Bettina Herlitzius, Aachen, MdB, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen; Martin Kelleners, Berlin, Ministerialdirigent im Bundesministerium für Finanzen; Petra Müller, Aachen, MdB, Fraktion FDP; Martin zur Nedden, Leipzig, Bürgermeister und Beigeordneter der Stadt Leipzig; Michael Sachs, Hamburg, Staatsrat der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt der Freien und Hansestadt Hamburg; Prof. Dr. Werner Sobek, Stuttgart, Ingenieur und Architekt, Universität Stuttgart Beirat Prof. Volkwin Marg, Hamburg, Architekt (Vorsitzender); Dr. Ursula Baus, Stuttgart, frei04-publizistik (stellvertretende Vorsitzende); Jens Bendtfeldt, Kiel, Bendtfeldt Herrmann Franke Landschafts­ architekten bdla; Dieter Cordes, Hannover, Gesellschaft für Bauen und Wohnen Hannover mbH; Prof. Dr. Werner Durth, Darmstadt, Technische Universität Darmstadt; Franziska Eichstädt-Bohlig, Berlin, MdA, Bündnis 90/Die Grünen; Prof. Dr. Jörg Haspel, Berlin, Landeskonservator; Dr. Bernd Hunger, Berlin, Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e. V.; Prof. Dr. Gottfried Kiesow, Bonn / Wiesbaden, Deutsche Stiftung Denkmalschutz; Wolfgang Kil, Berlin, Freier Kritiker und Publizist; Engelbert Kortmann, Nordkirchen, Unternehmer, Förderverein Bundes­stiftung Baukultur e. V.; Kaspar Kraemer, Köln, Bund Deutscher Architekten; Prof. Arno Lederer, Stuttgart, Architekt, Universität Stuttgart; Regula Lüscher, Berlin, Senatsbaudirektorin; Prof. Ulla Luther, Berlin, Staatsrätin a. D.; Dr. Karl Heinrich Schwinn, Hamburg, Bundesingenieur­ kammer; Prof. Christiane Thalgott, München, Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung; Prof. Jörn Walter, Hamburg, Oberbaudirektor; Nikolaus Wild, Baden-Baden, Schöck AG; Eva Zimmermann, Berlin, Dipl.-Ing. Architektur Redaktion: Ursula Baus, Stuttgart, und Olaf Bartels, Hamburg/ Berlin Layout, Satz: forst für Gestaltung_Hamburg_Berlin Coverillustration: Panatom_Berlin Umschlaggestaltung: Bundesstiftung Baukultur_Potsdam Lithographie: Einsatz Creative Production_Hamburg Druck: Ingoprint_Barcelona

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2011 Birkhäuser GmbH, Basel Postfach, CH-4002 Basel, Schweiz Ein Unternehmen von ActarBirkhäuser Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF Printed in Spain ISBN 978-3-0346-0692-9 9 8 7 6 5 4 3 2 1

www.birkhauser.com

Inhalt Editorial  __ 6 Michael Braum

Der Konvent K– 2010 Verantwortung für Baukultur – Der Konvent K– 2010  __ 12 Michael Braum, Anneke Holz

Primat der Ethik – Baukultur und die Idee der Bürgerschaft  __ 16 Julian Nida-Rümelin

Das Öffentliche in Deutschland – Die deutsche Gesellschaft und ihre Kultur des Bauens  __ 22 Matthias Sauerbruch

Debatten um die Baukultur des Öffentlichen – Eine Reportage  __ 32 Benedikt Hotze

Die Nachdebatte – Wer trägt Verantwortung für Baukultur?  __ 38 Bernhard Heitele

Empfehlungen und Ausblick – Der Konvent K–2010  __ 44 Michael Braum

Bauen in der offenen Gesellschaft Bauen in der offenen Gesellschaft – Strukturen und Werte  __ 52 Michael Braum, Ursula Baus

Baukultur in der offenen Gesellschaft – Ein Gespräch mit Werner Sewing  __ 56 Michael Braum, Ursula Baus

Bauen für den Verkehr – Strategien des Bundes für eine bessere Verkehrsbaukultur  __ 70 Engelbert Lütke Daldrup

Mobilität und Baukultur – Anmerkungen zu einer Vogel-Strauß-Strategie  __ 78 Wilhelm Klauser

Stadtumbau für (Zukunfts)Bildung – Die Perspektive der Landespolitik  __ 88 Karl-Heinz Daehre

Eine gute Schule macht Stadt, und mehr – Reflexionen über Baukultur und Schulpolitik  __ 94 Benedikt Kraft

Veränderungen der Stadtgestalt – Strategien auf kommunaler Ebene am Beispiel München  __ 104 Elisabeth Merk

Draußen vor der Tür – Höchste Aufmerksamkeit für vorhandene Strukturen  __ 108 Wolfgang Bachmann

Baukultur der Zukunft – Ansichten und Perspektiven junger Akteure: ein Gespräch  __ 118 Wolfgang Kil, Carl Zillich

Wie weiter? – Die Strategie der Bundesstiftung Baukultur  __ 128 Michael Braum

Photoessays Steffen Wirtgen __ 8 / Petra Steiner __15 u. 111 / Wolfram Janzer __ 48 / Wilfried Dechau __ 66 / Juri Gottschall __ 84 / Gerhard Zwickert __ 100 / Barbara Metselaar __ 114

Mitwirkende  __ 134 Bildnachweis  __ 136

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Michael Braum

Editorial

In Zeiten von Werteverlust und Krisen wird der Ruf nach einer Neubesinnung in allen gesell­ schaftlich relevanten Bereichen laut, so auch in der Baukultur. In diesem abschließenden vierten Band des „Berichts der Baukultur 2010“ – dem ersten Bericht, der unter der Regie der Stiftung entstanden ist – soll eine Grundlage für eine derartige Neubesinnung geschaffen werden. So werden nicht nur die Diskussionen, die am 16. und 17. April 2010 im Konvent in Essen zur „Baukultur des Öffentlichen“ geführt wurden, zu Schlussfolgerungen zusammengefasst. Es wird darüber hinaus eine Debatte angestoßen, die sich grundlegenden Fragen unseres Demo­ kratieverständnisses und seines Bezugs zur Baukultur stellt. Baukultur ist Prozesskultur, und gerade dieser möchten wir mit dem zwei­ geteilten vierten Band ergänzend zu den Pro­ jekterörterungen in den ersten drei Bänden den angemessenen Raum geben. Wenn sich weltweit totalitäre Systeme „vom Volk aus“ verändern und hoffentlich zu Demokra­ tien werden, sollten die etablierten Demokratien dies zum Anlass nehmen, sich zu erneuern. Bei­ spiele, nicht nur in Deutschland, zeugen von einer zunehmenden Verdrossenheit der Bevöl­kerung

gegenüber dem tradierten politischen Handeln. Planungen werden zunehmend in Pro­testen und mit Bürgerentscheiden hinterfragt, und dies führt dazu, dass sich die Prozesse verändern. Darauf muss unser Demokratie­verständnis rea­gieren. Unsere formellen Beteiligungsverfahren durch informelle zu qualifizieren, wird nicht ausreichen. Vielmehr muss es darum gehen, allen am Baupro­ zess Beteiligten den Wert von Baukultur klarzu­ machen und sie in die Pflicht zu nehmen, dement­ sprechend zu handeln. Damit muss im Bereich der Ausbildung – ob im Handwerk oder an den Hochschulen und Universitäten – ebenso ange­ setzt werden wie bei den Produktherstellern und in unseren Genehmigungsverfahren. Wir müssen die persönliche Verantwortung wieder in den Vordergrund unseres Handelns stellen und dürfen das Verstecken hinter Verordnungen nicht zur Richtlinie werden lassen. Im ersten Teil des vierten Bandes werten wir den Konvent aus. Aufbauend auf den Beiträ­ gen von Julian Nida-Rümelin und Matthias Sauer­ bruch, die sich auf unterschiedliche Weise mit der Ver­antwortung im Feld der Baukultur ausein­ andersetzen, lässt Benedikt Hotze die Intentionen des Konvents Revue passieren. Den Abschluss

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dieses Teils bilden die Schlussfolgerungen aus dem Konvent, die in „Empfehlungen“ der Bundes­ stiftung Baukultur münden. Hier fließen auch die Argumente eines viermonatigen Online-Forums ein, das die Stiftung im Anschluss an den Konvent einrichtete. Die „Empfehlungen“ basieren auf den für Bildungsbauten, Verkehrsinfrastrukturen und öffentliche Räume formulierten Herausforderun­ gen – dokumentiert in den ersten drei Bänden des Berichts der Baukultur, die den Kovent vorbereitet haben – und berücksichtigen deren Wechselwirkungen. Sie beschreiben, was zukünftig getan werden muss, damit wir auch im Alltäglichen von einer „Baukultur des Öffent­ lichen“ sprechen können. Im zweiten Teil des Berichts öffnen wir die Debatte, indem wir die „Baukultur des Öffent­ lichen“ um die „Baukultur in der offenen Gesell­ schaft“ erweitern. Dieser Ansatz wurde inner­halb der Redaktionsgruppe (Ursula Baus, Michael Braum, Bernhard Heitele, Olaf Bartels, Wolfgang Kil und Carl Zillich ) von Ursula Baus, der stell­ vertretenden Vorsitzenden des Beirats der Bundesstiftung Baukultur, eingefordert. In dem einlei­tenden Gespräch mit Werner Sewing, dem Vor­­sitz­enden des Fördervereins der Stiftung, über eine „Baukultur in der offenen Gesellschaft“ stand im Vordergrund, warum unsere oft ver­ krusteten Planungsprozesse verändert werden müssen. Darauf aufbauend, greifen wir die im Konvent diskutierten Themenfelder Verkehr, Bildung und Freiraum auf und setzen sie in Bezug zu unseren föderalen Strukturen. So schreibt Engelbert Lütke Daldrup, ehemals als Staatssekretär unter anderem für den Verkehr auf Bundesebene verantwortlich, darüber, dass wir dringend eine Kultur des öffentlichen Bau­ ens im Verkehr entwickeln müssen und welchen Einfluss das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung dabei nehmen kann. Kom­ mentiert wird sein Beitrag von dem Architekturund Planungskritiker Wilhelm Klauser, der über bau­kulturell anspruchsvoll gestaltete Verkehrs­ infrastrukturen hinaus ein verändertes Mobilitäts­ verhalten als wesentliche Voraussetzung für Baukultur in diesem Bereich ansieht. Das Thema Bildung ist Ländersache, deswe­ gen wird es auf Landesebene verhandelt. KarlHeinz Daehre, Minister für Landesentwicklung

und Verkehr in Sachsen-Anhalt, sieht in den dich­ ten und historischen Strukturen der Stadtzentren Potenziale für die im Konvent geforderte räum­ liche und institutionelle Vernetzung von Bildungs­ einrichtungen. Er demonstriert dies an Projekten der Internationalen Bauausstellung Stadtumbau 2010. Sein Kommentator, Benedikt Kraft, fordert eine neue, an veränderte Zeitabläufe angepasste Schularchitektur. Auf der kommunalen Ebene geht Elisabeth Merk, Stadtbaurätin in München, der Frage nach, durch welche Planungsstrategien sich in den Freiräumen verstärkt baukulturelle Ansprüche umsetzen lassen. Der Architekturkritiker Wolfgang Bachmann bringt es auf den Punkt: Die Tauglich­ keit von Straßen und Plätzen müsse sich in der alltäglichen Selbstverständlichkeit bewähren, wenn überhaupt von Baukultur die Rede sein solle. In diesen „Gesprächen“ zwischen den Prak­ tikern und den Kritikern wagten sich die Kritiker immer ein Stück weiter vor. Dies liegt in der Natur der Sache und sollte uns eine wertvolle Erfahrung sein, dass wir derartige Dialoge viel stärker in unseren Planungsalltag einziehen lassen sollten. Der zweite Teil des vierten Bandes schließt mit einem Gespräch mit jungen Planern und deren Vorstellungen über Baukultur. Wolfgang Kil und Carl Zillich diskutieren mit Architekten, Stadt­planern und Stadtforschern über Experimen­ tierräume, Partizipation, interdisziplinäres Arbei­ ten und die Erwartung der „Jungen“ an die noch junge Stiftung. Strukturiert wurde der Bericht der Baukultur mit Bildstrecken renommierter Fotografen, die das Dilemma alltäglichen Bauens eindrucksvoll vor Augen führen. Der vierte Band des Berichts der Baukultur endet mit strategischen Empfehlungen der Stiftung. Hier werden neben den zukünftigen Kernaufgaben der Bundesstiftung, wie zum Beispiel der Entwicklung von baukulturellen Konventionen, Projekte benannt, welche die öffentlichen Bauherren im Bund, in den Ländern und den Kommunen gemeinsam mit der Bundes­ stiftung auf den Weg bringen sollten, damit Baukultur zu einem alltäglichen Bestandteil unserer Gesellschaft wird. Potsdam, im Juni 2011

Steffen Wirtgen / Landschaft und Lärmschutz in Sachsen, o. J.

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Michael Braum, Anneke Holz

Verantwortung für Baukultur Der Konvent K–2010

Der Bundesstiftung Baukultur ist aufgetragen, Erfahrungen aus allen Feldern des Planens und Bauens in ihre Arbeit einfließen zu lassen. Auch aus diesem Grunde lädt sie alle zwei Jahre zu einem öffentlichen Konvent ein, in den Persönlich­ keiten berufen werden, deren außerordentliches Engagement für Baukultur allgemein anerkannt ist. Die etwa 350 Mitglieder des Konvents sind Preisträger der bundesweit bedeutsamen Preise auf dem Gebiet der Baukultur sowie unabhängige Experten, die Erfahrungen im privaten und öffent­ lichen Planen und Bauen einbringen oder sich in anderer Weise in diesem Bereich profiliert haben. Es sind Bauherren, Architekten, Inge­ni­ eure, Regional-, Stadt- und Landschaftsplaner, Vertreter der Bau- und Wohnungswirtschaft sowie Vermittler der Baukultur sehr unterschied­ licher Prove­nienz. Der Konvent der Baukultur dient der Standort­ bestimmung zur Lage der Baukultur in Deutsch­ land. K–2010 in Essen war der erste von der Bundesstiftung initiierte Konvent und der erste, der auch thematisch ausgerichtet war: Die „Bau­ kultur des Öffentlichen“ stand auf der Agenda. 2003 und 2007 hatten der Gründerkreis der Stiftung gemeinsam mit der Initiative für Archi­ tektur und Baukultur des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu Konventen in Bonn und Potsdam eingeladen, die die Stiftung „auf den Weg brachten“.

K–2010: Themen – Akteure – Formate Konvente der Baukultur haben das Potenzial, das Who-is-Who des Bauens und Planens zusam­ menzuführen. Auf der individuellen Ebene dienen sie dazu, Erfahrungen auszutauschen und sich über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinweg im Schlagabtausch zu üben. Gesellschaftlich relevant sind sie als Diskussionsforen, in denen über die Lage der Baukultur in der Bundesrepu­ blik Deutschland diskutiert wird. Ziel ist, allen mit Planen und Bauen Befassten realistische Emp­ fehlungen für eine bessere Baukultur an die Hand zu geben. Die Konvente bieten eine unabhängige Plattform, um Debatten zu wesentlichen, baukul­ turell relevanten Themen anzustoßen und damit das Bewusstsein für Baukultur in der Gesellschaft zu verankern und zu vertiefen. Die Berufenen tragen hierbei eine besondere Verantwortung: Über ihre Teilnahme am Konvent hinaus sollen sie in der Öffentlichkeit für Baukultur streiten. Die „Baukultur des Öffentlichen“ setzten wir 2010 auf die Agenda, weil der öffentliche Bauherr auf Bundesebene, in den Ländern und Kommunen eine Vorbildfunktion erfüllen muss und Maßstäbe setzen sollte. Die Realität zeigt aber, dass es ab­ seits der bedeutenden öffentlichen Bauten in der Alltagsarchitektur häufig schlecht um die „Bau­ kultur des Öffentlichen“ bestellt ist. Giambattista

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Nolli interpretierte 1748 den öffentlichen Raum Roms im so genannten Nolli-Plan als Zusammen­ spiel aller öffentlich nutzbaren Orte – diesen Ge­ danken übertrugen wir in die Gegenwart. Damit gehören neben den Straßen, Parks, Promenaden, Brücken und Plätzen auch unsere Schulen mit ihren Schulhöfen selbstverständlich zum öffentli­ chen Raum. Es sind die Orte, die tagtäglich von der Be­ völkerung genutzt werden. Hier lässt sich Bau­ kultur unvermittelt mit dem Alltag in Beziehung setzen. Sie wird auf diese Weise gleichermaßen zur gestalterischen Aufgabe und zu einer gesell­ schaftlichen Herausforderung. Am Beispiel der Bauten für die Bildung, der Verkehrsinfrastruktur sowie der urban geprägten Freiräume erörterte der Konvent Fakten, Positionen und Beispiele der „Baukultur des Öffentlichen“, die im Vorfeld von der Bundesstiftung zusammengetragen, in den ersten drei Bänden des Berichts der Baukultur publiziert und zur Diskussion gestellt wurden. K–2010 war als zweitägige Veranstaltung angelegt, wobei der erste Tag, der 16. April 2010, den Berufenen und Gästen zur internen Diskus­ sion vorbehalten blieb und am 17. April 2010 die Konventsdebatte in Bochum, Gelsenkirchen und Essen mit der interessierten Öffentlichkeit fortgesetzt wurde. Mit dieser Dramaturgie suchte die Bundesstiftung Baukultur das Regelwerk der Satzung in eine lebendige Tagungs- und Dialog­ kultur zu übersetzen. In diesem Anspruch spiegelt sich, worum es im Ringen um Baukultur verstärkt gehen muss: Baukultur verlangt eine in der Ge­ sellschaft verankerte Verständigung über unsere Vorstellungen und Bedürfnisse sowie darüber, in welcher Art von Räumen und Gebäuden wir leben wollen. Am ersten Tag lud die Bundesstiftung die Konventsmitglieder zur Diskussion darüber ein, warum „baukulturelle Konventionen “ in unseren öffentlichen Orten notwendig sind. Hier ging es weniger um „Rezepte“ für die Verbesserung der „Baukultur des Öffentlichen“, als vielmehr um eine Debatte darüber, warum es derartige Kon­ ventionen für den öffentlichen Raum überhaupt geben muss. Vorschläge, wie diese aussehen könnten, wurden in den vorbereitenden Berichten zu allgemeinen Herausforderungen verdichtet. Diese Herausforderungen beschränken sich nicht

auf eine angemessene Gestaltung von Bauwer­ ken, sondern beziehen Anforderungen aus dem Kontext ebenso wie Verfahrensfragen ein. Ergeb­ nisse dieser Diskussion lesen Sie in dem Kapitel „Empfehlungen und Ausblick“ sowie in den Schlussbemerkungen. Am zweiten Konventstag lud die Bundes­ stiftung die Bevölkerung dazu ein, Baukultur „auf Augenhöhe“ mit Persönlichkeiten aus Politik, Plan­ung, Medien und Kultur am konkreten Fall auf den Prüfstand zu stellen. „Dialogische Stadtspaziergänge“ führten anstelle üblicher Exkursionen nach Bochum, Gelsenkirchen und Essen. So wurden Nutzer mit den Konventsberu­ fenen ins Gespräch gebracht. In Kooperation mit den Städten besuchten wir die Erich-Kästner-Gesamtschule in Bochum, die Fußgängerzone Ebertstraße in Gelsenkirchen und den Verkehrsknoten Hauptbahnhof Essen. Beispielhaft zeigten diese Projekte den Zustand unserer öffentlichen Orte zwischen langjähriger Vernachlässigung und den Möglichkeiten, die in ihrem Umbau stecken. Mit dieser Strategie konnte K–2010 eine Debatte auch jenseits der Fachkreise anstoßen, die bundesweit von den Medien begleitet wurde. Dies auch deswegen, weil die Auseinanderset­ zung mit der Wirklichkeit erschüttert – zeigt sie doch, dass von einer Baukultur im Alltäglichen derzeit keine Rede sein kann.

Die Realität an unseren Bildungsorten In vielen unserer Schulen herrscht „baulicher Notstand“. Die Missstände in unserem Bildungs­ system werden nicht nur im unbefriedigenden Abschneiden der PISA-Studie sichtbar, sondern auch in den maroden Schulgebäuden und den wenig ansprechenden Freiräumen. Dabei sind Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen nicht nur die gebaute Infrastruktur für die Wis­ sensgesellschaft, sondern darüber hinaus die Orte der Integration unterschiedlicher „Lebens­ welten“ in der immer bunter werdenden Bevöl­ kerung. Mit dem Thema Bildung muss in der Weiterentwicklung der europäischen Stadt ein neues Kapitel aufgeschlagen werden. Gerade die

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Braum, Holz

Orte des Wissens sind die besonderen Orte in unseren Städten. Gebraucht werden Strategien, um die Synergien von Stadt und Bildungsorten zu nutzen. So können Wissen und Bildung zu einem kaum zu überschätzenden Ferment sozialer Integration von Alt und Jung, Arm und Reich und nicht zuletzt auch von Deutschen und Migranten werden. Die Ursachen für die noch wenig aus­ genutzten Möglichkeiten liegen nicht nur in unzulänglichen finanziellen Ressourcen, sondern vor allem in den unübersichtlichen Zuständig­ keiten und im mangelhaften Erfahrungsaustausch zwischen Bildungspolitikern, Bildungsplanern, Entwerfenden und Nutzern.

Die Realität in unseren Freiräumen Abseits der prominenten Parkanlagen und der repräsentativen Stadt- und Marktplätze treten die Missstände ebenfalls offen zu Tage. Die öffentlichen Räume sind verwahrlost. Es ist nicht allein die mangelnde Pflege dafür verantwortlich zu machen, sondern die zu wenig ausgeprägte Wertschätzung dieser Orte in der Öffentlichkeit. Dabei sind Straßen, Plätze und Parks die Räume unseres täglichen Zusammenlebens. Sie sind die Orte der Kommunikation und Integration, des Stadterlebens sowie des gesellschaftlichen Miteinanders, sie sind Mobilitäts- und Aufenthalts­ raum zugleich. Doch ihre Kommunikations- und Aufenthaltsqualitäten werden zu oft eingeschränkt – unter anderem durch Belastungen aus der Ver­ kehrsinfrastruktur. Bei der Gestaltung der öffent­ lichen Räume muss es darum gehen, die richtige Balance zwischen den konkurrierenden Ansprü­ chen, zwischen Interessen des Gemeinwohls und den Wünschen Einzelner zu finden.

Die Realität in unserer Verkehrsinfrastruktur Überdimensionierte Straßenräume, banale Brücken, dem ordnungsrechtlichen Überregu­ lierungswahn entsprungene „Schilderwälder“, gestalterisch nicht überzeugende Lärmschutz­ wände, mit minimalem Aufwand, wenn überhaupt, instandgesetzte Bahnhöfe sowie verwahrloste Bahnhofsvorplätze prägen zu häufig die Realität unserer Verkehrsinfrastruktur. Straßenbahnen auf

eigenen Trassen, möglichst eingezäunt, zerstören das Stadtbild. Haltestellen und Geländer kün­ den von fördertechnischen Anforderungen und von Pflegeleichtigkeit, aber nicht von Baukultur. Unsere Straßen und Plätze verkommen so zu Durchgangsräumen, die überwiegend dem mo­ torisierten Individualverkehr und dem öffentlichen Personennahverkehr dienen. Die Ursachen dafür sind in erster Linie in den sektoralen, in der Regel nicht vernetzt gedachten Strategien der Verkehrs­ planung zu suchen. Wenn nur ein Bruchteil der enormen Investitionsmassen in unserem Land in vorbildliche Gestaltungsprozesse fließen würde, dann wäre das Feld bereitet für Impulse, die Bau­ kultur in unseren Alltag einziehen lassen.

Resümee Die „Baukultur des Öffentlichen“ braucht drin­ gend in allen in diesem Bericht angesprochenen Bereichen Anstöße durch mehr Kreativität und Innovation und weniger Ignoranz und Regelwerke. Dabei lassen sich Qualitätsmaßstäbe nicht nor­ mieren. Sie müssen im produktiven Streit immer wieder neu erarbeitet und im konkreten Fall ab­ gewogen werden. Im Ringen um Baukultur gilt es, Wege aufzuzeigen, wie die alltäglichen Orte, ihrer Bedeutung für das Gemeinwohl entsprechend, gestaltet werden können. Verantwortlich dafür sind wir alle: Bauherren, Architekten, Ingenieure und Planer sowie die Administration, die Politik, die Bürger und die Medien. K–2010 hat dafür ein wichtiges Signal gesetzt. Auf der Basis einführender Vorträge von Julian Nida-Rümelin zum „Primat der Ethik“ und Matthias Sauerbruch zur „Bedeutung des Öffentlichen in der Baukultur“ wurden in drei parallelen Panels die Referenzfelder Bildung, Freiraum und Verkehr diskutiert. Nicht nur die Diskussionen im Konvent, auch die im Folgenden dokumentierte „Nach­ debatte“ hat gezeigt, dass es in jedem der drei Themenfelder darum geht, mehr Baukultur einzu­ fordern. Mit dem Bericht der Baukultur 2010, der hier mit seinem vierten Band vollständig vorliegt, regen wir an, dass diese Debatte gemeinsam mit uns fortgesetzt wird.

Verantwortung für Baukultur

Petra Steiner / Kötzschenbroda, o. J.

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Auf dem Konvent 2010 in Essen hielt Julian Nida-Rümelin den Eröffnungsvortrag. Seine grundsätzlichen Überlegungen zu den philosophisch-ethischen Voraussetzungen einer „Baukultur des Öffentlichen“ und zur Idee der Bürgerschaft erläutert er beginnend mit einem Rollenspiel. Der Beitrag gibt den Vortrag in Auszügen wieder.

Julian Nida-Rümelin

Primat der Ethik Baukultur und die Idee der Bürgerschaft

Auf den Theaterbühnen in der griechischen Klassik war es üblich, dass sich die Schauspieler eine Maske vor das Gesicht hielten, damit man wusste, welche Rolle die Schauspieler jeweils spielten. Bevor ich meiner Rolle als pragmatischer Philosoph gerecht werde, der sich entsprechend für philosophische Theorien vor allem in Hinblick auf ihre Relevanz für die Praxis interessiert, will ich kurz zwei andere Masken aufsetzen.

Kunst am Bau, Baukunst und Baukultur Die erste gibt etwas über meinen Hintergrund preis: Ich bin aufgewachsen in einem Schwarz­ bau, der von meinem Vater in ein Atelier hinein­ gebaut worden war. Mein Vater war als bildender Künstler überwiegend für den öffentlichen Raum

tätig, genauso wie mein Großvater. Ich erinnere mich an viele Diskussionen, in denen mit Architek­ ten um die Kunst gerungen wurde. Das Künstle­ rische und die Architektur stehen daher für mich in einem überaus wesentlichen Zusammenhang, und ich habe mich in meiner Zeit als Kulturrefe­ rent der bayerischen Landeshauptstadt München mit meinen Kollegen darum bemüht, der Kunst im öffentlichen Raum eine ganz andere Rolle zu ge­ ben, sie abzulösen von der Kunst-am-Bau-Tradi­ tion und sie stärker in Richtung der vom jeweiligen Bau durchaus unabhängig zu realisierenden Ge­ staltung öffentlicher Räume zu stellen. Ich glaube nach wie vor, dass – bei allen Schwierigkeiten – dieser Weg in die richtige Richtung führt. Nun nehme ich noch kurz eine zweite Maske zur Hand: Sowohl ihr Ort, wie auch die Entwick­ lung der Bundesstiftung Baukultur seit ihren Anfangsjahren berühren mich. Der Bund war

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beteiligt, ich war als Kulturstaatsminister auch involviert; mir war es besonders wichtig, dass der Bund sich wenigstens für den Ort der Stiftung interessiert, wenn er schon zu ihrem Etat wenig beiträgt. Die Baukultur war ein wichtiges Thema in meiner kurzen Amtszeit. Sie erinnern sich viel­­leicht an die Etablierung des Taut-Preises in dieser Zeit, und es gab kühne Träume, zum Jahresende 2002 einen neuen Ressortzuschnitt zu erreichen, der Bauen und Kultur zusammenführte. Dass es damals nicht dazu gekommen ist, hatte verschiedene politische Gründe. Ich bin aber dennoch der Meinung, dass die Nähe von Kultur und Bauen für beide Seiten grundsätzlich unver­ zichtbar ist. Die Kunst, die sich gewissermaßen aus allen Funktionszusammenhängen ablöst, ist nicht das Einzige, was kulturell relevant ist, und Bauen ist eben genau jene Dimension, in der die künstlerische Gestaltung und die ästhetische und ethische Verantwortung in der Gestaltung unserer Lebenswelt letztlich zusammengeführt werden.

Das Gute für den Einzelnen und für das Ganze Sie sehen schon, ich habe jetzt die eigentliche Maske auf, wie es hier meinem Auftrag entspricht: Deswegen fahre ich nun ohne weitere Einleitung fort und nehme Sie zunächst einmal mit in eine ganz andere Welt. Sie wissen vielleicht, dass vor etwa zweieinhalbtausend Jahren eines der faszi­ nierendsten Dokumente der abendländischen Philosophiegeschichte entstanden ist: Wenn wir uns die ersten eineinhalb Seiten der Nikomachi­ schen Ethik von Aristoteles ansehen, so finden wir die recht lapidare Annahme, dass das Gute das sei, wonach alles strebe. Die Stelle ist übri­ gens grammatikalisch im griechischen Original etwas ambivalent: Ist es „das Eine“ im Singular, wonach alles strebt, oder ist „das, was jeweils erstrebt wird“ gemeint? Im Text werden verschiedene Formen des Strebens ausgemacht: Handlungen, Künste, Wissenschaften. Diese streben alle nach etwas. Aristoteles meint, das Gesamt der Praxis (und zwar im Plural: Praxeis) strebe jeweils nach etwas. Weiter heißt es dann, dass diese verschiedenen Formen der Praxis aber nicht einfach nebeneinan­ der stünden, sondern offenbar geordnet seien.

Es gibt eine Art Hierarchie von Praxeis. Dann wählt er eine Formulierung, die im griechischen Original ziemlich durchsichtig ist, in der deut­ schen Übersetzung jedoch völlig unverständlich wirkt: Aristoteles macht diese Hierarchie abhän­ gig davon, ob und wie die Praxis unter einer Dynamis steht. Ein Beispiel hilft, das zu veran­ schaulichen: Die Sattlerkunst steht unter der Dynamis, die letztlich geordnet ist auf die Stra­ tegik, die Kriegskunst, und damit ergeben sich die Zwecke der Sattlerkunst aus den höheren Zwecken der Kriegskunst. Unter einer solchen Dynamis entsteht eine Art Hierarchie. Weiterhin spricht Aristoteles von der Prohai­ resis – sie lässt sich mit „Präferenz“ überset­ zen, aber auch mit „Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse“. Auch darin streben wir nach etwas Gutem. Jetzt stellt sich allerdings die Frage: „Was ist das letztlich Gute?“ Und Aristoteles bestimmt am Ende dieser Passage nach einigen wenigen weiteren Differenzierungen, dass man zwar schon zufrieden sein könne, wenn man dies für eine Person herausfinden kann; schöner und göttlicher allerdings sei es, zu erkennen, was das Gute für die Polis als Ganze ist – eine These, die für uns, wenn nicht nachgerade eine Provoka­ tion, so doch allem Anschein nach weitestgehend kontraintuitiv ist. Doch genau um dieses Verhält­ nis des Guten für den Einzelnen und des Guten für die Polis oder für das Ganze geht es, wenn die Rede von Baukultur und Lebensform ist. Und deswegen gehört eine jede Erörterung dieses Zusammenhangs nach Aristoteles zumindest zur Staatskunst.

Baukunst ist nicht autonom Die Architektur einschließlich des Städtebaus ist in einem ganz spezifischen Sinne die einzige wirk­ lich integrative Kunstform, die es heute gibt. Fast alle modernen Künste verstehen sich seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in verschie­ denen Schüben als autonom. Dieses „autonom“ lässt sich unterschiedlich interpretieren, aber eine Form von Autonomie ist die Unabhängigkeit von Funktionalität, die Selbstzweckhaftigkeit der Künste. Diese große Veränderung im Verständnis der Künste vollzieht sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. und dann erst vollständig bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Für die Baukunst

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Nida-Rümelin

gilt dies selbstverständlich nicht, denn sie ist erstens eine integrative Kunst, da sie ein breites Spektrum unterschiedlicher Fähigkeiten voraus­ setzt und vereint. Sie ist zweitens durchaus auch auf Funktionalität bezogen, wenngleich das nicht das höchste Gut ist, aus dem alles andere sich ableitet. Die Baukunst steht der Tradition der Selbstzweckhaftigkeit von Kunst also entgegen und ist offenkundig lebensweltlich in höchstem Maße relevant. Die Idee von der Autonomie der Kunst scheint bei einigen Architekten offensicht­ lich jedoch eine prägende Rolle zu spielen, so dass man manchmal den Eindruck hat, dass wir uns noch in der Hochphase der Drop Art befin­ den, wo Kunstwerke wie vom Himmel gefallen erscheinen; die Missachtung des Ortsbezugs findet man immer noch bei einigen zum Teil überaus gepriesenen Bauten, die gewissermaßen als isolierte Kunstereignisse inszeniert werden und dann natürlich Kritik auf sich ziehen, zumal wenn ihre lebensweltliche Relevanz von Anfang an nicht hinreichend im Mittelpunkt stand.

Natur und (Bau-)Kultur Ich sehe die Rolle der Philosophie auch darin, jene Begriffe ein wenig zu klären, die in Diskur­­­­­sen selbstverständlich geworden sind und mit un­­ hinterfragter Bedeutungsschwere immer wieder­ holt werden. Dann ist es die Aufgabe des Philo­ sophen, erstens zu fragen, ob eigentlich klar ist, wovon hier die Rede ist, und zweitens eine Antwort zu formulieren, die möglichst für diese Diskurse relevant ist und dort verstanden wird. Und einer dieser Begriffe scheint mir der der Baukultur zu sein. Bei aller augenscheinlichen Selbstverständlichkeit handelt es sich dabei um einen normativ aufgeladenen Begriff: „Mehr Baukultur…“ – wissen wir, was gemeint ist? Traditionellerweise ist all das Kultur, was nicht Natur ist. Heißt das: Wo keine Baukultur ist, ist Natur? Offenbar nicht, denn es geht ja um Bau­ ten, die offenbar keine Kultur haben. Ich finde es gar nicht so unpraktisch, an dieser Gegenüber­ stellung zunächst festzuhalten. Es gibt das Natür­ liche, was der menschlichen Gestaltung entzogen ist, und es gibt das Kultürliche, was menschlich gestaltet ist. Auch für die Baukultur gilt: Wenn etwas gestaltet ist, ist es natürlich gestaltet nach bestimmten Regeln und Zielen und Zwecken und

Werten. Aus der Antike kennen wir die Debatte über den Gegensatz von Physis und Nomos: Was liegt in der Natur, und was in unserer Verant­ wortung? Von dieser Bestimmung hängen weite Berei­ che des menschlichen Selbstverständnisses ab. Und wie wir bei Aristoteles sehen, unterliegt sie einem Wandel. Was uns in hohem Maße politisch unkorrekt erscheint, ist für Aristoteles völlig plausibel: Das Haus, der Oikos, wie er verfasst ist, mit den Beziehungen zwischen Mann, Frau, Kindern, Gesinden, Sklaven, Tieren, ist für ihn Teil der Natur. Auch wenn wir bezüglich der Einteilung heute Bedenken haben, wird die Grundidee klar: Es gibt eine natürliche Form, eine conditio humana, die kulturell invariant ist. Daneben gibt es den Bereich, welcher der kulturellen Gestal­ tung, der Setzung, dem Nomos, zugängig ist. Für Aristoteles gehören beispielsweise die Riten und Gebräuche, die die Stadt zusammenhalten, nicht zur Natur; damit die Stadt zusammenhält, ist es wichtig, dass es diese gemeinsame kul­tu­relle Orientierung gibt – welche genau das aller­dings ist, ist für ihn zweitrangig. Was bedeu­ tet diese Forderung nach Gemeinsamkeit für die Kultur des Bauens?

Lebensform als Ausgangspunkt von Gestaltung Dieser Zusammenhang lässt sich philosophisch über den Begriff der Lebensform erklären; damit ist bewusst nicht Lebenswelt gemeint. Zwischen diesen Begriffen besteht ein interessantes Spannungsverhältnis. Der Lebensweltbegriff ist heute ganz selbstverständlich geworden, manche verwenden ihn als Synonym zur Alltagswelt oder zum Alltag. Der Lebensweltbegriff hat aber einen rein philosophischen Ursprung, der für unser Thema hier wesentlich ist: Er geht auf Edmund Husserl zurück, der ihn im Zusammenhang mit der Krise – insbesondere der Geisteswissen­ schaften nach der vorletzten Jahrhundertwende – verwendet. Husserl gewinnt schon eine Vor­ ahnung von der kulturellen Fehlentwicklung Deutschlands in dieser Zeit und setzt nun gegen das gesamte wissenschaftliche Selbstverständnis die These, die Wissenschaft beruhe auf etwas, was außerwissenschaftlich ist. Die Wissenschaft erfindet sich nicht selbst, sie ist abhängig von

Primat der Ethik

etwas anderem, was außerhalb der Wissenschaft schon seinen Bestand hat. Auch damit gilt es, sich kritisch auseinanderzusetzen. Man könnte auch sagen, Husserl rehabilitiere die bloßen Meinungen, die Art und Weise, wie wir kommuni­ zieren, wie wir interagieren, wie wir werten, und gibt diesen im Begriff der Lebenswelt den Status einer Begründungsinstanz von Wissenschaft. Ob das spezifische Programm von Husserl nun in der Folge aufgeht, ist unerheblich; wesentlich ist der Gedanke, dass Wissenschaft nicht in völliger Unabhängigkeit von der Lebenswelt denkbar ist. Es ist also ein Irrtum, zu meinen, dass alle unsere Wertungen und Überzeugungen erst den Test der wissenschaftlichen Überprüfung beste­ hen müssen, um als rational gelten zu können. Wissenschaft kann erst in Gang kommen, wenn es einen Korpus von Überzeugungen, Praktiken und Regeln gibt, die unsere Lebenswelt ausma­ chen, die für sich genommen nicht zur Disposition steht. Ich will diesen Begriff der Lebenswelt, der dann zunehmend in die Soziologie, die Psycho­ logie und andere Disziplinen eingesickert ist, der heute etwas anders verwendet wird, aber immer noch diesen Ausgangsimpuls in sich trägt, nun mit einem anderen philosophischen Begriff verbinden, der nicht von Husserl, sondern, so wie ich ihn verwende, von Ludwig Wittgenstein stammt: mit dem der Lebensform. Der ganz späte Wittgenstein redet davon, dass alles Begründen ein Ende habe. Dieses Ende sei zu suchen in unserer Lebensform. Diese Lebensform versteht nun Wittgenstein nicht als das Gesamt an Über­ zeugungen, die die Welt betreffen, sondern als das unhinterfragte, selbstverständliche, alltägliche Interagieren. Für dieses Unhinterfragte findet Wittgenstein eine wunderbare Metapher: die Flussbett-Metapher. Die Grenze zwischen dem fließenden Wasser eines Flusses und dem Fluss­ bett ist durchaus nicht scharf, und das Flussbett ändert seine Lage. Das heißt, diese Lebensform, dieses Unhin­ terfragte, das, was immer schon da ist, und von dem ausgehend wir bewerten, agieren und inter­ agieren, uns kritisieren, ist nicht in toto in Frage zu stellen, aber es ist zum Teil inkohärent. Wir empfinden Spannungen – dadurch verändert sich das Flussbett. Es verändert seine Lage – aber es behält die immergleiche Rolle, nämlich: die Folie zu sein, vor der wir erst kritisieren kön­ nen, etwas verändern können, etwas gestalten

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können. Unsere Verständigungspraxis, unsere Interaktions­praxis sollten wir interpretieren als etwas, was auf solche unhinterfragten Haltungen, Einstellungen und Wertungen Bezug nimmt, diese zum Ausdruck bringt.

Gebaute Räume Die Rolle gebauter Räume für Lebenswelt und Lebensform will ich in drei Schritten umreißen. Erstens lässt sich sagen, dass die gebaute Umwelt unsere jeweilige Lebensform repräsen­ tiert – nicht so sehr die Urteile, nicht so sehr das Weltbild, nicht so sehr die Lebenswelt. So repräsentieren beispielsweise Grundrisse von Wohnungen eine Praxis des familiären Umgangs miteinander, die klarerweise im Laufe der Jahr­ zehnte Änderungen unterliegt. Allein, die Bauten ändern sich langsamer als die Praxis der famili­ ären Beziehungen. Insofern repräsentiert Bauen notwendigerweise Kultur. Zweitens gibt es eine strukturelle Prägung der Lebensformen durch Bauten. Es ist ja nicht so, dass wir uns unabhängig von den Räumen ent­ wickeln, sondern wir interagieren in dem Raum, in dem wir uns bewegen, und unser Leben findet ganz überwiegend in gebauten Räumen statt. Diese strukturelle Prägung der Lebensform durch Bauten hat eine Art zeitliche Erstarrung zur Folge. Durch Baukultur wird etwas fortgeschrieben, was sich normalerweise womöglich längst verändert hätte. Damit ist das Problem der beschränkten Wahlfreiheit berührt. Individuen können nicht, je nachdem wie nun gerade ihre aus der spezi­ fischen Lebensform sich ergebenden Wünsche und Wertungen ausfallen, diese in unterschied­ lich gebauten Räumen realisieren. Damit sind sie an bestimmte Räume gebunden, die zum Teil in deutlichem Gegensatz zu ihren Präferenzen ste­ hen, zu ihrer Vorstellung einer gelungenen Praxis. Besonders interessant wird die Frage der Gestal­ tungsmöglichkeit dann, wenn sie über individuelle Präferenzen hinausgeht: Wie kann der öffentliche Diskurs, in dem es ja in letzter Instanz um die aristotelische Frage des guten Lebens in der Stadt geht, wie kann dieser Diskurs an Gestal­ tungskraft gewinnen? Wie lässt sich ein Gleich­ gewicht zwischen der Expertise der Fachleute und der tendenziell uninformierten, aber im Zwei­ felsfall betroffenen Allgemeinheit herstellen?

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Nida-Rümelin

Die alte Forderung nach der „Demokratie als Bauherr“ scheint mir heute nur unzureichend, schlechter als in vergangenen Jahrzehnten erfüllt zu sein. Drittens hat die strukturelle Prägung zwar eine negative Seite, insofern sie zu Erstarrung führt; sie hat aber auch eine positive Seite, insofern durch Bauten kulturelle Kontinuität geschaffen werden kann. Kulturelle Erinnerungen sind etwas Kollektives, sind ein Teil der Kultur. Man kann auch sagen, es gibt ein kulturelles Wissen, auch wenn es keine Einzelperson gibt, die über dieses Wissen in Gänze verfügt. Eine Gemeinschaft kann über ein Wissen schon dann verfügen, wenn sie darauf vertraut, dass verschiedene Personen einen Teil dieses Wissens pflegen, und wenn diese sich untereinander vertrauen, dann verfü­ gen sie über eine Gesamtheit des Wissens, ohne es jeweils individuell repräsentieren zu können. Das Gute für die Stadt ist damit nicht allein das Aggregat des Guten für den Einzelnen. Es ist dies schon deswegen nicht, weil kulturelle Erinne­ rung etwas ist, was kein Einzelner hat. Kulturelle Kontinuität durch Bauten, die Bewahrung kul­ tureller Erinnerungen, impliziert allerdings dann auch die ganz privaten, die individualisierbaren Erinnerungen. Menschen, die an einem Ort leben, möchten nicht, dass die gebaute Umwelt sich so stark ändert, dass sie sich nicht mehr zurechtfin­ den, dass sie sich fremd fühlen. Veränderungen müssen langsam genug sein, damit sie eine Zugehörigkeit, oder um einen altmodischen Be­ griff zu verwenden: ein Heimatgefühl entwickeln können. Die Orientierung und die Identität, die durch Bauten geschaffen werden können und für kulturelle Kontinuität sorgen können, stehen also der Erstarrung gegenüber.

Ästhetik und Ethik Dabei gilt es, das Verhältnis zwischen Ästhetik und Ethik in den Blick zu nehmen. Wir kennen die modische, philosophische These, die Ästhetik sol­ le die Ethik ersetzen, das Leben zum Kunstwerk werden. Dabei werden das Ethische, die Rück­ sichtnahme auf andere Menschen, eine humane Gesinnung, Kooperationsfähigkeit oder Empathie gerne als Ausdruck von Schwäche interpretiert, und selbst Grausames kann schön genug sein, um keiner ethischen Bewertung mehr unterliegen

zu müssen. Ich halte das für falsch und plädiere für ein Primat der Ethik. Das heißt wiederum gerade nicht, dass das Ästhetische keine Rolle spielt. Primat der Ethik heißt, dass es um die Lebens­ formen geht. Unsere Lebensform äußert sich, wird getragen und ermöglicht durch gebaute Räume. Also sind die Kriterien des Guten und des Schlechten und des Richtigen und des Falschen an diesen Lebensformen zu messen. Die Lebens­ formen beruhen auf und generieren Wertungen und Regeln. Da Bauten diese Lebensformen repräsentieren, aber auch gestalten und struktu­ rieren, unterstehen sie im Prinzip diesen Kriterien des guten Lebens. Die Ästhetik kommt natürlich an dieser Stelle ins Spiel. Ästhetik ist nicht nur die Lehre vom Kunstschönen, sondern überhaupt von der Wahrnehmung: die Fähigkeit, wahrzunehmen, dass die Dinge eine Form annehmen, die man fas­ zinierend findet. Die ästhetische Erscheinung der Dinge bestimmt sich dadurch, dass sie ihre Rolle im Sinne der Gestaltung und der Repräsentation von Lebensformen angemessen erfüllen.

Konkrete Kriterien Von hier aus lassen sich ein paar Brücken schla­ gen, Konkretisierungen im Sinne der Standards der Kriterien, nicht Konkretisierungen anhand von Bauvorhaben oder Stadtplanungsvorhaben. Erste Konkretisierung: Ich glaube, dass Inter­ aktion, Kooperation und Verständigung den Kern einer demokratischen Kultur ausmachen sollten. Staatliche Institutionen und die politische Praxis beruhen auf der einen oder anderen Form von Kooperation. Auch wenn heutzutage von Zivil­ gesellschaft geredet wird, ist damit Kooperation gemeint: sich wechselseitig stützen. Staatliche Institutionen und politisches Handeln sollten Kooperationen stützen und fördern. Nun ist Kooperation aber etwas ganz Besonderes. Wir kooperieren nicht auf dem Markt – dort konkur­ rieren wir, und das ist völlig legitim. Der ideale Markt ist ein System vollständiger Konkurrenz, vollständiger Transparenz, Transferkosten gleich Null. Dort gibt es Anbieter und Nachfrager, und es bilden sich Marktgleichgewichte. Aber der Markt kann gar nicht existieren, wenn er nicht einge­ bettet ist in einen kulturellen Kontext, zu dem zum Beispiel Verständigung gehört. Verständigung ist aber nicht möglich, wenn die Leute nicht über­

Primat der Ethik

wiegend wahrhaftig sind. Wenn sie zueinander Vertrauen haben, wenn man sich darauf verlassen kann, dass das, was sie sagen, auch im Großen und Ganzen dem entspricht, was der Fall ist. Kein Markt kann ohne Kommunikation bestehen; Kommunikation verläuft aber nicht rein marktför­ mig. Der ökonomische Markt ist damit eingebettet in einen kulturellen Kontext der Kooperation, der durch normative Regeln konstituiert wird. Der Bei­ trag, den das Bauen für die Lebensformen leisten kann, sollte darin bestehen, zu fragen, ob durch die Bauten eine kooperative Praxis gefördert oder behindert wird. Damit steht nicht im Widerspruch, dass Menschen als Individuen – zweitens – großen Wert auf ihre Autonomie legen. Sie wollen nicht permanent kontrolliert sein, sie wollen nicht, dass sie in jeder Hinsicht unter dem Auge politischer Institutionen oder der Nachbarn agieren. Sie wollen eine Möglichkeit des Rückzugs haben. Dieses Recht auf Privatheit aufzugeben, hieße mit einem Grundprinzip des Liberalismus zu brechen, nämlich der Annahme, dass es einen Unterschied gibt zwischen öffentlich und privat. Drittens sind Städte durch kulturelle Diffe­ renzen und Unterschiede der Lebensformen geprägt – und dies übrigens nicht nur durch Migration, sondern auch dadurch, dass sich unterschiedliche Lebensformen, die auch mit dem sozioökonomischen Status oder mit bestimmten Wertorientierungen zusammenhängen, in einer Stadt so miteinander verbinden können lassen müssen, dass die Stadt nicht auseinanderfällt, dass es aber auch nicht an den Grundregeln des Respekts und der Anerkennung fehlt. Dabei ist es wichtig, auf den Unterschied zwischen Respekt und Indifferenz hinzuweisen. Das, was im Grunde ein mühseliger Lernprozess war, der in Europa erst nach den Konfessionskriegen im 17. Jahrhun­ dert begonnen hat, verlangt Toleranz aus Respekt. Viele moderne Theoretiker, wie Richard Rorty zum Beispiel, sagen, wir bräuchten nur Indifferenz. Das ist aber unrichtig: Wir brauchen Respekt, wir brauchen keine Indifferenz. Was heißt das für die Begegnungsmöglich­ keiten in einer Stadt? Was heißt das für die Vergabepraxis städtischer Wohnungsbaugesell­ schaften? Was heißt das für die Kulturpolitik in den Städten? Betreiben wir da Identitätspolitik? Fördern wir sozusagen die Repräsentanz des Eigenen in erster Linie? Wie kann Toleranz aus

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Respekt das Verhalten der unterschiedlichen Lebensformen zueinander prägen, aber diese Lebensformen in einen größeren Zusammenhang einbetten?

Idee der Bürgerschaft Für diesen größeren Zusammenhang scheinen wir wenigstens einen schönen Begriff zu haben: Das ist nämlich die Idee der Bürgerschaft. Man ist dann eben nicht in erster Linie Mitglied einer kulturellen Gemeinschaft, sondern zuallererst Bür­ gerin oder Bürger. Was heißt das für die Stadt? Wie kann die Stadt mit ihrer Stadtplanungspolitik und mit ihren Bauvorhaben die Bürgerschaft stär­ ken, gemeinsame Identifikationselemente schaf­ fen, die kulturelle Kontinuität sichern, aber auch die Zugehörigkeit der neu Hinzukommenden im­ mer wieder erleichtern, das Zugehörigkeitsgefühl fördern? Wenn Bürgerschaft als eine Lebensform zu verstehen ist, könnte man sagen, die gebauten Bedingungen der Lebensform und damit die Bau­ kultur unterlägen diesen vier Kriterien: Koopera­ tion, Individualität, Differenz und Respekt. Bauen ist gewissermaßen eine transzendentale Bedin­ gung, nämlich Bedingung der Möglichkeit eines guten Lebens. Dem entspricht ein Ethos des Bauens, das auf Empathie, auf der Fähigkeit des Sich-Hineinversetzens in die Situation derjenigen Menschen beruht, die dann mit und in diesen Bauten leben müssen. Respekt gilt auch dort, wo die Empathie ihre Grenzen findet: vor den Unter­ schieden. Dies alles kann nur auf der Grundlage einer Kooperation im Sinne von Zivilgesellschaft, im Sinne einer Kultur der Demokratie gelingen. In diesem Sinn würde ich sagen, ist das Thema „Öffentlichkeit“ tatsächlich wieder aktuell, nämlich als Frage, wie dieses Bauen denn von wem und in welchen Verständigungskontexten verantwortet und gestaltet wird. Die Beteiligung der Öffentlichkeit am Bauen heißt nichts anderes, als über die Bedingungen eines guten Lebens in gebauten Räumen öffentlich zu verhandeln und damit eine Grundlage zu schaffen, die am Ende eine humanere Gesellschaft und eine humanere Stadtkultur ermöglicht, die sich nicht allein auf die Sensibilität von Experten und die Offenheit von Politikern verlässt.

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Der Architekt Matthias Sauerbruch war einer der Hauptredner auf dem Konvent der Baukultur 2010. Er sprach über das Öffentliche, die Öffentlichkeit, über das öffentliche Leben und den öffentlichen Raum. Die Baukultur des Öffentlichen zeigt er als das Ergebnis nicht immer einfacher zwischenmenschlicher Beziehungsgeflechte. Er fordert die Gesellschaft zur kontinuierlichen Debatte auf: über die Qualität des Öffentlichen, über dessen Kultur und Baukultur – als einer Grundfeste der Demokratie. Der Beitrag gibt den Vortrag in Auszügen wieder.

Matthias Sauerbruch

Das Öffentliche in Deutschland – was ist das? Die deutsche Gesellschaft und ihre Kultur des Bauens

Ein Architekt denkt als Antwort auf diese Frage in der Regel gleich und beinahe ausschließlich an die Stadt. Denn die Stadt ist in unserer Kultur­ geschichte der Ort der Gemeinschaft. Wir tragen eine Art von Idealbild einer universellen Metro­ pole in unseren Köpfen mit uns herum, in der der soziale, politische und kulturelle Raum einer Gesellschaft mit dem Wohnort des Individuums und dem Standort der Wirtschaft in einem großen urbanen Organismus verschmilzt. Die Stadt mit all ihren Teilen ist in dieser Vorstellung sowohl das Abbild als auch das Modell unseres Zusammen­

lebens. Sie ist sowohl der Katalysator, durch den die Res publica entsteht, als auch die Bühne, auf der sie sich entfaltet. Der physische Raum wird zum Gefäß des öffentlichen Lebens, und zwi­ schen gebauter Form und kollektivem Inhalt be­ stehen Synergie und gegenseitige Abhängigkeit. An dem Schatten dieses historischen Modells messen wir auch heute noch die meisten Phäno­ mene unserer städtischen Realität. Tatsächlich bestehen jedoch wesentliche Abweichungen, die ich mit Hilfe zweier weiterer verwandter Begriffe beleuchten möchte:

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Das Öffentliche ist ein Produkt der Öffentlichkeit, und mit Öffentlichkeit bezeichne ich die Ge­ samtheit aller Umstände, die für das Wesen der Allgemeinheit sowie die Bildung einer öffentlichen Meinung von Bedeutung sind. Zur Öffentlichkeit würde man also zunächst die politischen, kultu­ rellen, ethischen und sozialen Grundmuster des Zusammenlebens in einer Gesellschaft zählen, die im Wesentlichen in ihren Gesetzen, Ritualen und Institutionen verankert sind. Darüber hinaus gehört zur Öffentlichkeit in einer Demokratie eine vitale und kontinuierliche Debatte. Sie ist der Motor der Demokratie, die öffentliche Mehrheits­ meinung ihr Treibstoff.

Das Öffentliche Das Öffentliche muss die öffentliche Meinung also als einen Bestandteil enthalten, sie geht aber auch über das Bilden einer Mehrheit hinaus, denn wie Adolf Arndt es formulierte: „Die (demo­ kra­tische) Lebensweise beruht keineswegs allein auf Abstimmung (...) sondern grund­legend zuerst auf Übereinstimmung hinsichtlich des Unabstimm­ baren, welches (...) die Möglichkeit des Zusam­ menlebens begründet und das Abstimmbare aussondert und zur Wahl freigibt.“1 Die öffentliche Meinung als solche findet spätes­tens seit der Verbreitung des Radios immer weni­ger im tatsäch­ lichen Raum der Stadt statt, sie hat heute ihren Ort in den Medien gefunden. Diese neue Veror­ tung der Öffentlichkeit hat ihren Themen zwar eine nie da gewesene Verbreitung ermöglicht, aber mit der gestiegenen Geschwindigkeit und Verfügbarkeit alter wie neuer Medien haben sich auch das Nachdenken, das Zustandekommen und das Wesen der Inhalte stark verändert. So ist in der Vielfalt des zur Verfügung stehen­ den Informationsangebots die Politik nur noch ein Thema unter vielen, das sich neben all dem anderen so genannten content behaupten muss, der tagtäglich zur Verfügung steht. Mit dem Aufstieg neuer Medien ging eine zunehmende Überlappung der Sphären des Privaten und des Öffentlichen einher. Mit dem Fernsehgerät werden die Nachrichten aus aller Welt auch in die intimste Situation fast jeder Wohnung hineingetragen, und umgekehrt sind sowohl Zeitungen, Fernsehen und Internet

1. __ Adolf Arndt: Demokratie als Bauherr. Akademie der Künste. Berlin 1961 (Anmerkungen zur Zeit, Heft 6, S. 24).

vermehrt zu Plattformen der Verbreitung auch privatester Details einzelner Individuen geworden. Die uns zur Verfügung stehende, maximale Öffentlichkeit scheint eine Art von Inversion der Privatsphäre zu begünstigen, unter deren „Tyrannei“ das öffentliche Leben verfällt, wie Richard Sennett bemerkt.

Das öffentliche Leben Was uns zu dem zweiten Begriff bringt, den ich zur Differenzierung einführen möchte, nämlich das „öffentliche Leben“. Mit dieser Kategorie ist die Interaktion zwi­ schen Menschen in einer Gesellschaft gemeint, die nur im weiteren Sinne politisch ist, also das Wirtschaftsleben, Arbeitswelten, das Leben in Vereinen oder Religionsgemeinschaften sowie gemeinschaftliche Freizeitaktivitäten, das Clubund Nachtleben und soziale Kontakte jeder Art. In unserem Idealbild von der europäischen Stadt fand das öffentliche Leben gleichzeitig mit den politischen Aktivitäten statt – also im öffentlichen Raum, wie auf dem Forum oder an anderen spezi­ fisch dafür geschaffenen öffentlichen Orten, zum Beispiel im Theater, im Stadion und später auf der Piazza oder dem Boulevard. Heute sind die Orte des öffentlichen Lebens anscheinend endlos frag­ mentiert und so gut wie nicht mehr zuzuordnen. Sie können überall sein, auch in jeder Wohnung und – über das iPhone in meiner Jackentasche – potenziell sogar überall auf unserem ganzen Pla­ neten. Aus dieser Perspektive ist das öffentliche Leben ein räumliches und zeitliches Kontinuum endloser Möglichkeiten. Unsere Städte erschei­ nen dagegen wie ein Stück veraltete Hardware, das all die ungeahnten Möglichkeiten der neues­ ten Software-Entwicklungen lähmt und wirkungs­ los verpuffen lässt. Das liegt auch daran, dass die Mehrzahl der klassischen Orte öffentlicher Kommunikation ge­ genwärtig von kommerzieller Nutzung besetzt und dominiert sind. Es scheint, als sei das Shopping beinahe das Einzige, was in unseren Innenstädten noch existieren kann. All die anderen Bestand­ teile öffentlichen Lebens werden zusehends an die Ränder und in die Nischen oder eben in den virtuellen Raum verdrängt.

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Sauerbruch

Dazu kommt, dass viele deutsche Großstädte gewissermaßen in lauter Einzelstädte zerfallen: Klar erkennbare ethnische, kulturelle und religiöse Gemeinschaften entwickeln ihre eigenen Formen von Öffentlichkeit, ihre Beteiligung am Öffent­ lichen der gesamten Stadtgesellschaft ist nicht unbedingt selbstverständlich. Was für die Mit­ bürger anderer Herkunft und Glaubensrichtung gilt, trifft natürlich in vergleichbarer Weise auch auf sozial divergierende Teile der Bevölkerung ebenso wie auf regionale Identitäten zu, um nur einige Faktoren fortschreitender Fragmentierung zu nennen. All die unterschiedlichen Lebenssituationen und -vorstellungen in einem Begriff des Öffent­ lichen zu subsumieren, scheint daher eher schwierig. Das Unabstimmbare, von dem Adolf Arndt in seiner berühmten Rede von der Demokratie als Bauherr sprach, über das eine Grund­übereinkunft in einer demokratischen Ge­ sellschaft bestehe, scheint immer weniger selbst­ verständlich zu sein. Umso wichtiger erscheint es aber auch, die Gemeinsamkeiten zu pflegen, die immer noch zwischen allen Menschen der Bevölkerung existieren oder Anlass und Gelegen­ heit zur Identitätsbildung bieten. Diese Über­ legung führt nun zu der dritten Kategorie, der ich mich kurz widme: dem öffentlichen Raum.

Der öffentliche Raum Unter öffentlichem Raum verstehe ich hier nur den buchstäblichen physischen Raum, der über den des Individuums oder der Familie hinausgeht. Also alles, was nicht Haus oder Wohnung und für jedermann frei zugänglich ist: Straßen, Plätze, Parkanlagen, Brachflächen, Teile der Landschaft, Einrichtungen des öffentlichen Nah- und Fernver­ kehrs, aber auch der Allgemeinheit gewidmete Gebäude, staatliche Einrichtungen, Sport- und Kulturbauten, Schulen, Universitäten, Bauten für Polizei und Gerichte bis hin zu den öffentlichen Verwaltungen. Dieser öffentliche Raum wird von allen mehr oder weniger regelmäßig benutzt. Und obwohl er einen der wenigen gemeinsamen Nenner unserer polykulturellen und polyvalenten Gesellschaft dar­ stellt, sehen die Meisten in ihm in erster Linie eine technische Infrastruktur. So wie die Wasser- und Stromversorgung, die Fernheizung und Kanali­

sation zum selbstverständlichen Gerüst unseres Alltags geworden sind, sind die Außenräume unserer Städte in erster Linie Funktionsräume unserer zeitgenössischen Lebensstile, die dem Verkehr, dem Konsum, der Freizeit und Unter­ haltung dienen. Zugleich ist der öffentliche Raum aber auch der Horizont unserer Gesellschaft, ihr Spiegelbild und ihr wichtigstes Erkennungsmerkmal. So wie man am Erscheinungsbild ihrer Menschen und an der Küche ihrer Restaurants die Verfeinerung einer Kultur ablesen kann, so ist der öffentliche Raum ein Indikator des inneren Zustands einer Kommune. Dies gilt sowohl für den Blick von außen als auch den Blick nach innen, denn der öffentliche Raum bildet auch den physischen Er­ fahrungshintergrund weiter Teile unseres Daseins, sozusagen die Matrize, in der die plastische Masse unserer Vorstellungswelten tagtäglich im­ mer wieder zum Körper geformt wird. Auch heute noch gilt das von Adolf Arndt zitierte Bonmot Albert Schweitzers, dass „erst Menschen Häuser bauen und dann Häuser Menschen“ 2 Insbesondere in einer Zeit, in der es zur ge­ bauten Umwelt eigentlich keine Alternativen mehr gibt, wird klar, wie wichtig es ist, das Bewusst­ sein für die Qualität des öffentlichen Raums zu wecken und dieses wertvolle Gut zu pflegen. Da­ bei geht es eher um die Aufrechterhaltung einer Art von ästhetisch-atmosphärischer, also auf die sinnliche Wahrnehmung ausgerichteter Infrastruk­ tur, die mit ihrem Reichtum den zunehmenden Verlust nicht-kolonisierter Räume kompensiert und dennoch ursächlich mit ihren Aufgaben und ihrer Funktionstüchtigkeit verbunden sein muss. Dies ist der Ort, in dem zwischen alltäglichen Verrichtungen das Erleben und der Austausch passieren, die zur Grundlage von Gemeinsamkeit und Identität werden können. Ich spreche hier nicht so sehr von dem inszenierten Erlebnis eines Popkonzerts oder einer Fußball-Fanmeile oder vom inszenierten Raum des Tourismus, sondern eher vom gemeinsamen Erlebnis des Alltags, also der Benutzung derselben Straße, derselben Ver­ kehrsmittel, desselben Schwimmbads oder des gleichen Spielplatzes. Natürlich kann man auch über ein gemeinsam erlebtes Event oder über die Erinnerung an die gemeinsam gehörte Popmusik, die gemeinsam gesehenen Fernsehserien oder über einen Austausch in einem Social Network im

2. __Ebenda, S. 15

Das Öffentliche in Deutschland

Internet zu Gemeinsamkeiten kommen, aber nur der immer wieder erlebte physische Raum, der quasi subliminal tatsächlich mit der eigenen kör­ perlichen Befindlichkeit verbunden ist, hinterlässt den nachhaltigen Eindruck, der dem Öffentlichen greifbare Gestalt gibt. Nicht zuletzt ist der öffentliche Raum auch deswegen so wichtig, weil er die greifbare Manifestation eines Großteils unseres kulturellen Erbes enthält, das die Herkunft unseres Gemein­ wesens erklärt und einen wesentlichen Teil des Öffentlichen ausmacht. Aldo Rossis Leseweise der Stadt als einem Raum, der durch die Akkumu­ lation der versammelten Artefakte vergangener Genera­tionen zum Gedächtnis der Gesellschaft wird, hat in Deutschland wohl deshalb ein so populäres Echo gefunden, weil die Präsenz der Geschichte in unserem Land von besonderer Empfindlichkeit ist. Die Heftigkeit, mit der die Debatte um die Rekonstruktion von Gebäuden und von Städten in Deutschland allgemein geführt wird, scheint dieser Sensibilität geschuldet. Die Tatsache, dass sich gerade auch die so genann­ te 68er-Generation in dieser Diskussion für die Konstruktion einer gewissen Kontinuität enga­ giert, hat ganz offensichtlich mit dem Verhältnis zwischen öffentlichem Raum und nationalem Selbstverständnis zu tun. Inwieweit es jedoch ge­ lingen kann, mit Hilfe gebauter Bilder Inhalte am Leben zu erhalten beziehungsweise zu rekonstru­ ieren, ist natürlich eine Frage, die generell mit der Wechselwirkung von gebauter Form und Nutzer­ verhalten beziehungsweise -bewusstsein verbun­ den ist. Allerdings garantiert die Rekonstruktion eines Schlosses noch keine tragfähige politische oder kulturelle Tradition, macht die Anlage eines Bürgerforums noch keine mündigen Bürger. In beiden Fällen könnten aber gegebenenfalls Ange­ bote gemacht werden, die längerfristig durchaus positive Effekte erzielen könnten, solange klar ist, dass das Öffentliche nicht musealisiert werden kann, dass Gestaltung allein eben nicht ausreicht. Das Öffentliche muss in einer demokratischen Gesellschaft ein lebendiges Organ einer lebendi­ gen Gesellschaft bleiben, immer wieder von Neu­ em definiert und entdeckt werden. Sonst werden die Einwohner zu Touristen im eigenen Land. Das Öffentliche ist also, um das Gesagte bis hierher zusammenzufassen, ein Grundbestandteil der Demokratie; Öffentlichkeit, öffentliche Mei­

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nung, öffentliches Leben und öffentlicher Raum haben einen Anteil an diesem Öffentlichen. Die Öffentlichkeit scheint einer gewissen Schnellle­ bigkeit und Variabilität ausgesetzt, das öffentliche Leben ist von zunehmender Fragmentierung und Ortlosigkeit gekennzeichnet. Diese Situation lässt auch das Öffentliche nicht unbeeinflusst. Das „Unabstimmbare“, von dem Adolf Arndt als der Grundübereinkunft einer Gesellschaft sprach, ist eben doch nicht selbstverständlich, sondern ist immer wieder neu zu erklären und zu verhandeln. Der öffentliche Raum hat in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung, denn er bietet neben einer gemeinsamen Infrastruktur für divergierende Lebensstile auch einen gemein­ samen Erfahrungshorizont, der identitätsstiftend bleibt. Seine Qualität muss die touristische Ober­ fläche durchdringen, seine Konstitution ist ein Indikator des inneren Zustands der Gemeinschaft einerseits, und er betrifft jeden Einzelnen, denn der öffentliche Raum ist letztlich der Ort, an dem unser Leben stattfindet.

Politik Wenn Erhalt und Pflege des öffentlichen Raums in unserem Gemeinwesen von so hoher Wichtig­ keit sind, so schließt sich als nächste Frage an, in wessen Händen er denn am besten aufgehoben sein mag. In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft delegie­ ren wir die individuelle politische Verantwortung weitgehend an Politiker. Wenn das Öffentliche ein politisches Thema ist, dann müssten sich doch auch die Politiker darum kümmern? Politiker kümmern sich aus meiner Erfahrung vor allem um die öffentliche Meinung, denn sie möchten gewählt werden. Unter ihnen Persön­ lichkeiten zu finden, die sich ernsthaft um das „Nicht-Abstimmbare“ im Öffentlichen Sorgen machen, scheint schwierig. Dazu kommt, dass so­ wohl Kenntnis als auch Interesse nicht unbedingt vorauszusetzen sind, wenn es um den gebauten Raum geht. Wenn man nach Momenten sucht, in denen dieses Thema in den letzten Jahren in irgendeiner Form zum Gegenstand der nationalen Debatte geworden ist, die der – bereits mehrfach zitierten – luziden und weitsichtigen Rede von Adolf Arndt aus dem Jahre 1960 ebenbürtig wäre, so wird man lange suchen müssen. Zumindest

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Sauerbruch

auf nationaler Ebene ist die gebaute Umwelt in Deutschland ein nachgeordnetes Thema, wie es scheint; wenn überhaupt, engagieren sich Politiker eher auf kommunaler und vielleicht noch Landesebene, wahrscheinlich weil die Beteiligten da näher am Geschehen dran sind. Und weil es gegebenenfalls offensichtlicher ist, dass Architek­ ten nicht immer im Interesse einzelner Bauherren oder im Sinne eines immer wieder beschworenen übergroßen Egos handeln, sondern dass sie viel­ fach auf der Suche nach einem interessanten und interessierten Gesprächspartner sind. Aus meiner eigenen Erfahrung würde ich bei Poli­tikern diese Art der Gesprächsbereitschaft nicht unbedingt erwarten. Die Auseinanderset­ zung um das Öffentliche in der Baukultur passt nicht in die relativ kurzatmige und strategische Denkweise, die für zeitgenössische Politik typisch geworden ist. Darüber hinaus scheinen viele Akteure in der politischen Arena diese Auseinan­ dersetzung für ein Gebiet zu halten, dem man entweder mit einem am Alltag geschulten „gesun­ den Menschen­verstand“ angemessen zu Leibe rücken kann oder das man besser gleich ganz den Fachleuten überlässt.

Verwaltung Aber womöglich sitzen in den Baubehörden die Garanten der öffentlichen Baukultur? Besonders in den großen und mittleren Städ­ ten haben der öffentliche Raum und das Öffent­ liche den städtischen Dezernenten oder Baudi­ rektoren und ihren Teams sehr viel zu verdanken. Dass in Deutschland überhaupt eine Baukultur zu erwähnen lohnt, ist unter anderem dem Engage­ ment der Thalgotts, Merks, Walters und Lüschers dieses Landes zu verdanken, die immer wieder hartnäckig und auch mit persönlichen Risiken Projekte vorantreiben, die ohne ihre Vermittlung nie eine Chance hätten, realisiert zu werden. Im Prinzip sind die Verwaltungen der wichtigste Sachwalter des Öffentlichen. Nicht nur, weil sie als Bauherren der öffentlichen Hand agieren, sondern auch weil sie – zumindest theoretisch – nicht von Legislaturperioden und der öffentlichen Meinung abhängig sind. Der nachhaltige Blick auf das Ganze gehört zu ihren Kernaufgaben. Sie haben enormen Einfluss, und ihre Arbeit ist von höchster Wichtigkeit. Eigentlich müssten hier die

besten Köpfe der Republik zum Einsatz kommen, und unter ihnen müsste ein Geist der Exzellenz blühen, der sowohl die Politik als auch alle am Bau Beteiligten zu Höchstleistungen herausfor­ dern müsste. Die Realität sieht allerdings in meiner Erfah­ rung in vielen Fällen anders aus. Die Verwaltungs­ karriere gilt immer noch als die sichere Alternative für die weniger risikofreudigen Kollegen, und die Motivation, architektonische Höchstleistungen zu beflügeln, scheint im System nicht unbedingt verankert. Viele Behörden sind eher mit sich selbst als mit ihren Aufgaben beschäftigt, und manche beamteten Architekten betrachten ihre freiberuf­lichen Kollegen eher als Weisungsemp­ fänger oder gar Gegner, nicht notwendigerweise als ihre Partner. Obwohl ich auch von positiven Beispielen berichten kann, von einzelnen Leitfigu­ ren, die ihre Aufgabe mit großer Verantwortung und Intelligenz verfolgen, scheint es mir prinzipiell nicht so, als ob das System die verantwortungs­ volle Initiative für eine Baukultur des Öffentlichen begünstigen würde. Diverse Versuche, die verschiedenen Abteilun­ gen in ihrer Leistungsfähigkeit zu verbessern, ha­ ben tendenziell in den letzten Jahren dazu geführt, dass sich ihre Rolle zunehmend nur noch auf die Einhaltung von Kosten und Terminen beschränkt hat. Dazu kommen das Protokoll der diversen Durchführungsvorschriften und das oberste Ge­ bot, etwaigen Missbrauch von Steuergeldern ver­ hindern zu müssen, was alles zusammen vielfach zu einer Kontroll- und Verbotsmentalität führt, die es auch dem größten Optimisten schwer macht, noch positiv zu denken. Wie gesagt, es liegt vielfach auch in der Hand des Einzelnen, aber man muss sagen, dass gera­ de progressive Individuen nach meiner Erfahrung auch immer wieder an Grenzen stoßen. Das liegt unter anderem auch daran, dass die Verwaltun­ gen ihrerseits wiederum von der Politik abhängig sind. Ich habe Projekte erlebt, da gewann der Be­ griff „politische Entscheidung“ den Nimbus einer Art höherer Gewalt, der man ebenso ohnmächtig gegenüberstand wie dem Wetter. Es wäre also zu überlegen, inwieweit man den Verwaltungen – neben einer Verpflichtung zur Exzellenz – nicht auch eine gewisse Unabhängigkeit und Eigenver­ antwortung zugestehen sollte.

Das Öffentliche in Deutschland

Flexiblere Arbeitsweisen, auch größere Durch­ lässigkeit zur Profession, ein Mehr an Inhalt und ein Weniger an Bürokratie würden der Baukultur und dem Öffentlichen die größten Dienste leisten. Denn nach meiner Meinung liegt – trotz aller Kritik und aller Schwächen – bei den Baubehör­ den in Deutschland im Augenblick mit das größte Potenzial für die Baukultur. Es kann nur unsere Aufgabe als freie Architekten sein, dieses Poten­ zial in einer inhaltlichen Debatte immer wieder einzufordern und positive Geister in den Diensten nach Kräften zu stützen.

Medien Die Medien, die viel zitierte „vierte Macht im Staat“, leisten einen wesentlichen Beitrag zum Öffentlichen. Sie sind teils Reflektor und teils Quelle der öffentlichen Meinung und beeinflussen sehr wesentlich Form und Inhalte der Auseinan­ dersetzung um das öffentliche Leben. Durch ihre enorme Verbreitung und aufgrund des so vielfäl­ tigen Angebots ist jedoch der Wettbewerb um die schwindende Aufmerksamkeit einer überforderten Öffentlichkeit extrem gestiegen. Um überhaupt wahrgenommen zu werden, werden also Inhalte bevorzugt, die das Spektakel bedienen. Diese Notwendigkeit des Spektakulären ist ein Faktor, der sich wie ein Virus im Gewebe der Gesell­ schaft breitmacht und längst angefangen hat, ihre DNA zu verändern. Nur so ist zu erklären, dass selbst in seriösen Tages- oder Wochenzeitungen der Republik die hier angesprochene Diskussion über den öffentli­ chen Raum bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielt. Außer auf den Immobilienseiten gibt es keine kontinuierliche Debatte über die gebaute Umwelt, die der Omnipräsenz und Einflussgröße des Themas angemessen wäre. Die deutsche Öffentlichkeit erfährt von der Gestaltung ihrer Umwelt per Skandalberichterstattung, in der ent­ weder von Stararchitekten oder Pfusch am Bau die Rede ist, von Hybris und/oder Versagen. Die wenigen Autoren, die sich konsequent und über Jahre hinweg mit der Materie auseinandersetzen, bekommen in ihren Feuilletons nur dann Platz eingeräumt, wenn sie über aufsehenerregende Einzelprojekte berichten können.

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Was die Fachpresse betrifft, gab es in Deutsch­ land eine große Tradition, und auch heute widmen sich seriöse Journalisten und Journale aktuellen und auch weniger populären Themen mit großer Ernsthaftigkeit. Allen ist jedoch der starke Wett­ bewerb, der finanzielle Druck und damit eine An­ gleichung an gewisse Logiken der Massenpresse anzumerken. Immer mehr seriöse Publikationen werden durch Magazine ersetzt, deren redaktio­ neller Teil nur noch einen durchsichtigen Vorwand für die Werbung von Bauprodukten bietet. Diese Vermischung von Marketing und Debatte ver­ schärft die Notwendigkeit spektakulärer Inhalte, mit dem unappetitlichen Nebeneffekt, dass auch im generellen Diskurs unter Architekten vielfach zwischen einer seriösen intellektuellen Auseinan­ dersetzung und dem Self-Marketing kaum noch zu unterscheiden ist. Dieses Prinzip der Vermischung ist auch ein herausragendes Merkmal des Internet, dem größ­ ten Konkurrenten der „Gutenberg-Medien“: ein Forum ohne jegliche Redaktion, in dem Privates und Öffentliches, Intelligentes und Dummes, Haupt- und Nebensächliches, Vorbildliches und Verwerfliches nur einen Mausklick voneinander entfernt liegen. Im Internet ist jeder sein eigener Chefredakteur, der sich entweder entscheiden kann, das großartige und umfassende Informa­ tionsangebot für sich zu nutzen oder sich dem reinen Lustprinzip zu überlassen. Das Internet verfügt als solches über keinen Leitfaden, keine Moral oder Ethik, keine Handlungsstrategien. Und doch bietet das Internet großes Poten­ zial für das Öffentliche, denn nie war der direkte demokratische Dialog einfacher als dort, nie war die Ausübung des Rechts auf Meinungsäußerung bequemer, direkter und wirksamer möglich. Seine Gefahr liegt wahrscheinlich am ehesten in seinem enormen Potenzial zur Ablenkung und zum Rückzug. Denn es war auch nie leichter, sich aus dem öffentlichen Leben ganz zurückzuziehen, der öffentlichen Debatte aus dem Weg zu gehen und – wenn überhaupt – den sozialen Austausch in den virtuellen Raum zu verlegen. Wenn sich alle Kommunikation am Bildschirm erledigen ließe, dann wären die Räume unserer Städte tatsächlich nur noch Funktionsräume zweiter Klasse.

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Beruhigenderweise ist jedoch zu beobachten, dass die virtuellen Welten des Internet wegen ihrer schier endlosen Potenziale nicht nur faszi­ nieren, sondern auch eine Angst verursachen, die den Wunsch nach der physisch wahrnehmbaren Affirmation der eigenen Existenz eher steigert. So wie die Globalisierung den Drang zur nationalen und regionalen Identität wieder stärkt, verursacht die Virtualisierung unseres Lebens auch ein Be­ dürfnis nach tatsächlich wahrnehmbarer Realität und Körperlichkeit. Sollte es daran Zweifel gegeben haben, so zeigen all diese Phänomene, die virtuelle Kommu­ nikation, die Versuchung des Rückzugs und der Wunsch nach Realität, warum wir den öffent­ lichen Raum heute anders denken müssen als vor 50 Jahren. Und die Medien, deren Aufkom­ men teilweise Mitursache für die Veränderungen sind, wären natürlich in der Lage, einen solchen Paradigmenwechsel aktiv und auch kritisch zu be­ gleiten. Diese Vorstellung würde allerdings eine Konzeption der Presse als einer Art unabhängiger moralischer Institution voraussetzen, von der wir selbst in den öffentlich-rechtlichen Anstalten eigentlich nicht wirklich ausgehen können. Solange keine wirkliche Betroffenheit zu er­ kennen ist, die dann wiederum in einen Bedarf für Berichterstattung münden könnte, herrscht das Gesetz des Spektakels, und es ist offensicht­ lich, dass dieses Gesetz die Architekturproduk­ tion (wie alle anderen Bereiche der Gesellschaft) mittlerweile wesentlich beeinflusst. Wie gehen nun diejenigen, die die Eingriffe in den öffentlichen Raum tatsächlich projektieren sollen, mit der geschilderten Situation um? Wie gut ist das Öffentliche bei den Planern und ihren Auftraggebern aufgehoben?

Akteure Das Bauen ist das Einrichten eines Individuums oder einer Körperschaft in der Umwelt im weite­ ren und engeren Sinne. Daher besteht zwischen dem einzelnen Projekt und dem öffentlichen Raum immer ein entscheidendes Abhängigkeits­ verhältnis. Denn das einzelne Projekt wird in eine Umwelt hineingeplant, die mit seiner Erschei­ nung sozusagen erst entsteht. Alles, was wir als gebaute und natürliche Umwelt wahrnehmen, ist von Architekten beziehungsweise Planern im weitesten Sinne geschaffen worden. Das Bild unserer Städte und Landschaften, das Bild des öffentlichen Raums ist letztlich das Palimpsest ei­ ner Vielzahl von Einzelprojekten unterschiedlicher Generationen. Bauen ist also per Definition immer beides: die Erfüllung der Bedürfnisse einer spezifischen Bauherrenschaft, aber auch die Vervollständigung des öffentlichen Raums. Architekten sind auch bei dem kleinsten Bauvorhaben an der Schnitt­ stelle zwischen Individuum und Gemeinschaft unterwegs. Sie sind Treuhänder beider Inter­ essensgruppen, wobei nur mit einer ein unmit­ telbares vertragliches Verhältnis eingegangen wurde. Mit der anderen Partei besteht zumindest in Deutschland über die HOAI auch eine Über­ einkunft, die einerseits den Berufsstand bis zu einem gewissen Grad vor dem Markt schützt, indem sie seinen Leistungen ähnlich denen von Ärzten, Rechtsanwälten oder Notaren einen quasi gemeinnützigen Status zuweist, andererseits aber zumindest implizit auch eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft formuliert, selbst wenn kein hippokratischer Eid abgeleistet werden muss. Inwieweit es den jeweiligen Akteuren gelingt, zwischen den Interessen ihrer beiden Treugeber zu vermitteln, von denen der eine ein Honorar be­ zahlt und der andere nur mit einem kategorischen Imperativ droht, wäre von Fall zu Fall zu entschei­ den. Philip Johnson äußerte einmal in einem be­ rühmten Interview, dass Architekten grundsätzlich Huren seien, und wer bin ich, dieser Legende des Architekturgeschäfts zu widersprechen? Vergleichsweise unmissverständlicher ist in der Regel die Interessenslage von kommerziellen Bauherren. Selbst wenn sie natürlich mit ihren Projekten zur Stadt beitragen wollen, müssen die

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oberste Priorität und Motivation ihres Handelns der zu erzielende Gewinn sein. Die Öffentlichkeit ist in diesem Szenario in erster Linie ein poten­ zieller Kunde, die Immobilie ist ein Produkt. Öffentlicher Raum ist eher eine Belastung und wird in erster Linie zu repräsentativen Zwecken eingesetzt. Obwohl man die öffentliche Meinung auf jeden Fall auf seiner Seite wissen möchte, sind die wirtschaftlichen Interessen der individuellen Organisation und die kollektiven Interessen des Öffentlichen in der Regel zuerst einmal unverein­ bar. Was allerdings in diesem Zusammenhang manchmal geradezu absurd erscheint, ist, dass sich öffentliche Auftraggeber unter dem Druck ihrer Leistungsvorgaben am Vorbild der Privatwirt­ schaft orientieren und dabei ihren ursprünglichen Auftrag völlig aus den Augen verlieren, ohne an­ dererseits die Identifikation und den Besitzerstolz zu entwickeln, die man vom privaten Bauherrn kennt. Und wenn sich bei einem Projekt in Public Private Partnership die öffentliche Institution ganz der Logik des Marktes unterwirft, gewinnt sie möglicherweise kurzfristig an wirtschaftlicher Effizienz, verliert aber in der Regel ihren öffent­ lichen Charakter, es sei denn, ein oder mehrere Planungsbeteiligte machen es sich zu eigen, dem Öffentlichen in diesem Vorhaben zur Erscheinung zu verhelfen. Aber wie macht man das, wie sieht das Öf­ fentliche aus? Worin liegt denn nun der Unter­ schied zwischen einem privaten Bürogebäude und einem Finanz- oder Arbeitsamt? Lassen sich Orte kreieren, die sozialen Austausch nachweis­ lich fördern? Wie manifestiert sich eine freiheitli­ che Demokratie, wie sieht das „Gesicht“ der sozi­ alen Marktwirtschaft aus, woran erkennt man die Fairness, die Würde, die Freiheit und die Autorität unseres Gemeinwesens? Dies sind offensichtlich Fragen, die bei jedem Projekt in geringerem oder größerem Umfang je­ des Mal von Neuem gestellt werden müssen und die in unterschiedlichen Fällen unterschiedlich zu beantworten sind. Architekten müssen dabei sicherlich zuhören können; umgekehrt wäre die Gesellschaft gut beraten, die Intelligenz und das kreative Potenzial von Architekten einzufordern, es aber auch anzuerkennen und zu würdigen. Eine ganze Reihe von Kollegen ( zu denen auch ich zähle) hat im Frühjahr 2009 ein so genanntes

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„Klimamanifest“ unter dem heroischen Titel „Vernunft für die Welt“ unterzeichnet. Darin ver­ pflichtet sich die Architektenschaft, mit ihrem Tun auf eine nachhaltigere Gesellschaft hinzu­ arbeiten. Dieses Manifest ist ein freiwilliges Bekenntnis zu der Verpflichtung der Profession gegenüber der Gemeinschaft, ohne dass die Gemeinschaft jemals danach gefragt hätte. Und ohne, dass diese Gemeinschaft davon wirklich Kenntnis genommen hätte. Das Manifest ist ein gutes Beispiel für unser Selbstverständnis vom Architekten als Weltver­ besserer, das uns seit der Moderne begleitet. Es wurde uns so in unseren Hochschulen gelehrt, und so geben wir es auch heute noch an unsere Studenten weiter. Die ironischen bis sarkasti­ schen Kommentare, die man zu diesem Manifest in der deutschen Presse lesen konnte, waren ein gutes Zeugnis für den Unglauben, mit dem der Rest der Gesellschaft diesem Selbstverständnis begegnet. Zu viele Fehler sind von Architekten gemacht worden, zu viele Mitglieder der Profes­ sion leben erkennbar nach kommerziellen und nicht nach idealistischen Prinzipien, und zu fest ist das Image in der populären Vorstellung verankert, dass der Architekt ein Künstler sei, der unfähig zu jeglicher Kommunikation, nur am Gebäude als autarkem Werk interessiert ist – ein Vorurteil, das natürlich von einer ganzen Generation von Spitzenarchitekten bis heute auch immer wieder bestätigt worden ist. Sind wir also nicht wirklich aufrichtig mit uns selbst, wenn wir unser Engagement um die Res publica plakatieren? Versuchen wir, uns mit der Illusion von der politischen und sozialen Relevanz unseres Berufes die schwindende Bedeutung eines Dienstleistungsgewerbes schönzureden? Sind wir einfach naive, gutgläubige Idealisten, die es nie gelernt haben, sich so auf dem Markt zu bewegen, wie das der Rest der Welt tut? Oder wird tatsächlich versucht, eine Lücke zu füllen, die durch das Desinteresse und die Abwesenheit anderer stakeholder entstanden ist?

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Ich denke, vor allem im Zusammenhang mit un­ serem Konvent müssen wir wohl von der letzten Option als Arbeitshypothese ausgehen. Aber bevor ich hier weiter spekuliere, sollten wir über den wichtigsten Teilhaber am öffentlichen Leben sprechen, über den Bürger. Wie können er oder sie einen wirksamen Beitrag zur Qualifizierung des Öffentlichen leisten? Dass Bürgerinitiativen kommunale und auch nationale Politik immer wieder tatsächlich beeinflussen können, ist eines der beruhigenden Symptome zum Zustand der Nation.

Bürger und Mediatoren Nach meiner persönlichen Erfahrung in der Dis­ kussion um architektonische Projekte und den öffentlichen Raum ist die Art, wie Bürger sich mit Planungen oder Projekten auseinandersetzen, oft von extremen Gegensätzen gekennzeichnet. Sie treten entweder in Form von protestierenden Nachbarn, wütenden Leserbriefautoren oder mau­ lenden Stammtischpolitikern auf; manchmal auch als begeisterte Fans, die ihr Gefallen an einem gebauten Objekt zum Ausdruck bringen. In Aus­ nahmefällen haben wir auch mal eine koordinierte und konstruktive Teilhabe von Bürgern an Pla­ nungsprozessen erlebt, wobei sich deren Beitrag aber am Ende doch zumeist auf die Wahrung von Partikularinteressen beschränkte. Ganz abstrakt verspricht man sich natürlich vom Mittun aufgeklärter und solidarischer Bürger sehr viel; tatsächlich stellt diese Diskussion für viele Mitbürger aber eine inhaltliche Herausfor­ derung und oft wenig erwünschte Belastung dar. Für einen wirklich produktiven Austausch bedarf es eines Mediators, der erklärt, informiert, über­ setzt und anregt. Die Erfindung der Rolle eines solchen professionellen Mediators könnte eine Reaktion auf die Transformation des Öffentlichen sein. Junge Kollegen wie zum Beispiel Raumlabor oder die Baupiloten in Berlin oder auch die Initiati­ ve Klimawandel Köln verweisen die Profession hier durchaus auf neue Betätigungsfelder.

Denn der öffentliche Raum bedarf der Diskus­ sion – nicht nur im Sinne eines guten Projekt­ ergebnisses, sondern auch natürlich im Interesse der Aufrechterhaltung des zuvor beschriebenen Motors der Demokratie. Er ist eines der wenigen gemeinsamen Güter, an dem alle Menschen in diesem Land teilhaben, und die Diskussion um das Öffentliche würde den Gesprächsgegen­ stand sozusagen gleichzeitig entstehen lassen. Es gibt Anzeichen dafür, dass infolge der Finanzund der Klimakrise der Bedarf an einer solchen Debatte tatsächlich so sehr zunimmt, dass nicht nur Bürger, sondern auch Medien und Politik wie­ der stärker daran teilhaben werden. Denn beide Faktoren werden das Öffentliche stark belasten: Immer mehr öffentliche Einrichtungen werden Wege finden müssen, sich über private Kassen zu finanzieren, und sie werden damit das öffentliche Territorium privater Wertschöpfung preisgeben. Und wenn die Klimaprognosen eintreffen, die im Augenblick diskutiert werden, werden sich auch daraus so drastische Einschränkungen für unsere Lebensweisen ergeben, dass die Betrof­ fenheit zweifelsohne von allein steigen wird.

Aufgaben der Architekten Eine heutige Debatte kann diese Entwicklungen vorwegnehmen oder zumindest vorbereiten, aber es scheint noch nicht so, als ob die gewünschte Teilnehmerbasis im Augenblick zu erreichen wäre. Wenn ich nur für meine eigene Gruppe spre­ chen soll, dann ist es natürlich wünschenswert, dass sich Architekten und Planer ihres Status als Fachelite stärker bewusst würden und einerseits durch vorbildliches Handeln Zeichen setzen, an­ dererseits mit einer hörbareren Stimme kommuni­ zieren würden. Dies weniger aus Gutmenschen­ tum, sondern ganz im konkreten Interesse am eigenen Überleben. Dabei kann beides – Handeln und Kommunizieren – die verschiedensten For­ men annehmen, denn man könnte sich Architek­ ten nicht nur in der Rolle des Mediators, sondern auch in der des Managers, Bauherrenberaters oder sogar des Politikers vorstellen. Und schließ­ lich sollten wir uns auch daran erinnern, dass wir selbst nicht nur Planer, sondern auch Bürger sind; auch Architekten können Aktivisten werden.

Das Öffentliche in Deutschland

Und wenn Architekten sich dafür entscheiden, als Fachleute oder als Bürger Verantwortung für das Öffentliche zu übernehmen, sollten sie auch aggressiv für den dazu notwendigen politischen Einfluss kämpfen. Eine Akzeptanz der genannten Probleme und ein Zeichen der Unterstützung auf nationaler Ebene wäre der Anfang, die Verpflichtung der Verwaltungen auf einen kompromisslosen Kurs zur Exzellenz der nächste Schritt. Man könnte aufgeklärte Bauherren für gute Projekte mit einer Steuererleichterung, ähnlich der DenkmalschutzAfA, belohnen, und man müsste ganz sicherlich die Stiftung Baukultur in einem Maße unterstützen, wie uns dies in den skandinavischen Ländern, in den Niederlanden oder Großbritannien vorge­ macht wird.

Die Bundesstiftung Baukultur Die Stiftung Baukultur ist in diesem Szenario für mich in erster Linie das Netzwerk, das die vielen Akteure miteinander verbindet. Ein Sammeln und Vernetzen der im Lande ohnehin stattfindenden Aktivitäten könnte schon viel erreichen. Durch die Zusammenarbeit mit den Hochschulen und den Berufsverbänden, durch die Verlinkung mit dem Baunetz und anderen nationalen Netzpublikationen zum Thema sowie mit Blogs und Sites kann man einen enormen Multiplikationseffekt erreichen. Eine kontinuierliche und transparente Mittei­ lungs­­tätigkeit an die Politik wäre ein weiterer we­ sentlicher Schritt – zum Beispiel ein regelmäßiger offener Brief an das Ministerium und den Bundes­ tag, die konstruktive und kritische Begleitung der Arbeit der Verwaltungen, die unabhängige Kritik der Architekturproduktion, die Einrichtung einer relevanten Text- und Bildbibliothek, Bauherren­ fibeln zum Herunterladen und noch vieles andere mehr.

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Die Stiftung Baukultur hat das enorme Privileg, sich nicht unbedingt der Logik des Spektakels fügen zu müssen, gleichwohl darf alles, was sie tut, niemals langweilig sein. Allerdings sollten wir uns von dem Gedanken verabschieden, alles gestalten und perfekt machen zu wollen. Das öffentliche Leben braucht keine Vordenker, gleichwohl es nicht sich selbst überlassen werden darf. Es braucht Helfer, Mode­ ratoren, Übersetzer, es braucht Pflege, Intendanz, Angebote. Denn wenn wir unsere althergebrachte Vorstellung von der Stadt als Ort des Öffentlichen am Leben erhalten wollen, genügt es nicht, das Repertoire ihrer historischen Typologien zu bedienen. Wenn wir tatsächlich öffentliches Leben und öffentlichen Raum als Agenten des Öffent­lichen pflegen wollen, dürfen wir sie nicht, wie in der asiatischen oder amerikanischen Stadt, dem Schlachtfeld wirtschaftlicher Inter­ essen überlassen, aus dem nur noch einzelne Attraktoren der Gemeinsamkeit hervorragen. Das Öffentliche lässt sich nur als Gegenstand einer kontinuier­lichen Auseinandersetzung begreifen.

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Benedikt Hotze hat den Konvent der Baukultur 2010 in Essen besucht und berichtet von den Vorträgen über und den Podiumsdiskussionen um die Baukultur des Öffentlichen und von den Konvent-Exkursionen, die die Baukultur vor Ort auf den Prüfstand stellten. Er betrachtet den Kreis der Teilnehmer, dessen Stimmungslage und die Debatten auf den Fluren und beim Mittagessen. Schließlich zieht er Bilanz über die Wirkung des Konvents in den Medien und in der Öffentlichkeit.

Benedikt Hotze

Debatten um die Baukultur des Öffentlichen Eine Reportage

01__ Das orangefarbene Andreaskreuz als Logo des Konvents der Baukultur 2010 hier am Musiktheater Gelsenkirchen.

Zumindest für die Konventsbesucher gilt: Baukul­ tur beginnt und endet am Essener Hauptbahnhof. Als ich am Vorabend des Konvents hier ankomme, muss ich hinunter in die weitläufigen Kellerge­ schosse, die man in den 1970er Jahren eingebaut hat, damit die Straßenbahn unter der Innenstadt hindurchfahren kann. Trotz bunter Lichteffekte ist es hier nicht gerade anheimelnd, eher zugig, leer – und etwas kaputt. Ein Aufsteller vor den Fahrkartenautomaten verweist Touristen auf die „Kulturlinie 107“ und auf deren prominentestes Ziel: das „Weltkulturerbe Zeche Zollverein“. Ebenda soll der Konvent der Baukultur statt­ finden. Essen ist, als Primus inter Pares der Ruhr­ gebietsstädte, in diesem Jahr zudem die „Kultur­ hauptstadt Ruhr.2010“. Ein Begriff, der uns hier in vielen Spielarten im Hauptbahnhof begegnet: Kultur. Was könnte, sollte, müsste er also eigent­ lich bedeuten?

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An der Zeche Zollverein angekommen, irritiert der Widerspruch zwischen der mächtigen Anlage von Schupp und Kremmer einerseits und der kleinteiligen Wohnbebauung rundum anderer­ seits. Plakatfetzen von Moscheegegnern hängen an den Laternenmasten, ansonsten ist es in Katernberg am hellen Vormittag auffällig still. In den nördlichen Essener Arbeitervierteln scheint die „schrumpfende Stadt“ bestimmendes Thema zu sein. Aber Baukultur? Das Signet des Konvents, ein grell orange­ farbenes Andreaskreuz, begrüßt uns schon an der Zechenpforte. Es soll uns die nächsten zwei Tage begleiten: Als „Tragekreuz“ ist es mobil und erinnert in mancherlei Hinsicht an die Utensilien katholischer Prozessionen. Und tatsächlich klingt auch „Konvent“ irgendwie nach Kloster oder nach Kirchentag. Was also ist ein Konvent der Baukultur? Was passiert dort, und was könnte dabei herauskommen? Die Legitimation einer Bundesstiftung Baukul­ tur, eines Konvents der Baukultur, scheint auf den ersten Blick nicht so sehr eine Frage der Gene­ ration, sondern eher der Art des Engagements zu sein. Wer in Kategorien des Gremienwesens denkt und handelt, wer sich viel in Kammern und Verbänden bewegt, für den hat der Konvent eine zentrale Bedeutung, schon bevor er überhaupt stattgefunden hat. Man trifft sich, man kennt sich, man freut sich. Unter Kollegen, die sich als ungebundene, freie Geister verstehen, ist eher Skepsis verbreiteter, bis hin zu Häme und Spott: „Staatsknete-Empfänger“, gar „Pöstchenverteiler“ heißt es da schnell abfällig über die Bundes­ stiftung. Wenn man überhaupt kommt, dann nur, um sich das mal unverbindlich anzusehen. Dabei kann keineswegs jeder kommen, der möchte. In den Konvent werden einerseits Persönlichkeiten berufen, „deren außerordent­ liches Engagement für Baukultur allgemeine Anerkennung gefunden hat“, wie es in den Doku­ menten der Stiftung heißt; außerdem werden Nutzervertreter, Verbände und Fachöffentlichkeit hinzugeladen. Von den 350 Teilnehmern in Essen stellen die „Anerkannten“ dieses Mal die Hälfte: Architekten und Fachplaner, aber auch Bauher­ ren, beispielsweise Wohnungsbaugesellschaften oder investierende Unternehmen, die für ein ge­ lungenes Bauwerk mit Preisen geehrt wurden. Die Übrigen sind „unabhängige Personen mit Fachautorität“ – also Baupolitiker, Verwaltungs­

02__ Gespannte Erwartungen und Skepsis im Vorfeld des Konvents.

beamte, Vertreter von Verbänden und Kammern, nicht zuletzt auch wir, die Journalisten. „Aufgabe der Berufenen ist, für die Anliegen der Baukultur in der Öffentlichkeit zu streiten und entsprechen­ de Debatten zu initiieren. Damit übernehmen die Mitglieder des Konvents eine Verantwortung, die über ihre Teilnahme an der Tagung hinausgeht.“ Das ist eine hohe Verpflichtung, die den Berufe­ nen da auferlegt wird, zumal über allem wieder die Frage steht, was Baukultur eigentlich ist.

Über Öffentlichkeit reden Einen Versuch der Definition macht der Fest­ redner Julian Nida-Rümelin vor dem Plenum gleich am ersten Kongresstag: „Baukultur ist die ethisch verantwortete Gestaltung gebauter Räume.“ Auf den ersten Blick überzeugend, aber man sollte am Ende prüfen, wie weit diese Definition wirklich greift. Ansonsten schwingt sich Nida-Rümelin, der Ex-Kulturstaatsminister, in seiner Rede zu einem kaum verhohlenen Lobpreis des Marktes und der Grundprinzipien des Liberalismus auf. Diese müssten lediglich in den „kulturellen Kontext der Kooperation eingebettet“ werden, um zum Wohle aller zu funktionieren. Mancher ist davon überrascht, nicht wenige auch überfordert: In den folgenden Pausengesprächen gestehen einige Zuhörer, die Rede schlicht nicht verstanden zu haben.

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Ganz anders Matthias Sauerbruch, der andere Einführungsredner zu Beginn des Konvents. Ihm war die Aufgabe übertragen, in der Debatte über „das Öffentliche“ in der deutschen Baukultur aus dem Blickwinkel eines frei praktizierenden Architekten zu berichten. Und das tut er, in weiten Kreisen ausholend und dann stets auf dem Punkt landend – von der öffentlichen Meinung über das öffentliche Leben zum öffentlichen Raum. Da sind Politiker, die wiedergewählt werden wollen, und Verwaltungen, die einerseits – politisch gewollt – unterbesetzt sind, andererseits kaum mehr ent­ scheiden dürfen. Nach solcher tour de force lan­ det der Erfahrungsbericht bei den Medien, dem Internet und – na endlich – auch der Rolle, die eine Bundesstiftung Baukultur hierbei spielen könnte: Sie ist in diesem Szenario „in erster Linie das Netzwerk, das die vielen Akteure miteinander verbindet“. Sauerbruchs breit angelegte Betrach­ tungen heben den Begriff der Baukultur weit über das Architektonisch-Räumliche hinaus in einen gesellschaftlichen Raum. An eine genauere Defi­ nition wagt auch er sich nicht. Jetzt sind wir schon mitten im Konvent. Übri­ gens hat die Stiftung alles getan, um bei dieser Versammlung irgendwie historisch-verstaubte Assoziationen gar nicht aufkommen zu lassen. Ein junges und effektiv organisiertes Team hat die Wortmarke „Konvent“ im Vorfeld der Tagung flugs zu „K–2010“ modernisiert und jenes orange­leuchtende „X“ hinzuerfunden, das auch Druck­sachen und Webseiten unübersehbar prägt. Jeder Konventsteilnehmer konnte sich anhand einer eigens produzierten Zeitung durch die Veranstaltung manövrieren lassen. Obendrein wurden die drei Schwerpunktthemen der Diskus­ sion in Wortspiele verpackt: „Wo verkehrt die Baukultur?“, „Worauf baut die Bildung?“ und „Wie findet Freiraum Stadt?“. Unter eben diesen Titeln waren drei mit Beispielen und Thesen vollgelade­ ne Themenbücher rechtzeitig zum Anlass erschie­ nen, um vorab schon einen Überblick zu gewäh­ ren – eben auf „Die Baukultur des Öffentlichen“.

Über Baukultur streiten Für die dann folgenden Panelsitzungen verstreut sich das Plenum im weiten Gelände: An drei sehr unterschiedlichen Orten sollen drei zeitlich parallel angesetzte Runden jeweils eines der drei Schlüsselthemen aufgreifen und vertiefen. Dafür

sitzen offizielle Teilnehmer auf dem Podium, und im Publikum außerdem so genannte „Zwischen­ rufer“, deren möglichst vehemente Einmischung im Programm fest eingeplant ist. Glücklicherwei­ se kommen schließlich aber auch ganz normale Teilnehmer zu Wort, denen die Regie keine der beiden Funktionen zugewiesen hat. Jede der Sitzungen beginnt mit einem mehr­ minütigen Videofilm, der exemplarische Impres­ sionen von typischen städtischen Situationen in die Sitzungen tragen soll. Was wohl als locke­ rer Einstieg gedacht war, bestimmt dann manch­ mal die ganze Diskussion: Beim Verkehrspanel etwa wird die unbefriedigende Situation vor dem Frankfurter Hauptbahnhof gezeigt – das Durch­ einander aus Straßenbahnen, Haltestellen, Mas­ ten, Ampelfurten und Treppenbauwerken auf dem Weg hinunter bis zur so genannten B-Ebene. Da­ bei kristallisiert sich schnell ein unversöhnliches Gegensatzpaar heraus zu der Frage, wem die Entstehung derart verkorkster Verkehrsräume an­ zulasten sei. Während Politiker und Verwaltungs­ leute darauf beharren, dies sei stets ein Ergebnis von Regeln, Gremien und Prozessen, behauptet die „Architektenfraktion“, dass „gute Regeln noch nie gute Architektur produziert“ hätten, sondern dass es für solche Gestaltungen stets persönlich identifizierbare „Autoren“ gebe. Und wenn diese „Mist“ bauten, seien sie für die Zukunft „aus dem Verkehr zu ziehen“, wie Christoph Ingenhoven aus Düsseldorf salopp fordert. Kaspar Kraemer aus Köln will gar den Architekten eine „ästhetische Führungsrolle für die gebaute Umwelt“ zuweisen, doch das geht dann selbst Ingenhoven zu weit. Während also beim Thema Verkehr ein hoher Unterhaltungswert durch Kontroverse garantiert ist, beginnt die Paneldebatte über die Bildung mit einem fast verdächtigen Konsens. Architekten, Ministeriale, Schulleiter und nicht zuletzt ein kluger Verwaltungsmann aus der Schweiz sind sich zunächst einig: Baufamilien, gute Wettbe­ werbsauslobungen, kurz: Empathie und Respekt sind die Voraussetzungen für gute Schulen: „Wir suchen nicht gute Architektur, sondern gute Schulbauten!“ Erst Zwischenrufer und Publikum sorgen dann für eine nennenswerte Störung des Unterrichts: Was ist, fragt Gert Kähler aus Hamburg, wenn 74 Milliarden fehlen, um jene bestehenden Schulen zu sanieren, bei denen der Putz von der Decke fällt und die Turnhalle einsturzgefährdet ist? Wie reagieren, will Wolf­

Debatten um die Baukultur des Öffentlichen

gang Pehnt aus Köln wissen, wenn eine einstige Vorzeigeschule ihre früher öffentliche Durch­ wegung inzwischen mit einem 2,50 Meter hohen Stahlzaun verbarrikadiert, um damit Amokläufer fernzuhalten? Sigurd Trommer aus Bonn fordert schließlich: „Wir brauchen ein Primat der Ethik vor der Funktion, vor der Ästhetik, wenn wir an Schulbau herangehen!“. Hier scheint sich eine Richtung abzuzeichnen für eine umfassendere Definition von Baukultur, nach der in Essen alle auf der Suche sind. Das Freiraumpanel schließlich wird über lange Strecken getragen von den gegensätzlichen Positionen zwischen den „Gestaltungsgelüsten der Stadtgestalter“, wie Moderatorin Amber Sayah es pointiert ausdrückt, – also der Archi­ tekten, Städtebauer, Landschaftsplaner und Gartenarchitekten – und andererseits den „Bürgern“. „Wir sind die Fachleute!“, sagen die Planer. Oder etwas differenzierter: „Die Guten und Geübten wissen, was sie tun.“ Von den anderen wird ihnen genau das abgesprochen: „Die meisten Planer kennen die Orte kaum, für die sie da arbeiten!“ Allerdings sind die „Nutzer“ sich auch nicht immer einig: „Es gibt gar nicht den öffentlichen Raum, und es gibt auch nicht den Nutzer, sondern es gibt den öffentlichen Raum nach ganz bestimmten Bedürfnissen“, wirft Luzia Braun ein. Es folgt ein Schlagabtausch über die sinnvolle Art der Durchführung von Bürgerbeteili­ gungen und sonstigen Partizipationen. Dabei wird moniert, dass bei Bürgerbeteiligungen immer nur die „Lauten“ gehört werden, und der Stadtplaner Hildebrandt Machleidt stört sich daran, dass die kleine Gruppe der unmittelbaren Anwohner „den öffentlichen Raum mit einem Besitzrecht belegt“, während schon die Bewohner des be­ nachbarten Stadtteils nicht mehr „beteiligt“ sind und daher auch nicht gefragt werden. Die Land­ schaftsarchitektin Gabriele Kiefer aus Berlin führt das Dilemma schließlich einigermaßen salomo­ nisch ins Absurde: „Bürger ist nicht gleich Bürger. Die einen wollen Hunde, die anderen wollen keine Hunde!“ So einfach ist das. Dass in den Panelgruppen keine Einigkeit zu erzielen war – hatte etwa der Veranstalter damit gar nicht gerechnet? Er hätte sonst dafür sorgen müssen, dass die Ergebnisse, Gedanken und eben auch Kontroversen dieser Arbeitsgruppen durch die Moderatoren zusammengefasst und dem Plenum vorgetragen werden. Doch eine

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solche Rückkoppelungsrunde gibt es nicht. Statt­ dessen folgt noch ein prominent besetztes Po­ dium. Die Eröffnungsredner Julian Nida-Rümelin und Matthias Sauerbruch, Oda Scheiblhuber vom zuständigen Bundesministerium, Rosemarie Wilcken als Vorsitzende des Deutschen Städteta­ ges, der Stuttgarter Ingenieur Hans-Peter Andrä und Stiftungsvorsitzender Michael Braum bekla­ gen hauptsächlich die immer schlechtere perso­ nelle Ausstattung der Bauverwaltungen und deren reine Ausrichtung auf wirtschaftliche Optimierung.

Den Realitäten nicht ausweichen Der zweite Kongresstag verlässt den engen Expertenkreis und wendet sich endgültig an die Öffentlichkeit. Drei exemplarische Orte im Ruhrgebiet werden – ökologisch korrekt mit einem Tagesticket des Verkehrsverbundes Rhein Ruhr – besucht. Die jeweils etwa 150 Zuhörer bekommen einen Knopf ins Ohr und können so den Gesprächen der mit einem Funkmikrofon ausgestatteten, zügig voranschreitenden lokalen Experten zuhören. Das ist pfiffig gemacht und vermeidet langes Herumstehen und Warten. Gemeinsam mit Schuldirektor Walter Bald führt der Architekt Karl-Heinz Petzinka, in signalhaftes Kongress-Orange gekleidet, durch den ersten Ort: Die Erich-Kästner-Schule in Bochum, be­ wusst auf halbem Weg zwischen Innenstadt und Ruhr-Universität gelegen, war 1972 –1974 als Prototyp einer Gesamtschule errichtet worden. Sogar eine Sternwarte nach dem Vorbild sowje­ tischer Konstruktivisten hatte sie bekommen, was sie nun allerdings auch nicht retten wird: Der Bau wird abgerissen, ein kleinerer, architektonisch unauffälliger Neubau auf einem Nachbargrund­ stück wird das zu groß gewordene und PCBbelastete Waschbeton-Lernuniversum aus den Siebzigern ersetzen. Sanierung und Umbau sind für die örtlichen Akteure offenbar völlig undenk­ bar. Wie steht es da mit der Nachhaltigkeit? In der Gelsenkirchener Fußgängerzone stau­ nen die Baukultur-Wanderer nicht schlecht, als ihnen neben dem Stadtbaurat Michael von der Mühlen noch ein weiterer Experte am Mikrofon vorgestellt wird: Monsignore Paas, Pfarrer der katholischen Innenstadtgemeinde Sankt Augus­ tin, bringt eine sehr erweiterte Perspektive auf die Baukultur ein, in der es hauptsächlich um sozialen Wandel, Obdachlosenhilfe und Migration geht –

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03__ Das Abschlusspodium des ersten Konventtages, von links: Matthias Sauerbruch, Oda Scheiblhuber (verdeckt), Michael Braum, Luzia Braun (Moderatorin), Hans-Peter Andrä, Rosemarie Wilcken, Julian Nida-Rümelin.

und um „Angsträume“, in die sich ältere Leute nicht mehr trauen, oder auch um Stadtteile, in denen es keine Katholiken mehr gibt. Keine Katholiken mehr, und überhaupt weni­ ger Bewohner: Wer „schrumpfende Städte“ vor allem für ein Phänomen ostdeutscher Regionen hält, der erfährt nun, dass das Ruhrgebiet eben­ falls Einwohner verliert. Auch hier hatte man dies lange nicht wahrhaben wollen. Noch Mitte der 1970er Jahre ging der Bau der Essener U-Bahn von der Ruhrmetropole als Millionenstadt aus, geben Jürgen Best, Essener Stadtplaner, und Stefan Hilterhaus vom PACT Zollverein, am dritten und letzten Exkursionsort des Konvents zu be­ denken. Heute wohnen hier 580.000 Menschen, entsprechend überdimensioniert wirken Tunnel und Zugangsbauwerke. Der soeben umgebaute Essener Hauptbahnhof sei eine Shopping-Mall mit Gleisanschluss geworden, klagen die einen.

Dies müsse ja nicht automatisch negativ konno­ tiert sein, sagen andere. Doch bei der Exkursion in Essen wird schnell klar, dass es im mit Laden­ flächen vollgebauten Bahnhof an Orientierung fehlt. Bahnhofsuhr und Zuganzeiger sind kaum zu entdecken, und an den beiden Ausgängen findet sich der Besucher mit tosenden Verkehrs­ straßen konfrontiert. Ebenso übereinstimmend das Urteil der Betrachter: Schuld daran sei wohl die mangelnde Abstimmung zwischen Stadt und Bahn – und das Renditestreben ihrer Netz­­tochter. Die Stadt hat jedenfalls zur Kompen­ sation am Südausgang des Bahnhofs zwei wuchtige Eingangspavillons gebaut. Immerhin wurde so die dort ansässige Trinkerszene ver­ trieben. Soll man den Gewinn für die Kultur des öffentlichen Raums loben – oder die Vertreibung bestimmter Nutzergruppen beklagen? Wessen Kultur ist die Baukultur?

Debatten um die Baukultur des Öffentlichen

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04__ Baukultur auf Augenhöhe in der Erich-Kästner-Schule, Bochum.

05__ Öffentliche Diskussionen um die Baukultur am Essener Hauptbahnhof.

Kultur der Kommunikation

Bei dem Philosophen Nida-Rümelin ist Baukultur „Gestaltung gebauter Räume“ – eigentlich eine typische Architektensicht. Der Architekt Sauer­ bruch hingegen spricht von „Vernetzung“, einem Begriff also aus dem Sozialen, auch der politi­ schen Sphäre. Verkehrte Welt bereits am ersten Tag des Konvents? Auch die Panelgruppen haben diese Gegensätze deutlich hervortreten lassen. Gestalter gegen Betroffene, Kundige gegen Laien. So sieht sie aus, die Realität im Planungsund Baugeschehen. Wenn Baukultur also überhaupt definiert werden kann, dann hat sie nur vordergründig mit Gestalt, mit Raum, mit Schönheit zu tun. Im wei­ teren Sinne bedarf der Begriff einer Ausweitung in Richtung von Abläufen, Prozessen. Es geht um die Kommunikation aller Beteiligten. In diesem Sinne hat der Konvent unbedingt zur Hebung der Baukultur beigetragen.

Der Konvent ist zu Ende, die Veranstalter sind zufrieden. Das Echo in den Feuilletons der über­ regionalen Presse allerdings ist entweder dürftig oder im Urteil durchwachsen, zumeist beides. Kurz angebunden fragt die Frankfurter Rundschau: „Haben wir keine anderen Sorgen?“ Gegenfrage: Was wäre, wenn es den Konvent nicht gegeben hätte? Immerhin konnten 350 Multiplikatoren des Bauwesens von hier Anregun­ gen und Auseinandersetzungen mit nach Hause nehmen, die sie, so das Idealmodell, weiterver­ breiten und auf Entscheidungen in ihrem Einfluss­ bereich einwirken lassen. Das ist nicht nichts. Wer hingegen erwartet hatte, dass ein solcher Kongress eine unmittelbare, greif- und benenn­ bare Folge für das Baugeschehen haben würde, der musste natürlich enttäuscht sein. So etwas kann und will ein Kongress nicht erreichen. Dafür sind zu viele verschiedene Akteure beteiligt, die keineswegs alle dieselben Ziele verfolgen. Oft genug stehen ihre Interessen einander sogar diametral entgegen. Nicht jeder, auch nicht jeder berufene Konventteilnehmer, versteht unter Baukultur dasselbe. Dieses deutlich gemacht zu haben, ist für mich persönlich das größte Ver­ dienst der Essener Veranstaltung.

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Um ein breites Meinungsbild relevanter Stimmen über die Inhalte des Konvents der Baukultur zu erhalten, initiierte die Bundesstiftung Baukultur die Nachdebatte mit unterschiedlichen Instrumenten. Sie führte einen Online-Dialog unter den Konventsberufenen durch, fragte Stellungnahmen bei kommunalen Spitzenverbänden ab und wertete die Resonanz in der Presse aus. Im folgenden Beitrag sind wesentliche Positionen dieser Debatten inhaltlich gegliedert zusammengestellt.

Bernhard Heitele

Die Nachdebatte Wer trägt Verantwortung für Baukultur?

Die Bundesstiftung Baukultur ist als reine Kommunikationsstiftung und nicht als Förder­ stiftung ins Leben gerufen worden. In diesem Selbstverständnis ist es ihr ein besonderes Anliegen, baukulturelle Debatten zu initiieren und den daraus entstehenden Diskurs auf unterschiedlichen Ebenen in der Öffentlichkeit zu führen. Um anschließend an die Debatten auf dem Konvent ein breites Spektrum von Auseinandersetzungen über den Konvent zu erhalten, bediente sich die Stiftung dreier unterschied­licher Instrumente der Nachdebatte: Zum einen führte sie einen Online-Dialog zwischen Konventsmitgliedern und ausgewählten Experten durch, zum anderen fragte sie Stellungnahmen bei kommunalen Spitzenverbänden an, und schließlich wertete sie die Medienresonanz auf den Konvent aus. Um die zum Konvent veröffentlichten und dort erörterten „baukulturellen Herausforderungen“ zu den Themen Bildung, Freiräume und Verkehr vertiefend zu diskutieren und weiterzuentwickeln, richtete die Bundesstiftung für die Berufenen im Anschluss an den Konvent einen Online-Dialog ein. Im „Forum Baukultur“ sollten die Berufenen gemeinsam mit Experten unterschiedlicher Diszi-

plinen von Mai bis August 2010 die beim Konvent in Essen begonnene Debatte über die Baukultur des Öffentlichen weiterführen und zu konkreten und umsetzungsbezogenen Empfehlungen qualifizieren. Ergänzend dazu übergab die Bundesstiftung der Bauministerkonferenz, dem Deutschen Städtetag sowie dem Deutschen Städte- und Gemeindebund die „baukulturellen Herausforderungen“ mit der Bitte, diese zu kommentieren und zu ergänzen. Im Folgenden werden Ergebnisse des OnlineDialogs sowie der angefragten Stellungnahmen in Zitaten zusammengefasst und durch Darstellungen in der Tages- und Fachpresse ergänzt. Auf diesem Weg kann mit beispielhaften Positionen ein Einblick in die Nachdebatte des Konvents im Sinne eines breiten Meinungsbildes gegeben werden. Dieser gliedert sich inhaltlich in Reaktionen zum Konvent selbst, Kommentare zu den drei Referenzthemen des Konvents sowie abschließende Überlegungen zur Aufgabe der Bundesstiftung. Der Beitrag verfolgt das Ziel, relevante Aspekte über die Baukultur des Öffentlichen in Deutschland schlaglichtartig wiederzugeben und darüber hinaus die Rolle der noch jungen Bundesstiftung zu reflektieren.

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Der Konvent der Baukultur K–2010 am 16. April 2010 in Essen

Dankwart Guratzsch, Architekturkritiker, Frankfurt am Main: „Eines muss man der Stiftung Baukultur lassen. Sie hat es in den drei Jahren ihres Bestehens verstanden, eine gesellschaftliche ‚Blütenlese‘ von Persönlichkeiten aller Berufe für die Mission zu mobilisieren, die ihr von der Bundesregierung auferlegt wurde.“ (Dankwart Guratzsch: „Unmögliche Bahnhofsmission“, in: Die Welt, 21. April 2010 )

Benedikt Kraft, Redakteur DBZ, Bielefeld: „Dreihundertfünfzig waren geladen, dreihundertfünfzig gekommen: Architekten, Städteplaner, Kritiker, Medienvertreter, Lehrende, Kulturschaffende, Beobachter, Dezernenten und Amtsleiter, Emeritierte und Aktive, Mitglieder der Landesparlamente und des Bundesparlaments, Junge, aber wie immer auch noch viel mehr weit jenseits der Fünfzig. Das große Palaver fand nicht statt (...)“ (Benedikt Kraft: „Toleranz aus Respekt“, in: Deutsche Bauzeitschrift DBZ, Heft 5, 2010, S. 14 )

Jan Mücke, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Berlin: „Die Bundesstiftung Baukultur ist zu einer arbeits­ fähigen Kommunikationsplattform in Sachen Baukultur geworden. Der Konvent ist ihr ‚Parlament’. Mit der ‚Baukultur des Öffentlichen’, so der Titel des Konvents 2010, wird Baukultur als Thema aus der Mitte des Lebensalltags der Menschen aufgerufen. (...) Seit die Bundesstiftung Baukultur vor drei Jahren ihre Arbeit aufgenommen hat, entwickelt sie sich zu einer unabhängigen, länderübergreifenden, international wahrgenommenen Einrichtung und bildet heute einen wichtigen Ansprechpartner in Sachen Baukultur in Deutschland.“ ( Jan Mücke: „Bundesstiftung fördert Baukultur mit breiter Plattform“, in: Pressemitteilung von Jan Mücke am 16. April 2010 )

Jörg Biesler, Journalist, Köln: „Grundsätzliche Erwägungen wie die des Münchner Philosophen und ehemaligen Kulturstaatsministers Julian Nida-Rümelin strengten den Konvent hörbar an. Seine nicht ganz neuen begriffsphilosophischen Betrachtungen über Kultur und Natur, Ethik und Ästhetik, Lebensform und Raum hätten ein Ansatz sein können, darüber zu sprechen, was das Kulturelle beim Bauen eigentlich sein könnte. Diese Chance ließ der Konvent ungenutzt verstreichen. Wo waren die Künstlerinnen und Künstler, die sich mit dem Öffentlichen beschäftigen, auf einem solchen Konvent? Wo junge Büros, die abseits von Auftragsarchitektur und Kommerz den geforderten Idealismus mitbringen?“ ( Jörg Biesler: „Sonntagsreden braucht kein Mensch“, in: Frankfurter Rundschau, 19. April 2010)

Jens Karstedt, Präsident der Bundesingenieurkammer, Berlin: „Der diesjährige Konvent hat gezeigt, dass die Stiftung Baukultur umstrittene Themen anzupacken sich traut. (...) Diskutiert wurden Projekte, deren Ziel es ist, baukulturelle Qualitätsstandards und öffentliche Gebäude, unsere Freiräume und die Verkehrsinfrastruktur miteinander zu vereinbaren. Braum hat dabei die Ingenieure zu erwähnen nie vergessen, im Gegenteil, er hat die Architekten aufgefordert, die Ingenieure so oft wie möglich und so früh wie möglich mit ins Boot zu nehmen, damit der interdisziplinäre und nutzerbezogene Prozess der Schaffung von Baukultur sich dem alltäglichen Bau-Usus nähere.“ ( Jens Karstedt: „Bundesstiftung Baukultur fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit“, in: Deutsches Ingenieurblatt, Heft 6, 2010, S. 6 )

Martin Prominski, Landschaftsarchitekt, Hannover: „Aus Sicht der Landschaftsarchitekten ist das bemerkenswerteste Ergebnis des Konvents Baukultur die Selbstverständlichkeit von Landschaftsarchitektur. Ob von Politikern oder Architekten, alle Reden bezogen die Landschaftsarchitektur explizit in den Kanon der für die Baukultur Tätigen ein (...)“ ( In: Petra Baum: „Konventioneller Konvent“, in: Landschaftsarchitekten, Heft 2, 2010, S. 28 )

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Heitele

Benedikt Kraft, Redakteur DBZ, Bielefeld: „Es gab keine Forderungen nach der Ablösung einer Ästhetik des Mobilitätszwanges, keine Forderungen nach der Wiederherstellung des Öffentlichen im öffentlichen, sektionierten, mehr und mehr elektronisch überwachten Raum. Keine Aufrufe, Bildung in die öffentlich-rechtlichen Medien zurückzufordern, keinen Beschluss, Thesen zur Baukultur über ein Referendum in der Bevölkerung auf ihre Relevanz hin abzuklopfen. Der in diesem Zusammenhang ganz unverfroren geäußerte Satz, der Bürger sei vielleicht doch einfach zu dumm für eine hinreichende Baukultur, beschreibt augenfällig das Problem; Partizipation ja, aber ausschließlich in Kulturprojekten auf Stadtteilebene.“ ( Benedikt Kraft: „Toleranz aus Respekt“, in: Deutsche Bauzeitschrift DBZ, Heft 5, 2010, S. 14)

Dialogische Spaziergänge mit der Bevölkerung am Tag der Öffentlichkeit am 17. April 2010 Martin Prominski, Landschaftsarchitekt, Hannover: „Der zweite Tag ‚Baukultur des Öffentlichen’ mit geführten Spaziergängen bspw. durch die triste Gelsenkirchener Fußgängerzone, zusammen mit den Bürgern, regte an und auf – mit diesen unkonventionellen Formaten sollte zukünftig der Konvent Baukultur experimentieren, um Berufene, Bürger und Orte zusammenzubringen und neue Ideen zu entwickeln.“ ( In: Petra Baum: „Konventioneller Konvent“, in: Landschaftsarchitekten, Heft 2, 2010, S. 28 )

Sabine Schneider, Redakteurin Baumeister, München: „Hier vor allem spürte man das große Bedürfnis der Nutzer der Schule, der Fußgängerzone und des Bahnhofs über ihre örtliche Baukultur oder -unkultur zu sprechen. Sie ist den Bürgern eben nicht egal. Es offenbart sich eine wahrhaft wichtige Aufgabe für die Stiftung und ein weites Betätigungsfeld: Nicht der Dialog unter Fachleuten ist vordringlich, da dies die Kammern und Verbände übernehmen können,

auch muss nicht dringend die internationale Aufmerksamkeit für das Bauen in Deutschland geweckt werden, wie in der Satzung steht, sondern es ist die Schnittstelle zwischen Architektur und Öffentlichkeit, die fehlt: aufmerksam machen, hingucken lernen und im besten Falle sich einmischen.“ (Sabine Schneider: „Baukultur trifft Öffentlichkeit“, in: Baumeister, Heft 5, 2010, S. 18 –19)

Bertram Weisshaar, Spaziergangsforscher, Leipzig: „Durch diese Begegnungen mit konkreten Orten und Atmosphären und durch die Kommentare von der Straße fand diese ‚Konferenz in Fortbewegung’ zu sehr anschaulichen und unmittelbaren Eindrücken, die in den mehrfach eingeschobenen Diskussionsräumen unmittelbar reflektiert wurden. Mit diesem Konvent probte die Bundesstiftung eine Tagungskultur, die für Konferenzen zum Themenfeld Bauen und Stadtentwicklung eigentlich zu einem Standard werden könnte.“ ( Bertram Weisshaar: „Baukultur erfrischt Tagungskultur“, in: www.spaziergangswissenschaft.de, 18. April 2010)

Kommentare zu Herausforderungen im Panel „Worauf baut die Bildung?“ Christiane Thalgott, ehem. Stadtbaurätin in München: „Die gemeinsame Verantwortung aller Betroffenen für den Bau einer Schule ist eine wichtige Voraussetzung für eine schöne und gute Schule. Ein Bauteam ist eine gute und sicher produktive Idee. Außer Schülern, Lehrern und Schul- und Bauverwaltung, gehören auch Elternvertreter und örtliche Politiker dazu, und die Architekten. Die Architekten sollten keinesfalls die Moderation übernehmen. Das muss ein Außenstehender machen. Architekten sind eindeutig Partei in dem Prozess und daher für die Moderation ganz ungeeignet. Auch Zuhören und Kompromisse suchen und finden, oder einfach andere und neue Lösungen erarbeiten, ist nicht immer ihre Stärke, denn manches Mal eher nervtötend (...)“ ( Im Online-Dialog K – 2010, 19. Juni 2010)

Die Nachdebatte

Olaf Bartels, Architekturkritiker, Hamburg/Berlin: „Die Formfindung für Gegenstände, Räume oder Bauten sollte nicht mit allzu bürokratischen Verfahren verwechselt werden können. Letzteres ist meist der Ausdruck von Unsicherheit und Misstrauen, was dann überwunden wird, wenn es allen Planungs- und Baubeteiligten gelingt, sich auf die (in einem sehr umfassenden Sinne verstandene) Form des Bauwerkes, seiner Einrichtung und seiner Umgebung zu verständigen. Letztendlich muss es beim Bauen in der Öffentlichkeit ja darum gehen, eine gute und lebenswerte bauliche Umgebung zu schaffen. Da wird man ohne Formwillen (und zwar dem aller Beteiligten) nicht auskommen.“

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Kommentare zu Herausforderungen im Panel „Wie findet Freiraum Stadt?“ Harald Heinz, Architekt und Stadtplaner, Aachen: „Innovation erfordert Experimentierfelder. Regelwerke dienen hier als Leitlinien. Je größer ihr Geltungsbereich ist, umso großzügiger müssen sie ortsspezifisch interpretiert werden. Die Bündelung interdisziplinär zusammenarbeitender Kompetenzen setzt dabei gestalterische Potentiale frei, die zu bisher unbekannten Lösungen – und auch zu entsprechenden Erweiterungen oder Änderungen des Regelwerks – führen können.“

(Im Online-Dialog K – 2010, 6. Juli 2010)

(Im Online-Dialog K–2010, 11. August 2010)

Bernd Düsterdiek /Norbert Portz, Deutscher Städte- und Gemeindebund, Bonn:

Christiane Thalgott, ehem. Stadtbaurätin in München:

„Aus Sicht der Städte und Gemeinden ist zu beachten, dass die ‚Herausforderung Bildung’ als Querschnittsaufgabe verstanden werden sollte. So fehlt in der Praxis oftmals die Einbindung der Stadtplaner im Rahmen des Neubaus beziehungsweise der Sanierung von Schulgebäuden. Neben der Planung sowie baulichen Erstellung beziehungsweise Veränderung von Gebäuden ist es unbedingt erforderlich, das Umfeld des Standortes mitzubetrachten, einschließlich Wegebeziehungen, der Verkehrsanbindung sowie Busanbindungen.“

„Ohne gesamtstädtische Strategien bleiben alle Freiraumplanungen unverständliches und nicht vermittelbares Flickwerk. Weder lassen sich innerstädtische Plätze noch große Grünflächen ohne Einfügung in ein Gesamtkonzept richtig und gut gestalten noch in richtiger Weise pflegen.“

(Aus der Stellungnahme des Deutschen Städte- und Gemeindebundes zu baukulturellen Herausforderungen zur „Baukultur des Öffentlichen“, 17. September 2010)

„Solange es den Städten nicht gelingt, die als Folge der neoliberalen Entstaatlichung verlorene Gestaltungs- und Planungshoheit wieder zurückzugewinnen, werden die formulierten Herausforderungen hehre Ziele bleiben. Es gilt, den Einfluss von Groß­ investoren und Interessengruppen zurückzudrängen, auch und gerade in Zeiten der öffentlichen Finanz­not. Es gibt genügend Beispiele für hervorragende Stadtplanung und öffentliche Bauten selbst in den Zeiten der Wirtschaftskrise der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Urbane Strukturen sind eine öffent­liche Aufgabe und in gewisser Hinsicht auch ‚Allgemeingut’, sozusagen für Städte ein ‚Lebens­ mittel’. Es gilt immer noch und immer wieder: Investoren bauen Häuser aber keine Städte. Also eine dringende Aufforderung an Gemeinderäte, Oberbürgermeister und Baubürgermeister: mehr Mut.“

( Im Online-Dialog K–2010, 19. Juni 2010)

Wolfried Wenneis, Chemiker, Mannheim:

( Im Online-Dialog K–2010, 14. August 2010 )

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Heitele

Kommentare zu Herausforderungen im Panel „Wo verkehrt die Baukultur?“ Dankwart Guratzsch, Architekturkritiker, Frankfurt am Main: „Weder (der Bahnhofsvorplatz in) Frankfurt, noch (der Bahnhof in) Essen sind der baukulturelle ‚Skandal’ der Bundesrepublik. Es ist viel trauriger: Sie sind der Alltag. Und wenn die Prognosen des Essener Kongresses nicht fehlgehen, drohen sie noch viel alltäglicher zu werden. Die Hungerkur der öffentlichen Haushalte, so die vom ‚Establishment’ dieses Kongresses immer wieder beklatschte Warnung, droht zu einer Hungerkur auch und gerade für die Baukultur zu werden. Deren ‚fette Jahre’ scheinen vorbei, ohne dass – mit Ausnahmen wie vielleicht in Berlin – Gestaltung passiert wäre. Die ästhetische Magersucht, die nichts mehr kennt als funktionale Abläufe und ökonomische Rationalisierung, reduziert das Bauwerk auf das Gestell. Aber Baukultur ist kein Fettpolster, das die Gesellschaft ohne Identitätsverlust abspecken kann.“ ( Dankwart Guratzsch: „Unmögliche Bahnhofsmission“, in: Die Welt, 21. April 2010)

Christiane Thalgott, ehem. Stadtbaurätin in München: „Verkehrsinfrastruktur als Teil der Stadt denken und nicht nur die Sicherheit sehen. Da müssen wir uns mal mit den Rechtsprechenden an einen Tisch setzen. Denn solange in jedem Verkehrs- und Unfall­ prozess die Sicherheitsanforderung an die öffent­ lichen Einrichtungen erhöht werden, solange kann es nicht erfolgreich sein, persönlichen Mut der Regel­ exegeten zu fordern. Die Regeln und das ihnen zugrunde liegende Verständnis müssen geändert werden.“ (Im Online-Dialog K– 2010, 20. Juni 2010)

Jens Karstedt, Präsident der Bundesingenieurkammer, Berlin: „Auf dem Konvent wurde auch deutlich, dass mit dem Bau von Verkehrsinfrastrukturen nur in seltenen Fällen der Versuch unternommen werde, ‚Stadt zu schaffen’, obwohl doch derartige Qualitäten den baukulturellen Standard markieren müssten, damit unsere Städte das Bewusstsein unserer Gesellschaft in seiner Vielfalt und Komplexität angemessen widerspiegeln.“ (Jens Karstedt: „Bundesstiftung Baukultur fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit“, in: Deutsches Ingenieurblatt, Heft 6, 2010, S. 6)

Roland von Wölfel, Bauingenieur, Leipzig: „Für kleine und mittelgroße Städte und bei schwierigen Baugrundverhältnissen sind U-Bahnen oft unwirtschaftlich. Hier haben Straßenbahnen als öffentliche Verkehrsmittel Vorteile (umweltfreundlicher als Busse). Um die Akzeptanz zu erhöhen und kurze Wege zu ermöglichen, muss die Straßenbahn in den öffentlichen Raum integriert werden. Dass das funktionieren kann, zeigt die Innenstadt Erfurt, wo sich Straßenbahn, Fahrräder, Fußgänger und Lieferverkehr ohne Probleme den Raum teilen und die Fußgängerzone mit Geschäften auch mit (oder sogar wegen) der Straßenbahn attraktiv ist.“ ( Im Online-Dialog K–2010, 14. Juni 2010)

Bernd Düsterdiek/Norbert Portz, Deutscher Städte- und Gemeindebund, Bonn: „Gestalterische Anforderungen an die Verkehrsinfrastruktur werden sich – über Standardanforderungen hinaus – nur dann realisieren lassen, wenn sowohl die öffentliche Hand als auch private Dritte, insbesondere die Nutzer der Infrastrukturen, an der Finanzierung beteiligt werden. Anderenfalls wird es nicht gelingen, neue Akzente bei der Gestaltung zu setzen.“ (Aus der Stellungnahme des Deutschen Städte- und Gemeindebundes zu den baukulturellen Herausforderungen zur „Baukultur des Öffentlichen“, 17. September 2010)

Die Nachdebatte

Aufgaben und Rolle der Bundesstiftung Baukultur Andreas Rossmann, Redakteur, Köln: „Genau darum geht es: um divergierende Interessen, Einzelentscheidungen und gruppendynamische Ansprüche, die die Gestaltung auf der Strecke bleiben und kein anspruchsvolles Ganzes zustande kommen lassen.“ ( Andreas Rossmann: „Hat Deutschland eine lange Bauleitung?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. April 2010 )

Jens Karstedt, Präsident der Bundesingenieurkammer, Berlin: „Braum war es aber, der die Brücke schlug: Wenn wir in Deutschland, so sein Diktum, eine neue oder bessere Baukultur entstehen lassen wollen, dann müssen wir uns alle an einen Tisch setzen, voran die Bauherren, denn sie bestimmen den Preis, für den gebaut wird, und sie haben den Einfluss darauf, mit welcher Qualität gebaut wird.“ ( Jens Karstedt: „Bundesstiftung Baukultur fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit“, in: Deutsches Ingenieurblatt, Heft 6, 2010, S. 6)

Jörg Biesler, Journalist, Köln: „Wenn die Stiftung Wirkung haben will, darf sie aber auch nicht länger versuchen, es allen recht zu machen. Sie wird nicht darum herumkommen, unbequem zu sein und, wie es Karl Ganser, der einstige Chef der IBA Emscherpark und wichtigste Initiator der Stiftung, gefordert hatte, ein Schwarz-Weiß-Buch zu veröffentlichen, in dem sie lobt wie auch tadelt.“ (Jörg Biesler: „Sonntagsreden braucht kein Mensch“, in: Frankfurter Rundschau, 19. April 2010)

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Hartmut Thielen, Deutscher Städtetag, Köln: „Die Arbeit der Stiftung Baukultur muss langfristig angelegt sein, um Wirkung entfalten zu können. Die Initiative muss aber auch Projekte enthalten, die von der Erkenntnis ausgehen, dass das Bewusstsein um Baukultur gelernt werden muss. Das heißt, mit der Initiative auch in die Schulen zu gehen. Schon bei den Kindern und Jugendlichen müssen Bewusstsein und Urteilsfähigkeit für die Qualität gebauter Umwelt geschaffen werden. Die Bundesstiftung Baukultur muss Ziele formulieren, die zwischen allen an der Initiative Beteiligten zu vereinbaren sind. Eine solche Baukulturpolitik soll Grundsätze und Leitlinien für Städtebau und Architektur, den Denkmalschutz und alle Facetten des Planens und Bauens enthalten. Sie muss darauf gerichtet sein, das öffentliche Interesse an Baukultur, Städtebau und Architektur zu steigern, die Vorbildfunktion öffentlicher Bauvorhaben zu sichern, das baukulturelle Erbe zu wahren und die Bürger an öffentlichen Planungsaufgaben zu beteiligen.“ (Aus der Stellungnahme des Deutschen Städtetages zu Herausforderungen der „Baukultur des Öffentlichen“, 6. Oktober 2010)

Annette Dupper, Landschaftsarchitektin, Bad Friedrichshall: „Jedes Mitglied ist nun gefordert, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten und seiner Profession für Baukultur einzusetzen – dabei fühlt man sich derzeit noch etwas ‚allein gelassen’. Doch unter dem Schirm der Bundesstiftung hat dieses Engagement sicherlich mehr Gewicht in der Außenwirkung.“ ( In: Petra Baum: „Konventioneller Konvent“, in: Landschaftsarchitekten, Heft 2, 2010, S. 28)

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Im Folgenden benennt die Bundesstiftung Baukultur, schlussfolgernd aus den aus dem Konvent gewonnenen Erkenntnissen, baukulturelle Herausforderungen für die Baukultur des Öffentlichen. Die für das Bauen für die Bildung, den öffentlichen Raum und die Verkehrsinfrastruktur formulierten und in den Bänden 1 bis 3 des Berichts der Baukultur abgedruckten Herausforderungen werden im Hinblick auf ihre Wechselwirkung an Erkenntnissen aus dem Konvent K–2010 reflektiert. Daraus ergeben sich Empfehlungen, die hier im Einzelnen aufgeführt sind.1, 2

Michael Braum

Empfehlungen und Ausblick Der Konvent K–2010

Verantwortung ernst nehmen Das verantwortungsvolle Handeln aller Beteiligten ist die wichtigste Voraussetzung für ein quali­ tätvolles Bauergebnis, mit dem der Bedeutung von Baukultur für unser Gemeinwohl Rechnung getragen wird. Dies geht nur dann, wenn persön­ liche Verantwortung an die Stelle der über die Jahrzehnte perfektionierten Reglementierungen tritt. Im Einzelfall berechtigte Partikularinteressen oder sektorale Betrachtungen müssen gemein­ samen Zielvorstellungen untergeordnet werden. Mit dem Aufbau integrativ angelegter Personal­ strukturen innerhalb der Verwaltung muss ein Abbau von bürokratischen Strukturen einherge­ hen. Dabei muss das Ziel sein, bei administrativen und fachlichen Veränderungen der Planungs- und Baudezernate, Persönlichkeiten zu unterstützen, die durch ihr individuelles, emotionales, soziales und gestalterisch sicheres Engagement bau­ kulturelle Prozesse initiieren. Kaspar Kraemer,

Architekt und Mitglied des Beirats der Bundes­ stiftung Baukultur, spitzte diese Forderung auf dem Konvent 2010 folgendermaßen zu: „Ob das die Brückenbauwerke der Bahn sind, ob das die Zustände der Bahnhöfe sind, ob das die Straßen sind – da fehlt überall der ästhetische Anspruch, und der muss installiert werden.“ Um dies zu erreichen, müssen projektbezoge­ ne, interdisziplinäre Arbeitsgruppen grundsätzlich Entscheidungen vorbereiten. Ob bei Schulbau-, Freiraum- oder Verkehrsprojekten, nur wenn alle Ressorts, Disziplinen und Akteure von Anfang an beteiligt und auch die Nutzer frühzeitig eingebun­ den werden, wird Fachwissen und Verantwortung anerkannt. „Wir brauchen am Anfang eine richtig integrierte, interdisziplinäre Planung, die dann von der Verwaltung auch wirklich getragen wird“, forderte diesbezüglich Karen Eisenloffel, Bauinge­ nieurin aus Berlin. Erst das Austarieren von Interessen bildet die Grundlage für eine anspruchsvolle Gestal­

1. __ Vgl. Michael Braum: „Herausforderung Bildung“, in: Michael Braum, Oliver G. Hamm (Hg.), Bildung. Worauf baut die Bildung? Fakten, Positionen, Beispiele. Bericht der Baukultur 2010, Band 1, Basel 2010, S. 130; Michael Braum: „Herausforderung urbane Freiräume“, in: Michael Braum, Thies Schröder (Hg.), Freiraum. Wo findet Freiraum Stadt? Fakten, Positionen, Beispiele. Bericht der Baukultur 2010, Band

2, Basel 2010, S. 130; Michael Braum: „Heraus­­forderung Verkehrs­infrastruktur“, in: Michael Braum, Olaf Bartels (Hg.), Verkehr. Wo verkehrt die Baukultur? Fakten, Positionen, Beispiele. Bericht der Baukultur 2010, Band 3, Basel 2010, S. 130. 2. __ Alle im Text zitierten Äußerungen wurden auf dem Konvent K–2010 gemacht.

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tung. Exemplarisch empfiehlt die Bundesstiftung Baukultur im Rahmen jedes Schul- und Kinder­tagesstättenbaus „Baufamilien“ zu bilden, die die Realisierung begleiten. Die „Baufamilien“ setzen sich aus den Lehrenden, den Lernenden, Vertre­ tern der Administration und den Entwerfenden zu­ sammen. Ähnliche „Bauteams“ lassen sich auch im Rahmen der Realisierung unserer Freiräume oder Verkehrsinfrastrukturen erproben.

Raum für Dialog schaffen Planungskultur beruht auf dem Austausch zwi­ schen den Disziplinen und mit der Bevölkerung. Daher muss das fachübergreifende Gespräch „auf Augenhöhe“ unter Akzeptanz der spezifi­ schen Kernkompetenzen geführt werden. Die notwendige Transparenz gegenüber der Öffent­ lichkeit erfordert den frühzeitigen und kontinuier­ lichen Dialog zwischen Planenden und Nutzen­ den. Gabriele Kiefer, Landschaftsarchitektin und Professorin an der TU Braunschweig, ist sich in diesem Zusammenhang sicher: „Die Stadtplaner, die Architekten, die Landschaftsarchitekten sind die Fachleute für Gestaltung und die Leute vor Ort haben die Nutzungs- und Ortskompetenz.“ Baukultur hat nur eine Chance in einem Umfeld, das von einem Bewusstsein für die Qualität unse­ rer gebauten Umwelt gekennzeichnet ist. Voraus­ setzung dafür ist ein baukulturelles Verständnis aller Beteiligten, bei der Bevölkerung ebenso wie bei den Entscheidungsträgern und den Planern. Peter Ess, der ehemalige Hochbauamtsdirektor der Stadt Zürich, stellte dazu fest: „Wir verstehen uns eigentlich als Treuhänder unseres kulturellen Erbes.“ Ein Verständnis für Baukultur setzt eine Grundbildung über die gebaute Umwelt und ihre Prozesse voraus. „Planer, aber auch Politiker und Bürger sollten für das, was wir den öffentlichen Raum nennen, Kommunikationsstrategien entwi­ ckeln, damit in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich wird, dass man in diese Räume investie­ ren muss“, stellte Jochem Schneider, freischaffen­ der Stadtplaner aus Köln, dazu fest. Mit der Komplexität der Herausforderungen steigt die Bedeutung professioneller Modera­ tion von Dialog- und Kooperationsprozessen. „Beteiligungsverfahren müssen genauso von Professionellen gemacht werden, wie Ästhetik und Entwurf“, betonte der Wiener Stadtsoziologe Jens Dangschat. Grundlage dafür ist ein kontinu­ ierlicher Austausch zwischen den verschiedenen Akteuren auf der fachlichen Ebene. Hinzu kommt

der Anspruch, Nutzerkompetenzen anzuerkennen und frühzeitig in die Prozesse zu integrieren. Vor allem bei Bildungsbauten ist eine institutionalisier­ te Diskursplattform zu den Zusammenhängen von Pädagogik und Baukultur dringend geraten. Die Bundesstiftung empfiehlt, Kompetenzzentren „Bildung und Bauen“ auf Länderebene einzurich­ ten, die perspektivisch durch ein Schulbauinstitut des Bundes ergänzt werden. Aufgabe dieser Kom­ petenzzentren wäre beispielsweise der Aufbau einer Datenbank „Good Practice im Schulbau“. „Die Bildung von derartigen Kompetenzzentren, auf deren Erfahrungsschatz man bei einzelnen Wettbewerben und Gebäuden zurückgreifen kann“, ist nach Meinung des Leipziger Architekten Ansgar Schulz „der völlig richtige Weg“.

Planungs- und Verfahrenskultur Die Zuständigkeiten für komplexe Bauprojekte verteilen sich auf unterschiedliche Ressorts. Sie betreffen grundsätzlich unterschiedliche Disziplinen. Daraus resultierende Schwierigkeiten erhöhen sich, wenn infolge verschiedener politi­ scher Verantwortlichkeiten divergierende Interes­ sen verfolgt werden. Will man der einseitigen Optimierung ver­ schiedener sektoraler Denkweisen entgegenwir­ ken, um über ein gebrauchsfähiges, ortsspezifi­ sches und gestalterisch anspruchsvolles Ganzes nachzudenken, bedarf es Verfahren, in denen aus Regelwerken Leitlinien werden und ein inter­ disziplinärer Dialog an die Stelle der sektoralen Ausführung tritt. „Ich finde es wichtig, dass man Städten Freiheiten lässt, vielleicht auch gegen Regelwerke zu verstoßen und vielleicht auch alternative Regelwerke für spezielle Orte entwi­ ckeln zu können“, betonte in diesem Zusammen­ hang Tim von Winning, Stadtplaner aus Tübingen. So gesehen müssen Problemlösungen weniger als die Erfüllung von Regeln, sondern vielmehr als die Bündelung von Kompetenzen verstanden werden, die gestalterische Potenziale freisetzen. Ganzheitliches Denken quer zu den Disziplinen in Projektteams muss zum selbstverständlichen Bestandteil jedes Projekts werden. Besonders bei Bildungs- und Verkehrsprojekten sind quan­ titative Vorgaben durch gestalterische Quali­ tätsmaßstäbe zu erweitern, bestätigt Hildebrand Machleidt, Stadtplaner und Architekt sowie Professor für Städtebau an der Leibniz-Universität Hannover: „Ich finde, die Priorität muss in Zukunft umgekehrt werden. Die einzige Chance, zu einer Balance zu kommen, ist zu sagen, wir wollen in

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Braum

erster Linie einen sehr guten öffentlichen Raum haben und unter anderem spielt sich dort Auto­ verkehr, Fahrradverkehr, Fußgängerverkehr und anderes mehr ab.“ Richtlinien müssen durch orts- und projektspezifische, qualitative Zielverein­ barungen ergänzt werden, die über das einzelne Projekt hinausweisen und seinen Kontext zum Ausgangspunkt machen. Interdisziplinär besetzte Wettbewerbe oder Mehrfachbeauftragungen in Form kooperativer Gutachterverfahren müssen vor allem beim Bau der Verkehrsinfrastruktur die Regel werden. Mit verschiedenen Professionen besetzte Beiräte der Baukultur in den Kommunen, in der Regel als Gestaltungsbeiräte bezeichnet, in denen auch respektierte Persönlichkeiten des öf­ fentlichen Lebens vertreten sein sollten, die nicht unbedingt „vom Fach“ kommen, werden von der Bundesstiftung als Voraussetzung angesehen, um den baukulturellen Diskurs in unseren Städten auf einem anspruchsvollen Niveau zu etablieren, baukulturelle Qualität zu sichern und Transparenz in Entscheidungsprozessen herzustellen.

Aus- und Fortbildung Die Umsetzung von Interdisziplinarität ist in der Ausbildung an den Universitäten und Hochschu­ len unzureichend verankert. Durch die Straffung der Studiengänge verlieren die gemeinsamen Grundlagen und Anliegen der Gestaltung unserer gebauten Umwelt zunehmend an Bedeutung. Das Entwerfen erfordert ein Verständnis für benach­ barte Disziplinen. Um diesen Anspruch einzulö­ sen, bedarf es Veränderungen in der Ausbildung. Ein sechssemestriger Bachelorabschluss ist dafür sicherlich nicht ausreichend. Nach Jahrzehnten der sektoralen Optimierung muss der Fokus wieder auf das Gemeinwohl und den Interessenausgleich gerichtet werden, eine Kernkompetenz des gestalterischen Denkens. „Wir müssen uns in der Exzellenz sehr viel mehr über das Thema Interdisziplinarität definieren, um bei den Fragen, die uns in den Städten beschäfti­ gen, gemeinsam weiterzukommen“, fordert Martin Haag, Verkehrsplaner und Baubürgermeister in Freiburg. Um sich ergänzende Kompetenzen inte­ grieren zu können, sind interdisziplinäre Koopera­ tionen im Studium wie im baukulturellen Alltags­ geschäft unverzichtbar. Gisela Steffens vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geht einen Schritt weiter und regt für den Bereich Bildungsbau an, Weiterbildungsmöglichkeiten an den Universitäten und Hochschulen zu schaffen,

die so interdisziplinär gestaltet sind, dass auch Pädagogen und andere Akteure mitwirken können.

Förderprogramme und -instrumente Förderprogramme beschränken sich im Allge­ meinen auf die Optimierung eines spezifischen Fördergegenstands. Sie werden in der Regel nicht im Kontext zusammenhängender Stadt- und Landschaftsräume gedacht. Hierin liegt eine der maßgeblichen Ursachen dafür, dass baukulturelle Qualitätsansprüche nur schwierig mit den förder­ rechtlichen Zielsetzungen in Einklang zu bringen sind. „Die geteilten Kompetenzen sind bei uns in Deutschland für das Lösen von Problemen in Schulen eher hinderlich. Den Bund kann man hier mit einbeziehen, wenn ich an die großen Pro­ gramme denke: was für eine Rangelei und was für ein Hickhack dann stattfindet, wie das Geld ausgegeben wird“, betont hierzu Ute ErdsiekRave, Vorsitzende des Expertenkreises „Inklusive Bildung“ der Deutschen UNESCO-Kommission. Förderprogramme müssen zukünftig auf Zielvor­ stellungen basieren, die das Zusammenwirken der die gebaute Umwelt prägenden Facetten zur Bedingung machen. Das heißt, dass die Förde­ rung nicht projekt-, sondern zielorientiert angelegt sein muss. Vergaberichtlinien für Fördergelder müssen den jeweils betroffenen Handlungsfel­ dern entsprechend angepasst werden. Dazu müs­ sen ressortübergreifende Finanzierungsmodelle entwickelt werden. Auch wenn baukulturelle Qualitäten zunächst keine Frage des Geldes sind, wird beim Ver­ gleich der Investitionen in Bildung und in Verkehr deutlich, dass es bei der Mittelverteilung Korrek­ turen mit dem Ziel bedarf, mehr Investitionen in die Ausstattung der Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen fließen zu lassen. Arno Lederer, Architekt und Professor für öffentliches Bauen an der Universität Stuttgart, beklagt: „Worunter die Baukultur der Bildung tatsächlich leidet, ist, dass sie eklatant unterfinanziert ist.“ Die Finanzierung der Infrastruktur für den motorisierten Individual­ verkehr erfordert nach Auffassung der Bundes­ stiftung Baukultur eine ausgeprägtere Berück­ sichtigung des Verursacherprinzips.

Identitätsbildung steigern Allzu oft werden Schulen, Verkehrsinfrastruktu­ ren, aber auch der weitaus größte Teil unserer Straßen und Plätze als funktionale Angelegenhei­

Empfehlungen und Ausblick

ten ohne identitätsprägenden Anspruch angese­ hen. In dem Maße, wie diese Räume und Bauten unseren Alltag prägen, müssen sie als integrierter Bestandteil dessen umgesetzt werden. So müssen Bildungsorte neben höchsten ästhetischen Ansprüchen funktional in ihren Kontext eingebunden sein. Nur so schaffen sie die Möglichkeit, der Gemeinschaft als räumlicher Mittelpunkt zu dienen, der sich außerhalb der Schulzeit anderen gesellschaftlichen Nutzungen öffnet. „Schulen sind sehr oft die einzigen quar­ tiersöffentlichen Institutionen und haben in archi­ tektonischer und städtebaulicher Hinsicht eine Kristallisationsaufgabe“, betont der Architekt und ehemalige Hochbauamtsdirektor der Stadt Zürich Peter Ess. „Unser Ziel ist es, dass Schulhäuser öffentliche Gebäude werden. Die Integration von vielen Quartiersaktivitäten führt zu Stabilität und zu Identifikationsstiftung bei den Bewohnern.“ Für jede Bauaufgabe ist es erforderlich, auf den spezifischen Ort ausgelegte Lösungen zu ent­ werfen, die aus dem Bezug auf die besonderen Anforderungen des Umfelds ihre gestalterische Kraft ziehen. Dabei muss es selbstverständlich sein, dass Identität auf Nutzeransprüchen ba­ siert. Besonders an der Schnittstelle zwischen Freiraum und Verkehrsanlagen sind Lösungen zu fördern, die einen lokalen Wiedererkennungswert ermöglichen. Eine Verkehrsinfrastruktur muss immer der Bedeutung als Umfeld eines Ortes ge­ recht werden. Über ihre Mobilitätsfunktion hinaus sind die Bauten der Verkehrsinfrastruktur die die öffentlichen Räume am stärksten konstituierenden Elemente. So prägen sie das Erscheinungsbild der Städte und Dörfer maßgeblich.

Atmosphären schaffen Ökonomische und sicherheitstechnische Rah­ menbedingungen prägen die Mehrheit der Bauwerke weit mehr als der Anspruch, in den Gebäuden eine auch emotional ansprechende Atmosphäre zu schaffen. Geld wird weit mehr in technische Ausstattung als in kreative Problem­ lösungen investiert. Richtlinien dienen zu Recht der Gefahrenabwehr, bestimmen diese aber die Gestaltung, führt das häufig zu einer normierten Ausführung und verschenkt gestalterische Mög­ lichkeiten. „Eine gute Regel hat noch nie gute Architektur gemacht und auch keine gute Lösung produziert. Selbst beste Regeln können nur das Allerschlimmste verhindern“, unterstreicht Chris­ toph Ingenhoven, Architekt aus Düsseldorf. Das Problem verschärft sich, da eine Vielzahl dieser

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Regeln nur Teilaspekte im komplexen Gefüge des Entwerfens und Bauens betreffen. Dies lässt sich aus Sicht der Bundesstiftung nur ändern, wenn der Entwurf des gebrauchsfähi­ gen, gestalterisch und atmosphärisch anspruchs­ vollen Ganzen vor der Ausarbeitung einzelner technischer Anforderungen an die Bauaufgabe steht. Das ist im Allgemeinen nicht die Regel. In einem iterativen Prozess gilt es, die Ansprüche zwischen technischen Anforderungen und ange­ nehmer Raumatmosphäre auszutarieren. Selbst bei Bildungseinrichtungen bleibt der Versuch, Atmosphäre zu schaffen, oft reine Kos­ metik. Anstatt aus unterschiedlichen funktionalen Anforderungen und Bedürfnissen differenzierte Räume zu entwerfen, werden Richtlinien durchex­ erziert und Erschließungsflächen minimiert. Glei­ ches gilt für die Freiraumplanung. Hier wird dem Pflegeaufwand ein höherer Wert beigemessen als der Aufenthaltsqualität. Stadt-, Landschaftsund Verkehrsraum wieder als Einheit zu begreifen gelingt nur dann, wenn das gleichberechtigte Zusammenwirken von gestalterischen, funktiona­ len, ökonomischen sowie sicherheitstechnischen Anforderungen zum baukulturellen Standard wird und so, trotz unterschiedlicher Geschwindigkei­ ten und Maßstäbe, ein „Recht auf Schönheit“ in den Räumen des Alltags eingefordert wird.

Konventsberufene als Korrespondenten für Baukultur Unabhängig davon, dass sich die Berufenen in ihrer alltäglichen Arbeit für Baukultur einsetzen, muss der Dialog mit den Konventsberufenen über den Konvent hinaus verstetigt werden. In der wei­ tergehenden Vernetzung mit den baukulturellen Initiativen vor Ort können die Berufenen die Bun­ desstiftung in unterschiedlicher Art unterstützen. Damit die Stiftung ihren satzungsgemäßen Auftrag – eine Standortbestimmung zur Baukul­ tur in Deutschland – ausfüllen kann, sollten die Konventsberufenen die Stiftung über baukulturell interessante Projekte und aktuell drohende „bau­ kulturelle Desaster“ kontinuierlich informieren. Unter der Federführung der jeweiligen „Korre­ spondenten“ sollten diese von der regionalen Initiative in einer Form aufbereitet werden, dass sich die Gremien der Stiftung informiert damit auseinandersetzen können. In diesem Kontext wäre zu prüfen, aus den in den Konvent Berufenen Regional- oder Landes­ sprecher zu wählen, die die direkten regionalen Ansprechpartner der Stiftung wären.

Wolfram Janzer / Stuttgart, 2010

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Bauen in der offenen Gesellschaft – dieser Titel weist auf den Philosophen Karl Popper (1902 –1994), dessen 1945 erschienenes Werk The Open Society and its Enemies in viele Sprachen übersetzt wurde und nach mehr als einem halben Jahrhundert erstaunlich aktuell zu lesen ist. Der Begriff eignet sich dafür, Baukultur im Zusammenhang mit der Struktur moderner Demokratien zu hinterfragen und neu einzufordern.

Michael Braum, Ursula Baus

Bauen in der offenen Gesellschaft Strukturen und Werte

Als der Konvent im Frühjahr 2010 in Essen zusammentraf, hatten sich die Ereignisse um das Bahnprojekt Stuttgart 21 noch nicht dermaßen zugespitzt, dass nach einer Schlichtung gerufen worden wäre. Debatten darüber, wie Großpro­ jekte in Zukunft grundsätzlich anders organisiert werden müssten, führte noch niemand – kurz darauf beherrschten sie Titelseiten und Leitarti­ kel, Politsendungen und Talkshows. Im Verhältnis zwischen Staat und Bürger, so darf man vorläufig resümieren, muss sich in den Planungsprozessen – nicht nur – von Großprojekten vieles zugunsten der konstruktiven Mitsprache der Bürger verän­ dern. Die Proteste legten Schwachstellen unse­ res veralteten demokratischen Planungssystems

offen, die in ihrer strittigen Dimension noch nicht bewusst waren. Auf diese Entwicklung musste die Bundes­ stiftung Baukultur in der Dokumentation des Kon­ vents reagieren. Das Themenspektrum „Baukultur des Öffentlichen“ mit den Panels Verkehr, Bildung und Freiräume im K–2010 stand bereits à jour auf dem Programm des Konvents. Und folgerich­ tig haben wir dann – angesichts der aktuellen Entwicklungen – die Auseinandersetzung mit den wesentlichen Entscheidungsstrukturen in unserer Demokratie sowie mit den soziologischen und politischen Veränderungen nach der jüngsten Weltwirtschaftskrise intensiviert.

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Bauen in der offenen Gesellschaft In den Grundsatzreferaten von Matthias Sauer­ bruch und Julian Nida-Rümelin sowie in den drei benannten Panels war vieles angesprochen, was auf einer operativen, baukulturell relevanten Ebene in konkrete Empfehlungen an die Verant­ wortlichen der öffentlichen Institutionen einflie­ ßen konnte. Die Erkenntnisse aus dem Konvent wären – so politisch gewollt – im Wesentlichen kurz- und mittelfristig umsetzbar. Die Diskussion darüber, was langfristig in unseren verkrusteten Planungsprozessen geändert werden müsste, konnte im Rahmen des Konvents jedoch nicht geführt werden. Dass für diesen Teil der Publikation nun der Titel „Bauen in der offenen Gesellschaft“ gewählt wurde, ist bereits eine Reaktion darauf, dass im gegenwärtigen Verhältnis Bürger – Staat der Begriff der Öffentlichkeit nicht mehr klar um­ rissen werden kann und die Verantwortlichkeiten neu eingefordert werden müssen. Man schaue auf die politischen und institu­ tionellen Instanzen in der Demokratie: Ist die persönliche Verantwortung der Entscheidungsträ­ ger, die in diesen Instanzen stellvertretend wirken, eine andere als die der Bürger? Dieses Dilemma hatte Adolf Arndt (1904 –1974), Jurist und Mitglied des Bundestages, bereits 1960 erkannt, als er seinen berühmt gewordenen Vortrag „Demokratie als Bauherr“ hielt.1 Der „Bauherr“ ist eine Persön­ lichkeit, die „Demokratie“ eine Staatsform – Arndt hatte zu Recht beklagt, dass die Demokratie das Bauen an die Bürokratie delegiere und die öffentlichen Bauten von Behörden für Behörden entstünden. Anthropologisch argumentierend, meinte Arndt: „Ich hoffe, es schält sich heraus, dass aus politischer Sicht die Frage nach dem Bauen eine Frage nach dem Menschen ist. (...) dass es um die unaufhörliche Aufgabe geht, Mitmenschlichkeit in dieser Selbstdarstellung wirklich werden zu lassen. Wenn es einen Sinn haben soll, nach der Demokratie als Bauherr zu fragen und dadurch einen Zugang zu Lösungs­ möglichkeiten zu finden, ob und wie es sich bewahrheiten könnte, dass Bauherr das souve­

1. __ Adolf Arndt: Demokratie als Bauherr. Akademie der Künste, Berlin, 1961 (Anmerkungen zur Zeit, Heft 6). 2. __ Ebenda, S. 16. 3. __ Werner Durth, Paul Sigel: Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels. Berlin, 2009.

räne Volk ist, so wird zunächst gesucht werden müssen, inwiefern Demokratie mehr ist als ein Wunschbild, mehr als eine Organisationsform, vielmehr, ob sie Maßstäbe bietet für eine Lebens­ weise aus einer ihr eigenen Schau auf wirkliche Menschen hin“.2 Es liest sich heute etwas pathe­ tisch, wie Arndt – von Carlo Schmidt 1969 als „Gewissen der Nation“ bezeichnet – sich damals ausdrückte. Aber die Problematik, wie sich Staat, Bürger und Bauen zueinander in einer Demokra­ tie verhalten, blieb in den letzten 50 Jahren stets akut; sie kann kaum besser wiedergegeben wer­ den als im Titel, den Werner Durth und Paul Sigel für ihr Buch im Jahr 2010 wählten: „Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels“ (Hervor­ hebung durch die Autoren ).3 Denn das Koordinatensystem, in dem der Staat als „öffentlicher Bauherr“ agiert und damit Maß­ stäbe für die privaten Bauherren setzen sollte, ändert sich erheblich und immer schneller. Uns schien es deswegen angebracht, Karl Poppers Begriff der „offenen Gesellschaft“ aufzunehmen, der über eine bestimmte Staatsform hinausgeht und nicht im pragmatisch geregelten, bürokra­ tisch fixierten Alltag stecken bleibt.4 Popper for­ dert unter anderem, dass die Institutionen einer demokratisch organisierten, offenen Gesellschaft ständig kontrolliert, kritisiert und verändert wer­ den müssten. Bemerkenswert ist in dem Zusam­ menhang, dass er Architektur in Ethik und Äs­ thetik eine eigene Rolle zuweist: „Ästhetische Probleme (vielleicht mit Ausnahme der Architek­ tur) sind zum Großteil privaten Charakters, aber ethische Probleme betreffen Menschen und ihr Leben.“ 5 Der Architektur gesteht der liberale Popper tatsächlich eine ethische Komponente zu. Wichtig ist zudem, dass er ein Gesellschafts­ modell entwickelt, in dem die von Arndt so kräftig kritisierte Bürokratie gleichsam auf die Hinter­bank gesetzt wird und eine Rolle zugewiesen bekommt, die der Gesellschaft dient – und sie nicht dominiert.

4. __ Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, Stuttgart, 1992 (1945). 5. __ Ebenda, S. 699.

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Braum, Baus

Wie das „Bauen in der offenen Gesellschaft“ heute als Kulturleistung organisiert und mit Inhal­ ten belebt werden kann, welche Faktoren dabei welche Rolle spielen könnten, bestimmte die Vertiefung, mit der wir in dieser Publikation den Konvent ergänzen wollten.

Renaissance der Soziologie So wichtig die Impulse des politisch engagierten Philosophen Julian Nida-Rümelin und des weit über sein Fach hinausdenkenden Architekten Matthias Sauerbruch für den Konvent waren, so sinnvoll schien es uns, in die nachfolgende Publi­ kation einen Architektursoziologen einzubeziehen. Denn mit den jüngsten Ereignissen um Groß­ projekte in Deutschland rückte die gesellschafts­ politische und damit soziologische Komponente der Baukultur deutlich in den Vordergrund. In einem intensiven Gespräch, das wir an zwei Nachmittagen im Dezember 2010 mit Werner Sewing, dem Vorsitzenden des Fördervereins der Bundesstiftung Baukultur und Professor für Architekturtheorie in Karlsruhe, führten, ließen sich Fragen ansprechen, die im pragmatischpraktischen Alltag des Bauens viel zu kurz kom­ men. Man muss nur an die Rolle von Facebook für die jüngsten Veränderungen in arabischen Ländern denken – oder an Wikileaks mit seiner Bedeutung für scheinbar transparente Demokra­ tien: Entscheidungen gesamtgesellschaftlicher Relevanz werden an anderen Stellen getroffen, als es bislang selbstverständlich schien. An vielen Stellen ist die durchorganisierte, bürokratisierte und durch weltweite Konkurrenz unter Druck gesetzte Gesellschaft in eine Situation geraten, die sie an den Rand ihrer ausgewogenen, flex­i­ blen Funktionstüchtigkeit bringt. Die Erneuerung unserer Gesellschaft muss von innen heraus entwickelt und von allen getragen werden. Nicht anders ist es in der Baukultur.

Deswegen kamen im Wesentlichen aktuelle Aspekte in demokratischen Entscheidungspro­ zessen zur Sprache. Lässt sich ein ausgewoge­ nes Verhältnis zwischen parlamentarischer und direkter Demokratie finden? Wieso werden noch heute die komplexen, aber einer Demokratie angemessenen Entscheidungswege nach dem „Modell Polis“ den Wünschen nach autoritären, „starken Männern“ gegenübergestellt? Wie ändert sich das Selbstverständnis der Bauberufe, wo sich der vermeintliche Gegensatz zwischen Tradition und Moderne aufzulösen beginnt? Was wird aus der Baukultur, wenn die Gesellschaft der Wertediskussion zwischen Ethik und Ökonomie weitgehend ausweicht? Wenn sich Individuen bei Facebook erschöpfen, am Stammtisch mit Bana­ litäten zufriedengeben, als Teile der Generation Web 2.0 nicht mehr mit den Lesern aufwändig recherchierender Tages- und Wochenzeitungen kommunizieren – wo ist dann die „Öffentlichkeit“ auszumachen, in der Baukultur verhandelt werden muss? Zu all diesen Aspekten nimmt Werner Sewing Stellung. Das offene Gespräch ließ die Bezüge zur Vergangenheit genauso wenig außer Acht wie die Analyse der Gegenwart und fiktive Szenarien. Vor dem Hintergrund dessen, was im Gespräch mit ihm durchaus skeptisch bewertet wird, verän­ dern sich die Aufgaben, die an den Entschei­ dungsstellen in Bund, Ländern und Gemeinden anstehen. Immer wichtiger wird, dass die behörd­ lichen Instanzen eine intensivere Auseinander­ setzung mit den betroffenen Bürgern suchen müssen. Sie darf so weit reichen, dass Entschei­ dungsbefugnisse von den Behörden an quali­ fizierte Bürger abgegeben werden. Es überlagert sich diese Aufgabe damit, dass in allen Bereichen der Architektur, Stadtplanung, Landschafts­­ge­ staltung und Infrastruktur verschärft nach besten technischen und ökonomischen Lösungen ge­ sucht werden muss. Fachspezifisches Wissen und die Ansprüche einer breiten Öffentlichkeit müssen nach allen Regeln der transparenten Vermittlungskunst zusammengeführt werden.

Bauen in der offenen Gesellschaft

Interdisziplinär? Transdisziplinär? Dialoge! Im Konvent 2010 kam – wie in nahezu allen Ge­ sprächen über Baukultur – generell zur Sprache, dass unterschiedliche Disziplinen ihr Wissen, ihre fachspezifischen und gesellschaftsrelevanten Kenntnisse zusammenführen müssen, um daraus Neues entstehen zu lassen. „Neues“ ist nicht per se gut und schön, signalisiert aber das fruchtbare Zusammenspiel von Erfahrung, Erkenntnis und Fantasie und ist damit in jeder offenen Gesell­ schaft existenziell und kritikwürdig. Auf allen Ebe­ nen unserer durchorganisierten Demokratie sind diese Faktoren ausschlaggebend, wenn Baukultur als gemeinsame Wertkategorie anerkannt wird. In der Konventsdokumentation wurde deswe­ gen eine „Paarsituation“ strategisch inszeniert: Der Bund ist für überregionale Mobilitätsstruk­ turen verantwortlich; die Bildung ist verfassungs­ gemäß Angelegenheit der Länder; innerstädti­ sche Freiräume sind die Spielwiese und zugleich die Bringschuld der Kommunen. Nichts lag näher, als die Strategen aus Bund, Ländern und Kommu­ nen mit Kritikern zu kombinieren. So entstanden „Paarsituationen“, die an dialektische Hochkultur denken lassen und für eine Vertiefung der Kon­ ventsthemen aufzugreifen waren. Auf Bundesebene konnte der ehemalige Staatssekretär Engelbert Lütke Daldrup mit dem interkontinental erfahrenen Architekturkritiker Wilhelm Klauser zusammengeführt werden. Auf der Länderebene ließen sich der Minister für Lan­ desentwicklung und Verkehr von Sachsen-Anhalt, Karl-Heinz Daehre, und der Fachjournalist Bene­ dikt Kraft aufeinander ein. Im Planen und Erkun­ den der Qualität unserer öffentlichen Freiräume stießen Elisabeth Merk als Stadtbaurätin von München und der ebenda lebende, weit über die Fachkreise hinaus argumentierende Herausgeber der Zeitschrift „Baumeister“, Wolfgang Bach­ mann, aufeinander.

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Die Bundesstiftung Baukultur zieht aus dem Kon­ vent und den anschließenden Themenvertiefun­ gen Konsequenzen und entwickelt ihre Strategie weiter. Welche Forderungen an die staatlichen, regionalen und lokalen Institutionen daraus abge­ leitet werden können und welche Aufgaben sich für die Bundesstiftung Baukultur selbst ergeben, resümiert Michael Braum ab Seite 128.

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Die gesellschaftspolitische Brisanz, die der Begriff des „Öffentlichen“ nach den Großprojekt-Protesten der letzten Monate in Deutschland erhielt, setzte in den Debatten um Planungsprozesse in Deutschland vollkommen neue Akzente. Welche Konsequenzen sich für eine langfristige, baukulturelle Perspektive daraus ergeben könnten oder sollten, diskutierten Ursula Baus und Michael Braum im Dezember 2010 mit dem Architektursoziologen Werner Sewing.

Michael Braum, Ursula Baus

Baukultur in der offenen Gesellschaft Ein Gespräch mit Werner Sewing

Parlamentarische und direkte Demokratie

Werner Sewing Jahrgang 1951. Studium der Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaften in Bielefeld und Berlin. Dozent für Stadtund Regionalsoziologie an der FU Berlin, an der TU Berlin und an der Bauhaus-Universität Weimar. 1999 Visiting Professor für Architekturgeschichte an der University of California in Berkeley. 2006 Schelling Architekturtheorie-Preis. Seit 2009 Professor für Architekturtheorie am KIT in Karlsruhe. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie vor allem der Stadt.

MB: Stuttgart 21, das Gängeviertel in Hamburg, Mediaspree in Berlin – das sind ambitionierte und zugleich umstrittene Projekte. Was läuft falsch in unserer Debatte über Baukultur? WS: Ich glaube nicht, dass den Auseinandersetzungen ein Vermittlungsproblem zugrunde liegt. Es ist ein strukturelles Problem, mit dem wir uns befassen müssen. Die Konflikte in Stuttgart oder Hamburg haben eine normative, eine qualitative, eine ästhetische, eine moralische, auch eine politische Komponente. Die damit verbundenen Fragen kann man nicht „objektiv“, nicht technokratisch lösen. Auch nicht qua Expertenwissen, das an das Volk herangetragen wird. Mit all dem muss man sich komplexer auseinandersetzen. Und wenn es derartig „rumst“ wie in Hamburg, Berlin oder jetzt in Stuttgart, ist dies nur ein Indiz dafür, dass vorher sehr viel falsch gelaufen ist. Es geht um Öffentlichkeit – die Bundesstiftung antizipierte diese Thematik mit dem Konvent. UB: Aus der Perspektive vor Ort kann ich nur zustimmen. Einer Bevölkerungsgruppe, die sich einmischt, weil sie vieles weiß, wird gesagt: Wir hätten euch nur vorher informieren müssen – dann würdet ihr alles verstehen. Als Andersdenker kommt man sich verhohnepiepelt vor. Die Men-

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schen sind viel klüger und besser informiert, als diejenigen annehmen, die das Sagen haben. Was kann eine Schlichtung da leisten? WS: Nichts. MB: Wie könnte denn die Debatte über Baukultur in einer „offenen Gesellschaft“ aussehen? Es muss doch, wenn wir einmal Karl Popper bemühen, um einen ideologiefreien Austausch von Meinungen gehen, um die frühe Einbindung von allen in die Prozesse, um die Bereitschaft bei allen, sich mit unterschiedlichen Sach- und Fachfragen auseinanderzusetzen. Und muss sich nicht gerade der öffentliche Bauherr mit dieser anspruchsvollen Prozesskultur befassen? Lässt sie sich überhaupt im gegenwärtigen System verbessern? WS: Popper ist ein klassischer Liberaler und glaubte, dass die Gesellschaft über Konflikt zusammengehalten wird, dieser aber zivilisiert zu regeln ist – über den Austausch von Argumenten und so weiter. Das war natürlich recht naiv, aber Popper wusste wohl selbst, dass seine Position auch normativ war. Er hat nicht ernsthaft geglaubt, dass die Gesellschaft so funktioniert – er appellierte vielmehr: So soll es werden. UB: Poppers Szenario muss als Entwurf gelten. Als ich für diese Publikation den Arbeitstitel „Bauen in der offenen Gesellschaft“ vorschlug, haderten viele damit und wussten mit dem Begriff und mit dem Namen Popper nichts anzufangen. Was verbindest Du mit „offener Gesellschaft“? WS: Ich kann jetzt mehr mit Popper anfangen als vor 20 Jahren. Popper hat die Verhältnisse richtig gesehen, aber die Gesellschaft, die er als liberale Gesellschaft verteidigte, geschönt. Aus heutiger Sicht vertritt Popper die radikale Idee von Liberalismus, die eigentlich jeder Intellektuelle oder politisch bewusste Mensch teilt, egal welcher politischen Couleur. Ein kritischer Konservativer legt genauso Wert auf kritischen Diskurs, auf objektive Information und sachliche Auseinandersetzung wie ein kritischer Linker. Nur die Dogmatiker auf allen Seiten fühlen sich vom kritischen Diskurs abgestoßen. Heute können wir Popper als eine Grundschrift für kritisches Denken lesen. Seine Naivität muss man nicht übernehmen. Er vertritt eine kritische Idee des Diskurses, die wir auch in der Frankfurter Schule wiederfinden, bei Habermas zum Beispiel – auch bei Habermas naiv, aber diese Idealisierung ist vielleicht der Preis dafür, dass man Thesen erst einmal klar herausstellen kann. Und genau deswegen halte ich das Stichwort „offene Gesell-

schaft“ für eine geeignete Folie, auf der man die Fragen der Baukultur gut diskutieren kann. Jeder Sachverhalt kann darauf untersucht werden: Wie viel Offenheit gab es? Woher kamen die Probleme? Bleiben wir bei Stuttgart. Die Politik reagiert auf den Unmut mit Überraschung oder gar Verachtung – wie Ministerpräsident Mappus. Darin offenbart sich, wie kenntnislos viele Berufspolitiker über die Menschen im Land denken. Wir leben hier zwar in einer offeneren Gesellschaft als beispielsweise in Russland oder China – aber eben auch nur in einer vergleichsweise offenen Gesellschaft. Viele Verfahren laufen in Deutschland nur, weil sie nicht offen sind. Jeder Entscheidungsträger weiß, dass man Entscheidungen im Vorfeld unter vier oder sechs Augen abspricht, um sie später größeren Gruppen – zum Beispiel in Parteien – zu empfehlen und durchzuziehen. Es kann sich auch nicht jeder Entscheider mit allen Aspekten einer Sache auseinandersetzen; insofern laufen Entscheidungen auch in offenen Gesellschaften nicht offen. Das lässt sich auch kaum ändern – die Frage ist nur: Welche Strukturen müssen wir entwickeln, um Gegengewichte zu schaffen? Sie könnten beispiels­ weise mit dem Zwang verbunden sein, Expertisen offenzulegen – was in Stuttgart unterblieben ist. Gutachten „unter Verschluss“ zu halten, darf einfach nicht passieren. Es muss Regeln geben, die dies verhindern. UB: Wenn wir die offene Gesellschaft als Idee ernst nehmen, sind wir immer damit konfrontiert, dass unsere Verfahren nicht offen genug sind, um auf die Bedürfnisse der Gesellschaft zu reagieren. Schon sind wir bei pragmatischen Gedanken, bei der baukulturellen Praxis. Ich glaube nicht, dass die Republik im Interesse grundsätzlicher Offenheit und Transparenz reformierbar ist. Gerade im Bauwesen haben Lobbyisten viele Verfahren zur Gesetzmäßigkeit gebracht, die Steuergelder in bestimmte Kanäle lenkt – und nicht in Baukultur fließen lässt. MB: Wir haben in unserer Gesellschaft ausgesprochen aufwändige Verfahren – wie die Planfeststellungsverfahren und andere, in denen nur Einsprüche zugelassen werden. Gegenwärtig prüft die Regierung sogar, öffentliche Anhörungen im Rahmen dieser Verfahren ins Ermessen der Planungsbehörden zu stellen. Ergebnisoffene Prozesse scheinen hier tatsächlich unerwünscht zu sein. WS: Ich habe mich in den 1980er Jahren hier in Berlin in Bürgerinitiativen engagiert – mit sichtbaren Ergebnissen, so wurde beispielsweise ein

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Bebauungsplan gekippt. Das war eine Ausnahme. Realität ist, dass Bürger zwar ihre Meinung sagen dürfen, jedoch keinen Rechtsanspruch auf deren Umsetzung haben. Darin liegt eine Schwäche der parlamentarischen Demokratie. Der Wähler ist souverän und gibt mit der Stimme die Souveränität an die Politik ab. Zurück zu den Bürgern kommen dann die Entscheidungen – mehr gibt eine parlamentarische Demokratie nicht her. Darin liegt ein strukturelles Problem. Zum einen gibt es kein Rechtsinstrumentarium, mit dem mehr Bürgerbeteiligung einzuklagen wäre, zum anderen gibt es keine Institutionen, keine „Machtträger“, in denen die Bürgerbeteiligung inständig erwünscht wäre. UB: Ministerien, Länder, Kommunen könnten darin eine Aufgabe für sich erkennen. WS: Kaum, denn ein Ministerium ist Teil der Regierung, die ein bestimmtes Programm hat. Daran ist jedes einzelne Ministerium gebunden. Ich hatte von keiner Regierung der letzten Jahre den Eindruck, dass sie mehr Bürgerbeteiligung wünschte. Am klügsten erscheint mir, das Problem auf allen Ebenen gleichzeitig anzugehen – dafür sehe ich unter den gegenwärtigen Gegebenheiten jedoch keine großen Chancen.

WS: Zum einen wissen die meisten Bürger nicht, an welchen Stellen sie konkret Einfluss nehmen können. Wenn wir das direkte Verhältnis zwischen Politik und Bürger beleuchten, müssen wir klären, welche Rolle der Bürger in diesem Verhältnis einnimmt. Er ist in seinem alltäglichen Leben mit vielfältigen Fragen konfrontiert: Wo verbringe ich meinen Urlaub? Wie bekomme ich einen neuen Job? Welche Krankenkasse ist für mich die beste? Das sind essenzielle Themen für ihn. Ob die Straße vor seinem Haus gepflastert wird oder nicht, ist zunächst keine essenzielle Frage. In einer gut funktionierenden Gesellschaft muss der Bürger davon ausgehen können, dass die Straße schon einigermaßen recht gepflastert wird. Er muss unterstellen dürfen: Die Fachleute werden es schon recht routiniert richten, und er kann sich um „seine“ Dinge kümmern. Da merkt man schon: Demokratie muss mehr sein, sie muss dem Bürger – zum Beispiel in der Baukultur – mehr auftragen. Soll unsere offene Gesellschaft funktionieren, setzt dies voraus, dass der Bürger in irgendeiner Weise motiviert ist, zum Beispiel die Fragen der Baukultur zu verfolgen und sich einzubringen.

MB: Wie könnten denn Beteiligungsverfahren aussehen, in denen die Bevölkerung früher in den Diskurs eingebunden ist, bevor ein offizielles Verfahren überhaupt in Gang gesetzt wird?

MB: Wie erreichen wir das? WS: Nur durch Konflikte. Wie beispielsweise in Stuttgart. UB: Deswegen freuen wir uns über Konflikte. Claus Leggewie vertritt auch in den Debatten über Integration und Migration die These, dass die Konflikte hurtig ausgetragen werden müssen.

Legitimation durch Verfahren genügt nicht WS: Diese offiziellen Verfahren haben zunächst etwas für sich: Sie mobilisieren Fachwissen, weil sie relativ kompliziert sind. Es stellt sich in der Regel auch eine gewisse Verfahrensrationalität ein: „Legitimation durch Verfahren“. Dieser Begriff stammt von Niklas Luhmann, der damit die Debatte jedoch ironisieren wollte. Das Verfahren selbst ist bereits eine Form von Legitimation, hat aber in sich keine höhere Wertigkeit. Es ist eine Fest­legung von Verwaltungsbeamten – eine Art Tech­nik, mehr nicht. UB: Zwischen Wahlterminen entwickeln sich Projekte erfahrungsgemäß mit einer merkwürdigen Eigendynamik. Nur wenn zwischen diesen Terminen Projekte stets akzeptiert werden, kann man noch von Legitimation sprechen.

Konflikte austragen! MB: Probleme also nicht vom Halse halten, sondern als Konflikte austragen. Das gelingt der Politik derzeit nicht, sie will es auch nicht. Eine neue Umfrage bestätigt, dass 90 Prozent der Bevölkerung glauben, dass die Politiker nicht mehr bei den Menschen sind. Das scheint durchaus damit zusammenzuhängen, dass Konflikte gescheut werden. UB: Dann müsste also den Verwaltungen eine Laus in den Pelz gesetzt werden. Wer soll das übernehmen? WS: In der Privatwirtschaft könnten das Betriebsräte tun. Aber Verwaltungen haben keine Be­ triebs­räte, außerdem agieren Betriebsräte intern – es geht für uns aber um Konflikte mit und in der Öffentlichkeit. Es muss ein politischer Wille sein, der dies vorantreibt.

Baukultur in der offenen Gesellschaft

MB: Politik und Verwaltung müssten dazu bereit sein, auf Kritik in der Öffentlichkeit, auf Unmut ernsthaft zu reagieren – und eben nicht abzuwiegeln, weiterzuleiten, zu verharmlosen, zu „schlichten“. Mir schwebt immer noch so etwas wie dieses alte „Berliner Stadtforum“ vor, in dem ein bau­ kultureller Diskurs öffentlich geführt wurde. Wir müssten orts- oder sachspezifische Formate dafür entwickeln – ob dort über ÖPNV oder Wärmeschutz oder Sonstiges debattiert wird, ist nicht so wichtig. WS: Die Grundprämisse ist: Menschen müssen konfliktfähig sein und dürfen keine Angst vor Konflikten haben. Sie müssen sogar ein bisschen Lust am Konflikt haben. Ich glaube, dabei spielen biografische Situationen eine gewisse Rolle. Unsere Studenten in Karlsruhe konnten in den letzten Monaten beispielsweise im Fernsehen zum ersten Mal dabei zusehen, wie bei friedlichen Demonstrationen – in Stuttgart – die Polizei zuschlägt. Auf einmal merkte man, dass sie, die Studenten, fortan ganz anders denken. MB: Aus einer Betroffenheit heraus? WS: Ja. Nicht unbedingt aus persönlicher Betroffenheit, sondern aus einer „Milieubetroffenheit“. Dass diese Konflikte jetzt so hochkochen – nicht nur in Stuttgart –, ist ein Indiz dafür, dass wir im Augenblick eine hohe Sensibilität für diese Fragen haben. Wir müssen froh sein, dass diese Konflikte zutage treten. Vor drei, vier Jahren war diese Entwicklung nicht antizipierbar. UB: Nun muss man andererseits daran erinnern, dass der Widerstand gegen Stuttgart 21 so alt ist wie das Projekt – lange Zeit war er nicht bild- und damit nicht medienträchtig. WS: Dass der Widerstand in Stuttgart in der öffentlichen Wahrnehmung so eruptiv ausbrach, bezeichne ich als Glücksfall. In Stuttgart ist es vielleicht zu spät, aber trotzdem haben wir die Chance, an den Strukturen etwas zu verändern. Moderationsverfahren wie die mit Heiner Geißler sind zweischneidig. Konflikte dürfen nicht moderiert, sondern sie müssen ausgetragen werden. Wir müssen lernen, dass es eine echte, politische Streitkultur geben muss. Bereits in der Schule müssen Menschen zu konfliktbereiten, politisch engagierten Zeitgenossen erzogen werden – nicht nur in ihrer Rhetorik. Streit muss eine Selbstverständlichkeit werden. Wir sind uns zu sicher, dass wir viele Emanzipationsschübe bereits hinter uns haben. Das ist ein Irrtum. Wir können nicht sagen: Wir haben jetzt einen bestimmten Standpunkt erreicht, das war’s.

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Nein, jede Generation muss den erreichten Stand hinterfragen und neu bestimmen.

Der Ort, immer wieder der Ort MB: In einem Deiner Aufsätze beklagst Du die gestalterischen Auswirkungen einer globalisierten Moderne. Wenn wir die Moderne jetzt einfach schönreden, genügt das nicht. Was heißt das im Umkehrschluss? Hat Baukultur etwas mit regio­ nalen Bautraditionen zu tun? WS: So wird gelegentlich argumentiert. Wir wissen aber, dass diese Traditionen zum Teil im 19. Jahrhundert schon abgerissen sind, danach kamen Neuerfindungen von Tradition. „Invention of Tradition“ – so hieß ein Buch in England, Traditionen sind oft Erfindungen der Nachwelt. Interessant ist dennoch, dass es ein Bedürfnis nach Traditionsketten gibt. Wer nun den regionalen Bezug als Traditionslinie negiert, kommt in Legitimationsprobleme. Wir reden in der Architektur nicht allein über Technik, sondern über die Legitimation von kulturellen Mechanismen, die an vielem mehr als an der Technik hängen. MB: Wenn Du die regionalen Traditionen kaum gelten lässt, wo siehst Du dann die Chancen für Baukultur? WS: Zunächst einmal in dem Bewusstsein, dass Architektur immer an Orte gebunden ist. Jeder Ort hat eine bestimmte Prägung – und diese Prägung kann man ernst nehmen, negieren oder kritisch damit umgehen. Die Rekonstruktionsideologen behaupten, je näher ich am „Original“ bin, desto näher bin ich am Genius Loci. Andere sagen, das freie Interpretieren des Genius Loci gehöre explizit zur Baugeschichte. Das örtlich Besondere ist ungeheuer wichtig. Schauen wir noch mal nach Stuttgart. Die Stadt hat den Ruf, recht piefig zu sein, aber zugleich sehr reich. Stuttgart ist auf der einen Seite muffig und auf der anderen Seite hypermodern. Man weiß, dass diese Region extrem vom Export profitiert. Wir wissen, diese Region ist Hightech auf Weltniveau, prägt Standards – gleichzeitig nehmen wir Stuttgart kulturell nicht so recht wahr. Wir wissen zwar: Gutes Ballett, Staatstheater, Museen – aber es ist nicht New York. Und dann passiert etwas: Der Bahnhof muss auf jeden Fall erhalten bleiben. Er gehört zwar nicht zu den Highlights der Baugeschichte, aber darum geht es gar nicht; eigentlich ist es ein konservatives Gebäude. Jetzt aber kommt die Deutsche Bahn mit einem modernen Architekten

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aus dem Rheinland – den Rest kennen wir. Ein Teil vom Bonatzbau bleibt wie ein Altarraum übrig. Ansonsten fahren Herr Pfleiderer und Herr Häberle vom hochmodernen Bahnhof aus mal eben nach Paris, mal eben nach Bratislava und zurück? Das sagt nur die Bahn. Aber wer soll denn etwas von der Achse Paris–Bratislava haben? UB: Das Konstrukt der Achse Paris–Bratislava ist vom Tisch. Es war bis jetzt Teil des Marketings. Marketing ist auch ein Teil der Kommunikation, und Marketing, so könnte man sagen, ist der betrügerische Ansatz der Kommunikation, dazu gehörte diese unsinnige Idee Paris–Bratislava. WS: Ja, genau das ist es. UB: Du beklagst einerseits den Einheitsbrei der internationalen Architekturmoderne. Aber die stärksten Strömungen der Moderne sind überall dort zu finden, wo sie örtlich gebunden waren – und das war sie oft. Zum anderen können wir festhalten, dass einer der ersten internationalen Stile der Palladianismus war. Was hatten denn die einstmals griechischen Säulen in Rom und dann in England zu suchen? Bis nach Amerika haben sie’s geschafft – ohne jeglichen Ortsbezug. Aus der Distanz der Geschichte akzeptiert man das offensichtlich. MB: Liegt das Problem vielleicht in der Austauschbarkeit von Architektur? Wenn das ortsgebundene Bauen, wie Du sagst, weniger mit Regionalismus zu tun hat als mit einer komplexen, ortstypischen Befindlichkeit – was ist an dem Stuttgarter Bahnhof das Besondere, das die Leute auf die Straße treibt? WS: Es ist die konkrete Konfiguration vor Ort. Dort ist Bonatz zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas gelungen, was diesen Ort dermaßen stark prägt, dass die Konfiguration zu einem Identitätspunkt geworden ist, an dem man nicht beliebig rumfummeln kann. Der Bonatzbau gehört zur Identität des Ortes. Und hier vertrete ich einen konservativen Standpunkt: Solche Konfigurationen halte ich für sakrosankt. Man darf sie verändern, aber nicht beliebig. Eine Intervention kann darauf hinauslaufen, dass Stuttgart genau so aussieht wie Kapstadt – dann sagen andere: Ja, aber in Shanghai spielt doch jetzt die Musik. In dieser Denke, diesem Hype liegt begründet, warum die Orte in der Welt immer gleichförmiger werden.

Der überforderte Architekt UB: Viele deutsche Architekten spielen dabei mit. Denken wir an Meinhard von Gerkan, der bei Anne Will von China schwärmte, oder an Albert Speer, der europäische Stadtideen nach China exportiert. Gerade jüngere Architekten gehen einfallsreicher, einfühlsamer mit Ortsbezügen um. Wo siehst Du – parallel zu Politik und Bürgerengagement – die Aufgaben von Architekten? Sie können in Planungsprozessen das Wechselspiel zwischen Mächtigen und Bürgern doch auch beeinflussen. WS: Dazu stellen sich Fragen erstens: nach der Struktur, und zweitens: nach dem Personal, das diese Strukturen ausfüllt. Zum einen denke ich, dass die Architekten entscheidend sind – in diesem Verständnis agieren auch die Berufsverbände oder Kammern. Wenn aber etwas schiefläuft, dann war es der Investor. Stimmt nicht ganz – was am Potsdamer Platz steht, ist Investorenund zugleich Stararchitektur. Architekten als Berufsgruppe verlieren zwar strukturell an Macht, aber was Trends angeht, prägen sie, was gebaut wird. Im 18. Jahrhundert war der Adel Träger der Architektur. Er reist nach Italien und möchte zu Hause dann Bauten im palladianischen Stil. Hier verschmolzen gesellschaftliches Statussystem und Architektur. Dergleichen gibt es in unserer Gesellschaft nicht mehr. Der Architekt ist heute ein (kammer)verrechtlichter Akteur, er hat vieles erreicht, aber sein Berufs­ status ist prekär. Pharmabereiche sind von der Politik nicht aufzubrechen – aber das Tätigkeitsfeld von Architekten schon. MB: Woran liegt es, dass Architekten nicht die entsprechende gesellschaftlich relevante Kraft entwickeln? WS: Der Architekt ist zu vorsichtig. Er will ein humanistisch gebildeter Handwerker sein – kann aber diesen Spagat gar nicht leisten. UB: Der „arme Architekt“ ist in der offenen Gesellschaft hoffnungslos überfordert? Keiner sagt ihm mehr, was er zu tun hat – einen Diskurs, an dem er sich orientieren könnte, gibt es auch nicht mehr? WS: Überfordert ist der Architekt schon. Aber ich denke, dass seine Arbeit arbeitsteilig angegangen werden muss. Ich mache mich oft über die „Hausphilosophen“ der Architekten lustig, aber vielleicht ist das Modell ja nicht falsch. Weiß der Architekt, wo seine Grenzen sind, ist er gut beraten, andere zu Rate zu ziehen.

Baukultur in der offenen Gesellschaft

UB: Also bleibt er am besten der Stratege, der die Disziplinen weitgehend zur Kenntnis nimmt und moderiert? WS: Ein gutes Architekturbüro hat mindestens drei oder vier Experten: den Theoretiker, den Entwerfer und den Bauleiter, der noch über juristische Grundkenntnisse verfügt. Die erfolgreichen Büros organisieren sich so. Der Architekt, der alles gleichzeitig macht und auch sein Honorar noch eintreiben muss – berühmtes Beispiel: Vorarlberg –, dieser Architekt entspricht einer überaus romantischen Idee. Man muss zugeben, in Vorarlberg hat man keine Individuen, sondern versippte Gruppen. Die romantische Idee des Philosophen-Künstler-Architekten funktioniert als Organisationsform nicht, aber sie ist eine schöne Idee. UB: Aber wenn Du für das „interdisziplinäre“ Büro plädierst, dafür, dass sich der Architekt eine Equipe zusammensucht – was tut diese anschließend? Wir beklagen doch, dass es den Bauherrn als Persönlichkeit nicht mehr gibt, sondern nur noch Gremien. Und nun soll das Architekturbüro auch so „gremienhaft“ auftreten? Wer trägt die Verantwortung? Bleibt der Architekt der „Kopf“ in der Equipe? WS: Ja. Nicht, weil er als Architekt dafür prädestiniert ist, sondern weil er unserer Vorstellung des politischen Bürgers und unserem republikanischen Staatsverständnis am ehesten entspricht. Das erwarte ich auch vom Lehrer oder Zahnarzt. Es mag – wiederum – naiv sein, aber diese Anforderungen müssen wir stellen, weil wir sonst als Gesellschaft auseinanderfallen, nicht mehr greifbar sind als Personen. Das ist tatsächlich ein Problem: Unser Demokratieverständnis ist im Augenblick in der Defensive.

Medien und Erfolg MB: Du forderst also, dass der Architekt gesellschaftspolitisch agiert. Nun machen Architekten inzwischen sogar Werbung – Meinhard von Gerkan für Versicherungen, Thomas Willemeit für Sprudel, Hadi Teherani für ich-weiß-nicht-was. Das hat überhaupt nichts mehr mit Architektur zu tun, entspricht aber dem medialen Interesse. WS: Das deutet auf den anarchischen Zustand der Zunft hin: Es gibt viele kleine Büros, die kaum existieren können und Selbstausbeuter sind; dann die Stars, die Lifestyle und Marketing begriffen

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haben. Dazwischen geht es zwar anarchisch zu, aber nahezu alle berufen sich in ihrer Professionalität auf eine Zuständigkeit fürs Gemeinwohl. In diesem Sinne passt sich die Architektenschaft der Politik an, wie wir es in den letzten Jahren in Berlin nur zu deutlich erlebt haben. Architekten spielen das Spiel der Politik mit einer Art Corpsgeist mit und können sich dann auch darauf verlassen, immer wieder mitspielen zu können. Auf dem anarchischen Markt bieten diese Spiele eine Art Sicherheit.

MB: Was der Baukultur nicht zuträglich ist. WS: Auch in diesen Verhältnissen kann Baukultur entstehen – aber eben nur einer ganz bestimmten Art, was unserer offenen Gesellschaft zuwiderläuft. Entstanden ist in Berlin eine Monokultur, die in Zeiten knapper Kassen auch noch austrocknet – wir sehen, mit welcher Offensivität ein System wie China voranmarschiert, wie clever Chinas Wirtschaft organisiert ist, wie es operativ extrem handlungsfähig ist, und: Es verfügt über eine Macht, die es allmählich international ein­setzt. Dieses System basiert nicht auf unseren Individualitätsvorstellungen, sondern funktioniert mit Gruppen – von der Familie bis zum Groß­ unternehmen – als Machteinheiten, die klug interagieren. MB: Aber das System ist alles andere als eine offene Gesellschaft, demokratische Prozesse gibt es dort nicht. Genau das wollen wir nicht. WS: Stimmt, China ist das Gegenteil einer offenen Gesellschaft, aber extrem erfolgreich. Die offene Gesellschaft ist nicht mehr die erfolgreiche. UB: Oder ist sie es noch nicht?

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Zwischen Ethik und Ökonomie MB: Welche Rolle spielen Persönlichkeit, Verantwortung, Angemessenheit in demokratischen Prozessen? Mit solchen Begriffen tritt die Bundesstiftung Baukultur in die Öffentlichkeit. WS: Wir brauchen Persönlichkeiten. Aber viele der Werte spielen sich auf formalen Ebenen ab, wie Manieren, Ausdruck und Ähnliches. UB: Dann sind wir doch bei der These von Julian Nida-Rümelin, der vehement für das Primat der Ethik nach altertümlichem Schema der Funktionsweise der Polis plädiert – aber ich glaube nicht, dass dergleichen funktioniert. Appelle an moralische Festigkeit und Aufgeschlossenheit der Beteiligten sind rührend, aber meistens folgenlos. WS: Auch historisch halte ich die These nicht für richtig. Nida-Rümelin vertritt eine normative Position mit seinem Polisbegriff. Ein historischer Begriff kann in seiner ganzen Tiefe nicht mit uns zu tun haben, er kann jedoch etwas evozieren. Den Appell an eine öffentliche Ethik brauchen wir. Als offene Gesellschaft können wir nicht existieren, wenn wir keine in irgendeiner Weise diskutierbare Ethik haben. Nun ist es um unsere öffentliche Ethik so schlecht nicht bestellt, das Bundesverfassungsgericht ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Institution. UB: Du würdest das BVG als „ethische Größe“ in unserer Gesellschaft begreifen? WS: Ja, würde ich schon. UB: Ich nicht. Ich finde, das Gericht macht hervorragende Arbeit, es „funktioniert“, juristisch mit allen Wassern gewaschen, um das Grundgesetz zu schützen. Und nur das Grundgesetz ist ethisch konzipiert, die Karlsruher Richter sind es nicht. Die Richter müssen selber nicht ethisch handeln, sondern sie müssen juristisch fit sein. Das Verfassungsgericht zeigt nur auf, wo bestimmte Gesetze oder politische Entscheidungen nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen sind – und gibt die Sache zurück in die Politik. Das BVG sagt nicht, wie die Dinge werden sollen. WS: Das stimmt schon. Aber faktisch ist unser ethischer Diskurs viel weiter als das, was im Grundgesetz festgelegt ist. Nun ist ein Richter Jurist – und kein Philosoph – und stößt in ethischen Fragen häufig an seine Grenzen. Die Verantwortung liegt bei der Politik.

UB: Von der ich glaube, dass sie unfähig ist, Verfahren nennenswert zu korrigieren oder neu zu konzipieren. Die Politik hat kein Interesse an Veränderungen, um die Macht in Richtung Bürger zu verlagern. Das ist das Problem unserer Parteiendemokratie. Sie verdrießt uns Bürger zunehmend. MB: Wenn wir konstatieren, dass das BVG einen hohen ethischen Anspruch hat und als Korrektiv gegenüber der Politik wirkt – dann brauchen wir etwas Entsprechendes für unsere baukulturell relevanten Verfahren. UB: Dann müssen wir am System etwas ändern – und nicht an kleinen Verfahrensschräubchen drehen. Siehst Du hier überhaupt Reformierungsmöglichkeiten?

Gemeinwohl WS: Wenn man dieses Problem strukturell sieht, bin ich sehr pessimistisch. Werte- und Strukturprobleme zusammenzudenken, geht kaum. Es gibt den schönen Begriff der „normativen Kraft des Faktischen“, in dem das Faktische quasi zum Wert erhoben wird. Zudem verfügen wir nicht mehr über so viele verbindliche Werte – zum Glück, muss man sagen, denn wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft mit vielen, nicht entscheidbaren Werten. Der Wertebegriff, der uns am meisten interessieren sollte, ist das „Gemeinwohl“ – und gerade dieser Begriff wird von Juristen nur mit spitzen Fingern angefasst. Die Werteebene ist eine sehr diffizile, plurale, während die Realität nach relativ eindeutigen Regeln funktioniert – geprägt von ökonomischen, machtorientierten Interessen. Erschwerend gibt es die große Gruppe der Desinteressierten, die eine Gesellschaft auch braucht. Krisen, wie wir sie gerade in Stuttgart, aber auch international erleben, wären aber die Gelegenheit schlechthin, um die Grundsatzfragen neu zu erörtern. Im normalen Alltag geht das nicht. Krisen werden von Politikern aber eher als Störfaktoren gesehen, die man eliminieren muss. UB: Wie funktioniert dann die Debatte über grundsätzliche Werte, wenn Bürger und Politik auf Aughöhe streiten sollen? Erinnern wir uns an den Klamauk mit der so genannten Leitkultur. Eine Leitkultur möchten wir heute, in pluralistischen Verhältnissen, eigentlich nicht mehr. Worauf läuft die Diskussion Bürger – Politik dann hinaus?

Baukultur in der offenen Gesellschaft

WS: Das ist nicht so leicht zu beantworten. Es gibt die Theorie, dass eine Gesellschaft durchaus Werte braucht und dass diese Werte zum Beispiel in Normen, Gesetzen konkretisiert werden. Unterstellt wird in dieser Theorie, dass dieses Zusammenspiel von Werten und Regulativ via Erziehung funktioniert. Eine andere Theorie – Talcott Parsons in Amerika, Niklas Luhmann in Deutschland – bezweifelt hingegen die normative Kraft der Werte. Klüger sei es, nicht auf Werte, sondern auf handfeste Interessen zu setzen. Sonntags­ appelle taugen nicht so viel wie justitiable Verträge. MB: Was heißt das in der Konsequenz? Leben wir in Parallelwelten? WS: Ja, man könnte es so umschreiben. Je mehr Subkulturen man betrachtet, desto mehr dieser Parallelwelten kann es geben, die sich eigenregulieren. Das ist das Interessante unserer Demokratie: Sie ist charakterisiert als offene Gesellschaft, die so viele Werte vom Einzelnen gar nicht ein­ klagen kann und will. UB: Politik wäre dann zurückzustufen auf eine Strategie des Interessenausgleichs. WS: Ja, in dieser Theorie ist die Politik eine Technik, der Politiker ein Systemtechniker. In Krisenfällen war früher die Kirche zuständig, heute zieht sich der Staat aus vielen Konfliktfeldern einfach heraus – und dann bliebe letztlich nur die Justiz, die nur eine Art Regeltechnik ist. Darin offenbaren sich die Schwächen unseres Systems. UB: Folgen wir einer SPIEGEL-These, dann gibt es doch ein weltumspannend funktionierendes, die Globalisierung stärkendes Prinzip: die Ökonomisierung. Die Ökonomie kennt aber keine Ethik. MB: Dann stellt sich die Frage, wie wir die Ökonomie regulieren können. UB: Denken wir an die PPP-Projekte. Was sind sie denn anderes als Verfahren, in denen ethisch konnotierte, auf das Gemeinwohl ausgerichtete Aufgaben privatisiert und von ethischen Aspekten entledigt werden? Letztlich werden Gewinne in diesen Verfahren mal wieder privatisiert. Bei vielen PPP-Projekten wissen wir sogar, dass sie sich für die öffentliche Hand nicht einmal rechnen. MB: Und genau deswegen brauchen wir Regulative, mit denen Fragen der Ethik und Gestaltqualität beachtet werden müssen. Das Absurde ist doch, dass die qualitativen Aspekte aus den PPP-Verfahren vollkommen ausgeblendet werden.

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WS: Denken wir an die privat gebauten Wiener Ringstraßenpaläste, so stand noch ein gewisser gestalterischer Anspruch dahinter. Das ist bei den PPP-Projekten kaum noch so.

Umbewertung WS: Bleiben wir beim Städtebau. Der Mietskasernenbau wurde seinerzeit durch alle Bereiche hin verrissen. Hegemann argumentierte in den 1930er Jahren gegen die Mietskasernen, und auch ich bin noch mit der Wertung aufgewachsen, dass die Mietskasernen schrecklich seien. Dann änderte sich die Einschätzung auf einmal mit einem Buch von Wolf Jobst Siedler, der den Verlust der Mietskasernen beklagte und gegen die (vermeintlich) grauenhaften 1950er-JahreSiedlungen wetterte. Das war eine radikale Um­­­be­wertung von Architektur und Stadt. Mich inter­ essiert dieser Mechanismus der Umbewertung. UB: Die Umbewertung von epochalen Leistungen kennzeichnet die gesamte Baugeschichte. Was heute an den Mietskasernen gelobt wird, hat mit ihrem Ursprung architektonisch kaum noch etwas zu tun: Diese Strukturen werden nur attraktiv, wenn die Höfe leergeräumt werden, Licht in die unteren Geschosse kommen kann und viel, viel Geld in zeitgemäße Erneuerung mit sanitären Anlagen und vielem mehr gesteckt wird. Solche Anpassung funktioniert mit Bauten aller Epochen, auch mit der viel gescholtenen Nachkriegsmoderne. MB: Die Nachkriegsmoderne ist nicht an ihrer Architektur, sondern an der Funktionstrennung gescheitert, wie sie die Charta von Athen proklamiert hat. Wir haben wunderschöne, öffentliche Nachkriegsarchitektur – Theater, Wohnungsbauten, auch Bahnhöfe, obwohl das Land am Boden lag und Reparationszahlungen leisten musste. WS: Ich denke, heute amputiert sich die Politik selbst. Das Kaiserreich baute mit Stolz seine Schulen, auch aus den 1950er Jahren gibt es exzellenten Schulbau. Und heute? Der Staat zieht sich explizit aus solchen repräsentativen Aufgaben zurück. UB: Repräsentation verschiebt sich. Wir stellen zum Beispiel fest, dass die jungen Leute als Statussymbole immer weniger das Auto akzeptieren als die neuesten Computermodelle oder Handys.

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Verwilderung des Denkens

WS: Der Staat repräsentiert sich mit Entertainment. In den Medien. Indem man die Ehefrau und einen Talkmaster mit nach Afghanistan nimmt. Architektur ist dann allenfalls Kulisse. Politik gründet nicht mehr auf Werten, die auf ein Gemeinwohl bezogen werden. Wir leben in einer dieser Phasen, in der die persönliche Bereicherung oberstes Politikziel ist. Bis es wieder zu einem Crash kommt – wie wir’s gerade erleben.

Öffentliche Aufgaben und Baukultur WS: Ich glaube schon, dass es die Aufgabe der öffentlichen Hand bleibt, Baukultur zu garantieren. Dann ist die Frage: Kann es diesen Garanten weiterhin irgendwie geben? Garanten für Baukultur darf man nicht in der freien Wirtschaft suchen. Wenn sich der Staat aus den konkreten Bauaufgaben zurückzieht – kann er dann wenigstens noch normative Regeln setzen, an die sich jeder halten muss? Also zum Beispiel Wettbewerbe durchsetzen, die andere bezahlen? MB: Ja. Das muss er. Die öffentliche Hand hatte seit jeher eine Beispielfunktion. Nehmen wir unsere viel gescholtenen wilhelminischen Schulen: Als sie gebaut wurden, waren es vorbildliche Institutionen und Gebäude. Auch die Krankenhäuser waren vorbildlich, es wurden mit den Gebäuden baukulturelle Standards gesetzt. Und das gilt noch heute: Die öffentliche Hand muss Standards setzen, auch wenn sie diese nicht bezahlt. UB: Wohlfeile Appelle an die Politik, an die öffentliche Hand – gut und schön. Aber wir wissen doch: Sie scheren sich nicht drum. Was also tun?

WS: Es öffnet sich ein völlig offenes Feld, auf dem die Intelligenz der Gesellschaft und ihrer Entscheidungsträger gefragt ist. Und ich denke, im Bereich des Bauens ist es genauso. Es gibt in der Architektur so viele offene Bereiche, in denen keine Pflöcke eingeschlagen sind. Im Gegenteil, hier ist vieles im Fluss. Deswegen hängt immer vieles davon ab, welche Persönlichkeiten uns zur Verfügung stehen, damit solche offenen Prozesse intelligent verlaufen. Dazu gehört auch, Meinungen zu vertreten. Im baukulturellen Sektor ist derzeit eine gewisse Verwilderung zu bemerken, wir bräuchten eine solidere Basis. UB: Wo wir wieder bei den Konflikten sind. Wie organisierst Du Konflikte zwischen ethisch unterschiedlich positionierten Individuen? Und wie kann daraus ein kollektiv geführtes Gespräch werden? WS: In der gegenwärtigen Migrationsdebatte hatte Christian Wulff behauptet, das Fundament unserer Gesellschaft sei jüdisch-christlich – das mag gut gemeint gewesen sein, historisch ist es aber falsch. Es gab eine interessante Reaktion, die des evangelischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf. Er stellte irritiert fest, wie glatt der Bundespräsident mit seiner These durchgekommen sei, denn sie sei doch ausgemachter Blödsinn. Unsere Gesellschaft sei weder christlich, noch jüdisch, sondern republikanisch. Das ist unser ethisches Fundament, und alles andere wird daran gemessen, ob es mit dem republika­ nischen Fundament kompatibel ist. Gewiss gibt es für die Menschenrechtsfragen christliche Ursprünge, aber sie sind keine Sache des Christentums mehr. Und genau das sehe ich als ein Indiz für die Verwilderung des Denkens an. Jeder hätte sich empören müssen. Daran merkt man aber, dass wir auf der normativen Ebene ziemlich stur bleiben müssen – auch das Bundesverfassungsgericht muss in diesem Sinne stur bleiben. Und ich finde es tatsächlich wichtig, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die auf wesentliche Werte pochen und diese nicht diskussionslos verflüssigen lassen.

Wo ist die Öffentlichkeit des 21. Jahrhunderts? WS: ...ja, es geht um ein Qualitätsmerkmal. Beide Festredner beim Konvent der Stiftung hatten offenbar das Gefühl, sie müssten etwas ganz

Baukultur in der offenen Gesellschaft

Fundamentales ansprechen. Julian Nida-Rümelin entschied sich für das Primat der Ethik, er rekurriert mit der Polis auf die Antike. Das kann man schon tun, nur: Wie komme ich dann in die Gegenwart? Ich glaube, das hat er nicht geschafft. Matthias Sauerbruch wählte den Begriff der Öffentlichkeit, mit dem er viel dichter an der Realität ist. Ich denke, dass man mit dem Begriff Öffentlichkeit sehr gut weiterarbeiten kann, dass er so etwas wie das Medium der offenen Gesellschaft darstellt. Dort können beziehungsweise müssen die Konflikte ausgetragen, sogar verschärft werden. Öffentlichkeit ist natürlich auch eine riesige Verbrennungsmaschine – an die Medien Fernsehen, Presse und andere mag ich gar nicht mehr denken. Wo ist denn gegenwärtig der Ort der Öffentlichkeit? Im England des 18. Jahrhunderts waren es die Pubs. UB: Das Internet? Der Widerstand gegen Stuttgart 21 wäre ohne das Internet kaum zustande gekommen. WS: Das Internet ist nicht der Ort der Öffentlichkeit, es ist noch zu exklusiv. Es gibt ausgewählte Gruppen, die sich im Internet organisieren – aber die Öffentlichkeit ist es nicht. Das Netz ist szenespezifisch, eine interne Kommunikationsplattform. Es ist Teil der Öffentlichkeit, aber nicht die Öffentlichkeit. Da ich den Begriff Öffentlichkeit so sehr schätze, habe ich große Bedenken, weil ich nicht weiß, wo die Öffentlichkeit noch zu finden ist. Ich fürchte schon, dass das öffentliche Interesse an Architektur und Baukultur nachlässt. Das beobachten wir ja auch in den Medien. Über die Medien ließe sich Baukultur durchaus thematisieren – aber derzeit sieht es nicht danach aus. Was Manfred Sack früher in der ZEIT ansprach, geht heute gar nicht mehr. Das Thema Baukultur ist aus den Medien tatsächlich verschwunden, und ich glaube, die Profession der Architekten hatte sogar ein bestimmtes Interesse daran, es verschwinden zu lassen. Architekten, Kammern, BDA haben Fehler gemacht. Sie erkennen nicht, dass sie permanent unter einem Legitimationszwang stehen. Zu lange haben sie geglaubt, dass die geregelten Verfahren genügen, um ihnen, den Architekten, die Bahn zu ebnen. Die Profession wurde dabei selbstgefällig. UB: Wenn die Demokratie weiter funktionieren soll, kann man nur hoffen, dass die Selbstorganisation des Systems institutionell so gefestigt ist, dass sie bis auf Weiteres „von selber“ funktioniert.

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Aber überall stellen wir fest, dass Interessensgruppen geschickt oder perfide die Verhältnisse zu ihren Gunsten zu korrigieren suchen. Wenn die Öffentlichkeit nicht mehr lokalisierbar ist, lässt sich dies kaum korrigieren. WS: Das ist ein wesentliches Problem. Dabei ist mir die Bedeutung des Internet, das muss ich eingestehen, nicht klar. Die totale Transparenz? Die totale Manipulation? Wichtig scheint mir: Wer benutzt es? Nach allem, was man weiß, ist die „Community im Netz“ gar keine „Community“. Es ist die Fiktion einer Community. In der Szene kann man den Begriff leider nicht mehr in Frage stellen. UB: Ich denke, es geht – zumindest hierzulande – nicht mehr darum, wer Zugang zum Internet hat und wer nicht. MB: Öffentlichkeit ist das für mich nicht. Das Internet ist ein Instrument und kein Ort. Wichtig ist doch, dass die offene Gesellschaft die direkte, persönliche Auseinandersetzung braucht – und nicht nur die Aneinanderreihung von schnell hingeschriebenen Kommentaren. Mails produzieren bloß ein Missverständnis nach dem andern. Ich komme zurück auf das von Volker Hassemer einberufene Stadtforum – eine Form der Öffent­ lichkeit, die sich bewährt hat. Hier re­deten Fachleute und Interessierte organisiert, zudem gut vorbereitet miteinander. Fehlt uns so etwas heute nicht? Wollen wir den Diskurs über Baukultur nicht in dieser Form öffentlich führen, außerhalb der festgefahrenen Strukturen, mit „offenem Visier“ debattieren? Nach einer gewissen Zeit können wir auf dieser Grundlage auch Entscheidungen treffen. Streitkultur brauchen wir. Es ist das wichtigste Thema, das die Stiftung langfristig verfolgen und gestalten muss: geeignete Formate zu ent­ wickeln, mit denen Krisen beziehungsweise Konflikte im Interesse der Baukultur ausgetragen werden können. UB, MB: Lieber Werner, wir danken Dir für das Gespräch.

Wilfried Dechau / Brücken bei Coburg, 2010

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Der Autor – ehemals Staatssekretär im BMVBS – würdigt, was der Staat als Bauherr und zum Teil als Bauausführender leistet. Zugleich spricht er an, wo und wie der Bund Besseres zur „Baukultur des Öffentlichen“ beitragen kann. Darüber hinaus weist er auf die Aufgaben, die für die Mobilität im postfossilen Zeitalter anstehen.

Engelbert Lütke Daldrup

Bauen für den Verkehr Strategien des Bundes für eine bessere Verkehrsbaukultur

01_Das Schiffshebewerk Niederfinow, 1927 – 1934 nach Konzepten des Oberregierungsrates Alfred Loebell.

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Verkehrswege und öffentliche Gebäude „gestalten“ Bund und Länder selbst. Der Bund, und hier vor allem das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), übernimmt durch seine eigenen Bauwerke, seien es Straßen, Brücken, Eisenbahnen, Wasserwege und Hochbauten, Verantwortung für die Baukultur in diesem Land. Hier arbeitet die öffentliche Hand mit einer Vielzahl von Akteuren zusammen, die am Bauen und Gestalten unserer Umwelt in den Städten und Kulturlandschaften beteiligt sind: Stadtplaner, Architekten, Landschaftsplaner, Ingenieure und Denkmalpfleger. Nicht zuletzt nehmen die Genehmigungsbehörden und die Planungs- und Bauverwaltungen der Länder und Gemeinden entscheidenden Einfluss darauf, was und wie gebaut werden darf. Aber auch viele zivilgesellschaftliche Akteure mischen sich in die Frage ein, wie ihre Städte, Häuser und Straßen aussehen sollen.

Das Spektrum der Bauaufgaben des Bundes Welche speziellen Aufgaben übernimmt der Bund, welche Verantwortung trägt er? Mit den „besonderen Bauwerken“, mit denen der demokratische Staat sich politisch repräsentiert, besetzt der Bund eine Schlüsselposition für die sichtbare Baukultur. Aber darüber hinaus übernimmt er zahlreiche große und kleine Bauaufgaben im ganzen Land und maßgebliche Teile der öffentlichen Infrastruktur. Seine Aufgaben reichen von der klassischen Baugesetzgebung über die Städtebauförderung, den öffentlichen Hoch- und Tiefbau bis hin zu Strategieaussagen zur Stadtentwicklung – wie der Leipzig-Charta zur nach­ haltigen europäischen Stadt. In den letzten 20 Jahren hat der Bund in Deutschland weit mehr als 200 Milliarden Euro in Infrastruktur und öffentliche Gebäude investiert. Dieses riesige Bauvolumen musste nicht nur gemanagt werden. Dem Bund bot sich auch eine große Chance, gut zu gestalten – mehr noch: Er war dazu verpflichtet. Der Bund hat als Bauherr mit dem Parlamentsund Regierungsviertel das Erscheinungsbild der „Berliner Republik“ geprägt. Die Bauten für die Verfassungsorgane und die herausragenden Kultur- und Wissenschaftsbauten gehören zu dem Teil der Baukultur des Bundes, der besonders im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht. Aber die

alltäglichen Bauaufgaben des Staates dominieren die baukulturell relevante Arbeit der öffentlichen Hand. Das reicht von Unterkünften des Technischen Hilfswerks über die Vermittlungsstellen der Bundesanstalt für den Digitalfunk bis hin zu Zollabfertigungsanlagen und Lotsenhäusern. Mit einem Anteil von etwa 15 Prozent ist die öffent­liche Hand ein durchaus gewichtiger Bauherr, der die gebaute Umwelt erheblich prägt. Verkehr, Bildung, Kultur, Verwaltung und Wissenschaft sind die klassischen Felder, auf denen sich der Bund durch eigene Bauten präsentiert.

Die Dominanz des Verkehrs Den vielleicht wichtigsten, auf jeden Fall aber umfangreichsten Teil des öffentlichen Bauens bilden der Bau und die Unterhaltung von Wasserstraßen, Schienenwegen, Bundesfernstraßen und Autobahnen. Generell schenkt die baukulturelle Debatte diesem gewichtigen Teil aber kaum eine angemessene Aufmerksamkeit. Gleichwohl sind Bahnhöfe, Straßen und Brücken mit ihren meistens technisch anmutenden Gestaltungsdetails von eminenter Bedeutung für die Stadt- und Landschaftsbilder. Das lässt sich bei herausragenden historischen Ingenieurbauwerken wie dem Schiffshebewerk Niederfinow oder auch bei spektakulären Neubauten wie der StrelasundQuerung und der Kehler Rheinbrücke leicht belegen. Umgekehrt wird Baukultur schmerzlich vermisst, wenn bei den großen und aufwändigen Bauaufgaben zur technischen Infrastruktur eine gestalterische Linie und erkennbare Qualitätsmaßstäbe fehlen. Qualitätskriterien Staatliches Bauen ist unteilbar und darf nicht qualitativ unterschiedlich bewertet werden: Auch an Autobahnen oder ICE-Neubautrassen müssen baukulturelle Qualitätsmaßstäbe angelegt werden. Hier gibt es offensichtlich – trotz mancher vorzeigbarer Brücke und landschaftlich gut integrierter Neubautrasse – noch viel zu tun, damit auch in diesem Bereich baukulturelle Maßstäbe stärker durchgesetzt werden. Die Bundesrepublik Deutschland als Bauherr ist mit ihren nachgeordneten Behörden und den für den Bund tätigen (Straßen-)Bauverwaltungen der Länder hier gefordert, für eine durchgehende Gestaltungsqualität zu sorgen.

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Lütke Daldrup

die Qualität und Gestaltkraft der Architektur, der Gebrauchswert für die Nutzer, nachhaltiges und energieeffizientes Bauen sowie der Einsatz innovativer Baustoffe und -verfahren, die Beachtung des Denkmalschutzes, die Ideenfindung über Wettbewerbe und die städtebauliche Integration. Weiter hat der Bauherr Bund auch allgemeine politische Ziele umzusetzen: Diese reichen von der Mittelstandsfreundlichkeit bei den Vergaben über die Förderung von Innovationen und Klimaschutz bis zur Stabilität der Arbeitsplätze im Baugewerbe.

Der Straßenbau – ohne baukulturelle Ambition?

02__Die Strelasundbrücke zwischen Stralsund und Rügen, 2004 – 2007 von der Ingenieurgesellschaft Schüßler-Plan und André Keipke.

Im öffentlichen Hochbau hat der Bund seit Jahren positive Maßstäbe gesetzt und mit vorbildlichen Bauten einen weithin anerkannten Beitrag zur Baukultur geleistet. Diese Bauten stiften kraft ihrer gestalterischen Präsenz Identität und legen die Messlatte für die Baukultur in diesem Land hoch. Dabei ist die Qualität von öffentlichen Gebäuden nicht nur an der architektonischen Form zu messen. Sie muss einer Vielzahl von Kriterien gerecht werden. Denn auch der öffentliche Bauherr bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Baukunst und Zweckerfüllung, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit. Welchen Anforderungen muss das öffentliche Bauen genügen? Öffentliche Bauten müssen nachhaltig sein im ökologischen Sinne, in ihrer Nutzungsflexibilität sowie in ihrer Lage und Einfügung in den Stadtraum. Selbstverständlich hat der öffentliche Bauherr gleichzeitig eine besondere Verantwortung dafür, dass Steuergelder effizient und gut verwendet werden. Qualität entsteht als Optimum aus allen Ansprüchen zusammen. Die architektonische und städtebauliche Qualität ist das Fundament. Wichtige baupolitische Ziele sind neben Funktionalität und Wirtschaftlichkeit

Das Netz der Bundesfernstraßen umfasst heute rund 12.800 Kilometer Bundesautobahnen und rund 40.000 Kilometer Bundesstraßen. Es ist eines der dichtesten Fernstraßennetze Europas. In den letzten zehn Jahren wurden jährlich rund fünf Milliarden Euro in die Bundesfernstraßen investiert. In den Jahren 2009 und 2010 standen – die Konjunkturprogramme eingeschlossen – sogar jeweils über sechs Milliarden Euro zur Ver­ fügung. Die Entwicklung der Bundesfernstraßen nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist beachtlich: Das Autobahnnetz wurde um über 2.000 Kilometer auf rund 12.800 Kilometer erweitert; der Bestand an Autobahnen mit sechs oder mehr Fahrstreifen wuchs um 1.800 Kilometer auf rund 2.950 Kilometer. Darüber hinaus wurden rund 3.200 Kilometer Bundesstraßen aus- oder neu gebaut, und es entstanden rund 590 neue Ortsumgehungen. Diese Zahlen zeigen die gewaltige baukulturelle Bedeutung des Straßenbaus. Sehr viele Orts- und Landschaftsbilder wurden gravierend – leider oft nicht zum Besseren – verändert. Akteure und Verantwortung Baulastträger der Bundesfernstraßen ist die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das BMVBS. Die konkreten Aufgaben (Planung, Bau, Erhaltung und Verwaltung) werden von den Straßenbauverwaltungen in den Ländern – als Auftragsverwaltung für den Bund – wahrgenommen. Der Bund entscheidet über die Prioritätensetzung (Bundesverkehrswegeplan und Straßenausbaupläne), das jährliche Gesamtbudget (im Rahmen der Bundeshaushaltspläne) und die Finanzierung

Bauen für den Verkehr

der jeweiligen Neu- und Ausbauprojekte (Freigabe jedes Einzelprojekts durch das BMVBS). Zudem sind die Straßenbauentwürfe, die von den Ländern mit Hilfe von Ingenieurbüros erarbeitet werden, dem BMVBS zur Genehmigung („Ge­ sehenvermerk“) vorzulegen. Weiterhin nimmt der Bund über Rundschreiben und Richtlinien – zum Beispiel Richtlinien für den Entwurf und die Ausbildung von Ingenieurbauwerken – sowie Dokumentationen – zum Beispiel Lärmschutzwände an Brücken, Gestaltung von Straßentunnelportalen – Einfluss auf den konkreten Straßenentwurf der Landesverwaltungen.

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träglich ist. Nur das Normierte, das durch gesetzliche Grenzwerte festgelegt ist, wird als Maßstab der Planung zugelassen. Und deswegen scheitern zum Beispiel viele städtebaulich vernünftige Lärmschutzlösungen an den Haushaltsprüfern. Nur durch „politische“ Entscheidungen konnten in der Vergangenheit Tunnellösungen in dicht besiedelten Ortslagen erreicht werden, zum Beispiel beim Riederwaldtunnel in Frankfurt oder beim Hamburger Tunnel der A7. Ohne diese „Ministerentscheidungen“ gäbe es manche zurückgewonnene städtebauliche Qualität nicht.

Verfahren für Straßen- und Brückenentwürfe Die grundlegenden Trassierungsentscheidungen werden – basierend auf dem Bundesverkehrswegeplan – in Raumordnungsverfahren und der so genannten Linienbestimmung getroffen. Daran sind im Wesentlichen die Verwaltungen beteiligt, wobei die Umweltverwaltungen mittlerweile eine sehr starke Stellung erreicht haben. Springspinnen und Laufkäfergesellschaften werden beim Straßenentwurf weit höher gewichtet als die Auseinandersetzung mit den landschaftsarchitektonischen und stadtgestalterischen Fragen. Gestalterische Fragen werden auf dieser Ebene im Übrigen höchst selten, wenn überhaupt, berücksichtigt. Beim konkreten Streckenentwurf stehen die ingenieurtechnischen Parameter – Gradien­ tenausbildung bis zur Höhe der Lärmschutz­ wände – im Mittelpunkt; baukulturelle Fragen kommen, wenn überhaupt, nur am Rande vor. Das einzige Feld, auf dem baukulturelle Aspekte beim Bundesfernstraßenbau seit Jahren intensiver bearbeitet werden, ist die Brückengestaltung. Hier wurden gelegentlich, vor allem bei größeren Brücken, begrenzte Gestaltungswettbewerbe durchgeführt; oder es wurden umfangreich Varianten untersucht und damit ein Qualitätsdiskurs im Kreis der Entwurfsingenieure initiiert. Mehr Gestaltungswettbewerbe werden von den Straßenbauverwaltungen wegen des höheren Personal-, Zeit- und Kostenaufwandes bisher abgelehnt. Zudem wird auf die erprobte Tradition der Variantenuntersuchung durch einen Entwerfer verwiesen, der Wettbewerbe entbehrlich mache. Auch der Bundesrechnungshof erweist sich durch seine extensive Prüfungstätigkeit schon in der Planungsphase von Straßenbauprojekten als Institution, die baukultureller Qualität wenig zu-

03__ Riederwaldtunnel Frankfurt-Erlenbruch – eine politische Entscheidung zum Schutz des Stadtteils Riederwald.

Eine neue Planungskultur für die Straße Bei allem, was die neue schwarz-gelbe Bundes­ regierung in der Baupolitik bisher falsch gemacht hat (sie reduzierte die erfolgreiche Städtebauförderung erheblich und zeigte offensichtliches Desinteresse an baukulturellen Fragen), traf sie doch eine richtige Strukturentscheidung: Die Straßenbauabteilung wurde mit der Bau- und Stadtentwicklungsabteilung im Geschäftsbereich des Baustaatssekretärs des BMVBS zusammengefasst. So besteht zumindest die Chance, die baukulturellen Fragen nicht nur wie bisher im Hochbau, sondern auch im Straßenbau mit einem integrativen Konzept anzugehen. Der Dialog zwischen den Städtebauern, Hochbauern und Ingenieuren, der in der letzten Legislaturperiode zaghaft begonnen wurde, könnte im Ministerium weiter vertieft werden.

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Der Bund könnte mit verschiedenen Instrumenten seine Gestaltungsverantwortung auch beim Straßenbau besser wahrnehmen. Bei den technischen Bauwerken, vor allem bei den vielen Autobahnbrücken, sollte der disziplinübergreifende Wettbewerb mit Ingenieuren und Architekten zum Regelverfahren werden. Es bedarf lediglich einer klaren Weisung des BMVBS an die Auftragsverwaltungen in den 16 Bundesländern, damit viel mehr interdisziplinär besetzte Wettbewerbe und kooperative Gutachterverfahren durchgeführt werden. Da hier in den letzten zehn Jahren vom Brückenbaureferat bereits wertvolle Vorarbeit geleistet wurde, könnte das BMVBS solche Verfahren relativ leicht durchsetzen. Schwieriger wird es sicherlich, die immer noch eingeschränkten Sichtweisen der Straßenbauingenieure aufzubrechen. In den letzten Jahrzehnten hat man zwar neue Umweltschutzaspekte in der Planung aufgegriffen, ohne allerdings zu begreifen, dass bei der Trassierung neuer Bundesstraßen nicht nur Ökologen, sondern auch Landschaftsarchitekten gefragt sind. Interdiszi­ plinäre Teams sollten beim Straßenentwurf der absolute Mindeststandard sein – wenn schon keine Qualität sichernden, konkurrierenden Verfahren durchgeführt werden. Im Kern geht es also um eine neue Planungskultur beim Straßenentwurf, um eine interdisziplinäre Aufgabe, die sich nicht in der Addition von technischen Einzelaspekten erschöpft, sondern einen synthetisierenden, gestalterisch ambitionierten Gesamtentwurf erfordert. Besser ausbilden Mit dieser Forderung sind wir bei einem Kern des Problems: der Ausbildung und Sozialisation der Straßenbauingenieure. Das Problem entsteht in der Regel mit dem Bauingenieurstudium, das immer noch auf technische Fragen verengt ist, geht über die Sozialisation in den Straßenbauämtern weiter und endet mit der Rekrutierung der Ministerialbeamten aus der Landesstraßenbauverwaltung. Wer diesen Weg durchlaufen hat, ist in der Fachbruderschaft der „richtigen“ Straßenbauer, „ohne gestalterische Flausen im Kopf“, endgültig angekommen. Deshalb muss sich nicht nur die Ausbildung der Bauingenieure ändern. Die Gestaltungskompetenz muss unbedingt auch in den Bauverwaltungen auf allen Ebenen politisch eingefordert

werden. Wir können auf qualifizierten Bausachverstand und baukulturelles Engagement in den öffentlichen Verwaltungen niemals verzichten. In Bund, Ländern und Gemeinden wird vor allem im „Alltagsgeschäft“ des Planens, Bauens und Genehmigens das baukulturelle Erscheinungsbild Deutschlands geprägt. Insofern muss es selbstverständlich werden, dass technische Spezialisten, Fachleute für Wirtschaftlichkeit und Vergabeverfahren mit den Experten für die gestalterische Qualität der Gebäude und städtebaulichen Räume interdisziplinär zusammenarbeiten. In der Ausbildung haben die modernisierten Studiengänge (Bachelor und Master) durch ihre Verschulungstendenzen die Kooperation von Verkehrsingenieuren/Straßenbauern mit Städtebauern/Architekten erschwert. Die unterschiedlichen Arbeitskulturen der Fakultäten behindern oft den guten Willen zur Kooperation. Kooperation und interdisziplinäres Lernen scheitern ganz praktisch an unterschiedlichen Stundenplänen, Betreuungsformaten und Prüfungsrastern. Oft fehlt einfach die Zeit im dichtgedrängten Stundenplan, die jeder Student braucht, um die anderen Disziplinen zu verstehen. Hier sind vor allem die Länder gefordert, in deren Hoheit die Studienreform liegt. Die Proteste gegen die Bachelor-Master-Reform haben bereits viele Schwachstellen dieser Konzeption offengelegt. In Zukunft muss vor allem die Kooperation über Disziplingrenzen hinweg in den Studienangeboten verbessert werden. Einfache Grundfragen unserer Lebenswelt – nachhaltige Entwicklung, wirtschaftliche Stabilität, sozialer Zusammenhalt, ökologische Vorsorge und baukulturelle Qualität – müssen auch Themen der Ingenieurausbildung sein. Bessere Regelwerke Wir brauchen eine intelligentere Anwendung der Regelwerke des Straßenbaus, die in den letzten Jahrzehnten durchaus verbessert worden sind. Die neuen Richtlinien für die Anlage von Straßen (RASt 06), die vom BMVBS eingeführt und den Bundesländern zur analogen Anwendung auf deren Straßennetze empfohlen wurden, beschreiben als Hauptziel der Planung von Stadtstraßen die Verträglichkeit mit den Nutzungsansprüchen und Umfeldnutzungen. „Diese Verträglichkeit muss (...) unter Wahrung der städtebaulichen Zusammenhänge und unter Berücksichtigung gestal-

Bauen für den Verkehr

terischer und ökologischer Belange angestrebt werden“ (RASt 06, S. 15). Traditionelle Modelle des Straßenraumentwurfs orientierten sich vor allem an der Verkehrsstärke. Davon kehrt sich die neue RASt 06 ab – sie geht stattdessen von einer städtebaulichen Bemessung des Straßenraums aus. Gebietscharakter, Umfeldnutzung und Aufenthaltsfunktion sowie straßenräumliche Situation sind nach den aktuellen Regelwerken gleichberechtigte Entwurfsparameter neben den verkehrlichen Merkmalen. Um diese integrierte Perspektive der Straßenraumgestaltung erfolgreich umzusetzen, brauchen wir den aufgeschlossenen Ingenieur und das interdisziplinäre Team. Gestaltungsbeiräte Kommen wir zu einem weiteren baukulturell vernachlässigten Thema, den Nebenanlagen der Bundesfernstraßen. Die Gestaltung von Lärmschutzwänden, die Begrünung, die Beschilderung, die Beleuchtung – das sind Themen, bei denen sich wichtige Entwurfsfragen stellen. Hier könnten zwei baukulturelle Verbesserungsstrategien zum Tragen kommen: die systematische, gestalterische Bearbeitung durch interdisziplinäre Teams auf der Bundesebene und die lokale beziehungsweise regionale Betreuung der Bauprojekte durch Gestaltungsbeiräte, die sich aus qualifizierten Ingenieuren, Architekten und lokalen Experten zusammensetzen. Dabei kann der Bund von den Kommunen lernen. Immer mehr Kommunen setzen bei der Baupraxis vor Ort in Gestaltungsbeiräten und an runden Tischen „Baukultur“ auf die Tagesordnung. Auf diese Weise gelingt es oft, einen Konsens zwischen Verwaltung und Politik, Planern, Architekten und Eigentümern sowie zivilgesellschaftlichen Kräften, den Vertretern von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur in den Städten und Gemeinden, herzustellen. Diese auch für Bundesstraßen vorgeschlage­ nen Gestaltungsbeiräte sollten in eine neue Beteiligungskultur beim Infrastrukturausbau integriert werden; über Projektbeiräte ließen sich auch die lokale Bevölkerung und die Verwaltung besser einbeziehen. Zwar haben Gestaltungsbeiräte keine exekutive Umsetzungsmacht, doch führt der Zwang, Projekte solchen Gremien vorzulegen und sich dem fachlichen Diskurs mit Experten zu stellen, in der Regel bereits zu einer deutlichen Qualitätsverbesserung. Ähnliches könnte auch

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im Bahnbau eingeführt werden. Die Konflikte um Stuttgart 21 belegen eindringlich, dass die Beteiligungskultur bei Bundesprojekten verbessert werden muss.

Mobilität im postfossilen Zeitalter Bisher habe ich den Bundesfernstraßenbau quasi systemimmanent betrachtet, aber es stellen sich darüber hinaus Fragen, die weiter in die Zukunft weisen. Verändert sich unser Mobilitätsverhalten? In der aktuellen Studie „Mobilität in Deutschland 2008“ wird ein verändertes Verkehrsverhalten erkennbar: Im letzten Jahrzehnt ist beim Modal Split, der Verteilung des Transportaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel, ein leichter Zuwachs beim Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), ein etwa gleichbleibender Autoverkehr und die größte Zunahme beim Fahrradverkehr festzustellen. Vor allem die Jüngeren nutzen mehr und mehr den ÖPNV und nutzen das Auto weniger. Dies entspricht veränderten sozialen Werten: Das Auto ist bei Jugendlichen nicht mehr das wichtigste Statussymbol, sondern die Wohnung oder die Medienausrüstung. Diese leichte Abkehr von der Autofixierung unserer Gesellschaft ist vor allem in den Städten zu beobachten: In Berlin verfügen 41 Prozent der Haushalte über kein Auto, in Hamburg sind es 34 Prozent. In Deutschland trifft das auf jeden Sechsten zu, allerdings gilt dies viel weniger für den ländlichen Raum. In Baden-Württemberg haben beispielsweise nur 11 Prozent der Haushalte kein Auto – das sind Werte, in denen sich geringe Urbanität, aber auch der hohe ökonomische Status ausdrückt. Güterverkehr Wenn das Auto in Ballungsräumen allmählich an Bedeutung verliert, zeichnet sich darin nur ein Pfad zukünftiger Entwicklungen ab. Anders sieht die Situation auf den Haupttransitachsen aufgrund der verstärkten internationalen Arbeitsteilung aus. Nach den Prognosen des BMVBS wird ein globalisierungsbedingtes Verkehrswachstum im Personenverkehr von 19 Prozent bis zum Jahr 2025 und im Güterverkehr von 71 Prozent bis 2025 erwartet. Zwar wurden diese Prognosen 2008 – und damit vor der internationalen Finanz­ krise – erstellt, und insofern mag umstritten sein, wie hoch das Verkehrswachstum ausfällt und

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wann es so weit sein wird. Dennoch ist die Tendenz klar: Die deutschen Hochleistungsstraßen werden vor allem mit stark zunehmendem LkwVerkehr zu kämpfen haben. Diese beiden konträren Entwicklungstendenzen führen in den städtischen Räumen, abseits der internationalen Magistralen, zu neuen Spielräumen in der Straßenraumgestaltung; andererseits wird der Ausbaudruck auf den Transittrassen weiter zunehmen. Verschärft wird diese Entwicklung, weil das Transportgewerbe die „Gigaliner“ propagiert. Die neue Bundesregierung will im Jahr 2011 – gegen den Protest der Städte – einen Feldversuch mit diesen überlangen Lkw durchführen. Wenn die Gigaliner in Deutschland zugelassen werden, folgt zwangsläufig ein neuer Schub an „verkehrsgerechtem Straßenausbau“ – mit unabsehbaren Folgen für die Stadtgestalt.

04__ Saarbrücken, „Stadtmitte am Fluss“ – ein Projekt für die Verlegung der Stadtautobahn in einen Tunnel.

05__ Das Ufer der Saar ließe sich als attraktiver Aufenthaltsort für die Bevölkerung zurückgewinnen.

Verkehr in den Innenstädten Stattdessen muss es in unseren Städten um eine neue Kultur der Mobilität gehen. Weil ohnehin viele Bundesstraßen und Stadtautobahnen erneuert werden müssen, bietet sich die große Chance, die städtebaulichen Fehlleistungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konsequent zu korrigieren. Die anstehende Sanierung der Großinfrastrukturen, die in die Jahre gekommen sind, können wir für neue urbane Qualitäten nutzen. In Hamburg kann es gelingen, die hoch belastete Wilhelmsburger Reichstraße aus dem IBA-Gebiet an den Rand des Stadtteils zu verlagern. In Saarbrücken könnten die Stadtautobahn in einen Tunnel verlegt und die Stadtmitte am Fluss wieder belebt werden. Ähnliches wird in Heidelberg mit der Neckaruferstraße in der Altstadt versucht – in Düsseldorf ist die Wieder­ gewinnung urbaner Qualitäten mit der Rheinuferstraße erfolgreich vorgemacht worden. Wenn eine neue Kultur urbaner Mobilität erreicht werden soll, müssen Stadtentwicklungsund Verkehrsplanung integriert betrachtet werden. Konsequente Innenentwicklung und Nutzungsmischung bescheren uns eine Stadt der kurzen Wege. Verkehr zu vermeiden und den Umweltverbund (ÖPNV, Radverkehr, Fußgänger) gezielt zu fördern, gehört genauso zu dieser Strategie wie die Verbesserung des Zusammenspiels der Verkehrsträger entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit.

Bauen für den Verkehr

Elektromobilität – eine Chance für die Baukultur? Die Bundesregierung will bis zum Jahr 2020 eine Million Elektroautos auf deutschen Straßen fahren sehen. Weil Elektroautos bislang eine begrenzte Reichweite besitzen, wird man sich auf die Stadtregionen konzentrieren, wo Bewohner mit weniger Lärm und geringerer Schadstoffbelastung rechnen dürfen. Allerdings wird uns diese Entwicklung auch neue Stadtmöbel (Ladestationen) und neue Flächenansprüche im Straßenraum bescheren. Am generellen Verkehrsaufkommen und damit an den Platzansprüchen des Autos im öffentlichen Raum wird das Elektroauto wenig ändern. Weil Elektroautos reichweitenbedingt oft das Zweitauto sein werden, steht sogar zu befürchten, dass noch mehr öffentlicher Raum als Abstellplatz quasi privatisiert wird. Mit einer Million Elektroautos in zehn Jahren, aber weiterhin über 40 Millionen konventionellen Autos sind wir vom postfossilen Zeitalter und echten, systemischen Lösungen im Mobilitätsbereich noch meilenweit entfernt. Mit den Elektroautos sind die ersten Vorboten einer veränderten Mobilität in den Städten erkennbar. Aber es ist überhaupt noch nicht abzusehen, wie die zukünftige Mobilität ohne Öl in unseren Städten tatsächlich Gestalt annimmt. Werden in 50 Jahren weiterhin individuelle Automobile mit postfossilen Antriebssystemen die Megastädte prägen, oder gewinnt der öffentliche Nahverkehr eine ganz neue Bedeutung? Die künftigen Rahmenbedingungen für die Gestaltung des öffentlichen Raums waren selten so ungewiss wie heute.

Die Bundesstiftung – ein Anwalt der Baukultur Mit der Gründung der Bundesstiftung gibt es für die Baukultur gewissermaßen eine zentrale Instanz und unabhängige Intendanz. Seit Mitte 2008 ist die Bundesstiftung Baukultur arbeitsfähig und hat sich im Feld der Baukultur des Öffentlichen richtigerweise mit dem Thema Verkehr eines sperrigen und schwierigen baukulturellen Problems angenommen. Für die Baukultur in unserem Land ist es deswegen von erheblicher Bedeutung, dass die Bundesstiftung sich mit Gesicht und Stimme auch weiterhin mit der hohen baukultu-

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rellen Dimension von Verkehrsräumen auseinandersetzt und – das ist zu hoffen – damit Profil und Autorität in der gesellschaftlichen Debatte gewinnt. Dabei muss die Bundesstiftung Baukultur darauf dringen, dass der Staat seine baukulturelle Verantwortung nicht delegiert, sondern auch selbst wahrnimmt. Es reicht nicht aus, der Verantwortung nur partiell – in den eigenen, zumeist gelungenen Hochbauten – gerecht zu werden. Der öffentliche Bauherr ist dazu verpflichtet, für eine ungeteilte Baukultur in diesem Lande Sorge zu tragen. Verkehrsräume liegen im öffentlichen Interesse. Infrastrukturen haben immer einen öffentlichen Charakter, da sie in den öffentlichen Raum von Städten und Kulturlandschaften wirken. Hier ist der fachliche und politische Treuhänder gefragt. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung steht hier in der besonderen Verantwortung, für eine ungeteilte Baukultur einzutreten. Auch zehn Kilometer Autobahn sind eine baukulturelle Aufgabe ersten Ranges!

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Schärfer als Engelbert Lütke Daldrup hinterfragt der Kritiker Wilhelm Klauser unsere gesamten Mobilitätsansprüche und infrastrukturellen Systeme. Er fordert eine viel stärkere Vernetzung der Beteiligten in Politik, Planung und Wissenschaft und dringt außerdem auf eine neue, den Bürger stärker einbeziehende Diskurskultur.

Wilhelm Klauser

Mobilität und Baukultur Anmerkungen zu einer Vogel-Strauß-Strategie

Es dürfte kaum jemanden geben, der sich ge­gen eine Verbesserung oder Erleichterung der An­bin­ dung wehrt. Der schnelle Transport oder die verlässliche Vermittlung von Gütern sind für moderne Volkswirtschaften unerlässlich. Wir sind uns einig: Niemand steht gerne im Stau. Waren müssen just in time vor der Tür stehen, OnlineBestellungen sollten am besten schon unmittelbar nach der Bezahlung ausgeliefert werden. Warum also über etwas reden, das selbstverständlich ist? Wir brauchen Straßen! Asphalt, Bürger­ steige, Zebrastreifen, Ortsschilder, Entfernungs­ angaben, Ampeln, Standstreifen, Parkplätze, Auffahrten, Brücken, Untertunnelungen… Aber was bedeutet es eigentlich, eine Straße zu bauen? Und wo ist da der Raum für Baukultur?

„Als Entscheidungsgrundlage für die Infrastruk­ turplanung sind langfristige Verkehrsprognosen erforderlich. Ein vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung beauftragtes Forschungskonsortium hat 2007 eine Prognose der deutschlandweiten Verkehrsverflechtung für 2025 vorgelegt. Diese erweitert den Planungs­ horizont gegenüber der dem Bundesverkehrs­

wegeplan (BVWP) 2003 zugrunde liegenden Verflechtungsprognose 2015 deutlich. (…) Kernstück der Arbeiten bildete die Erstellung der räumlichen Verflechtungsmatrizen im Personenund im Güterverkehr für die Jahre 2004 (Analyse) und 2025 (Prognose). Die Matrizen dienen als Rahmen und wesentliche Datengrundlage für die Verkehrsprognose und damit für die Fortentwick­ lung der Verkehrsplanungen in Bund und Ländern und zur Überprüfung der Bedarfspläne.“1 In Deutschland wächst der gesamte Per­so­ nenverkehr zwischen 2004 und 2025 von 100,3 Milliarden Fahrten auf 103,1 Milliarden Fahrten jährlich. Der motorisierte Verkehr nimmt um 7,1 Prozent zu. Die Fahrtweiten selbst erhöhen sich um 17,9 Prozent. Es heißt, dass der demo­ grafische Faktor – die Tatsache, dass es weniger Bewohner dieses Landes geben wird – durch das gewohnte Mobilitätsverhalten der alternden Bevöl­ kerung konterkariert wird.2 Rentner sind anschei­ nend nicht bereit, auf den Pkw zu verzichten. Der Verkehrsinvestitionsbericht führt weiter aus: In Deutschland muss im Güterfernverkehr zwischen 2004 und 2025 mit einer Zunahme der Güterverkehrsleistung um 74 Prozent gerechnet werden. Das Transportaufkommen wird um 48 Prozent ansteigen. Der Güternahverkehr hin­

1. __ Verkehrsinvestitionsbericht 2009, S. 16. 2. __ Intraplan Consult GmbH und BVU Beratergruppe Verkehr + Umwelt GmbH (2007): Prognose der deutschlandweiten

Verkehrsverflechtungen 2025, FE-Nr. 96.0857/2005, im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, S. 5.

Düstere Prognosen

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gegen wächst lediglich um schlappe 3 Prozent ( Transportaufkommen) beziehungsweise um 11 Prozent (Transportleistung). Im Straßengüterverkehr fällt der Anstieg mit 79 Prozent und im Straßengüterfernverkehr mit 84 Prozent noch deutlicher aus.3 Einem Güterauf­ kommen, das im Jahr 2004 3,6 Milliarden Tonnen betrug, wird im Jahr 2025, selbst wenn ein demo­ grafischer Faktor eingerechnet wird, ein Auf­ kommen von 4,6 Milliarden Tonnen gegenüber­ stehen, die auf den Straßen transportiert werden wollen. Die Güterverkehrsleistung, die Distanz der Beförderung also, wird sich im selben Zeitraum von etwa 548 Milliarden Tonnenkilometern auf 936 Milliarden Tonnenkilometer um 71 Prozent erhöhen, denn die Transportweiten werden um 34 Prozent zunehmen. Der Modal Split, das heißt die Verteilung der Lasten auf die Verkehrsträger, auf denen sie diese Distanzen überwinden, wird sich dagegen bis 2025 nur graduell verändern. Weiterhin werden über 80 Prozent des Güterver­ kehrsaufkommens über die Straße abgewickelt werden. Da sich dieser Anstieg selbstverständlich re­ gional ungleichmäßig verteilt, ist auf vielen Fern­ straßen nahezu mit einer Verdoppelung des Güterverkehrs zu rechnen. Wenn der prognosti­ zierte Anstieg Wirklichkeit wird, bedeutet dies: Wo heute auf Autobahnen eine Fahrspur vom Lkw genutzt wird, sind in knapp 15 Jahren zwei Spu­ ren nötig, um das gestiegene Güteraufkommen zu bewältigen.4 Die Ergebnisse der Untersuchun­ gen sind eindeutig. Die Straßen, die wir brauchen, werden durch den Güterverkehr beansprucht. Konsequent wurden die Ergebnisse im Herbst 2008 durch die Bundesregierung in einen Master­ plan für Güterverkehr und Logistik übersetzt. Dort werden die folgenden Ziele definiert:5 • Die Verkehrswege sollen optimal genutzt und der Verkehr soll effizient gestaltet werden. • Verkehr soll vermieden und Mobilität gesichert werden. • Verkehr soll auf Schienen und Binnenwasser- straßen verlegt werden. • Ein verstärkter Ausbau von Verkehrsachsen und -knoten soll erfolgen. Hier soll der Schwer­ punkt auf einer Verbesserung der Hafenhinter landanbindungen und der großen Nord-Süd- Tangenten liegen.

3. __ Ebenda, S. 12. 4. __ Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick­ lung: Masterplan Güterverkehr und Logistik, 2008. 5. __ Ebenda, S. 19 – 25.

• •

Es soll ein klima- und umweltfreundlicher Verkehr gefördert werden. Es soll für eine gute Arbeit und Ausbildung in der Logistik gesorgt werden.

Die Fehler aller Beteiligten Es fällt auf: In keinem der Papiere, auf denen der anstehende Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in der Bundesrepublik basieren wird, ist erwähnt, dass baukulturelle Kriterien eine Rolle zu spielen haben. Vorgestellt werden technische Weiß­ bücher. Es scheint Konsens zu sein, dass ein globaler Wachstumsmarkt bedient werden muss, der einer radikal ökonomisierten, arbeitsteilig organisierten Gesellschaft nachgeformt wurde. Intelligente Leitsysteme, Verkehrssatelliten oder Logistiknetze haben ein Eigenleben entwickelt – sie werden eine Überformung des Lebensraums beschleunigen und seine Bewohner vor ungeahn­ te Anpassungsprobleme stellen. Gestalterische oder moderierende soft skills spielen keine Rolle. Es ist mir nicht bekannt, dass irgendeine Institu­ tion gegen die vorliegenden Projektionen in die Zukunft Einspruch erhoben hätte oder zumindest mahnend Zeit für eine Anmerkung gefunden hätte. An Planern oder Gestaltern, an Kirchen, Umweltverbänden oder anderen Initiativen ist die Diskussion vorbeigegangen, genauso wie an der politischen Opposition. Eine gesellschaftliche Debatte darüber, was der Ausbau des Verkehrs­ netzes bedeutet, ist unterblieben – vielleicht stößt die Bundesstiftung Baukultur sie an. Das ist eine unerhörte Fehlleistung, die heute noch nicht abzuschätzende Folgen haben wird, spätestens dann, wenn die Gesellschaft realisiert, was diese Entwicklungen im Konkreten bedeuten.

Konsequenzen Die hin und wieder aufblitzenden Ausblicke auf das, was der Landschaft bevorsteht, rufen näm­ lich blankes Entsetzen hervor. An den Autobahn­ ausfahrten, neben denen Rastanlagen wie Pilze aus dem Boden schießen, oder in den homoge­ nen Fassaden von Cross-Docking-Stationen am Schkeuditzer Kreuz oder in Hermsdorf zeigen sich die ersten Ablagerungen. Güterverteilzentren werden ohne Maßstab vor den Städten aufge­ baut. An den Stadträndern und in den Agglomera­ tionsräumen entstehen Lageranlagen, die in ihrer Ausdehnung die Dimension der Innenstädte um ein Vielfaches überschreiten. Riesige Schubver­ bände werden auf Binnenwasserstraßen durch

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Biosphärenreservate gleiten. Die Hafenanlagen fressen sich in das Hinterland. All dies geschieht im Abseits, dort, wo es niemand wahrnimmt, bes­ ser gesagt: wo es noch niemand wahrnimmt.

konnten rund 1.500 Kilometer Bundesstraßen aus- oder neu gebaut werden, darunter 230 Ortsumgehungen.“7 Die Weichen sind gestellt. Die Straßen werden gebaut.8 Und nun?

Gegensteuern auf der Straße

Renitente Bürger

Der Bau einer Straße bedeutet viel mehr als eine optimierte Verbindung zwischen zwei Punkten. Er bewirkt Veränderungen im Verhalten, in der Arbeitsorganisation, und er beeinflusst den Ausbau und die Nutzungen der Landschaft oder der Stadt. Die bestehenden Siedlungsstrukturen, zwischen denen die Transportvorgänge ablaufen, wirken vor einer Projektion in die Zukunft des Transports, wie sie sich in den Szenarien andeu­ tet, seltsam überholt. Alte Strukturen werden bereits heute durch massive Transferleistungen gestützt, ihre Schwächen sind unübersehbar. Es stellt sich mittelfristig die Frage, ob sich Förderung als verlässlicher Stabilisator erweisen kann, um vertraute Zusammenhänge zu erhalten. Engelbert Lütke Daldrup beklagt zu Recht eine Reduzierung der städtebaulichen Fördermittel, die mit dem letzten Regierungswechsel erfolgt ist.6 Was also unvorhersehbare Wechsel in den kom­ menden Legislaturperioden bedeuten, vermag man sich leicht vorzustellen: Jenseits der Räume, die wir heute kennen, wird eine Landschaft sicht­ bar, die wir noch nicht bewohnen und die uns neue Verhaltensweisen aufzwingt – ob wir es nun wollen oder nicht. Eine Diskussion über eine Baukultur des Verkehrs, die sich vor diesem Hintergrund auf die Ausstattung von Tunneleinfahrten, Brückenbau­ werken, Bahnhöfen beschränkt oder den Aufbau von Lärmschutzwällen, verkennt die Dimension der Aufgabe. „Ein Schwerpunkt der Investitions­ tätigkeit (des Bundes) der vergangenen Jahre lag beim Neubau und der Erweiterung von Bundes­ autobahnen. So wurden seit 2001 mit einem Bauvolumen von rund 22,4 Milliarden Euro bereits rund 1.000 Kilometer Autobahnen neu gebaut sowie rund 520 Kilometer Autobahnen auf sechs oder mehr Fahrstreifen erweitert. Darüber hinaus

Plötzlich ist die Irritation da. Die Zahlen, auf denen die Szenarien aufbauen, machen misstrauisch, denn eine Diskrepanz springt förmlich ins Auge: Die Mobilisierung, die ansteht, ist keine Mobili­ sierung der Menschen, es ist eine Mobilisierung der Güter! Es geht also nicht nur um eine Straße, die Menschen zueinanderführt oder „gleichwer­ tige Lebensbedingungen“ schafft. Es entsteht viel mehr. An der Ausfahrt der Autobahn gibt es plötzlich Gewerbegebiete und Outlet-Center. Vor der Ortschaft zweigt die Umgehungsstraße ab. An der Stadteinfahrt lockt ein Möbelzentrum, Gabionen verstellen den Blick: Alltag. Es gibt Widerstand. Die Bürger wehren sich. Die Straßen durchschneiden Biotopverbünde, zwingen Fuß­ gänger zu Umwegen und erzeugen unerträglichen Lärm. Mobilität? Bereits heute werden jährlich zwei Drittel des Budgets, das für Verkehrsinfra­ strukturen zur Verfügung steht, für Erhaltungs­ maßnahmen aufgewendet.9 Der Aufwand wird mit Sicherheit steigen. Das Misstrauen der Menschen wächst, denn die Risiken und Folgen, die der infrastrukturelle Ausbau mit sich bringt, sind nur schwer abzuschätzen. Abgeschlossene Verfahren werden plötzlich in Frage gestellt, Schnellstraßen enden im Nichts. In der Tagespresse finden sich ätzende Leserbriefe. Aus heiterem Himmel fallen Einflugschneisen auf die Städte, wenn die Flughä­ fen kurz vor der Fertigstellung stehen. Die Politik stiehlt sich aus der Verantwortung. Irgendetwas ist in Schieflage geraten. Es sind nicht mehr nur die NIMBY (Not In My Backyard)-Protestierer, die sich wehren.

6. __ Siehe den Beitrag von Engelbert Lütke Daldrup, S. 70 in diesem Band. 7. __ Verkehrsinvestitionsbericht 2009, S. 15; http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/004/1700444.pdf, gefunden am 2.11. 2010. 8. __ Das Fünfte Fernstraßenausbauänderungsgesetz ( 5. FStrAbÄndG ) und der als Anlage zugehörige „Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen“ (BPl) sind am 16. Oktober 2004 (BGBl. I 2004, S. 2574) in Kraft getreten. Der BPl beinhaltet

Frachtbriefe 2007, als die Prognose der zukünftigen Ver­ kehrsverflechtungen erarbeitet wurde, stellte

folgende Bauziele (vordringlicher Bedarf, ab 2001): • Neubau von 1.900 km Autobahnen ( Bauvolumen rund 15 Mrd. Euro ), • Erweiterung von 2.200 km Autobahnen auf sechs oder mehr Fahrstreifen (rund 13 Mrd. Euro), • Aus- und Neubau von 5.500 km Bundesstraßen ( fast 19 Mrd. Euro); davon allein rund 11 Mrd. Euro für rund 850 Ortsum­gehungen.

Mobilität und Baukultur

das statistische Bundesamt im innerdeutschen Verkehr auf der Straße eine Beförderungsmenge von 3,39 Milliarden Tonnen fest, das sind 84 Pro­ zent der Gesamtfracht.10,11 318 Millionen Tonnen – das sind knapp 10 Prozent – wurden damals exportiert. Nur 26 Prozent davon wurden über die Straße geführt. Exportwaren aus Deutschland werden über hochkomplexe Anlagen ausgeliefert, die in der Regel direkt über die Schiene in die Häfen gebracht werden. In die andere Richtung sah es ähnlich aus. 418 Millionen Tonnen wurden importiert – davon erreichten nur 15 Prozent über die Straße ihr Ziel! Und zuletzt: 45 Millionen Tonnen Fracht waren Durchgangsverkehre. Davon verliefen aber nur 6,8 Prozent über die Straße.12 Der Löwenanteil des Straßentransports bewegt sich also innerhalb Deutschlands – und noch mehr verblüfft die Feststellung: Er bewegt sich über kurze Distanzen. Es zeigt sich nämlich, dass 45 Prozent der Binnenbeförderung aus Bau­ schutt bestand, der über eine durchschnittliche Distanz von höchstens 30 Kilometer befördert wurde. Weitere 6 Prozent machen den Transport landwirtschaftlicher Güter aus, die ebenfalls nur über relativ kurze Distanzen in Veredelungsbe­ triebe transportiert werden: Zuckerrüben oder Korn, Milch oder Schlachtvieh. Weitere 11,4 Pro­ zent des Lastaufkommens betrafen den Transport von Nahrungs- und Futtermitteln für Tiere.13 Diese Transporte berührten die Agglomerationsräume gar nicht und wurden größtenteils im ländlichen Gebiet abgewickelt. In Deutschland handelte es sich 2007 beim Transport in der überwiegen­ den Zahl der Fälle um regionale Verkehre, die mög­licherweise durch entsprechende lokale Maßnahmen aufgefangen und gesteuert oder gar überflüssig werden können. Die verbleibende Logistikaufwendung – im­ merhin 38 Prozent – muss sich aus Transportleis­ tungen rekrutieren, die unmittelbar der Produktion, aber eben auch der Verteilung der gebrauchs­ fertigen Güter zuzurechnen sind. Hier zeigt sich auch die Konzentration des Einzelhandels, die in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren abgelaufen ist. Die Waren müssen die Supermärk­

9. __ Winterdienst 4.900 Euro/km, Grünpflege 7.900 Euro/km, Reinigung 5.200 Euro/km, Streckenwartung/Schadensbehe­ bung 6.700 Euro/km, Instandhaltung der Ausstattung 3.600 Euro/km, Sofortmaßnahmen 1.800 Euro/km, Verkehrstechnik, Beleuchtung, Tunnel, Fernmeldenetz 4.500 Euro/km. (Verkehrs­ investitionsbericht 2009, S. 202; http://dipbt.bundestag.de/ dip21/btd/17/004/1700444.pdf, gefunden am 8.11. 2010). 10. __ www.destatis.de; Güterbeförderung, Verkehrsleistung, gefunden am 4.11. 2010.

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te erreichen, die an Umgehungsstraßen oder am Stadtrand eingerichtet wurden. Dass dabei die Innenstädte ausbluten und veröden, wie es in der Analyse der Versorgungssituation in Deutschland immer wieder beklagt wird, hängt mit diesen Konzentrationsprozessen zusammen. Sie hatten in der Vergangenheit auf der Transportebene Auswirkungen, führten zu einer charakteristischen und wenig untersuchten Geografie der Distribu­ tion. Die groß dimensionierten Strukturen, die entstanden sind, lassen sich jetzt natürlich nicht auf die Schnelle anpassen oder gar wegdisku­ tieren. Sie allerdings als irreversible Setzungen für den langfristigen Ausbau des Lebensraums zu akzeptieren, eine Verkehrsinfrastruktur genau für diese Systeme auf- und auszubauen, das muss neu durchdacht werden. Es ist möglich, aber was genau werden die Folgen sein? Werden die Schwerpunkte darauf gelegt, wird eine räumliche Organisation mit gestalterischen und sozialen Unzulänglichkeiten zementiert. Die Idee einer „fußläufigen“ und „durchmischten“ Stadt beispielsweise, das Ideal einer „Stadt der kurzen Wege“, wird unwahrscheinlich.

Transport, Transfer Wir müssen weiter denken: Die Reduktion der Mobilität auf das Thema des Transports, wie es sich im einfachen Straßenbau andeutet, springt zu kurz. Es geht nicht nur um die Brücke, den Überweg oder den Platz. Ein baukultureller Ansatz zum Thema Verkehr muss umfassend sein. Nur 44 Prozent der Gesamtumsätze der Logistik­­leis­­tun­ gen in Deutschland werden beispielsweise durch den Transport an sich erwirtschaftet, der auf der Straße erfolgt, die für ihn in den kommenden 15 Jahren so massiv ausgebaut werden soll. 46 Prozent der Gesamt­umsätze entfallen auf die Bereiche Lagerwirtschaft und Beständehaltung. Und die verbleibenden 10 Prozent müssen der Abwicklung und Planung von Logistikabläufen zugerechnet werden. Im anstehenden Ausbau der Straßennetze spiegelt sich zunächst also nur knapp die Hälfte der raumrelevanten Logistikumsätze. 11. __ Im Jahr 2009 stellten sich die Rahmenbedingungen entsprechend schwächer dar. Gegenüber 2008 ist die Beförderungsmenge um 10 Prozent zurückgegangen. Quelle: www.destatis.de, gefunden am 4. 11. 2010. 12. __ www.destatis.de; Güterbeförderung; Beförderungsmen­ ge nach Hauptverkehrsrelationen und Verkehrsträgern 2007, gefunden am 19. 04. 2009. 13. __ www.destatis.de; Güterbeförderung; Beförderungs­ menge nach Verkehrsträgern und Güterabteilungen 2007, gefunden 19. 04. 2009.

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Wird der Gütertransport durch den avisierten Auf- und Ausbau der Verbindungen radikal sub­ ventioniert, löst dies einen Bauboom bei Logistik­ zentren aus, über deren gestalterische Qualität wohl auch in Zukunft wenig zu sagen ist und die wohl auch nicht beeinflusst werden kann. Die langen Bauwerke und die eng verflochtenen Netze: Straßen sind nicht nur Verbinder, sie sind auch Generatoren einer schäbigen und gleich­ gültigen Umgebung, wenn sie nicht über die Leit­ planke und über die Lärmschutzwand hinaus ge­ dacht werden. Da lässt sich nichts beschönigen.

Mobilität – Planen und Gestalten Das Thema „Mobilität“ wird in den kommenden Jahren den Ausbau der Landschaft maßgeblich beeinflussen. Es entsteht eine Landschaft, in der Strukturen nur noch in kurzen Zyklen fixiert sind. Lebensrhythmen beschleunigen sich, vertraute Verbünde zerfallen. Wer diese Entwicklungen negiert oder aufhalten will, hofft vergeblich. Solche Naivität darf sich niemand leisten, dafür ist die Situation zu akut. In dieser Entwicklung zeichnet sich allerdings ein Gestaltungsspielraum ab, der unermesslich ist und der jetzt verantwor­ tungsbewusst ausgefüllt werden muss. Dies ist der Raum, in dem sich die Baukultur eines Bundes entfalten kann, der gestaltet und nicht nur plant. Der Bund wird seiner baukulturellen Verant­ wortung nicht gerecht, indem er nur weitere Wett­ bewerbe auslobt, die die bauliche Ausformung der Infrastruktur betreffen, oder indem er neue Beiräte einberuft. Er wird seiner Verantwortung vielmehr gerecht, wenn er sich zu einer offenen Reflexion über die Wirkungszusammenhänge bereit findet, die im gesamten infrastrukturellen Ausbau analysiert werden müssen. Dies liegt im ureigenen Interesse des Bundes, denn die gesell­ schaftlichen Fliehkräfte, die sich in dieser Ent­ wicklung verbergen, sind enorm; sie stellen die Realisierung auch von sinnvollen Infrastrukturpro­ jekten vor immer größere Hindernisse. Die extrem langfristigen und komplexen Planungsvorläufe können weder auf Veränderungen in der Industrie oder Gesellschaft reagieren, noch erlauben sie eine überzeugende Exit-Strategie, um sich auf eine gegenläufige oder unvorhergesehene Ent­ wicklung einlassen zu können. Wer weiß, welche Veränderungen sich in 20 Jahren abspielen? Ein Plan, der die vorliegenden Prognosen ak­ zeptiert und sie einfach in gebaute Realität über­ setzt, konterkariert die vielfältigen Bemühungen,

den räumlichen Wildwuchs einzugrenzen und den Flächenverbrauch zu beschränken. Wie will man mit solch einem Ansatz auch das Problem der „Zwischenstadt“ in den Griff bekommen, die eben nichts mehr und nichts weniger ist, als eine Ab­ bildung von optimierten Distributionsprozessen? Und wie verträgt sich dieser Ansatz überhaupt mit dem Wunsch, den CO 2 -Ausstoß zum Wohle des Klimas zu reduzieren? Die Chance, Mobilität oder Infrastruktur als eine unternehmens- und branchenübergreifende Schnittstellendisziplin par excellence zu begreifen, die durch ihre Ausformung und Vermittlungsfunktion räumliche und gesellschaftliche Disparitäten ausgleichen kann, muss genutzt werden. Und genau an dieser Schnittstelle muss sich eine Baukultur in Zukunft positionieren. Die Bereitschaft und Offenheit des Bundes, hier eine Diskussion zuzulassen, sie zu befördern und auch auszuhalten, wird über seinen baukulturellen Gestaltungswillen mehr aussagen als alle Wettbewerbe.

Verfahrens-, Diskurs-, Baukultur Die Menschen gehen nämlich „auf die Straße“. Sie bemerken, dass etwas nicht stimmt. Hinter der Metapher der „Straße“ verbirgt sich die vage Idee eines öffentlichen Raums, der sich immer auch als ein besonderer Ort artikuliert hat. Die Menschen gehen nicht auf die Umgehungsstraße. Sie kämpfen um Alleen oder um verkehrsberu­ higte Zonen; sie kämpfen um Strukturen, die sich so schnell auflösen, dass der Entwicklung nicht mehr gefolgt wird. Sie kämpfen um etwas, das die Straße, wie sie heute vorgestellt wird, ihnen nicht mehr gibt: Sie wehren sich gegen eine Straße, die kein konstituierendes Element für eine offene Gesellschaft ist, sondern lediglich ein mechanistisches Monument – ein Monument, das sich in den Kategorien eines rein quantitativen Wachstums bewegt und die Option einer qualita­ tiven Verbesserung aus den Augen verloren hat. Selbstverständlich ist mit dem Begriff „Qualität“ nicht nur eine gestalterische und formale Aufrüs­ tung der Infrastrukturen gemeint. Dann nämlich, wenn die Infrastruktur als öffentliches Gut in Frage gestellt wird, zeigt sich, wie tief die Risse in der Substanz bereits sind: Funktioniert der kulturelle Konsens noch, der bislang den Ausbau des gemeinschaftlichen Lebensraums getragen hat? Der massive Widerstand, der gerade dem Ausbau neuer Infrastrukturen entgegengebracht wird – ob er sich nun auf Bahnhöfe, Straßenbau

Mobilität und Baukultur

oder Windparks bezieht, ob er Kanäle betrifft oder in Zukunft den Aufbau neuer Stromnetze: All dies deutet auf eine Entfremdung, der mit Wettbewer­ ben oder Gestaltungsbeiräten nicht beizukommen ist. Eine Baukultur für eine offene Gesellschaft ist eine Diskurskultur, zu der auch eine Erweiterung des Gestaltungsbegriffs gehört.

Perspektiven Wo aber soll ein Diskurs ansetzen, wenn, bei­ spielsweise im Straßenbau, eine gestaltende Hand, die über die bloße Infrastruktur hinaus­ weist, nicht sichtbar wird? Gerade wenn der Blick – wie eingefordert – über die Leitplanke hinaus­ gehen soll, können eindimensionale tabellarische oder analytische Bestandsaufnahmen nicht aus­ reichen. Es bedarf räumlicher und gestalterischer Überlegungen im Ganzen, und es bedarf der Verbildlichung schon in der Konzeption, um die Folgen zu erkennen. Ein abstraktes Zahlenwerk oder eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung werden weder überzeugenden Sexappeal haben, noch sind sie geeignet, ein gestalterisches Verantwortungsgefühl anzuregen, sprich eine Öffentlichkeit für das Thema zu interessieren. Es geht nicht um einen Masterplan oder um einen Wettbewerb. Stattdessen brauchen wir den Mut zu einer Diskussion am Arbeits­ modell, mehr noch: an unterschiedlichsten Arbeitsmodellen. Er wird sich lohnen. So nämlich würden die Schnittstellen zu anderen Disziplinen und Interessengruppen sichtbar; so könnten sich die Dinge tatsächlich in adäquater Abstimmung fortentwickeln. In Gestaltungsszenarien wären die Folgen infrastruktureller Bauprojekte vorauszudenken: Es muss gelingen, die territoriale Ausbaudynamik abzubilden, die solche Projekte bewirken, sie schließlich in ihren vielfältigen Verflechtungen zu erkennen und zu beurteilen. Erst dann lassen sich die transdisziplinären Podien bilden, die einen Planungs- und Realisierungsprozess an die Reali­ tät anpassen können – und nicht nur an Normen. Warum also sollten im Zuge einer baukultu­ rellen Verpflichtung des Bundes keine Räume erdacht werden, in denen neue (gestalterische) Ansätze erprobt werden? In denen Bund, Länder und Kommunen bei einer Projektion der Vorhaben auf die Fläche zusammenarbeiten? So, wie eine rechnerische Projektion in die Zukunft Verkehrs­ lasten voraussieht, muss auch ein gestalterischer Blick nach vorne möglich sein. Der wäre in jedem

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Fall interessanter, als nach abgeschlossener Pla­ nung Modellräume zu eröffnen, um die Symptome fehlgeschlagener Entscheidungen zu behandeln.

Alle sind beteiligt Warum sollten in solchen Räumen nicht unter­ schiedliche Ministerien und Verwaltungen koope­ rieren, so wie für den Gestalter eine interdiszi­ plinäre Zusammenarbeit selbstverständlich ist? Raum ist eine Ressource, die weit über die Exper­ tise eines einzelnen Ressorts hinausgeht. Ver­ wiesen sei hier auf das niederländische Projekt „Autobahn und Straßendesign“. Es ist eingebettet in ein übergreifendes Raum- und Kulturaktions­ programm, an dem sieben Ministerien beteiligt sind. Sie verfolgen ein klares Ziel: gemeinsam die gestalterische und räumliche Qualität eines dicht besiedelten Raums zu erhalten und zu verbessern. Das klingt hochtrabend, ich weiß, und Straßenbau ist dabei auch nur ein Aspekt. Er ist aber klar benannt, insbesondere in der Beschrei­ bung seiner Auswirkungen. Wahrscheinlich sind übergreifende Ansätze die einzige Möglichkeit, um mit einem Raum klarzukommen, in dem der Flächenwettbewerb Dauerzustand ist. 2006 bereits brachte der damalige nieder­ ländische Landwirtschaftsminister im Parlament die Sorge zum Ausdruck, dass Qualitäten der Landschaft im Prozess einer radikalen Ökonomi­ sierung endgültig zerstört werden – eine Entwick­ lung, der man mit den genannten Programmen seit 2008 endlich gegensteuert. Gestaltung wird dabei auch als eine forschende Disziplin akzep­ tiert und nicht nur als Vollstrecker. Und zuletzt: Warum sollten in der Arbeit mit solchen Räumen nicht ergänzende Werkzeuge oder alternative Arbeitsweisen entwickelt und zugelassen werden, die einen anderen Umgang mit der Situation erlauben? Die Verfahren, auf die heute zurückgegriffen wird, haben Schwä­ chen. Ausbildungen sind Einbahnstraßen, eine Durchlässigkeit zwischen den unterschiedlichen Fachdisziplinen ist nicht vorgesehen, eine Bür­ gerbeteiligung ist rudimentär. Nach Jahren des emsigen Ausbaus und der Anpassung existiert keine integrale Vision, die einer Überformung des Territoriums, wie sie tagtäglich geschieht, Rech­ nung trägt. Die Beziehung zu den umgebenden Landschaften oder den veränderten sozialen, de­ mografischen und ökonomischen Wirklichkeiten wird weder erforscht, geschweige kommuniziert. Wo also führt uns die Straße überhaupt hin?

Juri Gottschall / Freiräume von Schülern, 2010

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Karl-Heinz Daehre, Minister für Landesentwicklung und Verkehr des Bundeslandes Sachsen-Anhalt, sieht die Zukunft der Bildung in den Stadtzentren, gerade in Zeiten des demografischen Wandels. In ihren dichten Strukturen und ihrem historischen Hintergrund sieht er wichtige Potenziale für eine räumliche und institutionelle Vernetzung von Bildungseinrichtungen, die gleichzeitig zur Belebung der Altstädte beitragen. Die Projekte der IBA Stadtumbau 2010 haben dafür in Sachsen-Anhalt wichtige Impulse gesetzt.

Karl-Heinz Daehre

Stadtumbau für (Zukunfts)Bildung Die Perspektive der Landespolitik

Von 1990 bis etwa zum Jahr 2008 sank die Bevölkerung in Sachsen-Anhalt um 16 Prozent. In absoluter Zahl sind das 442.000 Menschen. Prog­ nosen sagen uns, dass das Land bis zum Jahr 2025 noch einmal die gleiche Zahl an Einwohnern verlieren wird, wenn der Trend sich ungebrochen fortschreibt. Sachsen-Anhalt wird dann also seit der Wende ein Drittel seiner Bevölkerung verloren haben. Jenseits von Kriegszeiten ist das eine einmalige Entwicklung, eine zuvor unbekannte Dynamik, die nicht nur auf der gesamtdeutschen Betrachtungsebene, sondern auch im Land selbst zu einer Spaltung, einer sehr starken regionalen Ausdifferenzierung der ökonomischen, sozial-kulturellen und räumlichen Entwicklung führt. Sie ist begleitet von einem überproportionalen Anstieg älterer und alter Menschen, insbesondere in den Regionen mit hohem Bevölkerungsverlust, und mit einem Verlust von jungen, gut qualifizierten Menschen, vor allem jungen Frauen. Dem

Land gehen damit seit wenigstens einer Dekade viele mögliche Familiengründerinnen verloren. Aus den genannten Gründen könnte der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung auf 32 Prozent steigen. Wenn diese Prognose eintrifft, wäre jeder dritte Einwohner des Landes 2025 über 65 Jahre alt. Die Politik wird durch die geschilderte Dynamik des demografischen Transformationsprozesses vor große Herausforderungen gestellt. Sicher hängt auch in Zukunft das individuelle Maß an Glück und Wohlstand nicht zwingend vom Maß der Bevölkerungsdichte ab. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, dem hohen Tempo dieser Transformation eine Doppelstrategie entgegenzusetzen und dem Trend politisch entgegenzusteuern. Dafür bleibt jedoch nur ein relativ kurzer Zeitraum, bis zum Ende des kommenden Jahrzehnts, an dem die Förderung aus den Europäischen Strukturfonds und dem Solidarpakt II auslaufen.

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Landespolitik als Management der Schrumpfung Eine nicht erwartete, und schon gar nicht gewünschte Situation, die zunächst von allen Politik­ ressorts erkannt und angenommen werden muss. Viele möchten die aufholende Entwicklung der letzten 20 Jahre einfach mit Hilfe einer starken Wirtschaftspolitik fortschreiben, die bezahlte Jobs schafft, denn dann, so die Hoffnung, „kommt alles andere von alleine!“. Wir wissen heute, dass gute Politik für schrumpfende Regionen und Städte nachhaltige Bevölkerungspolitik sein muss, gleichrangig und gleichwertig zur Wirtschafts­förderung. Insbesondere in schrumpfenden Regionen ist eine positive Wirtschafts- und Be­völ­kerungs­ entwicklung ohne gute Familien- und Bildungs­ politik nicht zu erreichen. Das Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr schreibt seit 2005 das „Handlungskonzept für nachhaltige Bevölkerungspolitik in Sachsen-Anhalt“ fort, das Grundlage ressortübergreifender Politikansätze ist, um den demografischen Wandel zu gestalten. Seit 2009 arbeitet die Stabsstelle Demografische Entwicklung des Ministeriums unter wissenschaftlicher Begleitung eines Demografie-Beirats. Zu den Aufgaben der Stabsstelle gehört unter anderem die Vorbereitung, Durchführung und Evaluation von Modellprojekten des Landes wie etwa dem „Demografie-Coaching im Landkreis Mansfeld-Südharz“. Bereits seit 2001 haben die Landesregierungen das Thema Stadtentwicklung und demografischer Wandel auf ihre Agenden gesetzt. Spätestens seit der Initiierung und Institutionalisierung der Internationalen Bauausstellung ( IBA) Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 beansprucht das Land eine Vorreiterschaft hinsichtlich innovativer Lösungen für den Umbau der Städte im Zeichen von Rückgang und Alterung der Bevölkerung. Die Städte und Regionen des Landes sind heute experimentelle Labore der Schrumpfung. Deren hohe Dynamik hat uns gezwungen zu erkennen, dass wir ein verändertes, neues Verständnis von Stadt brauchen. Was machen mit dem Überhang an Geschosswohnungsbau und in Zukunft auch an Einfamilienhäusern, deren Erben nicht zurückkommen? Wie viel Freiraum, wie viel Landschaft verträgt ein Stadtzentrum, um es noch als urban zu erleben? Wie und womit lösen wir

Dichte-Vorstellungen ab, die an Ballungsräumen „geschult“ sind? Das Land hat sich seit dem Jahr 2000 einer Stadtentwicklungsaufgabe gestellt, für deren Lösung es kein prinzipielles Vorbild gibt. Der Fokus liegt auf der nachhaltigen Entwicklung von Klein- und Mittelstädten, an denen die SpillOver-Effekte von Metropolregionen zunehmend vorbeigehen. Stabilisierungs- und Entwicklungsstrategien müssen sich hier zwingend auf die Stärkung und Aktualisierung eigener Kräfte und Potenziale besinnen. Räumlich gesprochen heißt das: Konzentration auf die Zentren, die es authentisch zu profilieren gilt. In den IBA-StadtumbauStrategien ging es deshalb vor allem auch um die sinnfällige Verdichtung und Vernetzung von vorhandenen Potenzialen, um die Wiedergewinnung von Nutzungen für leer stehende Bausub­stanz, aber auch um das Stimulieren neuer Aktivität im öffentlichen Raum. Dabei kamen zwei Felder der Landespolitik in besonderem Maße ins Spiel. Kaum überraschend im Umbau der historischen Stadt ist das zum einen der Denkmalschutz, weniger selbstverständlich dagegen als Zweites das Feld der Schul- und Bildungs- bis hin zur Wissenschaftspolitik. Zwar spielen Schulen und die Qualifizierung kommu­ naler Bildungslandschaften im Kontext der Aufwertung von städtischen Problemgebieten schon seit einiger Zeit eine Rolle (beispielsweise das Konzept „Masterplan-Bildung-Ruhrgebiet“ oder auch das Vorhaben der IBA Hamburg für eine „Bildungsoffensive Elbinseln“). Doch bot der kommunale Anstoß zur Verknüpfung des Rückbaus von Schulen, der in schrumpfenden Städten wegen der Verringerung der Schülerzahlen unausweichlich ist, mit der Neuformierung von innerstädtischen Schulstandorten im Kontext des Stadtumbaus eine besondere Chance der städtebaulichen und bildungsbezogenen Standortprofilierung. Sie konnte und kann auch zukünftig durch verstärkte Bündelung von Mitteln aus Fördertöpfen der Ressorts – zum Beispiel Bauen und Kultur oder auch Umwelt/Landwirtschaft – auf integrierte Projektmaßnahmen erreicht werden.

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An den Beispielen von Aschersleben ( 28.500 Einwohner) und Bernburg (knapp 30.000 Einwohner) lässt sich zeigen, wie Kommunen ihre schulische Bildungslandschaft qualifizieren können – selbst dann, wenn sie nicht selber Schulträger sind. Beide Städte reagieren damit auf Nachfragen und Kritik der lokalen Unternehmen, die einen zunehmenden Mangel an qualifizierten Facharbeitern konstatieren. Aber auch Naumburg, Wittenberg und Magdeburg zeigen die Wechselwirkung von Bildung und Stadtentwicklung.

Zum Beispiel Bernburg In Bernburg löste der Befund einer Schulabbrecherquote von bis zu 20 Prozent in den Sekundarschulen der Stadt eine breite Debatte über die Zukunft der Bildung vor Ort aus. Das Planungsund Baudezernat der Stadt gab schließlich den Anstoß, diese Problematik auch im Kontext des Stadtumbaus zu betrachten. Schließung und Rückbau von peripheren Schulstandorten, die wegen rückläufiger Schülerzahlen unausweichlich wurden, können mit dem Ziel einer Aufwertung der lokalen Bildungslandschaft verknüpft werden. Mit dem Thema „ZukunftsBildung“ wurde Bernburg in die IBA Stadtumbau 2010 aufgenommen. In einem vorbildlichen Prozess der Zusammenarbeit und Mitwirkung von Lehrern, Schülern, Eltern, Fachverantwortlichen der Stadt und des Landkreises sowie Experten aus den Bereichen der örtlichen Wirtschaft, der Architektur und der Bildungsplanung wurde die Fusion von drei Sekundarschulen zur Ganztagsschule vorbereitet, die verstärkt mit außerschulischen Partnern kooperiert und auf diesem Wege ihr Praxis-Profil stärkt. „pAuL“ steht für „praktisches Arbeiten und Lernen“. Das Programm setzt neben dem schulischen Unterricht auf Unterrichtstage in Betrieben und Praktika in Unternehmen. Der neue Campus Technicus arbeitet mit einem ebenfalls neuen Curriculum, das sowohl technische wie musische Bildungsmodule umfasst. Neuer Standort der fusionierten Schulen wird das Zentrum der historischen Bergstadt von Bernburg sein. Hier werden leer stehende Altbauten wieder genutzt, die um die Neubauten einer Sporthalle sowie einer Mensa (Architekturbüros Junk und Reich sowie Hartmann und Helm aus Weimar) ergänzt werden. Die Mensa, um weitere Angebote bereichert, wird das neue Zentrum der Schule bilden – das „Treibhaus“ der neuen Stadtentwicklung. Dieses Multifunktionsgebäude ist mit seinen Angeboten

als zentrale Schnittstelle zwischen Schule und Quartier konzipiert, in dem viele Kultur- und Bildungseinrichtungen der Stadt benachbart sind: zum Beispiel die Musikschule im ehemaligen Gefängnis des Schlosses, die Stadtbibliothek, das Gymnasium und das Carl-Maria-von-WeberTheater. Wenn 2012 auch die Neubauten realisiert sein werden, wird die Bergstadt 600 Lernende und Lehrende hinzugewonnen haben, die neues, junges Leben in den alten Stadtkern bringen.

Zum Beispiel Aschersleben Mit dem IBA-Thema „Von außen nach innen – Konzentration auf den Kern“ ist es Aschersleben gelungen, einen Schritt im Stadtumbau zu machen, der einem Quantensprung gleichkommt. Die Stadt hat intensiv daran gearbeitet, die IBA und die Landesgartenschau, die 2010 ebenfalls in Aschersleben stattfand, für die Stärkung des Stadtkerns zu nutzen. Dabei wurden 15 Hektar innerstädtischer Flächen umgestaltet, beispielsweise als Renaturierung und städtebauliche Einbindung des Harzflüsschens Eine oder als Neugestaltung des Stadtparks Herrenbreite. Dass schließlich auch die Konversion der brachliegenden ehemaligen Kartonagenfabrik Optima zum Kunst- und Bildungszentrum Bestehorn durch die Unterstützung des Leipziger Künstlers Neo Rauch gelang, macht die strategische Neuausrichtung der Stadtentwicklung im Dreiklang und Zusammenspiel von Wirtschaft, Bildung und Stadtumbau besonders glaubwürdig. Im Ergebnis eines europaweiten Wettbewerbs konnte als Erweiterung des historischen Gebäudes der Optima ein Neubau der Stuttgarter Architekten Lederer Ragnarsdóttir Oei realisiert werden. Mit der damit gewonnenen städtebaulichen Lösung gelang es, die bisher fehlende räumliche Verbindung des Zentrums mit dem Stadtring zu erreichen und Potenziale für dessen Belebung zu schaffen. Dieser Verkehrsring wird zwar von bis zu 18.000 Fahrzeugen am Tag befahren, aber auch der innerstädtische Leerstand konzentriert sich vor allem hier. Die „Drive Thru Gallery“, die Galerie zum Durchfahren, setzt hier mit einer Reihe von künstlerischen Installationen erste Akzente für eine neue, belebte Nutzung.

Stadtumbau für (Zukunfts)Bildung

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01__ Die ehemalige Kartonagenfabrik Optima, Aschersleben.

02__ Altstadtspaziergang zur Baukultur, Naumburg (Saale).

Zum Beispiel Naumburg

Zum Beispiel Wittenberg

Auch Naumburg hat mit dem Thema „Bürger bilden Städte – Städte bilden Bürger“ das Bildungsthema ins Zentrum seines IBA-Vorhabens gesetzt. Hier geht es sowohl um die Reorganisation und Verdichtung von Angeboten in der Kooperation von schulischen und außerschulischen Bildungsträgern als auch um die Entwicklung neuer Bildungsformate wie im Konzept des Architektur- und Umwelthauses. Der Naumburger Bürgerverein e. V., der von Architekten und Ingenieuren 2003 gegründet wurde, hat es entwickelt und plant die Sanierung eines nur noch als Ruine verbliebenen barocken Stadtpalais. Es soll zum Impulsprojekt im Jakobsviertel werden, das bisher nicht revitalisiert werden konnte. In Kooperation mit dem Naumburger Umweltladen e. V. und der Lebenshilfe e. V. will der Bürgerverein das sanierte Bauwerk als Beispiel für gut praktizierte Baukultur und als Anlaufpunkt sowie Veranstaltungshaus eines regionalen Netzwerks für baukulturelle Bildung etablieren. Dicht an den Alltagserfahrungen und Interessen von Kindern und Jugendlichen sollen das Bauen und die Umweltbildung zum Lernfeld werden. Mit Workshops, Schulprojekten, Veranstaltungen und Ausstellungen zum Gestalten der Stadt entwickeln die Jugendlichen eine eigene kreative Auseinandersetzung mit der alten Stadt sowie den Gegenwarts- und Zukunftsräumen, die sie hier entwerfen und spielerisch erproben können.

Im Campus Wittenberg haben sich rund um das UNESCO-Weltkulturerbe der Reformationsstätten die Bildungs- und Forschungseinrichtungen der Lutherstadt zusammengeschlossen. Sie etablieren in Wittenbergs Altstadt einen internationalen, außeruniversitären Bildungsstandort. Die Stadt hat eine nicht zuletzt durch Martin Luther geprägte humanistische Bildungstradition, die mit der Schließung ihrer Universität durch Napoleon im Jahr 1813 abrupt beendet wurde. Dieses Erbe soll neu interpretiert und aktualisiert werden. Die beteiligten Institutionen vernetzen ihre kulturellen, konfessionellen und wissenschaftlichen Bildungsund Lernangebote und -programme. Gleichzeitig generieren sie damit Inhalte und Funktionen, die aktuell und zukünftig die Um- und Neunutzung verschiedener brachliegender Standorte in der Wittenberger Innenstadt möglich machen. Dazu gehören etwa neu gestaltete Ausstellungsflächen im Zeughaus, die Jugendherberge in den Amtshäusern des Schlosses, ein Collegehaus in der Alten Mädchenschule, die Werkstätten in den Cranachhöfen oder die Aula im Stadthaus, deren Umbauten und Ergänzungen eine zeitgemäße Gestaltung mit der historischen Bausubstanz verbinden. Diese Strategie dezentraler Bildungs- und Lernangebote in der Altstadt zielt nicht nur darauf, weiterhin und verstärkt „temporäre Bewohner“ aus dem In- und Ausland für Forschungsaufenthalte, Sprachkurse oder (post)universitäre

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03__ Das sanierte Jugendgästehaus im Schloss der Lutherstadt Wittenberg.

Weiterbildungsangebote an den Bildungscampus Wittenberg zu ziehen. Sie stellt auch ein Angebot an die Wittenberger Stadtgesellschaft selbst dar und belebt letztendlich das Stadtzentrum.

Den internationalen städtebaulichen Wettbewerb für das neue Stadtquartier haben SMAQ Architekten aus Berlin gewonnen. Ihr Vorschlag verknüpft Hafen und Stadt und damit Stadt und Fluss zu einem integralen Geflecht lebendiger Nutzungen.

Zum Beispiel Magdeburg Magdeburg hat im Rahmen der IBA die Öffnung seiner Innenstadt zur Elbe vorangetrieben. Im alt­­ industriellen Süden der Stadt soll durch gezieltes Flächenmanagement Bebauung zurückgenommen werden, neue Landschaft und ein Erholungsgebiet entstehen. Im Norden auf dem Areal des alten Handelshafens wird die Stadt verdichtet, neu entwickelt und so an die Elbe herangeführt. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Otto-von-Guericke-Universität und zu wichtigen Forschungs­ einrichtungen wie dem Max-Planck-Institut oder dem Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung der Fraunhofer-Gesellschaft entsteht der „Wissenschaftshafen“. Der alte Hafen ist dort in Transformation und soll nach der bereits erfolgten Umnutzung eines alten Speichergebäudes und erster Neuansiedlungen von Forschungs­ einrichtungen städtebaulich mit den angrenzenden Universitäts- und Wissenschaftseinrichtungen zu einem neuen Quartier verknüpft werden.

04__ „Denkfabrik“ im Wissenschaftshafen von Magdeburg.

Stadtumbau für (Zukunfts)Bildung

Zum Schluss Am Beispiel der Städte, die das Bildungsthema ins Zentrum ihres IBA-Beitrages gestellt haben, wurden hier vielfältige und maßgeschneiderte Planungs-, Kommunikations- und Beteiligungs­ prozesse der IBA Stadtumbau 2010 skizziert. Sie brachten für alle Beteiligten, auch für den Auftraggeber, das Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr, ungewohnte Herausforderungen und Erfahrungen. Die Ergebnisse überraschen vielerorts sogar die Macher. Die IBA ist in SachsenAnhalt zu einem Weckruf und einem starken und lang anhaltenden Impuls für Politik, Institutionen, Verwaltungen und die Bürgerschaft geworden. Auch das gehört zu den Gewinnen der demografischen Veränderung: die Wiederentdeckung und Aktivierung der Bürgergesellschaft, die Anerkennung und Wertschätzung der Selbstwirksamkeit ihrer Akteure. Da, wo der Staat auf dem Rückzug scheint oder auch ist, kommt es in neuer Weise auf die lokale Gesellschaft an, auf neue Verantwortungsgemeinschaften, auf eine Bürgergesellschaft, die sich für eigene und öffentliche Anliegen engagiert. Denn Fördermittel alleine reichen nicht aus. Ohne Engagement und ohne Trägerschaften vor Ort bleiben diese wirkungslos. Die prozessbegleitenden Mitwirkungsangebote der IBA haben in vielen Städten zu einer starken Diskussion des Stadtumbaus und der damit verbundenen Zukunftsperspektiven der Städte geführt. Und in Folge auch zu starken Engagements von Vereinen, Schulen, Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen für konkrete Projekte und Vorhaben, sei es in der Wohnumfeldgestaltung wie in Sangerhausen oder in der Gestaltung von Stadtfolgelandschaften wie in Dessau-Roßlau. Stadtumbau war in den hier exemplarisch geschilderten Fällen von Anfang an nicht rein hoheitliches Handeln von Kommunalpolitik und Verwaltung, und auch nicht bloßer Ausfluss von Umbaukonzepten der Planer und ihrer Auftraggeber. Unterschiedlichste Arenen für den Dialog, für das Mit-Entwerfen, für die Mitwirkung und Beteiligung haben dazu beigetragen, strategische Themen der Zukunftsentwicklung der Stadt und damit verknüpfte Projekte zu verankern. Der Veränderungsdruck, mit dem uns der demografische Wandel konfrontiert, verlangt Modernisierung und Erneuerung. Wo Altes nicht mehr trägt, entsteht Raum für Neues. In diesem Horizont muss Demografie diskutiert werden: als Erneuerungsmotor der Gesellschaft und ihrer Städte.

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Am Ende bleibt die Frage nach der weiteren Verantwortung und nach Ambitionen für die Zukunft. Landespolitik und Landesverwaltung in Sachsen-Anhalt müssen die skizzierten Prozesse der demografischen Transformation vorausdenken, sich dem dafür notwendigen Umdenken und Neudenken öffnen, um ein zukunftsträchtiges Um- und Andersbauen und -planen der schrumpfenden Städte und Regionen zu konzipieren und ihre, oftmals zeitlich begrenzten, Handlungs­ spielräume für die Umgestaltung nutzen. Dazu gehört wesentlich die strategische Bündelung von im Laufe dieses Jahrzehnts noch verfügbaren finanziellen Ressourcen. Es braucht das weitere Maßschneidern von Konzepten, Strategien und Projekten der Anpassung an den demografischen Wandel, wie es uns zwischen 2002 und 2010 insbesondere das Lernlabor der IBA Stadtumbau 2010 ermöglicht hat. Nach allem, was wir heute wissen können, wird die demografische Entwicklung für die nächsten Dekaden eine grundlegende Rahmenbedingung der Landesentwicklung bleiben. Dazu kommen die Effekte des Klima­ wandels. An Elbe, Saale und Mulde kann man für das Land daraus nur eines folgern: diesen Wandel verantwortungsbewusst zu gestalten. Bei rückläufiger Bevölkerung und rückläufigen finanziellen Ressourcen werden Problem-, Konflikt- und Ausgleichslösungen in Zukunft vor allem auf regionaler Ebene und in interkommunaler Kooperation gesucht werden müssen. Diese Lösungen im Rahmen einer demokratischen, prozessorientierten Planungs- und Baukultur zu entwickeln, steht als Herausforderung vor uns. Die von der IBA Stadtumbau 2010 gesetzten Impulse, die durch ihre Projekte angeregten Aktivitäten, das damit angeregte zivilgesellschaftliche Engagement und die mit ihnen aufgezeigten Lösungswege wirken auch hierfür noch richtungweisend.

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Der Fachjournalist Benedikt Kraft fordert eine an die Zeitläufte angepasste Schularchitektur. Sie soll in dem Sinne funktional sein, dass sie handlungskompetente, sich selbst bewusste Bürger hervorbringt und von ihren Schülern geliebt wird. Schulbauten sollten so gut sein, dass mit ihnen für eine Stadt, für eine Region geworben werden kann, deren regional angepasster Charakter sie überlebensfähig macht, auch bei schrumpfenden Bevölkerungszahlen. Er reagiert damit auf die Ausführungen von Karl-Heinz Daehre.

Benedikt Kraft

Eine gute Schule macht Stadt, und mehr Reflexionen über Baukultur und Schulpolitik

Bildung, so ist beim Mystiker Meister Eckhart zu lesen, bedeutete das „Erlernen von Gelassen­ heit“. Von diesem Zustand der Gelassenheit aber sind wir weit entfernt (was nicht unbedingt einen Umkehrschluss zulässt). Jeder redet über Bildung, Lokalpolitiker, Bundespolitiker, Fernsehmodera­ toren, Architekten auch, sogar diejenigen, die es direkt angeht: Schüler, Studenten, Aus­zubildende. Sie alle reden allerdings nicht gelassen über das, was uns Westeuropäern zumindest als die letzte Ressource des 21. Jahrhunderts gilt, mit der allein noch Staat zu machen sein wird in dieser und der übernächsten Zukunft. Bildung wird in Deutschland in Talkshows zu Brei geredet und auf Gipfeln vergeblich verhandelt, vielleicht weil die PISA-Ergebnisse den Bildungsmachern Bund und ­Ländern seit 2001 medienpräsent im Nacken sitzen. Gelassenheit? Keine Spur davon, bundes­ weit gab es in den letzten Jahren – und wird es in den kommenden Jahren geben – „Bildungs­ streiks“ an Schulen und Hochschulen mit Protest­ märschen und teils handgreiflichen Hausbeset­ zungen. Bildung, „damit der Mensch Gott ähnlich werde“ (Eckhart), ist etwas anderes.

Bildungsökonomie Wenngleich man in Europa im Jahrzehnt der PISAProtokolle heftig darüber streitet, was Bildung sein könnte und wie sie wer wem vermitteln kann, steht über allem in Deutschland eine Bildungs­ pflicht für alle, und, im Vergleich zu manchen euro­päischen Nachbarn, die das nicht haben, eine verbindliche Schulpflicht für Kinder und Jugend­ liche (die reicht von der Zwangsvorführung bis zur Anordnung von Ersatzzwangshaft). Schulische Bildung als Unvermeidbares soll, so jedenfalls die Vorstellung des Gesetzgebers, dem werden­ den Staatsbürger Mündigkeit zuwachsen lassen, dass er später, als Erwachsener, seinen Pflichten nachzukommen in der Lage sei und seine Rechte mit Nachdruck in Anspruch nehmen könne. Das sich darin offenbarende „Non vitae, sed scholae discimus“ – das gerne auch in einer verkehrten Reihung („Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir“) von Schulreformern beispiels­ weise im Munde geführt wird – unterstreicht die funktionalistische und rationalistische Auffassung und Auskleidung von den Bestandteilen unseres

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Bildungssystems. Schule, und später auch die Universität, Bildungsstätten par excellence, wurden bisher in der überwiegenden Zahl weniger als Orte der Geistes- und damit Menschenbildung verstanden, sondern mehr und mehr als funktio­ nalistisch ausgerichtete Orte, in welchen Qualifi­ kationen erworben werden; um deren Form und Inhalte sich die Kultusministerkonferenz kümmert. Die Ökonomisierung der schulischen (Aus-)Bil­ dung, die in die Verkürzung von Zeiträumen zu deren Aneignung mündete oder darin, niedrig qualifizierende Zwischenabschlüsse erwerben zu können, resultiert aus vielerlei Ereignissen und wird meist als „alternativlos“ dargestellt. Ganz aktuell ist es die Weltwirtschaftskrise, die einer forcierten, „zielgerichteten“ Bildung das Wort redet, und wer sein Kind nicht zur Frühförderung an­meldet, wird sich später dann Vorwürfe machen (so oder so). Doch die aktuelle Bildungsdiskus­ sion ist nur ein weiterer Punkt auf einer Zeitleiste bundesrepublikanischer Bildungsgeschichte des 20. Jahrhunderts – die in dieser Dramatik viel­ leicht mit dem Ausrufen der „Bildungskatastrophe“ durch den Philosophen, Theologen und Pädago­ gen Georg Picht mit einer Artikelserie 1964 ihren Anfang nahm (in der Zeitschrift „Christ und Welt“). Und die, aus heutiger Sicht, in eine Architektur­ katastrophe mündete, die sich drastisch in den hier entstandenen Schulbauten widerspiegelt, deren funktionalistische, rationalistische Organi­ sation einerseits dem Babyboom, andererseits der Verwissenschaftlichung pädagogischer und sozialreformerischer Bewegungen geschuldet war; und deren Landschafts-/Stadt-/Stadtland­ schaftsmetaphern heute in allerdings völlig veränderter Maßstäblichkeit und Zweck-/Nutzen­ orientierung wie zugleich mittels einer deut­ licheren Öffnung zum umgebenden Stadtraum wieder neu entdeckt werden. Die Ökonomisierung der schulischen Bildung ist aber auch dem zunehmenden Mangel von öffentlichen Geldern zuzuschreiben, hier erklären sich insbesondere die Länder als Akteure ohne Alternativen. Der Hinweis auf die sich schlie­ ßenden Zeitfenster – das Auslaufen der Förder­ programme aus dem Solidarpakt II und die Gewissheit, dass 2020 eine weitere Verschul­ dung durch Kreditaufnahmen dann gegen das Grundgesetz verstoßen und ein Haushalt richter­ lich sofort gekippt werden kann – verbreitet man­ cherorts schon mal Panik und Aktionismus. Doch der Blick auf aktuelle Schul(bau)projekte

in den Ländern lässt andererseits auch Hoffnung zu; Hoffnung, dass die „experimentellen Labore“, als welche sich beispielsweise die Städte und Regionen des IBA-Landes Sachsen-Anhalt ver­ stehen, Ergebnisse bringen, aus denen brauch­ bare Schlussfolgerungen auch für andere Länder und Kommunen zu ziehen sind.

Die Sachsen-Anhalt-Labore Welche Effekte die Internationalen Bauausstel­ lungen hatten, haben und haben werden – so es diese Megaschauen auch in Zukunft noch geben wird –, kann jeder in deren Rechenschaftsberich­ ten nachlesen; oder sich vor Ort ansehen. Teil­ weise recht üppig durch EU- und Bundes­mittel ausgestattet sowie als attraktive Investment­ umgebungen für die Privatwirtschaft, hatten insbesondere die letzten Bauausstellungen seit der Berliner IBA von 1984/1987 und vor allem die IBA Emscher Park positive und man kann sagen nachhaltige Effekte: auf die regionale öko­ nomische, soziale, städtebauliche und kulturelle Transformation, auf das (Selbst-)Bewusstsein der von ihnen Betroffenen (Bürger), aber auch auf die Entwicklungen derjenigen Regionen, die mit­ ansehen und nachvollziehen können, was eine IBA leistet; und auch, was nicht. Einige Ergeb­ nisse der Bauausstellungen machten Schule, Leitprojekte leiteten Verwaltungen wie auch die Akteure vor Ort an, ihre ganz eigenen Probleme selbst anzugehen. Die gerade zu Ende gegan­

01__ Das Abenteuer Bildung bringt neue Wege über schmale Grate mit sich.

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Kraft

gene Bauausstellung in Sachsen-Anhalt versteht sich explizit als eine kohärente Sammlung von Laboratorien, genauer gesagt als „experimentelle Labore der Schrumpfung“. Es wird eine „nach­ haltige Bevölkerungspolitik“ mit „guter Familienund Bildungspolitik“ propagiert. Auch mit Mitteln des Stadtumbaus: Schließung und Rückbau von peripheren Schulstandorten, der Aufbau von Bildungszentren (Schulen, Musikschulen, die Stadtbibliothek etc.), und das meiste davon in einem Kommunikations- und Interaktionsprozess aller Beteiligter, auch der Schüler. Neu und der Notwendigkeit des Rückbaus auch anderer Gebäude als nur der Schulbauten angemessen, ist die Wahl des neuen Standorts der fusionierten Schulen in Bernburg. Hier werden in der historischen Bergstadt leer stehende Alt­ bauten wieder genutzt. Damit durchbricht dieses Projekt beispielhaft die Zwangsmechanismen der „funktionellen Stadt“. Die Reimplanta­tion des Bildungsortes Schule bedeutet auch die Aner­ kennung ihrer Bedeutung für die Gesell­schaft; wobei im hier angesprochenen Fall das Zurück­ holen der Schule in den Stadtkern auch die mög­ liche Rettung des Darumliegenden darstellt. An anderen Orten sind die Verfahren ähnlich, Schulfusionen und die Erweiterung des Bildungs­ angebotes um die klassischen Bestandteile städtischer Bildungsinstitutionen wurden in den meisten der 19 IBA-Teilnehmerstädten probiert oder gleich realisiert. Baukultur und Umwelt­ bildung, regionale Netzwerke, Lernfelder, die sich an den Alltagserfahrungen der Kinder und Jugendlichen orientieren, sollen die Protagonisten werden im großen Spiel um einen vorderen Platz in der Städte- und Regionengemeinde der Länder, gar des Bundes. Denn darum geht es vielen Städten und Gemeinden auch: wettbe­ werbsfähig werden im Kampf um das Quäntchen Bedeutung, das einmal wichtig wird für konti­ nuierliche Auflösung und Verschwinden oder Weiterbestand.

Handeln anregt. Ob hier die „Baufamilien“, die die Bundesstiftung Baukultur für jedes Schulprojekt vorschlägt, die „Kompetenz­zentren Bildung“, die sie gerne auf Länderebene sehen würde – oder das Schulbauinstitut auf Bundesebene –, Abhilfe schaffen kann, bleibt abzuwarten. Hier müssten idealerweise – und so stellt sich die Bundesstif­ tung das vor – hetero­gen strukturierte Laien- und Expertengruppen geradezu in Datenströmen baden, sie bändigen und in eine Form bringen, die einem Open-Source-Standard entspricht: Alle können alles, und je mehr sie können, umso wirksamer ist ihre Beteiligung. Dass die Stiftung das Schulbauinstitut auf Bundesebene ange­ siedelt sehen möchte, macht einerseits Sinn, anderer­seits berührt es, hätte es eine so kom­ plexe und zugleich so umfassende Wirkung, die Hoheitsgefühle der hier sehr empfindlich reagierenden Länder. Die sich andererseits ihrer zunehmenden Schwächung gegenüber dem Bund bewusst sind: In vielen Bereichen schon handlungsunfähig, greifen sie verstärkt auf die „lokale Gesellschaft“ zurück, auf, wie das Ministerium Sachsen-Anhalt in dieser Publikation schreibt, „neue Verantwortungsgemein­schaften, auf eine Bürgergesellschaft, die sich für eigene und öffentliche Anliegen engagiert. Denn Förder­ mittel alleine reichen nicht aus.“ Mit dem Rücken an der Wand erklärt die Landespolitik das Bürger­ engagement zur wesentlichen Voraussetzung für ein Gelingen des Umbaus von Stadt und Bildung. Das ist sicherlich nicht falsch, doch es wird gleichzeitig konterkariert durch die Forde­ rung, noch im Laufe dieses Jahrzehnts die noch verfügbaren finanziellen Ressourcen strategisch zu bündeln. Das klingt tatsächlich nicht nach viel (Geld), doch wonach es vor allem nicht klingt: nach Ideen, nach kostenneutralen Alternativen. Genau die hat die Internationale Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 ansatzweise aufgezeigt.

Schulbauinstitut?

Bürgerengagement versus Privatisierung

Alle IBA-Städte haben ihre Projekte, es gibt eine resümierende Abschlusspublikation „Weniger ist Zukunft“, es gibt einen Haufen an Konzeptpapieren, Planungsunterlagen, Evalua­tionen und pädago­ gischen Gutachten. Doch das, was schließlich den Kern eines Laboratoriums ausmacht, die wissenschaftliche Abschlussarbeit, die fehlt. Es fehlt die Quintessenz, die wieder zum konkreten

Neben der teils berechtigten Einforderung von Bürgerengagement in Sachen Schulbildung durch die Politik, greift die zunehmende Privati­ sie­rung der öffentlichen Belange den Kern einer zukunftsentwickelten Bürgergesellschaft an: Solidarität. Über die Privatisierung der Wirtschaft – ja, es gab sie in großem Umfang, die Wirtschafts­ unternehmen in öffentlicher Hand (Bahn und Post

Eine gute Schule macht Stadt, und mehr

sind da nur die populärsten) –, die gerade im öffentlichen Bau anfangs und immer noch über so genannte Public-Private-Partnership-Modelle ihren Anfang nahm, vergibt der öffentliche Bau­ herr Einfluss. Die Ökonomisierung der politischen Handlungsfelder ganz allgemein, die von Unter­ nehmensberatungsfirmen für den öffentlichen Dienst insgesamt gefordert und in Teilen bereits umgesetzt wurde, folgt der Erkenntnis, dass ohne Geld, ohne Investitionen kaum noch Handlungs­ fähigkeit besteht. Womit ich schon wieder bei dem Diktum von der Alternativlosigkeit des Handelns der öffentlichen Hand bin. Tatsächlich wurde im großen Stil verkauft und kooperiert, die Industrie sponsort Universitäten und saniert Schulen, stattet mit ihren Produkten Kinder­ gärten oder Gymnasien aus, selten nur für ein „Vergelt’s Gott“. Der zwangsläufige Rückzug des Öffentlichen unter Aufgabe jeglicher Selbst­ achtung einer­seits wie andererseits der Appell soziallasten­befreiter Investoren an bürgerschaft­ liches (Ehren-)Engagement geben einen Trend an, der sich auch in der stetigen Zunahme der Privat­ schulen in Deutschland widerspiegelt: Mittler­ weile jeder zwölfte Schüler besucht in Deutsch­ land eine private Grund- und weiterführende Schule, Tendenz anhaltend steigend. Dass sich damit gerade die Länder ihrer zentralen Aufgabe entledigen, Bildungshoheit mit der Bereitstellung und Pflege öffentlicher Bildungseinrichtungen zu legitimieren, lässt alle Aktionen und Initiativen, die auf Bildung und Baukultur zielen, wie gut gemeinte Versuche aussehen, das Schlimmste zu verhindern: den Untergang der Solidar­ gemeinschaft.

Welche Bildungsorte wir brauchen. Beispiele Bart Lootsma schließt seinen Beitrag in der oben schon erwähnten Dokumentation der IBA-Stadt­ umbau Sachsen-Anhalt unter dem programmati­ schen Titel „Lernen von Sachsen-Anhalt“ zugleich resignierend wie realistisch: „Es kommt mir so vor, als ob in manchen Städten die wenigen verbliebenen Jugendlichen in ihrer eigenen Umge­ bung nur noch zu Gast seien. Sie wirken verloren, nicht allein wegen der drohenden Arbeitslosigkeit. Sie haben vielmehr keinen Bezug zu dieser gepflegten historischen (Hervorhebung durch den Autor) Kultur, erfahren sie wahrscheinlich sogar als Lüge. Selten habe ich eine so ratlose und ag­ gressive, von Alkohol, Pillen und lauten, kaputten,

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aber gepimpten Autos bestimmte Gegenkultur gesehen. Eine Gesellschaft mit einer solchen Gegenkultur muss sich mit dieser auseinander­ setzen, nicht nur erziehen. Denn diese Menschen sind die Zukunft; nicht die Steine.“1 Das ist ein starkes Resümee, das wunderbar deutlich zu dem im Kontrast steht, was sich zur­ zeit viele Architekten als ihre Entwurfsziele für den Schulbau vorstellen, das Ideal der Bürgerschule Weimar, das ihr Mitmentor Johann Wolfgang von Goethe in seiner Wirkung so beschrieb: „Das Gebäude bewirkt schon selbst Cultur, wenn man es von außen ansieht und hineintritt. Die rohsten Kinder, die solche Treppen auf- und abgehen, durch solche Vorräume durchlaufen, in solchen heiteren Sälen Unterricht empfangen, sind schon auf der Stelle aller düstern Dummheit entrückt und sie können einer heitern Thätigkeit ungehin­ dert entgegen gehen.“ (an den Großherzog Carl August, 20. Juli 1826). Liegt es nun daran, dass wir unseren Schulbautypologien solches nicht zutrauen, oder sind die Jugendlichen von heute roher noch als die „rohsten Kinder“ bei Goethe? Doch Lootsma möchte ja nicht, dass wir auf­ geben, eher, dass wir verstehen, dass die Planung von Schule nur mit den Schülern gelin­ gen kann. Und dass einseitig tradierte oder aus der Tradition entwickelte Formen heute nicht mehr hinreichen, Räume und Raumzusammen­ hänge zu schaffen, die es den Schülern ermög­ lichen, ihre Schule zu lieben. So könnte die Sache höchst kompliziert werden; entweder, weil es vielleicht egal ist, wie eine Schule gebaut ist – sie sollte allerdings Mindeststandards entsprechen, wie sie beim Wohnungs- oder Verwaltungsbau gelten. Oder weil die materialisierte Idee von Schule als Konzept eine Schnapsidee war oder weil ihre Transformation in Materialien und Grundrisse auf einem Missverständnis beruhte. Wie Schulen aussehen müssen, dass sie von den Schülern geliebt werden, ist nicht in planerischer Vorweg­ nahme zu beant­worten. Dass architektonische Details, Farb- oder Grundrisskonzepte oder die Wahl und Zusammenführung von Materialien in der darauf bauenden Realisierung zwangsläufig zu einem kompletten, zu einem angenommenen Ort führen, ist möglich, kann in seiner Konzeption einer genera­lisierenden Bauprogrammatik aber 1. __ Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr (Hg.): Weniger ist Zukunft. 19 Städte – 19 Themen. Internationale Bauaustellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt. Berlin, 2010, S. 785.

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03__ Schaffen wir Identifikation durch eine gute architek­tonische Entsprechung des Ortes? (Schule in Tendola, Norditalien)

04__ Auch in der Bildung gilt es, das Neue über dem Alten zu erfinden (St. Kolumba, Köln, von Peter Zumthor)

auch scheitern. Schüler lieben ihre Schule dann, wenn sie mehr ist als ein den Brandschutzauf­ lagen genügender Bau, mehr ist, als die Summe von Ingredenzien, die über einen komplizierten Synchronisationsprozess in einer dem Zeitgeist gehorchenden Kompromissgestalt mündet. Ob nun Beton und/oder Holz, ob lichte Glasarchi­ tektur, ob Frontalunterricht oder mobiler Lern­ raum, manipulierbare Möbel oder gar dehnbare Raumschläuche, es ist den Schülern unter Umständen auch egal, dass ihre Schule frei in der Landschaft oder von dichtem Stadtverkehr eingeschlossen steht, dass sie groß oder klein ist oder eine nachhaltige, vielfach ausgezeichnete Burg im trubeligen Alltag. Das Mehr sind für sie dann in erster Linie die Lehrer; dann kommen die Schulklasse, die Eltern, der Lehrstoff, die Ausstat­ tung und nicht zuletzt: die Zukunftsperspektiven! Also weniger der Raum, besser: der Ort, an welchem Bildung vermittelt wird. Unterschied­ lichste davon kann man ganz real in der jüngeren Baugeschichte ausmachen, deren besonderer Ansatz bis heute Neubauten inspiriert, weil sie sich mit ihrem ganz eigenen Ansatz bewährt haben. Beispielsweise das Prinzip, Klassenräu­

men direkt zugänglichen Außenraum zuzuordnen, wie schon 1930 bei der Openluchtschool in Amsterdam von Johannes Duiker oder der erst jüngst erfolgreich erweiterten Munkegårdsskolen im dänischen Dyssegård von Arne Jacobsen (1956/2009), das längst Standard im Kindergar­ tenbau ist. Oder die Herstellung einer speziellen Topografie /Dramaturgie einer Lernlandschaft wie bei der Vogelsangschule in Stuttgart von Behnisch & Partner (1961) oder bei der ebenfalls aktuell sanierten Geschwister-SchollGesamtschule in Lünen von Hans Scharoun (1962), deren beider Ansatz ein halbes Jahrhundert später in dem im letzten Jahr eröffneten und vielbesprochenen Rolex Learning Center, Lausanne, kulminiert, dessen fließende Architek­ tur aus dem international wohl führenden Büro aus Tokio, SANAA, stammt. Oder die gestapelten Lernräume oder Achsensymmetrien, die Denk­ räume definieren, oder scheinbares Chaos wie in der Hellerup Skole in Kopenhagen von Arkitema (2002) oder, ebenfalls mit offenen, vielfach bespielbarem Grundriss, im ØrestadGymnasium von 3XN Architekten, ebenfalls in Kopenhagen.

Eine gute Schule macht Stadt, und mehr

Resümee Man könnte, angesichts der teils gravierenden Unterschiedlichkeiten der oben genannten Schulbauten/Schulbautypologien, die allesamt hervorragend funktionieren, manche schon seit Jahrzehnten, zu dem Schluss kommen, dass es eigentlich auch egal ist, wie der Ort auszu­ sehen hat, an dem Bildung vermittelt wird. Ent­gegen des (von Architekten) vorgebrachten eingleisigen Kausalitätszusammenhangs von Bildungsniveau und elaborierten, der Zeit ange­ passten Raumprogrammen, sollten wir die Vermu­ tung des norwegischen Architekten und Heideg­ gerianers Norberg-Schulz (1926 –2000), dass alles Handeln notwendigerweise einen angemes­ senen Ort braucht, dahingehend verstehen, dass wir Orte schaffen müssen, die Identifikation und also Sicherheit bieten. Nicht die Sicherheit der abgeschirmten Schulorte, sei sie durch Entlegen­ heit, sei sie durch Sicherheitszäune hergestellt. Kinder und Jugendliche benötigen gerade in diesen beschleunigten, entsicherten Zeiten Orte, an denen sie in einer sicheren Umgebung in eine positive Selbstwahrnehmung hineinwachsen können. Sie brauchen die Gewissheit, nicht ver­ loren, nicht aufgegeben worden zu sein an einem lieblos gemachten Niemandsort. Das kann man vielleicht mit einem Angebot guter Architektur erreichen, besser ist es aber wohl, die Nutzer der Bauten darüber hinaus anzusprechen und an ihrer Planung zu beteiligen. In Bremen wurde gerade ein Wettbewerb zur Gestaltung des „Parks im Überseepark“ entschieden (WES & Partner). Hier haben die Landschaftsarchitekten im Vorfeld der Planung wie auch währenddessen mit Kindern und Jugendlichen als späteren Nutzern gleichbe­ rechtigt zusammengearbeitet. Explizit wünscht sich die Jury im Namen des Bauherrn, dass die Planer die Kinder und Jugendlichen in die Ent­ wicklung des Projekts auch weiter einbeziehen. Hier werden nicht nur die Ideale der UN-Kon­ ven­tion über die „Rechte des Kindes“ res­pektiert (zu denen eben auch die gleichberechtigte Partizipation der Kinder an alltäglichen Entschei­ dungsprozessen gehört), hier wird auch ganz ökonomisch gedacht: Vom Nutzer, der auch Planer ist, geht selten Vandalismus aus; beim Nutzer, der auch Planer ist, kann sich Verant­ wortungsbewusstsein entwickeln; vom Nutzer, der auch Planer ist, kommen in der Regel wichtige Hinweise auf Bedürfnisse, die in den

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Regel­werken der ausschreibenden Bauherren meist nicht berücksichtigt sind. Partizipation ist bei vielen Projekten der IBA Stadtumbau Sachsen-Anhalt wie auch der aktu­ ellen IBA Hamburg wesentlicher Bestandteil der Realisierungsplanungen im Bereich Bildung. Dass sich diese in der Regel auf die Zeiten vor den Realisierungen beschränken, ist besser als nichts, die Beteiligten dürfen hier aber nicht stehen bleiben. Wir müssen bundesweit und schon auf kommunaler Ebene geeignete Instru­ mente und Routinen schaffen und diese in ein Projektmanagement implementieren, damit der Bauherr den Nutzer nicht aus den Augen verliert. Und der Nutzer es nicht verlernt, seine Interessen immer wieder neu zu überdenken, zu formulieren und dem Bauherrn selbstbewusst vorzutragen. Denn auch wenn in dieser Publika­ tion das Partizipatorische mit demokratischer, prozess­orientierter Planungs- und Baukultur um­ schrieben wird – was genau das ist, müsste das Land noch präzisieren –, ist der Großteil des Bildungsbaus und seiner Weiterentwicklung lediglich an den Stellvertreter des Souveräns delegiert. Und wer ist der Souverän? Die Kinder und Jugendlichen zuerst, dann vielleicht noch die Eltern. Architekten, Lehrer und Ministerien sollten auf diese hören, in aller Gelassenheit und mit größtem professionellen Selbstbewusstsein. Dann wird es auch was mit PISA, dann kommen auch Stadt und Gemeinschaft und zukunfts­ fähiges Lernen.

05__ Bildungsort par exellence und zugleich mobiles Provisorium: die Documenta-Bauten 2007 von Lacaton & Vassal.

Gerhard Zwickert / Baumarktästhetik im öffentlichen Raum, 2008

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Als Stadtbaudirektorin Münchens plädiert Elisabeth Merk für transparente Verfahren und Gestaltungsbeiräte, um auf kommunaler Ebene baukulturelle Standards etablieren zu können. Wichtig ist ihr die Balance zwischen Erhalten und Erneuern. Dazu gehört auch ein bislang unerprobtes Instrument: die Stadtgestaltungsaktie.

Elisabeth Merk

Veränderungen der Stadtgestalt Strategien auf kommunaler Ebene am Beispiel München

Baukultur darf als ein wichtiger Motor der Stadt­ gestalt verstanden werden und funktioniert nur als solcher, wenn sie in Bewegung bleibt. Des­ wegen muss Baukultur als eine immerwährende Praxis verstanden werden. Ich erlaube mir, dies mit dem Begriff der Schönheit zu verknüpfen. Nur wenn es gelingt, die Stadt erkennbar für alle schöner und besser nutzbar zu machen, kann Baukultur Identität stiften – ein schöner Prozess alleine wäre zu wenig. Jede Generation hat den Auftrag, die Stadtge­ stalt im Bezug auf die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen und neu zu verhan­ deln. Stadtgestalt ist kein „statisches“ Thema, auch nicht in den so genannten historisch ge­ wachsenen Städten oder Weltkulturerbestädten. Städte sind living heritage und müssen sich daher immer wieder der Frage aussetzen, was sie von der Vergangenheit als Potenzial für die Zukunft bewahren wollen und was für ihre zukünftige Entwicklung neu definiert werden soll.

der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erneut zu beleuchten. Was bedeutet dies für die europäische Stadt, deren Stärke und Schönheit sich gerade in der Qualität ihrer öffentlichen Räume spiegeln? Kann die Baukultur hier eine entscheidende Rolle spielen, oder wird sie in Abwägungsprozessen zwischen hard facts und nice to have untergehen? Die bestimmenden Faktoren der europäischen Stadt waren bislang ihre Strukturqualität, die architektonische und städtebauliche Qualität, ihre Tauglichkeit zur kulturellen Kommunikation und die Qualität der Partizipationsprozesse. Wie viel an Fragmentierung – sei es durch Schrumpfen, sei es durch Wachstum – verträgt diese europäische Stadtgestalt, ohne ihre Identi­ tät zu verlieren? Was müssen wir wo und wie neu bauen, um in der Stadt identitätstiftende Zeichen zu setzen? Mit welchen Instrumenten des Städte­ baus können wir dies qualitativ beeinflussen?

Die europäische Stadt

Die Gestalt der alten Stadt verstärken und erklären

Während das Design des virtuellen Raums rasant fortschreitet und in Form von Second Life eine parallele, anonyme Öffentlichkeit anbietet, bemühen wir uns, die gebaute Stadt und den realen öffentlichen Raum vor dem Hintergrund

Die Dynamik der Veränderungsprozesse stellt die Bürger zunehmend vor die Aufgabe, sich mit der wandelnden Identität ihrer Städte auseinander­ zusetzen. Die Baukultur einer Stadt wird wesent­ lich durch den Städtebau, ihre Architektur sowie

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die Straßen und Plätze bestimmt. Diese Para­ meter prägen den unverwechselbaren Charakter einer Stadt und formen im Gesamten das, was wir unter Stadtgestalt verstehen. Jede Stadt besitzt daher ihre eigene „Persönlichkeit“, die durch die Art und Weise gekennzeichnet ist, wie Baukultur gelebt wird. Einzelne Gebäude können hervorragende architektonische Leistungen sein, aber zugleich kann es der Stadt an Gestalt mangeln. Es geht um den Bezug zum Ganzen, um die öffentlichen Räume, im gleichen Maße um die grünen Strukturen einer Stadt, um ihre Frei­ räume und ihre Infrastruktureinrichtungen. Wir sollten also besser von einer Stadt baukultur sprechen, wenn wir über die Qualität der Stadt­ gestalt diskutieren. Mit den starken Transformationsprozessen in unseren städtischen Räumen geht ein Werte­ wandel einher, mit dem sich die Gesellschaft auseinandersetzen muss. Wovon leben die öffent­ lichen Räume, wie unterscheidet sich der Form­ wert, die Gestaltung des Gebauten von seinem Gebrauchswert, seinem konkreten, funktionalen Nutzwert? Eine U-Bahn fährt auch ohne schön gestaltete U-Bahnhöfe, aber vielleicht würden viel mehr Menschen U-Bahn fahren, wenn die Bahn­ höfe schön wären? Ist eine Platzgestaltung erst einmal realisiert, finden sich erfahrungsgemäß viele Kritiker, die nun die defizitäre Planung anprangern. Im Vorfeld der Realisierung sind jedoch oft nur schwer Mitstreiter zu gewinnen, die engagiert dafür eintreten, dass künstlerischer und ästhe­ tischer Wert gleichberechtigt neben den funk­ tionalen Parametern als Entscheidungskriterium stehen und eben kein nice to have sind, sondern Voraussetzung für eine nachhaltige Stadtgestalt. Sicher, der Gebrauchswert verändert sich meist mit dem gesellschaftlichen Wandel, aber bringt dies zwangsläufig einen Wertewandel im Hinblick auf die Architektur mit sich? Welche Unabhän­ gigkeit können wir der gebauten Form – seien es Haus oder Platz – zugestehen, und wie finden wir die richtige Form, den richtigen Stil für die jeweilige Aufgabe? Wer bestimmt die Kriterien in diesem Prozess? Qualität für die Stadt kann nur durch einen intensiven Dialog über die Stadtbaukultur ent­ stehen. Dazu brauchen wir Raum für kulturelle Auseinandersetzungen und außerdem auch die Zeit, um die Ergebnisse in die einzelnen Projekte einfließen zu lassen. Darüber hinaus brauchen wir Akteure und Partner in den Projekten, die ge­ willt sind, sich den Diskussionen zu stellen.

Strategien der Qualitätssicherung München ist begabt im Diskurs über die Stadt­ gestalt. In allen Epochen ihrer Baugeschichte gelang es der Stadt, ihre stadträumliche Identität zu bewahren und das Niveau ihrer Baukultur zu halten. Einen wesentlichen Beitrag leisteten große Architekten und Baumeister sowie die Bauherren – Leo von Klenze und Friedrich von Gärtner beim Ausbau der Residenzstadt, bei den Stadterweiterungen Carl von Fischer und Theodor Fischer als Stadtbaurat. Gebrauchswert und formaler Wert wirkten hier noch in einem Gleich­ gewicht zusammen, welches zunehmend schwerer zu erreichen war. Dennoch gelang es München in den verschiedenen Aufbauphasen nach dem Krieg, seine Stadtpersönlichkeit zu wahren. Die Entstehungsbedingungen und räum­ lichen Eigenarten von München können als ge­ bautes historisches Gedächtnis der Stadt immer noch erlebt werden. Zuweilen sind sie überlagert von kontradiktorischen Bildern. Jeder Blick auf die Stadt und ihre Stadtbau­ kultur offenbart uns zweierlei: Strukturen und Überformungen wurden beibehalten und bleiben selbst in ihren Fragmenten noch lesbar. Und daneben entwickelte sich eine Dialektik zwischen neuerer und älterer Formensprache, die als pro­ duktiver Impuls den kontinuierlichen Wandel des Stadtbildes bestimmen. Dies kann gerade in München besonders gut erfahren werden. Obwohl in der Stadtgesellschaft immer wieder innovative Konzepte gefordert werden, bietet sie Raum für Kontinuität und Reflexion. München hat gerade damit begonnen, sich aufmerksam seiner Nachkriegsmoderne zuzuwenden und der Frage nachzugehen, welche Merkmale und stadt­ gestalterischen Vorgaben aus dieser Zeit bewahrt werden sollen. Gleichzeitig wird über neue stadtgestalterische Regeln diskutiert, die den Entwurfsprozess begleiten sollen. Viele ­Wettbewerbsverfahren und Beratergremien sichern die städtebaulichen und architekto­ nischen Qualitäten in den einzelnen Projekten. Bereits im 19. Jahrhundert plante und baute man in München mit Wettbewerbsverfahren, bei­ spielsweise beim Bau des Maximilianeums oder bei der Stadterweiterung um 1900. Selbst das Instrument der Stadtgestaltungskommission, eines der wichtigen Diskussionsforen zur Stadt­ gestalt, geht auf die „Baukunstkommission“ zu­ rück, die bereits 1886 ins Leben gerufen wurde. Seit den 1960er Jahren ist der Wettbewerb in München wichtigstes Instrument zur Qualitäts­

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sicherung für Städtebau, Freiraumgestaltung und Architektur. Die Vorbereitungen der Olympischen Spiele 1972, die Projekte des U-Bahn-Baus, der Plätze und öffentlichen Räume, Großprojekte wie beispielsweise die Messestadt Riem oder ein­ zelne Bauten wie das Jüdische Zentrum in der Altstadt zeigen, dass konkurrierende Planungs­ verfahren überzeugende Resultate liefern. Im Jahr 2002 erhielt die Stadt München den Förderpreis für das Wettbewerbswesen – ein Ansporn, auch in Zukunft diese durchaus aufwändigen Verfahren weiter durchzuführen. Heute arbeiten wir mit unterschiedlichen Wett­ bewerbsformen – vom Workshop mit wenigen Teilnehmern bis hin zum offenen städtebaulichen Ideenwettbewerb. Um diese Verfahren so effizient wie möglich zu gestalten, muss jeweils die passende Lösung für jede Aufgabe gefunden werden. Bei schwierigen Aufgaben haben sich zwischengeschaltete, kooperative Kolloquien bewährt, in denen sich Bauherr und Architekt direkt austauschen können. Immer mehr Bau­ herren schätzen diese Art der Konzeptfindung und investieren aus Überzeugung in diese Planungsphase. Wer beim Bauen auf vernünftige Weise sparen möchte, muss in die Planung inves­ tieren. Durch Vertreter aus dem Stadtrat und den Bezirksausschüssen wird das Meinungsbild aus dem politischen Umfeld ins Preisgericht miteinbezogen, die Entscheidungen im Stadtteil werden transparent.

Beratungsgremien und eigene Initiativen Bei der Umsetzung großer städtebaulicher und landschaftsarchitektonischer Wettbewerbe hat sich im Sinne der Baukultur auch das „Beratungs­ gremium“ bewährt. Auf der Grundlage von Ge­ staltungsleitfäden und übergeordneten Gestal­ tungsideen für ein Quartier werden die einzelnen Realisierungsprojekte begutachtet. Kontinuierlich und über einen langen Zeitraum wird so die Qualität einzelner Projekte gesichert. Dieses Verfahren ließ sich bei der Messestadt Riem etablieren und wird mittlerweile für viele – auch private – Bauprojekte angewandt, wie etwa die Nymphenburger Höfe oder die Entwicklungs­ flächen entlang der Bahnachse am Hirschgarten. Gerade wenn mehrere Bauherren auch mit unterschiedlichen Interessen an einem Projekt beteiligt sind, dient es dem gemeinsamen

02__ Das Jüdische Zentrum am St. Jakobsplatz in München, 2003 – 2006 von Wandel, Höfer, Lorch und Hirsch.

Qualitäts­verständnis für Architektur und Freiraum. Neben der Betreuung von konkreten städtebau­ lichen Projekten entwickelt die Stadt eigene Konzepte, um die Stadtgestalt zu verbessern. So konnte im Rahmen des strategischen Stadtent­ wicklungskonzeptes, der „Perspektive München“, ein eigenes Innenstadtentwicklungskonzept erstellt werden, welches in Form von Handlungs­ leitlinien zur Architektur und zum Städtebau sowie zum öffentlichen Raum und zu den Freiflächen Aussagen trifft. Sinn des Konzeptes ist es, den unterschiedlichen Nutzungsansprüchen gerecht zu werden, die bestehenden Qualitäten der Frei­ flächen und Plätze zu erhalten und aufzu­werten. Bei der Umgestaltung einzelner Bereiche müssen neue Qualitäten in die bestehende Stadtstruktur eingebracht werden; auch die räumliche Ver­ netzung mit dem umgebenden Quartier muss berücksichtigt sein. Projekte wie die Fünf Höfe oder der derzeit entstehende Neubau Hofstatt auf dem Areal des ehemaligen Süddeutschen Verlages zeigen, dass derart ambitionierte Projekte gelingen. Hier entsteht eine zeitgenössi­ sche Architektur, die mit dem Kontext der über­ lieferten Stadt in einen Dialog tritt. Neben den oben beschriebenen Instrumenten zur Qualitätssicherung setzt die Münchner Stadt­ baukultur darauf, die Gestalt der bestehenden Stadt zu verstärken und zu erklären, die Chancen des Ortes zu nutzen und Synergien zu entwickeln, die stadträumlichen Potenziale zu sichern, die Gestalt des öffentlichen Raums und die Frage nach der Identität der Räume zu bearbeiten, außerdem neue Werte in die vorhandene Stadt einzubringen. Es handelt sich also um Projekte, mit denen Gebrauchswerte an gestalterische und ästhetische Werte gekoppelt werden; Projekte, die deutlich machen, dass auch Schönheit ein

Veränderungen der Stadtgestalt

zutiefst nachhaltiges Kriterium sein kann. Nur wenn die Projekte in sich stimmig und gleichzeitig in der Lage sind, dem Ort, an dem sie entstehen, einen neuen Impuls zu geben, handelt es sich um integrierte Projekte. Stadtbaukultur ist eine Gemeinschaftsauf­ gabe. Nur wenn es gelingt, dass die Gesellschaft den Gestaltwert gleichberechtigt neben dem Gebrauchswert anerkennt, wird sich für die Bau­ kultur etwas verbessern. Dazu müssen Planer mit der Stadtgesellschaft jenseits der Fachgremien noch stärker in Dialog treten. Baukultur unterliegt dem gesellschaftlichen Wandel, und nur wenn es gelingt, die Fragen der Baukultur an die Alltagskultur zu binden, werden wir in Wechsel­ wirkung mit den veränderten Rahmenbedingungen zu einem neuen Verständnis von Stadtbau­kultur kommen. Die Diskussion darüber muss so transparent wie möglich geführt werden. Qualität, zumal ästhetische, kann kein demokratisches Abstim­ mungsergebnis sein. Sehr wohl aber bestimmt die Qualität der Kommunikation in einer Stadt die Qualität ihrer Entscheidungen, sie beeinflusst deren Akzeptanz und Integrationsfähigkeit. Stadt ist mehr als ein Nebeneinander von Nutzungen und der städtische Raum mehr als nur eine Anhäufung von Öffentlichkeiten unter­ schiedlicher Natur. Wolfgang Braunfels drückte das wie folgt aus: „Wer immer in allen Jahrhun­ derten nur ein Notwendiges plante, hat auch das Notwendige nicht erreicht. Die Menschheit be­ durfte des emotionalen Bezuges zu ihren Wohn­ stätten. Sie forderte die ästhetische Überhöhung, eine Kultur der Gestaltung, die dem Alltag mehr als allein Glanz verleiht.“ 1 Die Stadt als lebendiger Organismus vereint allerdings auch Gegensätzliches: das Schöne und das Hässliche, das Geordnete und das Chaos, das Vergängliche und das Beständige. Nur starke gebaute Beispiele im öffentlichen Raum, seine Plätze oder Gebäude schaffen mit einer bis ins Detail gehenden Sorgfalt ein Gegen­ gewicht zu den Brüchen und Kontrasten und tragen damit zur Identität der Orte bei. Dies gilt für alle Städte, die unter starkem Veränderungs­ druck stehen – unabhängig vom Verursacher, von Wachstum oder Schrumpfung. „Stadtge­ schichte zu besitzen, heißt für ein Gemeinwesen, jeweils erneut bei sich verändernden politischen, ökonomischen, soziologischen Verhältnissen die überlieferte Baugestalt den aktuellen Auf­ gaben anzupassen. Die als Meisterwerke

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der Stadtbaukunst berühmten Zentren haben das durch viele Jahrhunderte vermocht.“ 2 Um Maßstäbe und Standards zu etablieren, brauchen wir Qualitätssicherung und Beratung. Unabhängige Fachgremien, die von den poli­ tischen Entscheidungsträgern mitgetragen werden, können die Entwicklung tragfähiger Ideen bis zur Umsetzung dort fördern, wo sie beim rein demokratischen Prozess Gefahr laufen, abzuflachen. Ein Gestaltungsbeirat, eine Stadtgestaltungs­ kommission geben Rückhalt für die Entschei­ dungsfindung der Verwaltung und des Bauherrn, den Architekten unterstützen sie und im günstigs­ ten Fall können sie helfen, Baukultur auf breite Fundamente zu stellen.

Die Stadtgestaltungsaktie Stadtbaukultur geht alle an, und alle profitieren von einer besseren, nachhaltig gestalteten Stadt. Deshalb stelle ich hier wiederholt einen Gedanken vor, der mich seit geraumer Zeit beschäftigt: Strategien kann die Kommune im Rahmen ihrer Planungshoheit entwickeln, ebenso Konzepte erstellen und Verbündete suchen – dies allein genügt jedoch nicht. In Zeiten knapper Kassen wird es immer schwieriger, die nötigen Finanz­ mittel zu beschaffen. Die Instrumente und Verfahren für die Um­ setzung der guten Ideen bedürfen aber einer ausreichenden Ausstattung mit den Ressourcen Zeit, Geld und Partnerschaften. Dafür bedarf es zusätzlicher Unterstützung. Warum nicht eine „Stadtgestaltungsaktie“? Ich wünsche mir in Zukunft eine Stadtgestal­ tungsaktie, die von allen Nutzern des öffentlichen Raums unterstützt wird. Das einzelne Bauprojekt würde davon genauso profitieren wie die große Siedlung oder die Platzgestaltung im Quartier. Diese Stadtgestaltungsaktie könnte uns neuen – auch finanziellen – Handlungsspielraum ermög­ lichen. Der Vereinzelung der Akteure und den veränderten zeitlichen Bedürfnissen könnte so besser Rechnung getragen und die Verant­wor­ tung für die Qualität auf alle neu verteilt werden und uns so in die Lage versetzen, für die Konti­ nuität des öffentlichen Raums und seiner Gestalt aktiv einzutreten.

1. __ Wolfgang Braunfels: Abendländische Stadtbaukunst. Köln, 1976, S. 325. 2. __ Ebenda, S. 13.

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Während Stadtbaudirektorin Elisabeth Merk am Beispiel Münchens groß angelegte Planungsszenarien im Sinne der Baukultur anspricht, fordert Wolfgang Bachmann etwas ganz anderes. München scheint ihm eine planerisch unzerstörbare Stadt zu sein. Baukultur entdeckt er deswegen in öffentlichen, unspek­ takulär gewachsenen Freiräumen, in der sensiblen Pflege des Vorhandenen, dem Charme des Unauffälli­ gen – und nicht in Planungsrichtlinien oder großräumigen, strategischen Stadtentwicklungskonzepten.

Wolfgang Bachmann

Draußen vor der Tür Höchste Aufmerksamkeit für vorhandene Strukturen

Den Städter zieht es ins Freie. Wie sonst ließe sich der Erfolg der Gastwirte erklären, die an jeder umtriebigen Ecke ihr Lokal nach draußen erweitern. Ihnen genügt ein blasser Grünstreifen, eine zugige Arkade oder gar das Trottoir, schon werden Tische und Stühle vor das Etablissement gerückt, Strahler montiert, Heizpilze aufgestellt und Wolldecken dazugepackt, damit man das ganze Jahr über vor der Tür sitzen kann. Diese Entwicklung fiel zeitlich mit der Verbreitung der Latte macchiato zusammen. „Die Erwartung wird beherrscht von jenen Piazzas und Plätzen, die man aus Italien oder Spanien kennt. Klare räum­ liche Fassung, erkennbar historisch und gewach­ sen, immer etwas los, das Wetter stets warm und sonnig.“1 Aber scheinbar genügen sogar in Kiel und Fallingbostel ein paar Indizien, und schon denken wir uns die fehlenden Urlaubsrequisiten hinzu. Die harte Wirklichkeit sieht allerdings anders aus. Freiräume sind meist unbestimmte Rest­ flächen, während sich das kommunale Interesse auf die großen vorzeigenswerten Reviere kon­

1. __ Robert Kaltenbrunner: „Gemeinplätze. Entwicklungs­ perspektiven des öffentlichen Raums“, in: Ulrich Berding u. a. (Hg.): Stadträume in Spannungsfeldern. Plätze, Parks und Promenaden im Schnittbereich öffentlicher und privater Aktivitäten. Detmold, 2010, S. 44.

zentriert und ihnen ihre ästhetische Zuwendung schenkt. Die gastronomisch-kommerzielle Eroberung der öffentlichen Räume zeigt zunächst, was Urba­ nität nicht ist: Sie bedeutet keine ausschließliche Aufenthaltserlaubnis für zahlende Kundschaft. Das ist nur die Annehmlichkeit für einen Teil der Bevölkerung, der sein Privatleben ergänzt mit der distanzierten, intellektuellen Lebensweise des Städters, ausbalanciert zwischen physischer Nähe und sozialer Distanz, wie es Walter Siebel beschrieben hat.2 Im besten Fall ist der Stadtraum in der Lage, „Öffentlichkeit hervorzubringen“ – wenn wir diese blutarme soziologische Definition einmal hilfsweise zum Auftakt nehmen.

Why don’t we do it in the road? Eine Stadt lebt von ihren Zwischenräumen, den Flächen, die nicht bebaut sind, nicht dem schnellen Verkehrsfluss und dem Abstellen von Fahrzeugen dienen oder notwendige Infrastruktureinrichtun­ gen aufnehmen. Jeder breitere Gehsteig, der

2. __ Walter Siebel: „Wesen und Zukunft der europäischen Stadt“, in: Antje Havemann, Klaus Selle (Hg.): Plätze, Parks & Co. Stadträume im Wandel – Analysen, Positionen und Konzepte. Detmold, 2010, S. 115 ff.

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aus einer Straße einen Boulevard macht, jedes Geviert, das sich als Karree, Platz oder Schneise zwischen den Häusern öffnet, erst recht jeder Grünzug, Park oder Garten gibt den Bürgern Gelegenheit, sich beiläufig oder absichtsvoll, auf jeden Fall unkontrolliert als zoon politicon, als Lebewesen in einer Gemeinschaft zu erleben und verwirklichen. Die Nutzung dieser Freiräume ist vielfältig. Dazu gehören der erholsame Auslauf mit Turnschuhen oder Hund, das gemeinsame BouleSpiel oder Eisstockschießen, die Kunststücke der jugendlichen Biker und Skater, das In-der-SonneSitzen oder Flanieren, natürlich das Sich-Zeigen, -Treffen, -Begegnen. Man wagt sich in den neuen Pumps und dem roten Lederrock erst mal probe­ halber in die Fußgängerzone, um die Wirkung zu prüfen. Öffentliche Plätze wurden und werden des­ halb als Forum der politischen Repräsentation, der Auseinandersetzung und Demonstration genutzt. Sei es, um den Herrschenden ein beein­ druckendes Denkmal zu setzen, das symbolisch die ordnende Anwesenheit von Staat oder Kirche regelt („Gesslerhut“), oder um außerparlamen­ tarisch (ein Begriff, der vor allem während der Studentenbewegung das originelle politische Engagement umschrieben hat) eine Gegenöffent­ lichkeit zu etablieren. Der „Kotti“ in Kreuzberg galt für die Berliner Autonomen als Aufmarschrevier, tragischer haben es der Prager Wenzelsplatz und in Peking der Tian’anmen-Platz als Orte brutal unterdrückter politischer Demonstrationen in die Geschichtsbücher geschafft. Freiräume sind im übertragenen Sinn offene Orte, wo man sich die Freiheit nimmt, etwas unbehelligt zu tun. Sie müssen alle zusehen, sollen sie doch alle zu­sehen, niemand wird zusehen: „Why don’t we do it in the road?“ fragten die Beatles, „No one will be watching us.“

Wer oder was braucht welchen Platz? Hans-Joachim Aminde hat in den 1980er Jahren eine Typologie der Platzformen aufgestellt, die Horst Haffner nach ihrer Nutzung fortgeschrieben hat.3 Spannend wäre es nun, vorhandene Plätze nach ihrer Akzeptanz zu bewerten. Wobei man

3. __ Horst Haffner: Orte –Plätze –Räume. Vom Umgang mit der Stadt. München, 2005.

gleichzeitig fragen muss, woran man diese erken­ nen soll. Es gibt Plätze, über die eilt man täglich ohne ein Interesse des Aufenthalts, und doch ist man jedes Mal erfreut, dass die rasche Passage einem das erhebende Gefühl eines städtischen Raums gönnt. Und umgekehrt ist auch die inten­ sive Nutzung eines Platzes kein Indikator, dass er gefällt.4 Wer keine andere Wahl hat, arrangiert sich auch mit einer Umgebung, die ihm eigentlich gleichgültig ist. Aber wir halten fest: Ein öffentlicher Platz ist eine Stätte des Zusammentreffens und nicht der privaten Kontemplation. Dabei fällt auf, dass es Orte gibt, die zu keiner Zeit als Treffpunkte gedacht waren, aber mit der Zeit als solche kultiviert werden. Dazu gehört in München zum Beispiel eine Brücke über den Nymphenburger Kanal, auf der sich an warmen Abenden junge Leute scharen, auf den Brüstungen sitzen und ihr mitgebrachtes Augustiner trinken. Manchmal kommt ein Eismann dazu. Im Winter sammeln sich hier die Eisstockschützen, an Silvester brennt man gemeinsam ein Feuerwerk ab. Das Bemer­ kenswerte ist, dass nicht die geringste städtebau­ liche Zwangsmöblierung angeboten wird. Es ist nur ein Übergang, immerhin für Autos gesperrt. Aber man hat eine attraktive Aussicht, begeg­ net sich zufällig, weil sich Wege kreuzen, kann warten, beiläufig, kann sich anlehnen: da sein. Vielleicht sollte man sich dieses Phänomen für die Stadtplanung merken, ehe man sich mit umständ­ licher Gestaltung verkrampft. Ein paar hundert Meter weiter gibt es ein Jugend­zentrum. Daneben wurde (zwar auf priva­ tem Grund, aber schwellenlos) ein Platz einge­ richtet mit Sitzgelegenheiten, Strauchbeeten, einem (inzwischen ausgetrockneten) Brunnen. Hier hält sich niemand auf. Nie. Die Fläche ist öde, aus einem Wohnhochhaus einsehbar. Hier würde man höchstens sein Auto waschen, wenn es nicht verboten wäre. Das Witzige ist immer wieder, dass Nutzungen nicht vorhersehbar sind. Bisweilen werden Plätze geradezu gesucht. Sei es, um unbeobachtet die neuen Inline-Skates auszuprobieren, das fern­ gesteuerte Modellauto vorzuführen oder mit der 17-jährigen Tochter auf ein paar Metern das Kupplung-Kommenlassen zu üben. Und genau

4. __ Vgl. Wulf Tessin: „Moderne Gestaltung und alltägliche Nutzung öffentlicher Freiräume“, in: Ulrich Berding u. a. (Hg.): Stadträume in Spannungsfeldern. Plätze, Parks und Promenaden im Schnittbereich öffentlicher und privater Aktivitäten. Detmold, 2010, S. 57 ff.

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das vermisst man immer. Ein Glück, dass es am Sonntag diese herrlich leeren Parkplätze vor den Einkaufsmärkten gibt. Auch dass irgendwann die Nacktbader am Eisbach in Münchens Englischem Garten aufgetaucht sind, ist auf keine Empfehlung einer Arbeitsgruppe Freikörperkultur in der Stadt­ gestaltungskommission zurückzuführen. Man hat sich die Wiese einfach erobert. Das erinnert an die Entdeckung der Ruinengrundstücke nach dem Weltkrieg, (eigentlich tragische, aber) nicht mehr planerisch herstellbare Fantasiereviere, auf denen spielerisch Nutzungen erfunden wurden. Zum Beispiel das Gleisdreieck in Berlin. Was war das bis in die 1990er Jahre, auch ästhetisch, für eine Abenteuerwildnis! Planung muss jedoch immer am andern Ende der Skala ansetzen. Bei der Funktionszuschreibung und der Gestaltung. Aber bedeutet Baukultur nicht, wie der ganze Mensch lebt und arbeitet? Muss man ihm nicht etwas bieten, wie es Sou Fujimoto gerade in einem Vortrag formuliert hat, „worin er sich zurechtfinden will“?5

Wohnquartiere nach Investorenart? In München gibt es großartige alte und neu geschaffene Freiräume, die die Stadt auf der Habenseite verbucht: die renaturierten Isarauen, den Englischen Garten, den man vielleicht im politischen Tauschhandel einmal mit der Tram durchqueren darf, der Olympiapark, bei dem jedes Baugerüst argwöhnisch begutachtet wird, als kündige sich der große Exorzismus an (während die permanente Event-Verramschung als Erfolg des Stadtmarketings verbucht wird), der als Open-Air-Bühnen entdeckten Flächen des Königsplatzes und des Odeonsplatzes mit dem benachbarten Hofgarten (mit der fetten Henne der Staatskanzlei als Blickfang), die verschie­ denen Rückbau- und Tunnelparkprojekte, die sich durch die Veränderung der Verkehrsplanung ergeben, den Arnulfpark, die Messestadt Riem –  hier stock’ ich schon. Die kurze Aufzählung zeigt bereits eine un­ harmonische Vielfalt. Erstens: Das Kapital ist die Tradition, das kennt der Bayer, das möchte er so erhalten wissen. Zweitens: Die Begehrlichkeiten lauern überall; ein Platz, ein Park, ein Ort, da muss man doch was machen können, was inszenie­ ren, Leute herholen, was verkaufen. Drittens gibt es den Zugabenteil der Stadt, Kunstplätze fürs

Feuilleton, über die man diskutiert. Schließlich, viertens, entstehen diese belanglosen Neubau­ viertel, die aussehen, als sollten sie nur rasch der Versorgung andrängender Migrantenströme dienen. Dies ist in München ein besonders kritisches Kapitel. Andreas Feldtkeller sieht als Ursache, dass Kapitalanleger den Profit aus dem Mythos der Moderne ziehen, indem sie „immer wieder aufs neue die Chance bekommen, ohne Rücksicht auf soziale Zusammenhänge die auf dem Markt befindlichen Grundstücke wirtschaft­ lich optimal auszuwerten“.6 Und der Autor resig­ niert: „Und zwar vor allem dadurch, dass die für das städtebauliche Handeln Verantwortlichen – Planer und Politiker – es aufgegeben haben, den öffentlichen Raum als Kitt der Stadt, als Regulativ für die Einordnung der einzelnen Stadtpartikel in das urbane Gefüge zu betrachten.“7 Dass die Stadt immer brav Wettbewerbe auslobt, bedeu­ tet noch gar nichts. Denn danach kommen die Bauträger und machen erst einmal einen richtigen Plan draus. Sollen wir denn riskieren, dass uns die Investoren abspringen? – hat eine ehemals Verantwortliche in hoher Position einmal auf diesen Vorwurf geantwortet.

Kunstwerke und Landschaftsinseln zur Ablenkung Bleiben wir einmal bei den aktuell lesbaren Frei­ raumbotschaften. Man kann sagen, sie werden immer mehr und wichtiger. In anderen Regionen hat zwar die Landschaftsarchitektur den Hochbau überflügelt, weil die Städte schrumpfen und die Leerräume manierlich gefüllt und geordnet werden müssen. Die IBA Stadtumbau SachsenAnhalt zeigt, wie es geht. In München leben wir auf der Sonnenseite, wir überarbeiten nicht die Brache, sondern dekorieren den Umbruch. So wurde wieder einmal die Münchner Freiheit, eine Art Leerraum im Herzen Schwabings, über­ arbeitet. Ein „Alternatives Plangutachten“ zur Gestaltung des Tram- und Busbahnhofs gewan­ nen die Aachener Architekten OX2. Als wollte man endlich einmal dem Vorwurf begegnen, in München gebe es keine Avantgardearchitektur, hat man sich auf ihren Entwurf eingelassen, der wie ein Wäldchen um den Fahrzeugwendepunkt wachsen sollte. Bei der Entscheidung war völlig unklar, ob man das Gekröse überhaupt bauen kann. Die Archi­tekten suchten mit studentischem Elan „eine besondere Art Schaumstoff, der sich

Draußen vor der Tür

Petra Steiner / Kötzschenbroda, o. J.

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mit einer Fräse formen und durch eine Beschich­ tung stabilisieren ließe“. Glasfaserverstärkter Kunststoff schied wegen der Brandschutzanfor­ derungen aus. Also wurde das organisch gebo­ gene Dach auf seinen schilfrohrartigen Stützen aus beuligen Stahlplatten mit deutlichen Nähten zusammengeschweißt. Damit man darunter über­ haupt etwas sieht, muss die weiße Unterseite auch bei Tag angestrahlt werden. Und man sieht: Das befremdliche Ding ist schon nach kurzer Zeit völlig verdreckt. Es steht herum wie Sperr­ müll, ein Krampf, als hätte es zuvor noch keine Architektur gegeben. Was lehrt uns das? Es fehlt an einer verlässlichen Vorstellung, was ein Stadtraum verträgt – was er will, um es einmal so pathetisch zu sagen. Oder der Quartiersplatz Theresienhöhe auf der Bahnüberbrückung der ehemaligen Messe. Nach Entwürfen von Rosemarie Trockel, Catherine Venart und Topotek 1 wurde hier als Ergebnis eines internationalen Wettbewerbs eine Groß­ skulptur deutscher Landschaften inszeniert. So löblich es ist, dass man keinen Rasen gesät und Stiefmütterchen in die Erde gedrückt hat, so rätselhaft und fragwürdig ist das Ergebnis. Die Konditionen waren schwierig. Der Aufbau musste leicht sein, die Magnetfelder der darunter ge­ führten Fahrdrähte sollten kein längeres Lagern auf dem neu gewonnenen Platz erlauben. Diese Widrigkeiten lösten die Planer mit einem TartanDünenacker auf einer Hartschaummodellierung und unfreundlichen Asphaltmarkierungsnägeln in einer schiefen Kunstrasenebene. Blickfang sind beigefarbene Kletterreusen, die aussehen, als sollten dort Bundeswehrangehörige vor ihrem Abflug nach Kundus ihr letztes Training absol­ vieren. Ein paar bewusst krüppelige Kiefern und Echt­rasenintarsien vervollständigen das Ambiente. Nun wäre es ungerecht, über einen frisch angelegten Spielplatz zu räsonieren. Zu Recht heißt es immer, man müsse mit dem Urteil warten, bis ein Quartier eingegrünt, angenommen ist und Patina zeigt, um es zu begreifen. Aber diese Perspektive wird hier zur Befürchtung: Was soll sich da verändern, altern, gefälliger werden? Der helle und der dunkelgraue Split werden sich vermischen, auf dem Kunstrasen werden Feuerwerkskörper und betrunkene Oktoberfest­

5._ Sou Fujimoto am 14. Oktober 2010 im Prinzregententhea­ ter, München. 6.__ Andreas Feldtkeller: Die zweckentfremdete Stadt. Wider die Zerstörung des öffentlichen Raums. Frankfurt /M., 1994, S. 52.

besucher irreversible Spuren hinterlassen, und Jugendliche werden den kunstvoll geordneten Spaßparcours einem Realtest unterziehen. Wulf Tessin hat diese Diskrepanz von profes­ sioneller Ästhetik und Laiengeschmack ange­ sprochen. Ob das Gegenmodell der „leere Platz“ in Piran, die Piazza Tartini, die wir nur aus Tou­ ristenperspektive kennen, von der Bevölkerung wirklich auch „angeeignet“ wird, können wir nicht sagen. Sowohl in Boris Podreccas Stadtmitte als auch auf der Münchner Theresienhöhe wird man immer Menschen treffen, die diese illustren Plätze besichtigen – das Ziel sollte aber sein, dass die Quartiersbewohner hier gern verwei­ len. Die zeitgenössische Landschaftsarchitektur bricht gerne mit tradierten ästhetischen Vorlieben, neben der Leere bietet sie sperrige Störungen, gerne Anorganisches wie Betonschwellen, rosti­ ge Stahlträger und blauen Glassplitt. Neu in der Materialmustersammlung sind jetzt diese Kunst­ stoffprodukte, wie man sie in München ausge­ breitet hat. Damit kann man auffallen und sicher einen Beitrag zum Freiraum-Diskurs leisten, nimmt dabei allerdings in Kauf, den städtischen Raum als intellektuell-ästhetisches Artefakt und nicht als Gebrauchsgut zu behandeln. Es wirkt wie serielle Musik zum Volksfest. Tessin glaubt, dass sich die Bevölkerung „auch in Zukunft kaum mit dieser Art von Landschaftsarchitektur anfreunden“8 wird. Andererseits muss man den desinteressierten Quartiersbewohner auch nicht als Maßstab für die Stadtentwicklung nehmen, wie der Autor resümiert: „Die Bevölkerung erwartet zudem in Bezug auf die Gestaltung städtischer Freiräume im Grunde ja nichts Neues, also ist da (anders als im Bereich der Kunst oder der Mode) eine Aufgeschlossenheit, geschweige denn Neugier dem (…) Neuen gegenüber eher nicht typisch.“9

Der Charme des Unauffälligen Diese Beobachtung lenkt unser Interesse aber auf ein anderes Feld. Es scheint (nicht nur in München) herrschende Praxis zu sein, sich eher dem spektakulären Neuen zuzuwenden. Wenn jährlich 7.000 neue Wohnungen benötigt werden, dann hat man alle Hände voll zu tun, um ein Er­

7. __ Ebenda. 8. __ Wulf Tessin, S. 66. 9. __ Ebenda.

Draußen vor der Tür

gebnis der eingefädelten städtebaulichen Strate­ gien vorzuweisen. Eine „Stadtgestaltungsaktie“, wie sie Frau Merk ausgeben möchte, bleibt aber eher eine Anlagemöglichkeit für stadtneurotische Hedgefonds-Manager. Leerverkäufe sollte man nicht riskieren, wenn man nicht auf fallende Kurse des städtischen Werts spekulieren möchte. Weni­ ger metaphorisch heißt das, dass wir im Gegen­ teil die vorhandene Stadt nicht aus den Augen verlieren dürfen. München zeichnet sich durch eine endlose Folge wunderbarer Straßen und Plätze aus, die den Bewohnern völlig unspektakulär zugute kommen. Wer nur ein wenig sensibel durch Neu­ hausen, Gern und Nymphenburg spaziert, wird viele unterschiedliche Straßenprofile erleben, wird spüren, wie sich die Anmutung verändert, weil eine Baumreihe dazukommt, ein Grünstreifen sich verbreitert, Asymmetrie eine Seite betont, ein leichter Knick und ein Gefälle einen geschlos­ senen Straßenraum simulieren, krumme Anlieger­ wege eine Abkürzung erlauben, dazwischen locken offene private Höfe, die von Genossen­ schaften vorbildlich saniert wurden. Das Beson­ dere dabei sind die unzähligen Störungen, Unter­ brechungen, Nischen, die man nicht einmal als Platz bezeichnen kann. Ihre Entstehung hat sicher unterschiedliche Ursachen, bisweilen mögen es Restflächen sein, weil zum Ärger der Boden­ spekulanten der Verwertungsrapport nicht besser aufgegangen ist. Und während in der Innenstadt viele prominente Plätze eigentlich nur umtriebige Straßenkreuzungen darstellen, leben diese Wohn­ quartiere – wir denken nicht einmal an die promi­ nente Borstei – von solchen undefinierten Aus­ weichflächen. Aber wie wird damit umgegangen? Manchmal ist ein banales Gatter angebracht, um Hunde von den Spielwiesen fernzuhalten, woanders ärgern martialische Rohrsperren gegen wildes Parken unser ästhetisches Empfinden, elendgroße graue Verteilerkästen posieren unbeirrt vor Jugendstil­ fassaden, vor allem aber sind es diese gedanken­ los abgestellten Wertstoffsammelbomben, die den städtischen Freiraum angreifen. Warum sich die deutschen Städte offenbar verabredet haben, mit diesen schmutzigen Schrottinseln das Recycling als ärgerlichen Umstand auszustellen, darüber kann man nur rätseln. In italienischen Urlaubsregionen gibt es unterirdische Container, in denen Flaschen, Tüten, Dosen so gesammelt werden, wie man es sich wünscht: unsichtbar.

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Wo beginnt die Baukultur? Die Sorge besteht also, dass die Baukultur des städtischen Raums vorzugsweise lieber dort ge­ pflegt wird, wo man sie eindeutig inventarisieren kann, wo sich der Apparat von Ausschreibung, Wettbewerb, Genehmigung, Baumaßnahme und Einweihung mit medialer Begleitung in Gang setzen lässt. Originelle Projekte dürfen Millionen kosten. Für die sorgsame Beobachtung und Er­ haltung vorhandener Freiräume fehlt dagegen das Interesse, die Sensibilität, die erkennbare Zustän­ digkeit im Labyrinth der Ämter. Sachzwänge eben. „Baukultur als eine immerwährende Praxis“ zu verstehen und „dies mit dem Begriff der Schönheit zu verknüpfen“, heißt zu akzeptieren, dass München eine langsame Stadt ohne Archi­ tekturavantgarde, aber mit viel traditionellem Beharrungsvermögen ist. Deshalb sollte man diesen Charakterzug auch würdigen und „alle Komponenten im Entwurf der Stadt so (…) fügen, (…) strukturieren und (…) harmonisieren, dass das Ergebnis als schön, als emotional und kultu­ rell bedeutend wahrgenommen wird“.10 Es gibt keine Erfolgsregeln für die Gestaltung öffentlicher Räume, außer dass die Zielgruppe Bürger eine Nutzungsmöglichkeit erkennen muss. Schönheit wäre das, was „sich in den Lebensalltag der Stadtbewohner einprägt“.11 Sie sind der Maßstab. Unter ihnen wird es auch Gruppen geben, die Unordnung, Unkalkuliertes und sogar Gefähr­ liches in die Öffentlichkeit tragen. Ihnen ist mit übergestülpten Architekturkonzepten nicht gedient. Es gehört zum städtischen Zusammen­ leben, keine Dankbarkeit und kein Wohlverhalten zu erwarten. Wenn alle Trampelpfade durch die Rabatten treten und ihre Bierdosen neben den Papierkorb werfen, kann man nicht ausschließen, dass etwas falsch geplant wurde. Man möchte in einem Gemeinwesen auch davon ausgehen, dass es etwas für seine Teilnehmer tut, dass es sie versteht, sie umsorgt und sich so lange um ihre Umgebung kümmert, bis sie spüren, dass es um sie geht.

10. __ Klaus Theo Brenner: Die schöne Stadt. Handbuch zum Entwurf einer nachhaltigen Stadtarchitektur. Berlin, 2010, S. 4. 11. __ Ebenda.

Barbara Metselaar / Öffentliche Räume in Berlin, 2010

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Wolfgang Kil und Carl Zillich diskutierten im September 2010 mit jungen Akteuren aus der Architektur, des partizipativen Stadtplanens und Bauens, der künstlerischen Stadtintervention sowie mit Stadtforschern und Quer­denkern, die sich in internationalen Netzwerken bewegen. Sie sprachen über den Begriff der Baukultur, über Architektur als Experiment, über die Rolle des Architekten als Entwerfer oder als Moderator, über Partizipation, interdisziplinäres Arbeiten und ihre Erwartungen an die Bundesstiftung Baukultur.

Wolfgang Kil, Carl Zillich

Baukultur der Zukunft Ansichten und Perspektiven junger Akteure – ein Gespräch

Carl Zillich: Wie ist Eure Sicht auf die Baukultur und ihre Akteure auch im Bezug auf Eure Praxis? Benjamin Förster-Baldenius: 2004 habe ich mit unserer Gruppe Raumlabor den Erich-SchellingPreis erhalten. Deshalb bin ich wohl früh auf der Liste der potenziellen Mitglieder dieses seltsamen Konvents der Baukultur gelandet. Das war für mich ein mysteriöses Ding: Vierhundert Leute sollen sich treffen, um irgendwas zu verhandeln. Ich habe jahrelang mit 25 Leuten in einer GroßWG gewohnt und weiß daher, dass dabei nichts rauskommen kann. Ihr müsst da dringend aufräumen, damit man sich überhaupt konstruktiv einbringen kann. Und was uns als junge Akteure betrifft: Als Grundlage einer Baukultur-Stiftung gab es damals eine Liste mit sieben Punkten, beim letzten ging es auch um das Experiment. Dazu habe ich eine haarsträubende Veranstaltung mit Karl Ganser erlebt, zu der die junge Szene einge­laden war, um so was wie einen Spielplatz

für junge Architekten einzurichten, auf dem sie hätten experimentieren können. Die Alten sollten sich dann wohl um die anderen sechs Punkte kümmern. Liza Heilmeyer: Es ist tatsächlich so, dass man als junger Architekt ganz oft in die Schublade „Experiment“ gesteckt wird. Wir sind offenbar diejenigen, die noch nicht verkrustet sind. Wir sollen für das Verrückte gut genug sein. Mein Büro ist in dieser Beziehung dann eher der Exot, weil wir uns von vorneherein für die eher klassischen Bauvorhaben entschieden haben. Leichter wird es für uns dadurch nicht. BF B: Dazu passt die Diskussion über ein „Schwarz­buch“ der Architektur, die damals im Umfeld der Stiftung geführt wurde. In dem sollte drinstehen, was gute und was schlechte Architektur ist. Ich halte das für keinen guten Ansatz, um über Baukultur nachzudenken oder darüber zu diskutieren.

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CZ: Ich glaube auch, dass eine differenziertere Auseinandersetzung geführt werden muss. Baukultur ist viel mehr als Architektur oder Bau­ kunst, die ja gerne mit einem Wahrheitsanspruch daherkommt. Eine der Hauptaufgaben der Stiftung ist es, solche Kategorien und Hierarchien aufzu­ brechen und querzudenken. Dabei trifft sie aber auf viele Besitzstandswahrer. Wolfgang Kil: Ich kenne die Gründungsphase der Stiftung gut und habe mich viel gestritten. Karl Ganser hat aufgrund seiner eigenen Erfahrung ein besonderes Verhältnis zu Institutionen. Nach seinem Rückzug kam vieles anders als geplant. Ich habe mir immer gewünscht, dass sich die Stiftung stärker den jungen Leuten und ihren Experimenten widmet, wie es die Bundeskultur­ stiftung macht. Die Bundesstiftung Baukultur sollte dann aber nur eine Kommunikations- und keine Förderstiftung werden. Das ist wahrschein­ lich einer der Konflikte, auf die Ihr anspielt. Auch Werner Sobek hatte sich für das Fördern eingesetzt, war aber erfolglos. Es ist schon fatal, dass fast alles, was die Baukultur in den letzten Jahren im experimentellen Sektor vorzuweisen hat, Hortensia Völckers bezahlt hat. CZ: Im Ausland gibt es interessante Nach­ wuchsförderung, ohne zwischen Experiment und alltäg­lichem Bauen zu polarisieren. Zum Beispiel die startersubsidie in den Niederlanden, eine Anschubfinanzierung für die Selbstständigkeit. Dort hat zudem die Rijksbouwmeesterin in der Immo­bilienkrise Forschungsaufträge an junge arbeitslose Architekten vergeben. In Belgien, genauer in Flandern, macht die vergleichbare Institution Nachwuchsförderung und Qualitäts­ kontrolle zugleich, indem über einen open call Büros ausgewählt werden, um sie an Bauaufträge der öffentlichen Hand zu vermitteln. Von solchen Instrumenten träumt die Bundesstiftung Baukultur nur. Wir suchen auf anderen Wegen Mitstreiter. WK: Wenn die Stiftung den Fühler für Trends behält, ist es das Maximum, was sie in der jetzigen Konstruktion leisten kann: neue Themen aufgreifen und die Diskurse befördern oder zuspitzen. Worauf seid Ihr neugierig, oder wozu zwingen Euch die Umstände? LH: Als junge Architektin denkt man frisch und anders über die Sachen nach, ohne dass sie schräg oder außerhalb von Typologien liegen müssen. Es ist auf keinen Fall schlecht, Dinge zum ersten Mal zu machen. Konträr dazu ist die Tendenz, nur Büros zu beauftragen, die Erfahrung

Benjamin Foerster-Baldenius  Jahrgang 1968. Architekturstudium an der TU und der Hochschule der Künste in Berlin und der Königlichen Dänischen Kunstakademie Kopenhagen. 1997–2000 Leitung von zwei Theatergruppen. 1997 Gründung des Instituts für angewandte Baukunst in Berlin und seit 1999 Mitglied der Architekten­ gruppe Raumlabor, ebenfalls in Berlin. 2003 künstlerischer Leiter des Festivals Hotel Neustadt für das Thaliatheater in Halle/Saale. 2004–2009 verschiedene Theater- sowie künstlerische und raumkünstlerische Projekte. 1999 erhielt Benjamin Foerster-Baldenius den Max-Taut-Preis der UdK Berlin, 2004 den Erich-Schelling-Preis für innovative Architektur. Professor für Architektur an der Akademie für Kunst, Architektur und Design in Prag.

in der jeweiligen Bauaufgabe haben. Also nicht nur das Experiment auf temporärer Ebene oder das Experiment als Denkanstoß im freien Raum, sondern auch „das Experiment“ für öffentliche Bauherren, an junge Büros Aufträge zu vergeben, die ganz neue Lösungswege für eine Bauaufgabe finden, braucht Unterstützung. WK: Wie oft kann man etwas zum ersten Mal machen? Norman Foster sagt ja zum Beispiel, dass er bei jeder Bauaufgabe zum ersten Mal darüber nachdenkt.

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Kil, Zillich

in Hannover bei der Architektenkammer das „Newkammertreffen“ initiiert, obwohl die mich vor ein paar Jahren noch verklagen wollten, als wir noch keine Mitglieder waren. Bei der DGNB bin ich auf weniger Interesse für Querdenker gestoßen. Jetzt engagiere ich mich bei der Stiftung „neue verantwortung“, die inter­disziplinäres Denken fördert. Ich finde es immer sehr interessant, in solche Gruppen vorzustoßen, denn es nervt mich, immer nur mit Gleichgesinnten rumzuhängen. Letzten Endes glaube ich daran, dass man aus dem Inneren der Strukturen am besten Einfluss nehmen kann. CZ: Das Auftreten als Cityförster hat Euch auch Zugang zu Wettbewerbsverfahren verschafft, für die Ihr als Einzelkämpfer nicht genug Erfahrung hättet nachweisen können, oder?

Liza Heilmeyer Jahrgang 1975. 1995 Studium der Kunst an der Freien Kunstschule Stuttgart, 1996 – 2003 Studium der Architektur an der Universität Stuttgart. Während des Studiums Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros in Stuttgart und Cambridge, Massachusetts. Nach dem Diplom Anstellung im Büro Foster + Partners in London. 2005 Bürogründung mit Stephan Birk in Stuttgart. 2007 Förderpreis der Architekturgalerie am Weissenhof. 2009 Berufung in den BDA. Gewinnerin DEUBAU-Preis 2010 für junge Architektinnen.

LH: Dafür gibt es auch einige Beispiele. Als das Büro etwa zum ersten Mal eine Schule entworfen hat, kam ein bahnbrechender neuer Schultypus heraus, was natürlich auch mit der offeneren Struktur in Großbritannien und einer pädagogi­ schen Konzeption zusammenhing. Oliver Seidel: Die Suche nach Neuem funktionierte für uns am besten in einem Netzwerk. Bei den Cityförstern war es ein Wohnungsbau in Tirana, der aus unserer losen Gruppe von Absolventen ein sich stetig professionalisierendes Büro hat werden lassen, das jede Aufgabe als Chance sieht, Dinge neu zu denken. Wir haben versucht, uns von allem Etablierten und Institutionalisierten fernzuhalten und uns als Opposition verstanden. Wir haben dann aber festgestellt, dass dies kontraproduktiv war, und ich habe angefangen, mich für die Strukturen zu interessieren, die uns umgeben. So bin ich im Förderverein der Bundes­stiftung Baukultur gelandet oder habe

OS: Genau, was Wettbewerbe angeht, treten wir schon zusammen auf. Da profitieren wir von einer gemeinschaftlichen Referenzliste und entsprechenden Umsätzen, die sich aus unseren sechs Standorten und den Aktivitäten von elf „Förstern“ speisen. Wir sind Freunde und Kollegen und das wird kommuniziert, wir treffen Entscheidungen auch gemeinsam, neuerdings als Partnerschaftsgesellschaft. WK: Wir sollten darüber reden, wie man sich in den bestehenden Verhältnissen arrangiert, und die ökonomische Ebene spielt dabei immer eine große Rolle. BFB: Das Raumlabor besteht aus acht Personen, die aber fast alle eigenständige „Firmen“ bilden. Mit einem Ideenwettbewerb entlang der Berliner U-Bahn-Linie 8 hat die Zusammenarbeit angefangen. Bei einem Vortrag vor der Architekten­ kammer Sachsen-Anhalt ist Elisabeth Merk, als damalige Stadtplanungsamtsleiterin von Halle, auf uns aufmerksam geworden. Sie hatte den Mut, uns mit planerischen Aufgaben für Halle-Neustadt zu beauftragen. Wir haben dann alle anwesenden Architekten „kleine Stadtvorstellungen“ kneten lassen. Das ist die Offenheit, die man braucht, um aus festgefahrenen Strukturen auszubrechen. An Halle-Neustadt hatten sich schon etablierte Planer die Zähne ausgebissen. Für uns war das eine super Aufgabe, aus der sich weitere entwickelt haben.

Baukultur der Zukunft

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WK: Seitdem werdet Ihr öfter eingeladen, müsst Euch nicht mehr mit Euren Ideen bewerben. BFB: Ja, wir werden aber nicht eingeladen, permanente Bauaufgaben auszuführen, damit müssen wir uns abfinden. Ich persönlich finde das nicht so schlimm, ich arbeite gerne mit Theatern, Festivals, Kindern und Jugendlichen an temporären, prozessorientierten, ortsspezifischen Projekten, die für mich mehr gesellschaftliche Relevanz haben als Einfamilienhäuser. LH: Es ist aber nicht so, dass man sich mit nichttemporären, also herkömmlichen Bauaufgaben der gesellschaftlichen Verantwortung entzieht. BFB: Stimmt, aber ich meine den Prozess der Planung, der bei Dir ja eher im Büro stattfindet oder an einem Tisch und nicht in der Öffentlichkeit. LH: Vielleicht ist mein Büro, zusammen mit Stephan Birk, tatsächlich das Kontrastprogramm. Wir haben seit dem ersten Semester zusammen studiert und dann auch gemeinsam bei Foster in London gearbeitet. Mussten das aber relativ schnell abbrechen, weil wir das Glück hatten, einen Absolventenwettbewerb für ein Parkhaus auf dem Firmengelände von Ernsting’s Family zu gewinnen. So hatten wir nach 13 Monaten Praxis­ erfahrung unser erstes Projekt in der Tasche.

01__ Parkhaus der Firma Ernsting‘s Family in Coesfeld-Lette von Birk und Heilmeyer.

CZ: Wart ihr da schon in der Kammer? LH: Nein, wir haben jenseits der Kammer angefangen. Aber es gab die Auflage, sich ab Leistungsphase 6 von einem erfahrenen Büro begleiten zu lassen. Es ist eine normale Vorgehensweise, dass man dann die künstlerische Oberleitung hat. Trotzdem waren wir es, die jede Schraube an dem Ding gezeichnet haben. So wurden wir ziemlich abrupt in die Selbstständigkeit katapultiert. Wir kamen dann erst nach Abschluss des Projekts in die Kammer, über Umwege und diverse Bescheini­gungen. Wir waren als „Architekt-imPraktikum“ angestellt, wie es sich für Absolventen in Baden-Württemberg gehört. Offiziell durften wir noch nicht selbstständig arbeiten. WK: Sehr deutsch... LH: Ja, aber wir haben von vorneherein gesagt, dass wir uns gerne den klassischen Bauaufgaben widmen möchten und nicht in der Schublade „Experiment“ landen wollten. Über das Parkhaus und über Preise, die wir dafür gewonnen haben, war es uns möglich, durch die Kategorie „Junges Büro“

02__ Das Projekt „Stadtsafari“ in den Prinzessinnengärten, Berlin (Leiter des Projekts: Martin Schwegmann).

bei nicht-offenen Wettbewerben berücksichtigt zu werden und neue Aufträge zu bekommen. So erreichen wir unseren Anspruch, durch das Gebaute und seine hohe gestalterische Qualität unserer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden. Martin Schwegmann: Bei mir ist das mit der gesellschaftlichen Verantwortung noch mal anders. Dem von mir initiierten interdisziplinären Netzwerk Urban Passion gehören nicht nur Planer an. Wir sind Geografen, Wirtschaftswissenschaftler, Künstler und so weiter. Es ist ein Netzwerk für Stadtentwicklung und Kommunikation, das auf Partizipation und Forschung basiert. Wie bei

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Kil, Zillich

CZ: Das wirft eine wichtige Frage auf: Wie weit gehen Partizipationsmodelle, und welche Verspre­ chungen können oder wollen wir einlösen? Auch die verbrieften Beteiligungsverfahren versprechen ja einiges, kommen aber in der Prozesskette meist viel zu spät. Wie können wir es schaffen, dass ein Dialog „auf Augenhöhe“ stattfindet, bei dem der Komplexität Rechnung getragen wird? Wie können wir mit diesem Dilemma umgehen?

03__ Das „Küchenmonument“ auf der 12. Architekturbiennale in Venedig 2010 von Raumlabor.

meiner Doktorarbeit an der TU Berlin, wo es um die Verbindung zwischen Stadtteilorganisation und lokaler Politik in Istanbul geht, interessiert mich auch hier besonders das Ungeplante, die Dynamik der Stadtbewohner selber. Mein Geld verdiene ich allerdings als freiberuflicher Architekt in einem kleinen Büro, in dem ich seit sechs Jahren Bahnhofsentwicklungen plane. CZ: Das berühmte Stand- neben dem Spielbein. Wo kommt die Passion gerade zur Anwendung? MS: In letzter Zeit lag auf dem Netzwerk-Schreibtisch das Projekt „Stadtsafari“ für den Prinzessinnengarten in Berlin, ein Pilotprojekt im Rahmen von ExWoSt, bei dem ich Projektleiter war. Das ist ein partizipatives Jugendprojekt, mit dem wir gerade einen mobilen Jugendclub gebaut haben. Die Idee ist, gemeinsam mit Jugendlichen aus diesem Stadtteil etwas zu bauen, um ihnen nahe­ zubringen, dass sie ihre Umwelt verändern und aktiv eingreifen können. Dabei stellte sich heraus, dass so ein relativ einfaches Objekt schon einen so komplexen Prozess braucht, dass der Anspruch, alle Akteure einzubinden und zu begeistern, nicht wirklich einlösbar war. Eine Fassade musste entwickelt werden, gleichzeitig mussten Vorschriften eingehalten werden, dabei ließ sich Partizipation nicht voll umsetzen. Wir hatten unterschiedliche Experten und viele Workshops, in denen wir alles zusammen entwickelt haben. Dann stand die Kiste da, und die Jugendlichen sagten: „Das ist hässlich, das muss besprüht werden.“ Inkonsequenterweise haben wir uns darauf geeinigt, dass bestimmte Stellen an der Fassade abgehängt wurden, die dann besprüht werden konnten.

OS: Letzten Endes ist es doch gar nicht so schwierig, wenn man die Kompetenzen der anderen achtet und integrativ Projekte entwickelt. Am Anfang müssen alle Betroffenen ihre An­ sprüche formulieren, dann aber auch sagen: So, jetzt setz’ das mal um, wähl mal das richtige Material und so weiter. MS: Es ist eine Verhandlungssache, festzulegen, wie weit wessen Kompetenzen gehen. Bei jeder Bauaufgabe muss man zwischen verschiedenen Interessen, des Investors, Architekten oder Handwerkers, gut moderieren können. Bei einem Projekt wie der „Stadtsafari“ kommen weitere dazu. CZ: Um die Sache weiterzutreiben, möchte ich Lucius Burckhardt zitieren, der unter der Über­ schrift „Design ist unsichtbar“ zu provozieren wusste. Ihm ging es dabei nicht um eine Abschaf­ fung von Ästhetik, sondern um die Ganzheitlichkeit einer Gestaltung der gebauten Umwelt. Das beste Beispiel war für mich immer die Planung einer Bushaltestelle, bei der die Frage, wie oft der Bus kommt, die Grundlage eines jeden Gestal­ tungsanspruchs sein müsste. Wie schaffen wir es also, uns um die Qualität von Objekten und von Prozessen gleich gut zu kümmern? BFB: Die Interaktion ist das Entscheidende. Ich habe mal mit Kindern eine Stadt geplant und gebaut. In einer großen Halle sind da über sechs Wochen sehr tolle Räume entstanden. Das war natürlich nichts für die Bauwelt oder so, aber es war Prozessdesign. Wie kann ich in die Wege leiten, dass Leute sich einmischen, einen Teil der Verantwortung übernehmen? Gleichzeitig wissen wir um die Kraft eines attraktiven Objekts, wie man bei unserem Küchenmonument, der Blase, sehen kann. Hier konnten wir viele Dinge miteinander vereinen. Es ist ein sexy object, man kann da Leute drin sehen, die sich vorher nicht kannten, jetzt aber zum Beispiel zusammen kochen. Und das an einem seltsamen Ort, wie unter

Baukultur der Zukunft

einer Autobahnbrücke oder in einem Park. Dort passiert dann auf einmal etwas, was man nicht erwartet. WK: Wozu wollt Ihr die Kinder denn befähigen, mit denen Ihr arbeitet? BFB: Mich interessiert es, Kindern und anderen Werkzeuge in die Hand zu geben, mit denen sie selbst auf die gebaute Umwelt Einfluss nehmen können, und ihnen vorzuführen, dass die Dinge nicht so sein müssen, wie sie sind. Das ist eine Art aktive Horizonterweiterung. LH: Das klingt fast so, als würden Laien bessere Architektur machen als Architekten. BFB: Das hab ich nicht gesagt. Aber man muss seine Lebensumgebung beeinflussen und damit die Umwelt auch verändern. Es kann nicht da­ rum gehen, Kindern nur Respekt vor Architektur beizubringen. LH: Sich mit Qualitäten auseinanderzusetzen, finde ich sehr wichtig. Wir sollten mehr mit Kindern darüber nachdenken, wie Räume zusammenhängen und was die Raumqualität beeinflusst. Gleichzeitig weiß ich nicht, ob die Teilhabe von

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vielen Menschen an Prozessen unbedingt zu mehr Qualität führt. OS: Mich interessiert in diesem Zusammenhang erstmal, interdisziplinäre Zusammenarbeit wirklich hinzubekommen. Es ist erschreckend, es reden zwar alle darüber, aber dann kocht jeder sein eigenes Süppchen. WK: Vielleicht können wir das Thema Interdiszipli­ narität mit der Frage nach den Netzwerken verknüpfen, in denen Ihr Euch eingerichtet habt. Was treibt unterschiedliche Leute zueinander, dass sie sich als Netzwerk begreifen? BFB: Das ist ein Akt der Verzweiflung. OS: Neben dem Durchhalten auf Durststrecken ist es tatsächlich hilfreich, wenn unterschiedliche Interessen und Verantwortlichkeiten vorhanden sind. Es geht um den konkreten Austausch und die tatsächliche Zusammenarbeit. CZ: Dazu kommen dann die Geldgeber, sei es Frau Merk oder Frau Völckers beim Raumlabor oder Herr Ernsting bei Birk und Heilmeyer. Da geht es auch um Verantwortung und Vertrauen.

04__ Cityförster: eine von 33 Ideen zur Nachnutzung des Flughafens Berlin-Tegel.

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LH: Das ist ein wichtiger Punkt. In den Verfahren der öffentlichen Hand sind die Strukturen natürlich ganz andere. Es finden sich fast keine Einzelpersönlichkeiten mehr, die freie Entscheidungsgewalt haben, andere Entscheidungsträger können immer reingrätschen, Absprachen zwischen den Ressorts sind kaum zu finden, gerade wenn es am Ende um Geld geht, beharrt jeder auf seinem Recht. WK: Welche Rolle spielt denn das Suchen nach informellen Bewegungsräumen für Eure Projekte? Ich gehe mal davon aus, Ihr habt ein Anliegen, Ihr sucht Partner, Ihr sucht Auftraggeber. Wie verhält man sich gegenüber den Institutionen und wie bewegt man sich in Grauzonen, wenn keiner Verantwortung übernimmt?

Martin Schwegmann Jahrgang 1975. 1998 – 2004 Studium der Architektur und der experimentellen Mediengestaltung in Berlin und Kopenhagen. Architekt und Stadtforscher. Gründer von www.urbanpassion.org, Netzwerk für progressive Stadtentwicklung. 2006/2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Königlichen Dänischen Kunstakademie Kopenhagen. Seit 2008 Arbeit an einer Dissertation zum Thema Schnittstellen von zivilgesellschaftlichen Organisationen und lokaler Politik in Istanbul bei Prof. Peter Herrle, TU Berlin. Lehre an der TU Berlin, der Universität der Künste Berlin, der Universität von Puerto Rico und Kunstakademie Helsinki. Verschiedene Veröffentlichungen und Vorträge zu Themen wie New Urbanism, Stadtentwicklung in Istanbul, Kunst im öffentlichen Raum, City Branding, Open-Source-Urbanismus. Seid 2004 Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros.

LH: Leute wie diese findet man nicht alle Tage. Herr Ernsting ist zum Beispiel fest davon überzeugt, dass die Produktivität seiner Firma oder seiner Angestellten durch den Bürobau, den er sich von David Chipperfield hat bauen lassen und in dem sie arbeiten, gestiegen ist. Der ist ja weitaus großzügiger gestaltet, als jeder normale Verwaltungsbau. Er sagt, Baukultur rechnet sich. CZ: Wie sieht es mit Euren Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand aus?

BFB: Ich bezeichne unser Schaffen gerne als urban bypass. Der Begriff bypass kommt von einem unserer großen Helden, Harry Tuttle, dem Klempner im Film Brazil, gespielt von Robert De Niro. Die Hauptfigur im Film, Sam Lowry, ruft ihn wegen eines Problems in seine Wohnung, wo er die Wand aufgemacht hat, die aus einem Spaghettihaufen von Rohren besteht. Er fragt ihn: „Can you fix it?“, und Harry Tuttle sagt nur: „No, but I can bypass it.“ Das bedeutet für uns, die Probleme nicht immer frontal anzugehen, sondern bei Sachen, die unmöglich erscheinen, Visionen zu entwickeln. Zum Beispiel für einen U-Bahnhof im Auge eines Autobahnkreuzes eine Oper zu entwickeln. Um das umzusetzen, muss man unkonventionelle Wege finden. Einerseits suchen wir uns räumliche Nischen, in denen wir agieren, also Orte, die eigentlich nicht im öffentlichen Interesse sind, und auf der anderen Seite scheuen wir keine Umwege, was die Finanzie­ rungen, Partnerschaften oder die Einbeziehung der umliegenden Bevölkerung betrifft. CZ: Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Oper im Autobahnkreuz nur mittels eines bypass gegenüber der Autobahnmeisterei durchzusetzen ist. Das Gleiche gilt sicher für eine Parkhausverkleidung oder einen Aussichtsturm aus brennbarem Holz. Diesen gestalterischen Visionen stehen oft Normen und Richtlinien entgegen. Entsprechend oft handelt Ihr in Grauzonen, bei denen es eigentlich um Deregulierung geht. Aber nicht im neoliberalen Sinn. Im Gegenteil, es geht darum, dass Personen, die gestalten, genehmigen und

Baukultur der Zukunft

so weiter, auch Verantwortung für die Gemein­ schaft tragen. Das ist ein echtes Dilemma in Zeiten, in denen bei Problemen als Erste und meist ausschließlich Juristen zu Rate ge­­­­zogen werden. OS: Wir haben uns beim Wettbewerbsverfahren zur Nachnutzung des Flughafens Tegel in dieser Grauzone befunden. Von uns als einzigem Team ohne konkrete Aufgabe wurde ein Querdenken erwartet. Wir haben danach gesucht, wie man in Zukunft leben wird oder könnte. Es war eher eine gesamtgesellschaftliche Problemstellung. Des­wegen haben wir auch keine konventionellen Pläne gezeichnet. Es wurden Ideen für einen „Stadtteil der Zukunft“ einer zukünftigen Gesellschaft entwickelt und wie so etwas mit Architektur und Stadt zusammenhängt. Die Ansätze sind dann im weiteren Verfahren leider nur bedingt beachtet worden. Wahrscheinlich, weil es nicht in die Schablonen der Juristen und Planer passte. Als Vision war es willkommen, aber diese Ideen in die Realität zu bringen, sehen wir als eine Heraus­forderung an alle an. LH: Genau, das gehört doch eigentlich zur Berufskultur des Architekten: auch Umwege zu gehen, als Generalist zu denken. Ich glaube die – auch in der Ausbildung geforderte – Spezialisierung ist ein Irrweg. Den Generalisten als Berufsbild abzuschaffen, halte ich für einen großen Fehler. WK: Das Schlüsselerlebnis für mich war, als Karl Ganser mir einmal erklärte, wie er es geschafft hat, die Industrieruinen von Duisburg begehbar zu machen, obwohl das nach deutschem Recht eigentlich gar nicht geht. Er musste eine Lücke im Gesetz finden und dann geschickt einsetzen. Das war das deutsche Alpenrecht. Dort heißt es: Sicherheit wird nur auf den gekennzeich­neten Wegen garantiert. Das Alpenrecht hat er für die Kokereien angewendet, so dass sie Tag und Nacht begehbar sind, ohne dass ein Auf­passer danebenstehen muss. Diese Fantasie ist wich­tig. Dazu gehört auch, zu sagen: Ich muss mit dem Theater kooperieren, wenn die Stadtplanung keine Spielräume bietet. Oder wenn ein Ausnahmezu­ stand nur über ein Festival herzu­stellen ist, dann muss ich erstmal das organisieren. Den Gene­ ralismusanspruch mag ich nicht, weil der die Über­ fliegerperspektive in sich trägt, aus der man dann angeblich doch immer alles besser weiß.

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LH: Nein, ich verstehe den Generalisten genau andersrum. Ich bezeichne uns Architekten auch gerne als ausgebildete Dilettanten, weil wir von allem etwas wissen, aber, um manche Dinge zu konkretisieren, Spezialwissen hinzuziehen müssen. Damit sind wir wieder beim Architekten als Moderator. Wir sind weder Spezialisten für Energie, noch für gesellschaftliche Entwicklungen. Wir sind in der Denkweise so ausgebildet, dass wir die Dinge richtig miteinander verknüpfen und alles vielleicht zu einem harmonischen Ganzen kanalisieren können. MS: Es gehört ein gewisser Größenwahn dazu, Architekt zu sein. Einfach was für andere Menschen zu bauen. LH: Aber irgendjemand muss es machen. MS: Eine Person kann die Verantwortung doch gar nicht alleine tragen. CZ: Das ist das Dilemma: gemeinsam zu handeln, anstatt in Disziplinen zu denken. Abgrenzung fördert Angst, und die ist ein schlechter Ratgeber, vor allem wenn es um Kultur geht. WK: Wenn wir das auf die öffentliche Verwaltung übertragen, würde das aber bedeuten, dort einen zentralistischen Entscheider zu haben. LH: Deshalb ist es wichtig, dass es eine Vielzahl von Perspektiven und Personen gibt, die bereit sein sollten, Verantwortung zu tragen. Schwierig ist doch, wenn zu einem späten Zeitpunkt im Projekt plötzlich der Einwand von irgendeiner Seite kommt. Der Qualität eines Projekts wäre es zu­träg­ lich, einen solchen Einwand vorher einzubinden. WK: Wie ist das bei Euch? Ihr habt ja immer mit öffentlichen Geldgebern zu tun. BFB: Wir haben auch mit privaten Geldgebern zu tun, Audi und BMW zum Beispiel. Aber es ist ja bekannt, dass zum Beispiel die Fördermodalitäten der Bundeskulturstiftung immer komplizierter werden, so dass man inzwischen eine Fortbildung braucht, um da überhaupt einen Antrag stellen zu können. Vom bürokratischen Aufwand her ist es vergleichsweise einfacher, von BMW Geld zu kriegen.

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CZ: Jetzt sind wir bei der Projektförderung gelan­ det. Die Bedeutung von mäzenatischen Bauherren hatten wir auch schon. Wie sieht es denn mit an­ deren Mitteln und Wegen aus, Innovations­fähigkeit der Baukultur zu fördern? Welche Erfahrungen habt Ihr zum Beispiel mit Wettbewerben?

Oliver Seidel Jahrgang 1977. Studium der Architektur und der Stadtplanung an der Leibniz-Universität Hannover, der Universität der Künste Berlin sowie an der Königlichen Dänischen Kunstakademie Kopenhagen. Diplom 2005. Mitarbeit als Architekt und Stadtplaner u. a. bei Henning Larsen Architects, Kopenhagen, und Beyond Green Design, London. 2005 Gründung und geschäftsführende Partnerschaft Cityförster Network for Architecture. Lehraufträge und Gastvorträge an verschiede­­nen Universitäten.

CZ: Was sagt das über die öffentliche Hand? BFB: Die öffentliche Hand muss die ganzen Risiken abwägen, um sicherzugehen. Am schlimmsten ist es, auf europäischer Ebene Geld zu beantragen, das ist reine Zeitverschwendung. WK: Wenn Ihr den Zuschlag bekommen habt, seid Ihr dann für den eigentlichen Projektzeitraum Herr des Verfahrens oder gucken die Euch dauernd auf die Finger und bestellen Euch zum Rapport? BFB: Nein, überhaupt nicht. Das ist das Tolle bei öffentlicher Förderung, und das ist nur in Deutschland so. In anderen Ländern hängen die Gelder viel stärker an einem politischen Hahn, der dann auch während des Projekts zugedreht werden kann.

LH: Das Wettbewerbswesen muss gestärkt werden. Es ist die einzige Chance für junge Architekten, in dieses Geschäft zu kommen, wenn die Zugangsvoraussetzungen nicht immer absurder würden. OS: Es geht auch um die Mengen an Material, die heutzutage abgegeben werden müssen. Wir haben gerade zwölf A0-Pläne abgeben müssen, allein für einen Wettbewerb, das ist doch pervers. LH: Mittlerweile gibt es auch Verfahren, wo zum Beispiel Visualisierungen gar nicht zugelassen sind, damit der Aufwand nicht ausufert. Wir sind zum Glück nicht nur auf offene Verfahren angewiesen. Wichtig ist die Klausel „junges Büro“ in beschränkt offenen Verfahren. Bei VOF-Verfahren haben junge Büros, selbst als Erstplazierte, je nach Bewertungskatalog oft keine Chance. Zum Beispiel, wenn die Erfahrung mit einer vergleichbaren Bauaufgabe an vorderster Stelle steht. Da stimmt doch beim Definieren von Qualität etwas nicht. Zu glauben, dass jemand, der schon fünf Schulen gebaut hat, zwangsläufig die bessere Schule baut, kann es nicht sein. MS: Wettbewerbe werden auch inflationär benutzt. Derjenige, der einen Wettbewerb ausschreibt, muss das auch seriös machen, den Arbeitsaufwand wertschätzen. CZ: Baukultur fängt schon bei der Erstellung einer Wettbewerbsausschreibung an. Es ist Trans­parenz bei der Zieldefinition notwendig. Auch die Nutzer­ beteiligung muss erfolgen, bevor fertige Bilder im Raum stehen. MS: Grundsätzlich ist die Rolle der öffentlichen Hand, nicht nur als Bauherr, ganz wichtig. Trotzdem wird da immer weiter gespart und outgesourct, anstatt die Kompetenzen intern zu stärken.

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CZ: Die Frage ist doch: Wie viel ist uns unser Gemeinwesen wert? WK: Ich würde davor warnen, es immer nur auf die Geldfrage zu reduzieren. Über die Köpfe ist durch­ aus sehr viel zu erreichen. OS: Genau: Ich mache meine Brotjobs, wohne immer noch in einer Studentenbutze... Nein danke, auf Dauer geht das einfach nicht! Wenn man was bewegen will, muss man sich ein fundiertes Wissen erarbeiten, um wirklich mitmischen zu können und sinnvolle Vorschläge einzubringen. Selbstverständlich braucht man dafür Geld. WK: Wie stark und an welcher Stelle muss man sich auch mal ehrenamtlich engagieren, und wie weit ist das möglich? OS: Machen wir das nicht ständig? Ich meine, jedes Projekt – da ist die Hälfte doch ehrenamtlich, die da reingesteckt wird. BFB: Man agiert hart an der Grenze zum Prekariat. Man macht alles in totaler Selbstaufgabe und aus Enthusiasmus, wobei eigentlich alles, was Privatleben ist, in Frage steht. CZ: Damit sind wir an der merkwürdigen Schnitt­ stelle vom Bauen und der Kultur. Beim einen ist eigentlich Geld vorhanden, beim anderen ist es immer knapp. Das muss doch zusammen­zubringen sein. WK: Habt Ihr überhaupt einen Zugang zu dem Begriff „Baukultur“ oder vermeidet Ihr ihn sogar eher? MS: Baukultur ist für mich was Elitäres, was nicht unbedingt mit Menschen zu tun hat. Das Gebaute wird oft abgetrennt von den Nutzungen gesehen, jedenfalls von den Architekten. Für mich ist Baukultur keine Kategorie, die mich antreibt. Ich habe keine Angst um die Baukultur als solche. Ich habe Angst um den öffentlichen Raum, um Integrationsdebatten in unserer Gesellschaft, um die Kommerzialisierung, aber nicht um die Baukultur. LH: Geht der Verlust einer Baukultur nicht damit einher? Sie soll doch gerade den Alltag der Menschen verbessern. MS: Ich glaube nicht, dass das von der Masse wahrgenommen wird.

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OS: Ich finde auch, dass das Wort in der Öffentlichkeit anders verstanden wird, als im Umfeld der Stiftung. Es klingt elitär und old school. Das Wort Kultur finden wir gut, und natürlich ist die Kultur der gebauten Umwelt einer der wichtigsten Bestandteile unseres Jobs. Wenn ich das so interpretiere, kann ich mit Baukultur was anfangen, aber es müsste auch gelebt werden. BFB: Baukultur taucht deshalb nicht in meinem Wortschatz auf, weil ich in dem Begriff eine zu starke Nähe zur Leitkultur sehe. Eine deutsche Baukultur, was immer das sein soll, zu fördern, ist nicht nur unzeitgemäß, es ist auch uninteressant. Wenn es heißen würde „Die Stiftung der Baukul­turen“, dann wäre das für mich schon viel klarer und provokanter. LH: Aber geht es nicht um Qualität? MS: Was ist Qualität noch mal? Meinst du Wärmedämmung? OS: Was der Kunde will, oder? LH: Ich glaube, dass qualitätvolle Räume einen Unterschied machen können. Qualität ist messbar und eben keine Frage des Geschmacks. MS: Der Anspruch, alles messbar machen zu wollen, kommt doch aus der Angst, die wir vor dem Komplexen und Fragmentierten haben. Vielleicht können wir eine Instanz brauchen, die Qualitätsmaßstäbe diskutiert. LH: Ich meine Qualität nicht nur als Wertung. Die Gewichtung zwischen Qualitätsmerkmalen bringt eine Diskussion immer weiter. WK, CZ: Wir danken Euch für das Gespräch.

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Mit dem ersten von der Bundesstiftung vorgelegten Statusbericht zur Baukultur gilt es, eine Bilanz zu ziehen, um die Strategien der Stiftung zu präzisieren. Dabei werden zunächst die besonderen Auf­gaben der Stiftung formuliert, um darauf aufbauend Projekte und Maßnahmen zu benennen, mit denen die Bundes­stiftung mit Unterstützung der öffentlichen Hand zu einer verbesserten Baukultur beitragen kann.

Michael Braum

Wie weiter? Die Strategie der Bundesstiftung Baukultur Bewegt hat die Stiftung inzwischen einiges. Einen Überblick dazu geben die Veröffentlichungen,1 die durch die jährlich herausgegebenen Periodika 2 ergänzt werden – in den Periodika wird über die verschiedenen Aktionen und Formate der Stiftung berichtet.

Zukünftige Aufgaben der Stiftung Damit die Stiftung sowohl in Fachkreisen als auch in der Öffentlichkeit weiter an Einfluss gewinnt, muss sie eine unabhängige Instanz mit Autorität bleiben, die sich weder von berufs­ ständischen Interessensvertretungen noch von tagespolitisch opportunen Meinungen oder administrativen Sehnsüchten vereinnahmen lässt. Gerhard Matzig beschrieb es im November 2009 in der Süddeutschen Zeitung zutreffend: Es sei der typisch deutsche Jammer, dass die Bundesstiftung ausgerechnet in den gesellschaft­ lichen Gruppen noch zu wenig Resonanz erhalte, in denen man auf ihr Gelingen besonders an­ gewiesen sei. Darauf hinzuwirken, dass sich dies ändert, begreift die Stiftung als eine ihrer wesentlichen Aufgaben in den kommenden Jahren. Eine Grundlage dafür ist der Aufbau eines aktiven Netzwerks der Baukultur, das auf

1. __ Ursula Baus, Michael Braum (Hg.): Rekonstruktion in Deutschland. 2009; Michael Braum, Christian Welzbacher (Hg.): Nachkriegsmoderne in Deutschland. 2009; Olaf Bartels, Michael Braum (Hg.): Verkehr_Wo verkehrt die Baukultur? 2010; Michael Braum, Thies Schröder (Hg.): Freiraum_Wie findet Freiraum Stadt? 2010; Michael Braum, Oliver Hamm (Hg.): Bildung_Worauf baut die Bildung? 2010; alle Bände erschienen in Basel.

unterschied­lichen Ebenen agiert. Neben diskursi­ ven Veranstaltungen, die dem Erfahrungsaus­ tausch, aber auch dem kultivierten Streit dienen, ist die Internetpräsenz der Stiftung mit ihrem Newsletter ein wichtiges Standbein, um Informati­ onen und Anstöße zu verbreiten. Wo Betroffenheit und bundesweite Relevanz gesehen werden, sucht die Stiftung mit ihrem Netzwerk nach Wegen, sich in die Debatte einzubringen; sei es hinter verschlossenen Türen, über die Medien oder durch Vorträge beziehungsweise auf Podien. Die Stiftung unterstützt das existierende Netzwerk der Baukultur durch Netzwerktreffen und Netz­ werkreihen. Anhand bestimmter Themen werden so gemeinsame Strategien entwickelt, um die Anliegen der Baukultur in die Breite zu tragen.3 So gelingt es zunehmend, als anerkannte Instanz in den Alltagsmedien präsent zu sein. Die Stiftung konzentriert sich auf Aufgaben, die im Folgenden skizziert werden.

Das Wertesystem Baukultur Baukultur ist das Ergebnis eines Wertediskurses. Hierbei geht es nicht um Effizienzsteigerungen im Bauen, sondern um Verantwortung, Haltung und Moral. Baukultur gleicht einem Mobile, das nicht nur schön sein will, sondern auch –

2. __ Bundesstiftung Baukultur Etappe_1, Aktionen 2008, März 2009; Bundesstiftung Baukultur, Etappe_2, Aktionen 2009, April 2010; Bundesstiftung Baukultur, Etappe_3, Aktionen 2010, April 2011. 3. __ Vgl. dazu die unter anderem von der Bundesstiftung mit Unterstützung ihres Fördervereins initiierten Netzwerk­ reihen bautraum, wieweiterarbeiten und wieweiterwohnen.

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einer gesellschaftlich getragenen Vereinbarung vergleichbar – unterschiedliche Ansprüche sorgfältig austarieren muss. Baukultur basiert auf der Balance von ästhetischen, wirtschaftli­ chen, ökologischen, sozialen und gebrauchswert­ orientierten Ansprüchen und bildet so die Verant­ wortung für das Gemeinwohl ab. Dabei ist die Diskussion über Baukultur das Ergebnis einer über Jahrhunderte gewachsenen Erfahrung mit der entworfenen Umwelt, ob im Gebauten oder in nicht Gebautem, ob in der Stadt oder in der Landschaft. Viele dieser Erfah­rungen werden immer wieder vergessen. Bau­kultur beinhaltet neben dem Entwerfen und Bauen selbstverständlich das Bewerten der Erfahrung und die Diskussion über diese Erfahrungen. Baukultur ist Bau- und Prozess­ gestaltung zugleich. Professionalität und deren Anerkennung sind die Voraussetzung dafür, dass beides mit einem hohen Anspruch ent­ stehen kann.

Bauen positiv besetzen Die Diskussion um Baukultur muss sich dem Neuen stellen. Dabei ist die Gestaltung des Neuen nicht als Selbstzweck inszeniert oder alleine der Wirtschaftlichkeit geschuldet, sondern den gesellschaftlichen Bedürfnissen verpflichtet. Nur so erreichen wir, dass zeitgenössische Häuser, Parks und Freiräume sowie Verkehrs­ infrastrukturen von der Bevölkerung nicht als Übel, sondern als Bereicherung der gebauten Umwelt erkannt werden. Dazu müssen die Planungs- und Entwurfsverfahren, die Projekt­steuerung bis zum Betrieb des Fertiggestellten im „baukultu­rellen Mobile“ über integrierte Verfahren miteinander verknüpft werden. Das setzt „Gemeinsinn“ voraus, als dessen Grundlage im Folgenden beschriebene „baukulturelle Konven­tionen“ dienen können – auf der Basis einer gemein­ samen Verantwortung aller am Bauprozess Beteiligten. Gebraucht werden Architekten, Ingenieure, Stadt- und Landschaftsplaner und vor allem Bauherren mit dem Willen, nur das Beste zu schaffen und bequeme Gewohnheiten grund­ legend in Frage zu stellen. Dazu brauchen wir Persönlichkeiten in Verwaltungen und in der Politik, die bereit und fähig sind, die damit gebotenen Chancen zu erkennen und zu nutzen – mit persönlicher Ver­antwortung und Mut zum Experiment über die Richtlinienerfüllung hinaus.

Beim Konvent wurde deutlich, dass wir im Alltag die Grundlage zur Verantwortungsüber­nahme noch schaffen müssen. Besonders prägnant ist dies bei Infrastrukturbauten. Hier bestimmen in der Regel nur Funktion und Ökonomie das Erscheinungsbild, egal ob es um Brücken, Straßen, Starkstromleitungen, Müllverbrennungs-, Klär- oder Windenergieanlagen, Kraft- oder Wasserwerke, Fernseh- oder Wassertürme geht. Investiert und konzipiert wird nahezu ausschließlich in die tech­ nische Optimierung der Infrastruktur. Baukultur ist dabei nur in Ausnahmefällen anzutreffen.

Baukulturelle Konventionen Sich in einem ganzheitlichen Verständnis mit Bau­ kultur zu beschäftigen, bedeutet vor allem „Maß zu halten“. Das heißt, die Balance auch zwischen teils widerstreitenden Ansprüchen zu finden. Das gelingt nur aus einem transdisziplinären Dialog heraus, in dessen Verlauf Anforderungen ent­wickelt werden. Diese Anforderungen gründen auf Konventionen.4 Zu diesen Konventionen gehören der nachhal­ tige Einsatz von Ressourcen, der Respekt vor dem Vorgefundenen, das Schaffen von Identität, die An­ erkennung der Landschaft, das Recht auf Schönheit sowie die Notwendigkeit einer Streitkultur. Dieser Ansatz greift gedanklich weit über den des 1907 mit Architekten, bildenden Künstlern, Unternehmern und Persönlichkeiten des öffent­ lichen Lebens gegründeten Deutschen Werkbunds hinaus, fühlt sich diesem jedoch verbunden. Als bei­ spielgebende Vereinigung quer zu den Professio­ nen stieß der Werkbund zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts einen international hoch angesehenen Diskurs über den Zustand und die Zukunft der Baukultur an. Der nachhaltige Einsatz von Ressourcen Als eine Voraussetzung zur Überlebensfähigkeit unserer Gesellschaft ist der nachhaltige Einsatz von Ressourcen mittlerweile anerkannt, über die ökologischen und ökonomischen Aspekte hinaus ist er ein konstituierender Baustein im Entstehen von Baukultur. Alles Gebaute muss zukünftig, so Werner Sobek, „ein radikal anderes (...) Verhältnis zur natürlichen Umwelt, zu ihren Nutzern und zu ihren inhärenten Technologien haben“.5 Des­wegen muss auch für das Bauen der Weg in eine Kreislaufwirtschaft beschritten werden. Vorsorglich müsste dafür beispielsweise eine Trenn- und Rücknahmeverpflichtung für Baustoffe Teil der Baugenehmigung werden, wenn keine Umnutzung des Gebauten möglich ist.

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Der Respekt vor dem Vorgefundenen Unsere Städte und Dörfer werden ständig umge­ baut. Nur dort, wo man dem Vorgefundenen im qualitätvollen Weiterbauen Respekt zollt, ent­ stehen Quartiere und Landschaften mit eigen­ ständiger Identität. „Der Wunsch nach Begeg­ nungsmöglichkeiten mit der Vergangenheit oder gar nach Wiederbegegnungsmöglichkeiten mit verlorenen Bau- und Gartenzeugnissen markiert einen Gegenpol des Verharrens, ein notwendi­ ges Korrektiv des Festhaltens an der Geschichte als unverzichtbare Ressource“, so Jörg Haspel.6 Das hat nichts mit den umstrittenen Rekonstruk­ tionsdebatten und deren für die Baukultur pro­ blematischen Folgen zu tun, die primär in einer Vergangenheit die Zukunft suchen. Vielmehr gilt es, Sensibilität für den Bestand in seiner Breite einzufordern.7 Vergangenheit und Gegenwart müssen endlich als Kontinuität betrachtet werden. Dazu gehört auch eine Selbstverpflichtung der Eigentümer, dass Gebäude, die einen baukulturellen Anspruch haben, auch ohne Auflagen eines gesetzlichen Denkmalschutzes zunächst vorzugsweise um­ genutzt und dabei rücksichtsvoll auch verändert werden, bevor Neubauten an ihre Stelle treten.

verändert. Plätze und Gebäude in der nord­ deutschen Tiefebene sollen sich in ihrer Gestalt von denen im Schwarzwald unterscheiden, um eine gewachsene, kulturelle Identität auch im Ge­bauten erkennbar zu machen und weiter­ zuentwickeln. Der Respekt vor der Landschaft Der urban geprägte Raum ist eine Ansammlung vorgefundener Strukturen, die bisweilen isoliert nebeneinanderstehen. Er ist ein „dynamisches Feld“, in dem Natur als Kulisse für bauliche Anla­ gen und die Bebauung als Kulisse für Landschaft gesehen wird. Noch immer fallen täglich Land­ schaftsräume Begehrlichkeiten zum Opfer, ohne dass neue (frei)räumliche Qualitäten entwickelt werden.9 So gesehen muss beispielsweise beim Neu- und Umbau von technischen Infrastrukturen neben der Umweltverträglichkeitsprüfung eine Verträglichkeitsprüfung zur Baukultur eingefordert werden, die darüber aufklärt, ob ein Gleichge­ wicht zwischen ökologischen, ökonomischen und ästhetischen Ansprüchen geschaffen wird.

Das Schaffen von Identität Baukultur muss Identität herstellen sowie dazu beitragen, dass Gegenwart und Zukunft baulich zeitgemäß gestaltet werden. Das ist der Nach­ kriegsmoderne nicht immer gelungen.8 Wenn das Häuserbauen „in Serie geht“, ist es nur in Ausnahmefällen gut um die Baukultur bestellt, wie an Siedlungen seit der klassischen Moderne nach­zuvollziehen ist. Identität schaffen ist eng verknüpft mit einer zeitgemäßen Interpretation des Kontextes. Gerade die Siedlungsgebiete in der Peripherie der Städte und Dörfer – ob Großsied­ lung, Einfamilienhaus- oder Gewerbegebiete – sind im Allgemeinen durch eine austauschbare, gesichtslose, in der Regel ohne Bezug zum Ort entworfene (Landschafts-)Architektur charakte­ risiert. Da sie den weitaus größten Teil unserer Städte, Dörfer und Landschaften prägen, ist dafür zu sorgen, dass stattdessen eine den Ort inter­ pretierende Baukultur und damit wieder ein Stück regionaler Identität die Lebensräume zeitgemäß

Das Recht auf Schönheit Baukultur muss als Primus inter Pares die Ästhetik als eigenständigen Wert neben Wirtschaftlichkeit, Gebrauchsfähigkeit, Ökologie und die gesell­ schaftliche Kohärenz setzen. Bei aller sozialen und ökologischen Verantwortlichkeit, bei aller unab­ dingbaren Teilhabe der Öffentlichkeit sollten auch künftige Generationen noch erleben dürfen, was Rudolf Schwarz nach den Greueln des Zweiten Weltkriegs als Aufgabe beschrieb: dass „der Archi­ tekt manchmal sich in den Dienst dieser Sache Kunst stellen muss, eben um der Sachlichkeit willen, und dass es Aufgaben auf dieser Erde gibt, die nichts anderes verlangen, als schön zu sein“.10 Ein dem stadt- oder landschaftsräumlichen Kontext angemessenes Gestalten ist unter der Voraussetzung seiner Gebrauchsfähigkeit, der sozialen und ökologischen Tragfähigkeit eine Bedingung dafür, dass Baukultur in unserem Alltag überhaupt entstehen kann. Diese Quali­ täts­an­forderungen lassen sich bei einer guten Aufgaben­stellung und qualifizierten Jurys in der Regel durch Planungswettbewerbe leichter erfüllen.

4. __ Karl Ganser sprach gar von Grundwerten, vgl. Förder­verein Deutsches Architekturzentrum Berlin e. V. (Hg.): Eine Stiftung Baukultur? Gedanken zu Aufgabe, Organisation und Wegberei­ tung. 2001. 5. __ Werner Sobek in: Förderverein Deutsches Architekturzentrum Berlin e. V. (Hg.): Auf dem Weg zur nationalen Stiftung. 2002, S. 13.

6. __ Jörg Haspel in: Ebenda, S. 15. 7. __ Ursula Baus, Michael Braum (Hg.), Rekonstruktion in Deutschland, siehe Anm. 1, S. 7. 8. __ Michael Braum, Christian Welzbacher (Hg.), Nachkriegsmoderne in Deutschland, siehe Anm. 1.

Wie weiter?

Streitkultur in der Gesellschaft verankern Wie in anderen Politikfeldern geht es auch im baukulturellen Diskurs um das Abwägen zwischen konkurrierenden Zielen. Die zunehmende Distanz zwischen Investoren, Nutzern und der Öffentlich­ keit muss als Signal für ein gemeinsames Ge­ gensteuern verstanden werden. Immer weniger Menschen fühlen sich für das Ganze verantwort­ lich. Nur transparent gestaltete Prozesse können die Einzelfacetten des „baukulturellen Mobiles“ zu einem tragfähigen Ganzen gewährleisten. Der kultivierte Streit über den gebauten Raum ist eine Voraussetzung dafür, dass Baukultur entsteht. Baukultur heißt Streitkultur. Sie kann nur in einem gesellschaftlichen Umfeld Wirklichkeit werden, das von einer hohen Sensibilität für die wahrnehmbare Qualität der gebauten Umwelt geprägt ist. Entscheidend für die in der Bevölkerung verankerte Diskussion über Baukultur sind die lokalen und regionalen Initiativen. Indem sie Themen der Baukultur vor Ort auf die Agenda setzen, initiieren sie transdiszip­ linäre Debatten zur Baukultur, so dass die breite Öffentlichkeit mitgenommen werden kann.

Projekte und Appelle Eine angemessene Gestaltung unserer alltäglich genutzten Umwelt erfordert eine Besinnung auf unsere baukulturellen Werte und eine Korrektur unserer Praktiken. Um diese Korrektur einzuleiten, bedarf es von der öffentlichen Hand zu unterstüt­ zende beziehungsweise zu initiierende Projekte sowie flankierende Maßnahmen. Projekte Modellprojekte „Urbane Verkehrsbaukultur“ Ohne eine gestalterische Ambition lassen sich Gebäude, Brücken, Lärmschutzwände, Stark­ stromtrassen oder Windkraftanlagen nicht mit baukulturellem Anspruch herstellen. Modellpro­ jekte der Verkehrsbaukultur könnten den Weg zur Abhilfe einleiten. In auszuwählenden Projekten werden die planerischen und baulichen Maß­ nahmen einschließlich zeitgemäßer Beteiligungsund Moderationsverfahren umgesetzt. Dabei werden die Dimensionierung der Bauwerke,

9. __ Im Ausmaß der zusätzlichen Flächeninanspruchnahme liegt Deutschland mit über 100 ha/Tag noch weit hinter dem in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie bereits 2002 gesteckten Ziel von 30 ha/Tag bis 2020, vgl. Nationale Nach­ haltigkeitsstrategie der Bundesregierung. 2002.

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die Trassierung der Straßen, die Gestaltung der Lärmschutzanlagen und der technischen Service­einrichtungen auf ihre baukulturelle Aus­ gewogenheit hin bewertet. Hierauf aufbauend werden Vorschläge entwickelt, wie sich die oben beschriebenen „baukulturellen Konventionen“ im Rahmen der Erstellung von Verkehrsinfrastruk­ turen verwirklichen lassen. Die Bundesstiftung Baukultur empfiehlt dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, in Abstimmung mit der Bundesstiftung „Modellprojekte der Baukultur“ auszuwählen und auf den Weg zu bringen. „Stadt der Baukultur“ Baukultur ist kein Museum für einzelne Bauwerke, sondern ein kultureller Prozess, der das gesamte Gemeinwesen umfasst. Es stünde dem Konvent der Baukultur gut an, in Orten zu tagen, die einen Beitrag zu diesem Anspruch leisten. Deswegen fordern wir Städte und Gemeinden dazu auf, sich für die Austragung des Konvents der Baukultur zu bewerben. Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung werden in Abstimmung mit dem Deutschen Städtetag und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund die Grundlagen für ein Bewerbungsverfahren federführend von der Bundesstiftung Baukultur erarbeitet. Die Bewerbung beinhaltet im Wesent­ lichen Anforderungen an „baukulturelle Konven­ tionen“, deren Umsetzung sich in den Bewerber­ städten wiederfinden müssen. Trägerin des Verfahrens ist die Bundesstiftung Baukultur. Vertreter aus den Gremien der Stiftung vergeben den Titel alle zwei Jahre. Die Bundesstiftung Baukultur fordert das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden auf, die Bundesstiftung Baukultur im Auswahlverfahren zur „Stadt der Baukultur“ inhaltlich und operativ zu unterstützen. Die „Verträglichkeitsprüfung Baukultur“ Beim Bau von technischen Infrastrukturen regeln Fachgesetze die Linien- beziehungsweise Stand­ ortbestimmung. Im Rahmen der Planfeststellungs­ verfahren werden Alternativen untersucht und

10.__ Rudolf Schwarz: „Das Anliegen der Baukunst“, in: Otto Bartning (Hg.): Mensch und Raum, Darmstädter Gespräch 1951. Darmstadt, 1952, zit. nach Werner Durth, Paul Sigel: Baukultur. Berlin, 2009, S. 733.

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darauf aufbauend Baugenehmigungen erteilt. Die Eingriffe in die Umwelt werden in begleiten­ den Umweltverträglichkeitsprüfungen ermittelt. Nur in außerordentlichen Fällen, wenn es bei­ spielsweise das UNESCO-Welterbe betrifft, wird die Gestaltverträglichkeit explizit geprüft. Diese Prüfungen müssen beim Bau jeglicher technischer Infrastrukturen zum Standard werden. Die Umwelt­ verträglichkeitsprüfung ist um eine „baukulturelle Verträglichkeitsprüfung“ zu ergänzen, die dafür verantwortlich zeichnet, das „baukulturelle Mo­ bile“ auszutarieren. Die Bundesstiftung Baukultur empfiehlt Bund und Ländern, die zuständigen Ministerien zu be­ auftragen, in Abstimmung mit der Bundesstiftung Baukultur, projektbezogen interdisziplinär besetzte regionale Beiräte für Baukultur einzuberufen. Diese überprüfen im Rahmen der Genehmigung von Verkehrsinfrastrukturprojekten die Berücksich­ tigung baukultureller Konventionen. Appe lle Prozesskultur In Raumordnungs-, Planfeststellungs- und Bauleit­ planungsverfahren verbriefte Beteiligungsver­ fahren müssen auf den Prüfstand gestellt werden, dies mit dem Ziel, mit der Bevölkerung einen erweiterten Dialog im Bau- und Planungsprozess zu entwickeln. Dialogische Prozesse oder Mode­ra­ tionsverfahren müssen vor allem bei Großprojek­ ten frühzeitig Transparenz gewährleisten, ohne die Gestaltungskompetenz der Fachleute zu untergra­ ben. Die zu entwickelnden Reformen müssen den Interessensausgleich in einer offenen Gesellschaft berücksichtigen. Die Bundesstiftung Baukultur empfiehlt der Bundes­regierung, eine Expertenkommission einzu­ berufen, um bestehende Beteiligungsverfahren zu prüfen und fortzuschreiben, um zeitgemäße Pla­ nungsprozesse auf breit abgesichertem Konsens – als Grundlage von Baukultur – sicherzustellen. Die Sicherung der Städtebauförderung Die Städtebauförderung ist eine der wenigen integrativ angelegten Förderprogramme und auch aus diesem Grunde maßgeblich dafür verantwort­ lich, dass seit 1972, als dieses Programm startete, Baukultur in unseren Kommunen neu gedacht und in die Stadtgesellschaft getragen wurde. Sie hat sich in ihrer Ausdifferenzierung als strukturpolitisches Förderungsinstrument etab­ liert. Die Förderung stellt auf eine ganzheitliche

Erneuerung von Quartieren ab. So gesehen hat sie sich zum „Leitprogramm“ für die Entwicklung der Baukultur im Alltag unserer Städte und Ge­ meinden entwickelt. Wie kein anderes Programm legt die Städtebauförderung in ihrer Programm­ ausdifferenzierung die Grundlage zwischen dem Gebauten und dessen gesellschaftlichen Bedingungen und schafft damit eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Baukultur entsteht. Die Bundesstiftung Baukultur fordert die Bun­ desregierung auf, im Rahmen anstehender Haus­ haltsberatungen die beschlossenen Reduzierungen der Städtebauförderung zu korrigieren und diese zumindest auf den ursprünglichen Stand zurückzu­ führen. Ausgewogene Verteilung des Steueraufkommens Baukultur wird in Städten und Gemeinden Wirk­ lichkeit. Diese stecken in der schwersten Finanz­ krise seit Gründung der Bundesrepublik Deutsch­ land. 2010 haben sie ein Defizit von 11 Milliarden Euro angehäuft,11 ihre Sozialaus­gaben haben sich in den letzten zehn Jahren auf mehr als 41,5 ­Milliarden Euro verdoppelt. Aus der bislang wichtigsten Einnahmequelle, der Gewerbesteuer, flossen 2009 17 Prozent weniger als 2008 in die kommunalen Haushalte. Die kommunale Hand­ lungsfähigkeit ist gefährdet. Dies geht in zuneh­ mendem Maß zu Lasten der Nachhaltigkeit von Investitionen und damit der Baukultur. Bund und Länder werden aufgefordert, die Handlungsfähigkeit der Kommunen durch eine ausgewogene Verteilung des Steueraufkommens wiederherzustellen. Eine „Baukulturklausel“ in Förderprogrammen und Subventionen Förder- und Subventionsprogramme beeinflussen Baukultur in hohem, wenn auch nicht quantifizier­ barem Maß. In der Regel zeichnen sich jedoch gerade die Schwerpunkte der Förderung, ob in der gewerblichen Wirtschaft, der Agrar- und der Energiewirtschaft oder der Verkehrsinfrastruktur dadurch aus, dass die geförderten Projekte keine baukulturellen Ansprüche erkennen lassen. Aus diesem Grunde müssen die Vergabe von Förder­ mitteln und die Bereitstellung von Subventionen, so es um die Veränderung unserer gebauten Um­ welt geht, grundsätzlich an baukulturelle Auflagen geknüpft werden. Über derartige Bewilligungsauf­ lagen erschließen sich Möglichkeiten, Baukultur als öffentliches Anliegen umzusetzen. Kein Projekt

Wie weiter?

darf zukünftig Fördergelder oder Subventionen be­ anspruchen, in dem nicht ein integrales Vorgehen und eine Planung nach stadt- und landschaftsge­ stalterischen Ansprüchen nachgewiesen sind. Die Bundesstiftung Baukultur empfiehlt Bund und Ländern, Förderprogramme und Subventionen auf ihre Eignung zu überprüfen, „Baukulturklauseln“ aufzunehmen, die sicherstellen, dass Förderungen beziehungsweise Subventionen nur in Anspruch genommen werden können, wenn auch ein baukul­ tureller Mehrwert zu erwarten ist. Die Überprüfung existierender Richtlinien und Verordnungen unter baukulturellen Aspekten Richtlinien und Verordnungen haben eine erheb­ liche baukulturelle Dimension, ohne dass dies in der Regel beim Erarbeiten der Richtlinie oder der Verordnung hinreichend berücksichtigt wird. Vor diesem Hintergrund sollten – auch im Interesse einer Deregulierung – Richtlinien, so sie Auswir­ kungen auf die gebaute Umwelt haben, auf ihre baukulturellen Aspekte überprüft werden. Die Bundesstiftung Baukultur empfiehlt Bund, Ländern und Kommunen, die Richtlinien, die die gebaute Umwelt betreffen, unter baukulturellen Aspekten zu überprüfen und entsprechend zu ändern. Landes­programme zur Sicherung von Baukultur Als beispielgebend für derartige Initiativen sei auf das inzwischen ausgelaufene Programm „Siedlungsmodelle“ in Bayern oder „Neues Wohnen in der Innenstadt“ in MecklenburgVorpommern sowie die „Regionalen“ in Nord­­rheinWestfalen, die „Industriekultur Saar“ im Saarland oder das Programm „Wohnen in Orts- und Stadtkernen“ in Rheinland-Pfalz hingewie­sen. Derartige Landesprogramme unterstützen die Realisierung baukulturell anspruchsvoller Projekte. In diesem Sinne sollten Projektverbünde durch Bund und Länder finanziell unterstützt werden, indem sie Nutz­nießer einer ressortübergreifenden Konzentration von Fördermitteln werden. Hier müssen Bund und Länder die Kommunen darin unterstützen, Bau­kultur zu fördern. Das wäre ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung unserer Städte und Dörfer. Die Bundesstiftung Baukultur empfiehlt Bund und Ländern, ressortübergreifende Förderungen zu unterstützen und entsprechende Programme für

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die Schaffung und Sicherung von Baukultur in einem ganzheitlichen Verständnis zu entwickeln. Beiräte der Baukultur Dass Baukultur entsteht, erfordert das Engage­ ment von Persönlichkeiten in Administration und Politik. Diese Persönlichkeiten gilt es mit kommu­ nalen „Beiräten der Baukultur“ zu unterstützen. Beiräte, die öffentlich tagen, stehen dafür, dass gerade die Kommunalpolitik davon profitiert, wenn sie der gebauten Umwelt die Qualitäts­sicherung zukommen lässt, die der Souverän, das heißt die Bevölkerung, verdient. Interdisziplinär besetzte Beiräte für Baukultur, im Allgemeinen als „Gestaltungsbeiräte“ bezeich­ net, erweisen sich für alle Beteiligten als nützlich. So initiieren sie zum einen den Dialog innerhalb der Fachöffentlichkeit, bei dem unterschiedliche Kompetenzen und Sichtweisen in die Projektbeur­ teilung einfließen. Zum anderen bringen sie Trans­ parenz in die Entstehungsprozesse und können dadurch einer interessierten Öffentlichkeit gegen­ über die Komplexität von Gestaltungsvorgängen darstellen. Sie ermöglichen den Verwaltungen, die individuellen Bauvorstellungen mit den Belangen des Gemeinwohls in Verbindung zu bringen, und sie bieten dem Stadt- oder Gemeinde­rat die Mög­ lichkeit, ihrer Kommune Baukultur zugutekommen zu lassen. Nicht zuletzt stehen sie Bauherren als unabhängige Instanz zur Seite, mit deren Unter­ stützung eine Investition Genehmigungsprozesse schneller durchläuft. Die Bundesstiftung Baukultur empfiehlt Stadtund Gemeinderäten, sich für die Einberufung von „Beiräten für Baukultur“ einzusetzen, um damit eine Voraussetzung dafür zu schaffen, dass Bau­ kultur in den Alltag einzieht. Entsprechend ihres Kommunikationsauftrags ist die Bundesstiftung Baukultur bestrebt, die hier benannten Inhalte und Forderungen in die Gesell­ schaft zu tragen und die benannten Akteure in der Umsetzung von Baukultur zu unterstützen. Sie ist auf kritische Begleitung angewiesen und kann nur erfolgreich sein, wenn das Netzwerk der Akteure die Dialogangebote aufnimmt, um an dem Ziel ge­ meinsam zu arbeiten, Baukultur als Querschnitts­ thema möglichst vieler gesellschaftlicher Bereiche zu etablieren.

11. __ DStGB, Rettet die lokale Demokratie, Bilanz 2010 und Ausblick 2011 der deutschen Städte und Gemeinden. 2010.

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Mitwirkende

Herausgeber Michael Braum Jahrgang 1953. Studium der Stadtplanung und des Städtebaus an der TU Berlin. 1980–1996 Mitarbeiter und Gesellschafter der Freien Planungsgruppe Berlin. 1984 –1988 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin. 1996 Gründung des Büros Conradi, Braum & Bockhorst. 2006 Gründung des Büros Michael Braum und Partner. Seit 1998 Professor am Institut für Städtebau und Entwerfen der Fakultät für Architektur und Landschaft an der Leibniz-Universität Hannover. Seit 2008 Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Baukultur, zum Städtebau und zur Stadtentwicklung.

Redaktion Olaf Bartels Jahrgang 1959. Studium der Architektur an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Seit 1984 fachpublizistische Arbeiten. 1989 –1990 künstlerischer Mitarbeiter an der Hochschule der Künste Berlin. 1990 –1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Hamburg-Harburg. 1991 Lehrbeauftragter an der HdK Berlin. 1991–1994 Lehrbeauftragter an der TU Hamburg-Harburg. 1992 –1994 Bauleitung eines Wohnungsbauprojekts. 1994 –1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Braunschweig. Seit 2000 Lehrbeauftragter für Theorie und Geschichte der Architektur an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, heute HafenCity Universität Hamburg.

Ursula Baus Jahrgang 1959. Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Philosophie in Saarbrücken. Architekturstudium in Stuttgart und Paris. Promotion. Redakteurin der db deutsche bauzeitung. 2004 Mitbegründerin von frei04 publizistik in Stuttgart; freie Architekturpubli­zistin und -kritikerin. Lehraufträge für Architekturtheorie in Stuttgart. Veröffentlichungen zu Architektur und Architekturtheorie. Mitglied im Beirat der Bundesstiftung Baukultur und im wissenschaftlichen Kuratorium der IBA Basel.

Autoren Wolfgang Bachmann Jahrgang 1951. Studium der Agrarwissenschaften und der Architektur in Aachen, Promotion. In verschiedenen Architektur- und Ingenieurbüros, begleitend journalistische Tätigkeit. 1982 Redakteur der Bauwelt, Berlin; seit 1991 Chefredakteur des Baumeister, München. 2008 „Fachjournalist des Jahres“ (2. Preis). Der Baumeister war Fachmedium des Jahres 2010. Vorträge, Moderationen, Juryrunden, Architekturführungen. Kritiken, Glossen, Kurzgeschichten über Architektur und darüber hinaus.

Karl-Heinz Daehre Jahrgang 1944. Studium der Chemie in Magdeburg, Promotion 1983. 1990 – 1991 Leiter des Instituts Lacke und Farben e. V., 1990 Eintritt in den Landtag von Sachsen-Anhalt, 1993 –1998 CDU-Landesvorsitz, 1991–1994 Minister für Raumordnung, Städtebau und Wohnungswesen, 2001– 2006 Minister für Bau und Verkehr, seit 2006 Minister für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt.

Bernhard Heitele Jahrgang 1971. Studium der Architektur an der Universität Stuttgart. Mitarbeiter im Stadtplanungsbüro raumbureau in Stuttgart. 2003 – 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Stadtplanung und Raumgestaltung der BTU Cottbus. Seit 2009 freier Projektmitarbeiter der Bundesstiftung Baukultur. Veröffentlichungen zum Städtebau und zur Stadtentwicklung.

Anneke Holz Jahrgang 1974. Architektin, seit 2000 in der Architektur- und Baukulturvermittlung tätig, u. a. für Léon Wohlhage Wernik Architekten, Berlin (2003 – 2008), und Ingenhoven Overdiek Architekten, Düsseldorf (2000 – 2003). Studium der Architektur an der LeibnizUniversität Hannover und der ETSA Barcelona. Veröffentlichungen und Konzepte für Veranstaltungen und Ausstellungen. Seit 2009 Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für die Bundesstiftung Baukultur.

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Benedikt Hotze Jahrgang 1964. Studium der Architektur in Braunschweig und Lausanne. 1993 –1996 Redakteur der Bauwelt. Seit 1996 Redak­ tionsleiter beim BauNetz. 2006 Lehrauftrag „Online-Publishing“, Hochschule Bochum. Seit 2006 Lehrauftrag „Verbale Vermittlung“, BTU Cottbus.

Wolfgang Kil Jahrgang 1948. Architekturstudium in Weimar. 1972 –1978 Architekt im Wohnungsbaukombinat Berlin. 1978 –1982 Redakteur von Farbe und Raum, Berlin. 1982 –1992 und seit 1994 freier Kritiker, Publizist und Ausstellungskurator, 1992 –1994 Redakteur der Bauwelt. Essays und Buchveröffentlichungen, u. a. Luxus der Leere (2004). Stipendien und Preise, u. a. 1993 und 2001 Journalistenpreis der BAK, 1997 Kritikerpreis des BDA. Mitglied im Beirat der Bundesstiftung Baukultur.

Wilhelm Klauser Jahrgang 1961. Studium der Architektur in Stuttgart und Paris. 1992 –1998 als Planer in Tokio, bis 2003 in Paris. Im Jahr 2003 Gründung von InD initialdesign, Berlin (Architektur, Städtebau, Recherche). Konzeption regionaler und städtebaulicher Entwicklungsstrategien u. a. in Griechenland, Deutschland und Frankreich; Forschungsschwerpunkt im Einzelhandel und in der Distribution. Seit 2002 Lehraufträge, Vorträge und Publikationen zur strategischen Planungsentwicklung.  

Benedikt Kraft Jahrgang 1962. Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Kunstgeschichte in Münster, Studienaufenthalt in London. Musik- und Kulturkritiker, Buchrezensent, Fotograf. Seit 1994 Redakteur bei der Architekturfachzeitschrift DBZ Deutsche Bauzeitschrift. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. zu den Themen Architektur und Politik, Architektur und Kultur. Blog seit 2009. Verschiedene Jurorentätigkeiten, aktuell beim Architekturpreis des Landes Rheinland-Pfalz 2010.

Engelbert Lütke Daldrup Jahrgang 1956. Studium der Raumplanung (Stadt- und Regionalplanung) an der Universität Dortmund. Städtebaureferendariat, Baurat in Frankfurt am Main, Promotion. 1989 –1995 Berliner Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, seit 1992 Leiter des Referates „Hauptstadtgestaltung“. 1995 – 2005 Stadtbaurat in Leipzig. 2006 – 2009 Staatssekretär im BMVBS. 2009 Honorarprofessor an der TU Berlin und der Universität Leipzig. 2007–2010 Vorsitzender des Stiftungsrates der Bundesstiftung Baukultur. Seit 2010 Geschäftsführer der AfS Agentur für Stadtentwicklung GmbH in Berlin.

Elisabeth Merk Jahrgang 1963. Studium der Architektur in Deutschland und Italien, Promotion und Staatsexamen in Florenz. 1995 –1998 in München und 1999 – 2000 in Regensburg tätig. 2000 – 2006 Leiterin des Fachbereiches Stadtentwicklung und Stadtplanung in Halle/Saale. 2005 – 2007 Professorin für Städtebau und Stadtplanung und seit 2009 Honorarprofessorin an der Hochschule für Technik Stuttgart. Seit 2007 Stadtbaurätin der Landeshauptstadt München. Mitglied in Ausschüssen, Fachkommissionen, UNESCO Network, ICOMOS und DASL.

Julian Nida-Rümelin Jahrgang 1954. Studium der Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft in München und Tübingen. Promotion 1983, Habilitation 1989. Seit 1991 Professuren in den USA, Tübingen, Göttingen, Berlin. Seit 2004 Professor der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. 1998 – 2003 Kulturreferent in München, 2001– 2002 Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder. Jüngste Buchpublikationen: Philosophie und Lebensform (2009), Demokratie und Wahrheit (2006), Humanismus als Leitkultur (2006).

Matthias Sauerbruch Jahrgang 1955. Studium der Architektur an der Hochschule der Künste Berlin und der Architectural Association London. 1984 –1988 Projektleiter bei OMA. 1989 Gründung des Büros Sauerbruch Hutton mit Louisa Hutton in London, 1993 Büroeröffnung in Berlin. 1985 –1990 Lehrtätigkeit an der AA London; 1995 –2001 Professor an der TU Berlin; 2001– 2007 Professor an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste Stuttgart; 2006 Gastprofessor an der University of Virginia; seit 2008 Gastprofessor an der Harvard Graduate School of Design. Mitglied der Akademie der Künste Berlin seit 2006; 2007 Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen (DGNB); Fellow am Institute for Urban Design New York und Schirmherr des Aedes Network Campus Berlin seit 2009.

Carl Zillich Jahrgang 1972. Studium der Architektur und Stadtplanung an der Universität Kassel und der Columbia University in New York. 2002 – 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der Leibniz-Universität Hannover. Seit 2004 eigene realisierte Architekturprojekte. Seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundesstiftung Baukultur. Publikationen unter anderem zu den Schnittstellen von Architektur und Kunst.

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Bildnachweis

Titel, Rücktitel: Jürgen Hohmuth, zeitort, Berlin Seite 8 –11: Steffen Wirtgen, Radebeul Seite 15: Petra Steiner, Berlin Seite 32–37: Benedikt Hotze, Berlin Seite 48–51: Wolfram Janzer, Stuttgart Seite 56– 65: Jan Erik Ouwerkerk, Berlin Seite 66–69: Wilfried Dechau, Stuttgart Seite 70__(01): Kulturland Brandenburg, 2007, Foto: Jürgen Hohmuth. Seite 72__(02): Thomas Häntzschel/nordlicht, Glashagen Seite 73__(03): ASV Frankfurt, Foto: V-Kon.media, Trier Seite 76__(04): Landeshauptstadt Saarbrücken, DFKI, LOIDL, LHS Seite 76__(05): Landeshauptstadt Saarbrücken, PgBP, lu media Seite 84–87: Juri Gottschall, München Seite 91__(01): IBA-Büro GbR, Foto: Ursula Achternkamp Seite 91__(02): IBA-Büro GbR, Foto: Michael Uhlmann Seite 92__(03): IBA-Büro GbR, Foto: Doreen Ritzau Seite 92__(04): Stadtplanungsamt Magdeburg, Foto: Johannes Wöbse Seite 95 –99: Benedikt Kraft, Bielefeld Seite 100 –103: Gerhard Zwickert, Berlin Seite 106__(01): Peter Frank, München Seite 111: Petra Steiner, Berlin Seite 114 –117: Barbara Metselaar, Berlin Seite 119: Raumlabor, Berlin Seite 120: Birk Heilmeyer Architekten, Stuttgart Seite 121__(01): Christian Richters, Münster Seite 121__(02): Marco Clausen, Berlin Seite 122: Raumlabor, Berlin Seite 123: Cityförster, Hannover Seite 124: urbanpassion, Berlin Seite 126: Cityförster, Hannover

Die Bundesstiftung Baukultur dankt den Fotografen und den Inhabern der Bildrechte für die Nutzungsgewährung. Jeder mögliche Versuch ist unternommen worden, die Besitzer von Bildrechten ausfindig zu machen. Wo dies nicht möglich war, bitten wir die Urheber, sich mit den Herausgebern in Verbindung zu setzen.