Baltische Bildungsgeschichte(n) 9783110998672, 9783110987133

For Estonia, Latvia, and Lithuania, education is a key issue that affects their history and self-understandings both in

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German Pages 450 [499] Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Eröffnungsvortrag
Ständische Bildung in den russischen Ostseeprovinzen im 18. Jahrhundert
I. Konzepte der Bildung (Ideologien, Diskurse, Narrative)
Zur anthropologischen Differenz zwischen den frühen Erziehungs- und Bildungskonzepten bei Hamann und Herder
Herrschaftsideologie in Lehrwerken höherer russischer Schulen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Zwischen Vorbild und Abgrenzung: Die Rezeption deutschsprachiger Bildungskonzepte im Litauen der Zwischenkriegszeit
Die Vermittlung der deutschbaltischen literarischen Kultur in der estnischen Schule von heute. Möglichkeiten und Herausforderungen
Lettgallisch im Bildungssektor: Traditionen, Marginalisierung und aktuelle Entwicklungen in Status- und Revitalisierungsdiskursen
II. Institutionen der Bildung (Schule, Gerichtsstube, Universität)
Die herrnhutische Lehrerausbildungsstätte der Pietistin Magdalena Elisabeth von Hallart im lettischen Wolmar (1738–1743)
Das Waisenhaus von Alp als ‚pietistisches‘ Zentrum – Nachbildung, Ausgangspunkt oder nur ein gescheitertes Projekt?
Die Gerichtsstube als Bildungsanstalt. Die Gerichtsbarkeit über die bäuerlichen Rechtssachen in Est- und Livland im 19. Jahrhundert
Das Bildungsprogramm der 1802 wiedergegründeten Universität Dorpat
III. Akteure der Bildung (Pädagogen, Schriftsteller, Pastoren, Familien)
Schule und Kirche. Heinrich Vestring als Reformer des Revaler Schulwesens
Garlieb Merkels Rousseau
Christian David Lenz und Jakob Michael Reinhold Lenz: Vater und Sohn und das Problem der Predigt
Deutschbaltische Pastoren und ihr Verständnis von Bildungsvermittlung – Lehr- und Lernverhältnisse zu estnischen und lettischen Gemeindemitgliedern im 19. Jahrhundert
Die Familie von Medem. Zur Verbindung von Bildung, Literatur und Politik in Kurland
„Durch die Macht der Verhältniße […] zur Ordnung gezwungen“. Die Kügelgens – eine deutsch-baltische Familie und die Signaturen des Bildungsbürgertums
IV. Bildung in der Literatur (Genres, Geschichten, Reflexionen)
Gelebte Bildung: Hochzeitsschriften aus der Sammlung Recke
Die Polaritäten der Weltordnung in den Metai von Kristijonas Donelaitis
Riga um 1900 als Spannungsfeld zwischen verschiedenen Kulturen in den Schriften von Augusts Deglavs und Jānis Poruks
‚Äsopische‘ Sprache in der litauischen Literatur der Sowjetzeit – ein Bildungsauftrag der Schreibenden?
Verheißung und Verrat – zu Bildungsgeschichten bei Jaan Kross
Anhang
Programm der Tagung „Baltische Bildungsgeschichte(n)“, Tartu 2016
Gesprächsrunde mit Akteur*innen der Tagung
Tagungsbericht
Autorinnen und Autoren
Personenregister
Ortsregister mit Konkordanz
Recommend Papers

Baltische Bildungsgeschichte(n)
 9783110998672, 9783110987133

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1 Silke Pasewalck, Rūta Eidukevičienė, Antje Johanning-Radžienė, Martin Klöker (Hg.): Baltische Bildungsgeschichte(n)

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Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa Band 78

DE GRUYTER OLDENBOURG

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Baltische Bildungsgeschichte(n)

Herausgegeben von Silke Pasewalck, Rūta Eidukevičienė, Antje Johanning-Radžienė, Martin Klöker

DE GRUYTER OLDENBOURG

4 Die Publikation ist ein Kooperationsprojekt des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg, und der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tartu.

Der Band geht zurück auf die Tagung Baltische Bildungsgeschichte(n), die vom 19. bis 22. September 2016 an der Universität Tartu stattfand. Die Konferenz wurde in Kooperation mit der Universität Marburg veranstaltet und von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert. Das Buch wird herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Vytautas Magnus Universität in Kaunas, dem HerderInstitut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg und dem Under und Tuglas Literaturzentrum der Estnischen Akademie der Wissenschaften in Tallinn.

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for the Library of Congress. © 2022 Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), Oldenburg Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des BKGE unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz und Layout: Oliver Rösch Umschlaggestaltung: Lennart Hoes Druck und Bindung: Druckhaus Sportflieger, Berlin Der Umschlag wurde gestaltet unter Verwendung folgender Abbildungen: Oskar Hoffmann: Ajalehte lugev mees (dt. Zeitung lesender Mann). 1902. Estnisches Kunstmuseum (Ausschnitt). Louis Höflinger: Das Universitätsgebäude in Dorpat (1860). Kunstmuseum Tartu. Wikimedia Commons. Foto der Innenräume der Universitätsbibliothek Dorpat/Tartu bis 1944/45. Herder-Institut Marburg, Sammlung Hintzer, Bildarchiv Sign. 168522. Veröffentlicht durch den Verlag De Gruyter/Oldenbourg, Berlin-Boston 2022 ISBN 978-3-11-099867-2

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In memoriam Jürgen Joachimsthaler

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Silke Pasewalck, Rūta Eidukevičienė, Antje Johanning-Radžienė, Martin Klöker: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eröffnungsvortrag Heinrich Bosse: Ständische Bildung in den russischen Ostseeprovinzen im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Konzepte der Bildung (Ideologien, Diskurse, Narrative) Hans Graubner: Zur anthropologischen Differenz zwischen den frühen Erziehungs- und Bildungskonzepten bei Hamann und Herder . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Ljubov Kisseljova: Herrschaftsideologie in Lehrwerken höherer russischer Schulen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rūta Eidukevičienė: Zwischen Vorbild und Abgrenzung: Die Rezeption deutschsprachiger Bildungskonzepte im Litauen der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . 95 Kairit Kaur: Die Vermittlung der deutschbaltischen literarischen Kultur in der estnischen Schule von heute. Möglichkeiten und Herausforderungen . . . . . . . . . . 119 Heiko F. Marten und Sanita Martena: Lettgallisch im Bildungssektor: Traditionen, Marginalisierung und aktuelle Entwicklungen in Status- und Revitalisierungsdiskursen . . . . . . . . . . 137

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Inhalt

II. Institutionen der Bildung (Schule, Gerichtsstube, Universität) Beata Paškevica: Die herrnhutische Lehrerausbildungsstätte der Pietistin Magdalena Elisabeth von Hallart im lettischen Wolmar (1738–1743) . . . . . . . . . . . . . . . 163 Michael Rocher: Das Waisenhaus von Alp als ‚pietistisches‘ Zentrum – Nachbildung, Ausgangspunkt oder nur ein gescheitertes Projekt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Marju Luts-Sootak: Die Gerichtsstube als Bildungsanstalt. Die Gerichtsbarkeit über die bäuerlichen Rechtssachen in Est- und Livland im 19. Jahrhundert . . . . . . . .

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Markus Käfer: Das Bildungsprogramm der 1802 wiedergegründeten Universität Dorpat . . 215 III. Akteure der Bildung (Pädagogen, Schriftsteller, Pastoren, Familien) Martin Klöker: Schule und Kirche. Heinrich Vestring als Reformer des Revaler Schulwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Ulrich Kronauer: Garlieb Merkels Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Gregor Babelotzky: Christian David Lenz und Jakob Michael Reinhold Lenz: Vater und Sohn und das Problem der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Anja Wilhelmi: Deutschbaltische Pastoren und ihr Verständnis von Bildungsvermittlung – Lehr- und Lernverhältnisse zu estnischen und lettischen Gemeindemitgliedern im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Valérie Leyh: Die Familie von Medem. Zur Verbindung von Bildung, Literatur und Politik in Kurland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Anton Philipp Knittel: „Durch die Macht der Verhältniße [...] zur Ordnung gezwungen“. Die Kügelgens – eine deutsch-baltische Familie und die Signaturen des Bildungsbürgertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Inhalt

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IV. Bildung in der Literatur (Genres, Geschichten, Reflexionen) Ruth Florack: Gelebte Bildung: Hochzeitsschriften aus der Sammlung Recke . . . . . . . 355 Alina Kuzborska: Die Polaritäten der Weltordnung in den Metai von Kristijonas Donelaitis . . 373 Benedikts Kalnačs: Riga um 1900 als Spannungsfeld zwischen verschiedenen Kulturen in den Schriften von Augusts Deglavs und Jānis Poruks . . . . . . . . . . . . . . . 393 Lina Užukauskaitė: ,Äsopische‘ Sprache in der litauischen Literatur der Sowjetzeit – ein Bildungsauftrag der Schreibenden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck: Verheißung und Verrat – zu Bildungsgeschichten bei Jaan Kross . . . . . . 427 Anhang Programm der Tagung „Baltische Bildungsgeschichte(n)“, Tartu 2016 . . . . 451 Liina Lukas: Gesprächsrunde mit Akteur*innen der Tagung . . . . . . . . . 461 Elina Adamson: Tagungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Ortsregister mit Konkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

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Vorwort Das vorliegende Buch geht auf die gleichnamige Tagung „Baltische Bildungsgeschichte(n). Baltic Educational Histories“ zurück, die vom 19. bis zum 22. September 2016 an der Universität Tartu unter Beteiligung von über 70 Referentinnen und Referenten stattfand. Es will diese für die baltische Germanistik exzeptionelle Konferenz dokumentieren und das darin Angestoßene Forschenden und Studierenden zugänglich machen. Die Idee der Tagung entstand im Rahmen einer Initiative zur Vernetzung der germanistischen Abteilungen und der durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst geförderten Germanistischen Institutspartnerschaften im Baltikum. Die Konferenz war in diesem Sinne Auftakt eines größer angelegten Vernetzungsprojektes, das – wie auch die Tagung selbst – von Jürgen Joachimsthaler angestoßen, konzipiert und vorangebracht worden war. Als Professor für neuere und neueste deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Philipps-Universität Marburg plante er die Konferenz im engen Austausch mit germanistischen Kolleginnen und Kollegen aus Estland, Lettland, Litauen und Deutschland. Jürgen Joachimsthaler konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zur Konferenz anreisen, war jedoch online zugeschaltet und konnte seine Ideen einführend erläutern. Er erlag anderthalb Jahre später seiner schweren Krankheit. Schon in Tartu übernahm Silke Pasewalck als Leiterin der Tartuer Germanistik und assoziierte Professorin für deutsche Literaturwissenschaft die Leitung und Durchführung der Großveranstaltung. Für die Herausgabe des Bandes gesellten sich Rūta Eidukevičienė als assoziierte Professorin für Germanistik in Kaunas, ­Antje Johanning-Radžienė als DAAD-Lektorin an der Universität Daugavpils (heute Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg) und Martin Klöker als Senior Researcher am Under und Tuglas Literaturzentrum der Estnischen Akademie der Wissenschaften in Tallinn hinzu, die in ihren damaligen Funktionen und Tätigkeitsfeldern auch bereits an der Tagung aktiv beteiligt waren. Schon die Tagung war von der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien großzügig gefördert worden, und so ist es eine schöne Folgerichtigkeit, dass nun der Band in der Schriftenreihe des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), einer Ressortforschungseinrichtung der BKM, erscheint. Dem BKGE sei für diese Unterstützung herzlich gedankt. An dieser Stelle möchten wir außerdem allen Kooperationspartnerinnen und -partnern danken, die seit 2014 an der Konzeption dieser Tagung beteiligt waren, allen voran Thomas Taterka (damals Riga), aber auch weiteren, hier nicht namentlich genannten Kolleginnen und Kollegen aus Estland, Lettland, Litauen und Deutschland. Dank gebührt auch den damaligen Referentinnen und Referenten für ihre inspirie-

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Vorwort

renden Vorträge, den Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Bandes für ihre Mitwirkung und Geduld sowie Stephan Scholz vom Bundesinstitut für seine umsichtige Redaktion. Jürgen Joachimsthalers Selbstverständnis als Germanist und Kulturwissenschaftler verbindet uns mit ihm: Seit seiner Tätigkeit als DAAD-Lektor an der Universität Opole (Oppeln) lag ein besonderer Fokus seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auf den literarischen Darstellungen kultureller Vielfalt im östlichen Europa, (post)kolonialer Hegemonie und interkultureller Differenz. Als Höhepunkt dieser Beschäftigung kann sicherlich seine dreibändige Habilitationsschrift Text-Ränder. Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur (Heidelberg 2011) angesehen werden. Den vorliegenden Band widmen wir ihm als unserem geschätzten Kollegen, profunden Kenner der baltischen Literaturen und als Förderer der Germanistik in Estland, Lettland und Litauen. Silke Pasewalck, Rūta Eidukevičienė, Antje Johanning-Radžienė, Martin Klöker

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Silke Pasewalck, Rūta Eidukevičienė, Antje Johanning-Radžienė, Martin Klöker

Einleitung Dem vorliegenden Band liegt ein weiter Begriff von Bildung zugrunde. Aufgerufen ist einer der Leitbegriffe der Neuzeit, der im Humanismus, in Reformation und Aufklärung eine entscheidende Prägung erfahren hat und von dessen Wertvorstellungen moderne Gesellschaften bis heute gekennzeichnet sind. Als Bildung wird „der Formationsprozess“ verstanden, „in dessen Verlauf das Individuum durch Erziehung und eigene Anstrengungen zu einer Persönlichkeit werden soll, die den Normen der ihn bestimmenden Gesellschaft möglichst gut entspricht“.1 Angelehnt an diese Definition umfasst der Begriff sowohl die auf das eigene Individuum respektive die eigene Gruppe gerichtete Entwicklung als auch die Erziehung. Die ‚durch eigene Anstrengungen‘ erfolgende ‚Selbstbildung‘ ermöglicht dabei zugleich „die Aneignung der in einer Gesellschaft gültigen (verbindlichen oder oppositionellen) Leitbilder und Wertbegriffe“,2 muss also keineswegs ein Anpassungsprozess sein. Die Bildungsgeschichte seit der Frühen Neuzeit ist von einer zunehmenden Institutionalisierung der Bildung geprägt, die zum einen Ausdruck einer Säkularisierung ist, obwohl sie „bis zur Mitte des 19. Jh.s […] religiös geprägt“3 bleibt. Zum anderen ist sie durch Konzepte gekennzeichnet, in denen Bildung selbst sakrale Formen annimmt. Bildung ist außerdem einerseits ein emanzipatorisches Potential eingeschrieben, andererseits besteht zwischen erziehender und zu erziehender Person eine asymmetrische Beziehung und ein Machtgefälle. Beide Aspekte kommen besonders stark in der Epoche der Aufklärung zum Ausdruck, denn diese wertet die bereits seit der Antike angelegte Vorstellung von Bildung als sozialer Ermöglichung „geistiger Individualität, freier Geselligkeit und ideennormativer Selbstbestimmung“4 deutlich auf. Zudem sind ihre Konzepte jetzt weniger auf eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe als auf die gesamte Menschheit hin ausgerichtet, was sich beispielhaft

1 Walther, Gerrit: Bildung. In: Jaeger, Friedrich (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit Online (basierend auf dem Artikel der Druckausgabe. Bd. 2. Stuttgart 2005). URL: https://referenceworks.brillonline. com/entries/enzyklopaedie-der-neuzeit/bildung-COM_247370 (08.06.2022). 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Lichtenstein, Ernst: Bildung. In: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Basel 1971, S. 921–937, hier S. 921.

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Silke Pasewalck, Rūta Eidukevičienė, Antje Johanning-Radžienė, Martin Klöker

an Lessings Erziehung des Menschengeschlechts und Schillers Ästhetischer Erziehung des Menschen ablesen lässt. Während sich Bildung in der Frühen Neuzeit über weite Strecken als Formationsprozess der Eliten begreifen lässt, setzen mit der Aufklärung verstärkt Konzepte der Volksbildung ein. Doch auch wenn der emphatische Begriff der Bildung im sogenannten pädagogischen Jahrhundert, „jenseits von Stand, Geschlecht und Religion, jenseits von Zeit und Raum […] die Emanzipation aller Menschen zur Menschheit“5 impliziert, ist ihm dennoch eine deutliche Asymmetrie, ja „Doppelgesichtigkeit“6, eingeschrieben, die vor dem Hintergrund dieses Anspruchs umso deutlicher hervortritt. Wer zieht die Grenze zwischen Gebildeten und Ungebildeten? Wer wird gebildet und von wem? Wer schreibt die Bildungsprogramme, wer legt die Bildungsziele fest, wer setzt sie um? Diese Fragen zielen mitten in die Bildungsgeschichte mit ihren Konzepten, Institutionen und Akteuren, ihren Geschichten und Reflexionen. Den Praktiken der Bildung, die sich dabei beobachten lassen, ist bei allen emanzipatorischen Motiven ein Moment (struktureller) Gewalt inhärent: Stets wird unterschieden zwischen denen, die der eigenen Auffassung oder des gesellschaftlichen Urteils nach als gebildet gelten, und jenen, die bis zu einem gewissen Maße und in eine bestimmte Richtung hin gebildet werden sollen.7 Bildung als Emanzipationsprozess mit der Perspektive einer offenen Gesellschaft fungiert zugleich als Mittel der Macht zur Erhaltung gesellschaftlicher Zustände. Diese grundsätzlichen Aspekte von „Bildungsgeschichte als historische[r] Kulturwissenschaft“8 lassen sich am historischen und gegenwärtigen Baltikum in konzentrierter Form untersuchen. Das Baltikum9 kann als Modellregion von exemplarischem Wert gelten, da sich hier die enge Verbindung der Bildungsgeschichte zum Kolonialismus einerseits und zur Nationsbildung andererseits verdeutlichen lässt.10 15 Gaus, Detlef: Dimensionen und Funktionen des Bildungsbegriffs im langen 19. Jahrhundert. Zur Begriffsgeschichte und Begriffsverwendung eines deutschen Synkretismus. In: Wilhelmi, Anja (Hg.): Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen in Nordosteuropa (19. Jahrhundert). Wiesbaden 2011, S. 15–37, hier S. 20. 16 Ebd., S. 36. 17 Vgl. hierzu Journal für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (JKGE) 1 (2020): Bildungspraktiken der Aufklärung  /  Education Practices of the Enlightenment. Hg. v. Silke Pasewalck, Matthias Weber, insbesondere die Einleitung, S. 1–8. 18 Bosse, Heinrich: Die Erfindung der Bildung. Nacim Ghanbari im Gespräch mit Heinrich Bosse. In: Ders.: Bildungsrevolution 1770–1830. Heidelberg 2012, S. 1–14, hier S. 1: „Ich möchte, dass die Bildungsgeschichte als historische Kulturwissenschaft betrieben wird.“ 19 Wir verwenden im Folgenden den heute gebräuchlichen Baltikumsbegriff und beziehen ihn in diesem Band auf die Geschichte und Gegenwart der drei baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen. Auch wenn wir dabei den Schwerpunkt auf einstmals ,deutsch‘ geprägte Regionen legen, finden sich ebenso Beiträge zu Regionen, die sich im Prinzip nicht unter die angesprochenen Entwicklungslinien subsummieren lassen, etwa zu Lettgallen. 10 Für das historische Baltikum als Aufklärungsregion lässt sich „eine Spannung zwischen Selbstverständigung der Gelehrten und Volksaufklärung, zwischen universalistischem Ansatz und ­kolonial

Einleitung

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Für die baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen ist Bildung ein Schlüsselthema, das ihre Geschichte und ihr Selbstverständnis sowohl im Hinblick auf die Fremdbestimmung als auch auf die eigene Staatenbildung betrifft. Im Zuge von Handelskontakten, Christianisierung, Ordenskriegen und Rechtsimport gerieten die autochthonen Völkerschaften des baltischen Raums unter kulturelle, sprachliche und politische Einflüsse unterschiedlichen Gewichts. Sie waren dadurch zum Teil gewaltvollen Formierungsprozessen ausgesetzt. Auf Seiten der Eroberer, vor allem der Deutschen, aber auch der Dänen, Polen, Schweden und Russen, hatte dies ein beträchtliches Aufgebot an wirtschaftlichen, juristischen, religiösen und kulturellen Einrichtungen zur Folge. Schon vor der Reformation hatte es im Baltikum Ansätze gegeben, die Volkssprachen Estnisch, Lettisch und Litauisch zu verwenden und auch zu fördern. Die später einsetzende Volksaufklärung konnte auf diese Entwicklungen aufbauen. Aufgrund des Muttersprachengebots seit der Reformation mussten sich die Träger der dominanten nun auch dezidiert mit den dominierten Kulturen und Sprachen beschäftigen, was in Publizistik, Literatur und Wissenschaft zu einer verstärkten Reflexion über die baltischen Sprachen und Ethnien sowie über das asymmetrische Spannungsgefüge zwischen Kultureliten und Mehrheitsbevölkerung führte.11 Gesetzgebung und kulturelle Arbeit sollten zugleich das soziale und kulturelle Überleben der herrschenden Minderheiten sichern. Diese Situation führte zu einer zeitweise ungewöhnlich dichten und in ganz ­Europa sichtbaren Fülle an Bildungsanstrengungen im Baltikum mit weitreichenden Folgen auch für die deutsche Geistesgeschichte. Erwähnt seien etwa die Bildungsinitiativen der Herrnhuter Brüdergemeine, die vielen Hofmeisterstellen, die von Absolventen deutscher Universitäten besetzt wurden, sowie schließlich die Volksaufklärung. Die Bildungsanstrengungen lassen sich auch an einzelnen Akteuren festmachen, deren ,baltische‘ Prägung nachhaltig auf die deutsche Geistesgeschichte zurückgewirkt hat; namentlich Johann Gottfried Herder, Jakob Michael Reinhold Lenz, Garlieb Merkel und Elisa von der Recke, um nur einige der wichtigsten zu nennen. In diesem Zusammenhang darf auch der Name Karl Morgenstern nicht fehlen, der den für die germanistische Literaturwissenschaft so einflussreichen Begriff des Bildungsromans geprägt hat. Sein Wirken ist aufs Engste mit der Universität Tartu (Dorpat) verbunden, wo er an der damaligen Landesuniversität als Professor für Klassische

geprägten Feudalverhältnissen“ ausmachen, so Lukas, Liina; Pasewalck, Silke: Einleitung. In: Dies.; Hoppe, Vinzenz; Renner, Kaspar (Hg.): Medien der Aufklärung – Aufklärung der Medien. Die baltische Aufklärung im europäischen Kontext. Berlin-Boston 2021, S. 9–20, hier S. 13. 11 Der Fokus liegt hierbei auf Est-, Liv- und Kurland. Für Litauen bzw. Polen-Litauen und PreußischLitauen gilt dies nicht im selben Maße. Als ‚baltische Sprachen‘ sind hier in regionaler Hinsicht in erster Linie Litauisch, Lettisch und Estnisch (am Rande auch Livisch, Prussisch und Finnisch) bezeichnet, obwohl das Estnische bekanntlich im sprachwissenschaftlichen Sinne keine baltische, sondern eine finnougrische Sprache ist.

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Silke Pasewalck, Rūta Eidukevičienė, Antje Johanning-Radžienė, Martin Klöker

Philologie auch die zeitgenössische Literatur in seine Vorlesungen einbezogen hat.12 Gelehrte oft bäuerlicher indigener Herkunft, die in die Sphäre der Mächtigen hinein sozialisiert worden waren, begannen schließlich von den dominanten Bildungswelten aus und mit deren Mitteln Konzepte einer ‚eigenen‘ Kultur der jeweiligen baltischen Sprachgemeinschaften zu erarbeiten. Damit einher ging eine innere Formierung der baltischen Völker seit der Zeit des ersten nationalen Erwachens. Baltische Geschichte ebenso wie Wirtschaft, Verwaltung, Sprache, Recht, Kultur und Literatur der baltischen Länder berühren so fast unvermeidlich in fast allen ihren Dimensionen den Aspekt ,Bildung‘. Dass der Gegensatz zwischen Gebildeten und zu Bildenden im Baltikum lange Zeit auf verschiedene ethnische Gruppen verteilt sein konnte, macht die oben erwähnte inhärente Spannung umso sichtbarer. Wenn es eine tief verankerte koloniale Dimension der deutschen Kulturgeschichte gibt, dann hier.13 Im vorliegenden Band wird das Baltikum in Geschichte und Gegenwart aus der Perspektive dieses weit gefassten Bildungsbegriffs untersucht. Der Titel des Buches – damit dem Titel der Tagung folgend, die vom 19. bis zum 22. September 2016 an der Universität Tartu stattfand und auf die der Band zurückgeht – bringt die Verschränkung von Bildungsgeschichte und Bildungsgeschichten exemplarisch zum Ausdruck. Die Beiträge stammen aus der Feder von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Estland, Lettland, Litauen und Deutschland, insbesondere der Germanistik, aber auch der Geschichte, Bildungsgeschichte, Rechtsgeschichte, Slavistik und Komparatistik. Die Grundidee geht vom Blickwinkel der Literaturwissenschaft und damit vom Medium Buch aus und nimmt von da aus die vielfältigen Aspekte des Themas Bildung in interdisziplinärer Weise in den Blick. Der an Fallstudien orientierte Zugriff kann selbstverständlich nicht alle Bereiche der Bildungsgeschichte gleichermaßen und erschöpfend behandeln, insbesondere nicht diejenigen, die andernorts bereits stärker untersucht wurden.14 Der Band stellt gleichwohl einen repräsentativen Ausschnitt der Konferenzbeiträge dar und zeigt 12 Vgl. Morgenstern, Karl: Der Bildungsroman. Die beiden grundlegenden Vorträge über einen global gebräuchlichen Begriff. Mit Nachwort und Bibliographie hg. v. Dirk Sangmeister. Eutin 2020.  13 Die letzten vier Abschnitte gehen in leicht modifizierter Form zurück auf den Call for Papers zu der Tagung „Baltische Bildungsgeschichte(n) / Baltic Educational Histories“. In: H-Soz-Kult. 20.09.2015. URL: https://www.hsozkult.de/event/id/event-78755 (08.06.2022). 14 Dies gilt zumal für die adelige Bildung und für weibliche Bildungswege. Direkt vor der Tartuer Konferenz „Baltische Bildungsgeschichte(n)“ (19.–21.09.2016) hatte in Klaipėda die Tagung „Adelskulturen im Baltikum. Identitäten, Konzepte, Praktiken“ (07.–10.09.2016) stattgefunden, veranstaltet von Hans-Jürgen Bömelburg, Siegrid Westphal, Axel E. Walter, Peter Wörster und Olga Weckenbrock. Der Tagungsband erscheint voraussichtlich noch 2022 in der Reihe „Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung“ im Verlag des Herder-Instituts Marburg. Weibliche Bildungswege bilden einen der Schwerpunkte in Wilhelmi, Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen in Nordosteuropa (wie Anm. 5) mit Einzeluntersuchungen zu verschiedenen Aspekten der Frauenbildung (S. 257–392).

Einleitung

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wesentliche Aspekte der baltischen Bildungsgeschichte und ihrer Narrationen an beispielhaften Analysen und Fallstudien für alle drei baltischen Länder auf. Aufgrund der engen Verbindung des Bildungsbegriffs zum pädagogischen Jahrhundert bildet die baltische Aufklärung einen zeitlichen Schwerpunkt; indes legen alle vier Rubriken des Buches chronologische Schneisen, die im 17. Jahrhundert einsetzen und bis ins 20. Jahrhundert bzw. bis in die Gegenwart reichen. Besonders stark sind dabei die bildungsgeschichtlich zentralen Phasen vertreten: die Aufklärung, das nationale Erwachen und die (von der sowjetischen Herrschaft unterbrochene) Eigenstaatlichkeit. * Die Forschung zur Geschichte der Bildung und zu den Bildungsnarrativen ist so weit gefächert und umfangreich, dass es unmöglich ist, an dieser Stelle einen auch nur annähernd vollständigen Überblick zu geben. Gleichwohl soll ein kleiner Einblick in die Entwicklung der Forschung gegeben werden. Dabei muss von deutscher Seite zunächst das in den Jahren 1987 bis 2005 in sechs Bänden erschienene Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte als Standardwerk für die Zeit vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart Erwähnung finden.15 Den Bänden liegt ein breiter Bildungsbegriff zugrunde: Nicht nur die vielfältigen Institutionen der Bildung von der Elementarschule bis zur Universität werden in allen Aspekten umfassend berücksichtigt, sondern auch Armenwesen und Wohlfahrtspflege, Volks- und Berufsbildung, Lebensformen und Umgangserziehung, Familie, Kindheit und Jugend sowie pädagogisches Denken und die Medien. Einen ähnlich grundlegenden enzyklopädischen Ansatz in starker Komprimierung verfolgt Anton Schindlings Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650–1800 (1994), in dem vor allem ein regionaler Überblick zu den ‚Bildungslandschaften des Reiches‘ (natürlich ohne das Baltikum) hervorzuheben ist.16 Ausgehend von der Begriffsgeschichte bieten der von Ernst ­Lichtenstein verfasste Artikel Bildung im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Bd. 1, 1971), der von Rudolf Vierhaus verfasste Artikel Bildung in den Geschichtlichen Grundbegriffen (Bd. 1, 1972) sowie darauf basierend der Artikel Bildung von Gerrit Walther in der Enzyklopädie der Neuzeit Online (Bd. 2, 2005) eine grundlegende Orientierung und die wichtigste Literatur.17 Vorrangig aus der deutschen Perspektive, aber mit bester Kenntnis auch der baltischen Verhältnisse, erforscht Heinrich Bosse als Literatur- und Bildungshistoriker 15 Vgl. Hammerstein, Notker; Buck, August (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 6 Bde. München 1987–2005. 16 Vgl. Schindling, Anton: Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650–1800. München 1994 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 30). 17 Vgl. Lichtenstein, Bildung (wie Anm. 3); Vierhaus, Rudolf: Bildung. In: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 508– 551; Walther, Bildung (wie Anm. 1).

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seit Langem die Aufklärung, die im Baltikum noch mehr als in deutschen Landen als tiefgreifende Wende in der Bildungsgeschichte bezeichnet werden muss. Vor ­allem in seinen Büchern Bildungsrevolution 1770–1830 (2012) und Medien, Institutionen und literarische Praktiken der Aufklärung (2021) zeigt er die Aufklärung als einen Bildungsprozess „durch veröffentlichtes Wissen“18, in dem Selbstbildung durch Lektüre und die Entwicklung einer Öffentlichkeit mithilfe von neuen Medien im Zentrum stehen.19 Seine Aufsätze über Jakob Michael Reinhold Lenz und die baltischen Hofmeister gaben nachhaltige Impulse.20 Als wichtigste Verbindungsmänner der livländischen und der deutschen Aufklärung sind wiederholt Johann Gottfried Herder und Johann Georg Hamann ins Blickfeld der Forschung getreten,21 nicht zuletzt auch in der direkten Verbindung mit den Rigaer Aufklärern, speziell Johann Christoph Berens und Johann Gotthelf Lindner,22 18 Bosse, Bildungsrevolution (wie Anm. 7), S. 7. 19 Vgl. ebd.; ders.: Medien, Institutionen und literarische Praktiken der Aufklärung. Dortmund 2021 (Hagener Schriften zur Literatur- und Medienwissenschaft 3). 20 Vgl. ders.: Lenz’ Hofmeister und die Schulverhältnisse seiner Zeit. In: Lenz-Jahrbuch 17 (2011), S. 7–43; ders.: Die Hofmeister in Livland und Estland. Ein Berufsstand als Vermittler der Aufklärung. In: Elias, Otto-Heinrich unter Mitwirkung v. Indrek Jürjo, Gert von Pistohlkors u. Sirje Kivimäe (Hg.): Aufklärung in den baltischen Provinzen Russlands. Ideologie und soziale Wirklichkeit. Köln-Wien 1996, S. 165–208; ders.: Zwei Hauslehrer und sechs Adelshaushalte. Johann Christian Müller (1720–1772) in Pommern und Johann Wilhelm (von) Krause in Livland (1757– 1828). In: Das Achtzehnte Jahrhundert 44/1 (2020), S. 31–50. Vgl. zum Stellenwert der Hofmeister außerdem Piirimäe, Eva: Bürgerliche Hofmeister im Dienst des adligen Hauses im Zeitalter der Aufklärung. In: Wittram, Heinrich (Hg.): Baltische Gutshöfe. Leben – Kultur – Wirtschaft. Acht Beiträge zum 9. Baltischen Seminar 1997. Lüneburg 2006 (Baltische Seminare 7), S. 15–53. 21 Vgl. Marti, Hanspeter: Der junge Herder – ein Schulphilosoph? In: Ders. in Zusammenarbeit mit Ursula Caflisch-Schnetzler u. Karin Marti-Weissenbach (Hg.): Kulturaustausch. Baltisches Echo auf Gelehrte in der Schweiz und in Deutschland. Freundesgabe für Arvo Tering. Köln-WeimarWien 2014, S. 213–226; Renner, Kaspar: Herder und die gelehrte Öffentlichkeit in Riga. Eine Relektüre der „Publikumsschrift“ von 1765. In: Bičevskis, Raivis; Eickmeyer, Jost; Levans, ­Andris; Schaper, Anu; Spiekermann, Björn; Walter, Inga (Hg.): Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis 19. Jahrhundert. Bd. 2. Heidelberg 2019, S. 217–234; Joachimsthaler, Jürgen: Das übersetzte „Volk“. Johann Gottfried Herder und die Tradition baltischer Spracharbeit. In: Kortländer, Bernd (Hg.): „Das Fremde im Eigensten“. Die Funktion von Übersetzungen im Prozess der deutschen Nationenbildung. Tübingen 2011, S. 23–37; Imamura, Takeshi: Das Baltikum im Schaffen Herders und Lenzens. In: Goethe-Jahrbuch (Tokyo) 51 (2009) S. 40–55. 22 Vgl. Graubner, Hans: Ständisches und aufgeklärtes Denken zur Statthalterschaftszeit in Riga (Schwartz, Berens, Snell). In: Nordost-Archiv NF 7/1 (1998), S. 173–193; ders.: Aufgeklärte Panegyrik. Zarenlobgedichte von Johann Gottfried Herder und Johann Gotthelf Lindner. In: Detering, Heinrich; Trilcke, Peer (Hg.): Geschichtslyrik. Ein Kompendium. Bd. 2. Göttingen 2013, S. 574–609; Bičevskis, Raivis; Taimiņa, Aija: Johann Georg Hamanns kameralwissenschaftliche Studien und Johann Christoph Berens’ Vision von Riga. Ein utopisches Projekt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Forschungen zur baltischen Geschichte 8 (2013), S. 127–144; Fischer, Rainer: „Eine Stadt, gegen die mein Vorurtheil nicht so stark als ihres ist...“. Hamanns freundfeindschaftliche Beziehungen zu Riga. In: Beetz, Manfred; Rudolph, André (Hg.): Johann

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die ausgehend von Mitau (Jelgava) und Riga in Verbindung mit dem preußischen Königsberg (Kaliningrad) maßgeblich in die deutsche und europäische Aufklärung hineinwirkten. So stand der Name Herders auch gleich bei einer der ersten einschlägigen Tagungen Pate für den Brückenschlag zwischen Deutschland und dem Baltikum.23 Es verwundert daher nicht, dass gerade die Aufklärung wiederholt im Zentrum von internationalen interdisziplinären Konferenzen zur baltischen Region stand, deren Forschungsergebnisse in maßgeblichen Sammelbänden dokumentiert wurden. Die bildungsgeschichtliche Dimension der Aufklärung kam bereits in dem Band Aufklärung in den baltischen Provinzen Russlands (1996) vielfältig zum Ausdruck, wurden doch nationale Identität, Volksbildung und Schulen, Selbstverwaltung und Vereine, Wohn- und Lebensbedingungen, Studenten, Hofmeister und Pastoren sowie Buch und Leser untersucht.24 Im Kontext der Aufklärung widmeten sich viele Untersuchungen der Dichotomie von regionaler Eigenart und überregionaler bzw. europäischer Verflechtung.25 Dabei bildete das ‚nationale Erwachen‘ zusammen mit der Entstehung der estnischen und lettischen Literatur einen Schwerpunkt als die wichtigste Entwicklung in der Region und als Bindeglied der ‚nationalen‘ Literaturen.26 Schon 1938 hatte Heinrich Schaudinn diese Phase als einen Bildungsprozess dargestellt.27 Die politische und kulturelle Emanzipation der Esten und Letten und der Kampf gegen die Leibeigenschaft fanden in neuerer Zeit einerseits im Konzept der Volksaufklärung28 (mit Garlieb Merkel als auffälligster Fi-

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Georg Hamann. Religion und Gesellschaft. Berlin-Boston 2012 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 45), S. 152–171. Vgl. Altmayer, Claus; Gutmanis, Armands (Hg.): Johann Gottfried Herder und die deutschsprachige Literatur seiner Zeit in der baltischen Region. Beiträge der 1. Rigaer Fachtagung zur deutschsprachigen Literatur im Baltikum 14. bis 17. September 1994. Riga 1997. Vgl. Elias/Jürjo/Kivimäe/Pistohlkors, Aufklärung in den baltischen Provinzen Russlands (wie Anm. 20). Vgl. Kronauer, Ulrich (Hg.): Aufklärer im Baltikum. Europäischer Kontext und regionale Besonderheiten. Heidelberg 2011 (Akademiekonferenzen 12); Kroll, Frank-Lothar (Hg.): Europäische Dimensionen deutschbaltischer Literatur. Berlin 2005 (Literarische Landschaften 6) sowie zuletzt Lukas/Pasewalck/Hoppe/Renner, Medien der Aufklärung – Aufklärung der Medien (wie Anm. 10). Einschlägig für die Untersuchung der estnischen Bildungsgeschichte sind Aivar Põldvee und Jaak Naber. Vgl. aus der Vielzahl ihrer Veröffentlichungen u. a. Põldvee, Aivar: Peasant Schools in Estland and Livland during the Last Quarter of the 17th Century. In: Ross, Kristina; Peteris, ­Vanags (Hg.): Common Roots of the Latvian and Estonian Literary Languages. Frankfurt/M. 2008, S. 61–99; ders.: Zwischen Pflug und Fibel. Bauernschulmeister und Leibeigenschaft in Est- und Livland im 17. Jahrhundert am Beispiel von Ignatsi Jaak und Bengt Adamson. In: Heyde, Jürgen (Hg.): Das Leben auf dem Lande im Baltikum. Lüneburg 2012, S. 231–269; Naber, Jaak: Volksbildung und Schulen der Esten in Est- und Livland im Zeitalter der Aufklärung. In: Elias/Jürjo/ Kivimäe/Pistohlkors, Aufklärung in den baltischen Provinzen Russlands (wie Anm. 20), S. 73–94. Vgl. Schaudinn, Heinrich: Deutsche Bildungsarbeit am lettischen Volkstum des 18. Jahrhunderts. ND Hannover-Döhren 1975 (orig. München 1937). Vgl. Taterka, Thomas: Das Volk und die Völker. Grundzüge deutscher Volksaufklärung unter Letten und Esten in den russischen Ostseeprovinzen Livland, Kurland und Estland (1760–1840).

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gur) und andererseits in der kolonialen Deutung29 Beachtung als wichtige Bausteine der konkreten regionalen Ausprägung, die der Entwicklung in deutschen Landen gegenübersteht. Während die koloniale Deutung einer völligen Abhängigkeit vom deutschen ‚Mutterland‘ für die frühneuzeitliche Literatur kritisch gesehen wurde,30 konnten in der Literatur des 20. Jahrhunderts postkoloniale Aspekte aufgedeckt werden.31 Vor dem Hintergrund der in der älteren Literatur und noch in Gero von Wilperts Deutschbaltischer Literaturgeschichte (2005)32 konstatierten ‚Verspätung‘ der deutsch-

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In: Siegert, Reinhart in Zusammenarbeit mit Peter Hoare und Peter Vodosek (Hg.): Volksbildung durch Lesestoffe im 18. und 19. Jahrhundert. Voraussetzungen – Medien – Topographie. Bremen 2012, S. 323–357; ders.: Aufgeklärte Volksaufklärung. Garlieb Merkel und die Entstehung des deutsch-lettischen Lesebuchs „Das Goldmacherdorf / Zeems, kur seltu taifa“ nach Heinrich Zschokke (1830). In: Kronauer, Aufklärer im Baltikum (wie Anm. 25), S. 17–56; Daija, Pauls: „... daß für das Wohl der lettischen Nation noch sehr viel zu thun übrig sey“. Die Umarbeitung von R. Z. Beckers „Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute“ als Versuch der Volksaufklärung in Lettland im 18. Jahrhundert. In: Schmidt, Hanno; Böning, Holger; Greiling, Werner; Siegert, ­Reinhart (Hg.): Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung. Bremen 2011, S. 157–178; Šemeta, Aiga: Die andere Aufklärung. Volksaufklärung im Baltikum im Spiegel livländischer und kurländischer Periodika der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Taterka, Thomas; Lele-Rosentāle, Dzintra; Pavīdis, Silvija (Hg.): Am Rande im Zentrum. Beiträge des 7. Nordischen Germanistentreffens. Riga 7.–11. Juni 2006. Berlin 2009, S. 32–42; Mattheus, Ave: Aufklärung in Estland und die deutsche Volksaufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Böning, Holger (Hg.): Volksaufklärung ohne Ende? Vom Fortwirken der Aufklärung im 19. Jahrhundert. Bremen 2018, S. 405–450. Vgl. Plath, Ulrike: Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Russlands. Fremdheitskonstruktionen, Lebenswelten, Kolonialphantasien 1750–1850. Wiesbaden 2011; Sommerlat-Michas, Anne (Hg.): Das Baltikum als Konstrukt (18–19. Jahrhundert). Von einer Kolonialwahrnehmung zu einem nationalen Diskurs. Würzburg 2015; Taterka, Thomas: Humanität, Abolition, Nation. Baltische Varianten des kolonialkritischen Diskurses der europäischen Aufklärung um 1800. In: Mix, York-Gothart; Ahrend, Hinrich in Zusammenarbeit mit Kristina Kandler (Hg.): Raynal – Herder – Merkel. Transformationen der Antikolonialismusdebatte in der europäischen Aufklärung. Heidelberg 2017, S. 183–251. Vgl. Klöker, Martin: Koloniales Modell und regionale Literatur. Die deutsch-livländischen Literaturbeziehungen der Frühen Neuzeit. In: Angermann, Norbert; Brüggemann, Karsten; PõltsamJürjo, Inna (Hg.): Die baltischen Länder und Europa in der Frühen Neuzeit. Köln-Weimar-Wien 2015, S. 37–66. Vgl. Saagpakk, Maris: Koloniale Identitätskonstruktionen in den Erinnerungen einer deutschbaltischen Adligen aus dem 20. Jahrhundert. In: Babka, Anna; Duncker, Axel (Hg.): Postkoloniale Lektüren. Perspektivierungen deutschsprachiger Literatur. Bielefeld 2013, S. 89–109; Lukas, ­Liina: Deutsch-estnische postkoloniale Mesalliancen. In: Pasewalck, Silke; Bers, Anna; Bender, Reet (Hg.): Zum Beispiel Estland. Das eine Land und die vielen Sprachen. Göttingen 2017, S. 95–110; dies.: Kultur als Scham: Zur Soziologie der Liebe aus postkolonialer Sicht. Eduard von Keyserling und Anton Hansen Tammsaare. In: Pesnel, Stéphane (Hg.): Erzählte Adelswelten. Zur Poetik Eduard von Keyserlings. Berlin 2020, S. 81–98. Wilpert, Gero von: Deutschbaltische Literaturgeschichte. München 2005.

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baltischen Literatur33 wurden intensiv die unterschiedlichen Modelle von kulturellem Transfer34 und Austausch,35 Kontakt,36 Wechselbeziehung37 und Verflechtung38 auf ihre Tauglichkeit hin erprobt, so dass die Entwicklungen im Baltikum mittlerweile deutlich differenzierter und im Kontext intensiver europäischer Verflechtung verstanden werden. Aktuell stehen mediale und praxeologische Fragestellungen im Fokus der Forschung.39 Eine Gesamtdarstellung zur Geschichte der baltischen Bildungsinstitutionen existiert nicht einmal in Ansätzen. Die baltischen Universitäten in Tartu, Riga und Vilnius erhielten jedoch 1987 in einem Sammelband eine gemeinsame Behandlung.40 Darüber hinaus gibt es eine relativ umfangreiche Forschung zu den einzelnen Universitäten, vor allem zu den älteren Gründungen Vilnius (1578) und Dorpat 33 Dieser Gedanke von der Verspätung durchzieht von Wilperts deutschbaltische Literaturgeschichte in vielen Facetten. Als Beleg sei folgende Aussage angeführt: „Von den großen geistesgeschichtlichen Bewegungen des 18. Jhs – Pietismus, Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang; Klassizismus und Romantik wirken sich erst im 19. Jahrhundert aus, Anakreontik und Rokoko gar nicht – erreichte der Pietismus die baltischen Lande noch vor 1700, [...]“ Ebd., S. 109. 34 Vgl. Baldes, Dirk; Vingre, Inta (Hg.): Deutsch-baltischer Kulturtransfer. Beiträge einer Tagung zur Perspektivierung der Nordosteuropäischen Literatur- und Kulturbeziehungen vom 3.–4. September 2012 in Daugavpils / Universität Daugavpils. Daugavpils 2013. 35 Vgl. Marti, Kulturaustausch (wie Anm. 21). 36 Vgl. Obst, Ulrich; Ressel, Gerhard (Hg.): Balten – Slaven – Deutsche. Aspekte und Perspektiven kultureller Kontakte. Festschrift für Friedrich Scholz zum 70. Geb. Münster 1999; Garber, Klaus; Klöker, Martin (Hg.): Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit. Mit ­einem Ausblick in die Moderne. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 87). Erwähnt sei außerdem Bosse, Heinrich; Elias, Otto-Heinrich; Taterka, Thomas (Hg.): Baltische Literaturen in der Goethezeit. Würzburg 2011, darin u. a. Jürjo, Indrek: Die Bildungsreformen und ‑diskussionen in Reval im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, S. 381–409. 37 Vgl. Schwidtal, Michael; Gutmanis, Armands (Hg.): Das Baltikum im Spiegel der deutschen Literatur. Carl Gustav Jochmann und Garlieb Merkel. Beiträge des Internationalen Symposions in Riga vom 18. bis 21. September 1996 zu den kulturellen Beziehungen zwischen Balten und Deutschen. Heidelberg 2001; Bičevskis, Raivis; Eickmeyer, Jost; Levans, Andris; Schaper, Anu; Spiekermann, Björn; Walter, Inga (Hg.): Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis 19. Jahrhundert. Medien, Institutionen, Akteure. 2 Bde. Heidelberg 2017/2019 (Akademie-Konferenzen 29). 38 Vgl. Journal of Baltic Studies 51/3 (2020): Entangled Cultures in the Baltic Region. Das Heft basiert auf Beiträgen, die im Rahmen des Projekts „Entangled Literatures: Discursive History of Literary Culture in Estonia“ (IUT28-1) des Under und Tuglas Literaturzentrums der Estnischen Akademie der Wissenschaften auf der Tagung „Entangled Literatures and Cultures: Systems of Relations, Intersections, Reciprocity“ unter Leitung von Eneken Laanes (Tallinn, 25.–26.05.2017) vorgetragen wurden. 39 Vgl. Lukas/Pasewalck/Hoppe/Renner, Medien der Aufklärung – Aufklärung der Medien (wie Anm. 10); Pasewalck/Weber, Bildungspraktiken der Aufklärung (wie Anm. 7); Hoffmann-Ocon, Andreas; De Vincenti, Andrea; Grube, Norbert: Praxeologie in der Historischen Bildungsforschung. Möglichkeiten und Grenzen eines Forschungsansatzes. Bielefeld 2020. 40 Vgl. Pistohlkors, Gert von; Raun, Toivo U.; Kaegbein, Paul (Hg.): Die Universitäten Dorpat/ Tartu, Riga und Wilna/Vilnius 1579–1979. Köln-Wien 1987.

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(1632),41 während für das Schulwesen zahlreiche Einzeldarstellungen vorliegen.42 Von einer noch zu Sowjetzeiten groß angelegten Schulgeschichte Estlands erschien lediglich der erste Band (bis 1860), mittlerweile ergänzt um einen Sammelband bis zum Jahre 1917.43 Über die lettische Schulgeschichte gibt es noch keine große zusammenhängende Studie.44 Auch fehlt bisher eine Gesamtdarstellung zur Geschichte der Schulen und Bildungsinstitutionen in Litauen. Aus der Reihe von Studien zu einzelnen historischen Perioden seien hier vor allem die Arbeiten von Meilė Lukšienė45 und Dangiras Mačiulis46 sowie die dreibändige historische Quellensammlung aus den 1990er Jahren erwähnt.47 Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht lassen sich dafür einige neuere Gesamtdarstellungen zur Bildungsgeschichte der baltischen Länder anführen.48 Im Kontext der größeren Region wird die baltische Bildungsgeschichte in dem von Anja Wilhelmi herausgegebenen Band Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen in Nordosteuropa (19. Jahrhundert) untersucht, allerdings nicht unter Einbeziehung philologischer Zugänge.49

41 Die Universität Riga entstand im 19. Jahrhundert und geht zurück auf das 1862 gegründete Polytechnikum. 42 Vgl. die einschlägigen Beiträge in: Kühn, Detlef (Hg.): Schulwesen im Baltikum. Elf Beiträge zum 10. Baltischen Seminar 1998. Lüneburg 2005; Deutschbaltisch-Estnischer Förderverein (Hg.): Bildungsgeschichte im Baltikum. 7. Baltisches Seminar in Libau/Liepāja, Lettland an der Universität vom 27. bis 29. April 2009. Berlin/Charlottenburg 2010. 43 Vgl. Laul, Endel (Hg.): Eesti kooli ajalugu. 1 köide: 13. sajandist 1860. aastateni [Geschichte des Schulwesens Estlands. Bd. 1: 13. Jahrhundert bis 1860]. Tallinn 1989; Liim, Allan (Hg.): Haridus institutsioonid eestis keskajast kuni 1917. aastani [Die Bildungsinstitutionen Estlands seit dem Mittelalter bis zum Jahr 1917]. Tartu 1999. 44 Unter den Einzelstudien seien exemplarisch herausgehoben: Guleke, Johann Heinrich: Geschichte des livländischen Volksschulwesens. Lüneburg 1997 (Beiträge zur Schulgeschichte 6) mit einem Vorwort von Vija Daukštes sowie Räder, Wilhelm: Die Lehrkräfte an den deutschen Schulen Kurlands: 1805–1860. Überarb. von Erik Amburger. Lüneburg 1991 (Beiträge zur Schulgeschichte 3 / Schriften der Baltischen Historischen Kommission 3). 45 Vgl. Lukšienė, Meilė: Demokratinė ugdymo mintis Lietuvoje: XVIII a. antroji-XIX a. pirmoji pusė [Der demokratische Bildungsgedanke in Litauen. Von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts]. Vilnius 1985. Darin geht es um die Bildung unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten (Adlige, Klerus, Bauern), einzelne einflussreiche Akteure des Bildungswesens und die Bildungsreformen allgemein. 46 Vgl. Mačiulis, Dangiras: Tautinė mokykla: žvilgsnis į tautininkų švietimo politiką [Die völkische Schule: Ein Blick auf die Bildungspolitik von Tautininkai]. Vilnius 2017. 47 Vgl. Lietuvos mokykla ir pedagoginė mintis: istorijos šaltinių antologija [Die Schule Litauens und der pädagogische Gedanke. Eine Anthologie historischer Quellen]. 3 Bde. Vilnius 1994–1996. 48 Vgl. Baltic Association of Historians of Pedagogy (Hg.): History of Education and Pedagogical Thought in the Baltic Countries up to 1940. An Overview. Riga 2009; dies. (Hg.): History of Pedagogy and Educational Sciences in the Baltic Countries from 1940 to 1990. An Overview. Riga 2013; dies. (Hg.): Pedagogy and Educational Sciences in the Post-Soviet Baltic States, 1990–2004: Changes and Challenges. Riga 2020. 49 Vgl. Wilhelmi, Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen (wie Anm. 5).

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Hervorhebung verdient die über Jahrzehnte intensiv verfolgte, vielfältige ­Forschung von Arvo Tering zur Geschichte der baltischen Studenten an europäischen Universitäten, die in einer umfangreichen Monographie und einem biographischen Lexikon mit etwa 6.000 Einträgen dokumentiert ist.50 In diesen beiden Werken liegt ein beispielhaftes Fundament für die bildungsgeschichtlichen Verbindungen des Baltikums in Europa vor, wobei zugleich mannigfaltige Informationen über das baltische Schulwesen enthalten sind. Schließlich muss auf das noch im Entstehen begriffene, auf acht Bände angelegte Werk Balti kirjakultuuri ajalugu (Geschichte der Baltischen literarischen Kultur) hingewiesen werden, das seit mehreren Jahren im internationalen interdisziplinären Zusammenwirken vorbereitet wird und jetzt unter Leitung von Liina Lukas in Tartu entsteht. Der erste Band zu den „Zentren und Trägern“ der literarischen Kultur wurde soeben vorgelegt und enthält neben dem Kapitel zu Schule und Bildung („Koolid ja haridus“) vielfältige Hinweise zu den bildungsgeschichtlichen Grundlagen.51 Für die ‚baltischen Bildungsgeschichten‘ wird darüber hinaus jedoch insbesondere der Band zu Bildung und Wissenschaft („Haridus ja teadus“) einschlägig sein. * Unser Band zu den Baltischen Bildungsgeschichte(n) ist in vier Teile untergliedert: In der ersten Rubrik werden maßgebliche Bildungskonzepte untersucht, in der zweiten ausgewählte Institutionen; die dritte Rubrik wendet sich zentralen Akteuren der Bildung und die vierte schließlich dem Verhältnis von Bildung und Literatur zu. Diesen vier Rubriken vorangestellt ist der einleitende Impulsvortrag von Heinrich Bosse, der mit seinen vielfältigen Anknüpfungen und Verweisen übergreifend das Feld der baltischen Bildungsgeschichte abschreitet. Weit über den Titel Ständische Bildung in den russischen Ostseeprovinzen im 18. Jahrhundert hinaus behandelt er die Zusammenhänge der Bildung im Baltikum und schafft damit viele Anknüpfungspunkte, die in anderen Beiträgen des Bandes aufgegriffen werden. Es handelt sich um den verschriftlichten Vortrag, den Heinrich Bosse in der Aula der Universität Tartu zur Tagungseröffnung gehalten hat und der in der Nähe zum gesprochenen Wort eine Reminiszenz an die Tagung ist, die der Band nicht in Gänze abbildet. Der mündliche Vortragsduktus wurde bewusst beibehalten, der Text aber gegenüber dem Vortrag leicht überarbeitet und seitens des Autors kritisch revidiert. 50 Vgl. Tering, Arvo: Eesti-, liivi- ja kuramaalased Euroopa ülikoolides 1561–1798 [Est-, Liv- und Kurländer an den Universitäten Europas 1561–1798]. Tartu 2008; ders. unter Mitarbeit von Jürgen Beyer (Bearb.): Lexikon der Studenten aus Estland, Livland und Kurland an europäischen Universitäten 1561–1800. Köln-Weimar-Wien 2018 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 28). 51 Vgl. Lukas, Liina (Hg.): Balti kirjakultuuri ajalugu I: Keskused ja kandjad [Geschichte der baltischen literarischen Kultur. Bd. 1: Zentren und Träger]. Tartu 2021.

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I. Konzepte der Bildung (Ideologien, Diskurse, Narrative) Die konzeptuellen Grundlagen von Bildung stehen im Zentrum der ersten fünf Beiträge, wobei die Verflechtungen von erkenntnistheoretischen Erziehungs- und Bildungskonzepten, bildungspolitischen Rahmenbedingungen und pädagogischer Praxis sowie die historischen Zusammenhänge vom 18. Jahrhundert bis heute offenkundig werden. Allerdings nähern sich die Autorinnen und Autoren diesen Fragen aus unterschiedlichen Richtungen und mit einem vertieften Blick auf verschiedene historische Epochen und Länder. Zunächst untersucht Hans Graubner die anthropologische Differenz zwischen den frühen Erziehungs- und Bildungskonzepten bei Hamann (1730–1788) und Herder (1744–1803). Er reflektiert an diesem Beispiel einen für den gesamten Band maßgeblichen Aspekt: die der Erziehung und Bildung inhärente Gewalt, die darin zutage tritt, dass zwischen Erziehendem und Zögling, zwischen Bildendem und zu Bildenden immer eine gleichsam ‚gewaltsame‘ Beziehung besteht, ein Machtgefälle zwischen demjenigen, der nach seinen Bildungsvorstellungen zu formen sucht, und demjenigen, der geformt werden soll. Die unterschiedlichen Bildungsauffassungen von Hamann und Herder, insoweit sie ihren Blick auf den zu bildenden Menschen betreffen, werden eingehender am Beispiel der Bildungspolitik Peters des Großen und ihrer Bewertung erläutert. Obgleich den besprochenen Erziehungskonzepten der beiden Autoren die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen zugrunde liegt, lassen sich in ihrer Pädagogik klare Differenzen im Hinblick auf die Selbstbildung und Selbsterkenntnis des Menschen und die Erziehungskonstellation zwischen Lehrer, Stoff und Schüler erkennen. Mit Peter dem Großen beschäftigt sich auch der anschließende Artikel von Ljubov Kisseljova, in dem die Autorin das Bild des Zaren und Reformers in historischen Lehrwerken Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts untersucht. Tatsächlich sind die Gymnasien des Zarenreichs im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert für die baltischen Provinzen von besonderer Bedeutung, denn im Zuge der Russifizierung wurden auch im Baltikum die Lehrpläne und Lehrbücher an jene aus den Zentren des Zarenreiches angeglichen, wodurch die konzeptuelle Entwicklung der Schulen und somit die Ausbildung der ­baltischen Eliten geprägt wurde. Kisseljova stellt die Probleme der Integration der staatlich vorgegebenen Geschichtsnarrative in Schulbüchern dar, wobei sie auf die inneren Spannungen der Herrschaftsdoktrin hinweist, so etwa die Frage nach der Beziehung des Russischen Reichs zu Europa in der Epoche Peters des Großen oder der absoluten Macht des Zaren und seinem Personenkult. Der Vergleich mehrerer Geschichtslehrwerke, verfasst von namhaften Historikern, praktizierenden Gymnasiallehrern und politischen Aktivisten, ermöglicht Einblicke nicht nur in die Herrschaftsideologien des Russischen Reichs, die offiziellen Geschichtsmuster der Stalin-Ära, sondern auch in die aktuellen politisch-

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ideologischen Auseinandersetzungen in Russland, die nicht selten die damaligen imperialen Geschichtsnarrative aufgreifen. Rūta Eidukevičienės Beitrag konzentriert sich auf die fachpädagogischen Austauschprozesse zwischen Litauen und den deutschsprachigen Ländern in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Der junge unabhängige Staat strebte bei der Reformierung seines Bildungssystems an, möglichst schnell das Erbe des russischen Schulsystems abzuschaffen und ein eigenes Schulsystem aufzubauen, das sich stärker an westlichen Vorbildern orientieren sollte, wobei auch die deutschsprachigen Länder eine wichtige Rolle spielten. Eidukevičienė führt hierfür Studienaufenthalte litauischer Intellektueller oder auch Exkursionen litauischer Bildungsexperten nach Deutschland an und untersucht mehrere dem deutschen Schulsystem, theoretischen Ansätzen bekannter deutscher Pädagogen oder der aktuellen deutschen Bildungspolitik gewidmete Artikel, die damals in litauischen Fachzeitschriften erschienen sind. Der Autorin geht es in erster Linie darum, die auf deutsche Einflüsse bezogenen fachspezifischen Diskussionen in den 1920er und 1930er Jahren zu skizzieren und die Rezeption einiger Bildungskonzepte aus den deutschsprachigen Ländern am Beispiel von führenden litauischen Pädagogen zu erläutern. Die darauffolgenden Beiträge führen in die Gegenwart und beleuchten die heutigen bildungspolitischen Rahmenbedingungen in Estland und Lettland. Kairit Kaur diskutiert die Herausforderungen der Vermittlung der deutschbaltischen literarischen Kultur am Beispiel estnischer Schulen, wobei sie sich auf die Ergebnisse einer im Jahr 2016 durchgeführten Deutschlehrerinnen-Umfrage und ein Interview bezieht. Sie verweist auf das allgemein gestiegene Interesse an dem ­deutschbaltischen Erbe in Estland nach 1991, stellt aber bei den befragten Deutschlehrerinnen eine gewisse Skepsis fest, die deutschbaltische Literatur in den Unterricht zu integrieren, was mit Zweifeln an der literarischen Qualität der Texte, den unzureichenden Fremdsprachenkenntnissen der Schülerinnen und Schüler sowie mit einer immer noch bestehenden Betrachtung dieser Texte als einer Art Kolonialliteratur erklärt wird. Kaurits Beitrag regt zu einem Überdenken des Potentials dieser Überlieferung im aktuellen Schulunterricht an und liefert Vorschläge zu einer schülergerechten Herangehensweise an deutschbaltische Texte und Diskurse. Heiko F. Marten und Sanita Martena zeigen mit ihrem Beitrag, wie eng sprachund bildungspolitische Fragen miteinander in Verbindung stehen, indem sie die Rolle diskutieren, die die Regionalsprache Lettgallisch als eine Varietät des Lettischen im Bildungssektor spielt. Sie beziehen ihre Bemerkungen zur gesellschaftlichen Entwicklung des Lettgallischen und zu seinem heutigen Stellenwert in Lettland auf internationale Diskussionen zu Regional- und Minderheitensprachen und zeigen die Tendenzen der letzten Jahre auf, das Lettgallische nicht nur in Lettgallen, sondern auch außerhalb der Region allmählich aufzuwerten. Obwohl es nach wie vor keine offizielle Anerkennung des Lettgallischen gibt, wird seine herausragende Bedeutung für die regionale Identität und Kultur betont. Der Beitrag geht auch auf

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aktuelle Debatten in der Bildungspolitik ein und berichtet von der Ausarbeitung neuer Lehrstandards für die staatlichen Schulen in Lettland, wobei in dem Zusammenhang einzelne offizielle Maßnahmen zur Aufwertung des Lettgallischen im Bildungssystem und in anderen offiziellen Kontexten diskutiert werden.

II. Institutionen der Bildung (Schule, Gerichtsstube, Universität) Die Geschichte der Bildung ist nicht losgelöst von den seit der Antike unternommenen Versuchen ihrer Institutionalisierung zu betrachten. Während bis ins 18. Jahrhundert insbesondere Bildungs­ein­richtungen gegründet worden waren, die auf die Bildung und Erziehung höherer Schichten abzielten, markiert das 18. Jahrhundert mit seinen vielfältigen pädagogischen Ideen und Reformvorhaben ­einen Wendepunkt: Nunmehr geht es auch um die Bildung und Erziehung unterer Schichten. Eine der Schlüsselfiguren ist August Hermann Francke (1663–1727), der mit der Gründung einer Armenschule und eines Waisenhauses, später auch eines Pädagogiums und weiterer Bildungseinrichtungen ab 1695 eine auch über die Grenzen des Deutschen Reiches hinaus ausstrahlende Schulstadt pietistischer Prägung in Glaucha bei Halle an der Saale aufbaute. Halle wird im Bildungs- und Fürsorgewesen nicht nur Vorbild für Armenschulen und Waisenhäuser in Europa und sogar in Übersee, sondern wirkte sich auch prägend auf die Herausbildung des Lehrerberufs aus. Dass die Strahlkraft des Halleschen Pietismus und seiner Bildungsinitiativen bis ins Baltikum wirkte, verdeutlichen die ersten beiden Aufsätze dieser Rubrik: Während Beata Paškevica in ihrem Beitrag die herrnhutische Lehrerausbildungsstätte der Pietistin Magdalena Elisabeth von Hallart im lettischen Wolmar (1738–1743) ins Zentrum stellt, untersucht Michael Rocher das Waisenhaus in Alp als ‚pietistisches‘ Zentrum. Sowohl das Lehrerseminar wie auch die weiteren von Hallart gegründeten Bildungseinrichtungen in Wolmar (Valmiera) als auch das Waisenhaus im estnischen Alp (Albu) können als ‚pietistische Bildungsoffensiven‘ bezeichnet werden, die in engem Austausch mit August Hermann Francke entstanden. Das Lehrerseminar in Wolmar, dem unter anderem die Gründung einer Schule für lettische Bauern in Wolmarshof vorausging und das sich ebenfalls der Bildung der lettischen Erbuntertänigen widmete, zeugt dabei vom Einfluss einer weiteren pietistischen Bewegung, nämlich der der Herrnhuter Brüdergemeine. Beata Paškevica akzentuiert jedoch nicht nur die Gründungsgeschichte des Seminars im Spannungsfeld zwischen dem Pietismus Hallensischer und Herrnhuter Prägung, sondern sucht auch seine Bedeutung für die nationale Emanzipation der Letten herauszustellen. Nach nur kurzer Zeit unterrichteten Schüler des Seminars an nahe gelegenen Bauernschulen. Mit dem Waisenhaus in Alp untersucht Michael Rocher ebenfalls eine durch Halle inspirierte und von August Hermann Francke unterstützte Bildungsinitiative, die allerdings, wie Rocher verdeutlicht, weniger an den pietistischen Ideen orientiert

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war als vielmehr am wirtschaftlichen Erfolg Halles. Rocher zeigt zudem auf, dass das Waisenhaus nichtsdestotrotz pietistische Ideen umsetzte, da es auf Lehrkräfte aus Halle angewiesen war. Francke spannte so sein Einflussnetz, mehr noch, er nutzte die Nähe von Baron Magnus Wilhelm von Nieroth (1663–1740), dem Stifter von Alp, zu Peter dem Großen, um seinen Einfluss auszuweiten. Neben Schulen und Lehrerseminaren spielt auch das Gerichtswesen eine nicht zu unterschätzende Rolle als Bildungsinstitution, wie Marju Luts-Sootak in ihrem Beitrag zur Gerichtsbarkeit über die bäuerlichen Rechtssachen in Est- und Livland im 19. Jahrhundert herausarbeitet. Am Beispiel der bäuerlichen Gerichte zeigt sie auf, dass die Bauern­befreiung und die folgenden Agrarreformen mit einer ‚Erziehung zur rechtlichen Mündigkeit‘ einhergingen, die die vormals leibeigene bäuerliche Bevölkerung an die Ausübung ihrer Rechte als Bürger heranführte. Insofern fungierten die bäuerlichen Gerichte als Bildungsanstalten. Nach der Livländischen Bauernverordnung von 1860 hatten sie Schlichtungsverfahren durchzuführen und trugen dazu bei, dass die Menschen Konflikte vor Gericht austrugen, ihre Anliegen argumentativ untermauerten und insgesamt in Verfahrensfragen eingeführt wurden. Abgerundet wird die Rubrik durch einen Beitrag von Markus Käfer zum Bildungsprogramm der 1802 wiedergegründeten Universität Dorpat, die ganz im Sinne der – durch den gerade angetretenen Zar Alexander I. befürworteten – Aufklärung das Individuum, Humanität und Autonomie in den Mittelpunkt stellte. Dies zeigt Käfer anhand von Statuten, Reden, Antrittsvorlesungen und Berufungen, wobei er die Konfliktlinien zwischen den meist noch den ständischen Prinzipien anhängenden Ritterschaften und der Professorenschaft nachzeichnet, die den jungen Zaren auf ihrer Seite wussten, der die Universität Dorpat als Vorbild für weitere Universitätsgründungen und als „Brücke zwischen Ost und West“ (S. 218) etablieren wollte. Käfer widmet sich in seinem Beitrag insbesondere dem in den Schriften deutlich werdenden Bild des Studenten, der in seiner Individualität gefördert und zu Selbsterkenntnis und Selbstbildung geführt werden sollte. Das Bildungsprogramm der Universität Dorpat rundet damit die insgesamt in dieser Rubrik nachgezeichnete aufklärerische Bildungsgeschichte als ihr (vorläufiger) Höhepunkt ab. Gleichzeitig weist sie mit ihrem starken Fokus auf das Individuum bereits auf die folgende Rubrik voraus, in der nun nicht mehr Institutionen der Bildung, sondern einzelne Akteure im Mittelpunkt stehen.

III. Akteure der Bildung (Pädagogen, Schriftsteller, Pastoren, Familien) Im Anschluss an die Institutionen der Bildung suchen die hier versammelten sechs Aufsätze dem Beitrag einzelner Menschen und/oder Familien zur Bildungsgeschichte des Baltikums nachzugehen, wobei ein Bogen vom 16. bis ins 19. Jahrhundert gespannt wird.

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Martin Klöker stellt mit Heinrich Vestring (1562–1650) einen Reformer des Revaler Schulwesens vor, wobei er erstmals die Quellenbelege für seine Biographie und sein Wirken versammelt und seiner Tätigkeit in Kirche und Schulwesen Revals (Tallinns) nachgeht. Dass Vestring nicht nur als Superintendent ab 1626 wichtige Verdienste zukamen, sondern auch als Rektor der Revaler Stadtschule, zeigt Klöker anhand der auf Vestring zurückgehenden Schulordnung von 1603. Sein Reformwerk wurde allerdings durch die Pest und die einhergehende prekäre Lage der Stadt aufgehalten, in deren Zuge Vestring neben der Schulleitung auch die Diakonate an St. Nikolai und St. Olai zu versehen hatte. Die Bildungsidee Vestrings, derzufolge Erziehung und Bildung insbesondere der Herausbildung rechter Frömmigkeit dienen sollten, arbeitet Klöker auch anhand der von Vestring mitverfassten Kirchenordnung (1606) heraus. Wie sehr Schul- und Kirchenamt Hand in Hand gingen, lässt sich auch daran ersehen, dass Vestring 1608 zum Pastor von St. Olai, 1611 zum Schulinspektor berufen und schließlich 1626 zum Superintendenten befördert wurde. Klöker zeichnet Vestring als Mittlerfigur, der durch „nach Innen gerichtete, reformerische und gestalterische Arbeit des beständigen Aufbauens und Ordnens“ (S. 260) überzeugte und auch konträre Haltungen zur Versöhnung brachte. Mit Garlieb Merkel (1769–1850) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) werden im nächsten Beitrag weniger Versöhner denn streithafte Persönlichkeiten berührt. Ulrich Kronauer zeichnet Merkels Rousseau-Rezeption zunächst in seinen frühen Erzählungen, dann in erster Linie in seinem Versuch über Leibeigenschaft nach, wobei er grundlegende Unterschiede im Menschenbild von Merkel und ­Rousseau herausstellt. Während Rousseaus Mitleidskonzept auf einem von Humanität getragenen Menschenbild fußt, geht Merkel von einem negativen Bild des Menschen aus, der – von seinen Leidenschaften beherrscht – zu Brutalität neigt. Garlieb Merkel ist durch sein Engagement gegen die Leibeigenschaft im Baltikum eine vor allem regional bekannte Persönlichkeit, wohingegen mit Jakob ­Michael Reinhold Lenz (1751–1792) ein überregional bekannter Schriftsteller, einer der wichtigsten Stürmer und Dränger im Zentrum des Aufsatzes von Gregor Babelotzky steht. Der Verfasser nimmt allerdings nicht dessen Dramen oder theoretische Schriften in den Blick, sondern dessen Verhältnis zum Vater und die von diesem grundlegend differierende Sicht auf den Menschen. Babelotzky porträtiert zunächst den Bußprediger Christian David Lenz (1720–1798), der als Generalsuperintendent Livlands und als Pastor der Johanniskirche in Dorpat (Tartu) wirkte, um daraufhin den theologischen Konflikt zwischen Vater und Sohn herauszuarbeiten. Zwar habe sich auch Jakob Lenz als Prediger verstanden, doch vielmehr im Geiste der Aufklärung und der Literatur, wobei es ihm vor allem darum gegangen sei, als literarischer Prediger Menschen zu überzeugen und nicht zu belehren. Seinen Dissens zum Vater verarbeitete Lenz auch literarisch, etwa in der Erzählung Der Landprediger, die Babelotzky als Emanzipationsgeschichte des Sohnes von der auf

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Bekehrung zielenden Tätigkeit des Vaters liest. Sein aufklärerisches Bildungskonzept habe dagegen auf „Ermunterung“ (S. 296) gesetzt. Mit dem „Verständnis von Bildungsvermittlung“ beschäftigt sich auch Anja Wilhelmi in ihrem Beitrag über deutschbaltische Pastoren und ihre Lehr- und Lernverhältnisse zu estnischen und lettischen Gemeindemitgliedern im 19. Jahrhundert. Sie untersucht dabei eine Reihe von autobiographischen Schriften von Pastoren vor allem aus dem ländlichen livländischen Raum, die den Zeitraum vom frühen 19.  Jahrhundert bis zur Revolution 1905/1906 abdecken, insbesondere im Hinblick auf ihr Bildungs­verständnis. Dabei arbeitet sie heraus, dass die Pastoren durchweg einem voraufklärerischen Bildungsbegriff anhingen, demzufolge Bildung den Glauben stärke und nicht etwa der Emanzipation, dem sozialen Aufstieg oder der Persönlichkeitsentfaltung diene. Insofern kommt Wilhelmi auch zu dem Schluss, dass keiner der untersuchten Pastoren in Bezug auf die nationalen Bestrebungen der estnischen oder lettischen Bevölkerung das vorherrschende, auf der ständischen Ordnung fußende Selbstbild der kulturellen und religiösen Überlegenheit zu überwinden vermochte. Valérie Leyh rückt mit der Familie von Medem den Fokus auf Kurland und deren bedeutendste Familie, aus der etwa Dorothea von Kurland (1761–1821) und die Schriftstellerin Elisa von der Recke (1754–1833) hervorgingen. Der Aufsatz geht auf Basis des Briefnachlasses von Elisa von der Recke der Frage nach den Zielen und dem Einfluss der Familie in Bildungsfragen nach. Leyh arbeitet heraus, dass die Protagonisten der Familie, etwa auch Dorothea von Kurland und von der Recke selbst, zwar auf persönlichen Bildungszuwachs setzten und vereinzelt Bildungsbestrebungen Einzelner förderten, jedoch bezogen auf die Gesamtsituation von Kurland in bildungspolitischer und damit letztlich auch in sozialer Hinsicht wenig bewirkten, was in erster Linie auch darauf zurückzuführen ist, dass sie ihre koloniale Denkweise nicht überwinden konnten. Eine weitere Familie, nämlich die Familie Kügelgen, steht im Mittelpunkt des diese Rubrik beschließenden Beitrags von Anton Philipp Knittel. Anhand verschiedener, vor allem autobiographischer Schriften, die zum Teil großen Erfolg beim Publikum fanden, demonstriert er, wie sehr die Familie und einzelne Familienmitglieder über Generationen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert durch bildungsbürgerliche Signaturen ihrer Zeit geprägt waren und – wie bereits das titelgebende Zitat verdeutlicht – „[d]urch die Macht der Verhältniße zur Ordnung gezwungen“ wurden. Die ganz der Zeit verhafteten Erinnerungen, Tagebücher und Briefe zeigen die Familie in einer doppelten vermittelnden Funktion zwischen dem baltischen Adel, den Literaten und den Künstlern sowie dem Baltikum, Russland und Deutschland. Während Valérie Leyh nach den Bildungsanstrengungen und Bildungsprogrammen des Adels fragt, betrachtet Anton Philipp Knittel stärker die Selbstbildung und somit die bildungsbürgerlichen Züge einer baltischen Familie(ndynastie).

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IV. Bildung in der Literatur (Genres, Geschichten, Reflexionen) Die letzten fünf Beiträge beschäftigen sich mit Werken der Literatur – vom 18. Jahrhundert über die Sowjetzeit bis heute. Ebenso breit ist die Palette der besprochenen Gattungen, wobei auch das unterschiedliche Bildungspotential der literarischen Texte deutlich wird, je nach Entstehungskontext, dem beruflichen Hintergrund der Autorinnen und Autoren und ihren poetologischen Intentionen. Ruth Florack untersucht die aus mehr als dreihundert Titeln bestehende Sammlung von Johann Friedrich von Recke (1764–1846), der als Jurist im Dienst des Kurländischen Hofes in Mitau (Jelgava) tätig war und als Altertumsforscher und gelehrter Sammler eine wichtige Rolle für die Aufklärung im Baltikum spielte. Der Beitrag gibt einen Überblick über die zumeist aus dem Kurland des 18. Jahrhunderts stammenden Gelegenheitsschriften unterschiedlichster Autoren im Hinblick auf ihren Entstehungsanlass, verwendete Sprachen, Funktionen und Gestaltung. Darauf aufbauend wird eine repräsentative Auswahl an Epithalamien (Hochzeitsgedichten) vom Beginn des 18. Jahrhunderts, die weitgehend der barocken Tradition verpflichtet sind, und aus der zweiten Jahrhunderthälfte, die in ihrer Form und Motivik auf die Empfindsamkeit verweisen, vergleichend analysiert. Zugleich wird auch die Relevanz dieser Überlieferung als Dokumentation einer geselligen literarischen Praxis im Baltikum und als Ausweis der Selbstvergewisserung der gebildeten deutschsprachigen Elite deutlich gemacht. Alina Kuzborskas Beitrag widmet sich dem Leben und Werk von Kristijonas Donelaitis (1714–1780), dem ostpreußischen Pfarrer und Verfasser der bekannten Versdichtung Metai (Die Jahreszeiten) und rückt diverse Polaritäten und Dichotomien seines literarischen Schaffens in den Fokus der Analyse. Am Beispiel von Metai zeigt die Autorin, dass Donelaitis die literarischen Bilder des Landlebens im 18. Jahrhundert auf zwei Achsen ansiedelte: Die unbestreitbare göttliche Macht an der Spitze der Vertikale war maßgeblich für das horizontal situierte Menschenleben, von dem aus der Allmächtige gepriesen wurde. Die Natur spielte dabei eine entscheidende Rolle als Mittlerin zwischen Gott und der Welt der Bauern, die durch ihr tägliches Tun den göttlichen Plan und den gesellschaftlichen Vertrag erfüllen mussten. Auch hier wird deutlich, dass das literarische Werk von Donelaitis nur im Kontext seines Kirchenamts in einer deutsch-litauischen Gemeinde, seiner aufklärerischen Didaxe bzw. seiner Bildungsabsichten erschlossen werden kann. Benedikts Kalnačs untersucht die Darstellungen von Riga um 1900 anhand der Texte zweier lettischer Autoren, Augusts Deglavs (1862–1922) und Jānis Poruks (1871–1911), im Hinblick auf Spannungen zwischen Sprachen, Ethnien und Kulturen im modernen urbanen Raum. Der Vergleich der ästhetischen ­Ansichten und Schreibweisen, zum Teil auch der didaktischen Absichten der beiden ­Autoren ermöglicht Einblicke in das soziale Milieu und die kulturellen Tendenzen der Großstadt der damaligen Ostseeprovinz des Russischen Zarenreiches. Eine genaue Analyse der

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literarischen Reflexion des sich wandelnden Stadtlebens bzw. der städtischen Gesellschaft unter neuen politischen Bedingungen und die Differenzierung der gewohnten Perspektiven führt auch zu einer Neubewertung der literarischen Szene im Riga der Jahrhundertwende. Zugleich finden im städtischen Umfeld die Prozesse der Erfindung bzw. Bildung des eigenen Selbst statt, die insbesondere am Beispiel von Poruks’ Protagonisten deutlich zutage treten. Der anschließende Beitrag von Lina Užukauskaitė geht der Frage nach, was unter ‚äsopischer‘ Sprache im baltischen Kontext zu verstehen ist und inwieweit dieses in der litauischen Literatur der Sowjetzeit häufige Phänomen als ein Bildungsinstrument der Schreibenden angesehen werden kann. Am Beispiel der Texte von Tomas Venclova (geb. 1937), Marcelijus Martinaitis (1936–2013), Vladas Braziūnas (geb. 1952) und Janina Degutytė (1928–1990) zeigt die Autorin die Verschlüsselungs­mechanismen und das kritische Potential der ‚äsopischen‘ Sprache in Zeiten der totalen Zensur auf, wobei auch das Verhältnis von Schreibenden und Lesenden, insbesondere was die Möglichkeiten und Grenzen der Entschlüsselung dieser Texte durch die Leser damals und heute betrifft, eingehend diskutiert wird. Wurde die ‚äsopische‘ Sprache bereits in der Sowjetzeit vor allem von der gebildeten Leserschaft rezipiert und verstanden, die immerhin mit den Schreibenden das Wissen über das sowjetische System wie auch das subversive Denken teilten, so ist die zur Diskussion gestellte Frage berechtigt, ob und inwieweit die verschlüsselten Bedeutungen in einem veränderten historisch-kulturellen Kontext erkennbar bleiben und zur Bildung des kritischen Denkens beitragen können. Auch im Beitrag von Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck stehen literarische Texte im Zentrum, die in der Sowjetzeit verfasst und im Bewusstsein drohender Zensur veröffentlicht wurden. Jedoch erlaubt die Beschäftigung mit dem Werk des estnischen Schriftstellers Jaan Kross (1920–2007), einen zeitlichen Bogen in die Vergangenheit zu schlagen und zu verdeutlichen, welche Bedeutung der Bildung in der estnischen Kulturgeschichte zukommt. Die Analyse von literarisch inszenierten Bildungsgeschichten in Kross’ Erzählwerk konzentriert sich auf zwei historische Erzähltexte, deren Geschichten beide in der Epoche der Aufklärung spielen, nämlich die Novelle Die Immatrikulation des Michelson (1971, dt. 1985) und der Roman Die Frauen von Wesenberg oder Der Aufstand der Bürger (1982, dt. 1997). Dabei wird die These diskutiert, dass in Kross’ Texten dem Paradigma Bildung eine Ambivalenz eingeschrieben ist: Die Bildung eröffnet zwar die Möglichkeit der Überschreitung von ethnischen und Standesgrenzen, aber dem Aufsteigenden droht dadurch der Verlust seiner Herkunft bzw. Identität, wobei sich letztlich auch die Hoffnung auf den gesellschaftlichen Aufstieg als Illusion erweist. Somit spricht der Beitrag von Neidlinger und Pasewalck das breite Themenspektrum des Sammelbandes an, indem er aufzeigt, wie die aufklärerischen Ideale, die die deutsche und russische Elite in den Ostseeprovinzen mit Hilfe von verschiedenen, in den vorherigen Kapiteln besprochenen Medien, Akteuren und Institutionen der Bildung umsetzen, sich an

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den realen Bedingungen der Ständegesellschaft brechen und wie dies zweihundert Jahre später literarisch reflektiert wird. * Im Anschluss an die Aufsatzbeiträge sind drei Dokumente zur Tartuer Tagung, die vom 19. bis 22. September 2016 stattfand, abgedruckt: das vollständige Tagungsprogramm, das offenkundig macht, wie groß angelegt und weit gefächert die internationale Konferenz gewesen ist und unter Mitwirkung welcher Akteurinnen und Akteure sie stattgefunden hat; eine Gesprächsrunde, zu der Liina Lukas, Professorin für Komparatistik an der Universität Tartu und Co-Leiterin einer der Tagungssektionen, eingeladen hatte und die am 16. September 2016 in der estnischen Kulturzeitschrift SIRP abgedruckt worden ist. Und schließlich ein Tagungsbericht von Elina ­Adamson, damals Doktorandin der Tartuer Germanistik, der seinerzeit im Triangulum, dem Germanistischen Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen 2016, erschienen ist. Diese drei Dokumente verdeutlichen in der Kombination mit den hier versammelten Beiträgen nicht nur, wie weit der thematische Bogen von der Vergangenheit bis in die unmittelbare Gegenwart aufgespannt und wie facettenreich die Analysen der Baltischen Bildungsgeschichte(n) waren (und sind), sondern zugleich, wie fruchtbar und nachhaltig das Gespräch und die Diskussion in diesem großen internationalen Kreis von Fachleuten insbesondere durch die vielen, zumeist leicht erkennbaren Verflechtungen fortgewirkt haben und hoffentlich weiter fortwirken.

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Ständische Bildung in den russischen Ostseeprovinzen im 18. Jahrhundert Es ist für mich ein besonderer Augenblick. Ich stehe zum ersten Mal in meinem Leben in dieser Aula, in der mein Vater gesessen hat, mein Großvater, mein Urgroßvater, und der Vater meines Urgroßvaters, der in Dorpat (Tartu) Jura studiert hat, 1812 bis 1814. Insofern ist das für mich auch persönlich ein geschichtsbeladener Ort. Auf der anderen Seite stehe ich hier als jemand, der eigentlich nur die deutsche und die englische Sprache beherrscht, nicht das Estnische oder das Lettische. Das heißt, ich spreche zu Ihnen als den heimischen Experten und bin jemand, der von außen kommt, ein Gast, wenngleich geschichtsbeladen. Ich werde versuchen, möglichst ­etwas von diesem Von-außen-Kommenden und von dem Hier-zu-Findenden miteinander zu verbinden. Mein Thema ist die ständische Bildung, das heißt, ich greife ein Moment der Geschichte heraus, das Ihnen ja bekannt ist – dass die ständischen und nationalen Unterschiede im Baltikum die Geschichte bestimmt haben –, indem ich zunächst einmal ausschließlich die ständische Seite betone. Bildungsgeschichtlich erscheint das Thema der Nation erst dort, wo die Standesunterschiede in einem größeren Ganzen verschwinden. Speziell im Baltikum wird das die ­Nationalkultur sein. Die Nationalkultur als Problem der Bildungsgeschichte, so könnte man auch sagen, um klar zu machen, dass Nationalkultur nichts Selbstverständliches ist. Wir haben gerade Herrn Joachims­thaler gehört, der betont hat, dass es in der Bildungsgeschichte des Baltikums notwendig immer auch um Kolonialismus geht. Das ist richtig. Aber auch in der Bildung, in jeder Bildung gibt es fremde Gewalt. Sie hat immer diese beiden Seiten, die es zu sehen gilt: Wir haben es grundsätzlich mit dem Aufdrängen des Fremden zu tun – und mit der Aneignung von Fremdem. Beides gehört zur Bildung, die Seite der Gewalt und die Seite der Aneignung. Darüber also versuche ich heute etwas zu sagen. Ich beginne mit der klassischen Einteilung der Stände in Adel, Bürger und Bauern. Die Einteilung ist seit dem 18. Jahrhundert üblich geworden, sie entspricht der modernen Soziologie mit den Begriffen von Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht – sie hat aber einen massiven Nachteil: Der Nachteil ist, dass Sie alle, die hier sitzen, in dieser ständischen Einteilung nicht vorkommen. Sie sind Akademiker, und die Akademiker sind in der gängigen Standesgliederung nicht berücksichtigt. Anders hat die ältere Einteilung das vorgesehen in der Dreiheit von ,Lehrstand – Wehrstand – Nährstand‘, eine Reimformel aus dem 17. Jahrhundert. Und die hat das Feld beherrscht vom Mittelalter bis zum Beginn der Aufklärung, etwa um 1700.

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Der Lehrstand umfasst erstens die Geistlichen, die Kirche, den Klerus, und zweitens die Akademiker. Wie kommt das? Die mittelalterliche Formel lautete ‚Die einen beten, die anderen kämpfen und die dritten arbeiten‘. Diese Formel hat sich geöffnet für drei große Erfindungen des Mittelalters: für die Universität (Beten), für den Fürstenhof oder die Residenz (Kämpfen) und für die Stadt (Arbeiten). Diese drei Erfindungen haben sich an die einfache, urtümliche agrarische Einteilung eigentlich angeschlossen. Deswegen wohnen die Akademiker unter dem Kleid des Geistlichen, das soll man nicht vergessen. Der Wehrstand umfasst, wie man weiß, die Adligen, das Militär und die Regierungsbehörden. So bleiben für den Nährstand die Bürger in der Stadt und die Bauern auf dem Lande. Nun ist das Schema aller Dreiteilungen relativ schlicht. Das eigentliche Geheimnis der ständischen Unterschiede ist, dass es ja viel mehr von ihnen gibt, fast jeder Beruf hat ja seinen spezifischen, rechtlich abgesicherten Status. Zudem sind die entscheidenden Unterschiede sehr oft binär organisiert. Zugrunde liegt auch den klassischen Dreiteilungen die einfache Opposition von denen, die mit dem Körper arbeiten, und denen, die dies nicht tun. Die, die körperlich arbeiten, sind die Bürger und Bauern, und die, die dies nicht tun, sind die Akademiker und die Adligen. Mithin gehören die Akademiker zu den höheren Ständen. Sie arbeiten nicht mit den Händen, sondern mit der Feder, wie es heißt, also mit Büchern, am Schreibtisch, und nicht in ihrer Werkstatt, im Kontor oder auf dem Feld. Das ist der eine wichtige Unterschied. Der zweite binäre Unterschied betrifft den Nährstand als Ganzen. Im Bereich der körperlichen Arbeit gibt es Stadtbewohner und Landbewohner. Beide gehören in der Terminologie des 18. Jahrhunderts zum Nahrungsstand, doch unterscheiden sie sich im status libertatis: Die in der Stadt sind frei, die auf dem Lande unfrei, oder relativ unfrei. Jaan Kross hat diesem Unterschied ein ganzes Buch gewidmet, Rakvere romaan (dt. Die Frauen von Wesenberg).1 Nachdem die Stadt im Nordischen Krieg dem Erdboden gleichgemacht wurde – sind da ihre früheren und jetzigen Bewohner frei oder sind sie unfreie Landleute? Das ist der Konflikt, der erzählt wird. Und dieser Unterschied spielt jetzt für meine Überlegungen eine gewisse Rolle, so dass mein Vortrag auch den Untertitel haben könnte: „Die Alphabetisierung in Stadt und Land“. Aber es geht um mehr als Alphabetisierung. Zunächst möchte ich auf das Wissen und Können außerhalb der Schule eingehen und dann, in einem kurzen Exkurs, einen Seitenblick auf das lateinische Bildungswesen werfen. Daran anschließend komme ich auf die muttersprachlichen Bildungssysteme zu sprechen: auf das Schulwesen in der Stadt und die Alphabetisierung auf dem Lande. Dabei frage ich in einem zweiten Exkurs ganz allgemein nach den bewegenden Kräften in der Bildungsgeschichte.

1 Eine ausführliche Analyse dieses Romans von Jaan Kross findet sich in dem Beitrag von Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck in diesem Band.

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Die Macht des Hausvaters Der Gegensatz von körperlicher Arbeit und Kopfarbeit strukturiert das Bildungswesen. Und zwar ganz einfach sprachlich: Das Bildungswesen der Akademiker ist von Grund auf lateinisch, das Bildungswesen der Nicht-Akademiker ist muttersprachlich. Ich finde, dass oft in der Bildungsgeschichte etwas automatisch vorausgesetzt wird, was eine moderne Errungenschaft ist, nämlich unsere Dreistufigkeit mit Elementarschule, Höherer Schule, Universität. Für die Frühe Neuzeit ist das nicht haltbar, es ist anachronistisch. Einerseits haben wir die lateinische Bildung, zentriert auf die Universität als Kern, und die Lateinschulen als Eingangshalle, als Vorstufe. Und andererseits haben wir die muttersprachliche Bildung, dazu gehört Lesen, Schreiben, Rechnen und manches andere mehr. Zwei getrennte Felder also, die mit sich bringen, dass die Kulturtechniken, die wir als elementar ansehen, in gewisser Weise herrenlos sind. Das ist das Interessante: Von heute her denkt man sich ja: Das Schulwesen damals, das war unordentlich, lückenhaft, ineffektiv, schlampig usw. Nein nein: Es funktionierte als Markt des Wissens und Könnens. Leute, die etwas konnten, haben das zur Vermittlung angeboten, was sie konnten, also verkauft, manchmal gegen Geld, aber sehr oft in einer anderen Währung, und zwar in Zeiten, als es das Fernsehen und vieles andere noch nicht gab, in der Währung persönlicher Aufmerksamkeit. Alte Leute etwa haben Jüngere unterrichtet, freiwillig, damit sie Gesellschaft hatten. Lehren und Lernen war eine marktförmige Beschäftigung, ich gebe – du gibst, auf Gegenseitigkeit, und in dieser inoffiziellen, marktförmigen Sphäre spielen auch die Institutionen mit. Es gibt Bildungsinstitutionen, natürlich; vor allem Latein kann man keineswegs im Handumdrehen lernen. Für das Latein braucht man Schulen. Die sind zwingend, soweit ich sehe, während alle anderen Fähigkeiten auch zu Hause, beim Nachbarn, in der Verwandtschaft vermittelt werden konnten. Ein Autor, der sich mit dem Hausunterricht im 18. Jahrhundert beschäftigt hat, sagt, die Hälfte aller Kinder hätten zu Hause lesen gelernt.2 Und das finde ich völlig plausibel. Wobei auch der Hausunterricht zu verstehen ist als Teil der alltäglichen Interaktion, die sich erweitern kann zur Ökonomie der Gefälligkeiten und schließlich zu einem ausgedehnten Lehr- und Lernmarkt. Das Nebeneinander von Hausunterricht und Schulunterricht, anders gesagt, von herrenlosem Unterricht und institutionellem Unterricht, ist das entscheidende Kennzeichen der Frühen Neuzeit. Es gilt für alle drei Stände im Baltikum – Lehrstand, Wehrstand, Nährstand – und es gilt auch sprachnational: für die lateinische, deutsche, estnische, lettische Ausbildung, ich möchte auch vermuten, für die russische Ausbildung.

2 Stephan, Gustav: Die häusliche Erziehung in Deutschland während des achtzehnten Jahrhunderts. Wiesbaden 1891, S. 67.

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Herkömmlicherweise heißt es (negativ), es habe vor 1800 noch keine Allgemeine Schulpflicht gegeben. Das stimmt, aber man muss es positiv formulieren: Verantwortlich für die Ausbildung der Jugendlichen war eben der Hausvater, nicht der Staat. Und sofern man dem Regiment des Hausvaters entkommen war, konnte jeder, der lernen wollte, sein Lernen selbst bestimmen. Wir nennen es Autodidaxe, etwas spöttisch, weil wir gewohnt sind, nur dank der Schule zu lernen, wo wir doch in Wirklichkeit ständig lernen. Der Hausvater nun hatte früher das Recht, über die Ausbildung seiner Kinder zu entscheiden. Dies Recht konnte durch Kirchenordnungen zwar eingeschränkt, aber nicht aufgehoben werden. Seine Macht, die Zukunft seiner Kinder zu ‚bestimmen‘, wie man damals sagte, besaß der Hausvater praktisch uneingeschränkt auf dem Lande, relativ eingeschränkt auch in der Stadt. Das möchte ich an einigen Beispielen erläutern, zunächst aus dem Kreis der Landpastoren, also aus dem akademischen Lehrstand. Johann Heinrich Kant, selber 16 Jahre Hauslehrer, dann Lehrer und Rektor der Lateinischen Stadtschule in Mitau (Jelgava), schließlich Pastor in Alt-Rahden (­Vecsaule), berichtet seinem berühmten Bruder (1792) von seinen vier Kindern, die zwischen 16 und 9 Jahre alt sind: „Diese guten Kinder unterrichte ich izt selbst. Denn der Versuch, adelige Kostgänger, und mit ihnen 2 Hauslehrer hinter einander zu halten, mislang mir gänzlich. – Leyder sieth nichts in Curland so schlecht aus als die Erziehung der Jugend. – Die Leute – die sich als Hauslehrer durch Empfehlung einschleichen, – sind oft wahre Adepten [Goldmacher], – sie versprechen goldene Berge und zeigen sich am Ende als unwißende Betrüger. So gings mir auch.“3

Bevor er seine Kinder selbst unterrichtete, hatte Kants Bruder also versucht, den Hausunterricht zu erweitern, indem er sich erstens einen Lehrer als Hofmeister engagiert und zweitens, indem er Kostgänger, also andere Schüler als Pensionäre dazuholt. Hausunterricht ist jederzeit erweiterungsfähig, das ist ja ökonomisch auch sehr sinnvoll. Habe ich einen Lehrer im Haus, hole ich mir andere Schüler dazu und beziehe Kostgeld von ihnen. Die meisten Landpastoren in Kurland, Livland, Estland haben das so gemacht. Christian David Lenz, der Vater des Dichters Jacob Lenz, nicht weniger als andere. Er ließ sich einen Hofmeister aus Halle kommen, und der war sehr überrascht, als er mehr Kinder im Haus vorfand, als ihm der Pastor in Aussicht gestellt hatte, ohne dass seine spärliche Bezahlung allerdings erhöht wurde, soweit man weiß. So kann sich um das Pastorat herum sozusagen jederzeit eine Schule bilden. In einem sehr verminderten Maß gibt es aber auch den Hausunterricht bei der bäuerlichen, estnischen oder lettischen, Bevölkerung auf dem Lande. Bezeichnend 3 Diederichs, Victor: Johann Heinrich Kant. In: Baltische Monatsschrift 40 (1893), S. 535–562, hier S. 553.

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dafür ist ein Visitationsprotokoll des Kirchspiels Klein-Marien (Väike-Maarja) aus dem Jahr 1687: „Der Bauer [ist] auch sehr geneigt und willig, alt und jung, und lernen selber einer von den andern zu Hause ohne Schulen, haben Bücher und Lehrjungen hier und da nötig.“4 Aivar Põldvee, der sich mit dieser Zeit befasst, hat diese und andere schöne Zitate ausgegraben und vorgestellt. Das heißt, dieses Fluktuieren des Lehrens und Lernens ist nicht beschränkt auf die Akademiker, und das ist wirklich wichtig, dass wir uns daran erinnern lassen. Andererseits werden wir noch sehen, dass das Nebeneinander von Hausunterricht und Schulunterricht geradezu benutzt wurde, um die Alphabetisierung auf dem Lande zu hintertreiben. Und zwar, indem die Herrschenden sagten: Hausunterricht genügt für euch Bauern. Kommen wir zum Hausvater in der Stadt. Die Stadt, die sich ja um das Marktrecht herum gebildet hat, sollte eigentlich auch eine Freistatt des freien, marktförmigen Lehrens und Lernens sein. Aber die Städte haben schon seit dem Mittelalter die Ausbildung der Jugend kommunal organisiert, indem sie Schulmeister anstellten, die im Schulhaus wohnten und dort unterrichteten. Und diesen Schulmeistern musste ihr Einkommen, das Schulgeld, gesichert werden, indem man sie ganz handwerksmäßig vor unzünftigen Konkurrenten schützte. Dadurch wird die Macht des Hausvaters begrenzt. Dazu ein Beispiel aus Riga: Sechs der namhaftesten Rigaer Patrizierfamilien – Berens, Zuckerbecker, Schwarz usw. – haben sich zusammengetan, um sich von einem Hauslehrer gemeinsam ihre Kinder unterrichten zu lassen, sind aber wahrscheinlich denunziert worden. Und der Rigische Rat sagt, das dürfen sie nicht. Darauf schreiben sie eine lange Eingabe, warum es unbedingt sein muss, und wie schwer es ist, die Kinder zur Schule zu schicken. Der Rat bescheidet sie abschlägig, sie müssen ihre Kinder zu deutschen Schulmeistern in die Schule schicken, weil, so lautet die interessante Begründung, „weilen dem Georg Gadewald, da er sich bei keinem Schulhalter in Condition begeben, die Privatinformation nicht zustehe“.5 Das heißt, dieser Georg Gadewald, was immer seine Vorbildung sein mag, ist von keinem Schulmeister für den Schulunterricht ausgebildet worden. Vermutlich ist die Begründung eher ein Vorwand, um die unerwünschte ‚Winkelschule‘, so heißen die privaten Unterrichtsnester, abzuschaffen. Aufschlussreich ist die Begründung aber für die Organisation des städtischen Unterrichts. Tatsächlich haben die Schulmeister nach Handwerksgebrauch für ihren Nachwuchs gesorgt, auch die Rigaer Schulmeister haben Schulgesellen und sogar mitunter Lehrjungen, die sie ausnutzen und ausbilden zugleich. Auf diese Weise konkurrieren kommunale Institutionen und kommunale Vorschriften – mal mehr, mal weniger – mit der 4 Zit. nach Põldvee, Aivar: Die Gründung der Volksschule in Estland in den 1680er und 1690er Jahren. In: Loit, Aleksander; Piirimäe, Helmut (Hg.): Die schwedischen Ostseeprovinzen Estland und Livland im 16.–18. Jahrhundert. Stockholm 1993, S. 285–­292, hier S. 288. 5 Berens, Johann Christoph: Silhouetten eines rigischen Patriziergeschlechts (IV). In: Baltische Monatsschrift 32 (1885), S. 733–741, hier S. 734.

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Macht des Hausvaters. Wie sich das für Riga auswirkt, weiß ich nicht, aber aus Dorpat beispielsweise ist die Klage des Pastors Christian David Lenz (1762) bekannt, in den unkontrollierten Winkelschulen seien doppelt so viel Schüler zu finden wie in der öffentlichen Schule. Diese war in den Oberklassen eine staatliche Schule (Latein), in den Unterklassen städtisch (Deutsch) und trug daher den Doppelnamen einer ‚Krons- und Stadtschule‘.

Exkurs zur Ausbildung der Führungsschichten (Lehr- und Wehrstand) Ursprünglich dachte ich, jetzt sollte ich etwas über gelehrte Schulen und Universitäten sagen, aber es gibt schon viele Vorträge zum lateinischen Unterricht auf dieser Tagung. Also fasse ich mich kurz und bemerke nur, dass das Fehlen einer Universität im 18. Jahrhundert ein Dauerthema in den Ostseeprovinzen war. Es nötigte die Landeskinder, zum Studium ins deutsche Ausland zu gehen, und ermöglichte umgekehrt die kontinuierliche Einwanderung deutscher Akademiker. Die seit 1775 bestehende Academia Petrina in Mitau schaffte keine Abhilfe. Sie ist allerdings bildungshistorisch bemerkenswert als erste universitäre Einrichtung, die in ihrer Satzung das festschreibt, was wir heute als Seminararbeit kennen. Die Professoren sollen darauf hinarbeiten, dass die Studenten „zu der so sehr nötigen Selbstarbeit“ angeleitet werden, also ihre Vorlesung nicht als Monolog halten, sondern ein sokratisches Gespräch führen, und ihre Arbeitszeit zur Korrektur schriftlicher Arbeiten verwenden: „Es sind deswegen den Lehrern dieses Gymnasii, weniger Lehrstunden angewiesen, als sonst in dergleichen Stiftungen gewöhnlich ist, damit sie desto mehr Zeit, auf die Prüfungen der Arbeiten ihrer Zuhörer, als den wichtigsten Theil ihres Amtes, wenden können.“6

Dieser Seminarunterricht setzt sich in Deutschland durch über Seminargründungen innerhalb der Universität, aber er wird hier zum ersten Mal für eine universitätsähnliche Anstalt offiziell festgeschrieben. Ich würde auch gern über die Ausbildung des Adels etwas gesagt haben, denn mir fällt auf, dass bei dieser Tagung kein einziges Referat dafür vorgesehen ist. Und das ist doch eigenartig, dass die Führungsschicht bildungsgeschichtlich nicht eigens bedacht wird.7 Zu bemerken ist immerhin so viel, dass der männliche Nachwuchs 6 Sulzer, Johann Georg: Entwurf der Einrichtung des, von Sr. Hochfürstlichen Durchlaucht, dem Herzog von Curland, in Mitau neugestifteten Gymnasii Academici (Mitau 1773). In: Ders.: Vermischte Schriften. Bd. 2, Leipzig 1781, S. 145–214, hier S. 158. 7 Auf der Tagung war dem adeligen Schulwesen und adeliger Ausbildung im engeren Sinne (z. B. in Ritterakademien) zwar kein eigener Vortrag gewidmet, es finden sich im vorliegenden Band jedoch

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des Adels sich in der Regel zwischen einer akademischen und einer militärischen Ausbildung entscheiden konnte. Nach den Untersuchungen von Arvo Tering war die Zahl der estländischen und livländischen Adligen mit Universitätsbildung „doch etwa zehnmal kleiner als die der baltischen Adligen, die im Petersburger Kadettenkorps ihre Ausbildung erhalten hatten“.8 Kurländische Adlige bezogen schon eher die Universität; ihr Anteil unter den kurländischen Studenten beträgt etwa ein Drittel, ähnlich auch bei den Studenten aus Ösel (Saaremaa), während von den livländischen Studenten nur etwa ein Viertel adlig war, von den estländischen ein Fünftel. Ein reichhaltiges Material zur Adelserziehung geben uns auch die vielen bildungsgeschichtlich wichtigen Autobiographien, die Erinnerungen der Elisa von der Recke als Schülerin, der Pastor Gottfried Georg Mylich ebenfalls in Kurland, ebenso natürlich Johann Georg Hamann in seinen Briefen, dann haben wir Karl Theodor Hermann in Livland und Eugenius Baron Rosens Sechs Decennien meines Lebens (Riga 1877) in Estland und Christian Karl Ludwig Klee mit Eines deutschen Hauslehrers Pilgerschaft durch Land und Leben (Reval 1913). Es gibt noch weitere Hofmeistergeschichten, die bekannteste stammt natürlich von dem Erbauer dieses Gebäudes, in dem wir stehen oder sitzen, Johann Wilhelm Krause: Wilhelms Erinnerungen, die jetzt im Internet auf der Webseite der Baltischen Historischen Kommission abzurufen sind. Da ist viel kulturgeschichtliches Material zur Ausbildung des Adels, das man nutzen könnte.9 Ich gehe jetzt zu meinem Hauptteil über, zur Bildungsgeschichte des Nährstandes, man könnte sagen, zur Alphabetisierung in Stadt und Land. Dieser Hauptteil hat drei Teile: das Schulwesen in der Stadt, dann gibt es einen kleinen historischen Exkurs, und dann komme ich zur Alphabetisierung auf dem Land. Ich habe darüber nachgedacht, warum ich unbedingt ‚Alphabetisierung‘ sagen will und nicht ‚Bildungsgeschichte‘. Und ich denke, Alphabetisierung gehört zu den Maßnahmen und Zielen der Aufklärung, der aufgeklärten Autoren wie der aufgeklärten Regierungen. Sie fällt unter die Phänomene der Macht, so dass jetzt die Schulgeschichte in den Vordergrund rückt, nach allem, was ich über die Gegenmacht des Hausvaters und das herrenlose Wissen zu sagen versucht habe. Zugleich verlassen wir das lateinische Bildungswesen und kommen zum muttersprachlichen Unterricht.

zahlreiche Bezüge zur Adelsbildung, speziell in den Beiträgen von Markus Käfer, Valérie Leyh und Ruth Florack. 8 Tering, Arvo: Eesti-, liivi- ja kuramaalased Euroopa ülikolides 1561–1798 [Est-, liv- und kurländische Studierende an europäischen Universitäten 1561–1798]. Tartu 2008, S. 753f. Vgl. jetzt auch ders. unter Mitwirkung von Jürgen Beyer (Bearb.): Lexikon der Studenten aus Estland, Livland und Kurland an europäischen Universitäten 1561–1800. Köln-Weimar-Wien 2018. 9 Vgl. Krause, Johann Wilhelm von: Erinnerungen. 10 Bde. Hg. v. Gottfried Etzold (2016/17). URL: https://www.balt-hiko.de/online-publikationen/j-w-von-krause-erinnerungen/ (17.01.2022).

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Schulbildung in der Stadt Die Stadt wird, wie überall in der Vormoderne, nicht nur von Bürgern bewohnt, sondern von vielerlei Leuten mit unterschiedlichen Rechten. Speziell im Baltikum ist sie auch ein Kosmos unterschiedlicher Nationalitäten. Dementsprechend findet der nicht-lateinische Unterricht in den verschiedenen Muttersprachen statt, vermutlich aber auch nicht nur in einer Sprache. Wenn wir nach der Alphabetisierung der Schweden, Esten und Letten in den Städten fragen, dann besorgen sie in der Regel jeweils die Küster der jeweiligen ‚undeutschen‘ Gemeinden. In Kurland zum Beispiel nachweislich in Friedrichstadt (Jaunjelgava) 1715 und Goldingen (Kuldiga) 1740, in Mitau von der lettischen St. Anna-Gemeinde aus. In Dorpat heißt es 1754: „In Ansehung der esthnischen Stadtgemeinde [...] ward von der Kanzel bekannt gemacht, daß jeder Vater seine Kinder, sobald sie dazu tüchtig sind, zur Schule halten, und für jedes Kind den Winter über an Schulgeld funfzig Kop[eken], zwey Fuder Holz und ein Pfund Licht bezahlen, der Küster aber allen Fleiß anwenden, und den Pastor gegen den Sommer, in Gegenwart der Kirchenvormünder und der Aeltern, eine Prüfung anstellen soll.“10

In diesem Jahr 1754 sind es 27 Schüler, für eine Stadt wie Dorpat sehr wenig, und offenbar ist auch nur ein Winterhalbjahr zum Lernen vorgesehen (wie generell auf dem Lande), auch das sehr wenig – das wäre also minimal schooling. Andererseits berichtet ein späterer estnischer Herrnhuter, der in der Dorpater Vorstadt lebte, von der Schule im Hause: „Als ich fünf Jahr alt war [im Jahr 1739] kauften mir meine Eltern ein Buchstabirbuch und beide [!] unterrichteten mich mit vieler Sorgfalt im Lesen, denn zu jener Zeit waren für uns arme Esten noch keine Schulen im Lande vorhanden.“11

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts gab es in Dorpat außer der Krons- und Stadtschule noch eine deutsche ‚Mägdleinschule‘, ferner eine russische Schule, sicherlich im Zusammenhang mit den russisch-orthodoxen Gemeinden der Stadt. In der sehr viel größeren Stadt Riga erklärte der Rat dem schwedischen Generalgouverneur Dahl­berg 1696, also noch in der schwedischen Zeit, Riga unterhalte fünf Schulen in der inneren Stadt, die lateinische Domschule, dann drei deutsche Schulen und eine lettische – die lettische ist bei der St. Johannis-Gemeinde –, dazu vier Schulen in den Vorstädten und acht in den Landvogteien. Zusammen arbeiten hier 21 deutsche und undeutsche ‚Schulbediente‘. Im Laufe des 18. Jahrhunderts 10 Gadebusch, Friedrich Konrad: Livländische Jahrbücher. Bd. 4/2: Von 1731 bis 1761. Riga 1783, S. 502f. 11 Lebenslauf des estnischen Nationalgehülfen Alexander Raudial. In: Eckardt, Julius: Livland im achtzehnten Jahrhundert. Umrisse zu einer livländischen Geschichte. Bd. 1: Bis zum Jahre 1766. Leipzig 1876 (ND Hannover-Döhren 1975), S. 587f.

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vermehren sich die Schulen in den Vorstädten um das Doppelte, so dass wir außer der Johannisschule mit acht ‚undeutschen‘ Schulen rechts und links der Düna rechnen können. Dann gab es natürlich im 17. Jahrhundert auch eine polnische und eine schwedische Schule.12 Außer den deutschen Schreib- und Rechenmeistern muss es demnach eine Vielzahl anderssprachiger Schulen und Schulmeister gegeben haben. Darüber erhebt sich die lateinische Ausbildungsstätte für ‚höhere‘ Bildung. In den größeren Städten Riga und Reval (Tallinn) lässt sich diese Trennung relativ gut beobachten. Je kleiner jedoch die Stadt, desto mehr stoßen wir auf Übergangsformen, wie etwa die lateinisch-deutsche Krons- und Stadtschule in Dorpat. In vier Städten Kurlands wurden schon im 16. Jahrhundert Schulen gegründet, in Mitau, Bauske (Bauska), Goldingen, Windau (Ventspils), nach 1600 auch in Libau (Liepāja). Diese Schulen hatten studierte Lehrer, manchmal bis zu vier, manchmal auch nur zwei, und die mussten natürlich auch für die Bedürfnisse der städtischen Gewerbe sorgen, also Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten. Die Gefahr für diese lateinisch-deutschen Stadtschulen war, aus dem Lehrstand in den Nährstand sozial abzusinken; die seinerzeit berühmte Schule in Bauske beispielsweise war um 1770 eine simple deutsche Schule geworden. Ähnlich prekär auch die Situation in livländischen Städten: In Wenden (Cēsis) gibt es nur einen einzigen Lehrer, ebenso in Fellin (Viljandi) oder Wolmar (Valmiera), in den größeren Städten Estlands wie Pernau (Pärnu) oder Narwa (Narva) dagegen auch vier Lehrer. Diese städtischen Schulen können vom Lateinischen her betrachtet werden, dann sind sie kümmerliche ‚Trivialschulen‘, wie man sagte, die nur das Notwendigste lehren und nicht zur Universität vorbereiten (es gab ja noch kein Abitur). Oder man betrachtet sie vom Deutschen aus, dann fällt auf, dass ihr Unterricht in der Fremdsprache gipfelt. So ganz deutlich zum Beispiel in Arensburg (Kuressaare), da hat die Schule 1666 drei Klassen: Lese-Knaben, Schreib-Knaben, Latein-Knaben. Oder auch in anderen Schulen mit mehr Klassen, etwa in der Stadtschule in Reval (über die Herr Klöker sprechen wird). Sie hat eigentlich fünf Klassen, aber 1723 nur noch drei Lehrer (die Lehrer sind nicht Fachlehrer, sondern Klassenlehrer).13 In der Schulordnung dieses Jahres 1723 wird verlangt, daß „die Jugend in der Gottesfurcht, im Lesen, Schreiben und Rechnen und in der lateinischen Sprache informiret und tüchtig gemacht wird, daß sie daraus entweder nach dem Gymnasio, ihre Studia fortzusetzen kann transferiret oder zur Kaufmannschaft oder anderen löblichen Handthierungen emploieret werden.“14

12 Vgl. Schweder, Gotthard: Nachrichten über die öffentlichen Rigaschen Elementarschulen mit deutscher Unterrichtssprache. Riga 1885, S. 2f. 13 Siehe Martin Klökers Beitrag in diesem Band. 14 Zit. nach Hartmann, Stefan: Zur Geschichte der Revaler Stadtschule von 1722–1755. In: Angermann, Norbert; Lenz, Wilhelm (Hg.): Reval. Handel und Wandel vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Lüneburg 1997, S. 325–337, hier S. 328.

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Zwischen „Studia“ und „Handthierungen“ haben diese Stadtschulen unterschiedliche Ausbildungsziele und zugleich so etwas wie eine Drift nach oben, eine Tendenz zur nächsthöheren Bildungssprache. Diese einfachen Stadtschulen wünschen sich im Grunde, letztlich wäre das natürlich das Traumziel, sie könnten die Schüler auf die Universität schicken. Solche Expansionen nach oben können wir auch auf Ösel beobachten. Die Schule war im Lauf der Zeit zweiklassig geworden, für Knaben und Mädchen gemeinsam, als Ende des 18. Jahrhunderts ein ehrgeiziger Gouverneur sie zu einem Gymnasium aufzublasen versucht, das zur Universität qualifizieren würde. Ähnlich auch zu Anfang des 18. Jahrhunderts in Narwa, soweit ich das verstanden habe. Man kann davon ausgehen, dass auch die estnischen und lettischen Schulen in der Stadt eine analoge Drift nach oben aufweisen. Wie in den deutschen Schulen das Lateinische, so muss auch in den ‚undeutschen‘ Schulen das Deutsche als die nächsthöhere Bildungssprache unterrichtet worden sein. Das ist eine naheliegende Vermutung, schließlich lebte man ja in der Stadt mit den Deutschen zusammen. Sie wird bestätigt durch einen Fund, den man im Jahr 1763 machte, als der Turmknopf der Johanneskirche in Riga repariert werden sollte. In dem Turmknopf lag eine alte ‚Vorschrift‘, das heißt Vorlage für die Schreibübungen der Schüler. Der Text lautet: „Ich gab einen lieblichen Geruch von mir, wie der Weinstock und meine Blüthe brachte ehrliche und reiche Frucht [...]“ – ein Auszug aus dem 24. Kapitel des Buchs Jesus Sirach, einem jüdisch-griechischen Weisheitstext, den Luther zwar aus dem Kanon der Bibel ausschloss, der aber in der Frühen Neuzeit als Ratgeber beliebt war. Darunter Datum und Unterschrift des Schulmeisters „1680 den 4. März Gregorius Berdsohn“.15 Das heißt, der Schulmeister, wahrscheinlich ein Lette, hat seine lettischen Schüler nach diesem deutschen Schreibmuster im Schreiben unterrichtet und ebenso sicherlich auch in der deutschen Sprache. Indirekt wird diese Drift zur nächsthöheren Bildungssprache auch bestätigt durch die Verordnungen, welche deutschen und undeutschen Unterricht trennen wollen. So zum Beispiel Bauske 1728: „Der undeutsche Küster darf deutsche Kinder gar nicht unterrichten, der deutsche Küster darf ihnen nur im Lesen Unterricht erteilen“.16 In Riga befahl der Rat 1734 und 1740 die nationale Trennung der deutschen und ‚undeutschen‘ Schulen. In Reval verlangt die Große Gilde 1730, „daß die Kinder der geringen Leute vor der Pforten und in der Stadt nicht möchten in der teutschen Sprache und im Rechnen und Schreiben informiert werden, weil sie,“ – was ist die Angst? – „weil sie, wann sie in der Schule was profitieret hätten, der 15 Nur als Kopie erhalten unter den Papieren des Superintendenten Karl Gottlob Sonntag im Lettischen Nationalarchiv: Latvijas Nacionālais arhīvs [LNA]. 4038-2-771, Bl. 40. Über die Nationalität des Schulmeisters Berdsohn weiß ich nichts Näheres. 16 Zit. nach Otto, Gustav: Die öffentlichen Schulen Kurlands zu herzoglicher Zeit 1567–1806. Mitau 1904, S. XLI.

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Stadt den Rücken kehren und nach dem Lande gingen, wodurch man zuletzt keine Knechte und Mägde in der Stadt haben würde“.17

Es stimmt, Bildung gefährdet die ständischen Abgrenzungen. Man kann einerseits sagen, jawohl, die herrschende Obrigkeit will nationale Unterschiede fixieren. Man muss andererseits sagen: Die Schüler wollen nationale Unterschiede überspringen. Und ich denke, ja, das wollten sie. Lernenwollen und sozial Aufsteigenwollen sind, wie man sieht, nah verbunden, ja vielleicht untrennbar. Wieweit die obrigkeitlichen Befürchtungen realistisch sind, ist schwer zu sagen. Hatten Letten und Esten, die die deutsche Sprache beherrschten, auf dem Lande wirklich bessere Arbeits- oder Aufstiegschancen? Das wäre zu erforschen. In der deutschen Bildungsgeschichte ist eine ähnliche Besorgnis bekannt, die verläuft aber in der Bewegung genau umgekehrt. Friedrich II. warnte seinen Justizminister Zedlitz (1779) vor allzu energischen Bildungsanstrengungen, damit „die Leute nicht aus den Dörfern weglaufen, sondern hübsch dableiben“; es sei auf dem platten Lande genug, „wenn sie ein bisgen Lesen und Schreiben lernen; wissen sie aber zuviel, so laufen sie in die Städte und wollen Sekretärs und so was werden“.18 Also der Unterschied zwischen Stadt und Land funktioniert eben auch als Statusunterschied. Der nationale Unterschied ‚deutsch/undeutsch‘ ist zugleich ein Bildungsunterschied, aber Bildungsunterschiede können überwunden werden. Der eine hat Angst, die Bauern laufen in die Stadt, und der andere hat Angst, die Städter laufen auf das Land. Das heißt, die Ängste sind irrational, natürlich, aber diese Angst vor sozialer Mobilität mitten in der Aufklärung, diesen Gedanken muss man sich erst einmal zu Herzen gehen lassen. (Zu ergänzen wäre, dass auch eine entgegengesetzte Drift zu beobachten ist: Die deutschen Handwerker, Müller, Verwalter, Dienstboten usw. auf dem Lande versippen sich lettisch und estnisch mit der Zeit). Bei den Bestimmungen über den Unterricht fällt auf, dass Lesen und Schreiben als zwei getrennte Kulturtechniken behandelt werden. In Ösel gibt es nach den ‚LeseKnaben‘ die nächsthöhere Klasse der ‚Schreib-Knaben‘, in Bauske darf der deutsche Küster nur das Lesen unterrichten, nicht aber das Schreiben (um das Monopol der Stadtschule nicht zu gefährden). Diese Trennung findet sich nicht nur in den Ostseeprovinzen, sondern, wie ich behaupte, in ganz Europa, mit der praktischen Konsequenz, dass die Schreibstunde teurer zu bezahlen war als das Lesenlernen und das Rechnen wiederum teurer als das Schreiben. Für uns heute ist das fast unbegreiflich, aber in der Frühen Neuzeit galt es umgekehrt als ganz natürlich, dass man für das Lesen die Buchstabenfiguren auswendig lernen muss („Buchstabieren“), für das ­Schreiben dagegen, dass man sie mit Tinte und Feder zu malen lernt. Elisa von der Recke sagt in ihren Lebenserinnerungen, sie habe am Anfang nur schreiben gekonnt,

17 Zit. nach Hartmann, Zur Geschichte der Revaler Stadtschule (wie Anm. 14), S. 334f. 18 Zit. nach Fertig, Ludwig: Zeitgeist und Erziehungskunst. Darmstadt 1984, S. 225.

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nicht aber lesen. Ich bin nicht sicher, ob ich das glauben will. Aber Johann Wilhelm Krause berichtet aus seiner Hofmeisterzeit, er hatte einen zwölfjährigen adligen Knaben zum Unterricht, der konnte schreiben, jedoch nicht lesen. Und dem glaube ich das. Die Buchstaben, die man malt, kann man eben nicht von selbst mit sprachlichen Lauten zusammenbringen. Das muss erst einmal gelernt werden, und zwar dank der Lautiermethode, die Schreiben und Lesen reziprok miteinander verbindet. Das ist eine Erfindung um 1800, die zur Bildungsrevolution gehört.19 Neben der Verstaatlichung des Schulwesens ist dies einer der Kernpunkte der Bildungsrevolution: die beiden getrennten Kulturtechniken nunmehr zu koppeln. Und für die Geschichte der baltischen Alphabetisierung ist die alte Trennung wiederum zentral, denn wir haben im 18. Jahrhundert auf dem Lande eben nur den Leseunterricht. Man muss sich natürlich fragen, wie weit diese ganzen Unterrichtsregeln nur die Jungen betreffen, oder nicht auch die Mädchen. Am Hausunterricht nehmen in der Regel auch die Töchter teil, bloß Latein brauchen sie in den beiden höheren Ständen nicht zu lernen. In größeren Städten wie Riga oder Reval gibt es separate Jungfern- oder Mädchenschulen. In kleineren Städten wie etwa in Dorpat trennt man weniger genau. Nach dem Wiederaufbau der Stadt fand der Pastor Plaschnig 1747 einen angestellten Rechenmeister vor, der bei sich im Hause unterrichtete, und einen verschuldeten Schulmeister, der vom Schulgeld nicht leben konnte. Der Pastor verlangte vom – unwilligen – Rechenmeister, beide Geschlechter im neu erbauten Schulhaus zu unterrichten, bis er zehn Jahre später eine eigene Schule (Haus und Lehrer) für die Mädchen installiert hatte. Dieser ‚Mägdleinschulmeister‘ durfte auch die Knaben unterweisen, aber nur im Buchstabieren und Lesen, nicht im ­Schreiben. In ebendiese Mägdlein-Schule wurden auch die jüngeren Geschwister des Dichters Jacob Lenz eingeschult. Über das kommunale Schulwesen, über staatliche Schulen, vor allem aber auch über den Hausunterricht waren die Städtebewohner im Baltikum wie in ganz Mitteleuropa längst fähig zu lesen, zu schreiben und zu rechnen. Was die europäische Aufklärung darüber hinaus anstrebte, war nun aber die ‚Literarisierung‘ der Bevölkerung, deren Bereitschaft also, an der Zirkulation des Wissens durch Bücher, Zeitschriften und Fortbildungseinrichtungen teilzunehmen. Was für die beiden oberen Stände eine Selbstverständlichkeit war, sollte es auch für den Nährstand werden. Das widersprach nun freilich der Sitte in Handwerk und Kaufmannschaft, berufliches Wissen vor der Öffentlichkeit wie vor der Obrigkeit geheim zu halten. Die städtischen Gewerbe hatten ihre Arcana ebenso wie die Regierungen und sie wachten nicht weniger sorgsam über ihre Geschäftsgeheimnisse als die Oberen über ihre politischen Absichten. Ich möchte daher behaupten, der städtische Nährstand 19 Vgl. Bosse, Heinrich: „Die Schüler müßen selber schreiben lernen“ oder Die Einrichtung der Schiefertafel. In: Ders.: Bildungsrevolution 1770–1830. Hg. mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari. Heidelberg 2012, S. 161–192.

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leistete einen hinhaltenden Widerstand, natürlich nicht gegen Lesen und Schreiben, aber gegen die Literarisierung. Als die schwedische Regierung 1686 anbot, die Professoren der Domschule um die Hälfte zu vermehren (und zu bezahlen), wehrte der Rigaer Rat den staatlichen Einfluss als Akademisierung ab, da „das Gymnasium nach unseres Orts Gelegenheit mit Professoren genugsam versehen sei, und daß ein größeres Wesen, so einen Schein einer akademischen Verfassung haben sollte, in dieser Kauf- und Handelsstadt nicht rathsam, noch nöthig, noch nützlich seyn werde.“20

Als ein Jahrhundert später der Gymnasialprofessor Johann Georg Büsch um 1770 eine Handlungsakademie in Hamburg einrichtete, erhielt er Gegenwind statt Unterstützung: Er hat doch keine Kaufmannslehre gemacht, wie kann er dann etwas von der Handlung verstehen? Noch Johann Christoph Berens, bekannt als Förderer von Herder und Hamann, schreibt bei Gelegenheit der neu erbauten Rigaer Stadtbibliothek im Jahr 1792: „Der hier nöthige Kaufmannssinn, wird in arbeitsamen Lehr- und Dienstjahren, auf Reisen und bei Ausrichtungen in den Ländern, wo unsre Waaren hergezogen, und wo sie hingeführet werden, gebildet und gestärkt. Der rechtschaffenste und fleißigste Kaufmann ist bei uns auch der Geschickteste: seine gelehrte Bücher sind, die in Folio, in welchen Schuld und Forderung getreu vermerkt, und die jährlich richtig abgeschlossen werden.“21

Exkurs über die bewegenden Kräfte in der Bildungsgeschichte Wenn man sich die Bildungsgeschichte ganz einfach machen will, heißt es: Zuerst sorgte die Kirche für die Ausbildung der Jugend, dann aber der Staat. Nach dem, was ich über den Hausvater und das herrenlose Wissen gesagt habe, denke ich natürlich, das stimmt nicht; es muss heißen: Zuerst bestimmte der Hausvater über die Ausbildung seiner Kinder, dann der Staat. Natürlich ist es komplizierter, unbestritten aber ist der Einschnitt der Verstaatlichung, mit den Worten von Wolfgang Schmale, die „,Unterwerfung‘ einer Gesellschaft unter ein vorrangig und wesentlich durch die Schule charakterisiertes und beherrschtes Bildungssystem“.22 In Schmales 20 Zit. nach Hollander, Bernhard: Geschichte der Domschule, des späteren Stadtgymnasiums zu Riga. Riga 1934 (ND Hannover-Döhren 1980), S. 46. 21 Berens, Johann Christoph: Bonhomien. Geschrieben bei Eröffnung der neuerbauten Rigischen Stadtbibliothek. Mitau 1792, S. 41. 22 Schmale, Wolfgang: Allgemeine Einleitung: Revolution des Wissens? Versuch eines Problemaufrisses über Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung. In: Ders.; Dodde, Nan L. (Hg.): Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung (1750–1825). Ein Handbuch zur europäischen Schulgeschichte. Bochum 1991, S. 1–48, hier S. 12.

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Handbuch zur europäischen Schulgeschichte treten dabei drei Faktoren oder bewegende Kräfte auf: die Kirche, die Gesellschaft, der Staat, die unterschiedlich zusammenwirken. Ich folge dieser Dreigliederung, nur möchte ich den Begriff der Gesellschaft präzisieren und sage stattdessen: lokale und persönliche Initiativen. Die Kirche ist immer dabei, sie ist die Konstante der vormodernen Bildungsgeschichte. Aus den lateinischen Schulen für den kirchlichen Nachwuchs gingen im Mittelalter die Universitäten hervor, zur Vorbereitung für die Universität entstanden die lateinischen Gelehrtenschulen, die seit dem 16. Jahrhundert im gesamten katholischen Bereich Europas vom Orden der Jesuiten (der Societas Jesu) geleitet wurden. Die protestantischen Gelehrtenschulen ihrerseits waren zwar auch konfessionell bestimmt, hatten aber unterschiedliche Träger. Soviel kürzestens zum lateinischen Bildungswesen. Beide Konfessionen überwachten auch das muttersprachliche Bildungswesen, wenn es kommunal oder sonst wie organisiert war, und erst recht, wenn es, etwa über den Küster, mit der Kirchengemeinde verbunden war. Von der Kirche her gesehen, war Unterricht ‚im Christentum‘ nötig, um zum Abendmahl zugelassen zu werden, und das Abendmahl markierte den Eintritt in den Status eines Erwachsenen. Der Pastor, welcher das Kirchenbuch führte (die Entsprechung zu unserem zivilen Standesamt), führte auch die Aufsicht über den Unterricht des Schulmeisters oder Küsters, konnte die Ausbildungsentscheidungen des Hausvaters vielleicht durch seine Autorität beeinflussen, nicht jedoch rechtlich oder kirchenrechtlich. Aber auch lokale und persönliche Initiativen sind eine Konstante der Bildungsgeschichte, sie werden nur meist übersehen angesichts der Übermacht der Institutionen. Als die protestantischen Territorien nach der Reformation ihre Kirchenordnungen erließen, trafen sie auf längst vorhandene Unterrichtseinrichtungen. Die Schulträger der Frühen Neuzeit sind von einer unglaublichen Diversität. Schulhäuser oder -wohnungen mussten gekauft oder erbaut, Lehrer gefunden und bezahlt werden – das übernahmen private Wohltäter, engagierte Pastoren oder Gutsherren, Dorf- und Stadtgemeinden, auch ohne auf den Landesherrn zu warten. Der eifrige Pastor Plaschnig im Dorpat des 18. Jahrhunderts ist ein gutes Beispiel für solche örtlichen Eigenleistungen, die allenfalls von Lokalhistorikern beobachtet wurden. Andere Initiativen des 18. Jahrhunderts sind in die Geschichte eingegangen, wie etwa Büschs Handlungsakademie in Hamburg (gegr. 1768) oder Basedows Philanthropin in Dessau (gegr. 1774), die beide übrigens von Eleven aus dem Baltikum besucht wurden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet man regelrechte Erziehungsunternehmer, die sich das wachsende Bildungsbedürfnis zum Erwerb machen (ähnlich wie heute zertifizierte, kostspielige Ausbildungsgänge das Bildungswesen und die Veranstalter bereichern). Der Staat tritt als letzte bewegende Kraft in die Bildungsgeschichte ein. Er begünstigt zunächst das lateinische Bildungswesen in der Frühen Neuzeit. So übernimmt er nach der Reformation kirchliche Bildungseinrichtungen, wie die sächsischen

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Fürstenschulen oder die vier württembergischen Klosterschulen. Er gründet mit der Kirche zusammen Einrichtungen für den Lehrstand (Universitäten) oder ohne sie Einrichtungen für den Wehrstand (Ritterakademien). Sonst aber ist er ein Mitspieler wie alle anderen auf dem großen Lehr- und Lernmarkt der Frühen Neuzeit. Dem muttersprachlichen Unterricht kommen dann staatliche Monopolisierungstendenzen zugute, wie im Herzogtum Sachsen-Gotha, dessen „Schulmethodus“ (1642) alle Kinder ausnahmslos zu erfassen und zu unterrichten bestimmt war. Im 18. Jahrhundert finden die Unterrichtsreformen des pietistischen Waisenhauses in Halle das Interesse der preußischen Regierung, später auch der österreichischen Regierung, weil der Pietismus Schulunterricht und Lehrerausbildung koppelt (wie in den städtischen Schulen ohnehin üblich). Dies besonders, nachdem Pastor Johann Julius Hecker in Berlin mit seiner Realschule 1747 zugleich ein Schullehrerseminar verbunden hatte. Hecker verfasste in der Folge das preußische General-Land-Schul-Reglement (1763), dem zufolge alle Kinder auf dem Land (nicht in den Städten) im Christentum, Lesen und Schreiben unterrichtet werden sollten (nicht im Rechnen). Die Probleme der Finanzierung und der Lehrerausbildung blieben allerdings ungelöst. Die lateinisch/muttersprachliche Zweiteilung des Bildungswesens beginnt damit zu enden, dass dem Staat die Zuständigkeit für die Erziehung für alle Stände zusammen zugesprochen wird, das heißt, für die ganze Nation. Entscheidend dafür ist der Angriff auf die Jesuiten im Bereich der katholischen Länder nach 1760. Im Plan d’Education nationale ou plan d’Etudes pour la jeunesse (1763) fordert beispielsweise der Politiker Caradeuc de la Chalotais: „Wir hatten eine Erziehung, die aufs höchste gut war, Leute für die Schule zu ziehen. Das gemeine Beste, die Ehre der Nation, erfordern, an ihrer Stelle eine Civil-Erziehung [!] einzuführen, die jedes neu anwachsende Menschengeschlecht geschickt mache, die verschiedenen Profeßionen im Staat mit Beyfall zu erfüllen“.23

Die staatliche Erziehung überzieht die so verschiedenartigen lokalen oder kommunalen Ansätze mit der Folie der Uniformität: ein fester Einschulungstermin für alle Schulpflichtigen, gleiche Bücher und gleiche Stundenpläne, vor allem aber eine kontrollierte Ausbildung der Lehrer, die muttersprachlich bisher durch Zufall oder zunftmäßig ausgebildet waren, lateinisch vor allem als angehende Theologen. Der erste Staat, der die Forderung nach einem totalen Schulsystem verwirklichte, war die Habsburger Monarchie (1774). Das österreichische Vorbild wurde von Katharina II. übernommen, als sie 1782 eine Kommission für die Gründung von Volksschulen in Russland einrichtete. Die Ostseeprovinzen haben zunächst mit dem schwedischen Staat zu schaffen, seit 1561 in Nord­estland, seit 1621 in Livland; mit dem Nordischen Krieg (1700– 23 Caradeuc de la Chalotais, Ludwig Renatus de: Versuch über den Kinder-Unterricht. GöttingenGotha 1771, S. 4.

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1721) übernimmt Russland die Herrschaft in den weitgehend selbstregierten Gouvernements Estland und Livland. Schweden befestigte seine Expansion an der Ostsee durch Universitätsgründungen in den neu gewonnenen Gebieten – in Dorpat (1632), im finnischen Turku (Åbo) (1640) und im vormals dänischen Lund (1666). Für die Alphabetisierung der bäuerlichen Bevölkerung sorgte die schwedische Regierung sehr konsequent, und zwar nach dem Vorbild der Kirchenzucht; regelmäßige kirchliche Visitationen jedes einzelnen Haushalts hatten dazu geführt, dass – sei es durch Hausunterricht, sei es durch Schulen – jedes Bauernkind Lesen lernte, wenn auch nicht Schreiben. Verglichen mit der aktiven Bildungspolitik Schwedens griff die russische Regierung später kaum in die Selbstverwaltung des ‚Landesstaats‘ ein. Sie erneuerte zwar die schwedische Schola Carolina in Riga als staatliche Gelehrtenschule („Lyzeum“), nicht aber die Academia Gustaviana in Dorpat; sie gründete und finanzierte die staatliche Armenschule in Riga, sparte jedoch grundsätzlich bei den Ausgaben für Kronseinrichtungen. Im Herzogtum Kurland, noch unbedrängt von einer fremden Staatsgewalt, blieben Bildungsinitiativen nicht aus, waren aber dem Gutdünken des einzelnen Gutsherrn überlassen.

Alphabetisierung auf dem Land Ich komme jetzt zu dem problembeladenen Thema: die Alphabetisierung der Landbevölkerung. Da ist der schwedische Staat der Vorkämpfer des Luthertums, besteht auf der Bildung aller Untertanen und ist bauernfreundlich, um im Sinne des Absolutismus die Macht des Adels zu beschränken. All die wichtigen Arbeiten von Aivar Põldvee und Jaak Naaber zu den Bauernschulen des 17. Jahrhunderts will ich jetzt einfach als bekannt voraussetzen und nur etwas über das Zusammenspiel der staatlichen, kirchlichen und vor allem der persönlichen Initiativen sagen. Gerade diese letzten sind wichtig in dieser Zeit, in der eine staatliche Bürokratie überhaupt erst entwickelt werden musste. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts (1601) stellte der spätere König Karl IX. den livländischen Ständen einige Propositionen zu, darunter auch die, Bauernkinder zum Zweck der Ausbildung aus der Leibeigenschaft zu entlassen, zumal es ja stets mehr Kinder gebe, als Knechte auf dem Hof zu brauchen seien: „Zum funften, dass auch der vom adel pauern sowol als andere alhie im lande mugen frei sein, ihre kinder zur schulen zu senden, auch handwerke zu lernen, welche diesem lande zutreglich und nuze sein [...], dan die [Kinder]wie schlaven zu halten, ist in der christenheit nicht gebreuchlich, auch in der christenheit für vielen jahren abgeschaffet worden.“24 24 Zit. nach Bienemann, Friedrich: Zur Geschichte der livländischen Ritter- und Landschaft 1600– 1602. Briefe und Aktenstücke. In: Mittheilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands 17 (1900), S. 463–600, hier S. 535.

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Die Ritterschaft ging vorläufig darauf ein mit dem Satz: „Würde aber einer oder mehr guter naturen erfunden werden, der oder dieselbigen könten durch einen privatzulass von ihrer herrschaft frei gegeben und zu ehrlichen und dem lande dienlichen sachen admittiret werden; und würde also den richtigen personen geholfen und den adlichen immuniteten und freiheiten nichts benommen“25

– was natürlich erst auf einem Landtag beschlossen werden müsste.26 Das geschah nicht, jedoch haben wir hier die Messlatte, an der wir die Bildungs- oder vielmehr Nichtbildungspolitik der Ritterschaften beobachten können. Die schwedischen Maßnahmen gegen den Adel erreichen Ende des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt, als die Kirchen enteignet werden. Das heißt, den Rittergutsbesitzern wird das Patronatsrecht weggenommen. Der Staat nimmt sich jetzt das Recht, die Pfarrstellen zu besetzen. Und unter dem Schirm dieses massiven Kulturimperialismus gibt es jetzt bemerkenswerte Initiativen: die Initiative von Bengt Forselius in Dorpat, die Initiative von Propst Glück in Marienburg (Alūksne). Deren große Leistungen mussten allerdings auch finanziert werden (wie alle Bildung immer), und das war das Verdienst des genialen Organisators Johannes Fischer in Riga, Generalsuperintendent von Livland (1675–1700). Um zusätzliches Geld locker zu machen, griff Fischer nach vorhandenem Geld und zapfte die Zollkasse an. Die Schweden hatten nämlich verordnet: Von jedem Schiff, das in Riga einläuft, soll ein Taler bezahlt werden für die Armen, also die Armen der schwedischen Garnison oder andere Arme, die es brauchen. Fischer gelang es, den Zweck zu verschieben: Wir sorgen ja jetzt für die Armen und für die Waisen, natürlich für die schwedischen, aber hier auf dem Lande sind noch ein paar andere Arme und Waisen, könnten die nicht auch ... Und so hat er es verstanden, auch dank seiner persönlichen Beziehungen zu König Karl XI., solche persönlichen Initiativen wie die von Glück und Forselius zu finanzieren, indem er die Lizentgelder aus Riga flüssig gemacht hat. Damit wurden die Schulexperimente bezahlt, ebenso aber auch die estnischen und lettischen Schulbücher, denn ein Vorstoß der estländischen Kirchenbehörde, die Ritterschaft möge doch estnische Katechismen drucken lassen oder wenigstens dazu beitragen (1647), blieb ohne Erfolg. Ebenso wichtig war es, Lehrer für den muttersprachlichen Unterricht zu schulen. Der schon erwähnte Bengt Gottfried Forselius begann als Schulmeister und starb früh (1688) als vom König angestellter Inspektor des estländischen Schulwesens. Er begründete in Dorpat eine estnische Schule, an der zugleich mit den Schülern auch Schullehrer ausgebildet wurden. Die Einrichtung verlagerte sich aus der Stadt hinaus auf das Gut Bischofshof (Piiskopi mõis), das dem Generalsuperintendenten 25 Ebd., S. 541. 26 Vgl. ebd., S. 535 und S. 541.

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von Livland gehörte. Dort konnte Forselius weitere begabte Schüler an sich ziehen, die damit der Leibeigenschaft auswichen. Von den 160 Schülern des Forselius sind etwa 35 ihrerseits zu Lehrern geworden, die zum Teil dann den Krieg und die Pest überlebt haben und also eine breite Wirkung entfalten konnten. Forselius’ Methode, das gesprochene Estnisch zu verschriftlichen, wurde eine Grundlage für die Entwicklung der estnischen Schriftsprache. Allerdings war es nicht nur der Nordische Krieg, der diese Ansätze zu stören, ja zu zerstören drohte, sondern auch die brutale Gleichgültigkeit der adligen Gutsherren. Die Schulmeister fluktuierten, sie gingen dahin, wo sie gebraucht wurden, und entzogen sich so der leibeigenen Schollenbindung. Andererseits gab es keine gesetzlichen Bestimmungen für diese neu entstehende Gruppe estnischer Schulmeister, sie aus der Leibeigenschaft zu entlassen. Hier ist eine Grauzone. Die Gutsbesitzer sagen: Das sind ja ehemalige Leibeigene, wir wollen sie wieder zurückhaben samt ihren Kindern, samt ihrem Vieh, samt ihrer Habe. – Wir kennen die Geschichte aus den Briefen der Pastoren, die sich für diese Schulmeister einsetzten. Einem von ihnen, Ignatsi Jaak, gelang es, der Leibeigenschaft zu entkommen, indem er als deutscher Schulmeister ‚germanisiert‘ wurde. Die meisten aber wurden höchst wahrscheinlich gezwungen, zu ihren vorigen Herren zurückzukehren. Möglicherweise entgingen die lettischen Schulmeister diesem Schicksal, aber auch nur, weil sie überwiegend in Schulen auf den königlichen Domänen angestellt waren, und nicht beim Adel. Der Propst Ernst Glück (gest. 1705), Pastor in Marienburg, berichtet darüber dem schwedischen Gouverneur: „Und war also Marienburg der erste ort in Lettland, alwo durch Gottes gnade im ersten Jahre meiner dahinkunfft Ao 1683 drey Schulen zugleich, wiewohl mit kümmerlichen verdrießlichkeiten anhuben. Es gesegnete aber der höchste Gott die Arbeit, daß Ich schon Ao 1684 und 85, von meinen ausgelehreten bauer-Jungen kunte Schulmeister an andere Oerter versenden, und denen Pastoribus überlassen, welche nach diesem Exempel gleichfals daß Schulwesen anhuben [...] und ob gleich noch keine Schulhäuser anfänglich gebauet waren, nahmen doch die herren Pastoren selbe ins hauß“.27

Auf Glücks Engagement geht bekanntlich auch die erste Bibelübersetzung ins Lettische (1685 bzw. 1689) zurück. Bildungsgeschichtlich brachte dann der Nordische Krieg großes Unglück und der Übergang der Ostseeprovinzen an Russland kein Glück. Im 18. Jahrhundert gibt es eine Reihe von Initiativen, um die Alphabetisierung auf dem Land voranzutreiben. Wichtig dabei ist der Unterschied von Kirchspiel-

27 Zit. nach Polanska, Ineta: Johann Ernst Glück (1654–1705). Pastor, Philologe, Volksaufklärer im Baltikum und in Russland. Wiesbaden 2005, S. 38. Die Magd des verschleppten Propstes, Marta Skawrońska, wurde bekanntlich als Katharina I. russische Kaiserin.

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schulen und Hofschulen. Die 134 Kirchspiele Livlands waren oft so groß, dass eine Schule bei der Kirche nicht allzu viel Nutzen bringen konnte. Hofschulen sollten also effektiver sein. 1736 ließ der Generalsuperintendent Jakob Benjamin Fischer, ein Sohn des vorigen, eine Kirchenvisitation durchführen, wonach es in ganz Livland 78 Kirchspielschulen und 30 Hofschulen gab. Anschließend entwarf er ein „Project für die Verbesserung der Baur-Schulen in Liflandt“, wonach zu Schulmeistern vor allem die Kinder „der im Lande häufig sich findenden Handwerker oder anderer Klein-Teutscher“ genommen werden sollten, um den Fragen der Leibeigenschaft auszuweichen.28 Der Landtag fand den bestehenden Zustand für ausreichend  – umso mehr, als Fischer keine Schulpflicht einforderte, sondern nur Schulbesuch oder Hausunterricht. Im selben Jahr 1737 gründeten die Herrnhuter ihr Schullehrerseminar in Wolmarshof (Valmieras muiža) (über das Beata Paškevica sprechen wird), welches freilich mit dem Verbot der Herrnhuter schon 1743 wieder geschlossen werden musste.29 Hier haben wir eine freie Initiative aus dem kirchlichen Raum, ähnlich dem Pietismus, aus dem Herrnhut ja entstand. Die Schulfrage blieb weiterhin im Gespräch, denn der nächste Generalsuperintendent Jakob Andreas Zimmermann forderte seit 1747 wiederholt, Schulmeisterseminare für deutsche und ‚undeutsche‘ Jungen einzurichten. Stets aber befand man den bestehenden Zustand für ausreichend und verbat sich Kritik daran. Erst als die Zarin Katharina II. im Sommer 1764 ihre Provinz Livland bereist hatte, gerieten die Dinge in Bewegung. In seinen Propositionen vom 26. Januar 1765 legt der Generalgouverneur Graf Browne dem Landtag dar, Katharina habe auf ihrer Reise bemerkt, „in wie großem Bedruck der Bauer in Liefland lebe“, und befohlen, dieser Misere abzuhelfen, „und sonderlich der tyrannischen Härte und dem ausschweifenden Despotismo /: ich bediene mich der eigentlichen Ausdrücke unserer großen Monarchin :/ Gräntzen zu setzen“.30 Für das Schulwesen reichte Generalsuperintendent Zimmermann zum gleichen Termin einen Entwurf ein, der in das offizielle Patent vom 18. April 1765 einging. Darin kommt die Ausbildung der Schulmeister allerdings überhaupt nicht mehr vor. Es sollen zwar Schulen eingerichtet werden – bei jedem Gut, das mehr als fünf Haken umfasst, mindestens eine –, aber wer die Kinder unterrichtet, steht dahin. Der Landtag ist überhaupt der Meinung, am besten sei es, die Bauernkinder lernen von ihren ‚Mitgesellen‘ Lesen,

28 Zit. nach Schaudinn, Heinrich: Deutsche Bildungsarbeit am lettischen Volkstum des 18. Jahrhunderts. München 1937 (ND Hannover-Döhren 1975), S. 58. 29 Siehe Beata Paškevicas Beitrag in diesem Band. 30 LNA. 214-2-253, Bl. 147r: Landtagsakten vom Jahr 1765. Den dazugehörigen Schulplanentwurf des Oberkonsistoriums hat Schaudinn, Deutsche Bildungsarbeit (wie Anm. 28), S. 66, Anm. 78 noch vor Augen gehabt, aber ich konnte ihn weder in den Landtagsakten noch Landtagsrecessen auffinden.

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zu denen hätten sie mehr Vertrauen als zu hergelaufenen Schulmeistern. Sollen also die Eltern ihre Kinder unterrichten, oder auch die Verwandten, oder, wenn die Eltern das nicht machen, dann sollen die Gutsbesitzer einen oder zwei tüchtige Leute bestimmen, die das machen, und sie dafür entschädigen, wenn sie wollen. „Weil ein Bauer, welchem die Information der Jugend auferlegt wird, nothwendig manche Versäumniß in seiner Arbeit haben muß, so kann sich der Possessor nicht entziehen, demselben eine billigmäßige Vergütung an seinen übrigen Praestandis, es sey an Arbeit, Gerechtigkeit, oder sonst zu thun, wie es ihm am zuträglichsten däucht.“31

Das heißt, die Kardinalfrage der Lehrerauswahl ist auf eine, wie ich finde, zynische Weise privatisiert. Die Konkurrenz von Hausunterricht und Schulunterricht, von der ich anfangs gesprochen habe, wird jetzt benutzt, um minimalen Unterricht zu machen, das heißt, Lesen und Katechismus auswendig zu lernen. Die Schulpflicht ist geradezu lokalisiert, könnte man sagen, nicht generalisiert. Außer regelmäßigen Kontrollen durch den Pastor gibt es keine öffentliche Unterstützung für die Schulen, weder administrativ noch finanziell. Es ist also nicht überraschend, dass 20 Jahre später (1785) im Rahmen der neuen Statthalterschaftsregierung der Staat wieder von vorne anfangen muss: „Es ist der Statthalterschafts-Regierung von dem Liefländischen Herrn General-Superintendenten vorgestellet worden, daß nach den Berichten verschiedener Prediger und Pröbste im Lande, an vielen Orten, die Dorfs- und Kirchspiels-Schulen, theils wegen Ermangelung der dazu erforderlichen Gebäude, theils aber wegen der untauglichen Subjecte, welche zum Unterricht der Bauer-Jugend gebraucht werden, wenig und fast nicht Frequentirt, geschweige denn die Absicht dieser Anstalten erreicht [...] werde“.32

Von der ständischen Erziehung zur Nationalbildung Die Bildungsgeschichte der Ostseeprovinzen im 18. Jahrhundert stellt uns vor ein großes Rätsel, was die Alphabetisierung auf dem Lande betrifft. Warum blockierten die Ritterschaften die Bildung der Bauern? Und das in einer Zeit, wo die Ideen der Aufklärung über die Grenzen wehen. Es gibt einzelne Ausnahmen, wie Sie wissen, aber das regierende Kollektiv stellt sich doch allen kirchlichen Anstößen in den Weg. Noch dazu, wo man davon ausgehen kann, dass diese Edelleute auf dem Lande die Sprache der Bauern verstanden und gesprochen haben – es war doch vielfach die Sprache ihrer Ammen und Hausbedienten. Wilhelm Krause erzählt von einer adli31 Zit. nach Vičs, Andrejs: Iz latviešu skolu vēstures (Vidzeme no 1700–1800 gadam) [Aus der Geschichte der lettischen Schulen (Livland von 1700–1800)]. Riga 1923, S. 280. 32 Befehl der Rigischen Statthalterschafts-Regierung an das Rigische Ober-Kirchen-Vorsteher-Amt, den 1. Dezember 1785. In: Ebd., S. 295.

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gen Schülerin von ihm, 16 Jahre alt, die Gedichte auf Lettisch schrieb. Man kannte also die Bauernsprachen, warum wollte man sie nicht kultivieren? Am nächsten liegt heutzutage die Erklärung, wie sie auch Herr Joachimsthaler angesprochen hat, dass die Kolonialherren sich nicht vorstellen können, die Kolonisierten hätten oder bräuchten Wissen. Solange sie dumm sind, kann man sie leichter regieren. Das ist plausibel, aber es wäre für Leute, die ins Land der Aufklärung studieren gehen, sagen wir, bei Kant in Königsberg oder bei Schlözer in Göttingen, doch ein seltsames Mitbringsel. Vielleicht muss man hier erneut an die Statusdifferenz von Stadt und Land erinnern. In der Stadt werden eindeutig auch ‚die Undeutschen‘ miteinbezogen, wenn es um Bildungsmaßnahmen geht. Auf dem Land schließt man sie so gut wie völlig aus. Dieser Unterschied könnte mit der Landwirtschaft zu tun haben. Denn gerade hier tritt ein bemerkenswertes Thema auf: die Freiheit oder Unfreiheit der Schulmeister. Die Gutsherren sehen ihre Leibeigenen so sehr als Besitz, dass sie sie nicht einfach loslassen können; im Gegenteil, die Kinder der Leibeigenen bedeuten eine kostenlose Besitzvermehrung. So könnte man das blanke Nein der Gutsbesitzer wirtschaftlich erklären, als einen keineswegs irrationalen, sondern ökonomischen Starrsinn. Im Vergleich mit deutschen Landschaften der Leibeigenschaft würde man diesen Gedanken bestätigen oder widerlegen können. Darüber hinaus fällt mir auf, dass die Kirche weiß, was eine Schule ist und wozu sie gut ist, aber der Landtag, fixiert auf Ökonomie und Hausunterricht, weiß es nicht. Er scheint gar nicht zu begreifen, worum es beim Lehren und Lernen geht. Vielleicht hatten diese Gutsherren, unterrichtet nur durch Hauslehrer oder diszipliniert im Militär, einfach zu wenig Vorstellung von dem, worüber sie entscheiden sollten. Wie auch immer, die regierende Ritterschaft verhindert im 18. Jahrhundert die Alphabetisierung der Bauern, die im 17. Jahrhundert unter dem Schutz des ­Staates begonnen hatte und schon weit fortgeschritten war. Aber ging die Geschichte nicht doch weiter? Ja, wenn die Alphabetisierung aus der aufgeklärten Nützlichkeit für Staat und Wirtschaft gelöst wird, wenn die „Ehre der Nation“, wie es 1763 hieß, neu definiert wird im Rahmen der Nationalkultur. Dazu haben Herder, Merkel und viele andere beigetragen. Ich möchte daher meinen Vortrag beenden mit einem Zitat von Christian Wilhelm Brockhusen, um 1800 Adjunkt in Groß-Roop (Lielstraupe), aus seinem Aufsatz Ein Wort über unsere bisherigen Schulanstalten für die Letten (1803): „Eins der größten Hindernisse ist unstreitig der niedere Stand der Kultur, auf welchem wir noch die Letten finden. Wie läßt es sich von einer rohen Nation erwarten, daß sie zu einem bessern Unterrichte die Hände bieten werde?“33

33 Brockhusen, Christian Wilhelm: Ein Wort über die bisherigen Schulanstalten für die Letten, und einige Vorschläge zu deren Verbesserung. In: Nordisches Archiv 1/August (1803), S. 81–104.

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Hier haben wir den Fürsprecher der Nation, einer Nation, die den Unterricht wollen soll. Die Nation ist der Ausweg. In der ständischen Gesellschaft konnte man aufsteigen durch Bildung, indem man seinen Stand wechselt, das heißt im Baltikum aber auch, die nationale Zugehörigkeit. Doch innerhalb der Nation können, ja sollen alle durch Bildung aufsteigen, die dazu fähig sind. Wenn die Nationalerziehung eine Sache der Nationalkultur ist, dann haben wir den Punkt, wo man Bildung für alle verlangen und für alle begründen kann. Die ‚rohe Nation‘ lässt sich unterrichten, wenn ihre Bildung zur Nationalkultur führt. Und was dann das 19. Jahrhundert betrifft, so muss man sagen: Es ist auch ein tieftrauriger Aspekt der baltischen Geschichte, dass die Deutschen nicht verstanden haben, dass ihre Bildung eine Nationalbildung ist, und geglaubt haben, es sei eine Menschenbildung. Das ist wirklich traurig. Lettland und Estland haben die Einsicht, dass es in ihrem Staat Nationalkulturen, mehr als eine, gibt, 1918/1919 festgehalten, so dass es, wenn auch nur für wenige Jahre, in der Geschichte dokumentiert ist: Ja, es kann mehr als eine Nationalkultur in einem Staat geben. Ich danke Ihnen.

Diskussion Frage Gert von Pistohlkors: Von den Ostseeprovinzen ausgehend, an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, was sollte denn da eine Nationalbildung sein? Antwort Bosse: Das ist eine nicht mehr ständische Bildung, sondern jetzt soll die Nation die Hand reichen, zu einer besseren Bildung. Das heißt, die Nation ist jetzt historisches Subjekt, nicht der Landmann. In dem Text von Brockhusen kommt auch noch der Landmann vor, aber es geht um die Nation. Die Nation ist jetzt nicht mehr das Herrschaftsinstrument der Aufklärung, sondern die Nation ist jetzt die Bevölkerung, die dieselbe Sprache und Abstammung hat. Also insofern kommt ein neues historisches Subjekt hier zart zu Worte. Brockhusen sagt – ich habe das Zitat voreilig abgebrochen – er sagt, wenn wir sie lernen lassen sollen, dann müssen wir ihnen natürlich auch die Freiheit geben, denn sonst werden sie sich, wegen ihrer Unfreiheit, sofort beschweren und unglücklich werden. Also wenn wir sie lernen lassen, die Mitglieder dieser Nation, müssen wir ihnen auch die Freiheit geben. Das ist 1803 ein Plädoyer für Bildung plus Bauernbefreiung. Frage Liina Lukas: Das Nationale, besonders im 18. Jahrhundert, ist ja vor allem eine Fremdbeschreibung, also denken wir an Frankreich zum Beispiel, tongue national, das ist nicht die

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eigene Sprache, das Französische, sondern das ist die Sprache der anderen Nationen, also man bemerkt die eigene Nationalität nicht, man bemerkt die Nationalität der anderen. Deshalb ist das schon auch ein gewisses koloniales Konzept. Antwort Bosse: Ich glaube, das ist so nicht richtig, denn die Nation, das ist ja sozusagen die Versammlung derjenigen, die die Herrschaft ausüben, ob das jetzt Landstände sind oder wer auch immer. Die Nation, das sind zunächst einmal die Herrschaftsausübenden, und dieser Caradeuc de la Chalotais sagt in seiner Education nationale: Eine Nation, die besser unterrichtet ist, wird auch in den Waffen mächtiger sein, und in der Lage sein, ihre Feinde zu besiegen. – Das ist absolut staatlich gedacht, und ich denke, diese staatliche Dimension des Nationalbegriffes, die in der Aufklärung manifest ist, die wird oft ein bisschen zugunsten des Kulturellen runtergespielt. Deswegen ist das auch nicht so sehr eine Fremdbeschreibung, wenn er sagt, eine Nation, die gut ausgebildete Leute hat, wird auch ihre Feinde besiegen können, sondern das ist ein Plädoyer, gerichtet an den König: Gib Geld, damit wir die Leute in die Schule schicken, das wird dir schon nützen. – Ja, wir brauchen natürlich Argumente für die Macht, die den Machthabern schmecken. Aber das ist ganz primitiv machtpolitisch und das ist eindeutig die französische Nation, die ihre Feinde besiegen soll. Also ganz bestimmt keine Fremdbeschreibung. Frage Silke Pasewalck: Ihr Vortrag hat noch einmal verdeutlicht, wie stark eigentlich das Thema Bildung auch von dem Machtdiskurs beherrscht ist und letztlich von ihm abhängt. Die Macht bestimmt, was zu bilden ist, wer zu bilden ist, und wie. Und meine Frage wäre nun, in welchem Verhältnis stehen dann nationale Erziehung und Menschheitsbildung? Wie würden Sie das sehen, was ist sozusagen das weniger Problematische daran? Sie haben das auch angesprochen, dass beide Konzepte im 19. Jahrhundert quasi miteinander konkurrierten. Wir sehen das bei Goethe, finde ich, sehr stark, dieses Konzept der Menschheitsbildung auf der einen Seite und auf der anderen Seite auch der nationalen Ausbildung. Wie würden Sie sagen, stehen diese beiden Konzepte zueinander? Antwort Bosse: Also zunächst mal: Die Bildung und die Macht, das gilt auf dem Land. Aber auch in der Stadt gibt es Mächte und Kräfte. Die Städte, die um den Markt herum organisiert sind, sind marktförmig, und erst mit der Verstaatlichung des Bildungswesens ab 1800 haben wir das Machtproblem so sehr viel deutlicher. Die Germanisierung, die Herr Joachimsthaler angesprochen hat, würde ich unter der Frage ‚Bildung und Aufstieg‘ bedenken. Das muss man, finde ich, abwägen. Nation und Menschheit ist ja ein Abgrund, aber ich würde sagen, das Schlimme am Nationalbegriff ist, dass sie immer glauben, dass sie auch im Namen der Menschheit reden. Das ist eine

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Doppeldeutigkeit, und das beste Beispiel ist die Französische Revolution. Der französische König hat seine Gesetze in vier Sprachen erlassen. Die Französische Revolution sagt, wenn die Leute in die Schule gehen, müssen sie Französisch sprechen, „le français est la langue de la liberté“, ja, sie sollen die Sprache der Freiheit sprechen, und zwar alle, alle gleich. Und da haben wir sozusagen eine faktische Homogenisierung, im Namen der Freiheit, im Namen der Menschheit, was Sie wollen, ich will jetzt nicht polemisch werden. Das, was als klassischer Bildungsbegriff dann hochgehalten wird, ist dann eben doch dazu da, solche Machtmechanismen zu überspringen. Frage Jürgen Joachimsthaler: Ich habe leider den Schluss Ihres Vortrages nicht mitgekriegt, Herr Bosse. Die Frage, die mich interessieren würde, aber möglicherweise haben Sie sie ja schon beantwortet, wäre wirklich, wie weit jetzt dieses Bildungskonzept für die undeutsche Bevölkerung, das es in den Schulen – ja zumindest in den städtischen Schulen – gab, wie weit man da schon so etwas wie ein Vorläufertum für das sehen kann, was sich dann später als Schriftkultur im 19. Jahrhundert in den baltischen Sprachen heraus entwickelt hat, oder gibt es da überhaupt keine Traditionsverbindungen? Antwort Bosse:34 Das ist ein ganz wichtiger Punkt und ich muss zugeben, ich habe ihn vernachlässigt. Auf dem Höhepunkt der Alphabetisierung, am Ende des 17. Jahrhunderts, entstehen ABC-Bücher, Katechismen, Erbauungsbücher, eine Welle von Unterrichtsmaterial in den Volkssprachen. Es ist ja gerade die Schriftlichkeit des Alphabets, die den neuzeitlichen Elementarunterricht gegenüber dem uralten Auswendiglernen hervorhebt. In diesen Zusammenhang gehören nach meiner Meinung auch die ­Arbeiten oder Vorarbeiten zu den Bibelübersetzungen, die in Lettland vor dem Nordischen Krieg, in Estland danach erschienen sind.

34 Hier die Antwort in revidierter Fassung von 2022.

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I. Konzepte der Bildung (Ideologien, Diskurse, Narrative)

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Zur anthropologischen Differenz zwischen den frühen Erziehungs- und Bildungskonzepten bei Hamann und Herder Im Call for Papers für die Tagung Baltische Bildungsgeschichte(n) steht ein beherzigenswerter Satz, der mitten hineinführt in die anthropologische Differenz, die sich zwischen den frühen Erziehungskonzepten Hamanns und Herders auftut. Der Satz lautet: „Bildung hat ja ohnehin immer eine koloniale Dimension, insofern als überlegen definierte Personen angeblich Unterlegenen mit dem Versprechen oder dem Anspruch gegenübertreten, diese einem Konzept gemäß zu ‚bilden‘, demzufolge sie erst zu richtig ‚gebildeten‘ Menschen werden können sollen.“1

Dieser Satz ist mit dem Stichwort „kolonial“ sichtlich auf Fälle gemünzt, in denen ganze Völker einander ihre Lebens- und Denkweisen aufzwingen. Wenn ich mir aber das Wort „kolonial“ hilfsweise mit „gewaltsam“ übersetze, dann heißt die Eingangsformulierung: „Bildung hat ja ohnehin immer eine gewaltsame Dimension“, und das heißt nichts anderes, als dass Bildung in allen ihren Erscheinungsweisen – als Völkerunterwerfung, als Selbstdisziplinierung oder als Kindererziehung – eine gewaltsame Seite hat, trete sie nun als brutale Gewalttätigkeit gegenüber anderen Völkern auf, als Selbstkasteiung zur Erringung von Ruhm und Status oder als scheinbar leise und sanfte Gewalt pädagogischer Lenkung. Wenn solche Gewaltsamkeit aber in allen Bildungsprozessen unvermeidlich ist, muss gefragt werden, woraus sie entsteht und wie sie gerechtfertigt wird. Auch darüber gibt der zitierte Satz Auskunft. Zur Entstehung heißt es dort, dass es in Bildungsprozessen „als überlegen“ und als unterlegen „definierte Personen“ gibt. Ich richte die Aufmerksamkeit auf das Wort „definiert“. Mit ihm wird die Sprache, und das heißt: es werden unsere Vorstellungen zwischen die Wirklichkeit und uns geschoben. Wir haben die Wirklichkeit nur durch das Medium der Sprache. Wirklichkeit bleibt immer nur mediale Wirklichkeit und in gewissem Maße unserer Willkür unterworfen. Entscheidend ist nicht, wer überlegen oder unterlegen ist, sondern wer die Sprachmacht besitzt, Überlegenheit zu definieren und anzugeben, wer die Ohnmacht der Unterlegenheit erleiden muss. Gerechtfertigt wird die Überlegenheit in unserem Ausgangssatz da1 Joachimsthaler, Jürgen: Call for Papers: Baltische Bildungsgeschichte(n) / Baltic Educational Histories. 19.09.2016–22.09.2016, Tartu. In: H-Soz-Kult (20.09.2015), URL: https://www.hsozkult.de/ event/id/termine-28884 (08.07.2020).

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durch, dass der Bildende den Unterlegenen mit einer bestimmten Vorstellung von Bildung gegenübertritt und sich anheischig macht, sie dieser bestimmten Vorstellung, diesem, wie es in dem Satz heißt, „Konzept gemäß zu ‚bilden‘“, wodurch „sie erst zu richtig ‚gebildeten‘ Menschen werden können sollen.“ Zur Definitionsmacht des Überlegenen gehört also selbstverständlich, dass sein „Konzept“ „richtig“ ist, also rechtmäßig dem zu Bildenden auferlegt werden darf. Aber was ist ein Bildungskonzept? Es enthält ein Bild von dem, was der Unterlegene werden soll, und die Methode, wie man ihn dorthin führt. Bildung ist also abhängig von dem Bild, das sich der Bildner oder Erzieher von seinem Bildungsziel macht, und entscheidend ist, welchen Bildern er dabei folgt und wie er sie umsetzt.2 In der deutschen Sprache ist der Zusammenhang von Bild und Bildung seit den mittelalterlichen Mystikern präsent.3 Im 18. Jahrhundert und besonders bei Hamann und Herder wird aber die Abhängigkeit dessen, was wir Wirklichkeit nennen, von unseren Bildern besonders aktuell. Hamann sagt in einem berühmt gewordenen Satz: „Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit“.4 Darin steckt einmal die von Herder geteilte Aufwertung der Sinnlichkeit als Ursprung aller menschlichen Erkenntnis, darin steckt aber auch die ebenfalls von Herder geteilte, aber durchaus nicht konsequent durchgehaltene Überzeugung von der grundsätzlichen Begrenztheit menschlicher Erkenntnis auf bloße Bilder. Dass wir die Wirklichkeit nur in selbst gemachten Bildern haben, heißt, dass sie sich uns immer entzieht. Und dass wir diese Bilder selber machen, heißt, dass sie von unserer Endlichkeit und Vergänglichkeit gezeichnet sind und niemals Allgemeingültigkeit erlangen können. Für Erziehungsprozesse bedeutet solche Begrenztheit, dass Erzieher niemals ein allgemein geltendes Menschenbild vor Augen haben, sondern immer nur ihr eigenes, oder das ihrer von Moden abhängigen Epoche. Dieses eigene, begrenzte Bild als „richtig“ bei der Bildung anderer durchzusetzen – was wir müssen, weil wir nicht nicht erziehen und bilden können – bedeutet immer, andere Bilder auszuschließen, zu bekämpfen, also gewaltsam vorzugehen, wie sanft auch immer wir unser Bild dem zu Erziehenden oktroyieren.

2 Bekannt ist die Kontroverse um die Aussagen Frischs und Brechts über das Bild, das man sich vom anderen Menschen macht. Frisch: „Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.“ (Frisch, Max: Tagebuch 1946–1949. Frankfurt/M. 1976, S. 32). Dagegen Herr Keuner: „Ich mache einen Entwurf von ihm […] und sorge, daß er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein […], der Mensch.“ (Brecht, Bertolt: Geschichten vom Herrn Keuner. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 12. Frankfurt/M. 1967, S. 373–415, hier S. 386). 3 Vgl. Meyer-Drawe, Käte; Witte, Egbert: Artikel „Bilden“. In: Konersmann, Ralf (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Darmstadt ³2011, S. 61–80, hier S. 65, 69. 4 Hamann, Johann Georg: Aesthetica in nuce. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Josef Nadler. Bd. 2: Schriften über Philosophie, Philologie, Kritik. 1758–1763. Wien 1950, S. 195–240, hier S. 197.

Zur anthropologischen Differenz zwischen Hamann und Herder

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Dass Menschen sich diese begrenzten Bilder machen müssen, um etwas selbstständig als Bilderwirklichkeit hervorbringen und praktisch gestalten zu können, führte zum menschlichen „Könnensbewußtsein“5 der Neuzeit und kann als Vorzug des Menschen vor anderen Kreaturen gewürdigt und ausgebaut werden. Diesen Deutungsweg geht Herder. Dass es immer nur begrenzte, vergängliche Bilder sind, die wir Anderen als „richtig“ aufnötigen und Alternativen ausschließen oder vernichten, kann dagegen als notwendiges Verhängnis des Menschen verstanden werden, das nicht aus dem Auge verloren werden darf. Diesen Deutungsweg geht Hamann. Herder hat im Blick, was wir hervorbringen und gestalten können, Hamann, was wir dabei ausschließen und zerstören müssen. Als Beispiel für diese Differenz mag ihr Urteil über Peter den Großen gelten. Die beiden Preußen Hamann und Herder entwickelten ihr frühes Denken im politischen Kontext Livlands und verkehrten im selben Kreis von Aufklärern in Riga (Rīga). Dort war die Verehrung Peters des Großen selbstverständlich, hatte er doch den Deutschbalten ihre Privilegien garantiert, mit denen sie das Land beherrschten.6 Herder übernahm diese Verehrung Peters, Hamann nicht. Für Herder war der Zar der große Erzieher seines Volkes, der es an die Bildungsgüter des Westens heranführte. Den brutalen Despotismus des Alleinherrschers nahm er billigend in Kauf und erhob mit seinen Rigaer Freunden Peter den Großen „zum Schöpfer Rußlands“.7 Um Peters Vorgehen als alternativlos zu rechtfertigen, nahm Herder diese Vorstellung wörtlich: Peter sei ein „Schöpfer der Nation, wie Gott ein Schöpfer der Welt ist“,8 denn Peter kenne „sein Volk […], wie Gott die Welt“9 kennt. Das heißt also: Wer sein Volk schaffend hervorbringt und deshalb kennt, wie Gott die Welt kennt, die er erschaffen hat, der kann nichts falsch machen.10 Das sah Hamann freilich ganz anders. Er nahm das Rigaer Wort von Peter als „Schöpfer Rußlands“ auf

15 Meyer-Drawe/Witte, Bilden (wie Anm. 3), S. 70, 71. 16 Zum Bild Peter I. in historischen Lehrwerken Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. den Beitrag von Ljubov Kisseljova in diesem Band. 17 Herder, Johann Gottfried: Über den Fleiss in mehreren gelehrten Sprachen (1764). In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, S. 22–29, hier S. 26. 18 Ders.: Gedanken bei Lesung Montesquieus (Nantes 1769). In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd.  9/2: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Pädagogische Schriften. Hg. v. Rainer Wisbert. Frankfurt/M. 1997, S. 204–208, hier S. 206. 19 Ebd., S. 207. 10 Den hier auftauchenden Widerspruch zwischen menschlicher Perspektivität und Peters Erschaffen Rußlands versucht Herder an anderer Stelle tatsächlich dadurch zu lösen, dass er Peter die ursprüngliche Absicht Gottes mit Rußland in sich fühlen und herausbilden lässt: „Peter der große fühlte gleichsam in sich Alles, was die Rußische Nation werden kann und werden wird.“ (Herder, Johann Gottfried: Sammlung von Gedanken und Beispielen fremder Schriftsteller über die Bildung der Völker [Paris 1769]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 9/2 [wie Anm. 8], S. 209– 221, hier S. 213).

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und zeigte in ironischer Polemik gegen die Vorstellung von Peter als „Gott seines Volks“ oder als „Schöpfer seines Volkes“,11 was es heißt, wenn der Mensch sich als Schöpfer aufspielt.12 Sein begrenztes, zeitgebundenes Bild von den westlichen Errungenschaften definierte Peter als „richtig“, aber er musste es rücksichtslos und menschenverachtend durchsetzen, indem er Alternativen ausschloss, Traditionen abbrach, Landschaften wie Livland verwüstete und – wie Hamann an Peters Ukas zum gewaltsamen Abscheren der Bärte deutlich macht – sein Volk nicht aus Eigenem wachsen ließ.13 Peter I. war für Hamann deshalb nicht ein Schöpfer, sondern ein Zerstörer seines Volks.14 Soviel zur Illustration des unterschiedlichen Blicks auf den bildenden Menschen bei Herder und Hamann; nun zu den Begründungen für diese anthropologische Differenz.

Selbstbildung oder Selbsterkenntnis Der Mensch hat also nur Bilder von der Wirklichkeit, niemals diese selbst. Das ist die anthropologische Ausgangslage. Dass der Mensch selbst diese Bilder machen und durch seine Praxis verwirklichen kann, führte in der Renaissance zur Erhöhung und Selbstbewunderung des Menschen als Macher und Schöpfer. Dass aber diese selbstgeschaffene Wirklichkeit immer nur den endlichen Vorstellungen vergänglicher Menschen entspringt und durch ihre Begrenztheit andere Vorstellungen und Wirklichkeiten verdrängen und zerstören muss, daran erinnert seit jeher die Bibel. Wenn man diese anthropologischen Fakten des Machen-Könnens und zugleich Zerstören-Müssens rückübersetzt in die biblische Sprache, dann erscheint das MachenKönnen als Sein-Wollen wie Gott und das Zerstören-Müssen als die unvermeidliche Sünde des Menschen. Locus classicus für diese Anthropologie ist die Erzählung vom Sündenfall aus dem Buch Genesis. Nah heran an die Bilderanthropologie führt zudem das Bilderverbot des Alten Testaments. Es macht klar, dass Bilder nur begrenzte, vergängliche Machwerke des Menschen sein können. Von Gott Bilder machen,

11 Beide Formulierungen bei Hamann, Johann Georg: Sokratische Denkwürdigkeiten. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 57–82 , hier S. 62. 12 Herder kannte Hamanns Sokratische Denkwürdigkeiten sehr gut, als er seine Gedanken bei der Lesung Montesquieus in Nantes schrieb. Aber er hatte, wie so oft, Hamanns Ironie nicht verstanden und seine Formulierungen für bare Münze genommen. 13 Hamann, Johann Georg: Brief an Immanuel Kant. 27.07.1759. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. 1: 1751–1759. Hg. v. Walter Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden 1955, S. 373–381, hier S. 376. 14 Zu Hamanns und Herders Auffassung Peters vgl. Graubner, Hans: Peter der Große als Pygmalion. Zum frühen Peter-Bild bei Hamann und Herder. In: Angermann, Norbert; Garleff, Michael; Lenz, Wilhelm (Hg.): Ostseeprovinzen, Baltische Staaten und das Nationale. FS. f. Gert von Pistohlkors zum 70. Geb. Münster 2005, S. 113–136.

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hieße, seine menschenunabhängige Wirklichkeit in endliche, vergängliche Vorstellungen zu pressen. Die Bibel nennt solche Bilder „Götzenbilder“.15 Rückübertragen auf die neuzeitliche Karriere des Menschen als Schöpfer seiner Welt oder gar seiner selbst heißt das, dass er sich notwendig mit Götzenbildern umgibt und Götzenbilder seiner selbst entwirft. Die Genesis bietet bekanntlich zwei Schöpfungsberichte. Der jüngere betont das Machen-Können mit dem Auftrag: „füllet die Erde und machet sie euch untertan, und herrschet“.16 Und er legitimiert diese Gewaltausübung mit der Ebenbildlichkeit: Gott habe den Menschen sich zum Bilde geschaffen.17 Der ältere, eben die Sündenfallgeschichte, stellt dieses Machen-Können samt der Ebenbildlichkeit ins Zwielicht einer teuflischen Einflüsterung, die mit dem Versprechen: „[I]hr werdet sein wie Gott“18 die Unglücksgeschichte des Menschen begründet. Um diese auszuhalten, stellt ihr das Neue Testament mit dem Christusglauben die Heilsgeschichte zur Seite. Durch die Aufwertung des Menschen zum gottebenbildlichen Macher und Gott der Erde gewinnt der jüngere Schöpfungsbericht über den älteren die Oberhand. Spätestens im 18. Jahrhundert wird die Gegenbotschaft des älteren dann radikal ausgeklammert und umgedeutet. Der junge Herder sieht im Sündenfall „das Risquo, das der Mensch auf sich nahm, außer seinen Schranken, sich zu erweitern, […] zu seyn wie Gott“.19 Und Schiller erklärt, der Sündenfall sei „ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte“ gewesen.20 Parallel zu dieser Umwertung des Sündenfalls erfolgen die Abwertung der Heilsgeschichte und die Marginalisierung der Christus-Gestalt. Im Blick auf die Ebenbildlichkeit mit Gott wurde schon früh die Frage nach der Vollkommenheit des Menschen gestellt. Als Gottes Bild müsste der Mensch vollkommen sein, aber die Realität seiner Endlichkeit und Begrenztheit sprach dagegen. Die Heilsgeschichte stellte in Aussicht, dass Christus ihn zur göttlichen Vollkommenheit erlösen werde. Aber nach der Verabschiedung von Christus und Heilsgeschichte musste der Mensch seine Vervollkommnung zum Ebenbild Gottes in die eigene Hand nehmen. Die Geschichtsphilosophie säkularisierte deshalb die Heilsgeschichte

15 Z. B. 4. Mos 33,52 („Götterbilder“); 2. Sam 5,21; 1. Kön 15,12; Apg 17,16 (hier und im Folgenden zit. nach der Lutherbibel der Deutschen Bibelgesellschaft, revidiert 2017). 16 1. Mos 1,28. 17 1. Mos 1,27. 18 1. Mos 3,5. 19 Herder, Johann Gottfried: Brief an Johann Georg Hamann. Ende April 1768. In: Ders.: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803 in 17 Bänden. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek (bis Bd. 8) und Günter Arnold, Weimar 1977–2014. Bd. 1: April 1763–April 1771, Weimar 1977, S. 97–102, hier S. 98 (Hervorhebung H. G.). 20 Schiller, Friedrich: Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde, 1790. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Bd. 4: Historische Schriften. München 41966, S. 767–783, hier S. 769.

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zur Fortschrittsgeschichte der menschlichen Selbstvervollkommnung. Nach ­Lessing übergab Gott seine anfängliche „Erziehung des Menschengeschlechts“21 in die Hand des Menschen selbst. Kant ließ diesen Menschen „aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ 22 heraustreten und sich zu mündiger Autonomie bilden. Erst nach der Französischen Revolution, welche die unlösbare Verstrickung hehrer Menschenbilder mit brutalster Menschenverachtung zur Schau stellte, dämpfte Schiller den autonomen Aufschwung zu einer nur noch „ästhetische[n] Erziehung des Menschen“.23 Hamanns und Herders frühe Erziehungsvorstellungen werden in diesem Kontext mit dem entsprechenden theologischen Vokabular entworfen. Beide folgen der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Herder sieht darin aber den Schöpfergott als Vorbild der Schaffenskraft und Kreativität, mit der der Mensch aus sich selbst sein göttliches Ebenbild bilden kann und soll. Ziel aller Erziehung ist die Anleitung zur Selbstvervollkommnung, zur autonomen Selbstbildung. Für Hamann ist das Ebenbild dagegen nicht der Schöpfergott, sondern der erniedrigte Christus in uns. Damit trägt er dem Sündenfall und der Rettungsperspektive im Menschen Rechnung und verankert in ihm den ermordeten und den helfenden Gott. Auf den helfenden ist der Mensch angewiesen, die Tötung besorgt er selbst, denn er ist immer, auch gegen seinen Willen, „der Brudermörder“ des „eingeborenen Sohnes“.24 Das Ebenbild, auf das der Mensch in sich stößt, ist daher bei Hamann nicht seine gottähnliche Schöpferkraft, sondern der Inbegriff einer Ich-Spaltung im Sinne des Paulus, die aus eigener Kraft nicht aufzuheben ist: „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“.25 Die Ebenbildlichkeit begründet bei Herder also den Höhenflug des Menschen zu autonomer Selbstbildung, bei Hamann die Einsicht in seine hilfsbedürftige Heteronomie, die er als „Höllenfahrt der Selbsterkänntnis“ erfährt.26 Was für Herder als Aufstieg zu immer größerer Vollkommenheit gilt, ist für Hamann der Niedergang, die Höllenfahrt in die menschliche Ohnmacht.

21 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. 8 Bde. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1970–1979. Bd. 8. Hg. v. Helmut Göbel, S. 489. 22 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Bd. 8: Abhandlungen nach 1781. Berlin 1968, S. 33–42, hier S. 35. 23 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Bd. 5: Erzählungen / Theoretische Schriften. München 41967, S. 570–669, hier S. 570 (Hervorhebung H. G.). 24 Hamann, Johann Georg: Gedanken über meinen Lebenslauf. London d[en] 21. April 1758. In: Ders.: Londoner Schriften. Historisch-kritische Neuedition. Hg. v. Oswald Bayer u. Bernd Weißenborn. München 1993, S. 313–349, hier S. 343. 25 Rö 7,19. 26 Hamann, Johann Georg: Abaelardi Virbii Chimärische Einfälle über den zehnten Theil der Briefe die Neueste Litteratur betreffend. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 157–165, hier S. 164 (Hervorhebung H. G.).

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Bei Herder ist die Abkehr von Hamanns Position zeitlich ziemlich genau zu bestimmen. Sie fällt in das Jahr 1764, dem Jahr seiner Loslösung von Königsberg (Kaliningrad) und seines Antritts in Riga. In seiner lateinischen Schulrede am Friedericianum in Königsberg im Frühjahr 1764 sind die Schüler noch von dem „moralischen Schandflecken“ der Sünde „entstellt“, der zum „Kummer“ der Lehrer „schon den ungeborenen Kindern mitgegeben“ ist. Auch nicht die „Abstammung“ von Gott, „dem gerechtesten Vater“, also auch nicht die Ebenbildlichkeit nimmt „sie aus der Zahl der Sünder“.27 Ein halbes Jahr später, in Herders erstem Rigaer Text, wird diese Position aufgegeben. Die Schrift ist bezeichnenderweise eine polemische Attacke gegen Hamann, eine Parodie auf dessen christologische Ästhetik. Herder erklärt den Christus-Glauben für einen Mythos, der für die Gegenwart nicht mehr gelte. Die Ebenbildlichkeit wird deshalb allein auf eine dem Menschen innewohnende Schaffenskraft des Schöpfergottes bezogen. Es geht jetzt darum, diesen „Gott im Menschen zu singen“, der „sich an sich selbst zum Gotte schafft“.28 Damit ist die autonome Selbstbildung etabliert und Hamanns heteronome Selbsterkenntnis abgewiesen.

Lehrer oder Schüler Es ist nun zu fragen, wie sich diese anthropologische Differenz in der Erziehungskonstellation zwischen Lehrer, Stoff und Schüler bei Hamann und Herder auswirkt. Herder geht es darum, was der Lehrer ausrichten, Hamann darum, was er anrichten kann. Bei Herder steht darum der Lehrer mit Blick auf den Stoff im Vordergrund, bei Hamann der Lehrer mit Blick auf den Schüler. Beide haben ihre frühen Erziehungsvorstellungen wesentlich im Baltikum entworfen und dort umzusetzen gesucht. Hamann war in den Jahren 1752 bis 1759 Hofmeister in baltischen Adelshäusern und Hauslehrer in Riga, Herder wurde fünf Jahre später, von 1764 bis 1769 Lehrer an der Domschule, der Vorzeige-Schule des Rigaer Patriziats, und Privatlehrer für ausgewählte Schülerinnen. Beide unterrichteten natürlich ausschließlich Kinder aus der deutschbaltischen Oberschicht des Landes. Herder übernahm sogar eine

27 Herder, Johann Gottfried: Ineuntem hominis aetatem maximis commodis ac periculis obnoxiam. Examinis vernalis oratio. 1764. Übers. aus dem Lateinischen v. Klaus Pradel. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 9/2 (wie Anm. 8), S. 975–984, hier S. 981. Dass dieser „Schandfleck“ nach der Logik der Argumentation auch dem Lehrer „mitgegeben ist“, wird nicht reflektiert. 28 Ders.: Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose [1764]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1 (wie Anm. 7), S. 30–39, hier S. 34. Zu dieser Schrift Herders und ihrer neuen Datierung siehe: Hans Graubner: Dihyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose. In: Herder Handbuch. Hg. v. Stefan Greif, Marion Heinz, Heinrich Clairmont. Paderborn 2016, S. 395–422, hier S. 395–398.

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Lieblingsschülerin Hamanns, das sogenannte „Hänschen Berens“,29 deren „Geist“ und „Feuer“ beide rühmen.30 Obwohl wir über Unterschiede ihrer Lehrart kaum etwas erfahren, scheint Hamann doch zu befürchten, dass Herder, statt dieser Schülerin zuzuhören, ihr eher seine eigenen „Gedankenfahrten“31 vorträgt,32 dass er, von seinen eigenen Ideen begeistert, diese den Unterricht dominieren lässt.33 Hamann ist davon überzeugt, dass auch der beste Lehrer der Bilderanthropologie nicht entkommt, sondern das Kind nach seinem Bilde formen und deshalb auch in der sanftesten Erziehung Gewalt ausüben, das seinem Bilde nicht Entsprechende ausschließen und zerstören, also, religiös ausgedrückt, am Kinde sündigen muss. Der Lehrer muss deshalb, wie Hamann in seiner ersten großen Schrift, den Sokratischen Denkwürdigkeiten, ausführt, immer auch ein „Bildhauer“ sein, der „wegnimmt und hauet, was am Holze nicht seyn soll,“ aber „eben dadurch die Form des Bildes fördert“.34 Wenn der Lehrer als Bildhauer aber vornehmlich diese von ihm selbst erschaffene Form sieht, sich an ihr berauscht und die angerichteten Zerstörungen und damit seine eigene Endlichkeit und Fehlbarkeit verdrängt, dann vollzieht er in besonderer Weise den Sündenfall und will sein wie Gott. Zum Inbegriff dieses frevelhaften Selbstschöpfers wird bei Hamann die Figur des Pygmalion, des Künstlers, der sich die Gestalt einer Frau modellierte und sie, so jedenfalls die folgenreiche Deu29 Hamann, Johann Georg: Brief an Johann Gottfried Herder. 18.05.1765. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. 2: 1760–1769. Hg. v. Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden 1956, S. 330–334, hier S. 332. 30 Herder, Johann Gottfried: Brief an Johann Georg Hamann. 23.04./04.05.1765. In: Ders.: Briefe. Bd. 1 (wie Anm. 19), S. 40–43, hier S. 42; Hamann, Johann Georg: Brief an Johann Gottfried Herder. 18.05.1765. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. 2 (wie Anm. 29), S. 330–334, hier S. 332. 31 Hamann, Johann Georg: Brief an Johann Gottfried Herder. 18.05.1765. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. 2 (wie Anm. 29), S. 330–334, hier S. 332. 32 Herder übernahm schon in Königsberg einen Schüler Hamanns, berichtet aber, dass er an diesem „Klotz“ ebenso wenig ausrichten konnte wie Hamann selbst (Herder, Johann Gottfried: Brief an Johann Georg Hamann. Nach dem 10.08.1764. In: Ders.: Briefe. Bd. 1 [wie Anm. 19], S. 25–29, hier S. 27). „Hänschen Berens“ war Johanna Sophia, die Tochter von Arend Berens, dem Chef des Rigaer Handelshauses. Herder berichtet später, dass man ihm in Riga Absichten auf diese junge Frau nachgesagt habe (Herder, Johann Gottfried: Brief an Johann Georg Hamann. 22.11.1768. In: Ders.: Briefe. Bd. 1 [wie Anm. 19], S. 113–117, hier S. 116). Hamann hatte fünf Jahre früher eher Absichten auf ihre Tante, Katharina Berens, die Schwester des Chefs. 33 Es ist bezeichnend, dass Herder Hamanns Mahnung, er solle bei der Erziehung des Mädchens vor allem Zuhörer, „auscultator“, sein, nicht versteht, und dass Hamann sie nicht aufklärt, sondern auf sich beruhen lässt. Vgl. Hamann, Johann Georg: Brief an Johann Gottfried Herder. 18.05.1765. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. 2 (wie Anm. 29), S. 330–334, hier S. 332 u. Brief an Johann Gottfried Herder. 30.06.1765. In: Ebd.: S. 338­–340, hier S. 339; Herder, Johann Gottfried: Brief an Johann Georg Hamann. 21.05.1765. In: Ders.: Briefe. Bd. 1 (wie Anm. 19), S. 43–45, hier S. 45. 34 Hamann, Johann Georg: Sokratische Denkwürdigkeiten. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 57–82, hier S. 66. Hamann zitiert mit diesem Satz Luther. Vgl. Blanke, Fritz: Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Gütersloh 1959 (Hamanns Hauptschriften erklärt 2), S. 109.

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tung Rousseaus, auch lebendig machte.35 Den Aufklärern Rigas, besonders seinem Freund, dem Lehrer und Domschulrektor Johann Gotthelf Lindner, hält Hamann vor, dass sie „ihre Nächsten“ als „leblos beurtheilen“ und sich ihnen gegenüber „für [lebengebende] Pigmalions halten, für große Bildhauer“.36 Und natürlich wird Hamanns Inbegriff bildender Vergewaltigung, Peter der Große, gleich am Anfang der Sokratischen Denkwürdigkeiten als solch ein negativer Pygmalion gezeichnet. Herder, der diese Schrift Hamanns genau kennt, bezieht sich auf diese Stellen und setzt sich von ihnen ab. Er sieht Pygmalion nur positiv als gottähnlich schaffenden und bildenden Former. In seiner frühen Schrift Von der Grazie in der Schule ist es die Aufgabe des Lehrers, mit seiner Grazie „Köpfe, Herzen und Menschen zu bilden“ wie „Pygmalion sich sein Weib schnitzte“.37 Und noch Herders Plastik stammt nach dem Untertitel des Werks „aus Pygmalions bildendem Traume“.38 Herders frühes Lehrerbild entspringt der Hochstimmung des künstlerischen Könnens, Hamanns Lehrerbild hingegen der Demut des allzumal Sünderseins. Schon in Herders Königsberger Schulrede erschienen die Lehrer als „hominum Dii“, als „Götter der Menschen“.39 Ein Jahr später in Riga, in der Rede Von der Grazie in der Schule ist der Lehrer ein gottgleicher „Schöpfer der Jugendseelen“40 und wird als Künstler sogar zum Zauberer,41 unter dessen Händen „alles […] schön werden“ kann, denn, so die Begründung: alles, „was Midas berührte ward Gold“.42 Dass dieser mythische König Midas mit solcher Kunst zugleich alles Lebendige in totes Gold verwandeln musste, hatte Herder im poetischen Schwung seines Vergleichs offenbar vergessen.43 Für Hamann folgt aus der Höllenfahrt eines Lehrers zur Selbsterkenntnis die Demut als wichtigste Lehrertugend. Er solle sich zurücknehmen und bei der 35 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Pygmalion, scène lyrique (1762). In: Ders.: Oeuvres complètes. Hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Bd. 2: La nouvelle Héloïse. Théâtre. Poésies. Essais littéraires. Paris 1969, S. 1224–1231. 36 Hamann, Johann Georg: Brief an Johann Gotthelf Lindner. 08.08.1759. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. 1 (wie Anm. 13), S. 386–391, hier S. 390. 37 Herder, Johann Gottfried: Von Der Grazie in der Schule. Schulrede vom 27. Juni 1765. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 9/2 (wie Anm. 8), S. 147–179, hier S. 154 (Hervorhebungen H. G.). 38 Ders.: Plastik. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hg. v. Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Frankfurt/M. 1994, S. 243–326, hier S. 243. 39 Ders.: Ineuntem hominis aetatem maximis commodis ac periculis obnoxiam. Examinis vernalis oratio. 1764. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 9/2 (wie Anm. 8), S. 131–137, hier S. 136 (dt. Übers. ebd., S. 982). 40 Ders.: Von Der Grazie in der Schule (wie Anm. 37), S. 162. 41 Durch seine Grazie wird der Lehrer zu demjenigen, „der einzig und allein der Jugend die Schulkenntnisse Einzaubert“ (ebd.). 42 Ebd., S. 166. 43 Vgl. auch den irritierten Kommentar des Herausgebers Rainer Wisbert: „Unglücklicher Vergleich“ (ebd., S. 1038).

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Durchsetzung seiner Bildungsvorstellungen das „evangelische Gesez der Sparsamkeit“ befolgen,44 das heißt, wie Hamann mit biblischem Anklang sagt, er solle „ein kluger Haushalter seiner [eigenen] Ungerechtigkeiten“ sein.45 Der Focus des Unterrichts verlagert sich bei Hamann deshalb weg vom Können des Lehrers und seinen Lehrinhalten hin zu den Bedürfnissen des Kindes. Legt Herder den Schwerpunkt auf den Lehrer, der etwas aus sich gemacht hat und etwas aus den Kindern zu machen gedenkt, so Hamann auf das Kind, aus dem noch nichts gemacht worden ist, das aber an der unvermeidlichen Wende steht, aus fremden Bildern zum Ich gebildet zu werden. Sechs Jahre vor Rousseaus Émile erwog Hamann deshalb, mit der Entdeckung des Kindes „die Welt über die Erziehung aufzuwecken“.46 Diese Erziehung Hamanns hat zwei Schwerpunkte: erstens die Umkehrung der Lernrichtung: nicht mehr vom Lehrer zum Schüler, sondern vom Schüler zum Lehrer und als deren Folge zweitens die nachdrückliche Aufwertung des Unterrichtsgesprächs, des Dialogs zwischen Kind und Lehrer anstelle selbstgewisser Lehrermonologe. Dazu ein Beispiel aus Hamanns und Herders Privatunterricht adeliger Schüler: Hamann tritt in einen Dialog mit seinem Schüler Peter Christoph Baron von Witten ein, später in einen Briefwechsel mit ihm. Er regt ihn an, über seine Aufgaben als Angehöriger der Ritterschaft nachzudenken, die Meinung seiner Eltern zu erwägen, seine eigene Situation, seine Wünsche und Vorstellungen frei darzulegen.47 Dagegen erfahren wir in Herders ausführlicher Skizze, zum Unterricht des jungen Herrn von Zeschau in Bückeburg von diesem Jüngling außer seinem Namen nichts: nichts von seinen Voraussetzungen, von seiner Situation als Page der Gräfin Maria, von seinem Lernverhalten, nicht einmal davon, warum er das von Herder Entworfene lernen soll.48 Das Ganze ist stattdessen ein schülerunabhängiger Lehrplan, der ausschließlich und detailliert Herders Geschichtsphilosophie entwickelt. Herder braucht auch nicht auf die Besonderheiten des Schülers einzugehen, weil dieser „Lehrplan für den einzelnen Menschen“ nach seiner Überzeugung „Gottes allgemeinem Lehrplan für die Menschheit“ entspricht.49

44 Hamann, Johann Georg: Brief an Johann Michael Hamann. 24.10.1783. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. 5: 1783–1785. Hg. v. Arthur Henkel. Frankfurt/M. 1965, S. 88. 45 Ders.: Schriftsteller und Kunstrichter. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 329– 338, hier S. 334. 46 Ders.: Brief an Johann Gotthelf Lindner. Mai 1756. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. 1 (wie Anm. 13), S. 196–199, hier S. 198. 47 Vgl. ders.: Briefe an Baron von Witten. September bis Oktober 1758. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. 1 (wie Anm. 13), S. 247–249, 250–252, 255–257, 260–262, 267–269, 270–272, 272–274. 48 Herder, Johann Gottfried: Skizze, zum Unterricht des jungen Herrn von Zeschau. 1772. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 9/2 (wie Anm. 8), S. 240–249. 49 So der Kommentar des Herausgebers Rainer Wisbert, ebd., S. 1091. Wisbert führt diese Überzeugung als Grund dafür an, dass der Pädagoge Herder seinen Lehrplan weder „am Lebensalter“ noch „an der Geschichtlichkeit und Individualität“ noch „am Verstehensprozeß des Jünglings“ orientiert.

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Zum Schluss noch ein Blick auf Hamanns Umkehrung der Lernrichtung im Unterricht. Wenn die Selbsterkenntnis uns nötigt, unser Lehramt nur mit „viel Demuth u Selbstverleugnung [zu] treiben“,50 dann heißt das: auf das Kind schauen und unser Können und unsere Lehrpläne in den Hintergrund rücken. Daraus entsteht Hamanns pädagogisches Glaubensbekenntnis, dass „Kinder […] unsere Lehrer sind, und wir von ihnen lernen müßen“.51 Entscheidend ist aber, was der Lehrer von den Kindern in dieser theologischen Pädagogik lernen soll. Es ist der Anblick ihrer Hilflosigkeit, Kleinheit und Abhängigkeit von den begrenzten Bildern, die wir ihnen von der Welt und sich selbst auferlegen müssen. Sie, die der Schöpfung vor Sündenfall und Bilderverbot näher scheinen, weil sie noch nicht wissen, wer sie sind, können den Lehrer lehren, was auch er selbst immer bleibt: klein, bedürftig, abhängig und ein Bilderknecht seiner eigenen Götzenbilder. Sie lehren ihn die Selbsterkenntnis. Deshalb ist es nicht entscheidend, „Kinder durch Fragen auszuholen“52 und sie geist- und kenntnisreich zu machen. Denn, um es mit einer weiteren Formulierung Hamanns auf den Punkt zu bringen: „Ob Kinder viel oder wenig Antworten können, daran ist nicht so viel gelegen als daß Sie die einzige Frage verstehen“, die gilt: „Wer bist du?“53 Ersichtlich geht diese Frage auf das Ganze des Menschen und schließt den Lehrer ein. Sie ist der Frage Gottes nachgebildet, der nach dem Sündenfall Adam im Garten sucht: „Wo bist du?“54 Gott müsste nicht fragen, wenn der Mensch sich nicht von ihm gelöst hätte. Er hat an die Stelle der heteronomen Abhängigkeit seiner endlichen Existenz die Fiktion seines autonomen Selbstseins gesetzt. Auf dieser anthropologischen Fiktion errichtet Herder sein pädagogisches Selbstbildungsprogramm, das für die deutsche „Bildungsrevolution“ zwischen 1770 und 1830 bestimmend wird.55 Hamanns einst beredte Gegenstimme bleibt in diesem Siegeszug ungehört oder wird umgedeutet und sogar in den Mainstream der Bildungsideologie ­eingemeindet. Seit dem frühen Herder wird Hamanns theologisch-pädagogische Intention ausgeklammert oder nicht verstanden. Sein Aufruf zur Wahrnehmung des Kindes in der Erziehung ist radikaler gemeint als die „sogenannte Entdeckung der Kindheit im 18. Jahrhundert“.56 Sein Lernen des Lehrers von den Kindern lässt sich nicht redu-

50 Hamann, Johann Georg: Brief an Gottlob Immanuel Lindner. Ende Oktober oder Anfang November 1758. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. 1 (wie Anm. 13), S. 274–278, hier S. 277. 51 Ebd. 52 Ders.: Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 351–368, hier S. 359. 53 Ders.: Brief an Johann Gotthelf Lindner. 07.05.1762. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. 2 (wie Anm. 29), S. 149–155, hier S. 151. 54 1. Mos 3,9. 55 So der Titel des grundlegenden Buches zur Entstehung der Bildungsideologie: Bosse, Heinrich: Bildungsrevolution 1770–1830. Heidelberg 2012. 56 Ebd., S. 88.

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zieren auf die Vorstellung, dass man den „Bildungsvorgang“ zwischen Lehrer und Schüler künftig „als wechselseitig versteht“.57 Denn diese Hervorhebung des Kindes zielt nur auf „Selbsterziehung, […] auf Autodidaktik“58 bei Lehrer und Schüler, gründet sich also auf die neue, fiktive Anthropologie des autonomen Individuums. Hamanns Mahnung, die Erziehung auf die heteronome Anthropologie der Bibel zu gründen, kann diesen Bildungsaufschwung nur stören. Seine ‚Entdeckung des Kindes‘, die darauf abzielt, dass der erwachsene Mensch sein heteronomes Kindsein vor Gott wieder erkenne, wird vereinnahmt für die umgekehrte Auffassung, dass das Kind die fiktive Autonomie eines scheinbar erwachsenen Selbstseins lerne. Durch Hamanns Umwendung der Lernrichtung vom Kind auf den Lehrer soll der Lehrer begreifen lernen, was die biblische Mahnung für ihn bedeutet: „Es sei denn, dass ihr euch umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“59 Wie immer man sich dieses „Himmelreich“ in unserer säkularen Welt auch pädagogisch zurechtlegen mag, Hamanns Stimme warnt, dass es auf dem seit Herder eingeschlagenen Weg der Erziehung des Menschen zur ­Selbstvervollkommnung autonomer Herrschaft über sich selbst, über seine Mitmenschen und über die Erde jedenfalls unerreichbar bleibt.

57 Ebd. 58 Ebd., S. 89. 59 Mt 18,3.

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Herrschaftsideologie in Lehrwerken höherer russischer Schulen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert1 Lehrwerke und Schulbücher unterstützen nicht nur den Unterricht, sondern helfen auch, den Lehrstoff zu Hause zu wiederholen und zu festigen sowie sich auf Prüfungen vorzubereiten. Schon immer galt als Regel, dass sie vom Bildungsministerium genehmigt sein müssen, um offiziell anerkannte Lehrwerke an Schulen zu sein. Manchmal erscheinen allerdings unabhängige Lehrwerke, und diese können – sowohl im Zarenreich als auch im heutigen Russland – als Maßstab für die Freiheit der Schule gelten. Lehrwerke, insbesondere in einem Fach wie Geschichte, prägen in hohem Maße das Weltbild der Schülerinnen und Schüler und somit die Menschen von morgen in einem Land. Seit geraumer Zeit, vor allem seit 1981 Marc Ferros’ wegweisende Monographie Comment on raconte l’histoire aux enfants à travers le monde erschienen ist, erlebt die historische Forschung zu Bildung und Schulwesen einen Aufschwung und erfreut sich zunehmender Aufmerksamkeit in unterschiedlichen Ländern.2 Nach der Perestrojka und dem Zerfall der UdSSR entstanden etliche wichtige Studien über den russischen und sowjetischen Schulunterricht, wie z. B. der deutschrussische Sammelband Historiker lesen Geschichtslehrbücher.3 In Estland schrieb Anu ­Raudsepp ihre Dissertation über die estnischen Schulen.4 Die russische Administration unter Putin versucht derzeit, den Geschichtslehrplan zu reformieren und ein standardisiertes Lehrwerk zu entwickeln, das für alle Schulen verbindlich sein soll; ein Unterfangen, das öffentlich heftig in der Kritik steht. In Europa, aber auch weltweit wird seit Langem über national ausgerichtete Geschichtsschreibung und Geschichte diskutiert; zur Debatte steht die Frage, wie Nationalgeschichte und Globalgeschichte zusammenkommen können. Wie kann ein und dasselbe historische Ereignis, das in Konfliktfällen unterschiedlich erfahren und erzählt wird, so wieder-

1 Aus dem Englischen übersetzt von Dieter Neidlinger. 2 In deutscher Übersetzung erschien das Buch unter dem Titel Geschichtsbilder. Wie die Vergangenheit vermittelt wird. Beispiele aus aller Welt. Frankfurt/M. 1991. 3 Eimermacher, Karl; Bordjugov, Gennadij (Hg.): Istoriki čitajut učebniki istorii: Tradicionnye i novye koncepcii učebnoj literatury [Historiker lesen Geschichtslehrbücher: Traditionelle und neue Konzeptionen von Lehrmitteln]. Moskva 2002. 4 Raudsepp, Anu: Ajaloo õpetamise korraldus eesti õppekeelega üldhariduskoolides 1944–1985 [Die Organisation des estnischsprachigen Geschichtsunterrichts an Schulen in Estland 1944–1985]. Tartu 2005 (Dissertationes historiae Universitatis Tartuensis 10).

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gegeben werden, dass jede in den Konflikt involvierte Seite einbezogen und sichtbar wird? Deshalb ist die Frage des Geschichtsunterrichts heute auch ein so immens wichtiges Thema.

Warum sollten uns Schulbücher vergangener Epochen heutzutage interessieren? Das Thema dieses Artikels evoziert die Frage, warum man sich mit Geschichtslehrwerken, die vor mehr als hundert Jahren in Gebrauch waren, überhaupt noch beschäftigen muss. Meine Argumentation bezieht sich nun keineswegs nur auf eine kulturelle Vergangenheit. Vielmehr versuche ich zu zeigen, dass diese Lehrwerke nicht ausschließlich Teil der Bildungsgeschichte und lediglich historisch interessant sind, sondern sich auch für zeitgeschichtliche Studien zur heutzutage herrschenden Ideologie als aufschlussreich erweisen können und sogar einen Teil der derzeitigen politisch-ideologischen Situation darstellen. Ebenso sollte man eigentlich ­erwarten, dass Schulbücher, die im Russischen Reich vor mehr als einem Jahrhundert veröffentlicht wurden, längst Staub der Geschichte seien, doch wer diese Annahme überprüft, stellt erstaunt fest, dass in den letzten Dekaden fast alle Schulbücher der Zarenzeit in der Russischen Föderation erneut herausgegeben und in hoher Stückzahl nachgedruckt wurden.5 Die Gymnasien des Zarenreichs im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sind für Estland von besonderer Bedeutung, denn im Zuge der Russifizierung in den frühen 1890er Jahren wurden die Lehrpläne und Lehrbücher der baltischen Provinzen an jene aus den Zentren des Zarenreiches angeglichen. Als Estland, Lettland und Litauen, aber auch Finnland und Polen nach dem Zerfall des Zarenreichs ihre Unabhängigkeit erlangten, sahen sie sich mit der Situation konfrontiert, dass die erste Generation der Eliten ihrer Länder – sowie sämtliche Bildungsschichten – ihre Schulbildung mithilfe genau der Lehrpläne und Schulbücher erhalten hatte, die im Folgenden thematisiert werden. Diese beeinflussten ohne jeden Zweifel ihre Ansichten sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Unsere Untersuchung wird zeigen, welche Art von Herrschaftsideologie sie prägten. 5 Hier nur einige Beispiele: Ustrjalov, Nikolaj: Russkaja istorija do 1855 g v dvuch častjach [Russische Geschichte bis 1855 in zwei Teilen]. Petrozavodsk 1997; Roždestvenskij, Sergej: Otečestvennaja istorija v svjazi so vseobščej (srednej i novoj): Kurs sred. učeb. Zavedenij [Vaterländische Geschichte in Bezug zur allgemeinen (mittleren und neueren) Geschichte: Kurs für mittlere Lehranstalten]. Moskva 1997; Ilovajskij, Dmitrij: Kratkie očerki russkoj istorii. Učebnoe posobie dlja SPO [Kurze Skizzen aus der russischen Geschichte. Ein Leitfaden für mittlere Berufsbildung]. Moskva 2017; Platonov, Sergej: Učebnik russkoj istorii dlja srednej školy [Lehrbuch der russischen Geschichte für Mittelschulen]. Moskva 2001. Nahezu alle Lehrwerke, die in diesem Artikel erwähnt werden, sind Wiederauflagen und finden sich auch im Internet.

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Fragen nach Macht und Herrschaft sind in der heutigen Forschung von großer Bedeutung. Allerdings werde ich nicht näher auf allgemeine Problemstellungen eingehen, sondern nur auf die Arbeiten von Wissenschaftlern wie William Fuller, Ricarda Vulpius, Martin Aust, Aleksej Miller und Boris Kolonickij verweisen, weil diese sich auch auf Russland beziehen.6 Beginnen möchte ich damit, die konzeptionelle Entwicklung der Schule seit Nikolaus I. bis zur Ära Nikolaus II. nachzuzeichnen. Danach sei aufgezeigt, wie komplex und schwierig es sich gestaltete, die staatlich vorgegebenen Geschichtsnarrative in Schulbücher einzupassen. Wohl können im Folgenden nicht alle Fragen beantwortet werden, doch mag dieser Beitrag künftige Forschungen zu dem Thema anregen.

Staatliche Kontrolle über Schulbücher Die Schulen einschließlich der Privatschulen waren im Zarenreich verpflichtet, sich an die staatlichen Lehrpläne zu halten und die vom Bildungsministerium7 genehmigten Lehrbücher und Lehrmaterialien (etwa Landkarten, Zeittafeln usw.) zu verwenden. Sieht man von den Ausnahmen der ,nicht autorisierten‘ Lehrmaterialien ab, die allerdings erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkamen, so wurden die Schulbücher stets im Auftrag des Staates veröffentlicht – mit allen Konsequenzen, die hieraus folgten ­–, und diese Sachlage ließ sich nicht umgehen. Gleichwohl stimmt es, dass die Gymnasien in Russland weitreichende Lehrmittelfreiheit bei der Auswahl von Büchern und Materialien innerhalb der genehmigten Liste der Lehrwerke genossen, denn diese, obgleich in Qualität und Quantität sehr unter6 Vgl. Fuller, William C.: The Foe Within: Fantasies of Treason and the End of Imperial Russia. Ithaka/NY-London 2006; Vulpius, Ricarda: Vesternizacija Rossii i formirovanie Rossijskoj civilizatorskoj missii v XVIII veke [Die Verwestlichung Rußlands und die Entstehung einer russländischen Zivilisierungsmission im 18. Jh.]. In: Dies.; Aust; Martin; Miller, Aleksej (Hg.): Imperium inter pares: Rol’ transferov v istorii Rossijskoj Imperii [Die Rolle von Transfers in der Geschichte des Russländischen Reiches] (1700–1917). Moskva 2010, S. 14–41; Aust, Martin: Rossija i Velikobritanija: vnešnjaja politika i obrazy imperii ot Krymskoj vojny do Pervoj mirovoj vojny [Russland und Großbritannien. Außenpolitik und Imperiumsvorstellungen vom Krimkrieg bis zum Ersten Weltkrieg]. In: Ebd., S. 244–265; Miller, Aleksej: Priobretenie neobchodimoe, no ne vpolne udobnoe: Transfer ponjatija nacija v Rossiju (načalo XVIII – seredina XIX v.) [Aneignung des Notwendigen, aber nicht wirklich Angenehmen: Transfer des Begriffs Nation nach Russland (Anfang des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts)]. In: Ebd., S. 42–66; ders.: Imperija Romanovych i nacionalizm: Ėsse po metodologii istoričeskogo issledovanija [Das Reich der Romanovs und der Nationalismus. Essay zur Methodologie historischer Forschung]. Moskva 2008; Kolonickij, Boris: „Tragičeskaja ėrotika“: obrazy imperatorskoj sem’i v gody Pervoj Mirovoj vojny [„Tragische Erotik“: Bilder der kaiserlichen Familie zur Zeit des Ersten Weltkrieges]. Moskva 2010. 7 Zur Geschichte der höheren Schule in Russland vor der Revolution vgl. Alešincev, Ivan: Istorija gimnazičeskogo obrazovanija v Rossii (XVIII i XIX vek) [Geschichte der Gymnasialbildung in Russland im 18. und 19. Jahrhundert]. Sankt-Peterburg 1912.

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schiedlich, wurden regelmäßig neu aufgelegt. Man muss berücksichtigen, dass sich die Gymnasien – selbst während der reaktionärsten Phasen Russlands – sehr unterschiedlich entwickelten, obgleich es selbstredend gewisse Grenzen hinsichtlich der Abweichungen in die eine oder andere Richtung gab. Bei der Auswahl der Materialien und der Entwicklung des Geschichtslehrplans hing vieles von der jeweiligen Schule sowie auch von den Lehrern ab, so dass weitreichende Verallgemeinerungen hier wenig produktiv erscheinen. Gleichwohl kam kein Gymnasiast um diese Lehrbücher und Schulmaterialien herum. Die Lehrpläne, die sowohl die russische als auch die Globalgeschichte beinhalteten, waren umfangreich und sehr detailliert. Im Studienplan von 1908 heißt es zum Beispiel: „Die sechste Klasse muss einen Kurs belegen, der die neuere Geschichte bis zum Tod Ludwigs XIV. sowie die nationale Geschichte bis zum Ende der Herrschaft Peters des Großen behandelt; der siebten Klasse obliegt sodann das gesamte übrige Curriculum“.8 Es gab nicht sehr viele Unterrichtsstunden, nur zwei bis drei Wochenstunden, doch die Anforderungen waren so hoch, dass es alles andere als leicht war, die Abschlussprüfungen zu bestehen; so verließen viele das Gymnasium ohne einen Abschluss. Deshalb spielten Schulbücher vor allem bei der Prüfungsvorbereitung eine wichtige Rolle. Da uns praktisch keinerlei Informationen darüber vorliegen, wie die Schüler das Fach wahrnahmen, was bei ihnen gut und was eher weniger gut ankam,9 werde ich im Folgenden vor allem Lehrpläne, Lehrerhandbücher und sonstige Materialien untersuchen, um so rekonstruieren zu können, was gelernt werden sollte, und damit die Richtung der Indoktrination zu bestimmen. Wenn wir uns den Geschichtsbüchern zuwenden, sticht eine Sache ins Auge: Die Geschichtswissenschaft war direkt in die Entwicklung der Geschichtslehrpläne der Gymnasien involviert. Universitätsprofessoren und prominente Wissenschaftler wurden gebeten, die Lehrbücher zu verfassen. Aber welche Einstellung hatten diese hinsichtlich der Herrschaftsideologie?

Die Ideologie des Zarenreichs und die Autoren der Lehrwerke Es ist hinreichend bekannt, dass das offizielle Geschichtsmuster im Zarenreich recht einfach gestrickt war und sich auf die Formel bringen ließ: Orthodoxie, Autokratie,

8 Orlov, Mitrofan: Novejšie učebnye plany, pravila i programma s ob’’jasnitel’nymi zapiskami mužskich gimnazij i progimnazij vedomstva Min. Nar. Prosveščenija s dopolnenijami i raz’’jasnenijami vyšedšimi po 1 aprelja 1908 g [Neueste Lehrpläne, Regeln und Programm mit erläuterndem Vermerk für Männergymnasien und Progymnasien des Ministeriums für Volksaufklärung mit Ergänzungen und Erläuterungen vom 1. April 1908]. Sankt-Peterburg 1908, S. 125. 9 Eines der wenigen Beispiele hierfür findet sich bei Kareev, Nikolaj: O škol’nom prepodavanii istorii [Über den schulischen Geschichtsunterricht]. Petrograd 1917.

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Nation. Das historische Narrativ sollte Optimismus, Patriotismus und Siegesgewissheit ausstrahlen. Gleichwohl sollte bedacht werden, dass die Ideologie des russischen Imperiums voller Widersprüche war. Die offiziellen Vertreter der Doktrin des Zarenreichs – zu denken wäre hier an deren ersten geistigen Schöpfer Sergej Uvarov10 – wollten Russland zugleich als Nationalstaat (Staat der russischen Nation) und als multinationales Imperium profilieren. Ein weiterer grundlegender Widerspruch betrifft das Verhältnis von Russland zu Europa. Die russischen Machthaber wollten das Land als einen integralen Bestandteil Europas und der westlichen Zivilisation verstehen. Doch die politisch Verantwortlichen befürchteten, dass Russland durch diesen ,europäischen‘ Einfluss seine nationale Identität verlieren könnte, und der Vorwurf, ausländische Vorbilder nachzuahmen, galt als zutiefst beschämend. Die bekanntesten russischen Historiker und Verfasser von Lehrwerken zur Geschichte – zu nennen wären hier Sergej Solov’ëv, Vasilij Ključevskij oder Sergej ­Platonov – waren keineswegs Revolutionäre, sondern überzeugte Monarchisten und als solche der Krone und dem Reich gegenüber loyal. Außerdem verstanden sie sich als Interessensvertreter des Staates: Für sie war die Entstehung und Entwicklung des Staates zentraler Teil eines größeren historischen Prozesses. Dessen ungeachtet waren sie ebenso wenig Anhänger des Absolutismus oder Totalitarismus. Sie wünschten sich für ihr Land eine Regierung, die sich an Europa orientierte, die Menschenrechte respektierte, Bildung und Wissenschaft förderte und danach strebte, die soziale und staatliche Unterdrückung zu überwinden. Von daher war es für sie alles andere als einfach, die imperialen Mythen hinsichtlich der Monarchie als selbst gewählter Staatsführung und des Zaren als Inbegriff des Staates buchstäblich unter einen Hut zu bringen. Denn die Historiker wollten den historischen Prozess in seiner ganzen Komplexität aufzeigen, also auch darstellen, dass nicht alle Herrscher unfehlbar gewesen seien, nicht alle ihre Taten als großartig bezeichnet werden können und nicht jeder hochgelobte Sieg und nicht jede Eroberung dem Land wirklich von Nutzen gewesen seien. Sie mussten demnach einen Weg finden, einerseits die staatlichen Vorgaben zu bedienen und andererseits den Schülern beizubringen, die Sachverhalte zu reflektieren, zu analysieren und zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn wir im Folgenden also zu den Lehrwerken übergehen, müssen wir uns daran erinnern, dass der Teufel bekanntlich im Detail steckt. Um zu zeigen, wie diese inneren Spannungen der Herrschaftsdoktrin sich in den Schulbüchern spiegeln und wie sie in ihnen vermittelt wurden, habe ich die Epoche Peter des Großen gewählt. Denn darin bündeln sich alle grundlegenden Probleme und Machtfragen; so etwa die Frage nach der Beziehung zu Europa und der Bedeutung des Europäisierungsprozesses, aber auch die Frage nach der absoluten

10 Vgl. Whittaker, Cynthia H.: The Origins of Modern Russian Education. An Intellectual Biography of Count Sergei Uvarov, 1786–1855. DeKalb/Ill 1984.

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Macht des Zaren und seinem Personenkult oder das Narrativ des siegreichen Vaterlandes usw. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass die Rechtfertigung einer Politik der territorialen Expansion im Russischen Reich offiziell zum ,russischen Gründungsmythos‘ erklärt wurde. Die Parallelen zum modernen Russland sind hier unverkennbar.

Der offizielle Personenkult um Peter den Großen im Russischen Reich Spätestens in der Mitte des 18. Jahrhunderts etablierte sich ein Staatskult und Personenmythos um Peter den Großen. Besonders Feiern anlässlich von Jahrestagen stärkten diesen Kult. So war etwa der Tag des Sieges bei Poltava ein staatlicher Feiertag und als 1909 das 200-jährige Jubiläum anstand, beging man dieses im ganzen Lande. Das Sujet ,Peter der Große‘ durchlief verschiedene Phasen in der russischen Literatur von Lomonosov bis Puškin und fand ebenfalls Eingang in politische Publikationen – am deutlichsten vielleicht in Karamzins Denkschrift Über das alte und das neue Russland und in Streitschriften der Westler und Slawophilen – sowie selbstredend in die Geschichtswissenschaft.11 Die wohl wichtigste Gedenkschrift namens Öffentliche Lesungen über Peter den Großen stammt aus der Feder Sergej Solov’ëvs, eines renommierten Historikers und Professors der Moskauer Universität, und entstand anlässlich des 200. Geburtstags von Peter dem Großen im Jahr 1872. Das russische Zarenreich sollte die letzten vier Jahre bis zu seiner eigenen Zweihundertjahrfeier nicht mehr erleben, doch diese wäre das nächste große Jubiläum nach dem 300-jährigen Bestehen des Hauses Romanov gewesen, das 1913 noch feierlich begangen wurde. Es ist bezeichnend, dass Peter der Große nach 1917 der erste Zar war, der von der Sowjetunion in den frühen 1930er Jahren ,rehabilitiert‘ und in den neuen Herrschaftskanon des Stalinismus aufgenommen wurde. Stalin begann damit, sich selbst auf Peter den Großen zu beziehen, obwohl er dies in einem Interview mit dem deutschen Schriftsteller Emil Ludwig im Jahr 1931 noch bestritt.12 Später dann, so Boris Pasternak in einem Brief an Olga Freidenberg vom 4. Februar 1941, „hatte sich Peter bereits als unpassende Bezugsperson erwiesen. Die neue, zur Schau gestellte Begeisterung galt Ivan dem Schrecklichen, der Opričnina, der Brutalität“.13

11 Vgl. Burlaka, Dmitrij Kirillovič (Hg.): Petr Velikij: pro et contra. Ličnost’ i dejanija Petra I v ocenke russkich myslitelej i issledovatelej. Antologija [Peter der Große: pro et contra. Persönlichkeit und Taten Peters I. in der Einschätzung russischer Denker und Forscher. Anthologie]. SanktPeterburg 2001. 12 Vgl. Sarnov, Benedikt: Stalin i pisateli [Stalin und die Schriftsteller]. Bd. 4. Moskva 2008, S. 17. 13 Pasternak, Boris: Polnoe sobranie sočinenij [Gesamte Werkausgabe]. Bd. 9. Moskva 2004, S. 203.

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Während Ivan der Schreckliche in der poststalinistischen Ära aus dem sowjetischen Kanon eliminiert wurde, ist Peter der Große stets der Zar unter den Zaren geblieben.14 Während der Zeit des Stalinismus ist dieser Status durch den Kultroman Peter der Erste des ,sowjetischen Grafen‘ Aleksej Tolstoj belegt: Der Roman erhielt 1941 den Stalinpreis und erntete gleichzeitig reichlich Lob russischer Kritiker aus der Emigration sowie viel Beifall von Lesern unterschiedlicher Herkunft. Noch ausgeprägter zeigte sich diese Tendenz beim sowjetischen Film Peter der Große (1937/38), der 1937 auf der Weltausstellung in Paris ausgezeichnet wurde und 1941 ebenfalls den Stalinpreis erhielt. Dieser Kult um Peter I. als ,der Große‘ und als ,der Vater des Vaterlandes‘ wurde jedoch von Anfang an in der russischen Folklore, im nationalen Bewusstsein und im politischen Journalismus von einer gegenläufigen Lesart begleitet: Diesem alternativen Narrativ nach ist Peter I. der Antichrist, der Russland in den Ruin getrieben hat.15 Im 19. Jahrhundert konnte kein Staatshistoriker die Schattenseiten seiner Persönlichkeit oder seine fragwürdigen Handlungen ignorieren – seine Brutalität und Grausamkeit, seine Rücksichtslosigkeit und Respektlosigkeit gegenüber seinen Untertanen. Ebenfalls mussten die exorbitanten Kosten der Petrinischen Reformen irgendwie zur Sprache kommen, nicht mehr zu verschweigen waren auch die politischen und militärischen Misserfolge und vieles mehr. Die Gelehrten hatten viel Mühe damit, das Unvereinbare miteinander zu vereinbaren, also die Grenzen der Geschichtsdeutung auszuloten, damit Peter I. dennoch weiterhin als großer Mann und Erbauer einer Großmacht gelten konnte. Kein Wunder, dass Sergej Solov’ëv seine Öffentliche Lektüre über Peter den Großen mit einer Definition der Idee einer „großen Persönlichkeit“ eröffnete und dafür plädierte, Peter I. historisch zu begreifen, ihn also als „Sohn seiner Zeit und seines Volkes“ zu betrachten.16 Die Beziehungen zu Ausländern, Russlands Nachahmen (,Nachäffen‘) des Westens, die Rasanz der Reformen etc. blieben gleichwohl heikle Themen. Die russischen Schulen mussten ebenso wie die Autoren der Lehrwerke unweigerlich mit solchen Schwierigkeiten umgehen. Wie also ging die Schule mit dieser spannungsvollen Dialektik um? Einerseits sollte sie ein apologetisches Bild des Zaren entwerfen, andererseits der historischen Wirklichkeit treu bleiben und die dunklen Seiten seiner Geschichte nicht verschweigen.

14 In den letzten Jahren zeichnet sich in Russland die traurige Tendenz ab, Ivan den Schrecklichen wieder in den Kanon aufzunehmen. Seit 2016 wurden in vier russischen Städten Denkmäler für ihn errichtet, unter anderem 2017 in Moskau, vgl. Filipenok, Artem: V centre Moskvy ustanovili pamjatnik Ivanu Groznomu [Im Zentrum Moskaus wurde ein Denkmal für Ivan den Schrecklichen aufgestellt]. In: RBK.ru. 26.07.2017. URL: https://www.rbc.ru/society/26/07/2017/59789f 619a7947e4707bb1d3 (29.09.2021). 15 Vgl. zu den unterschiedlichen Narrativen Burlaka, Petr Velikij (wie Anm. 11). 16 Solov’ëv, Sergej: Sobranie sočinenij [Gesammelte Werke]. Sankt-Peterburg 1901, S. 968.

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Vom offiziellen kanonischen Image des Zaren zur komplexen ­historischen Figur voller Widersprüche Ich habe die Lehrmaterialien für meine Untersuchung in drei Gruppen unterteilt: Erstens Texte von Hochschullehrern, die von namhaften Historikern und Universitätsprofessoren wie etwa Nikolaj Ustrjalov, Sergej Solov’ëv, Dmitrij Ilovajskij, Vasilij Ključevskij und Sergej Platonov verfasst wurden. Zweitens Texte von Lehrern, deren Autoren in Gymnasien unterrichteten, wobei hier lediglich das Handbuch von Sergej Roždestvenskij betrachtet wird, das allerdings als repräsentativ gelten kann. Drittens nicht offizielle Texte, worunter Texte verstanden werden, die von politischen Aktivisten geschrieben wurden: Leonid Šiško und Sergej Mel’gunov (mit seinen Co-Autoren). Eines der ersten Lehrbücher auf unserer Liste wurde 1839 von Nikolaj Ustrjalov (1805–1870), Professor an der Petersburger Universität, verfasst und war nur während der Herrschaft von Zar Nikolaus I. (1825–1855) in Gebrauch. Sein Paradigma lautet schlicht: Die Kiever Rus’ war halbasiatisch und rückständig, dann aber erschien plötzlich Peter der Große, der großer Reformer Russlands: „Peter war für Russland das, was für Europa die Kreuzzüge, der Buchdruck, die Entdeckung Amerikas sowie andere prägende Ereignisse und Einflüsse gewesen waren. [...] Er war für Russland ein unerwartetes, leuchtendes Licht, das alles erwärmte, befruchtete, belebte; er sprengte die Ketten unserer Unwissenheit, rief uns zu einem besseren, einem zivilisierteren Leben auf, wies uns auf unsere Stärken und Möglichkeiten hin, zeigte uns den Weg, den wir konsequent weiter beschreiten sollten“.17

Ustrjalov stimmt ein nicht enden wollendes Loblied auf Peter den Großen als Reformer an, auf seine Persönlichkeit und auf seine Innovationen.18 Entgegen aller Belege sieht Ustrjalov in ihm „einen starken Beschützer und Hüter der Kirche“; der Tod des Zarewitsch Aleksej Petrovič wird als ein Opfer des Zaren im Namen des Landes beschrieben.19 Ustrjalov behauptet, dass die Grundlagen der russischen Regierung trotz der Europäisierung unangetastet blieben und dass alle Maßnahmen auf die persönliche Initiative des Zaren zurückgingen. Er verweist hier direkt auf die berühmte Formel von Sergej Uvarov, der als Minister unter Zar Nikolaus I. den Dreiklang von Orthodoxie, Autokratie und Nationalität geprägt hatte. Die Bedeutung, die Ausländer spielten, kommt höchstens am Rande vor; die deutsche Siedlung nahe Moskau, in der Peter der Große seine Jugend verbracht hatte, bleibt gänzlich un17 Ustrjalov, Nikolaj: Načertanie russkoj istorii dlja srednich učebnych zavedenij [Grundriss der russischen Geschichte für mittlere Lehranstalten]. 10. Aufl. Sankt-Peterburg 1857, S. 191. 18 Es ist wirklich bemerkenswert, dass dieses Werk nach dem Ende der sowjetischen Ära eine Wiederauflage erfuhr, vgl. Ustrjalov, Russkaja istorija (wie Anm. 5). 19 Ustrjalov, Načertanie russkoj istorii (wie Anm. 17), S. 217.

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erwähnt; die Unsummen, die seine Reformen und Siege kosteten, werden nicht hinterfragt. Wer sich derart auf eine Lobrede kapriziert, der muss unvermeidlich manches verschweigen. Wie anders behandelt das Lehrbuch von Sergej Solov’ëv (1820–1879) die Geschichte. Er verfasste es in den Jahren 1859–1860, also in jener Zeit größerer Freiheiten, als die Zensur zurückgenommen wurde und man Reformen in vielen Lebensbereichen einleitete. Solov’ëvs Lehrbuch ist deutlich umfangreicher als das von Ustrjalov und dementsprechend detaillierter in der Anordnung des Materials. Das grundlegende Paradigma – die Gründung eines neuen Russlands aus der halbasiatischen Rus’ – scheint dem von Ustrjalov zu gleichen. Aber Solov’ëv hebt auch die Kontinuitäten der Herrschaft Peters I. zu früheren Herrschern und Zeiten hervor. Für Solov’ëv ist Peter der Große nicht ,plötzlich‘ erschienen. Die Petrinischen Reformen sieht er als natürlichen Teil des historischen Prozesses in der Entwicklung Russlands. Gerade deshalb bekommt die Untersuchung der Art und Weise, wie reformiert wurde, eine zentrale Bedeutung. Solov’ëv schreibt offen über die enormen Kosten der Neuerungen und über den Volksaufstand, zu dem dies alles führte: „Die Zeit Peters des Großen, die uns aus der Distanz so glanzvoll erscheint, war für das russische Volk eine der schwierigsten Zeiten: Ein langer und harter Krieg und zudem neue Einrichtungen verlangten große Opferbereitschaft, während die Ressourcen des Landes gering waren; Einberufungen und Steuern stellten eine enorme Belastung dar [...].“20

Solov’ëv scheut weder eine offene Diskussion der positiven Rolle, die die Ausländer spielten, noch der ,negativen‘ Aspekte, wenn es um die Persönlichkeit des Zaren geht.21 Das Buch behandelt die Panik und Flucht des Zaren ins Dreifaltigkeitskloster während des Strelitzen-Aufstandes im Jahre 1689 ebenso wie seine Fehlentscheidungen bei der Organisation des Preußenfeldzuges und die Unmenschlichkeit, mit der er den Nordischen Krieg führte, und es verschweigt auch nicht den Fall des „unglücklichen“ Zarewitsch Aleksej.22 Unverkennbar bemüht sich der Autor stets, Gründe für die eine oder andere Handlung Peters I. anzuführen, doch im Ganzen bleibt seine Lesart der Panegyrik verpflichtet. Solov’ëv deutet die Europäisierung Russlands als positive Entwicklung und wendet sich direkt gegen die slawophile Vorstellung, wonach durch die Europäisierung der Verlust der nationalen Identität drohe. So bezieht er etwa in dem Streit um das Stutzen der Bärte eindeutig Stellung: „Die Rasur des Bartes war ein schwerer Schlag gegen jenen engstirnigen und kleinmütigen Teil der nationalen Identität, der an einem einzigen äußerlichen Unterschied 20 Solov’ëv, Sergej: Učebnaja kniga russkoj istorii [Lehrbuch der russischen Geschichte]. Bd. 18. Moskva 1999, S. 412. 21 Vgl. ebd., S. 9. 22 Vgl. ebd., S. 400, 410, 418, 437–439.

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Ljubov Kisseljova [...] hängt, der, indem er Menschen als Völker voneinander scheidet, die Menschen in ihrer Entwicklung behindert und sie somit daran hindert, eine nationale Identität auf inneren geistigen Prinzipien aufzubauen und ihre nationale Identität in großen Werken des Geistes zum Ausdruck zu bringen.“23

Für ihn manifestierte sich die nationale Identität in bedeutsamen Werken einer Kultur, nicht in der Demonstration äußerer Unterschiede. Am Vorabend der großen Reformen Alexanders II. erhielten die Schüler so recht unterschiedliche Perspektiven auf diese entscheidende Epoche der russischen Geschichte. Das nächste und mit mehr als 40 Auflagen wohl am weitesten verbreitete Lehrwerk der Zarenzeit ist das Werk von Dmitrij Ilovajskij (1832–1920), der ein ­Kollege von Solov’ëv war. Er verfasste es 1860 und damit fast zur gleichen Zeit, da Solov’ëv an seinem Buch schrieb. Im Duktus sowie in paradigmatischer Hinsicht ähneln sich die beiden Werke in vielfacher Weise. Beide betonen, dass der Prozess der Europäisierung sowie etliche Reformen bereits von Vorgängern Peters I. eingeleitet worden seien. Ebenso erscheint die Rolle der Ausländer bei dem einen wie bei dem anderen in positivem Licht. Im Gegensatz zu Solov’ëv legt Ilovajskij allerdings mehr Gewicht auf den Konflikt zwischen Peter I. und der Bevölkerung: „[W]egen seiner Neuerungen und drastischen Maßnahmen musste der Zar den permanenten Unmut mit seinem verärgerten Volk aushalten“.24 Zudem stellt Ilovajskij die Grausamkeit Peters I. noch anschaulicher dar, etwa, wenn er den Aufstand der Strelitzen thematisiert, welche die Zarentochter Sophia, die Rivalin Peters I., unterstützt hatten: „Peter ordnete erneut an, die Strelitzen unter schrecklicher Folter zu verhören [...]. Die Leichen der Hingerichteten ließ man zum Entsetzen des Volkes fünf Monate lang an Ort und Stelle liegen. Die Enthaupteten bedeckten den Roten Platz, und an den Mauern der weißen Stadt und des Stadtrings hingen überall die Gehängten. Auf dem Devič’e-Feld (in Moskau) baumelten mehrere der Strelitzen mit Bittschriften in den Händen vor den Fenstern der Klosterzelle der Zarentochter Sophia.“25

Dennoch strebt Ilovajskij danach, dass sich Positives und Negatives die Waage hält. So zitiert er im Gegensatz zu Solov’ëv die berühmten Worte, die Peter der Große vor der Schlacht von Poltava dem Vaterland ins Stammbuch schrieb: „Von Peter […] sollt ihr wisset, dass ihm sein Leben weder lieb noch teuer ist, wenn nur Russland in Ruhm und Seligkeit lebt zu eurem Wohlstand“.26 Hinsichtlich seiner grundsätz-

23 Ebd., S. 407. 24 Ilovajskij, Dmitrij: Kratkie očerki russkoj istorii. Prisposoblennye k kursu srednich učebnych zavedenij [Kurze Skizzen aus der russischen Geschichte. Angepasst für Einrichtungen mit mittlerem Bildungsabschluss]. Moskva 1860, S. 227 (URL: http://dugward.ru/library/ilovayskiy/ilovayskiy_ kratkie_ocherki.html [03.11.2021]). 25 Ebd., S. 225. 26 Ebd., S. 229.

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lichen Einschätzung der Reformen von Peter dem Großen fällt Ilovajskijs Urteil kritisch aus, und er ist nicht gewillt, die Angriffe des Zaren auf die nationale Identität zu rechtfertigen. Ihm zufolge hat die „übermäßige Verehrung alles Fremden und eine Vernachlässigung des Volksempfindens dem russischen Nationalbewusstsein erheblichen Schaden zugefügt.“27 In diesem Punkt ist Ilovajskij ,nationaler‘ als Solov’ëv. Dennoch ist sein Fazit positiv: „Kaum ein anderer Herrscher der neuen Welt hat mehr Recht auf den Beinamen ,der Große‘“.28 Vor der Revolution galt das Lehrbuch von Ilovajskij (vor allem in der verkürzen Fassung) als das ,staatstreuste‘. Von daher überrascht es nicht, dass das erste auf Estnisch erschienene Lehrbuch der russischen Geschichte eine Übersetzung und Adaption von Ilovajskij war.29 Hingegen ist äußerst verblüffend, dass Stalin die Lektüre von Ilovajskij am meisten mochte und offen bekannte: „Am besten gefällt mir die Art und Weise, in der Dmitrij Ivanovič Ilovajskij schrieb“.30 1889 wurde das Lehrbuch eines anderen Professors der Moskauer Universität veröffentlicht. Es stammte aus der Feder Vasilij Ključevskijs (1841–1911), eines Schülers von Solov’ëv. Allerdings waren einzelne Kapitel bereits in den 1870er Jahren erschienen. Es ist ein recht kurzer Text, fast eine Zusammenfassung, in dem es an anschaulichen Details und direkten Bewertungen fehlt. Er entwickelt die Geschichte nicht entlang biographischer oder thematischer Linien, wie dies die meisten Lehrbücher praktizieren, sondern geht von Problemen aus, welche die Studenten zum Mitdenken einladen sollen. Der Abschnitt über „Die Reformen Peters des Großen“ beginnt gänzlich unerwartet: „Auf den ersten Blick scheint den Reformbemühungen Peters I. jede Art von Plan oder Aufbau sowie Abfolge zu fehlen [...]. [D]ie Ziele der Reform sind offenkundig, doch den Plan dahinter immer zu erkennen, ist nicht so leicht“.31 Später schlägt der Autor vor, die Reformen in Bezug auf das „Joch der Umstände“ kritisch zu prüfen;32 dabei entfaltet er die Reformen für die Lernenden nicht chronologisch, sondern rekonstruiert, wie sie logisch auseinander folgten. Offenkundig setzt Ključevskij bei den Schülern ein recht hohes Maß an Vorbildung voraus – ein solch komprimiertes Lehrbuch kann für sich genommen 27 Ebd., S. 238. 28 Ebd. 29 Vgl. Ilovajskij, Dmitrij: Wene riigi ajalugu. Wene riigi alustusest kuni Aleksander III: Koolile ja kodule Ilowaijskij järele / Wene keelest P. Koit, kihelkonna kooliõpetaja Wäike-Maarjast [Geschichte des russischen Staates. Von den Anfängen bis zu Alexander III.: Gemäß der Ilowaijskij-Schule / Aus dem Russischen übersetzt von P. Koit, Pfarrschullehrer aus Väike-Maarja]. Rakwere 1890. 30 Zit. nach Dubrovskij, Aleksandr: Istorik i vlast’: istori eskaja  nauka v SSSR i koncepcija istorii feodal’noj Rossii v kontekste politiki i ideologii (1930–1950 gg) [Historiker und Macht: Geschichtswissenschaft in der UdSSR und das Konzept der Geschichte des feudalen Russlands im Kontext von Politik und Ideologie (1930–1950)]. Brjansk 2005, S. 304. 31 Ključevskij, Vasilij: Kratkoe posobie po russkoj istorii [Kurzes Lehrbuch zur russischen Geschichte]. 5. Aufl. Moskva 1906, S. 131. 32 Ebd., S. 132.

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keine Basislektüre sein, eignet sich wohl aber hervorragend als Ergänzungstext, z. B. zur Prüfungsvorbereitung. Die Person Peters I. wird nicht analysiert, doch bleibt das allgemeine Paradigma in Ključevskijs Lehrwerk unverändert: Die petrinischen Reformen waren unvermeidlich und im Großen und Ganzen konstruktiv. Das Lehrbuch des Wissenschaftlers und Professors der Petersburger Universität, Sergej Platonov (1860–1933), entstand Ende der 1900er Jahre und erlangte trotz seines beachtlichen Umfangs schnell eine enorme Bekanntheit. Das ­Grundkonzept bleibt hier unverändert: Der Autor entwickelt in aller Ausführlichkeit das Paradigma von Solov’ëv und Ključevskij und verstärkt sogar das Argument hinsichtlich der politischen Kontinuität der Europäisierung und der Möglichkeit, von Fremden etwas lernen zu können: „Die Nähe dieser ,Deutschen‘ zu Peter I. sollte uns nicht überraschend oder ungewöhnlich erscheinen. Der Moskauer Hof nahm zu dieser Zeit häufig die Dienste von Westeuropäern in Anspruch. Der junge Peter wurde von einem deutschen Arzt behandelt; in den Blumengärten des Zaren Aleksej fand er deutsche Gärtner vor; verschiedene technische Arbeiten auf dem Gelände wurden von deutschen Handwerkern erledigt. [...] Die deutsche Siedlung [...] befand sich ganz in der Nähe des Dorfes Preobražensk; es war ganz einfach und leicht, jemanden wegen einer Sache, die erledigt werden sollte, dorthin zu schicken […].“33

Und weiter: „In seinem Bestreben, die Kontrolle über die Küste an der Ostsee zu erlangen, knüpfte Peter I. nahtlos an die Politik der Moskauer Zaren vor ihm an“.34 Platonov weist den ,revolutionären‘ Charakter der Reformen zurück: „Peter führte in keine Art und Weise einen Umsturz der Regierung durch“.35 Der Autor spielt direkt auf die Genialität von Peter dem Großen an, weicht allerdings auch nicht den Streitfragen aus hinsichtlich seiner Ungeduld und der Brutalität seiner Reformen, die er oftmals sehr spontan ins Werk setzte und dadurch Chaos in seiner Regierung auslöste. Mehr als einmal werden die Trink- und Saufgelage des Zaren erwähnt: „Peter der Große ließ gerne verschiedene Arten von Zeremonien und Feierlichkeiten ausrichten, um dem Volk einen Vorgeschmack auf gesellschaftliche Feste im europäischen Stil zu geben. Ganz besonders liebte er Straßenumzüge mit Maskeraden, die auf mythologische und ethnographische Szenen und Bilder anspielten [...]. [A]ufgrund der ungehobelten Sitten jener Zeit konnten solche Feiern manchmal in recht zügellose Orgien ausarten.“36

33 Platonov, Sergej: Učebnik russkoj istorii dlja srednej školy. Kurs sistematičeskij v dvuch častjach [Lehrbuch der russischen Geschichte für Mittelschulen. Systematischer Kurs in zwei Teilen]. 2. Aufl. Sankt-Peterburg 1910, S. 269f. 34 Ebd., S. 293. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 308.

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Wie die Bauern mehr und mehr zu Leibeigenen wurden, wird eingehend behandelt, ebenso die Entbehrungen aufgrund der Reformen und die daraus resultierenden Aufstände. Desweiteren kommen die Misserfolge und die Bezeichnung Peter I. als Antichrist zu Sprache. Doch stehen diese negativen Aspekte neben Hinweisen, die belegen, dass sich die Europäisierung und der Zugang zur Ostsee positiv auf die Entwicklung Russlands ausgewirkt haben. Militärische Siege werden von all diesen Autoren ausdrücklich als Errungenschaften verstanden. Überhaupt sind Siegesnarrative in der Oberstufe grundlegend bei der Darstellung militärischer Konflikte. Bemerkenswert ist allerdings, dass Platonov als erster dieser Schulbuchautoren erwähnt, dass die Expansion Russlands nicht nur Ergebnis militärischer Siege war; so bezahlte man für die baltischen Provinzen an Schweden zwei Millionen Efimoks. Platonov macht deutlich, was die ,staatstreue‘ Linie war, mit der Karamzin in seinen Aufzeichnungen Über das alte und neue Russland abrechnet und sie – wie andere Essayisten auch – verurteilt; diese zweifeln an, ob die Anordnungen der Regierung und die Einmischung in das Privatleben der Bevölkerung wirklich zum Wohle des Volkes war.37 Am Ende bleibt es den Lesern – also den Schülern – überlassen, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Somit sprechen die russischen Historiker nach Ustrjalov also von Peter I. als einem großen Zaren, aber zugleich verschweigen sie nicht die negativen Eigenschaften und Misserfolge des Reformers sowie die exorbitanten Kosten seiner Reformen. Ihr Peter der Große entspricht nur teilweise der Beschreibung als Vater des Vaterlandes und der eines weisen Helden, der seinen Untertanen in allen seinen Taten diente. In den offiziellen Schulbüchern wurde Peter I. sicherlich nie als eine ,irdische Gottheit‘ dargestellt, die frei von Fehl und Tadel war.

Die Lehrwerke von Lehrern Die Schulreform von 1864 setzte einen neuen Trend im Geschichtsunterricht.38 Ab den 1870er Jahren wuchs die Zahl der Schulbücher, die von praktizierenden Lehrern verfasst wurden. Obwohl der Historiker Nikolaj Kareev (1850–1931) den erschienenen Lehrbüchern von Sergej Roždestvenskij (s. u.) und Ivan Belljarminov39 37 Vgl. Burlaka, Petr Velikij (wie Anm. 11). 38 Vgl. ausführlich zur Entwicklung: Ponikarova, Natalija: Ministerstvo narodnogo prosveščenija i škol’noe obrazovanie po russkoj istorii (1864–1917) [Ministerium für Volksaufklärung und die Schulbildung im Fach Russische Geschichte]. Moskva 2005; Šaparina, Ol’ga:  Istoričeskoe obrazovanie v russkich gimnazijach v načale XX veka. 1901 – fevral’ 1917 gg. (Na materialach Moskovskogo Učebnogo okruga) [Geschichtsunterricht an russischen Gymnasien am Beginn des 20 Jh. 1901 – Februar 1917 (basierend auf Materialien des Moskauer Lehrkreises)]. Moskva 2004. 39 Vgl. Belljarminov, Ivan: Ėlementarnyj kurs vseobščej i russkoj istorii [Elementarkurs zur allgemeinen und zur russischen Geschichte]. 42. Aufl. Sankt-Peterburg 1914.

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noch 1917 skeptisch gegenüberstand, räumte er dennoch ein, dass die erweiterte Wahlmöglichkeit, nachdem Ilovajskij „die Oberstufe so viele Jahrzehnte lang unangefochten dominiert“ hatte, den Geschichtsunterricht positiv beeinflusste.40 Einen Überblick über die Geschichtslehrbücher der Oberstufe zu bekommen, ist ein schier unmögliches Unterfangen, selbst wenn man sich auf eine Auswahl beschränkt; zum einen fehlt es an einer entsprechenden Bibliographie und zum anderen spricht die enorme Anzahl an Werken gegen ein solches Ansinnen. Hinzu kommt, dass fast identische Bücher eines Autors unter abweichenden Titeln für verschiedene Klassen neu aufgelegt wurden – was Änderungen in den Lehrplänen geschuldet war. Ich werde mich deshalb auf eines der populärsten und am längsten etablierten Lehrbücher konzentrieren. 1869 erstmals aufgelegt, erfuhr es mehr als 20 Neuauflagen. Es ist das Buch von Sergej Roždestvenskij (1834–1891).41 Materialreich präsentiert es die Geschichte Russlands zur Zeit Peters des Großen im Kontext der Geschichte seiner Nachbarländer – dem Ostmanischen Reich, Polen und Schweden. Die allgemeine Ausrichtung, so zeigt der Vergleich zu den früheren Lehrbüchern, bleibt erhalten: Die Europäisierung und die petrinischen Reformen im Allgemeinen werden als notwendig und unausweichlich dargestellt. Eine stärkere Staatstreue und Verbundenheit mit dem Zaren steckt allerdings in den Details: Der Autor betont weder die Widersprüche der Persönlichkeit von Peter I., noch erwähnt er die kompromittierenden Episoden seiner Regentschaft. Andererseits verschweigt Roždestvenskij nicht die grausamen Methoden; insbesondere bringt er bei der Thematisierung des Strelitzen-Aufstandes von 1698 die begangenen Gräueltaten zur Sprache: „Mehr als tausend Menschen wurden gehängt, enthauptet, gerädert. Etwa zweihundert Strelitzen wurden in der Nähe des Novodevičij-Klosters, direkt vor Sophias Klosterzellen [...] gehängt.“42 Der Autor erwähnt sogar die erfolglose Fürsprache des Patriarchen für die Hingerichteten. Er weist jedoch immer wieder darauf hin, wie unvermeidlich diese Grausamkeiten gewesen seien. Roždestvenskij interpretiert das unbarmherzige und brutale Handeln Peters des Großen nicht als Charakterzug der Person, sondern als ein Wesensmerkmal der Epoche. Die Zeit manifestiere sich in der harten Hand Peters des Großen im Kampf gegen die Feinde. Um dies zu belegen, erwähnt der Autor andere Beispiele von Grausamkeiten, die von Zeitgenossen des Zaren begangen wurden – wie etwa von Prinzessin Sophia oder vom Schwedenkönig Karl XII.43

40 Kareev, O škol’nom prepodavanii istorii (wie Anm. 9), S. 2. 41 Roždestvenskij, Sergej: Otečestvennaja istorija v svjazi so vseobščeju (sredneju i novoju). Kurs srednich učebnych zavedenij [Vaterländische Geschichte in Bezug zur allgemeinen (mittleren und neueren) Geschichte. Kurs für mittlere Lehranstalten]. 5. Aufl. Sankt-Peterburg 1878. Im Rahmen der Reihe „Lehrwerke der vorrevolutionären Geschichte“ gab es eine Neuauflage mit 40.000 Exemplaren in der Russischen Föderation. 42 Ebd., S. 270. 43 Vgl. ebd., S. 261, 272.

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Außerdem zitiert er Nartov als Zeugen für die andere – gänzlich milde – Seite des Zaren: „Wie sehr ließ er [Peter der Große; L. K.] sich herab zu den menschlichen Schwächen, er vergab Verbrechen, die keine Gnade verdienten“.44 Als Roždestvenskij kurz auf den Fall des Zarewitsch Aleksej eingeht, scheint er fast in Ustrjalovs Tonfall einzustimmen und auch die Art der Darstellung zu übernehmen: „Der große Reformer Russlands schreckte vor nichts zurück, wenn es um den Aufstieg seines Landes ging; er verschonte weder seine Frau noch seinen Sohn: Lopuchina wurde gefangen gehalten in einem Kloster und sein Sohn [...] wurde behördlich verfolgt, schließlich in einer Festung eingekerkert, wo der Zarewitsch bald verstarb.“45

Roždestvenskij versucht jene ,menschlichen‘ Eigenschaften von Peter I. herauszustellen, die bei Jugendlichen Sympathien wecken könnten, wenn er zum Beispiel ­schreibt: „Mit 16 Jahren konnte er kaum die Buchstaben formen und ihm unterliefen beim Schreiben gröbste Fehler, wie aus seinen Schulheften ersichtlich ist“.46 Allerdings erzählt der Autor mit sichtlichem Vergnügen, wie die jugendlichen Kriegsspiele den Grundstein für die Zukunft der russischen Armee und Marine legten. Roždestvenskij spricht auch über die Entbehrungen des Volkes, rechtfertigt aber deren Notwendigkeit: „Wegen der hohen Steuern, die zur Führung eines schwierigen und langwierigen Krieges notwendig waren, litt das Volk unter ­Peter I. furchtbar und verarmte zusehends. Viele, die kein Ende des Elends sahen, flohen“.47 Und später: „Die Bauern unter Peter dem Großen wurden zu Sklaven der Grundbesitzer“.48 Die Zahl der Schismatiker nahm zu. Der Autor verschweigt nicht, dass das Volk weder die Gründe noch den Charakter der Reformen begriffen hat; im RoždestvenskijLehrbuch findet sich ferner ein Hinweis auf die kulturelle Spaltung der Nation unter Peter dem Großen.49 Der Verfasser eines so weit verbreiteten Lehrbuchs, seines Zeichens ein Gymnasiallehrer, folgte also weitgehend dem Weg, den die akademischen Autoren vorgezeichnet hatten, und seine Haltung diesbezüglich bildet keine Ausnahme unter den zahlreichen Lehrwerken, die von Schullehrern verfasst wurden (Konstantin Ivanov, Anna Efimenko, Ivan Belljarminov u. a.). Kurz gesagt, verfolgten sie allesamt die gleiche Linie, obwohl sie ähnliche Ideen nun unverblümt präsentierten oder über eine Rechtfertigung heraus entwickelten. Aber selbst die loyalsten unter ihnen ignorierten nicht die negativen Aspekte der Persönlichkeit und der Taten Peters des Großen.

44 45 46 47 48 49

Ebd., S. 272. Ebd., S. 289. Ebd., S. 264. Ebd., S. 274, vgl. auch ebd., S. 272f. Ebd., S. 284. Vgl., ebd., S. 285.

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Nicht offizielle Werke Wenden wir uns nun kontrastiv den nicht offiziellen Werken zu, die von Oppositionellen verfasst wurden und sich an ein spezielles Publikum richteten. Der revolutionäre Populist Leonid Šiško (1852–1910) veröffentlichte im Ausland ein Buch mit eingängigen Geschichten für Erwachsene, das als Lehrbuch in Arbeiterzirkeln genutzt wurde und dem Selbststudium dienen sollte. Nach 1905 wurde das Buch in Russland neu aufgelegt, fand großen Anklang und wurde auch nach der Revolution von 1917 weiterhin gedruckt.50 Das vorangestellte Motto „Im Kampf erlangt ihr eure Rechte!“ bringt die Position des Autors auf den Punkt: Der gesamte Text ist darauf ausgerichtet, den potenziellen Leser aus dem Volk von jeglichen zaristischen Illusionen zu ,befreien‘, zudem die Ungerechtigkeit des autokratischen Systems aufzuzeigen und ihn zum Kampf für die Freiheit aufzurufen. In Bezug auf Peter den Großen ist der Text klar und deutlich: „Peter der I. war vor allem ein Zar und dachte daher nur an seinen eigenen Nutzen als Zar. [...] An das Volk dachte er wenig“.51 Kurz gesagt, dies ist kein Geschichtsbuch, sondern ein anschauliches Exempel revolutionärer Propaganda. Die Leser sollen nicht nachdenken oder analysieren, vielmehr bekommt man die vorgefertigten Wahrheiten geliefert – wie es bereits auch bei Ustrjalovs Lehrbuch der Fall war. Das ist reine Indoktrination und keine Bildung mehr. Dieses alternative Lehrbuch unterscheidet sich von offiziellen Lehrwerken also nicht nur hinsichtlich der Ideologie, sondern auch im pädagogischen Ansinnen. Ansonsten führen die entgegengesetzten Ausrichtungen – auf der einen Seite der extreme Monarchismus von Ustrjalov, auf der anderen die revolutionäre Propaganda von Šiško – letztlich zum gleichen Ergebnis. Im Jahr 1909 erschien ein weiteres nicht offizielles Lehrbuch: Erzählungen aus der russischen Geschichte.52 Einer der Herausgeber war Sergej Mel’gunov (1879–1956), Geschichtslehrer an Privatschulen in Moskau und bekannter politischer Aktivist, der später leidenschaftlich gegen den Bolschewismus kämpfte. Er wurde 1922 von den Bolschewiki aus Sowjetrussland verbannt und veröffentlichte in der Emigration das berühmte Buch Der Rote Terror. Die Erzählungen aus der russischen Geschichte sollten nicht nur erwachsene Schüler der Sonntagsschule ansprechen, sondern waren auch für „jüngere Klassen der Mittelschulen“ und ebenso als Lektüre für Zuhause gedacht. Dieses Buch wechselt die Perspektive gänzlich und versucht den Blick der Schüler von der politischen Geschichte des Landes auf die Geschichte der einfachen 50 Vgl. als Beispiel Šiško, Leonid: Rasskazy iz istorii Rossii: B 3 č [Erzählungen aus der Geschichte Russlands in drei Teilen]. 2. Aufl. Odessa 1917. 51 Ders.: Populjarnaja istorija Rossii: B 3 č [Die populäre Geschichte Russlands in drei Teilen]. Teil 2. Sankt-Peterburg 1906, S. 56. 52 Mel’gunov, Sergej; Petruševskij, Vladimir (Hg.): Rasskazy po russkoj istorii: Obščedostupnaja chrestomatija s risunkami [Erzählungen aus der russischen Geschichte: Eine allgemeinverständliche Chrestomathie (mit Zeichnungen)]. Moskva 1909.

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Leute zu lenken. Es ist ein frühes Beispiel für die heute so gefragte ,Geschichte von unten‘, ,die Geschichte des einfachen Volkes‘. So begegnet dem Leser im Kapitel „Die Petrinische Periode“ eine lebendige, mit prägnanten Zitaten anschaulich gemachte Erzählung über die Veränderungen in der Lebensweise der verschiedenen Schichten der russischen Gesellschaft. Doch es dauert nicht lange und die Geschichte verwandelt sich in eine Erzählung über das Elend und das Leid des Volkes. Wurden in den offiziellen Lehrbüchern Peters I. heißblütiges Temperament, seine ungestüme Art, Ungeduld sowie Brutalität wohl erwähnt, so stehen sie hier im Mittelpunkt: Folterungen von Gefangenen werden detailliert beschrieben; unumwunden wird ausgesprochen, dass der Zarewitsch Aleksej unter der Folter starb.53 Wie furchtbar der Aufbau von Petersburg für die beteiligten Menschen war, welche hohen Steuern und immensen Abgaben dem Volk abverlangt wurden, die unzähligen Opfer und der Hass der Bevölkerung auf Peter I., den man für den Antichristen und für einen Schmarotzer hielt, dem man Respektlosigkeit gegenüber dem orthodoxen Glauben vorhielt, die Würdelosigkeit der Trinkgelage am Hofe, die Verfolgung der Altgläubigen – mit anderen Worten, alles, was das Bild Peter des Großen trüben könnte, wird in allen erdenklichen Details beschrieben.54 Die ausgiebige Charakterisierung von Peter I. behandelt wohl auch seine Neugierde, seine Intelligenz, seinen ungewöhnlichen Fleiß und seine demokratische Grundeinstellung, aber all seine Handlungen laufen im Text letztlich auf eine eindeutige Verurteilung hinaus. Gleichzeitig werden die Reformen selbst jedoch als unbestreitbar notwendig eingestuft und die Vorteile der europäischen Lebensweise gegenüber der russischen Barbarei in aller Deutlichkeit herausgestellt. Doch auch hier fehlt es nicht an mahnenden Worten, die den Zaren tadeln: „Peter I. betete Europa blindlings an, strebte danach, alles Heimische zu zerstören und den Russen nach westlichem Ebenbild zu verändern. Das zeigte sich nicht zuletzt in kleinen Dingen – etwa in seinem Hass auf die Kleidung und auf die langen Bärte, die die Russen zu tragen pflegten.“55

Dagegen fehlt dem Text der militärische Siegesdiskurs völlig: Vergeblich sucht man die Eroberung von Azov, den Sieg von Poltava oder eine der ruhmreichen Seeschlachten, die in den anderen Lehrbüchern stets das Gegengewicht zum ,Negativen‘ bildeten und all die Entbehrungen der Menschen rechtfertigen und erklären sollten. Nachdem Russland 1905 den russisch-japanischen Krieg verloren hatte und von einer Revolution heimgesucht worden war, bekam die imperiale Ideologie des Zarentums unweigerlich Risse; der militärische Siegesdiskurs und die bedingungslose Verteidigung der Monarchie entsprachen nicht mehr dem Weltbild der Schüler. Die 53 Ebd., S. 298f. 54 Vgl. ebd., S. 300–303, 323–325. 55 Ebd., S. 320.

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neue Zeit verlangte nach einem Neuansatz. Deshalb vermittelten diese alternativen Lehrwerke dem Leser eine Sichtweise, die in klarer Opposition zum offiziellen Geschichtsbild stand. Diese Verschiebung wird besonders deutlich, wenn man diese Bücher dem Lehrbuch von Platonov gegenüberstellt, das ebenfalls nach der Revolution von 1905 verfasst wurde: Die Fakten sind zwar dieselben, aber die Akzente werden völlig anders gesetzt und sollen den Leser eindeutig agitieren.

Versuch einer Revision des Geschichtsunterrichts am Vorabend des Zusammenbruchs des Russischen Reiches Das russische Schulsystem – dies sei konstatiert – war im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches zu grundlegenden Reformen bereit. Der letzte Lehrplan für das Gymnasium, der 1915 erstellt wurde, aufgrund der historischen Gegebenheiten jedoch lediglich auf dem Papier bestand und nie umgesetzt wurde, demonstriert deutlich die neuen Verhältnisse. Darin sind die Fächer in ,erzieherische‘ und ,entwicklungsbezogene‘ Kategorien eingeteilt, wobei Geschichte den erzieherischen zugeordnet ist. Die ,entwicklungsbezogenen‘ Fächer sind eher auf die Praxis ausgerichtet. In den oberen Klassen soll „bei den Schülern eine historische Haltung zum Leben geweckt und ihr Verständnis für Geschichte entwickelt“ werden.56 Für jüngere Schüler sieht der Lehrplan vor, dass dem Geschichtsunterricht moralische Fragestellungen, darunter auch solche des Patriotismus, voranzustellen sind. Wirklich bemerkenswert ist, mit welcher Vorsicht diese Vorgaben formuliert sind. Die Autoren sprechen von pädagogischen Sünden und schädlichen Irrlehren, wenn bei patriotischen Themen moralisiert werde: „Der Geschichtsunterricht in der Unterstufe hat das pädagogische Ziel, bei den Schülern ein lebhaftes Interesse für das vergangene Leben ihres Volkes zu wecken, ein Bewusstsein für dieses historische Interesse zu entwickeln und dadurch ihre Liebe zur Heimat zu stärken. [...] Es gilt aber unbedingt zu bedenken, dass dieses hohe Bildungsziel des Geschichtsunterrichts nicht anders erreicht werden soll und kann als durch die wahrheitsgetreue Unterrichtung über die historischen Begebenheiten und Personen. [...] Belehrender Unterricht über moralische und patriotische Themen, der sich von der historischen Wirklichkeit entfernt und so den Lernprozess mit unerwünschter und schädlicher Unwahrheit versetzt, pervertiert nicht nur die Erziehung, sondern führt zu pädagogischem Übel.“57

56 Primernye programmy ob’’jasnitel’nye zapiski, izdannye po rasporjaženiju G. Ministra ­Narodnogo Prosveščenija [Programme mit kurzen Erläuterungen, hg. im Auftrag des Ministers für Volksaufklärung]. Petrograd 1915, S. 86. 57 Ebd., S. 83.

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Eine detaillierte Untersuchung des Lehrplans von 1915 sowie der Beschlüsse des landesweiten Lehrerkongresses von 1916 (vorgeschriebener Unterricht zur Alphabetisierung in Russland, gefolgt von der obligatorischen Schulbildung der Sekundarstufe bis 1925!) zeigen, dass das russische Schulsystem vor tiefgreifenden Veränderungen stand. Der Geschichtslehrplan war offen dafür, die direkte Auseinandersetzung verschiedener Standpunkte anzubieten. Es gab Lektürevorschläge für die Schüler mit historischer Fachliteratur und Dokumentensammlungen.58 Die gesetzten Ziele, die Schüler zu selbstständigem Denken und zur Analyse ihrer Umwelt zu erziehen, sind auch heute noch nicht veraltet. Man kann nur bedauern, dass diese Entwicklungen durch die Machthaber in der Sowjetunion unterbrochen wurden, die stattdessen die Schulen in Fesseln legten, was zu Rückschritten in der Entwicklung der Schulgeschichte sowie auch insgesamt in der Geschichtswissenschaft führte, und zwar für eine sehr lange Zeit.

Die fatale Entwicklung des Schulgeschichtsunterrichts nach der Revolution von 1917 Nach der Revolution von 1917 wurde das Fach Geschichte aus dem Schullehrplan gestrichen.59 Die siegreiche Arbeiterklasse war aufgerufen, eine neue glückliche Geschichte zu schreiben, und es bestand keine Notwendigkeit, sich noch mit Einzelheiten der bedrückenden Vergangenheit zu belasten. Nach einem Jahrzehnt Erfahrung mit dieser Schulpraxis überlegte man jedoch unter Lehrern, ob der Geschichtsunterricht nicht wiederbelebt werden sollte. Der eingefleischte ­Marxist und Berufshistoriker Michail Pokrovskij (1868–1932) protestierte 1926 gegen dieses Ansinnen: „Ich fürchte, wenn wir einen solchen Geschichtsunterricht einrichten, der angeblich neu sei, dieser dem alten Format sehr ähneln und am Ende dasselbe alte Buch herauskommen wird: ein Kirchenkalender mit verschiedenen Heiligen. Früher gab es heilige Zaren, Minister, Wohltäter der Menschheit, und jetzt gibt es große rebellische Revolutionäre und Sozialisten“.60

Pokrovskij wusste sehr wohl, dass das ,alte‘ Konzept der Geschichtsschreibung den Lauf der Geschichte unmittelbar mit der Person des Zaren verknüpfte, was durch Konstruktionen wie ,er hat gebaut‘, ,er hat gewonnen‘, ,er hat erobert‘ vermittelt wurde, und man sagte eben nicht einfach nur, ,er befahl‘ oder ,initiierte‘. Pokrovskij

58 Vgl. ebd., S. 87. 59 Zum folgenden vgl. Dubrovskij, Istorik i vlast’ (wie Anm. 30). 60 Zit. nach ebd., S. 172.

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konnte jedoch nicht ahnen, dass das alte Modell der ,Staatlichkeit‘ bzw. ,Staatszentriertheit‘, bei dem der Zar die Personifizierung der Regierung ist, in der Stalinzeit erneut von Nutzen sein würde. Dialektisch verschob sich ,imperial/national‘ in der UdSSR bald auch auf das vorrevolutionäre Verständnis des russischen Staates als russische Nation. Diese Tendenz setzte sich dann in den ersten sowjetischen Geschichtslehrbüchern vollends durch.

,Rehabilitierung‘ Peters des Großen ­

Noch bemerkenswerter ist, dass der in den 1930er Jahren in den sowjetischen Schulen unter der ,weisen Leitung des Genossen Stalin‘ wiedereingerichtete Geschichtsunterricht keineswegs auf nicht offiziellen Werken von Revolutionären fußte. Wie der zeitgenössische russische Historiker Aleksandr Dubrovskij nachweist, wurden auf direkte Anordnung Stalins die alten Materialien der Gymnasien aus der Zarenzeit als Grundlage für die sowjetischen Schulbücher genutzt.61 Folglich sind in dem 1940 von Anna Pankratova und anderen herausgegebenen Lehrbuch viele jener Seiten, die sich mit der Petrinischen Epoche beschäftigen, nur schwer von den entsprechenden Stellen in Ilovajskijs oder Platonovs Texten zu unterscheiden.62 Hier wie dort finden sich die gleichen biographisch-thematischen Berichte samt der verschiedenen Einzelheiten und diversen Erzählungen von den militärischen Erfolgen. Der Sieg im Nordischen Krieg wird – flankiert von Marx-Zitaten – als große Errungenschaft dargestellt, und auch der Status des Imperiums erscheint begrüßenswert: „Dieser neue Name zeugte von der Machtentfaltung und wachsenden Stärke des russischen Staates“.63 Auch im sowjetischen Lehrbuch werden die Reformen Peters I. gewürdigt und hochgeschätzt, wobei sich die Autoren hier auf Zitate von Stalin stützen können.64 Im Allgemeinen hat sich der sowjetische Diskurs nicht allzu stark in die Texte eingeschrieben, abgesehen von einigen Verweisen und Formulierungen wie: „Als Ergebnis der Reform schuf Peter einen starken Staatsapparat, der den Bedürfnissen der herrschenden Klassen diente“.65 Außerdem gehen die sowjetischen Autoren mit 61 Vgl. ebd., S. 180–184 sowie Brandenberger, David: Stalinskij russocentrizm. Sovetskaja massovaja kul’tura i formirovanie russkogo nacional’nogo samosoznanija (1931–1956 gg.) [Stalinistischer Russozentrismus. Sowjetische Massenkultur und die Herausbildung eines russischen Nationalbewusstseins]. 2. Aufl. Moskva 2017, S. 39–86. 62 Vgl. Pankratova, Anna; Vasilevič, Konstantin; Bachrušin, Sergej; Focht, Aleksandr: Istorija SSSR. Učebnik dlja IX klassa srednej školy [Geschichte der UDSSR. Lehrbuch für die 9. Klasse an mittleren Schulen]. Moskva 1940, S. 39–86. 63 Ebd., S. 23. 64 Vgl. ebd., S. 23f. 65 Ebd., S. 30.

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den Gegnern der Reformen noch schärfer ins Gericht als ihre vorrevolutionären Kollegen. Selbstredend werden diese Gegner jetzt als „Überbleibsel des ehemaligen Adels und Teils des Klerus“ bezeichnet, oder als „Grundbesitzer aus aristokratischen Familien“ bestimmt; diese hätten denn auch die Gerüchte verbreitet, Peter der Große sei „der Antichrist“.66 Den Zarewitsch Aleksej erklären die Autoren ohne Umschweife zum „Vaterlandsverräter“, der ihnen zufolge „davon träumte, einen Aufstand“ gegen seinen Vater anzuzetteln. Über seinen Tod wird dasselbe gesagt, was Roždestvenskij geschrieben hatte: „Der Zarewitsch starb im Gefängnis kurz nach der Urteilsverkündung“.67 Der imperiale Mythos Peters I. war mit den Anschauungen der stalinistischen Schule sehr gut vereinbar. Die Befürchtungen von Michail Pokrovskij waren durchaus berechtigt: Der neue Kurs war dem alten sehr ähnlich, und im Fall Peters des Großen waren nicht einmal größere Vorbehalte erforderlich. Man würdigte die Persönlichkeit Peters des Großen in höchstem Maße, obschon seine Rücksichtslosigkeit und Härte durchaus betont wurden.68 Auch wenn es kleinere Zwischenbemerkungen hinsichtlich der Ausbeutung des Volkes und des Klassenkampfes gab, änderte dies nichts an dem patriotischen und apologetischen Grundton. Um dies beispielhaft zu illustrieren, erscheint Ustrjalovs Lehrbuch noch geeigneter als Ilovajskijs, wenngleich der ,große Führer aller Menschen‘ letzteren überaus mochte. Jedenfalls bringt die folgende Passage aus Ustrjalov den staatlichen Großmachtpatriotismus Stalins perfekt zum Ausdruck: „Die Russen können mit Recht sagen, dass ihre Vorfahren [...] sich nicht zufällig behauptet haben, nicht aufgrund fremder Hilfe, sondern aus eigener Kraft, durch den Glauben an ihre Bestimmung und die Hingabe für den Thron des Zaren und die Liebe zum Vaterland [...] und dass ihre Seiten im Buch der Geschichte mehr Heldentaten als Schandtaten enthalten.“69

Viel abzuändern gab es da nicht, lediglich ,Vorsehung‘ und ,Thron‘ waren gegen ,die Partei von Lenin und Stalin‘ auszutauschen.

Schlussfolgerung Wenden wir uns abschließend wieder unserer Zeit zu. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der allgemeinen Demokratisierung in den 1990er Jahren wollte man auch in den russischen Schulen die sowjetische Diktatur loswerden, und es 66 67 68 69

Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 35f. Ustrjalov, Načertanie russkoj istorij (wie Anm. 17), S. 6.

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begann eine Ära der Vielfalt und Kreativität. Wie schon vor der Russischen Revolution bekamen die Schulen die Gelegenheit, die Lehrpläne zu ändern und Lehrwerke selbst auszuwählen. Leider entwickelt sich die aktuelle Bildungspolitik der russischen Regierung genau in die entgegengesetzte Richtung: Derzeit leitet die Administration unter Präsident Putin Schritte ein, die ein sogenanntes ,einheitliches Lehrbuch‘ etablieren sollen; das bedeutet nichts anderes, als dass die staatliche nationalistische Ideologie in den Geschichtslehrplan eingeschrieben wird und ihn damit den Zielen der gegenwärtigen ,vaterländischen Erziehung‘ unterordnet. Dieses einheitliche Lehrbuch soll die bestehende Vielfalt an unterschiedlichen Lehrwerken ersetzen, was sich bereits darin zeigt, dass konservative und liberale Stimmen dazu neigen, diese Aufbereitung des Materials zu problematisieren. Die Idee eines einheitlichen Schulbuchs löste in Russland hitzige Diskussionen aus, und soweit wir wissen, scheint bei den jüngsten Entscheidungen gegen diese Idee votiert worden zu sein. Zur gleichen Zeit aber haben öffentliche Verlautbarungen von Ol’ga Vasil’eva, der Ministerin für Bildung und Wissenschaft der Russischen Föderation von 2016 bis 2020, einen anderen sehr gefährlichen Trend zum Ausdruck gebracht. Sie würdigte ganz unverhohlen Stalin und das sowjetische Erbe, was viele Lehrer und ­Eltern schockierte. Ihre öffentlichen Auftritte wurden auch in den Medien innerhalb und außerhalb der Russischen Föderation, einschließlich Estlands, scharf kritisiert. Wir können nur hoffen, dass diese harsche öffentliche Reaktion die Behörden dazu bewegen wird, über die Folgen solcher Bestrebungen nachzudenken und die Sowjetisierung des russischen Schulsystems zu unterlassen. Auf jeden Fall ist die Schule ein lebendiger Organismus, der vom Staat nie gänzlich kontrolliert werden kann. Es gab sie und es wird sie immer geben: die klugen Lehrer und die neugierigen Schüler, die ihren Weg zu einer inoffiziellen Geschichte finden. Wie ich in dieser Arbeit zu zeigen intendierte, war dies auch der Weg der Schule des Zarenreiches, als die besten Schulbuchautoren innerhalb der Grenzen der staatlichen Ordnung versuchten, die Geschichte von ihren Mythen zu befreien und die sakrosankte Gestalt Peters I. aus verschiedenen Blickwinkeln darzustellen.

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Zwischen Vorbild und Abgrenzung: Die Rezeption deutschsprachiger Bildungskonzepte im Litauen der Zwischenkriegszeit „In unserer Gesellschaft gibt es immer noch Menschen, auch gebildete, die glauben, dass das heidnische Litauen unter starkem Einfluss der byzantinischen Kultur stand, [...] aber eigentlich war der kulturelle Einfluss der Ostslaven auf den litauischen Geist ganz gering. [...] Die Litauer haben sich früh an der westlichen Kultur orientiert“, heißt es in dem vom litauischen Exilhistoriker Adolfas Šapoka verfassten Vorwort zur Studie Lietuvos studentai užsienio universitetuose XIV–XVIII amžiais [Litauische Studenten an ausländischen Universitäten vom 14. bis 18. Jahrhundert], die von den Gebrüdern Vaclovas und Mykolas Biržiška 1987 in Chicago herausgegeben wurde.1 Die in der Studie veröffentlichten Listen der litauischen Studenten im Ausland sollen beweisen, dass diese über Jahrhunderte an den Universitäten Krakau, Königsberg, Leipzig, Frankfurt an der Oder, Ingolstadt, Wittenberg, Dillingen, Basel, Leiden usw. studierten.2 Eben auf diese Standorte und die dort ansässigen Professoren sei laut Šapoka die pädagogische Tradition Litauens zurückzuführen. Die litauische Bildungsgeschichte reicht weit zurück in die Zeit des Großfürstentums: Bereits Anfang des 14. Jahrhunderts wurden in Wilna (Vilnius) dominikanische, franziskanische und griechisch-orthodoxe Klosterschulen gegründet, später auch katholische Gemeindeschulen in ganz Litauen. Als Folge der Reformation begann Mitte des 16. Jahrhunderts eine neue Periode, die durch eine heftige Konkurrenz zwischen Katholiken und Protestanten geprägt war.3 1539 wurde in Wilna von Abraham Culvensis ein protestantisches Kollegium eingerichtet, 1579 gründeten die Jesuiten ihr Kollegium (heute die Universität Vilnius), aber auch diese Institutionen konnten nicht die steigenden Bildungsbedürfnisse des litauischen Adels befriedigen. Von der zweiten Hälfte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts studierten beinahe alle Söhne der einflussreichsten adligen Familien Litauens an den Universitäten Krakau, Basel, Heidelberg oder Leipzig. 1 Šapoka, Adolfas: Kur senovėje lietuviai mokslo ieškojo [Wo in der Vergangenheit die Litauer nach Bildung suchten]. In: Biržiška, Vaclovas; Biržiška, Mykolas (Hg.): Lietuvos studentai užsienio universitetuose XIV–XVIII amžiais [Litauische Studenten an ausländischen Universitäten vom 14. bis 18. Jahrhundert]. Chicago 1987, S. 9–35, hier S. 9–11. 2 Vgl. Biržiška/Biržiška, Lietuvos studentai (wie Anm. 1), S. 163–167. 3 Vgl. Lukšaitė, Ingė: Reformacija Lietuvoje [Die Reformation in Litauen]. In: Dies.; Prašmantaitė, Aldona; Mikalajūnas, Mykolas (Hg.): Lietuvos evangelikų reformatų Sinodui 450 metų [450 Jahre evangelische Synode in Litauen]. Vilnius 2007, S. 7–25, hier S.18f., 23.

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In der Zeit der Reformation verstärkten sich die Kontakte mit weiteren deutschen Bildungseinrichtungen, so etwa mit der Königsberger Universität Albertina. Königsberg (Kaliningrad) war vom 16. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur für die Preußisch-, sondern auch für die Groß-Litauer ein wichtiges kulturelles Zentrum. Die Immatrikulationsbände bestätigen, dass es zwischen 1544 und 1828 nur wenige Jahre gab, in denen nicht wenigstens einige Studenten aus Groß-Litauen an der Universität immatrikuliert waren.4 Die Zeit der regen Bildungskontakte mit der Königsberger Universität sowie die Rolle Ostpreußens für das litauische Schrifttum, insbesondere als Tilsit (Sovetsk) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur sogenannten Hauptstadt der litauischen Nationalbewegung wurde, sind sowohl in Litauen als auch in Deutschland gut erforscht.5 Ausführlich dokumentiert sind auch die Bildungswege sowie die Einflüsse der deutschen Bildungskonzepte auf solche berühmten Preußisch-Litauer wie Wilhelm Storost (bekannter unter dem Pseudonym Vydūnas, 1868–1953) oder Martin Jankus (1858–1946).6 Aus diesem Grund wird diese Thematik in den weiteren Ausführungen nicht näher behandelt. Der Beitrag konzentriert sich auf die fachpädagogischen Austauschprozesse zwischen Litauen und den deutschsprachigen Ländern in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, also in der Zeit der ersten unabhängigen Republik. Dass die deutschsprachigen Bildungskonzepte damals große Popularität genossen, ist, wie auch in früheren Jahrhunderten, vor allem den litauischen Intellektuellen zu verdanken, die in deutschsprachigen Ländern studiert haben. So übersetzte und kommentierte die Schriftstellerin und Lehrerin Marija Pečkauskaitė (1877–1930) die wichtigsten Texte ihres Züricher Professors Friedrich Wilhelm Foerster, und der ­Pädagoge und Psychologe Vladimiras Lazersonas (1889–1945) stellte dem litauischen Publikum die Ansätze der experimentellen Pädagogik vor, die er sich an den Universitäten Jena, Zürich und Frankfurt am Main angeeignet hatte. Von diesen Einflüssen zeugen nicht nur die Forschungsarbeiten der Pädagogen, die aus deutschsprachigen Ländern zurückgekehrt waren, sondern auch, wie z. B. im Fall von Lazersonas, mehrere nachgelassene wissenschaftliche Aufsätze, Vorträge und Rezensionen zu zeitgenössischen

4 Vgl. Biržiška/Biržiška, Lietuvos studentai (wie Anm. 1), S. 45–89, 175–177. 5 Vgl. z. B. Arnold, Udo: Karaliaučiaus universitetas ir jo reikšmė Vidurio ir Rytų Europai [Die Universität Königsberg und ihre Bedeutung für Mittel- und Osteuropa]. In: Acta Historica Universitatis Klaipedensis 8 (2001), S. 69–77; Citavičiūtė, Liucija: Karaliaučiaus universiteto Lietuvių kalbos seminaras: istorija ir reikšmė lietuvių kultūrai [Das Litauische Seminar an der Universität Königsberg: Seine Geschichte und die Bedeutung für die Kultur Litauens]. Vilnius 2004; Marti, Hanspeter; Komorowski, Manfred (Hg.): Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. Köln 2008. 6 Vgl. z. B. Bagdonavičius, Vacys; Martišiūtė-Linartienė, Aušra (Hg.): Vydūnas und die deutsche Kultur. Vilnius 2013; Manfred Klein: Preußens Litauer: Studien zu einer (fast) vergessenen Minderheit. Hamburg 2017.

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deutschsprachigen Neuerscheinungen7 sowie die fachspezifischen Begrifflichkeiten, die aus dem Deutschen in die litauischsprachigen Aufsätze übernommen und in Klammern in der Originalsprache angegeben wurden.8 In den 1920er und 1930er Jahren erschienen in Litauen einige Bildungszeitschriften, so z. B. die offiziellen Amtsblätter des Bildungsministeriums Švietimo darbas [Bildungsarbeit] (1919–1930), die Zeitschrift der litauischen Lehrergewerkschaft Mokykla ir gyvenimas [Die Schule und das Leben] (1921–1940), die katholisch orientierte Zeitschrift Lietuvos mokykla [Die Schule Litauens] (1918–1940), die völkisch orientierte Zeitschrift Tautos mokykla [Die Schule des Volkes] (1933–1940) und die linkspolitisch geprägte Mokykla ir visuomenė [Die Schule und die Gesellschaft] (1933–1936). 1918 bis 1940 sind in diesen Zeitschriften mehr als 100 speziell dem deutschen Schulsystem, den theoretischen Ansätzen berühmter deutscher Pädagogen oder der aktuellen deutschen Bildungspolitik gewidmete Artikel erschienen. Diese Publikationen haben bis jetzt in der litauischen Forschung kaum Beachtung gefunden, deswegen lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die thematischen Schwerpunkte und die darin stattfindenden diskursiven Auseinandersetzungen zu werfen. Bei der Erläuterung der deutschen Einflüsse auf die strukturelle Gestaltung des litauischen Bildungssystems, die Unterrichtsinhalte und -methoden sollen die folgenden Fachzeitschriften näher analysiert werden: Švietimo darbas als offizielles Organ des Bildungsministeriums, Tautos mokykla als eine Fachzeitschrift mit der vergleichsweise größten Zahl von Artikeln, die deutschen Vorbildern gewidmet sind, und Mokykla ir visuomenė, die eine ideologisch entgegengesetzte Haltung zu der völkisch orientierten Tautos mokykla einnahm und deren Position öffentlich kritisierte. In den ersten zwei Abschnitten geht es um die deutschen Einflüsse auf die Gestaltung des litauischen Bildungssystems in den 1920er und 1930er Jahren, mit dem Ziel, die fachspezifischen Diskussionen und die Positionen mancher Bildungsexperten zwischen Begeisterung und steigender Skepsis zu verdeutlichen. Im dritten Teil soll die Rezeption einiger dominierender Bildungskonzepte aus den deutschsprachigen Ländern am Beispiel von konkreten, führenden litauischen Pädagogen erläutert werden.

7 Vgl. Pailis, Polina: Vlado Lazersono knygų, straipsnių ir recenzijų bibliografija [Die Bibliographie von Vladas Lazersonas]. In: Lazersonas, Vladas: Rinktiniai raštai [Gesammelte Schriften]. Hg. v. Albinas Bagdonas u. Polina Pailis. Vilnius 2014, S. 452–462. 8 Vgl. z. B. Lazersonas, Vladas: Psichiniai vaikų trūkumai ir auklėjimo uždaviniai [Psychische Störungen bei Kindern und die Erziehungsaufgaben]. In: Mokykla ir gyvenimas 7 (1928), S. 1–10; ders.: Vaikų vaizduotės reikšmė [Die Bedeutung der kindlichen Vorstellungskraft]. In: Tautos mokykla 1 (1935), S. 7–10. Über die Spezifik einzelner deutscher Begriffe (‚Bildung‘, ‚Erziehung‘, ‚Führung‘, ‚Zucht‘, ‚Pflege‘, ‚Fürsorge‘ etc.) und deren Übernahme ins Litauische schrieb bereits 1943 Laužikas, Jonas: Švietimo integracijos pagrindai [Die Grundlagen der integrativen Bildung]. In: Ders.: Pedagoginiai raštai [Pädagogische Schriften]. Kaunas 1993, S. 54–56.

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Deutsche Vorbilder und die Gestaltung des litauischen ­Bildungssystems in den 1920er Jahren Das nationale litauische Bildungssystem gewann in der Zeit der ersten ­Litauischen Republik (1918–1940) klare Konturen. Die litauische Regierung erklärte trotz zahlreicher politischer und wirtschaftlicher Probleme Bildung zum höchsten Ziel des jungen Staates.9 Das Bildungsministerium, die zuständigen Behörden und die Lehrerverbände führten heftige Diskussionen darüber, wie das Schulsystem so aufgebaut werden könnte, dass es den nationalen litauischen Interessen gerecht werden würde, vor allem was die Gründung und Ausstattung von Schulen, die Lehrerbildung, die Lehrinhalte und Unterrichtsmethoden betraf. In der Zwischenkriegszeit wurden drei große Bildungsreformen durchgeführt: 1920, 1925 und 1936. Bereits in den ersten Jahren des unabhängigen Staates wurden die wichtigsten Ziele bei der Reformierung des Bildungssystems formuliert, nämlich 1.) das Erbe des scholastischen russischen Schulsystems abzuschaffen, 2.) die besten Erfahrungen anderer Länder zu übernehmen und darauf aufbauend 3.) ein eigenes nationales Bildungssystem zu entwickeln.10 Gefordert wurde also eine kreative Übernahme fremder pädagogischer Traditionen und Lehrmethoden, die an den eigenen Kontext angepasst werden sollten. So warnte etwa der Philosoph und Pädagoge Vydūnas, dass Litauer keineswegs blind den anderen Ländern folgen sollten, andernfalls würden sie eine Schule etablieren, „die alleine eine schlechte Widerspiegelung der Schule reicher und wohlhabender Länder sein wird“.11 Bei der Konzipierung des litauischen Schulsystems galten die skandinavischen Länder, Deutschland und die Schweiz als wichtigste Vorbilder.12 Von der Universität Helsinki wurde Prof. August Robert Niemi nach Litauen eingeladen; er legte 1920 die ersten Richtlinien für die litauische Schulreform vor, wobei besondere Aufmerksamkeit der Grundschulbildung galt. Auch die Litauer selbst interessierten sich in den 1920er Jahren in erster Linie für die Grundschulbildung; aus diesem ­Grund besichtigten die zuständigen Reformer zahlreiche europäische Länder, darunter auch deutsche Schulen. So unternahm z.  B. Jonas Yčas (1880–1931), der erste Bildungsminister Litauens und spätere Gymnasialdirektor in Panevėžys (­Poniewiesch), 1919 eine lange Reise durch Deutschland. Seine Reiseeindrücke wurden 1921 in der Fachzeitschrift Švietimo darbas veröffentlicht.

19 Vgl. Bukauskienė, Teresė: Lietuvos mokykla ir pedagoginė mintis 1918–1940 m. [Die litauische Schule und das pädagogische Gedankengut von 1918 bis 1940]. Vilnius 1995, S. 9. 10 Vgl. Motuzas, Remigijus: Lietuvos vidurinės mokyklos raidos 1918–1940 metais pedagoginės kryptys [Die pädagogischen Entwicklungstendenzen der litauischen mittleren Schule von 1918 bis 1940]. Vilnius 1995, S. 72. 11 Vydūnas: Tautos mokykla [Die Schule des Volkes]. In: Darbymetis 5 (1922), S. 10. 12 Vgl. Bukauskienė, Lietuvos mokykla (wie Anm. 9), S. 9.

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Yčas’ Bericht beginnt mit der kritischen Bemerkung, dass sich die von Niemi vorgelegten Richtlinien überwiegend auf skandinavische Vorbilder beziehen und die deutsche Organisation der Schulen außer Acht lassen, „obwohl eben die deutschen Nachbarn auf unsere Bildung großen Einfluss ausüben, und das auch zukünftig tun werden, alleine schon durch die geographische Nähe. Das wirkt sich sehr positiv auf unsere junge Schule aus, die sich immer noch unter alter russischer Hypnose befindet und deswegen voll Apathie und Steifheit ist.“13

Es sei von dringender Notwendigkeit, das deutsche Schulsystem, „das in keiner Hinsicht dem alten russischen ähnelt“, möglichst gut kennenzulernen.14 Vieles könne für Fremde in Deutschland merkwürdig erscheinen, so z. B. die konfessionelle Zugehörigkeit der Schulen, die Unterrichtsmethoden, welche die allgemeine Erziehung der Wissensvermittlung vorzögen, die Vielfältigkeit der Schultypen, die bürokratische Verwaltung usw., aber man müsse dies alles kennen, um in ­Litauen entsprechende Diskussionen darüber führen zu können. In dem Reisebericht werden die Eindrücke aus verschiedenen Schulen in Berlin festgehalten, wobei der Reisende alle Details genau zu dokumentieren weiß: Man findet Informationen über die Lehrkräfte, die Arbeitszeiten und das Gehalt des pädagogischen Personals, den Schulalltag, die einzelnen Unterrichtsstunden (Griechisch, Latein, Physik, moderne Fremdsprachen, Mathematik, Geographie, Turnen) und die Unterrichtsmethoden („innovativ, leicht“, „kreativ und spielerisch“, jedoch „auf einem sehr hohen Niveau“), die Einrichtung einzelner Schulräume etc.15 Besonders interessierte sich Yčas für den Aufbau und die Unterrichtsmethoden der deutschen Volksschulen, über die er wie folgt berichtet: „Die Schule, was ihre Methoden und Aufgaben betrifft, steht im Dienste des ganzen Volkes, deswegen entspricht sie gänzlich dem deutschen Wesen und der deutschen Ordnung. [...] Die Unterrichtsmethoden sind diesem Typ der Schule bestens angepasst; die Schule funktioniert ordentlich, wie eine gut laufende Uhr oder eine gute Werkstatt; die Gesellschaft akzeptiert und unterstützt die Arbeit der Schule, ja, die Schule wird von der Gesellschaft sehr hochgeschätzt; alleine auf einen Außenstehenden mag sie befremdlich wirken, denn fremd sind für ihn auch der Volksgeist, die deutsche Psychologie, die deutsche Ordnung usw.“16

Obwohl Yčas während seiner Reise sowohl „gut funktionierende“ Volksschulen und Gymnasien als auch arme, in ihren Unterrichtsmethoden zurückgebliebene Schulen besichtigt hat, beendet er seinen Bericht mit folgender Feststellung: 13 Yčas, Jonas: Vokiečių mokykloje (pluoštas atsiminimų) [In der deutschen Schule (ein Haufen Erinnerungen)]. In: Švietimo darbas 11/12 (1921), S. 84–109, hier S. 84. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 90–94. 16 Ebd., S. 99f.

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Rūta Eidukevičienė „Die deutsche Bildungsorganisation, in der die Universitäten die erste Geige spielen, hat sich in der Welt in vieler Hinsicht als besonders gelungen erwiesen und kann deswegen als Vorbild für andere dienen. Sowohl wir Litauer als auch unsere slawischen Nachbarn sollten das deutsche Bildungssystem näher kennenlernen und uns bei der Gründung eigener Schulen die dortigen Erfahrungen zunutze machen. Diese Bildungsorganisation ist jedoch aus historischen Besonderheiten des deutschen Volkes entstanden und weist viele Züge auf, die man als typisch deutsch bezeichnen kann, so dass bei der Übernahme der deutschen Praxis die folgende Regel gelten soll: ‚Was sich für Deutsche eignet, muss nicht notwendig auch für uns passen; jedes Volk soll seine eigenen Paläste bauen!‘“17

Die litauischen Schulreformer interessierten sich für die in Deutschland stattfindenden Diskussionen über die verschiedenen Stufen der schulischen Bildung bis weit in die 1940er Jahre hinein, auch wenn die anfänglichen Nachahmungsabsichten nach 1933 durch eine differenziertere Haltung abgelöst wurden. Als Beispiel für die anfängliche Phase der Begeisterung lässt sich ein von Jonas Yčas 1925 in Švietimo darbas veröffentlichter Bericht über die jüngste deutsche Schulreform und die neue „demokratische Einheitsschule“18 anführen: Der Autor beschreibt die durch die Reform vollzogenen Demokratisierungsmaßnahmen (die Abschaffung der Aufnahmeprüfungen und somit der Privilegien für die Kinder aus reicheren Familien, die Kooperation von Lehrern und Schülern, die Fächerintegration etc.) und verweist auf die Notwendigkeit, diese Reformen näher kennenzulernen.19 Yčas stellt ausführlich zwei Schultypen vor, nämlich die „deutsche Oberschule“ und die „deutsche Aufbauschule“ (ab der 7. Klasse) und weist darauf hin, dass solche sechsjährigen Aufbauschulen auch im Memelland, das damals bereits zu Litauen gehörte, existieren – sowohl deutsche als auch litauische.20 Nach der Meinung des Autors eignete sich so eine Schule besonders gut für Litauen, da sie auch von Bauernkindern und den Kindern aus Kleinstädten besucht werden könnte, die keine Möglichkeit hätten, ihr Elternhaus früh zu verlassen, um auf ein Gymnasium zu gehen.21 Im Hinblick auf die Notwendigkeit eines Schultyps wie der „Aufbauschule“ schreibt er:

17 Ebd., S. 109. 18 Gemeint ist hier höchstwahrscheinlich die Richert’sche Gymnasialreform von 1924/25 in Preußen, die sich unter anderem mit der sogenannten Einheitsschule beschäftigte und nebst humanistischem Gymnasium, dem Realgymnasium und der Oberrealschule eine vierte Gymnasialform einführte, nämlich die ‚Deutsche Oberschule‘. Vgl. Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1992, S. 240f. 19 Vgl. Yčas, Jonas: Vokiečių mokykla dabar [Die deutsche Schule heute]. In: Švietimo darbas 5 (1925), S. 469–475, hier S. 471. 20 Ebd., S. 474. 21 Bis 1933 betrug die litauische Grundschulbildung vier Jahre, dann musste man auf ein Progymnasium oder ein Gymnasium wechseln; nach einer Schulreform wurde in Litauen eine sechsjährige Grundschulbildung eingeführt.

Die Rezeption deutschsprachiger Bildungskonzepte im Litauen der Zwischenkriegszeit 101 „Das wäre ein großer Vorteil für den sozialen und kulturellen Fortschritt, darüber sollten nicht nur Deutsche, sondern auch Litauer genauer nachdenken. Alle, die eine Pflichtvolksschulbildung befürworten, sollten die Neuigkeiten der deutschen Schulpolitik verfolgen und auch diesen Schultypus in Betracht ziehen. [...] Solch eine Aufbauschule würde nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo die Ausgaben des Staates und der Eltern sparen.“22

Dass Yčas mit seinen Ansichten nicht alleinstand, beweist auch ein weiterer, 1930 ebenfalls in Švietimo darbas veröffentlichter Bericht über das deutsche Schulsystem, der aus der Feder von Kazimieras Masiliūnas (1902–1973) stammt, einem ­Lehrer, Schulinspektor und späteren Bildungsvizeminister. Masiliūnas vertiefte seine pädagogischen Kenntnisse von 1930 bis 1931 an den Universitäten München und Zürich, zugleich nahm er 1930 an einer Fortbildungsveranstaltung für ausländische Pädagogen in Darmstadt und Frankfurt am Main teil. Das Ziel der Veranstaltung sei gewesen, „den Teilnehmern die besten Seiten von verschiedenen Schultypen in der Region deutlich zu machen, damit sie diese später in ihren Heimatländern zu übernehmen wüssten“.23 Masiliūnas schreibt, dass er viele nützliche Einblicke in die Organisation des deutschen Schulsystems erhalten habe, was ihm auch einen Vergleich mit den Schulen in Litauen ermögliche: „Wenn ich irgendwelche Mängel bemerkt habe, so wirkte das eher beruhigend auf mich, bei den positiven Aspekten dagegen bemühte ich mich darum, alles möglichst gut zu begreifen und über die Anpassung an unsere Schulen nachzudenken.“24 Das erste, was ihm auffällt, ist „der Traditionsreichtum der deutschen Schule“; „deswegen ist sie deutsch und völkisch, was man über unsere Schule noch nicht sagen kann“25, schlussfolgert er. Deutlich fortgeschrittener sei die deutsche Schule auch bei der Ausbildung der Lehrkräfte und der Bereitstellung von Räumlichkeiten, Lehrmitteln etc. Beeindruckend seien auch die fachlichen Diskussionen, die moderne theoretische Ansätze, aber auch praktische Hilfestellung für die Pädagogen lieferten: „Auf diese Weise bauen die Deutschen ihre Schule auf und modernisieren sie weiter; sie können auch für andere Länder viele Impulse geben, insbesondere in der Theorie.“26 Die Analyse der pädagogischen Fachpresse zwischen 1920 und 1930 macht deutlich, dass die litauischen Bildungsreformer sich insbesondere für den formalen Aufbau bzw. die Organisation des deutschen Schulsystems interessierten und darüber überwiegend in den offiziellen Amtsblättern des Bildungsministeriums berichteten.

22 Yčas, Vokiečių mokykla dabar (wie Anm. 19), S. 474. 23 Masiliūnas, Kazimieras: Pedagoginės savaitės šių metų vasarą Vokietijoje [Pädagogische Wochen dieses Sommers in Deutschland]. In: Švietimo darbas 9 (1930), S. 931–936 u. 10 (1930), S. 1045– 1050, hier S. 931f. 24 Ebd., S. 1046. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 1048.

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Dieses Interesse war einerseits durch den Wunsch bedingt, möglichst bald das zaristische Bildungserbe abzuschaffen, andererseits durch die Notwendigkeit, ein eigenes Schulsystem aufzubauen, das sich stärker an westlichen Vorbildern orientieren sollte. Während die ersten Impulse für den Ausbau der litauischen Grundschulbildung aus Skandinavien kamen, sollten die deutschsprachigen Länder als Vorbilder bei der Reform der höheren Stufen dienen, daher das Interesse an den deutschen „Oberschulen“ und vor allem „Aufbauschulen“, die in den Augen litauischer Bildungspolitiker als besonders modern und nachahmenswert galten.

Der litauische Blick auf die Schule in Deutschland nach 1933 Die Machtübernahme Hitlers beendete das Interesse der litauischen Politiker und Pädagogen an dem deutschen Bildungssystem keineswegs, zumal das autoritäre Regime des Präsidenten Antanas Smetona mit einer Erziehung der Jugend im nationalen Geiste stark sympathisierte.27 Die Phase der Schulorganisation, die in den 1920er Jahren Priorität genossen hatte, war abgeschlossen, deswegen konnten sich die Verantwortlichen in den späteren Jahren mehr auf die Bildungsinhalte konzentrieren. Im Zusammenhang mit der Bildungspolitik des Smetona-Regimes ist die völkisch orientierte Zeitschrift Tautos mokykla hervorzuheben, die fast in jeder Ausgabe einen oder mehrere Berichte der deutschen Thematik widmete.28 In diesen Artikeln werden z. B. die Vorteile der staatlichen ‚völkischen‘ Bildung diskutiert,29 die Traditionen der Berufsausbildung vorgestellt30 oder das italienische, deutsche und litauische Schulwesen sowie die Erziehung im Nationalgeist in einzelnen Ländern miteinander verglichen.31 Die veröffentlichten Tagungsberichte zeugen von einem regen Interesse an den deutschsprachigen Ländern, so hielt z. B. der bereits erwähnte Kazimieras Masiliūnas auf einem Lehrerkongress in Šiauliai (Schaulen) am 5./6. Januar 1933 einen Vortrag über die Lehrerausbildung in Deutschland, 27 Vgl. Mačiulis, Dangiras: Tautinė mokykla: Žvilgsnis į tautininkų švietimo politiką [Die nationale Schule: Die Bildungspolitik der litauischen völkischen Partei /Tautininkai]. Vilnius 2017, S. 59f. 28 Insgesamt sind in der Zeitschrift 27 längere oder kürzere Berichte und Kommentare erschienen. 29 Vgl. Augustauskas, Vytautas: Kelios Litto, Keršensteinerio ir Sprangerio mintys apie valstybinį auklėjimą [Einige Überlegungen Litts, Kerschensteiners und Sprangers über die staatliche Bildung]. In: Tautos mokykla 4 (1933), S. 56f. 30 Vgl. Žukas, Juozas: Amato mokslas Vokietijoje [Die handwerkliche Ausbildung in Deutschland]. In: Tautos mokykla 8 (1933), S. 144f.: „Die Handwerkschulen sind in Deutschland sehr gut eingerichtet. Sie haben große Labore, Bibliotheken, Museen und Fachräume für Physik, Chemie, Naturwissenschaften, etc. Es gibt viele Qualifizierungsseminare für Arbeiter und Meister. Es gibt keinen einzigen Beruf, bei dem es an Lehrveranstaltungen oder Abendschulen mangeln würde“. 31 Vgl. Augustauskas, Vytautas: Aktingasis idealizmas italų, vokiečių ir mūsų pedagogikoj [Der aktive Idealismus in der italienischen, deutschen und in unserer Pädagogik]. In: Tautos mokykla 13/14 (1933), S. 235–238.

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Österreich und der Schweiz, wobei er insbesondere die Rolle der pädagogischen Akademien und Institute hervorhob.32 Die chronologische Analyse der Artikel zeigt, dass die völkisch orientierte Zeitschrift die Neuausrichtung des deutschen Schulsystems nach 1933 zunächst ziemlich positiv sah: Die nationalsozialistische „Volksrevolution“ habe ein einheitliches Bildungsideal ermöglicht; der neue, aktive Idealismus erlaube es, den Einzelnen im Hinblick auf die Bedürfnisse des Nationalstaates zu erziehen: „Das neue deutsche Erziehungssystem betont das Völkische, Staatliche, christlich Sittliche und bildet die jungen Leute fürs Leben, für das praktische deutsche Leben“, heißt es in einem Text von Vytautas Augustauskas, der sich auch für Litauen eine „einheitliche“ Bildung im Dienste des „Volkes und Staates“ wünscht.33 Wichtig sei dabei, dass diese Erziehung der Jugend bereits in der Volksschule beginne: In einem Kommentar, der 1933 in Tautos mokykla mit dem Titel Vokiečių pradžios mokslo politika [Die deutsche Grundschulpolitik] veröffentlicht wurde, wird eben auf die Unterrichtsinhalte der Volksschule eingegangen: Der Verfasser des Kommentars erläutert zwei Typen der völkischen Erziehung in deutschen Schulen, nämlich die Erziehung als Vervollkommnung des Individuums und die gezielte Erziehung des Menschen im Sinne des Nationalgeistes.34 Ein Jahr später wird die nationalsozialistische Bildungspolitik in einem Artikel von Kazys Dausa besprochen, so etwa die Rolle der Volkskunde, des Turnunterrichts und der Schulausflüge, die Reform der Lehrerausbildung und die Einführung neuer Universitätsfächer (Eugenik, Rassenlehre, Kriegstaktik).35 Es fällt auf, dass in dem Artikel die nationalsozialistische Bildungspolitik ambivalent gesehen wird: Zunächst wird erwähnt, dass die deutschen Schüler im nationalen Geiste erzogen und dazu angeregt würden, sich für die deutschen Gemeinden in den Gebieten außerhalb Deutschlands zu interessieren und einen Kontakt mit ihnen zu pflegen, um zu erfahren, „wie schwer es den Deutschen in anderen Ländern geht“;36 abschließend wird die Befürchtung formuliert, dass man noch nicht absehen könne, wie sich diese bildungspolitischen Maßnahmen auf die Nachbarn Deutschlands, also auch Litauen, auswirken würden. Die in den Ausgaben der Tautos mokykla vorgestellte deutsche ‚Erfolgsgeschichte‘ sollte unter anderem dabei helfen, die vom Smetona-Regime unternommenen Reformen zu rechtfertigen, wie z. B. das Verbot religiöser Jugendorganisationen oder die

32 Vgl. Tautos mokykla 2 (1933), S. 30. Ein spezieller Bericht von Kazimieras Masiliūnas über die Tätigkeit des pädagogischen Instituts in Mainz erschien in Tautos mokykla 5 (1933), S. 85–87. 33 Augustauskas, Aktingasis idealizmas (wie Anm. 31), S. 237. 34 L., A.: Vokiečių pradžios mokslo politika [Die deutsche Grundschulpolitik]. In: Tautos mokykla 6 (1933), S. 106. 35 Dausa, Kazys: Nacijonalsocialistų mokykla Vokietijoje [Die nationalsozialistische Schule in Deutschland]. In: Tautos mokykla 1 (1934), S. 13. 36 Ebd.

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Beschränkung des Zugangs zu privaten, insbesondere Minderheitenschulen.37 Der Lehrer Jonas Žekevičius berichtet über seine Teilnahme an einem deutschen Lehrerkongress und die dortige Schließung einzelner Lehrerverbände folgendermaßen: „Die Volksrevolution hat das Leben der Deutschen erschüttert und wirkt weiter. [...] Der neue Geist hat auch die Schule erreicht: die einzelnen Lehrer und die Lehrerverbände. Früher gab es in Deutschland mehrere Dutzend Lehrerverbände, die unterschiedlichen Ideologien folgten und unter dem Einfluss politischer Parteien standen. [...] Die ideologischen Kämpfe haben die Lehrer von ihrer eigentlichen Erziehungsarbeit abgelenkt. Erst der nationalsozialistische Lehrerkongress am 8. Juni [1933] und der neu gegründete Nationalsozialistische Lehrerbund haben die deutschen Lehrer vereinigt. [...] Der Lehrerkongress in Magdeburg hat ein Granitfundament für die deutsche Bildung gelegt, auf diesem Fundament wird die idealistisch gestimmte Jugend für den neuen Staat erzogen werden; dieser Kongress hat jedem Lehrer die Ideale der Rasse, des Heldentums und der deutschen Religion bewusst gemacht.“38

Des Weiteren versichert der Autor, dass dieser Bericht kein Propagandatext sei, er sich vielmehr selbst mit deutschen Lehrern unterhalten habe und ihre Aktivität, ihr Interesse und ihren „Drang nach Osten“ bewundere.39 In der darauffolgenden Ausgabe erschien die gekürzte Übersetzung des Berichts Das Pfingsten der deutschen Erzieher aus der deutschen Lehrerzeitschrift Die neue deutsche Schule, der von den Zielen des neuen nationalsozialistischen Lehrerverbands berichtete.40 In weiteren Ausgaben der Zeitschrift wurde der Vortrag Tautiškas valstybiškas pedagogijos sąjūdis [Die völkisch staatliche Bewegung der Pädagogik] von Vytautas Augustauskas abgedruckt, in dem dieser von der Notwendigkeit der „Jugenderziehung im völkischen Geiste“ spricht und dabei als Vorbilder Italien, Österreich und Deutschland nennt.41 Die meisten Artikel zur nationalsozialistischen Bildungspolitik wurden in den ersten Erscheinungsjahren der Zeitschrift Tautos mokykla veröffentlicht, d. h. 1933

37 Die in Litauen tätigen jüdischen, polnischen, deutschen, russischen oder lettischen Minderheitenschulen waren privat und erhielten, wenn überhaupt, nur eine partielle staatliche Finanzierung. Das Bildungsministerium verstärkte seine Kontrolle über die Zugangsbedingungen, die Unterrichtssprache und den gesamten Lehrprozess. Vgl. Mačiulis, Tautinė mokykla (wie Anm. 27), S. 120f.; Šetkus, Benediktas: Tautinių mažumų mokykla Lietuvoje 1918–1940 metais [Die Minderheitenschule in Litauen zwischen 1918 und 1940]. Vilnius 2000, S. 156f. 38 Žekevičius, Jonas: Nepaprasti reiškiniai Vokietijos mokytojų gyvenime [Ungewöhnliche Erscheinungen im Leben der deutschen Lehrer]. In: Tautos mokykla 20 (1930), S. 362f., hier S. 362. 39 Ebd., S. 363. 40 O. A.: Kaip susijungė Vokietijos mokytojai. Vokiečių auklėtojų Sekminės [Wie sich die deutschen Lehrer vereinigt haben. Das Pfingsten der deutschen Erzieher]. In: Tautos mokykla 21 (1933), S. 380–384. 41 Augutauskas, Vytautas: Tautiškas valstybiškas pedagogijos sąjūdis [Die völkisch-staatliche Bewegung der Pädagogik]. In: Tautos mokykla 22 (1933), S. 391–393 u. 23 (1933), S. 411–413, hier S. 413.

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und 1934. Später nimmt die Zahl der Artikel ab, auch der positive Ton wird immer häufiger durch eine eher kritische Haltung abgelöst, z.  B. in dem Artikel Ką sako Rozenbergas? [Was berichtet uns Rosenberg?].42 Die neuen ­nationalsozialistischen Bildungsideale (Ehre, Vitalität, Körperkult) werden hier zunehmend als für die Nachbarländer gefährlich dargestellt, zugleich werden die litauischen Lehrer dazu aufgerufen, die litauischen nationalen Ideale (Sprache, Volkskunst etc.) zu pflegen, die man bei der Verschärfung der politischen Lage den deutschen gegenüberstellen könne. Der veränderte Ton der Zeitschrift Tautos mokykla lässt sich einerseits durch die politischen Auseinandersetzungen zwischen Litauen und Deutschland, vor allem im Hinblick auf das umstrittene Memelland, andererseits aber auch durch eine immer distanziertere Haltung Smetonas zur nationalsozialistischen Ideologie erklären.43 Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Mitte der 1930er Jahre die bildungspolitischen Diskussionen in Litauen so weit fortgeschritten waren, dass einzelne Fachzeitschriften, je nach ihrer politischen Orientierung, unterschiedliche Positionen gegenüber den deutschen Entwicklungen einnehmen konnten. Einen von Anfang an sehr kritischen Ton sowohl gegenüber den nationalsozialistischen Bildungsreformen in Deutschland als auch gegenüber der Einschränkung der Bildungsfreiheit in Litauen durch das Regime Smetonas wählte die Zeitschrift Mokykla ir visuomenė, die jedoch nur von 1933 bis 1936 erschien und etwa zehn Berichte deutschen Themen widmete. Bereits in der ersten Nummer wird die in der Zeitschrift Tautos mokykla geäußerte Idee angegriffen, ein Lehrerbildungsinstitut nach Leipziger Muster in Litauen einzurichten: Der Autor J. Laisvūnas meint stattdessen, dass die Frage, ob es besser wäre, die Lehrer in einem separaten Institut oder doch an einer Universität auszubilden, einer längeren Diskussion bedürfe.44 In dem Artikel werden die Vor- und Nachteile von separaten und in die universitäre Ausbildung integrierten Instituten besprochen, wobei der Autor vorschlägt, dem Vorbild des Lehrerbildungsinstituts in Hamburg zu folgen, das eng an die Universität angebunden sei und sowohl theoretische als auch 42 Vgl. D., K.: Ką sako Rozenbergas? [Was berichtet uns Rosenberg?] In: Tautos mokykla 7 (1934) S. 130f. 43 Nach Ansicht zahlreicher Historiker wies die autoritäre Diktatur Smetonas mehr Parallelen zum ­italienischen Faschismus als zum deutschen Nationalsozialismus auf. Vgl. z. B. Lopata, Raimundas: Autoritarinis režimas tarpukario Lietuvoje: aplinkybės, legitimumas, koncepcija [Das autoritäre Regime im Litauen der Zwischenkriegszeit: Bedingungen, Legitimierung, Konzepte]. Vilnius 1998; Kasparavičius, Algimantas: The Historical Experience of the Twentieth Century: Authoritarianism and Totalitarianism in Lithuania. In: Borejsza, Jerzy W.; Ziemer, Klaus (Hg.): Totalitarian and Authoritarian Regimes in Europe: Legacies and Lessons from the Twentieth Century. New York 2006, S. 297–313; Kundrotas, Marius: Lietuva tautininkų epochoje: tarp autoritarinės diktatūros ir konsoliduotos demokratijos [Litauen in der Epoche der Tautininkai: Zwischen der autoritären Diktatur und der konsolidierten Demokratie]. In: Istorija 3 (2011), S. 59–68. 44 Vgl. Laisvūnas, J.: Mokyklos reforma ir mokytojų prirengimas [Die Schulreform und die Lehrerausbildung]. In: Mokykla ir visuomenė 1 (1933), S. 26–33, hier S. 29.

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angewandte Forschung im Bereich der Pädagogik betreibe.45 Diese innovative pädagogische Forschung sei jedoch nach der Machtübernahme Hitlers schwierig geworden, was in einem in derselben Ausgabe publizierten ausführlichen Bericht zur aktuellen Lage der Bildung in Deutschland verdeutlicht wird: Viele berühmte Lehrer und Professoren (Spranger, Lippmann, Levin etc.) seien aus ihren Ämtern entlassen, die experimentellen Schulen würden in tradierte kaiserliche umgewandelt, die Freiheiten der Schüler eingeschränkt und die Bildungsinhalte verändert („überall dominieren solche Themen wie Abstammung, Rasse, Eugenik“).46 Die Kritik wird auch in der zweiten Ausgabe fortgeführt, die über einen nationalsozialistischen Lehrerkongress in München berichtet („eine Agitationsveranstaltung, die wenig mit einer seriösen wissenschaftlichen Behandlung der Bildungsfragen zu tun hat“) und die Hoffnung äußert, dass die Autoren der völkisch orientierten Zeitschrift Tautos mokykla etwas anderes meinten, wenn sie von einer „Kulturrevolution“ hier im Lande sprächen.47 Fast in jeder Nummer der Zeitschrift Mokykla ir visuomenė gibt es kurze Meldungen oder längere Berichte über die Einschränkung der freien Entfaltung der pädagogischen Ideen in Deutschland, sodass die Deutschen, die davor noch als Vorbild dienten, nun immer häufiger als „Barbaren“ bezeichnet werden. So erinnert der Berichterstatter J. Svajužis im Hinblick auf die gefährliche Entwicklung in Deutschland (militaristische Bildung, ‚Drang nach Osten‘ etc.) an die Schrecken des Ersten Weltkrieges und warnt vor einer weiteren Übernahme von Bildungsimpulsen aus Deutschland: „Die Kultur des deutschen Geistes haben wir sehr gut während des Krieges kennengelernt. Von den Barbaren Bildungsmethoden zu lernen, das wäre nur eine blinde und schädliche Unternehmung.“48 Um dies zu vermeiden, mehren sich in den folgenden Nummern der Zeitschrift Berichte über die Bildungspolitik Englands und, wie bereits in anderen Fachzeitschriften zu Beginn der Republik, über die skandinavischen Länder. Der Überblick über die litauische pädagogische Fachpresse mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung zeigt, dass diese der immer stärker nationalsozialistisch geprägten Schulpolitik und Schulpraxis in Deutschland im Großen und Ganzen kritisch gegenüberstand. So attraktiv das Modell der Volks- und der Aufbauschule sowie der Erziehung im Geiste der Nation den litauischen Bildungspolitikern und Pädagogen erschien, so ambivalent wurde die nationalsozialistisch geprägte Pädagogik aufgenommen. Dies beweisen vor allem die unterschiedlichen Haltungen der Autoren der Tautos mokykla und Mokykla ir visuomenė, die weit auseinandergehende 45 Vgl. ebd., S. 33. 46 Gučas, Alfonsas: Bruožai iš švietimo permainų Vokietijoje [Die Züge des Bildungswandels in Deutschland]. In: Mokykla ir visuomenė 1 (1933), S. 39–42, hier S. 40. 47 O. A.: Suvažiavimas nacionalsocialistiniam auklėjimui kelti [Der Kongress zur Förderung der nationalsozialistischen Erziehung]. In: Mokykla ir visuomenė 2 (1933), S. 91. 48 Svajužis, J. [eigentlich Laužikas, Jonas]: Politiniai įvykiai ir mokykla [Politische Ereignisse und die Schule]. In: Mokykla ir visuomenė 4 (1934), S. 153–156, hier S. 153.

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politische Richtungen vertraten, abweichende Vorstellungen von der zu reformierenden litauischen Schule hatten und deswegen die zeitgenössischen Entwicklungen in Deutschland unterschiedlich bewerteten.

Die Rezeption pädagogischer Konzepte aus Deutschland und deutschsprachigen Ländern Neben der deutschen Schulorganisation und den deutschen Bildungsreformen, die in der litauischen Fachpresse regelmäßig diskutiert wurden, interessierten sich die litauischen Pädagogen auch für pädagogische Strömungen aus den ­deutschsprachigen Ländern. Was die Bildungskonzepte der Zwischenkriegszeit betrifft, so waren diese in Litauen sehr heterogen; man versuchte, möglichst viele Impulse zu bekommen (rege rezipiert wurden auch die theoretischen und methodischen Ansätze, die in Deutschland schon Anfang des 20. Jahrhunderts populär waren, in der Zeit der Weimarer Republik aber an Bedeutung verloren, so z.  B. die ‚experimentelle Pädagogik‘). Im Weiteren kann nur auf die Hauptrichtungen der Pädagogik näher eingegangen werden, die, wie die zeitgenössische pädagogische Fachpresse zeigt, deutliche Bezüge zu deutschsprachigen Ländern und Pädagogen aufweisen bzw. von diesen Ländern konkret belegbare Impulse bekommen haben, nämlich: 1.) die Moralpädagogik, 2.) die experimentelle Pädagogik, 3.) die Reformpädagogik und 4.) die Kulturpädagogik.49 1.) Moralpädagogik Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch noch in der Zwischenkriegszeit, spielten in Litauen Pädagogen eine führende Rolle, die Erziehung keineswegs getrennt von Religion und Ethik betrachteten. Dabei gingen sie von einem Zusammenwirken von göttlichen bzw. natürlichen Anlagen des Kindes und dem Einfluss des Umfeldes und der Erzieher aus.50 Eine berühmte, katholisch orientierte Pädagogin war die Schriftstellerin Marija Pečkauskaitė (Pseudonym Šatrijos Ragana). Von 1905 bis 1907 studierte sie Literatur, Ästhetik, Soziologie und Philosophie an den ­Universitäten Zürich und Fribourg. Sowohl in ihren literarischen Werken, meistens Kinderliteratur, als auch in ihren didaktischen Schriften bezog sie sich immer wieder auf die christliche Ethik und die Moraltheologie (vgl. z. B. ihr Buch Motina auklėtoja [Die Mutter als Erzieherin] von 1923). Pečkauskaitė interessierte sich insbesondere für die pädagogischen Ansätze ihres Züricher Professors, des deutschen Philosophen und 49 Die Klassifizierung der pädagogischen Strömungen in Litauen ist problematisch und verlangt tiefere Untersuchungen; in diesem Fall wird Bezug genommen auf die vorgeschlagene Klassifizierung bei Bukauskienė, Lietuvos mokykla (wie Anm. 9), S. 18. 50 Vgl. ebd.

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Pädagogen Friedrich Wilhelm Foerster (1869–1966). In seinem Werk setzte sich Foerster mit ethischen, politischen, sozialen, religiösen und sexuellen Themen auseinander und strebte eine konsequente Reform der Erziehung auf christlicher und ethischer Grundlage an.51 Die an der Wissensvermittlung orientierte Aufklärung hatte in seinem moralpädagogischen Konzept einen eher untergeordneten Stellenwert: Die Charakter- und Willensbildung und die Schulung der sittlichen Lebensführung sah er als oberstes Ziel der Erziehung an.52 Eben von diesen Überzeugungen Foersters wurde seine Studentin Pečkauskaitė stark inspiriert und fühlte sich verpflichtet, Foersters pädagogische Ansätze einem möglichst großen Kreis ihrer Landsleute zugänglich zu machen. Nach ihrer Rückkehr nach Litauen übersetzte sie mehrere pädagogische Schriften Foersters ins Litauische und verfasste dazu Begleittexte.53 In dem „Vorwort der Übersetzerin“, das der Jugendlehre Foersters vorangestellt ist, erläutert Pečkauskaitė kurz seine wichtigsten pädagogischen Konzepte, wobei sie ihn als „Lehrer von Gottes Gnaden“ bezeichnet,54 und erklärt die Notwendigkeit, Foerster ins Litauische zu übersetzen: Er könne dem modernen Menschen wie kein anderer die alten Weisheiten deutlich machen, einen Zugang zu der Seele des Kindes durch einfache Worte finden, aber vor allem – und dies sei von den litauischen Erziehern besonders zu beachten – lege er genügend Argumente vor, warum die moralische Erziehung der reinen Wissensvermittlung vorangehen solle.55 Die 1922 gegründete Universität Litauens in Kaunas lud die Übersetzerin ein, ein Seminar zu den pädagogischen Ansätzen Foersters zu halten, was Pečkauskaitė aber, wie sie selbst sagte, aus Bescheidenheit ablehnte.56 Dass ihr Vorhaben, Foersters pä51 Vgl. Max, Pascal: Pädagogische und politische Kritik im Lebenswerk Friedrich Wilhelm Foersters. Stuttgart 1999, S. 9; ders.: Neuere Untersuchungen zur Sexualethik und Sexualpädagogik Friedrich Wilhelm Foersters. Stuttgart 2001, S. 12, 24. 52 Vgl. Pöggeler, Franz: Die Pädagogik Friedrich Wilhelm Foersters. Freiburg im Breisgau 1957, S. 101f., 114f., 117f. Foerster selbst äußert sich in seinen unter dem Titel Erlebte Weltgeschichte. 1869–1953 erschienenen Memoiren folgenderweise: „Genauso ruhte die ganze Entwicklung meiner pädagogischen Ideen auf einer wachsenden Anwendung von abstrakten Theorien und auf einer bewußten Hinwendung zu den tieferen Bedingungen der Entwicklung des menschlichen Charakters“ (Nürnberg 1953, S. 140). 53 Vgl. Jugendlehre. Ein Buch für Eltern, Lehrer und Geistliche (1904, lit. 1912 [Bd. 1] und 1922 [Bde. 1–2]), Sexualethik und Sexualpädagogik. Eine Auseinandersetzung mit den Modernen (1907, lit. 1923), Erziehung und Selbsterziehung. Hauptgesichtspunkte für Eltern und Lehrer, Seelsorger und Jugendpfleger (1918, lit. 1928). 54 Pečkauskaitė, Marija: Vertėjos žodis [Vorwort der Übersetzerin]. In: Foerster, Friedrich Wilhelm: Jaunuomenės auklėjimas [Jugendlehre]. Kaunas 1922, S. 6. 55 Vgl. ebd. 56 In einem Brief an Professor Pranas Dovydaitis vom 21. Juli 1929 schrieb sie: „Das ist eine sehr schöne Idee, den Studierenden Vorlesungen zu Foerster anzubieten. Aber ich werde es mir nie zutrauen, an der Universität Vorlesungen zu halten. Was kann ich tun? Ich bin eine Wilde und kann nichts dagegen tun. Ich hätte mich in den jungen Jahren verändern sollen, jetzt ist es zu spät.

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dagogische Ideen den litauischen Erziehern näher zu bringen, dennoch erfolgreich war, beweisen zahlreiche Pressetexte, die sich mit seiner Pädagogik beschäftigten. Die katholisch orientierte Fachzeitschrift Lietuvos mokykla widmete Foerster im Jubiläumsjahr 1929 sogar ein Doppelsonderheft. 2.) Experimentelle Pädagogik Pečkauskaitė gilt auch als frühe Vertreterin der ‚experimentellen Pädagogik‘ in Litauen, wobei angenommen werden kann, dass sie sich dabei auf die ihr gut bekannte empirisch-pädagogische Kinder- und Jugendforschung im Deutschland des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bezog.57 Die sogenannte ­experimentelle Pädagogik erlebte am Anfang des 20. Jahrhunderts im Kontext von Fortschrittsglauben und Technisierung zeitgleich mit anderen pädagogischen Reformbewegungen einen großen Aufschwung.58 Das zentrale Anliegen der deutschen experimentellen Pädagogen (Ernst Meumann, Wilhelm August Lay u. a.) war es, die Entwicklungspsychologie des Kindes möglichst gut zu verstehen und mit Hilfe empirischer Methoden die besten Rahmenbedingungen für Unterricht und Erziehung zu schaffen.59 Caroline Hopf betont die herausragende Rolle von Wilhelm Wundt, dem Begründer der experimentellen Psychologie, dessen Experimente an der Universität Leipzig auch die litauischen Studenten Vydūnas und Jonas Steponavičius beobachteten. Vydūnas besuchte Wundts Vorlesungen in den Sommern 1900 bis 1902 als Gaststudent; Steponavičius führte in den Jahren 1910 bis 1912 im psychologischen Institut Wundts Experimente durch und wurde nebst vielen anderen Promovierenden (ca. 180 Personen aus 10 verschiedenen Nationen)60 zur Methodik der Psychophysik promoviert. Als Pädagogen wirkten Vydūnas und Steponavičius später in den politisch umstrittenen Gebieten Memelland und Wilna, mussten aber gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in den Westen fliehen. In der Zwischenkriegszeit setzten sich für die Verbreitung der experimentellen Methode auch die Lehrkräfte des neu gegründeten Lehrstuhls für Pädagogik und Psychologie an der Universität Litauens (später Vytautas Magnus Universität) in Kaunas ein. Der Leiter des Lehrstuhls Jonas Gudaitis-Vabalas (1881–1955) hatte sein

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Vielleicht wird Herr [Klemensas] Ruginis eine Vorlesung halten können. Mir verzeihen Sie bitte.“ Briefe von Marija Pečkauskaitė an Pranas Dovydaitis. In: Athenaeum (1935), S. 16. Die Briefe von Pečkauskaitė belegen, dass sie an dem Mädchengymnasium in Marijampolė (Mariampol), an dem sie 1909 bis 1915 unterrichtete, sehr intensiv damit beschäftigt war, die individuellen Persönlichkeiten ihrer Schülerinnen zu begreifen, um ihren Unterricht entsprechend gestalten zu können. So konnte sie z. B. aufgrund der Ergebnisse ihrer Experimente vier unterschiedliche Typen festlegen, nämlich einen beschreibenden, einen merkfähigen, einen sensiblen und einen forschenden. Vgl. Bukauskienė, Lietuvos mokykla (wie Anm. 9), S. 25. Vgl. Hopf, Caroline: Die experimentelle Pädagogik. Empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts. Bad Heilbrunn 2004, S. 11. Ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 49.

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Psychologiestudium in St. Petersburg absolviert, später aber mehrmals Deutschland besucht und, wie er selbst schreibt, sehr gute Möglichkeiten gehabt, „sich in den subjektivistischen Personalismus Diltheys, Schallers, Rickerts und Sterns zu vertiefen“.61 In Deutschland wurde er auch mit den Aufnahmekriterien für Schüler verschiedener Schultypen sowie mit den dort verwendeten Prüfungssystemen vertraut gemacht. In der Zeitschrift Tautos mokykla erschien 1933 ein Überblicksartikel zur experimentellen Pädagogik, in dem er diskutierte, wie man die in deutschsprachigen Ländern entwickelten Methoden in Litauen produktiv anwenden könnte.62 Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang auch die Verdienste von Vladimiras Lazersonas, einem weiteren Vertreter der litauischen experimentellen Pädagogik. Er studierte von 1907 bis 1911 Medizin an der Universität Dorpat (Tartu),63 später Philosophie und Soziologie an den Universitäten Jena und Zürich. Nach dem Studium arbeitete er unter der Leitung von Prof. Friedrich Schumann (1863–1940) im experimentalpsychologischen Labor in Frankfurt am Main. Dort verfasste er seine Doktorarbeit (Der unmittelbare Bewegungseindruck) und wurde 1911 promoviert. Von 1922 bis 1940 unterrichtete Lazersonas an der Universität Litauens Pädagogik, Kinderpsychologie und Schulhygiene, gründete ein Forschungsinstitut für ­experimentelle Pädagogik und leitete eine private Nervenklinik. 1941 wurde er in das Ghetto von Kaunas verbannt und nach der Liquidierung des Ghettos ins KZ Dachau deportiert, wo er 1945 ermordet wurde. Seine Tochter Tamara Lazersonaitė schrieb in ihrem Tagebuch, dass ihr Vater im Ghetto sehr viel arbeitete und die wenigen Bücher studierte, die ihm dort zur Verfügung standen; er arbeitete und schrieb, so dass die Tochter das Gefühl hatte, er bereite sich auf Seminare vor, nicht auf einen Arbeitstag in der Ghetto-Klinik.64 Die Forschung ist sich einig, dass Lazersonas und seine Kollegen wichtige Grundlagen für die Entwicklung der experimentellen Pädagogik und Psychologie in Litauen gelegt haben.65 Der Nachlass von Lazersonas ist sehr umfangreich: In seinen 61 Gudaitis-Vabalas, Jonas: Mano mokslo darbų bei įspūdžių Vokietijoje apžvalga ir referatas, skaitytas VIII Psichologų kongrese Leipcige 1923 m. [Ein Überblick über meine wissenschaftlichen Arbeiten und meine Eindrücke aus Deutschland sowie mein Vortrag, gehalten auf dem 8. Psychologen-Kongress in Leipzig 1923]. Kaunas 1924, S. 8. 62 Vgl. ders.: Pedagoginiai eksperimentai ir mokykla [Pädagogische Experimente und die Schule]. In: Tautos mokykla 6 (1933), S. 97f. 63 An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Studienstandort Dorpat nach der Schließung der Universität in Wilna im Jahr 1832 unter litauischen Studierenden, insbesondere denen aus den evangelischen Gemeinden Nordlitauens, sehr beliebt war. Zur Bedeutung der Universität Dorpat für Litauen vgl. Tyla, Antanas: Lietuviai ir Lietuvos jaunimas Tartu universitete 1802–1918 metais [Litauer und die litauische Jugend an der Universität Dorpat zwischen 1802 und 1918]. Vilnius 2013. 64 Vgl. Lazersonas, Rinktiniai raštai (wie Anm. 7), S. 434f. 65 Vgl. z.  B. Bagdonas, Albinas: Psichologijos institucionalizacija Lietuvoje: žvilgsnis iš valstybės 100-mečio perspektyvos [Die Institutionalisierung der Psychologie in Litauen: Bewertung aus der Perspektive des 100-jährigen Jubiläums der Wiederherstellung des Staates]. In: Psichologija 58 (2018), S. 7–37, hier S. 12.

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Publikationen behandelt er vor allem die Probleme der Volksschulbildung, so etwa die Erziehung von Kindern mit Entwicklungsstörungen, kindliche Ermüdungserscheinungen und Eidetik. Nicht nur Lazersonas, sondern auch andere litauische Pädagogen und Psychologen orientierten sich bei der Behandlung dieser Themen besonders stark an der deutschen Forschung.66 Davon zeugen die umfangreichen deutschsprachigen Buchbestände in ihren Nachlässen, ihre deutschsprachigen Publikationen und Vorträge auf Tagungen in Deutschland und in der Schweiz sowie vereinzelt überlieferte Vorlesungsmanuskripte.67 3.) Reformpädagogik In der litauischen Fachpresse der Zwischenkriegszeit wird die experimentelle Pädagogik aufgrund ihres Anliegens, möglichst genau die Natur des Kindes zu erforschen, um Erziehung und Unterricht daran anpassen zu können, im Zusammenhang mit anderen Reformbewegungen in Deutschland betrachtet.68 Das Interesse an diesen Bewegungen, darunter auch an der Reformpädagogik, war groß, obwohl die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unterschiedlich waren. In Deutschland war die reformpädagogische Bewegung eingebettet in den Kontext einer weitreichenden Umgestaltung der Gesellschaft, die unter anderem von der sozialen Bewegung, der Frauenbewegung und der Jugendbewegung ausging und mit der Gründung der Weimarer Republik sich auch in einer neuen politischen Form manifestierte. Bei all der Vielfalt der reformpädagogischen Entwicklungen waren sich die litauischen Pädagogen mit ihren ausländischen Kollegen einig in ihrer ausdrücklichen Kritik an der bislang praktizierten autoritären Erziehung in der Schule. Neben den bereits an einer früheren Stelle genannten Volksschulen interessierte man sich in Litauen auch für die deutsche Konzeption von Arbeitsschulen, die während der Zeit der Weimarer Republik in zahlreichen Schulversuchen erprobt und in verschiedene Gesamtkonzeptionen integriert wurden. An dieser Stelle muss der Beitrag von Jonas Laužikas (1903–1980) zu den Diskussionen über die Vor- und Nachteile der Arbeitsschulbewegung erwähnt werden. Laužikas studierte zunächst Pädagogik, Philosophie und Geschichte an der Universität Litauens in Kaunas und war danach eine Zeit lang an verschiedenen Schulen tätig. Wegen seiner linken politischen Orientierung konnte er jedoch nach dem Abschluss der Universität im Jahr 1929 keine Stelle als Staatsbeamter bekommen, wes66 Vgl. ebd., S.11f. 67 Als Beispiel kann hier genannt werden: Vabalas-Gudaitis, Jonas: Ein einheitliches stummes Testsystem. Kaunas 1929 sowie dessen Vorlesungsmanuskripte aus dem Jahr 1930 (Pedagogikos istorija [Geschichte der Pädagogik]) im Lituanistik-Archiv der Litauischen Martynas Mažvydas Nationalbibliothek in Vilnius. 68 Zur engen Verbindung inhaltlicher, struktureller, institutioneller und personeller Art zwischen experimenteller Pädagogik und Reformpädagogik siehe auch Hopf, Die experimentelle Pädagogik (wie Anm. 58), S. 237–239.

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halb er sich für ein weiteres Studium in den deutschsprachigen Ländern entschied. Seine im Ausland gewonnenen Erkenntnisse verarbeitete er in zahlreichen Publikationen und berichtete darüber, dass sich in Deutschland verschiedene Konzepte für Arbeitsschulen finden ließen, was auch davon zeugt, dass den führenden litauischen Pädagogen die Diskussionen in anderen europäischen Ländern gut vertraut waren.69 Laužikas erwähnt z. B. in seinen Texten und Vorträgen die gelegentliche Rivalität der zwei führenden deutschen Reformpädagogen Georg Kerschensteiner (1854–1932) und Hugo Gaudig (1860–1923).70 Damit wollte er dem litauischen Publikum die wohl bekannteste Konzeption der Arbeitsschule Kerschensteiners, die vor allem Handarbeit und technische Fertigkeiten betonte, und die von Gaudig propagierte ‚freie geistige Schularbeit‘ vorstellen, zugleich auch ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich machen sowie die Aufnahme dieser Konzepte in das litauische Schulsystem diskutieren.71 An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass Kerschensteiner ein überzeugter Befürworter der staatlichen Bildung war,72 weswegen sein Name immer wieder in den Diskussionen über die Vor- und Nachteile staatlicher bzw. privater Schulen auftauchte, eine Frage, die in Litauen bis zum Verlust der Unabhängigkeit ein heikles Thema blieb. Laužikas interessierte sich insbesondere für die Erziehung geistig behinderter Kinder, denen in Litauen die Schulbildung sogar gesetzlich untersagt war (vgl. Grundschulgesetz 1922 oder die Verordnung der Kaunaser Stadtverwaltung vom 12.  Juli 1928). 1930 reiste Laužikas nach Deutschland, Österreich und in die ­Schweiz, wo er ein Jahr an den Universitäten Hamburg, Wien und Zürich hospitierte. An der Universität Hamburg wurde ihm 1931 das Diplom eines Heilpädagogen verliehen. Da solche Experten in Litauen weitgehend fehlten, wurde er bald darauf nach Litauen zurückberufen und erhielt den Auftrag, in Kaunas eine 69 Davon zeugen auch die Diskussionen über die Begriffsbestimmung, so wird z. B. in der Zeitschrift Švietimo darbas (1923) über den Begriff selbst (‚Arbeitsschule‘ vs. ‚Tatschule‘), das dahinterstehende Konzept sowie eine angemessene Übersetzung aus dem Deutschen ins Litauische diskutiert. Vgl. M., J.: „Darbo mokyklos“ sąvoka [Der Begriff der „Arbeitsschule“]. In: Švietimo darbas 8/9 (1923), S. 545–553). Dass solche Beiträge wichtig waren, beweisen die zeitgenössischen Diskussionen in der Fachpresse, die darauf hinweisen, dass es in Litauen viele Lehrer gab, die nur ­etwas von der westeuropäischen Arbeitsschulbewegung gehört haben müssen, aber nicht besonders gut mit neuen Konzepten vertraut waren, weswegen sie sich in der Schulpraxis auf verschiedene Handarbeiten beschränkten, ohne weitere Aktivitäten der Schüler, so etwa Schulausflüge oder Diskussionen, genügend zu fördern. Vgl. Laška, V.: Darbo principo įgyvendinimas mokykloj [Die Realisierung des Arbeitsprinzips in der Schule]. In: Švietimo darbas 6 (1924), S. 556–561. 70 Zum Begriff der ‚Arbeitsschule‘ bei Kerschensteiner und seine Rivalität mit Gaudig siehe auch: Adrian, Renate: Die Schultheorie Georg Kerschensteiners. Eine hermeneutische Rekonstruktion ihrer Genese. Frankfurt/M. 1998, S. 72–85; Benner, Dietrich; Kemper, Herwart: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 2: Die pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik. Weinheim-Basel 2003, S. 290–301. 71 Vgl. Laužikas, Jonas: Švietimo reforma [Die Schulreform]. Kaunas 1934, S. 110–112. 72 Vgl. Adrian, Die Schultheorie (wie Anm. 70), S. 59–71.

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Sonderschule für Kinder mit geistigen Beeinträchtigungen zu gründen. Die 1931 gegründete Schule war die erste dieser Art in Litauen. Mit kleinen Unterbrechungen setzte sie ihre Tätigkeit bis heute fort.1934 erschien eine Studie von Laužikas, die speziell der Reformpädagogik gewidmet war: Der Autor kritisiert darin das alte traditionelle Schulsystem und erläutert die neuesten Tendenzen der schulischen Bildung in Österreich, der Schweiz, Großbritannien, Deutschland und Lettland, um zum Schluss einige Vorschläge zur bevorstehenden litauischen Schulreform zu liefern.73 In einem Aufsatz aus dem Jahr 1937 setzt sich Laužikas mit der integrativen Pädagogik auseinander und stellt ausführlich den von Peter Petersen entwickelten Jena-Plan vor.74 Der Jena-Plan als eine Art „Lebensgemeinschaftsschule“ könnte sich laut Laužikas insbesondere in den litauischen Dorfschulen als produktiv erweisen, da in ihnen Schüler und Schülerinnen verschiedenen Alters in einer einzigen Klasse integriert und zusammen ausgebildet würden. Aber auch die Stadtschulen könnten Petersens Konzept folgend der Förderung der Kreativität und Ausbildung des freien Geistes mehr Aufmerksamkeit schenken als dem nutzlosen Pauken des Lernmaterials.75 Laužikas gibt jedoch zu, dass die Übernahme der neuen Bildungskonzepte in Litauen durch die scholastische Sicht auf die Bildungsmission sowie den Mangel an weltoffenen Lehrkräften erschwert werden könnte: „Erstens folgen wir zu stark überlieferten Konzepten und fordern von der Schule möglichst viel Wissensvermittlung. Zweitens sind unsere Lehrer auf die formalistische Pädagogik fixiert und vertiefen sich nur in die Fragen der Didaktik, so dass sie kaum Ahnung von der freien Entfaltung der Kreativität haben. Unser Bildungswesen ist zu statisch für das kreative Schaffen der Lehrer und Schüler: woher die kreativen Ideen, woher die notwendigen Materialien, woher die Energie?“76

1938 bis 1940 studierte Laužikas erneut an der Universität Zürich und wurde dort erfolgreich promoviert. Seine Dissertation Die Bedeutung der Bewegung im Bildungsgeschehen erschien 1940 in deutscher Sprache in Wilna. Bereits während seines Studiums in der Schweiz und insbesondere nach seiner Rückkehr kümmerte sich Laužikas in Litauen um die Ausbildung von Lehrern im Bereich der Sonderpädagogik sowie um die Gründung weiterer Sonderschulen nach schweizerischem Vorbild. 4.) Kulturpädagogik Die litauischen Vertreter der Kulturpädagogik ließen sich unter anderem von den deutschen Philosophen Eduard Spranger, Wilhelm Wildenband und Heinrich ­Rickert inspirieren, zugleich wurden die Ideen des russischen Idealismus aktiv rezipiert und 73 Vgl. Laužikas, Švietimo reforma (wie Anm. 71), S. 147–158. 74 Vgl. ders.: Naujoji mokykla Vokietijoje [Die neue Schule in Deutschland]. In: Tautos mokykla 21 (1937), S. 465–467. 75 Ebd., S. 467. 76 Ebd.

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diskutiert. Im Zuge der steigenden Kritik am Positivismus gewannen die philosophischen Konzepte Wilhelm Diltheys auch in Litauen an Popularität, so etwa dessen Überzeugung, dass das kulturelle Erbe im entscheidenden Maße die Entwicklung der Persönlichkeit bestimme bzw. dass die individuelle Entfaltung nicht losgelöst vom nationalen Ganzen zu betrachten sei.77 Neben dem bereits erwähnten Vydūnas, der vor allem im Memelland und später in Tilsit sowie Berlin wirkte, soll hier Stasys Šalkauskis (1886–1941), einer der berühmtesten, katholisch geprägten litauischen Philosophen, vorgestellt werden. Auch er vertrat die Meinung, dass der Mensch durch kulturelles Schaffen eine höhere geistige Stufe erreichen und somit zum Wohl der eigenen Nation beitragen könne.78 Šalkauskis absolvierte sein Studium zunächst in Moskau, bevor er zwischen 1915 und 1920 in der Schweiz an der Universität Fribourg studierte und promovierte. Später unterrichtete er an der Universität Litauens in Kaunas und war ihr letzter Rektor. Šalkauskis’ Publikationen zeugen von einer großen Vertrautheit mit den pädagogischen Konzepten seiner schweizerischen, deutschen, französischen und russischen Kollegen. In seinen Texten bezog er sich immer wieder auf deutschsprachige Philosophen und Pädagogen wie etwa Franz Xaver Eggersdorfer, Otto Willmann, Georg Kerschensteiner, Joseph Göttler, Hans Schmidkunz und Wendelin Toischer.79 Seine Theorie der geistigen Bildung, die einen deutlich integrativen bzw. universalen Charakter besitzt, und die der nationalen Erziehung sind stark von den Ideen seiner schweizerischen Lehrer Marc de Munnynck und Foerster geprägt. So beginnt er z. B. seinen Aufsatz über die Erziehung des Volkes mit einer ausführlichen Erläuterung der These Foersters, dass nationale Erziehung nur im Zusammenhang mit der internationalen Erziehung gedeihen könne.80 An dieser Stelle sei anzumerken, dass solche Pädagogen wie Foerster für unterschiedliche erzieherische Denkrichtungen in Litauen wegweisend waren (vgl. den Abschnitt oben zum Einfluss Foersters auf die Entwicklung der Moralpädagogik), so dass sich Verbindungen bzw. Überschneidungen der Kategorien nicht ganz vermeiden lassen. Šalkauskis betrachtet die sozialen Verhältnisse seiner Zeit kritisch und strebt, seinen Kollegen wie etwa Foerster nicht unähnlich, nach einer Reform des menschlichen Geistes, idealisiert geistige und kulturelle Tätigkeit, die er als notwendige 77 Vgl. Bollnow, Otto Friedrich: Vorbericht des Herausgebers. In: Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften. Bd. 9: Pädagogik – Geschichte und Grundlinien des Systems. 4., unveränd. Aufl. Stuttgart-Göttingen 1986, S. 1–6, hier S. 4f. 78 Vgl. Bukauskienė, Lietuvos mokykla (wie Anm. 9), S. 38. 79 Vgl. Šalkauskis, Stasys: Pedagoginiai raštai [Pädagogische Schriften]. Kaunas 1991, S. 644–650. 80 Vgl. ders.: Tautinis auklėjimas [Die Volkserziehung]. In: Židinys 3 (1932), S. 221–239; zu den Fribourger Einflüssen vgl. auch: Karčiauskienė, Magdalena; Paulauskas, Rolandas: Stasio Šalkauskio gyvenimas ir pedagoginė veikla [Das Leben und die pädagogische Tätigkeit von Stasys Šalkauskis]. In: Šalkauskis, Stasys: Pedagoginiai raštai [Pädagogische Schriften]. Kaunas 1991, S. 7–19, hier S. 10.

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­ rundlage jeder gebildeten Nation ansieht. Wie Foerster fordert Šalkauskis die G Zusammenarbeit der Familie, insbesondere der Mutter, und der Bildungsinstitutionen, wobei er an die Lehrer als Kulturvermittler große Forderungen stellt. So müsse der Lehrer imstande sein, die Schüler sowohl intellektuell als auch geistig, ästhetisch und sittlich zu bilden.81 Unter Verweis auf seine in anderen Ländern gesammelten Erfahrungen fordert Šalkauskis, dass das litauische Volk durch integrative, universelle Bildung eine möglichst hohe kulturelle Entwicklungsstufe erreichen solle, um in der komplizierten internationalen Situation überleben zu können.82 Was konkrete „Lehrformen“ bzw. „Unterrichtsformen“ betrifft, folgt Šalkauskis fast ausschließlich den ihm gut vertrauten deutschen Vorbildern (Eggersdorfer und Willmann) und benutzt in seinen Vorlesungen die aus der deutschen Sprache übernommenen Begrifflichkeiten („Unterrichtsform“, „Lehrform“, „deiktische oder zeigende Lehrform“, „Beschreibung, Schilderung, Erzählung“, „Worterklärung und Sacherklärung“).83 Neben den genannten katholisch orientierten Pädagogen weiß er auch das Konzept der Arbeitsschule von Kerschensteiner zu schätzen: Eine Schule solle eine Arbeitsgemeinschaft sein, in der soziale Kompetenzen wie etwa Fleiß, Ordnungsliebe, Disziplin und Gemeinschaftsgefühl entwickelt würden.84 Šalkauskis lobt an dem Grundgedanken der Arbeitsschulbewegung die Prinzipien der Selbsttätigkeit, die gezielte Entwicklung manueller Fertigkeiten und die Berufsbezogenheit schulischer Bildung, kritisiert jedoch das mangelnde Interesse dieses Schulkonzepts für die Kultur. An dieser Stelle sei hervorgehoben, dass Šalkauskis sowie andere litauische Bildungsphilosophen nicht blind den aus dem Ausland importierten Konzepten folgten, sondern diese auch kritisch hinterfragten. So kritisieren sie etwa im Fall der Arbeitsschule die Betonung der ökonomischen Faktoren, die alleine im Dienste der Produktion stünden, und lobten alles, was der Vermittlung kultureller Werte und somit den Interessen der Gemeinschaft diene.

Fazit Es wäre zu gewagt zu behaupten, dass Deutschland und die deutschsprachigen Länder eine einzigartige Rolle bei der Gestaltung des litauischen Schulsystems in der Zwischenkriegszeit gespielt hätten. Die zuständigen Bildungsexperten versuchten, möglichst viele Impulse aus verschiedenen nord- und westeuropäischen Ländern 81 Vgl. Šalkauskis, Stasys: Įvedamoji pedagogikos dalis [Einführung in die Pädagogik]. Kaunas 1935, S. 13. 82 Vgl. ders.: Visuomeninis auklėjimas [Die gesellschaftliche Erziehung]. Kaunas 1932, S. 192. 83 Ders.: Mokymo lytys [Lehrformen] (1936). In: Ders.: Pedagoginiai raštai (wie Anm. 79), S. 419– 421. 84 Vgl. ders.: Lavinimo mokslas [Die Erziehungswissenschaft]. In: Ders.: Pedagoginiai raštai (wie Anm. 79), S. 319–451, hier S. 383–385.

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und, was die theoretischen Bildungsansätze betrifft, auch von anerkannten russischen Pädagogen zu erhalten. Die litauische Regierung, die den Aufbau eines eigenen Schulsystems, die Umstrukturierung der Lehrerbildung und die Revision der veralteten Unterrichtsinhalte und -methoden zu einer der wichtigsten Aufgaben des jungen Staates erklärt hatte, bemühte sich jedoch, den litauischen Studierenden ein Studium der Pädagogik bei den führenden Professoren in Fribourg, Zürich, Hamburg, Berlin etc. zu ermöglichen. Die für die Bildungspolitik zuständigen Experten unternahmen auch selbst mehrere Dienstreisen in die deutschsprachigen Länder – daher auch die Diskussionen über die Besonderheiten der deutschen Volksschulbildung, die Vorteile solcher Schultypen wie der ‚deutschen Oberschule‘ oder der ‚deutschen Aufbauschule‘, die in der litauischen pädagogischen Fachpresse, insbesondere in dem Amtsblatt Švietimo darbas, lebhaft geführt wurden. Eine genaue Analyse der Zeitschriften Tautos mokykla und Mokykla ir visuomenė verdeutlicht die ambivalente und sich verändernde Einstellung der litauischen Bildungspolitiker und -praktiker zu den Entwicklungen in Deutschland: In den 1920er Jahren wurde das deutsche Bildungswesen als gute Alternative zu den skandinavischen Bildungsmodellen angesehen; auch nach der Machtübernahme Hitlers lässt sich bei einem Teil der dem Regime Smetonas nahestehenden Bildungsexperten zunächst noch ein gewisses Interesse an der Erziehung der Jugend im nationalen Geiste beobachten. Später jedoch mehren sich die Stimmen, die die Einschränkungen der freien Entfaltung innovativer pädagogischer Ideen durch die Nationalsozialisten distanziert und kritisch bewerten. Diese kritische Haltung war von Anfang an für die Autoren der politisch eher links geprägten Zeitschrift Mokykla ir visuomenė typisch, die eine öffentliche Auseinandersetzung mit den völkisch orientierten Politikern initiierten. Doch auch Autoren aus dem Umfeld der Zeitschrift Tautos mokykla erkannten schnell die vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehende Gefahr und die Einschränkung bildungsrelevanter Perspektiven. In diesem Kontext ist es nicht verwunderlich, dass die litauischen Pädagogen nicht nur den damals aktuellen Entwicklungen folgten, sondern sich insbesondere auch für jene pädagogischen Strömungen interessierten, die in Deutschland bzw. den deutschsprachigen Ländern an Innovationskraft und Popularität eingebüßt hatten und die Litauen mit Verzug erreichten, so z. B. die empirisch-pädagogische Kindheits- und Jugendforschung bzw. die experimentelle Pädagogik. Besonders populär waren in Litauen die moralpädagogischen, im Einklang mit der katholischen Lehre stehenden Ansätze (Pečkauskaitė, Šalkauskis etc.). Auf methodischer Ebene wurde viel über die deutsche Arbeitsschule und deren unterschiedliche Ausrichtungen diskutiert (Lazersonas, Laužikas), inhaltlich spielte die Kulturpädagogik, die den Lehrer in erster Linie nicht als Wissens-, sondern als Kulturvermittler betrachtete, eine zunehmend wichtige Rolle (Vydūnas, Šalkauskis). An dieser Stelle sei jedoch betont, dass in Litauen eine kreative Übernahme ausländischer pädagogischer Konzepte gefordert wurde, wofür auch eine tiefere Kenntnis ihrer Vor- und Nachteile nötig war.

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Die Beiträge in der zeitgenössischen Fachpresse sowie die nachgelassenen Schriften von Lazersonas, Laužikas, Šalkauskis u. a. beweisen, dass viele litauische Pädagogen gut mit den Diskussionen ihrer Auslandskollegen vertraut waren, was etwa die integrative Erziehung der Kinder mit geistigen Beeinträchtigungen oder die Ausgewogenheit zwischen der Förderung der technischen Fertigkeiten und der geistigen Entfaltung der Kinder im Konzept der deutschen Arbeitsschule betrifft. Die spätere sowjetische Okkupation unterbrach die regen Kontakte litauischer Bildungsexperten und -praktiker zu den westeuropäischen pädagogischen Schulen und lenkte die Entwicklung des litauischen Bildungssystems für ein halbes Jahrhundert in eine andere Richtung. Nach 1990 orientierten sich die Länder des postsowjetischen Raumes an unterschiedlichen Bildungssystemen, wobei Litauen eine Art Zwischenposition zwischen den Ländern einnimmt, die sich an mittel- und südeuropäischen Bildungsmodellen mit einer frühen Differenzierung nach akademischen Leistungen orientieren (Slowakei, Tschechien, Slowenien, Bulgarien), und denen, die angelsächsische und skandinavische Bildungsmodelle bevorzugen (Polen, Lettland, Estland). Solche bildungspolitischen Entscheidungen verdeutlichen auch bestimmte sozioökonomische Entwicklungsprioritäten eines Landes oder, wie im Fall von Litauen, das Schwanken zwischen dem skandinavischen Modell der ­Grund- und mittleren Schulbildung, dem deutschen Modell der späteren beruflichen Bildung oder dem angelsächsischen Modell der Hochschulbildung. Es steht jedoch fest, dass ausländische Modelle und Konzepte sich nicht einfach in ein anders aufgebautes wirtschaftliches und soziales System mit unterschiedlichen Aufstiegschancen und sozialen Garantien übernehmen lassen – dies gilt früher wie heute.

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Die Vermittlung der deutschbaltischen literarischen Kultur in der estnischen Schule von heute. Möglichkeiten und Herausforderungen Seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 kann man in Estland ein sprunghaft angestiegenes Interesse an deutschbaltischer literarischer Kultur feststellen, die zu einem Gegenstand reger wissenschaftlicher Forschung geworden ist.1 Viele Monografien und noch mehr Aufsätze sind erschienen.2 Digitale Textsammlungen3 und virtuelle Stadtkarten mit Bezug auf deutschbaltische Literatur wurden aufgebaut.4 Eine neue Geschichte der baltischen Schriftkultur ist 1 Dieser Beitrag wurde von der Europäischen Union durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (Exzellenzzentrum CEES-145) gefördert; er ist zudem verbunden mit der kulturhistorischen Baltica-Sammlung der Akademischen Bibliothek der Universität Tallinn. 2 Eine ausführliche Bibliografie wäre hier wegen der Fülle des Materials nicht möglich. Deshalb verweise ich nur auf eine Artikelsammlung und drei umfangreiche Monografien, die den estnischen Lesern in ihrer Muttersprache zugänglich sind und somit für das estnische Publikum als Meilensteine der Forschung gelten können: Undusk, Jaan: Maagiline müstiline keel [Magische mystische Sprache]. Tallinn 1998; Jürjo, Indrek: Liivimaa valgustaja August Wilhelm Hupel, 1737–1819. Tallinn 2004. [dt. Übersetzung: Ders.: Leben und Werk des livländischen Gelehrten August Wilhelm Hupel (1737–1819). Köln u. a. 2006 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 19); Lukas, Liina: Baltisaksa kirjandusväli 1890–1918 [Das deutschbaltische literarische Feld 1890–1918]. Tartu-Tallinn 2006 (Collegium Litterarum 20), digital zugänglich unter URL: https://dspace. ut.ee/handle/10062/1243 (22.11.2021); Klöker, Martin: Tallinna kirjanduselu 17. sajandi esimesel poolel (1600–1657). Haridusinstitutsioonid ja juhuluuletamine. Tallinn 2014 [dt. Original: Ders.: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (1600–1657). Institutionen der Gelehrsamkeit und Dichten bei Gelegenheit. Tübingen 2005]. Ebenfalls möchte ich auf eine Bibliografie aufmerksam machen, die die Literatur zur deutschbaltischen Sprache zusammenfasst: Balode, Ineta; Lele-Rozentāle, Dzintra unter Mitwirkung von Manfred von Boetticher und Reet Bender (Hg.): Deutsch im Baltikum. Eine annotierte Forschungsbibliographie. Wiesbaden 2016. Es gibt zahlreiche wichtige deutschsprachige Monografien, die dringend ins Estnische übersetzt werden sollten. 3 Vgl. Eesti vanema kirjanduse digitaalne tekstikogu (EEVA) [Digitale Textsammlung älterer Literatur Estlands]. URL: https://utlib.ut.ee/eeva/ (20.05.2021). Die EEVA ist ein gemeinsames Projekt der Universitätsbibliothek Tartu und der Abteilung für Literatur und Volkskunde der Universität Tartu in Zusammenarbeit mit dem Estnischen Literaturmuseum. Sie wurde im Herbst 2002 mit Unterstützung des Programms „Literaturklassik“ des Kultusministeriums der Republik Estland gestartet. EEVA beinhaltet Texte vom 13. Jahrhundert bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. 4 Virtuaalkaart/Virtueller Stadtplan: Saksa Tartu/Deutsches Dorpat. URL: http://linnamuuseum. tartu.ee/tartu-dorpat/ (20.05.2021). Dieser zweisprachige virtuelle Stadtplan entstand 2018 in Zusammenarbeit des Tartuer Stadtmuseums und der Abteilung für Germanistik des Kollegs für Sprachen und Kulturen der Welt an der Universität Tartu unter Beteiligung von Kadi Kähär-­Peterson,

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im Entstehen, deren erster Band gerade vor Kurzem erschienen ist.5 Alle zwei Jahre werden spezielle Fachsymposien abgehalten, Kurse für Studenten werden regelmäßig durchgeführt.6 Mehrere Gesellschaften zur Erforschung und Popularisierung des deutschbaltischen Kulturerbes wurden gegründet.7 Auch sind viele belletristische und noch mehr historische Texte ins Estnische übersetzt worden.8 Die estnische Goethe-Gesellschaft veranstaltet seit 2012 alle zwei Jahre einen Übersetzungswettbewerb für Schüler und Studenten, meistens mit einem Schwerpunkt auf deutschbaltischer Kultur, und veröffentlicht die besten Übersetzungen in der Kulturzeitschrift Akadeemia. Als Forschende, die sich schon seit Jahrzehnten mit der deutschbaltischen Literatur und Kultur beschäftigt, möchte ich untersuchen, was von all dem Verwendung in der Schule findet. Reet Bender, Silke Pasewalck, Marge Rennit und Tenno Teidearu. Er konzentriert sich auf deutschsprachige Beschreibungen von Tartu vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Erfasst sind mehr als 150 Textpassagen von mehr als 40 deutsch(baltisch)en Autoren. Es gibt Auszüge aus Memoiren, der Belletristik, Reiseberichten, aber auch mehrere deutschbaltische Anekdoten über Dorpat, die zumeist erstmals auf Estnisch zugänglich sind. 5 Vgl. Lukas, Liina (Hg.): Balti kirjakultuuri ajalugu I. Keskused ja kandjad [Geschichte der ­baltischen Schriftkultur I. Zentren und Träger]. Tartu 2021. Es handelt sich um eine Kollektivmonografie estnischer, deutscher und lettischer Autoren zur Entstehung und Entwicklung der mehrsprachigen schriftlichen Kultur im Gebiet des heutigen Estlands und Lettlands vom Mittelalter bis ca. 1840, die in der betrachteten Periode von deutschbaltischen Autoren dominiert wurde. Die nächsten Bände sind den Themenbereichen Religion, Literatur, Sprache, Bildung und Wissenschaft, Ökonomie, Recht und Politik sowie Geschichte gewidmet. 6 Liina Lukas, Professorin für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Tartu, führt schon seit Ende der 1990er Jahre Kurse zur deutschbaltischen Literatur durch. Auch die Universität Tallinn macht ihre Studenten mit diesem Themenfeld bekannt. Die angehenden Deutschlehrer haben z.  B. unter Anleitung von Maris Saagpakk das Konzept der Linguistic Landscapes in der Praxis erprobt und Spuren deutscher Sprache im Tallinner Stadtraum gesucht, vgl. Saagpakk, Maris: Deutsch(baltisch)e Sprachdenkmäler im öffentlichen Raum als Gegenstand des heutigen DaF-Unterrichts in Estland. In: Posener Beiträge zur Angewandten Linguistic 10 (2018). Sonderheft: Linguistic Landscape und Fremdsprachendidaktik. Perspektiven für die Sprach-, Kultur- und Literaturdidaktik. Hg. v. Camilla Badstübner-Kizik, Věra Janíková, S. 85–114. Im Jahr 2012 wurde an der Universität Tallinn unter Leitung von Professorin Ulrike Plath sogar ein Stiftungslehrstuhl „Deutsche Geschichte und Kultur in der baltischen Region“ eingeführt, der mittlerweile mit Themen der baltischen Umweltgeschichte erweitert worden ist. 7 Vgl. Baltisaksa Kultuuri Selts Eestis [Gesellschaft für deutschbaltische Kultur in Estland], gegr. 1988 in Tallinn; Akadeemiline Baltisaksa Kultuuri Selts [Akademische Gesellschaft für Deutsch-Baltische Kultur], gegr. 1989 in Tartu. 8 Vgl. Bender, Reet: Baltisaksa tekstide tõlgetest eesti keelde alates Teise maailmasõja lõpust kuni tänase päevani. Lisandusi eesti tõlkeloole. [Über die Übersetzungen deutschbaltischer Texte ins Estnische seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum heutigen Tag. Beitrag zur estnischen Übersetzungsgeschichte]. Magistritöö [Magisterarbeit]. Betreuerin: Terje Loogus. Tartu Ülikool, ­Maailma keelte ja kultuuride kolledž. Tartu 2016, versehen mit einer deutschen Zusammenfassung und einer umfassenden Liste der Übersetzungen digital zugänglich unter URL: https://dspace.ut.ee/ handle/10062/53501 (22.11.2021).

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Um dieser Frage auf den Grund zu gehen und aus direkter Quelle zu schöpfen, führte ich im August 2016 im Rahmen einer Deutschlehrer-Fortbildung zur deutschbaltischen literarischen Kultur im Deutschen Kulturinstitut Tartu eine Umfrage durch. Bei den zehn Teilnehmerinnen des Kurses, die um das Ausfüllen eines Fragebogens gebeten wurden, handelte es sich ausnahmslos um Frauen (neun ­Estinnen und eine estnische Russin)9 die aus Tartu (Dorpat) und Umgebung, Jõgeva (Laisholm), Rakvere (Wesenberg) und Tallinn (Reval) kamen. Sie waren im Alter von 33 bis 58 (durchschnittlich 50) Jahren (was ungefähr dem estnischen Durchschnitt entspricht; eine Lehrerin hat ihr Alter nicht angegeben) und unterrichteten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von elf bis 26 Jahren (von der 3. Klasse bis zum Studium) in den Fächern Deutsch als Fremdsprache, daneben Englisch, Spanisch und Kulturgeschichte. Laut einer Internetseite des Estnischen Bildungsund Wissenschaftsministeriums zur Visualisierung von Bildungsstatistiken gab es im Schuljahr 2016/17 in allgemeinbildenden Schulen Estlands 271 Deutschlehrer, von denen ungefähr die Hälfte auch Mitglieder des Estnischen Deutschlehrerverbands waren.10 Die Zahl von zehn Teilnehmerinnen ist aus einem quantitativen Blickwinkel also nicht repräsentativ, dennoch spiegeln die Antworten der Lehrerinnen meines Erachtens relativ gut die wesentlichen Probleme wider, mit denen bei der Vermittlung von deutschbaltischer Literatur und Kultur in der estnischen Schule zu rechnen ist. Sie können daher hilfreich für weitere Überlegungen sein. Welche deutschbaltischen Texte/Autoren kennen Sie? Um einen ersten Eindruck zu bekommen, mit welchen deutschbaltischen Texten die Lehrerinnen in Berührung gekommen sind, lautete die erste Frage: Welche deutschbaltischen Texte/Autoren kennen Sie? Namen wie Werner Bergengruen, Eduard von Keyserling, Siegfried von Vegesack, Else Hueck-Dehio, [Peter August Friedrich von] Manteuffel, J[akob von] Yxküll [Uexküll], D. [eigentlich Theophile von] Bodisco, [Walther oder Henning von] Wistinghausen, M[onika] Hunnius, [Patrik] von zur Mühlen wurden daraufhin genannt. Im Falle von Monika Hunnius (Mein Onkel Hermann) und Siegfried von Vegesack (Seestück) wurden auch konkrete Texte angegeben. Außerdem wurden Familienchroniken der Familien Ramm und Stackelberg, Erinnerungen von D. Brehde, Handschriften über das Leben auf dem Gut 19 Der Anteil der russischsprachigen Bevölkerung in Estland beträgt 29,6 Prozent, der Anteil der Russen 25,6 Prozent. Ungefähr die Hälfte der hiesigen Russen sind Bürger der Republik Estland; russisch(sprachig)e Lehrerinnen waren unter den Teilnehmerinnen also vertreten, aber unterrepräsentiert. 10 Vgl. Haridus- ja Teadusministeerium [Ministerium für Bildung und Forschung]: Haridussilm. URL: https://www.haridussilm.ee/ee/tasemeharidus/haridustootajad/opetajad (über die Filter Periood: 2016/2017 und Aine valdkond – Aine [Fachbereich – Fach]: Keeled [Sprachen]; Estnischer Deutschlehrerverband [Eesti Saksa Keele Õpetajate Selts]. URL: https://www.edlv.ee/index.php/ verband/mitglieder (22.06.2021).

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Kunda, eine Geschichte des Gutes Palms (Palmse) sowie die Brüder Engelsmann erwähnt. Einige Lehrerinnen gaben an, mehrere Bücher gelesen zu haben, sich aber nicht an Namen/Titel erinnern zu können. Haben Sie ein Werk eines deutschbaltischen Autors gelesen, das Ihnen gefallen hat? Während die erste Frage eher dazu bestimmt war, herauszufinden, welche Autoren und Texte die Lehrerinnen überhaupt kannten, sollte mit Hilfe der zweiten festgestellt werden, zu welchen Texten sie einen positiven emotionalen Kontakt hergestellt hatten. Oft, wenn auch nicht immer, sind solche Texte leichter zu vermitteln, entweder weil sie als allgemeinmenschlich empfunden werden oder mit den kulturellen Konventionen und Erwartungen oder psychologischen Bedürfnissen der jeweiligen Leser(gruppe) kompatibel sind, und das häufig auf einer voranalytischen Ebene. Im derzeit geltenden estnischen Lehrplan für die Grundschule wird auch angegeben, dass die Entwicklung der ästhetisch-emotionalen Kompetenzen der Schüler ein Ziel des Grundschul-,11 und insbesondere des Literaturunterrichts sein soll.12 Ähnliches gilt für das Gymnasium.13 Es wird auch betont, dass in dieser Altersstufe das Entwickeln und Aufrechterhalten der Lesegewohnheit und -freude wichtiger als der Erwerb der literaturwissenschaftlichen Terminologie ist. Welche Texte bereiteten den Lehrerinnen Lesevergnügen? Als beliebteste Autorin stellte sich Else Hueck Dehio heraus. Ihre Liebe Renata wurde gleich dreimal erwähnt, Tipsys sonderliche Liebesgeschichte zweimal. Auch Werner Bergengruens Der Tod von Reval fand zweimal Erwähnung ebenso wie Mein Onkel Hermann von Monika Hunnius. Mit mehreren Texten trat Siegfried von Vegesack hervor (sowohl Kurzgeschichten, „kleine Bücher über Tanten“ [gemeint ist wohl Die Welt war voller Tanten] als auch Die baltische Tragödie), erwähnt wurde auch Baltische Geschichten in Geschichten von Patrik von zur Mühlen. Auf die Frage, ob sie diese Texte im Original oder in estnischer Übersetzung gelesen hatten, wurde angegeben, dass sie meistens im Original 11 Vgl. den Anhang am Ende des Aufsatzes, 1. Auszug. 12 Vgl. die Verordnung der Regierung der Republik Estland vom 6. Januar 2001, Nr. 1 „Staatlicher Lehrplan der Grundschule“, Anhang 1 (in verändertem Wortlaut): Fachbereich „Sprache und Literatur“: „1.4. Möglichkeiten zur Entwicklung von allgemeinen Kompetenzen. Kultur- und Wertekompetenz. Im Literaturunterricht werden ethische und ästhetisch-emotionale Werte und das Verständnis für kulturelle Werte mit Hilfe von Belletristik und Fachtexten entwickelt.“ URL: https:// www.riigiteataja.ee/aktilisa/1140/2201/8008/1m%20lisa1.pdf# (20.05.2021. Hervorhebungen durch die Verf.). 13 Vgl. die Verordnung der Regierung der Republik Estland vom 6. Januar 2001, Nr. 2 „Staatlicher Lehrplan für das Gymnasium“, Anhang 1 (in verändertem Wortlaut): Fachbereich „Sprache und Literatur“: „Mit Sprach- und Literaturunterricht wird angestrebt, dass der Schüler am Ende des Gymnasiums: [...] 6) Schriftsteller als Schaffende und die Literatur als Bereicherung der Gefühlsund Erfahrungswelt, Erweiterung der Vorstellungskraft und der Gedankenwelt wertschätzt.“ URL: https://www.riigiteataja.ee/aktilisa/1140/2201/8009/2m_lisa1.pdf# (20.05.2012. Hervorhebungen durch die Verf.).

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gelesen worden waren, obwohl Die baltische Tragödie, Der Tod von Reval, Liebe Renata und Mein Onkel Hermann auch in Übersetzung vorliegen (der letztere sogar in zweifacher Übersetzung, was in der estnischen Sprache relativ selten ist). Eine Lehrerin gab an, Werke von Deutschbalten gelesen zu haben, „um das professionelle Niveau der deutschbaltischen Belletristik festzustellen“. Diese Aussage spiegelt die Tatsache wider, dass die deutschbaltische Literatur außerhalb der Fachkreise zuweilen mit viel Skepsis betrachtet wird. Es bestehen Zweifel, dass sie als ein kleiner Zweig einer großen Literatur viel geleistet haben könnte, und das Vorurteil, dass sie lediglich epigonal gewesen sein könne. Diese Auffassungen verbreiteten sich schon Anfang des 20. Jahrhunderts unter den estnischen Intellektuellen, als es galt, sich von deutschen Vorbildern freizumachen, um eine eigenständige estnische Literatur zu schaffen. Die literarische Bewegung der Jung-Esten (Noor-Eesti) suchte sich ihre Vorbilder in Finnland und Skandinavien, auch entwickelte sie eine ausgesprochene Frankophilie, die nicht nur deutschen Einflüssen, sondern auch Tendenzen der Russifizierung entgegenstehen sollte. Dies war auch eine Rebellion gegenüber dem deutschbaltischen Selbstverständnis als ‚Kulturträger‘. Ants Oras, einer der einflussreichsten estnischen Literaturwissenschaftler der ersten Estnischen Republik, teilte die Skepsis gegenüber deutschbaltischen Leistungen auf dem Gebiet der Literatur. Ihm, dem Mentor des Dichterkreises Arbujad (Schamanen, Beschwörer oder Weissager), ging es vor allem darum, die estnische Dichtkunst auf Weltniveau zu heben. Er zollte Autoren wie Goethe oder Heine durchaus großen Respekt; sie interessierten ihn aber in erster Linie als Dichter von Weltrang. Jung-Esten und Arbujad prägten das estnische Verständnis von Literatur bis weit in die Sowjetzeit hinein. Ein eigentlicher Paradigmenwechsel, obwohl schon seit den 1960er Jahren angekündigt, fand erst nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit statt. Manche Vorbehalte scheinen sich trotzdem hartnäckig gehalten zu haben, obwohl in jüngster Zeit die Bereitschaft, sie zu hinterfragen, gestiegen ist. So attestierte vor Kurzem Tõnu Õnnepalu, einer der bekanntesten und angesehensten estnischen Gegenwartsschriftsteller, Eduard von Keyserlings Prosa einen hohen Rang.14 Welche deutschbaltischen Werke sollte jede/r Este/Estin gelesen haben? Die nächste Frage wurde entwickelt, um Vorschläge zu einer möglichen Kanonbildung zu erhalten. Außer Else Hueck-Dehios Liebe Renata tauchte dabei interessanterweise kein Werk auf, das vorher unter den Titeln genannt worden war, die den Gefallen der Lehrerinnen gefunden hatten. Hervorgehoben wurde stattdessen der regionale Aspekt dieser Literatur. So sollten „Bücher über Livland, über das Alltagsleben der Deutschbalten“ gelesen werden, oder noch spezifischer, „Tartuenser, insbe14 Õnnepalu, Tõnu: „Õhtused majad“ [„Abendliche Häuser“]. In: Edasi. 23.10.2019. URL: https:// edasi.org/45500/tonu-onnepalu-ohtused-majad/ (20.05.2021).

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sondere Tartuenserinnen“ sollten Liebe Renata bzw. deutschbaltische „Bücher über Tartu“ lesen. Eine Lehrerin meinte sogar: „Es gibt kein solches Werk“. Abhilfe wurde manchmal eher bei allgemein bekannten „großen“ deutschen Schriftstellern gesucht. „Über die Herkunft von [Hermann] Hesse sollte man schon Bescheid wissen“, war die Meinung einer Lehrerin.15 Eine andere suchte Auswege bei kanonischen estnischen Autoren: „Werke von Jaan Kross (zwar kein deutschbaltischer Autor, aber seine Werke über Deutschbalten, z. B. Die Frauen von Wesenberg“, seien lesenswert.16 Haben Sie ein deutschbaltisches Werk oder einen Auszug daraus im Unterricht verwendet? Mit dieser Frage sollte ein konkreterer Einblick gewonnen werden, ob und wie deutschbaltische Texte in der Schule tatsächlich verwendet werden. Mehrere Lehrerinnen verneinten die Frage und begründeten dies zunächst mit dem Sprachniveau der Schüler: „Nein, mit der C-Sprache wäre es zu schwer“; „Nein, ich unterrichte Deutsch als B-Sprache, und sogar auf dem Gymnasialniveau ist es kaum möglich, deutsche Literatur einzubeziehen.“ In diesen Antworten spiegelt sich die gesunkene Bedeutung von Deutsch als Fremdsprache in Estland wider: Deutsch ist oft B- und noch öfter C-Sprache (also nur zweite oder dritte Fremdsprache). Während Anfang der 1990er Jahre noch etwa die Hälfte der estnischen Schüler Deutsch als zweite Fremdsprache lernte (etwa gleich viele wie Englisch), so ist es mittlerweile oft nur die dritte oder sogar vierte Wahl. 2013 lernten in Estland schon 115.083 Schüler Englisch, aber nur noch 14.853 Deutsch (außerdem 3.960 Französisch, 1.347 Spanisch, 1.220 Finnisch und 206 Chinesisch).17 Im Schuljahr 2018/19 lernten in den allgemeinbildenden Schulen laut dem Estnischen Statistikamt 123.000 bzw. 82 Prozent aller Schüler Englisch, gefolgt von Russisch mit 43 Prozent. Deutsch, das von acht Prozent der Schüler gelernt wird, folgte an dritter Stelle. Etwa drei Prozent

15 Hesses Vater Johannes war in Weissenstein (Paide) in Estland geboren, wo der Großvater Carl Hermann Hesse als Arzt arbeitete. Vgl. die entsprechenden Einträge im Baltischen Bibliographischen Lexikon digital (BBLD): URL: https://bbld.de/0000000038638887 u. https://bbld.de/ 0000000010947493 (20.05.2021). 16 In den estnischen Lehrbüchern für Literatur wird der Ausdruck ‚Deutschbalten‘ in erster Linie bei der Behandlung von Werken von Jaan Kross erwähnt, vor allem im Zusammenhang mit Keisri hull (Der Verrückte des Zaren, 1978, vgl. z. B. Annus, Epp; Epner, Luule; Velsker, Mart: Uuem eesti kirjandus. Gümnaasiumi kirjandusõpik [Neuere estnische Literatur. Lehrbuch für das Gymnasium]. Tallinn 2006, S. 130; Riismaa, Pille; Rätsep, Astrid; Õunapuu, Tiina: Eelmise sajandi eesti kirjandus [Estnische Literatur des vorigen Jahrhunderts]. [Tallinn] 2002, S. 234) sowie im Zusammenhang mit Anton Hansen Tammsaares Ma armastasin sakslast (Ich liebte eine Deutsche, 1935, vgl. ebd S. 93; Annus, Epp; Epner, Luule; Süvalepp, Ele: 20. sajandi I poole eesti kirjandus. Gümnaasiumi kirjandusõpik [Estnische Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Lehrbuch für das Gymsasium]. Tallinn 2006, S. 146f.). 17 Vg. Teder, Merike: Eesti koolides saab õppida eksootilisi keeli [An estnischen Schulen kann man exotische Sprachen lernen]. In: Postimees. 24.09.2014. URL: https://www.postimees.ee/2931265/ eesti-koolides-saab-oppida-eksootilisi-keeli (20.05.2021).

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der Schüler lernen Französisch oder eine weitere Fremdsprache.18 Interessanterweise betrug auch der Anteil der Übersetzungen aus dem Deutschen unter der gesamten belletristischen Übersetzungsproduktion ins Estnische in den Jahren 1991–2009 acht Prozent.19 Es scheint die interessante Feststellung zu gelten, dass je mehr eine Sprache in einem Land bekannt ist, desto mehr aus dieser Sprache auch übersetzt wird. Für einen Germanisten und Germanophilen sind diese Zahlen alarmierend. Diese Entwicklung ist insbesondere bemerkenswert, wenn man sie in eine historische Perspektive stellt. Reet Bender, Germanistikdozentin an der Universität Tartu, hat in ihrem Überblick zur Geschichte der Übersetzungen deutschbaltischer Texte ins Estnische vor allem im Hinblick auf Übersetzungen belletristischer Texte zum Teil Paradoxes festgestellt.20 Während der Jahre der ersten Estnischen Republik (1918–1940) wurde insgesamt noch relativ viel aus dem Deutschen übersetzt, das zu dieser Zeit eigentlich die wichtigste Fremdsprache war, darunter im moderaten Umfang auch deutschbaltische Texte. Obwohl Estnisch die einzige Staatssprache war, wurde im Dienstleistungssektor, wie sich am Beispiel vieler Stellenangebote in Zeitungen ablesen lässt, die Kenntnis von „drei Ortssprachen“ (Estnisch, Deutsch, Russisch) verlangt, wie es schon zur Zarenzeit vor dem Ersten Weltkrieg üblich gewesen war.21 Es gab eine lange Tradition des Deutschunterrichts: Im 19. Jahrhundert hatten vor der Russifizierungswelle in den Schulen seit den 1890er Jahren viele besser gebildete Esten eine deutschsprachige Schule besucht (Kreisschule oder Gymnasium; der Elementarunterricht fand allerdings in der Muttersprache statt). Auch in der ersten Estnischen Republik blieb Deutsch die erste Fremdsprache. Eine Veränderung zeichnete sich erst seit 1936 ab, als auf Regierungsebene entschieden wurde, Englisch als erste Fremdsprache einzuführen. Die Etablierung des Englischen kam allerdings nicht weit, sie wurde durch die baldige sowjetische Okkupation und den Zweiten Weltkrieg verhindert. Nach dem Krieg wurde Russisch die erste Fremdsprache in der Schule. Deutsch blieb noch lange Zeit die meistgelernte zweite Fremdsprache. Insbesondere auf dem Lande gab es noch bis zum Ende der Sowjetzeit kaum Möglichkeiten, überhaupt eine andere Zweitfremdsprache zu 18 Vgl. Raid, Kadri; Tammur, Agnes: Eestis on kasvanud emakeelte mitmekesisus [Die Vielfalt der Muttersprachen in Estland gewachsen]. In: Statistikablogi. Statistikaameti ajaveeb. 14.03.2019. URL: https://www.stat.ee/et/uudised/2019/03/14/eestis-on-kasvanud-emakeelte-mitmekesisus (20.05.2021). 19 Vgl. Bender, Baltisaksa tekstide tõlgetest (wie Anm. 8), S. 55, die eine Studie von Maris Saagpakk resümiert, vgl. Saagpakk, Maris: Die Übersetzungen der deutschbaltischen Literatur ins Estnische 1991–2009. In: Pasewalck, Silke; Neidlinger, Dieter; Loogus, Terje (Hg.): Interkulturalität und (literarisches) Übersetzen Tübingen 2014 (Stauffenburg Discussion 32), S. 267–283, hier S. 268. 20 Vgl. zum Folgenden Bender, Baltisaksa tekstide tõlgetest (wie Anm. 8). 21 Zu den „drei Ortssprachen“ vgl. dies.: „Babel“ im Baltikum. Die drei Ortssprachen Deutsch, Estnisch und Russisch in deutschbaltischen Lebenserinnerungen. In: Dies.; Pasewalck, Silke; Bers, Anna (Hg.): Zum Beispiel Estland. Das eine Land und die vielen Sprachen. Göttingen 2017, S. 50–64.

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wählen. Die Möglichkeiten der praktischen Anwendung fielen allerdings mager aus, denn sogar die DDR blieb den meisten Jugendlichen (und auch Erwachsenen) unerreichbar. In den Städten nahm dagegen Englisch als zweite Fremdsprache zu. Obwohl es in der Sowjetzeit recht viele Menschen gab, die Deutsch lesen und übersetzen konnten, erschien während der ganzen Nachkriegsperiode vor der Wiedererlangung der Unabhängigkeit paradoxerweise nur ein einziger belletristischer deutschbaltischer Text (eine Teilübersetzung von Bergengruens Der Tod von Reval, 1966).22 Die Kultur der deutschen Volksgruppe wurde gewissermaßen unsichtbar gemacht und totgeschwiegen. Mit umso mehr Interesse stürzten sich die Forscher auf diesen „weißen Fleck der Geschichte“, als der Eiserne Vorhang fiel und Estland wieder unabhängig und demokratisch wurde. Es gab immer noch viele Menschen, die genügend Sprachkenntnisse besaßen, um die alten Texte zu lesen. Die Zensur verschwand, die Wissenschaft öffnete sich für Kontakte mit dem Ausland, die Beziehungen zwischen den zwei demokratischen Ländern Deutschland und Estland blühten auf. Eine Lehrerin begründete die Nichtverwendung deutschbaltischer Texte mit der randständigen und pejorativen Darstellung der Esten darin: „Nein, der Bereich [deutschbaltische Literatur] ist marginal, die Existenz der Esten darin ... – Aber ich informiere die Lernenden, dass es so etwas wie ‚deutschbaltische Literatur‘ gibt.“ Tatsächlich war die deutschbaltische Literatur unter anderem auch eine Art von Kolonialliteratur, die Esten (und Letten) oft in stereotypen oder untergeordneten Rollen darstellte oder – noch öfter – ganz ausblendete. Der heutige estnische Leser kann sich kaum mit diesen Darstellungen identifizieren und deutet die Lage der Esten in der Vergangenheit ganz anders als die damaligen deutschbaltischen Schriftsteller. Im Gegenzug wurde der deutschbaltische Literat während der ersten Estnischen Republik, als es vor allem um die Entwicklung einer bis dahin kaum existenten nationalen Literaturgeschichte der Esten ging, marginalisiert. Zu einer regelrechten ‚Leerstelle‘ wurde er während der Sowjetzeit, als Deutsche pauschal als Feinde betrachtet wurden und den Deutschbalten in der von der Klassenkampfrhetorik geprägten Geschichtsschreibung die Rolle der Unterdrücker und Klassenfeinde zufiel. Letzteres war umso leichter, als nach ihrer Umsiedlung nach Deutschland (bzw. in die von Deutschland okkupierten polnischen Gebiete) 1939/41 kaum noch Deutschbalten im Land waren und die wenigen Gebliebenen später deportiert wurden. An der Universität werden die verschiedenen Darstellungen mittlerweile gezielt kontrastiert, kontextualisiert und die Komplexität der deutschbaltischen (aber auch estnischen) Perspektiven auf Esten und die estnische Geschichte, die keineswegs homogen waren, sichtbar und vermittelbar gemacht.23 Es bleibt zu hoffen, dass die22 Vgl. Bender, Baltisaksa tekside tõlgetest (wie Anm. 8), S. 48. 23 Vgl. z. B. Lukas, Liina: The Baltic-German Settlement Myths and Their Literary Developments. In: Mihkelev, Anneli; Kalnacs, Benedikts (Hg.): We Have Something in Common. The Baltic Memory. Tallinn 2007 (Collegium Litterarum 21), S. 75–85.

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se komplexere Herangehensweise an deutschbaltische Texte und Diskurse mit den Universitätsabsolventen auch ihren Weg in die Schulen findet. Diejenigen Lehrerinnen, die deutschbaltische Texte verwendet hatten, taten dies meistens im Rahmen und mit einem Akzent auf der Regional- und Lokalgeschichte. „Nicht wirklich, nur Legenden über das alte Tallinn (z. B. über mittelalterliche Berufe)“, habe sie verwendet, gestand eine Lehrerin. „Im Unterricht habe ich im Zusammenhang mit der deutschbaltischen Problematik nur ein bisschen Geschichte berührt, vor allem Gutshöfe, Schüler suchen Material zu Gutshöfen,“ sagte eine andere. „Ich habe Erinnerungen und Familiengeschichten an Schüler gegeben, die eine Forschungsarbeit schreiben. Früher haben wir auch Erinnerungen mit den Schülern übersetzt und in Virumaa Teataja [der Regionalzeitung] veröffentlicht.“ Manche Lehrerinnen versuchten, das Problem der mangelnden Deutschkenntnisse zu umgehen: „Ich habe es mit einem Buch versucht, das Estnisch und Deutsch parallel verwendete. Wir haben [deutschbaltische Texte] gelesen, wenn es notwendig gewesen ist, den historischen Hintergrund zu beleuchten. Die Aufnahme war eher positiv.“ Auch andere Lehrerinnen machten positive Erfahrungen bei der Vermittlung: „Ich habe die deutschbaltische Thematik, darunter Schriftsteller, in meinen Vorlesungen über estnische Kulturgeschichte behandelt. Für Schüler ist es eine relativ unbekannte Welt, aber wenn man versucht, den Stoff interessant zu machen, hören sie mit Interesse zu.“

Auch eine andere Lehrerin hob hervor, dass neben mangelnden Deutsch- auch fehlende Geschichtskenntnisse einen Faktor darstellen, der die Vermittlung der deutschbaltischen Literatur erschwert: „Die deutschbaltische Thematik wird in der Schule [im Allgemeinen] zu wenig behandelt und den Schülern fehlen die Kenntnisse; es ist auch ein Manko des Geschichtsunterrichts,“ resümierte sie. Im Zusammenhang mit dem Geschichtsunterricht ist an dieser Stelle auf ein weiteres Problem hinzuweisen. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Anfang der 1990er Jahre machten die Universitätscurricula eine große Veränderung durch, die sich u. a. darin ausdrückte, dass viele Fächer, die früher obligatorisch waren, nur noch als Wahlfächer angeboten wurden oder sogar aus dem Lehrplan gestrichen wurden. Während Deutsch in der Sowjetzeit ein obligatorisches Fach für die Studenten der Fächer Geschichte oder estnische Philologie war, so dass alle Absolventen dieser Studiengänge Deutsch zumindest einigermaßen lesen konnten, da sie im Laufe von drei Semestern zumindest die Grundlagen der deutschen Grammatik vermittelt bekommen hatten, wurde das Deutschlernen jetzt der eigenen Wahl der Studenten überlassen und ging daher immer mehr zurück. Viele Historiker und Estnischlehrer der jüngeren Generation sind nicht mehr imstande, deutsche Texte im Original zu lesen. An der Universität Tartu gibt es seit einigen Jahren Versuche, diesen Trend zumindest bei den Historikern, die estnische Geschichte studieren, umzukehren. Ähnliche

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Bestrebungen gibt es auch an der Universität Tallinn. Da auch die Zahl der Germanisten im Laufe der Jahre geschrumpft ist, auch wegen der geringeren Geburtenrate, wäre es wichtig, Deutschkenntnisse auch auf andere Fächer auszuweiten. Ansonsten werden wir bald nicht mehr in der Lage sein, unsere ältere (Literatur)Geschichte aus direkter Quelle zu rezipieren, aber auch neuere Entwicklungen in der Europäischen Union, in der Deutschland nach dem Brexit eine gewichtigere Rolle einnehmen wird, aus nächster Nähe zu verfolgen und mitzugestalten. In den Medien hat es von Philologen zwar Aufrufe gegeben, Deutsch (aber auch Französisch) vor dem von den Eltern bevorzugten Englischen zu unterrichten.24 Laut Gesetz gibt es diese Möglichkeit sogar, wird aber von den Schulen, die sich nach den Eltern richten, nur selten gewählt. Man könnte gewissermaßen von einem Marktversagen sprechen. Diese Entscheidung müsste daher von der Bildungspolitik direkt getroffen werden. Falls Sie deutschbaltische Werke im Unterricht verwendet haben, welche Hilfsmittel standen Ihnen zur Verfügung? Um ‚den Stoff interessant zu machen‘, braucht man u. a. Mittel der Veranschaulichung. Auf die Frage nach verwendeten Hilfsmitteln wurden recht viele Medien genannt: „Internet (Wikipedia, YouTube, Google).“ „Ich habe Kurzgeschichten von Siegfried von Vegesack benutzt (von ihm selbst vorgelesen) und den Film Poll.“25 „Nichts Besonderes, einige Karten aus dem Web und einige Videos über den Besuch einiger Deutschbalten hierzulande.“ „Handschriften, Fotos, Bücher“.

Dabei wurde die mangelnde Konzentrationsfähigkeit der Schüler beim Lesen als ein weiteres Hindernis hervorgehoben: „Es ist schwer, die Schüler zum Lesen zu bringen, weil viele nicht einmal mehr in der Muttersprache einen längeren Text (ca. eine Seite) mit Konzentration durchlesen können.“ Eine andere Lehrerin sah aber gerade in literarischen Texten eine Abhilfe gegen diese Konzentrationsschwäche: „Da Schü24 Vgl. z. B. Tender, Tõnu: Millist võõrkeelt õppida esimesena? [Welche Fremdsprache sollte man zuerst lernen?]. In: Eesti Päevaleht. 03.03.2005. URL: https://epl.delfi.ee/arvamus/tonu-tendermillist-voorkeelt-oppida-esimesena?id=51005122; Sakova-Merivee, Aija: Eestlus ja saksa keel [Die estnische Kultur und die deutsche Sprache]. In: Sirp. 16.01.2015. URL: https://sirp.ee/s1-artiklid/ c7-kirjandus/eestlus-ja-saksa-keel/; Ilmjärv, Signe: Esimene võõrkeel võiks olla hoopis saksa keel [Die erste Fremdsprache könnte eigentlich Deutsch sein]. In: Õpetajate Leht. 20.01.2017. URL: https://opleht.ee/2017/01/esimene-voorkeel-voiks-olla-hoopis-saksa-keel/ (20.05.2021). 25 Ein Spielfilm von Chris Kraus (2010), inspiriert von Memoiren seiner Großtante Oda Schaefer, der im Jahr 1914 im Gutsmilieu in Estland spielt. Hauptdarsteller sind Paula Beer, Edgar Selge und Tambet Tuisk.

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ler Probleme mit der Konzentration haben, bieten literarische Texte eine gute Möglichkeit einfach leise zu lesen und Interessantes zu erfahren über den eigenen Heimatort, aber aus einem anderen Blickwinkel.“ Im Seminar hatte auch jemand die Idee eines deutschbaltischen Comicstrips. Foto-, Video- und Deklamationswettbewerbe, sowie Projekttage sowohl an den Schulen als auch auf der nationalen Ebene könnten und sollten veranstaltet werden. „Treffen mit Deutschbalten wären wünschenswert“, betonte eine Lehrerin. Trotz einer Fülle von Ideen und Medien erwarten die Lehrerinnen Hilfe von den Universitäten. „In den Schulen fehlt den Schülern der Kontakt zur deutschen Sprache und Kultur. Es gibt zu wenig Stunden, um auf die Schüler einzuwirken. Vielleicht könnte die Universität da irgendwie helfen?“, fragte eine Lehrerin. „Die Universität Tartu ist der richtige Ort, wo deutschbaltische Literatur als Thema, sogar als Nischenthema, am Leben erhalten werden sollte“, war eine andere überzeugt. Alle Teilnehmerinnen waren an Fortbildungen zu diesem Thema interessiert. Man brauche mehr Übersicht: „Für Schüler und Lehrer könnte man Übersichten über deutschbaltische Literatur machen. Auch im Internet sollten diese Themen zugänglich sein.“ „Es sollte Informationen zu interessanten Internetseiten, Spielen geben.“ „Notwendig wären Informationen über den Einfluss von Deutschbalten aus Tartu oder anderen größeren Orten auf die estnische Kultur; über den Einfluss von Gutsherren auf die lokale Kultur und sonstige interessante Tatsachen, damit die Schüler den Bezug zur deutschen Kultur wahrnehmen könnten.“

Deutschbaltische Themen könnten für Olympiaden vorgeschlagen werden (in den letzten Jahren sind z. B. Deutsch-Olympiaden zu deutsch-estnischen Erinnerungsorten durchgeführt worden). Die Texte sollten auch für diejenigen zugänglich sein, die keine Frakturschrift („gotische Schrift“) lesen könnten. Auch der Zugang zu Audiomaterialien mit der Aussprache (bzw. den Aussprachen) der Deutschbalten sollte geschaffen werden (sie konnte je nach Region unterschiedlich sein, in Estland anders als in Lettland). Besonders begehrt sind aber Didaktisierungen für verschiedene Altersstufen. Auch andere Institutionen sollten bei der Vermittlung und Veranschaulichung behilflich sein. So schlug eine Lehrerin vor, dass das Estnische Nationalmuseum (ERM) u. a. eine Dauerausstellung „Deutsche Spuren in Estland“ für Klassenfahrten haben sollte.26 „Deutschbaltische Literatur muss ein Teil des Unterrichts sein!“, äußerte eine Lehrerin ihre feste Überzeugung. 26 Diese Idee ist nach der Wiedereröffnung des Estnischen Nationalmuseums im neuen Gebäude im September 2016 zu einem kleinen Teil realisiert worden. In der Dauerausstellung werden Gegenstände präsentiert, die neben altgläubigen Russen am Peipussee und Estlandschweden (rannarootslased, Wort für Wort: Küstenschweden) auch Deutschbalten repräsentieren. Eine Ausstellung,

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Die Perspektive einer Estnischlehrerin und der Lehrbücher der (estnischen) Literatur Um eine etwas erweiterte Sicht auf das Thema „Deutschbaltische Literatur in der estnischen Schule“ zu bekommen, befragte ich im Sommer 2016 auch meine ehemalige Estnisch- und Literaturlehrerin, da der eigentliche Ort des Literaturunterrichts in estnischen Schulen traditionell im Estnischunterricht liegt. Sie war eher skeptisch und besorgt. Im Vergleich zum Beginn der 1990er Jahre habe sich die Zahl der Estnischstunden halbiert und Literatur nehme darin einen immer geringeren Platz ein. Der Anteil der Weltliteratur von der Antike bis zum 19. Jahrhundert sei darin sehr zusammengeschrumpft. Auch bei der estnischen Literatur hätten sich die Akzente sehr auf die Gegenwartsliteratur verschoben. Auch seien viele Themen der estnischen Literatur ins Abseits geraten, z. B. exilestnische Literatur. Deutschbaltische Literatur wäre demnach eine „Nische in der Nische“. In den aktuellen Lehrbüchern für (estnische) Literatur werden deutschbaltische Autoren kaum erwähnt. Es fallen zwar Namen wie Johann Gottfried Herder,27 August Wilhelm Hupel, Johann Christoph Petri oder Garlieb Helwig Merkel,28 der Estophile Johann Heinrich Rosenplänter29 oder der deutsch-estnische Pastor und Zeitungsherausgeber Otto Wilhelm Masing30 werden erwähnt, aber von Autoren, die belletristische Texte geschrieben haben, werden nur die Pastoren Friedrich Wilhelm von Willmann und Johann Wilhelm Ludwig von Luce, die Erzählungen und Fabeln ins Estnische adaptiert haben, sowie Peter August Friedrich von Manteuffel erwähnt, ein Gutsherr im Norden Estlands, der Kurzgeschichten auf Estnisch für estnische Bauern verfasste.31 Ein deutschbaltischer Schriftsteller, der auf Deutsch

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die eigens den Deutschbalten gewidmet ist, wird im Lihula muuseum geplant, vgl. Hepner, Juhan: Lihula muuseum hakkab näitama baltisakslaste pärandit [Das Museum von Leal/Lihula wird deutschbaltisches Erbe ausstellen]. In: ERR [Estnischer Nationalrundfunk]. 24.06.2019. URL: https://kultuur.err.ee/955453/lihula-muuseum-hakkab-naitama-baltisakslaste-parandit (20.05. 2021). Um Gutshöfe zu besichtigen, werden immer wieder Tage der offenen Tür auf ausgewählten Gutshöfen veranstaltet, die aber in der Regel während der Sommerferien stattfinden. Das ganze Jahr über kann man aber z.  B. das Freilichtmuseum-Gut Palms (Palmse) besichtigen, vgl. die Webseite URL: http://www.palmse.ee/en (20.05.2021). Mit den Lebensverhältnissen von (meist deutschen) Stadtbürgern (des 19. Jahrhunderts) kann man z. B. im Tartuer Stadtbürgermuseum Bekanntschaft machen. Vgl. Rannaste, Kristi; Talviste, Katre: Sõnakunsti jäljed. Kirjanduse õpik gümnaasiumile [Spuren der Wortkunst. Ein Literaturlehrbuch fürs Gymnasium]. Tallinn 2016, S. 12 (Unterkapitel: Rahvusliku omapära avastamine [Die Entdeckung der nationalen Besonderheit]). Das Lehrbuch widmet sich den literarischen Epochen der Romantik und des Realismus. Vgl. Epner, Luule; Metste, Kristi; Olesk, Sirje: Eesti vanem kirjandus. Gümnaasiumi kirjandusõpik [Ältere Literatur Estlands. Ein Lehrbuch für das Gymnasium]. Tallinn 2005, S. 35. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 30f.

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schöngeistige Literatur schrieb, ist in den Lehrbüchern bis heute nur mit Garlieb Merkels Werk Die Vorzeit Livlands (1798–1799) repräsentiert, das beim Aufbau der nationalen Identität der Esten später wichtig wurde.32 Danach klafft eine große Lücke, als ob die Deutschbalten mit der belletristischen Produktion nach der Epoche der Aufklärung aufgehört hätten. Mit Ausnahme der finnisch-estnischen Schriftstellerin Aino Kallas sind nichtestnische Autoren Estlands in den estnischen Literaturlehrbüchern erst vor einigen Jahren wieder aufgetaucht – insbesondere estlandrussische Gegenwartsschriftsteller, die entweder auf Russisch oder auf Estnisch oder in beiden Sprachen schreiben, haben neuerdings ihren Weg dahin gefunden.33 Auch in den staatlichen Lehrplänen für die Grundschule und das Gymnasium wird kein deutschbaltischer Schriftsteller unter den empfohlenen Autoren erwähnt (laut Lehrplan für Geschichte soll allerdings das Leben und Schaffen von August Wilhelm Hupel als Vertreter der baltischen Aufklärung näher vorgestellt werden). Dabei werden sowohl im allgemeinen staatlichen Lehrplan als auch in den Lehrplänen für die Fächer Literatur, Deutsch und Geschichte als Ziele, Werte oder angestrebte Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten die Kenntnis der nächsten Umgebung und Heimat und ihrer Geschichte sowie die Wertschätzung der kulturellen Vielfalt hervorgehoben.34 Im Lehrplan für Literatur wird für verschiedene Altersstufen der Grundschule auch immer empfohlen, u. a. einen Schriftsteller aus der nächsten Umgebung bzw. der Region zu behandeln.35 32 Vgl. ebd., S. 36. 33 Jan Kaus hat erst vor einigen Jahren Andrei Hvostov, Sveta Grigorjeva und Andrei Ivanov in seinem Literaturlehrbuch fürs Gymnasium in einer abschließenden chronologischen Übersicht des 20. Jahrhunderts – die allerdings bis in das Jahr 2013 reicht –, in der Ereignisse der estnischen und der Weltliteratur nebeneinanderstellt sind, auf der Seite der Literatur Estlands angeführt. (Jim Ashilevi, ein gänzlich estnisch sozialisierter Sohn einer estnischen Mutter und eines Ghanaer Vaters, scheint hier als einziger für alle estnischen Schriftsteller mit einem nichtrussischsprachigen Migrationshintergrund zu stehen). Im Lehrbuch selbst werden diese Autoren aber nicht behandelt – das erste Werk eines russischestnischen Autors wird erst aus dem Jahr 2008 genannt. Ein eigenes Kapitel (mit dem Titel „Estland und die Welt“) ist nur Sergej Dovlatov gewidmet, einem russischen Schriftsteller, der Mitte der 1970er Jahre in Estland als Journalist an der Zeitung Sowetskaja Estonia tätig war und diese Zeit auch in seinem Werk Der Kompromiss reflektiert hat, später aber nach New York emigrierte (vgl. Kaus, Jan: 20. sajandi kirjandus [Literatur des 20. Jahrhunderts]. Tallinn 2015, S. 92f.). In der Chronologie steht Dovlatovs Name allerdings auf der Seite der Weltliteratur. Zur Problematik der russisch-estnischen Literatur Estlands vgl. auch die Ausführungen von Aija Sakova in Basileviča, Olga; Sakova, Aija: Die Frage nach dem „Anderen“. Literatur als Spiegel und Gegenbild nationaler Identitäten am Beispiel der estnischen und lettischen Gegenwartsliteratur. In: Pasewalck/Bers/Bender, Zum Beispiel Estland (wie Anm. 21), S. 135–155, hier S. 145–153. 34 Vgl. den Anhang am Ende des Aufsatzes, 2. Auszug. 35 In der empfohlenen Literaturliste sowohl für die II. (4.–6. Klasse) als auch III. Schulstufe (7.– 9. Klasse) findet sich der Teilsatz „zumindest ein Prosa- oder Lyrikwerk eines örtlichen Autors“. Für die III. Schulstufe heißt es: „Gründlicher zu behandelnde Autoren. Einsichten in die Lebens-, Tätigkeits- und Schaffensgeschichte von Fred Jüssi, Lydia Koidula, Juhan Liiv, Viivi Luik, Oskar Luts, Lennart Meri, Jüri Parijõgi, Kristjan Jaak Peterson, Hando Runnel, Anton Hansen

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An dieser Stelle könnten den Lehrern durchaus auch deutschbaltische Autoren und ortsgebundene Texte vorgeschlagen werden (im Westen Estlands auch schwedische Autoren aus den schwedischen Dörfern aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, am Peipussee auch Texte aus den Dörfern russischer Altgläubiger). Die Texte sollten vorbereitet, für den Literatur- und Geschichtsunterricht auch übersetzt sein. Sie sollten altersgerecht didaktisiert vorliegen ebenso wie Hilfsmaterialien zum ­Autor und historischen Kontext (sowohl schriftliche als auch auditive und visuelle – warum nicht auch greif- und tastbare? – digital und altmodisch auf Papier). Zudem sollten die Bände der neuen Geschichte der baltischen Schriftkultur36 und die dazu geplante(n) Anthologie(n) in möglichst allen Schulbibliotheken zugänglich gemacht werden. Damit könnten sich die Lehrer ein besseres Bild von der deutschbaltischen Kultur und Literatur machen und eine breitere Textbasis erhalten, als die befragten Lehrerinnen sie besaßen. Vielleicht sollte man auch an eine gesonderte Anthologie für Schulen mit einem Lehr- und Lehrerbuch denken sowie neben einer allgemeineren Einführung auch an Arbeitshefte für jeden Kreis und jede größere Stadt. Die Ideen und Vorschläge der Deutschlehrerinnen sollten auf jeden Fall berücksichtigt werden. Sicherlich wird auch Marika Peekmanns Dissertationsprojekt Kulturelles Lernen im estnischen Deutschunterricht – Perspektiven und didaktische Potentiale an der Universität Tartu neue Ansätze und brauchbare Ideen bringen. Die Universitäten sollten Fortbildungskurse für Lehrer zu deutschbaltischer Literatur und Kultur anbieten (sowohl allgemeine Übersichten als auch zu speziellen Themen, einzelnen Autoren und Werken; sowohl auf Estnisch als auch auf Deutsch) und man sollte überlegen, wie man die Zusammenarbeit zwischen Estnisch-, Deutsch- und Geschichtslehrern zu deutschbaltischen Themen besser koordinieren könnte, sowohl auf der universitären Ebene als auch in den Schulen selbst. Idealerweise sollten Namen deutschbaltischer Schriftsteller auch in den staatlichen Lehrplänen auftauchen und für die Idee des Deutschen als erste Fremdsprache unter Entscheidungsträgern konsequenter geworben werden. Vielleicht wächst dann unter den Schülern und Eltern auch das Verständnis, dass es sich lohnt, Deutsch zu lernen.

Anhang: Zur estnischen Schule Die estnische Grundschule ist eine allgemeinbildende Einheitsschule, die neun Klassen umfasst und für alle Kinder obligatorisch ist; es gibt parallel estnisch- und russischsprachige Schulen (etwa jeder fünfte Schüler besucht eine russischsprachige Grundschule). Die Grundschule ist in drei Stufen gegliedert: ­Tammsaare und Marie Under und eines örtlich/regional relevanten Schriftstellers.“ Verordnung der Regierung der Republik Estland vom 6. Januar 2001, Nr. 1 (wie Anm. 12). 36 Vgl. Anm. 5.

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I. 1.–3. Klasse (die Stufe wird auch als algkool [Elementarschule] bezeichnet); II. 4.–6. Klasse; III. 7.–9. Klasse (die II. und III. Stufe werden auch als Progymnasium zusammengefasst). Die estnische Schulpflicht währt bis zum Abschluss der Grundschule oder bis zum 17. Lebensjahr. Für die Grundschule gilt das Prinzip der Wohnortnähe, es gibt allerdings Schulen mit erweitertem Unterricht, die Aufnahmetests machen und Schüler unabhängig von ihrem Wohnort aufnehmen dürfen. Nach der Grundschule kann man sich auf einem allgemeinbildenden Gymnasium fortbilden oder in eine Berufsschule gehen, in der man entweder nur einen bestimmten Beruf erlernt, der auf der Grundschuldbildung basiert, oder neben einem Beruf auch eine Mittelschulbildung (kutsekeskharidus) absolviert, die anschließend zur Hochschulbildung berechtigt. Nach dem Gymnasium kann man ein Studium an der Universität oder an einer Fachhochschule aufnehmen oder eine Ausbildung in einer Berufsschule machen, die auf dem Gymnasium aufbaut, oder einfach nur eine Berufsausbildung mit ­Grundschulvoraussetzung. Für einen erfolgreichen Abschluss der Grundschule müssen alle Jahresnoten der 9. Klasse mindestens zufriedenstellend sein. In der III. Stufe muss eine Kreativarbeit (loovtöö; z.  B. eine Forschungsarbeit zu einem ausgewählten Thema), ein Projekt (das Organisieren einer Veranstaltung, ein Auftritt, eine Präsentation usw.) oder ein Werk der Musik, bildenden Kunst oder Literatur oder Ähnliches vorgelegt werden. Außerdem müssen in drei Fächern staatliche Examen abgelegt werden, um möglichst objektive und vergleichbare Ergebnisse zu erzielen und die Chancengleichheit zu sichern: in Estnisch (für russischsprachige Schulen ein anderes als für estnischsprachige), in Mathematik sowie in einem weiteren Fach eigener Wahl (im Schuljahr 2019/20 und 2020/21 wurden die Staatsexamen für die Grundschule wegen der Covid-19-Pandemie ausgesetzt). Bei der Auswahl ihrer Schüler ziehen die Gymnasien die Ergebnisse der Staatsexamen und den Notendurchschnitt des Abschlusszeugnisses heran und veranstalten eigene Aufnahmetests, Vorstellungsgespräche usw. Das genaue Aufnahmeverfahren wird vom jeweiligen Gymnasium entschieden, muss auf der Homepage der Schule bekanntgemacht und darf von März bis Silvester nicht verändert werden, damit alle die gleichen Chancen haben. Die Gymnasien sind entweder nur estnischsprachig oder Gymnasien nach dem Modell 60/40 (d. h. 60 Prozent des Unterrichts findet auf Estnisch und 40 Prozent auf Russisch oder in einer anderen Fremdsprache statt). Außerdem gibt es die Lehrpläne International Baccalaureate und die Europa Schule. Auch das Gymnasium wird mit drei Staatsexamen abgeschlossen (in Estnisch, Mathematik und einer Fremdsprache), außerdem muss ein Examen der Schule ab- und eine Forschungsarbeit oder eine praktische Arbeit vorgelegt werden. Wer nach der Grundschule auf

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eine Gymnasialbildung verzichtet hat, kann sie später in einem Erwachsenengymnasium nachholen.

Staatlicher Lehrplan für die Grundschule37 Auszug I: Kapitel 2: Allgemeines Abschnitt 1: Grundwerte der Grundschulbildung § 2 Grundwerte der Grundschulbildung (1) Grundschulbildung unterstützt gleichermaßen die geistige, körperliche, ethische, soziale und emotionale Entwicklung des Schülers. Die Grundschule schafft die Bedingungen für eine ausgewogene Entwicklung der verschiedenen Fähigkeiten des Schülers, zu seiner Selbstverwirklichung und zur Herausbildung eines wissenschaftlich fundierten Weltbildes. [...] Abschnitt 2: Ziele des Unterrichts und der Erziehung [...] § 4 Kompetenzen (1) Im Sinne des staatlichen Lehrplans sind Kompetenzen ein Komplex von ­Wissen und Kenntnissen, Fertigkeiten und Haltungen, die in den Stand setzten, innerhalb eines gewissen Tätigkeitsbereichs kreativ, unternehmend und flexibel zu handeln. (2) Im staatlichen Lehrplan wird unterschieden zwischen allgemeinen, Fach- und innerhalb einer Schulstufe anzustrebenden Kompetenzen. Wie die Kompetenzen aufgebaut werden, wird im Lehrplan der Schule beschrieben. (3) Allgemeine Kompetenzen sind Fachbereiche und Schulfächer übergreifende Kompetenzen, die wichtig zum Heranwachsen als Mensch und Bürger sind. Allgemeine Kompetenzen entstehen durch alle Schulfächer und extracurriculare Aktivitäten hindurch. Die Entwicklung der allgemeinen Kompetenzen wird beobachtet und geleitet von Lehrern in ihrer gegenseitigen Zusammenarbeit und in der Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus. (4) Die bei den Schülern zu entwickelnden Kompetenzen sind: 1) Kultur- und Wertekompetenz – die Fähigkeit, menschliche Beziehungen und Tätigkeiten aus dem Standpunkt allgemeingültiger moralischer Normen zu betrachten; die eigene Gebundenheit mit anderen Menschen, mit der Ge37 Verabschiedet am 06.01.2011 Nr 1. In: Riigi Teataja (RT) [Staatsanzeiger] I. 14.01.2011. 1; in Kraft getreten am 17.01.2011; Veröffentlichungsvermerk: RT I. 14.02.2018. 8. URL: https:// www.riigiteataja.ee/akt/114022018008 (25.05.2021. Übersetzung und Hervorhebungen durch die Verf.).

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sellschaft, mit der Natur, mit dem kulturellen Erbe des eigenen Landes und dem anderer Länder wahrzunehmen und wertzuschätzen; kreatives Schaffen zu schätzen und Sinn für Schönheit zu entwickeln; allgemeinmenschliche und gesellschaftliche Werte, menschliche, kulturelle und natürliche Vielfalt zu schätzen; sich seiner Werturteile bewusst zu sein; [...] 5) Kommunikationskompetenz – die Fähigkeit, sich sowohl in der Muttersprache als auch in Fremdsprachen klar und deutlich, zweckgemäß und höflich auszudrücken, die Situationen sowie die Partner und die Sicherheit der Kommunikation berücksichtigend; sich vorzustellen, die eigenen Standpunkte vorzutragen und zu begründen; Fach- und Gebrauchstexte sowie Belletristik zu lesen und unterscheiden zu können; Texte verschiedener Gattungen zu schreiben, korrekt zitierend, angebrachte Sprachmittel und geeigneten Stil verwendend; Rechtschreibung und ausdrucksvolle Sprache sowie auf Vereinbarungen gestützte Kommunikationsweise zu schätzen; [...] Auszug II: Kapitel 2: Allgemeines Abschnitt 7: Organisation des Unterrichts [...] § 14 Übergreifende Themen (1) Übergreifende Themen sind Mittel zur Integration von allgemeinen und Fachkompetenzen, Schulfächern und Fachbereichen. Übergreifende Themen sind fachübergreifend und behandeln in der Gesellschaft priorisierte Themenbereiche, sie tragen dazu bei, eine Vorstellung von der Entwicklung der Gesellschaft als ein Ganzes zu schaffen, und unterstützen die Fähigkeit des Schülers, sein Wissen und seine Kenntnisse in verschiedenen Situationen anzuwenden. […] (3) Die im Unterricht und in der Erziehung zu behandelnden übergreifenden Themen sind: […] 4) Kulturelle Identität – angestrebt wird die Entwicklung des Schülers zu einem kulturbewussten Menschen, der die Rolle der Kultur bei der Entwicklung der Denk- und Handlungsweise der Menschen sowie die Veränderung der Kulturen im Laufe der Zeit versteht, der eine Vorstellung von der Vielfalt der Kulturen und von der Eigenart der durch die Kultur vorgegebenen Lebenspraktiken hat und der seine eigene Kultur und kulturelle Vielfalt wertschätzt und kulturell tolerant und auf Zusammenarbeit hin orientiert ist; […]

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Lettgallisch im Bildungssektor: Traditionen, Marginalisierung und aktuelle Entwicklungen in Status- und Revitalisierungsdiskursen Dieser Beitrag möchte einen Überblick über die Rolle geben, die die Regionalsprache Lettgallisch im Bildungssektor im Baltikum spielt. Zum einen soll in groben Zügen die historische gesellschaftliche Entwicklung des Lettgallischen mit einem Schwerpunkt auf dem Bildungsbereich dargestellt werden, zum anderen werden Entwicklungen der letzten Jahre diskutiert, in denen Diskurse und Einstellungen zum Lettgallischen eine Wandlung durchlaufen. Der theoretische Rahmen dafür sind internationale Diskussionen zu Regional- und Minderheitensprachen sowie Debatten in der Bildungspolitik. Damit soll nicht zuletzt Aufmerksamkeit für das Lettgallische in der deutschsprachigen Wahrnehmung des Baltikums generiert werden, das in einem Kompendium zu Bildungsgeschichte(n) im Baltikum nicht fehlen darf. Nach einer kurzen Einführung in die Region Lettgallen (Latgale) und das Lettgallische folgen aktuelle Beispiele für den sich ändernden Gebrauch des Lettgallischen und seine Einordung in Diskurse zu Minderheitensprachen. Schließlich wird auf jüngste politische Entwicklungen eingegangen, etwa im Kontext der Ausarbeitung neuer Lehrstandards für die staatlichen Schulen in Lettland.

Lettgallen und Lettgallisch Lettgallen ist die östlichste Region Lettlands, die primär kulturhistorisch wahrgenommen wird, wobei die Grenzen nicht immer deutlich sind.1 Im heutigen Lettland ist Lettgallen keine politisch-administrative Einheit, wird vom Staat jedoch in der Regionalplanung als Region definiert; zudem ist Lettgallen ein Wahlkreis bei nationalen Wahlen.

1 Allgemein zu Latgale und zum Lettgallischen vgl. Lazdiņa, Sanita; Marten, Heiko F.: Latgalian in Latvia: A Continuous Struggle for Political Recognition. Journal on Ethnopolitics and Minority Issues in Europe 11/1 (2012), S. 66–87; Plath, Tilman: Lettgallen. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. 07.06.2021. URL: https://ome-lexikon.unioldenburg.de/p32568 (29.09.2021).

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Historisch hat Lettgallen lange eine eigenständige Entwicklung durchlaufen. So blieb der Einfluss Schwedens in der Region gering; stattdessen verblieb Lettgallen lange unter polnischer Herrschaft und gehörte bis zum Ersten Weltkrieg nicht wie die anderen Regionen des heutigen Lettlands zu den baltischen Provinzen des russischen Reiches, sondern war Teil des Gouvernements Vitebsk. Als Folge davon entwickelte sich eine breite sprachliche Vielfalt; außerdem blieb die baltischsprachige Bevölkerung weitgehend katholisch – und die katholische Kirche hat bis heute eine wichtige identitätsstiftende Funktion. Aufgrund der geringen Verbindung zu anderen Gebieten des heutigen Lettlands konnte sich außerdem eine eigene Sprachund Schriftkultur entwickeln. Lettgallen wurde so zur ethnisch vielfältigsten, aber auch ökonomisch schwächsten Region im unabhängigen Lettland, nachdem Vertreter Latgales auf dem berühmten Kongress in Rēzekne 1917 den Wunsch geäußert hatten, sich mit den anderen lettischsprachigen Regionen zu vereinen. Am Lettgallischen lässt sich ablesen, wie die Rolle einer Varietät im Bildungssektor gut als Spiegel ihres Status fungieren kann.2 Auf das Entstehen einer Schriftsprachtradition seit dem 18. Jahrhundert folgten Russifizierung und Verbot Ende des 19. Jahrhunderts – wohingegen in den Ostseeprovinzen auch andere Sprachen als das Russische und insbesondere die lateinische Schrift eine wichtigere Rolle spielten. Zu einem ‚Wiedererwachen‘ kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das darin gipfelte, dass Lettgallisch auf regionaler Ebene in den 1920er Jahren offiziell in den Grundschulen verwendet wurde (allerdings mit dem Ziel, zum Standardlettischen als Unterrichtssprache in den höheren Klassen hinzuführen). Die offizielle Funktion und der Gebrauch des Lettgallischen in der Schule wurden eingestellt, als nach der Etablierung der autoritären Strukturen durch Kārlis Ulmanis 1934 die sprachliche Einheit Lettlands betont wurde. Zu Sowjetzeiten wurde – in einer bemerkenswerten Kontinuität der sprachlichen Zentralisierung – diese Einstellung zum Lettgallischen aufrechterhalten. Lettgallisch überlebte als Familiensprache, primär in ländlichen Gebieten, und in der katholischen Kirche. Die langjährige Verbannung aus dem Bildungssystem und die Marginalisierung seit den 1930er Jahren hatten nicht zuletzt eine geringe Alphabetisierung im Lettgallischen zur Folge, die zu Unsicherheiten im Gebrauch führten, die bis heute nachwirken. Seit den 1990er Jahren kam es zu einer Welle des Aktivismus durch engagierte Sprecherinnen und Sprecher, nicht zuletzt durch die Orientierung an vergleichbaren Bewegungen in Westeuropa. Diese mündete z. B. 2004 in eine erste internationale Konferenz an der Hochschule Rēzekne, auf der es zu einem Austausch von lettgallischen Aktivisten mit Expert/innen aus ‚alten‘ EU-Ländern kam. Allerdings gab es 2 Für einen Überblick zum Lettgallischen im Bildungssystem siehe auch Marten, Heiko F.; Šuplinska, Ilga; Lazdiņa, Sanita: Latgalian. The Latgalian Language in Education in Latvia. Ljouwert 2009. URL: https://www.mercator-research.eu/fileadmin/mercator/documents/regional_dossiers/latgalian_in_latvia.pdf (31.08.2021, eine aktualisierte Neuauflage erscheint voraussichtlich im Laufe des Jahres 2022).

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wenig offizielle Unterstützung; der Arbeit der Aktivisten stand nach wie vor ein zentralistischer Diskurs gegenüber. Eine wiederkehrende Argumentation war, dass die lettische Sprachpolitik mit der Konsolidierung des Lettischen als Staatssprache zu tun habe und das Lettgallische warten müsse. Damit wurden Einstellungen zu einer ‚kleineren‘ Varietät und der potentiellen Bedrohung eines Zentralstaates durch diese, unter denen Sprecher des Lettischen zu Sowjetzeiten selbst zu leiden hatten, auf das Lettgallische übertragen. Vor dem Hintergrund der separaten Entwicklung bei gleichzeitig gewünschter Zugehörigkeit zu Lettland gibt es eine Tradition der Auseinandersetzung, ob es sich beim Lettgallischen um eine eigenständige Sprache oder einen Dialekt des Lettischen handelt. Das lettische Sprachgesetz von 1999 definiert die lettgallische Schriftsprache als „historische Variante des Lettischen“.3 Der heutige Schriftstandard wurde erst 2007 offiziell anerkannt, nachdem es jedoch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Standardisierung gegeben hatte. In der Sprachwissenschaft ist heute die gängige Sichtweise, Lettgallisch als eine von zwei Varietäten neben dem Standardlettischen unter dem Dach des Lettischen anzusehen. Dies wird bestärkt durch die Einordnung in den ISO-Code 639, in dem Lettisch als lv bzw. lav mit den Subkategorien lvs für Standardlettisch und ltg für Lettgallisch erscheint. Diese Einordnung erlaubt es, Lettgallisch mit seiner eigenen Geschichte und aufgrund seiner schriftsprachlichen Tradition anders zu bewerten als andere regionale baltische Varietäten auf dem Gebiet des heutigen Lettlands; gleichzeitig wird die Zugehörigkeit zum Lettischen betont. Dies ist insofern gerechtfertigt, als die Lettgallischsprecher sich weitgehend als Sub-­Ethnos des Lettischen empfinden. Diese Klassifikation steht somit in der Tradition der „Regionalsprachen“4 – das Verhältnis von Lettgallisch und Standardlettisch ähnelt in Hinblick auf ihren geringen Abstand sowie auf die ethnische Selbstzuschreibung der Sprecher/innen z.  B. dem Verhältnis von Niederdeutsch und Standardhochdeutsch oder von Scots und Schottischem Englisch.5 Im Zensus von 2011 gaben 8,8 Prozent oder 165.000 Personen in Lettland an, regelmäßig Lettgallisch zu gebrauchen; in Lettgallen betrug dieser Wert 35 Prozent. Bis zum Alter von 20 Jahren gaben allerdings nur 6 Prozent der Bevölkerung Lett-

3 „latgaliešu rakstu valoda kā vēsturisks latviešu valodas paveids“. Valsts valodas likums [Offizielles Sprachgesetz]. 09.12.1999, Art. 3. URL: https://likumi.lv/ta/id/14740-valsts-valodas-likums (08.06. 2021). 4 Vgl. Lazdiņa, Sanita; Marten, Heiko F.; Pošeiko, Solvita: The Latgalian Language as a Regional Language in Latvia. A Characterisation and Implications in the Context of Languages in Europe. In: Via Latgalica 3 (2010), S. 6–18; Wicherkiewicz, Tomasz: Regionalne języki kolateralne Europy – porównawcze studia przypadku z polityki językowej [Regionale Kollateralsprachen in Europa – vergleichende Fallstudien zur Sprachenpolitik]. Poznań 2014; Nau, Nicole: Teaching Latgalian: Problems and Solutions (Including some Scottish Inspirations). 26.04.2019. URL: https://ltgnui.files. wordpress.com/2019/04/nauseminars26april2019.pdf (08.06.2021). 5 Siehe zu dieser Parallele ausführlich Nau, Teaching Latgalian (wie Anm. 4).

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lands an, Lettgallisch zu gebrauchen.6 Dies deutet auf eine nur teilweise Weitergabe an die nächste Generation hin, zeigt jedoch auch, dass Lettgallisch (noch) keine Sprache ist, die ausschließlich von Älteren gebraucht wird.

Die heutige Situation und aktuelle Entwicklungen 1.) Diskurse und Maßnahmen ‚von oben‘ und ‚von unten‘ Die historische Entwicklung des Lettgallischen und seine Marginalisierung haben massive Auswirkungen bis in die heutige Zeit. Nach wie vor gibt es keinen Gebrauch in offiziellen Kontexten und keine offizielle Anerkennung. Die in vieler Hinsicht salomonische Lösung der Eigenständigkeit unter dem ‚Dach‘ des Lettischen wird nur wenig wahrgenommen, und juristisch bleibt unklar, ob Lettgallisch als Teil des Lettischen anzusehen ist oder nicht. Ein prominenter Konflikt entspann sich etwa 2016 um die Aufstellung von Straßenschildern mit Lettgallisch als erster und Lettisch als zweiter Sprache in der Kleinstadt Kārsava im Norden Lettgallens: Auf Betreiben des staatlichen Sprachzentrums, d. h. der Behörde, die die Einhaltung des Sprachgesetzes kontrolliert, wurde der Stadtverwaltung mit einer deutlichen Strafe gedroht. Andererseits sind zweisprachige sowie vereinzelt auch einsprachige Schilder auf Lettgallisch heute in einigen kleineren Orten der Region zu finden, z. B. in Ludza. Auf der Ebene der Sprachgemeinschaft herrscht hingegen weitgehend Einigkeit darüber, dass die lettgallische Sprache von herausragender Bedeutung für die regionale Identität und Kultur ist. Nach einer Studie dazu, was als besonders wichtig für Latgale und die Identität seiner Bewohner angesehen wird, liegt die lettgallische Sprache hinter der katholischen Wallfahrtskirche Aglona auf dem zweiten Platz.7 Im Gegensatz zur offiziellen Zurückhaltung gibt es eine aktive Lettgallischszene, die vor allem praktische Möglichkeiten sucht, das Lettgallische zu stützen und z. B. Kurse für Jugendliche organisiert. Infolge des Engagements in den 1990er Jahren, durch Diskussionen zu Minderheitenrechten im Kontext des EU-Beitritts und durch veränderte Diskurse in jüngster Zeit ist es auch zu einem zunehmenden Gebrauch in (halb-)offiziellen Kontexten gekommen. Zumeist erfolgt dieser auf individuelle Initiative, bedingt durch ein mittlerweile verstärktes Prestige. Diese neue Selbstverständlichkeit spiegelt sich nicht nur in Musikgruppen, die schon seit den 1990er Jahren auf Lettgallisch singen und dabei häufig traditionelle und zeitgenössische 6 Vgl. Centrālā statistikas pārvalde [Zentrales Statistikamt]: Preses relīze. Latviešu valodas paveida – latgaliešu valodas lietošana [Pressemitteilung. Gebrauch der Variante der lettischen Sprache – der lettgallischen Sprache]. 06.07.2012. URL: https://www.csb.gov.lv/lv/statistika/statistikas-temas/ iedzivotaji/tautas-skaitisana/meklet-tema/1256-latviesu-valodas-paveida-latgaliesu-valodas (08.06. 2021). 7 Vgl. Šuplinska, Ilga: Latgales lingvoteritoriālās vārdnīcas koncepti [Konzepte des Lettgallischen Linguoterritorialen Wörterbuches]. In: Via Latgalica 3 (2010), S. 124–132, hier S. 126.

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Elemente verbinden, sondern auch in einer größeren Zahl an Print- und Onlinemedien, wie z. B. in einer Rubrik auf dem Portal der öffentlich-rechtlichen Medien Lettlands mit gelegentlichen Beiträgen auf Lettgallisch.8 Gleichzeitig leidet das Lettgallische aber auch heute noch darunter, dass nicht nur Fragen der offiziellen Anerkennung und des Gebrauchs im Bildungssystem diskutiert werden, sondern dass auch in Kreisen von Aktivist/innen und Wissenschaftler/innen Diskussionen bestehen, die eher kontraproduktiv für die moderne Entwicklung sind. So sind Debatten über den ‚korrekten‘ Sprachgebrauch oder das Verhältnis von Standard, lokalen Varietäten und modernisierten Formen verbreitet; gerade unter jungen, kreativen Sprechern und in der kleinen Musik- und Literaturszene gibt es Entwicklungen, die mit traditionellen Spracheinstellungen schwer in Einklang zu bringen sind. So schließt der polnische Experte für Regionalsprachen Tomasz Wicherkiewicz in einem Interview, das auf dem lettgallischsprachigen Portal LaKuGa veröffentlicht wurde, dass Lettgallisch im Interesse seiner Vitalität vor allem „modern, sexy und besonders“ sein müsse.9 Beispiele für den Gebrauch in zeitgenössischen Kontexten finden sich jedoch auch in der Kommodifizierung des Lettgallischen im Tourismus und als Ausdruck regionaler Identität auf Lebensmitteln, Kulturprodukten und anderen Waren.10 Auch konnte ein verstärktes – oft symbolisches – Auftreten in den Linguistic Landscapes beobachtet werden, das insgesamt allerdings gering ist. Ein prominentes Beispiel, das das größere Prestige in der Sprachgemeinschaft verdeutlicht, ist die Konzerthalle „Gors / Gars“ in Rēzekne, in deren Logo mit der Ähnlichkeit von Standardlettisch und Lettgallisch gespielt wird.11 Zudem haben sich in den vergangenen Jahren auch einige Diskurse über das Lettgallische außerhalb Lettgallens verändert, nicht zuletzt aufgrund der innerlettischen Migration nach Riga. Die Präsenz politischer Bewegungen und die aktive Teilhabe von Lettgallischsprecherinnen und -sprechern an Politik, Bildung, Kultur, Wirtschaft und anderen Bereichen verschaffen dem Lettgallischen außerhalb der Region Aufmerksamkeit. Insbesondere seit 2012 sind Kultur und Sprache Lettgallens auch in gesamtlettischen Kontexten betont worden – wenngleich unterhalb der Ebene offi18 Vgl. LSM.lv: Portal „Latgaliski“. URL: https://www.lsm.lv/temas/latgaliski/ (08.06.2021). 19 Vilcāne, Vineta: Profesors: padorit volūdu modernu, „sekseigu“ i eipašu [Professor: Sprache modern, „sexy“ und besonders machen]. In: Lakuga.lv. 07.05.2019. URL: https://www.lakuga.lv/ 2019/05/07/profesors-padorit-voludu-modernu-sekseigu-i-eipasu/ (08.06.2021). 10 Vgl. Lazdiņa, Sanita: A Transition from Spontaneity to Planning? Economic Values and Educational Policies in the Process of Revitalizing the Regional Language of Latgalian (Latvia). In: Current Issues in Language Planning 14/3–4 (2013), S. 382–402. 11 Vgl. Marten, Heiko F.; Lazdiņa, Sanita: Latgalian in Latvia: How a Minority Language Community Gains Voice during Societal Negotiations about the Status of Two Major Languages. In: Pütz, Martin; Mundt, Nele (Hg.): Vanishing Languages in Context. Ideological, Attitudinal and Social Identity Perspectives, Frankfurt/M. u. a. 2016 (Duisburger Arbeiten zur Sprach- und Kulturwissenschaft 114), S. 177–194.

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zieller Anerkennung. Dies ist u. a. im Kontext des (erfolglosen) Sprachreferendums zu sehen, in dem über Russisch als zweite offizielle Sprache Lettlands abgestimmt wurde. Dass Latgale mehrheitlich für die Anerkennung des Russischen stimmte, wurde von Politikern und Medien zum Anlass genommen, sich für eine verstärkte Regionalförderung einzusetzen, von der auch das Lettgallische profitierte.12 Heute gibt es somit Beispiele dafür, dass auch außerhalb Latgales der Wert des Lettgallischen erkannt wird, und dies nicht zuletzt im ökonomischen Sinne. So entschied die Bank „Citadele“ 2017, an ihren Geldautomaten – neben Standardlettisch, Englisch und Russisch – systematisch auch „den lettgallischen Dialekt“ anzubieten (übrigens auf Kosten des Deutschen, das zuvor an dieser Stelle präsent war).13 Andere Beispiele sind die „Lettgallische Vertretung“ als Veranstaltungs- und Begegnungsstätte in der Altstadt von Riga oder die Präsenz von Lettgallisch z. B. auf Speisekarten (so etwa im Café „Kas dārzā“, das – zumindest in der Vor-CoronaZeit – eine zweisprachige lettisch-lettgallische Karte anbot).14 Ein besonderer Fall ist der Imbiss „Ausmeņa kebabs“, der, aus Rēzekne stammend, eine Filiale in Riga eröffnet hat, in der fast alle Informationen im Inneren wie im Äußeren und auf der Facebookseite auf Lettgallisch sind: Dadurch wurde ein semiotischer Raum in Riga geschaffen, der auch zur Vernetzung der ‚lettgallischen Diaspora‘ beiträgt.15 Auf offizieller Ebene ist zudem der Kongress zu nennen, der als Vorbote der 100-Jahr-Feiern der lettischen Unabhängigkeit 2018 im Jahr 2017 in Rēzekne stattfand. Dieser beschloss eine Resolution zum Status des Lettgallischen; im Juni 2018 wurde der 27. April als Tag des Kongresses auf Beschluss der Saeima, des lettischen Parlamentes, in den offiziellen Kalender Lettlands aufgenommen. Eine Studie in Baltinava, einer kleinen Gemeinde im Norden Lettgallens mit einem der höchsten Anteile an Lettgallischsprechern,16 zeigt, dass diese vorsichtige Aufwertung auch auf lokaler Ebene wahrgenommen wird. Insbesondere in Kultur, 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. o. A.: Latvijā ievieš bankomātus latgaliešu valodā [In Lettland werden Geldautomaten auf Lettgallisch eingeführt]. In: Skaties.lv. 05.11.2017. URL: https://skaties.lv/zinas/latvija/sabiedriba/latvija-ievies-bankomatus-latgaliesu-valoda/ (08.06.2021). 14 Eigene Linguistic-Landscape-Beobachtungen im Sommer 2019. 15 Vgl. Lazdiņa, Sanita; Marten, Heiko F.: Facebook Practices as a Reflection of Language Management in the Workplace: The Case of a Kebab Shop in Riga. Vortrag auf der Konferenz „Endangered regional and minority languages in media in the digital era“. 19.–20. Oktober 2018 im Võro Instituut, Võro (Estland); dies., Latgalian in Latvia (wie Anm. 11) sowie dies.: Die Analyse von Linguistic Landscapes im Kontext des Verhältnisses von Sprache und Migration. In: Ptashnyk, Stefaniya; Beckert, Ronny; Wolf-Farré, Patrick; Wolny, Matthias (Hg.): Gegenwärtige Sprachkontakte im Kontext der Migration. Heidelberg 2016 (Schriften des Europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften 5), S. 77–98. 16 Vgl. Lazdiņa, Sanita: Latgalian in Latvia: Layperson Regards to Status and Process of Revitalization. In: Dies.; Marten, Heiko F. (Hg.): Multilingualism in the Baltic States. Societal Discourses and Contact Phenomena. London 2019, S. 59–88.

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Medien und Tourismus misst die Bevölkerung dem Lettgallischen ein höheres Prestige bei als vor einigen Jahren. Dieses Prestige und sein Gebrauch in der jüngeren Bevölkerung deuten auf eine positivere Einstellung auch unter Personen hin, die selbst kein Lettgallisch sprechen. Ein Teil der Studie bestand aus einem ‚Experiment‘: In Interviews auf der Straße wurde gefragt, was Lettgallisch eigentlich ist. Die Antworten reichten von offenem Staunen über die Frage bis zu klaren Antworten, dass es eine eigene Sprache, ein Dialekt oder eine Varietät des Lettischen sei. Die Studie fasst zusammen: „Many respondents also feel a lot of respect to Latgalian as their mother tongue or as the language of older generations.“17 Gleichzeitig spiegelt sich die nach wie vor bestehende Unsicherheit in Hinblick auf die Rolle des Lettgallischen in der Gesellschaft: „The analysis of how respondents define Latgalian reveals, on the one hand, societal discourse about the official status of Latgalian but, on the other hand, it also reflects the impact of Soviet-era educational policies. The obscurity of how to define Latgalian, the uncertainty of respondents about what is linguistically or politically correct, points to a missing discourse about linguistic issues at schools. This applies not only to people who graduated school during the Soviet era, but also to younger generations.“18

Somit lässt sich schlussfolgern, dass die Vielfalt der Aktivitäten und die ­pluralistischen Diskurse im Europa des 21. Jahrhunderts gesellschaftlichen Status und Prestige des Lettgallischen deutlich aufgewertet haben. Andererseits besteht aber ein weitgehend diglossisches Verhältnis zwischen Standardlettisch und Lettgallisch fort – Lettgallisch wird vor allem im privaten Bereich gebraucht, offizielle Anerkennung bleibt weitgehend versagt. Die ‚Definitionen‘ des Lettgallischen in Baltinava zeigen, dass Lettgallisch als Wert an sich und als Möglichkeit gesehen wird, als Marke für Lettgallen zu wirken.19 2.) Lettgallisch im Bildungssystem des 21. Jahrhunderts Ähnlich wie in der Gesellschaft insgesamt in den letzten Jahren eine Aufwertung des Lettgallischen stattgefunden hat, die ihre Grenzen dort hat, wo offiziellere Bereiche betroffen sind, wird auch sein Status im Bildungssystem heute von einer Mischung aus individuellen Initiativen und einzelnen offiziellen Maßnahmen unterhalb der Ebene einer kohärenten Sprachpolitik beeinflusst. Es gab bislang an lettischen Schulen kein offizielles Fach „Lettgallisch“. Eine Neuerung der letzten Jahre ist jedoch das Fach „Regionalkunde“ mit einem Lettgallischanteil – auch dieser Schritt wurde möglicherweise durch die sich ändernden Diskurse nach dem Referendum von 2012 beeinflusst. Erste Berichte von Lehrkräften erwecken den Eindruck, dass das Fach 17 Ebd., S. 85. 18 Ebd., S. 84f. 19 Vgl. ebd., S. 85.

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weitgehend auf positive Resonanz stößt und nicht nur von Schülern besucht wird, die aus traditionellen lettgallischsprechenden Familien stammen.20 Dies entspricht auch den Ergebnissen einer Studie, nach der 77 Prozent der Befragten Lettgallisch an den Schulen für wünschenswert hielten (der Großteil davon wünschte sich Lettgallisch als Wahlfach, d. h. keinen obligatorischen Unterricht).21 Gleichzeitig werden seit einigen Jahren an engagierten Schulen freiwillige Nachmittagskurse für die 1.–9. Klasse angeboten und es gibt Sommerschulen und andere Aktivitäten. Auf Hochschulebene war Lettgallisch Teil philologischer Studien in Rēzekne; seit der Einstellung des Programmes 2019 aufgrund zu geringer Studierendenzahlen gibt es ein Modul mit den Kursen „Lettgallisch“, „Lettgallische Literatur“ und „Regionalkunde“ (novadmacības; wörtl. „Landkreiskunde“) als Teil der Lehrerausbildung für Lettisch als Erst- und Zweitsprache. Individuelle Forschungsarbeiten und einige größere Projekte zur Struktur des Lettgallischen in der Soziolinguistik, Folkloristik oder Literaturwissenschaft ermöglichen eine relativ regelmäßige Präsenz im akademischen Bereich. Von 2008 bis 2018 gab es jährliche „Latgalistika“-Konferenzen, die abwechselnd in Rēzekne, Riga und an Universitäten außerhalb Lettlands (St. Petersburg, Poznań, Greifswald) veranstaltet wurden, deren jährlicher Rhythmus in Ermangelung einer ‚kritischen Masse‘ an Interessierten jedoch unterbrochen ist. Zudem gab es mit der „Via Latgalica“ von 2008 bis 2018 eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für Beiträge aus der Philologie und anderen Fächern (eine Wiederbelebung der Zeitschrift ist derzeit in der Diskussion; außerdem wurden Beiträge der 5. „Latgalistika“-Konferenz von 2012 noch 2021 als Sondernummer der „Via Latgalica“ mit aktuellem Vorwort veröffentlicht).22 Vom Unterricht und institutionalisierten Kontexten ist der spontane Gebrauch in Bildungseinrichtungen zu unterscheiden, der oft informell, bisweilen aber auch in formelleren Situationen stattfindet. So ist es heute – anders als zu Sowjetzeiten – denkbar, dass einzelne Personen auch in offizielleren Domänen Lettgallisch sprechen. Gerade in kleineren Gemeinden mit ihren Landschulen wissen viele Menschen, mit wem in welcher Sprache kommuniziert werden kann, auch wenn offizielle Dokumente nur auf Lettisch existieren. Dies gibt engagierten Lehrkräften und Schulleitern die Möglichkeit, eine Atmosphäre zu schaffen, in der der Gebrauch des Lettgallischen ‚normalisiert‘, also im Kontext der Schule als alltäglich geframt wird. Ein Beispiel dafür ist die Schule in Baltinava mit ihren 32 Schülern (2018) in den Klassen 10–12, deren Direktor aus Enthusiasmus, aber ohne finanzielle Unterstützung Lettgallisch als Teil des Regionalkundeunterrichtes anbietet. 20 Vgl. Lazdiņa, Sanita; Marten, Heiko F.: Latvia. In: Lapresta-Rey, Cecilio; Huguet, Ángel (Hg.): Multilingualism in European Language Education. Bristol 2019, S. 174–193, hier S. 187. 21 Vgl. Šuplinska; Ilga; Lazdiņa, Sanita (Hg.): Valodas Austrumlatvijā: pētījuma dati un rezultāti. Via Latgalica Humanitāro zinātņu žurnāla pielikums [Sprachen in Ostlettland: Forschungsdaten und Ergebnisse. Beilage zur geisteswissenschaftlichen Zeitschrift Via Latgalica]. Rēzekne 2009. 22 Vgl. dazu auch Lazdiņa, Latgalian in Latvia (wie Anm. 16), S. 60.

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Ein Problem ist allerdings der Mangel an Unterrichtsmaterialien, die oft individuell erstellt werden müssen. Nau fasst zu Lern- bzw. Lehrmaterialien jüngeren Datums zusammen: „There are a few teaching aids for Latgalian that have been approved for use in schools and some others that may be used additionally.“23 Die wichtigsten Beispiele für Materialien, die in den vergangenen Jahren erarbeitet wurden, sind danach ein ABC für Kindergärten und Grundschulen,24 ein Lehrbuch im Kontext der Regionalstudien für die 4. Klasse25 und ein Buch mit Lernspielen zur lettgallischen Kultur und Sprache für Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren.26 Es besteht jedoch großer Bedarf an weiteren Materialien, die durch spontan erstellte Aufgaben und Online-Materialien nur bedingt ersetzt werden können. Letztlich zeigt sich, dass die Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien von individuellem Engagement abhängt, offizielle Unterstützung bislang aber kaum vorhanden war. Immerhin gibt es aber heute – im Gegensatz zur Sowjetzeit – Nischen, in denen ein derartiges Engagement möglich ist.

Der Status des Lettgallischen anhand internationaler Sprachklassifikationen Die bisherigen Ausführungen erlauben eine Einordnung des Lettgallischen anhand internationaler Klassifikationen von Minderheitensprachen, die im Weiteren für den Bildungsbereich erfolgen soll. Wie oben angedeutet, ist Lettgallisch als ‚Regionalsprache‘ mit anderen Sprachen zu vergleichen, die der Hauptvarietät einer ­Staatssprache ähneln (z. B. Niederdeutsch, Scots, Okzitanisch, Kaschubisch, Võro).27 Diese unterscheiden sich von Minderheitensprachen wie z. B. dem Sorbischen und Friesischen in Deutschland oder dem Livischen in Lettland in Hinblick auf die ethnische Selbstverortung der Sprecher. Allerdings leiden Regionalsprachen gerade dadurch oft unter einem unklaren Status. Staatliche Initiativen sind in anderen Ländern stärker, nicht zuletzt, weil Lettland nicht die Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen unterzeichnet hat, wovon z. B. Scots und Niederdeutsch profitieren. Im Baltikum drängt sich ein Vergleich mit Võro im Süden Estlands auf, für das eine ähnliche Diskussion zur Einordnung als Sprache oder Dialekt und eine vergleichbare ethnische Selbstverortung zu beobachten ist. Jedoch wird auch die unterschiedliche Anerkennung durch die offizielle Bildungspolitik sichtbar: So wird das 23 Nau, Teaching Latgalian (wie Anm. 4), Folie 17. 24 Vgl. Cibuļs, Juris; Leikuma, Lidija: Skreineite [Die Lade]. Rīga 2014. 25 Vgl. Leikuma, Lideja; Dundure, Veronika; Vulāne, Anna: Oluteņš. Latgalīšu rokstu volūda 4. Klasei [Die Quelle. Die lettgallische Schriftsprache für die 4. Klasse]. Rīga 2017. 26 Vgl. Šuplinska, Ilga; Rundāne, Liga; Andrejeva, Aelita: Gostūs pi Boņuka. Stuosti bārnim par Latgolu [Zu Besuch bei Boņuks. Erzählungen für Kinder über Lettgallen]. Rēzekne 2017. 27 Vgl. Wicherkiewicz, Regionalne języki (wie Anm. 4).

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„Võro Instituut“ als wissenschaftliches Forschungsinstitut staatlich gefördert, und auch der Gebrauch in Schulen war bislang fortgeschrittener, wenngleich die aktuelle Bildungsreform in Lettland diese Lücke verkleinert (siehe unten).28 Eine Bewertung des Lettgallischen anhand globaler Klassifikationen von Minderheitensprachen erfolgte in den Jahren 2010–12.29 Dabei wurde Lettgallisch auf Stufe  5 des einflussreichen GIDS-Modells (Graded Intergenerational Disruption Scale)30 eingeordnet: Es gibt eine vereinzelte schulische Präsenz, die familiäre Weitergabe an die kommende Generation ist relativ sicher, aber in offiziellen Kontexten ist Lettgallisch wenig verbreitet. Im Folgenden soll die Wahrscheinlichkeit des Spracherhalts durch eine Klassifizierung anhand des sehr viel detaillierteren UNESCOBerichtes über „Language Vitality and Endangerment“ analysiert werden.31 Dabei beschränkt sich die Analyse auf diejenigen der insgesamt neun Kriterien, die von besonderer Bedeutung im Bildungskontext sind. In der Klassifikation zum Gebrauch einer Varietät in verschiedenen Domänen ist Lettgallisch am ehesten als „limited“ zu bezeichnen, also auf Stufe 2 auf der von 0 bis 5 reichenden Skala (vgl. Tabelle 1): Aufgrund der Diglossie mit dem Standardlettischen sind die Domänen des regelmäßigen Gebrauchs begrenzt. In vielen Familien wird Lettisch zusätzlich oder hauptsächlich gebraucht. Da in vielen Familien der Sprachwechsel schon eingetreten ist, wäre eine Klassifizierung als „begins to penetrate even home domains“ (Stufe 3) somit zu stark. Andererseits ist es nicht gerechtfertigt, von „very restricted domains“ oder „very few functions“ zu sprechen, da Lettgallisch gerade in den vergangenen Jahren – wie oben geschildert – auch in öffentlichen Funktionen wieder verstärkt von Bedeutung ist. Degree of Endanger- Grade Domains and Functions ment universal use 5 The language is used in all domains and for all functions multilingual parity 4 Two or more languages may be used in most social domains and for most functions The language is used in home domains and for many dwindling domains 3 functions, but the dominant language begins to ­penetrate even home domains. 28 Vgl. z. B. Brown, Kara D.; Koreinik, Kadri: Contested Counting? What the Census and Schools Reveal about Võro in Southeastern Estonia. In: Lazdiņa/Marten, Multilingualism in the Baltic States (wie Anm. 16), S. 89–121, hier S. 109–112. 29 Vgl. Lazdiņa/Marten, Latgalian in Latvia (wie Anm. 1). 30 Vgl. Fishman, Joshua A. (Hg.): Can Threatened Languages Be Saved? Clevedon 2001. 31 Vgl. UNESCO Ad Hoc Expert Group on Endangered Languages: Language Vitality and Endangerment. Document Submitted to the International Expert Meeting on UNESCO Programme Safeguarding of Endangered Languages. Paris, 10–12 March 2003. URL: http://www.unesco.org/ new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/CLT/pdf/Language_vitality_and_endangerment_EN.pdf (10.06.2021).

Lettgallisch im Bildungssektor Limited or formal 2 domains highly limited domains 1 extinct

0

147

The language is used in limited social domains and for several functions The language is used only in a very restricted number of domains and for a very few functions The language is not used

Tabelle 1: Einordnung des Lettgallischen in die Domänenskala des UNESCO-Berichtes (Language Vitality and Endangerment, S. 10). Von besonderer Relevanz für das Bildungssystem ist die Skala zur Verfügbarkeit schriftlichen Materials. Hier ist eine Klassifizierung schwieriger, da das Lettgallische Elemente der Stufen 2, 3, 4 und sogar der höchsten Stufe 5 vereint (vgl. Tabelle 2). Nur durch ausreichendes schriftliches Material können eine Alphabetisierung und damit ein umfangreicherer Umgang mit einer Sprache garantiert werden. Schriftliche Materialien für Lettgallisch existieren – wie oben dargestellt – in geringem Maße und werden bei Weitem nicht in allen Schulen Lettgallens eingesetzt. In der Verwaltung wird die lettgallische Schriftsprache gar nicht, im Bildungssektor nur in sehr eng definierten Kontexten gebraucht. Es gibt einzelne Print- und Onlinemedien, die allerdings selten erscheinen. Gut aufgestellt ist das Lettgallische jedoch im akademischen Kontext – es gibt eine Orthographie und in bescheidenem Umfang auch (historische und zeitgenössische) Grammatiken und Literatur. In welchem Maße Schüler/innen mit der lettgallischen Schriftsprache in Kontakt kommen, hängt letztlich von der einzelnen Schule ab. Für viele Kinder der Region ist somit die Formulierung „may be exposed to the written form“ zutreffend, da der Gebrauch nur in geringem Maße und zufällig oder auf ausdrückliche Initiative hin stattfindet. Stufe Unesco-Beschreibung There is an established orthography, literacy tradition with grammars, dictionaries, texts, literature, and everyday media. Writing in the language is used in administration and education

4

3

Situation des Lettgallischen Orthographie, Grammatik etc. existieren. Geringer, aber steigender Gebrauch in den Medien. Kein schriftlicher Gebrauch in der Verwaltung. Im Bildungssektor vereinzelter Gebrauch im Unterricht; kein schriftlicher Gebrauch in der Bildungsverwaltung. Written materials exist, and at school, Begrenzte Existenz und Einsatz von Unchildren are developing literacy in the terrichtsmaterialien. Kein schriftlicher language. Writing in the language is not Gebrauch in der Verwaltung. used in administration. Written materials exist and children Kinder können in Schulen in Latgale may be exposed to the written form mit schriftlichem Lettgallisch in Berühat school. Literacy is not promoted rung kommen – in Abhängigkeit von through print media. Einzelentscheidungen.

148 2

1

0

Heiko F. Marten und Sanita Martena Written materials exist, but they may only be useful for some members of the community; and for others, they may have a symbolic significance. Literacy education in the language is not a part of the school curriculum. A practical orthography is known to the community and some material is being written. No orthography available to the community

Lettgallisch war bislang nur sehr begrenzt Teil der Lehrpläne; jüngste Änderungen schaffen klarere Grundlagen.

Trifft nicht zu.

Trifft nicht zu.

Tabelle 2: Einordnung des Lettgallischen entsprechend der Skala „Accessibility of Written Materials“ des UNESCO-Berichtes (Language Vitality and Endangerment, S. 12). Ein dritter Faktor soll hier schließlich noch angesprochen werden: Neue Medien und Domänen. Hier wird im UNESCO-Bericht auch Bildung explizit genannt. Stufe 5 4 3 2 1 0

Benennung dynamic robust/active receptive coping minimal inactive

Beschreibung The language is used in all new domains. The language is used in most new domains. The language is used in many new domains. The language is used in some new domains. The language is used only in a few new domains. The language is not used in any new domains.

Tabelle 3: Skala „Response to New Media and Domains“ des UNESCO-Berichtes (S. 11). Hier ist Lettgallisch im Vergleich zu vielen anderen Minderheitensprachen in einer eher guten Verfassung. In den Neuen Medien wird Lettgallisch durchaus verwendet: Es gibt sowohl Webseiten wie auch eine umfangreiche private Nutzung zur Kommunikation über Smartphones, Facebook u.  a. Allerdings stoßen diese Praktiken an ihre Grenzen, wo es um eine systematische Einbindung z. B. in die Entwicklung von Textverarbeitungsprogrammen für Computer oder Handys geht; wo diese ­existieren, ist dies oft eine Folge individueller Initiativen. Es geht hier also weniger um die Frage der Existenz an sich als um die Verbreitung. Darauf deutet auch der UNESCO-Bericht hin: „The type and use of these new domains will vary according to the local context. For example, an endangered language may be used in one new domain, perhaps broadcast media including radio and television, but only for a half-hour a week.

Lettgallisch im Bildungssektor

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Though the availability of these media gives the language a potentially high ranking, the extreme time limitation results in limited exposure to the language, which thus would rank only a 2 or 3. […] In education, assigning criteria can be based on two dimensions: up to what level and how broadly across the curriculum the endangered language is used.“32

In diesem Sinne erscheint eine Klassifizierung des Lettgallischen zwischen Niveau 2 („some new domains“) und 3 („many new domains“) gerechtfertigt. Insgesamt zeigt sich in der Einordnung auf den UNESCO-Skalen, dass Lettgallisch im Vergleich globaler Sprachhierarchien keine besonders starke Stellung hat. Allerdings ist die Sprache nach wie vor Kommunikationsmedium vieler Menschen und kann auf ein gewisses Maß an Unterstützung und Tradition bauen. Somit ist Lettgallisch nicht – wie viele andere Minderheitensprachen, für die heute noch zunächst eine Verschriftlichung stattfinden müsste – akut vom Aussterben bedroht. Diese Schlussfolgerungen lassen sich bestätigen, wenn EGIDS (Expanded Graded Intergenerational Disruption Scale) – eine Weiterentwicklung von GIDS – als weiterer Bewertungsrahmen für den Sprachstatus hinzugezogen wird (vgl. Tabelle 4).33 Lettgallisch ist weder internationale Sprache noch Sprache mit nationaler Anerkennung. Auch die sich anbietende Einordnung als „provincial“ ist nicht zutreffend, fehlt doch der offizielle Gebrauch auch auf regionaler Ebene. Ebenso wäre eine Einstufung als „educational“ falsch, da von einem „widespread system of institutionally supported education“ keine Rede sein kann. Am ehesten treffen die Stufen 5 und 6 zu: Lettgallisch wird regelmäßig gebraucht, es gibt einen Standard und Literatur auf Lettgallisch, jedoch ist der Gebrauch nicht weit verbreitet. Eine Weitergabe an jüngere Generationen erfolgt, jedoch verliert das Lettgallische an Sprechern, da nicht alle Familien mit ihren Kindern Lettgallisch sprechen. Im Vergleich zu unserer Einschätzung vor einigen Jahren hat sich somit eine leichte, langsame Verbesserung ergeben. Stufe Bezeichnung Beschreibung 0 International The language is widely used between nations in trade, knowledge exchange, and international policy. 1 National The language is used in education, work, mass media, and ­government at the national level. 2 Provincial The language is used in education, work, mass media, and ­government within major administrative subdivisions of a nation. 3 Wider Com- The language is used in work and mass media without official munication status to transcend language differences across a region. 32 Ebd., S. 11. 33 Vgl. Eberhard, David M.; Simons, Gary F.; Fennig, Charles D. (Hg.): Ethnologue: Languages of the World. Dallas 222019. URL: https://www.ethnologue.com/about/language-status (19.11.2021).

150

Heiko F. Marten und Sanita Martena

4

Educational

The language is in vigorous use, with standardization and ­literature being sustained through a widespread system of ­institutionally supported education.

5

Developing

6a

Vigorous

6b

Threatened

7

Shifting

8a

Moribund

8b

Nearly Extinct

9

Dormant

The language is in vigorous use, with literature in a standardized form being used by some though this is not yet widespread or sustainable. The language is used for face-to-face communication by all ­generations and the situation is sustainable. The language is used for face-to-face communication within all generations, but it is losing users. The child-bearing generation can use the language among ­themselves, but it is not being transmitted to children. The only remaining active users of the language are members of the grandparent generation and older. The only remaining users of the language are members of the grandparent generation or older who have little opportunity to use the language. The language serves as a reminder of heritage identity for an ethnic community, but no one has more than symbolic proficiency. The language is no longer used and no one retains a sense of ethnic identity associated with the language.

10

Extinct

Tabelle 4: Einstufung des Lettgallischen auf der EGIDS-Skala (Eberhard/Simons/ Fennig, Ethnologue [wie Anm. 33]).

Jüngste Entwicklungen Nach dieser Einordnung sollen nun einige Entwicklungen der jüngsten Zeit beleuchtet werden, wobei zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Beitrages (September 2021) unklar bleiben muss, welche längerfristigen Auswirkungen diese haben werden. Hierbei handelt es sich um Initiativen auf politischer Ebene in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, durch die sich der Status des Lettgallischen in offiziellen Kontexten, im Bildungssektor ebenso wie im öffentlichen Diskurs ändern kann. 1.) Neue Bildungsstandards Ein wichtiger Schritt ist eine moderate Einbeziehung des Lettgallischen in die neuen Bildungsstandards für Grundschulen (1.–9. Klasse), die im November 2018 von der Regierung beschlossen wurden. Danach sollen Kinder am Ende der 3. Klasse „die Bedeutung von Sprache im Leben der Menschen beurteilen, indem sie die Begriffe

Lettgallisch im Bildungssektor

151

‚Muttersprache‘ und ‚Staatssprache‘ gebrauchen“,34 oder z.  B. „Wörter bemerken und erklären, die in der Familie oder der näheren Umgebung gebraucht werden und sich von der Standardsprache unterscheiden“.35 Bemerkenswert ist hierbei die frühe Beschäftigung mit der realen Mehrsprachigkeit bei gleichzeitiger Einführung des Konzeptes ‚Staatssprache‘; außerdem werden Lehrkräfte dazu ermutigt, Parallelen zwischen Mutter- und Fremdsprachunterricht zu ziehen. Auf dieser Grundlage wurden Themen in den Rahmenplänen verankert, die sich mit den Sprachen im Umfeld der Kinder beschäftigen. Dazu gehören die Familiensprachen, worunter auch Lettgallisch erwähnt wird. Diese Pläne sind als Vorschläge für die Lehrer zu verstehen, jedoch nicht obligatorisch. Zu den Themen für die Klassenstufen 1–3 gehören u. a. „Sprachen in meiner Familie und Stadt / Landkreis“, „Ich als Sprachdetektiv (wie erfasst man Sprachen in der Familie und der näheren Umgebung?)“, „Wörter in meiner Familie“ sowie „Die Sprachen meiner Straße / meiner Landgemeinde“.36 Außerdem wird – zusätzlich zu den freiwilligen Kursen – für die Grundschulen derzeit ein Programm für einen Wahlkurs „Lettgallische Schriftsprache“ auf nationaler Ebene ausgearbeitet, dessen Einführung allerdings noch nicht feststeht. Der entsprechende Lehrstandard für die Oberschulen (10.–12. Klasse), der von der Regierung 2019 angenommen wurde, führt ebenfalls einen Wahlkurs „Lettgallische Schriftsprache“ ein. Zudem wird Lettgallisch im (obligatorischen) Lettischunterricht ausdrücklich erwähnt: Die Schüler/innen sollen die Sprachen Lettlands im Rahmen soziolinguistischer Themen und im Kontext des lettischen Sprachgesetzes kennenlernen, wozu auch Livisch, Lettgallisch sowie Sprachen der ethnischen Minderheiten gehören. Ziel ist es, den Gebrauch von Sprachen in konkreten Situationen beurteilen zu können: „1.1 Die Sprachsituation in Lettland beschreiben, indem sie das Staatssprachgesetz analysieren, den Status der lettgallischen Schriftsprache und der livischen Sprache kennen, wie auch die Rolle der Sprachen der Minderheiten im Kontext der Einwohner Lettlands.“37 34 „Spriež par valodas nozīmi cilvēku dzīvē, lietojot terminus ‚dzimtā valoda‘ un ‚valsts valoda‘“; Ministru kabineta noteikumi [Verordnung des Ministerkabinetts]. Nr. 747. 27.11.2018: Noteikumi par valsts pamatizglītības standartu un pamatizglītības programmu paraugiem [Verordnungen zu den Entwürfen für die Standards und die Programme der staatlichen Grundschulausbildung]. URL: https://www.vestnesis.lv/op/2018/249.5 (10.06.2021). 35 „Saklausa un skaidro ģimenē vai tuvākajā apkārtnē lietotos, no literārās valodas atšķirīgos vārdus“; ebd. 36 Valsts izglītības satura centrs [Staatliches Zentrum für Bildungsinhalte]: Skola2030. Latviešu valoda 1.–9. klasei. Mācību priekšmeta programmas paraugs [Skola 2030. Lettisch für die 1.– 9. Klasse. Programmentwurf für das Lernfach]. URL: https://mape.skola2030.lv/resources/318 (19.11.2021). 37 „1.1. Raksturo valodas situāciju Latvijā, analizējot Valsts valodas likumu, izzinot latgaliešu rakstu valodas un lībiešu valodas statusu, kā arī mazākumtautību valodu lomu Latvijas iedzīvotāju vidū.

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Heiko F. Marten und Sanita Martena

Außerdem sollen die Schüler/innen „Soziolekte und Regiolekte“ sowie ihre Rolle als Teil von Sprache und Gesellschaft kennenlernen: „1.2 Beim Hören, Lesen und Beobachten, wie auch beim Erarbeiten theoretischer Quellen die lettische Standardsprache, Mundarten und Umgangssprache unterscheiden, die Bedeutung von Soziolekten und Regiolekten in einer Sprache verstehen.“38

Zu den erhofften Lernergebnissen im Bereich „Sprache und Gesellschaft“ gehört eine veränderte Einstellung zu Nichtstandardvarietäten im Kontext des Themas „Vielfalt der lettischen Sprache“: „Bemerkt Unterschiede in der lettischen Sprache, in der Sprache (Liedern) von Menschen aus verschiedenen Regionen Lettlands. Verbindet praktische Erfahrung mit theoretischer Literatur über Mundarten und Dialekte der lettischen Sprache. […] Erforscht die Vielfalt der lettischen Sprache in der näheren Umgebung / in heutiger Kunst, fasst die gewonnenen Informationen zusammen, zieht Parallelen zum in der theoretischen Literatur Gelesenen. Erstellt Prognosen über die Entwicklung der lettischen Sprache in der Zukunft auf der Basis von historischen Fakten und heutigen Beispielen.“39

Eine Anmerkung zum neuen Standard für die Oberschule legt zudem fest, dass zum Unterrichten der lettgallischen Schriftsprache derselbe Standard gilt wie für das Lettische.40 Zusätzlich ermöglicht der Standard auch in der Oberschule Wahlkurse wie „Regionalkunde“, „Minderheitensprachen und -literatur“ oder „Lettgallische Schriftsprache“. Durch die offizielle Festlegung der wichtigsten Ergebnisse, wenn (...)“; Ministru kabineta noteikumi [Verordnungen des Ministerkabinetts]. Nr. 416. 03.09.2019: Noteikumi par valsts vispārējās vidējās izglītības standartu un vispārējās vidējās izglītības programmu paraugiem [Verordnungen zu den Programmentwürfen für die Standards und die Programme der staatlichen allgemeine Sekundarschulbildung]. URL: https://likumi.lv/ta/id/309597#piel2 (10.06.2021). 38 „1.2. Klausoties, lasot un vērojot, kā arī apgūstot teorētiskos avotus, nošķir latviešu literāro valodu, izlokšņu valodu un sarunvalodu, izprot sociolektu un reģiolektu nozīmi valodā [...].“; ebd. 39 „Saklausa latviešu valodas atšķirības dažādu Latvijas reģionu cilvēku runā (dziesmās). Sasaista praktisko pieredzi ar teorētisko literatūru par latviešu valodas izloksnēm un dialektiem. […] Pēta latviešu valodas daudzveidību tuvākajā apkārtnē / mūsdienu mākslas darbos, apkopo iegūto informāciju, velk paralēles ar teorētiskajā literatūrā izlasīto. Spriež un izsaka prognozes par latviešu valodas attīstību nākotnē, balstoties uz vēstures faktiem un mūsdienu piemēriem.“; Skola2030. Latviešu valoda I. Pamatkursa programmas paraugs vispārējai vidējai izglītībai [Skola2030. Lettisch I. Programmentwurf für einen Grundkurs für die allgemeine Sekundarbildung]. URL: https://mape.skola2030.lv/resources/381 (31.08.2021). 40 „Piezīme. Mazākumtautības valodu un latgaliešu rakstu valodu skolēns apgūst atbilstoši valodu mācību jomā latviešu valodā noteiktajiem skolēnam sasniedzamajiem rezultātiem“ [Anmerkung. Schüler erwerben eine Minderheitensprache und die lettgallische Schriftsprache entsprechend den im Sprachlernbereich für das Lettische definierten Resultaten, die der Schüler zu erreichen hat]. Ministru kabineta noteikumi. Nr. 416 (wie Anm. 37).

Lettgallisch im Bildungssektor

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Schüler Lettgallisch wählen, wird Lettgallisch zum ersten Mal in einem vergleichbaren offiziellen Dokument erwähnt.41 Seit Beginn des Schuljahres 2020/21 kann der Kurs „Lettgallische Schriftsprache“ auf dieser Grundlage als Wahlkurs offiziell an Schulen in ganz Lettland angeboten werden. Als allerjüngste Entwicklung sind zur Zeit offizielle Handreichungen dazu in Arbeit, wie das Fach „Lettgallische Schriftsprache“ an Grund- und Oberschule umgesetzt werden kann. Auf dieser Grundlage werden derzeit mit finanzieller Unterstützung des lettischen Bildungsministeriums auch Unterrichtsmaterialien erarbeitet. Diese Entwicklungen deuten somit eine Hinwendung zur Mehrsprachigkeit an, die auch das Lettgallische einschließt, bei gleichzeitiger Betonung des Status der lettischen Standardsprache. Eine Umsetzung dieser Pläne könnte die Position des Lettgallischen auf der EGIDS-Skala in Richtung Stufe 4 („educational“) beeinflussen, falls die Verbreitung in den Schulen zunimmt und nachhaltig wird. Auf den UNESCO-Skalen könnte Lettgallisch fester auf Stufe 4 verankert werden bzw. sich zur Stufe 3 hinbewegen, wenn der Gebrauch in der Schule und dadurch eventuell auch in anderen Domänen zunimmt. Gleichzeitig zeigen die Reformen einen Paradigmenwechsel an: Im Sinne eines schülerzentrierten L1-Unterrichts soll das Lebensumfeld beim Lernen berücksichtigt werden, wozu auch die sprachliche Vielfalt des Alltages gehört. Es bleibt dabei allerdings abzuwarten, ob die Umsetzung dieser Neuerungen erfolgreich ist: Werden die Schulen den Kurs in Anbetracht geringer finanzieller Mittel und – gerade in den ländlichen Regionen – oft geringer Schülerzahlen tatsächlich anbieten? Wie reagieren Lehrer/innen auf die neue Unterrichtsherausforderung? Wie schnell werden angemessene Materialien erstellt – nicht zuletzt, weil es schwierig werden könnte, qualifizierte Autor/innen zu finden, die Lettgallisch aus ­einer zeitgenössischen soziolinguistischen Perspektive betrachten? Und nicht zuletzt ­bleibt abzuwarten, wie die Reaktion von Schülern und Eltern in Hinblick auf die Wahl der Kurse sowie auf die Unterstützung beim Lernen sein wird. 2.) Allgemeinere politische Entwicklungen 2019 mit Einfluss auf das Lettgallische Weitere wichtige jüngere Entwicklungen finden zudem auf höchster politischer Ebene statt. Nach den Parlamentswahlen in Lettland im Oktober 2018 legten vier der 100 Abgeordneten der Saeima ihren Amtseid auf Lettgallisch ab, was im Gegensatz zu vorherigen derartigen Situationen ohne Widerspruch seitens des Präsidiums akzeptiert wurde – dieser symbolische Akt und die Reaktion darauf sind Zeichen, wie sich die gesellschaftliche Rolle des Lettgallischen in langsamen Schritten verändert. Von symbolischer wie praktischer Bedeutung ist, dass nach langwierigen Koalitionsverhandlungen eine Fünf-Parteien-Regierung gebildet wurde, der von Januar 2019 bis Juni 2021 eine erklärte Lettgallischaktivistin als Bildungsministerin ange41 Vgl. ebd., Anhang 9.

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hörte. Ilga Šuplinska von der „Neuen Konservativen Partei“ („Jaunā Konservativā Partija“) war vor ihrer politischen Karriere Professorin für Lettische Literatur an der Technologischen Akademie (vormals Hochschule) Rēzekne. Zu ihren Aktivitäten gehörten die Verankerung des Lettgallischen im Kontext philologischer ­Studiengänge, die Organisation der Latgalistika-Konferenzen sowie zahlreiche – zumeist literaturwissenschaftliche – Publikationen. Zu Beginn ihrer Amtszeit 2019 betonte die Ministerin zunächst die Rolle der lettgallischen Sprache, Kultur und Region – dies allein wurde als neuer Tonfall in der Politik wahrgenommen. Nach einigen Monaten änderte sich der Diskurs ein wenig, nachdem in den Medien diskutiert worden war, dass sie primär Ministerin Lettlands und nicht nur Lettgallens sei und sich mehr um die Qualität der Bildung insgesamt kümmern solle. In einer Internetdiskussion beklagte Šuplinska daraufhin, dass sie auf ihre Rolle als Lettgallisch-Aktivistin ­reduziert werde und andere Positionen wenig Aufmerksamkeit erführen. Allerdings schloss sie auch nicht aus, dass der Erhalt der lettgallischen Sprache zu den Prioritäten der Bildungspolitik gehören könne und dass dies mitnichten nur ihr privater Wunsch sei: „Auf die Frage, ob sie in Anbetracht ihrer langen Erfahrung als Vertreterin der lettgallischen Sprache Ministerin Lettgallens oder doch von ganz Lettland wird, verspricht Šuplinska, Ministerin für den ganzen Staat, nicht nur für eine Region zu sein. […] Die Abgeordnete schließt aber nicht aus, dass die Verteidigung der Lettgallischen Sprache auf der Prioritätenliste steht, und äußert die Ansicht, dass das nicht nur ihr eigener privater Wunsch ist.“42

Auf dieser Grundlage sind auch die oben skizzierten Entwicklungen in den Bildungsstandards zu sehen. Auch wenn die Arbeit an diesen bereits in der vorherigen Legislaturperiode begonnen wurde, war die Unterstützung der Bildungsministerin, auch in Hinblick z. B. auf die Finanzierung von Unterrichtsmaterialien, von großer Bedeutung. Andere Beispiele im öffentlichen Diskurs zeigen zudem, dass Latgale und Lettgallisch verstärkt auch in anderen Kontexten wahrgenommen werden. So argumentierte das Ministerium für Bildung und Wissenschaft mit der Bedeutung Lettgallens als europäische Grenzregion, die es nicht zuletzt im Interesse der Loyalität zum lettischen Staat zu stärken gelte. Lettgallisch sei danach „ein nicht in Frage zu stellender Teil des kulturhistorischen Erbes Lettlands, das den Lettgallen erlaubt, gleichzeitig 42 „Taujāta par to, vai, ņemot vērā ilgo pieredzi latgaļu valodas aizstāvībā, viņa būs Latgales vai tomēr visas Latvijas ministre, Šuplinska sola būt valsts, ne vien reģiona ministre. […] Deputāte gan nenoliedz, ka prioritāšu sarakstā latgaļu valodas aizstāvība ir, un uzskata, ka tā nav tikai viņas privāta iegriba.“; o.  A.: Latgales vai Latvijas prioritātes — ko gaidīt no potenciālās izglītības ministres [Priorität Lettgallens oder Lettlands – was ist von der potentiellen Bildungsministerin zu erwarten]. In: Delfi.TV. 13.01.2019. URL: https://www.delfi.lv/delfi-tv-ar-jani-domburu/raksti/latgales-vailatvijas-prioritates-ko-gaidit-no-potencialas-izglitibas-ministres?id=50736603&page=1 (31.08. 2021).

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ihre Eigenheit und ihre Zugehörigkeit zum lettischen Volk zu betonen“.43 Deshalb sei die Betonung der historischen Bedeutung sowie die Stärkung der gegenwärtigen Entwicklung von besonderer Relevanz: „Deshalb ist es uns wichtig, sowohl historischen, mit der Entstehung des Staates verbundenen Ereignissen Respekt zu zollen, als auch die lettgallische Schriftsprache in Bildung und Forschung zu stärken, sowie das Selbstwertgefühl der Letten Lettgallens aufzubauen und die regionale Identität zu stärken.“44

Gleichzeitig betonte Šuplinska in ihrer Zeit als Ministerin, dass der lettgallische Kulturraum gestärkt werden solle, indem junge Leute dazu ermutigt werden, ihre regionale Identität auszuleben, um die Abwanderung aus den ländlicheren Gebieten zu stoppen. Dabei wird die sprachliche und regionale Identität auch mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Region verbunden. In einem am 26. Februar 2019 von der Regierung verabschiedeten Hinweis zu „notwendigen Schritten zur Qualitätssicherung auf allen Bildungsebenen“45 findet sich unter den Prioritäten – neben Themen wie der allgemeinen Qualität von Bildung und Forschung – auch der folgende Abschnitt: „[B]esondere Aufmerksamkeit soll die Bewahrung von Schulen im Grenzgebiet der EU erhalten, indem Kriterien der Bildungsqualität eingehalten werden, u. a. durch die Einführung von Landkreiskunde (lettgallische Schriftsprache) und Verteidigungskunde46 in diesen Schulen schon im Jahr 2020.“47 43 „Latgaliešu valoda ir neatņemama Latvijas kultūrvēsturiskā mantojuma daļa, kas pašiem latgaliešiem ļauj apzināties savu unikalitāti un vienlaikus piederību latviešu tautai.“; Izglītības un zinātnes ministrija 2019. Izglītības ministre Ilga Šuplinska piedalās Latgales kongresa dienas pasākumos [Bildungs- und Wissenschaftsministerium 2019: Bildungsministerin Ilga Šuplinska nimmt an den Veranstaltungen zum Tag des Lettgallischen Kongresses teil]. URL: https://www.izm.gov.lv/lv/ aktualitates/3463-izglitibas-ministre-ilga-suplinska-piedalas-latgales-kongresa-dienas-pasakumos (25.09.2020, Link nicht mehr aktiv). 44 „Tāpēc mums ir svarīgi gan izrādīt cieņu vēsturiskajiem, ar valsts izveidošanos saistītajiem notikumiem, gan stiprināt latgaliešu rakstu valodu izglītībā un pētniecībā, kā arī celt Latgales latviešu pašapziņu un stiprināt reģionālo identitāti.“; ebd. 45 Latvijas Republikas Ministru kabinets [Ministerkabinett der Republik Lettland]: Latvijas Republikas Ministru kabineta tiesību aktu projekti. Informatīvais ziņojums „Par nepieciešamajiem pasākumiem kvalitātes nodrošināšanai visos izglītības līmeņos“ [Gesetzesprojekte des Ministerkabinetts der Republik Lettland. Informative Mitteilung „Zu notwendigen Veranstaltungen zur Qualitätssicherung in allen Bereichen der Bildung“]. URL: http://tap.mk.gov.lv/mk/tap/?pid= 40470137 (31.08.2021). 46 „Verteidigungskunde“ wird als Unterricht zur Stärkung des Bewusstseins für die Sicherung des lettischen Staates verstanden. Dazu gehört z. B. die aktive Teilnahme an politischen und gesellschaftlichen Prozessen im Sinne einer gesellschaftlichen Integration, aber auch physisches Training oder Interesse für die lettischen Streitkräfte. 47 „īpašu uzmanību pievērst ES pierobežas skolu saglabāšanai, nodrošinot izglītības kvalitātes kritērijus, t. sk. ieviešot novadmācību [latgaliešu rakstu valodu] un valsts aizsardzības mācību šajās

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Dieses Beispiel zeigt eine Diskursneuerung: Das Lettgallische wird mit der Sicherung der Grenzregion verbunden – eine Argumentation, die an die verstärkte Aufmerksamkeit für Latgale nach dem Referendum von 2012 erinnert. Ein anderes Beispiel zeigt jedoch auch, dass die genannten Entwicklungen nach wie vor mit Vorsicht zu bewerten sind. So nahm Šuplinska den Beschluss der Saeima zum Tag des Lettgallischen Kongresses zum Anlass, den ersten offiziell gefeierten Tag am 27. April 2019 mit einer Tagung zum Lettgallischen zu begehen.48 Damit markierte diese erstmals offiziell vom Ministerium ausgerichtete Tagung einen symbolischen Einschnitt im lettischen Diskurs. Die praktischen Auswirkungen blieben jedoch gering, die Resonanz fiel verhalten aus, nur wenige Abgeordnete, Lehrer oder Wissenschaftler kamen zu den Diskussionen, die unter Beteiligung internationaler Experten zu Regional- und Minderheitensprachen (wie zum Kaschubischen oder Friesischen) stattfanden. Und auch die Widerstände gegen die Festschreibung des Lettgallischen in den Bildungsstandards, die z. T. nur durch Beharrlichkeit und Intervention der Ministerin überwunden werden konnten, zeigen, dass Mehrsprachigkeit und regionale Besonderheiten im lettischen Diskurs nach wie vor keine Selbstverständlichkeiten sind.

Fazit und Ausblick Ziel dieses Beitrages war es, die Situation des Lettgallischen im Bildungssystem zu beleuchten. Wie dargestellt wurde, hat die gesellschaftliche Rolle des Lettgallischen – und damit auch seine Präsenz in Bildungskontexten – zu ­unterschiedlichen Zeiten deutlich unterschiedliche Formen angenommen. Heute ist Lettgallisch nicht akut vom Aussterben bedroht, aufgrund der langen Tradition der Marginalisierung jedoch insgesamt immer noch in einer gesellschaftlich schwachen Position. Im Sinne eines längerfristigen Spracherhalts – ebenso wie in Hinblick auf den damit einhergehenden Respekt für die Sprecherinnen und Sprecher – könnte deutlich mehr offizielle und gesellschaftliche Anerkennung erfolgen. Die in den vergangenen Jahren eingeleiteten Neuerungen in den Schulstandards sind hierfür



skolās jau 2020. gadā.“; o. A.: Ilga Šuplinska: Pa(o)pulisma stils: opozīcijas destrukcija vai apzināta ‚viltus ziņa‘  [Ilga Šuplinska: Der Stil des Pa(o)pulismus: Die Destruktion der Oppostion oder bewusste „Fake News“]. In: delfi.lv. 24.06.2019. URL: https://www.delfi.lv/news/versijas/ilga-suplinska-pa-opulisma-stils-opozicijas-destrukcija-vai-apzinata-viltus-zina.d?id=51214539/ (31.08. 2021). 48 Vgl. Saukāns, Juris; Sondore, Laura; Lazdiņa, Renāte: Latgolys stuņde. Pirmo reizi svinēsim Latgales kongresa dienu [Die Stunde Lettgallens. Zum ersten Mal feiern wir den Tag des Lettgallischen Kongresses]. In: LSM.lv. 05.04.2019. URL: https://lr1.lsm.lv/lv/raksts/latgales-stunda-latgolys-stunde/pirmo-reizi-svinesim-latgales-kongresa-dienu.a116549/ (31.08.2021).

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wichtige Schritte. Die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Tendenzen, die dem Lettgallischen einen größeren Stellenwert einräumen als in den vergangenen Jahrzehnten, können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Vorbehalte gegen das Lettgallische nach wie vor existieren und von einer kohärenten Minderheitensprachpolitik von staatlicher Seite keine Rede sein kann. Auch heute noch ist Lettgallisch somit insbesondere im informellen Gebrauch stark, und dies gilt auch für das Bildungssystem: Die relativ häufige mündliche Präsenz, die auch zu Zeiten der offiziellen Unterdrückung – zuletzt während der Sowjetherrschaft – nie völlig verschwand, steht nach wie vor einem geringen schriftlichen Gebrauch und einer bislang seltenen Präsenz in formalisierten Bildungssituationen gegenüber. Das Bildungssystem als Schlüssel für den Spracherhalt verstärkt bislang somit die bestehende Diglossie, indem es dem Lettgallischen nur klare Randfunktionen zuordnet. Die bildungspolitischen Initiativen der vergangenen Jahre weichen diese Funktionsaufteilung allerdings etwas auf und geben somit Anlass zur Hoffnung. Inwiefern die Änderungen in den Bildungsstandards und die Einführung der Fächer „Regionalstudien“ und „Lettgallische Schriftsprache“ längerfristige Auswirkungen auf die Position des Lettgallischen haben werden, bleibt jedoch abzuwarten. Außerdem gibt es auch im Bildungskontext Rückschritte, wie z.  B. die Einstellung des philologischen Studienganges in Rēzekne und die Unterbrechung der Latgalistik-Konferenzen zeigen. Zudem bleibt abzuwarten, wie sich die Akzeptanz des Lettgallischen in den Schulen ohne Unterstützung durch eine engagierte Bildungsministerin entwickelt. Jenseits des Bildungssystems ist anzumerken, dass trotz positiver Impulse für das Prestige des Lettgallischen und eine zunehmende Präsenz, z. B. in den Linguistic Landscapes, eine offizielle Anerkennung in anderen Domänen wie den regionalen Verwaltungsstrukturen nicht auf der Tagesordnung steht. Veränderte Haltungen in der Gesellschaft, nicht zuletzt durch symbolische Maßnahmen wie die Ablegung des Abgeordneteneides auf Lettgallisch, führen langsam dazu, dass sich Diskurse verändern, aber es bestehen Haltungen fort, die Lettgallisch als Ausdruck von ‚Separatismus‘ sehen. Die gesellschaftlichen Tendenzen, die das Lettgallische stärken, beruhen nach wie vor zumeist auf individuellen Initiativen bzw. sind an konkrete Ereignisse gebunden. Eine interessante Entwicklung sind schließlich Initiativen des am 29. Mai 2019 gewählten neuen Staatspräsidenten Lettlands, Egils Levits. Als erster lettischer Präsident äußerte sich Levits noch vor seinem Amtsantritt am 8. Juli 2019 öffentlich positiv zum Lettgallischen – wenngleich zunächst in Bezug auf Musik und damit in Hinblick auf eine Domäne, in der Lettgallisch auch früher schon breitere Anerkennung fand: „Zu seinem Musikgeschmack erklärte Levits, dass ihm schon seit einiger Zeit die Single ‚Skots pa lūgu‘ [Blick aus dem Fenster; der Titel des Songs und der Gruppe sind, im Gegensatz zum Rest des Zitates, auf Lettgallisch] der Gruppe ‚Latgalīšu reps‘

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Heiko F. Marten und Sanita Martena gefalle, weil das Lied eine faszinierende Kombination aus lettgallischer Sprache und Rap ist“.49

Interessant daran sind die Erwähnung des Lettgallischen an sich, aber auch die moderne, nicht traditionalisierende Rolle des Lettgallischen und die Bedeutung der Regionen, die in dem Zitat zum Ausdruck kommt. In diesem Sinne betonte Levits, „wenn man in die Politik geht, sollte jeder sich besonders mit den Empfindungen und der Erfahrung der Menschen beschäftigen, die in den Regionen leben“.50 Levits war zuletzt Richter am Europäischen Gerichtshof; aufgrund seines jüdischen Vaters konnte er als Jugendlicher mit seiner Familie nach Deutschland emigrieren, wo er am Lettischen Gymnasium in Münster Abitur machte und anschließend an der Universität Hamburg studierte. Die Wahl eines Politikers mit einer internationalen Biografie eröffnet Perspektiven für eine Modernisierung politischer Diskurse, die gerade angesichts des Widerspruchs zwischen den weltoffeneren und den auf Abschottung abzielenden Sprachdiskursen in Lettland51 von besonderer Bedeutung sein können. Dabei ist allerdings zu betonen, dass Levits’ Offenheit für das Lettgallische und seine Forderung nach mehr Unterstützung für andere Sprachen – u. a. das Deutsche – in Widerspruch zu wiederholt geäußerten puristischen Haltungen zum Lettischen und einer aus diesen Haltungen resultierenden Gesetzesinitiative vom April 2021 steht, die Levits nicht zuletzt mit der ‚Gefahr‘ durch den Einfluss des Englischen begründet, der „in letzter Zeit ernsthafte Sorgen über eine Degradierung der lettischen Sprache verursache“.52 Zudem hat die Wahl Levits’ (ebenso wie die des Ministerpräsidenten Krišjānis Kariņš, der in den USA geboren und aufgewachsen ist) in Online-Foren o.  ä. bisweilen auch heftige Reaktionen hervorgerufen: Beiden wurde unterstellt, keine ‚richtigen‘ Letten zu sein, im Fall von Levits bisweilen mit klar antisemitischen Kommentaren. Allerdings stießen diese in den betreffenden Foren zumeist schnell auf heftigen Widerspruch von anderen Kommentatoren. Hier soll nur ein Beispiel für derartige Diskussionen genannt 49 „Par mūzikas gaumi Levits atklāja, ka jau kādu brīdi viņam ļoti patīk grupas ‚Latgalīšu reps‘ singls ‚Skots pa lūgu‘, tāpēc, ka dziesmā ir fascinējoša kombinācija starp latgaliešu valodu un repu.“; o. A.: Levits: prezidents, kurš nesmādē „Latgalīšu repu“ un dāvanā labprāt saņem kaklasaites [­Levits: Der Präsident, der „Lettgallischen Rap“ nicht verachtet und als Geschenk gerne eine Krawatte bekommt]. In: TVNet.lv. 29.05.2019. URL: https://www.tvnet.lv/6695201/levits-prezidents-kursnesmade-latgalisu-repu-un-davana-labprat-sanem-kaklasaites (31.08.2021). 50 „[…] ejot politikā, ikvienam ir īpaši jāapzinās reģionos dzīvojošo cilvēku izjūtas un pieredze“; ebd. 51 Vgl. dazu Marten, Heiko F.; Lazdina, Sanita: Mehrsprachigkeitsdiskurse im Bildungskontext in Lettland zwischen Populismus und Weltoffenheit. In: German as a Foreign Language 20/1 (2019), S. 119–145 (URL: http://www.gfl-journal.de/1-2019/Marten-Lazdina.pdf [31.08.2021]). 52 „pēdējā laikā rada nopietnas bažas par latviešu valodas degradāciju“; Mitteilung des Staatspräsidenten Nr. 8 vom 26. April 2021 „Par latviešu valodas kā vienīgās valsts valodas nostiprināšanu“ [Über die Stärkung der lettischen Sprache als einzige Staatssprache]. In: Likumi.lv. URL: https://likumi. lv/ta/id/322742-par-latviesu-valodas-ka-vienigas-valsts-valodas-nostiprinasanu (05.10.2021).

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werden: So rief der Beitrag der Userin „inese“ („Sagt mal, warum mag man die Russen nicht, aber irgendwelche jüdischen Wucherer werden gelobt, Bande von Idioten“)53 umgehend den ironischen Kommentar des Users „Kads sakars“ hervor: „Hier haben wir ja einen gebildeten Menschen“.54 Auf ähnliche Weise finden sich auch in der Onlineausgabe der Tageszeitung ­Diena Kommentare, die die Zugehörigkeit Levits’ zu Lettland in Frage stellen. So kommentiert der User „Prātotājs“ am 30. Mai 2019 lapidar: „Ich dachte, dass die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen in Israel erst noch kommen“.55 Auch in diesem Forum stehen derartigen ausgrenzenden Kommentaren jedoch eine Reihe von Meinungen gegenüber, die die Wahl Levits’ ausdrücklich begrüßen. An diesen Beispielen zeigt sich, wie in der lettischen Gesellschaft Ausgrenzung und Offenheit für Personen und Sprachen, die nicht dem Idealbild eines ethnischen Letten entsprechen, konkurrieren. Zum Lettgallischen stellt sich in Hinblick auf die anhaltenden Sprach- und Bildungsdiskurse letztlich die Frage, ob das Glas als halbleer oder als halbvoll zu betrachten ist. Im Vergleich zum Verbot bzw. zur Marginalisierung des Lettgallischen im Laufe des 20. Jahrhunderts ist seine Stellung – in der Gesellschaft wie im Bildungssystem – heute sicher deutlich besser. Gleichzeitig veranschaulichen die vorgestellten Beispiele, dass viele Initiativen nur auf geringen Nachhall stoßen, wodurch nur ein Voranschreiten in Minimalschritten möglich ist. Als allerjüngste Entwicklung ist in diesem Kontext schließlich von Bedeutung, dass auf Initiative von Präsident Levits eine Aufwertung der historischen Regionen und der regionalen Identitäten diskutiert wird. Ein im September 2020 von ­Levits eingebrachter Gesetzesentwurf, der im Juni 2021 mit Wirkung zum Juli 2021 von der Saeima verabschiedet wurde, betont die Vielfalt der lettischen Kultur und die Identität der kulturhistorischen Regionen Lettlands, wobei explizit regionale sprachliche Eigenarten sowie der Einfluss von Minderheiten auf das Lettentum genannt werden.56 In diesem Sinne betonte Levits auch wiederholt öffentlich die Verbindung der lettgallischen Sprache mit der lettgallischen Identität als Teil lettischer Identität, etwa in einer Diskussion am 25. September 2020 in Rēzekne; dieser Gedanke wird auch im oben zitierten Gesetzesentwurf vom 26. April 2021 wieder 53 „Sakiet, kāpēc krievus necieš, bet kautkādus žīdus augļōtājus slavē, idijotu bars“; Inese: [Kommentar zu: Krieviņš, Rūdolfs: Apkopojums: kas ir jaunievēlētais Latvijas prezidents Egils Levits? (Einordnung: Wer ist Egils Levits, der neu gewählte Präsident Lettlands?). In: TV3 Ziņas. 29.05.2019]. In: Skaties.lv. 29.05.2019. URL: https://skaties.lv/zinas/latvija/politika/apkopojums-kas-ir-jaunieveletais-latvijas-prezidents-egils-levits/komentari/#komentari (31.08.2021). 54 „Seit ir izglitots cilveks“; Kads sakars: [Kommentar]. In: Ebd., 30.05.2019. 55 „Man šķita, ka Izreilā (sic!) tikai vēl būšot ārkārtas prezidenta vēlēšanas“; Prātotājs: [Kommentar zu: O.  A.: Nākamais prezidents būs Egils Levits [Egils Levits wird nächster Präsident]. In: Diena. 29.05.2019]. In: Diena.lv. 30.05.2019. URL: https://www.diena.lv/raksts/latvija/politika/ nakamais-prezidents-bus-egils-levits-14220412/comments#c (31.08.2021). 56 Vgl. Likumi.lv: Latviešu vēsturisko zemju likums. [Gesetz über die historischen lettischen Länder]. URL: https://likumi.lv/ta/id/324253-latviesu-vesturisko-zemju-likums (05.10.2021).

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Heiko F. Marten und Sanita Martena

explizit aufgegriffen. Zudem solle überall, wo über das Lettische geschrieben werde, das Lettgallische mitgedacht werden. Lettgallisch habe seinen Wert, und damit es der jungen Generation auch in einigen Jahrzehnten noch zur Verfügung stehe, sei es wichtig, dass die Lettgallen unter sich auch Lettgallisch sprächen und Lettgallisch wichtiger Teil des Unterrichts werde – in Latgale als Teil regulärer Unterrichtsstunden, aber auch z. B. in Riga als fakultatives Angebot. Damit unterstützte Levits ausdrücklich die aktuellen Initiativen im Bildungsbereich, wobei er explizit den Begriff „lettgallische Sprache“ („latgaliešu valoda“) benutzte.57 Es bleibt letztlich abzuwarten, ob sich die Diskurse zum Lettgallischen – gerade auch in Hinblick auf die Auswirkungen widersprüchlicher Diskurse zu Mehrsprachigkeit in Lettland insgesamt – längerfristig ändern und damit eine weitere Verbreitung im Bildungssystem und eine breitere Akzeptanz in der Gesellschaft erreicht werden können, die zu einem dauerhaften Erhalt des Lettgallischen führen. Die Beharrlichkeit der Bevölkerung, die Ermutigung durch einflussreiche Personen, aber auch die Politik der kleinen Schritte, die in eine langsame, aber stetige Aufwertung des Lettgallischen in der Gesellschaft und der Bevölkerung münden, sind nach wie vor keine Garantie für ein dauerhaftes Bestehen. Dennoch können die jüngsten Entwicklungen im Sinne der internationalen Klassifizierungen und Erfahrungen mit dem Spracherhalt doch ein Hinweis auf eine größere Wahrscheinlichkeit des Spracherhalts sein. Gerade die Stellung im Bildungssystem spiegelt in diesem Sinne über die Epochen hinweg die Rolle des Lettgallischen in der Gesellschaft als Teil der Mehrsprachigkeit des Baltikums und damit auch seiner Bildungsgeschichte(n).

57 Eine Aufzeichnung der Diskussion findet sich auf Youtube unter URL: https://www.youtube.com/ watch?v=UOEzCEdM8oI (31.08.2021).

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II. Institutionen der Bildung (Schule, Gerichtsstube, Universität)

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Beata Paškevica

Die herrnhutische Lehrerausbildungsstätte der Pietistin Magdalena Elisabeth von Hallart im lettischen Wolmar (1738–1743) Als ein erster bedeutender Schritt zur höheren Bildung der Letten und zu ihrem sozialen Aufstieg auf institutioneller Basis kann die Lehrerausbildungsstätte für lettische Bauern in Wolmar (Valmiera) gelten, die 1738 durch die Herrnhuter und die Radikalpietistin hallescher Prägung Magdalena Elisabeth von Hallart (1683–1750) ins Leben gerufen wurde.1 Das Lehrerseminar bestand knapp fünf Jahre in der livländischen Stadt und war eine einmalige Erscheinung im russischen Großreich. Eingerichtet unter Zarin Anna Ivanovna (1730–1740), die ausländischen Einflüssen gegenüber aufgeschlossen war, wurde es bereits 1743 von Zarin Elisabeth Petrovna (1741–1762) wieder verboten, zum Teil auch wegen der beginnenden Fehde zwischen den Pietisten in Herrnhut und in Halle. Für die lettische Bevölkerung, die auf dem Lande fast ausschließlich dem Bauernstand angehörte, hatte diese ‚Protohochschulgründung‘ dennoch weitreichende Folgen. Denn die während der kurzen Zeit ihres Bestehens aus ihr hervorgegangenen Lehrer wurden auf verschiedene Kirchspiele Livlands und eventuell sogar Kurlands verstreut,2 bildeten weitere Generationen aus und ebneten ihnen im herrnhutischen Sinne den Weg nicht nur zur Selbstfindung, sondern auch zur Ausbildung eines sozialen und nationalen Bewusstseins. Die staatlichen Behörden und die offizielle lutherische Kirche beachteten und duldeten die Anstalt nur für kurze Zeit. Das bald folgende Verbot der ‚Herrnhuterey‘ in Livland, ihre daher nur kurze Zeit des Bestehens sowie die den Pietismus überwindende Aufklärung führten dazu, dass die Verdienste dieser Institution schlichtweg vergessen wurden. Auch in der Sowjetzeit wurde dieser erste Anfang einer höheren Bildungseinrichtung für die lettische Bevölkerung im Vorfeld der Aufklärung aufgrund ideologischer und atheistischer Vorbehalte verschwiegen.

1 Dieser Aufsatz wurde finanziell unterstützt durch das Projekt The Significance of Documentary Heritage in Creating Synergies between Research and Society“ des Nationalen Forschungsprogramms „Latvia’s Heritage and Future Challenges for Sustainability oft he State“ (No VPPIZM-2018/1-0022). 2 Im Seminar gab es auch einige Kurländer (s. u.).

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Beata Paškevica

Die Hintergründe des Projekts Es liegt auf der Hand, dass die Lehrerausbildungsstätte bereits seit ihrer Entstehung eine durch das Marginale geprägte Einrichtung gewesen ist: Ins Leben gerufen von einer selbstständig agierenden Generalswitwe wandte sie sich an die unterdrückte niedere Bevölkerungsgruppe – die lettischen Erbuntertänigen. Zwar hatte Magdalena Elisabeth von Hallart männliche Berater und Förderer, unter ihnen Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) sowie der livländische Generalsuperintendent Jakob Benjamin Fischer (im Amt von 1736 bis 1744).3 Doch ohne das beispiellose Engagement und die Standhaftigkeit der Frau von Hallart gegenüber der livländischen Obrigkeit und sogar dem Zarenhof wäre ein so gewagter Schritt unter den im russischen Livland herrschenden Umständen in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht möglich gewesen. Der im Unitätsarchiv Herrnhut aufbewahrte Lebenslauf von Magdalena Elisabeth von Hallart ist zwar knapp gehalten, die schriftlich dort festgehaltenen Aussagen bringen jedoch ihre Verdienste auf den Punkt: „Die Generalin Hallardtin geb. in Liefland, gest. in Wallmershoff4 30 Jan. 1750 […] war das erste und hauptgesegnete Werckzeug der grossen Erweckung in Liefland durch den Dienst der Brüder. Sie war eine geborene von Bülow aus Liefland, die von Jugend auf einen tiefen Eindruck von Gott gehabt,5 dem jedesmaligen Grad ihrer Erkäntniß von Herzen und unbeweglich treu gewesen. Dadurch erhielt sie nicht nur von ihrem Gemahl dem General von Hallard, sondern auch am Dresdnischen Hofe, nach dem der König selbst sie vergebens zu etwas andern zu bereden gesucht, völlige Freyheit nach ihrem Erkenntniß und Gewißen zu handeln. Von Dresden aus wurde sie mit den Männern Gottes in Halle bekannt und diente dieser Oeconomie mit treuem Herzen, auch nachdem selbige zu verfallen und sie mit der Brüder Oeconomie bekannter zu werden anfing, welches zuerst durch die von Christian David aufgesetzte Nachricht von Herrnhut und sodann durch die persönliche Bekanntschaft mit ihm Ao 1730, mit David Nitschmann Ao 1735 und mit dem seligen Jünger Ao

3 Fischer ist nur in der Anfangsphase zu den Unterstützern und Förderern zu zählen, danach nahm er vermutlich unter dem Einfluss von Halle einen den Herrnhutern entgegengesetzten Standpunkt ein. 4 Richtig: Wolmarshof, in der Handschrift die an die lettische Bezeichnung angepasste Variante. 5 Ein Erweckungserlebnis im pietistischen Sinne ist nicht belegt, es gibt lediglich einige Vermutungen im Hinblick auf Kontakte zu Pietisten in dem von Schweden beherrschten Livland vor 1712, als Hallart wegzog, um ihren Mann zu begleiten. Erste Kontakte mit dem Pietismus sind in Hallarts Jugendzeit in Livland zu datieren. Vgl. Paškevica, Beata: Auf der Spurensuche nach dem pietistischen Netzwerk in Riga und in Livland am Anfang des 18. Jahrhunderts. Magdalena Elisabeth von Hallarts Verbindung mit dem pietistischen Kreis um den Pfarrer Theodor Krüger in der Jakobskirche in Riga. In: Bičevskis, Raivis; Eickmeyer, Jost; Levans, Andris; Schaper, Anu; Spiekermann, Björn; Walter, Inga (Hg.): Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16.  bis 19.  Jahrhundert. Bd.  2: Zwischen Aufklärung und nationalem Erwachen. Heidelberg 2019, S. 119–138.

Die herrnhutische Lehrerausbildungsstätte der Magdalena Elisabeth von Hallart

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36 geschah.6 Hierauf vocirte sie die ersten Brüder ins Land, besetzte mit denselben als Catecheten die von ihr angelegten Schulen unter den Letten, ließ auf dem Diaconat zu Wollmar ein eigen Schul- und Versammlungs Haus Lambsberg genannt bauen, und trug mit einem unverrückten Eifer alles, was nun möglich bey, um die Ausbreitung des Ewangelii in Liefland zu befördern, wobey sie auch in den Verfolgungszeiten, die sich schon Ao 42 anfingen, Ao 43 vollends ausbrachen, große Standhaftigkeit bezeigte.“7

Wenn man die geistigen Voraussetzungen der Lehrerausbildungsstätte betrachtet, so ist festzustellen, dass es sich durchaus um eine pietistische, hallesch-herrnhutische Gründung handelte. In der Person der Generalin von Hallart und der in ihrem Hause zu unterschiedlichen Zeiten dienenden Hausprediger bildete der Pietismus von Halle eine produktive Symbiose mit den nach Livland gekommenen Vertretern der Brüdergemeine in Herrnhut. Auch die Idee der pädagogischen Anstalt ging aus diesen zwei pietistischen Strömungen hervor. Die herrnhutischen Brüder sahen in der ‚Generalin‘, wie man Magdalena Elisabeth von Hallart ehrfurchtsvoll nannte, zwar eine für die ‚Sache des Heylands‘ – also die herrnhutische Sache – sich einsetzende und ihr ergebene, aber nicht direkt in der Gemeine eingegliederte Person.8 Ein solch kühnes Unternehmen stellte in dem noch feudalen Livland zudem eine Realisierung von Zielen dar, die hier von Vielen als utopisch oder und als zu früh umgesetzt abgetan wurden, von einigen vom halleschen Pietismus inspirierten Geistlichen und vereinzelten livländischen Adligen jedoch als wünschenswert erachtet wurden.9 Die radikale und missionswillige Brüdergemeine rief dieses Werk durch das ‚Werkzeug‘ der Generalin von Hallart ins Leben.

6 „Seliger Jünger“ lautete in herrnhutischen Dokumenten die übliche Bezeichnung für Nikolaus Ludwig von Zinzendorf nach dessen Tod. Die erste Bekanntschaft fand allerdings schon 1714 während des Besuches des Ehepaares Hallart im Pädagogium von August Hermann Francke in Halle statt, wo Zinzendorf Schüler war. 7 Unitätsarchiv (UA) Herrnhut. R.22.4.42 (Lebensläufe). Schreibweise und Interpunktion wurden zum Teil der modernen Schreibweise angepasst. 8 Vgl. UA Herrnhut. NB. I. R. 3. 148 m/1: Ranzau, Erich von: Historische Nachricht von dem Anfang und Fortgang des Gnaden Reichs Jesu Christi in Liefland überhaupt und insonderheit in Lettland. Manuskript, Paragraph 31: „Die Frau Generalin (schreibt Bruder Christian David) ist nicht zur Gemeinschaft gemacht und würde uns darin mehr hinderlich und schädlich als förderlich seyn. So ist besser, wenn sie eine besonderliche Person bleibt, eine Lutheranerin, eine grosse Frau, eine Richterin in Israel, wie sie es würklich ist; denn so kann sie der Heiland gut brauchen.“ (Die Edition dieser Chronik ist in Planung.) 9 Vgl. Latvijas Nacionālais arhīvs – Latvijas Valsts vēstures arhīvs (LNA LVVA) [Nationalarchiv Lettlands – Staatliches Historisches Archiv Lettlands]. 233/1/692, S. 270: O. A.: Annotationes bey dem Entwurf der Verbeßerung der Schulen, wo es z. B. heißt: „Unteutsche Schulen sind mit Unteutschen Schulmeistern zu versorgen. a) denn die Alten und die Jugend haben mehr Vertrauen zu solchen, es ist auch billig, daß man die Nation wenigstens zu dem Dienst hervorzieht, und sie sind auch ehe zu

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Der Hallesche Pietismus war jedoch schon bald bemüht, diesen sonderbaren Auswuchs der ‚Herrnhuterei‘ in Livland zu untergraben, angefangen mit den Verfolgungen der Herrnhuter im Russischen Reich und sehr ausgeprägt in Livland mit dem sogenannten ‚stillen Gang‘ nach ihrem Verbot 1743. Ob die Verhältnisse im Inneren Russlands ausschlaggebend für die Bekämpfung der Herrnhuter im Russischen Reich waren oder vielmehr die Ereignisse im estländischen Reval (Tallinn) sowie die Aktivitäten zur Aufwertung der Bauern – sprich Letten – in Livland, ist noch nicht eindeutig beantwortet worden.10 Viele Anhänger von Halle wurden mit dem Beginn der Verfolgung zu Feinden der Brüder und Schwestern in Livland. Es gibt aber auch eine Reihe von früheren Zöglingen der Franckeschen Erziehungsanstalten, die zu begeisterten Herrnhutern wurden.11 Magdalena Elisabeth von Hallart verfolgte zusammen mit ihrem Mann, dem sächsischen General Nikolaus Ludwig von Hallart (1659–1727), die Idee der Bildung der lettischen Bauern und der Formung ihrer christlichen Seelen, die sie an ihrem Lebensabend realisierte, zunächst als treue Anhängerin August Hermann Franckes, die sie spätestens seit 1712 war,12 sowie als Mäzenin seines Bildungswerks in Halle. Ende der 1730er Jahre war ihr Leben durch einen regelrechten Bauboom von pädagogischen und seelsorgerischen Anstalten herrnhutischer Prägung gekennzeichnet. Unter ihrer Mitwirkung und Mitfinanzierung wurden eine neue Bauernschule, das Diakonat, der Lammbergkomplex mit den Räumlichkeiten für das Lehrerseminar, ein Gebetshaus mit einem außen stehenden kleinen Glockenturm sowie Wohn- und Wirtschaftsgebäude gebaut. Die früheren Bezugspersonen – ihr Ehemann und auch August Hermann Francke – waren bereits 1727 gestorben. Von Hallart hatte sich daraufhin in ihrer Gesinnung vom Pietismus hallescher Prägung hin zum Pietismus herrnhutischer Art umorientiert, womit für sie eine neue Lebensperiode begann. Im Herbst 1735 rühmte der herrnhutische Bruder David Nitschmann (1705– 1779), Hausmeister des Grafen Zinzendorf und nachmaliger Syndikus der Gemeine, in seinem Bericht über seinen Aufenthalt in Wolmarshof „ihr treues und zärtliches Herz gegen den Heiland, ihren großen Verstand und ihren unermüdeten Eifer die unwissenden lettischen Bauren im Lesen und Christenthum unterrichten zu



haben, bevorab was gutes, als Teutsche. b) Unter den Schulmeistern macht man billig Unterschied. Die Ungeschickten verweiset man an Wohlgeübte, daß Sie von Ihnen lernen und es würde großen Nutzen haben, wenn man geschickte Unteutsche Schulmeister über andere zur Aufsicht setzt.“ Der anonyme Verfasser dieser Empfehlungen schliesst mit dem Absatz: „Damit es nun nicht pia desideria Schriftwechsel conventus pp bleiben mögen, so helfe Gott dem der das Ruder in den Händen hat, manhafft zur execution bringen. Die so Gott in seiner Sache brauchen will, erleuchte Er!“ 10 Vgl. Teigeler, Otto: Die Herrnhuter in Russland. Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitäten. Göttingen 2006. 11 So z. B. Albert Anton Vierorth oder Joachim Schmidt. 12 Der erste Brief von von Hallart an Francke datiert vom 25. Februar 1712. Vgl. Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle/Hauptarchiv (AFSt/H). C 459:32.

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lassen“.13 Noch vor dem Besuch des Grafen Zinzendorf in Livland im Herbst 1736 war für Magdalena Elisabeth von Hallart die Sorge um ihre „armen Letten“ von größter Bedeutung. Ihre Überlegungen reichten dabei über eine bevormundende Praxis weit hinaus. Sie zielten, wie sie in einem Brief an Zinzendorf im Januar 1736 schrieb, vielmehr auf die Bildung der Letten durch ihre eigenen Volksvertreter – also durch die Letten selbst. Da die Bildung und das Seelenheil in dieser Zeit als eine Einheit betrachtet wurden, äußerte sie ihren Wunsch mit folgenden Worten: „Helfe doch der große Prophete, daß meine arme Letten selbst noch weissagen, und als Catecheten unter ihren Brüdern aufstehen! die Zeit kommt bald!“14 Mit dieser Aussage wurde Hallart selbst zur Prophetin. Denn bereits im Herbst desselben Jahres, als nach der Chronik von Erich von Ranzau Zinzendorf vom 9. bis 17. September in Wolmarshof weilte, wurden bei der Beratung zwischen diesem, Hallart und Balthasar von Campenhausen „solche Maaßregeln […] zur Unterstützung ihres Eifers“ vereinbart, „welche der liebe Heiland mit einem ausnehmenden realen und bleibenden Segen gecrönet hat“.15 Zunächst bezog sich dies auf „die verlangte Hülfe aus der Gemeine“ im Hinblick auf die Aussendung von Herrnhutern nach Livland als Katecheten, höheres Bedienstetenpersonal, Mediziner und Schulmeister. Darüber hinaus einigte man sich in Wolmarshof auch auf „einen wohlfeilen Druck der Lettischen Bibel in Königsberg“.16 Eine weitere Folge dieser Beratungen war angeblich auch das große Engagement Magdalena Elisabeth von Hallarts in den nachfolgenden Jahren. Neben dem Bau für Schulzwecke auf dem eigenen Gutshof entstanden auch die Ausbildungsstätte für Lehrer im Wohnhaus des neugebauten Diakonats sowie der Beetsaalkomplex Lammberg. Außerdem war Hallart Mäzenin des städtischen Hospitals und der deutschen Stadtschule unter der Leitung des aus Herrnhut geschickten Joachim Schmidt (1692–1757). Das Herrnhuter Personal und eine dem Volk zugängliche Bibelausgabe waren zwei wichtige Voraussetzungen für den Plan einer Bildungsanstalt, in der die begabte lettische Jugend zu Lehrern unter ihren Standes- und Volksgenossen befähigt werden sollte. Es fehlte noch das notwendige Gebäude – die Schule selbst. Unmittelbar nach dem Besuch Zinzendorfs ist in einem Brief vom 29. September 1736 bereits die Rede von dem zwar noch imaginären und bildlich gemeinten „Stein und Kalck“, 13 14 15 16

Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 16. UA Herrnhut. R.19.G.a.a.17.a.5: Hallart an Zinzendorf. Wolmarshof, 10.01.1736. Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 17. Ebd. Der Druck der Bibel erfolgte 1739: BIBLIA tas irr: Ta Swehta Grahmata, jeb Deewa Swehti Wahrdi, Kas preeksch un pehz ta Kunga JEsus Kristus swehtas Peedsimschanas no teem ­swehteem Deewa-Zilwekeem, Praweescheem, Ewangelisteem jeb Preezas-Mahzitajeem un Apustuļeem ­usrakstiti, Tahm Latweeschahm Deewa Draudsibahm par labbu istaisita [Bibel d. h.: Das Heilige Buch, oder die Heiligen Worte Gottes, die vor und nach der Geburt des Herrn Jesus Christus von den heiligen Gottesmenschen, Propheten, Evangelisten oder Lehrern der Frohen Botschaft und Aposteln aufgeschrieben, den lettischen Gottes Gemeinen zu gute gemacht]. Ķensbergā 1739.

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doch sind auch erste konkrete Anzeichen für das Vorantreiben des Schulprojektes deutlich erkennbar. Die Generalin wünscht sich, dass der verlangte Catechet als der „gesante Bothe des Ewangeliums lediglich nur die Erweiterung des Königreiches unsers göttlichen Herrn suche, in welchem Geschäfte ich nach meinem kleinen Vermögen des Hertzens dem selben die Hand biehten werde, Jesus gebe nur Kraft Stein und Kalck beyzutragen, meines inneren und äußeren, samt Leibes Schwachheiten, sint Ihnen geliebter Bruder nicht verborgen, als werden diese Ihnen einige Anmerckungen in der Wahl mit an die Hand geben, ich will stille seyn und erwarten, was die unergründliche Liebe des Ertz Hirten nach dem armen Wolmarshoff senden wird, Jesus und sein Geist wird’s in der Sendung wohl machen.“17

Der vereinbarte ‚Livländische Plan‘ wurde in den kommenden Jahren ohne Verzug umgesetzt. In den Sommermonaten 1737 kamen laut der von Erich von ­Ranzau zusammengestellten Chronik und anderen Quellen fünf Brüder nach Livland, ­darunter auch der künftige Schulmeister und Leiter des lettischen Lehrerseminars Magnus Friedrich Buntebart (1717–1750) sowie Joachim Schmidt als Rektor der deutschen Schule in Wolmar.18 Beide waren erst vor kurzer Zeit für die herrnhutische Sache entbrannt; Joachim Schmidt war anscheinend sogar direkt den halleschen Pietisten abgeworben worden. Nach dem Studium in Greifswald und Jena und seiner Tätigkeit als Cantor in Dramburg (Drawsko Pomorskie) 1727 sowie als Conrector in Landsberg 1728 sollte er 1735 Conrector in der Buchdruckerei des Waisenhauses in Züllichau (­Sulechów) werden. Nach der Bekanntschaft mit Zinzendorf in Greifswald begeisterte er sich jedoch für die Brüdergemeine. Nachfolgend wurde ihm das Amt des Inspektors in der Knabenschule in Herrnhut angeboten, von wo aus er 1736 schließlich nach Wolmar berufen wurde. Im Oktober 1737 kam er, wahrscheinlich zusammen mit Magnus Friedrich Buntebart, in Wolmar an.19

17 UA Herrnhut. R.19.G.a.a.17.a.7, 8: Hallart an Zinzendorf. Wolmarshof, 27.09.1736. 18 Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 18: „Dem Versprechen des Seligen Jüngers zufolge wurden dann in Herrnhut Anno 1737 den 9t Sept die 5 Brüder M. Fr: Buntebart, Marth. Hadwig, Fr: Türck, And: Poppendyk und Joachim Schmidt gewesener Conrector in Landsberg mit der anmerklichen Loosung: wie lieblich sind auf den Bergen die Füsse der Boten, die Frieden verkündigen, nach Liefland abgefertigt, welche mit einer ebenfalls merkwürdigen Loosung den 16t October in Riga und den 26t October in Wolmershoff ankamen. Ihre Ankunft war nicht nur der Frau Generalin, die so lange darnach verlangt, höchst erfreulich, sondern auch der bey Bruder Grasmans Besuch erwehnte Lette Kihs Peter erwartete und empfing sie mit großer Liebe. Nachdem sie sich hierauf nach 14 Tagen zusammen in Wolmarshoff aufgehalten, so wurden sie auf die ihnen bestimten Posten vertheilt. Br Hardwig kam nach Rohp zum Praeposito Spreckelsen, Bruder Buntebart nach Orellen zum Herrn General von Campenhausen, Bruder Türck nach Erms zum Herrn Blaufus, Bruder Poppendyk verblieb in Wollmarshoff und der Conrector Schmid wurde Rector an der teutschen Schule zu Wollmar.“ 19 Vgl. UA Herrnhut. R.22.183.16: J. Schmidts Lebenslauf.

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Wie Schmidt hatte auch Buntebart sich den Herrnhutern erst kurz vor seiner Entsendung nach Livland angeschlossen. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Berlin ging er 1736 zum Studium nach Jena. Dort geriet er in den Herrnhutern nahestehende Kreise, wechselte nach Herrnhut und wurde kurz darauf nach Livland berufen.20 Beide Lehrer waren bereit, sich in dem ihnen fremden Land für die ‚Sache des Heylands‘ zu opfern und sich dort ins Ungewisse zu stürzen. Die im Herrnhuter Archiv verwahrte Beschreibung des Todes von Buntebart im Jahre 1750 lässt erahnen, wie tief sich ihm die Erfahrungen in Wolmar eingeprägt hatten, denn noch auf dem Totenbett soll er „lettisch gesprochen“ haben. Zur Vorbereitung auf sein Schulleiteramt diente er 1737 ein Jahr lang als Informator oder Hofmeister bei Generalleutnant Balthasar von Campenhausen, der zweitwichtigsten Person der livländischen Herrnhutermission, bevor er am 23. August 1738 vom livländischen Oberkonsistorium zum Schulleiter der neu gegründeten Bildungsstätte berufen wurde. Die Entsendung der Brüder stellte eine große Erleichterung für die Generalin Hallart dar, waren die Aufgaben der Haushaltsführung sowie die Sorge um die sozialen Nöte ihrer Untertanen doch in ihrem mittlerweile fortgeschrittenen Alter nur noch schwer für sie zu bewältigen.21 Groß war ihre Freude aber vor allem im Hinblick auf eine ständige Präsenz von Personen, die ihr in ihrem radikalpietistischen Glauben verwandt waren, und diese Freude „vermehrte ihre schon vieljährige Sorgfalt für das Seelenheil der armen Letten.“22

Die Bauernschule auf Wolmarshof Die Idee einer Schulgründung, die erst nach dem Tod ihres Ehemannes auf Wolmarshof realisiert wurde, hatte einen Vorläufer in dem Plan eines Waisenhauses nach dem Vorbild August Hermann Franckes. Der Haus- und Feldprediger des Generals von Hallart, Georg Johann Hencke (1681–1720), berichtet in einem Brief an August Hermann Francke im Oktober 1713 aus Engelswach, einem Dorf bei Greifswald, dass der General nun für längere Zeit in der Niederlausitz (im heutigen Polen) stationiert werde und neben seinem Wohnhaus auch ein Waisenhaus errichten zu lassen wünsche.23 Dieses Vorhaben kam aber wegen einer Änderung der

20 Vgl. UA Herrnhut. R.22.8.1-14: M. F. Buntebarts Lebenslauf. 21 Vgl. die Briefe von Hallart an Zinzendorf von 1736, in denen sie diesen um einen Chirurgen, der die Letten versorgen sollte, geradezu anfleht (UA Herrnhut. R.19.G.a.a.17.a.7, 8). 22 Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 19. 23 AFSt/H. C 436:29: Hencke an Francke. Engelswach, 22.10.1713: „Nun aber muß berichten, daß H. General zur ruhe kömmet. Es hat nemlich der König in Pohlen ihm ein Gubernement in der Nieder-Lausitz aufgetragen. Es ist eine Meile von Guben [Gubin] ein Ort genannt Schidlo [Szydłów], welches befestiget wird, alwo der H. General seinen Sitz nehmen wird. Weil aber er sich

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Befehle des sächsischen Hofes an den General nicht zustande. Bis zum Ende des Großen Nordischen Krieges 1721 folgte Magdalena Elisabeth von Hallart ihrem Mann in die jeweiligen Stationierungsorte seiner Truppen bis in das Territorium der heutigen Ukraine. Erst mehr als zehn Jahre nach dem nicht realisierten Projekt eines Waisenhauses kümmerte sich die Generalin Hallart gleich nach ihrer Rückkehr nach Livland 1725 um die Elementarbildung der Bauern ihres Gutshofes Wolmarshof. Über die ersten Jahre sind keine Statistiken bekannt, aber im Frühling des Jahres 1730 besuchten die Bauernschule in der „Hofesriege“ auf Wolmarshof fast 100 Schüler.24 1737 brannte die als Schulgebäude genutzte Riege ab,25 was eventuell ebenfalls einer der Gründe für die Aufnahme einer regen Bautätigkeit war. Denn eine neue eigene Gutsschule wurde zu einer unter mehreren Bauvorhaben, die von Magdalena Elisabeth von Hallart mitinitiiert, umgesetzt und unterstützt wurden. 1738 wurde ein neues Gebäude für die Hofschule gebaut, in dem 1739 bereits 135 Mädchen und Jungen unterrichtet wurden.26 Als Schulmeister wirkten Pfarrer Melchior Pauly und der damalige Hofprediger Hallarts, Johann Friedrich Sielmann, sowie drei bis vier „undeutsche“ Schulmeister, deren Namen leider in den Akten nicht genannt werden. Die Kinder wurden unterrichtet „im catechismo, [in] biblischen Historien, alten und neuen Testaments, ingleichen im Lesen, Beten und Singen. H. Pra[e]positus Brüningk brachte bey, daß diese Schule, unter der Aufsicht des H. Pra[e]positi und Pastoris Diaconi stehe, die nach Gelegenheit, darin wöchentlich catechisieren.“27 Die Generalin unterhielt die Schulmeister und versorgte die Kinder mit Büchern. Einmal in der Woche, am Mittwoch, bekamen sie „warme Kost und Brodt vom Hofe gereichet, und zu ihrem Geträncke, bekämen sie wöchentlich, ein Loof Maltz.“28 Die restlichen Mahlzeiten mussten offenbar von den Eltern der Kinder oder den Gesindewirten aufgebracht werden.



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erst muß daselbst ein Haus bauen lassen, bleiben wir indeß in Guben. Er hat sich ein…, welches N. eine große Freude verursachet, vom Könige ausgebeten, daß er dürfte ein Waysenhaus mit bauen lassen. Einen Garnison Prediger zu Halle, gibt ihm der König auch frey. Da er mir nun diese Stelle hat angetragen, wird die Zeit lehren, ob man noch im cosistorio zu Dresden acceptieren werde.“ Vgl. Adamovičs, Ludvigs: Vidzemes baznīca un latviešu zemnieks 1710–1740 [Die Kirche Livlands und der lettische Bauer]. Nebraska 1963, S. 187. Als Riege wurde ein Gebäude zum Trocknen und Dreschen des Getreides bezeichnet. Vgl. Gutzeit, Woldemar von: Wörterschatz der deutschen Sprache Livlands. 3. Theil. 1. Hälfte. Riga 1892, S. 41. Vgl. LNA LVVA. 234/1/14: Acta Commissionis Generalis Ecclesiastica habita Wollmarshof d. 10. Jan. 1739, S. 360. Ebd. Ebd., S. 361.

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Der Ausbau des Diakonats mit dem Lehrerseminar Anfang 1737 kaufte die Generalin für 100 Landestaler das Grundstück für einen neuen Diakonatsbau nahe der wolmarischen Kirche und dem Ufer der Aa (Gauja). Als im Jahr darauf Christian David wieder in Livland war, konnte sie mit seiner Hilfe den für Schulzwecke erweiterten Diakonatsbau beginnen. Während sie Balken für den Bau lieferte, besorgte Campenhausen 10.000 Ziegelsteine im Wert von 50 Talern. Die zu der wolmarischen Kirchengemeinde gehörigen Gutsherren schickten für acht Wochen ihre Bauleute. Zur Entstehung des Wohnhauses am Diakonat steuerte die Generalin mehr als 500 Taler bei.29 Aus diesen Angaben wird ersichtlich, dass das Diakonatsgebäude ein steinerner Bau gewesen sein muss. Aus der erhaltenen Kostenauflistung kann man ersehen, dass das Wohngebäude ein gemauertes Fundament hatte, sich im Gebäude vier Öfen befanden und es Glasfenster gab.30 Die Chronik von Erich von Ranzau berichtet zu den Vorgängen: „Sie resolvirte daher Anno 1738, da ihr bisheriger Hausprediger [Johann Caspar] Barlach von der Regierung zum Diacono in der Stadt Wollmar berufen wurde, dem selben ein geraumes Haus zu bauen, damit darinnen eine Anstalt errichtet werden könnte zur Zubereitung lettischer Schulmeister, welche gelegenheit sie vor das einzige Mittel hielte das Evangelium denen Seelen bekannt zu machen, nachdem alle andren bisher gemachte Proben umsonst gewesen […].“31

In einem Schreiben an die Obrigkeit (allem Anschein nach an das Oberkonsistorium) vom 12. Januar 1739, das als Kopie erhalten ist, erklärte Magdalena Elisabeth von Hallart die Motivation ihres Tuns: „Nachdem die große und bejammernswürdige Unwissenheit in der nothwendigen Erkäntnüß der Ortnung des Heyls und den Mangel der lebendigen Erfahrung in den Wegen des rechtschaffenen Wesens in Christo Jesu theils bey den Unterthanen auf Wolmarshoff, theils bey unserem armen Lettischen Volcke überhaupt, viele Jahre her mit betrübtem Hertzen angesehen und demselben abzuhelffen sehnlich gewünschet: auch andere redliche Freunde und Knechte Gottes in diesem Lande ihre pia desideria [Hervorhebung, B.P.] deßfalls aufgenommen, und ihren guten Absichten nach meinem wenigen Vermögen die hülffliche Hand jederzeit gerne und willig dargeboten; Ich aber gleichwohl den Mangel der Schulen und tüchtigen Schulmeister in unserem Lande allezeit als eine Haupthinderniß die nöthige Erkänntniß des Heyles unter den Letten aufzurichten geglaubet habe; so habe nicht nur als ein eingebohrnes Mitglied

29 Adamovičs, Ludvigs: Latviešu skolotāju seminars Valmierā [Lettisches Lehrerseminar in Wolmar]. In: Audzinātājs. Paidagōģiski – sabiedrisks mēnešraksts 9 (1938), S. 438–446, hier S. 441. 30 LNA LVVA. 234/1/14: Acta Commissionis Generalis Ecclesiastica habita Wollmarshof d. 10. Jan. 1739, S. 376f. 31 Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 19.

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Beata Paškevica dieser Lande, meiner Pflicht und Einsicht gemäß, auf die Anrichtung dergleichen Hoffschulen unter den hiesigen Bauren, und auf die Information ihrer Kinder und Gesinde vor langen Jahren bestmöglichst selbst gesehen; sondern auch dem Verlangen und Instigation etlicher guten Freunde und Nachbarn einige Satisfaction zu thun, einen Versuch mit einer solchen Privat-Anstalt machen wollen, darinnen zum besten des Landes tüchtige Subjecta zu künfftigen Schulmeistern preparieret, und der Unwissenheit der Jugend dadurch abgeholffen werden möchte. Zu dem Ende ist nicht nur aus meinem Vermögen ein Stück Landes auf Wolmarischen Grund und Boden erkaufft, und der dasigen Kirche verschrieben, sondern auch die darauf nun erbaute Wohnung des Diaconi in dieser Absicht größer als es sonsten wohl wäre nöthig gewesen, auf eigen Unkosten, laut beygehender Rechnung, auferbauet worden, damit ein Versuch mit dergleichen Praeparandis gemacht werden könne. Dieses ist dann auch unter göttlichem Segen und Beystand bereits dahin gediehen, daß man daher den löblichen Eyfer in Beförderung des guten einiger meiner lieben Herren Nachbarn secundiren, selbige mit dergleichen Subjectis zum Schulhalten versehen, und dem bisherigen Mangel zu statten kommen können.“32

Der Leitstern ihrer Aktivitäten waren die pia desideria, die praxis pietatis, die sie ihr Leben lang aufrechterhielt, die Erbauung des inneren Menschen in jedem menschlichen Wesen unabhängig von seiner Herkunft. Die diesbezüglichen pietistischen ­Grundsätze waren eine Widerspiegelung ihrer lebenslangen Berührung mit pädagogischen Anstalten pietistischer Prägung. Dies waren nicht nur jene von Francke, sondern auch die von schwedischen Gefangenen geführte Schule in Toboľsk, an der der in ihrem Hause wohnende Prediger Melchior Pauly gewirkt hatte. Ebenso gehörten dazu die Bemühungen des Grafen von Sorau (Żary), Erdmann II. von Promnitz,33 wahrscheinlich auch das von Ernst Johann Glück Ende des 17. Jahrhunderts in Marienburg (Alūksne) organisierte Lehrerseminar und sicherlich die Bauernschulen einiger ihrer Nachbarn, mit denen sie gut vertraut war. Nicht zuletzt hatte sie eigene Erfahrungen in den 1712 und 1713 von ihr geführten pietistischen Zusammenkünften in vielen Städten Norddeutschlands und in ihrem Salon in Dresden sowie mit dem Bauernunterricht auf Wolmarshof gemacht. In einem an die Zarin Elisabeth Petrovna gerichteten Schreiben vom 16. Februar 1744, als die Verfolgungen bereits im Gange waren und die Einrichtungen geschlossen werden mussten, fasste sie ihre Leistung und Vorgehensweise noch einmal zusammen: „Nachdem nehmlich durch Ihro kayserl. Majestät der höchstseel. Kayserin Catharina ewig glorwürdigsten andenkens allerhöchste Hulde das publique Guth Wolmarshof mir auf meine Lebenszeit zu besitzen allergnädigst verliehen worden. Habe nebst einer sorgfältigen disposition denßelben geführt, die sehr blinde unwißende 32 LNA LVVA. 233/1/485: Brief von Magdalena Elisabeth von Hallart, 12.01.1739, S. 9f. 33 Vgl. Mahling, Lubina: Um der Wenden Seelenheyl hochverdient: Reichsgraf Friedrich Caspar von Gersdorf: Eine Untersuchung zum Kulturtransfer im Pietismus. Bautzen 2017.

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Bauernschaft zu beßeren Erkenntniß in ihrem Christenthum zu verhelfen, ich legte zu solchem Zweck auf eigen Kosten eine Bauerschule an, salarirte die Schulmeister, und versahe die Schulkinder mit Büchern, auch zum Theil mit nöthigem Unterhalt, wie solches aus dem in E.Ex. Gen. Gouvernem. Archiv befindlichem protocollo der ad 1739 gehaltenenen Kirchenvisitation erhellet. Weil aber bey dem bekandten mangel guter Schulmeister aus aller Bräuchung kein rechter Nutzen zu hoffen war, so resolvierte eine eigene Schule zur Preparation lettischer Schulmeister anzulegen, kauffte daher einen Erbplatz nahe an dem Städtchen Wolmar, ließ darauf aus eigenen Kosten die nöthigen Gebäude aufführen, nahm den Studiosum theologiae Buntebarth, nach dem er von dem damaligen Gen Superintendenten Fischer examiniret und tüchtig befunden worden an, und gab einige fähige Baurjungen unter deßen Information, welches denn balde einen allgemeinen Beyfall erhielte, daß auch von vielen anderen gütigen Baurjungens dahin gesandt wurden, um zu Schulmeisters abgerichtet zu werden […]. Ich unterwerfe dieses von mir in lauterer Absicht unternommene Werck ferner Gott und Ihro Kayserl. Mayst. allergerechtesten Einsicht und Verfügung.“34

Was die Gründung des Schullehrerseminars angeht, so wurde ab Ende August 1738 das neue Diakonatsgebäude mit dem Wohnungsanbau bezogen. Magnus Friedrich Buntebart wurde als Direktor angestellt, die wirtschaftliche Leitung übernahm Bruder Andreas Poppendyk,35 der Lehrbetrieb begann: „Die ersten zu solchen Schulmeistern destinirte Subjecte waren 8 Knaben von der Frau Generalin ihrem Gute Wolmershoff.“36 Der Kirchenhistoriker Ludvigs Adamovičs und der Historiker Gvido Straube haben die Namen dieser ersten Schüler in ihrer eventuell lettisch korrekten Form aufgelistet:37 Ruģēna Juris (18 Jahre), Kungeta Jēkabs (17), Pauska Kaspars (16), Sausiņa Dāvids (14), Lielķīšu Sīmanis (12), Kreita Mārtiņš (12), Lielgaiļa Mārcis (11) und Miķelis vom Gutshof (7).38 Die Chronik von Ranzau berichtet ferner: „Zu diesen 8 Knaben kam noch einer durch den Pastor Barlach von einer andern Herrschaft erbetener Lette Namens Skester Peter, den man wegen seiner Fertigkeit im Lesen zum Schulhalten destinirt hatte. Aus der Folge sahe man, das eine verborge34 LNA LVVA. 233/1/837, S. 456: Hallart an die Kaiserin Elisabeth Petrovna, 16.02.1744 (nicht eigenhändig, aber mit ihrer Unterschrift). 35 Ab Winter 1739 wurde er von dem neu aus Herrnhut angekommenen Bruder Hermann unterstützt. Dieser „nahm sich des Oeconomici hauptsächlich mit an, welchem der Bruder Poppendyk nicht gewachsen genug war“ (Ranzau, Historische Nachricht [wie Anm. 8], Par. 22). 36 Ebd. 37 In dem deutschsprachigen Original, das von Magnus Friedrich Buntebarth unterschrieben ist, sind die lettischen Namen dagegen in deutscher Schreibweise notiert, eventuell nach dem Gehör. 38 LNA LVVA. 234/1/14: Acta Commissionis Generalis Ecclesiastica habita Wollmarshof d. 10. Jan. 1739, S. 395; Straube, Gvido: Latvijas brāļu draudzes diārijs: (jaunākais noraksts) jeb Hernhūtiešu brāļu draudzes vēsture Latvijā [Das Diarium der Brüdergemeine Lettlands (die neueste Abschrift) oder Die Geschichte der Brüdergemeine in Lettland]. Rīga 2000, S. 53.

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Beata Paškevica ne Gnadenwahl des Hern ihn hieher gebracht hatte, denn er wurde in kurzer Zeit durch die Würkung der Catechisation der Brüder auf sein Herz, aus einem leichtsinnigen und ruchlosen Menschen, dafür er allenthalben bekannt war, zu einem Kind und Zeuge der ihm wieder fahrenden Gnade, bey dem Gesinde, in welches er nicht lange nachher wieder zurück genommen wurde.“39

Ein knappes halbes Jahr nach der Eröffnung im Januar 1739 hatte das Seminar schon 15 Schüler, hinzu kamen noch Jungen aus den Gütern der befreundeten Gutsbesitzer: „Von Lindenhoff Audula Pehteris 30 Jahr, von Kudum Sallneeka ­Michel 19 Jahr, von Karkel vom Hoff Jahn 16 Jahr, Jauna Sallas Jahn 10 Jahr, von Orellen vom Hoff Alexander Anderson 17 Jahr, von Rosenbeck Diehtsch Krisch 13 Jahr, von Auzem Grohtes Michel 15 Jahr.“40 Buntebart hatte mehrere Gehilfen aus den Reihen der Brüder. So wurde im Herbst 1738 Bruder Turck, „der bisher bey dem Pastor Blaufuss in Erms gewesen, […] da letzerer einen Ruf nach Riga bekommen, als Gehülfe bey der Schulanstalt in Wolmar gebraucht“.41 Neben Andreas Poppendyk, Bruder Hermann und Bruder Turck (auch: Türck) gab es eventuell noch andere Brüder, die sich um die Schüler kümmerten. Sicherlich waren auch der Diakon Johann Caspar Barlach, Christian David und der Rektor der deutschen Schule in Wolmar, Joachim Schmidt, involviert. Die Beschreibung des Unterrichts fällt in den Kirchenvisitationsakten leider sehr knapp aus. Als Buntebart zu dem Unterricht befragt wurde, gab er zur Antwort, „daß er die Jugend auf eine besondere und leichte Art zum Buchstabieren und Schreiben anführe, auch weil die Letten überhaupt schwer zum ordentlichen Singen zu bringen sind, nach Noten singen lehre, endlich über den Catechismum und über die Sprüche der heiligen Schrift catechisiere die Bauerjugend solcher gestalt, zu künftigen Schulmeistern, zu praeparieren.“42

Es ist erkennbar, dass sich das Programm des Lehrerseminars in der Materie wenig von dem Schulprogramm der Bauernschule unterschied, die Novität war der Gesangsunterricht nach Noten. Man kann nur annehmen, dass viele der Seminarzöglinge bereits die Bauernschule absolviert oder auch Hausunterricht erhalten hatten und als besonders begabt eingestuft wurden. Genauso wie in der Bauernschule versorgte die Frau Generalin die Kinder von ihrem Gutshof allgemein „mit Kost, Kleidern und Büchern“. Jedoch ist hierbei davon auszugehen, dass sie täglich für ihr Essen sorgte: „Den Fremden Kindern geben ihre Herrschaften das Nöthige zu ihrem Unterhalt, solchen H Landrath und 39 Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 21. 40 LNA LVVA. 234/1/14: Acta Commissionis Generalis Ecclesiastica habita Wollmarshof d. 10. Jan. 1739, S. 395. 41 Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 22. 42 LNA LVVA. 234/1/14: Acta Commissionis Generalis Ecclesiastica habita Wollmarshof d. 10. Jan. 1739, S. 373.

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Oberkirchenvorsteher v. Campenhausen zufügte, das auf der Frau Generalin, auch dieser Kinder wegen die größte Last liege.“43 Nach der eigenen Besoldung gefragt, gab Magnus Friedrich Buntebart an: „Nach dem Sinne der Schrift, laß er sich an Nahrung und Kleider begnügen“.44 Neben dem Lehrerseminar wurden auch Stunden der Evangelisierung und Katechese für interessierte Letten abgehalten: „alle Sonntag eine Stunde in der teutschen Wollmarschen Schule, welcher der Bruder Joachim Schmidt vorgesetzt war“.45 Dieser Unterricht war der Anfang des wirkungsvollen Erweckungserlebnisses, das zu dem Phänomen der livländischen Herrnhutermission führte. Der Lernprozess war durchaus nicht nur einseitig, denn die Herrnhuter waren daran interessiert, ihre Kenntnisse der einheimischen Sprache zu vervollkommnen, um erfolgreicher missionieren zu können, und so waren ihnen die Schüler „zur Erlernung der lettischen Sprache sehr nützlich“. Bruder Buntebart war ein so fleißiger Schüler, „dass er verschiedene Lieder ins Lettische zu übersezen anfing, unter denen die Lieder: Mein Heiland nimmt die Sünder an pp und Jesus ist das schönste Licht pp die ersten mit waren“.46 Diese Lieder wiederum trugen zur weiteren Verbreitung von Lese- und Schreibkenntnissen über den engeren Kreis der Schüler bei, wie der Chronist Erich von Ranzau feststellte: „Durch diese Kinder hörten nun auch die Eltern die Wunder der Gnade erzehlen, und unsre Brüder nahmen dabey Gelegenheit in deren Gesinden zu besuchen, fanden offne Herzen und Ohren, theilten ihnen die übersezten Lieder mit, die sie in Menge durch die Schulknaben abschreiben lassen, und wer nicht lesen konnte, bemühte sich um dieser Lieder willen Lesen und Schreiben zu lernen, wodurch also diese Nation auf so mancherley Weise besonders verändert wurde.“47

1739 wurde das von Buntebart erarbeitete lettische Gesangbuch mit 33 Liedern ­unter dem Titel Kādas izlasītas garīgas jaukas dziesmas (Einige auserwählte schöne geistliche Lieder) und die neue Bibelausgabe in lettischer Sprache in Königsberg gedruckt.48 Im Jahr darauf hatte Buntebart mit seinen lettischen Gehilfen bereits 60 Lieder übersetzt und plante den Druck, der 1742 in Reval erfolgte.49 In dieser Ausgabe, die unter demselben Titel wie die von 1739 erschien, waren bereits 235 43 44 45 46

Ebd. Ebd., S. 297. Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 22. Ebd., Par. 23. Zu den Liedern vgl. Grudule, Māra: Mēs šeitan esam viesi [Wir sind hier Gäste]. In: Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine 65–66 (2011), S. 133–148, hier S. 134. 47 Ebd. 48 Vgl. Grudule, Mēs šeitan esam viesi (wie Anm. 46), S. 134 sowie Kröger, Rüdiger: Kommentierte Bibliographie zur lettisch-sprachigen Literatur der Brüdergemeine. In: Unitas Fratrum 65–66 (2011), S. 187–209, hier S. 189. 49 Vgl. Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 36.

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Texte enthalten. An allen Ausgaben beteiligte sich Magdalena Elisabeth von Hallart finanziell. Die Liedertexte zirkulierten sicherlich vor allem in Abschriften, vielleicht auch als kleine handgeschriebene Bücher, die von den Zöglingen des Lehrerseminars angefertigt wurden, wie bereits die oben zitierte Aussage belegt. Einige Jahre später äußerte Buntebart sogar den Wunsch nach einem eigenen Buchbinder für die herrnhutischen Schriften in Livland, da die Herstellung der Texte bereits größere Ausmaße angenommen hatte.50 Er schrieb an den Grafen Zinzendorf 1747: „Wenn wir einen Buchbinder haben könnten, so geschähe uns auch ein großer Dienst, weil keiner im Lande ist, und weil in Riga nicht unsere Bücher binden, da hohe Schwürigkeiten.“51 Buntebarts Tätigkeit scheint eine sehr erfolgreiche gewesen zu sein. Er wird beschrieben als „ein durchgängig von den Brüdern, der Frau Generalin und den Letten geliebter und geehrter, und in seiner Seelen Arbeit legitimirter Bruder […].“52 Magnus Friedrich Buntebart war einer der Brüder, die in der Tat den Umgang mit den Letten, ihre Bildung und Missionierung, als seine Lebensaufgabe betrachteten. Am 7. November 1747 schrieb er aus Wolmarshof an Ludwig Nikolaus von Zinzendorf: „Nun wolte ich gerne daß ich Ihnen ein Stückgen von dem Gefühl mitschicken könte, das man unter dem Bauervolck hat, wenn man sich so in ihren Riegen vom Seitenhölchen hört zeugen und es besingen, es ist gewiß so niedlich als man sichs kaum vorstellen kan, unser lieber himmlischer Vater kan das Volck nicht laßen um seines Sohnes willen.“53

Dennoch kehrte Buntebart bald darauf nach Deutschland zurück und kam nicht mehr nach Lettland, weil er krank wurde und 1750 starb. Die emsige und erfolgreiche Arbeit bei den lettischen Bauern konnte nicht unbemerkt bleiben. 1739 wurde eine kirchliche Kommission zur Untersuchung des Unternehmens angeordnet, „vermuthlich durch manche widrige Gerüchte von der neuen Schulanstalt im Diaconat“.54 Das Resultat war jedoch, dass Generalsuperintendent Fischer „an alle Pastores die Anweisung ergehen [ließ], aus allen Kirchspielen tüchtige Leute zu Preparation zu Schulmeistern ins Diaconat nach Wollmar zu senden, wovon der Effect war, daß die Zahl derselben im Kurzen über 30 anwuchs“.55

50 Leider ist fast nichts von diesen frühen Schriften erhalten. Die umfangreichste Sammlung der ­herrnhutischen Handschriften in Lettland besitzt die lettische Nationalbibliothek, vgl. auch die dortige digitale Sammlung „Latvian Handwritings of the Moravian Brethren“, https://braludraudze.lndb.lv/en/filter/ (16.09.2020). 51 Mit den Schwierigkeiten meinte er sicherlich das Verbot von 1743. Vgl. UA Herrnhut. R.19.G.a.a. 18.a.d., S. 265: Buntebart an Zinzendorf. Herrnhaag, 13.03.1747. 52 Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 39. 53 UA Herrnhut. R.19.G.a.a.18.a.269: Buntebart an Zinzendorf. Wolmarshof, 07.11.1747. 54 Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 29. 55 Ebd.

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Im Laufe des Jahres 1740 scheint das Seminar so populär geworden zu sein, dass „die Anzahl der vom 20 Meilen weit, ja selbst aus Curland dahin geschickten Schüler immer zunahm und bis an die 100 anwuchs. Die Gelegenheit zu den leztern war der durch den Ruf von dem gesegneten Lauf des Evangelii in Liefland veranlasste Besuch eines Inspectors und 2 Pastoren aus Curland, unter denen auch Pastor Loskiel war. Sie kamen und sahens und gingen erstaunt wieder zurück, und der Inspector sandte bald darauf 3 Schüler ins Diaconat.“56

Bereits 1740 scheint die erste Besetzung von Bauernschulen mit im Seminar ausgebildeten Schulmeistern stattgefunden zu haben. Es wurden „ausserhalb Wollmar neue Schulen mit ihnen angefangen und besezt […]. Dieses geschah zuerst auf denen Höfen Auzen, Lindenhoff, Mahrzen, Neuhoff, Orellen und Rosenbeck, wozu noch im Winter die Schulen in Arrasch, Karckel und Wenden kamen. Roop nicht zu gedenken, woselbst auch durch den Dienst und das Zeugnis des Bruders Hadwigs ein hoffnungsvoller Anschein zu einer gesegneten Erndte sich hervorthat.“57

Die oben genannte Untersuchungskommission begutachtete das Unternehmen in ihrer ersten Begeisterung nicht nur wohlwollend, sondern lobte es regelrecht und erklärte es für mustergültig. Die Verordnung der General-Kirchenkommission vom 22. Oktober 1740 war ein Loblied auf das Werk von Hallart: „Demnach die Gnade des Herrn die hochwohlgebohrne verwittwete Frau Generalin Baronesse von Hallart dahin gelenket, daß neben dem Diaconat in Wolmar ein Haus angelegt worden, worin durch die von Ihr gemachte Veranstaltung bis auf 120 Personen zu tüchtigen Schulmeistern bey denen bishero fast gänzlich Mangel im Lande, zum Unterricht der armen lettischen Baurn Jugend, in der Erkenntnis Gottes und seines Gnaden-Willens praepariret werden sollen, und man die Hofnung hat, es werden die sämtlichen Herrn Eingepfarrte die auch hierin hervorleuchtende unverdiente Gnade und Erbarmung Gottes unsers Heilands mit demüthigstem Dank erkennen, und in Betracht der denenselben vor Gott obligiete Pflicht für das Seelenwohl ihrer Unterthanen, als des Herrn so theure Erlöseten, alle möglichste Sorgfalt zu tragen, sich höchstens angelegen seyn lassen, so thann Gelegenheit mit Freuden anzunehmen. So hat man von sothaner zur Praeparirung der Schulmeister, gemachten Veranstaltung hiermitelst Nachricht geben wollen, damit die Herren Eingepfarrte, wann sie jemand zum Schulmeister praepariren zu lassen, nöthig finden, einen oder 2 hinsenden können.“58

56 Ebd., Par. 32. 57 Ebd., Par. 33. 58 Zit. nach ebd., Par. 38.

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Der Lammbergkomplex Der Erfolg und ihr mäzenischer Eifer führten die Frau Generalin zu dem Plan, nicht nur ein vergrößertes Wohnhaus am Diaconat für Seminarzwecke zu errichten, sondern auch einen beachtlichen Gebäudekomplex für die Zwecke der Evangelisierung und Bildung der Letten. Die Chronik von Ranzau meldet: „Daher kaufte die in ihrem Eifer für das Heil der Letten unermüdete Frau Generalin, […], einen nahe an dem Diaconat gelegenen Plaz, um daselbst eine bequemere und grössere Anstalt zu errichten“.59 Eine Kopie eines Teils des Kaufvertrags ist im Universitätsarchiv in Herrnhut aufbewahrt. Aus einem weiteren Eintrag erfahren wir, dass die Generalin „durch die Rußen eine Versamlungs-Rigge von 18 Faden (oder Klafter) aufrichten [ließ], damit es den begierigen Letten nicht an Gelegenheit fehlen möchte das Evangelium von Jesu Christo auch im Winter zu hören, und solches als eine Kraft Gottes zur Seligkeit an ihrem Herzen zu erfahren.“60

Nach einer anderen Beschreibung war dieses Hauptgebäude, das allerdings auf dem 1747 datierten Plan als Wohngebäude eingetragen ist, „138 Fuß lang und 42 Fuß breit, einstöckig, mit 2 Haustüren auf jeder Seite“.61 In ihm befanden sich zwei Säle, einer für die Zusammenkünfte der Deutschen und einer für die Letten. An beiden Seiten waren „Arbeiterwohnungen“ angebaut. Das Gebäude scheint kein purer Holzbau, sondern ein mit Kalk verputztes Haus gewesen zu sein, hatte zwei Mantelschornsteine und eventuell ein Strohdach.62 Laut Hallarts Bericht an die russische Zarin Elisabeth Petrovna vom 16. Februar 1744 hat sie 1740 den bei „Wolmarshof befindlichen so genandten VersammlungsHauses oder Lammsberg“ gebaut: „[I]st derselbe durch meine selbst eigene Bemühung u. Kosten besorget, auch die Bauleute, so daran gearbeitet, baar von mir bezahlet worden. Wie denn auch alles dazu erforderliche Holtz an Balcken und Brettern vor baare Bezahlung ohne den publiquen Wald im mindesten zu berühren, angekauffet habe.“63

Hinter dem Haupthaus gab es ein „[g]roßes Gebäude zum Schlafen für die Baur Jugend“,64 daneben auch Stall, Keller, Riege, Gartenkeller, Schmiede und Badstube. 59 Ebd. 60 Ebd., Par. 28. 61 Philipp, Guntram: Die Wirksamkeit der Herrnhuter Brüdergemeine unter den Esten und Letten zur Zeit der Bauernbefreiung (vom Ausgang des 18. bis über die Mitte des 19. Jhs.). Köln-Wien 1974, S. 156, Anm. 13. 62 Hinweise zur Architektur verdanke ich dem Architekten Pēteris Blūms. Zu Innenausstattung der Räume vgl. Straube, Latvijas brāļu draudzes diārijs (wie Anm. 38), S. 62–64. 63 LNA LVVA. 233/1/837, S. 456: Hallart an die Kaiserin Elisabeth Petrovna, 16.02.1744. 64 Vgl. UA Herrnhut. R. 19. G.a.7.b: Plan von Lammberg von 1747.

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Diese Gebäude scheinen Blockhäuser gewesen zu sein. Nach der Fertigstellung des Hauptgebäudes wurde 1741 „im September Monath der Saal in dem selben durch Biefer bey seinem 2t Besuch in Gegenwart der Frau General Hallardtin, des General Campenhausens, des Probsts Bruiningks und aller teutschen Geschwister nebst einigen Letten mit Gebet und Flehen eingeweyht, worauf bald nachher die Geschwister Mickschens und die Brüder Buntebart und Heim das neue Haus bezogen und die Versamlungen in dem neuen Saal forthielten.“65

Aus Anlass des Besuchs der Gräfin Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf gab es eine zweite, noch feierlichere Einweihung des ganzen Gemeinhauses am 10. November 1741. Die Veranstaltung war in den Abendstunden, Buntebart betete auf Lettisch, Biefer betete auf Deutsch. „[A]m 8t December [wurde] ein seliger teutscher und lettischer Gem-Tag gehalten, den 10tn die Schule aufs neue eingerichtet, am 12ten Bruder Buntebart zu seinem Zeugen Plan durch Bruder Krügelstein eingesegnet, und dazwischen wichtige und reale Lehr und practische Conferenzen gehalten worden, so reiste die Frau Gräfin am 13t December von Wollmarshoff nach Brinkenhoff ab und beschloss damit ihren dismaligen gesegneten und unvergesslichen Aufenthalt daselbst.“66

Der Beetsaalkomplex konnte aber nur etwas mehr als ein Jahr bestehen. Bereits 1743 begannen die Verfolgungen der Herrnhuter in Livland, welche die nachfolgende Periode ihrer Tätigkeit, den sogenannten ‚stillen Gang‘, einleiteten. Die Gebäude wurden verriegelt und die Glocken entfernt. Auch der Archivar Erich von Ranzau wählt nun einen härteren Ton in seiner chronikartigen Beschreibung der Herrnhuter in Lettland. Er stellt fest: „Das Jahr 1743 hat sich besonders durch die Wollmarsche Commission vom Merz bis August ausgezeichnet, welche auf die harten Comissionen in Esthland in den beiden ersten Monathen dieses Jahres gefolget ist und so wie jene nichts weniger als die gänzliche Zerstörung und Zertretung des durch die Brüder ausgesanten und so herrlich aufgegangenen Samens des Evangelii zum Zweck gehabt hat. Die Wollmarsche Commission brachte es auch so weit, daß nicht nur am 26t April der Lammesberg versiegelt und dadurch dem gesegneten Schulmeister Seminario in demselben ein Ende gemacht, sondern auch am 14/25 May alle privat Erbauungsstunden und Versamlungen in ganz Lettland ohne Unterschied des Orts und der Personen aufs schärfste untersagt und verboten wurden.“67 65 Ranzau, Historische Nachricht (wie Anm. 8), Par. 43. Anm. der Red.: In diesem Zitat werden „Geschwister“ und „Brüder“ nicht im genealogischen Sinne, sondern im Sinne der Brüdergemeine verstanden. 66 Ebd., Par. 50. 67 Ebd., Par. 53.

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Der Lammbergkomplex wurde nie wiedereröffnet. Obwohl es fortan verboten war, die ‚Herrnhuterei‘ auszuüben, wurde die Ausbildung eventuell privat fortgesetzt. Nach dem Tod der Generalin Hallart im Januar 1750 begann der neue Besitzer bereits 1753 mit der Abtragung der Gebäude; 1765 vernichtete ein Blitzschlag den verbliebenen Rest.68 Doch das herrnhutische Werk hatte bereits Wurzeln geschlagen. Die ‚erweckten‘ Letten erachteten die herrnhutische Arbeit für bedeutsam und wollten selbst aktiv werden. Die ausgebildeten Schulmeister hatten ihre Tätigkeit aufgenommen. Magnus Friedrich Buntebart konnte dem Grafen Zinzendorf im Jahre 1747 daher berichten: „Es sind doch über 20 Schulen allein im Lettland, die mit unseren Schulmeister Brüdern besezet sind, die wir instruieren und besuchen können, daher ist eine große Anzahl Kinder, die ein Gefühl vom Lämmlein und seinen Wunden haben, davon auch schon viele bearbeitet worden. Wenn dazu ein eigener Bruder wäre, der sich ganz der Sache widmete, so würde gewiß was seliges vor die Jugend herauskommen.“69

Es gibt vereinzelte Nachrichten über die Berufstätigkeit und das weitere Schicksal einiger Seminarabsolventen, so zum Beispiel zu Audula Peteris in der Schule in Lindenhof und einigen anderen, die von Ludvigs Adamovičs beschrieben wurden.70 Friedrich Bernhard Blaufuß, Pastor der Jakobskirche und Verfasser der ersten Geschichtsbeschreibung Livlands in lettischer Sprache, würdigte das Wirken Magdalena Elisabeth von Hallardts mit folgenden Versen: „Des Hallardts liebliche, verständige Gemahlin, Sie legte Schulen an und bracht sie in Gestalt, Gab auch zu Büchern Geld den Lehrern Unterhalt. Durch ihr Exempel ließ sich mancher Herr bewegen Auch so wie sie im Hof die Schule an zu legen, Dem diese holde Frau den nöthgen Lehrer gab, Sie hatte mehrere, gab ienen welche ab. Sie pflegte nicht allein das Gute an zu rathen, Sie halff auch gern dazu mit manchen Liebes Thaten […].“71 68 Vgl. UA Herrnhut. R.19.G.a.4, Nr.15; R.19.G.a.7b sowie Philipp, Guntram: Die Wirksamkeit der Herrnhuter Brüdergemeine unter den Esten und Letten zur Zeit der Bauernbefreiung (Vom Ausgang des 18. bis über die Mitte des 19. Jhs.). Köln, Wien 1974 (Forschungen zur internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 5), S. 156, Anm. 13. 69 UA Herrnhut. R.19.G.a.a.18.a.d., S. 265: Buntebart an Zinzendorf. Herrnhaag, 13.03.1747. 70 Vgl. Adamovičs, Latviešu skolotāju seminars Valmierā (wie Anm. 29), S. 444f. 71 LNA LVVA. 237/1/8c: Liefländisches Denckmal bestehend in einem Ruhm des Werckes Gottes welches sich Ao 1738 in Erweckung einer Menge Ehstnischer und Lettischer Bauern im Herzogthum Liefland zu deren ungeheuchelten Bekehrung und seligen Herzens und Lebens Veränderung hervorgethan und iedermänniglich bekannt ja weltkündig geworden, wegen der davon ausgestreueten Unwahrheiten und falschen Berichte nach desselben wahren Begebenheit, in gebundenen Zeilen von einem unpartheiischen Augenzeugen aufgesetzt 1753. (Ein weiteres Exemplar befindet sich im Unitätsarchiv Herrnhut; eine Edition befindet sich in Vorbereitung.)

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Das Waisenhaus von Alp als ‚pietistisches‘ Zentrum – Nachbildung, Ausgangspunkt oder nur ein gescheitertes Projekt? Am 19. Februar 1719 berichtete der damalige Direktor des Waisenhauses von Alp (Albu), Heinrich Christoph Wrede (1691–1764), an August Hermann Francke (1663–1727) nach Halle an der Saale: „Anno 1717, den 26 May lenckete er [Gott] unsers H. Baron und Vicepraesidenten Nieroths Hertz dafür, daß er sich nach seinem Gute Alp, welches 6 Meilen von meiner Pfarrei – S. Johannis genannt – abgelegen, fordern ließ, allwo er in meiner Gegenwart beschloß, seine 4 beyeinander liegenden Güter nahmentlich Alp, Seydel, Kaulep und Jerwen zu einem Waisenhause auf immer gäntzlich zu geben, darinnen so wohl Adeliche als unadeliche insonderheit arme Kinder unterhalten, informieret und studiis und in wahre lebendige Christenthum eingeleitet werden sollten.“1

Der Brief Wredes an Francke beschreibt die „auf immer“ gemachte Stiftung eines Waisenhauses, auf dessen Gelände wie schon im Waisenhaus von Glaucha bei Halle adlige und arme Kinder in getrennten Schulen unterrichtet werden sollten. Was aber war dieses Waisenhaus in Alp genau? Sollte es ein Ausgangspunkt für den halleschen Einfluss in den russischen Ostseegouvernements sein? Wie ‚pietistisch‘ war dieses Waisenhaus überhaupt und inwiefern war das Hallesche Waisenhaus das direkte Vorbild? Was waren die Interessen Franckes und anderer führender Persönlichkeiten aus Halle bei diesem Projekt? Um diese Fragen zu beantworten, soll auf Grundlage sowohl bisher noch nicht berücksichtigter Quellen als auch neuerer Forschungen zu pietistisch-halleschen Netzwerken das Waisenhaus in Alp bildungshistorisch eingeordnet werden. Dabei sollen die Personen, die dieses Korrespondenznetzwerk zwischen Halle und Alp ausmachten, stärker als in der bisherigen Forschung im Fokus stehen. Die zu berücksichtigenden Personen sind insbesondere der Besitzer der Güter des Waisenhauses von Alp, Baron Magnus Wilhelm von Nieroth (1663–1740), der erste Direktor Wrede, August Hermann Francke sowie einzelne weitere Akteure. An den Befunden soll ermessen werden, welche Bedeutung dieses Waisenhaus für weitere Einrichtungen und Personen in einem möglichen Netzwerk zwischen 1 Reproduktion des Francke-Nachlasses (Originale unter Stab/F in der Staatsbibliothek zu Berlin) im Archiv der Franckeschen Stiftungen (im Folgenden: Nachlass Francke). 28/43:9. Mikrofilm Nr. 20, 176­–177: Heinrich Christoph Wrede an August Hermann Francke. Reval, 19.02.1719, Bl. 488.

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dem Halleschen Waisenhaus und dem nördlichen Baltikum gehabt haben könnte. In drei Schritten soll die Analyse erfolgen: Erstens wird der historische Kontext zur Gründung des Alper Waisenhauses und dessen mögliche Ähnlichkeiten zum Halleschen Waisenhaus sowie zu weiteren Nachbildungen beschrieben. Zweitens wird die Geschichte des Waisenhauses in Alp nachverfolgt, wobei auch nach der tatsächlichen Einflussnahme Franckes gefragt wird. Drittens und letztens wird diese Geschichte in den Gesamtzusammenhang eines möglichen halleschen Netzwerkes eingebettet. Das Waisenhaus von Alp war in der deutschsprachigen Forschung bisher allenfalls ein Randthema. Aber auch wenn es dort jeweils nur kurz behandelt wurde, sahen die meisten Autoren in ihm doch einen Ausgangspunkt für einen spezifisch pietistischen Einfluss im nördlichen Baltikum.2 Eine wesentlich größere Bedeutung hat das Waisenhaus von Alp seit jeher in der estnischen Forschung eingenommen. Ein Beispiel dafür ist ein Aufsatz von Liivi Aarma, in dem sie bisher nicht berücksichtigte Quellen aus dem Estnischen Historischen Archiv in Tartu zum Waisenhaus in Alp erwähnt, sie aber leider nicht mit Fußnoten belegt.3 Sie nimmt außerdem Bezug auf eine Monographie Eduard Winters, welche dieser in den 1950er Jahren in der damaligen DDR veröffentlichte.4 Winter betrieb allerdings eine mitunter stark ideologisch gefärbte Forschung und vollbrachte das Kunststück, in den zwei deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts Ansehen zu genießen. Auch die Qualität seiner Arbeiten, die erst kürzlich in einer kritischen Biographie von Ines Luft untersucht wurden, ist oftmals fragwürdig.5 Er verwendete für seine Untersuchung des Waisenhauses von Alp zwar zahlreiche Quellenbestände des Archivs der Franckeschen Stiftungen. Allerdings konstruierte er zum Teil Zusammenhänge und wertete die Quellen nicht ausreichend distanziert und systematisch aus.6 Ein dezidiert hallesches Netzwerk im nördlichen Baltikum wurde bisher treffend von Arvo Tering skizziert, allerdings weist seine Untersuchung im Detail noch Ungenauigkeiten auf.7 So konnte Tering durch seine Forschungen zwar nachweisen, wie 2 Bei Donnert ist der Gesamtzusammenhang noch am besten beschrieben, auch wenn das Waisenhaus von Alp auch bei ihm nur eine Randnotiz bleibt. Vgl. Donnert, Erich: Agrarfrage und Aufklärung in Lettland und Estland. Livland, Estland und Kurland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2008, S. 52–67 (Beschreibung des Waisenhauses: S. 57f.). 3 Aarma, Liivi: Das Seminar in Alp. In: Kühn, Detlev (Hg.): Schulwesen im Baltikum. Elf Beiträge zum 10. Baltischen Seminar 1998. Lüneburg 2005 (Baltische Seminare 8), S. 137–146. 4 Winter, Eduard: Halle als Ausgangspunkt der deutschen Russlandkunde im 18. Jahrhundert. Berlin 1953. 5 Luft, Ines: Eduard Winter zwischen Gott, Kirche und Karriere. Vom böhmischen katholischen Jugendbundführer zum DDR-Historiker. Leipzig 2016. 6 Winter, Halle als Ausgangspunkt (wie Anm. 4), S. 266–275. 7 Tering, Arvo: Die Ausbildung der baltischen Prediger an deutschen Universitäten im 18. Jahrhundert, besonders in Halle. In: Wallmann, Johannes; Sträter, Udo (Hg.): Halle und Osteuropa. Zur Ausstrahlung des hallischen Pietismus. Tübingen 1998 (Hallesche Forschungen 1), S. 129–143.

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viele Lehrer in Halle Theologie studiert hatten und dann als Pfarrer ins Baltikum kamen. Allerdings wies er keine dauerhaften Beziehungen zwischen Halle und diesen Pastoren nach. Hierzu könnten aber die in Halle archivierten Korrespondenzen beitragen, die ich bereits für die beiden höheren Schulen in Reval (Tallinn) auf eine Verbindung mit Halle hin geprüft habe.8 Wie groß dieses Netzwerk tatsächlich war, kann erst nach einer systematischen Auswertung dieser Korrespondenznetzwerke beantwortet werden. Dafür sollen in diesem Beitrag erste Ansätze erarbeitet werden, die Grundlage für weitere Untersuchungen sein können. Eine große Bereicherung für diese Analyse ist die erst vor kurzem erschienene Monographie von Antje Schloms, welche das Hallesche Waisenhaus durch den Vergleich mit weiteren Waisenhäusern erstmals in ausreichender Weise in einen zeitlichen Kontext stellt.9 Auf Basis ihrer Ergebnisse kann eine Einordnung des Alper Waisenhauses in ein mögliches hallesches Netzwerk erfolgen.

Voraussetzungen und Gründung des Waisenhauses in Alp Das Baltikum der Frühen Neuzeit unterschied sich in seinen Grenzen erheblich von den heute meist als baltische Staaten bezeichneten Ländern Estland, Lettland und Litauen. In der Literatur wird zwischen fünf historisch unterschiedlich gewachsenen Territorien unterschieden. Das Estland, von dem in diesem Aufsatz die Rede ist, umfasste nur die nördliche Hälfte des heutigen Staates Estland und stand seit dem Ende des Livländischen Krieges (1558–1583) unter schwedischer Herrschaft. Livland mit einem estnischsprachigen nördlichen Teil und einem lettischsprachigen südlichen Teil (heutiges Vidzeme) inklusive der Stadt Riga (Rīga) kam nach dem Livländischen Krieg zum Königreich Polen-Litauen. Im zweiten Nordischen Krieg (1621–1629) ging der größte Teil Livlands (außer Inflanty, das heutige Lettgallen [Latgale]) an das Königreich Schweden. Die Insel Ösel (Saarema), die zwar zum Konsistorium Livlands gehörte, war ab 1560 Teil Dänemarks und kam ebenfalls 1645 zu Schweden.10 Nur in diesen drei Territorien hat sich ein größeres hallesches

18 Vgl. Rocher, Michael: Über die Verbindungen der Franckeschen Stiftungen in das nördliche Baltikum des 18. Jahrhunderts. Eine Untersuchung über den Export des Lehrpersonals, der Schulorganisation und der Unterrichtsmethoden von Halle nach Reval (heutigem Tallinn) und Riga. In: Burda, Bogumiła; Chodorowska, Anna; Husak-Pikuła, Bogumiła; Klosterberg, Brigitte (Hg.): Halle i Sulechów – ośrodki pietyzmu i edukacji. Tło religijno-historyczne, powiązania europejskie [Halle und Züllichau – Zentren des Pietismus und der Bildung. Religiös-historischer ­Hintergrund, europäische Verbindungen], Zielona Góra 2019, S. 67–94. 19 Schloms, Antje: Institutionelle Waisenfürsorge im Alten Reich 1648–1806. Statistische Analyse und Fallbeispiele. Stuttgart 2017 (Beiträge zur Wirtschaft- und Sozialgesichte 129). 10 Vgl. Mühlen, Heinz von zur: Die baltischen Lande, ihre Bewohner und ihre Geschichte. In: Garber, Klaus; Klöker, Martin (Hg.): Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit.

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Korrespondenznetzwerk etablieren können.11 Die anderen zwei Territorien im Baltikum, Kurland und Litauen, standen niemals unter schwedischer Herrschaft. Litauen war ein fester Bestandteil Polen-Litauens und blieb zudem immer katholisch.12 Kurland war zwar protestantisch, wurde aber kaum von den Kriegen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts in Mitleidenschaft gezogen. Es hatte einen eigenen Herzog und stand unter polnischer Lehnshoheit.13 Die historische Chronologie deutet den permanenten Kriegszustand an, unter dem insbesondere die nördlichen Teile des heutigen Baltikums zu leiden hatten. Dieser Zustand kulminierte im Großen Nordischen Krieg (1700­–1721), der neben den kriegerischen Auseinandersetzungen eine Pestepidemie mit sich brachte, der ein großer Teil der lokalen Bevölkerung zum Opfer fiel.14 Erst diese dramatischen Folgen ermöglichten ein Wirken hallescher Pastoren im Baltikum. Durch jene tiefgreifende Veränderung zum Ende des Großen Nordischen Krieges entstand eine Leerstelle, die durch in Halle ausgebildete Pfarrer besetzt wurde. In den letzten Jahren der schwedischen Zeit versuchte die Obrigkeit noch, mit Verordnungen und Edikten den Einfluss der in Halle ausgebildeten Theologen einzudämmen. In Estland und Livland dominierte zu dieser Zeit die lutherische Orthodoxie. So wurde versucht, die ankommenden Hofmeister zu kontrollieren. Später erließ die schwedische Obrigkeit ein Verbot für Auslandsreisen, wenn nicht eine Zuverlässigkeitsprüfung in Glaubenssachen durchgeführt würde. Damit wurde versucht, ‚anfällige‘ Personen von Halle und dem dort vermittelten pietistischen Gedankengut fern zu halten.15 Nach Ende der Kampfhandlungen 1710 waren die meisten Pastorenstellen in Estland, Livland und auf Ösel vakant. Bis 1720 wirkte sich dies nur insofern aus, als die vorhandenen oder zurückkehrenden Pfarrer mehrere Pfarrstellen gleichzeitig betreuten, da zunächst wenig Einwanderer hierher kamen.16 Danach zogen sukzessive mehr und mehr in Halle ausgebildete Pfarrer in das nördliche Baltikum. Zusätzlich gingen von 1711 bis 1730 und in den 1740er Jahren die meisten Estländer, die 11 12

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Mit einem Ausblick in die Moderne. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 87), S. 22–26; Kreslins, Janis: Der Einfluss des hallischen Pietismus auf Lettland. In: Wallmann/Sträter, Halle und Osteuropa (wie Anm. 7), S. 145–156, hier S. 145–148. Vgl. Tering, Die Ausbildung der baltischen Prediger (wie Anm. 7), S. 135f. Zur Entwicklung der Begriffsgeschichte von ‚baltisch‘ vgl. Hackmann, Jörg: Was bedeutet „baltisch“? Zum semantischen Wandel des Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Erforschung von mental maps. In: Bosse, Heinrich; Elias, Otto-Heinrich; Schweitzer, Robert (Hg.): Buch und Bildung im Baltikum. FS f. Paul Kaegbein zum 80. Geb. Münster 2005 (Schriftenreihe der Baltischen Historischen Kommission 13), S. 15–40. Vgl. Kreslins, Der Einfluss des hallischen Pietismus auf Lettland (wie Anm. 10), S. 147. Vgl. Mühlen, Die baltischen Lande (wie Anm. 10), S. 26. Vgl. Kreslins, Der Einfluss des hallischen Pietismus auf Lettland (wie Anm. 10), S. 149; Tering, Die Ausbildung der baltischen Prediger (wie Anm. 7), S. 130f. Vgl. Tering, Die Ausbildung der baltischen Prediger (wie Anm. 7), S. 134.

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Theologie studieren wollten, an die Universität Halle. Gerade im Gouvernement Estland war der Anteil der in Halle studierten Pfarrer im Jahr 1760 mit 61,4 Prozent besonders hoch. Im estnischen Sprachgebiet Livlands betrug er 46,7 Prozent, auf Ösel noch 40 Prozent. Nur im lettischsprachigen Teil Livlands machte er lediglich rund ein Viertel aller Pastoren aus.17 Erst vor diesem Hintergrund wird die Gründung des Waisenhauses in Alp interessant, weil hier auf lokaler Ebene ein institutionalisiertes Zentrum entstand, das in einer engen personellen und brieflichen Verbindung mit dem Halleschen Waisenhaus stand.18 Tatsächlich finden sich vor der Gründung des Waisenhauses Alp kaum Korrespondenzen zwischen Estland oder Livland mit Halle.19 Dies stützt die These, dass die Gründung des Waisenhauses von Alp ein wichtiger Ausgangspunkt war, um ein (pietistisches) Netzwerk verschiedener mit Halle verbundener Persönlichkeiten zu etablieren. Allerdings war das Waisenhaus in Alp alles andere als eine gewöhnliche ‚pietistische‘ Gründung, wie der Vergleich mit anderen Waisenhäusern der Zeit zeigt, den Antje Schloms angestellt hat.20 Bei der Gründung des Waisenhauses in Glaucha bei Halle hatte sich August Herrmann Francke durchaus an Vorbildern orientiert. Das waren in erster Linie die niederländischen Arbeits- und Zuchthäuser, welche auch für viele andere protestantische Regionen Europas eine Vorbildfunktion besaßen. Die wirtschaftlichen Komponenten des Halleschen Waisenhauses – wie die Buchdruckerei, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse oder der Medikamentenhandel – hatten ebenfalls Vorbilder in anderen Waisenhäusern der Zeit. Völlig neu war jedoch die Verbindung von Bildungseinrichtungen mit einem Waisenhaus. Im Jahr 1727, als Francke starb, versorgte das Hallesche Waisenhaus die vergleichsweise große Zahl von 134 Waisenkinder. Diese machten jedoch nur noch zehn Prozent aller im Waisenhaus unterrichteten Schülerinnen und Schüler aus, deren Zahl im gleichen Jahr bei circa 2.300 lag, und die von 170 Lehrern unterrichtet wurden. Das Waisenhaus machte zudem unglaubliche 50.000 Taler Gewinn. Darüber hinaus verfolgte Francke eine gut angelegte Werbestrategie, die über die Buchhandlung und die Apotheke als Werbeträger verstärkt wurde und zum wirtschaftlichen Er-

17 Vgl. ebd., S. 130–137. 18 Zum Korrespondenznetzwerk gehörten zudem Heinrich Milde (1676–1739), Joachim Lange (1670–1744) und „Franckes Kronprinz“ Johann Daniel Herrnschmidt (1675–1723), vgl. Drese, Claudia: Franckes Kronprinz. Zur Installation Johann Daniel Herrnschmidts. In: Zaunstöck, Holger; Klosterberg, Brigitte; Soboth, Christian; Marschke, Benjamin (Hg.): Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen. Halle 2017 (Hallesche Forschungen 48), S. 19–35). 19 Die meisten der etwa zehn Korrespondenzen mit Reval bis 1717 enthalten Briefe, in denen Francke gebeten wird, nach Halle gesandte Schüler nach seinem Gutdünken zu erziehen. Für Riga sind bis 1722 nur etwa acht Briefe überliefert. Eine systematische Auswertung steht noch aus. 20 Vgl. Schloms, Institutionelle Waisenfürsorge (wie Anm. 8), S. 299–302.

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folg erheblich beitrug.21 Die meisten Schülerinnen und Schüler wurden innerhalb der deutschen Schulen unterrichtet. Das waren Schulen, die elementare Kenntnisse im Rechnen, Schreiben und Lesen an Kinder aus meist ärmeren Schichten vermittelten. In diesem elementaren Schulsegment wurden Jungen und Mädchen in getrennten Schulen unterrichtet.22 Eine Besonderheit in Halle machten die beiden höheren Schulen aus. Dabei handelt es sich zum einen um die Lateinische Schule, die vorwiegend zukünftige Pfarrer ausbildete,23 zum anderen um das Königliche Pädagogium, an dem gesellschaftliche Oberschichten unterrichtet wurden. In dieser Schule lernten und lebten Söhne vermögender nichtadliger und adliger Familien in einem Internatsgebäude, das nur durch eine Mauer vom restlichen Waisenhaus getrennt war.24 Dazu kam auch eine höhere Mädchenschule, die allerdings Mitte des 18. Jahrhunderts wieder aufgegeben werden musste.25 Die Schulen, die wirtschaftlichen, aber auch missionarischen Unternehmungen sowie die daraus resultierenden persönlichen Verbindungen in der gesamten protestantischen Welt ermöglichten es, zahlreiche Personen zu binden und zu finanzieren. Erst aus allen diesen Faktoren ergab sich die Möglichkeit, große Korrespondenznetzwerke auf- und auszubauen.26 Das erfolgreiche Waisenhaus von Glaucha bei Halle war bereits kurz nach seiner Gründung ein Vorbild für weitere Waisenhausgründungen. Bei einigen waren Francke oder andere führende Persönlichkeiten aus Halle selbst involviert, andere beriefen sich nur auf das Vorbild in Glaucha.27 Die meisten Ableger des Halleschen Waisenhauses befanden sich im protestantischen Teil des Heiligen Römischen Reiches, allerdings führte der in Halle angelegte missionarische Gedanke früh zur Unterstützung oder Einrichtung von Waisenhäusern in Amerika, Indien oder eben auch Russland. Trotz Verboten standen schwedische und finnische Offiziere in Kontakt mit Halle.28 Durch schwedische Kriegsgefangene wurde bereits 1709 im russischen Toboľsk ein Waisenhaus gegründet, das schnell im Austausch mit Halle stand und

21 Vgl. ebd., S. 228–237. 22 Vgl. Menck, Peter: August Hermann Francke und seine Schulen. In: Schulen machen Geschichte. 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Halle 1997, S. 15–28, hier S. 16f. 23 Vgl. Brockerhoff, Silke: „Begabtenförderung“ bei August Hermann Francke am Beispiel der Lateinischen Schule. In: Jacobi, Juliane (Hg.): Zwischen christlicher Tradition und Aufbruch in die Moderne. Das Hallesche Waisenhaus im bildungsgeschichtlichen Kontext. Tübingen 2007 (Hallesche Forschungen 22), S. 87–109. 24 Vgl. Menck, August Hermann Francke (wie Anm. 22), S. 16f. 25 Vgl. Witt, Ulrike: Das hallesche Gynäceum 1698–1740. In: Schulen machen Geschichte (wie Anm. 22), S. 85–104. 26 Vgl. Schloms, Institutionelle Waisenfürsorge (wie Anm. 8), S. 210–237. 27 Vgl. ebd., S. 258–294. 28 Vgl. Laasonen, Pentti: Der Einfluss A. H. Franckes und des halleschen Pietismus auf die schwedischen und finnischen Karoline im und nach dem Nordischen Krieg. In: Wallmann/Sträter, Halle und Osteuropa (wie Anm. 7), S. 5–18.

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von dort unterstützt wurde.29 Winter hat die Gründung in Alp mit den Vorgängen im Russischen Reich in Verbindung gebracht.30 Sie sind jedoch getrennt zu betrachten, da die Ostseeprovinzen auch nach der Eroberung durch den russischen Zaren ihre Eigenständigkeit behielten. Das Waisenhaus in Alp lag in einem Gebiet mit deutschsprachiger protestantischer Oberschicht und hatte zunächst wenig mit den anderen Teilen des Zarenreiches gemein.31 Die Gründung von Alp erfolgte nicht losgelöst vom Hintergrund des Erfolges des Halleschen Waisenhauses. Zahlreiche Waisenhausgründungen im Heiligen Römischen Reich beriefen sich bereits in den 1710er Jahren auf das hallesche Vorbild. Schloms unterscheidet hier in einem Stufensystem drei Typen von Waisenhäusern, die entweder das Gesamtkonzept übernahmen, die Entstehungserzählung imitierten oder den guten Ruf Glauchas aufgriffen und auf das Vorbild referierten.32 So war es für die Gründung in Alp zunächst keine Besonderheit, dass der eingangs zitierte erste Brief an Francke bereits den Passus enthielt, dass hier „insonderheit arme Kinder unterhalten“ werden, aber auch adlige Kinder. Dennoch bleibt die Frage offen, unter welchen dieser drei Typen sich das Waisenhaus in Alp, welches sich als erstes im nördlichen Baltikum am Vorbild in Halle orientierte, einordnen lässt. Die Stiftung des Alper Waisenhauses ging von Baron von Nieroth und von Pfarrer ­Wrede aus. Bisher ist zu diesem Gründungsmoment wenig in der Forschung bekannt. Aarma behauptet, Nieroth verschaffte Wrede das Amt eines Direktors, da er mit dessen Vater befreundet gewesen war.33 Wredes Vater war wie sein Sohn Pfarrer im Kirchspiel St.  Johann, welches laut Wrede selbst etwa sechs Meilen von Alp entfernt lag. Entscheidender scheint aber Wredes Kontakt zu Eberhard ­Gutsleff (1691–1749) gewesen zu sein, der die Übersetzung des Neuen Testaments in nordestnischer Sprache und eine Grammatik des Estnischen herausgegeben hat.34 Wrede selbst hatte zusammen mit Gutsleff 1710/11 in Halle studiert.35 Für Gutsleff

29 Vgl. Veltmann, Claus; Birkenmeier, Jochen (Hg.): Kinder, Krätze, Karitas. Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. Ausst.-Kat. Franckesche Stiftungen zu Halle. Halle 2009, S. 203f. 30 Vgl. Winter: Halle als Ausgangspunkt (wie Anm. 4). 31 Daher ging es in Alp auch weniger um die Bekehrung von orthodoxen Christen, sondern höchstens um eine Einflusssphäre im Nordosten, welche die Stadt und den Hof in St. Petersburg mit einschloss. 32 Vgl. Schloms, Institutionelle Waisenfürsorge (wie Anm. 8), S. 258. 33 Vgl. Aarma, Das Seminar in Alp (wie Anm. 3), S. 139. 34 Die Übersetzung fertigte Gutsleff gemeinsam mit seinem Vater an, wahrscheinlich mit Hilfe von Vorarbeiten. Die Grammatik wurde von Gutsleff zwar herausgegeben, das Werk selbst stammte aber maßgeblich aus der Feder Anton Thor Helles (1683–1748), wobei es sich um mehr als eine reine Grammatik handelte, enthielt es doch auch ein Wörterbuch, estnische Redewendungen und Sprichwörter. Vgl. Hasselblatt, Cornelius: Geschichte der estnischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 2006, S. 135f., 146. 35 Vgl. Aarma, Das Seminar in Alp (wie Anm. 3), S. 138.

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ist aus dieser Zeit ein enger, lebenslang andauernder Kontakt mit dem Theologen Johann Jakob Rambach (1693–1735) überliefert.36 Wrede hatte hingegen vor der Gründung des Alper Waisenhauses keinen nachweisbaren Kontakt nach Halle. Inwiefern er pietistischen Glaubensinhalten zugeneigt war, lässt sich schwer prüfen. Er scheint aber nicht wie Gutsleff ein begeisterter Anhänger gewesen zu sein.37 Für Nieroth lassen sich sogar fast gar keine Kontakte mit Halle vor 1724 finden.38 Das ist umso bemerkenswerter, als sich andere, dezidiert pietistische Adlige aus dem Baltikum mit geistlichen Betrachtungen regelmäßig an Francke wandten.39 Nieroth stand dem Pietismus Franckescher Prägung folglich nicht sehr nahe. Er selbst verfasste auch fast nie Briefe nach Halle, sondern übermittelte seine Wünsche über Wrede und Gutsleff. Bereits im Januar 1718 gab Gutsleff ausführlich Auskunft über das Waisenhaus in Alp und die mögliche Nähe zu Zar Peter I., die sich über Baron von Nieroth und dessen Gründung ergeben könnte.40 Somit kommunizierte nicht allein Wrede mit Francke, auch Gutsleff übernahm bereits von Anfang an in der Kommunikation zwischen Alp und Halle eine Schlüsselrolle. Nahe liegt außerdem, dass Gutsleff durch seine folgenden Briefe eine Art ‚Vertrauensmann‘ für Francke wurde, da Wrede aufgrund des Testaments Nieroths mehr wirtschaftliche Interessen verfolgte. Allerdings war Gutsleff Pfarrer in Revals einziger estnischsprachigen Kirchengemeinde Heiliggeist und damit zu weit entfernt, um vor Ort entscheidend eingreifen zu können. Wredes erster Brief über das Waisenhaus in Alp war auch sein erster Brief an Francke überhaupt. In diesem Schreiben aus dem Juni 1717 verweist Wrede auf seine Zeit in Halle und führt weiter aus: „[…] nunmehr den Prediger und Priester Amte diesem Lande nach der Barmhertzigkeit Gottes lebe, [unlesebar] auch meinem Leben & Professori zu berichten, die in meinem Kirchspiel in Herrn Baron und Landrath nahmens Nieroth durch Gottes

36 Vgl. Girgensohn, H.: Eberhard Gutsleff. In: Allgemeine Deutsche Biographie 10 (1879), S. 222– 224 (online-Version: URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd139635815.html#adbcontent [03.04.2019]). 37 Wrede verfügte über keine Kontakte zu August Hermann Francke vor der Gründung des Waisenhauses 1717. In der Datenbank der Einzelhandschriften sind nur neun Briefe überliefert, die alle vom Alper Waisenhaus handeln. In ihnen bittet Wrede nur um neue Lehrer und schneidet kaum andere Themen an. 38 Einzig einen Brief schrieb Nieroth vor 1724 nach Halle, in dem er Francke den Reiseweg und die Anstellungsmodalitäten der ersten Informatoren mitteilte (Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle/Hauptarchiv [AFSt/H] C 459:1: Magnus Wilhelm von Nieroth an August Hermann Francke. Alp, 26.08.1717). 39 Als Beispiel kann hier ein früher Brief Magdalena Elisabeth von Hallerts dienen: AFSt/H C 459:32: Magdalena Elisabeth von Hallert an August Hermann Francke. Anklam, 25.02.1712. Zu Hallerts Kontakten zu Francke vgl. auch den Beitrag von Beata Paškevica in diesem Band. 40 AFSt/H C 35:12: Eberhard Gutsleff an August Hermann Francke. Reval, 16.01.1718.

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Güte, Barmhertzigkeit und Liebe, dazu gekommen, daß zu seinem lieben Gott hertzlich beachtet zu leben, mit welchem Hertzen er sich resolvieret, da er Mann mit 55 Jahren und ohne Erben, all sein zeitlich Gut, so ihn Gott reichlich zugetroffen, zu dessen heiligen Ehren zu widmen, und zwar mit und durch Aufrichtung eines Waysenhauses auf einem seiner Güter, worin allerhand Art armer Kinder sollen auf u. angenommen, und dadurch in G’sfurcht und anfänglichen studiis frey und ohne Entgelt informieret werden. Damit nun ein Anfang gleich gemachtet werde 2 tüchtige Informatores zu anschreiben […].“41

Francke versuchte von Beginn an, die Alper Unternehmung zu unterstützen. Auf Wredes ersten Brief antwortete er: „Dem Herrn [Axel Julius] Herlin der über 8 Tage von hier nach Reval abreist, will ich einige so geschriebene, als gedruckte Sachen mitgeben, welche dem Herrn Baron und Land-Rath Nieroth werden dienen können sein so christliches Vornehmen mit aller nöthigen precaution ins Werk zu richten u. seinen guten Zweck nicht nur bey seinem Leben, sondern auch auf die Nachkommen unter göttlichen Segen zu erreichen […].“42

Da von diesem Brief nur ein Fragment erhalten geblieben ist, können die am Anfang von Francke geäußerten Zweifel gegenüber dem Plan des Barons und Wredes nicht in einen richtigen Zusammenhang gebracht werden. Trotz alledem unterstützte Francke die Gründung nachhaltig durch detaillierte Pläne, die über Gutsleff in Reval nach Alp gelangen sollten. Hier zeigt sich am deutlichsten die Vorbildwirkung des Halleschen Waisenhauses, welches von Nieroth und Wrede ja auch als Vorbild benannt und dessen Nachbildung von Francke aktiv unterstützt wurde. Damit lässt sich das Waisenhaus in Alp nach Schloms in die Kategorie der Gründungen einordnen, die das Waisenhaus in Glaucha bei Halle als direktes Vorbild zu imitieren versuchten. Zusätzlich ist im Falle des Waisenhauses in Alp eine aktive Unterstützung von August Hermann Francke durch Pläne zur Gründung von Waisenhäusern nach dem Vorbild Halles überliefert. Doch Alp war nicht nur eine Imitation, denn von Anfang an sollte es sogar von halleschen Lehrern selbst aufgebaut werden. Das Alper Beispiel zeigt zudem, dass die Gründer eines solchen Waisenhauses keine besondere Nähe zu pietistischen Glaubenseinstellungen gehabt haben müssen, zumal in diesem Fall bereits früh die mögliche positive Einflussnahme mithilfe des Barons von Nieroth am Zarenhof in St. Peterburg eine bedeutende Rolle gespielt haben dürfte.

41 Nachlass Francke. 28/43:9. Mikrofilm Nr. 20, 178–179: Heinrich Christoph Wrede an August Hermann Francke. Reval, 15.06.1717. 42 AFSt/H A 170:165: August Hermann Francke an Heinrich Christoph Wrede. Halle, 20.07.1717.

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Das Waisenhaus von Alp (1717–1740) und Halle Die Vermittlung von pietistischen Glaubensvorstellungen war nur einer von drei Grundpfeilern der Gründung des Waisenhauses in Alp.43 Laut Schloms entstand im Zuge der Ausbreitung weiterer Waisenhäuser nach halleschem Vorbild vor allem im deutschsprachigen Raum ein pietistisches Kommunikationsnetzwerk. Im Falle von Alp muss aber zwischen den Interessen des Barons und Wredes auf der einen Seite und Franckes und der Lehrer aus Halle auf der anderen unterschieden werden. Und auf Seiten des Barons von Nieroth, aber vor allen auf der Wredes ging es auch um die Wirtschaftlichkeit des Projekts. Die wirtschaftlichen Aspekte wurden in der Literatur zum Waisenhaus in Alp jedoch bisher nicht behandelt. Gerade diese waren aber für Wrede und Nieroth von erhöhter Bedeutung. In der Korrespondenz zwischen Francke und Wrede werden die wirtschaftlichen Verhältnisse früh benannt. Der 55-jährige Baron Nieroth vermachte dem Pfarrer Wrede nämlich nicht völlig uneigennützig vier seiner Güter, denn sie waren mit Schulden belastet: „Solche Güter dazu zu widmen, hatte H. Baron freye und rechte Macht laut dem schriftlichen Vergleich den er mit seinen Schwestern und Schwägern Anno 1702 gemachet, wo durch er jus et potestatem testandi et abalienandi schriftlich erhalten, weilen er dieser Nierothschen Erbgüter Schulden, womit solche damals so sehr belastet waren, dass gedachte Schwäger und Schwester in gedachten Vergleich selbige als unsers H. Baron wohlerwerbens angesehen, nach den Hand bezahlet hatte und bishero noch bezahlet hatte, keine andren Schulden auff diese Güter als 4500 Rhtl. an H. Barons nechste Anverwandten, welche abzutragen man bey den Segen Gottes sich wird angelegen seyn laßen, […]. Außer dieser Schuld, versichert mir H. Vicepraesident, sollen keine anderen Schulden auff dieser Güter haften, welche ich auch wahr zu seyn merke, weilen sich keiner mit einer rechtmäßigen Forderung angibt und jedermann es so geschehen lasset, daß die Alpsche Anstalten nicht allein angefangen worden.“44

Durch die Beschulung von deutschen und russischen Adligen sollten somit die Schulden abgetragen werden. Nieroths Güter wurden 1717 testamentarisch an Pastor Wrede überschrieben. Der Baron setzte Wrede im Falle seines Ablebens als Direktor des Waisenhauses ein, welches in Alp seinen Sitz hatte und die wirtschaftliche Grundlage aus drei anderen Nieroth’schen Erbgütern zog.45 Dieser Passus lastete allerdings 43 Schloms nennt pietistische Praxis, Bildung und Wirtschaftlichkeit. Vgl. Schloms, Institutionelle Waisenfürsorge (wie Anm. 8), S. 251–294. 44 Nachlass Francke. 28/43:8. Mikrofilm Nr. 20, 176–177: Heinrich Christoph Wrede an August Hermann Francke. Reval, 19.02.1719. 45 Es handelte sich um Seydel (Seidla), Kaulep (Kaalepi), Jerwen und Alp selbst, wie Wrede in einem Brief an Francke bemerkte. Vgl. Nachlass Francke. 28/43:1. Mikrofilm Nr. 20, 158–161: Heinrich Christoph Wrede an August Hermann Francke. Reval, 13.06.1724.

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folgenschwer auf dem Fortgang der gesamten Unternehmung. Nieroth lebte noch bis 1740 und beeinflusste den Ablauf des Schulbetriebs als Besitzer von Beginn an erheblich. Erst nach seinem Tode hätte Wrede die volle Verfügungsgewalt über die Güter erhalten. Bereits im Gründungsmoment ergab sich auf diese Weise eine Situation, in der beide Seiten nicht allein handlungsfähig waren. So konnte Wrede bis Oktober 1718 keine Anordnungen zum benötigten Neubau eines Schulgebäudes auf dem Gut Alp erlassen. Hierzu brauchte er die Zustimmung des Barons von Nieroth. Dieser wurde jedoch 1718 nach St. Petersburg zum Vizepräsidenten des Finanzkollegiums berufen und damit einer der wichtigsten Beamten unter Zar Peter I.46 Er hatte versäumt, Wrede vor seiner Abreise eine Vollmacht zu geben, weshalb 1718 kein ordentlicher Schulbetrieb auf den Gütern möglich war. Auch die Schulden von 4.500 Reichstalern werden von Wrede öfter in seinem Briefwechsel mit Francke behandelt.47 In der bisherigen Forschung wurden als Hauptgründe für das frühe Scheitern des Alper Waisenhauses die ausufernden Pläne des Barons und auch die Abwesenheit des Direktors Wrede genannt.48 Winter fügt hinzu, dass zudem die Lehrer für eine so große Unternehmung nicht ausreichend ausgebildet gewesen seien.49 In der Literatur wurde verschiedentlich darüber spekuliert, wer die ersten Lehrer aus Halle in Alp waren.50 Nach Prüfung der Korrespondenzen in Halle ist dies eindeutig feststellbar: Die ersten beiden Lehrer waren Johann Adam Hirschhausen (1690–1730) und Johann Friedrich Koch (1692–1772). Sie hatten zuvor ihr Theologiestudium in Halle absolviert und traten zu Beginn des Jahres 1718 ihre Reise nach Alp an.51 Von Koch stammen auch die ersten Eindrücke aus Alp. Er berichtete im August 1718 nach seiner Ankunft an Francke: „Was wir aber für Unwissenheit bey ihnen [den Kindern] gefunden, ist nicht zu beschreiben. Denn einer von Adel, der schon 16 Jahre alt war, konnte noch nicht lesen, ein anderer eben des Alters konnte die Buchstaben noch nicht […]. Sonst ist auch schon vor einem Jahr eine unteutsche Schule angestellet, darinnen die Kinder in Estnischer oder Liefländischer Sprache dociert werden, welches meist Bauers Kinder oder aus Finnland sind, die der H. Baron aus der Gefangenschaft erläßet: 46 Vgl. Winter, Halle als Ausgangspunkt (wie Anm. 4), S. 267. 47 In einem Bericht nach seiner Absetzung berichtet er Francke ausführlich darüber. Vgl. Nachlass Francke. 28/43:1. Mikrofilm Nr. 20, 158–161: Heinrich Christoph Wrede an August Hermann Francke. Reval, 13.06.1724. 48 Vgl. Winter, Halle als Ausgangspunkt (wie Anm. 4), 268–271; Aarma, Das Seminar in Alp (wie Anm. 3), S. 142–144. 49 Vgl. Winter, Halle als Ausgangspunkt (wie Anm. 4), S. 272. Winter geht es in seiner Ausführung darum, dass der Pietismus insgesamt zu „spröde“ und der Horizont der Lehrer angeblich zu eng gewesen sei, um so eine Unternehmung durchführen zu können. 50 Vgl. Aarma, Das Seminar in Alp (wie Anm. 3), S. 142. 51 Ihre unmittelbare Abreise wird in einem Brief Johann Daniel Herrnschmidts (1675–1723) im Januar 1718 an August Hermann Francke erwähnt. Vgl. Nachlass Francke. 10, 2/7:140. Mikrofilm Nr. 7, 400–401: Johann Daniel Herrnschmidt an August Hermann Francke. Halle, 13.01.1718.

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Michael Rocher und diesen ist ein zwar ungelehrter doch recht frommer und von Hertzen bekehrter Mann vorgesetzet.“52

Dies belegt die Unterrichtung sowohl von deutschsprachigen Adligen als auch von Kindern der einheimischen Bauern von Anfang an. Bemerkenswert ist die Freilassung einiger leibeigener Bauerskinder sowie möglichweise auch in Gefangenschaft geratener Finnen durch Nieroth, was sicherlich nicht üblich war.53 Bei diesen Anfängen blieb es jedoch nicht. In der Literatur wird ein Collegium arabicum erwähnt, welches Nieroth für die Unterrichtung der islamischen Völker Russlands in Alp angeregt habe – das jedoch nicht verwirklicht wurde.54 Nieroth nutzte seine Nähe zu Zar Peter I., um auf sein Waisenhaus aufmerksam zu machen. In dem bereits erwähnten Brief, der nur drei Tage nach dem von Herrnschmidt datiert, in dem die Abreise der ersten Lehrer nach Alp erwähnt wurde, ließ er über Gutsleff nach vier weiteren Lehrern fragen.55 Die nächsten Lehrer aus Halle, die in Alp eintrafen, waren August Christian Albrecht, Christian Scipio und der vor Ort als Arzt tätige Heinrich Casper Keiling.56 Im Jahr 1720 erreichte das Misstrauen der Lehrer gegenüber den Plänen Nieroths einen ersten Höhepunkt. Ein Brief Kochs an Francke aus dem Jahr 1720 benennt klar die Probleme: „Damit ich aber von des Haupte selbst anfange, so muß ich mit Wehmuth gestehen, daß unser Baron Nieroth an der meisten Unruhe und Verdrußlichkeit bey diesen Anstalten die vornehmste Ursache ist.“57 Ein zentrales Problem aus Kochs Sicht war, dass Nieroth kaum deutschsprachige Adelskinder anwarb, sondern vor allem adlige russische Kinder nach Alp mit Versprechungen lockte, die nicht mit den Informatoren abgesprochen und auch nicht erfüllbar waren. Koch und den anderen Lehrern fiel durch einen Schüler ein auf Russisch verfasstes Memorial in die Hände, welches sie übersetzen ließen und das mit dem Namen Nieroths unterzeichnet war: „(1) Ich [Nieroth] habe zu Gottes Ehre eine Schule gebaut, in welcher 120 vornehme Kinder russischer Nation über die schon da sind, können unterrichtet werden. 52 AFSt/H C 796:13: Johann Friedrich Koch an August Hermann Francke, Alp, 13.08.1718. 53 Die schwedischen und finnischen Gefangenen wurden normalerweise nach Sibirien geschickt (vgl. Donnert, Agrarfrage und Aufklärung [wie Anm. 2], S. 52–59). Möglicherweise handelte es sich aber um einfache finnische Soldaten? Diese Frage muss ungeklärt bleiben. Zum Einfluss aus Halle auf die finnischen Karolineroffiziere vgl. Laasonen, Der Einfluß A. H. Franckes auf die schwedischen und finnischen Karoliner (wie Anm. 28), S. 5–18. 54 Vgl. Donnert, Agrarfrage und Aufklärung (wie Anm. 2), S. 57f. 55 Vgl. AFSt/H C 35:12: Eberhard Gutsleff an August Hermann Francke. Reval, 16.01.1718. 56 Albrecht berichtete später, dass alle drei im Juni 1719 nach Alp kamen (vgl. AFSt/H C 381:144: August Christian Albrecht an Gotthilf August Francke, 25.07.1756). Dass Keiling als Arzt in Alp tätig war, berichtete er selbst an Francke (vgl. AFSt/H C 382:36: Heinrich Caspar Keiling an ­August Hermann Francke. Alp, 02.08.1721). 57 AFSt/H C 382:33, Blatt 2: Johann Friedrich Koch an August Hermann Francke. Alp, 10.07.1720.

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(2) Mehrere Praeceptores kann ich bald aus Teutschl. Haben, wo es ihre zarische Majestät vor gut erkennt (3) Leute sind genug daselbst bey der Schule zur Information, Aufwartung und anderes. Es ist ein Doctor daselbst, wie auch ein Apotheker, mit voller Apotheke (4) Die Kinder werden unterrichtet in teutscher, Lateinischer u. frantzösischer Sprache, in der Geographie, Historie, Philosophie, Arithmetica, Geometrie, Fortification, Architektur, Mathesia, Politica, Moral, höfliche Sitten, und auch in Tantzen, Reiten und Fechten.“58

Als sie dieses Memorial Pastor Wrede vorlegten, der es wiederum Nieroth übergab, meinte der Baron nur, er hätte es nicht dem Knaben gegeben, damit er es an die Lehrer weiterleite, und dass er darüber sowieso mit den Lehrern hätte sprechen wollen. Später behaupteten Nieroth und Wrede einmütig, dass im Memorial eine andere, noch nicht gegründete Schulanstalt auf einem seiner Güter gemeint gewesen sei, für die er und Wrede noch weitere Informatoren suchen würden. Das Problem dieses Schriftstückes bestand nach Kochs Ansicht nicht nur in der fehlenden Absprache mit den Lehrern vor Ort, sondern auch in dem Umfang des Unterrichtsplans sowie in der unterschiedlichen Höhe des verlangten Schulgeldes. So seien von den deutschen Kindern 50 Reichstaler verlangt worden, von den russischen dagegen nur 20 bis 30. Zudem war Keiling, der ein Jahr zuvor eingetroffen war, zwar kein Arzt, sondern Apotheker, aber selbst diese Apotheke fehlte immer noch in Alp. Zuletzt schrieb er Francke von der bei Aarma und Winter bereits erwähnten Problematik des Tanz-, Reit- und Fechtunterrichts, welchen die halleschen Lehrer wie auch Francke als „Mitteldinge“ (Adiaphora) ablehnten.59 Koch benannte zudem noch ein weiteres Problem: Der Baron von Nieroth behandle seine leibeigenen Bauern sehr schlecht. „Sonst führt das arme Bauers-Volk die bittersten Klagen über ihn, daß er ihnen der Anstalten halber so viel zu thun mache, daß sie auch des Sonntags oft nicht verschohnt würden. Daher sie mit vielen Thränen oft ihr Elend klagen, und den Anstalten den zeitl. Untergang wünschen. Wenn wirs hier Recht betrachten, müssten wir gestehen, daß der saure Schweiß der Bedrängten und deren heiße Thränen unser tägl. Brodt sind. Unser Oeconomus gesteht selbst, daß die Bauern in gantz Liefland nicht so hart, als bey uns, angegriffen werden, da sie doch billig, wenn das Werck Gottes gefallen sollte Linderung haben sollten. Dieses gehet uns oft sehr nahe, daß wir […] für das arme Volck beten, & allesamt Verenderung oder Erlösung wünschen.“60

58 Ebd., Blatt 1–2. 59 Vgl. Winter, Halle als Ausgangspunkt (wie Anm. 4), S. 271; Aarma, Das Seminar in Alp (wie Anm. 3), 142f. Zu den Mitteldingen vgl. Ebert, Berthold: Zur Rolle der Körpererziehung in den Franckeschen Stiftungen unter dem Einfluss von August Hermann Niemeyer. In: Soboth, Christian (Hg.): „Seyd nicht träge in dem was ihr thun sollt.“ August Hermann Niemeyer (1754–1828): Erneuerung durch Erfahrung. Halle 2007 (Hallesche Forschungen 24), S. 89–104, hier S. 91f. 60 AFSt/H C 382:33, Blatt 2: Johann Friedrich Koch an August Hermann Francke. Alp, 10.07.1720.

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Koch selbst verließ Alp kurz darauf und kehrte auf Wunsch seiner Eltern nach Deutschland zurück.61 Anhand der Briefe Kochs lassen sich die Konfliktlinien in Alp gut erkennen. Zum einen gerieten die Lehrer aufgrund der großen Pläne mit Nieroth in Konflikt, zum anderen saß aber auch der Direktor Wrede zwischen den Stühlen. Er verteidigte Nieroth oftmals in seinen Plänen, da er selbst bei dessen Ableben zum Besitzer der vier Güter werden sollte. Daher ist Winter nicht zuzustimmen, dass Wrede die halleschen Lehrer zum Konflikt angestiftet habe.62 Die halleschen Lehrer sahen nicht nur den Baron kritisch, sondern auch Wrede, der eben nicht auf ihrer Seite stand. Allerdings sind auch die Aussagen in den Briefen Kochs, die von Winter verkürzt als beginnendes Ende des Waisenhauses dargestellt werden, kritisch zu betrachten.63 Einen Monat später berichtete zumindest der von Francke nach Estland gesandte Christoph Heinrich Helmershausen (1695–1724) etwas völlig anderes nach Halle. Helmershausen war zuvor bereits in Halle Inspektor der Lateinischen Schule gewesen und hatte damit mehr Erfahrung in der Leitung von Schulen als die bisher ausgesendeten halleschen Lehrer. Auch tauschte er sich in seinen Briefen regelmäßig mit Francke über theologisch-geistliche Betrachtungen aus. Ihm ging es in seinem Brief um die vielen Widersacher der pietistischen Sache vor Ort und darum, dass gegen diese gearbeitet werden müsse.64 Die Jahre von 1720 bis 1723 waren die wohl erfolgreichsten der Einrichtung. Nieroths Werben am Petersburger Hof zog das Interesse sowohl Peters I. als auch des russisch-orthodoxen Bischofs von Narwa (Narva) und Pleskau (Pskov) sowie weiterer russischer Adliger auf sich.65 Im Zusammenhang mit dem Bedeutungszuwachs des Alper Waisenhauses könnte auch ein mahnender Brief aus dem Jahr 1721 stehen, der von Francke an alle Lehrer des Waisenhauses gerichtet war und von allen Lehrern einen christlichen Lebenswandel verlangte.66 Anfang 1722 muss es ein Treffen zwischen Gutsleff und Francke in Halle gegeben haben, von dem auch Winter berichtet.67 Eine ‚Namensliste‘ nach Livland abreisender Studenten aus dem Mai 1722 weist aber neben Gutsleff auch Christoph Heinrich Helmershausen, Georg 61 AFSt/H C 382:34: Johann Friedrich Koch an Johann Daniel Herrnschmidt. Alp, 22.02.1720. 62 Vgl. Winter, Halle als Ausgangspunkt (wie Anm. 4), S. 272f. In beiden Briefen von Koch an Francke steht jedoch nichts dazu. Winter behauptet zudem ohne Grundlage, dass Wredes Aufstachlung gegen Nieroth 1721 zu dessen Entlassung geführt hätte. Auch das ist nachweislich falsch, denn Wrede blieb bis 1724 Direktor. 63 Winter vergisst bei seiner Untersuchung, dass die Beteiligten selbst nicht die Zukunft des Projektes kannten. Winter: Halle als Ausgangspunkt (wie Anm. 4), S. 272f. 64 Vgl. AFSt/H C 126:66: Christoph Heinrich Helmershausen an August Hermann Francke. Alp, 18.08.1720. 65 Vgl. Winter, Halle als Ausgangspunkt (wie Anm. 4), S. 267–270. 66 Vgl. AFSt/H A 175:177: August Hermann Francke an alle Präzeptoren des Waisenhauses Alp. Halle, 17.10.1721. 67 Vgl. Winter, Halle als Ausgangspunkt (wie Anm. 4), S. 273.

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Sabler und Heinrich Kühne aus. Die beiden letztgenannten wurden Lehrer in Alp.68 Anscheinend sandte Francke 1722 eine Reihe von Lehrern planmäßig nach Alp. Das unterstreicht die Bedeutung des Waisenhauses von Alp für Francke. Wrede bedankte sich 1722 besonders für die Übersendung von Helmershausen, der ihn wohl bei der Leitung unterstützen sollte.69 Ein Jahr darauf dankte Wrede noch einmal Francke ausdrücklich für die Ankunft Helmershausens und schrieb, dass mit den jetzigen Lehrern eine nachhaltige Verbesserung eingetreten sei.70 Im Jahr 1724 kam es jedoch zum Konflikt zwischen Wrede und Nieroth. Der genaue Anlass bleibt unklar. Wrede meldete in einem Brief 1724 an Francke, dass Helmershausen aufgrund der Streitigkeiten zwischen dem Baron und ihm gestorben sei. Der letzte Brief von Helmershausen stammt aus dem Mai 1724. In ihm bittet er Francke um weitere Lehrer, die das Französische beherrschen. Am 10. Juni, drei Tage vor dem Brief Wredes nach Halle, wurde von den drei Lehrern Sabler, Seebach und Albrecht an das Waisenhaus in Halle folgendes mitgeteilt: „Daß der Hr. Pastor an Er. Hochwohlgeboren in seinem Schreiben mich beschuldiget, als hätte ich Ihnen die Ursache des Hr. Kühnen Todes beigemeßen, ist ohne Grund. Denn ich habe kein Wort an ihn geschrieben, sondern nur etwas von seiner Kranckheit dem selbigen Vicerectori welcher dazumahl in der Stadt war, gemeldet unweis also nicht wir Hr. Pastor mich unschuldigerweise vor euer Hochwohlgeboren in Mißcredit setzen könne. Die Ursache daß der Hr. einen Riß unter uns gemacht ist allein Gott bekannt, wir müßen darbey die Hand auf dem Mund legen und Schweigen.“71

Wrede und Nieroth beschuldigten also zunächst einige Lehrer, direkt für den Tod des Lehrers Heinrich Kühne verantwortlich zu sein. Wredes Rolle in diesem Konflikt war folglich alles andere als klar erkennbar, hier wären weitere Untersuchungen notwendig.

Das Waisenhaus nach Wredes Abgang und das hallesche ­Korrespondenznetzwerk in Estland, Livland und auf Ösel Nach dem Tod von Helmershausen wurde auch das Testament, das Wrede als lebenslangen Direktor der Nieroth’schen Güter eingesetzt hatte, vom Baron aufgekündigt. Dennoch war das Engagement von halleschen Lehrern in Alp noch nicht been68 Vgl. AFSt/H A 176:46: Namensliste von nach Livland abreisenden Studenten. 69 Vgl. Nachlass Francke. 28/43:11. Mikrofilm Nr. 20, 182–183: Heinrich Christoph Wrede an August Hermann Francke. Reval, 18.03.1722. 70 Vgl. Nachlass Francke. 28/43:10. Mikrofilm Nr. 20, 180–181: Heinrich Christoph Wrede an August Hermann Francke. Reval, 15.12.1723. 71 AFSt/H C 459:19, a-c: Briefe der Lehrer Sabler, Seebach und Albrecht. Alp, 10.06.1724 (Adressat unbekannt).

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det.72 Im Sommer 1725 schreiben die beiden nach Alp gesandten Lehrer Johann Wilhelm Ude (1693–1769) und Eberhard Willemsen an August Hermann Francke: „Nachdem wir von Halle den 1. Mai abgereiset und in kurtzem zu Lübeck angelanget, vieles aber kurtz vor unserer Ankunft ein Schiff abgesegelt nach Reval, haben wir daselbst müssen beynahe 5 Wochen pausieren ehe wiederum andere abgegangen, endlich d, 8 Juny zu Schiffe gegangen, da uns dann der liebe Gott so glücklich geführet, daß wir mit sehr guten Winde gefahren, auch mit solchen d. 13 Juny glücklich zu Reval angelanget, worauf wir alsbald den H. Oberpastor Mickwitz besuchet, da wir nicht allein auf- und angenommen, weilen unser schon lange war erwartet worden, so dann in vereinigten Lob und Dankopfer in dessen Hause aufgenommen und viele, so wohl geistl. als auch leibl, Speisen genoßen. Auch bey demsleben verharren müssen bis unser H. Principal der H. Vice-Prasident uns abgehohlete d 21 Juny und folgenden Tag daselbst ankommen […].“73

Dieser Brief der beiden neuen Lehrer aus Halle, die durch den Baron von Nieroth aus Reval nach Alp begleitet wurden, zeigt die Akzentverschiebung ab 1725 an. Das Waisenhaus blieb zwar noch einige Jahre bestehen, die Überlieferung in Halle setzt jedoch im Jahr 1727 aus. In einem letzten Brief nach Halle wird von einer ‚Zerstörung‘ des Waisenhauses durch einen Brand berichtet.74 Der hallesche Einfluss konzentrierte sich ab 1725 auf andere Orte. Christoph Friedrich Mickwitz (1696–1748) wurde 1724 Oberpastor der Domgemeinde in Reval. Dort gründete er 1725 ein Waisenhaus wie auch eine höhere Schule, später kamen noch ein Hospital und eine Mädchenschule dazu.75 Dieses neue nach halleschem Vorbild errichtete Waisenhaus löste das Alper Waisenhaus in der Folgezeit ab. In Estland etablierte zudem Kaspar Matthias Rodde in Narva eine weitere Schule. Gutsleff wurde später Inspektor der Revaler Stadtschule. Ab 1738 ging er als Konsistorialpräsident von Ösel nach Arensburg (Kuressaare) und baute die pietistische sowie die herrnhutische Einflusssphäre weiter aus.

72 Aarma berichtet von drei Lehrern und 40 Schülern (vgl. Aarma, Das Seminar in Alp [wie Anm. 3], S. 144f.), was ließe sich anhand des Archivs der Franckeschen Stiftungen leicht rekonstruieren ließe. 73 AFSt/H C 382:42: Johann Wilhelm Ude und Eberhard Willemsen an August Hermann Francke. Alp, 30.06.1725. 74 Albert Anton Vierorth berichtet im Mai 1727 Francke von dem Brand. Im Dezember 1727 ­schreibt Gutsleff, dass das Waisenhaus einen neuen Direktor benötige, danach setzt die Überlieferung aus. Vgl. AFSt/H C 459:25: Albert Anton Vierorth an August Hermann Francke. Reval, 08.05.1727; AFSt/H A 197:5: Eberhard Gutsleff. Halle, 04.12.1727 (Adressat unbekannt). 75 Vgl. Rocher, Michael: Pietistlik koolikorraldus Baltikumis? Uurimus Francke pedagoogiumi ­koolikorralduse „ekspordist“ Tallinna ja Riia kórgematesse koolidesse aastail 1720–1770 [Pietistische Schulpraxis im Baltikum? Eine Untersuchung über den Export der Schulpraxis des Pädagogiums der Franckeschen Stiftungen in die höheren Schulen Tallinns und Rigas 1720–1770]. Aus dem Deutschen übers. von Kairit Kaur. In: Vana Tallinn 27(31) (2016), S. 104–132.

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Auch nach Livland reichten hallesche Einflüsse: Johann Loder (1687–1775) gründete 1728/1733 ein neues Lyzeum in Riga, das sich stark am Lehrplan des Königlichen Pädagogiums in Halle orientierte.76 Loder und Mickwitz waren zuvor Hauslehrer bei Johann Balthasar von Campenhausen (1689–1758) in Orellen (Ungurmuiža) gewesen, der dort ebenfalls eine Schule für die Kinder seiner leibeigenen Bauern gegründet hatte.77 Auch Elisabeth Maria von Hallart stand noch lange in Kontakt mit Francke in Halle.78 Ab den späten 1730er Jahren gewannen die Herrnhuter zunehmend an Einfluss im Baltikum, was zu verschiedenen Konflikten zwischen den zu Halle stehenden Pfarrern und Lehrern und den (neuen) Anhängern Zinzendorfs führte.79 Zahlreiche vormalige Lehrer aus Alp waren in die verschiedenen nachfolgenden Projekte involviert, was bisher noch nicht systematisch aufgearbeitet wurde. Bis auf wenige Ausnahmen, wie Johann Friedrich Koch, blieben die meisten dieser Lehrer in Est- oder Livland.

Fazit Das Waisenhaus von Alp stellt innerhalb der nach halleschem Vorbild errichteten Waisenhäuser eine Besonderheit dar. Sowohl der Stifter Baron von Nieroth als auch der Direktor Wrede hatten zunächst keine besondere Nähe zum pietistischen Halle. Sie orientierten sich bei ihrer Gründung eher an dem wirtschaftlichen Erfolg des Halleschen Waisenhauses. Francke unterstützte das Projekt nachhaltig, indem er Lehrkräfte nach Estland entsandte. Sowohl Wrede als auch Nieroth waren somit von der pädagogischen Kompetenz dieser Lehrer abhängig. Gleichzeitig war es Franckes Bestreben, die Nähe Nieroths zu ­Peter I. zu nutzen, um nachhaltigen Einfluss im nordöstlichen Europa zu generieren. Für den verstärkten Einfluss der Hallenser war das Waisenhaus in Alp tatsächlich ein Ausgangspunkt. Anhand von bisher nicht ausgewerteten Korrespondenzen aus dem Archiv der Franckeschen Stiftungen ließen sich neue Erkenntnisse zur Geschichte des Waisen-

76 Vgl. Donnert, Agrarfrage und Aufklärung (wie Anm. 2), S. 56. Ein Bericht zur zukünftigen Gestaltung des Rigaer Lyzeums aus dem Jahr 1728 von Johann Loder belegt die Ähnlichkeit zum Lehrplan Pädagogium. Vgl. Latvijas Valsts Vēstures Arhīvs Rīga (Lettisches Historisches Staatsarchiv Riga). 4038.2.1003: „Bericht vom Lyzeum Riga“. 77 Die Schule ist noch heute zu besichtigen. Sie wurde von ihm auf Anregung von Mickwitz gegründet. Vgl. AFSt/H A 144:957: Johann Balthasar von Campenhausen an August Hermann Francke. St. Petersburg, 20.07.1722. 78 Hierzu sind im Archiv der Franckeschen Stiftungen zahlreiche Briefe bis zum Todesjahr Franckes 1727 überliefert. Vgl. dazu den Beitrag von Beata Paškevica in diesem Band. 79 Vgl. Donnert, Agrarfrage und Aufklärung (wie Anm. 2), S. 59–67. Dieser Konflikt wurde in der älteren Forschungsliteratur verschiedenartig ausgeführt, in der neueren deutschsprachigen Literatur jedoch allenfalls angedeutet. Auch hier steht eine systematische Untersuchung noch aus.

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hauses in Alp gewinnen. Auch wurden neue Ansätze für die weitere Erforschung eines halleschen Netzwerkes im nördlichen Baltikum geschaffen. Eine größer angelegte systematische Auswertung steht indessen noch aus. Sozialhistorisch bieten sich hier viele Möglichkeiten: So ließen sich etwa die Lehrer und ihre nachfolgenden Anstellungen überprüfen. Des Weiteren wäre ihr Kontakt mit Halle genauer zu untersuchen. Die Frage nach dem Konflikt zwischen Halle und Herrnhut könnte ebenfalls auf eine neue Grundlage gestellt werden. Zuletzt liegt ein weiteres Desiderat vor: Bis in die 1750er Jahre gab es Korrespondenzen zwischen Halle und dem Nachfolger von Mickwitz, Johann Georg Tideböhl (1711–1756).80 Zumindest in Reval wurde die estnische Bildungsgeschichte nachhaltig von dem halleschen Netzwerk beeinflusst. Aber auch in Riga ist dieser Einfluss denkbar. Johann Loder führte das Lyzeum in Riga bis 1771. Damit gab es lange nach dem Verbot der Herrnhuter durch Zarin Elisabeth I. Verbindungen zwischen Halle und dem nördlichen Baltikum, die bisher noch nicht untersucht wurden.

80 Vgl. zu Tideböhl den bio-bibliographischen Eintrag in der Datenbank der Einzelhandschriften des Archivs der Franckeschen Stiftungen (Stand: 24.03.2016), URL: http://192.124.243.55/cgi-bin/ gkdb.pl?t_show=x&reccheck=144575 (28.10.2020).

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Die Gerichtsstube als Bildungsanstalt. Die Gerichtsbarkeit über die bäuerlichen Rechtssachen in Est- und Livland im 19. Jahrhundert Unter ‚Bildung‘ ist nicht notwendigerweise der Unterricht oder die Erziehung in Schule oder Hochschule zu verstehen.1 Unter Umständen kann ‚Bildung‘ auch das Heranwachsen zum selbstständigen Landwirt oder Kaufmann, zum Staatsbürger oder zum Rechtssubjekt bedeuten. Michael Stolleis, führender Rechtshistoriker aus Frankfurt am Main, spricht vom „lernenden Staat“.2 Man kann aber auch vom lernenden Volk oder von einer lernenden Nation sprechen. Die indigenen Völker der ehemaligen baltischen Ostseeprovinzen – Esten und Letten – sind dafür ein Musterbeispiel. Knapp hundert Jahre zuvor von der Leibeigenschaft befreit, haben sie sich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg als staatsfähige Nationen erwiesen.3 Die baltische Bauernbefreiung war, obwohl sie den innerrussischen Gouvernements des Zarenreichs etwa ein halbes Jahrhundert vorausging, kein revolutionäres Ereignis und hat keinen Übergang zu einer modernen bürgerlichen Gesellschaft der gleich Freien mit sich gebracht.4 Es dauerte noch bis zum Ende der 1830er Jahre, bis die befreiten Bauern Nachnamen erhielten, und noch länger sollte es dauern, bis sie zumindest ihren Wohnort – auch dies zunächst nur innerhalb der Heimatprovinz – und in sehr wenigen Ausnahmefällen sogar ihren Beruf frei wählen durften. Es kam danach zu einer gewissen geographischen Mobilität. Die Landflucht führte in die nahe liegenden Klein- oder etwas ferneren Hauptstädte oder gar zu einer relativ regen Umsiedlungsbewegung in die anderen Regionen des Zarenreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Mobilität signalisiert zwar Risikobereitschaft

1 Die Forschungen zu diesem Beitrag wurden unterstützt durch Estlands Wissenschaftsagentur, Forschungsprojekt IUT20-50 und PRG969. 2 Stolleis, Michael: Der lernfähige und lernende Staat. In: Ders.; Fried, Johannes (Hg.): Wissenskulturen. Über die Erzeugung und Weitergabe von Wissen. Frankfurt/M.-New York 2009, S. 58–78. 3 Die sogenannte Bauernbefreiung, d. h. die Abschaffung der Leibeigenschaft, erfolgte in der Provinz Estland 1816, in Kurland 1817 und in Livland 1819. 4 Zu der Verfassung des Bauernstandes der baltischen Ostseeprovinzen nach den Befreiungen vgl. Luts-Sootak, Marju; Siimets-Gross, Hesi: Baltic Peasants after Emancipation – Free and Equal People or a New Social Estate in the Estate-based Society? In: Legal Science: Functions, Significance and Future in Legal Systems II: Collection of Research Papers in Conjunction with the 7th International Scientific Conference of the Faculty of Law of the University of Latvia (16–18 October 2019, Riga). Riga 2020, S. 158–167, URL: https://dspace.lu.lv/dspace/handle/7/50255 (04.11.2020).

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und Anpassungsfähigkeit, aber nicht unbedingt den Drang nach sozialem Aufstieg und die Bereitschaft, sich politisch zu betätigen. Insbesondere die Migration in andere Regionen des Russischen Reichs bedeutete lediglich, dass die Bauern weiterhin Bauern bleiben wollten und geblieben sind. Von einer politischen Bildung und von Nationsbildung könnte man in Bezug auf soziale Aufsteiger infolge von Ausbildung, vor allem von Universitätsausbildung, sprechen. Es gab diese in der Tat, aber nur sehr spärlich. 1915 etwa zählte man 630 estnische Universitätsabsolventen und weitere 830 waren noch als Studierende eingeschrieben.5 Die nach dem Ersten Weltkrieg begründeten baltischen Nationalstaaten konnten jedoch auf eine Vorschule der Staatlichkeit und Institutionalisierung aufbauen, die ohne großzügige Mobilität der Einzelpersonen möglich war. Gemeint sind die Strukturen und Organe auf der Gemeindeebene, wie sie vor allem durch die Landgemeinde-Ordnung für die Ostseegouvernements vom 19. Februar 1866 ausgestaltet worden waren.6 Dazu gehörte u. a. der Instanzenzug, also die Appellationsmöglichkeit, für die bäuerlichen Rechtssachen, dessen Rolle als Erziehungs- und Bildungsstruktur hier näher untersucht werden soll.

Die baltische Bauernbefreiung und ‚bäuerliche‘ Institutionen Im bodenrechtlichen Bereich sollte die neue Etappe der Agrarreformen für die nähere Zukunft das unentziehbare Nutzungsrecht der Bauern an das Land sichern. Eigentlich waren die Ziele noch weitreichender: Über die gesetzliche Normierung des Frondienstes sollte man zu dessen Abschaffung und völliger Ersetzung durch die Geldpacht kommen; über die langfristigen Geldpachtverträge (mit gesetzlichem Mindestmaß von sechs Jahren statt früher einem Jahr) wollte man zu Kaufverträgen gelangen. Die Geldpacht sollte als „volkspädagogisches Hilfsmittel“ die Bauern zu selbstständigen und an Wirtschaftlichkeit interessierten Landwirten erziehen.7 Besonders klar sieht man jene neuen Ziele in den Novellen von 1859 (Estland) und 1860 (Livland)

5 Vgl. Martinson, Karl: Teadustegevuse institutsionaliseerumine Eestis XVII sajandist 1917. aastani [Die Institutionalisierung der wissenschaftlichen Tätigkeit in Estland vom 17. Jahrhundert bis zum Jahr 1917]. Tallinn 1988, S. 359. 6 Die Daten sind im Folgenden alle nach dem damals im Russischen Reich gebräuchlichen julianischen Kalender oder sogenannten alten Stil angegeben. Zu der Bedeutung des Landgemeindewesens für die Herausbildung der modernen Gesellschaftsstrukturen vgl. Jansson, Torkel: Agrargesellschaftlicher Wandel und Landgemeindewesen. Die Entstehung kapitalistischer Organisationsprinzipien und -formen in Balto-Skandinavien bis zum Ersten Weltkrieg. In: Loit, Aleksander (Hg.): The Baltic Countries 1900–1914. Proceedings from the 9th Conference on Baltic Studies in Scandinavia, Stockholm, June 3–6, 1987. Stockholm 1990, S. 45–82. 7 Bodisco, Eduard von: Der Bauerland-Verkauf in Estland und Materialien zur Agrar-Statistik Estlands. Reval 1902, S. 28.

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zu den Bauernverordnungen von 1856 und 1849. Der Bauernlandverkauf8 ist danach seit den 1860er Jahren in Livland und den 1870er Jahren in Estland in Gang gebracht worden, begleitet und beeinflusst von verschiedenen wirtschaftlichen und rechtstechnischen Faktoren: Arrondierung der Bauernhöfe, Pächterentschädigungsordnung, Errichtung spezieller Kreditanstalten usw.9 Die Bauern wurden mit den abstrakt-funktionalen Phänomenen des Geldes, der Marktwirtschaft, des Kreditwesens u. a. konfrontiert. Das war eine andere Welt, die nicht nur Rechnen und Schriftkunde verlangte, sondern eine ganz neue Mentalität und Anpassungsstrategie. Bereits in früheren Phasen der baltischen Agrarreformen waren eigene ­Gerichte für die sogenannten Bauernsachen geschaffen und im Keim sogar ein mehrstufiger Instanzenzug aufgebaut worden. Allerdings erfüllten die Gemeinde- und andere ­Bauerngerichte nach den Bauernverordnungen von 1804/1809 und 1816/1817/ 1819 eher Verwaltungs- und weniger Justizaufgaben, d. h. sie sorgten für die allgemeine Wohlfahrt und Ordnung. Die Lösung der Streitigkeiten und Konflikte auch zwischen den Bauern blieb aber weiterhin in der Kompetenz der Gutsherren. Die Landgemeindeordnung von 1866 dagegen führte nicht nur eine „klare Trennung zwischen Gutshof und Landgemeinde“ ein,10 sondern auch die moderne Gewaltenteilung selbst – freilich nur auf der Ebene einer Landgemeinde. Die bäuerlichen Landgemeinden waren in den Ostseeprovinzen die allerersten Institutionen, in denen die normgebenden und die exekutiven Körperschaften klar getrennt und in eine durch Gewaltenteilung hierarchisch geordnete Interaktion gebracht wurden. Zwischen Justiz- und Administrativgewalt wurde ebenfalls zunächst auf der Ebene der Bauerngemeinden differenziert.11 Damit waren die Bauerngemein-

18 Die Ländereien eines jeden Gutes wurden in das sogenannte Hof- und Bauernland (in Livland ‚Gehorchsland‘) unterteilt. Das Bauernland konnte nur an Bauern verpachtet oder verkauft werden, das Hofland benutzte der Gutsherr für seine Zwecke. 19 Vergleicht man die durch die dritte Agrarreform der Ostseeprovinzen gebrachten Veränderungen des Bodenrechts mit der fast zeitgleichen Bauernbefreiung in Russland 1861, so wird die Tragweite der modernen westlichen Ideen in den Ostseeprovinzen besonders klar. In Russland teilte man das Land nicht auf die einzelnen Gesindestellen auf, sondern es blieb im Eigentum der Dorfgemeinde (russ. mir). Die Gemeindemitglieder hatten nur das regelmäßig neu aufgeteilte Nutzungsrecht an den Landstreifen, dem sogenannten Seelenland. In dieser veränderten Form hat in Russland das althergebrachte System des geteilten Eigentums des Bauernlandes weitergelebt. In den baltischen Ostseeprovinzen dagegen richtete man das für Westeuropa charakteristische System des bäuerlichen Kleingrundeigentums ein, wenn auch nur allmählich und schrittweise. 10 Pistohlkors, Gert von: Ritterschaftliche Reformpolitik zwischen Russifizierung und Revolution. Göttingen-Frankfurt/M.-Zürich 1978, S. 96. 11 In den Städten kam es 1877 zur Trennung von Justiz und Verwaltung, als die allgemeine russische Städteordnung von 1870 auf die Ostseegouvernements erstreckt wurde. Die Landesverwaltung erreichte die Trennung von Justiz und Verwaltung durch die oktroyierte Polizei- und Justizreform von 1888/89. Von da an waren das Justiz- und Polizeiwesen von der bisherigen sogenannten ritterschaftlichen Selbstverwaltung abgesondert.

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den die ersten Körperschaften im Baltikum, die ihre Machtausübung den modernen Prinzipien der Gewaltenteilung unterwarfen bzw. unterwerfen sollten. Die Partizipation in der Gemeindeverwaltung, sowohl durch das aktive als auch durch das passive Wahlrecht, machte die Gemeindemitglieder mit den demokratischen Strukturen vertraut und prägte ihr Verständnis für das Politische. Ein Staat ist aber nicht nur ein rein politisches Gefüge. Vor allem in seinem europäischen Typus ist er gleichfalls oder sogar essenziell ein rechtliches Gefüge. Zur Stufe der Vorschule sollte also auch die rechtliche Emanzipation der bäuerlichen Bevölkerung gehören und zwar in dem Sinn, dass die Bauern nicht mehr von ihren Gutsherren gezüchtigt und bevormundet wurden, sondern als gleichberechtigte Rechtsgenossen selbst ihre ­Rechte ausüben und gegebenenfalls gerichtlich durchsetzen sollten. Wie sehr es dabei in der Tat um Erziehung und Belehrung ging, soll ein Einblick in das System und die Funktionsweise der Gerichte für die Bauernsachen vor Augen führen.12 Meine Ergebnisse beruhen auf einem Untersuchungsmodus, den man allenfalls als eine ‚Probebohrung‘ bezeichnen kann. Im Rahmen eines Projektes über die Geschichte der Modernisierung des Immobilienrechts in Estland13 habe ich die diesbezüglichen Akten der estländischen Gerichte vor der großen Justizreform von 1889 untersucht. Die dadurch gewonnenen Befunde über die Mentalität und Vorgehensweise der zwei bis drei Gerichte je Stufe im Instanzenzug der Bauernsachen würde ich jedoch mindestens für den Bereich der Immobilienstreitigkeiten als quellenmäßig abgesichert betrachten. Es wird hier die Praxis der drei untersten Stufen – Gemeindegerichte, Kirchspielsgerichte und Kreisgerichte – näher betrachtet, weil in diesen Gerichten die Bauern selbst auch auf der Seite der Richterbank mitwirkten.

Verfahren und Praxis der Gemeindegerichte Die allen drei baltischen Provinzen gemeinsame Landgemeindeordnung von 1866 hatte die Verwaltungsaufgaben der Gemeindeverwaltung auferlegt, Gemeindegerichte dagegen sollten weiterhin als Justiz- (darunter allerdings auch Polizei-), Vormundschafts-, Register- und Vollstreckungsorgane fungieren.14 Damit war die Kom12 Vgl. ähnlich schon Luts-Sootak, Marju: Gerichtsbarkeit im Dienst der Volkspädagogik: Rechtsprechung in Bauernsachen in Estland und Livland 1866–1889. In: Diestelkamp, Bernhard; ­Vogel, Hans-Heinrich; Jörn, Nils; Nilsén, Per; Häthén, Christian (Hg.): Liber Amicorum Kjell Å Modéer. Lund 2007, S. 433–448. Da sich die Zielgruppen der beiden Sammelbände grundlegend unterscheiden, erscheint eine Wiederverwertung der Ergebnisse angebracht. 13 Finanziert durch die Estnische Wissenschaftsstiftung, Forschungsprojekt ETF6647. 14 Zusammenfassend zu Entwicklung und Wesen der bäuerlichen Gemeindegerichte in den baltischen Provinzen vgl. Anepaio, Toomas: Die zahlreichen Gesichter des Gemeindegerichts. Die Entwicklung der estnischen Bauerngerichte im 19.–20. Jahrhundert. In: Knothe, Hans-Georg; Liebmann, Marc (Hg.): Gerichtskultur im Ostseeraum. Vierter Rechtshistorikertag im Ostseeraum, 18.–20. Mai 2006 in Greifswald. Frankfurt/M. u. a. 2007, S. 103–121.

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petenz der Gemeindegerichte immer noch sehr weit, und es ist kein Wunder, dass die Materialien der Gemeindegerichte reges Interesse unter Historikern hervorgerufen haben – man kann sie fast als eine unerschöpfliche Quelle für die Erforschung der Mentalitäts-, Alltags-, Wirtschaftsgeschichte etc. bezeichnen. Die schriftlichen Akten der Gemeindegerichte von Estland und des estnischen Teils Livlands15 machen im Estnischen Historischen Archiv in Tartu einen beachtenswerten Bestand aus: Die Bestände von insgesamt 382 Gemeindegerichten beinhalten selten nur einzelne Akten, oft liegt ihre Zahl bei 2.000 und übersteigt in Einzelfällen sogar 4.000 oder 5.000. Meistens sind diese Akten zwar sehr schmal, es kommen aber auch umfangreichere Akten vor. Sowohl der Vorsitzende als auch zwei oder mehr Beisitzer des Gemeindegerichts (entsprechend der Bevölkerungszahl der Gemeinde ein Beisitzer pro 250 ‚männliche Seelen‘) waren von den Gemeindemitgliedern für drei Jahre ‚aus ihrer Mitte‘ zu wählen. Es waren Laiengerichte und blieben als solche bis zum Untergang des Russischen Reichs bestehen. Dass das Verfahren bei solchen Gerichten ein mündliches sein sollte, ist leicht verständlich. Weniger selbstverständlich könnte aber die Pflicht zur schriftlichen Protokollführung erscheinen. Wenn niemand von den Gerichtsmitgliedern schreiben konnte, hatte die Gemeinde einen Schreiber anzustellen. Dies war allerdings ziemlich selten nötig. Das ausgedehnte Volksschulnetz bestand bereits seit Jahrzehnten und hatte zur Verbreitung der Schriftlichkeit innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung erheblich beigetragen. Dazu kam, dass auch die ländliche Bevölkerung Est- und Livlands seit der schwedischen Herrschaftszeit evangelisch geprägt war und vor allem das religiöse Schrifttum in den Volkssprachen seit Langem schon regelmäßig erschien.16 Seit der zweiten Hälfte der 1850er Jahre erschien kontinuierlich estnischsprachige Zeitungsliteratur. Es ist damit kein Wunder, dass die schriftlichen Akten der bäuerlichen Gemeindegerichte eine beachtenswerte Menge ausmachen und den Eindruck erwecken, dass sie als modernes Rechtsprechungsmaterial einzustufen sind. Die Rechtsprechung der ostseeprovinziellen Gemeindegerichte darf aber keinesfalls im Sinn der modernen Gerichtsbarkeit verstanden werden, nach der das Gericht die Streitfälle autoritär nach einer allgemeinen und vorher aufgestellten abstrakten Regel entscheidet. Die novellierte Livländische Bauernverordnung (LivBV)17 von 15 Nur diese werden im Estnischen Historischen Archiv aufbewahrt, die Akten des lettischen Teils von Livland befinden sich im Lettischen Staatsarchiv zu Riga (Rīga). 16 Die größeren Städte hatten die Reformation schon zu Luthers Lebzeiten mitgemacht. Vgl. mit weiteren Nachweisen Kreem, Juhan: Die Reformationszeit. In: Brüggemann, Karsten; Henning, Detlef; Meier, Konrad; Tuchtenhagen, Ralph (Hg.): Das Baltikum. Geschichte einer europäischen Region. Bd. 1: Von der Vor- und Frühgeschichte bis zum Ende des Mittelalters. Stuttgart 2018, S. 432–462. 17 Durch die Landgemeindeordnung von 1866 wurde deren Gültigkeit auch auf die beiden anderen Ostseeprovinzen erstreckt, insoweit es um die Gerichtsordnung und Prozessregeln ging.

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1860 schrieb in § 766 für das Verfahren in Streitsachen der Bauern untereinander vielmehr ein Schlichtungsverfahren vor, in dem der Rechtsfrieden durch Versöhnung und Abhilfe herzustellen war: „Das Gemeindegericht verhandelt alle vorkommenden Rechtssachen auf dem Wege des Untersuchungsprocesses mit möglichster Kürze, ohne jedoch deswegen die wesentlichen Puncte, auf welche es bei der Entscheidung hauptsächlich ankommt […] aus der Acht zu lassen. Vor allem bemüht es sich, mit Entfernung alles Zwanges und zudringlicher Ueberredung die Recht suchenden Parten zu vergleichen; wenn aber dieses Bemühen erfolglos bleibt, so verfährt es ohne Uebereilung, ohne vorhergefaßte Meinung und ohne Parteilichkeit, vernimmt Kläger und Beklagten mit gleicher Aufmerksamkeit und Geduld, verhört die gestellten Zeugen auf das Genaueste, und fällt sein Erkenntniß, nachdem es die Gründe für und wider nach bestem Wissen und Gewissen erwogen hat.“18

Ein Urteilen nach dem Gesetz und unter Heranziehung der Gesetzesvorschriften war von dem Gemeindegericht also gar nicht verlangt. Dies verwundert etwas, da möglichst einfach, schlicht und volkstümlich formulierte ‚Gesetzbücher‘ für Bauern durchaus vorhanden waren.19 So beinhaltete die novellierte LivBV den Abschnitt II: „Bauerrecht“, unterteilt in „Kapitel I. Prozessordnung (§§ 765–937)“ und „Kapitel II. Privatrecht (§§ 938–1028)“. Das vierte Buch (§§ 1045–1190) der Estländischen Bauernverordnung (EstBV)20 von 1856/59 war betitelt mit „Das estländische Bauer-Privatrecht“ und folgte dem dritten Buch „Prozessordnung“ (§§ 811–1044). Da ich die Gerichtsmaterialien im Rahmen eines Projektes über das Grundeigentumsrecht gesammelt und bearbeitet habe, beziehen sich die folgenden Ausführungen auf diesen Rechts- und Lebensbereich. Die Gemeindegerichtsmaterialien sind in dieser Hinsicht nicht besonders ergiebig. Alle Kauf- und Pachtverträge über das Land zwischen Gutsherren und Bauern waren schriftlich zu verfassen und gelangten für die Bestätigung und Eintragung gleich in die höheren Instanzen. Mit diesen Verträgen hatte das Gemeindegericht nichts zu tun, weil die Streitigkeiten 18 Hier und im Folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung: Livländische Bauer-Verordnung, am 13. November 1860 Allerhöchst bestätigt. In Uebereinstimmung mit dem Ukase des dirigirenden Senats vom 10. Januar 1861, Nr. 1569, emanirten Original-Texte, nach zuvoriger Approbation der deutschen Uebersetzung Seitens Sr. Durchlaucht des Herrn General-Gouverneurs von Liv-, Est- und Kurland, von der Livländischen Gouvernements-Regierung publicirt. Riga 1861 (Hervorhebungen von der Verf.). 19 Zu dem Gesetzbuchcharakter dieser Teile der Bauernverordnungen vgl. Luts-Sootak, Marju: Die baltischen Privatrechte in den Händen der russischen Reichsjustiz. In: Pokrovac, Zoran (Hg.): Rechtsprechung in Osteuropa. Studien zum 19. und frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2012, S. 267–376, hier S. 269–279. 20 Hier und im Folgenden zitiert nach Bodisco, Eduard von: Estländische Bauer-Verordnung vom 5. Juli 1856 und die die Bauer-Verordnung abändernden und ergänzenden Gesetze und Verordnungen. Reval 1904.

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zwischen Bauern und Gutsherren ebenfalls in die Kompetenz der höheren Instanzen gehörten. Die Gemeindegerichte hatten nur Streitigkeiten über Verträge zu schlichten, die zwischen Bauern geschlossen worden waren. Der vertragsmäßige Eigentumswechsel von Grundstücken innerhalb des Bauernstandes kam aber ziemlich selten vor. Die Kaufverträge unter den Bauern wurden zwar schriftlich abgeschlossen und bei dem Gemeindegericht im Register eingetragen. Die Streitigkeiten entstanden zumeist dadurch, dass in den schriftlichen Verträgen nur das förmliche Minimum festgehalten wurde, darüber hinaus aber eine ganze Menge mündlicher Vereinbarungen getroffen wurde. Diese waren also nicht schriftlich verfasst, obwohl sie an sich für den Vertrag durchaus wesentlich waren und in der Folgezeit in der Tat bestritten wurden. Die Gerichtsprotokolle zeigen in solchen Fällen das Gemeindegericht als eine Institution, die aktiv Kompromissvorschläge machte und Lösungswege suchte, um die Parteien zu versöhnen. Man verfolgte dabei aber gar keine bestimmten und vorher festgelegten Regeln. Es war vielmehr die Einzelfallgerechtigkeit, die hier als Recht gesprochen wurde. Besonders auffällig sind die Fälle der sogenannten Schlechtleistung, wenn beide Parteien ihren vertragsmäßigen Verpflichtungen nicht ganz ordnungsgemäß nachgingen. Obwohl die dadurch entstandenen Schäden von beiden Parteien grundsätzlich messbar und kalkulierbar gewesen wären, konnte ich dies in keinem Fall beobachten. Vielmehr fielen die Entscheidungen dahingehend aus, dass beide Parteien ihre Versprechungen nicht ehrlich eingehalten hätten und sich deshalb nun ohne jede Vergütung zur Ruhe setzen sollten. Eine derartige Rechtsprechung der Gemeindegerichte sollte wohl das Vertrauen und die Redlichkeit im Rechtsverkehr fördern, die formale Rechtmäßigkeit oder Rechenbarkeit war dagegen nicht so wichtig. Das Gemeindegericht bot den Parteien Kompromisse an und erzog sie zu gewissenhaften und nachdenklichen Vertragspartnern. Der Rechtsfrieden bildete das eigentliche Ziel, das durch sogenannte salomonische Schlüsse und nicht durch das Richten nach den allgemeinen Gesetzesnormen erreicht wurde. Es erscheint durchaus glaubhaft, dass eine solche Gerichtsbarkeit das Rechtsbedürfnis der Betroffenen in der Regel befriedigte. Weder die Personen noch das Land wurden im Sinne der modernen Freizügigkeit und Marktfreiheit verstanden, und die Gemeinden waren auch ohne formelle und institutionalisierte Streitschlichtungsmechanismen effektive Instanzen der sozialen Kontrolle und dies nicht nur nach dem Muster eines Dorfes, wo ein jeder jeden anderen kennt. Den nach russischem Vorbild gebildeten Bauerngemeinden oblag eine Solidarhaftung gegenüber dem Staat, wodurch sie zu einer noch engeren sozialen Aufsicht über ihre eigenen Mitglieder gezwungen waren.21 Das Urteil des Gemeindegerichts war anfechtbar, 21 Zur Genese und Funktionsweise der baltischen Bauerngemeinden bis zur allgemeinen Landgemeindeordnung vgl. Seppel, Marten: Pärisorjuse kaotamine ja talurahvakogukondade konstrueerimine Balti kubermangudes [Abschaffung der Leibeigenschaft und das Konstruieren der Bauerngemein-

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wenn der Streitgegenstand über fünf Rubel Silbermünzen wert war. Für solche Appellationen war die nächste Instanz – das Kirchspielsgericht – zuständig.

Verfahren und Praxis der Kirchspielsgerichte Auf dem Gebiet des heutigen Estlands gab es insgesamt 48 Kirchspielsgerichte. Die Akten der livländischen Kirchspielsgerichte sind umfangreicher (bis zu 9.058 Einheiten, meist über 4.000) als die der estländischen (bis zu 660 Einheiten, meistens zwischen 100 und 200). Die Zahlen zeugen aber nicht von einer höheren Justizaktivität in Livland, sondern gehen auf die unterschiedliche Gerichtsorganisation vor Einführung der Landgemeindeordnung von 1866 zurück. Zu dem Kirchspielsgericht gehörten als Vorsitzende ein adliger Kirchspielsrichter („vorzugsweise aus den immatrikulierten livländischen Edelleuten gewählt“; LivBV § 651) und in Livland drei, in Estland zwei bäuerlichen Beisitzer. Darüber hinaus war an jedem Kirchspielsgericht ein Notair, also ein Gerichtsschreiber, für die Führung der Kanzlei- und Rechnungssachen und das Protokollieren anzustellen. Neben den sehr ausgedehnten polizeilichen und administrativen Aufgaben, darunter Aufsichtsfunktionen über die Bauerngemeinden, bestand die Funktion der Kirchspielsgerichte darin, dass sie wiederum vor allem als Versöhnungsinstitutionen für alle Streitigkeiten zwischen Bauern und Gutsherrn, zwischen Gutsherrn und Gemeinde, zwischen Gemeindemitglied und Gemeinde, zwischen Gemeinde und Gemeindegericht fungierten. Dazu kamen die Berufungen gegen die Entscheidungen der Gemeindegerichte und als eine weitere wichtige Tätigkeit die Kontrolle und Bestätigung der Pacht- und Kaufverträge über das Bauernland. In Sachen Bauer/ Gemeinde gegen den Gutsherrn konnte das Kirchspielsgericht nur vermitteln. Falls eine Einigung der Parteien nicht möglich war, hatte das Kirchspielsgericht die Angelegenheit zu begutachten, an das Kreisgericht weiterzuleiten und nicht selbst zu entscheiden. Das Zivilverfahren vor dem Kirchspielsgericht ist in der LivBV §§ 777 ff. ausführlich beschrieben, beginnend mit dem Anfang der gerichtlichen Verhandlungen: „Der Kläger bringt seine Klage beim Kirchspielsgerichte an einem Gerichtstage mündlich vor, zeigt alle Thatumstände und Beweismittel, auf welche er seine Klage gründet, an und drückt bestimmt aus, worin sein Gesuch besteht.“

Die Personen aus dem Bauernstand sollten ihre Klagesache immer persönlich führen. Dem Gutsherrn dagegen stand es frei, ob er persönlich und mündlich im Ge-

den in den baltischen Gouvernements]. In: Acta et commentationes Archivi Historici ­Estoniae 19/26 (2012), S. 59–80 (engl. Zusammenfassung: S. 81f.).

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richt auftrat, einen Bevollmächtigten in das Gericht schickte oder die Klage bzw. Antwort auf die Klage schriftlich vorlegte. Die erste Aufgabe des Gerichts war eine allseitige Prüfung, ob die Klage überhaupt in seine Zuständigkeit gehörte und ob der Kläger allen erforderlichen Charakteristiken entsprach. Wenn das Gericht keine Kompetenz für die vorgebrachte Klage besaß, durfte es die Klage nicht einfach abweisen. Es war seine Pflicht, den Kläger zu beraten und an die richtige Instanz zu verweisen. Ebenso sollte es den ‚unvollständigen‘ Kläger (z. B. eine Ehefrau ohne Ehemann als ihren gesetzlichen Vertreter, die Kurationspflichtigen ohne Kurator u. ä.) belehren, was noch zu tun sei, um vor dem Gericht eine gültige Klage zu erheben. Alle diese gesetzlich auferlegten Aufklärungspflichten zeigen deutlich, dass das Kirchspielsgericht in erster Linie als eine Anstalt der Rechtserziehung fungierte. Die Idee der Volkspädagogik taucht hier sehr präsent auf – eine formell und streng nach Vorschriften verfahrende Gerichtsbehörde bräuchte die Klagen bloß zurückweisen. Dazu kommt, dass auch in dem Kirchspielsgericht in erster Linie die Versöhnung und Einigung anzustreben war. Dies war gleichfalls durch das Gesetz vorgeschrieben. Nach LivBV § 781 sollte das Gericht erst dann zur Untersuchung der Sache schreiten, wenn „das Gericht sich vergeblich bemüht [hatte], die streitenden Parteien zu vereinigen“. Die EstBV spricht in Bezug auf die Kirchspielsgerichte nur von Vermittlung und Vergleich (§§  753–755). Die Akten der Kirchspielsgerichte in zivilrechtlichen Streitigkeiten sind deshalb ziemlich schmal. Sie wurden entweder an das Kreisgericht zur Entscheidung weitergeleitet, oder man erfährt durch einen Vermerk im Registerbuch, dass die Sache durch Vermittlung bzw. Vergleich beendet wurde. Dabei waren dem Kirchspielsgericht durch die LivBV ausgedehnte inquisitorische Befugnisse für die Untersuchung eingeräumt, jedoch insoweit modifiziert, dass man die Verfahrenshandlungen nicht schriftlich zu protokollieren brauchte. Im Unterschied zu dem Gemeindegericht, wo die Beweiswürdigung ganz frei war und weder die Zeugen noch die anderen Betroffenen beeidet wurden, gibt es in der Verfahrensordnung der Kirchspielsgerichte die Elemente der formalen Beweiswürdigung (LivBV §§ 782ff.). Die vorhandenen schriftlichen Akten der Kirchspielsgerichte geben allerdings wenig Auskunft über die Einhaltung des vorgeschriebenen Verfahrens in der Praxis. Es ist davon auszugehen, dass die einzelnen Verfahrenshandlungen schlichtweg nicht protokolliert wurden. Meistens steht nur die gefällte ‚Erkenntnis‘ des Gerichts im Protokoll. Obwohl jenes nach dem Gesetz „mit kurzer Darlegung der Gründe“ von dem Notair zu protokollieren war (LivBV  §  784), werden die Gründe nur sehr selten dargelegt, wenn es um zivilrechtliche Fälle ging. Die polizeirechtlichen Urteile daneben, d. h. auch von demselben Gericht, sind dagegen meistens recht ausführlich begründet. Die Streitfälle, bei denen das Kirchspielsgericht die volle Entscheidungsmacht hatte, waren die appellierten Streitigkeiten unter den Bauern. Bei jener Gattung der Fälle zeigt sich eine Tendenz, die sich auch im Rechtsprechungsmaterial der Kreis-

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gerichte fortsetzt. Der Instanzenzug, d.  h. die Appellationsmöglichkeit, wurde in der Regel von den Personen in Anspruch genommen, die sozusagen aus der Reihe tanzten – die in der Gemeinde des Geschehens eigentlich fremd waren. Dies waren z. B. ortsfremde Bauern, die ein Grundstück erwarben und sich dafür in die örtliche Bauernrolle eintragen lassen sollten. Gerade in Estland waren es oft Bauern aus der südlicher gelegenen Provinz Livland, wo der Boden besser war und die Geldwirtschaft sich schneller entwickelt hatte. Darüber hinaus war Estland von allen drei baltischen Provinzen am dünnsten besiedelt – es gab viel Land und wenig Leute (so wie auch heute noch). In der Folge kauften sich mehrere Bauern aus Livland in Estland entweder von den Gutsherren direkt oder auch von den bäuerlichen Eigentümern eine Gesindestelle. Diese Neuankömmlinge klagten dann auch vor dem Kirchspielsgericht gegen die Beschlüsse der lokalen Gemeindegerichte. Dazu kamen noch Stadtbürger, die sich in eine Bauerngemeinde eintragen ließen, um eine Gesindestelle kaufen zu dürfen.22 Auch jene Personen zeigten sich bereit, den Rechtsstreit in den Instanzenzug zu führen. Dass ein gemeiner Mann, ein von alters her einheimischer Bauer, gegen die Entscheidung seines Gemeindegerichts vor dem Kirchspielsgericht klagte, kam dagegen nur ausnahmsweise vor. In den Streitigkeiten um das Grundeigentum habe ich solche Appellationen gar nicht gefunden. Es bestätigt sich damit auch hier die wohlbekannte Tatsache, dass sich die Modernität mit all ihren Teilerscheinungen, darunter auch die Bereitschaft, für die gerichtliche Prozessführung notfalls durch mehrere Instanzen zu gehen, erst mit größerer Mobilität in der Gesellschaft durchzusetzen begann. Es sei in diesem Zusammenhang auch bemerkt, dass Landhandelsgeschäfte, also die Gewinnerzielung durch den Kauf und späteren Verkauf ländlicher Grundstücke, insoweit sie überhaupt vorkamen, ebenfalls von Neuankömmlingen betrieben wurden. Es ist noch ein Punkt zu erwähnen, der im Zusammenhang mit den Kirchspielsgerichten wichtig erscheint. Wenn die Gemeindegerichte völlig nach freiem Ermessen und bestem Gewissen entscheiden konnten, war es der nächsten Instanz in Livland – und ab 1866 auch in Estland – mindestens indirekt vorgeschrieben, nach dem Gesetz zu richten. Die LivBV § 782 schrieb vor, dass das Kirchspielsgericht vor einer ausgedehnten Untersuchung der Tatumstände prüfen sollte, ob nicht gleich nach dem Gesetz entschieden werden könne: „Wenn es sich bei der Entscheidung der Sache nur um die Anwendung des Gesetzes handelt, so schreitet das Gericht zur Entscheidung nach dem genauen Wortlaute des Gesetzes.“ 22 Anders konnte man Bauernland überhaupt nicht erwerben, nicht einmal pachten. Vgl. EstBV Art.  57: „Die Nutzung des Bauerpachtlandes besteht insbesondere in der Abgabe desselben in Frohn-, Geld- oder Natural-Pacht, oder aber in der Uebertragung desselben als Eigenthum durch Kauf, Schenkung u.s.w. an Glieder der Bauergemeinde, oder an solche Individuen, die zu diesem Behufe in den Gemeindeverband eintreten.“

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Die Akten der Kirchspielsgerichte in den zivilrechtlichen Streitigkeiten zeigen aber kaum Hinweise auf Gesetzesstellen. Wenn ein Kirchspielsgericht eine Person bei polizeilichen Vergehen verurteilte, dann gab es immer auch die Gesetzesstelle an, auf die es sich bezog. Bei Zivilsachen fand das dagegen fast niemals statt. Hinweise auf das Gesetz kommen nur dann vor, wenn es um gesetzliche Formalitäten ging, etwa um die Gebühr für die Bestätigung der Verträge (die Bauern waren von den Gebühren befreit, die Stadtbürger nicht) oder um die Ausstellung der Appellationsscheine. Die inhaltlichen Fragen dagegen wurden ohne Einbeziehung des Gesetzes bzw. ohne ausdrückliche Erwähnung der zugrunde gelegten Gesetzesstellen gelöst. Insoweit ist ein Bedürfnis nach dem privatrechtlichen Teil der Bauernverordnungen auch anhand des Rechtsprechungsmaterials der zweiten Instanz in den Bauernsachen nicht ersichtlich. Es ist in diesem Punkt festzuhalten, dass die Rechtsprechung der Kirchspielsgerichte von Est- und Livland, insofern diese überhaupt Streitsachen betraf, zunächst wieder auf Versöhnung, Vermittlung und den Vergleich der Parteien ausgerichtet war und keine sich formell nach dem Gesetzeswort richtende Entscheidungstätigkeit zeigte. Es kommt dazu eine ausgedehnte Aufklärungspflicht und -tätigkeit der Gerichte bei der Belehrung der streitenden Parteien. Die Entscheidungen des Kirchspielsgerichts waren an das Kreisgericht appellierbar, wenn der Streitgegenstand mehr als 10 Rubel Silbermünzen wert war.

Verfahren und Praxis der Kreisgerichte Auf dem Gebiet des heutigen Estlands gab es sieben Kreisgerichte: in Livland vier und in Estland drei. Der Aktenbestand der estländischen Kreisgerichte liegt ziemlich gleichmäßig bei 2.000 und mehr. In Livland dagegen ist er sehr unterschiedlich: aus dem öselschen Kreisgericht gibt es 945, aus dem Dorpater hingegen 20.433 Akten.23 Die Kreisgerichte wurden von einem Vorsitzenden, zwei adligen und zwei bäuerlichen Beisitzern gebildet. Der Vorsitzende und die adligen Beisitzer mussten zu dem immatrikulierten Adel gehören. Die bäuerlichen Beisitzer wurden von Gemeindegerichtsmitgliedern (Estland) oder Kirchspielsgerichtsbeisitzern (Livland) aus ihrer Mitte gewählt. Die Wahlperiode betrug drei Jahre. Darüber hinaus gehörte zu dem Kreisgericht ein Sekretär, der „vorzugsweise aus den Gliedern der Livl[ändischen] Ritterschaft zu wählen [war], die sich dem Studium der Rechtswissenschaft auf der Landes-Universität [zu Dorpat] gewidmet haben“ (LivBV § 725).24 Immerhin 23 Es sind hier überall freilich nicht nur die eigentlichen Prozessakten, sondern auch die Kanzleiakten mit inbegriffen. 24 Inwieweit die Sekretärsposten an den Kreisgerichten tatsächlich von Personen mit einer ­juristischen Ausbildung besetzt wurden, ist noch zu ermitteln. Eine Untersuchung über die Mitglieder eines estländischen Manngerichts (erste Instanz für die Streitigkeiten des Adels) hat gezeigt, dass die

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waren die Glieder anderer Stände auf dieser Stelle nicht ausgeschlossen. Die Wahlperiode des Sekretärs dauerte sechs Jahre, man konnte ihn aber wie die übrigen Gerichtsmitglieder auch erneut in ihr Amt wählen. Die Livländische Bauernverordnung bestimmte die Zuständigkeit des Kreisgerichts in den Zivilsachen folgendermaßen (LivBV § 731): „Das Kreisgericht, als Civil-Justizbehörde, mischt sich nicht aus eigener Bewegung in die Erörterung der Civilsachen, sondern verfährt nur entweder auf Appellation der Bauern unter einander oder der Gutsverwaltung wider die Bauern, oder in Sachen der Gemeinden, ihrer einzelnen Glieder und Beamten wider den Gutsherrn, es bestimmt und führt erforderlichen Falls Localuntersuchungen aus, oder trägt die Bewerkstelligung derselben dem örtlichen Kirchspielsgerichte auf […].“

Die Gerichtsakten bestätigen, dass das Kreisgericht in der Tat nur auf Klagen und Beschwerden hin aktiv wurde. Es fällt dabei auf, dass alle Klagen angenommen wurden, auch wenn sie nicht in die Zuständigkeit des Kreisgerichts gehörten. In solchen Fällen überwies das Kreisgericht selbst die Klage den Gemeinde- oder Kirchspielsgerichten und belehrte den Kläger über den richtigen Beginn seiner Streitsache. Die Volkspädagogik als große Aufgabe der Zeit und des Rechts zeigt sich also auch in diesem Punkt. Niemand wurde zurückgewiesen mit der formell richtigen Begründung, dass die Klage nicht in die Zuständigkeit jenes Gerichts gehörte. Die bewusste und gezielte Vermeidung der bloßen Form sowie die Förderung der Volkstümlichkeit und der formlosen Aufklärung in der Sache drückten sich auch im Prinzip der Mündlichkeit der Verhandlungen, noch mehr aber in dem gesetzlichen Anwaltsverbot aus (LivBV § 734): „Vor dem Kreisgerichte werden die Sachen mündlich verhandelt und ist den Advocaten keinenfalls weder Zutritt bei den Bauerbehörden, noch überhaupt das Patrocinen in Rechtssachen bei diesen Behörden gestattet. Kläger und Beklagter ­müssen persönlich erscheinen und nur den Edelleuten, Mitgliedern steuerfreier Stände und Gutsverwaltungen ist es erlaubt, Klage und Vertheidigung in einer Streitsache durch einen Bevollmächtigten oder schriftlich zu führen. Wenn aber die Repräsentanten der Gutsverwaltung nicht zu einem steuerfreien Stande gehören, und wenn sie in einer nur ihre Person betreffenden Klagesache betheiligt sind, so sind auch sie persönlich vor dem Kreisgerichte zu erscheinen verpflichtet.“

Gerichtsmitglieder selbst – der Mannrichter als Vorsitzender und zwei Assessoren als Beisitzer – bis tief in die 1870er Jahre keine juristische Ausbildung hatten. Die Gerichtssekretäre dagegen waren mindestens ab den 1820er Jahren juristisch ausgebildet und meistens sogar sehr gut qualifiziert. Vgl. Luts, Marju: Juristenausbildung im Richteramt (baltische Ostseeprovinzen im 19. Jh.). In: Eckert, Jörn; Modéer, Kjell-Åke (Hg.): Juristische Fakultäten und Juristenausbildung im Ostseeraum. Zweiter Rechtshistorikertag im Ostseeraum. Lund 12.–17.03.2002. Stockholm 2004, S. 272–312, hier S. 297–307.

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Durch eine Verordnung vom 11. Juni 1866 wurde das erwähnte Anwaltsverbot in Bauernsachen zwar aufgehoben, die Erfordernis der möglichst einzuhaltenden Formlosigkeit blieb aber bestehen. Da die Verhandlungen vor dem Kreisgericht mündlich geführt und nur die Ergebnisse bzw. Zwischenergebnisse in das Protokoll eingetragen wurden, sehen die Akten zu den einzelnen Sachen recht unterschiedlich aus. Meistens handelt es sich um Sammelsurien unterschiedlichster Schriftstücke, die durch die Kirchspielsgerichte oder von den Gutsherren verfasst wurden. Nur die Urteile wurden am Kreisgericht nach einem einheitlichen Muster verfasst. Die Tücke für die Forschung liegt aber darin, dass es sehr selten zu einem formellen Urteil kam. Von ungefähr 20 Fällen gab es im Zeitraum von den 1860er bis zum Ende der 1880er Jahre nur einen, der mit einem Urteil endete. Im Regelfall setzten die Kreisgerichte das schon von den unteren Instanzen bekannte Versöhnungs- und Vermittlungsunternehmen fort. Die Vermittlungsmuster waren allerdings unterschiedlich. Wenn es sich um Grenzstreitigkeiten handelte – diese bilden die Hauptmasse der Fälle um das Grundeigentumsrecht –, schickte das Kreisgericht einen Landvermesser an den jeweiligen Ort, an dem dieser je nach Problem einen Vergleich in Zusammenarbeit mit den streitenden Parteien herausarbeiten sollte. Danach kartierte er den Ort neu und damit war die Sache erledigt. Die Landvermesserkosten trug die Ritterschaft. Wenn es keine Grenzstreitigkeiten waren, machte das Kreisgericht größtenteils für die Vermittlung eigene Kompromissvorschläge und schickte die Sache dann zurück an das Kirchspiels- oder Gemeindegericht. Auffallend ist, dass die Kreisgerichte die Vermittlungsaufgabe viel engagierter erfüllten als die eigentlichen Vermittlungsinstanzen, die Kirchspielsgerichte, die im Vergleich oft eher formell verhandelten. In den Fällen, wo das Kreisgericht eine gerichtliche Entscheidung fällte, treffen die Beobachtungen zu, die schon zur Rechtsprechung der Kirchspielsgerichte gemacht werden konnten. Erstens waren es meistens Fälle, bei denen es vor allem um rechtstechnische Streitigkeiten ging: Fragen der Gebührenpflicht, der Einhaltung von Verjährungs- und sonstigen Fristen oder des gesetzesmäßigen Gerichts (nach der EstBV § 705 unterlagen z. B. die Grenzstreitigkeiten unter den Bauern der Schiedsgerichtsbarkeit und konnten nicht etwa von einem Kirchspielsgericht entschieden werden). In solchen Fällen wurde in Kreisgerichtsentscheidungen auch auf die betreffenden Gesetzesstellen hingewiesen. Die inhaltlichen Streitigkeiten wurden aber auch in den Kreisgerichten in der Regel den abermaligen Versöhnungsversuchen unterworfen. Insoweit sie doch von dem Gericht entschieden wurden, waren es wieder die Klagesachen der Neuankömmlinge oder aber ganzer Gemeinden bzw. einer größeren Gruppe von Bauern. Man sieht allerdings in der Rechtsprechung der Kreisgerichte etwas, was man bei den unteren Instanzen vergeblich sucht: die Konsequenz in der eigenen Entscheidungspraxis. Wenn es im Gemeindegericht ganz offen um Einzelfallgerechtigkeit ging, das Kirchspielsgericht als eine Lehranstalt und weniger als eine Justizanstalt

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fungieren sollte, dann bezeugt die genannte Kontinuität und Einhaltung der schon gefällten Lösungsmuster, dass die Kreisgerichte sich wirklich als Justizanstalten verstanden. Vermutlich war dies das Verdienst der juristisch ausgebildeten Gerichtssekretäre. Andererseits ist die Folgerichtigkeit in der eigenen Entscheidungspraxis das einzige Merkmal in der Rechtsprechung der Kreisgerichte von Est- und Livland, das eine allmähliche Annäherung an die modern verstandene Gerichtsbarkeit andeutet. Die Hauptmasse des Rechtsprechungsmaterials zeigt dagegen auch auf der Ebene der Kreisgerichte das engagierte Bemühen um Vermittlung, Versöhnung, Vergleich und Rechtserziehung des Volkes. Es ist somit kein Zufall, dass die Livländische Bauernverordnung gerade in der Abteilung, in der es um die Kompetenz und das Verfahren der Kreisgerichte geht, die Herausgabe des amtlichen Anzeigeblattes in den Volkssprachen (Estnisch und Lettisch) anordnete, „um den livländischen Bauer auf eine bequeme und kostenfreie Weise von allem dem in Kenntniß zu setzen, was ihn in seinen ökonomischen und Rechtsangelegenheiten zu wissen nöthig sein möchte“ (LivBV § 746). Die Zusammenstellung jenes Volks-Anzeigers, der monatlich erscheinen und am Sonntag in der Kirche vorgelesen werden sollte, war nicht zufällig die Aufgabe der Kreisgerichte. Dass die Aufgabe der Rechtserziehung auf Kreisgerichtsebene nicht nur die bäuerliche Bevölkerung betraf, verdeutlichen weniger die Gesetze als vielmehr die Gerichtsakten: Auch Gutsherren wurden durch das Kreisgericht über ihre Rechte und Pflichten belehrt, notfalls über die Entschädigung unterrichtet, die man nach der EstBV § 882 einem Bauern bezahlen sollte, wenn man ihn ohne triftigen Grund zu einem Gerichtsgang veranlasst hatte. Darüber hinaus konnte das Kreisgericht eine Partei wegen „frivole[r] und aus Prozeßsucht angebrachten Beschwerden“ verurteilen und den Beschwerdeführer mit einer Buße von bis zu zehn Rubeln bestrafen. Es ist klar, dass dieses Mittel nach dem Gesetz vor allem für die Bestrafung der bäuerlichen Beschwerdeführer vorgesehen war – man konnte die Geldbuße nämlich in „Arrest, Abarbeitung oder körperliche Strafe“ umwandeln. Die Akten zeigen allerdings, dass die Kreisgerichte die Sanktion der Geldbuße des Öfteren über die Gutsherren verhängten. Die bäuerliche Partei wurde in der Regel eher belehrt und ermahnt, manchmal auch bedroht, aber nicht bestraft.

Ambivalenz und Ergebnis der Erziehung durch die Gerichtsbarkeit Auf der Provinzialebene war ein möglichst formloses und rasches Verfahren als allgemeines Ziel der Rechtsprechung in Bauernsachen gesetzlich vorgegeben. Dies betraf nicht nur die hier behandelten unteren, sondern auch die höchsten Instanzen der Provinzialebene: in Livland das Departement für Bauernsachen des Hofgerichts, in Estland das Oberlandgericht, in dem auch alle anderen dazu gehörenden Rechtssa-

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chen verhandelt wurden. Die Livländische Bauernverordnung legte am Anfang der Prozessabteilung die Ziele der ganzen Rechtsprechung in Bauernsachen in einem weitläufigen, aber eindeutigen Wortlaut klar (LivBV § 765): „Zur Abkürzung der Processe, sowie zur Ersparung der Kosten sollen in Bauersachen weder Sachwalter noch förmlicher Schriftwechsel zugelassen, sondern sämmtliche Rechtshändel nach den Grundsätzen des Untersuchungsprocesses abgemacht werden. Deswegen muß der Richter, damit die Rechtsuchenden sich aus Unkunde oder Ungeschicklichkeit nicht selbst Schaden zufügen, von Amts wegen sich derselben annehmen, durch wiederholte Vorschläge zur Güte billige Vergleiche zu bewirken suchen, die von den Parteien oder dem Richter in erster Instanz begangenen Nichtigkeiten und Fehler verbessern und bei der Entscheidung der Sache alle diejenigen Umstände, welcher die Parteien aus Unwissenheit oder Irrthum nicht Erwähnung gethan haben, berücksichtigen und beprüfen, als: es hätte Jemand weniger als ihm rechtlich gebührt, gebeten, oder es kämen ihm Schutzreden der Verjährung, der bereits geleisteten Zahlung, der Abrechnung u. dgl. zu statten, oder besondere ­Rechtswohlthaten, wie es bei Unmündigen und Individuen weiblichen Geschlechts u. s. w. der Fall ist. Eben deswegen ist der Richter auch verpflichtet, in allen Bauersachen den Proceßgang überhaupt selbst zu instruiren, d. h. die Bitte des Klägers und die Erklärung des Beklagten gehörig aufzunehmen, die Thatumstände, auf welchen das streitige Rechtsverhältniß beruht, auf dem sichersten und kürzesten Wege zu ermitteln und in Gewißheit zu setzen, zu diesem Behufe die Parten selbst zu vernehmen und im Laufe des gerichtlichen Verfahrens überall die außerwesentliche Förmlichkeiten desselben zu entfernen.“

Die Gesetzesstelle zeigt, dass nicht nur die rechtsuchenden Parteien, sondern auch die Richter durch eine weitschweifig formulierte Gesetzgebung belehrt wurden. Diese umsichtig geduldige, fast väterlich liebevolle pädagogische Hinwendung zu allen Beteiligten des Gerichtsprozesses auf der Provinzialebene hatte freilich eine Kehrseite. Diese offenbarte sich, als den Bauern der Zug in die Höchstgerichtsbarkeit des Reichs eröffnet wurde (ab 1856 durch die sogenannten Nullitätsbeschwerden, ab 1879 durch die Appellationen). Der höchste Gerichtshof des Russischen Reiches, der Dirigierende Senat, war an die Prozessform gebunden und das dortige Verfahren nur schriftlich. Bis 1889 habe ich keine einzige bäuerliche Beschwerde aus Estland gefunden, die vom Senat anerkannt worden wäre.25 Dies ist nicht auf die Parteilichkeit des Senats zurückzuführen. Es blieb ihm einfach nichts zu tun, wenn etwa der bäuerliche Beschwerdeführer „in sehr undeutlichen Äußerungen darüber klagt, dass Baron Stackelberg ihm allerlei Unrecht getan hat, dass er aber weder einen Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten noch einen Appellations25 Vgl. ausführlicher Luts-Sootak, Marju: Die Erfolglosigkeit der estländischen Bauern vor der Höchstgerichtsbarkeit des Russischen Reiches (1865–1889). In: Knothe/Liebmann, Gerichtskultur (wie Anm. 14), S. 175–187.

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anspruch gegen die Entscheidung des unteren Gerichts erhebt“.26 Das formlose und umsichtige Belehrungswerk funktionierte also nur unter der Voraussetzung, dass das Gericht selbst an keine strengen Formregeln gebunden war. Insgesamt lässt sich eine ganze Reihe von Merkmalen anführen, welche die baltischen Bauern zu Mitgliedern einer modernen Gesellschaft erzogen, sei es die Austragung der Konflikte auf dem Rechts- und Gerichtsweg, die Einübung der Beweisführung auf der Seite der Streitparteien und der Beweiswürdigung auf der Seite der Richterbank, die schriftliche Protokollführung oder das Bewusstsein von der Überlegenheit schriftlicher Beweismittel usw. Insoweit kann man wohl tatsächlich von der Gerichtsstube als einer Bildungsanstalt sprechen.

26 Estnisches Historisches Archiv 858-1-92, Bl. 113: Senatsukas in der Sache des Bauers Juhan Mättik gegen Baron von Stackelberg, 18. Mai 1884.

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Das Bildungsprogramm der 1802 wiedergegründeten Universität Dorpat Bei der Wiedergründung der Universität Dorpat im Januar 1802 als eine deutschsprachige und protestantische stand auch die universitäre Bildungspolitik im Widerstreit der Gestaltungskräfte der Universität. Von Beginn an formierte sich eine bipolare Dynamik zwischen Ritterschaft und Professoren, die die jeweils eigenen normativen Positionen nur mit Hilfe des Zaren durchsetzen konnten. Einzigartig im Vergleich zu den Universitäten im ‚Deutschen Reich‘, etwa zur gleichzeitig wiederbelebten Universität Heidelberg, war die fördernde, inspirierende Rolle Zar Alexanders I., dem die Bildungspolitik zum Pionierfeld seiner Herrschaft wurde und der in Dorpat (Tartu) mit den Professoren und einem Teil der Ritterschaft die Bildungspolitik als verpflichtendes Erbe der Aufklärung aufnahm und in eine staats- und sozialpolitische Revolution der säkularen Bildung umsetzte. Mit Dorpat begann die „Gründungswelle“ der Universitäten in Russland.1 Das Elixier des Neubeginns waren Erwartungen und Hoffnungen, die der benevolente, jugendliche Herrscher zu erfüllen versprach. Alexander war vom ersten Tag seiner Herrschaft an (24. März 1801) die personifizierte Humanität, die ihm Legitimität verlieh, da sie auf aufklärerischen Werten gründete und zu einer ‚vernünftigen‘ Kooperation mit den Helfern führte. An der Universität Dorpat bündelten sich aufklärerische Kräfte: „Nie fügten sich die Umstände so glücklich zusammen, um dem Aufklärungsgeschäfte in Rußland einen schnellern und sichereren Gang zu geben.“2 Ausgangspunkt für die folgenden Ausführungen ist das Universitätsstatut, das die baltische Ritterschaft noch mit Zar Paul I. ausgehandelt hatte. Ziel war die Gründung einer Provinzialuniversität, die in kameralistischem Sinne und in antirevolutionärem Impetus vor allem für den administrativen Nachwuchs zu sorgen hätte. Dies führte zu einem prinzipiellen Dissens zwischen Professoren und Ritterschaft. Parallel zum administrativen Gesetzeswerk des Statuts starteten die selbsternannten 1 Meyer, Klaus: Die „Gründungswelle“ der Universitäten in Russland und die Gründung der Universität Dorpat. In: Wörster, Peter unter Mitwirkung von Dorothee M. Goeze (Hg.): Universitäten im östlichen Mitteleuropa. Zwischen Kirche, Staat und Nation – Sozialgeschichtliche und politische Entwicklungen. München 2008, S. 37–47. 2 Parrot, G[eorg] F[riedrich]: Rede bei Gelegenheit der Publication der Statuten der Universität und der Abgabe des Rectorats am 21. September 1803. Dorpat [1803], S. 13f. Roderich v. ­Engelhardt fasst zusammen: „Die Geburtsstunde der Universität Dorpat“ stand unter dem Zeichen „einer ­menschheitsbeglückenden weitherzigen Humanität und alle Schranken zwischen Monarch und Untertan durchbrechenden Freundschaft“ (Engelhardt, Roderich v.: Die Deutsche Universität Dorpat in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung. München 1933, S. 24).

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Bildungsprotagonisten unter den Professoren auch publizistisch eine Bildungsoffensive, deren Sinnlinien im Folgenden anhand ausgesuchter Beispiele ­nachgezeichnet werden sollen. Zur Besonderheit in Dorpat gehörte auch, dass von den sechs hier diskutierten Autoren vier keine universitäre Berufskarriere vorzuweisen hatten. Sie tarierten in ihren Reden und Schriften das Gleichgewicht zwischen Erziehung und ‚Aufklärung‘ aus und formulierten den pädagogischen, staatsbürgerlichen und wissenschaftlichen Bildungsauftrag der Universität. Es wurde eine konzertierte Aktion von Vertretern der Fächer Philosophie, Physik, Klassische Philologie/Ästhetik/Literatur, Medizin, Geschichte und Ökonomie, bald unterstützt und geschützt vom ehemaligen Stürmer und Dränger Friedrich Maximilian Klinger als Curator der Universität. Mit der Namensgebung des Bildungsministeriums als „Ministerium für Volksaufklärung“ (September 1802) wurden programmatisch ihre bildungspolitischen Grundsätze bestätigt. Zwei Grundtöne sind den propädeutischen Programmen unterlegt: ein anthropologischer Optimismus und ‚die Befreiung des Individuums‘. So bestimmten humanistische, aufklärerische Prämissen die disziplinarische, propädeutische, didaktische Programmatik, grundlegend formuliert in der für die deutschsprachigen Universitäten ebenso einmaligen studentischen ‚Verfassung‘ von 1803.

„In allen Provinzen des Reiches Wohlstand und Glück verbreiten“ Die zwischen der Ritterschaft und dem Zaren Paul I. ausgehandelte Fundationsakte wurde nun, unter Alexanders Aufsicht, als Plan umdefiniert und in eine Vorläufigkeit gestellt.3 Die Universität sollte Provinzialuniversität Livlands und Estlands werden, mit der Ritterschaft als Träger (§ 1), administrativ nur dem St. Petersburger Senat untergeordnet (§ 4); persönlich standen die Professoren, Studenten und alle übrigen Universitätsbeamten, außer in „Civil- und Criminal-Sachen, unter der Disposition der Universität“ (§ 4), die sich den „Charakter eines ständischen Instituts“4 aneignete. Für Auswahl und Postenvergabe der Professoren, Lehrer und

3 Vgl. o. A.: Statuten der Kayserlichen Universität zu Dorpat, nach Anleitung des am 4. May 1799 Allerhöchst confirmirten Planes, nebst den durch den namentlichen Befehl Sr. Kayserl. Majestät am 5. Januar 1802 hinzugekommenen Veränderungen. Dorpat 1802 (im Folgenden nach Paragraphen zitiert). Auf dem von der Universitätsbibliothek Tartu ins Internet gestellten Exemplar (URL: https://dspace.ut.ee/handle/10062/32610) ist, mit „Parrot“ unterzeichnet, folgende Notiz am unteren Rande des Titelblatts vermerkt: „Diese Statuten sind nie von dem hochseeligen Kayser Paul gesehen, geschweige confirmiert worden“. Ein gewichtiger Verdacht gegen die Machtspiele der Ritterschaft, den Parrot hier äußert. 4 Gernet, Axel von: Die im Jahre 1802 eröffnete Universität Dorpat und die Wandlungen in ihrer Verfassung. Ein Gedenkblatt zum 21. April 1902. Reval 1902, S. 14. Mit der Namensgebung „Kayserliche Universität“ war der Übergang zur reichsstaatlichen Universität schon vorgezeichnet.

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Beamten war allein das von den Ritterschaften gewählte Zweier-Curatorium verantwortlich (§  7). Auch bei der Zensur hatte das Curatorium das letzte Wort (§ 14). Mit extensiver Anmaßung wurden die Professoren überwacht, kontrolliert und dirigiert. Nicht nur die Studenten, sondern auch die Professoren absolvierten (wie im ‚Reich‘) unter Drohparagraphen eine „Sozialdisziplinierung“.5 Im Tonfall einer nervösen, machtstrategischen Prophylaxe wurde den Professoren nicht einmal in Fragen der Sittlichkeit Eigenverantwortung zugetraut (§ 64, ähnlich § 31 u. § 26). Der Universität und ihren Bildungsinhalten blieb (noch) eine antirevolutionäre Funktion vorgeschaltet. Doch diejenigen, die sich nicht über Herkunft und Besitzrechte definierten, werden sich diesen persönlichen, administrativen, pädagogischen und feudalen Herrschaftsansprüchen entziehen oder widersetzen, mit der inneren Sicherheit und Entschlossenheit von Freimaurern – im Kraftfeld der Freimaurerei.6 Der Prorektor empfing von den Studenten bei der Aushändigung des Universitätsregisters das Versprechen der Pflichterfüllung „mit einem Handschlag“ (§ 54). Wenn ansonsten in der Satzung von den „Studenten“/„Studierenden“ die Rede ist, dann nur als Subjekte möglicher Vergehen („verderbte Grundsätze / ungesittet / unfleißig“), die sogar aus der Stadt „vertrieben“ (§ 30) werden können. Sie scheinen in permanenter Gefahr, zum destruktiven Element im sozialen und politischen Leben einer Universität zu werden. Diesen ständisch definierten Machtpositionen setzten nicht weniger machtbewusste Professoren ein sozialpolitisch geprägtes Bildungsprogramm, ein aufklärerisches Curriculum entgegen. Mit den Unterstellungen, die in den Geboten für die Professoren enthalten waren, überspannten die den Ton angebenden Ritter den Bogen. In Unkenntnis nachrevolutionärer universitärer Usancen schätzten sie die moralischen und politischen ­Grundsätze der berufenen Professoren falsch ein, waren irritiert durch die machtpolitischen Verschiebungen und agierten bald aus der Defensive.7 Die Strategie Alexanders war, der Universität einen besonderen autonomen Status zu verleihen, um ihre Kräfte sich entfalten zu lassen, wie auch die unerwartet großzügige Überlassung von Immobilien, die hohen finanziellen ‚Investitionen‘ zeigten. Dorpat sollte zur

5 Vgl. Brüdermann, Stefan: Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert. Göttingen 1990, passim. 6 Vgl. Wistinghausen, Henning von: Freimaurer und Aufklärung im Russischen Reich. Die Revaler Logen 1773–1820. Bd. 2: Freimaurer in Dorpat, Köln-Weimar-Wien 2016, S. 793–797; zur „Neuordnung“ der Dorpater Universität vgl. ebd., S. 778–793. 7 Vgl. Käfer, Markus: Die Winckelmann-Rede Karl Morgensterns (1803) im Kontext der Wiedergründung der Dorpater Universität durch Alexander I. In: Kunze, Max; Lappo-Danilevskij, Konstantin (Hg.): Antike und Klassizismus – Winckelmanns Erbe in Russland / Drevnost’ i klassicizm – nasledie Vinkel’mana v Rossii. Akten des internationalen Kongresses St. Petersburg 30.9.–1.10. 2015. Mainz-Ruhpolding 2017, S. 253–261, hier S. 253–255.

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Brücke zwischen Ost und West,8 zu einem „Modell zu den übrigen Universitäten und Schulanstalten“ werden.9 Strategisch konnte dies mit der Umwandlung der Provinzialuniversität in eine Reichsuniversität am besten gelingen. Vor allem mit der Berufung Georg Friedrich Parrots als Professor der Physik und mit seiner Wahl zum Prorektor am 1. August 1802 war personell und institutionell die ‚Lösung der Bauernfrage‘ verbunden, darin unterstützt von einem Teil der Ritterschaft.10 Die Studenten waren also von Beginn an in eine sozialpolitische Diskussion eingebunden, wobei in der Bauernfrage die Professoren das Konfliktpotenzial absorbierten. Umso verständlicher ist, dass die Professoren die Studenten als Mitstreiter gewinnen wollten. Die Bemühungen zugunsten der Bauern legitimierte und forcierte der Zar selbst: Auf seiner Krönungsmedaille versprach er die „Bürgschaft für das Wohlergehen aller und jedes einzelnen.“11 War dies das Wohlergehen aller, die prospérité publique, die sich Abbé Sieyès eines Tages vom Gesetzgeber für den Dritten Stand erhofft hatte? Der Begriff wurde vom Zaren, diesem élevé à la française, diesem Ziehsohn des Schweizer Aufklärers Frédéric-César de La Harpe, neu definiert, revitalisiert, er dekretierte einen neuen liberal-humanistischen Kontext. Unmittelbar vor der Eröffnungsfeier der Universität am 22./23. April 1802 weigerten sich die Professoren, allen voran Parrot, dem Curatorium Gehorsam zu leisten, und beraubten damit die Ritterschaft ihres bis zur Willkür handhabbaren Machtinstruments. Es war der Parrot, der 1795 in Riga – der richtige Zeitpunkt, um aus der Terrorherrschaft in Frankreich Lehren zu ziehen – in der kleinen (anonymen) Schrift Ueber eine mögliche ökonomische Gesellschaft in und für Liefland nachgedacht und seine Hauptthese als „Wahrheit“ deklariert hatte: „[D]er Wohl18 Vgl. Luts, Marju: „Eine Universität für Unser Reich, und insbesondere für die Provinzen Liv-, Ehst- und Kurland“. Die Aufgaben der Juristenfakultät zu Dorpat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 117/1 (2000), S. 607–639, hier die Erläuterungen zu Georg Friedrich Pöschmanns Essay Über den Einfluß der abendländischen Kultur auf Rußland, S. 610–614. 19 Krause, Johann Wilhelm: Das erste Jahrzehnt der ehemaligen Universität Dorpat. In: Baltische Monatsschrift 44/53 (1902), S. 229–250, 330–346, 361–385 u. 44/54 (1902), S. 81–103, hier S. 44/53 (1902), S. 338. 10 Vgl. den Briefwechsel zwischen Jakob von Berg und Alexander I., der den „Beschluß der ehstländischen Ritterschaft zum Besten der Bauern […] für jetzt den Zeitumständen vollkommen angemessen“ akzeptiert und von Berg auffordert, „die Rechte der [Bauern] allmälig und unvermerkt zu begründen, und so die Wohlfahrt beyder Theile zu sichern.“ In: O. A.: Erste Schritte zur gesetzlichen Bestimmung des Zustandes der Bauern in Ehstland. In: Rußland unter Alexander dem Ersten. Eine historische Zeitschrift 2 (1804), S. 114–140, hier S. 139f. Vgl. ebenso: Salupere, Malle: Ein nicht anerkannter Aufklärer, Schwärmer und Praktiker. Georg von Bock und sein neugefundener Zarenbrief aus dem Jahre 1802. In: Altmayer, Claus (Hg.): Johann Gottfried Herder und die deutschsprachige Literatur seiner Zeit in der baltischen Region. Beiträge der 1. Rigaer Fachtagung zur Deutschsprachigen Literatur im Baltikum, 14. bis 17. September 1994. Riga 1997, S. 266–284, hier S. 270: „man errötet vor dem Namen der Willkür, deren man sich ehemals laut rühmte.“ 11 Zit. nach Käfer, Die Winckelmann-Rede Karl Morgensterns (wie Anm. 7), S. 253, Abb. S. 255.

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stand des Erbherren läuft schlechterdings mit dem Wohl seiner Bauern vollkommen parallel.“12 Der junge Zar Alexander I. zog mit der Neuorientierung der innenpolitischen ­Staatsräson fundamentale Konsequenzen aus der Französischen Revolution: „Als […] sicherste Grundlage“, um das vorrangigste Ziel der Staatsherrschaft zu erreichen, nämlich „in allen Provinzen des Reiches Wohlstand und Glück […] zu verbreiten“, galt für Alexander die Maxime: „Beförderung der Aufklärung“, und er war überzeugt davon, „daß der erste und zweckmäßigste Schritt zur Erreichung dieses großen Zieles die Begründung neuer, und die Verbesserung [der] schon vorhandenen Erziehungsanstalten ist“.13 Es ist eine Revolution von oben, das Wohl des Volkes mit der Bildung des Volkes in einen ursächlichen Zusammenhang zu bringen.14 Parrot folgte den Ideen, den Weisungen des Zaren, wusste sich mit ihm einig, wenn er bei dessen Besuch in Dorpat im Mai 1802 in seiner Willkommensrede (auf Französisch) beteuerte: „Wir schwören, die Menschheit/Menschlichkeit [humanité] zu achten in all ihren Klassen und (Lebens-)Formen; nicht den Armen vom Reichen, nicht den Schwachen vom Mächtigen zu unterscheiden, um uns dem Armen und Schwachen aktiver und liebevoller zu widmen.“15 Hier im Baltikum vollzog sich mit der Wiedergründung der Universität Dorpat (inklusive einer neuen Schulordnung) eine Bildungsrevolution als Prozess der Überwindung der Standesgrenzen: 12 Zit. nach Bienemann, Friedrich: Der Dorpater Professor Georg Friedrich Parrot und Kaiser Alexander I. Zum Säkulargedächtnis der alma mater Dorpatensis. Riga 1902, S. 111 u. 62. 13 So im ersten Satz der „Bestätigungsakte der Wilnaischen Universität“ vom April 1803. In: Storch, Heinrich (Hg.): Rußland unter Alexander dem Ersten. Eine historische Zeitschrift. Bd. 1. St. Petersburg-Leipzig 1804, S. 303–313, hier S. 303. In Wilna (Vilnius) war Latein Unterrichtssprache. Vgl. „zur Spezifik der russischen Verwendung von Aufklärung“ Lehmann-Carli, Gabriela: Prämissen: Staatsräson, Kulturpolitik und Aufklärung im Petersburger Imperium des 18. Jahrhunderts. In: Dies.; Brohm, Silke; Preuß, Hilmar: Göttinger und Moskauer Gelehrte und Publizisten im Spannungsfeld von russischer Historie, Reformimpulsen der Aufklärung und Petersburger Kulturpolitik. Berlin 2008, S. 1–6, hier S. 5f. 14 De la Harpe korrespondierte (1803) ausgiebig mit (seinem ‚Zögling‘ bleibenden) Alexander über Pestalozzi und bestärkte ihn ganz im Geiste Pestalozzis in seiner Bildungspolitik für die Armen: „C’est en popularisant l’instruction, […], que vous soustrairez la pauvre humanité aux griffes des tartuffes, des fourbes et des ambitieux, qui la veulent ignorante, corrompue, avilie, afin d’avoir un prétexte pour la calomnier, l’insulter, l’asservir; satisfaire en un mot leurs viles passions à ses dèpens. [Indem Sie die Volksbildung betreiben, (…) werden Sie die arme Menschheit den Klauen der Heuchler, der Hinterlistigen und der Ehrgeizigen entziehen, die sie dumm, verdorben und erniedrigt halten wollen, um unter diesem Vorwand sie zu verleumden, zu beleidigen, zu unterdrücken, kurz, um auf deren Kosten ihre schändlichen Triebe zu befriedigen.]“ De la Harpe konnte diese revolutionäre Sprache wagen, weil er von Alexander wusste, dass er auch als Zar „homme et citoyen“ (Mensch und Bürger) geblieben war – weil er ihn so erzogen hatte. La Harpe, Frédéric César de an Alexander I. Paris, 04.01.1803. In: Ders.: Correspondance de Frédéric-César de La Harpe et Alexandre Ier. Hg. v. Jean Charles Biaudet u. Françoise Nicod. Bd 2: 1803–1815. Neuchâtel 1979, S. 9f. 15 Zit. nach Bienemann, Der Dorpater Professor (wie Anm. 12), S. 116.

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„Der Einzelne wird aus der ständischen Ordnung freigesetzt“,16 oder wie Parrot es verallgemeinert: Es gelte, „die Eroberungen unsrer Wißbegierde sogleich zum Vortheil der allgemeinen Aufklärung zu verwenden“.17 Parrot und seine Kollegen wussten, dass das aufklärerische Bildungsprogramm machtstrategisch nur durchgesetzt werden konnte, wenn die Universität den Einfluss der Ritterschaft zurückdrängte und sich unter „besondern Schutz und Protection“ des Zaren stellte.18 Friedrich Maximilian Klinger – ab dem 24. Januar 1803 (kaiserlicher) Curator der Dorpater Universität – war der Auffassung, dass Erziehung und Unterricht „in der jetzigen Zeit“ nicht Folge der Kultur seien, sondern die Kultur selbst „eine Frucht freierer, furchtloserer Gefühle“ sei.19 Die Bedingungen dafür konnten nur in sozialpolitischer Freiheit geschaffen werden, und diese Freiheit garantierte Zar Alexander (nach den Jahrzenten politischer Inquisition). Es war in Dorpat eine originäre Erfahrung und zugleich eine Lehre aus der Französischen Revolution, die Macht des Adels, die feudalen Strukturen zu schwächen und das monarchische Prinzip mit diesem Zaren zu stärken. In der Abwägung der Machtverhältnisse und der eigenen Machtmittel war Alexander I. ein Glücksfall der Geschichte, den sich der baltische Lokalpatriotismus in seiner Zarenbegeisterung zu eigen machte und zu nutzen verstand. Diffus und zugleich konkret waren die Hoffnungen auf „Wohlstand und Glück“, deren allgemeine Erfüllung nicht die feudalen, partikularen Mächte, sondern nur die Zentralmacht durchsetzen konnte.

16 Bosse, Heinrich: Bildungsrevolution 1770–1830. Heidelberg 2012, S. 11. 17 Parrot, G[eorg] F[riedrich]: Rede über den Einfluß einer Universität auf die Geistescultur derjenigen, welche sich eigentlich nicht dem gelehrten Stande widmen, bey Gelegenheit der Uebernahme des Prorektorats am 1sten August 1802. Dorpat o. J., S. 9 (als Digitalisat der Universitätsbibliothek Mannheim, URL: http://digi.bib.uni-mannheim.de/urn/urn:nbn:de:bsz:180-digad-13679). 18 Fundationsakte der Dörptschen Universität. 12.12.1802. In: Storch, Russland unter Alexander dem Ersten (wie Anm. 13), Bd. 2 (1804), S. 79. Ebenso rational argumentieren, wohl zur selben Zeit niedergeschrieben, in Schillers Wilhelm Tell die Schweizer Landleute: „Nicht unter Fürsten bogen wir das Knie, / Freiwillig wählten wir den Schirm der Kaiser. […] Frei wählten wir des Reiches Schutz und Schirm […] Denn herrenlos ist auch der Freiste nicht. / Ein Oberhaupt muß sein, ein höchster Richter, / Wo man das Recht mag schöpfen in dem Streit.“ (Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell. Tübingen 1804, S. 87f.) 19 Klinger, Friedrich Maximilian: Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 12. Stuttgart-Tübingen 1842, S. 1–260, hier S. 138. Es sei in Frage gestellt, ob Klinger als „Militär, der alle Angelegenheiten nach Befehl und Gehorsam regelte“, die Entwicklung der Universität in ihren ersten Jahren „belastete“ (so Meyer, Die „Gründungswelle“ der Universitäten in Russland [wie Anm. 1], S. 45); es gilt wohl eher die Goethische Charakterisierung Klingers als „ein Kraft-Genie“ (zit. nach ebd.). Vgl. zum „zwiespältigen Charakter eines Mannes wie Klinger“ Engelhardt, Die Deutsche Universität Dorpat (wie Anm. 2), S. 58–60 (Zitat S. 58) sowie das differenzierende (Charakter-)Bild von Salumets, Thomas: Friedrich ­Maximilian Klinger als Kurator der Universität Dorpat 1803–1816. Bildungsprogramm, Opposition und Schwierigkeiten. In: Journal of Baltic Studies 20/3 (1989), S. 283–300.

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„So will es Alexander, so will es unser Jahrhundert“ Die Reden bei den Eröffnungsfeierlichkeiten im April 1802 dokumentierte der Philosophieprofessor und Kantschüler Gottlieb Benjamin Jäsche.20 Wie diese Dokumentation zu verstehen ist, wird auf dem Frontispiz mit den auf dem Boden liegenden Fasces in revolutionärer Symbolik angedeutet: Bücher montieren die neue Architektonik. Die feudale Amtsmacht wird durch die Macht der Wissenschaft ersetzt. Allen Rednern der Eröffnungsfeier war gemeinsam das innige und feierliche, ‚gläubige‘, hymnische, anbetende Herrscherlob, eingefasst in Gotteslob, mit bisweilen verwirrenden Übergängen zwischen den Gepriesenen. In engster Kooperation mit dem Zaren war in Dorpat ein aufklärerisches Biotop entstanden, das die Gründungsphase der Universität bestimmte. In der Hochstimmung der Allianz von Thron und Wissenschaft entsprach das Herrscherlob der eigenen Hochstimmung, aktiver Teil dieses aufklärerischen Unternehmens zu sein. Die Theologen beteiligten sich nur am Rande an den bildungsprogrammatischen, propädeutischen Reden bei den universitären Feierlichkeiten – an dieser Schaltstelle der Organisation saß der Programmatarius Karl Morgenstern21 –, so dass man an dieser protestantischen Universität in den nichttheologischen Fächern von einem konsequent säkularisierten Bildungsprogramm sprechen kann, da die humanistischen Werte und Ziele theologische Begründungen und religiöse Ziele ersetzten. Jäsche lässt in der Einleitung der Sammelschrift der Reden keinen Zweifel aufkommen, wem die Gründung der Landesuniversität und mit welchen Zielen zu verdanken ist: „der weisen. lieberalen [sic] und humanen Regierung“, „unserm Allverehrten und Allgeliebten Monarchen“, in „seiner Liebe zur Weisheit und Wissenschaft, zur Aufklärung und Humanität“ (3). Hier wird mit Pathos im Zaren die aufklärerische Ratio gefeiert. Der Oberpastor Friedrich David Lenz beschwört in seiner Predigt die theologische Ordnung der Welt und das Bündnis zwischen Altar und Thron: Gott ist der „Allgütige“, er ist der „Vater des Lichts [also auch der ‚Aufklärung‘], von dem alle gute[n] und vollkommene[n] Gaben […] herabkommen!“ Seiner Obhut sind „Wohlfahrt und Glückseligkeit […] in allen Ständen und Verhältnissen“ anzuvertrauen (6f.). Lenz, der vehement den Vorteil einer einheimischen Universität für Eltern und das Vaterland (13f.) erläutert,22 wird darin vom Curator, Graf von Manteuffel (im Text: „Mannteuffel“), unterstützt, der zugleich diplomatischer und betont weltoffen ar20 Jäsche, Gottlob Benjamin: Geschichte und Beschreibung der Feyerlichkeiten bey Gelegenheit der am 21sten und 22sten April 1802 geschehenen Eröfnung der neu angelegten Kayserlichen Universität zu Dorpat in Lievland. Dorpat 1802, S. 4. Digitalisat Universität Tartu, URL: https://dspace. ut.ee/handle/10062/14536 (12.11.2020) (im Folgenden mit Seitenzahlen zitiert). 21 Süss, Wilhelm: Karl Morgenstern (1770–1852). Eloquentiae […]. Ein kulturhistorischer Versuch. Dorpat 1918, S. 121. 22 Vgl. Luts, „Eine Universität für Unser Reich“ (wie Anm. 8), S. 610–613.

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gumentiert, um sein Bildungsprogramm abzusichern. Doch der Spagat zwischen Liberalität und Feudalherrschaft wird überdeutlich: Für Graf von Manteuffel ist die vaterländische Erziehung das alle Bewohner und Stände einigende Band. Und in diese Erziehung sollen sich die Professoren einreihen, denn sie „sollen [kameralistisch gedacht] Diener dem Staate bilden.“ Die Vaterlandsliebe bekommt eine domestizierende Funktion, sie stabilisiert das soziale System. Die Professoren sollen „die Empfänglichkeit Ihrer Zöglinge für Wahrheit und Recht“ in eine neue vaterländische Bildung lenken, gleichgesetzt mit der „Veredelung des Menschen“ durch die Wissenschaft: „auf diesem Wege wird die Nation, was sie werden kann und soll“: eine „wahrhaft aufgeklärte Nation“ – als seien sich Ritterschaft und Professoren doch wenigstens im Ziel einig (19f.). Die Kritik am „Benehmen der Gutsherren gegen die Bauern“ (23) wehrt von Manteuffel mit dem Hinweis auf die nicht seltenen Beispiele seiner Standesgenossen ab, durch „verbesserte Volksschulen […] auch diese letzte Klasse für höhere Kultur und für ein günstigeres Schicksal empfänglicher [zu] machen“, so dass eine (wem dienliche?) „reinere Moralität der niedern Volksklassen“ habe entstehen können. Nur dieser, der kulturell-evolutionäre, paternalistische Weg, so das implizite Angebot der Ritterschaft, wird friedliche sozialpolitische Veränderungen in der Agrarfrage bringen. Von Manteuffel fordert, wie in einem Stillhalteabkommen, „Eintracht“ und „gegenseitige Toleranz“. Die Pflichterfüllung wird als heilsamer Mechanismus die Rivalitäten im „Trieb zur wachsamsten und gemeinnützigsten Thätigkeit“ neutralisieren (23f.). ‚Wachsamkeit‘ – dieses Wort soll nachklingen, bei aller Toleranz. Graf von Manteuffel scheint die 19 Studenten gut zu kennen und nimmt wohl einen veränderten Ton zwischen den Professoren und den Studenten wahr. An die Professoren gewandt, in ironisch-warnendem Unterton, fügt er an, dass sie keineswegs befürchten sollten, nur „Nachbeter“ vor sich zu haben, „die jedem Worte einen unbedingten Glauben schwören“. Diese Studenten „werden ihr Wissen nicht nur erweitern, sondern auch prüfen und mit einem Schatz verständiger und fruchtbarer Ueberzeugungen die Laufbahn verlassen, die sie unter Ihrer freundschaftlichen Leitung durchwanderten“ (22). Im selben Jahr 1802 erschien von Christoph Meiners (er wurde später Berater des Ministeriums für Volksaufklärung in St. Petersburg) der zweite Band seiner Geschichte der deutschen Universitäten. Darin beklagt er, dass die Chancen, die „die unbeschränkte Freiheit“ den Studierenden eröffne, nicht als „Wohltaten“ für „die damit verbundene Stärkung und Bildung des Charakters“ erkannt würden. In Dorpat werden die Studierenden nicht als „unmündige Knaben“ behandelt, im Gegenteil.23 Doch zuvor schon veränderte sich „auf einer oder zwei anderen Universitäten“ die Motivationslage der Studenten, wie Gottlieb Fichte seinen Jenaer Studenten 23 Meiners, Christoph: Ueber die Verfassung und Verwaltung deutscher Universitaeten, 2 Bde. in 1 Bd. Bd. 2. Aalen 1970 (ND. d. Ausg. Goettingen 1801–1802), S. 182.

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1795 bescheinigte, denn sie bezeugen „ein sichtbares Streben, sich in allen Stücken zur Selbständigkeit emporzuheben, und nicht mehr Kinder, sondern Männer zu sein.“24 In Dorpat schienen die Studenten diesen Willen ebenfalls auszustrahlen, wie Manteuffel feststellen musste. Parrot brachte es auf den Punkt: „Die schöne Pflanze der Nazional-Aufklärung soll durch eigene [selbstbestimmte] Kräfte wachsen und andauern. So will es Alexander, so will es unser Jahrhundert.“25

„Ehrt eine Menschenklasse, die so viel für Euch thut.“ Ermutigend und ‚anfeuernd‘ widmete sich auf der Eröffnungsfeier im April Parrot den Studenten. Er entwirft sozialpolitisch, bildungsprogrammatisch ein Szenario, wie für Studenten in der aktuellen Situation Vaterlandsliebe und Vaterlandstreue zu verstehen seien. Doch zuvor macht auch er „den Herren“ wie den Studenten sehr deutlich, wem die Neugründung der Universität, wem die ideelle Legitimierung dieser Universität zu verdanken sei: Es ist „unser allgeliebter Kaiser“, der „uns moralisches Daseyn“ gibt. Alexander wird zum creator moralischen Daseins, der die Verstandeskräfte seiner Untertanen fördert, sie auffordert, eigenverantwortlich und moralisch zu handeln. Parrot akzentuiert mit seinen Begriffen einen humanistischen Wertebezug: Die „Einrichtung und Anordnung unseres Instituts“ soll die Liebe fürs Vaterland und die Liebe für die Wissenschaften miteinander verbinden; in beidem gelte es, „sich dieser übernommenen Pflicht mit Liberalität und Humanität, mit wahrer Würde zu entledigen“ (43). Als Naturwissenschaftler will Parrot, und das ist seine Conclusio, den Studenten in der „Naturlehre“ vermitteln, dass „die Bande, durch welche der Mensch an Menschen hängt“, fest geschlossen sind. Auf diesem Natur-Gesetz basiere die Achtung der Menschenrechte. Was die Menschen gottgewollt miteinander verbindet, ist das Humane, das sich als „Bande der Achtung und Dankbarkeit“ erweist, denn auch die Studenten verdanken „die Bedingungen Eurer größern Fortschritte“ der „mühseeligen Arbeit“ der „ganzen arbeitsamen Klasse“. Insofern lässt sich Moral auch ökonomisch begründen: „Ehrt eine Menschenklasse, die so viel für Euch thut.“ (51f.). Das ist kein Aufruf zur politischen Revolte; er fordert und erhofft sich vom akademischen Nachwuchs ein die Würde des Menschen achtendes soziales Verhalten.

24 Fichte, Imanuel Hermann: Johann Gottlieb Fichte’s Leben und literarischer Briefwechsel. Bd. 2. 2. sehr verm. und verb. Aufl. Leipzig 1862, S. 96. 25 Zit. nach o. A.: Nachricht von der feierlichen Bekanntmachung der von Seiner Kaiserlichen Majestät Alexander dem Ersten der Universität zu Dorpat allergnädigst geschenkten Fundations-Akte. Dorpat am 23sten December 1802. Dorpat 1802, S. 15; für Parrot, aus dessen Rede auf diesem „zweiten Stiftungsfest“ zitiert wird, ist die Fundationsakte „die Akte des Glücks, das Palladium unserer Freyheit, die Urkunde unsrer Rechtes.“ (S. 5).

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Professor Daniel Georg Balk, Professor der Pathologie und Therapie, spricht auf der Eröffnungsveranstaltung die Studierenden mit „meine jungen Freunde“ an und löst schon in der Anrede die Standesgrenzen auf. Er ehrt „seine sämmtlichen jungen Freunde aus den drei Wissenschaftsfächern“ – für die Theologiestudenten ist er nicht zuständig – als Mitstreiter. Eindringlich, und darin besteht die sozialpolitische Kohärenz seiner Bildungsidee, vermittelt er seinen künftigen Studenten, dass es für sie ein Curriculum gibt, das über den Studienabschluss weit ­hinausreicht. Die universitäre Ausbildung erweist ihren Sinn erst nach dem Studium im sozialen Berufsethos. So etwa müsse der künftige „Volkslehrer“ sich „mit den Geistesbedürfnissen, den Vorurtheilen und dem Kulturgrade“, „mit den politischen und finanzlichen und physischen Verhältnissen der nützlichsten Menschenklasse bekannt“ machen. Den künftigen „Richtern und Sachwaltern“ rät er „zur kalten Prüfung, zur Trennung der Sache von der Person“; er fordert sie auf: „Waf[f ]nen Sie sich mit Muth gegen mächtige Unterdrücker, mit Kälte gegen überraschende weichliche Gefühle, und mit unerschütterlichem Sinn gegen die Lockungen des Eigennutzes.“ Von den Medizinstudenten fordert er die Selbstprüfung, ob sie denn auch „das indispensable Talent zu dieser schweren Kunst“ mitbringen (79f.). An die „Herren“ gewandt, als wollte er ihnen darin das Herr-Sein absprechen, resümiert er: „Nützlich zu sein, […] ist des Weltbürgers höchste Ehre und nützlich gewesen zu seyn, der schönste Nachruhm, den er einst hinterlassen kann!“ „Nützlich“ seien die Lehrer, wenn es ihnen gelinge, den Studenten „das große Handbuch der Natur und der Menschenkunde lesen und verstehen [zu] lehren; und Verstand und Herz, im gleichen Schritte […] zu veredlen suchen“ (80f.). Die Natur selbst lehrt das Ethos der Humanität. Den Menschen in seinem Denken und Verhalten, in seinen Zwängen und Bedürfnissen zu ­erkunden, verhilft dem Erkundenden zu eigenen, empirisch begründeten Wertungen. Balk gibt den Studenten (s)ein Motto für Studium und Beruf mit auf den Weg: „Studieren Sie die Natur, lernen Sie Ihre Sprache verstehen“ (80). Zur selben Zeit wird an der Universität ‚die Sprache Gottes‘ gelehrt. Die Prioritäten haben sich verschoben. Im Naturbegriff der ‚Menschenkunde‘ werden Theologie und ‚von Gott geschaffene‘ Herrschaftsverhältnisse empiristisch relativiert. Der Natur-Begriff dient als Korrekturbegriff in der Kritik sozialer, politischer Hierarchien. Karl Morgenstern, Professor für die Fächer Klassische Literatur, Ästhetik, Rhetorik, Kunst- und Literaturgeschichte, repräsentierte den geistesgeschichtlichen Part in der curricularen Ordnung der Universität und hielt an des Kaisers Geburtstag, am 12. Dezember 1802, den Festvortrag Über den Einfluss des Studiums der griechischen und römischen Classiker auf harmonische Bildung zum Menschen.26 Wie die Renaissance die „Nacht des Mittelalters“ (82) mit Hilfe der griechischen und römischen 26 Morgenstern, D. Carl: Johann Winkelmann. Eine Rede; nebst dessen Rede Über den Einfluss des Studiums der griechischen und römischen Classiker auf harmonische Bildung zum Menschen, mit

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Klassiker überwand und für die neue Zeit neue Klassiker hervorbrachte, so der Analogieschluss, soll es in Dorpat eine geistige und moralische Renaissance geben. Bildung bedeute besonders in dieser nachrevolutionären Zeit ‚Gesundung‘. Morgenstern verspricht seinen Studenten: „Ihr werdet finden, wie die Moral der Alten Tugend nicht nur lehrt, auch hervorbringt; moralische Gebrechen nicht nur zeigt, auch heilt“ (92). Morgenstern preist den jungen Zaren, als kulminiere in ihm diese Heilungsfunktion. Er sei dazu „geboren, im weitesten Reich der Welt die Herrschaft der Humanität neu und fest zu gründen, und durch das hohe Beispiel seiner Weisheit, seiner Milde und Güte […] manche ihr vor nicht allzu lange tief geschlagene Wunden zu heilen“ (103). Ein Jahr später wird er Winckelmann aus gleichem Anlass wie einen geistigen Gründungsvater der Universität preisen. Winckelmann ist in allen Facetten das exemplarische Beispiel eines aufgeklärten Gelehrten, der als Sohn eines Flickschusters bis in die höchsten Bereiche der Wissenschaft aufstieg, der sich selbst bestimmte und seine Naturgaben nutzte und dem in so manchen Situationen seines Lebens die Freundschaft zum Katalysator seiner Entwicklung wurde.27

„Dieser große Monarch braucht Euch!“ Anlässlich seiner Uebernahme des Prorektorats wandte sich Parrot denen zu, welche „sich nicht eigentlich dem gelehrten Stande widme[n]“.28 Gemeint sind zunächst die, die an der Dorpater Universität ausgebildet und dann ins Berufsleben entlassen werden; in den Epitheta benennt er die nützlichen, die sozialen Qualitäten, die sie ins Leben mitnehmen sollen: es ist der „gelehrte Staatsmann“, der „unterrichtete und vorsichtige Arzt“, der „aufgeklärte Theologe und Volkslehrer“, der „kluge und wohltätige Sta[a]tsökonom“, der „einsichtsvolle Schullehrer“ und „der gebildete Offizier“ (8). Den Studenten gesteht Parrot eine ‚All-Macht‘ zu, mit der sie den Zaren, so die unausgesprochene Konsequenz, stürzen könnten. Der gemeinsamen humanistischen Ziele wegen kann sich diese Macht jedoch nur in der Pflichtausübung verwirklichen. „Ihr liebt unsern edlen Kayser Alexander. Der Anblick seiner unermüdeten Sorgfalt für das Wohl von Millionen entzückt Euch.“ Parrot ist der Rekrutierungsrufer29 des Kaisers: „Nun hört es: dieser große Monarch braucht Euch!“ Eine höchst politische Auszeichnung der Studenten, denn der Kaiser braucht die Studenten, um seine

Winkelmanns Portrait nach Mengs. Leipzig 1805, S. 75–108 (als Digitalisat unter URL: https:// dspace.ut.ee/handle/10062/6615, im Folgenden mit Seitenzahlen zitiert). 27 Vgl. Käfer, Die Winckelmann-Rede (wie Anm. 7), S. 257–259. 28 Parrot, Rede über den Einfluß (wie Anm. 17) (im Folgenden mit Seitenzahlen zitiert). 29 Parrot zeigt sich in einer Funktion, die sein Kollege Johann Wilhelm Krause mit seinem ausgeprägten Sinn für universitäre In- und Externa so charakterisiert: „Parrot war nun natürlich vox et tuba unter den Universitäts-Verwandten, und jeder hatte Ursache, ihm ergeben zu sein, denn er trug

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Wohltaten vollbringen zu können: „Allein – ist er nur ein Mensch“. Parrot provoziert das Bild vom Kaiser ohne Kleider, der nur durch den guten Willen seiner Untertanen zu ihrem König wird. Die Studenten sollen sich einfügen in dieses große Werk, denn „unterstützt durch die Guten und Talentvollen seines Reichs, erhebt Er sich durch seine Herzensgröße zum Gott.“ Die Zuhörer sollten folgern: Dieser Kaiser bedarf keiner Legitimation ‚von Gottes Gnaden‘, er legitimiert sich durch seine Humanität und durch die Taten der „Guten und Talentvollen“ (12). Gerade der Letzteren wegen will Parrot das Bildungskonzept der Universität erweitern. Die Universität will das Ihre dazu beitragen, die Kluft zwischen Wissenschaft und der Welt der Arbeit zu schließen, indem sie allen ihre Tore, den Zugang zur Bildung öffnet. Sie könne die Aufgabe übernehmen, „[d]ie Geistescultur an sich, ohne Rücksicht auf den Stand oder Beruf des Individuums“ zu fördern (15), könne Einfluss gewinnen „auf die Cultur aller Stände“ (13). Parrot will eine Bildungsinitiative für Nichtgelehrte starten, damit sie in ihren Berufen vollkommener und in Ihren Ämtern fähiger werden. Die Universität ist bereit, sich an dem Unternehmen „Volksbildung“ zu beteiligen. Jedem Staatsbürger sollen die Veranstaltungen der Universität offenstehen: „So kann ein Jeder sich das ihm Nöthige und Nützliche in einer Universität auswählen, ohne geradezu ein Gelehrter im strengen Sinne des Wortes werden zu müssen. Dadurch wird wahre Aufklärung verbreitet und einer der vorzüglichsten Endzwecke einer Universität erreicht“ (14f.). Parrot protokollierte die persönliche Audienz beim Zaren im Oktober 1802, in der es um die Endredaktion der (zweiten) Fundationsakte ging. Es ist eine erstaunlich innige, tief emotionale Begegnung („ohne Unterthanenehrfurcht“) der zwei Männer, die ihre Verschworenheit in der aufklärerischen Sache – les mêmes principes – bekräftigte. Es wäre falsch, hier von einer „Suggestion“ zu sprechen,30 mit der Manipulatives einhergeht. Beide Männer sind Rationalisten, und jeder mit Sinn für machtpolitische Dynamiken, jeder mit der emotionalen Kraft eines rationalen ­Idealisten. Parrot wünschte über zwei „Gegenstände“ zu sprechen, als sei es ein Junktim: „über die Bauernfrage und über die Universität“. Die radikale Position des



das Gemeinwohl in einem reinen und dienstwilligen Herzen.“ Krause, Das erste Jahrzehnt (wie Anm. 9), S. 243. 30 Reinhard Wittram spricht vom „Sog der Ideen“ durch „die Übermacht der hinreißenden Ziele“, vom „Rausch“, den der Zar verbreitet, und wirft Parrot vor, mit der „Forderung nach einer Verbesserung der Bauernverhältnisse“ dem Zaren „ein weit über den Auftrag der Universität hinausgehendes politisches Programm“ zu präsentieren. „Die großen Worte der Zeit – das Wohl des Menschengeschlechts, der Veredelung des Menschen, die Beförderung des Guten schlechthin – hatten eine Gewalt, unter der die Mittel verschwanden und gleichgültig wurden.“ Ein Vorwurf, der gegen Gesinnungstäter vorgebracht wird. Ders.: Die Universität Dorpat im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Ostforschung 1/2 (1952), S. 125–219, hier S. 197f. Letztlich geht es auch Wittram in einem deterministischen Sinne darum, die Schuldanteile an der Russifizierung des Baltikums zu erkunden.

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Zaren zur „besondere[n] Jurisdiktion einer Universität“ versetzt Parrot in Erstaunen und „Verlegenheit“, denn der Zar befürchtet eine neue „caste“, die er in der Folge bekämpfen müsste, wo er doch mit allen Kräften daran arbeite, „à rétablir l’égalité des droits chez ma Nation“ (in meiner Nation die Gleichheit der Gesetze herzustellen) – für Parrot „Worte aus dem Munde des größten konstitutionellen Despoten von Europa“31 – „Despot“, weil er ohne „Verfassung“ regiert. Aber das ist es genau, was sich Parrot erhofft: soziale Veränderungen durch Gesetze der Zentralgewalt, nur die können sozialpolitische Veränderungen bewirken, Veränderungen, wie sie dann in der (zweiten) Fundationsakte für die Universität „auf ewige Zeiten“ festgelegt wurden. Für Parrot, so in seiner Rede auf dem „zweiten Stiftungsfest“, ist die Fundationsakte vom Dezember 1812 „die Akte des Glücks, das Palladium unserer Freyheit, die Urkunde unseres Rechts.“32

„Noch nie betretene Pfade brechen“ Jeder einzelne Professor repräsentiert inner- und außeruniversitär das Bildungsprogramm der Universität, was ihn auch zu einem intellektuellen und moralischen Vorbild für Studenten macht. Diese Auszeichnung gebührt neben Parrot, den die Studenten „lieben“ und „verehren“,33 neben Karl Morgenstern, Daniel Balk, Gottlieb Jäsche, dem Historiker Georg Friedrich Pöschmann auch dem unkonventionellen, genialischen Johann Wilhelm Krause, Professor der „bürgerlichen“ Architektur, Ökonomie, Technologie und Forstwirtschaft. Krause wird in Dorpat „ein Praktiker der Aufklärung“34 und konnte mit seinem „visionären Charakter“ überzeugen. „Seine Annäherungsweise an die Planung eines Mekkas der Wissenschaften ist innovativ. Ein solches Ensemble wie in Dorpat war in Europas Universitätslandschaft [als ‚Campus‘] noch nicht errichtet worden.“35

31 Zit. nach Bienemann, Der Dorpater Professor (wie Anm. 12), S. 150–152. 32 Nachricht von der feierlichen Bekanntmachung (wie Anm. 25), S. 5. 33 Der Student Gustav Petersen versicherte Parrot bei der häuslichen Nachfeier anlässlich dessen Übernahme des Prorektorats „im Namen und an der Spitze seiner Mitbrüder“, „daß wir Sie lieben, daß wir Sie verehren.“ Was Parrot am Zaren preist, preist vor „den gesammten Mitgliedern der Universität“ der Student an Parrot, der um das „Schmeichelhafte“ weiß, wenn er diese studentische Ehrung mit seiner Rede zusammen veröffentlicht (Parrot, Rede über den Einfluß [wie Anm. 17], S. 17f.). Gleichwohl, ihm kommt es darauf an, den Schulterschluss zwischen dem Zaren, der Universität und der Studentenschaft zu belegen. 34 Etzold, Gottfried: Johann Wilhelm von Krause: Ein Praktiker der Aufklärung im Livland des 18. Jahrhunderts. In: Forschungen zur baltischen Geschichte 9 (2014), S. 263–273. 35 Maiste, Juhan: Ülikool valgustusajastu valguses / Die Universität im Licht des Zeitalters der Aufklärung. In: Ders. (Hg.): Johann Wilhelm Krause, 1757–1828. Bd. 4: Ülikool Emajõe Ateenas / Die Universität im Embach-Athen. Dorpat 2016, S. 17–34, hier S. 32.

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In seiner Antrittsvorlesung spricht Krause über „Öconomie und Architectur“ und deren Einfluss auf das „Gemeinwohl“.36 Er belegt wissenschaftlich, was dem Zaren Regierungsprogramm ist. Außerdem definiert er „Öconomie“ neu und zugleich im aristotelischen Sinne als „die älteste der philosophischen Schwestern“ (7). Anhand historischer Beispiele zeigt er den Zusammenhang zwischen Ökonomie, Politik und Ethik – die Architektur ist ein Paradebeispiel dieser Zusammenhänge. Und ohne Adam Smith zu nennen, sieht er die ‚unsichtbare Hand‘ am Werk: Als Ökonom analysiert Krause (in optimistischen Fortschrittsbegriffen) den „Trieb fürs Neue“ (13), beschreibt die wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren des ‚natürlichen Kräftespiels‘ als „Hinstreben auf Erwerb und Sparen“ (7) zur „Vermehrung [des] inneren und äußeren Flors“ aller Menschen (6), versteht sein Fach als Volkswirtschaft, in die jeder, also auch jeder Student, eingebunden ist. Der „kathegorische Imperativ“ der Ökonomie zielt auf „Erfahrung“, für jeden Studenten ist sie alma mater rerum (10f.), was das Submotto der Universität sein könnte, denn dieser Ergänzung, dieser Grundlage bedarf die ‚alma mater studiorum‘. Balk, den Krause als „den privatisirenden Jakobstädtischen“37 (mitzuhören: ein verkappter Jakobiner) vorstellte, verbindet in seinem Vorlesungshandbuch die „physisch-philosophische Anthropologie“, die ohne Theologie auskommt, mit der „gerichtlichen Arzneykunde“, wobei er „unter dem Namen der philosophisch-medizinischen Jurisprudenz der Arzneywissenschaft einen neuen Zweig aufpfropfen“ will  (VIIf.).38 Seine Ausführungen verweisen auf eine schon früh einsetzende Diskussion über den „Vorrang der Jurisprudenz oder der Medizin“.39 Balk will keinen Fakultätenstreit inszenieren, zumal die juristische Fakultät noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Sein wissenschaftliches Ziel ist umfassender, sein Anspruch ein radikal sozialpolitischer, denn mit seinen Erkenntnissen hätten die Richter „Tausende von Urtheilen“ anders gefällt, wenn sie die Handlung des Verbrechers und den Handelnden, Tat und Täter „mit der vereinten Fakkel der philosophischen und physischen Menschenkunde“ beleuchtet hätten (IX). Er ist sich bewusst, in welch neue Gefilde er seine Studenten führt, er weiß um die ‚explosive‘ Kraft seiner Gedanken. Als Arzt und Universitätsprofessor trägt er (wie andere Ärzte, z.  B. Julien Offray 36 Krause, Johann Wilhelm: Öconomie und Architectur. Eine Skizze über den wechselseitigen Einfluß derselben auf Gemeinwohl, als Antrittsrede gehalten den 13ten Junius 1803. Dorpat 1803 (als Digitalisat unter URL: https://dspace.ut.ee/handle/10062/18565, im Folgenden mit Seitenzahlen zitiert). 37 Krause, Das erste Jahrzehnt (wie Anm. 9), S. 235. 38 Balk, D[aniel] G[eorg]: Versuch einiger Umrisse der philosophisch-medizinischen Jurisprudenz. Als Leitfaden zu Vorlesungen über dieselbe. Dorpat 1803 (als Digitalisat unter URL: https:// dspace.ut.ee/handle/10062/28692, im Folgenden mit Seitenzahlen zitiert). 39 Salutati, Coluccio: De nobilitate legum et medicinae / Vom Vorrang der Jurisprudenz oder der Medizin [1399]. Übers. und komm. v. Peter Michael Schenkel. Eingel. v. Ernesto Grassi und Eckhard Keßler. Lat.-dt. Ausg. München 1990. Balk will offensichtlich viel mehr als „Der philosophische Arzt“ sein (vgl. Weikard, Melchior Adam: Der philosophische Arzt. 2 Bde. Frankfurt/M. 1790).

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de La Mettrie vor ihm) die Fackel der Aufklärung. In einer Scheu, seine Quellen offenzulegen, lehrt er seine Studenten, was aus Frankreich von den Materialisten herüberkommt und im Begriff ‚Sciences humaines et sociales‘ zusammengefasst ist. Parrot stellte in seiner 1802 erschienenen Dissertation fest, „daß wir noch bis jetzt auf einen adäquaten Begriff von Gesundheit und Krankheit Verzicht leisten müssen“.40 Balk fühlte sich berufen, dieses Desiderat zu beheben. Als Arzt ist er sehr viel näher und umsorgender als die Juristen (und Geistlichen) mit all den somatischen und psychischen Gebrechen der Menschen konfrontiert. Sein Thema ist der Mensch; es geht ihm um das Gemeinwohl, weshalb alles in sein Blickfeld gerät, was sich gesundheitlich auswirken kann, und insofern richtet sich sein Leitfaden an alle Studenten. Die allen Menschen gleiche Naturhaftigkeit ist sein Erkenntnisgegenstand. Er unterlegt seinen Ausführungen einen Naturbegriff vom Menschen, der vom Gleichheitsbegriff ausgeht und letztlich den Studenten zu einer Überwindung der Standesgrenzen verhelfen soll. Das Studium der Natur des Menschen transformiert sich in ein Studium der Natur des Moralischen. Aus seinen komplexen Analysen sei hier ein Beispiel angeführt, das für seine Studenten zu einem analytischen Vademecum auch in ihrer Berufsausübung werden soll. Für Balk lautet der Erfahrungssatz: Es gibt die „ununterbrochene Wechselwirkung zwischen Seele und Körper“ (52). Balk analysiert ohne jedweden religiös-theologischen Bezug die Wechselwirkung zwischen der „Krankheit der Organe“ und der „Krankheit der Intellektualität (Geisteskrankheit, Gemütskrankheit)“ (98). Er stellt sich die ganz einfache Frage: Was macht Menschen krank und wie handeln sie als kranke Menschen? Dies erlaubt logisch auch, Straftaten, Verbrechen als Folge einer Krankheit zu diagnostizieren, was die Frage der „Imputabilität“ (15), der Zurechnungsfähigkeit, der Schuldhaftigkeit, der Verantwortung anders (auch als Kant), vor allem menschenfreundlicher (so im Strafvollzug) als bisher beantwortet. Die urteilsrelevante Erkenntnis: „Der Affekt […] suspendirt während seiner grössesten Heftigkeit […] die gehörige Thätigkeit der Denkkraft“ (65), verlangt gewichtige Folgerungen. „Da der Wille des Menschen nicht absolut frey ist; so kann der Grad des Vergehens nur durch Abzug des Einflusses gefunden werden, den Organisation, Alter, Gesellschaft, Erziehung, Lebensart, Gewohnheit und manche andere Verhältnisse [wie etwa die Regierungsform] auf die Handlung hatten.“ (15) „Grad des Vergehens nur durch Abzug des Einflusses“ – eine herkulische Aufgabe in der Urteilsfindung, die Balk den Juristen und seinen Studenten aufgibt. Er erkundet eigentlich das problematische juristische Prinzip: ‚Actus non facit reum, nisi mens sit rea‘ (keine Schuld ohne Bewusstsein der Schuld) – und trifft damit als Mediziner 40 Parrot, Georg Friedrich: Ueber den Einfluß der Physik und Chemie auf die Arzneykunde nebst einer physikalischen Theorie des Fiebers und der Schwindsucht. Eine Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Würde eines ordentlichen Professors der Physik an der Kayserlichen Dorpatschen Universität. Dorpat 1802, S. 23.

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und Wissenschaftler den Nerv eines differenzierenden, angemessenen Urteils, eines Urteils, das dem Individuum, seiner Natur gerecht werden will. Staat und Richter sind die Instanzen, vor denen sich der Delinquent für seine Tat zu verantworten hat. Doch es gibt eine andere Instanz, die das Gemeinwohl mitbestimmt: die Verantwortung sich selbst gegenüber. Die unausgesprochene Prämisse lautet: Wer Teil des Ganzen ist, nimmt teil am Ganzen, muss sich eben den Tugenden unterwerfen, die zum Entstehen des Gemeinwohls beitragen, wie die Tugendhaftigkeit des Einzelnen zur allgemeinen Tugendhaftigkeit beiträgt: „Auch die Pflichten gegen sich selbst darf er [der Mensch] nicht ungestraft verlezzen. Denn nie ist er so isolirt, dass davon nicht schädliche Folgen fürs Ganze erwachsen sollten“ (14). Balk war Mitredakteur der Vorschriften für die Studierenden auf der Kaiserlichen Universität zu Dorpat,41 in denen die „Pflichten gegen sich selbst“ in den Kanon der studentischen Tugenden aufgenommen wurden.42

„Pflichten gegen sich selbst“ Beim Empfang der Vorschriften verspricht der Studierende „dem Rector mit einem Handschlage an Eides statt, selbige […] gewissenhaft zu befolgen“ (§ 4). Der Student wird zum Vertragspartner des Rektors, dem Vertreter des Zaren. Der Handschlag ist eine Geste des Versprechens, des Vertrauens, des Schutzes, des Hilfsangebots und der Fürsorge. Die „Vorschriften“ beruhen, so in der „Einleitung“ (3–7), auf einem rationalen, reziproken Prinzip: Den Leistungen des Staates, der Universität müssen die Leistungen des Studenten entsprechen. Wenn rational gefragt wird, wie nach innen und nach außen der soziale Frieden bewahrt bleiben kann, wird geradezu beschworen, „dass hier weder Willkür, noch andere Motive, den Entwurf dieser Gesetze bestimmten“ (§ 45). Die „Allgemeine Pflicht“ der Studenten beinhaltet „Achtung gegen Jedermann, besonders gegen das weibliche Geschlecht“ (§ 26 sowie mit radikaler Strafandrohung bei „erwiesener Verführung der Unschuld“ § 39).43 Auch die Studenten selbst 41 [Klinger, Friedrich (Hg.)]: Vorschriften für die Studierenden auf der Kaiserlichen Universität zu Dorpat, Dorpat 1803, am 13. September 1803 vom Kaiser unterschrieben (als Digitalisat unter URL: https://dspace.ut.ee/handle/10062/29866, im Folgenden mit Seitenzahlen bzw. Paragraphen zitiert). 42 Balk verfasste auch Gesezze für das medizinische Klinikum und für die Studierenden der Medizin, die dasselbe besuchen (Dorpat 1806) – ein ähnlich ‚modernes‘, klug durchdachtes, ideenreiches, der Empirie verpflichtetes, weitsichtiges, humanes Verhalten lehrendes klinisches Studienhandbuch. 43 Um die moralische Integrität der Studenten geht es auch im Sozialverhalten außerhalb der Universität. Dass „die leichtsinnigen Ehecontracte“ für nichtig erklärt werden konnten, zeige „die wohlwollende Hand des Monarchen“, denn „seiner mitleidigen Seele schwebte gewiss das schreckliche Bild der gutmüthigen Unglücklichen vor, welche durch rohe Jünglinge um ihre Unschuld, um das Glück ihres Lebens betrogen werden.“ Geradezu flehentlich fordert Parrot die Studenten auf, die

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werden durch den Gleichheitsgrundsatz geschützt: „Auf keinen Stand, keine Familie oder sonstige Verhältnisse kann und wird in den Verfügungen der Behörden die geringste Rücksicht genommen“ (§ 49). Dieser Grundsatz wird inneruniversitär bewahrheitet: „Im Falle der Rector in seinem gerichtlichen Verfahren einen Fehler gegen die Gesetze und die Form […] begangen hätte: so hat der dadurch gekränkte Studierende das Recht“, dies einem Dekan zu melden, der das Universitätsgericht zusammenrufen muss, das den Rektor sogar suspendieren kann (§ 60). Um die Durchsetzung von Recht zu gewährleisten, müssen Vergehen, Zuwiderhandlungen angezeigt werden, so etwa beim „Zweikampf“, der „zu welcher Stunde es auch sey, dem Rector anzuzeigen“ ist. Wer eine Straftat verhindert, den schützt das Recht vor ‚Verfolgung‘: Wer den Anzeigenden „mit Worten, oder gar thätlich“ beleidigt, wird „auf Wasser und Brod ins Carcer gesetzt“ (§ 20 a, b). Die Universität lässt Nachsicht walten, kennt die zweite Chance, verfolgt aber bei extremem Verhalten, in einem disziplinarischen Dilemma, zugleich ein hartes, unnachsichtiges Prinzip, um die Mitstudenten zu schützen, und bezeichnet dieses als „goldene Regel“ (§ 48): „Immedicabile vulnus ense recidendum est, ne pars sincera trahatur“ (Ist die Wunde unheilbar, schneide sie heraus, dass sie das Gesunde nicht anstecke). Hierzu gehört auch, mit welchem Nachdruck studentische Koalitionen („Ordensverbindungen, Landsmannschaften“) mit der (eher sozialen) Begründung, dass sie zu „Schlägereien“ führten, verboten werden. In der Befürchtung hinsichtlich „unerlaubte[r], der Ruhe und Ordnung nachteilige[r] Zwecke“ (§ 17), klingt jedoch das Misstrauen gegen solche studentischen Korporationen mit, denn ihnen haftet der Ruch der Revolte an: Aus der „Menge“ heraus „etwas erhalten zu wollen, würde als Empörung angesehen“ und „[w]er gar sich so weit vergessen könnte, einen Tumult anzustiften“, verliert den Schutz der Universität, „wird unfehlbar dem peinlichen Gericht übergeben“ (§ 25).44 Umso entschiedener wird die Individualität der Studenten, ihre Selbstverantwortung gewürdigt und eingefordert: Niemand darf sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen; die Studenten verlieren ihr „Klage- oder Vertheidigungs-Recht“, wenn sie nicht persönlich, nach der „ersten Citation“, vor dem Rektor oder einer anderen Universitätsbehörde erscheinen (§ 24). Auch ein Delinquent wird respektiert: Die Verurteilung wird „ihm nicht öffentlich, sondern nur durch den Rector bekannt gemacht“, und selbst wenn er aus der Liste der Studierenden entfernt eigene Humanität, „die eigene Unschuld“ und „eine edle Achtung für das andere Geschlecht“ zu bewahren. Ders., Rede bei Gelegenheit der Publication (wie Anm. 2), S. 11f. 44 Vgl. [Neander, Theodor]: Die deutsche Universität Dorpat im Lichte der Geschichte und der Gegenwart. Eine historische Studie auf dem Gebiete östlicher Culturkämpfe, 3. bedeutd. verm. u. erw. Aufl. Leipzig 1882, S. 100: „In dem ersten Lustrum der neuen Universität bleibt die Einheit der Studentenschaft vollständig gewahrt; man bemüht sich, ein geregeltes System des Zusammenlebens unter den Studierenden einzuführen“. 1802 waren 19/47 Studenten, 1807 147 Studenten immatrikuliert (vgl. ebd., S. 28).

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wurde, gibt es die Möglichkeit, „ihn, nach deutlichen Proben seiner Besserung, wieder aufnehmen zu können.“ (§ 52). In der pädagogischen Öffentlichkeit gibt es eben zu dieser Zeit eine intensive Diskussion über das Selbstlernen der Schüler.45 Dies muss an der Universität fortgesetzt werden. In den „Vorschriften“ wird auch über Sinn und Zweck des Studiums reflektiert, denn als die besondere raison d’être des Studenten wird vorgegeben: die Selbsterkenntnis, die Selbstständigkeit, die Selbstentfaltung und die Selbstkontrolle. In allen Forderungen, Offerten ist der Grundgedanke enthalten, Herr über sich selbst zu werden – ein wahrlich persönliches revolutionäres Prinzip. „Die Verhältnisse des Studierenden auf der Universität sind von dreyfacher Art; eben so vielfach wird daher auch die Rubrik seiner Pflichten seyn. Er hat nämlich 1) Pflichten gegen sich selbst, 2) Pflichten gegen die sämmtlichen Bürger und Glieder der Universität, 3) Pflichten gegen das ausserakademische Publicum.“ (§ 7)

Die inhärente Logik dieser Trias lautet: Wer sich selbst in die Pflicht nimmt, dem gelingt die Pflichterfüllung gegen die anderen. Es sind personale, persönliche Pflichten, nicht Pflichten vor oder gegenüber Instanzen, was die Verbindlichkeit der Pflichten unterstreicht. Es geht um das soziale Miteinander, das durch Persönlichkeitsbildung, durch Selbstbildung gelingen kann. „Die Pflichten gegen sich selbst“ generieren Moral. In diesem Begriffssystem korrespondiert die Autonomie des Individuums mit moralischen Normen, die die Befreiung des Individuums legitimieren. „Die Hauptzwecke der Studierenden sind: Einsammlung höherer Kenntnisse für seine künftige Bestimmung; Ausbildung zur höheren Sittlichkeit und Menschenkunde; Anleitung zum richtigen Gebrauch eines größern Spielraums von Freyheit und einer höhern Selbstständigkeit. Dieser letzte Zweck wird oft am meisten verkannt.“ (§ 8)

In klaren Konturen wird das aufklärerische Menschenbild, der Schlussstein des Bildungsprogramms der Universität Dorpat, dargelegt. Das Bildungsangebot der Universität und ihr liberaler Geist ermöglichen den Studierenden einen Freiraum, in dem sich ihre Selbstständigkeit und Sittlichkeit entwickeln können – in einer Gemeinschaft der Vernünftigen. Die „Vorschriften“, darin eher einer ‚Denkschrift‘ gleich, weichen dem Problem eines „Spielraums der Freyheit“ nicht aus: „So wie aber selbst in dem Verhältnisse des ausserakademischen Lebens die Subordination unter die Gesetze und deren Verweser für die Freyheit eine von allen Vernünftigen respectirte Grenzlinie zieht; so muss diese auf der Universität noch genauer bestimmt werden. Gesetze und Sittlichkeit freywillig ehren, nur diess ist wahre Freyheit, ächte Selbstständigkeit.“ (§ 8)

45 Bosse, Bildungsrevolution (wie Anm. 16), passim.

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Ist es da ein Rückfall in die Reaktion, wenn Klinger an der „Selbstständigkeit“ der Studierenden zweifelt und kaum ein Jahr später von der Universität erwartet, dass sie „im russischen Reich direkt und eigentlich dem Staatszwecke dienend als Erziehungsanstalt wirken“ und eine „planmäßige Disziplin“ installieren soll?46 Klinger bezieht jede Art der Studentenvertretung (mit Ausnahme des Ehrengerichts) mit ein; er liefert dafür, aus einer sehr individualistischen Position heraus, eine dialektische Begründung: Er empfiehlt nämlich den Professoren, „den Studierenden anzudeuten, wie gesetzwidrig nicht nur, sondern auch wie herabwürdigend es für sie selbst wäre, wenn sie aus ihrer Mitte Chefs wählten, da unter ihnen doch keine Rangordnung nötig sei, und wie sehr [sie] dadurch jede Selbständigkeit und fast sogar jedes erlaubte Selbstgefühl verläugneten und sich […] lächerlich machten“; „auch suchte dergleichen Anführer gewöhnlich nur geheime böse Absichten durch die Menge auszuführen und durch diese Menge sich selbst zu decken.“ Er entspricht jedoch im Kern den Zielen der „Vorschriften“, das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl individuell zu fördern, da die Individuen im ­Gegensatz zu einer Gruppenzugehörigkeit selbstregulierende Mechanismen und Normkräfte entwickeln. Klinger befürchtet, dass das Individuum in der „Menge“ verloren gehen könnte, seine Autonomie verliert. Auch hier leuchtet der anthropologische Optimismus auf: Bevor der Staat mit seinen Ordnungsinstanzen oder eine Gruppe Macht über das Individuum ausübt, hat das Individuum Macht über sich selbst. Diese Macht gilt es zu fördern. Oder wechselt Klinger hier in die kalte Moralität,47 mit der er das Erreichte schützen will? Ist es unter dem Druck Napoleons ein staatsbürgerliches Ziel, das Nationale als Schutz und zur Selbsterhaltung zu fördern? Das Selbstbewusstsein der Dorpater Professoren erträgt die Gedankenspiele, den autoritären Gestus des Curators, zumal Klinger selbst mit seinem „empfiehlt anzudeuten“ unterhalb der Weisungsebene manövriert und die Professoren die geforderte Disziplinierung der Studenten mit Nachsicht in eine Balance bringen.48 Der Geschichtsprofessor Georg Friedrich Pöschmann verteidigt mit Verve zur selben Zeit die Grundsätze der Vorschriften. Er will „dem angehenden Studirenden

46 Zit. nach Rieger, Max: Friedrich Maximilian Klinger. Sein Leben und Werke. Bd. 2: Klinger in seiner Reife. Darmstadt 1896, S. 593f. 47 „Moralität“ von der Art, wie sie Klinger selbst in einem Brief an Karl Morgenstern am 27. März 1803) begründet: „weil Nachsicht hier Verschwörung gegen die gute Sache u. den Zweck ist.“ (Zit. nach Rieger, Max: Briefbuch zu Friedrich Maximilian Klinger. Sein Leben und Werk II. Darmstadt 1896, S. 64). Und auch die „Goldene Regel“ (s. o.) ist von dieser Art Moralität. Es ließe sich aus Klingers eigenen „Betrachtungen und Gedanken“ von 1809 leicht gegen ihn argumentieren. 48 Nach Evald Kampus scheint Klinger eher auf „unkorrektes Benehmen der Studenten“ fixiert zu sein. Ders.: Geselliges Leben, Zeitvertreib und Unterhaltung der Deutschen im 19. Jahrhundert in Dorpat. In: Küng, Enn; Tamman, Helina (Hg.): Festschrift für Vello Helk zum 75. Geburtstag. Beiträge zur Verwaltungs-, Kirchen- und Bildungsgeschichte des Ostseeraumes. Tartu 1998, S. 333–368, hier S. 337.

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einen Umriß von dem ganzen Gebiete der menschlichen Erkenntniß geben.“49 Mit besonderem aufklärerischen Optimismus kommentiert er die Kategorien aus den „Vorschriften“ und antwortet damit auf Klinger, indem er die wissenschaftliche, sittliche Bildung, die akademische Freiheit der Studenten oben anstellt, die das verhindern, wovor sich Klinger (ordnungspolitisch) fürchtet. Er variiert Rousseaus vorrevolutionäres Motto: „L’homme est né libre, et partout il est dans les fers“ („Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Fesseln“), wissend, wem welche Freiheiten zu verdanken sind: „Geistesfesseln hat Er losgestrickt.“50

„Erkenne und beherrsche Dich selbst“ Sich selbst stärken – ist die aufklärerische Strategie, sich gegen Verführungen, Beeinflussungen, gegen Machtansprüche zu wehren. Die Erkenntnis, wer ich bin, das Sich-bewusst-Werden der Gaben der Natur verleiht Kraft. Das aufklärerische Bildungsideal ist ein individuelles. Richtungsweisend beteiligt sich Johann Heinrich Pestalozzi an diesem pädagogischen Thema der Zeit: „Das große Prinzip der Selbstbildung ist entwickeltes Kraftgefühl selbst; das befriedigt, erhebt und spornt den Menschen an“.51 Dieses Kraftgefühl beschränkt sich nicht nur auf Privatistisches, sondern „durch dieses reine Kraftgefühl lassen sich dann die gesellschaftlichen Bildungsmittel mit nie gesehener Leichtigkeit organisieren und versprechen unabsehbare Reihenfolgen von Wirkungen.“ Morgenstern macht sich im Gegensatz zu Klinger eher Sorgen über die Studenten, die nicht „die Kraft sammeln“, die „ohne bestimmten, deutlich gedachten Hauptzweck in den Tag hinein“ leben.52 Er will diese Studenten aus ihrer Lethargie herausführen. Ganz im Sinne Kants erläutert er den Unentschlossenen, die sich selbst ausweichen, die nicht recht wissen, auf welche Art sie glücklich sein wollen, das nach Kant „erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst“: „Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst“.53 Dem ist nach Morgenstern der natürliche Willen mitgege49 Vgl. Pöschmann, Georg Friedrich: Über die zweckmäßige Führung des akademischen Lebens – ein Leitfaden zu Vorlesungen. Riga 1805, S. III. 50 Pöschmann, Georg Friedrich: Stanzen am Geburtstage Seiner Kaiserlichen Majestät des Selbstherrschers Aller Reussen Alexander des Ersten. Dorpat 1803, unpag. [S. 7]. 51 Pestalozzi, Johann Heinrich: Brief an Karl Viktor v. Bonstetten. 02.12.1801. In: Walser-Wilhelm, Doris; Walser-Wilhelm, Peter (Hg.): Bonstettiana. Briefkorrespondenzen Karl Viktor von Bonstettens und seines Kreises. Bd. 9/1: 1801–1803. Troja Nova. À la recherche de l’avenir, Göttingen 2002, S. 96. 52 Morgenstern, Karl: Johannes Müller oder Plan im Leben! Rede […] gehalten den 12. Dec. 1804. In: Ders.: Johannes Müller oder Plan im Leben nebst Plan im Lesen und von den Grenzen Weiblicher Bildung. Drey Reden. Leipzig 1808, S. 3–37, 47–58, hier S. 4 (als Digitalisat unter URL: https://dspace.ut.ee/handle/10062/6612, im Folgenden mit Seitenzahlen zitiert). 53 Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Wilhelm Wei-

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ben: „Wisse ganz entschieden, was du seyn und was du thun willst.“ Oder wie Horaz es „uns“ zuruft: „Sapere aude! Wag’s weise zu seyn!“ Morgenstern übersetzt das Horazzitat noch ‚freier‘: „Wag’s glücklich zu seyn!“(4). Das Glücksverlangen setzt Selbstbestimmung voraus, Glück ist ein Komplementärbegriff zur Selbstbestimmung. Auch hier klingt, wirkt nach, was die Amerikanische Verfassung von 1787 mit „Glück der Freiheit“ und die Französische Verfassung von 1793 in Artikel 1 proklamierte: „Das Ziel der Gesellschaft ist das allgemeine Glück“. Als wollte Morgenstern diesen allgemein-sozialen Glücksbegriff auf den Ursprung zurückführen, definiert er das Glück, wie auch die Natur selbst, individualistisch als (und darin ist der ‚ganze‘ Antifeudalismus enthalten) asketisches Glück: „In bestimmter […], aus weiser Selbstbeschränkung hervorgehender Thätigkeit liegt das Hauptgeheimnis der Zufriedenheit und des dauernden Genusses“ (4). Die Selbstbeschränkung (der Gegenbegriff zur feudalen Selbstanmaßung) hat ihren Ursprung in der Selbsterkenntnis – Morgenstern wiederholt es mit Emphase: „Weise Selbstbeschränkung aber entspringt aus treuer Befolgung des alten Delphischen ΓNΩθI ΣAYTΟN, KENNE DICH SELBST: d. h., erforsche deine Anlagen und Kräfte, dass du wissest, Mensch, was du könnest; deine Pflichten und Rechte, dass du wissest, was du sollest und dürfest; deine Neigungen, dass du erfahrest, was gerade du, dieser Mensch, am leichtesten, am fröhlichsten, mithin am sichersten und besten könnest.“ (4f.)54

Die Selbsterkundung, Selbsterkenntnis ermöglicht eine geistige Emanzipation, die sich auf sich selbst besinnt. Die Fremdbestimmung wird durch die Selbsterkenntnis ersetzt. Die Studierenden dürfen, sollen sich selbst definieren. Das ist der Gewinn an Autonomie, sich von äußeren Vorgaben, Zwängen frei zu machen. Auch hierin gilt das in Dorpat geflügelte Motivationsmotto: qui vult, potest (wer will, der kann). Wie in den Vorschriften, so stellt Kant (zeitgleich) eine ähnliche pädagogische Überlegung über Freiheit und Unterwerfung an: „Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne.“55 Dass auch in Dorpat „Zwang“ herrschte, belegen die Zahlen für „Relegation. Consilium abeundi, Aus-

schedel. Bd. 7: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie II. 3. überpr. repr. Nachdruck Darmstadt 1968, S. 305–634, hier S. 576. 54 Theodor Neander stellt seinem Buch ein Motto voran, das er offensichtlich für die Dorpater Universität als höchst zutreffend kommentiert: „‚Werde der Du bist‘, eine der großartigsten Ermahnungen, welche man jemals gegeben: wozu könnte der Mensch wohl überhaupt werden, als das, wozu die eingeborene Natur ihn bestimmt?“ Ein zweites Motto ergänzt: „Es gibt ein unbezwingliches Innere.“ [Ders.], Die deutsche Universität Dorpat (wie Anm. 44), unpag. (S. IV). 55 Kant, Immanuel: Über Pädagogik. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 10: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik II. 3. überpr. repr. Nachdruck Darmstadt 1968, S. 693–761, hier S. 711.

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schließung, Festungshaft, Carcer“.56 Doch für die erste Studentengeneration in Dorpat lautet die Frage nicht wie in Kants Worten: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“, ihre Frage lautete eher: Wie nutze ich welche Freiheiten bei so viel innerer Freiheit? Wie kultiviere ich die Freiheit, die die Lasten des Gehorsams nicht kennt? Die „Selbstständigkeit“, die Autonomie, die Individualität der Studenten blieben in Dorpat geschützt, denn es war universitäres Allgemeingut geworden, wie der Medizinprofessor (und Freimaurer) Martin Ernst Styx zehn Jahre nach der Wiedergründung bestätigt und den Studenten weiterhin als Ziel und Lohn kennzeichnet: „Erkenne und beherrsche dich selbst, dies ist die Freiheit des Weisen!“57

„Dies große Werk der Aufklärung“58 Das 19. Jahrhundert begann in Russland mit dem Mord an Zar Paul I., womit sich die unseligen Herrschaftswechsel in Russland fortzusetzen schienen. Nach der „grotesken Tyrannei“59 Paul I. kam mit seinem Sohn Alexander jedoch eine Lichtgestalt, ein Antimachiavell in Herz und Verstand auf den Thron, den Klopstock als die „neue Beseligung der Nazionen“60 willkommen hieß. Das Jahrhundert endete im Baltikum mit der Russifizierung. Wenn man Geschichte deterministisch versteht, dann begänne dieser Prozess u. a. mit der Umwandlung der Provinzialuniversität Dorpat in eine Reichsuniversität, d. h. mit der Ausweitung der Herrschaftsbefugnisse des Zaren und damit der Schwächung der Ritterschaft und der Aushöhlung der dem Baltikum von Peter dem Großen gewährten Privilegien (‚Sprache, Glauben, Recht‘).61 Dagegen wurde hier in der Darstellung des Bildungsprogramms ver56 [Neander], Die deutsche Universität Dorpat (wie Anm. 44), S. 112f. 57 Styx, Martin Ernst: Rede über den geselligen Verkehr der Studierenden mit den gebildeten Ständen, gehalten bei dem feierlichen Rectoratswechsel am 15. September 1814 […]. Dorpat 1814, S. 18. 58 Ganz als des Zaren „großes Werk der Aufklärung“ charakterisiert Oberpastor Lenz (s. o.) die Universität Dorpat, als habe die Kirche der weltlichen Macht demütig den Vortritt gelassen und als sei sie dankbar für die geistige Führungskraft des Zaren. Lenz, Friedrich David: Skizze einer Geschichte der Stadt Dorpat. Dorpat 1803, S. 58. Vielleicht spricht hier eher der ältere Bruder des Dichters Jakob M. R. Lenz als der Oberpastor, der einen intensiven Wunsch des Verstorbenen erfüllt sieht. 59 Palmer, Alan Warwick: Alexander I. Der rätselhafte Zar. Frankfurt/M.-Berlin 1994, S. 58. 60 Klopstock, [Friedrich Gottlieb]: Kayser Alexander. Ode. In: Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts 12/4 (1801), S. 377–380, hier S. 378. Vielleicht durch Klopstock bestärkt und dessen politische Motive bejahend widmete Ludwig van Beethoven 1803 dem Zaren seine „drei Sonaten für Klavier und Violine“ (op. 30, 1802, vgl. Digitalisate des Beethoven-Hauses Bonn) und erwies damit dem humanistischen Aufklärer auf dem Thron, Alexander I., und nicht dem restaurativen Napoleon seine politische Reverenz. Für Krause war Alexander I. „die Hoffnung der Völker“. Krause, Das erste Jahrzehnt (wie Anm. 9), S. 237. 61 Es ist die exemplarische Frage: „[W]ar die Verstaatlichung der Universität Dorpat für sie selbst und auch für das Land, dem sie dienen sollte, ein Gewinn?“ Die Frage (mit Parrot beginnend) werde,

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sucht, das Kräftespiel der nachrevolutionären Zeit nachzuzeichnen, ohne die Akteure der Bildungsreformen in einem antiaufklärerischen Affekt zu ­Vorbereitern, zu Verursachern der separatistischen Nationalbewegung und Russifizierung zu machen. Zar Alexander und mit ihm Parrot, als dem Organisator, dem spiritus rector der Universität, betrieben gemeinsam eine philosophische Politik, in einer ­bisweilen symbiotischen Manier, die verständlich macht, im Neubeginn der Universität Dorpat von einem Glücksmoment der Geschichte zu sprechen.62 Es sind kaum fünf Jahre seit dem Ende der Terrorherrschaft Robespierres vergangen, als in Dorpat eine aufklärerische Kräftekonstellation entstand, die alles daran setzen wollte, eine solche Katastrophe in Zukunft zu verhindern. Auch gehörte es zum Zeitgeist, mit Bildungsreformen den Fortschritt der Menschheit, der Menschlichkeit zu fördern. Verbunden mit dem aufklärerischen Kerngedanken der Autonomie des Menschen wurden Menschlichkeit und Autonomie des Individuums die Leitideen im Bildungsprogramm, im Bildungsideal der neu gegründeten Universität Dorpat. so Alexander von Tobien, „in der Regel“ bejaht. Doch Tobien bezweifelt dies, da „die alma mater Dorpatensis“ durch die Verstaatlichung nicht „zu einer Macht im provinziellen Leben herangewachsen“ sei und durch ihre Autonomie „kein geistiges und moralisches Gewicht gewonnen“ habe, weil, so das Begründungsgeflecht von Tobien, trotz versuchter „Germanisierung“ die Universität Dorpat wie in einem geistig-moralischen Dilemma nichts dem estnisch-lettischen Nationalismus (von der russischen Regierung gegen ‚das Deutsche‘ instrumentalisiert) und machtpolitisch nichts der Russifizierung entgegensetzen konnte. Ders.: Die Livländische Ritterschaft in ihrem Verhältnis zum Zarismus und russischen Nationalismus. Riga 1925, S. 317. Allgemeiner gesprochen lautet die deterministische Frage: Welche (und wie zu bewertende) Bedeutung hatte die Dorpater Universität des 19. Jahrhunderts für die Staatsbildung Estlands bzw. für die Staatenbildung des Baltikums? 62 Irritieren mögen Urteile aus seinem persönlichen Umfeld. So memoriert „der vertraute Freund des Kaisers“, Fürst Adam Czartoryski: „Der Kaiser liebte die Formen der Freiheit, wie man ein Schaustück liebt; er gefiel sich beim Anblick des Scheins einer freiheitlichen Regierung, weil das seiner Eitelkeit schmeichelte, mehr als die Form und den Schein wollte er nicht, und er war keineswegs gesonnen, zu dulden, dass sie sich in Wirklichkeit umsetzten“ (zit. nach Schiemann, Theodor: Geschichte Russlands unter Kaiser Nikolaus I. Bd. 1: Kaiser Alexander I. und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit. Berlin 1904, S. 59). Ähnlich: Grand Duc Nicolas Mikhaïlowitch: L’empereur Alexandre Ier. Essai d’étude historique, Bd. 1: Texte et Annexes. St. Pétersbourg 1912, S. 219, 238, 242. Doch die ersten Jahre der Regentschaft Alexanders waren „les plus heureuses et les plus enchantées“ (die glücklichsten und erfreulichsten), „l’enthousiasme dura trois ans“ (der Enthusiasmus dauerte drei Jahre) (ebd., S. 23, 20). Karl Stählin: „Alles aber, was von ihm ausging, atmete in dieser glücklichen Anfangszeit humanen Geist nach der Unmenschlichkeit der letztvergangenen Jahre“ (Ders.: Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 3. Graz 1961, S. 53). Nach Austerlitz (1805) sammelte der Zar „bittere Erfahrungen“. „Vielleicht gingen schon damals düstere Ahnungen an seiner empfänglichen Seele vorüber, die ihm kein Verweilen unter den dankbaren Kindern gestatteten“ (Krause, Das erste Jahrzent [wie Anm. 9], S. 250). Schon bald steigerten sich auch die politischen Erwartungen an Alexander I., er sollte „le sauveur et le conservateur de l’Europe“ (Retter und Garant Europas) werden (zit. nach Quarg, Günter: Zar Alexander I. als erhoffter „Retter Europas“. Ein Memorandum von Friedrich Gentz für den Russischen Außenminister Fürst Czartoryski (19. November 1805). Textedition und Kommentar. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 61/1 [2013], S. 92–102, hier S. 101).

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III. Akteure der Bildung (Pädagogen, Schriftsteller, Pastoren, Familien)

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Schule und Kirche. Heinrich Vestring als Reformer des Revaler Schulwesens Wenn heute die Rede davon ist, dass ‚es menschelt‘, dann ist in der Regel damit gemeint, dass von Menschen verursachte Probleme in irgendwelchen Zusammenhängen auftreten.1 Gerade in unserer von vermeintlicher technischer Zuverlässigkeit geprägten Gegenwart gerät der Mensch immer häufiger in seiner Unvollkommenheit zum ‚Risikofaktor‘, weil Menschen bekanntlich Fehler machen. Demgegenüber wird allzu oft vergessen, dass der Mensch als wirkende Kraft, also als Handelnder oder Akteur, einzig innerhalb der Urgewalt der Natur dasteht, indem er nach Maßgabe der eigenen Talente bewusst seine geistige und körperliche Energie für etwas einsetzen kann. Was wir in historischer Rekonstruktion analysieren, ist als Folge eines solchen Wirkens zu verstehen, freilich nie als singulär in dem Sinne, dass ein Mensch allein als wirkende Kraft ausgemacht werden kann. Immer wirken diverse Kräfte gleichzeitig, mit- oder gegeneinander, in enger oder lockerer mannigfaltiger Verflechtung, so dass wir, weil der Mensch ein soziales Wesen ist, letztlich ein komplexes System vorfinden. Eine Tätigkeit als Lehrer berührt nicht nur die äußeren Faktoren der Bildung, angefangen von tauglichen Gebäuden und angemessener Ausstattung mit Möbeln oder Büchern bis hin zur Struktur des Unterrichts in Plänen und Curricula. Neben diesen wichtigen Voraussetzungen steht immer die pädagogische, als lehrende und erzieherische, und dazu auch die charakterliche und emotionale Zuwendung. Der Spielraum auf diesem Gebiet ist natürlich in besonderem Maße der jeweiligen Zeit unterworfen. Und doch ist sichtbar, dass es zu allen Zeiten von entscheidender Bedeutung für den Erfolg von Bildung war, ob es dem Lehrer gelingt, einen Zugang zum Schüler zu finden, der über den bloßen Zwang und letztlich Gewaltausübung hinausgeht. Gerade in der Geschichte der Bildung würden wir deshalb zu kurz greifen, wenn wir neben den Schulordnungen und Lehrplänen, dem vermittelten Stoff und der Ausstattung der Räume die Akteure in den Hintergrund stellen oder vergessen würden, die mit ihrem Wirken, ihrem persönlichen Einsatz – oder auch Versagen – eine Zeit, eine Institution, eine Generation von Schülern auf ihre ganz individuelle Weise mitgeprägt haben.

1 Die Abfassung der vorliegenden Studie erfolgte im Rahmen des Forschungsprojekts IUT28-1, das durch die Estnische Wissenschaftsagentur finanziert wird.

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Heinrich Vestring gehört zu den Akteuren in der baltischen Bildungsgeschichte, die zwar dem Namen nach bekannt, aber in ihrem umfassenden Wirken bisher kaum präsent und anerkannt sind.2 Im Folgenden soll deshalb die Person eingehend vorgestellt und in ihrer Bedeutung für die Stadt Reval (Tallinn) analysiert werden. Dazu wird zunächst ein biographischer Überblick gegeben, der bemüht ist, über die Artikel in biographischen Lexika hinaus erstmals die genauen Quellenbelege zu versammeln. Daran anschließend wird Vestrings Wirken im Revaler Schulwesen sowie im Kirchenamt näher betrachtet. Zum Abschluss wird nach memorialen Spuren seines Lebens und Wirkens gefahndet und ein Fazit gezogen.

Curriculum Vitae 1562 wurde Heinrich Vestring im westfälischen Ahaus, damals zum Hochstift Münster gehörig, geboren. Über seine Familie und die erste Bildung ist bisher wenig bekannt.3 In einem Schreiben an den Revaler Rat vom 5. Mai 1601 berichtet er

2 Die wichtigsten Nachweise in der lexikalischen Tradition, in der Stadt- und speziell der Schulgeschichtsforschung sind: Witte, Henning: Diarium biographicum. Bd. 1. Danzig 1688, a. 1650, 30.  Mart. (Bl. Zz4v); Zedler, Johann Heinrich: Großes vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 48. Halle-Leipzig 1746, Sp. 348; Jöcher, Christian Gottlieb: Allgemeines Gelehrten-Lexikon. Bd. 4. Leipzig 1751, Sp. 1557; Gadebusch, Friedrich Konrad: Livländische Bibliothek. Teil 3. Riga 1777, S. 259; Carlblom, Gustav: Prediger-Matricul Ehstlands und der Stadt Reval. Reval 1794, S. 90, 97; Recke, Johann Friedrich von; Napiersky, Karl Eduard: Allgemeines Schriftsteller- und GelehrtenLexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland. Bd. 4. Mitau 1832, S. 427; Dass.: Nachträge u. Fortsetzungen. Unter Mitw. von C. E. Napiersky bearb. von Theodor Beise. Bd. 2. Mitau 1861, S. 257; Paucker, H[ugo] R[ichard]: Ehstlands Geistlichkeit. Reval 1849, S. 337, 348, 363; Adelheim, Georg: Die grosse Stadtschule oder Trivialschule in Reval. In: Baltische Familiengeschichtliche Mitteilungen 1 (1931), S. 18–24; Laurenty, Heinrich: Die Genealogie der alten Familien Revals. Bearb. u. hg. von Georg Adelheim. Reval 1925, S. 29; Adelheim, Georg: Revaler Ahnentafeln. Tallinn 1935, S. 163, 304; Siebert, Johann Ernst von: Zur Geschichte der ehemaligen Trivial-Schule in Reval. In: Archiv für die Geschichte Liv-, Est- und Kurlands 6 (1851), S. 113–126, 320–334; Laul, Endel (Hg.): Eesti kooli ajalugu [Geschichte der Estnischen Schule]. Bd. 1: 13. sajandist 1860. ­aastateni [Vom 13. Jh. bis 1860]. Tallinn 1989, S.  97–99, 102; Gierlich, Ernst: Reval 1621 bis 1645. Bonn 1991, passim; Klöker, Martin: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (1600–1657). 2 Bde. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 112), hier Bd. 1, S. 223– 226, 743 u. ö.; Gottzmann, Carola L.; Hörner, Petra: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 3. Berlin-New York 2007, S. 1371f; Aarma, Liivi: Põhja-Eesti vaimulike lühielulood [Kurzbiographien der Pastoren des Konsistorialbezirks Estland] 1525–1885. Bd. 2. Tallinn 2007, S. 274f. 3 Das genaue Geburtsdatum ist bisher unbekannt. Die Jahresangabe ist jedoch aus dem bald nach seinem Tod festgehaltenen Alter zu errechnen, da es in Revaler Quellen heißt, er sei im Alter von 88 Jahren verstorben. Vgl. Tallinna Linnaarhiiv (TLA) [Stadtarchiv Tallinn] 31-1-13: Kirchenbuch St. Nicolai, Bl. 2v. Der Name Vestring kommt heute noch in Ahaus vor. Im Übrigen ist auf die große

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selbst, dass alle seine Geschwister bereits verstorben seien und die Eltern „als alte schwache SiebentzigJehrige leute nunmehr auf der gruben gingen“.4 Relativ spät erst ist der Sohn als Student nachweisbar. An der Universität Rostock wurde er im August 1588 immatrikuliert5 und erwarb am 14. März 1594 den Magistergrad.6 Doktor der Theologie war er nicht, obwohl dies in der Forschungsliteratur hin und wieder zu lesen ist.7 Über die Zeit des Studiums gibt es jetzt als Ergebnis meiner Recherchen erstmals wenige Hinweise. 1593 erschien Vestring als Verfasser eines Propemptikons (Reisegeleitgedichts) an Nikolaus Petraeus (1569–1641) bei dessen Abschied von der Universität Rostock. Petraeus wurde später Doktor der Theologie und Superintendent zu Ratzeburg, gilt als Vertreter einer starren Orthodoxie und war ganz ähnlich wie Vestring für einen durchgreifenden Aufbau und eine Ordnung des Kirchenwesens in seiner Region verantwortlich.8 Vestring schrieb sein Gedicht an Petraeus als einer von sechs Freunden, die also wohl auch als seine Studienfreunde gelten können. Hier sind unter anderem der spätere Greifswalder Professor für Theologie und Superintendent von Rügen und Pommern Bartholomaeus Battus (1571–1639)9 sowie der gekrönte Dichter Albert Wichgreve (1575–1619), der später Rektor zu Pritzwalk in der Mark Brandenburg, dann Pfarrer bei Hamburg wurde, zu nennen.10 Da Wichgreve in seiner berühmten Komödie Cornelius Relegatus (1600) das Studentenleben mit Anleihen aus seinem direkten Umfeld gestaltete, sind hier vielleicht weitere Eindrücke von Vestrings Studium in Rostock und seinem Freundeskreis zu bekommen. Dazu wären jedoch weitere Studien notwendig, die hier nicht geleistet werden konnten.



Vielfalt an Namensformen schon im alten Reval hinzuweisen: Neben der Hauptform Vestring, lat. Vestringius, gibt es auch Vestringh, Vestringk, Vestrinck, Westring(ius), Westrinck, Festring usw. 14 TLA 230-1-Bp6 2, Bl. 33r–34v, hier 33r: Heinrich Vestrings Supplikation an den Rat. 05.05.1601. 15 Vgl. Universität Rostock (Hg.): Matrikelportal Rostock. Sommersemester 1588. Nr. 77: Immatrikulation von Henricus Westrinck. URL: http://purl.uni-rostock.de/matrikel/100041932 (12.01. 2021): „Henricus Westrinck Westphalus. Nunc superintendens Revaliensis.“ 16 Vgl. Universität Rostock (Hg.): Matrikelportal Rostock. Dekanatsbuch. Wintersemester 1593/94. Promotion zum Magister von Henricus Westringius. URL: http://purl.uni-rostock.de/matrikel/ 400061795 (12.01.2021). 17 Als „Dr. Theol“ wird er u. a. bezeichnet bei Recke/Napiersky, Schriftstellerlexikon (wie Anm. 2) und Gierlich, Reval (wie Anm. 2). Dieser Irrtum beruht vermutlich auf einer Vermischung mit Angaben zu seinem Sohn Johannes Vestring, der Doktor beider Rechte war. So ist in den zeitgenössischen Quellen oft die Rede von „Doktor Vestring“. 18 Vgl. Krause, Karl Ernst Hermann: Nikolaus Petraeus. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 25 (1887), S. 518. 19 Vgl. Häckermann, Adolf: Bartholomaeus Battus In: ADB 2 (1875), S. 134f. 10 Vgl. Bolte, Johannes: Albert Wichgreve. In: ADB 42 (1897), S. 310–312; Flood, John L.: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-bibliographical Handbook. Bd. 4. Berlin-New York 2006, S. 2247f.

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Von seinen akademischen Lehrern ist besonders der außerordentliche Professor für Theologie David Lobeck (Lobechius) (1560–1603) hervorzuheben,11 der nur zwei Jahre älter war als Vestring und wohl maßgeblich vom berühmten Theologieprofessor und Gnesiolutheraner David Chytraeus (1530–1600) geprägt wurde, den auch Vestring in Rostock erlebt haben muss. Unter Lobeck, der als Archidiakon an St. Jakob seit 1594 auch an der Universität lehrte, disputierte Vestring am 13. November 1594 und am 2. Juni 1596 innerhalb einer Reihe von 30 Disputationen über die Artikel der Augsburger Konfession. Die einzelnen Disputationen sind offensichtlich zunächst separat und dann 1599 im Verbund gedruckt worden.12 Am 31. März 1597 erschien in Rostock noch ein Gratulationsgedicht von Heinrich Vestring zur Oratio pro gradu von Johannes Schalenius, einem Landsmann aus dem westfälischen Soest. Wieder ist Vestring einer von sechs dichtenden Freunden, die sämtlich an der Rostocker Universität eingeschrieben waren, darunter Johannes Goldstein (Chrysolitus) und Michael Langius, die gemeinsam mit Vestring am 14. März 1594 zum Magister promoviert worden waren. Goldstein war seit 1595 Pfarrer an St. Nikolai in Rostock und wurde um 1628 Superintendent; Langius hingegen seit März 1596 Diakon an St. Petri in Rostock. Unter den Freunden war ebenfalls Paulus Petreius, Diakon an St. Marien seit 1592 und später als Nachfolger von David Lobeck außerordentlicher Professor der Theologie in Rostock.13 Viele der gleichaltrigen Freunde waren also bereits in Amt und Würden. Es wurde Zeit, dass Vestring eine angemessene Stelle antrat, die sich dann offenbar in Reval gefunden hatte. Denn etwa um den Jahresbeginn 1597 oder schon im Herbst 1596 wurde er in Reval an der Stadtschule als Lehrer angestellt, heißt es doch im Mai 1601, dass

11 Vgl. Universität Rostock (Hg.): Catalogus Professorum Rostochiensium. Eintrag „David Lobeck“. URL: http://purl.uni-rostock.de/cpr/00002614 (12.01.2021); Etwas von gelehrten Rostockschen Sachen 5 (1741), S. 49–63, 88–94; 6 (1742), S. 806f. 12 Disputationes Theologicae XXX. Articulorum Augustanae Confessionis analysin complectentes & Orthodoxam Ecclesiarum Euangelicarum doctrinam antithesin Heterodoxae illustratam explicantes. Habitae in Academia Rostochiensi, per Davidem Lobechium H. Sacrae Theologiae in eadem Academia Doctorem et Profeßorem. Rostock: Möllemann; Lübeck: Albrecht 1599 (Nachweis im Verzeichnis der Drucke des 16. Jahrhunderts: VD16 ZV 9808). Eine zweite Auflage erschien 1610 in Wittenberg (Nachweis im Verzeichnis der Drucke des 17. Jahrhunderts: VD17 23:245322R). Vestring ist Respondent bei: Disputatio III. Ex articuli primo. De subsistentiis, seu charakteristicis proprietatibus. & Deitate personarum Trinitatis und Dispvtatio XVII. Ex Articulo Augustanae Confessionis XV. De Ritibus Ecclesiasticis seu Ceremoniis humana auctoritate in Ecclesia institutis. 13 Paul Petreius (1562–1611) wurde 1578 in Rostock immatrikuliert, vgl. Universität Rostock (Hg.): Matrikelportal Rostock. Sommersemester 1578. Nr. 44: Immatrikulation von Paulus Petri. URL: http://purl.uni-rostock.de/matrikel/100034121; Universität Rostock (Hg.): Catalogus Professorum Rostochiensium. Eintrag „Paul Petreius“. URL: http://purl.uni-rostock.de/cpr/00002617 (12.01.2021). Vgl. auch Etwas von gelehrten Rostockschen Sachen 1 (1737), S. 241, 632, 638; 4 (1740), S. 734, 829; 5 (1741), S. 337–342, 464–474; 6 (1742), S. 807.

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er seit viereinhalb Jahren an der Schule arbeite.14 Auf welchen Wegen und durch welche Kontakte er nach Estland gelangte, ist bisher nicht bekannt. Allerdings bestanden vonseiten des Revaler Rats und der Bürgerschaft enge verwandtschaftliche und wirtschaftliche Beziehungen nach Rostock. Und unter den Rostocker Studenten waren zahlreiche Livländer.15 Im Jahr 1600 beförderte der Revaler Rat den Lehrer Heinrich Vestring zum Rektor der Stadtschule. Ab dem 9. September 1603 wurde er dann zusätzlich Diakon („Capelan“) an der St. Nikolaikirche,16 im Jahr darauf ebenfalls (vielleicht aushilfsweise) an der St. Olaikirche. Im Oktober 1608 wechselte er in das Amt des Pastors an St. Olai und gab die anderen Stellen ab.17 1611 führte der Rat das Amt eines Schulinspektors ein und beauftragte Vestring zusätzlich mit dieser Aufgabe. Wohl 1614 erschien die erste Auflage einer theologischen Abhandlung über kirchliche Macht (De potestate ecclesiastica) von Vestring.18 Die näheren Hintergründe dieser Schrift, die der Frage der Zuständigkeit von weltlicher und geistlicher Obrigkeit im Gemeinwesen gewidmet ist und damit in der Nachfolge von Augustinus’ gleichnamigem Traktat in das Gebiet der politischen Theorie gehört,19 sind noch völlig unklar, zumal bisher nur die zweite Auflage aus dem Jahr 1617 nachgewiesen werden konnte. Leider ist die hier vorangestellte lateinische Widmungsvorrede an die Revaler Bürgermeister und Ratsherren nicht datiert, so dass auch nicht ersichtlich 14 Vgl. TLA 230-1-Bp6 2, Bl. 33r–34v: Heinrich Vestrings Supplikation an den Rat. 05.05.1601, hier Bl. 33r. 15 Im Jahr 1587 waren allein zehn Immatrikulationen von gebürtigen Est-, Liv- und Kurländern zu vermerken, 1588 dann vier, 1589 erneut vier, 1590 dann wieder neun usw. – Vgl. Lexikon der Studenten aus Estland, Livland und Kurland an europäischen Universitäten 1561–1800. Bearb. von Arvo Tering unter Mitarb. von Jürgen Beyer. Köln-Weimar-Wien 2018 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 28). 16 Im Denkelbuch von St. Nikolai 1603–1906 heißt es unter der Überschrift „Magister Her Hinricus Vestringius Capellaen“: „Ao 1603 d 9 Sebtemb Jst bei vnser kirchen zu einem Capelan angenommen Hinricus Vestringius ein Magister so ezliche Jhare vnser schulen rector gewesen godt verleihe ihm seine gnade vnd Segen“ (TLA 31-1-142, Bl. 28r). 17 Dazu wieder im Denkelbuch St. Nikolai (wie Anm. 16): „Anno 1608 Adj 17 Monats tagk octobriß Jst obgedachter M. Vestringius vom dem Caspell S. Olaus zu einem Pastorn derselben kirchen erwelt worden. vnd alßo diese kirche verlaßen müßen, got vorleihe ihm zu seiner Vocation deren ehr woll wurdig, gluck, heill, Gottes Segen. Zeitliche Wolfart vnd die ewige Seligkeitt“. 18 Discursus Theologicus De Potestate Ecclesiastica Conscriptus à […] Viro, Dn. M. Henrico Vestringio Ecclesiæ Revaliensis ad D. Olai Pastore & Scholæ inspectore, Comprobatus Reverendis Ac Clarissimis Viris Dn. Dn. Doctoribus & Professoribus S.S. Theologiæ in alma Rostochiensi Academia. Efflagitantibus Viris Doctißimis secundùm Correctior & perfectior editus. Rostock: Hallervord 1617 (VD17 12:146144L). Sowohl die erste (1614), als auch eine dritte Auflage (1630) sind bisher in keinem Exemplar nachweisbar. Vgl. den ausführlichen bibliographischen Nachweis bei Klöker, Literarisches Leben (wie Anm. 2), Bd. 2, Nr. 32A bis 32C. 19 Vgl. Krüger, Elmar: Der Traktat De ecclesiastica potestate des Aegidius Romanus. Eine spätmittelalterliche Herrschaftskonzeption des päpstlichen Universalismus. Köln-Weimar-Wien 2007 (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 30).

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ist, ob diese schon in der ersten Auflage enthalten war. Gleiches gilt für die beiden beigegebenen Gratulationsgedichte vom Pastor an der Rostocker Nikolaikirche, Magister Johann Goldstein, und von Magister Ericus von Beeck, der zu dieser Zeit noch an der Universität Rostock studierte und im Januar 1617 zum Diakon in Reval berufen wurde. Bald darauf dürfte er Vestrings Schwiegersohn geworden sein. Im Jahr 1614 wurde Vestring dann unter Beibehaltung seiner anderen Ämter in Reval auch Senior des Ministeriums, war also unter den Predigern der Stadt an die erste Stelle gerückt. 1626 ernannte der Rat ihn zum Superintendenten, er blieb zugleich aber Pastor an St. Olai. Als jährlicher Lohn wurden ihm 400 Herrentaler zugesprochen, die im Jahre 1639 auf seine Bitte hin in 230 Reichstaler umgewandelt wurden, um die Münzverschlechterung auszugleichen.20 Im Pastorat zu St. Olai wohnte er mit seiner Familie.21 Seine Ehefrau hatte Vestring offenbar bald nach seiner Ankunft in Reval gefunden. Dorothea Löveling war eine Tochter des Revaler Kaufmanns Gert Löveling. Sie überlebte ihren Ehemann, allerdings ist bisher nicht bekannt, wann sie gestorben ist.22 Laut Testament vom 2. März 1648, das am 2. März 1649 im Rat eingebracht wurde,23 hatten Dorothea und Heinrich Vestring sechs Kinder – nämlich die Töchter Marg(a)reta, Catharina, Anna und Dorothea sowie die Söhne Heinrich und Johann –, von denen zu diesem Zeitpunkt noch drei lebten.24 Die Tochter Catharina (ca. 1605–1650) hatte 1626 den Revaler Kaufmann Hans Luhr geheiratet, war dann in zweiter Ehe 1635 mit dem Kaufmann Barthold Dellinghausen vermählt, der allerdings bereits 1643 verstorben war.25 Sie selbst könnte 20 Vgl. TLA 230-1-Ab53, Bl. 292r und 293r: Ratsprotokoll. 14.05.1639. 21 Laut Testament sollte die Witwe nach seinem Tod für das Witwenjahr im Pastorat wohnen bleiben. 22 Im Revaler Kirchenbuch war bisher kein Eintrag zu ihrer Bestattung zu finden. Der Vater „Gerdt Louelingk“ erwarb am 04. Juli 1581 das Revaler Bürgerrecht. Vgl. Greiffenhagen, Otto (Hg.): Das Revaler Bürgerbuch 1409–1624. Reval 1932 (Publikationen aus dem Revaler Stadtarchiv 6). Ihre Mutter war Dorothea Beckmann, eine in Reval geborene Tochter des aus Thüringen stammenden Buchhändlers Laurentius Beckmann. Vgl. Aarma, Lühielulood (wie Anm. 2). 23 Vgl. TLA 230-1-Ab61, Bl. 25r–v: Ratsprotokoll. 02.03.1649. „Der H Burg. Stampeel vnd H Korbmacher vorgetreten vnd pp der H Burg. was gestalt der H Superintendens M. Henricus Vestringius Sie beiderseits gestren zu sich foddren laßen, wie sie nun dahin gekomen, hat er sie gebehten nachdem er sich seiner Sterbligkeit erinnert, vnd wegen fried [25v] erhaltung Fried vnd Einigkeit vnter seinen Kindern, ein Testament seines geringen nachlaßes verfaßet, die HH es in sein nahmen, nach vorhergehenden gebührlichen Grus, zu Raht vber wiesen, vnd zu gleich bitten wolten, dz solches angenommen, ad acta publica geleget, vnd künfftig nach seinem tode geöffnet vnd confirmiret werden möchte, gedächte dabeÿ zu erben vnd zu Sterben.“ 24 Vgl. TLA 230-1-BN2, Bl. 388–390. Hierbei handelt es sich um eine Abschrift durch Diakon Andreas Sandhagen vom 28. Februar 1649. Vgl. die Erschließung bei Seeberg-Elverfeldt, Roland: Revaler Regesten. Bd. 3: Testamente Revaler Bürger und Einwohner aus den Jahren 1369 bis 1851. Göttingen 1975 (Veröffentlichungen der niedersächsischen Archivverwaltung 35), S. 272f. (Nr. 334). Eine (von mir nicht eingesehene) Abschrift des Testaments befindet sich im Nationalarchiv (Rahvusarhiiv) in Tartu unter Sign. RA, EAA 858-2-188. 25 TLA 236-1-29: Kirchenbuch St. Olai, S. 347. „Anno 1643 […] Junius […] den 20 Bartoldt Dellinghausen unter seinem Stein nro. 6 in der Capellen begraben“.

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am 2. März 1650 begraben worden sein.26 Ihre Schwester Anna Vestring, der vom Vater ein Haus in der Pferdestraße vermacht wurde, hatte am 7. Januar 1640 den Danziger Kaufmann Arnhold Stralborn geheiratet.27 Dieser könnte im Jahr darauf Revaler Bürger geworden sein, muss aber wohl schon vor November 1648, spätestens im April 1649, gestorben sein, da Anna in diesem Jahr als seine Witwe bezeichnet wurde. Sie starb am 14. August 1688.28 Der Sohn Johann Vestring (ca. 1616– 1662) lebte als Doktor beider Rechte und Vizesyndikus der Stadt in Reval.29 Als bereits verstorbene Kinder wurden im Testament „Henricus“ und „Gretke“ genannt. Die älteste Tochter Margareta (Gretke) hatte den Revaler Pastor Ericus von Beeck (1588–1650) geheiratet, war aber schon 1641 gestorben.30 Der älteste Sohn Heinrich hatte ab 1623 die Universität Rostock besucht und war 1627 Pastor zu Kosch (Kose) und Propst in Jerwen (Järvamaa) in Estland geworden. Er starb 26 Der am 08. Oktober 1631 verstorbene Hans Luhr wurde am 12. Oktober 1631 in St. Nikolai beerdigt. Der Grabstein (Nr. 161) legt nahe, dass auch Catharina hier bestattet wurde; leider war ihr Todesdatum auf dem Grabstein bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr zu entziffern. Zur Grabstätte vgl. Nottbeck, Eugen von; Neumann, Wilhelm: Geschichte und Kunstdenkmäler der Stadt Reval. 2 Bde. Reval 1904, hier Bd. 2, S. 169. Im Grabsteinbuch St. Nikolai (TLA 31-1-88) ist in der Liste der unter Stein 161 begrabenen Personen zwar Hans Luhr, nicht aber seine Frau Catharina Vestring zu finden. Vielleicht handelt es sich um diese im Kirchenbuch St. Olai (TLA 236-1-29), S. 382: „1650 […] Martius den 2. Jst die Frau Dellinghusensche in die grose Capell vnter ihren eigen Stein begraben worden“. Im Stadt-Hauptbuch (TLA 230-1-Aa35c), Bl. 177r wird sie am 22. Oktober 1658 jedenfalls als verstorben bezeichnet. 27 Vgl. Anacreon Latinus, […] Dn. M. Henrico Vestringio, Pastori ad D. Olai, & Superintendenti Revaliensium meritissimo, Cum ipse […] Dn. Arnholdo Stralbornio, inclytæ Reipubl. Dantiscanæ Civi primario & Mercatori solertissimo, Suam dilectam Filiam, […] Virginem Annam Collocaret in matrimonium: Transmissus E Gymnasio Revaliensi â Rectore & Professoribus. Anno 1640. d. 7. Januarij. Reval: Westphal 1640. Vgl. Klöker, Literarisches Leben (wie Anm. 2), Bd. 2, Nr. 199. Entgegen dem üblichen Revaler Brauch ist im Ratsprotokoll keine Einladung an den Rat vermerkt worden, was jedoch auch dem frühen Datum im Jahr geschuldet sein kann. Denn das Ratsprotokoll beginnt erst am 8. Januar 1640, und das des Vorjahres endet bereits am 19. Dezember 1639. Die Angabe, Anna habe den Landpastor Urban Stralborn geheiratet, ist also wohl falsch bei Adelheim, Ahnentafeln (wie Anm. 2), S. 161. Urban Strahlborn wurde nach dem Studium erst 1656 Pastor zu Kirrefer und verstarb bereits 1657 (begraben am 17. Juni 1657 in Reval, vgl. TLA 2361-29: Kirchenbuch St. Olai, S. 448). 28 Anna wird im Stadt-Hauptbuch (TLA 230-1-Aa35c), Bl. 177r am 17. April 1649 als hinterlassene Witwe des Arent Stralborn bezeichnet. Ob es sich bei dem am 10. Dezember 1641 im Revaler Bürgerbuch verzeichneten Arent Stralborn „Revaliensis“ um ihn handelt, ist fraglich, da die Familie wahrscheinlich zunächst in Danzig ansässig wurde. Am 18. November 1648 wird laut Kirchenbuch St. Olai „Sehl: Arendt Stralborn Kindt“ begraben. Ein Eintrag zu ihm selbst fehlt. Das Todesdatum von Anna bei Adelheim, Ahnentafeln (wie Anm. 2), S. 161. Beim Eintrag unter dem 30. August 1688 im Kirchenbuch St. Nikolai (TLA 31-1-88), Bl. 252r könnte es sich um diese handeln: „die alte Fraw Strahlenbornsche in St: olaÿ begraben“. 29 Über ihn vgl. Klöker, Literarisches Leben (Anm 1), Bd. I, S. 127f., 743f. u.ö. sowie Gierlich, Reval (wie Anm. 2), passim. 30 Das Hochzeitsdatum ist bisher unbekannt. Begraben am 10. August 1641 in St. Nikolai, vgl. TLA 236-1-29: Kirchenbuch St. Olai, S. 342.

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1643 und wurde am 11. April des Jahres in St. Olai in Reval bestattet. Die darüber hinaus im Testament als verstorben erwähnte Tochter Dorothea war vermutlich schon 1623 beerdigt worden.31 Im Kirchenbuch sind weitere vier Bestattungen von Kindern vermerkt in den Jahren 1610, 1613, 1614 und 1619.32 Aufgrund seines hohen Alters und seiner Gebrechlichkeit erließ der Rat dem Superintendenten am 8. Juli 1634 fortan die Mittwochspredigt. Mit 88 Jahren starb Vestring am 2. April 1650. Am 10. April wurde er, wie im Testament selbst gewünscht, in St. Olai unter seinem eigenen Stein beigesetzt.33

Schule Der genaue Weg Vestrings an die Revaler Stadtschule ist bisher unbekannt. Keine Berufung durch den Rat ist nachweisbar, ja selbst seine schriftliche Bestallung als Rektor liegt nicht vor. Offensichtlich gab es zunächst keine, denn in einer undatierten, vermutlich von 1602 stammenden Supplik des Schulinspektors und sämtlicher Lehrer lautet der vierte von insgesamt fünf Punkten: „Der Her Rector helt abermal ahn, vnd bittet eine schriftliche bestallung.“34 Glaubt man Vestrings eigenen Worten, dann hat er sich jedoch schon gleich nach Aufnahme seiner Tätigkeit an die Reform der Schule gemacht. Denn in seinem Schreiben an den Rat vom April 1603 weist er darauf hin, dass diese Methode schon „bis ins sechste Jahr“ befolgt werde, obwohl er die Reform der Schule doch erst mit dem Beginn seines Rektorates aufnahm: „Vnd eben daßelbe hat mich Auch bewogen, daß ich stracks im Anfange meines Rectorats die Schule zŭ reformiren Angefangen, vnd nach Abschaffŭng viel Vnordnŭng die gantze Schŭle [97r] in gewiße Classes abgetheilet, lectiones intimiret, leges præscribiret, vnd Andere dinge mehr angeordnet vnd gestifftet, Wornach sich beide Præceptor vnd discipulus in der Jnstitution vnnd disciplin zŭ richten hette: hab aber dieselbige so aller Dinge schrifftlich nicht35 verfaßet, wie solches die nottŭrfft woll 31 Vgl. TLA 236-1-29: Kirchenbuch St. Olai, S. 193. „Dezember Anno 1623. Den 30. Ließ vnser Herr Pastor, H: Henrich Vestringh 1 dierne in der Kirchen vnterm Bancke bestetigen. Hat solchs frei.“ 32 Vgl. ebd., S. 67, 81, 88, 141. Hier heißt es jeweils: 16.09.1610: „sein Kindt“, 25.03.1613: „sein kleinstes Kindt“, 23.09.1614: „ein Kind“, 01.03.1619: „ein Kind“. 33 Das Datum der Bestattung nach ebd., S. 383. Das Todesdatum jetzt nach dem Konsistorialprotokoll vom 10. Mai 1650 (TLA 1346-1-1), Bl. 98r = S. 177, und damit wie schon bei Carlblom, PredigerMatricul (wie Anm. 2), aber entgegen der lexikalischen Tradition bei Witte, Diarium biographicum und Gadebusch, Livländische Bibliothek sowie Recke/Napiersky, Schriftstellerlexikon und Paucker, Ehstlands Geistlichkeit, zuletzt auch bei Gottzmann/Hörner: Lexikon (alle wie Anm. 2). 34 TLA 230-1-Bp6 2, Bl. 31r–v: Undatierte Supplik an den Rat, geschrieben und unterzeichnet von „M. Sagittarius“, außerdem unterzeichnet von „M. Henricus Vestringius Rector cum Consensu cæterorum Collegarum Scholæ Revalien“, hier Bl. 31v. 35 Wort nachträglich über der Zeile eingefügt.

Schule und Kirche. Heinrich Vestring als Reformer des Revaler Schulwesens

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erfordert, Aŭs Vrsachen, daß solches nicht mir, Besondern Dem Herren Jnspectorj, dem zŭ der Zeit die Schule furnemblich betraŭwet, hette gebŭhren wollen.“36

Es stand zuvor ganz offensichtlich schlecht um die Revaler Schule, die zwar bald nach der Reformation umgestaltet worden, aber während des Livländischen Krieges 1558–1583 wieder zerfallen war. Die Schulgeschichte dieser Zeit ist leider noch völlig unzureichend erforscht und bedarf dringend detaillierter Analysen. Die Quellen zeigen jedenfalls vielfältige Probleme, darunter häufige Vakanzen und Wechsel im Lehrkörper, die auch Vestring beklagt. Der von ihm im Zitat genannte Schulinspektor scheint ein weiteres Hemmnis gewesen zu sein. Es handelt sich um den Superintendenten und Pastor an St. Olai Magister Gerhard Sagittarius, der nach vielerlei schweren Auseinandersetzungen mit dem Rat 1602 von seinen Ämtern entbunden wurde.37 Dieser war aufgrund nachlässiger Amtsführung und wüster Beschimpfungen in seinen allzu heftigen Strafpredigten immer wieder ermahnt worden, geriet mit fast jedem in Streit und galt als rachsüchtig. Auch eine mangelhafte Inspektion der Schule wurde ihm vorgeworfen. So war er – der Superintendent! – am Gründonnerstag nicht in der Kirche und hatte also nicht mitbekommen, wie schlecht die Knaben sich während der Kommunion benommen hatten. Der Rat hielt ihm vor, die Knaben müssten in Sitten und Verhalten besser unterrichtet werden. Außerdem gab er im November 1599 Grund zum Ärger, „indem er einem ordentlich bestellten Rechen- und Schreibmeister der Schulen in seiner eigenen Behausung zwei Maulschellen reichte und eben zu der Zeit, als er sich krankheitshalber nicht predigen zu können entschuldigte; in der Kirche sollte aber von christlicher Vergebung und brüderlicher Einigkeit gepredigt werden.“38

Die Bedingungen, unter denen Vestring also seine Arbeit an der Schule ausführte, waren alles andere als gut. Umso höher muss ihm angerechnet werden, dass er die Reform vorantreiben und auch das Programm schriftlich vorlegen konnte. Ein Exemplar der von ihm verfassten Schulordnung befindet sich heute im Tallinner Stadtarchiv in einer Sammlung von Ordnungen des 17. Jahrhunderts.39 Zusam36 TLA 230-1-Aa114, Bl. 96v–97r: Ordnungen des Revaler Rats. Vgl. auch den Abdruck bei Schiemann, Theodor: Materialien zur Geschichte des Schulwesens in Reval. In: Beiträge zur Kunde Ehst-, Liv- und Kurlands 4 (1894), S. 1–64, hier S. 6. 37 Vgl. TLA 230-1-Bo4, Bl. 22r–35v: Sagittarius’ Schreiben an den Rat vom 09.03.1602, behandelt im Rat am 20.04.1602. Vgl. zu Sagittarius (ca. 1540–1608) grundlegend noch immer Hansen, Gotthard von: Superintendent Sagittarius. Ein revalsches Sittenbild aus dem Ende des 16. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Kunde Ehst-, Liv- und Kurlands 3 (1887), S. 249–263; Aarma, Lühielulood (wie Anm. 2), S. 229. 38 Hansen, Sagittarius (wie Anm. 37), S. 260. 39 TLA 230-1-Aa114: Ordnungen des Revaler Rats, darin Bl. 95r–113r die Schulordnung 1602 inkl. der „An[no] 1603. Men[se] Apr[ilis].“ unterzeichneten Vorrede (Bl. 96r–99v), dann auf Bl. 114r–

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men mit Vestrings Anschreiben an die Bürgermeister und den Rat, das gewissermaßen die Vorrede bildet und in dem er die Reform erläutert, erhielt der Rat im April 1603 also eine „Schŭlordnŭng, darinne begriffen: 1. Methodŭs institŭtionis. 2. Vom ambt der Schüler. 3. Vom Ambt der Præceptoren oder Schŭldiener. Zŭsammen geschriebenn Vonn M: Henrico Vestringio der Schŭlen Rectore. Anno 1602. sowie das Schŭlrecht der Königlichen Stadt Reŭall in Liefflandt, gestellet vnd pŭbliceret im Jhare nach Christi Gebŭrt 1600. den 10. Aprilis.“

Diese Zusammenstellung legt nahe, dass ein Druck erfolgen sollte. Allerdings folgt die Anlage des Textes auch einem Grundmuster für die verschiedenen Ordnungen in dem betreffenden Handschriftenband, so dass eher die Frage wäre, ob die Sammlung als Ganze gedruckt werden sollte. Dagegen spricht nun wieder, dass die vielen einzelnen Ordnungen in dem Band über einen größeren Zeitraum entstanden sind. Daher ist wohl davon auszugehen, dass hier eine für den städtischen Gebrauch vorgesehene Sammlung, gewissermaßen ein Handbuch vorliegt.40 Zu einem zeitgenössischen Druck der Schulordnung inklusive Beigaben scheint es jedenfalls nicht gekommen zu sein. Die Schule, die sich seit 1525 im Refektorium des ehemaligen Dominikanerklosters befand, war zuvor in drei Klassen aufgeteilt.41 Nun gab es nach Vestrings Ordnung fünf Klassen: In der untersten, der Quinta, befanden sich alle Kinder, die „teutsch lesen, schreiben und rechnen lernen“ sowie „in der Furcht Gottes auferzogen“ werden sollten.42 In der Quarta wurde bereits „Latein lesen, schreiben, decliniren, compariren und conjugiren“ gelernt und der Donatus eingeführt, ein seit der Spätantike äußerst populäres Lehrbuch der lateinischen Grammatik, welches in der Tertia dann gründlichst studiert „und so fleißig und deutlich erklähret wird, daß nichts in diesem Buche zu finden, welches sie nicht gründlich verstehen.“43 In die Secunda wurden die Schüler versetzt, wenn sie die Deklination und Konjugation vollständig beherrschten und auch das erste Buch der Colloquia Corderii44 verstehen

40 41 42 43 44

121v das Schulrecht 1600. Dieses Schulrecht und Vestrings Vorrede liegen auch (wohl in späterer Abschrift) vor unter TLA 230-1-Bp25. Vgl. die (leicht modernisierte) vollständige Edition bei Schiemann, Materialien (wie Anm. 36), S. 6–38. Laut Auskunft von Lea Kõiv (Stadtarchiv Tallinn) wurden die einzelnen Ordnungen in diesem Band vermutlich erst im 19. Jahrhundert zusammengebunden. Vgl. Schiemann, Materialien (wie Anm. 36), S. 1–5: „Schreiben des Rectors der Revaler Stadtschule Marcus Leo an den Rath der Stadt Reval, 1546“. Schiemann, Materialien (wie Anm. 36), S. 10. Ebd., S. 13. Dabei handelt es sich wohl um: Corderii Colloquia scholastica von Mathurin Cordier (1479–1564): Maturini Corderii Colloqviorum Scholasticorum. Libri Quinque. Cum argumentis. Rostock 1588. (VD16 C 5059). Ein Exemplar ist im 18. Jahrhundert in Revaler Privatbesitz nachgewiesen.

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konnten.45 In dieser Klasse gehörte das Schreiben kleiner Briefe oder einer „Historia“ in deutscher und lateinischer Sprache zum Unterricht, ebenso sollten die Schüler durch das Übersetzen deutscher und lateinischer Texte in beiden Sprachen Übung erlangen. In der Erziehung zu „wahrer Gottseeligkeit, guten Sitten, Zucht und Ehrbarkeit“46 wurden der Katechismus, das Corpus Doctrinae (eine auf Philipp Melanchthon zurückgehende Sammlung der wichtigsten christlichen Glaubenssätze) sowie die Psalmen und Sprüche gelehrt, allerdings sollten die Knaben die Texte nun nicht mehr nur auswendig hersagen können, sondern auch deren Sinn verstehen. Von der Secunda gelangte man durch eine öffentliche Prüfung von Schrift und Rede in die Prima, die schließlich besucht werden sollte, bis die Schüler mit etwa 18 bis 20 Jahren für die Universität gut vorbereitet waren. Diesem Ziel widmete man sich durch Unterweisung in Logik, Grammatik, Dialektik und Rhetorik; auch wurde die griechische Sprache gelehrt, deren Beherrschung bis zum Verfassen von griechischen Gedichten führte. Gelesen wurden neben den Briefen Ciceros und ­einigen seiner Reden die Komödien von Terenz sowie Ovids und Vergils Poemata. In der griechischen Sprache dienten Johannes Posselius’ Evangelia et Epistola sowie Pythagoras und Phocilides, Homer und Hesiod als Vorbilder, an denen auch zu lernen war, wie „wir uns einen jeglichen Vers im gemeinen Leben zu Nutz machen können.“47 Zum Abschied der erfolgreichen Schüler fand ein Entlassungsakt statt. Dies war ein anspruchsvolles Programm, das durchaus Anleihen bei gymnasialen Schulen der Zeit aufwies, etwa der berühmten Ordnung von Johann Sturm in Straßburg.48 Dieser Anspruch scheint berechtigt, war doch einerseits in den baltischen Landen keine Universität angesiedelt und andererseits kurz zuvor in Dorpat (Tartu) eine konfessionelle Konkurrenz durch das Jesuitengymnasium entstanden.49 Heinrich Vestring beanspruchte mit seiner Methode auch keineswegs eine Innovation im Bildungswesen, sondern hatte nach eigenen Worten „was wir hin vnnd wieder in gelarter leŭte vnd vmb Kirchen vnd Schulen wolverdienter Leŭte50 Bŭcher von Vnterweisŭng vnd Auferziehŭng der Jŭgendt gelesen; 45 46 47

48 49 50

Vgl. Tarvas, Mari: Bibliothekskataloge der Tallinner Literaten des 18. Jahrhunderts. Quellenedition aufgrund überlieferter Nachlassverzeichnisse. Würzburg 2014, S. 136. Vgl. Schiemann, Materialien (wie Anm. 36), S. 15. Ebd., S. 20. Ebd., S. 24. – In einer Leipziger Auflage von 1606 lautet der lateinische Titel des lateinischgriechischen Parallelwerkes: Evangelia Et Epistolae, Quae Diebus Dominicis Et Festis Sanctorum in Ecclesia, usitato more proponi solent Graecis versibus reddita, & postremo […] recognita, A Johanne Posselio. Leipzig: Apel 1606 (vgl. VD17 23:272692Z). Vgl. Arnold, Matthieu (Hg.): Johannes Sturm (1507–1589). Rhetor, Pädagoge und Diplomat. Tübingen 2009 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 46), darin insbesondere S. 321–336: Klöker, Martin: Sturm in Riga. Einflüsse Johannes Sturms auf das altlivländische Bildungswesen. Vgl. Helk, Vello: Die Jesuiten in Dorpat. 1583–1625. Ein Vorposten der Gegenreformation in Nordosteuropa. Odense 1977 (Odense University Studies in History and Social Sciences 44). Wort nachträglich über der Zeile ergänzt.

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Martin Klöker zŭsammen gefaßet vnd nach gelegenheit Aŭf vnsere Schulen gerichtet. Darumb weil51 dieser vnser Methodus fast eben derselbige sein wŭrde als ist, So in Andern wolbestalten Schulen gebreuchlich, Wir aber nicht sehen wie daß ein beßer vnd richtiger Methodŭs konne erfŭnden vnd erdacht werden, Als sind wir der hoffentlicher Zŭŭersicht, vnsere Successores werden bei dieserm vnserm Methodo bestendig bleiben vnd verharren, vnd daneben bedencken was es fŭr incommoditates gebieren werde, wenn ein Jeglicher Rector eine sonderliche vnd den Knaben vorhin vnbekannte Jnstitutionis formam vnd Ordnŭng machen wurde. Den das hat bißdahero die erfahrŭng bezeuget daß vnsere Schuler dŭrch mennigerlej Verenderung vnd Ernewerung in ihren Stŭdiren mehr pertubiret verhindert vnd Aŭfgehalten Als gefordert worden, Jnmaßen die herren Scholarchen vnd Kirchen Fŭrsteher fur 5. Jahren selber52 hierüber geclaget, daß dieß der furnembsten Vrsachen eine wehre, worumb vnsere Schule nicht hab in Aufnehmen kommen konen, daß nemblich in so kürtzer Zeit so viel Rectores gewesen vnd ein Jeglicher allezeit einen [98v] sonderlichen Methodum mit sich gebracht vnd gebraucht, damit die Knaben dermaßen pertubiret, daß sie nichts oder haben proficiren konnen.“53

Insofern kann es nicht verwundern, dass das von Vestring zusammengetragene Regelwerk ganz dem weit verbreiteten Modell des protestantischen Unterrichts nach Melanchthon, Sturm und anderen entsprach, freilich in deutlicher Reduktion und mit Modernisierungen, die nicht zuletzt den individuellen Erfordernissen in der Kaufmannsstadt geschuldet waren – so etwa die relativ starke Rolle des Deutschen und der frühe Rechenunterricht. Eine direkte Reaktion des Rates auf Vestrings Arbeit ist nicht überliefert, allerdings zeigt sich in einem Bittschreiben des Jahres 1601, dass zu dieser Zeit, also nach Einführung des Schulrechts im Vorjahr, bereits alles seinen geregelten Gang nahm. Vestring handelte offenbar sehr weitsichtig, als er jetzt um Erlaubnis bat, seine greisen Eltern in Deutschland zu besuchen – eine Reise, die acht bis zehn Wochen in Anspruch nehmen sollte. Denn er nutzte diesen Anlass, um sich der Anerkennung seines Reformwerkes wie überhaupt seiner Person rückzuversichern. Einerseits zeigte er dem Rat gegenüber, dass er für die Schule vorgesorgt hatte, wohl wissend, dass seine Abwesenheit schnell zu bedrohlicher Unordnung führen könnte. Zugleich sicherte er jedoch seine Position an der Schule, indem er seine weitere berufliche Perspektive in der Stadt ausmalte. Und er machte deutlich, dass die Reform und der angestrebte Aufschwung der Schule noch keineswegs abgeschlossen waren: „Des will Jch hinwiederŭmb meine labores vnd operas Scholasticas in der Schŭlen vnter meinen Collegen dermaßen theilen vnd Anordnen, daß die Knaben Jn mei51 Wort nachträglich über der Zeile ergänzt. 52 Wort nachträglich über der Zeile ergänzt. 53 TLA 230-1-Aa114, Bl. 98r–v: Ordnungen des Revaler Rats. Abdruck bei Schiemann, Materialien (wie Anm. 36), S. 7f. Zur Stadtschule generell auch die in Anm. 2 genannte Literatur und zuletzt Klöker, Literarisches Leben (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 217–236.

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nem abwesend gnŭgk zŭ thŭen, vnd dŭrch meine Reise keines weges in Jrem Studijs verseŭmet werden mügen […] Zu dem, weiln manß Aŭch nŭnmehr, Godtlob, biß ins Vierte Jahr allerseits mit mir versŭcht, vnd so woll aŭß meinem vnderschiedtlichen Schŭl Examinibŭs, alß offentlichen Predigten, meines erachtens, gnŭgsam gespuret, waß man an mir aŭf beiden fallen in kunfftig zŭhoffen hab, Alß bitte Jch Aber mahl gans vnderdienstlich vnd vleißigk, damit Jch meines dienstes mŭge versichert sein, ein Erb Raht wolle doch fŭrs erst bei Jhm dieß erwegen vnd bedencken, ob der kirchen vnd Schŭlen dießer loblichen Stadt vnd Gemeine mit meiner geringen Persohnen ferner gedienet, Vnd da ein Erb. Raht mich die zeit meines lebendes wolle54 bei der Schŭlen behalten vnd wißen, daß mir meine besoldŭng |: welches ohne der Stadt großere Vnkostŭng wol geschehen konte :| mŭge vf dem fall verbeßert, vnd eine wohnŭng bei der Schŭlen geschaffet werden, Weiln meine accidentzien geringe, Sintemal der vnterste Collega dauon so viel hat alß der Rector. Vnd so Ein Erb. Rath mich bei der Schulen zu wißen also gefallen, So konte Jch mich deß Predigambts mit so viel beßern gewißen entschlagen. Vnd allen meinen Fleiß, mŭh vnd arbeit vf der Schŭle richten vnd wenden, vnd dieselbe dermaßen fŭrstehen, daß in kŭnftigen zeiten der Jnspection halben sonderliche Vnkostŭng zŭ thŭen vnnotig were. Da Aber ein Erb. Raht dieß nicht zŭtreglich oder annehmlich, [34r] Besondern vielmehr geneiget mich hie, wie dan gebraŭchlich, von der Schŭlen zŭm Predigambt zŭ Promoviren, Jn betrachtŭng daß Jch meine Studia fürnehmlich dahin gerichtet, das ich der Kirchen entlich dienen wolte, So bitte Jch vmb gonstige Versicherŭng, daß sothane promotion ohne verringerŭng meines gewohnlichen Salarij zŭgehen mŭge, damit Jch dem Altar Also dienen mŭge, daß ich aŭch daŭon mŭget leben, welches aŭch leichtlich geschehen konte, wen die functiones Ecclesiasticæ recht getheilet wŭrden. Welches nŭn Aŭß diesen beiden ein Erb. Raht fŭr rathsamer ansehen wirt, Solches wil Jch Jhrer discretion bescheidenheit vnd wilkŭhr vnderdienstlich heimgestellet haben. Vrsach aber dieser meiner Anmŭtŭng ist diese, Wen ich meines dienstes alhie bei Eŭch gewiße bin, so hab ich kein vrsach mich draußen mit Andern einigies dienstes halben einzulaßen. Solte Jch aber vber zŭuersicht bei Eŭch meines dienstes bei der Schulen odern Kirchen nicht versichert sein, vnd mir wŭrde mittlerweile draŭßen # oder sonsten eine gewiße Condition angedragen, wur55 Jnmaßen mein Alter vndt Standesgebŭhr eine gewiße Condition zu haben vnd zŭ sŭchen mich nŭmehr verŭrsachet, So werde Jch daß gewiße fŭr daß vngewiße nehmen, vnd mich an die orter bestellen lassen mŭßen, da ich die zeit meines lebendes meinen vnterhalt haben mochte Aldieweil mir aber daßelbige nŭmehr, weiln Jch mich hie bei Euch niedergesetzet, bedencklich, Ein Erb. Rathe Aber auch vielleicht nicht rŭhmlich sein wŭrde, So hoffe Jch ein Erb Raht werde hierin ein solch mittel treffen, welches eim Erb. Rathe rŭhmlichn, mir aber zŭtreglich sein mŭge. Den Jch Ja, weiß es Godt, zŭ keiner 54 Wort nachträglich über der Zeile ergänzt. 55 Die Ergänzung mit Verweiszeichen # am linken Rand.

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Martin Klöker Mŭtation oder Enderŭng lust hab, Besondern bin von anfang her, Alß ich mich alhie bei Euch bestellen laßen, Je vnd allewege entschloßen gewesen, da mein geringfŭgige dienste dieser Stadt vorschublichen sein, vnd Jch mein nottŭrftigliches hinkommen vnd vnderhalt alhie haben [34v] konte, dieser Stadt die zeit meines lebends fŭr anderm zu dienen, vnd saŭr vnd sŭße mit aŭßzŭstehen. Dero wegen Aŭch ein Erb. Raht diese meine wolgemeinte Anmŭtŭng nicht in Vngŭt aŭfnehmen, Besondern vielmehr zum besten aŭßdeŭten wirt, weiln alles nŭr dahin gerichtet, daß Jch nach meiner Wiederkŭnft bei eŭch einen fixum locŭm vnd gewißen Sitz haben mŭge.“56

Der Rat hatte jetzt die Möglichkeit, Vestring ziehen zu lassen. Wenn man ihn jedoch in Reval halten wollte, dann war es nötig, vonseiten der Stadt klar Stellung zu beziehen, ob eine weitere finanzielle Förderung im Schulamt und der ‚Karriereweg‘ an die Pfarrkirchen unterstützt würden. Vestring pokerte gewissermaßen – und gewann, denn ganz offensichtlich wurde ihm die erhoffte Unterstützung zuteil. Die Entscheidung des Rates war richtungsweisend und sollte sich als überaus nachhaltig herausstellen. Sie gab dem Rektor aber nicht nur die Sicherheit, nach der Rückkehr sein Amt weiter ausüben zu können, sondern vielmehr eine grundlegende Anerkennung, mit der die weitere Arbeit an der Reform der Stadtschule erleichtert wurde. Allerdings legte im Jahr 1603 eine Pestepidemie das Leben in Reval völlig lahm und brachte offensichtlich auch das schon begonnene Reformwerk wieder zum Einsturz. Vestring übernahm wohl aus Mangel an Schülern und überhaupt an geeignetem Personal bereits 1603 nicht nur das Diakonat an St. Nikolai, sondern im folgenden Jahr auch noch das an St. Olai. Erst als er 1608 zum Pastor befördert wurde, scheint das Bedürfnis nach einem neuen Rektor für die Schule so groß gewesen zu sein, dass diese Stelle im folgenden Jahr endlich mit einem eigenständigen neuen Rektor besetzt werden konnte. Vestring hatte immerhin die bauliche Wiederherstellung der verfallenen Schule ab 1606 erreicht. Und dass der Rat dazu um Spenden bat, weil keine Gelder vorhanden oder eingeplant waren, lässt die prekäre Situation erahnen.57 Die zahlreichen Klagen des neuen Rektors und seiner Kollegen in den folgenden Jahren erscheinen auf den ersten Blick zwar als Belege einer Fortdauer des bedauernswerten Zustands der Revaler Schule, zeugen aber im Grunde genommen von einer beständigen Arbeit an der Verbesserung der Verhältnisse. Allerdings gab es im Jahr 1610 – nach dem Amtsantritt des neuen Rektors – eine umfassende Beschwerde vom Rektor und den vier Lehrern, die auch zeigt, dass der Rat nicht immer zuverlässig war.58 Neben der üblich schlechten und säumigen Bezahlung wurden offenbar auch konkrete Zusagen, wie zum Beispiel die Anschaffung einer hochdeutschen Bibel, 56 TLA 230-1-Bp6 2, Bl. 33r–34v: Supplikation Vestrings. 05.05.1601, hier Bl. 33v–34v. 57 Vgl. ebd., Bl. 38: Publikat des Rates. 16.03.1606. 58 Vgl. ebd., Bl. 50f.: Bittschrift der Stadtschule. 27.04.1610, publiziert bei Siebert, Zur Geschichte (wie Anm. 2), S. 323–325. Vgl. ebd., S. 325f. auch den darauf nach vier Monaten (!) erfolgten Ratsabschied vom 21.08.1610.

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nicht erfüllt. Die Geldprobleme und die daraus resultierenden untragbaren Zustände wurden abermals zwei Wochen darauf, am 10. Mai, in einer Bittschrift von sämtlichen Predigern und Lehrern, die jetzt stolze 21 Seiten umfasste, ausführlich dargelegt. Und wieder zeigte sich, dass der Rat in diesen Angelegenheiten viel zu langsam und zögerlich, nämlich erst mit Ratsabschied vom 21. August des Jahres, reagierte.59 Dass Heinrich Vestring aber dann als Pastor und Schulinspektor im Jahre 1619 sogar wieder – nebenamtlich und gegen zusätzliche Bezahlung – als Lehrer insgesamt acht Stunden in der Woche an der Stadtschule lehren sollte, war bisher nicht bekannt. In der schriftlichen Bestallung dazu, die Vestring offenbar erneut selbst einfordern musste, ist als Erklärung lediglich die Klage der Collegen benannt, dass „sie schwach sein, vnd der schweren Schŭll arbeit, allein nicht vorstehen können“.60 Die genauen Hintergründe dieses erneuten Engagements bedürfen noch weiterer Forschungen. Aber es dürfte sich wohl um eine punktuelle Maßnahme zur Stützung des Unterrichts handeln, die bald darauf wieder eingestellt wurde, da später keine Rede mehr davon ist. Fraglich ist auch, ob der Rektor zu dieser Zeit ausfiel, da er nicht wie üblich neben den Collegen explizit genannt wurde.

Kirche Vestring war also allmählich und schrittweise ins Kirchenamt hinübergewechselt. So war es kein Zufall, dass er 1608 zum Pastor an St. Olai berufen wurde, nachdem er intensiv an der neuen, 1606 fertiggestellten Kirchenordnung mitgearbeitet hatte. Zusammen mit den anderen sechs Predigern hatte Vestring die Christliche Ordnung der Revaler Kirchen unterzeichnet, die fortan das kirchliche Leben in der Stadt auf eine sichere Basis stellte.61 Sie regelte die drei Bereiche des Kirchenregimentes, wie sie in der Einleitung genannt sind: „Dreyerley gehören zur einem Christlichen Kirchen Regimente. 1). ist die reine Lehre. 2). richtige ordnunge in sachen die Kirche Gottes betreffende, 3). Christliche Ceremonien.“62 Es dürfte aufschlussreich sein, die er59 Vgl. TLA 230-1-Bo26, Bl. 49–60: Beschwerden der Kirchen- und Schuldiener über ihre Lage. 10.05.1610. Die Unterzeichnung lautet „Pastores, Kirchen vnd Schullehrer hieselbsten“. 60 TLA 230-1-Bp6 2, Bl. 69r–v: Publikat des Rates. 14.12.1619, hier Bl. 69r. Ebd. auf Bl. 70f. ein Konzept dieses Schreibens und auf Bl. 72r–v Vestrings eigenhändige Fassung, was mit ihm besprochen und vereinbart wurde. Rektor war von 1614 bis 1626 Johann Schultz (Prätorius), die Besetzung der weiteren Stellen ist unklar. Vgl. Klöker, Literarisches Leben (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 640. – Die „Collegen“ sind die neben dem Rektor (und dem Kantor) angestellten Lehrer. Da der heutige Begriff ‚Kollege‘ etwas ganz anderes bezeichnet, bleibe ich beim Quellenbegriff mit C. Vgl. auch das Zitat oben aus der Supplikation Vestrings von 1601 (wie Anm. 56). 61 Vgl. TLA 230-1-Aa115: Kirchenordnung 1606. Für Hinweise danke ich Lea Kõiv (Stadtarchiv Tallinn), die das Dokument jetzt, entgegen der bisherigen Praxis, auf 1606 datiert, da es im Februar des Jahres dem Rat vorgelegt und bis zum April durchgesehen wurde. 62 Ebd., Bl. 4r.

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wähnte Rostocker Abhandlung zum Kirchenregiment von Vestring (1614) mit der Revaler Ordnung zu vergleichen. Das ist bisher nicht geschehen, wie überhaupt diese Kirchenordnung von der Forschung weitgehend vernachlässigt wurde, ja noch nicht einmal publiziert ist.63 In der Kirchenordnung wie auch schon in der Schulordnung ist zu sehen, dass Erziehung und Bildung in erster Linie als die Formung zu einem gläubigen und verständigen Menschen verstanden werden, wie es in dieser Zeit allerorten üblich war.64 Alle Bildung fußt – ganz im Sinne Luthers – auf dem richtigen Glauben. Das Lehramt in Schule und Kirche wird als Einheit betrachtet; so ist die Rede von den ‚Kirchen- und Schullehrern‘, die im Ministerium organisiert sind. Die Selbstverständlichkeit dieser Verbindung zeigt sich auch in Vestrings oben zitiertem ­Schreiben an den Rat, bezeichnet er dort doch die Beförderung von der Schule zum Predigtamt als „gebräuchlich“.65 Ebenso war es üblich, dass Theologiestudenten schon während des Studiums und Theologieabsolventen noch ohne Predigtamt ihre Fähigkeiten zur öffentlichen Predigt auf der Kanzel unter Beweis stellten. Vestring selbst hatte dies bereits vor 1601 (also noch als Lehrer) getan, wie oben zu sehen ist. Genau wie schon in der Schulordnung werden die Lehrer an der Schule auch in der Kirchenordnung als „Schuldiener“ bezeichnet, für Näheres über ihr Amt wird auf die Schulordnung verwiesen.66 Der Abschnitt 20 in der Kirchenordnung „Von der Schulen“ beginnt mit einer Herleitung von Luther und dem Hinweis auf die örtliche Finanzierung: „Das Schŭlen alß Seminaria Ecclesiæ aŭfzŭrichten vnnd zŭerhaltten, bey Christen höchstnötig, hatt D. Lŭtherus Tom. 6. fol: 335 in einem sonderlichen tractat aŭßfŭhrlich erwiesen, In betrachtŭnge deßen, haben die lieben altten alhier aŭch eine Schŭle darinnen das Fundament der seligkheitt, wie aŭch der freyen Khünste vnnd sprachen khönnen geleget werden, aŭfgerichtet, vnnd dieselbe zŭerhaltten reichliche einkhŭnftte zŭm theill des Mŭncheklosters, zŭm theill herrlicher löbli63 Lea Kõiv (Tallinn) hat sich nun dieser Kirchenordnung angenommen. Lea Kõiv: Die „christliche Kirchenordnung der Stadt Reuall“. In: Forschungen zur baltischen Geschichte 15 (2020), S. 93–120. 64 Vgl. Hammerstein, Notker (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. Unter Mitwirkung von August Buch. München 1996. Zu den Grundlagen noch immer hilfreich Schmid, Karl Adolf: Geschichte der Erziehung vom Anfang an bis auf unsere Zeit. [ab Bd. 2:] Fortgeführt von Georg Schmid. 5 Bde. Stuttgart 1884–1902; Paulsen, Friedrich: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Berlin-Leipzig 1919. [3., erw. Aufl. 1960]; dazu Vormbaum, Reinhold (Hg.): Die evangelischen Schulordnungen des 16. Jahrhunderts. Gütersloh 1860; ders. (Hg.): Die evangelischen Schulordnungen des 17. Jahrhunderts. Gütersloh 1863. 65 TLA 230-1-Bp6 2, Bl. 33r–34v: Supplikation Vestrings. 05.05.1601, hier Bl. 34r. 66 TLA 230-1-Aa115, Bl. 13r–15r: Kirchenordnung 1606: „5. De Officio Cuiusque; in specie, […] [14r] Von den Schuldienern“.

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cher Verehrŭngen gestifftet, Alß H. Johan Hower löblicher gedechtnŭß soll einen Heŭptstŭel im Testamente vermachet haben, Von welchen Renten Vier præceptores mitt besoldŭng vnnd beqŭemer wohnŭng bey der Schŭlen zŭe haltten. S. Herr Berent Winckelman hats aŭch Christlich mit der [47r] Schŭlen vorgenommen. Soll nŭn bey vns eine Schŭle bleiben, So ist hochnötig […]“67

Dann folgt eine Auflistung von acht Punkten, in denen die Kernforderungen aufgestellt werden: 1. Das Amt der Schulvorsteher soll nicht nur nicht behindert, sondern mit Fleiß gefördert werden. – 2. Alle Winkelschulen sollen abgeschafft werden, weil durch diese der Jugend eine falsche Lehre und leichtfertiges Leben beigebracht werden könnten. Für die Einheit in Lehre und christlichem Wandel und besseren Kirchengesang soll es stattdessen nur eine einzige Schule geben für Knaben, die Latein oder Deutsch lernen. – 3. Es sollen keine Knaben zum Studium nach Deutschland entlassen werden, ohne dass dies vom Konsistorium und dem Rektor geprüft wurde. – 4. Die Form der Lehre (Methode) darf nur mit Einwilligung des Konsistoriums verändert werden. – 5. Halbjährlich sollen Examina gehalten werden. – 6. Die Schullehrer sollen sich in Frömmigkeit und Sittlichkeit gemäß der Schulordnung üben. – 7. Der Rat, das Ministerium und die ganze Gemeinde sollen die Schule und die Lehrer fleißig nach Vermögen fördern helfen. – 8. Für die Gemeinde wäre es „sehr erbaulich“, dass zum Schuldienst Studenten der Theologie herangezogen würden.68 Die Anstellung von Theologiestudenten zielte natürlich neben der Zuverlässigkeit in der christlichen (lutherischen) Lehre auch auf den Karriereweg zum Pastor, so dass die Stadt sich auf diese Weise gewissermaßen von unten den Nachwuchs für die Prediger sichern konnte. Dies war besonders in Krisenzeiten von großer Bedeutung, wie sich in Vestrings Biographie an der gleichzeitigen Tätigkeit als Schullehrer und Prediger deutlich ablesen lässt.69 Hier wird also die enge Verflechtung von Schule und Kirche sowohl von der Idee her als auch in der Praxis deutlich. Mit der Ernennung zum Inspektor der Schulen erhielt Heinrich Vestring im Oktober 1611 wieder eine zentrale Funktion für das Schulwesen. Für die Schulaufsicht war zuvor der Superintendent zuständig gewesen, doch seit dem Abschied von Sagittarius im Jahre 1602 gab es keinen Superintendenten mehr. Offensichtlich gab es zu dieser Zeit auch keine Bestrebungen, dieses Amt wieder zu besetzen, obwohl der Mangel im Schulwesen deutlich zutage trat. So wurde 1611 das Amt des Schulin67 Ebd., Bl. 46r–47r. 68 Ebd., Bl. 47r–47v. 69 Gierlich, Reval (wie Anm. 2), S. 329, stellt fest, dass es keine Berufungen von der Stadtschule an eine der Kirchen gab. Diese bei Vestring noch vollzogene Beförderung ist dann jedoch kaum noch möglich, weil das Gymnasium als nächste Stufe zwischengeschaltet wurde. So gelangte z. B. Heinrich Arninck vom Rektorat der Stadtschule zur Professur am Gymnasium, anschließend in dessen Rektorat und schließlich in das Pastorat an St. Nikolai. Vgl. Klöker, Literarisches Leben (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 295–300, 643–645.

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spektors geschaffen, das einem vom Rat zu bestimmenden Prediger zusätzlich angetragen werden sollte. Der Rat erwählte nun also Vestring und wies bei der Bestallung auf seine Erfahrung in der Schuladministration hin: „WJR Bŭrgermeistere vnd Radt der Stadt Reŭell Bekennen vnd Betzeŭgen Jn vnd Crafft dieses vnsers brieffes, Alß bißhero viel Clagens, in vnd aŭßerhalb Rhatts, so woll Jm Consistorio, wegen vnordnŭng der Schŭlen vorgefallen, vnd dan zŭ erhalttŭngh des heilligen Wordt Gottes, vnd gŭtten gedeilichen Regiments, eine wolbestaltte Schŭle insonders höchnöttigh; Haben wir nach reifflicher Deliberation, nebest vnsern Consistorialen dahin geschloßen, das gedachte vnsere Schŭle, mitt einer Jnspection, damit dieselbe desto baß angerichttet vnnd erhaltten wŭrde, mŭste vorsehen sein. Derowegen weiln wir vor diesem, des Ehrwŭrdigen wollgelartten Hern Magistri Henrici Vestringij, Pastoris der Kirchen S. Olaj, trew vnd fleiß, in administratione Scholastica, gnüchsam gespüret vnd erfahren, dŭrch wolgemelte Hern Consistoriales solche Jnspection, nebst einŭorleibter Ordnŭng, so wir nach verlehzŭngh confirmiret vnd bestetiget, S. Ehrw. antragen vnd beŭehlen laßen.“70

Der Schulinspektor bildete gewissermaßen eine Schaltstelle zwischen dem Konsistorium einerseits und der Schule mit Rektor und Kollegen andererseits. Zugleich kanalisierte er die Forderungen der Lehrer, die jetzt also über den Inspektor an das Konsistorium und von diesem an den Rat gelangen konnten. Er hatte den Zustand der Schule als Ganze zu beaufsichtigen und zu prüfen, sollte bei „Unfleiß“ und Fehlverhalten sowohl Schüler als auch Lehrer ermahnen. Wenn eine solche Ermahnung keinen Erfolg hatte, dann war das Konsistorium zu informieren. Wenigstens zweimal pro Woche war die Schule zu besuchen und außerdem darüber zu wachen, dass die Examina auch zur rechten Zeit stattfanden. Nach Abhaltung der Examina sollte er die Lehrer zusammenrufen und den Zustand der Schule und abzustellende Missstände besprechen. Besonderer Wert wurde auf die Einhaltung der sittlichen Ordnung gelegt. Die Collegen hatten sich gegenüber dem Rektor ehrerbietig, Schüler und deren Eltern gegenüber den Lehrern dankbar zu zeigen. Der Inspektor selbst musste sich ausschließlich gegenüber dem Rat und dem Konsistorium verantworten.71 Über die Amtsführung Vestrings ist bisher wenig bekannt. Die Konsistorialakten sind leider lückenhaft überliefert und noch kaum untersucht, dürften aber gewiss

70 TLA 230-1-Bp6 2, Bl. 63f.: Bestallung von Heinrich Vestring zum Schulinspektor. 17.10.1611, hier Bl. 63r. 71 Vgl. ebd. – Vestring hatte das Amt des Schulinspektors bis zur Ernennung zum Superintendenten (der sowieso die oberste Aufsicht über Kirchen und Schulen hatte) inne. Dann wurde es am 17.  August 1626 im Konsistorium an Pastor Johannes Knopius übertragen. Nach dessen Tod wurde 1632 der Rektor des 1631 gegründeten Gymnasiums, Heinrich Vulpius, zum Schulinspektor. Vestring besaß jedoch die Inspektion über das Gymnasium. 1637 wurde Diakon Ludwig Dunte zum Schulinspektor, nach dessen Tod dann ab 1641 der Diakon Nikolaus von Höveln. Vgl. TLA 1346-1-1, Bl. 50r: Konsistorialprotokolle und Gierlich, Reval (wie Anm. 2), S. 345f.

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weitere Aufschlüsse bieten.72 Gleiches gilt für die Protokolle des städtischen Ministeriums, die lediglich aus den Jahren bis 1616 vorhanden sind.73 Das Ansehen Vestrings, der ab 1614 auch Senior des Ministeriums war, stieg jedenfalls weiter an. 1626, also im Alter von 64 Jahren, übertrug der Rat ihm durch einstimmige Wahl das Amt des Superintendenten, das man aufgrund der noch gut im Gedächtnis verbliebenen Probleme mit Sagittarius nach dessen Abschied nicht wiederbesetzt hatte. Der Alleingang des Rates in der Wahl, ohne Beteiligung von Konsistorium oder Ministerium, sorgte allerdings für eine kurze Verstimmung unter den Geistlichen, besonders bei Johannes Knopius, der sich als Pastor an St. Nikolai wohl selbst gerne als Superintendent gesehen hätte.74 Die Entscheidung wurde im Konsistorium am 28. Juli 1626 durch Bürgermeister Johann Derenthal verkündet. Als Knopius einwarf, „[e]s hette sich dennoch gebüren wollen, das das Ministerium bei der wahll hette mitt sein mügen“, erklärte Derenthal, „so sej er nur nominiret“, und wenn jemand etwas zu sagen hätte, so solle er es jetzt tun. Da die übrigen Geistlichen sich jedoch mit der Wahl zufrieden zeigten, wurde Vestring sogleich gratuliert und Glück gewünscht. Daraufhin geleiteten ihn alle – außer Knopius – nach Hause.75 Es ist jedoch zu betonen, dass die im Juni 1626 ergriffene Initiative zur Wahl eines Superintendenten ihrem Ursprung nach nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, eine Ehrung für den verdienten Prediger Heinrich Vestring sein sollte.76 Bürgermeister Johann Derenthal hatte in seinem Plädoyer im Rat zunächst hervorgehoben, dass durch einen Superintendenten diverse aufgetretene „Gebrechen“ in der Revaler Kirche leicht zu beseitigen wären. Darüber hinaus ging es dem Rat jedoch vor allem darum, das städtische Episkopalrecht mit der Besetzung dieser zentralen Kirchenposition nach außen sichtbar zu präsentieren und zu behalten. Dies war dann im folgenden Jahr bei der Visitation durch den schwedischen Bischof Johannes Rudbeckius von Bedeutung, dessen Eingriff in städtische Angelegenheiten abgewendet werden konnte. Doch obwohl Vestring ja eigentlich das direkte Gegenüber von Rudbeckius war, tritt er selbst bei diesem Streit in den überlieferten Quellen kaum in Erscheinung. Vielmehr war es immer wieder der Rat, der auf die Einhaltung seiner Privilegien pochte und nach außen die Interessen der Kirche vertrat.

72 Für die Amtszeit Vestrings kommen folgende Konsistorialakten in Betracht, die zum Teil noch vermischt sind mit Aufzeichnungen des Ministeriums: TLA 230-1-Bo35 (1557–1798), -Bo36 I (1607–1630), -Bo36 II (1645–1667), -Bo37 I (1642–1698) sowie TLA 1346-1-1 (1569, 1626, 1635–1639, 1650–1651, 1760–1761). 73 Vgl. TLA 236-1-122: Protokollbuch des Stadtministeriums 1549–1616. Der nächste erhaltene Band beginnt erst im Jahre 1658: TLA 236-1-123: Protocollum Ministerii Revaliensis ab Anno 1658 (1658–1767). 74 Vgl. Hansen, Sagittarius (wie Anm. 37), S. 263. 75 TLA 1346-1-1: Konsistorialprotokolle, Bl. 49v. 76 Vgl. Gierlich, Reval (wie Anm. 2), S. 325f.

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Das ist kein Zufall, denn der Rat hatte die Funktion des Superintendenten zu eigenen Gunsten und zu denen des Konsistoriums – das je zur Hälfte aus Bürgermeistern oder Ratsherrn und Geistlichen bestand – deutlich beschnitten. So war bei der Visitation von Rudbeckius das Konsistorium für zuständig erklärt worden, das nicht vom Superintendenten, sondern von weltlicher Seite (dem Director politicus oder dem präsidierenden Bürgermeister) einberufen werden konnte.77 Eine Bestallung des neuen Superintendenten ist bisher nicht aufgefunden worden. Allerdings enthält die Kirchenordnung (ca. 1606), in der das Amt des Superintendenten – direkt nach der Erfahrung mit Sagittarius – ursprünglich nicht genannt wurde, entsprechende Teile. Denn in der Handschrift wurde an einigen Stellen die Bezeichnung „Senior“ durch „Superintendent“ ersetzt. Was vorher der Senior war, sollte nun also der Superintendent sein. Damit ist zugleich die Schwäche des Amtes unübersehbar. Vestring war auf diese Weise als Superintendent kaum in der Lage, sich als Anführer der Geistlichen oder des Stadtministeriums zu profilieren. Dass die Wahl – wohlgemerkt nur von den Ratsherren – einstimmig auf ihn fiel, dürfte auch so zu verstehen sein, dass man bei ihm nicht befürchten musste, in ähnliche Auseinandersetzungen wie bei Sagittarius zu geraten und er womöglich ein zu starker Vertreter der geistlichen Interessen werden könnte. In der Tat waren es dann auch immer wieder andere Prediger, die aufgrund von zu heftigen Reden und Schmähungen von der Kanzel gegen den Rat auffielen.78

Vermächtnis und Memoria Die gesamte erste Hälfte des 17. Jahrhunderts war Heinrich Vestring im Revaler Gemeinwesen ein Vermittler. Dieser Eindruck bestimmt seine Amtszeit: eine nach Innen gerichtete, reformerische und gestalterische Arbeit des beständigen Aufbauens und Ordnens, auf Kontinuität und Ausgleich bedacht. In vielen Ereignissen aus dieser Zeit ist er zwar als Beteiligter oder als Akteur sichtbar, aber nur selten im Vordergrund. Vestring war ganz offensichtlich ein ausgleichender Charakter, der innerhalb der Stadt bis ins hohe Alter Zusammenhalt, Frieden und Eintracht unter den Geistlichen und Lehrern sowie in der gesamten Gemeinde förderte. Bei der Durchsicht der Ratsprotokolle sind immer wieder Erwähnungen zu finden, dass Einigungen oder Schlichtungen von Auseinandersetzungen im Hause des Superintendenten zustande gekommen sind.79 77 Vgl. Gierlich, Reval (wie Anm. 2), S. 325f. 78 Zu nennen sind etwa Ludwig Dunte und Andreas Sandhagen. Vgl. Klöker, Literarisches Leben (wie Anm. 2), Bd. 1, S.149–215. 79 Etwa im März 1644 die Einigung im Streit zwischen den Professoren des Gymnasiums und dem Prediger Christoph Michael. Vgl. TLA 230-1-Bp8 II, Bl. 15r–v; Gierlich, Reval (wie Anm. 2), S. 368.

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Es gab keine lauten Auftritte, keine großen wichtigen Schriftstücke, in denen er seine Meinungen kundtat. An der örtlichen Gelegenheitsdichtung ist er fast gar nicht beteiligt, obwohl er doch zu Studienzeiten die üblichen Verse lieferte. Abgesehen von den genannten Ordnungen und der Rostocker Abhandlung sind für die Revaler Zeit lediglich eine Leichenpredigt auf den Bürgermeister Johann Derenthal (1631),80 ein Vorwort zur Neuherausgabe eines Buches vom verstorbenen Revaler Prediger Ludwig Dunte (1643)81 und ein Katechismus mit Visitationsbericht (1648) zu nennen.82 Das Bild, das hier in den Vorreden von ihm zu bekommen ist, wird selbstverständlich gemäß der Gattung von humanistischer Bescheidenheit geprägt, zeigt aber selbst darin – durchaus mit persönlichem Bezug – ein sehr vorsichtiges Auftreten verbunden mit dem Willen, als Greis etwas Nützliches in seinem Amt zum Wohle des Gemeinwesens zu verrichten. Die Widmungsvorrede von 1648 an die Bürgermeister, Syndizi und Ratsherren Revals ist zwei Jahre vor seinem Tod wie ein Vermächtnis. Mit seinem Werk möchte er seine ungeteilte Sorge um das Revaler Schul- und Kirchenwesen sowie – letztmalig – seine Tatkraft als hochbetagter Greis unter Beweis stellen, obwohl er doch die zuvor erbrachten Dienste weit höher schätzt. Größte Dankbarkeit drückt er für die Anerkennung seitens der Stadt aus, in seinem Alter trotz Emeritierung noch sein volles Gehalt zu bekommen und im „Ehren-Stande“ des Superintendenten verbleiben zu dürfen. „Daß ich aber diß Werck Ew. Hochw. dediciren vnd so hoch commendiren wollen/ ist diese Vrsach/ weilen ich gerne sehe/ daß diß von mir angefangenes/ auch künfftig 80 Eine Christliche Leich=Predigt Bey dem Begräbnüß des […] Herrn Johan Derenthal/ Gewesenen Bürgmeistern vnd Syndici der löblichen Statt Revall in Lieffland. [...] gehalten/ Durch M. Henricum Vestringium der Kirchen zu S. Olai Pastorn vnd Superintendenten daselbst. Riga: Schröder 1631. (bisher nicht im VD17 nachgewiesen). 81 Vorrede von Vestring, unterz. Reval, 06.06.1643. In: Decisiones Mille & sex Casuum Conscientiæ […] Das ist Kurtze vnd richtige Erörterung ein tausend vnd sechs Gewissens=Fragen/ […] verfasset Durch M. Ludovicum Dunte Diener Göttliches Worts in Revall. Lübeck: Janovius 1643 (VD17 1:075052Z). 82 Güldenes Kleinod/ Das ist: Doct. Martini Lutheri Catechismus in kurtze Frage vnd Antwort gefasset/ vnd der Jugend einfältig außgelegt Durch M. Johannem Tetelbach/ Pfarrherrn vnd Superintendenten zu Burcklengenfeld/ Mit einer herrlichen Vorrede D. Tilemanni Heßhusij außgegangen zu Magdeburg An. 1591. Vnd numehr zum Catechismus=Examen, vnd der gewöhnlichen Visitation in Reval verordnet/ vnd nebenst kurtzem Bericht/ wie es mit beyden könne nützlich gehalten vnd angestellet werden/ zum Druck verfertiget Durch M. Henricum Vestringium, Pastoren vnd Superintendenten daselbsten. Zum andern mahl gedruckt […]. Reval: Westphal, Weiss 1649. – Das bislang einzige Exemplar konnte ich in den 1990er Jahren als Makulatur in den Einbanddeckeln eines Folio-Bandes in der Akademischen Bibliothek der Universität Tallinn entdecken. Es ist leider unvollständig. Vgl. Klöker, Literarisches Leben (Anm 1), Bd. 2, Nr. 414. Dazu auch Allikas Ellen; Reimo, Tiiu: Kaantesse peidetud raamat. Senitundmatu Tallinna katekismus 1649. aastast [Summary: A hidden book: a hitherto unknown Tallinn catechism from 1649]. In: Eesti Akadeemiline raamatukogu aastaraamat 1999. Tallinn 2000, S. 136–151.

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Martin Klöker ein beständig Werck sey/ vnd ein Erb. Raht Anlaß haben möchten/ hierüber ernstlichen vnd fleissig zu halten. Zu dem habe ich dieses angesehen/ daß auch fürnehmlich Ew. Hochw. für wenig Jahren mich wegen meines hohen Alters/ als einen emeritum rude doniret, vnd der offentlichen Predigten erlassen/ vnd gleichwol bey meinem gewöhnlichen Salario vnd Ehren=Stande erhalten/ welches allhie zu Reval vorhin keinem Prediger wiederfahren. Habe demnach hiedurch zu verstehen geben wollen/ daß ich gleichwol meines Amptes nicht gar vergessen/ vnd daß derselben Einbildung weit fehle/ die mir zumessen/ ob solte ich nunmehr als ein Mann von 80. vnd mehr Jahren nicht tüchtig seyn/ etwas nützliches in meinem Ampte würcklich zu verrichten. Wiewol ich dieses wenige mir anjtzo zu keinem sonderlichen Ruhm ziehe/ besondern mich auff [die v]orige/ in dieser guten Stadt zur L[ehre] Gottes angewandte Dienste bezie[hen] vnd bekennen muß/, daß meine best[?]d letzte Arbeit nunmehr seye/ die [Sa]che Gottes vnd dero Wolfahrt dem [H]aupte derselben Christo JEsu in e[ine]m embsigen Gebehte vorzutragen/ [wie] ich dann solches täglich vnd stünd[lich] thue/ vnd nebst dem auch einen E[hrba]hren Raht vnd diese gute Stadt/ d[ie] Consilia, Actiones vnd gesamptes zei[tig]hes vnd ewiges Wolergehen/ eben [de]mselben vnserm allergetrewesten [Erlös]er/ embsig vnd stetig befehle.“83

Wie einem – leider undatierten – Schreiben von der Hand des Diakons Andreas Sandhagen zu entnehmen ist, das sich in identischer Form als Vorrede in Vestrings Buch befindet, hat das Konsistorium für die Gemeindekatechese „auß Christlichen Eyffer vndt anmahnung vnßers Alten H. Superintendenten zu dießem Werck deß M. Johannis Tetelbachs güldenes Kleinod, in welchem der Catechismus Lutherj in fragen vnd antworten kurtzlich vndt deutlich erklaret wirt, erwehlet“.84

Das Buch wurde für die gesamte Bevölkerung empfohlen und diente als Grundlage für die regelmäßig stattfindenden Katechismus-Predigten. Diese Form der Anerkennung des Kirchen- und Schullehrers konnte Vestring jedoch nur noch kurze Zeit erleben, da er bald darauf starb. So bleibt am Ende doch ein gehöriges Stück Verwunderung, dass bisher keine Leichenpredigt und nicht einmal Trauergedichte auf seinen Tod 1650 bekannt sind. Überhaupt war bei intensiven Recherchen in den zeitgenössischen Revaler Quellen keine dem Amt entsprechende Würdigung zu finden. Dass es keine gegeben hat, dürfte angesichts der hier präsentierten Lebensleistung und erkennbaren Anerkennung bei den Zeitgenossen kaum angenommen werden. Außerdem war sein Schwiegersohn Ericus von Beeck der rangnächste Prediger, sein Sohn Johannes Vestring zu dieser Zeit Vizesyndikus in der Stadt. Sollten diese keine Leichenpredigt, sollten die anderen Prediger und die Professoren vom Gymnasium und die 83 Vestring, Tetelbachs Güldenes Kleinod (wie Anm. 80), Bl. )(4v–)(5r. Im letzten Teil leider Fehlstellen im Papier, die ich textlich zu ergänzen versucht habe. 84 TLA 230-1-Bo35: Konsistorialakten, Bl. 87r. Ich danke Lea Kõiv (Tallinn) für diesen Hinweis.

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Schullehrer und die Schüler keine Trauergedichte auf Heinrich Vestring verfasst und zu seinen Ehren im Druck vorgelegt und verbreitet haben? Kann es sein, dass solche zwar existierten, aber heute nicht einmal mehr ein Hinweis auf ihre einstige Existenz zu finden ist? Diese Situation verlangt nach Erklärung und also weiterer Forschung. Aber das Fehlen dieser zeitgenössischen memorialen Zeugnisse und die Schwierigkeit, einen solchen, trotz höchster Ämter eher im Hintergrund tätigen Menschen aus den Quellen heraus kennenzulernen, haben zweifellos zum weitgehenden Vergessen Vestrings geführt. Sein erfolgreiches Wirken und seine Bedeutung als Akteur für das Bildungswesen in Reval und Estland verdienen jedoch näheres Hinsehen.

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Garlieb Merkels Rousseau Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) war einer der bedeutendsten, wirkungsreichsten und provozierendsten Autoren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und weit darüber hinaus. Er wurde bewundert und gehasst; zu den Bewunderern gehörten Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer; heftig abgelehnt wurde er beispielsweise von Voltaire und Friedrich Nietzsche. Vor allem seine Kulturkritik, seine Konzeption des ursprünglichen Menschen, sein Erziehungsmodell (Émile) und sein Entwurf des idealen Staates (Du contrat social) wurden leidenschaftlich und kontrovers diskutiert. Auch seine Autobiographie (Les confessions) erregte die Gemüter und gibt heute noch Anlass zu Spekulationen über seinen Geisteszustand. Bei all dem ging dem Urteil über Leben und Werk des Autors nicht immer eine sachliche, werkgerechte Beschäftigung mit seinen Schriften voraus. Zeitbedingte Beurteilungskriterien und oberflächliche Lektüre spielten eine große Rolle. „Jede Zeit erschafft sich ihren eigenen Rousseau“, stellt der amerikanische Historiker Robert Darnton fest. „Wir hatten den Rousseau der Anhänger Robespierres, den romantischen, den progressiven, den totalitären und den neurotischen Rousseau“.1 Auch Garlieb Merkel (1769–1850), ein bekennender Verehrer Rousseaus, war ein eigenwilliger Leser seiner Schriften. Rousseaus Autorität spielte für ihn eine wichtige Rolle bei seinem publizistischen Kampf gegen die Leibeigenschaft. Dabei ist die Argumentation, in der er sich auf Schriften Jean-Jacques Rousseaus beruft, um diesen bei dem notwendigen und schließlich erfolgreichen Kampf als Mitstreiter ins Feld führen zu können, keineswegs immer stichhaltig.2 Dies fällt besonders auf, wenn er den Contrat social, den er ja selbst übersetzt hat, in seinem Versuch über Leibeigenschaft bei seiner Argumentation heranzieht. Und in Merkels Schrift Die Vorzeit Lieflands, in der der vorkoloniale Naturzustand der Letten beschrieben wird und sich ein Vergleich mit Rousseaus Konzeption des Menschen aus der Abhandlung über die Ungleichheit von 1755 anbietet, wird man keine Gemeinsamkeiten, sondern erhebliche Unterschiede feststellen. Während Rousseau in der Abhandlung über die 1 Darnton, Robert: Rousseau in Gesellschaft. Anthropologie und der Verlust der Unschuld. In: Cassirer, Ernst; Starobinski, Jean; Darnton, Robert: Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen. Frankfurt/M. 1989, S. 104–114, hier S. 104. 2 Zu Merkels Kampf gegen die Leibeigenschaft vgl. Taterka, Thomas: Humanität, Abolition, Nation. Baltische Varianten des kolonialkritischen Diskurses der europäischen Aufklärung um 1800. In: Mix, York-Gothart; Ahrend, Hinrich (Hg.): Raynal – Herder – Merkel. Transformationen der Antikolonialismusdebatte in der europäischen Aufklärung. Heidelberg 2017, S. 212–238.

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Ungleichheit und im Émile von einer ursprünglich friedfertigen menschlichen Natur ausgeht, entwirft Merkel das Schreckensbild einer nicht domestizierten Menschennatur, die sich als Brutalität und in Ausbrüchen böser Leidenschaften äußern kann. In Merkels Schriften zur Leibeigenschaft und zur Vorzeit Livlands findet sich eine Auffassung vom Wesen des Menschen, die weit eher an Thomas Hobbes als an JeanJacques Rousseau erinnert.

Merkels Rousseau-Erzählungen In seiner Lebensbeschreibung Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben erinnert sich Garlieb Merkel an seine Jugendzeit und einen „Bedrücker“ der Bauernschaft auf einem benachbarten Gut: „Im Kirchspiele des Pastors E. hörte man Nichts von ungewöhnlichen Mishandlungen und Bedrückungen, aber meine Ansichten und Begriffe waren jezt so aufgehellt, vorzüglich durch Rousseau und Raynal, daß auch die gewöhnliche, auf Gesetze aus barbarischen Zeitaltern begründete [Bedrückung], mich empörte.“3

Schon der junge Garlieb Merkel hatte die Aufklärungsschriftsteller gelesen, die in der Bibliothek seines Vaters vorhanden waren. Seine Ansichten und Begriffe wurden gewissermaßen durch das Licht der Aufklärung „aufgehellt“. Vor allem ­Guillaume-Thomas Raynals Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes, die erstmals 1770 erschienen war, hatte ihn beeindruckt und ihm Argumente für seinen Kampf gegen die Leibeigenschaft in Livland geliefert.4 Auch Rousseaus Einfluss auf Merkels Denken und ­Schreiben ist offensichtlich. Zwei der im Jahr 1800 im ersten Bändchen von Garlieb Merkel erschienenen Erzählungen verweisen schon im Titel auf Jean-Jacques Rousseau: Rousseau’s Reise nach Paraclet und Rousseau, der Rächer der Unschuld. Hier zeigt sich Merkel als Verehrer des großen, aber auch umstrittenen Autors. Die beiden Erzählungen handeln von großmütigen Handlungen Rousseaus, von denen Merkel aus ungedruckten Papieren im Besitz einer Freundin Rousseaus erfahren haben will und die in der letzten Lebensphase des Verfassers der Nouvelle Héloïse geschehen sein sollen. In einer ausführlichen Anzeige der Erzählungen im neunundzwanzigsten Stück der Belletristi-

3 Merkel, Garlieb: Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben. Bd. 1: Aus Liefland. Leipzig 1839, S. 215f. 4 Vgl. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Guillaume-Thomas Raynal und Garlieb Merkel – Reflexionen und Ansätze zu einer transkulturellen Verflechtungsgeschichte. In: Mix, York-Gothart; Ahrend, Hinrich (Hg.): Raynal – Herder – Merkel. Transformationen der Antikolonialismusdebatte in der europäischen Aufklärung. Heidelberg 2017, S. 143–158.

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schen Zeitung von 1800 wird ihr Autor als ein „angenehmer, lebhafter Schriftsteller und Erzähler“ gewürdigt und der Geist der Empfindsamkeit, den Merkel dort zum Ausdruck bringe, hervorgehoben. So heißt es etwa: „Die erste rührende Erzählung schildert eine empfindsame Reise Rousseau’s nach Paraclet zu Heloisens Grab“.5 Im Kloster Paraclet bei Troyes waren Peter Abaelard und Heloisa begraben worden, auf deren Liebes- und Leidensgeschichte Rousseaus berühmter Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloïse anspielt. Auf dieser Reise im Postwagen, die Rousseau mit einem jungen Maler unternimmt, erzählt eine junge Frau den beiden Mitreisenden ihre Leidensgeschichte. Sie wurde betrogen, vergewaltigt, geschwängert und mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt, schließlich aus einem Kloster verstoßen und ist nun auf dem Weg zu ihrer harten Schwester, der sie als Magd dienen soll. Rousseau, durch die Erzählung tief erschüttert, empfiehlt die Unglückliche einer edlen Freundin, die sie mit offenen Armen aufnimmt und somit vor dem Verderben rettet.6 In der zweiten Erzählung zieht Rousseau einen Wollüstling zur Rechenschaft, der in Ostindien eine junge Frau und ihren Ehemann ins Unglück gestürzt hat.7 Manche Züge der Erzählung erinnern an Lessings Emilia Galotti, so, wenn die Heldin sich durch Selbstmord dem Begehren des General-Gouverneurs entzieht, der mit der Erschießung ihres Mannes droht. In unserem Zusammenhang geht es nicht um die literarische Qualität der Erzählungen, sondern um Merkels unbedingte Verehrung Rousseaus, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Seiner Erzählung von Rousseaus Reise nach Paraclet stellt er eine leidenschaftliche Verteidigungsrede voran, die dem auch heute noch geläufigen abwertenden Urteil begegnet, zumindest der späte Rousseau sei ein Paranoiker gewesen und wegen seiner Verfolgungsvorstellungen als Person und Autor nicht ernst zu nehmen. Merkel schreibt: „Man hat Rousseau unzähligemal verächtlich bemitleidet und getadelt, daß er die wirklichen und vermeinten Angriffe seiner Feinde so tief empfand, und jeden Tropfen Galle, den sie ihm bereiteten, mit so kläglicher Emsigkeit in den Kelch seines Lebens sammelte. Aber war diese Reizbarkeit nicht Grundlage seines bewundernswürdigen Talents, die innersten Gefühle des menschlichen Herzens mit so erschütternder Wahrheit nachzutönen, und die erhabenen Säze, die seinen Geist unablässig beschäftigten, mit so furchtbarer Energie zu verkündigen? Hätte er die Heloise ­schreiben, hätte er durch seinen Emil und seinen Urvertrag den Charakter des jezigen Zeitalters so entscheidend bestimmen können, wenn er fähig gewesen wäre, ganz unempfindlich zu bleiben bei den beschimpfenden Angriffen Voltairens und Diderots? oder auch nur jener kleinen Elenden, die jedes aufglänzende Talent umflattern wie Motten und Fledermäuse das Licht? die ‚ihres Nichts durchbohrendes Gefühl‘

5 Belletristische Zeitung auf das Jahr 1800 (Gotha). 29. Stück. 19.07.1800, S. 225. 6 Merkel, Garlieb: Erzählungen. Berlin 1800, S. 7–41. 7 Ebd., S. 42–72.

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Ulrich Kronauer wenigstens durch das schmähende Geheul übertäuben wollen, mit dem sie überall das wahre Verdienst verfolgen? Immerhin nenne man das Huldigung; immerhin sage man: die Nachtigall singt lauter zum Monde empor, die Wölfe heulen, und beides ist Anerkennung seiner Stralen. – Kalte Vernünftler, die ihr so sprecht, stolz auf die zähe Stumpfheit euer Nerven! Wenn ihr sagt: ‚wir hätten uns gleichmüthiger, philosophischer benommen, als er‘ – sagt ihr nicht zugleich: wir haben nicht sein Genie?“8

Merkel huldigt dem Genie Rousseaus, der es wie kein anderer verstanden habe, die Sprache der Empfindungen zu sprechen und an die Herzen seiner Leser zu rühren, aber auch seinen epochalen Ideen mit furchtbarer Energie Nachdruck zu verleihen. Diese Gabe sei nicht zuletzt in einer außergewöhnlichen Sensibilität begründet, die sich angesichts von Verfolgung, Diffamierung und Zudringlichkeiten als „Reizbarkeit“ geäußert habe. Merkel beginnt seine Erzählung mit der Schilderung einer Situation, die die Empfindlichkeit oder auch Hypochondrie seines Idols nachvollziehbar macht: „Einst kehrte er ernst und trübe von einem Spaziergange in den Tuilerien zurük. Er war Colportören begegnet, die eben ein neues Pasquil gegen ihn ausriefen. Eine Menge Vorübergehender hatten ihn mit einer beleidigenden Neugier angestaunt; einige waren ihm sogar mit heimlichem Flistern gefolgt: wenigstens überredete ihn seine Hypochondrie davon, und legte die schlimmste Deutung hinein. Voll bittern Schmerzes über die unermüdet sinnreiche Bosheit seiner Feinde, floh er nach Hause.“9

Dass diese Szene nicht, oder doch nicht völlig, Merkels Phantasie entsprungen ist, kann man der von Melchior Grimm begründeten Correspondance littéraire, philosophique et critique entnehmen, einer von 1753 bis 1790 in Paris erscheinenden handschriftlichen Publikation, die von einem ausgewählten aristokratischen Leserkreis in Gesamteuropa abonniert wurde. Dort wird unter dem Datum des 15. Juli 1770 beschrieben, wie Rousseaus Erscheinen in Paris nach langer Flucht ungeheures Aufsehen erregt hatte: „Die Rückkehr des merkwürdigen Mannes […] war einige Tage lang Gesprächsthema in Paris. Er hat sich mehrere Male im Café de la Régence auf der Place du PalaisRoyal sehen lassen; seine Gegenwart hat eine ungeheure Menschenmenge dorthin gelockt, und der Pöbel hat sich auf dem Platz zusammengerottet, um ihn vorübergehen zu sehen. Man fragte einzelne aus dem Pöbel, was sie da wollten; sie antworteten, sie wollten Jean-Jacques sehen. Man fragte sie, wer denn Jean-Jacques sei; sie antworteten, das wüßten sie nicht, er käme aber da vorbei.“10

18 Ebd., S. 7f. 19 Ebd., S. 8. 10 Grimm, Melchior: Paris zündet die Lichter an. Literarische Korrespondenz. München 1977, S. 312.

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Rousseaus Du contrat social und Merkels Versuch über Leibeigenschaft 1797 erscheint Garlieb Merkels Schrift Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen über den Urvertrag nebst einem Versuch über Leibeigenschaft den Liefländischen Erbherren gewidmet. Merkel will mit den Übersetzungen und seinem Versuch über Leibeigenschaft die livländischen Gutsherren zum Umdenken und zur Umkehr bringen. Die Schriften sollen gewissermaßen als Orientierung für die notwendigen Reformen in Livland dienen. In der Widmung spricht er die „hochwohlgebohrnen Herren“ direkt an, nimmt sich die Freiheit, ihnen die drei Schriften „zu dediciren“ und führt aus: „Rousseaus männliche Beredsamkeit möge Feuerfunken in den Busen eines jeden von Ihnen schütten, der es bedarf, und erfüllt von der Idee des vollkommensten Staates, wende er dann den Blick auf das Gemälde der unseligsten Verkrüppelung, deren die menschliche Gesellschaft fähig ist. In seiner ganzen Furchtbarkeit ergreife ihn der Gedanke, daß sein eignes Vaterland durch seinen eigenen Stand diese Verkrüppelung erlitt.“11

Die Formulierung Rousseaus „männliche Beredsamkeit“ findet man auch beim jungen Gotthold Ephraim Lessing, der 1751 anlässlich seiner Rezension von ­Rousseaus erster Preisschrift, der Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste von 1750, hervorgehoben hatte, Rousseau habe „so erhabene Gesinnungen mit einer so ­männlichen Beredsamkeit zu verbinden gewusst, daß seine Rede ein Meisterstück sein würde, wenn sie auch von keiner Akademie dafür wäre erkannt worden“.12 Für Merkel hat die Beredsamkeit Rousseaus Vorbildcharakter, wie man aus seiner Lebensbeschreibung schließen kann. Dort berichtet er über die Arbeit an seinem Hauptwerk Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts: „Ich wollte Überzeugung erzwingen und sie durch Aufregung des Gefühls zur Thätigkeit hinreißen, und so wirken, Großes wirken“.13 Zu den erhabenen Sätzen Rousseaus gehört nach Merkels Auffassung sicher auch die „Idee des vollkommensten Staates“, die den Erbherren die Augen öffnen soll. Sie ist enthalten in Rousseaus Schrift Du contrat social, also vom Gesellschaftsvertrag, den Merkel als „Urvertrag“ übersetzt. David Humes Essay Of the Original Contract, bei dem Merkel „original contract“ ebenfalls als „Urvertrag“ übersetzt, spielt bei seinem Projekt, bei den Erbherren „Überzeugungen zu erzwingen“, nur eine unter11 Merkel, Garlieb: Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen über den Urvertrag nebst einem Versuch über Leibeigenschaft den Liefländischen Erbherren gewidmet. 2 Teile. Leipzig 1797, unpag. [S.  VIIIf.]. Ein Digitalisat wird von der Universität Tartu bereitgestellt unter URL: http://hdl. handle.net/10062/2906 (10.06.2020). 12 Lessing, Gotthold Ephraim: Das Neueste aus dem Reiche des Witzes als eine Beilage zu den Berlinischen Staats- und Gelehrten Zeitungen. Monat April 1751. In: Ders.: Werke. Hg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 3: Frühe kritische Schriften. München 1972, S. 84–92, hier S. 85. 13 Merkel, Darstellungen (wie Anm. 3), S. 219.

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geordnete Rolle, schon deshalb, weil Hume den Kontraktualismus und damit die Fiktion eines Urvertrags sehr kritisch behandelt.14 Merkel will dem Leser zwar die Gelegenheit bieten, die „Vorstellung derselben Sache von zween solchen Männern vergleichen zu können“, beurteilt Humes Schrift aber eher negativ.15 So kann er sich nicht erklären, wie der Engländer zu mancher seiner Behauptungen gekommen war, und spielt dabei auf das Zerwürfnis zwischen Hume und Rousseau an. Hume war „einst Rousseau’s Freund, zerfiel aber bald mit ihm: zur Ehre der Philosophie müssen wir annehmen, dass dieser Umstand nichts erklärt“.16 Im Unterschied zu Humes Essay handelt Rousseaus Schrift von der Notwendigkeit einer première convention, einer ersten Übereinkunft, um eine gute gesellschaftliche Ordnung zu erreichen. Das fünfte Kapitel des ersten Buches des Contrat social ist überschrieben: „Qu’il faut toujours remonter à une première convention“ [„Dass man immer auf eine erste Übereinkunft zurückgehen muss“].17 Merkel übersetzt: „Immer muß man zu einem Urvertrage hinaufgehen“. Das französische Verb ‚remonter‘ kann man sowohl mit ‚hinaufgehen‘ als auch mit ‚zurückgehen‘ übersetzen. Es fällt auf, dass Merkel nicht die näherliegende Übersetzung ‚zurückgehen‘ wählt. Vielleicht wollte er die Bedeutung dieser Übereinkunft, die bei ihm zu einem „Urvertrag“ wird, hervorheben. Das Rousseau’sche Argument, das sich gegen die Sklaverei richtet, ist für Merkel auch ein Argument gegen die Leibeigenschaft. Er übersetzt: „Immer bleibt ein großer Unterschied zwischen der Unterjochung einer Menge und der Regierung einer Gesellschaft. Gerathen zerstreuete Menschen nach einander unter die Herrschaft eines einzigen, so sehe ich dabey, sie mögen noch so zahlreich seyn, doch nur einen Herrn und seine Sklaven, nicht ein Volk und sein Oberhaupt. Es ist, wenn man will, eine Versammlung, nicht eine Verbindung. Sie haben weder ein Gemeinwohl, noch bilden sie einen Staatskörper.“18

Merkel geht es darum, den Erbherren mit Rousseau zu verdeutlichen, dass ihre Beziehung zu den Leibeigenen nur auf Gewalt und nicht auf Recht beruht, dass es sich nicht um eine Vereinigung, einen Zusammenschluss (association) handelt, an dem beide Parteien aktiv beteiligt wären. Es ist schwer nachzuvollziehen, wie sich Merkel die Wirkung von Rousseaus Contrat social, den er ein „Meisterwerk“ nennt, „das selbst die Politik an Menschenwürde glauben lehrte“,19 auf die livländischen Grundherren vorgestellt hat. Im ersten Band 14 Vgl. Bermbach, Udo: Einleitung. In: Hume, David: Politische und ökonomische Essays. Hg. v. Udo Bermbach. Teilbd. 1. Hamburg 1988, S. VII–XLVI, hier S. XXIII. 15 Merkel, Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen. Teil 1 (wie Anm. 11), S. XIII. 16 Ebd. 17 Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social ou principes du droit politique / Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Hg. v. Hans Brockard. Stuttgart 2010, S. 28 (dt. Übersetzung: S. 29). 18 Merkel, Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen. Teil 1 (wie Anm. 11), S. 96. 19 Ebd., S. XII.

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der Schrift Die Vorzeit Lieflands von 1798 schreibt Merkel, „[d]urch Verbreitung vernünftiger Grundsätze über die Erziehung“ habe Rousseau „vielleicht mehr zur französischen Freiheit“ beigetragen, „als durch seinen Contrât social. Durch diesen weckte er nur die Erinnerung an Volksrechte; durch jene aber veranlaßte er die Bildung von Männern, die Kraft genug besaßen, sie geltend zu machen“.20 Genügt die Erinnerung an Volksrechte, auch wenn sie mit Rousseaus männlicher Beredsamkeit geschieht, um die Erbherren zu beeindrucken und zum Umdenken zu bewegen? Rousseau hat in seinem Contrat social nicht nur an Volksrechte erinnert, sondern er hat das Problem der Freiheit in einer Gesellschaft, die durch Gerechtigkeit und Gleichheit bestimmt ist, so zugespitzt, dass seine Position auch heute noch kontrovers diskutiert wird. Zentral ist der Gedanke, dass der Übergang zum guten staatlichen Zustand eine vollständige Veränderung des Wesens der Menschen, ihrer Natur, bedeutet. In dem entsprechenden Passus im siebten Kapitel des zweiten Buchs, „Du législateur“, heißt es in der Übersetzung Merkels: „Wer die Stiftung eines Volks zu unternehmen wagt, muß sich im Stande fühlen, die ganze menschliche Natur gleichsam zu verwandeln; – jedes Individuum, das für sich ein vollendetes und einzelnbestehendes Ganze ist, in einen Theil eines größern Ganzen um zu gestalten, von dem dieß Individuum gleichsam Leben und Daseyn empfängt; – das Vermögen des Menschen zu ändern, und es zu erhöhen; – der physischen und unabhängigen Existenz, die wir alle von der Natur empfiengen, eine partiale und moralische unterzuschieben.“21

In der auf die Übersetzung des Contrat social folgenden Abhandlung Merkels, Versuch über Leibeigenschaft, wird dieser Grundgedanke der Rousseau’schen Schrift nicht aufgenommen. Zu Beginn dieses „Versuchs“ vergleicht Merkel sein Unternehmen mit Rousseaus Abhandlung: „Welch einen grellen Abstich muß aber der Inhalt dieser Schrift mit dem des vorhergehenden Meisterwerkes machen! Aus den innersten Hallen der Spekulation trug Rousseau das längst vergeßne Gemälde der Bürgerrechte, des wahren und vollkommensten Staates hervor. Mit schwerem Herzen muß ich hingegen die Züge der tiefsten Depravation, deren die menschliche Gesellschaft fähig ist, sammeln, und [um?] die niedrigste Stufe zu zeigen, zu der ein Staatsbürger herabsinken kann.“22

Auch hier fällt es schwer, Merkels Interpretation Rousseaus zu deuten. Einerseits soll es sich beim Contrat social um Spekulation, also um eine Hypothese handeln, andererseits soll dabei „das längst vergeßne Gemälde der Bürgerrechte, des wahren 20 Garlieb Merkel: Die Vorzeit Lieflands. Ein Denkmal des Pfaffen- und Rittergeistes. Bd. 1, Berlin 1798, S. 117f. Ein Digitalisat wird von der Bayerischen Staatsbibliothek bereitgestellt unter URN: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10783070-4 (10.06.2020). 21 Merkel, Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen. Teil 1 (wie Anm. 11), S. 169. 22 Merkel, Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen. Teil 2 (Anm. 11), S. 462f.

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und vollkommensten Staates“ hervortreten. Letzteres kann eigentlich nur bedeuten, dass es die Idee eines idealen Staates schon einmal gegeben hat. Diese Idee ist aber in Vergessenheit geraten, und Rousseau hat sie durch reine Spekulation wiederentdeckt. Rousseaus Schilderung ist Ideal. Merkel fährt mit seinem Vergleich zwischen seinem „Versuch“ und Rousseaus „Urvertrag“ fort: Aber das ist nicht der wichtigste Unterschied. – Rousseau’s geisterhebende Schilderung ist Ideal; mein Jammerstück ist – nackte Wirklichkeit. Rousseau’s vollkommen freye Bürger existirten vielleicht nie; aber in dem Schlamm des Elendes, das ich schildern muß, wehklagen Millionen seit mehr als einem halben Jahrtausende. Von Scenen des thätigsten glücklichsten Lebens führe ich den Leser zu Gräbern, von Staatsbürgern zu Leibeignen, und diese Todten: – werden auch sie einst erstehen?“23

Wieder hat es den Anschein, als habe Rousseau im Contral social Szenen des vollkommensten Staates und des daraus resultierenden Bürgerglücks geschildert. Aber nach solchen Szenen wird man in seiner nüchternen Darstellung vergeblich suchen. Und was Rousseaus Idee vollkommen freier Bürger angeht, ist an den Passus aus dem siebten Kapitel des zweiten Buchs zu erinnern, in dem es in Merkels Übersetzung unter anderem heißt: Der Stifter eines Volks muss „dem Menschen seine eigenthümliche Kraft nehmen, um ihm eine fremde zu reichen, von der er ohne dem Beystande Anderer keinen Gebrauch machen kann. Je mehr diese natürlichen Kräfte ertödtet und vernichtet sind, desto größer und daurender sind die erworbenen; desto fester und vollkommener ist die Verfassung. Eine Gesetzgebung, kann man also sagen, hat den höchsten Grad der Vollkommenheit erlangt, wenn jeder einzelne Bürger, nichts ist und nichts vermag, als durch alle andere […].“24

Der vollkommen freie Bürger des Contrat Social kann nur ein solcher sein, der denaturiert, nicht mehr ursprünglich frei und unabhängig ist, sondern völlig abhängig von der Gemeinschaft. Da er gleichberechtigter Teil dieser Gemeinschaft ist, gewinnt er daraus seine neue Freiheit. War sich Merkel in seiner Rousseau-Begeisterung der Konsequenzen dieser Konzeption des idealen Bürgers bewusst?

Rousseaus und Merkels Menschenbilder In seinem Versuch über Leibeigenschaft skizziert Merkel die Aufgaben einer guten Gesellschaft, die aber nicht in der vollständigen Verwandlung des Menschen zum Bürger bestehen, sondern in der Domestizierung von Menschen, die von ihrer Natur aus zur Brutalität neigen: 23 Ebd., S. 463. 24 Merkel, Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen. Teil 1 (Anm. 11), S. 170.

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„Die Leidenschaften wirbeln die Menschen so unaufhaltsam in ihrem Strome dahin, dass es lauter Ungeheuer von Brutalität geben würde, wenn die äußern Lagen jenen nicht entgegen wirkten. In einer guten bürgerlichen Gesellschaft ward jedem Druck ein Gegendruck entgegen gesetzt: daher sind die civilisirten Nationen ­menschlich und milde. Nehmt ihn hinweg, laßt jeden ungestraft thun können, was er will, und jeder ist Tyrann so weit seine Kraft reicht. Ich weiß wohl, daß dies gegen die Allmacht streitet, die man der Geistesbildung zuschreibt. Ich weiß wohl, daß die Eigenliebe jeden Guten und Sanften überredet, er sey von Natur sanft und gut, denn nur wenige sind gegen sich selbst so offenherzig als Swift.25 Aber die Erfahrung widerspricht der gefälligen Schmeichlerinn. Woher sonst so viele, die im niedern Stand Menschenfreunde waren, und im höhern hartherzige Despoten wurden? Woher so viele arme Tugendhafte, die der Reichthum lasterhaft machte? Woher die Umgestaltung liebenswürdiger Jünglinge in hassenswerthe Männer? Der heilsame Gegendruck von außen hatte aufgehört.“26

Hier ist nun nicht mehr Rousseau mit seiner Vorstellung von der bonté naturelle der Kenner der menschlichen Herzen, sondern der Satiriker Jonathan Swift. In Merkels guter bürgerlicher Gesellschaft sind die Menschen nicht deshalb gut und sanft, weil sie nicht daran gehindert werden, der Maxime der natürlichen Güte zu folgen, die Rousseau in der Abhandlung über die Ungleichheit auf die Formel bringt: „Sorge für dein Wohl mit dem geringstmöglichen Schaden für andere“.27 Sie sind auch als Bürger des Gesellschaftsvertrags nicht gut, weil sie sich ganz dem Gemeinwillen unterworfen haben, sondern sie sind nicht böse, weil ihre Brutalität von Erziehung und Gesetzen in Schach gehalten wird. In der Abhandlung über die Ungleichheit hatte Rousseau Thomas Hobbes vorgeworfen, dass er für den Menschen im Naturzustand eine durch soziale Leidenschaften bestimmte Natur annimmt, die ihn böse macht, sofern er nicht der Herrschaft der Vernunft bzw. des Staats untersteht.28 Nach Rousseaus Auffassung dagegen wirken sich Leidenschaften im Naturzustand nicht aus. Die Wilden oder Naturmenschen sind nicht böse; „das Ruhen der Leidenschaften und die Unkenntnis des Lasters“ hindern sie vielmehr daran, „Böses zu tun.“29 Die den Menschen ursprünglich bestimmenden Prinzipien sind die Selbstliebe oder der Selbsterhaltungstrieb (amour de soi) und das Mitleid (pitié).

25 Merkels Anm. 12 zu Swift an dieser Stelle lautet: „Ich weiß nicht, wie es kommt: schreibt er an ­einem Orte, er, der unversöhnliche Feind der menschlichen Verderbtheit; – wenn mir meine Obern einen Schlag geben, so brenne ich vor Begierde, mich dafür durch zween an meinen Bedienten zu rächen“ (Merkel, Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen. Teil 2 (Anm. 11), S. 566). 26 Ebd., S. 508f. 27 Rousseau, Jean-Jacques: Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l’inégalité. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien. Hg. v. Heinrich Meier. 5. Aufl. (verb. Nachdr. der 3., durchges. Aufl.) Paderborn u. a. 2001, S. 151. 28 Vgl. Anm. 173 des Herausgebers in: Ebd., S. 138f. 29 Ebd., S. 141.

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Mit seiner Auffassung, ohne die zivilisierende Kraft eines Gegendrucks wären die Menschen „Ungeheuer an Bestialität“, befindet sich Merkel in direktem Gegensatz zu dem Rousseau der Abhandlung über die Ungleichheit und deren Bestimmung der natürlichen, ursprünglichen Verfassung des Menschen. Rousseau wendet sich mit Nachdruck gegen die Behauptung, der Mensch sei von Natur aus böse und grausam und bedürfe deshalb der Zivilisierung durch Gesetz und politische Ordnung. Für Garlieb Merkel ist die Annahme einer ursprünglichen Friedfertigkeit des Menschen offensichtlich eine Illusion. Er schreibt es der Eigenliebe zu, dass die Guten und Sanften sich vormachten, sie seien von Natur sanft und gut. Rousseau hatte in der Abhandlung über die Ungleichheit zwischen Selbstliebe (amour de soi-même) und Eigenliebe (amour propre) unterschieden.30 Die Selbstliebe, verstanden im Sinne von Selbsterhaltungstrieb, ist dem Menschen natürlich. Die Eigenliebe dagegen entsteht erst im Gesellschaftszustand, sie ist eine relative Empfindung, der Mensch sieht sich nun mit den Augen der Anderen. Merkel differenziert offensichtlich nicht zwischen diesen beiden Selbstbezügen. Nach seiner Auffassung ist der Mensch von Natur aus nicht sanft und gut; diese Selbsteinschätzung entspringe vielmehr einer fundamentalen Fehleinschätzung aus Eitelkeit oder Eigenliebe. Rousseau beschreibt den Menschen im Naturzustand als ein solitäres Wesen. Er lebte allein, war autark und hatte nicht die Neigung und kaum die Gelegenheit zur Aggressivität. Sobald die Menschen zusammenrückten, erste Gemeinschaften bildeten, entstanden auch die ersten Ungleichheiten und Konkurrenzen. Eine öffentliche Wertschätzung wurde wichtig, „jeder begann, die anderen zu beachten und selbst beachtet werden zu wollen“.31 Eitelkeit und Geringschätzung, Scham und Neid wurden geboren. Es kam zu Beleidigungen und schrecklichen Racheakten, die Menschen wurden blutgierig und grausam. Insofern diese ersten Gemeinschaften noch kein Eigentum kannten und keine Abhängigkeiten, die durch Arbeitsteilung entstehen, kann man die frühe Epoche der Menschheitsgeschichte dennoch als glücklich bezeichnen. Und die im Zeitalter Rousseaus lebenden wilden Völker haben an diesem Glück teil. Immer wieder stößt man auf die These, Rousseau habe das Bild des edlen Wilden geprägt.32 Aber einen solchen edlen Wilden findet man in der Abhandlung über die Ungleichheit nicht. Weder der Urmensch, der letztlich noch ein Tier ist, allerdings ein nicht aggressives und insofern sanftes Wesen, noch die Wilden früherer Zeiten oder exotischer Völker des 18. Jahrhunderts sind edel. Der Maßstab für ­Rousseau ist die Freiheit und die Gleichheit. Freiheit und Gleichheit sind in der Menschheitsgeschichte fast vollständig verlorengegangen. Das Erziehungsbuch 30 Ebd., S. 368. 31 Ebd., S. 189. 32 Vgl. Kronauer, Ulrich: Rousseau und der Wilde gingen Hand in Hand. Ein Motiv bei Ludwig Harig und Adolph Freiherr Knigge. In: Lichtenberg-Jahrbuch 2018 (2019), S. 197–212.

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Émile und der Contrat social liefern zwei Modelle, wie Rousseaus Maßstäbe umgesetzt werden könnten: zum einen durch eine Erziehung außerhalb der depravierenden Einflüsse der Gesellschaft, sodass der natürliche Mensch erhalten bleibt und sich entfalten kann, zum anderen durch die freiwillige Umwandlung des in einer Gesellschaft lebenden Menschen in den Bürger einer Gesellschaft der Gleichen, durch die er eine relative Freiheit zurückgewinnt. Miteinander vereinbar sind die beiden Modelle nicht. Der Bürger des Contrat social und der durch einen einzelnen Erzieher 25 Jahre nach seiner Natur geförderte Knabe und junge Mann sind zwei verschiedene Wesen. Dass Rousseau mit seinem Émile die Absicht hatte, wie Merkel andeutet, die Erziehung von Männern anzuregen, die die Volksrechte geltend machten, ist schon aus praktischen Gründen, nämlich wegen des erforderlichen Aufwandes, nicht plausibel. Wie sehr Merkels und Rousseaus Menschenbilder auseinanderklaffen, zeigt auch Die Vorzeit Lieflands, eine Schrift, in der, wie man in einer neueren Deutschbaltischen Literaturgeschichte lesen kann, der vorkoloniale Naturzustand der Letten ­„rousseauistisch“ verklärt wird.33 Jürgen Joachimsthaler hat diese Schrift Merkels treffend als „gegenkoloniale Fiktion“ charakterisiert.34 Vom Naturzustand oder Naturstand spricht Merkel im ersten Band der Vorzeit im Kapitel über den Ursprung der Letten. Für unseren Zusammenhang sei nur ein Passus zitiert, der von Auseinandersetzungen zwischen Aesthiern, Slaven und Alanen handelt: „Der allgemeine Krieg aller gegen alle, das Resultat des völlig freien Naturstandes, durchwüthete also Aesthiens Wälder mit Brand und Mord. Jeder würgte in denselben planlos darauf hin, eine Einöde um sich her zu schaffen, in der er ungestört elend seyn konnte, und immer zogen doch neue Völkerstämme von allen Seiten herbei, die dem Ueberwinder dasselbe Schicksal bereiteten, das er eben ausgespendet hatte.“35

Widewut, der Moses der Letten, musste kommen und in der lettischen Vorzeit zum „Schöpfer eines Volkes, Gesetzgeber und Religionsstifter“ werden.36 Der Beginn der zitierten Passage: „Der allgemeine Krieg aller gegen alle, das Resultat des völlig freien Naturstandes […]“ verweist auf Thomas Hobbes und nicht auf Jean-Jacques Rousseau. Auch entspricht der völlig freie Naturstand bei Rousseau dem Menschheitsstadium des solitären Tiermenschen und nicht der Gemeinschaften der „rohen Wilden“ aus der Vorzeit,37 die Merkel hier vor Augen hat. 33 Wilpert, Gero von: Deutschbaltische Literaturgeschichte. München 2005, S. 122f. 34 Joachimsthaler, Jürgen: Gegenkoloniale Fiktion. Garlieb Merkel (er)findet eine „Vorzeit ­Lieflands“. In: Mix, York-Gothart; Ahrend, Hinrich (Hg.): Raynal – Herder – Merkel. Transformationen der Antikolonialismusdebatte in der europäischen Aufklärung. Heidelberg 2017, S. 159–182. 35 Merkel, Vorzeit (wie Anm. 20), S. 34. 36 Ebd., S. 37. Zur Gestalt des Widewut aus der lettischen Vorzeit vgl. Joachimsthaler, Gegenkoloniale Fiktion (wie Anm. 34), S. 177f. 37 Merkel, Vorzeit (wie Anm. 20), S. 35.

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Diese Wilden wiederum haben nur entfernte Ähnlichkeit mit den von Rousseau beschriebenen leidenschaftlichen Wilden der ersten Gemeinschaften, die aus ihrem relativ glücklichen Zustand „nur aufgrund irgendeines unheilvollen Zufalls“, so Rousseau, herausgetreten waren, die sich also noch keineswegs in einem Krieg aller gegen alle befunden haben.38 In Die Vorzeit Lieflands gibt es dann aber auch eine positive „Schilderung der Letten im zwölften Jahrhunderte“ als einem Volk „im Naturstande“.39 Die Schilderung erinnert an Rousseaus Kulturkritik, wie sie in seiner Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste niedergelegt ist.40 Diese Schrift wurde 1750 von der Akademie zu ­Dijon preisgekrönt, obwohl sie wider Erwarten die von der Akademie ausgeschriebene Frage, „ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu läutern“,41 negativ beantwortet hatte. Man hatte einen Lobpreis des Fortschritts erwartet, den die Renaissance gegenüber dem Mittelalter gebracht habe. Rousseau aber nutzte die Gelegenheit für eine heftige Zeitkritik, bei der er seine „Empörung über die Verhältnisse“ mit großer Eloquenz vortrug.42 Er konfrontierte den Sittenverfall bei seinen Zeitgenossen, die Verweichlichung, die Neigung zu Luxus und Prunk, die trügerische Höflichkeit sowie die Raffinesse der Verstellungskunst mit der Einfachheit und Natürlichkeit früherer Zeiten. „Ehe die Kunst unsere Manieren geformt und unseren Leidenschaften die diesen angemessene Sprache gelehrt hatte, waren unsere Sitten rau, aber natürlich“.43 Die ersten Perser wurden als positive Beispiele angeführt, ebenso die Skythen, die Germanen, das frühe Rom, die Schweizer, die Spartaner, aber auch die Wilden Amerikas. Rousseau war mit seiner Schrift, die ihn auf einen Schlag berühmt gemacht hatte, nicht zufrieden. „Diesem Werk voll Feuer und Kraft“ fehlte es, wie er in den Confessions schreibt, „völlig an Logik und Ordnung“.44 In der zweiten Schrift, mit der Rousseau eine Preisfrage der Dijoner Akademie beantwortete, der Abhandlung über die Ungleichheit, konnte er seine Vorstellung vom Naturzustand, von der Natur des Menschen und vom fortschreitenden Prozess der Ungleichheit und der Depravation so darlegen, dass er mit seinem Werk zufrieden war. Die Schrift wurde nicht preisge-

38 Rousseau, Ungleichheit (wie Anm. 27), S. 193. 39 Merkel, Vorzeit (wie Anm. 20), S. 84. 40 Vgl. Undusk, Jaan: Naturrecht und Naturgeschichte im politischen Denken. G. H. Merkel und C. G. Jochmann als Vertreter der aufklärerischen Naturrhetorik. In: Kronauer, Ulrich (Hg.): Aufklärer im Baltikum. Europäischer Kontext und regionale Besonderheiten. Heidelberg 2011, S. 57–84, hier S. 64, Anm. 16. 41 Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur les sciences et les arts / Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste. Hg. v. Béatrice Durand. Stuttgart 2012, S. 9. 42 Durant, Béatrice: Nachwort. In: Ebd., S. 101–116, hier S. 116. 43 Rousseau, Wissenschaften und Künste (wie Anm. 41), S. 21. 44 Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. Die Träumereien des einsamen Spaziergängers. München 1978, S. 347.

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krönt und sie fand, wie er in den Confessions schreibt, „in ganz Europa nur wenig Leser“, die sie verstanden „und keinen, der davon reden wollte“.45 Wie Rousseau in seiner frühen Schrift über die Wissenschaften und die Künste so wendet sich auch Garlieb Merkel in seiner Schilderung der Letten im zwölften Jahrhundert an die Zeitgenossen und hält ihnen das Bild einer Zeit der Einfachheit und Natürlichkeit entgegen. Die vom „weichlichen Müßiggang“ und der „Ueppigkeit“ geschwächten „Sklaven der Kultur und des Luxus“ müssten sich eigentlich danach sehnen, „zu dem ungekünstelten gesunden Mahle, der prunklosen Hütte, der unbefangenen Einfachheit, der ach! so seligen Unabhängigkeit der Naturmenschen“ zurückzukehren, wenn sie sich nicht zu schwach fühlten, „wahrhaft glücklich zu seyn“.46 Bei Merkel entspricht der gute Naturstand oder Naturzustand, den er seinen verweichlichten, schwächlichen, dekadenten Zeitgenossen entgegenstellt, einer Stufe in der Geschichte der Menschheit, auf der „die hochherzigen, mannhaften und edelgesinnten Völker des nördlichen Amerika“ stehen, „die unser lächerlicher Hochmuth Wilde nennt“. Auf dieser Stufe standen auch „die Letten im zwölften Jahrhundert, als ein feindseliges Gestirn die Teutschen an ihre Gestade warf“.47 Zum guten „Naturstand“ der Letten, der dann durch die Ordensritter zerstört wurde, führt Merkel aus: „Die politische Verfassung der Letten, wie ihre sittliche Bildung, erscheint im eilften und zwölften Jahrhunderte gerade auf der Stufe des Ueberganges aus dem mittlern Naturstande zu jenem, in welchem die griechischen Republiken ihre größesten Männer, Helden sowohl als Weise und Künstler, hervorbrachten.“48

In seiner „für die Letten erfundenen Vorzeit“ versucht Merkel also, seinem Leser die alten baltischen Völker „in möglichst großer Nähe zu den Griechen“ nahezubringen.49 Nur durch die deutschen Invasoren war verhindert worden, dass sich die Letten auf das Niveau der griechischen Republiken erhoben hätten. Merkel konstruiert also genau genommen drei Naturstände der Letten, nämlich einmal den völlig freien Naturstand, in dem ein Krieg aller gegen alle herrschte, dann den mittleren Naturstand, den eine einfache, natürliche Lebensart ausgezeichnet habe, und schließlich einen Verfassungs- und Bildungsstand, der der Hochkultur der griechischen Republiken entsprochen hätte. Keiner dieser Naturstände hat mit dem état de nature, wie er von Rousseau verstanden wurde, etwas gemeinsam.50 Merkels Kritik am Verhalten der Menschen seiner Zeit und der Lobpreis des einfachen, natürlichen Lebens dagegen mögen von der Abhandlung über die Wissen45 46 47 48 49 50

Ebd., S. 384. Merkel, Vorzeit (wie Anm. 20), S. 85f. Ebd., S. 87. Ebd., S. 112. Joachimsthaler, Gegenkoloniale Fiktion (wie Anm. 34), S. 178f. Vgl. den Artikel „Nature, état de nature“. In: Trousson, Raymond; Eigeldinger, Frédéric S. (Hg.): Dictionnaire de Jean-Jacques Rousseau. Paris 1996, S. 645–647.

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schaften und die Künste inspiriert worden sein. Vor allem in der Schärfe dieser Kritik ähneln sich hier die beiden Autoren. Andererseits gehörten die robusten, wehrhaften, unverbildeten Wilden schon lange vor Rousseau zum Repertoire der Zeitkritik.51 Rousseau verweist selbst auf Montaigne, der in seinem Essai Des cannibales die glücklichen Völker der Wilden Amerikas und deren „einfaches und natürliches Benehmen“ positiv hervorgehoben hatte.52 Um ein weiteres Beispiel zu geben: Der Missionar Hans Egede hatte schon 1741, neun Jahre vor Rousseaus Abhandlung, festgestellt, dass die Grönländer, die er missionieren wollte, „ein natürliches, und, so zu sagen, unschuldiges, und einfältiges Leben führen“ im Vergleich mit den meisten Christen, deren „große Hoffart“, „wollüstige Lebensart“, „Verschwendung“, „Feindschaften“ und andere grobe Laster er anprangerte.53

Der mitleidige Blick auf den leidenden Menschen Zuletzt sei noch auf einen Aspekt der Rousseau’schen Philosophie hingewiesen, der im Émile eine zentrale Rolle spielt. Dort wird der Knabe, sobald er sich in fremdes Leid hineinversetzen kann, zum Mitleid erzogen. Ihm wird von seinem Erzieher drastisch vor Augen geführt, dass alle Menschen dem Leiden unterworfen sind, nicht nur die Armen und Schwachen, sondern auch die Mächtigen, die jeden Moment eine Krankheit niederwerfen kann. Rousseau rät den Erziehern: „Von Natur aus sind die Menschen weder Könige, noch Fürsten, noch Hofleute, noch reich. Alle werden nackt und arm geboren; alle sind dem Elend, den Kümmernissen und Schmerzen aller Art unterworfen. Am Ende sind alle zum Sterben verurteilt. Das ist das Schicksal des Menschen, kein Sterblicher kann ihm entrinnen. Beginnt also beim Studium der menschlichen Natur damit, was am unzertrennlichsten mit ihr verbunden ist, was das wahrhaft Menschliche daran ausmacht.“54

Der so mit der condition humaine vertraut gemachte junge Mann wird eine humane Einstellung zu seinen Mitmenschen gewinnen, auch zu denjenigen, die sich den anderen überlegen fühlen. Ein weiterer Rat lautet:

51 Vgl. Kohl, Karl-Heinz: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Frankfurt/M. 1986. 52 Rousseau, Wissenschaften und Künste (wie Anm. 41), S. 31, Anm. 3. 53 Zit. nach Kronauer, Ulrich: Aus Wilden Menschen machen – Programme und Probleme der Grönland- und Labradormissionare im 18. Jahrhundert. In: Ders., Andreas Deutsch (Hg.): Der „Ungläubige“ in der Rechts- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 2015, S. 91– 117, S. 95. 54 Rousseau Jean-Jacques: Emil oder Über die Erziehung. In neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts. 13. Aufl. Paderborn u. a. 1998, S. 223.

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„Mit einem Wort, lehrt euren Zögling, alle Menschen zu lieben, selbst diejenigen, die die andern geringschätzen. Sorgt dafür, dass er sich keiner Klasse zurechnet, sondern in allen zu Hause ist. Sprecht in seinem Beisein mit Rührung, ja mit Mitleid vom Menschengeschlecht; niemals mit Verachtung. Mensch, entehr den Menschen nicht!“55

Eine solche Einstellung ist kaum geeignet, aus dem Zögling Rousseaus einen Kämpfer für Volksrechte im Sinne Merkels zu machen. Sie ist auch nicht vereinbar mit der kämpferischen Rhetorik Merkels, die in ihrer Drastik nicht nur bei der Schilderung der Erbherren, sondern auch der Leibeigenen keineswegs Rousseaus Gebot der Achtung jedem Menschen gegenüber Folge leistet. In seinem Versuch über Leibeigenschaft klagt Merkel an: „Die eigentliche Volksmasse von allen Aeusserungen edlerer Geisteskräfte ausgeschlossen, aller Menschenrechte beraubt; von ungeheuren Pflichten und Leistungen in Laster und Stupidität herab gedrückt, damit die Drohnen des Staates von ihrem Elende schwelgen und mit erträumter Erhabenheit verachtend auf sie herabsehen können [ …].“56

Die Leibeigenen werden in ihrer miserablen Situation durch „Laster und Stupidität“ charakterisiert, die Erbherren werden als „Drohnen“ im Sinne von Schmarotzern gezeichnet, die sich von den Leibeigenen ernähren lassen und diese verachten. Es ist kaum vorstellbar, dass Garlieb Merkel die Gutsherren für seine Sache gewinnen wollte, wenn er die Erbherrlichkeit als „Eiterbeule an dem Körper eines Staates“ bezeichnet.57 Und wie auch in der Schrift über die Letten im zweiten Abschnitt mit der Überschrift „Charakteristik der Letten“58 führt Merkel in dem Versuch über Leibeigenschaft einen ganzen Katalog abstoßender Eigenschaften der Leibeigenen auf, die er aus ihrer Situation heraus erklärt, aber auch aus dem daraus resultierenden Charakter: „In Lumpen geht er aus Armuth, aber den lahmschenklichten Gang, den hängenden Kopf, das scheue Wesen in Gegenwart seines Gewaltigen, der finstere seelenlose Blick, das hündische Stiefelküssen entspringen aus seinem Charakter.“59

Alle negativen Eigenschaften des Leibeigenen, die Merkel nachfolgend detailliert aufzählt – er ist „niederträchtig“, „heimtückisch und boshaft“, „feige“, „träge“, „die-

55 56 57 58

Ebd., S. 228. Merkel, Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen. Teil 2 (wie Anm. 11), S. 465. Ebd., S. 499. Merkel, Garlieb Helwig: Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Völker- und Menschenkunde. Hg. v. Thomas Taterka. Wedemark 1998, S. 24–42. 59 Merkel, Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen. Teil 2 (wie Anm. 11), S. 502f.

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bisch und lüderlich“ –, erklären sich aus seiner bedrückenden Lage. Merkel fasst zusammen: „Mit einem Worte: er ist ein Verworfener, weil er ein Leibeigener ist. Wollt ihr wissen, wozu ein Mensch durch Verlust der Freiheit herabsinken kann, so hört nur, wie die Erbherren selbst den Leibeigenen schildern. Dass er, wie sie sagen, ein Scheusal von Lastern sey, ist wahr; dass sie ihn aber dazu gemacht haben, ist es noch viel mehr.“60

Die Entschiedenheit, mit der Merkel hier sein Urteil fällt, lässt keine Achtung vor der leidenden Kreatur oder auch vor dem Menschen, der anders leben muss, als es ihm von Natur aus mitgegeben ist, erkennen. Dies heißt nun aber nicht, dass Merkel den Leibeigenen gegenüber kein Mitleid hätte. Er schließt vielmehr sowohl in der Schrift über die Letten wie auch in dem Versuch über Leibeigenschaft an einen Gedanken Rousseaus aus dem Émile an, wenn er Engagement für die Leibeigenen einfordert. In der Schrift über die Letten ruft er im Ton eines Predigers mit dem ihm eigenen Pathos aus: „Ihr Edleren aus jedem Volk! Ihr, die ihr die wahre Menschheit ausmacht: erhebt eure Stimme mit mir. Sucht nicht mehr Gegenstände eures Mitleidens jenseits des Oceans! Seht hier in Europa, in eurer Nachbarschaft Nationen, die in ihrem eigenen Lande unglücklicher sind, als der Afrikaner, den die Habsucht nach Amerika schleppte. Philosophie und Menschenliebe sprachen für diesen, und sein Loos ward milder. Wohlan, Philosophen, Menschenfreunde! Vereiniget euch, auch den europäischen Tyrannen zu sagen, daß ihr Verfahren verabscheuungswerth ist! Sagt es laut, werdet nicht müde, es zu wiederholen, daß der Herabwürdiger seines Bruders selbst tief, tief unter dem bösartigsten Thiere steht […].“61

Der Hinweis auf das Engagement der Aufklärer für die Afrikaner in Amerika, womit hier in erster Linie Raynal gemeint sein dürfte, findet sich auch im Versuch über Leibeigenschaft. Dort zieht Merkel eine deprimierende Bilanz: „Das ist der Zustand des wahren Leibeignen, wie er in Pohlen, Lief- Esth- und ­Curland noch wirklich existirt. Das Ungeheuer, das ein schätzbarer Schriftsteller (S. ­Ueber Humanität, Leipzig 1793.) noch kürzlich für unmöglich erklärte, das Wesen, das nur Pflichten und keine Rechte hat: seit einer langen Reihe von Jahrhunderten ist es da, ohne daß man es eines aufmerksamen, mitleidigen Blicks würdigte. Buchstäblich nach Rousseau, liebte man seine Nächsten in Amerika, den Neger, und übersah seinen Nachbar.“62 60 Ebd., S. 504. 61 Merkel, Letten (Anm. 58), S. 155. 62 Merkel, Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen. Teil 2 (Anm. 11), S. 502. Merkel verweist in der Klammer auf Friedrich von Oertels anonym erschienene Schrift Ueber Humanität, in der es heißt: „Nur indem man einem Individuum die Uebung aller seiner Fähigkeiten und Kräfte abspräche, d. h. es des vernünftigen Denkens und des freien Wollens ganz beraubte, würde man ein Wesen

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Merkel bezieht sich auf eine Stelle aus dem ersten Buch des Émile, deren Inhalt er allerdings recht eigenwillig wiedergibt. Rousseau warnt dort: „Mißtraut den Kosmopoliten, die in ihren Büchern Pflichten in der Ferne suchen, die sie in ihrer Nähe nicht zu erfüllen geruhen. Mancher Philosoph liebt die Tataren, damit er seinen Nächsten nicht zu lieben braucht.“63 Rousseau kritisiert hier allgemein den Typ des Kosmopoliten oder auch Philosophen, der sich davon dispensiert, sich für seine nähere Umgebung, für seine Nachbarn zu engagieren, indem er Verpflichtungen für Völker in weiter, unbekannter Ferne, etwa für Tataren, vorgibt. In der Abhandlung über die Ungleichheit führt er in der Passage, die vom Mitleid handelt, einen Philosophen an, den nur die Gefahren der ganzen Gesellschaft um den Schlaf bringen. Man könne, schreibt Rousseau, ungestraft einen Menschen unter seinem Fenster umbringen. „Er braucht sich nur die Ohren zuzuhalten und sich ein paar Argumente zurechtzulegen, um die Natur, die sich in ihm empört, daran zu hindern, ihn mit dem zu identifizieren, den man meuchlings ermordet.“64 An Philosophen wie Raynal oder auch Diderot, die sich für die afroamerikanischen Sklaven engagierten, hat Rousseau dabei sicher nicht gedacht. Schon insofern gerät der Bezug auf Rousseau bei Merkel etwas schief. Auch geht die implizite Vernunftkritik Rousseaus bei Merkel verloren. Der scheinbare Philosoph oder Kosmopolit Rousseaus vernünftelt und argumentiert, um die Mitleidsempfindung für den Nachbarn oder Nächsten nicht aufkommen zu lassen. Bei Merkel sind es die Edleren aus jedem Volk, an deren Einsicht appelliert wird, die nicht mehr Gegenstände ihres Mitleids jenseits des Ozeans suchen sollen, zumal dort, bei den Afrikanern in Amerika, die Aufklärung bereits Besserung bewirkt habe. Auch im Versuch über Leibeigenschaft soll der Blick von den Afrikanern auf die Leibeigenen in Europa umgelenkt werden, und zwar nicht nur ein mitleidiger, sondern auch aufmerksamer Blick. Braucht demnach der Sklave in Amerika das Mitleid der Europäer nicht mehr? Eine solche Konsequenz entspräche gewiss nicht der umfassenden Mitleidsperspektive Rousseaus; ebenso wenig die Hierarchisierung, die Merkel vornimmt, indem er feststellt, dass nur die Edleren aus jedem Volk „die wahre Menschheit“ ausmachen. Eine solche Auszeichnung gibt es bei Rousseau nicht. In der Abhandlung über die Ungleichheit findet sich in der Mitleidspassage der auch heute noch faszinierende Satz: „En effet, qu’est-ce que la générosité, la clémence, l’humanité, sinon la pitié ­appliquée aux foibles, aux coupables, ou à l’espèce humaine en général?“ schaffen, das blos Pflichten und keine Rechte hätte, und nur im Gegensatze von diesem ein anderes, das blos Rechte hätte und keine Pflichten, beides Ungeheuer der Menschheit.“ (Oertel, Friedrich von: Ueber Humanität. Ein Gegenstück zu des Präsidenten von Kotzebue Schrift vom Adel. Leipzig 1793, S. 251). 63 Rousseau, Emil (Anm. 54), S. 12. 64 Rousseau, Ungleichheit (Anm. 27), S. 149.

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Ulrich Kronauer („In der Tat, was ist die Großmut, die Milde, die Menschlichkeit, wenn nicht das auf die Schwachen, die Schuldigen oder die menschliche Art im Allgemeinen angewandte Mitleid?“)65

Nicht nur die Schuldigen, in Merkels Kontext die Erbherren, werden ins Mitleid einbezogen, sondern das ganze Menschengeschlecht, das in vielfacher Hinsicht dem Leid unterworfen ist. Arthur Schopenhauer berief sich auf Rousseau, als er in der ­Preisschrift Über die Grundlage der Moral von 1840 das Mitleid zur wahren moralischen Grundtriebfeder erklärte. Rousseau, dem „größten Moralisten der ganzen neuern Zeit“, schreibt Schopenhauer, hatte die Natur die Gabe verliehen, „moralisieren zu können, ohne langweilig zu sein, weil er die Wahrheit traf und das Herz rührte.“66 In Garlieb Merkels rhetorischer Strategie spielt das Mitleid, wie es Rousseau verstand, nur eine Nebenrolle. Dies hängt mit seinem Menschenbild zusammen, mit der Gefahr, die von dem von Leidenschaften getriebenen, zur Bestialität neigenden Menschen ausgeht. Merkel will oder kann nicht, wie das große Vorbild Rousseau, die Herzen rühren, so, wie etwa der Leiderfahrene die Leidenden ansprechen kann. Er will Veränderung erreichen, indem er, wie er selbst schreibt, Überzeugung erzwingt und sie durch Aufregung des Gefühls zur Tätigkeit hinreißt. Diese Vorgehensweise hat fast etwas Gewalttätiges. Ihr korrespondiert die potenzielle Gewalttätigkeit des Menschen, der nicht mit sanften Mitteln begegnet werden kann. Merkel reagiert aber auch auf die Gefahren, die von den unterdrückten Letten ausgehen, einem Volk, das in seiner Verzweiflung seine Ketten zu zerreißen sucht und dabei in einen Zustand der Raserei, in ein Delirium zu fallen droht. Diese Gefahr hat Merkel in der Einleitung zu dem Buch über die Letten in der ihm eigenen Drastik an die Wand gemalt.67

65 Ebd., S. 146f. 66 Schopenhauer, Arthur: Preisschrift Über die Grundlage der Moral. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Bd. 3: Kleinere Schriften. Nachdr. d. 2., überpr. Aufl. 1968. Darmstadt 1974, S. 632–815, hier S. 781f. 67 Vgl. Kronauer, Ulrich: Über die bürgerliche Verbesserung der Letten. Garlieb Merkel im Kontext der deutschen Aufklärung. In: Lukas, Liina; Schwidtal, Michael; Undusk, Jaan (Hg.): Politische Dimensionen der deutschbaltischen literarischen Kultur. Berlin 2018 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission 22), S. 59–74, hier S. 71–73.

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Gregor Babelotzky

Christian David Lenz und Jakob Michael Reinhold Lenz: Vater und Sohn und das Problem der Predigt In der livländischen Familie Lenz bilden der Vater Christian David und sein Sohn Jakob Michael Reinhold einander entgegengesetzte Lebenspläne aus. Der eine steigt auf zum Generalsuperintendenten der Kirche Livlands, der andere entflieht den Forderungen des Vaters, ebenfalls das Predigtamt zu ergreifen – und geht schließlich als Sturm-und-Drang-Dichter in die Literaturgeschichte ein. Der Prediger Christian David Lenz steht dem Sohn für die Gewalt der Kirche über die livländischen Bauern und damit für das, was Jakob Lenz in seiner späten Lebensphase als Entstellung begreift. Der Dichter Lenz will dem Selbstverständnis nach die Macht der Predigt zur Bildung der Bauern, zur Transformation des Geistes und zur Hinwendung zu Gott fruchtbar machen im Sinne einer christlich fundierten Aufklärung.1 Aufgewachsen unter der strengen pietistischen Erziehung des Vaters in Seßwegen (Cesvaine), verlässt der Sohn – nach Beginn des Theologiestudiums in Königsberg (Kaliningrad) im Jahr 1768 – Livland bald schon Richtung Straßburg, wo er sich der Schriftstellerei widmet, um erst 1779 in die Heimat zurückzukehren. Damit ist schon angedeutet: In der Biographie von Jakob Lenz gibt es eine Antinomie, die wesentlich für Lenz’ literarische Produktion ist. Es ist der unauflösbare Konflikt zwischen Prediger und Dichter, der zugleich derjenige zwischen den Ansprüchen des Vaters ist und den Versuchen des Sohnes, diesen zu entkommen. Indem ­Jakob Lenz einen Weg sucht, den Forderungen seiner Familie, Prediger zu werden, Genüge zu tun und dem Anspruch gleichzeitig auszuweichen, versucht er, den Beruf des Predigers und die Berufung als Schriftsteller zu versöhnen.

Die deutschen Prediger in Livland Im 18. Jahrhundert stellen deutsche Prediger in Livland eine mächtige Institution dar. Aus den reichsdeutschen Staaten kommen seit 1710 viele deutsche Theologen nach Livland und Estland, unter ihnen auch Christian David Lenz, der ab dem Jahr 1749 im lettischen Teil Livlands Prediger von Seßwegen ist. Angetrieben vom 1 Vgl. zu einer ausführlicheren Darstellung die Kapitel 1.2 und 3.1 in Babelotzky, Gregor: Jakob Michael Reinhold Lenz als Prediger der „weltlichen Theologie“ und des „Naturalismus“. Wechselwirkungen von Literatur und Predigt in Biographie und poetischem Schaffen. Göttingen 2019 (edition Text 17).

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pietistischen Missionsgedanken ist er dann zunächst Pastor des Kirchspiels Serben und Drostenhof (Dzērbene Drusti).2 Die deutschen Prediger erhalten zu ihrem Pfarrhaus neben Bauernland und Viehherden auch Pastoratsbauern und Leibeigene. Etwa 85 Prozent der Bevölkerung von Livland und Estland sind in dieser Zeit Leibeigene; der Menschenhandel ist rege. Die Bauern heißen die ‚Undeutschen‘; jeder, der nicht Bauer ist, wird ‚Deutscher‘ genannt, auch wenn er kein Deutsch spricht. Das estnische Sakslased und das lettische Vācieši (Deutsche) sind zugleich Schimpfworte, die Letten und Esten verwenden, die in ungleich schlechteren Verhältnissen leben als die ‚Deutschen‘, zu denen auch die Familie Lenz gehört. Einer der einflussreichsten Akteure der Kirche dieser Zeit ist Christian David Lenz, auf dem Höhepunkt seiner Karriere Generalsuperintendent von Livland in Dorpat (Tartu). Die Erfahrung, dass der Vater als Prediger große Macht und zugleich die niedere Gerichtsbarkeit ausübt, prägt Jakob Lenz entscheidend und beeinflusst auch dessen Vorstellungen von Religion und Bildung. Sofern es sich die Bauern erlauben können, die Kinder zur Schule zu schicken, liegt der Unterricht, der aber nicht vergleichbar ist mit der Bildung, die den Kindern der ‚deutschen‘ Oberschicht zukommt, in der Verantwortung der Prediger. Im Jahr 1758 wird Christian David Lenz schließlich Stadtprediger der deutschen St.-Johannis-Gemeinde zu Dorpat. Er lebt hier in ständigem Konflikt mit anderen Pfarrern, der Gemeinde und der Stadt Dorpat. Es geht in den Streitigkeiten um die Predigten, um den Unterricht der Kinder und um den Umgang mit den Armen. Er predigt nur in deutscher Sprache; die estnische Gemeinde hat einen eigenen Prediger. Die Predigten sind im Allgemeinen Mahnungen vor dem Ungehorsam und dienen auch zur Durchsetzung der Herrschaft; ihr primäres Ziel ist die Bekehrung der Heiden zum Christentum. Aufklärerische Ideale, wie sie den Sohn Jakob Lenz ab seiner Königsberger Zeit begeistern, herrschen im Umfeld seiner Kindheit nicht. Über die Prediger Livlands schreibt der Prediger und aufklärerische Schriftsteller Heinrich Johann von Jannau noch im Jahr 1786 in seiner Geschichte der Sklaverey und Charakter der Bauern in Lief- und Ehstland: „Fern von der feinen Politik, ihre Kolonien durch Sitten und Gesezze sich so verbindlich zu machen, […] war Herrschsucht ihr [d. i. der Prediger] Beginnen und Dumheit die Fessel, die den Letten und den Ehsten in der Sklaverey erhielt. Kein Einziger bildete durch die Religion, die er zu predigen doch berufen war. Ein jeder suchte Land und Leute, ward groß durch seine Thaten, und tödtete die Freyheit der Unschuldigen, die er bekehren wollte.“3 2 Die Darstellung orientiert sich an Herbert Krafts Schilderung von Lenz’ Kindheit, vgl. Kraft, Herbert: J. M. R. Lenz. Biographie. Göttingen 2015, S. 7–42. 3 Jannau, Heinrich Johann von: Geschichte der Sklaverey und Charakter der Bauern in Lief- und Ehstland: Ein Beytrag zur Verbesserung der Leibeigenschaft. Riga 1786, S. 106.

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Die Religion des Bauern sei „Gehorsam gegen seinen Erbherrn, und seine Tugend allenfalls die Nüchternheit, aber allezeit Fleiß in seiner Arbeit.“4 In seiner Erzählung Der Landprediger wird Jakob Lenz Ideen entwickeln, wie die Bauern zu bilden seien: unter anderem durch Agrarreformen – ganz im Gegensatz zu Gewalt und Bekehrung –, aber eben auch durch Predigt, die an den Horizont und die Bedürfnisse der Bauern angepasst ist. Er ist optimistischer als Jannau, der meint, der Bauer würde ewig „das rohe Kind der Natur“ bleiben: „Denn der Unterricht der Prediger kann ihn nicht bilden, weil der Bauer noch nicht die große Kunst gelernt hat, aufmerksam zu seyn, und weil die Schulanstalten in ihrer Simplicität, ihm keineswegs die Hand bieten können.“5

Das Bildungsprogramm der Prediger lässt sich als ein repressives Machtinstrument begreifen: Wahre Tugend kann der Bauer nach Jannau gar nicht begreifen: „Der Prediger muß daher hauptsächlich lehren, sey der Obrigkeit unterthan! so fließen seine Sitten auch zur Tugend, doch nur nach seiner Art.“6 Zwar fände bereits eine Art der Aufklärung und Zivilisierung der Bauern statt, aber mit ungeeigneten Mitteln, sodass die Bauern das Mitgeteilte gar nicht verstehen könnten. Die Vermittlung von der Kanzel tauge nicht dazu: „Es ist wahr, pflichtmäßig publiciren die Prediger jährlich, den größten Theil der Gesezze, die zum Bauerrechte gehören, in der Sprache der Bauern, von der Kanzel; allein durch die Menge der Patente, deren Inhalt oft weitläuftig ist, und die auf einmal abgelesen werden müssen, vergißt der Bauer, was er gehört hat; durch den Mangel an Aufmerksamkeit hört er das nicht einmal recht, was sein Pastor ihm gesagt hat; oder es wird ihm ganz unverständlich, weil Prediger und Zuhörer schon ermüdet sind.“7

Jannau schlägt vor, den Bauern verständliche, gedruckte Gesetze in die Hand zu geben. Das könne die Grundlagen dafür bereiten, dass die Bauern irgendwann ihre Freiheit erhalten könnten. Christian David Lenz aber distanziert sich in Livland, als er sich mit den gesellschaftlichen Problemen konfrontiert sieht, immer mehr von den Herrnhuter Ideen der Sozialreform; ausdrücklich im Jahr 1750 in Gedanken über die Worte Pauli 1 Cor. I.v. 18. Die Predigten werden scharf und streng im Ton; Obrigkeitsgehorsam ist ihr Ziel: „Laß den Herzen seinen Vortrag lauter Spieß und Nägel seyn“, wünscht bereits der junge Jakob seinem Vater.8

4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 108. 7 Ebd., S. 137f. 8 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Neujahrs Wunsch an meine hochzuehrende Eltern. In: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Bd. 3. Leipzig 1987, S. 7.

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Christian David Lenz als Bußprediger Der Gemeinde die Verfehlungen vorzuhalten und sie zur Besserung, also zum Gehorsam, anzuhalten, ist der zentrale Punkt in Christian David Lenz’ Predigten. Im Jahr 1756 veröffentlicht er eine Sammlung von Buß- und Gnadenpredigten: Evangelische Buß- und Gnadenstimme in dreyzehn erwecklichen Buß-Predigten. Predigten seien das, beschreibt er sie selbst, „welche einfältig und nach dem schwachen Begrif auch der geringsten Leser und Zuhörer eingerichtet, dabey aber doch lehrreich und saftig sind, welche mit ganz deutlichen Worten dennoch die herrlichsten Lehren des Evangelii in ihrem Reichtum und Schönheit ja in lebendiger Kraft vortragen, welche die Seelen in eine gründliche und lebendige Erkenntiß ihres tiefen Elendes, sonderlich des schändlichen Unglaubens führen.“9

Es gäbe zu wenig Bußpredigten auf dem Lande, gibt er unter anderem als Begründung für die Herausgabe seiner Schrift an. Und selbst denen mangele es oft an der wahren Form: Viele Predigten seien „mit so viel Rednerschmuck aufgepruncket, daß dadurch die Kraft der Wahrheit ersticket wird.“ So bliebe das Herz des Zuhörers aber „tot und unempfindlich.“10 Andere seien nach der „so genannten strengen philosophischen Lehrart geschrieben“, die kaum jemand verstehen könne. Diejenigen aber, die sie verstünden, „gehen von Lesung derselben so dürr und trocken zurück, als hätten sie ein Stück aus des Kanzlers von Wolf Metaphysik gelesen.“ Auch diese Predigten seien nicht erbaulich. Ebenso kritisiert Christian David Lenz Predigten, die „ganz moralisch aber nicht evangelisch abgefasset“ sind, so dass man sie kaum von „eine[m] Commentarium über den Seneca“ unterscheiden könne. Wiederum andere machten die Zuhörer mutlos, denn die Prediger „schelten, donnern und fluchen darüber, daß die Zuhörer so tief in den Morast der Sünden versunken sind, sie zeigen ihnen aber nicht recht deutlich, wie sie wieder herauskommen können.“11 Diesem Negativbild stellt er seine eigenen Vorstellungen einer Bußpredigt gegenüber. Als Vorbilder nennt er Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke, Johann Jakob Rambach und Heinrich Schubert, wobei Speners Schreibart etwas dunkel sei. Gut seien solche Predigten, die „mit der Gründlichkeit auch eine ­recht kräftige Erbauung verknüpfen“ und eine tatsächliche Erkenntnis beim Zuhörer her19 Lentz, Christian David: Evangelische Buß- und Gnadenstimme in dreyzehn erwecklichen BußPredigten: deren zehn über wichtige und zum Teil schwehre prophetische Texte drey aber über die liebliche Geschichte von Zachäo Luc. 19, v. 1–10 gehalten und darauf zur algemeinen Erbauung für alle Arten erlöseter Sünder sehr vermehrt zum Druck befördert worden. Königsberg-Leipzig 1756, Vorrede, § 4. 10 Ebd. 11 Alle Zitate ebd.

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vorriefen. Die Bußpredigten sind als Lektüre für jeden Tag bestimmt; sie sollen mit großer Innerlichkeit gelesen werden: „Gib insonderheit auf die Wirkungen des Geistes GOttes, so du unter Lesung dieser Zeugnisse an meinem Herzen verspürest, vil Achtung, führe sie ins Gebeth und bewahre sie in einem Herzen.“12 Die Buße ist die tägliche Aufgabe für das Herz des reuigen Sünders, die durch die Predigten in Erinnerung gerufen werden soll. Wie Jakob Lenz in seiner theologischen Hauptschrift Meynungen eines Layen, Stimmen des Layen (1775),13 so führt auch der Vater das Wort ‚Buße‘ auf den griechischen Ursprung zurück. Das im Griechischen gebrauchte Wort heiße eigentlich ‚Sinnesänderung‘ und die Übersetzung ‚Buße‘ sei „dem Mißverstand von eigenem Büssen unterworfen“. Vor dem Missverständnis des Wortes als Werkgerechtigkeit, als Erlangung von Gnade durch eigenes Tun, habe die Auslegungstradition schon oft gewarnt: „Benimmt nun dis gleichwol nicht allen daß schädliche und greuliche Vorurteil von eignem Büssen; so wird es gewiß die eigenmächtige und sectirische Abschaffung des alten nun einmal eingeführten und in seinem rechten Verstande schon überall bekanten Worts: Busse, auch nicht thun. Ich schäme mich demnach des alten Worts: Busse nicht, ob ich gleich ein Totfeind von allem eigenen Büssen der werkheiligen Menschen bin.“14

Schon vor der Publikation seiner Predigten macht sich Christian David Lenz als Bußprediger einen Namen. Als er 1748 nach einem verheerenden Brand eine Predigt in Wenden (Cēsis) hält, wird sie zu einer dreistündigen Strafpredigt, die ein Beschwerdeverfahren nach sich zieht. Die Predigt erscheint in ihrer Anklage der sündigen Gemeinde dermaßen hart, dass sie deren Protest und einen Prozess der Stadt Wenden beim Oberkonsistorium und beim Hofgericht veranlasst.15 Eine göttliche Strafe für Verfehlungen und ausbleibende Buße sieht Christian David Lenz in dem Brand in Wenden. Seine Predigt lässt er drei Jahre später drucken: Das schreckliche Gericht Gottes über das unglückselige Wenden an dem Bilde des ehemals zerstörten Jerusalems. Hervorgerufen worden sei seine ­Entscheidung, die Predigt drucken zu lassen, „durch die sträfliche Erneuerung des vorigen sichern und fleischlichen Wandels und der alten schwehren Sünden, womit ihr vor dem erlittenen Brand den Zorn des Allmächtigen gereizet hattet, eine so schwehre Rache an euch auszuüben“.16 12 Ebd., Vorrede, § 10. 13 O. A. [Lenz, Jakob Michael Reinhold]: Meynungen eines Layen, den Geistlichen zugeeignet. Stimmen des Layen auf dem letzten theologischen Reichstage im Jahr 1773. Leipzig 1775. 14 Lentz, Evangelische Buß- und Gnadenstimme (wie Anm. 9), Vorrede, § 5. 15 Vgl. Jürjo, Indrek: Die Weltanschauung des Lenz-Vaters. In: Stephan, Inge; Winter, Hans-Gerd (Hg.): „Unaufhörlich Lenz gelesen …“. Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz. Stuttgart 1994, S. 138–152, hier S. 140–144. 16 Lenz, Christian David: Das schreckliche Gericht Gottes über das unglückselige Wenden an dem Bilde des ehemals zerstörten Jerusalems. Riga 1751, Vorrede.

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In seiner Predigt vergleicht er Wenden mit Jerusalem: „Hat der HErr Jerusalems Strafen über uns ergehen lassen; so muß Er auch wol diejenigen Sünden Jerusalems bey uns angetroffen haben“.17 Ein Mangel an Bußfertigkeit sei die Ursache für den Brand gewesen: „Zu eurem Frieden hätte es gedient, wenn ihr eure natürliche Feindschaft gegen GOtt, euern fleischlichen Sinn, euere Finsterniß, euern Unglauben, eure verderbten Neigungen, eure bösen Gedancken, Worte und Wercke und die damit verdienten Strafen Gottes bußfertig erkannt hättet“.18

Der Vater wird so bald zum berüchtigten Bußprediger und zum obersten Mann in der livländischen Kirche mit einer regen theologischen Schriftstellertätigkeit. Dichtung dagegen ist im Vaterhaus nur dann geduldet, wenn sie im orthodoxen Dienst steht oder zumindest zur religiösen Erbauung dient, wie etwa Klopstocks Messias. Die schriftstellerischen Erzeugnisse seines Sohnes und der damit verbundene Lebenswandel bereiten ihm daher große Sorgen. Dessen aufklärerische und populartheologische Ideale kann er nicht gutheißen, ganz zu schweigen von dessen schriftstellerischen Ambitionen.

Der theologische Konflikt zwischen Jakob und Christian David Lenz Am 20. Januar 1776 schreibt Johann Christian Lenz, Jakobs jüngerer Bruder, dem Vater von Jakobs im Jahr davor erschienener theologischer Schrift Meynungen eines Layen. Stimmen des Layen und nimmt Bezug auf den Brief des Bruders vom November 1775, in dem Jakob bekräftigt hatte, mit den Eltern einig zu sein. Er wiederholt seine Hoffnung, dass mit dem schriftstellerisch tätigen Bruder alles wieder in Ordnung kommen werde. Er hofft, „daß diese Epoche der Schwärmerei, welche doch mehrenteils die Folge einer guten gefühlvollen Seele ist, nur eine Zeitlang dauern“ werde und der Bruder bald ein Ziel in seinem Leben finde: „Schade wohl, daß er auf den verderblichen Abweg geraten, die schönen Wissenschaften zu seinem Studio zu machen, ohne sich ein gewisses Ziel zu stecken.“ Das und „die Sucht die Welt zu sehen – im Grunde gelehrte Windbeutelei“ seien die Gründe für seine Flucht aus Livland.19 17 Ebd. Vgl. auch zur für Lenz verdienten Bestrafung der Stadt ebd., S. 23: „Ach! hätte auch das unglückselige Wenden bedacht, was zu seinem Frieden dienete; so möchte es nicht durch ein solch entsetzliches Gericht untergegangen seyn. Allein eben diese eure Sorglosigkeit in Ansehung dessen, was zu euerem Frieden dienete, ist ohnezweifel auch die Ursache gewesen, warum der HErr anitzo mit eurer Stadt beynahe das Garaus gemacht.“ 18 Ebd., S. 24. 19 Lenz, Johann Christian: Brief an Christian David Lenz. 20.01.1776, zit. nach dem Abdruck in: Müller, Peter unter Mitarbeit von Jürgen Stötzer (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Ur-

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Der Bruder teilt mit, dass Jakob die Meynungen selbst geschrieben habe. So wie er es – da er selbst „Laie“ sei – sehe, habe Jakob „die Partei wider die heterodoxen Neuerer mit Eifer (doch alles im Herderschen Style) ergriffen.“ Darauf spiele Jakob wohl an, wenn er im vorausgehenden Brief sage, dass er mit dem Vater „in allen Stücken einerlei Meinung sei.“ Aber in der Frage der Schriftstellerei könne es wohl kaum so sein: „Nur über den Punkt des Theaters und der schönen Wissenschaften mag er es wohl nicht sein, weil er sich darüber nicht ausläßt, und das ist freilich schlecht von ihm. Doch vielleicht hat er gefürchtet, Sie durch Verteidigung seines Geschmackes und der Sekte, zu der er geschworen (die Herder-Goethe’sche und zum Teil Klopstock’sche), weil er Sie vielleicht derselben abgeneigt glaubet, zu beleidigen.“20

Jakob Lenz und sein Vater sind sich nicht nur in Fragen des Lebenswandels, sondern auch in theologischen Fragen uneins. Im Jahr 1780 veröffentlicht Christian David Lenz eine Art Gegenschrift zu Jakob Lenz’ Meynungen. Es handelt sich um Die Stärke des Schriftbeweises für die in unsern Tagen angefochtene Lehre von der Genugthuung Jesu Christi. Darin wird die soteriologische, erlösende Funktion Jesu betont, der kein bloßer Erzieher oder Weisheitslehrer gewesen sei. Christian David Lenz wehrt sich in der Vorrede gegen die aufklärerische Maxime, das in der Bibel Beschriebene an der Vernünftigkeit zu messen. Das gelte für „Lehrer, oder Schriftsteller“, welche die „Wahrheit und Göttlichkeit der heiligen Schrift“ nicht erkennen wollen, „sondern daraus, als aus einem blos menschlichen, obgleich sonst vorzüglich guten, aber gar nicht fehlerfreyen Buche, nur das annehmen, was sie mit ihrer eignen für unbetrüglich gehaltenen Vernunft übereinstimmig finden“.21 Es komme alles darauf an, das blutige Versöhnungsopfer, das Jesus darstelle, als Tatsache des Glaubens zu begreifen. Das sei die „tröstliche und kräftige Hauptwahrheit“ des Evangeliums, die so klar sei, „daß die Gegner derselben die gewaltsamsten Mittel brauchen, überall wider die einfältigsten, deutlichsten und richtigesten Vorschriften einer gesunden Auslegungskunst verstossen, und dagegen die gezwungensten und weit hergeholtesten, aus einer falschen Kritik und gezerreten Philologie, zu ihrer Meinung hingepreßten Erklärungen (die am Ende fast auf lauter willkührliche und unbewiesene Hypothesen und petitiones principii hinauslaufen) annehmen müssen.“22

teil dreier Jahrhunderte. Texte der Rezeption von Werk und Persönlichkeit. 18.–20. Jahrhundert. Bd. 1. Bern u. a. 1995, S. 169. 20 Ebd. 21 Lenz, Christian David: Die Stärke des Schriftbeweises für die in unsern Tagen angefochtene Lehre von der Genugthuung Jesu Christi. Riga 1780, § 2. 22 Ebd., S. 9.

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Sein Sohn Jakob Lenz führt in den Meynungen von 1775 eben solche bibelphilologischen Aktionen vor. Christian David Lenz dagegen ist auch ein entschiedener Gegner der Akkomodationstheorie, wie sie etwa von Johann Gottfried Herder vertreten wird. Auch dessen Orientalismus verfälscht für Christian David Lenz das Neue Testament und damit die Botschaft des Christentums. Es würden „gleichsam ganze Lastwagen von allen orientalischen Bildern“ zusammengebracht, damit „die Kraft der Ausdrücke von Christo und seiner blutigen Versöhnung entnervet werden“.23 Für den Laien entstünden dadurch Probleme, den heiligen Text recht zu erfassen. „Durch die „Schatten morgenländischer Sprachkunde, Kritik und Philologie (die ich sonst an sich selbst in ihrem rechten Gebrauch sehr verehre, liebe und selbst studire)“ würde die christliche Botschaft „verdunkelt“.24 Die übertriebene Gelehrsamkeit verstelle den einfachen Sinn der Bibel, deren vom Heiligen Geist hervorgebrachte Sprache „aus so vielen gleichlautenden Stellen derselben, worinn ihrer Wörter wieder vorkommen, ihre veste, der göttlichen Wahrheit angemessene Bedeutung“ erhalte. „Christi blutiges Versöhnopfer“ sei nicht „wegzuphilosophiren und wegzukritisiren“.25 Zwar taugen auch die Meynungen nicht dazu, die Familie vollends zu besänftigen, sie erregen aber immerhin weniger Anstoß als Jakob Lenz’ sonstige literarische Produktion. Die Meynungen sind Ausdruck des Versuches, Literarisches und Theologisches in einer fruchtbaren Synthese zusammenzuführen. Zentral darin ist die angestrebte Versöhnung von Theologie und Literatur; sie stellen selbst eine literarische Predigt über exegetische, moralische und ästhetische Fragen dar. Im 18. Jahrhundert, und besonders im Sturm und Drang, gibt es vielfältige Wechselbeziehungen zwischen Rhetorik, Homiletik und Literatur: Die Predigt macht Anleihen bei der Literatur, die Literatur greift Strukturen der Predigt auf.

Jakob Lenz als literarischer Prediger Während der Vater als unerbittlicher Bußprediger von sich reden macht, versucht der Sohn die Basis für eine freiwillige Hinwendung und Umkehr des Menschen zu Gott qua Literatur zu legen, die dazu in Wechselwirkungen zur transformierenden Kraft der Predigt tritt. Jakob Lenz versucht in seinem Werk, eine Form des Sprechens zu entwickeln, die es vermeidet, brutale Bekehrung und Gewalt zu sein, die nur Entstellung des Menschlichen mit sich bringt, aber dennoch auf die (moralische) Erhöhung und Bildung des Menschen zielt.

23 Ebd., S. 10f 24 Ebd., S. 11f. 25 Ebd., S. 13.

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Jakob Lenz schreibt und hält nicht nur einige Predigten im Laufe seines Lebens, er versteht sich auch selbst als literarischer Prediger. Vergleicht man Jakob Lenz’ Biographie mit den Werdegängen seines Vaters und des ältesten Bruders Friedrich David Lenz, so sieht man, dass er sich zwar rege für theologische Fragen und das Predigen interessiert, er sie aber vorwiegend auf dem Gebiet des Literarischen oder Sozialreformerischen bearbeitet. Man kann seine Biographie als Flucht vor dem Widerspruch zwischen den eigenen Neigungen und den Plänen des Vaters lesen, wie sie ihm im ältesten Bruder Friedrich David Lenz früh vor Augen stehen: Er heiratet im Jahr 1768 und wird Landpfarrer in Tarwast (Tarvastu). Jakob Lenz selbst folgt zunächst dem Vorbild des Bruders und beginnt wie er, in Königsberg Theologie zu studieren. Auch Jakob sollte den Plänen des Vaters gemäß nach dem Studium umgehend in die livländische Heimat zurückkehren, eine Pfarrstelle annehmen und heiraten.26 Der junge Jakob Lenz ist im Winter 1767/68 in Tarwast während der Hochzeitsvorbereitungen bei dem Bruder zu Gast. Er selbst soll sich dort einer Kur unterziehen.27 Jakob Lenz berichtet seinen Eltern vom Pastorenleben des Bruders („Auf den Sonntag wird der Bruder teutsch predigen“28), von der beschwerlichen Reise und der Unterkunft. Am 24. November schreibt er erneut an den Vater aus „Tarwasts Pastorat“. Seine Kur verlaufe gut, der Bruder sei wohlauf, aber mit seinen „Amtsgeschäften“ sehr in Beschlag genommen.29 Als Jakob den Brief gerade beschließt, tritt der Bruder ins Zimmer. „Mit steifen Fingern“ setzt Friedrich David noch das eigene Postskriptum hinzu: „Theurester Papa. Diesen Augenblick komme von der Catechesation. Von 8 Uhr heute Morgen bis 4 Uhr Na[c]hmittag habe ich in der Kälte zugebracht, und bin vom Frost und Ungestüm so durchgenommen, daß ich kaum die Fingern rühren kann.“30 26 Ernst Rudolph Köpke beschreibt in seiner Biographie von Lenz den Lebenslauf des ältesten Bruders, dem Jakob nachfolgen soll. Vgl. Köpke, Ernst Rudolph: Lenzens Leben. Biographisches Fragment. 1850–1866. In: Müller, Peter unter Mitarbeit von Jürgen Stötzer (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Urteil dreier Jahrhunderte. Texte der Rezeption von Werk und Persönlichkeit. 18.–20. Jahrhundert. Bd. 4. Bern u. a. 2005, S. 157–193, hier S. 169f. 27 Vgl. Rosanow, Matvej Nikanorovic: Jakob M. R. Lenz: der Dichter der Sturm- und Drangperiode. Leipzig 1909, S. 46f. Vgl. auch Babelotzky, Gregor: „Warum berühmt“ – Zu einer Erzählung aus Jakob Michael Reinhold Lenz’ Nachlaß. In: Text. Kritische Beiträge 15 (2016), S. 171–196. 28 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Brief an Christian David Lenz. 9.11.1767. In: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Bd. 3. Leipzig 1987, S. 247. Georg Friedrich Dumpf gibt in Lenzens Leben eine Beschreibung der Zeit in Tarwast. Vgl. Dumpf, Georg Friedrich: Lenzens Leben. Biographisches Fragment. 1816–1849. In: Müller, Lenz im Urteil. Bd. 4 (wie Anm. 26), S. 97–138, hier S. 106f. 29 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Brief an Christian David Lenz. 24.11.1767. In: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Bd. 3. Leipzig 1987, S. 247. 30 Latvijas Universitātes Akademiska Biblioteka [Akademische Bibliothek der Universität Lettlands] Rīga. Ms. 1113. F. 25. V. 31. Nr. 4a, 1r.

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Am 24. Januar 1768 findet in Reval (Tallinn) schließlich die Hochzeit von Friedrich David und Christine Margarethe Lenz, vormals Kellner – der Tochter des Superintendenten von Reval – statt. Als sich Jakob Lenz dann einmal Aussichten in Danzig eröffnen, erteilt der Vater Christian David unverzüglich Anweisungen: „Aufs Land, aufs Dorf. 1) […] wir haben hier 10mal bessere Land-Pastorate, als die dortigen Dorf-Pfarren sind, wo die armen Prediger fast das Hungerbrod fressen. 2) ist nichts Verachteteres, als e[in] dasiger Dorf-Pfaffe“.31

Er solle nach Livland kommen, wo der Vater großen Einfluss habe. So „befehle ich dirs als Vater, daß du dies Project fahren lassest u[nd] mit deinem Bruder hereinkommst.“32

Die Erzählung Der Landprediger Doch Jakob Lenz will nicht heimkommen. Stattdessen verfasst er neben ­theoretischen Schriften weiterhin auch literarische – die oft in ästhetischer Form theologische Diskurse aufgreifen. In Lenz’ Werk taucht nicht nur eine Vielzahl von Predigerfiguren auf, er reflektiert auch immer wieder auf die Aufgabe des Dichters, die analog zu der des Predigers zu begreifen sei, so auch in seiner Erzählung Der Landprediger. Die Erzählung erscheint in drei Teilen im April, Mai und Juni 1777 im Deutschen Museum.33 Nachdem er auf Betreiben Goethes Weimar hat verlassen müssen, verfasst Lenz die Erzählung während eines Aufenthalts bei Goethes Schwager Johann Georg Schlosser und dessen Frau von Ende Dezember 1776 bis April 1777 im badischen Emmendingen. Versteht man den Landprediger als Teil von Lenz’ Versuch, sein Schaffen als Schriftsteller gegenüber dem Vater zu rechtfertigen, so scheint selbst diese Erzählung dessen Erwartungen nicht ganz genügt zu haben. Christian Dingelstädt zumindest, ein Freund des Vaters, findet noch immer Anstößiges in der Erzählung. Er schreibt an Christian David Lenz, dort „kommen manche Äußerungen über die Religion vor, die ich gerne heraushaben möchte.“34 Poetisch scheint die Erzählung der Literaturkritik gelungen; sie nimmt diese Produktion sehr viel freundlicher als zuvor die Dramen auf. Die Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen etwa heben die poetische Machart positiv hervor. Lob bekommt die 31 Zit. nach Kraft, J. M. R. Lenz (wie Anm. 2), S. 56. 32 Zit. nach ebd. 33 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Landprediger. In: Deutsches Museum 1 (1777), S. 289–307, 409–439, 567–574. 34 Dingelstädt, Christian Adolf Ludwig: Brief an Christian David Lenz. 24.10.1777, zit. nach dem Abdruck in Müller, Lenz im Urteil, Bd. 1 (wie Anm. 19), S. 286.

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Erzählung für den Anstand ihrer Ausdrucksweise: „Möchte Hr. Lenz doch stets in einem so wohlanständigen Ton schreiben! Nur dieser mangelte bisher seinen Schriften, um allgemeinen Nutzen zu stiften.“35 So konnte auch das Berlinische litterarische Wochenblatt die Erzählung als Vorbild für alle Landprediger empfehlen: „Ein herrliches Muster, aufgestellet zur Nachahmung […] und ein Beweiß, wie unbeschadet einiger Inorthodoxie, ein solcher seiner Gemeinde und dem Staate ein erbaulicher und nützlicher Mann werden kann.“36

Die Schilderung zeuge von „der guten Menschen- und Weltkenntniß“ des Verfassers, sodass man „wünschet, alle Landprediger möchten Mannheims, d. i. Seelsorger, Schiedsrichter, und Wirtschaftslehrer ihrer Gemeinden seyn“.37 Zwar geht es in dieser Erzählung um die Frage einer Reform der Predigt, aber zugleich auch um Lenz’ biographische Krise, die sich literarisch objektiviert, ohne sich auf Autobiographisches reduzieren zu lassen.38 Der Landprediger ist die Geschichte der Emanzipation des Protagonisten Mannheim von der Predigt des Vaters. Schon seine theologische Ausbildung – Mannheim stellt das Amt des Predigers nicht an sich als Lebensweg in Frage – weicht von den Vorstellungen des Vaters ab. Früh entwickelt er ein Interesse an ökonomischen Fragen und richtet auch sein theologisches Interesse darauf hin aus, was er den Bauern als praktisch zuträglich erachtet. Es herrscht das Primat der ökonomischen Praxis und alltäglichen Kasuistik, die den Hauptgegenstand der Predigt bilden, sodass Mannheim nicht „an aristotelischen oder andern theologischen Spizfindigkeiten hängenzubleiben“39 droht. Der 35 Neue Zeitungen von gelehrten Sachen auf das Jahr 1777. Leipzig. Nr. 32 (April), S. 21, zit. nach ebd., S. 378. 36 Berlinisches litterarisches Wochenblatt. Bd. 2. Berlin, 09.08.1777, zit. nach ebd. Bd. 4, S. 80f. 37 Ebd., S. 81. Mannheim ist der Name des Protagonisten im Landprediger. 38 Es geht um „sein Selbstkonzept, seine Selbstdeutung, seine Neuortung nach dem Weimarer Debakel“. So Werner, Franz: Bettelnder Dichter oder dichtender Bauer. „Der Landprediger“ von J. M. R. Lenz – eine literarische Folge seiner Verbannung aus Weimar? Heidelberg 2009, S. 206. Daher sind auch die Probleme, mit denen die Figur des Mannheim konfrontiert ist, keine realen Widerstände, sondern solche des eigenen Bewusstseins; vgl. Dedert, Hartmut: Die Erzählung im Sturm und Drang. Studien zur Prosa des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1990, S. 67. Was in der Forschung oft übersehen wird, was aber u. a. von Winter stark gemacht wird: „Obwohl der Landprediger den Mittelpunkt der Erzählung bildet, wird die Identifikation des Lesers mit seiner Geschichte immer wieder durchbrochen durch Erzählerräsonnements, die meist ironisch-kritische Distanzierungen beinhalten.“ So Winter, Hans-Gerd: „Andern Leuten Brillen zu schleifen, wodurch sie sehen können“. „Der Landprediger“, gelesen als ambivalenter Erinnerungstext. In: Stephan, Inge; Winter, Hans-Gerd (Hg.): „Die Wunde Lenz“. J. M. R. Lenz: Leben, Werk und Rezeption. Bern 2003, S. 109–127, hier S. 112. Werner sieht dagegen in Mannheim das uneingeschränkt nachahmenswerte Vorbild, vgl. Werner, Franz: Landlebenidylle oder Intellektuellenutopie? J. M. R. Lenz: „Der Landprediger“. In: Lenz-Jahrbuch 12 (2002/2003 [2005]), S. 31–67, hier S. 38f. 39 Lenz, Der Landprediger (wie Anm. 33), S. 301.

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Landprediger richtet in seinem Haus „eine Akademie der Künste und Wissenschaften“ ein, „weil sich Künstler und Gelehrte zu ihm flüchteten.“40 Die Künstler werden beim Theologen gastfreundlich aufgenommen, aber auch maßvoll gemacht; sie erfahren eine Bildung durch den Prediger. Die Ästhetik geht bei der Theologie in die Schule. Doch nach und nach genügt ihm das Wirken im kleinen Kreis nicht mehr. Mannheim hat das Verlangen, „ein Mann zu seyn, der mehrern Menschen seine Existenz zu fühlen gibt. […] Kurz, es war – der schlimmste Sauerteig, der seit Adams Fall im menschlichen Herzen gegärt hat – es war der Autor, der das Haupt in ihm emporhob.“41

Mannheim will anderen neue Perspektiven eröffnen: „Aber die Autorschaft – andern Leuten Brillen zu schleifen, wodurch sie sehen können, ohne welche ihnen tausend Sachen verborgen blieben. – Es ist doch groß das, meynte er.“42

Es sei nun an der Zeit, als Theologe auch durch literarisches Schreiben nützlich zu werden: „warum sollte ein Prediger nicht auch durch Romanen und Schauspiele nüzen können, wie durch Predigten und geistliche Lieder? Der Nuzen müste noch weit grösser seyn, weil dergleichen Bücher in weit mehrere Hände kommen, weit begieriger gelesen werden, wenn es dem Verfasser an Wiz nicht mangelt.“43

Von einem Prediger geschriebene Literatur verfehlt nicht den Sinn einer Predigt, steht nicht zu der Aufgabe des geistlichen Amtes, der Verkündigung, in Widerspruch, sondern transformiert diese nur in eine andere Form, die – so überlegt Mannheim – sogar wirkmächtiger und damit nützlicher sein kann, wenn sie lebendig wirkt und nicht zur Rhetorik oder Belehrung verkommt. Doch Mannheim scheitert daran, tatsächlich einen Roman zu schreiben, weil er in seinem Amt und bisherigen Leben verharrt. Er will Prediger und Literat zugleich sein, was ihn von beidem gleichermaßen fern und im Widerspruch gefangen hält: „Die Begierde, ein Romanschreiber zu werden, drückte und folterte ihn Tag und Nacht, wo er ging; was er sah, was er anrührte, wollte er alles in seinen Roman bringen und der arme Mann saß beständig in seiner fröhlichen Gesellschaft da, wie ein Elephant mit einem Ring in der Nase –“.44

40 41 42 43 44

Ebd., S. 419. Ebd., S. 424. Ebd. Ebd., S. 425. Ebd.

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Als die Situation unerträglich wird, sagt er sich von der Schriftstellerei wieder los. Literarisches Schreiben erscheint als Ablenkung von seinem geistlichen Amt und seiner Verantwortung der Familie und der Gesellschaft gegenüber. Mannheim ­schreibt fortan nur noch praktische Schriften, über Landwirtschaft etwa oder über das Klima. Der Landprediger entscheidet sich gegen die schöngeistige Literatur und widmet sich ganz seinen geistlichen Aufgaben. Die Darstellung des Landpredigers objektiviert Lenz’ Problem in einem poetischen Bild, ohne es damit literarisch oder lebenspraktisch bewältigen zu können. Dass Der Landprediger diese Position in einer poetischen Form darstellt, lässt die Frage für Lenz selbst unentschieden bestehen. Die Wahl ist nicht die zwischen Literatur oder Predigt. Es geht um das komplexere Problem, wie eine Form gefunden werden kann, die weder einfach belehrende, und damit die Unfreiheit fortsetzende, Predigt, aber auch nicht unverbindliche oder gar schädliche Literatur ist.

Der „Herzenskündiger“ Jakob Lenz Der Landprediger markiert eine Etappe in der Zuspitzung des sich verschärfenden Konfliktes zwischen Prediger und Dichter. Im Steintal beim Landprediger Friedrich Oberlin, dem großen Reformer auf dem Gebiet der Bildung, der dem Prediger Mannheim als Figur Pate gestanden hat, manifestiert sich dann 1778 Lenz’ psychische Krise, die von diesem Zwiespalt ihren Ausgang nimmt. Nach seiner Rückkehr nach Livland im Jahr 1779 bemüht er sich, in der Heimat wieder als ‚Theologe‘ Fuß zu fassen. Jakob Lenz überarbeitet die Erzählung vom Landprediger und widmet sie seinem ältesten Bruder Friedrich David, dem Tarwaster Pfarrer. Dazu gibt Lenz Änderungen zum Druck im Deutschen Museum an, die in einem Manuskript überliefert sind. Jakob Lenz scheint mit der Entscheidung, die überarbeitete Erzählung seinem Bruder Friedrich David zu widmen, gerungen zu haben. Zweimal schreibt er die Widmung nieder, zweimal streicht er sie aus. Erst beim dritten Mal bleibt sie stehen.45 Das Verhältnis zu Friedrich David scheint sich dann in den nächsten Jahren weiter zu verschlechtern. Im Jahr 1790 schreibt Lenz, dass seine Geschwister in Riga (Rīga) „weit einsichtsvoller und menschenfreundlicher denken, als die andern deren Herz umzulenken ich dem lieben Gott allein überlassen muß, weil ich kein Herzenskündiger bin.“46

45 Vgl. Materialien zu Kapitel 3 in Babelotzky, Lenz als Prediger (wie Anm. 1): Biblioteka Jagiellonska Kraków [Jagiellonische Bibliothek Krakau]. Lenziana 2, eigenhändige Originale: Der Landprediger, Varianten zu der Erzählung im Deutschen Museum, 3 Bl. 46 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Brief an Johann Christian Lenz. 9.11.1790. In: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Bd. 3. Leipzig 1987, S. 677.

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Nicht unwahrscheinlich ist, dass Lenz im ältesten Bruder gerade das vor Augen steht, was ihm einst ebenfalls bestimmt war, nun aber verschlossen ist: ein Leben als Landprediger. Lenz’ Bekannter, der russische Dichter Karamzin, stellt 1789 die beiden Brüder einander gegenüber, den „unglücklichen“ Dichter Jakob Lenz und den Landprediger Friedrich David Lenz: „In Dorpat lebt der Bruder des unglücklichen L[enz]. (Lenz, ein deutscher Schriftsteller, welcher einige Zeit mit mir in einem Hause wohnte. Eine tiefe Melancholie, die Folge vielen Unglücks, hatte seinen Geist zerrüttet, aber selbst in diesem Zustande setzte er uns alle in Erstaunen durch seine poetischen Ideen und rührte uns häufig durch seine Gutherzigkeit und Geduld.) Er [Friedrich David] ist Oberpastor, wird von allen geliebt und hat eine gute Einnahme.“47

Vielleicht ist Jakob Lenz aber auch als Schriftsteller „Herzenskündiger“. Aufklärerische Bildung setzt er den Gefahren einer durch Gewalt entstellten Menschlichkeit gegenüber. Nicht Bekehrung, sondern Ermunterung sollen seine Schriften, anders als die des Vaters, darstellen. Sie sollen die Möglichkeit der Transformation des Geistes durch die Macht des poetischen Wortes eröffnen, die Freiheit, sich dem Vorgetragenen zuzuwenden oder auch nicht, da erst die Möglichkeit freier Zuwendung die Gottesebenbildlichkeit des Menschen ausmacht. Lenz ist in diesem Sinne Prediger und Literat.

47 Karamsin, Nikolaj Michajlovič: Brief an A. A. Pleschtschejew. 31.05.1789. In: Müller, Lenz im Urteil. Bd. 1 (wie Anm. 19), S. 346f., hier S. 346.

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Deutschbaltische Pastoren und ihr Verständnis von ­Bildungsvermittlung – Lehr- und Lernverhältnisse zu estnischen und lettischen Gemeindemitgliedern im 19. Jahrhundert In den zahlreichen Untersuchungen zum ‚nationalen Erwachen‘ der Titularvölker Estlands und Lettlands ist dem (lange Zeit deutschbaltisch geprägten) Berufsstand der Pastoren große Aufmerksamkeit zuteilgeworden.1 Die Forschungsfragen bezogen sich in der Regel auf die Unterstützungsleistungen deutschbaltischer Männer in ihrer beruflichen Funktion als Pastoren bei der Bildungsvermittlung und im Volksschulwesen überhaupt. Dabei wurde bevorzugt der Motivation und den Bildungszielen der Geistlichen und der evangelisch-lutherischen Kirche nachgegangen. Im Wechselspiel zwischen Förderern von Emanzipationsbestrebungen der Titularvölker einerseits und Gegnern jedweder gesellschaftlicher Veränderungen andererseits gerieten Pastoren zu wichtigen und eben umstrittenen Protagonisten im Nationalisierungsprozess der Esten und Letten.2 Die Differenzkategorie der nationalen Zugehörigkeit kann und wird auch im Rahmen dieser Abhandlung nicht aufgegeben. Sie bleibt ein wesentlicher Bestandteil bei einer Fragestellung, in der die konkreten Umsetzungserfahrungen der Pastoren bei ihrer Vermittlung von Wissen im Vordergrund stehen. In dem akteurszentrierten Verfahren, bei dem der Fokus auf einzelne Pastoren gelenkt wird, dürfen Faktoren, die Motivation und Intention der Protagonisten beeinflussen, nicht unberücksichtigt bleiben. Nationale Zugehörigkeit wird in dieser Perspektive neben dem Verständnis von Glauben und der Hierarchisierung von ethnischer Zugehörigkeit, Gesellschaft sowie kultureller Hegemonie eine wiederkehrend zu hinterfragende Kategorie für Handlungsoptionen und Denkstrukturen sein. Bei diesem Vorgehen werden die Handlungen des Geistlichen reziprok, also nur insoweit untersucht, als dass als subjektiv empfundene Erfolge oder Niederlagen verschriftlicht wurden. Darüber hinaus werden die selbst auferlegten – neudeutsch 1 Diese Feststellung ist bereits 1998 von Vita Zelče gemacht worden. Vgl. dies.: Auf dem Wege zu einer lettischen Nation. Deutschbaltische Pastoren in den sozialen und nationalen Prozessen von der ersten Hälfte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Nordost-Archiv 7/2 (1998), S. 417­–442. 2 Allgemein zum Forschungsstand und zu den Desiderata unter regionalgeschichtlichen Aspekten vgl. Kusber, Jan: Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen im Nordosteuropa des 19. Jahrhunderts. Ein Problemaufriss. In: Wilhelmi, Anja (Hg.): Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen in Nordosteuropa (19. Jahrhundert). Wiesbaden 2011, S. 38–59, hier S. 48.

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gesprochen – Bildungsaufträge, die Bildungsvermittlung und das Verhältnis zu den Gemeindemitgliedern insgesamt diskutiert. Segregationen und Distanzierungen werden ebenso wie Zugehörigkeiten und Gemeinsamkeiten als handlungsleitende Momente herausgearbeitet. Mit dem Blick auf die kirchliche Gemeindearbeit werden des Weiteren Vergemeinschaftungen, gruppenstabilisierende sowie auch gruppendestabilisierende Elemente im Sinne einer alle Mitglieder einer Kirchengemeinde verbindenden religiösen Praxis gefiltert. Mit dem Blick auf den Untersuchungsraum muss Bildungsvermittlung zugleich als ein Prozess sozialer und ethnisch-kultureller Ungleichheit auf einer von oben nach unten gerichteten Beziehungslinie gesehen und in den Beziehungszusammenhang von sozialer Abhängigkeit gesetzt und mit diesem verglichen werden. Bei der Suche nach individuellen Zuschreibungen, seien sie sowohl ethnisch, national als auch kulturell, die den jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und Erfahrungswelten zugrunde liegen, bietet sich die Auswertung autobiografischer Quellen an. Für das vorzustellende Thema wurde ein Sample autobiografisch angelegter Schriften von Pastoren vor allem aus dem ländlichen livländischen Raum der Ostseeprovinzen des Russischen Reiches ausgewählt. Zeitlich setzen die Aufzeichnungen im frühen 19. Jahrhundert mit der sogenannten Bauernreform ein.3 Die revolutionären Ereignisse von 1905/06 werden als Ende des Untersuchungszeitrahmens gesetzt, da sie als Zäsur das Zusammenleben der Ethnien nachhaltig veränderten: Auf beiden Seiten bestimmten fortan Misstrauen und Unsicherheit die Beziehungsgeflechte. Nach einigen kurzen einleitenden Worten zum Berufsstand des Pastors werden – chronologisch folgend – einzelne Akteure mit ihren Bildungskonzepten und ‑bestrebungen vorgestellt. In einer Zusammenfassung werden Handlungsparallelen im Rahmen eigener identitärer Zuschreibungen bzw. Abgrenzungen gegenüber estnischen und lettischen Gemeindemitgliedern (oder allgemein Fremdzuschreibungen) herausgearbeitet.

Die Pastoren – zwischen Berufung und Familientradition? Ein kurzer Blick auf die Geistlichkeit der evangelisch-lutherischen Kirche in den Ostseeprovinzen zeigt ihre bis in das endende 19. Jahrhundert deutsche Prägung; Familien kamen diesem Beruf in Generationenfolge nach.4 Die Charakterisierung 3 Für die vorhergehende Zeit, insbesondere den Einfluss der Reformation und der Pastoren auf die sogenannte Volksbildung vgl. Grudulis, Ludwig: Die Reformation und die Volksbildung in Lettland (16.­–17. Jahrhundert). In: Golz, Reinhard; Mayrhofer, Wolfgang (Hg.): Luther und Melanchthon im Bildungsdenken Mittel- und Osteuropas. Münster 1996, S. 172–180. 4 Vgl. zur begrifflichen Diskussion u. a. Jureit, Ulrike: Generation, Generationalität, Generationenforschung, Version: 2.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte (03.08.2017), URL: http://docupedia.de/zg/ jureit_generation_v2_de_2017 (19.06.2020).

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als „Pastorendynastie“ resultiert aus dieser ‚Erbfolge‘, sie beruht aber auch auf ­einem Heiratsverhalten, das gruppenstabilisierend wirkte, indem Pastoren Ehen mit Töchtern aus anderen Pastorenfamilien eingingen.5 Die lettische Historikerin Vita Želce kategorisierte die Pastorenschaft der Ostseeprovinzen in drei soziale Gruppen: Die erstgenannte ist die bereits erwähnte ‚Pastorendynastie‘, zur zweiten Gruppe rechnet sie ursprünglich adlige Hauslehrer und zur dritten Gruppe Söhne wohlhabender Handwerker.6 In die folgende Untersuchung fließen vor allem die Erfahrungen von Mitgliedern der erstgenannten Gruppe ein. Es scheint, als ob insbesondere diese durch ihre Herkunft traditionell der Geistlichkeit zugehörigen Männer ihr Leben und ihre Berufstätigkeit als Pastoren schriftlich den ihnen nachkommenden Generationen – im Sinne einer wachzuhaltenden Familientradition – hinterlassen wollten. Landpastoren – und somit der Kreis der Geistlichen, der hier in die nähere Untersuchung einbezogen wird, – nahmen in der Sozialstruktur der Ostseeprovinzen eine besondere Position ein. Auf der einen Seite standen sie in direktem Kontakt zur herrschenden Oberschicht auf dem Land, auf der anderen Seite befanden sie sich zugleich aber auch in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihr. Das Patronatsrecht, mit dem die Wahl des Pastors nicht der Gemeinde zukam, sondern in die Hände des Gutsbesitzers gelegt wurde, schuf bzw. stützte eine vertikale Gesellschaftsstruktur, in der die Deutschen und mit ihnen ihre Sprache, ihre Kultur und ihr Glaube die estnische bzw. lettische Bauernbevölkerung dominierten. Die Nähe der Geistlichen zum herrschenden und besitzenden Adel begründete nicht nur aus eigener, sondern vor allem auch aus Sicht der Bauernbevölkerung die Distanz zur estnisch- bzw. lettischsprachigen Landgemeinde.7 Die hegemoniale Position wurde durch die wirtschaftliche Versorgung des Gemeindepastors gestärkt: Neben dem Landbesitz des Pastorats konstituierten die Pachtgelder und Abgaben der Gemeindebauern den Wohlstand des Pastors.8 Im Gegenzug für die Pachtabgaben hatte der Pastor ein weit gefächertes Aufgabenfeld gegenüber seiner Gemeinde zu bedienen: Ebenso wie in den deutschen Ländern oblag dem Landpastor neben seiner ‚seelsorgerischen‘ Tätigkeit und seinen Verwaltungsaufgaben (u. a. Kirchen-

5 Amburger, Erik: Die Pastoren des Konsistorialbezirks Estland 1885–1919. Versuch einer sozialgeschichtlichen Analyse. In: Ders. (Hg.): Die Pastoren des Konsistorialbezirks Estland 1885–1919. Köln-Wien 1988, S. 5–13, hier S. 9. Zu der Parallele in den deutschen Ländern vgl. Siegert, Reinhard: Pfarrer und Literatur im 19. Jahrhundert. In: Schorn-Schütte, Luise; Sparn, Walter (Hg): Evangelische Pfarrer. Zur sozialen und politischen Rolle einer bürgerlichen Gruppe in der deutschen Gesellschaft des 18. bis 20. Jahrhunderts. Stuttgart-Berlin-Köln 1997, S. 169–184, hier S. 174. 6 Želce, Wege (wie Anm. 1), S. 419. 7 Vgl. u. a. Feldmanis, Roberts: Die lutherischen Kirchen im Baltikum des 19. Jahrhunderts. Kirche in Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. In: Lutherische Kirche in der Welt 40 (1993), S. 181– 194, hier S. 184; Želce, Wege (wie Anm. 1), S. 419. 8 Vgl. die Parallelen dazu in den deutschen Ländern bei Siegert, Pfarrer (wie Anm. 5), S. 181.

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buchführung) sowohl die Armenfürsorge und die medizinische Hilfe als auch die Aufgabe, Grundkenntnisse der Landwirtschaft zu vermitteln sowie darüber hinaus die Schulaufsicht.9 Die Verantwortung über das Bauern- bzw. Volksschulwesen teilte sich mit Aufhebung der Leibeigenschaft seit 1819 die evangelisch-lutherische Geistlichkeit mit dem landständischen Adel, also der Ritterschaft. In der Praxis waren es die Pastoren, die in den Gemeinden für den Unterhalt der Schulen werben mussten. Sie agierten stellvertretend für die Bauernschaft, die auch deshalb, weil ihnen die Finanzierung der Schulen per Gesetz von 1819 anheimgestellt worden war, eher distanziert bis ablehnend dem Ausbau eines Volksbildungswesens gegenüber stand.10 In der genannten gesetzlichen Regelung, der livländischen Bauernverordnung des Jahres 1819, waren zwei Schultypen für die Landbevölkerung vorgegeben: die Gemeindeschule für die – wenn man so will – breite Masse sowie die Parochialschule für Kinder wohlhabender Bauern.11 Die Professionalisierung der Berufssparten führte auch im Baltikum zur Schaffung von Seminaren für die Lehrerausbildung. Mit der damit einhergehenden Konkurrenz um den Lehrerberuf wurden Pastoren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ernsthaften Problemen in der Wahrnehmung ihrer beruflichen Autorität konfrontiert.12 Grundsätzlich waren die Landpastoren in der Gestaltung ihres Handlungsraumes gegenüber der lettischen oder estnischen Gemeinde relativ autonom; in der Verrichtung ihrer Aufgaben bewegten sie sich weitgehend frei. Die drei ‚Herrschaftsbereiche‘ – weltliche Macht (durch die Verrichtung der niederen Gerichtsbarkeit), politische Macht und kirchliche Herrschaft samt Glaubensmonopol sowie auch die unmittelbare Abhängigkeit durch die Abgabenleistungen – untermauerten und konservierten die soziale Distanz der Pastorenschaft zur Bauernschaft. Die soziale Kluft wurde darüber hinaus von einem Habitus kultureller Überlegenheit auf Seiten der Kirchenvertreter gestützt. Abgrenzungen zu der Bauernbevölkerung wurden daher von jeher in den meisten Aufzeichnungen von Pastoren tradiert, so auch in denen aus dem frühen 19. Jahrhundert. Die im Laufe des Untersuchungszeitraumes einsetzenden kirchenpolitischen und sozial-politischen Einschnitte wurden von den Pastoren unterschiedlich bewertet.

19 Vgl. u. a. ebd., S. 180. 10 Vgl. Daukšte, Vija: Probleme des lettischen Schulwesens. In: Nordost-Archiv 1/2 (1992), S. 335– 351, hier S. 344. 11 Vgl. dies.: Die lettische Volksschule auf dem Wege zu den Reformen des 19. Jahrhunderts. In: Kühn, Detlef (Hg.): Schulwesen im Baltikum. Elf Beiträge zum 10. Baltischen Seminar 1998. Lüneburg 2005 (Baltische Seminare 8), S. 113–137, hier S. 127–131. 12 Vgl. ebd.

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Bei fast allen Akteuren nahmen drei Entwicklungen in ihren Amtsjahren ein besonderes, wenn auch unterschiedlich großes Gewicht ein:13 1. die Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit der Herrnhuter Gemeine als ein innerkirchliches Glaubens- und Amtsführungsproblem; 2. die Konversionsbewegung der 1840er Jahre als ein Vertrauens- und rechtliches Problem; 3. die nationale Emanzipation der Titularvölker als ein Problem sozialer und politischer Machthoheit. Mit Blick auf die ausgewählten autobiografischen Schriften einzelner Pastoren werden im Folgenden diese drei Konfliktpunkte einer genaueren Betrachtung unterzogen, um das Verhältnis des Pastors zu seiner Gemeinde perspektivisch zu beleuchten.

Die Erfahrungswelten einzelner Landpastoren – eine kurze Quellenskizze Bei allen vier Quellen handelt es sich um autobiografisch angelegte Schriften. Allerdings ist nur eine Quelle im strengen Sinne als reine Autobiografie zu klassifizieren.14 Der livländische Pastor Carl Maurach schrieb im Alter von 75 Jahren seine Lebensgeschichte mit dem Ziel der Publikation nieder. Im Jahr 1900 erschien diese dann in Leipzig in der Deichert’schen Verlagsbuchhandlung. Bereits im Titel seines Buches Eines livländischen Pastors Leben und Streben, Kämpfen und Leiden wird der Fokus seiner Aufzeichnungen deutlich: sein berufliches Wirken. Obwohl die Publikation seiner Frau Betsy Maurach „im fünfzigsten Jahre unserer Ehe in Liebe und Dankbarkeit“ gewidmet ist, stellt Maurach die Motivation zu schreiben in einen anderen Kontext.15 Es seien die Aufforderungen seiner Kollegen gewesen und nicht zuletzt auch der eigene Stolz auf seine Amtsausübung als Pastor, die ihn zur Niederschrift bewogen haben. Maurachs Lebensgeschichte bietet daher eine dezidiert auf den beruflichen Werdegang des Pastors gerichtete Perspektive, die – wie bereits 13 Die in den 1880er Jahre einsetzenden Wirkungen der Zentralisierungs- und Unifizierungspolitik des Zarenhauses veränderten die ethnische Zusammensetzung der Lehrerschaft stark. Die von deutschbaltischer Seite sogenannte Russifizierung wird in diesem Beitrag jedoch ausgeklammert. 14 Vgl. dazu u. a. Schabacher, Gabriele: Autobiographie. In: Pethes, Nicolas; Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek 2001, S. 64–67; Bergmann, Klaus: Lebensgeschichte als Appell. Autobiographische Schriften der ‚kleinen Leute‘ und Außenseiter. Opladen 1991. 15 Maurach, Carl: Eines livländischen Pastors Leben und Streben, Kämpfen und Leiden. In seinem fünfundsiebzigsten Jahre niedergeschrieben. Leipzig 1900, vor S. 1. Ein ­Digitalisat wird von der Universität Tartu online zur Verfügung gestellt: URL: http://dspace.ut.ee/handle/10062/ 16878?show=full (28.10.2020).

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in der Motivation der Niederschrift angedeutet – eine vorbildliche, nahezu erzieherische Funktion ausfüllen und die als Erfolgsgeschichte betrachtet werden soll. Ein halbes Jahrhundert zuvor entstand Eduard Johann Assmuth. Pastor zu TormaLohhusu in Livland. Ein Lebensbild aus der livländischen Kirche und ein Beitrag zu der Geschichte dieser Kirche, insbesondere ihres Kampfes mit Herrnhut. Das Büchlein erschien 1858 im Verlag Perthes in Gotha. Der Verfasser war aber nicht Assmuth selbst, sondern es wurde „von einem Freunde Assmuths“ veröffentlicht. Aus dem Vorwort des Buches wird deutlich, dass es sich bei dem Verfasser um eine Assmuth nahestehende Person, um einen Familienfreund, gehandelt haben muss.16 Dieser war es, der Familiennachrichten, Briefe und andere autobiografische Schriften der Familie zusammengetragen und in einen lebensgeschichtlichen Rahmen eingebettet hat. Der Verfasser benennt im Text die zitierten Passagen, allerdings ohne nachvollziehbare bibliografische Angaben zu den verwendeten Quellen. Mit unterschiedlichen Quellen wird auch im dritten Beispiel gearbeitet. Der Pastor Heinrich Wittram verfasste 1945 die Familiengeschichte Drei Generationen. Deutschland, Livland, Russland 1830–1914, ein Buch, das vier Jahre später in Göttingen in der Deuerlich’schen Verlagsbuchhandlung gedruckt wurde.17 Wittram lässt – wie auch im Beispiel Assmuths – eine Lebensgeschichte anhand von biografischen Schriften, hier vor allem Briefwechsel, entstehen. Während bei Assmuth der Blick auf eine Person gerichtet ist, nimmt Wittram drei Generationen, drei Pastoren einer Familie, in den Fokus. Drei Generationen ist der einzige der genannten Titel, der mit einem Anmerkungsapparat versehen ist. In Sturm und Stille. Ein baltisches Pfarrleben in bewegter Zeit aus der Feder von Viktor Wittrock ist die vierte ausgewählte Schrift.18 1939 in Bad Schwartau verfasst und ein Jahr später im Verlag Bahn in Schwerin gedruckt, beschreibt der ­Revaler Pastor Wittrock sein Leben bis zu seiner ‚Umsiedlung‘ nach Norddeutschland. Wie der Untertitel des Buches bereits suggeriert, liegt der Fokus auf der Amtsausführung Wittrocks. Trotz aller quellenkritischen Trennungslinien, die zwischen den vier Beispielen zu ziehen sind, weisen die Schriften Gemeinsamkeiten und Verbindendes auf. Sie alle rekurrieren auf autobiografisches Material und sind inhaltlich mit einer klaren Zielsetzung versehen: Protestantischer Glaube und Kirchenarbeit stehen im Mittel16 Lossius, Eduard Friedrich: Eduard Johann Assmuth. Pastor zu Torma-Lohhusu in Livland. Ein Lebensbild aus der livländischen Kirche und ein Beitrag zu der Geschichte dieser Kirche, insbesondere ihres Kampfes mit Herrnhut von einem Freunde Assmuths. Gotha 1859, S. X. Mein Dank geht an Martin Klöker, der den Verfasser mithilfe des Baltischen Biographischen Lexikons (BBLD) als Eduard Friedrich Lossius identifiziert hat. 17 Wittram, Heinrich: Drei Generationen. Deutschland, Livland, Russland 1830–1914. Göttingen 1949. 18 Wittrock, Viktor: In Sturm und Stille: ein baltisches Pfarrerleben in bewegter Zeit. Schwerin 1940.

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punkt. In der Ausrichtung der vier Bücher ist eine beinahe missionarische Funktion zu erkennen, die mit einer männlichen Person, einem Amtsträger umgesetzt wird. Fragestellungen zum Alltag, zur Arbeit und zum eigenen Verständnis als Pastor und Gemeindevorsteher lassen sich daher anhand der Quellen detailreich nachzeichnen.

Beispiel 1: Eduard Johann Assmuth Eduard Johann Assmuth (1792–1853)19 charakterisiert sein Verhältnis zur estnischen Gemeinde Torma-Lohusu (Torma-Lohusuu) im Sprengel Dorpat (Tartu), der er von 1819 bis 1852 vorstand, in den ersten Jahren seiner Amtszeit folgendermaßen: „[Ich vermisse] herzliches Vertrauen […] enges Anschließen […]; treueres Mitwirken der Schulmeister und der Kirchenbeamten für Schule und Kinderzucht.“20 Ständische und ethnische Unterschiede sah Assmuth als Gründe dieser unbefriedigenden Situation an. Zudem verhinderte die direkte Konkurrenz der Herrnhuter zu seiner pastoralen Tätigkeit seiner Meinung nach eine durchschlagende Effizienz seines Wirkens als religiöser Gemeindevorsteher.21 Die ersten Herrnhuter Brüdergemeinen hatten sich seit den 1730er Jahren über die aus den deutschen Ländern einreisenden Brüder in Kur-, Liv- und Estland etabliert. Sie wurden nach wenigen Jahren von den Pastoren der evangelisch-lutherischen Kirche als Konkurrenz wahrgenommen und alsbald verboten, bis ihnen ab 1764 zunächst Religionsfreiheit gewährt wurde. Ab 1817 wurde das Wirken der Herrnhuter erneut von der Zarenkrone legalisiert. 1832 dann, mit Einführung eines neuen Kirchengesetzes für die evangelisch-lutherische Kirche in Russland, nahm die Landeskirche erneut die Auseinandersetzung mit den Herrnhutern auf. Der Konflikt, der gerade in den Jahren 1848 bis 1854 an Schärfe gewann, führte ab 1860 zur erzwungenen Mitgliederbegrenzung der Brüdergemeine.22 Innerkirchliche Auseinandersetzungen um religiöse Inhalte zwischen den führenden Kirchenhäuptern (polarisiert zwischen den Anhängern des Rationalismus und denen des Pietismus) verstärkten die Konflikte zwischen Kirche und Glaubensgemeinschaft. 19 Geboren 1792 auf dem Pastorat Kosch (Kose), 1810 Theologiestudium in Dorpat (Tartu), 1812 Hauslehrer in Koik (Koigi), 1815 Aufenthalte in Deutschland und der Schweiz, 1819 Pastor in Torma-Lohusu, 1844–1852 Propst im Sprengel Dorpat, gestorben 1853. Vgl. Ottow, Martin; Lenz, Wilhelm (Hg.): Die evangelischen Prediger Livlands. Köln-Wien 1977, S. 156 20 Zit. nach Lossius, Assmuth (wie Anm. 16), S. 50. 21 Vgl. Straube, Gvido: Die kirchlichen Institutionen und die Frage der „Bauernbildung“. In: Wilhelmi, Bildungskonzepte (wie Anm. 2), S. 120–128, hier S. 123–127. Danach erreichten die ersten Herrnhuter Livland 1737 und errichteten 1738 das Bauernschullehrerseminar in Wolmar (Valmiera) (vgl. dazu den Beitrag von Beata Paškevica in diesem Band). 22 Vgl. Feldmanis, Kirchen (wie Anm. 7), S.187f.; Wittram, Heinrich: Friedrich Hollmann. Pastor und Generalsuperintendent in Livland in den ethnischen Spannungen und Konflikten des 19. Jahrhunderts. In: Baltische Seminare 19 (2011), S. 121–147, hier S. 128f.

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Der Landpastor Assmuth verstand sich selbst, in pietistischer Tradition stehend, als „Lenker und Seelsorger“ der Gemeinde.23 Als Vertreter der pietistischen Frömmigkeitsbewegung begründete er seine pastorale Wirkungsmacht mit der Predigt, von der Kanzel strebte er die „Wiedererweckung“ der estnischen Gemeinde „als ein Theil der verlorenen Welt“ an.24 Glaubt man Schilderungen Dritter, erreichte Assmuth sein gestecktes Ziel: In seinen Predigten galten emotionale Ausbrüche seitens der Gottesdienstbesucher und ‑besucherinnen als normal. Eine derartige Wirkung erstaunt in Anbetracht des für Gemeinde und Pastor überaus strapaziösen sonntäglichen Tagesablaufs: „Vom Sonntag Morgen um 8 Uhr an sammelte sich die Gemeinde. Der Küster schrieb im Beisein der esthnischen Kirchenvormünder (vorsteher) die Communicanten an. Fand sich ein zu Ermahnender darunter, der zuvor gewöhnlich dem Pastor angezeigt war, so ward er von den Kirchenvormündern angewiesen, sich bei ihm zu melden und Assmuth ermahnte ihn […]. Diese Ermahnungen nahmen gewöhnlich den Vormittag hin, da sonntäglich in dem volkreichen Kirchspiel nicht unbedeutende Communionen […] Tausend Personen sich meldeten. In diese angreifenden Ermahnungen hinein kam das Anschreiben von Fürbitten, Proclamationen, Armengaben. Endlich, gewöhnlich um halb 12 Uhr, begann der Gottesdienst. Er dauerte oft bis 5 auch 6 Uhr Abends. […] [U]nd abends war dann gewöhnlich noch Besuch von deutschen Eingepfarrten im Pastorat.“25

Eine direkt auf die Jugend abzielende religiöse Unterweisung erfolgte über den achtwöchigen Konfirmandenunterricht, der gewöhnlich in den Pastoraten unter Leitung des Geistlichen abgehalten wurde.26 In Assmuths Gemeinde waren es über 100 Kinder, die im Pastoratshaus Aufnahme fanden, um auf die Konfirmation vorbereitet zu werden.27 Praktisch sah der Unterricht folgendermaßen aus: Unter Mitwirkung des Küsters wurden die Mädchen und Jungen in Kleingruppen stehend von dem Pastor belehrt. „Liebe und Zucht“ stellte die geläufige Lehrmethode dar, nach der auch Assmuth verfuhr. Allerdings verlief – so Assmuth – seine „Erweckungsmethode“ zu seinem persönlichen Bedauern nicht immer glücklich. Die Gründe dafür benannte der Geistliche wie folgt: „die Kinder sind stockig und dumm […] wenn wir es uns nur mehr dächten, daß die Meisten unter ihnen ja wie Lastthiere aufwachsen, bei verdumpften Aeltern und 23 24 25 26

Zit. nach Lossius, Assmuth (wie Anm. 16), S. 52 (aus einem undatierten Brief ). Zit. nach ebd., S. 53. Ebd., S. 58f. Zur Entwicklung des Konfirmationsunterrichtes vgl. u. a. Keck, Rudolf W.: Das Verhältnis von Erziehung und Unterricht aus bildungshistorischer Sicht. In: Golz/Mayrhofer, Luther und Melanchthon (wie Anm. 3), S. 245–285. 27 Neben dem Küster halfen Kirchenvormünder und Schulälteste bei der Verwaltung des Hausunterrichtes und der Gemeindeschule mit.

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Wirthen, ohne Anleitung zum Gebet und rechts Verständnis des Wortes, das sie in Schulen meist mechanisch lernen, tausendfacher Verführung preisgegeben, – dann können wir in rechter mitleidiger Verfassung unter sie treten und den rechten Ton der Liebe und des Erbarmens wohl finden.“28

Nach einigen Tagen jedoch seien sehr zum Wohlgefallen des Landpastors „Diskussionen“ zustande gekommen, die in „aufrichtige und „eingehende […] Bekenntnisse aus ihrem [der Konfirmanden und Konfirmandinnen] Leben“ mündeten.29 Die zuvor beanstandete fehlende „geistige Regsamkeit“ und die mangelnde Fähigkeit des Zuhörens hätten sich laut Assmuth im Laufe des Unterrichts mithilfe seiner unmittelbaren Ansprache und seines direkten Befragungsstils gelegt. Zur Konfirmation zugelassen wurden schließlich aber nur diejenigen Konfirmationsanwärter und ‑anwärterinnen, die sich des Lesens kundig zeigten und die imstande waren, den Katechismus zu verstehen.30 Die Fokussierung auf Katechismuskenntnisse unterstreicht die formale Ausrichtung auf eine religiöse Einweisung und auf ein starkes kirchliches Interesse an aktiven Gemeindemitgliedern, also solchen, die nicht nur den Glauben annahmen, sondern ihn (sowohl in der Kirche als auch außerhalb des Gottesdienstes) lebten und imstande waren, ihn weiterzugeben.31 Trotz der streng auf kirchliche Vorgaben ausgerichteten Prüfung lässt sich der Konfirmationsunterricht nicht nur auf Fragen der (religiösen) Bildungsvermittlung reduzieren. Er hatte zugleich die Funktion, die jüngeren Alterskohorten der Gemeinde an die evangelisch-lutherische Kirche zu binden. Dies geschah größtenteils durch die Lehre, aber eben auch durch den persönlichen Kontakt zum konfirmierenden Pastor. Zu guter Letzt wurde das Verhältnis zwischen dem jungen und neuen Gemeindemitglied mit der Kirche durch einen Vertrag schriftlich fixiert. Nach bestandener kirchlicher Reifeprüfung unterschrieb der Konfirmand bzw. die Konfirmandin ein sogenanntes Konfirmationsformular, auf dem die Treue zur Kirche per Gelübde bestätigt wurde. Diese schriftlich fixierte Kirchenzugehörigkeit diente  – dies sei zu ergänzen – insbesondere bei der 1845 stattfindenden Konversionsbewegung von Mitgliedern der evangelisch-lutherischen Kirche zur orthodoxen Kirche unter den evangelischen Geistlichen als Beleg für den Treuebruch des Konvertiten.32 Assmuths Bemühungen, Kinder über den Konfirmationsunterricht an die Kirche zu binden, gingen Hand in Hand mit seinen Bildungsambitionen. Das primäre Ziel des Landgeistlichen bestand darin, das Volksschulwesen für seine estnische Gemeinde zu fördern. Er tat dies, indem er die Anzahl der Schulen in seinem Gemeindebezirk erhöhte und auf diese Weise die Klassengröße verkleinerte. Da der 28 29 30 31 32

Zit. nach Lossius, Assmuth (wie Anm. 16), S. 66. Ebd., S. 63 Vgl. ebd. S. 64. Vgl. Keck, Verhältnis (wie Anm. 26), S. 249f. Vgl. Lossius, Assmuth (wie Anm. 16), S. 163.

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Schulunterricht auf die erntefreie Zeit beschränkt war, ließ Assmuth die Unterrichtsergebnisse durch von ihm eingesetzte Schullehrer oder Schulmeister in der unterrichtsfreien Zeit prüfen. Im Rahmen dieser Überprüfung wurden die einzelnen Kinder nach ihren Lese-, Katechismus- und Singfähigkeiten befragt. Alle drei Prüfungsinhalte wurden als wesentlich angesehen für die aktive Teilnahme am Gottesdienst. Die Förderung des Singens zielte in diesem Bestreben vor allem darauf ab, die Gemeinde in die Lage zu versetzen, Choräle mehrstimmig singen zu können. Begabtere Kinder wurden darüber hinaus gesondert in ihren Kenntnissen des ­Schreibens und Rechnens geprüft. Noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein lässt sich festhalten, dass die Lerninhalte und deren Umsetzung im Unterricht stark von der Fähigkeit des Lehrenden und der des Pastors als der lokalen Kontrollinstanz abhingen.33 In den 1840er Jahren gelangte das Thema ‚Volksbildung‘ – auch aufgrund der im Rahmen des Konfirmandenunterrichtes festgestellten Bildungsdefizite – in ein breites Diskussionsfeld. Aus den Bestrebungen einzelner Geistlicher erwuchs eine neue Schulpolitik der Landesschulbehörden. Die Intensivierung der Schulbildung wurde auf der ersten livländischen Synode, 1834 unter Bischof Ferdinand Walter, und im Jahr darauf erneut eingefordert. Die Reformen im Volksschulbildungswesen wurden auf diesen Synoden von Teilen der Ritterschaft unterstützt,34 so dass erstmals 1851 eine Art Handreichung oder Richtlinie mit der „Instruktion für die Einrichtung und Verwaltung der livländischen Landschulen ev.-luth. Konfession“ erstellt werden konnte. Die darin fixierten Anweisungen setzten das Schulalter (ab 10 Jahre), die Schuldauer (im Winter zweimal wöchentlich) und die Lehrfächer (Lesen, Schreiben, Rechnen, Singen, Religion) fest.35 Verstärkt sollte nunmehr auch die Qualifizierung der Lehrer – auch unter Einstellung estnischer bzw. lettischer Lehrer – gefördert werden. Sogenannte SchulmeisterKonferenzen und eine engere Anbindung der Kirchspielpastoren an die Beschlüsse der Synoden waren weitere Schritte in diese Richtung.36 Der Bildungsrahmen als solcher wurde über die Schule hinaus auch bis in die Elternhäuser getragen. So wurde der Hausunterricht durch die Eltern bis zum 10. Lebensjahr vorgeschrieben. Seine Durchführung wurde fortan durch die Person der Schulmeister kontrolliert. Der Gemeindepastor übernahm sodann die Prüfungen für die an den Hausunterricht37 anschließende Einschulung in die Volksschule, in der der Unterricht in den 33 Vgl. Straube, Institutionen (wie Anm. 21), S. 126. 34 Zu den Auseinandersetzungen innerhalb der Ritterschaft bezüglich der Frage der ‚Bauernbildung‘ vgl. Daukšte, Probleme (wie Anm. 10), S. 343 35 Vgl. Wittram, Hollmann (wie Anm. 22), hier S. 123. 36 Diese Volksschullehrerkonferenzen wurden ab 1848 regelmäßig installiert. Vgl. Daukšte, Probleme (wie Anm. 10), S. 335 37 Laut Bauernverordnung wurden Kenntnisse im Lesen, der Katechismus und das Singen von Choralmelodien erwartet.

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Fächern Lesen, Schreiben, Rechnen, Lernen des Katechismus und der biblischen Geschichte stattfand. Die einsetzenden Reformen waren aus Sicht der Pastorenschaft notwendig, denn nur ein kleiner Teil der Kinder (im lettischsprachigen Gebiet wurden für Mitte der 1830er Jahre gute sieben Prozent ermittelt) nahm am Schulleben teil.38 Wie schwierig die Umsetzung der Lerninhalte im Rahmen des überaus verbreiteten Hausunterrichts war, zeigt sich an der wenig verbreiteten Lesefähigkeit der Kinder, wenn sie im Rahmen des Konfirmationsunterrichts nach ihren Katechismuskenntnissen befragt wurden. Dieser Problematik standen nicht nur die evangelischen Pastoren in den Ostseeprovinzen gegenüber. Über die westlichen Grenzen des Russischen Reiches hinaus waren Geistliche der beiden großen christlichen Kirchen mit Bildungsversäumnissen unter der Landbevölkerung konfrontiert. In den Kirchenverordnungen wurde diesen Defiziten Rechnung getragen, die zu Reformen des Volksbildungswesens führten.39 Für Pastoren stellte die unzureichende Glaubenstiefe das Ergebnis des vorhandenen Bildungsmangels dar. Religiöse Erziehung verstanden sie als Kernaufgabe ihrer Gemeindearbeit. In diesem Streben wurde die Geistlichkeit in den Ostseeprovinzen auch publizistisch unterstützt. So wurden die lettischsprachigen Latviešu Avīzes (Lettische Nachrichten) 1822, also wenige Jahre nach der sogenannten Bauernbefreiung, auf Initiative eines Geistlichen eben mit dem Ziel gegründet, Einfluss auf die lettische Bevölkerung zu gewinnen. Die Anhebung des Bildungsniveaus und insbesondere die Förderung der lettischen Sprache war in ihrer dezidiert politischen Ausrichtung neu und unterschied sich daher in ihrer Zielsetzung stark von den aufklärerischen Motiven, die dieser Entwicklung bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts vorausgegangen waren.40 Glaubensvermittlung und -stärkung prägten jahrzehntelang die Volksbildungspolitik der Kirche. Erst in den 1830er Jahren wurde auf den jährlich stattfindenden Predigersynoden neben den allgemeinen Bestimmungen die Unterrichtssprache zu einem zentralen Diskussionsthema. Stimmen, wie die des Synodalvorsitzenden, des leitenden Bischofs Ferdinand Walter, der die dezidierte Position vertrat, dass über die deutsche Sprache eine gezielte Akkulturationspolitik betrieben werden müsse, verhallten allerdings im Laufe der Jahre.41 Und inwiefern diese weit über die Ver38 Vgl. Daukšte, Volksschule (wie Anm. 11), S. 135. 39 Vgl. Keck, Verhältnis (wie Anm. 26), S. 257. 40 Vgl. Daukšte, Vija: „Was ein motivierter Bauer wissen sollte?“ Die Diskussion über die Volksschulbildung in Estland und Lettland in den 30er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts. In: Wilhelmi, Bildungskonzepte (wie Anm. 3), S. 110–120, hier S. 112f. Allgemein zur Ausbildung eines lettischsprachigen Pressewesens unter Leitung von Pastoren vgl. Zelče, Wege (wie Anm. 1). 41 Vgl. Daukšte, Probleme (wie Anm. 10), S. 347; zu Ferdinand Walter (1801–1869) vgl. Ottow/ Lenz, Prediger (wie Anm. 19), S. 469; Straube, Institutionen (wie Anm. 21), S. 126f.; Zelče, Wege (Anm. 1), S. 428f.

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mittlung geistlicher Inhalte hinausgehende Forderung in der Praxis von allen Pastoren getragen wurde, bleibt zu hinterfragen. In Assmuths Bestrebungen jedenfalls finden sich derart weitreichende sozialreformatorische Gedanken einer ethnischen Assimilierung nicht wieder. Auch in der Ordnung für die Bauernschulen Livlands, 1845 durch die Oberlandschulbehörde erlassen, sind derartige Bestrebungen nicht zu finden, wenn als Ziel der schulischen Bildung die Vorbereitung auf die Konfirmation und auf das „Leben und die Pflichten eines Gemeindemitgliedes“ definiert wird.42 Demnach ­blieben mit diesem Regelwerk die sozialen Schranken zwischen den Ethnien ­unangetastet. Und auch Assmuth zweifelte in seiner Gemeindearbeit nicht an den ethnisch bestimmten Grenzen der ständisch geprägten Gesellschaftsordnung. Wie alle Pastoren, so differenzierte auch Assmuth zwischen der Betreuung seiner estnischen und seiner deutschen Gemeinde. Er ging sogar auf die Unterschiede der Gemeindemitglieder ein: Eine grundlegende Differenz bei der seelsorgerischen Tätigkeit sah er zum Beispiel darin, dass die Esten zunächst erweckt, d. h. zu Gott geführt werden müssten, während die Deutschen in eine Gemeinschaft christlich Gleichdenkender gehoben werden müssten. Assmuths Denkstil blieb somit der Tradition ethnischer Hierarchisierungen verhaftet. Er wies der deutschen Gemeinde eine Glaubens- oder Kulturhoheit zu, die jetzt – in den 1850er Jahren – mit nationalen Kategorien unterfüttert wurde: „Aber die Deutschen haben seit Jahrhunderten die Aufgabe gehabt, das Leben der sogenannten Nationalen zu leiten und zu bestimmen; […] während die Esthen mit wenigen Ausnahmen daheim bleiben in ihrem stillen, ländlichen Beruf.“43

Dennoch versuchte Assmuth, – und da war er wohl der Einzige der hier genannten Geistlichen – beide Gemeinden aus pragmatischen Gründen in estnischsprachigen Gottesdiensten zusammenzuführen. Er scheiterte dabei jedoch – wie zu erwarten – am Widerstand der kleinen deutschen Gemeinde.

Beispiel 2: Carl Maurach Carl Maurach wurde 1849 zum Pastor des Kirchspiels Paistel (Paistu) berufen, wo er die Nachfolge seines verstorbenen Vaters Martin Maurach antrat.44 Obwohl er 42 Daukšte, Vija: Die Idee der Volksbildung und der Bildung der Bauern in den livländischen Landtagen der 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts. In: Bömelburg, Hans-Jürgen; Eschment, Beate (Hg.): „Der Fremde im Dorf“. Überlegungen zum Eigenen und zum Fremden in der Geschichte. FS f. Rex Rexheuser zum 65. Geb. Lüneburg 1998, S. 43–63, hier S. 56. 43 Zit. nach o. A., Assmuth (wie Anm. 16), S. 75f. 44 Carl Peter Ludwig Maurach, geboren 1824 in Paistel, 1842–1846 Theologiestudium in Dorpat, 1849 Pastor in Paistel, 1853 Pastor in Oberpahlen (Põltsamaa), 1853–1865 Geistlicher Schul-

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inmitten einer estnischsprachigen Gemeinde aufgewachsen war, machte er – anders als der früher geborene Assmuth – zu Beginn seiner Amtszeit von seinen sprachlichen Schwierigkeiten mit der estnischen Gemeinde keinen Hehl. Bei seinen ersten Gottesdiensten hatte er auf die Hilfe des estnischen Küsters gehofft. Dieser brachte jedoch keinerlei Kritik und damit Verbesserungsvorschläge an, so dass Maurach seine Predigt nicht sprachlich ausbauen konnte. Noch problematischer traten die Sprachdefizite des Geistlichen bei dem seelsorgerischen Umgang mit Gemeindemitgliedern bei Krankenbesuchen zutage. Hier sei – so Maurach – eine Kommunikation von seiner Seite aus überhaupt nicht möglich gewesen. Neben diesen sprachlichen Barrieren erschwerte Maurachs Abgrenzungsverhalten die Kommunikation mit der Gemeinde. Ebenso wie Assmuths basierte auch Maurachs Denkstil auf der ethnischen und kulturellen Hegemonialstellung der bzw. des ‚Deutschen‘. Geringschätzung und Abwertung der estnischen Landbevölkerung dominierten seinen Handlungshorizont. Diese Distanzierung zeigt sich in einer Position der Überheblichkeit im Umgang mit den estnischen Konfirmandinnen: „Von biblischer Geschichte hatten sie keine Ahnung, katechisiert worden waren sie nie, starrten daher […] stumpf und stumm höchstens verwundert an, aber von antworten war nicht die Rede, teils aus alberner, bisweilen kichernder Blödigkeit, teils aus unüberwundener und unüberwindlicher Stumpfheit und Stockigkeit.“45

Maurachs Habitus, der von einem Verständnis eigener kultureller Höherwertigkeit gespeist wurde, wurde hier ergänzt durch ein Verständnis von geschlechtlichen Ungleichheiten. Und aus der Sicht eines, wenn auch nicht dieser Gemeinde zugehörigen, Mitgliedes, des Letten Indriķīs Straumīte, war die hegemoniale Haltung der Pastoren auch in der seelsorgerischen Tätigkeit spürbar: „Für uns ist es bis zu ihnen soweit […]. Schaut, wie hoch sie ihre Kanzeln über den Tisch des Herrn erbaut haben, direkt unter die Decke. Von dort tadeln und drohen sie, spornen ihre Gemeinde mit strengen Predigten an.“46

Anders als noch bei dem Pietisten Assmuth vor ihm scheinen aus den Zeilen von Maurach Resignation und die Nutzlosigkeit jedweder Bildungsinitiativen hervor.47 Revident im Sprengel Fellin (Viljandimaa), 1866 Amtssperre aufgrund von Konvertitenbetreuung, 1891 Emeritus, 1900 gestorben in Oberpahlen. Sein Vater Martin Maurach (1785–1848) war 1815–1848 Pastor in Paistel gewesen, sein Sohn Paul Maurach (1862–1895) war 1890–1891 Pastor-Adjunkt in Oberpahlen. Vgl. Ottow/Lenz, Prediger (Anm. 19), S. 333. 45 Maurach, Leben (wie Anm. 15), S. 129. 46 Straumīte, Indriķis: Pareizticība pie latviešiem. Indriķa Straumīša raksti (1840–1845) [Rechtsgläubigkeit bei den Letten. Schriften des Indriķis Stramunīs (1840–1845)]. Riga 1906, S. 15f., hier zit. nach Želce, Wege (wie Anm. 1), S. 420. 47 Auch wenn das Lebensbild von Assmuth als Vergleichsquelle seine Probleme mit sich bringt, scheint die Aussage berechtigt, denn der anonyme Verfasser hat unter Zuhilfenahme von autobiografi-

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Neben der ‚Dummheit‘ seiner weiblichen Gemeindemitglieder ergänzte Maurach die Gründe für den Bildungsmangel seiner jungen Gemeindemitglieder immerhin auch um infrastrukturelle Probleme, wie die unbefriedigende Schulsituation der Kirchengemeinde: So fehlte eine Parochialschule für den Zugang zu erweiterter Bildung und die bestehenden Gebietsschulen bezeichnete der Pastor selbst als reine „Strafschulen“.48 Denn diese würden einzig von Kindern genutzt, die im Elternhaus keinerlei Kenntnisse vermittelt bekommen hätten. Defizite sah Maurach außerdem darin, dass die Schulkinder entlassen würden, sobald sie „mechanisches Auswendigkönnen der fünf Hauptstücke und ebenfalls mechanische Lesefertigkeit nur im fast auswendig gelernten Neuen Testament“ erlernt hätten.49 Im Fach Gesang sei das Schreien und dies dazu nur einstimmig erlernt worden und im Rechnen hätten einzelne Jungen bei besonders engagierten Lehrern lediglich die Möglichkeit erhalten, „Krähenfüße“ zu malen oder das Einmaleins auswendig zu lernen.50 Die Verbesserung des Unterrichts und die intensivere Vermittlung von mehr Unterrichtsstoff waren infolgedessen die zentralen Bestrebungen Maurachs. Der Pastor ging diese Missstände gemeinsam mit den lokalen Schullehrern an. Zuvor hatte er – ebenso wie der genannte Assmuth – diese Hilfskräfte persönlich geschult. Parallel dazu wurden die Eltern aller 3.000 Kinder des Kirchenbezirks angehalten, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Am Unterricht der Schüler beteiligt war der Pastor nicht, wohl aber bei der Abnahme der jährlichen Abschlussprüfungen.51 Den Erfolg der einzelnen Schüler und Schülerinnen bemaß Maurach aber nicht einzig an der Leistung des Prüflings, sondern er bezog auch die Fähigkeiten des von ihm eingesetzten estnischen Lehrers mit ein. Maurach verlangte von den Prüflingen die Fähigkeit, mehrstimmig Kirchenlieder singen zu können, sowie den (nicht auswendig gelernten) Umgang mit der Katechese. Die Kinder mussten im Stande sein, Fragen selbstständig in ganzen Sätzen zu beantworten. Wie genau der Inhalt dieses Religionsunterrichts ausgelegt wurde, bleibt dabei unklar. In Anbetracht der Prüfungsabfragen scheinen die Lehrambitionen des Pastors darauf ausgerichtet gewesen zu sein, aktive Gottesdienstbesucher zu formen, mit Fähigkeiten im Singen, im Verstehen der Predigt und in der einfachen Kommunikation. Auch führte Maurach sogenannte Hausverhöre ein, bei denen er einzelne Familien besuchte, die Anzahl der Bibeln kontrollierte und die religiösen Kenntnisse der Erwachsenen prüfte. In Maurachs Schilderungen lässt sich sehr deutlich der zwischen 1840 und 1860 sich verstärkende Diskurs über Volksschulbildung nachzeichnen. Die Frage der 48 49 50 51

schen Schriften Assmuths in zahlreichen Passagen versucht, die Emotionen des Dargestellten einzufangen. Maurach, Leben (wie Anm. 15), S. 130. Ebd. Ebd., S. 131. Zu dem Ablauf der Schulprüfungen vgl. Lossius, Assmuth (wie Anm. 16), S. 67,

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Volksschulbildung wurde in diesen Jahren zu einem zentralen Thema für weit mehr als bloß bildungspolitische Reflektionen innerhalb der Presse. Sie wurde auch im Kontext von wirtschaftlichem Aufschwung zu einem stark diskutierten Schlüsselthema über wirtschaftliche Reformen. Ökonomische Interessen der Gutsbesitzer, die auch auf eine bessere Bewirtschaftung des Bauernlandes abzielten, glaubte man mit einem gebildeteren Bauernstand befriedigen zu können. Neben den globalen Folgen der Weltwirtschaftskrise führten in den Ostseeprovinzen strukturelle und rechtliche Neuerungen, die die Eigentumsverteilung und Bewirtschaftung auf dem Land massiv veränderten, zu einem Zusammenbruch der Preise aus landwirtschaftlicher Produktion.52 Hinzu kamen sicherheitspolitische Aspekte und die Angst vor einer nachrückenden jungen bäuerlichen Landbevölkerung, die in ihren Forderungen nach ökonomischen Verbesserungen und politischer Partizipation nicht mehr zu kontrollieren wäre. Volksbildung sollte in diesen Debatten sowohl als Zugeständnis als auch als ein Mittel zur Kontrolle dienen.53 Der Diskurs wurde mit der Gründung der Wochenschrift Das Inland 1836 auch medial über die Grenzen der einzelnen Ostseeprovinzen hinweg getragen.54 Wie verbreitet demnach das schon von Assmuth formulierte hegemoniale Denken unter der deutschen Oberschicht war, belegt darin auch ein Artikel des Kirchenvorstehers und Landrats Alexander von Bruiningk aus dem Jahre 1845, in dem es hieß: „Der Zweck der Landvolksschule ist durch Belehrung und Unterricht den rohen, ungesitteten, faulen, gedankenlosen, unwissenden Bauern zu der Würde und Ausübung dieses seines Berufs zu bilden.“55

Maurach erlebte die Bestrebungen, das Volksbildungswesen zu reformieren, als eine Art Konkurrenzsituation unter den Pastoren der einzelnen Kirchspiele. Vielleicht erklärt dieser Druck sein Engagement, das zunächst nicht mit seiner despektierlichen ethnisch-kulturellen Abwertung der Bauernbevölkerung in Einklang zu bringen ist. Konkurrenz spielte in Maurachs Vorgehen in seiner Gemeinde sicherlich auch eine nicht unwesentliche Rolle bei der Abgrenzung zu, ja gezielten Abwerbung von jungen Anhängern der Herrnhuter. Auf regelmäßig von ihm einberufenen Veranstaltungen begann Maurach, im Sinne religiöser Bildungsarbeit junge Gemeindemitglieder aus der Brüdergemeine zu gewinnen. Insbesondere die 1850er Jahre wurden von livländischen Landpastoren als ‚Kampf‘ gegen die Herrnhuter und gegen die orthodoxe Kirche benannt. Die Konkurrenz um Gemeindemitglieder, der Machtkampf innerhalb der evangelisch-lutherischen Kirche und mit der orthodo-

52 Im Kontext der Bildung vgl. Daukšte, Bauer (wie Anm. 40), hier S. 110f. 53 Vgl. dies., Probleme (wie Anm. 10), S. 340; dies., Idee (wie Anm. 42), S. 48, 51. 54 Vgl. dies., Bauer (wie Anm. 40), S. 113f. 55 Bruiningk, Alexander von: Einige Mitteilungen über das Landvolksschulwesen in Livland. In: Das Inland 40 (1845), hier zit. nach ebd., S. 116.

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xen Kirche wurde alsbald über die Grenzen religiöser Glaubensarbeit ausgefochten. Im Rahmen der Volksbildung wurden auf sogenannte Schulmeisterkonferenzen alle – auch ‚nicht-deutsche‘ – Schullehrer eingeladen, um diese gegen ‚Angriffe‘ der Herrnhuter durch pädagogische Fortbildungen vorzubereiten: „Was für tüchtige und hochbegabte Männer aus dem Ehstenvolke lernten wir da kennen, und in ihnen und um ihretwillen das Volk lieben, das damals noch nicht von der nachmaligen Modekrankheit, dem nationalen Schwindel, befallen war.“56

In der Konkurrenzsituation mit den Herrnhutern waren die Pastoren der evangelisch-lutherischen Kirche mit einer für die Titularvölker überaus attraktiven Religionsgemeinschaft konfrontiert. Eine wesentliche Anziehungskraft übte die Brüdergemeine dadurch aus, dass ihre Vorsteher oftmals selbst aus der Bauernschaft stammten. Sie kannten die Sorgen und Probleme der Landbevölkerung und sprachen dieselbe Sprache. Soziale und kulturelle Differenzen wurden daher von beiden Seiten seltener empfunden. Die ausgeprägte Distanz zwischen Pastor und Gemeindemitglied, wie sie in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde gelebt wurde, war hier nicht vorhanden. Zugleich verstärkten auch die Glaubensinhalte der Herrnhuter ihre Attraktivität unter der gesellschaftlich am unteren Ende positionierten estnischen bzw. lettischen Landbevölkerung. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Trennung von Seele und Körper bewirkte einen anderen Umgang mit der körperlich züchtigenden deutschen geistlichen und weltlichen Obrigkeit. Über all dem stand außerdem ein Gleichheitsglaube, mit dem der ‚weltlich‘ privilegierten Bevölkerung der Deutschen keine höherwertige Anerkennung vor Gott zugestanden wurde.57 Maurach sah gerade in diesem letzten Punkt, dem Egalitätsverständnis, die Verbindung zu den ethnisch-nationalen Emanzipationsbestrebungen der Esten. Er begriff damit sehr früh die Gefahr, die von einem Gleichheitsglauben ausgehen würde, mit dem nicht nur religiöse, sondern auch politische Machtansprüche formuliert werden konnten. Nach vier Jahren verließ Maurach seine Gemeinde und folgte einer Berufung nach Oberpahlen (Põltsamaa). Seine Beweggründe sind nicht bekannt. Vermutlich spielte die Größe der neuen Gemeinde eine Rolle bei der Entscheidung, denn Oberpahlen war sowohl geografisch weitläufiger als auch deutlich anspruchsvoller, was die Zahl der estnischen und deutschen Gemeindemitglieder anging. Die Auseinandersetzung mit den Herrnhutern kann indes keine Auswirkung auf Maurachs Gemeindewechsel gehabt haben, denn Oberpahlen war sehr viel stärker noch als Paistel herrnhuterisch geprägt. Hier existierte sogar ein eigenes Herrnhuter Bibelhaus. Oberpahlen galt als wohlhabendere Gemeinde und hier liegt vielleicht der Schlüssel für Maurachs Um56 Maurach, Leben (wie Anm. 15), S. 145. 57 Vgl. Rimestad, Sebastian: Luthertum und Baltikum. Der konfessionelle Raum und die politische Entwicklung. In: Nordost-Archiv 25 (2016), S. 7–21, hier S. 18–21.

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zug. Eine wirtschaftlich besser stehende Gemeinde verhieß auch eine Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse eines Pastorenhaushaltes. Oberpahlen bot auf den zweiten Blick noch andere Vorzüge: Es existierten bereits gut etablierte Gebietsschulen, die Maurach in Paistel erst hatte errichten müssen. Maurachs Bildungsambitionen zielten daher in Oberpahlen eher auf die Verbesserung des Unterrichts ab. Eine wirkliche Neuerung dagegen bestand in der Aufhebung der Koedukation von Jungen und Mädchen. In Oberpahlen waren sogenannte Schulmeisterfrauen für die weibliche Schülerschaft in der Unterrichtung von „weiblichen Arbeiten“ tätig.58 Eine Trennung der Geschlechter, wie sie bereits im höheren Bildungswesen bestanden hatte, wurde jetzt auch im Volksbildungswesen seiner Gemeinde eingeführt. Die Schulzeit der Kinder dauerte in Oberpahlen – im Gegensatz zu vielen anderen Kirchspielen – drei anstelle von einem Winter. Wie groß und, bezogen auf die Volksschulbildung, gut ausgebaut der Gemeindebezirk war, lässt sich an der Zahl der Schulhäuser ablesen. Allein 14 Schulhäuser wurden im Laufe von Maurachs Amtszeit baulich erweitert, größer und heller gestaltet oder neu errichtet. Auch eine Parochialschule entstand – eine Schulform, die gewöhnlich von wohlhabenderen Teilen der Landbevölkerung genutzt wurde –, auf der pro Jahr bis zu 140 Jungen unterrichtet wurden. Hier wurden neben dem Lehrkanon der Gemeindeschulen (Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen) auch Kenntnisse in den Fächern Geografie, Geschichte, Naturkunde und Deutsch vermittelt.59 Im Gegensatz zu der Gemeindeschule, die von vielen Bauernfamilien nicht zuletzt aus Kostengründen abgelehnt wurde, fand die Parochialschule spätestens nach den 1860er Jahren regen Zulauf von Kindern der wohlhabenderen Landbevölkerung.60 Auf immerhin einer Mädchenschule fanden – wie gesagt separiert – sowohl estnische als auch deutsche Mädchen eine Lernstätte. Für die Hofleute des adligen Gutsbesitzers, die weder der Bauernschaft noch der deutschen Bevölkerung angehörten, errichtete Maurach eine Kleinkindschule. Er betonte in diesem Zusammenhang, dass die dortige estnische Lehrerin so gut gewesen sei, dass kein Elternteil sein Kind unter Zwang geschickt hätte. Die Schule war unter Mitinitiative des lokalen Gutsbesitzers auf dem Gutsgelände errichtet worden.61 Die Popularität der

58 Maurach, Leben (wie Anm. 15), S. 164. Die Frauen der Pastoren hingegen wirkten in der Regel nicht in diesem Volksschulwesen mit. Sie waren für die Erziehung und den Hausunterricht ihrer und anderer Kinder aus der deutschsprachigen Nachbarschaft zuständig. In der Literatur jedenfalls wird ihnen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Vgl. dazu Eichel, Christine: Das deutsche Pfarrhaus. Hort des Geistes und der Macht. Köln 2012, S. 6–99; Beuys, Barbara: Die Pfarrfrau: Kopie oder Original? In: Greffenhagen, Martin (Hg.): Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte. Stuttgart 1984, S. 47–63 oder allgemein den Überblick bei Aschenbrenner, Cord: Das evangelische Pfarrhaus. München 2015. 59 Vgl. Daukšte, Idee (wie Anm. 42), S. 57. 60 Vgl. ebd., S. 60. 61 Hierzu verfasste Maurach eine Druckschrift. Vgl. Maurach, Leben (wie Anm. 15), S. 180.

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Schule wurde durch ein Schul- und Kinderfest erhöht, auf dem laut Maurach – finanziert und ausgerichtet von der Gutsherrschaft – die Bewirtung von 700 Gästen übernommen wurde.62 Maurachs stete Betonung der ertragreichen Zusammenarbeit mit dem lokalen Gutsherren ist ein Beleg dafür, dass Schulbildungsinitiativen und die Umsetzung von Bildungszielen abhängig von der Überzeugungskraft der Pastoren, der Zusammenarbeit mit der übergeordneten, schulverwaltenden lokalen Herrschaft und damit von der Bereitschaft der Gutsherren waren. Das Thema Volksbildung wurde bereits in der lettischen Geschichtsschreibung der Zwischenkriegsjahre als eine Plattform des „Kampfes“ zwischen Adel und Geistlichkeit gesehen.63 Diese Auseinandersetzung schlug sich in der materiellen Unsicherheit nieder: Die Unterhaltung der Bauernschulen war seit 1819 der Bauernschaft zugetragen worden, wohingegen die Verwaltung dem Adel überlassen war. Sie war hier wie in allen Gemeinden ein hemmender Faktor, der eine flächendeckende Ausbildung des Volksbildungssystems verhinderte.64

Beispiel 3: Friedrich Hollmann Ein weiteres Beispiel für eine generationenübergreifende Berufstradition stellt die Familie Hollmann dar.65 Das Patronatsrecht im Pastorat Rauge (Rõuge) verhalf auch der Familie Hollmann dazu, in dritter Generation das lokale Pastorenamt zu belegen. Diese Tradierung oder Vererbung des Amtes wurde vonseiten der deutschen Oberschicht als Fortsetzung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Pastorat und gutsbesitzendem Adel ausgelegt. Es bestätigt eine gute Zusammenarbeit zwischen geistlichem Gemeindeoberhaupt und Gutsherrschaft, wie sie schon bei Maurach als förderlich für die Gemeindearbeit hervorgehoben wurde. Rauge war ebenso wie Oberpahlen mit 14.000 Gemeindemitgliedern eines der größeren Kirchspiele Livlands in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 1844 wurde Rudolf Hollmann (1798–1858) von Harjel (Hargla) nach Rauge berufen.66 Im Gegensatz zu seinem Vater, Leonhard Johann, der noch mit den Herrnhutern im Sinne der ‚Erweckung‘ zusammengearbeitet hatte, wurden die Herrnhuter von Rudolf ebenso wie die Auseinandersetzung mit der orthodoxen Kirche mit Sorge betrachtet. Ru62 Vgl. ebd. 63 Vičs, Adolfs: Latviešu skolu vēsture [Lettische Schulgeschichte]. Riga 1926, hier zit nach Daukšte, Probleme (wie Anm. 10), S. 346. 64 Vgl. Daukšte, Idee (wie Anm. 42), S. 53. 65 Vgl. Wittram, Heinrich: Kirchliches Leben und Theologie in den baltischen Gebieten vom 16. bis 20. Jahrhundert. Lüneburg 2011; ders., Drei Generationen (wie Anm. 17). 66 Im Kirchspiel Harjel im Sprengel Werro (Võrumaa) war Rudolf Hollmann 1823–44 Pastor gewesen. Vgl. Ottow/Lenz, Prediger (wie Anm. 19), S. 276.

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dolfs Sohn, Friedrich Hollmann (1833–1900),67 wurde 1859, ein Jahr nach dem Tod seines Vaters, Pastor in Rauge.68 Wie in allen Kirchspielen lag auch in Rauge die Leitung und Beaufsichtigung des gesamten Volksschulwesens im Arbeitsgebiet des Kirchspielpastors. Im weitläufigen Rauge waren dies mit 26 Gemeindeschulen sogar noch mehr als im bereits genannten Oberpahlen. Neben der Beaufsichtigung der Schulmeister und der Prüfungsabnahme von jedem jungen Gemeindemitglied oblag dem Kirchspielpastor die Überwachung des Hausunterrichtes. Die Lokalschulverwaltung bestand (nach der Instruktion von 1851) aus dem Vorsitzenden, dem Gutsbesitzer, dem ­Schriftführer, dem Pastor, dem Kirchspiellehrer und dem Kirchspielschulältesten. Letzterer wurde aus dem Kreis der estnischen Schulältesten gewählt, und erstmals war somit eine Person aus der estnischen Gemeinde selbst als Entscheidungsinstanz tätig. Anders noch als bei seinen Vorgängern stellte für Friedrich Hollmann die Beherrschung der estnischen Sprache kein notwendiges Übel dar. Er erkannte die estnische Kultur an und forderte eine intensive Auseinandersetzung mit ihr als Notwendigkeit für eine erfolgreiche Arbeit in der estnischsprachigen Gemeinde. Als Hollmann wenige Jahre später zur Leitung des estnischen Gemeindelehrerseminars in Dorpat berufen wurde, hob er diesen Aspekt als national-emanzipatorischen Gedanken seiner Gemeindearbeit hervor. Die 1867 gedruckte Präambel seiner Schularbeit enthält folgenden Wortlaut: „Nicht also sollen wir ‚standesmäßig‘ in hermetischer Abgeschlossenheit, nicht durch Unterschiede nationaler Abstammung in kastenmäßiger Beschränkung und Selbstgenügsamkeit […] Bildung bloß wahren und mehren, sondern […] einer dem anderen dienen.“69

Die Intensivierung und Fortentwicklung des Volksschulwesens waren die zentralen Anliegen seiner Bildungsarbeit: die Verlängerung der Unterrichtszeit auf zunächst drei Wochentage; 1862 die Erweiterung um eine zweiklassige Parochialschule mit achtmonatiger Schulzeit (September bis Juni); die Errichtung einer weiteren Parochialschule in Rosenhof (Roosa); die Anschaffung von Schulbüchern über die Kollekte. Der seit jeher schwierigen Aufgabe, mehr Bauernfamilien für den Schulunterricht zu begeistern, nahm er sich an, indem er im Rahmen seiner Gottesdienste direkte Appelle an die Eltern aussprach. Begünstigt wurden diese Aufrufe durch die 1866 von der livländischen Oberlandschulbehörde verordnete Schulpflicht. Strafgelder in Höhe von fünf bis 15 Kopeken wurden bei Zuwiderhandlungen einge67 Friedrich August Wilhelm Hollmann, geboren 1833 in Harjel, 1852–1856 Theologiestudium in Dorpat, 1856–1859 Hauslehrer in Rauge, 1859–1873 Pastor in Rauge, 1873 Direktor des estnischen Gemeinde-Schullehrerseminars in Dorpat, 1887 Rektor der ev. Stadtmission in St. Petersburg, 1889–1900 Generalsuperintendent von Livland. Vgl. ebd. 68 Dessen Sohn Franz war dort ebenfalls als Pastor tätig. Vgl. ebd.. 69 Zit. nach Wittram, Leben (wie Anm. 65), S. 197.

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führt. Im Bereich der Lehrerfortbildung wurden Konferenzen in der schulfreien Zeit angesetzt, auf denen zwar nach wie vor die Förderung des Gesangs und biblische Unterweisung diskutiert wurden; aber auch Fragen zu Didaktik und Methodik wurden darüber hinaus erstmals aufgegriffen.70 Hollmanns (kirchen-)politische Arbeit wurde massiv durch die Konversionsbewegung der 1840er Jahre bestimmt. Das vom Innenministerium an die Landeskirche herangetragene Rekonversionsverbot führte wie in vielen Gemeinden auch in Rauge zu Problemen. Amtshandlungen für Konvertiten waren den Pastoren laut Gesetz ebenso wie die Aufnahme von Schulkindern der (konvertierten) Eltern in die lutherischen Parochialschulen untersagt worden. Erst 1865 endete diese Limitierung.71 Im Gegensatz zu der Mehrzahl der Geistlichen hatte sich Hollmann nicht für die Wiederaufnahmewilligen eingesetzt und die Bitte von Konvertiten um die Verrichtung bestimmter Amtshandlungen verweigert. Auch wenn er die Einmischung des Staates bei Fragen der Personalführung, der Kirchenbezirksgrenzen, des Kirchenbaus, der Lehrerbesetzung und der Gottesdienstordnung grundsätzlich stark kritisierte, hielt er sich an die gesetzlichen Vorgaben. Da Hollmann sich eine stärkere Einbeziehung der Gemeindemitglieder in die Gemeindearbeit, insbesondere aber auch in der Übernahme von Verantwortlichkeiten, wünschte, schrieb er die Verantwortung des Kirchenübertritts auch den Konvertiten selbst zu. Seine in diesem Kontext formulierten Plädoyers für Mitspracherechte und die Partizipation von estnischen Gemeindemitgliedern wurden, da sie zu sehr auf Egalität ausgerichtet waren, vom Adel und Magistrat der Städte Riga und Reval (Tallinn) vehement abgelehnt.72 Als ein weiteres Problemfeld erwies sich für Hollmann der Umgang mit der Herrnhuter Gemeine. Aus dem anfänglichen Bestreben einer Zusammenarbeit wurde eine Form der Gegenarbeit. In dem oben bereits erwähnten Kirchengesetz von 1832 war eine Stärkung der evangelisch-lutherischen Kirche als nunmehrige Landeskirche erzielt worden. Mit dem Gesetz ging die Oberaufsicht aller Glaubensgruppierungen in die Hand der Landeskirche über. Eine Reduzierung der Herrnhuter Brüdergemeine war mit der Gesetzgebung von 1832 durchaus intendiert worden. So hatte Hollmann einen legalen Rahmen für sein Handeln gegen die Konkurrenz in seinem Gemeindebezirk erhalten.73 In Konfrontation mit der Herrnhuter Gemeine veranstaltete er ähnlich wie Maurach Informationsabende oder besser Aufklärungsabende, auf denen er die Unterschiede zwischen Luthertum und Herrnhut erläuterte. Hollmanns Kritik richtete sich vor allem gegen den Exklusivitätsanspruch der Brüdergemeine. Ethnisches Selbstbewusstsein oder gar national motivierte Forderungen 70 71 72 73

Vgl. ebd., S. 121–124; ders., Hollmann (wie Anm. 22), S. 124. Vgl. Amburger, Pastoren (wie Anm. 5), S. 8. Vgl. Wittram, Hollmann (wie Anm. 22), S. 126. Vgl. ebd., S. 128.

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der estnischen Glaubensbrüder, die auf eine Trennung von einer deutsch geführten Landeskirche hinausliefen, wollte oder konnte Hollmann nicht erkennen.74 Diese fehlende Weitsicht findet sich auch in Hollmanns Ansichten zur Volksschulbildung wieder. So plädierte er für die Zusammenarbeit aller Bevölkerungsteile und gegen eine Politisierung der Volksschulbildung. Kirchliche Vertreter wie er bauten auf die Fortsetzung kirchlicher Macht auch im Bildungsbereich und verzögerten damit eine Säkularisierung der Volksbildung. Anders als seine Kollegen in den deutschen Ländern protegierte und initiierte Hollmann, wie alle hier zitierten Pastoren, die Seminarausbildung von Schullehrern und die mit ihr einhergehende Etablierung des Volksschullehrerberufs. Von einer Loslösung des Bildungswesens von der evangelisch-lutherischen Kirche konnte hier nicht die Rede sein. Innerhalb des Volksschulbildungswesens jedenfalls blieben deutschbaltische Pastoren weiterhin die treibenden und damit lenkenden Kräfte.75 Hollmanns Bildungsziel bestand in diesem Sinne darin, „gesunde evangelische Volksbildung“ zu vermitteln.76 Für eine Hegemonialisierung einer deutschen Kultur sprach er sich vordergründig nicht aus, obgleich er in der deutschen Sprache die alle Nationalitäten verbindende Sprache sah. Ihr wurde in diesem Denken eine kulturell höherwertige Funktion einer ‚Leitsprache‘ zugewiesen.77 Dennoch lag seinem Handeln ein offensichtlich mit nationalen Kategorien arbeitender Denkstil zugrunde. Hollmann hoffte auf eine „Weltanschauung […] in der das Nationale […] seine gerechte Würdigung, seine wahre Bedeutung und seine pietätvolle Pflege findet.“78 Dass estnische Gemeindemitglieder mit dieser Form der kulturellen Bevormundung auf Dauer nicht zufrieden sein konnten, zeigte sich ihm spätestens in den 1870er Jahren, als estnische Lehrer an dem von ihm geleiteten Lehrerseminar in Dorpat die Superiorität und Dominanz der deutschen Sprache anprangerten.79

Beispiel 4: Karl August Wittrock 1896 wurde Karl August Wittrock vom livländischen Konsistorium als Pastor für das bereits genannte Kirchspiel Oberpahlen gewählt. Er trat damit eine, wenn auch nicht die unmittelbare Nachfolge des oben erwähnten Carl Maurach an.80 Das 74 Vgl. ebd., S. 132. 75 Vgl. Siegert, Pfarrer (wie Anm. 3), S. 180. 76 Hollmann, Friedrich: Die Entwicklung der livländischen Volksschule [o. O.] 1909, hier zit. nach Wittram, Hollmann (wie Anm. 22), S. 127. 77 Vgl. Wittram, Hollmann (wie Anm. 22), S. 135. 78 Hollmann, Friedrich: Die Entwicklung der livländischen Volksschule [o. O.] 1909, hier zit. nach Wittram, Hollmann (wie Anm. 22), S. 127. 79 Vgl. ebd., S. 135. 80 Viktor Karl August Wittrock, geboren 1869 in Laugo (Laugu) auf Ösel (Saaremaa), 1888–1892 Theologiestudium in Dorpat, 1895–1896 Stadtvikar in Dorpat, 1896–1900 Pastor in Oberpah-

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Kirchspiel galt bei seiner Übergabe an Wittrock als schwierig, da Maurachs direkter Nachfolger nicht von der Gemeinde angenommen worden war und die Gemeinde daraufhin ohne Pastor auskommen musste. Der Einzug in die Gemeinde vollzog sich für den jungen Wittrock ebenso schwierig wie für seinen erfolglosen Vorgänger. Aus den Schilderungen von Wittrock geht hervor, dass er sich nach tätlichen Angriffen „deutschfeindlicher Fanatiker“ und „Terroristen“ bei dem ersten Versuch der Gemeindeeinführung zurückgezogen habe.81 Erst mit Polizeigewalt sei schließlich seine Amtseinführung gelungen. Die enorme Größe des Kirchspiels überschreite bei Weitem die Handlungsfähigkeit des Kirchspielpastors, klagte Wittrock. Und dies, obwohl Amtshandlungen verteilt auf verschiedenen Schultern gelegen hätten: Taufen beispielsweise wurden durch den lokalen Schulmeister vollzogen. Für Hochzeiten gab es festgesetzte Tage, an denen sich die Brautpaare zusammenfinden mussten, um die Prüfung der ‚Brautlehre‘ über sich ergehen zu lassen. Die Heirat selbst wurde dann ebenfalls als Gemeinschaftsveranstaltung vollzogen: Bei dieser Form der großangelegten Trauung wurden zwischen 15 und 20 Paare gemeinsam ‚bedient‘. Nicht nur die Eheschließungen, sondern auch die Konfirmationszeiten gab Wittrock als Beispiele für die schwierige Amtsausübung an. Und dies nicht nur aus dem Grunde, weil die dreiwöchigen Konfirmationszeiten für Jungen und Mädchen getrennt vollzogen wurden und somit die doppelte Arbeitszeit in Anspruch nahmen, auch die Lehr- und Lernsituation im eigens errichteten Konfirmandenhaus beschrieb er als unerträglich: „Bei der großen Gemeinde waren es meist 100–125 Konfirmanden, die in einem Raum zusammensaßen, die Knaben mit ihren Schmierstiefeln und die Mädchen mit ihrer Schweißausdünstung die Luft verpestend.“82

Hier, Ende der 1890er Jahre scheint das in den 1850er Jahren noch so typische demütige Verhalten gegenüber den Pastoren gewichen zu sein, denn Wittrock registriert und thematisiert diese sinkende Distanz und den Autoritätsverlust der Pastoren, der damit einher ging. Wittrocks Vorgehen gegen unaufmerksame Konfirmanden und Konfirmandinnen formulierte er selbst folgendermaßen: „Im gegebenen Augenblick angewandte Brachialgewalt kann auch Seelsorge sein.“83 Nach nur wenigen Jahren Amtszeit verließ Wittrock die Gemeinde, die ihn persönlich überfordert hatte. len, 1900–1901 Pastor in Reval, 1901–1918 Oberpastor in Dorpat, 1919 Pastor in Zurow/Mecklenburg, 1920–1926 Pastor in Schwerin, 1936 Emeritus, 1944 gestorben in Bad Schwartau. Vgl. Ottow/Lenz, Prediger (wie Anm. 19), S. 481. 81 Wittrock, Sturm (wie Anm. 18), S. 132, 135. 82 Ebd., S. 143. 83 Ebd., S. 144.

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Fazit Im Zuge einer ritterschaftlichen Reformpolitik, die auf die Marktfähigkeit der Güterwirtschaft und eine marktorientierte Landwirtschaft abzielte, wurde der Bildungsstand der Bauernschaft neu diskutiert. Religiöse Bildungsbestrebungen als Teil der pastoralen Gemeindearbeit gehörten zu den Folgen dieses Diskurses, in dem die Bestimmung des zur Bauernschaft gehörenden Gemeindemitgliedes, nämlich „gottesfürchtig seinen Beruf erfüllen“, unumstritten formuliert wurde.84 Bildungsarbeit im Bereich der Volksschulbildung firmierte im Laufe der Jahre als ein zentrales Betätigungsfeld der Landpastoren, auf dem die eigene Leistung im Gemeindevergleich Bewertung und Anerkennung im Kreis der Kirchenamtsinhaber fand. Bildungsinitiativen gingen nicht selten, so scheint es – auch wenn dieses von den Akteuren selbst nie direkt artikuliert wurde – aus konkurrierendem Verhalten einzelner Pastoren hervor. Eine erfolgreiche Umsetzung hing dabei immer zu großen Anteilen von der Protektion des lokalen Gutsbesitzers ab. Die Unterrichtsqualität war dann wiederum abhängig von den einzelnen Lehrenden und dem kontrollierenden Pastor.85 Denn obzwar die Politik der evangelisch-lutherischen Kirche auch auf Fragen der Volksbildung abzielte, lag die praktische Umsetzung von synodalen Vorgaben stets in der Hand des einzelnen Gemeindegeistlichen. Auf die seit Mitte des 19. Jahrhunderts stärker werdenden Forderungen der nationalen Bewegung von ‚Jungesten‘ und ‚Jungletten‘ nach mehr Selbstständigkeit und Bildung konnte von den Pastoren in der Gemeindearbeit nicht angemessen eingegangen werden.86 So gelang es keinem der genannten Kirchenvertreter, bestehende ständisch geprägte und damit zugleich auch deutsch geprägte Denktraditionen kultureller und religiöser Dominanz abzuwerfen.87 Unter Bildung wurde von allen primär die Bindung an die evangelisch-lutherische Kirche verstanden. Alle genannten Pastoren folgten in ihrem Denken einer voraufklärerischen Tradition, wonach Bildung in Verbindung mit Gottesgewissheit, kaum aber als Emanzipations- oder gar Aufstiegsversprechen oder als Chance für individuelle Persönlichkeitsentfaltung gesehen wurde.88 Bildungsvermittlung diente in diesem Verständnis auch immer der Festigung einer Glaubenshoheit. Selbst diejenigen Pastoren, die die Einbeziehung estnischer bzw. lettischer Gemeindemitglieder in die Verantwortungsbereiche einzelner Kirchenämter forderten, blieben in ihrem Denken nationalen Differenzkategorien verhaftet. Darüber 84 85 86 87 88

Vgl. Daukšte, Bauer (wie Anm. 40), S. 115, Zitat aus dem Inland (1840). Vgl. Straube, Institutionen (wie Anm. 21), S. 126. Vgl. Daukšte, Bauer (wie Anm. 40), S. 119. Vgl. Zelče, Wege (wie Anm. 1), S. 441f Vgl. Gaus, Detlef: Dimensionen und Funktionen des Bildungsbegriffs im langen 19. Jahrhundert. Zur Begriffsgeschichte und Begriffsverwendung eines deutschen Synkretismus. In: Wilhelmi, Bildungskonzepte (wie Anm. 2), S. 15–38, hier S. 36.

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hinaus konnten die Geistlichen im Zuge des Aufbrechens von sozialen Ungleichheiten und einer damit einhergehenden Neuverteilung von Lebenschancen (und -risiken) nicht ernsthaft auf die Unterstützungsleistung der lokalen politisch und ökonomisch herrschenden Instanzen bauen. Dazu war die Bildungsvermittlung der deutschbaltischen Pastoren zu lange von ständischen Limitierungen geprägt, wie am Beispiel Hollmanns offenkundig wurde. Die Verknüpfung von Kirche bzw. Glaube und Bildung erwies sich über die Jahrzehnte als institutionelle Schwäche. Und die Notwendigkeit, die Bauernbevölkerung selbst mit in verantwortliche Positionen von Kirche und Bildungswesen einzubeziehen, kam zu zaghaft, und sie kam zu spät. Dies zeigen die Probleme Wittrocks im Umgang mit dem Autoritätsverlust des Pastorenamtes. Des Weiteren entsprach die Motivation der Pastoren, Bildung zu vermitteln, einem hierarchischen Denken, das eine ethnische oder kulturelle Gleichwertigkeit mit den Titularvölkern nicht zuließ. Die identitäre Zugehörigkeit des Geistlichen war maßgeblich durch eine Tradierung ethnisch-kultureller Höherwertigkeit bestimmt, die eine religiöse Überlegenheit implizierte. Bildungspolitik ist in diesem Sinne stets auch als ein Kampf um die Ressource Bildung und als Auseinandersetzung um Macht zu verstehen. In diesem Konflikt war es nur allzu verständlich, wenn die Vertreter der ‚junglettischen‘ und ‚jungestnischen‘ Bewegung deutschbaltischen Pastoren eine beschränkte Reformwilligkeit vorwarfen, in der wirtschaftlicher Aufstieg und das Recht auf höhere Bildung für alle Bevölkerungsteile nicht vorgesehen war.89

89 Vgl. Zelče, Wege (wie Anm. 1), S. 442.

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Die Familie von Medem. Zur Verbindung von Bildung, Literatur und Politik in Kurland Wenn man der Geschichte eines Adelsgeschlechts bzw. einer adligen Familie nachgeht, wird neben der Herkunftsgeschichte meistens das besonders Herausragende dieser Familie in den Mittelpunkt gestellt. Gefragt wird etwa danach, welche Territorien sie besaß, welches ihre Tätigkeiten waren oder welche Leistungen sie erbracht hat. Kaum anders könnte es für die Familie von Medem sein, von der verschiedene Familienangehörige den Weg in die Geschichte Kurlands und Europas gefunden haben. Zentrale Figur ist dabei Dorothea von Medem (1761–1821), bekannter unter dem Namen Dorothea von Kurland, da sie im Jahre 1779 Peter von Biron, den letzten Herzog von Kurland, heiratete, seitdem zum europäischen Hochadel Zugang hatte und infolgedessen mit Persönlichkeiten wie etwa dem französischen Staatsmann ­Talleyrand einen engen Umgang pflegte. Zu Dorotheas Geschwistern zählten die ebenso faszinierende wie umstrittene Autorin Elisa von der Recke (1754–1833), die sich auf literarischer Ebene einen Namen machte, sowie Karl Johann Friedrich (1762–1827) und Christoph Johann Friedrich von Medem (1763–1838), die sich vor allem durch innovative Architekturbauten auszeichneten. Die Familie von ­Medem, so vermittelt bereits ein kurzer Überblick über ihre Geschichte, kann, wie auch viele andere Adelsfamilien, als eine besonders aktive bezeichnet werden. Eine dementsprechend positive Bewertung der Familie – in Hinblick darauf, was die Angehörigen der Familie ‚geleistet‘ haben – nimmt etwa Imants Lancmanis in seinem Beitrag zur herzoglichen Familie von Biron und zu den Grafen von Medem in Kurland vor.1 Dass die Familie auch ganz besonders mit dem Bereich der Bildung verknüpft ist, möchte ich im Folgenden zeigen. Meine These ist dabei jedoch, dass verschiedene Mitglieder der Familie von Medem zwar auf Anhieb als ‚Akteure der Bildung‘ betrachtet werden können, dass sie aber auf diesem Gebiet – zumindest für ihr Vaterland Kurland – letztlich nur wenig hervorzubringen vermochten. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang daher nicht so sehr, was sie geleistet haben, sondern welches ihre Ziele auf diesem Gebiet waren und warum sie diese schließlich nicht oder nur unzulänglich erreichten. Elisa von der Reckes Schriften und ihre zum großen Teil noch unedierten Briefe können darüber Aufschluss geben. 1 Lancmanis, Imants: Die herzogliche Familie von Biron und die Grafen von Medem in Kurland. In: Hofmann, Klaus (Hg.): Die Herzogin von Kurland im Spiegel ihrer Zeitgenossen. „Ihr äußeres ist sehr einnehmend und sie kleidet sich mit Geschmack“. Europäische Salonkultur um 1800. Zum 250. Geburtstag der Herzogin von Kurland. Posterstein 2011, S. 13–20.

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Charlotte Elisabeth Constanze und Johann Friedrich von Medem Dem aktuellen Quellenstand nach geht die Geschichte der deutschbaltischen Familie von Medem auf das 13. Jahrhundert zurück. Die Familie kam ursprünglich aus Niedersachsen, bevor Claus Medeheym, der nach Lancmanis als „der Stammvater aller baltischen Medems“ gilt,2 im Jahre 1452 in den Besitz eines Landguts südlich von Mitau (Jelgava) gelangte. Zu den bekanntesten Nachfahren dieses Zweigs gehört Johann Friedrich von Medem (1722–1785), der – wie der von Paul Rachel angefertigte Stammbaum zeigt – Vater von fünf Kindern wurde.3 Aus seiner ersten Ehe stammten Charlotte Elisabeth Constanze von Medem, die später unter dem Namen Elisa von der Recke bekannt wurde, und Johann Friedrich von Medem (1758–1778). Die drei Kinder aus zweiter Ehe waren Anna Charlotte Dorothea, die spätere Herzogin von Kurland, sowie die bereits oben erwähnten Brüder Karl Johann Friedrich und Christoph Johann (Jeannot) Friedrich. Es ist hier nicht der Ort, auf die einzelnen Biographien dieser Familienmitglieder einzugehen, da dies den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde und mehrere andere Beiträge sich bereits damit befasst haben.4 Stattdessen möchte ich kurz skizzieren, wie sich diese adlige Familie aus Kurland schon recht früh in einen internationalen Bildungskontext einschrieb und wie sehr die Freundschaft zwischen den Geschwistern dabei eine Rolle spielte. Wie für adlige Familien üblich, wurde die Erziehung der Kinder einem Hofmeister überlassen, eine französische ­Gouvernante war für den Französischunterricht verantwortlich. Der Hofmeister war im Falle der jüngeren Schwester Dorothea kein anderer als der aus Deutschland stammende Friedrich Parthey, der später Friedrich Nicolais Schwiegersohn wurde. Zu der Zeit, wo Parthey als Hofmeister für die jüngeren Geschwister tätig war, war die ältere Schwester Elisa von der Recke bereits mit dem brutalen und unkultivierten Georg Magnus von der Recke verheiratet und verlebte unglückliche Tage auf dem entlegenen Gut Neuenburg. Ihre eigene Bildungsgeschichte verlief nicht sorgenfrei; sie schildert diese selbst in einer autobiographischen Schrift, die sie in den 1790er Jahren verfasste und wie folgt einleitet: „Freunde, die meine Erziehung und den Gang der Vorsehung kennen, durch den diese mich seit frühester Kindheit leitete, baten mich schon oft, die Geschichte mei2 Ebd., S. 15. 3 Vgl. Recke, Elisa von der: Aufzeichnungen und Briefe aus ihren Jugendtagen. Hg. v. Paul Rachel. Leipzig 1900, S. 476. 4 Vgl. hierzu u. a. Kvaskova, Valda (Red.): Briefe der Herzogin von Kurland / Kurzemes Hercogienes Dorotejas Vestules. Riga 1999; Hofmann, Klaus (Hg.): Die Herzogin von Kurland im Spiegel ihrer Zeitgenossen. „Ihr äußeres ist sehr einnehmend und sie kleidet sich mit Geschmack“. Europäische Salonkultur um 1800. Zum 250. Geburtstag der Herzogin von Kurland. Posterstein 2011; ­Donnert, Erich: Schwärmerei und Aufklärung: Die kurländische Freifrau Elisa von der Recke (1754–1833) in den Geisteskämpfen ihrer Zeit. Frankfurt/M. u. a. 2010.

Die Familie von Medem. Zur Verbindung von Bildung, Literatur und Politik

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nes Lebens von meinem ersten Jahre bis zum gegenwärtigen Zeitpunkte aufzuzeichnen. […] Wenn ich alles treu und gewissenhaft aufzeichnen will, was auf meine Denk- und Handlungsart Einfluß hatte, meinen Charakter bildete und so wieder mein Schicksal bestimmte: dann wird dies mehr als einen Band ausfüllen.“5

Auf Reckes Selbstbiographie von ihrer Geburt bis zu ihrer Verlobung (1754–1771) folgen in Paul Rachels Ausgabe denn auch tatsächlich ihre Briefe aus der Zeit ihrer unglücklichen Ehe (1771–1778). Hervorzuheben ist in der – stilisierten – „Selbstbiographie“ vor allem jenes Kapitel, in dem Recke erzählt, wie ihre Stiefmutter ihr, nach abschreckenden Erlebnissen im Hause der Großmutter, den Zugang zur Bildung verschaffte: „Meine Stiefmutter hatte indessen die Entdeckung gemacht, daß ich kaum lesen und schreiben konnte und durchaus garnichts gelernt hätte. […] Nun schämte ich mich in der Seele, daß mein jüngeres Geschwister mehr, als ich wisse, und zwei Gegenstände der Furcht bemeisterten sich meiner. – Die Französin, fürchtete ich, könne nun in meiner Eltern Hause Großschwester für mich werden, und dann fürchtete ich, die Liebe meiner Eltern zu verlieren, wenn diese erfahren würden, daß ich, wie Tante Kleist und ihre Töchter sagten, von Gott versäumt und ohne Gedächtnis sei, daher nichts lernen könne und wisse. […] Meine Stiefmutter gab mir etwas in Versen auswendig zu lernen; im Glauben an die Frau, die ich so herzlich liebte, strengte ich mich an und kaum war eine halbe Stunde vorüber, so wußte ich das mir Aufgegebene auswendig. Mit Freudenthränen stürzte ich zu den Füßen meiner Mutter, sagte hocherfreut: ‚Ich habe ein Gedächtnis! – ich habe ein Gedächtnis! Nun will ich auch recht fleißig sein!‘ – Meine Stunden wurden angeordnet; […]. Der Hofmeister meines Geschwisters gab mir täglich eine Stunde auf meinem Zimmer Unterricht; beim Klaviermeister bekam ich zwei Stunden; zwei Stunden vor und zwei Stunden nach Tische tanzte ich mit meinem Geschwister beim Tanzmeister; […]. Die Zwischenzeit, wo meine Stunden nicht besetzt waren, mußte ich meiner Stiefmutter französische und deutsche Schauspiele und Romane vorlesen.“6

Wie Recke in ihrer zweiten autobiographischen Schrift zur unglücklichen Ehe darstellt, half ihr die Literatur, vor allem die Lektüre empfindsamer Bücher (Johann Friedrich Freiherr von Cronegks Einsamkeiten, Edward Youngs Nachtgedanken, frühe Werke von Wieland usw.), später aus der Not heraus. Auch gehen auf diese freudlosen Jahre ihre ersten lyrischen Versuche, nämlich ihre ersten geistlichen Lieder, zurück. Nach der Trennung von ihrem Mann im Jahre 1776 kam es über den gemeinsamen Enthusiasmus für Kunst und Literatur zu einer Annäherung mit ihrem Bruder Johann Friedrich, der als junger Mann einen einfacheren Zugang zu literarischen und philosophischen Texten, zumal aus der Antike, hatte. Als Friedrich von Medem im darauffolgenden Jahr mit Friedrich Parthey als Begleiter eine 5 Recke, Aufzeichnungen und Briefe (wie Anm. 3), S. 3. Hervorhebung im Original. 6 Ebd., S. 61f.

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Bildungsreise nach Deutschland unternahm, war es so auch die ältere Schwester, die ihm – trotz ihrer überaus prekären Lage – finanzielle Unterstützung versprach, damit er möglichst viele Bildungsorte besuchen könne.7 Die für Adlige typische grand tour nahm dabei in diesem Falle bereits Züge der bürgerlichen Bildungsreise an: Es ging bei der Reise weniger darum, die höfische Etikette zu erlernen, als sich im aufklärerischen Sinne persönlich weiterzubilden. Von dieser Reise zeugt noch heutzutage jene Schrift, die die Bildungsgeschichte von Friedrich Medem nachzeichnet, nämlich Johann Lorenz Blessigs Schrift Leben des Grafen Johann Friedrich Medem nebst seinem Briefwechsel hauptsächlich mit der Frau Kammerherrin von der Recke, seiner Schwester, die im Folgenden näher untersucht werden soll.

Blessigs Biographie als pädagogische Schrift Johann Lorenz Blessigs Schrift aus dem Jahre 1792 ist bislang von der Forschung zu Elisa von der Recke herangezogen worden, um die Freundschaft zwischen den Geschwistern8 und ihren Zugang zur europäischen Gelehrtenrepublik9 nachzuzeichnen. In einem ersten Teil wird Friedrich Medems Werdegang dargestellt; in einem zweiten Teil werden anschließend jene Briefe angeführt, die sich die Geschwister während der Reise des Bruders schrieben. Deutlich wird in der Tat, dass sich die Geschwister oft über ihre Lektüreeindrücke (etwa über römische und griechische Literatur) austauschten, dass Friedrich seiner Schwester hiermit einen Zugang zu antiker Literatur und Altertumswissen verschaffte und er mit seiner Bildungsreise sogar jene Reise vorbereitete, die Recke selbst einige Jahre später (von 1784 bis 1786) unternahm. Dass es diese Schrift in dieser Form überhaupt gibt, liegt daran, dass Friedrich von Medem schon nach wenigen Monaten, und zwar am 11. Juni 1778, in Straßburg verstarb. Der Straßburger Pfarrer Blessig (1747–1816), der sich mit ihm angefreundet hatte, entschied daraufhin, das Leben seines Freundes aufzuschreiben. Dabei setzte er den Akzent insbesondere auf pädagogische Aspekte und verfasste eine Schrift, die man in ihrer Form als eine hybride beschreiben könnte, da sie zugleich memoriale und erzieherische Zwecke verfolgt und insofern teils private und teils öffentliche Funktionen erfüllt. Dies wird bereits in der Vorrede erkennbar, in der er zunächst auf die Entstehung der Schrift eingeht und anschließend seine Ziele beschreibt:

7 Vgl. Blessig, Johann Lorenz: Leben des Grafen Johann Friedrich Medem nebst seinem Briefwechsel hauptsächlich mit der Frau Kammerherrin von der Recke, seiner Schwester. 2 Bde. Straßburg 1792, hier Bd. 2, S. 117. 8 Vgl. Recke, Aufzeichnungen und Briefe (wie Anm. 3), S. 435–458. 9 Vgl. Müller, Adelheid: Sehnsucht nach Wissen. Friederike Brun, Elisa von der Recke und die Altertumskunde um 1800. Berlin 2012, S. 28, 56, 120.

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„Es bleibt mir noch übrig, ein Wort von dem eigentlichen Gesichtspunkte zu sagen, aus dem ich wünschte, gelesen zu werden. Die Welt, die ich im Auge hatte, umfaßte vorzüglich die Jugend der gesitteten Stände und ihre Erzieher. Es war mein angelegentliches Streben, ihnen über die Verwendung ihrer frühern Jahre, über die Bildung des Geistes und Herzens, über die Benuzung der Bücher, der Reisen und der Gesellschaften über die die Entwicklung des Charakters unter den günstigsten und ungünstigsten Umständen, alles das brüderlich mitzutheilen, wozu mir die Geschichte meines seligen Freundes, so natürliche Veranlassung darbot. Ins besondere habe ich versucht, mich, so gut es die Kluft, die zwischen Medems und meinem Vaterlande befestigt ist, zuließ, in die Curischen Gefilde und Sitten zu versetzen. Wie erhebend wäre für mich die Hofnung, daß Medems Beispiel vorzüglich auch auf die Mitglieder seines eigenen Standes zurückwürkte; daß, die junge Ritterschaft aus Curland und Deutschland sich gerne von einem ihrer Pairs möchte belehren lassen! Um nun aber meinem Gesichtskreise noch mehr Erweiterung und Tiefe zu geben, so berg’ ich es nicht, daß ich vor allem gewünscht habe, an Medems Beispiele die Reinheit, Würde und Wohltätigkeit des Christenthums, allen meinen, vorzüglich jungen Lebens-Genossen, recht fühlbar machen zu können, um ihnen in dem Labyrinthe des Lebens einen Leitfaden, und in allen Verhältnissen, einen Freund und Tröster zu bereiten.“10

Die Geschichte des verstorbenen Freundes soll den jungen Menschen und ihren Erziehern als Exempel dienen, die Darstellung seines Lebens und vor allem seiner Bildungsgeschichte als „Leitfaden“ fungieren. Formal lässt sich diese Hybridität auch daran erkennen, dass die chronologisch erzählte Erziehungs- und Bildungsgeschichte in den Fußnoten mehrfach durch pädagogische Kommentare ergänzt wird. Nachdem Blessig etwa die von Friedrich von Medem selbst erläuterte Rolle von bildenden Spaziergängen für junge Menschen beschrieben hat, fügt er in der Fußnote einen Kommentar hinzu, in dem er auf eine weiterführende Publikation verweist sowie ähnliche, die sozialen Strukturen allerdings kaum hinterfragende Praktiken anführt: „Einige Jahre, nachdem ich dies niedergeschrieben, und in mein friedliches Pult hingelegt hatte, fand ich die Idee solch belehrender Spaziergänge meisterhaft ausgeführt von den Herren Andre und Bechstein in ihren gemeinnützigen Spaziergängen auf alle Tage im Jahre, für Eltern, Hofmeister, Jugend-Lehrer und Erzieher, zur Beförderung der anschauenden Erkenntnisse, besonders aus dem Gebiete der Natur und der Gewerbe.11 … Aus gleichem Grunde wären für junge Städte-Bewohner, Besuche in Werkstätten, bei armen Leuten in abgelegenen Straßen, und Spaziergänge auf Dörfer, in gleichem Geist unternommen, eine sehr empfehlungswerthe Bewegung. Mit 10 Blessig, Leben des Grafen Johann Friedrich Medem (wie Anm. 7), Bd. 1, S. XIXf. 11 Blessig verweist an dieser Stelle auf die bis dahin erschienenen Bände des zehnbändigen Werks Gemeinnützige Spaziergänge auf alle Tage im Jahr, das der Pädagoge, Volksaufklärer und Landwirt Christian Karl André mit Johann Matthäus Bechstein und Bernhard Heinrich Blasche zwischen 1790 und 1797 herausgab.

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Valérie Leyh Erfolg sind auch manche solcher Reisen bei verschiedenen Instituten vorgenommen worden.“12

Da Blessig den Bildungsweg eines jungen Kurländers beschreibt, könnte man außerdem erwarten, dass diese Schrift diverse Äußerungen über Kurlands Erziehungssystem enthält. Damit hält Blessig sich jedoch sehr zurück, da ihm – wie er meint – zu wenig von diesem Land bekannt ist. Bemerkenswert ist daher, dass er in seine Rechtfertigung dennoch eine leise Kritik an dem Mangel von öffentlichen Erziehungsanstalten in Kurland einflicht: „Es kan mir, der ich an dem entgegengesetzten Ende der deutschsprechenden Nationen wohne, nicht einfallen, mir Bemerkungen über die Curische Erziehung zu erlauben; und sollte es mir auch noch so auffallend scheinen, daß, ausser dem Mietauischen Gymnasium, so viel mir bewußt ist, in ganz Curland keine eigentliche öffentliche Erziehungs-Anstalt sich findet; und – sollte es mir auch noch so wahrscheinlich vorkommen, daß die Privat-Erziehung, bei so vielen, so weit her berufenen, den Eltern völlig unbekannten Lehrern, ausser dem grossen Kosten-Aufwande, auch eine grosse Ungleichheit, oft auch eine Vernachläßigung der Grundsätze veranlassen, und noch mancher andern Besorglichkeit Raum lassen müsse, so bescheide ich mich doch gern, daß hierüber nur der zu urtheilen befugt seye, dem Menschen und Orte, und alle einwirkenden Umstände hinlänglich bekannt sind.“13

Blessigs Kritik stimmt insofern, als die Academia Petrina erst im Jahre 1775 durch Peter von Biron errichtet wurde und weitere höhere Erziehungsanstalten bis dahin in Kurland – im Unterschied zu Est- und Livland – fehlten.14 Im weiteren Verlauf seiner Schrift geht Blessig ausschließlich auf Medems Werdegang ein. Er versteht seine Darstellung als „exemplum“ für die „Jugend der gesitteten Stände und ihre[r] Erzieher“.15 Hervorzuheben ist hierbei, dass sich Friedrich von Medem nicht nur mit altphilologischen Texten, sondern vor allem auch mit religiösen Themen beschäftigte und sich zugleich für den deutschen Dichter Klopstock und den umstrittenen französischen Philosophen Helvétius interessierte.16 In einem Aufsatz mit dem Titel Meine Gedanken über verschiedene philosophische, moralische und religiöse Gegenstände setzte er sich offenbar mit Themen wie der Unsterblichkeit der Seele und mit seinen religiösen Zweifeln auseinander. Nur zu gern wüsste man, wie genau sich die Geschwister Friedrich und Elisa über dieses Thema austauschten, da die ältere Schwester zeit ihres Lebens an der Idee von der Unsterblichkeit der Seele festhielt. 12 Blessig, Leben des Grafen Johann Friedrich Medem (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 14f. 13 Ebd., S. 10f. 14 Vgl. Terving, Arvo: Die Beziehungen der Königsberger Universität zu Est-, Liv- und Kurland im 17. Jahrhundert. In: Garber, Klaus; Komorowski, Manfred; Walter, Axel E. (Hg.): ­Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001, S. 391–403, hier S. 401. 15 Blessig, Leben des Grafen Johann Friedrich Medem (wie Anm. 7), Bd. 1, S. XIX. 16 Vgl. ebd., S. 27. Vgl. auch Recke, Aufzeichnungen und Briefe (wie Anm. 3), S. 438.

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Dafür ist der Briefwechsel aber leider zu wenig aussagekräftig, u. a. wohl auch, weil er vor der Veröffentlichung von Elisa von der Recke selbst gesäubert wurde. Dass es überhaupt zu einem zweiten Band mit dem Briefwechsel zwischen den Geschwistern kam, ist tatsächlich nicht allein Blessig, sondern vor allem dem Weimarer Verleger, Freimaurer und Illuminaten Johann Joachim Christoph Bode (1731–1793) zu verdanken, den Elisa von der Recke auf ihrer Reise durch Deutschland im Jahre 1784 kennengelernt hatte. Drei Jahre später, also 1787, beabsichtigte Bode, den Briefwechsel zwischen den Geschwistern zu veröffentlichen, erfuhr dann aber in Straßburg, dass Blessig bereits an einer Biographie des verstorbenen Kurländers arbeitete. Bode entschied daraufhin, ihm den Briefwechsel zu überlassen, ließ ihn aber davor von Recke säubern und bearbeitete ihn selbst nochmals, wie aus seinen Briefen hervorgeht.17 Im Jahre 1789 versuchte Recke die Veröffentlichung plötzlich rückgängig zu machen. Denn mittlerweile war sie durch ihre entlarvende Schrift gegen Cagliostro sowie durch ihre Auseinandersetzungen mit dem Prediger Johann August Starck (1741–1816) europaweit bekannt geworden.18 Im Jahre 1789 war Recke also nicht mehr nur die passive, wissbegierige Schwester von Friedrich, sondern eine aktiv eingreifende Frau, die es gewagt hatte, sich öffentlich gegen Schwärmerei und Aberglauben auszusprechen. Durch die immer heikler werdenden Debatten zwischen den radikalen Rationalisten und den so genannten ‚Schwärmern‘ war Recke allmählich vorsichtiger geworden. Bode versuchte, sie daraufhin damit zu beruhigen, er selbst habe den Briefwechsel überprüft und Blessig gelte selbst nicht als ein „Schwärmer“. In seinem Brief vom 19. Januar 1790 nennt er für die Publikation drei Argumente: „1) Blessig ist ein verständiger und gutdenkender Mann, und also Ihres Vertrauens in dieser Sache werth. Ihr Vertrauen kann ihm dennoch nicht anders, als sehr angenehm seyn, […] und um so weniger haben Sie jetzt das Geringste zu besorgen, da Sie ihn selbst auf die bedenklichsten Stellen aufmerksam gemacht haben. 2) Ist Blessig kein Mitglied irgend einer geheimen Gesellschaft, und hat noch nie Anlaß gegeben, ihn für einen Schwärmer, oder nur Enthusiasten zu halten. […] 3) Ist diese Ausgabe der Correspondenz ein klarer Beweiß, daß Sie nicht streiten um zu streiten, indem von allem, was Ihnen nachher Gutes oder Böses begegnet ist, nichts vorkommt, wozu, wie man finden wird, Sie längst hier hätten Gelegenheit nehmen können. Ich sehe also dabey nicht das geringste Nachtheilige, unter diesen Umständen wohl aber Vortheilhafte, so wohl für das Publikum, als für Sie selbst.“19 17 Vgl. Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden. Sign. Mscr. Dresd. h. 37. 4°. Bd. 16. Bl. 37 u. 39: Bode an Recke. 04.12.1789 und 19.01.1790. 18 Vgl. hierzu Klausnitzer, Ralf: Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750–1850. Berlin-New York 2007, S. 142–339; Donnert, Erich: Antirevolutionär-konservative Publizistik in Deutschland am Ausgang des Alten Reiches. Johann August Starck (1741–1816). Ludwig Adolf Christian von Grolman (1741–1809). Friedrich Nicolai (1733–1811). Frankfurt/M. u. a. 2010. 19 SLUB Dresden. Sign. Mscr. Dresd. h. 37. 4°. Bd. 16. Bl. 39: Bode an Recke. 19.01.1790.

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Was unter diesen Umständen vom Briefwechsel bleibt, sind mithin keine zuverlässigen Quellen, sondern Texte mit empfindsamen Zügen, die vor allem von der Innigkeit der Geschwisterbeziehung und von ihrem erzieherischen Wert zeugen sollen. Blessig geht es auch weniger darum, quellenkritisches Material zu edieren als exemplarisch zu zeigen, dass die gemeinsame Fortbildung der aus adligen Verhältnissen stammenden Geschwister für das Glück des Volkes förderlich sein kann: „Umsonst wird man wohl auch, bei allem dem Guten, was über Pädagogik der Völker und der einzelnen Menschen gesagt worden, ein wahres, daurendes Glück für beyde erwarten, so lange nicht die Gesinnungen, die allein es begründen können, von innen her stammen; von innen, nicht als nachgesprochene Zeitweisheit, nicht als Stimme irgend einer Innung, sondern als selbst-errungene Ueberzeugung; und von innen, als unwandelbarer Handlungs-Plan, im stillen Schooße der Familien. Von dort aus erwarte ich die besten Lehrer-Seminarien; diese bilden selbst auch die Bildner. Wohl dem Staate, wo die Väter und Mütter, auch in Rücksicht auf durchdachte Erziehung, die Ersten in ihrem Hause seyn wollen; und Heyl dem Hause, wo Bruder und Schwester eine solche Erziehung, mit einander in ihren aussichtslosesten Stunden fortsetzen […]. Stehen solche, sich wechselweis fortbildende Geschwister, noch ausserdem in der Reihe der Ersten eines Landes, und meynen sie bei ihrem Glücke, auch das Glück der Hütten, die von ihnen abhangen, so mögen sie freudig Gott danken, der sie zu einem so ganz vorzüglichen Loose auf die Erde gerufen; […].“20

Von innen, nämlich von den Familien aus, soll Bildung entspringen, damit sie anschließend auf die Völker übertragen werden kann. Blessigs aufklärerisches Ideal, insbesondere gebildete Menschen der herrschenden Gesellschaftsschicht könnten zum Glück der Völker führen, ging allerdings schon insofern nicht in Erfüllung, als Friedrich von Medem früh verstarb und für sein Vaterland nichts mehr bewirken konnte. Seine Schwester Elisa von der Recke verfolgte diese Idee später weiter – mit nur mäßigem Erfolg, wie sich herausstellen sollte.

Reckes Reformbestrebungen: mehr Theorie als Praxis Ein Jahr bevor Blessigs Schrift über Friedrich von Medem veröffentlicht wurde, verweilten Elisa von der Recke und Dorothea von Kurland in Warschau, um mit dem polnischen König Stanisław August Poniatowski diplomatische Verhandlungen zu führen.21 Gegenstand dieser Verhandlungen war Kurlands politische Zukunft. Diese 20 Blessig, Leben des Grafen Johann Friedrich Medem (wie Anm. 7), Bd. 1, S. X–XII. 21 Vgl. hierzu Gajdis, Anna: „[…] dass sich Pohlens Größe zum Untergange neigt“. Elisa von der Recke am polnischen Königshof. In: Müller, Adelheid; Viehöver, Vera; Leyh, Valérie (Hg.): ­Elisa von der Recke. Aufklärerische Kontexte und lebensweltliche Perspektiven. Heidelberg 2018, S. 277–296.

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diplomatische Mission konnte aber letztlich nicht verhindern, dass Kurland im Jahre 1795 durch Russland annektiert wurde. Obwohl Recke zuvor russlandfeindliche Gesinnungen vertrat, wechselte sie nun die Seite und folgte der Einladung der Kaiserin Katharina II., sie in St. Petersburg zu besuchen.22 Katharina II. schenkte Recke daraufhin ein Landgut in Pfalzgrafen (Palcgrāves muiža), das ihr eine finanzielle Unabhängigkeit sichern sollte. In diesem Kontext strebte Recke zunächst an, auf ihrem Gut in Kurland zu leben und dort Reformen mit dem Ziel der allmählichen Auflösung der Leibeigenschaft durchzuführen. Reckes so genannte Reformbestrebungen sind bereits von Karl Tiander und ­Erich Donnert skizziert worden.23 Sie erwähnen in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung zwischen Elisa von der Recke und Garlieb Merkel, auf die auch im Folgenden eingegangen wird. Allerdings tauschte sich Recke zu diesem Thema bereits im Jahre 1791 in Breslau (Wrocław) mit den Aufklärern Christian Garve, Johann Timotheus Hermes und Friedrich Gedike aus – es handelt sich also um ein Thema, das sie schon länger beschäftigte.24 Merkel gehörte wiederum zu denjenigen, die sich von Recke nicht wirklich angezogen fühlten, sondern zu ihr eher Distanz wahren wollten.25 Trotz des Widerwillens kam es durch Carl August Böttigers Vermittlung dennoch zu einer Begegnung, zu einer heftigen Diskussion und sogar zu einem kurzen Briefaustausch. Donnert erkennt richtigerweise, dass sich Recke für einen langsamen Weg zur Freiheit der Bauern ausspricht, während Merkel dafür plädiert, die Rechte der Bauern umstandslos anzuerkennen. Nach Goethe ließe sich Reckes Bildungskonzept also dem Neptunismus zuschlagen.26 Der zentrale Kern 22 Zu Reckes Besuch in St. Petersburg und zu ihren russischen Beziehungen vgl. Hexelschneider, Erhard: Elisa von der Recke und ihre russischen Beziehungen. In: Donnert, Erich (Hg.): Europa in der frühen Neuzeit. Festschrift für Günther Mühlpfordt. Bd. 3: Aufbruch zur Moderne. KölnWeimar 1997, S. 231–249. 23 Tiander, Karl: Elisas von der Reckes soziale Reformbestrebungen. Ein unbekannter Brief Elisas von der Recke an Garlieb Merkel. In: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven N.F. 2/3 (1926), S. 68–74; Donnert, Erich: Schwärmerei und Aufklärung. Die kurländische Freifrau Elisa von der Recke (1754–1833) in den Geisteskämpfen ihrer Zeit. Frankfurt/M. u. a. 2010, S. 56–60. 24 Vgl. hierzu Recke, Elisa von der: Tagebücher und Briefe aus ihren Wanderjahren. Hg. v. Paul Rachel. Leipzig 1902, S. 371: „Das Gespräch nahm bald eine andere Wendung; man sprach von der Leibeigenschaft in Kurland, von Volksreligion und Erziehung, vom Werthe und Unwerthe der öffentlichen Urtheile, die über Menschen gefällt wurden, und vom Zustande der Seele nach der Trennung des Körpers. Über die bösen Folgen der Leibeigenschaft dachten wir alle gleich; aber wie staunte ich, als Hermes verkannt werden für das allergrößte Unglück, für das höchste Schmerzgefühl erklärte. Ich bin fest überzeugt, daß, je edler der Mensch handelt, er um so mehr verkannt werden muß. Wer nicht die Kraft hat, sich am innern Bewußtseyn, gut gehandelt zu haben, fest zu halten, und wer nicht ruhiger unverdienten Tadel, als unverdientes Lob, erträgt, den kann ich nicht achten.“ 25 Vgl. Merkel, Garlieb: Skizzen aus meinem Erinnerungsbuch. Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben. Hg. v. Uwe Hentschel. Bonn 2010, S. 180. 26 Ebenfalls als Neptunistin trat Sophie Becker für die Bildung der Frauen ein, vgl. Viehöver, Vera; Leyh, Valérie: „Wonderful Antagonism in My Own Soul“ – Annotations to Sophie Schwarz’s

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des ‚Streits‘ liegt aber noch viel tiefer, und zwar in der Rolle, die Recke der Bildung in dieser Entwicklung zuspricht. Merkel hat ihre mündliche Diskussion folgendermaßen zusammengefasst: „Sie ging bald auf den Gegenstand über, der ihrem edlen Herzen sehr wichtig war, lobte meine Schrift: Die Letten mit Wärme und versicherte mich wiederholt, nur der unerwartete, plötzliche Tod der Kaiserin Katharina habe sie verhindert, mit meinem Buche in der Tasche zu der großen Monarchin zu gehen und die huldvolle Entscheidung des Schicksals der Bauern zu erflehen. Dann kam sie zu dem Plane, den sie sich selbst zum Besten ihrer Bauern ausgesonnen hatte. Hier aber geriethen wir bald in eine lebhafte Debatte. Sie wollte die Bauern eine Reihe von Jahren durch Unterricht, durch Ehrengeschenke für tadelloses Leben u.s.w. bilden, und dann ihnen erst die Aussicht auf Freiheit, und endlich diese allmälig in kleinen Portionen zutheilen. Ich warf dagegen ein, auf diesem Wege würde mehr als ein Menschenalter vergehen, ehe man ein Resultat sähe und immer würde es dem bösen und eigennützigen Willen Einzelner freistehen, Alles wieder zu vernichten, was besser gesinnte Vorgänger geschaffen. Lesen und Schreiben machten nicht fähig, die Freiheit gut zu gebrauchen; denn bei jedem Schritte träfe man auf Hochgebildete, die ihre Freiheit zeitlebens mißbrauchten. Sie aber gut anwenden, könne man doch nur durch ihren Besitz selber erleben. Man müsse das Recht der Bauern dazu sogleich anerkennen und unerschütterlich feststellen, den Genuß der Freiheit aber nicht Einzelnen, sondern dem ganzen Stande, nach voraus bestimmten Zwischenräumen, stufenweise ertheilen.“27

Bildung erscheint in Reckes Argumentation ganz offensichtlich in ihrer kolonialen Dimension: Die gebildete Schicht soll dem ‚Volk‘ zunächst die Bildung verschaffen, durch die sich erst mündige und freie Menschen entwickeln könnten. Diese Ansicht wiederholt sie auch in ihrem Brief an Merkel vom 8. September 1797: „Ich denke wenn ich meinen Leuten zu erst gute Wohnungen erbaue, ihre übertriebene Arbeiten vermindre, die willkürlichen von meiner Seite ganz aufhebe, für ihre Gesundheit auf meine Kosten sorge, ihre Moralität und ihre Freuden befördere, ­ihnen richtigere Begriffe und mehr Kenntniß vom Ackerbau, von der Viehzucht, vom Forstwesen, von der Spinnerey beybringe, sie angenehm und nützlich beschäftige, ihnen Lust zur Gärtnerey gebe, kurz sie glücklich und besser mache, ehe ich es wage ihnen etwas von Freiheit anzukündigen, dann wird es gut gehn denn sie müssen erst fähiger seyn, eine solche Existenz würdig zu genießen, wenn die Freiheit der Bauren bey uns, für sie selbst und für denn [!] Staat wohlthätig werden soll.“28 Travel Journal. In: Renker, Cindy R.; Bach, Susanne (Hg.): Women from the Parsonage. Pastors’ Daughters as Writers, Translators, Salonnières, and Educators. Berlin-Boston 2019, S. 107–130, hier S. 126–128. 27 Merkel, Skizzen (wie Anm. 25), S. 180f. 28 Recke, Elisa von der: Brief an Garlieb Merkel. 08.09.1797. In: Merkel, Garlieb: Briefwechsel. Bd. 1: Texte. Hg. v. Dirk Sangmeister in Zusammenarbeit mit Thomas Taterka u. Jörg Drews. Bremen 2019, S. 33.

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Recke meint, sie müsse ihre Bauern ,zur Freiheit erziehen‘ – was sie im Herbst 1795 auch tatsächlich versucht hat. Sie möchte die Schuldenlast der Bauern an den Herzog verringern, möchte einigen besonders fleißigen Bauern die lettische Version ihrer geistlichen Lieder und einen „silbernen Löffel“ schenken.29 In einem Brief an Karl August Böttiger beschreibt sie ihr Leben in Pfalzgrafen folgendermaßen: „Es vergeht fast kein Tag ohne daß einige wetteifern mir Liebe und Anhänglichkeit zu zeigen, und ich kann mich nicht entschließen, meine enge Strohhütte mit dem Aufenthalte in der Stadt zu verwechseln. Die Bauern sind sonst gewohnt gewesen, im Hofe Geschenke zu liefern, aber dieß habe ich ganz aufgehoben, und ich nehme kein Geschenk eines Bauern an. Gestern kam ein Bauer zu mir und sagte – er habe im Namen seines Weibes ein Anliegen, und bäte unbedingt um Erhörung der Bitte. […] ‚Seht, liebe gnädige Frau, Ihr habt mir meinem Weibe und all meinem Gesinde gestern einen sehr glücklichen Abend gemacht; mein Weib hat bei geistl. Melodien eine hübsche Stimme, und da sang sie uns gestern einige Eurer Lieder vor, und uns allen schlug das Herz hoch auf!‘ – […].“30

Gabriel Merkel aber sieht in dieser Herangehensweise nur ein „Recept für eine gute Pastete“31 und hält diese koloniale Haltung für völlig falsch, u. a. auch, weil er die Bauern nicht für bildungsfähig hält.32 Dabei war sich Recke der Diskrepanz zwischen wollen und tun, zwischen Theorie und Praxis durchaus bewusst. Im Sommer 1797, kurz nachdem sie Merkels Brief erhalten hatte und bevor sie ihn am 8. September beantwortete, schrieb sie an Böttiger: „Von Merckel habe ich heute einen recht schönen Brief erhalten, aber er löst mir den Knoten noch nicht auf! – mir fällt bey allen guten Vorsätzen ein was Mutter Catarina mir sagte: „rien n’est si doux que de vouloir le bien! et rien si dificile que de le faire! il est triste que l’expérience de tous les temps nous le prouve qu’aucune difficulté égale a celle, de faire des heureux! – mais cette réflexion ne dois jamais diminuer nôtre zêle pour le bien publique!“ – Diese Gedanken meiner Wohlthäterin schweben meiner Seele immer vor, wenn ich über die Lage unsrer Letten nachdenke.“33

Bei der Auseinandersetzung zwischen Recke und Merkel geht es also um eine allgemeinere Aufklärungsdebatte, bei der Recke die zumeist von Pastoren vertretene

29 SLUB Dresden. Mscr. Dresd. h. 37. 4°. Bd. 157. Dok. 21: Recke an Böttiger. 27.11.1795. 30 Ebd. 31 Merkel, Skizzen (wie Anm. 25), S. 201. 32 In seinem Werk Die Letten heißt es dazu: „Verschiedene verdienstvolle Prediger haben sich seit mehreren Jahren bemüht, die dicke Finsterniss, in der dieses Volk tappt, durch Bücher aufzuhellen, die sie teils ins Lettische übersetzten, teils selbst schrieben. Sie zündeten Blinden ein Licht an.“ Merkel, Garlieb Helwig: Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts. Leipzig 21800 (orig. 1796), S. 55. 33 SLUB Dresden. Mscr. Dresd. h. 37. 4°. Bd. 157. Dok. 40: Recke an Böttiger. 27.07.1797.

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Ansicht übernimmt, für die die „Hebung des geistigen Niveaus der Bauern“34 ein zentraler Punkt publizistischer Schriften war. Im Unterschied zu manch anderen Autoren stellt sie sich aber offenbar nirgends die Frage, ob „die herrschende Schicht überhaupt das Recht und die Mittel habe, anderen Menschenklassen die eigenen Begriffe von Bildung aufzudrängen“.35 Recke, für die Bildung und Wissen lebensbestimmend waren, die mit mehreren Pädagogen der Aufklärung (u. a. Ernst Christian Trapp und Joachim Heinrich Campe) in brieflichem Kontakt stand36 und sich stets für erzieherische Fragen interessierte, nahm im Kontext des bäuerlichen Bildungswesens eine recht typisch aufklärerische Haltung ein, die sie nicht hinterfragte. Sie schien Blessigs Ansicht, die „Ersten eines Landes“ müssten für das Glück der Völker sorgen, ernst zu nehmen und stellte Bildung und Erziehung hierfür an die erste Stelle. Merkel hingegen vertritt eine völlig andere Sicht, die Jürgen Heeg folgendermaßen beschreibt: „Die Armut der Bauern, ihre mangelnde Bildung und ihre Abneigung gegen Verbesserungen waren für Merkel nur Glieder einer starken Kette, die es zu beseitigen galt. Die Vernichtung der Kette in toto erschien ihm einfacher als die Heraussprengung einzelner Glieder. Deshalb setzte Merkel sich vehement für die Erlangung von Freiheit, Bildung und Wohlstand für die Bauern ein. Unter Bildung verstand er dabei weniger Lesen und Schreiben, sondern ‚Selbstgefühl, Liebe zur Thätigkeit und Moralität‘.“37

Kaum verwundert es daher, dass sie zu keinem gemeinsamen Nenner kamen, ja dass Merkel den Briefwechsel sogleich abbrach. In einem Brief an den Kriegsassessor Philipp Christian Weyland heißt es: „Hätte ich eine Copie von meinem ersten Briefe, so würde ich ihn noch einmal abschreiben und ihr ihn wieder unverändert zu schicken. Alle ihre Einwürfe hatte ich zum voraus beantwortet: daß sie sie dennoch macht, zeigt mir nur, daß ich sie richtig

34 Heeg, Jürgen: Garlieb Merkel und die baltischen Völker. In: Schwidtal, Michael; Gutmanis, Armands (Hg.): Das Baltikum im Spiegel der deutschen Literatur. Carl Gustav Jochmann und Garlieb Merkel. Heidelberg, S. 43–60, hier S. 51. Vgl. auch Taterka, Thomas: Aufgeklärte Volksaufklärung. Aufklärung und Volksaufklärung im Baltikum oder Garlieb Merkel und die Entstehung des deutsch-lettischen Lesebuchs Das Goldmacherdorf/Zeems, kur feltu teifa nach Heinrich Zschokke. In: Kronauer, Ulrich (Hg.): Aufklärer im Baltikum. Europäischer Kontext und regionale Besonderheiten. Heidelberg 2011, S. 17–56. 35 Heeg, Garlieb Merkel und die baltischen Völker (wie Anm. 34), S. 51. 36 Vgl. Leyh, Valérie: Lessing, Trapp und Campe. Elisa von der Reckes Beziehungen zu Braunschweig und Wolfenbüttel. In: Berthold, Helmut; Schlieker, Franziska (Hg.): Von Herkules bis Hollywood. Beiträge zur jüngeren Lessingforschung. Wolfenbüttel 2018 (Wolfenbütteler Vortragsmanuskripte 25), S. 25–48, v. a. S. 39–46. 37 Heeg, Garlieb Merkel und die baltischen Völker (wie Anm. 34), S. 52. Zitat aus Merkel, Die Letten (wie Anm. 32), S. 310.

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beurtheilt habe. Die Frau will nur bewundert sein: Bewundern kann ich nicht und so – adieu Princesse!“38

Reckes Wünsche wurden von ihr nie in die Tat umgesetzt, da sie Pfalzgrafen im Jahre 1796 bereits wieder verließ und nicht mehr dorthin zurückkehrte.39 Merkels Anmerkungen zu ihrem Brief und zu ihren Ansichten enthalten folgende Äußerung, die wohl nicht völlig frei von Ironie ist: „Uebrigens hat sie während der 40 Jahre ungefähr, die sie nach der Mittheilung dieses schönen Planes noch lebte, ihre Güter nie wieder gesehn, sondern das Einkommen der selben auf eine sehr anständige Weise in Deutschland, in der Schweiz und in Italien verzehrt, was sich ihr gar nicht verdenken läßt. Sie hat ihr Andenken durch werthvolle Beweise des Talents achtungswerth, durch Handlungen edlen Sinnes ehrwürdig gemacht. Ich verehre es.“40

Fazit Reckes Scheitern geht aus einer Kluft hervor, die sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Indem sie sich zeit ihres Lebens vor allem für ihren individuellen Wissenszuwachs sowie für die Bildung von einzelnen jungen Männern und Frauen

38 Merkel, Garlieb: Brief an Philipp Christian Weyland. 1797. In: Merkel, Briefwechsel, Bd. 1 (wie Anm. 28), S. 39. 39 1823 bat sie den Zaren Alexander I., das Gut zurückzunehmen und es durch eine Leibrente von sechstausend Rubeln zu ersetzen (vgl. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer ­Kulturbesitz [SBPK]. Sign. Ms.germ.qu. 452: Recke an Zar Alexander I. 16.04.1823). Auch in späteren Briefen, von denen vermutet wird, dass sie an Reckes Stiefbruder Karl Johann Friedrich von Medem gerichtet sind, ist von Kurland nicht die Rede. Hinweise zu diesen Briefen, die in den Nationalen Archiven Lettlands aufbewahrt werden (Historisches Staatsarchiv Lettlands. Sign. LVVA 1100-14-588), erhielt ich von Dirk Sangmeister, dem ich an dieser Stelle herzlich danke. 40 Er fügt noch hinzu: „Was ihre Ansichten von der Bildung der Leibeigenen zur Freiheit betrifft – ein Mann äußerte einmal ganz dieselben gegen mich und ich antwortete: Was Sie vorschlagen, kann nur bei einzelnen Individuen von Erfolg seyn, nicht bei Massen von Millionen. Bei diesen würden die Bildungsmaaßregeln so langsam wirken, würden nie allgemein, und auf tausend und aber tausend Punkten durch Verschiedenheit der Ansichten und den Eigennutz oder die Bedürfnisse einzelner Herren so oft unterbrochen werden, daß der menschenfreundliche Plan nie ausgeführt werde. – Lassen Sie uns Freigeborne nicht vergessen, daß wir keine Wesen einer höhern Gattung sind, als die Leibeigenen, und daß Viele von uns beträchtlich unter demjenigen stehn, was sie von den Leibeigenen fordern, um sie der Freiheit fähig zu halten. Nehme man erst weg, was sie hindert, sich zu bilden, lasse ihnen Raum, gebe ihnen Anreizung und Möglichkeit dazu und überlasse es übrigens ihnen selbst, für sich zu sorgen, wie es der Eigenthümlichkeit eines Jeden entspricht. Wir Menschen haben kein Recht, andere Menschen nach unsrer Phantasie zu modeln. Nur helfen müssen wir ihnen nach ihrer Weise und ihren Wünschen. Wir sind ja, wie gesagt, nicht Wesen höherer Art, als sie. –“ Merkel, Skizzen (wie Anm. 25), S. 201f. (Hervorhebungen im Original).

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einsetzte41 und hierfür stets die ,hohen‘ gelehrten Kreise frequentierte, verlor sie zugleich die Verbindung zur allgemeineren sozialen Realität. Insgesamt lässt sich an der Familie von Medem nochmals feststellen, dass die Bildung der ‚Großen‘ bzw. ,Ersten‘ eines Landes nicht zwangsläufig das Glück der Völker herbeiführt – dass also die proportionale Gleichung Blessigs zwar ein schönes Ideal ist, dieses aber an der Realität oftmals scheitert. Dorothea von Kurland und Elisa von der Recke sind Beispiele für Frauen, die sich einen Zugang zur Bildung verschafft haben und die die stete Weiterbildung etwa auch durch ihre Salons in Berlin, Löbichau und Dresden gefördert haben. Für eine Veränderung der sozialen Verhältnisse in ihrem Vaterland konnten aber letztlich weder Friedrich von Medem noch Dorothea von Kurland noch Elisa von der Recke Wesentliches bewirken. Dem kolonialen Denken vermochten sie nicht zu entrinnen.

41 Sie betreute und bildete zahlreiche Pflegetöchter.

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„Durch die Macht der Verhältniße […] zur Ordnung ­gezwungen“. Die Kügelgens – eine deutsch-baltische Familie und die Signaturen des Bildungsbürgertums1 1870 erschienen unter dem Titel Jugenderinnerungen eines alten Mannes postum die Memoiren des drei Jahre zuvor verstorbenen Ballenstedter Hofmalers und herzoglichen Kammerherrn Wilhelm von Kügelgen (1802–1867). Er war der Sohn des vor den Toren Dresdens einem Raubmörder zum Opfer gefallenen Historien- und Porträtmalers Gerhard von Kügelgen (1772–1820) und der livländischen Adelstochter Helene Marie (genannt Lilla) Zoege von Manteuffel (1774–1842). Sein Großvater mütterlicherseits, Baron Wilhelm Johann Zoege von Manteuffel (1745–1818), Herr auf Eigstfer (Eistvere) und später auf Harm (Harmi) in Livland, war mit Helene Henriette Bock (1749–1833) verheiratet. Über die mütterliche Linie war Wilhelm von Kügelgen aber nicht nur mit den von Bocks, sondern unter anderem auch mit den von Stackelbergs verwandt. Die Bande zu einflussreichen baltischen Familien waren für Wilhelm, dessen väterliche Linie aus dem Rheinland stammte, noch enger dadurch, dass der Zwillingsbruder seines Vaters, der Landschaftsmaler Karl von Kügelgen (1772–1832), nicht nur im Baltikum geblieben und sich als Maler – unter anderem am Petersburger Za-

1 Das Zitat stammt aus einem Brief Wilhelm von Kügelgens an seinen Bruder Gerhard in Estland, mit dem er sich immer wieder über die politische Lage austauschte. Am 7. Mai 1845 schreibt er zur Situation der Bauern in Estland unter anderem: „Die schreckliche Noth mit Deinen Bauern geht mir rechtschaffen zu Herzen, doch bin ich überzeugt, daß der Fehler nicht in der Raße liegt, sondern einzig in den Verhältnißen, welche in Ehstland für Edelleute und Bauern gleichermaßen unvortheilhaft sind. […] Daß die Bauern keine längeren Pachtungen eingehen wollen, beweist nichts dagegen. Sie sind wie Kinder, aber sie müssen nicht durch Willkür einzelner Edelleute, sondern durch die Macht der Verhältniße, in denen sie leben, zur Ordnung gezwungen werden.“ (Kügelgen, Wilhelm von: Bürgerleben. Die Briefe an den Bruder Gerhard 1840–1867. Hg. v. Walther Killy. München 1990, S. 215). Überhaupt ist in Kügelgens Briefen öfter die Rede von der „Macht neuer Verhältnisse“ und einer „neue[n] Ordnung der Dinge“, aber auch von der eigenen psychischen Verfasstheit, die diätetisch in Ordnung oder besser in Balance zu bringen ist (vgl. etwa ebd., S. 346f., 694, 808 u. ö.). Diese „Ordnung der Dinge“ und „die Macht der Verhältnisse“ nimmt mit Fokus auf den Themenbereich Kleinstadt zum Ausgang: Knittel, Anton Philipp: „Die Macht neuer Verhältniße“ und die „Ordnung der Dinge“. Kleinstädtisches Bürgerleben im 19. Jahrhundert am Beispiel der Kügelgens. In: Nell, Werner; Weiland, Marc (Hg.): Kleinstadtliteratur. Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne. Bielefeld 2020, S. 187–208.

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renhof – einen Namen gemacht, sondern auch die jüngere Schwester von Wilhelms Mutter, nämlich Emilie Zoege von Manteuffel (1787–1835), geheiratet hatte. Wilhelm von Kügelgens Bruder Gerhard (1806–1883) wiederum war als Herr von Versenau-Neuhall (Mõraste) und späterer Verwalter des Stiftsgutes Finn (Vinni) in Estland, mit seiner Cousine Wilhelmine (genannt Elmine) von Kügelgen (1808– 1889), einer Tochter des Onkels Karl von Kügelgen, verheiratet. Nicht zuletzt die Ausstellung zu Gerhard und Karl von Kügelen 2015 in Tallinn hat gezeigt, dass insbesondere die beiden Malerzwillinge mit ihren Familien in der baltischen Gesellschaft enormen Einfluss hatten. Kadi Polli formuliert resümierend in ihrer Einleitung im Ausstellungskatalog: „The artistic dynasty of the KügelgensZoege von Manteuffels confirms the great importance of the familiy and ­familial line in Baltic-German society.“2 Dies gilt umso mehr als beide Künstler auch eng mit dem für das baltendeutsche Bildungsleben so wichtigen Karl Morgenstern (1770–1852) verbunden waren.3 Bei derart nahen familiären Verbindungen nach Estland und Livland verwundert es kaum, dass mit dem Erfolg der Jugenderinnerungen eines alten Mannes von Wilhelm von Kügelgen auch das Baltikum und die bildungsbürgerlichen Austauschbeziehungen der deutsch-baltischen Familie in den Blick des Interesses rückten. Denn die Memoiren des wenig erfolgreichen Hofmalers im damals bereits anachronistischen Duodezfürstentum Anhalt-Bernburg wurden nach der Wende des vorletzten Jahrhunderts zum Kultbuch des deutschen (Bildungs‑)Bürgertums. Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg war ein großer Teil des deutschen Publikums offenbar gerne bereit, sich unter anderem mittels der Jugenderinnerungen eines alten Mannes in eine vermeintlich „besonnte Vergangenheit“ zurückzusehnen – so der Titel der ebenfalls ab 1920 viel gelesenen „Lebenserinnerungen“ des in Stettin geborenen Arztes Carl Ludwig Schleich. So wurden bis Mitte der 1920er Jahre Kügelgens Jugenderinnerungen in mindestens 18 verschiedenen Verlagen etwa 240-mal aufgelegt. Seine Memoiren waren bis weit in die Zeit der Weimarer Republik eines der beliebtesten Konfirmationsgeschenke in Deutschland überhaupt. Deshalb sah kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert einer der Herausgeber der Kügelgen’schen Autobiographie in den Jugenderinnerungen „ein Lieblingsbuch der besseren Volkskreise“,4 während Roy Pascal in seiner Monographie zur Gattung der Autobiographie von der „vor 1914 in

2 Polli, Kadi: Dresdeni ja Peterburi vahel / Between Dresden and St. Petersburg. In: Ders.: (Hg.): Dresdeni ja Peterburi vahel. Kunstnikest kaksikvennad von Kügelgenid / Between Dresden and St. Petersburg. Artist Twin Brothers von Kügelgen. Tallinn 2015, S. 12–30, hier S. 29. 3 Morgenstern besuchte Gerhard von Kügelgen unter anderem in Dresden. Von Kügelgen stammt auch ein bekanntes Ölgemälde des Gelehrten aus dem Jahre 1808. 4 Kügelgen, Wilhelm von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Geschenkausgabe. Mit dem Bilde des Verfassers in Mezzotinto und 16 Abbildungen nach Gemälden, Zeichnungen und Stichen, nebst einem ausführlichen Vor- und Nachwort. Stuttgart 91899, S. V.

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Deutschland vielleicht beliebtesten Autobiographie“5 sprach, wobei die Leserschaft auch nach 1918 überaus zahlreich war. Während die Jugenderinnerungen überwiegend die Dresdner Zeit der Familie mit den Eltern Gerhard und Helene Marie von Kügelgen und ihren Kindern Wilhelm, Gerhard und Adelheid (1808–1874) sowie ein kurzes Intermezzo im Harz beleuchteten, erreichten ab der Wende zum 20. Jahrhundert, angeregt durch den enormen Erfolg des ‚Alten Mannes‘, wie Wilhelm von Kügelgen fast nur noch genannt wurde, weitere Texte von Familienmitgliedern größere Aufmerksamkeit: so unter anderem das zum Lebensbild in Briefen kompilierte Porträt von Wilhelms Mutter Helene Marie und auch die Tagebuchaufzeichnungen seiner Nichte Sally (1835–1868), die mit dem deutschbaltischen Pastor Hugo Emil Kraus (1826–1908) verheiratet war,6 unter dem Titel Stilles Tagebuch eines baltischen Fräuleins 1855–1856. Insgesamt tragen die Bildungsgeschichten der Kügelgens – so meine These – exemplarisch ihrerseits bildungsbürgerliche Signaturen der jeweiligen Zeit in Deutschland und im Baltikum im 19. und 20. Jahrhundert – und das gleich auf mehreren Ebenen, wie im Folgenden zu zeigen ist. Dabei geht es nicht um eine familiengenealogische Darstellung der künstlerisch, theologisch und auf den verschiedensten wissenschaftlichen Gebieten tätigen Großfamilie von Kügelgen. Es geht beim Durchgang durch die drei literarisch sehr unterschiedlichen Textkorpora von Wilhelm und Sally von Kügelgen sowie durch das Lebensbild in Briefen von Wilhelms Mutter vielmehr darum, zu zeigen, wie sich die „Macht neuer Verhältnisse“ und die „Ordnung der Dinge“ auf unterschiedlichen Ebenen jeweils biografisch niederschlugen: das heißt in erster Linie ökonomisch und sozial, aber auch emotional. Zugleich aber lassen sich die Texte als jeweilige „Zeichen der Zeit“ für die Bildungsgeschichten der kulturbewussten Deutschbalten quasi psychohistorisch lesen.7 Und drittens tragen die Texte von Wilhelm, Helene Marie und Sally von Kügelgen auf der Ebene der jeweiligen Editions- und Rezeptionsgeschichte ihrerseits die ‚Signaturen ihrer Zeit am Leibe‘. 5 Pascal, Roy: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart u. a. 1965 (Sprache und Literatur 19), S. 101. 6 Nicht nur „die Großväter sind die Lehrer“, wie es in Thomas Bernhards autobiographischer Erzählung Ein Kind einmal heißt (Bernhard, Thomas: Ein Kind. Frankfurt/M. 1982, S. 23), sondern auch die Großmütter sind offenbar Lehrerinnen. Denn bei den Kügelgens war es im einen wie im andern Fall die Enkelgeneration, die Texte der Großmütter edierte: Wilhelms Tochter Anna (1831–1919) und seine Nichte Emma (1845–1920) stellten das Lebensbild in Briefen ihrer Großmutter Helene Marie zusammen; die Schriftstellerin Oda Schaefer gab das Stille Tagebuch ihrer Großmutter Sally von Kügelgen heraus (s. u. Anm. 39). Im Übrigen war es auch in der durch Wilhelms Heirat mit Julchen Krummacher (1804–1909) verbundenen Familie Krummacher die Enkelgeneration, die sich ein „Lebensbild“ des Großvaters machte. Vgl. Krummacher, Maria: Unser Großvater der Ätti. Ein Lebensbild F. A. Krummachers. Neu hg. v. Johannes Werner. Leipzig 1926. 7 Am 27. Dezember 1855 schreibt Wilhelm von Kügelgen dem Bruder: „Jetzt lese ich die ‚Zeichen der Zeit‘, von Bunsen. Dieses Buch ist selbst ein Zeichen der Zeit und trägt deren Signatur am Leibe, nämlich die tollste Confusion.“ Kügelgen, Bürgerleben (wie Anm. 1), S. 613f.

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Gleichwohl gilt festzuhalten: Der enormen Verbreitung der Texte aus den Federn derer von Kügelgen steht eine geringe literaturwissenschaftliche Rezeption entgegen,8 während die bildnerischen Werke des Vaters und des Onkels, der Malerzwillinge Gerhard und Karl, vor allem in jüngster Zeit wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt sind. So hat etwa Dorothee von Hellermann im Jahr 2001 eine große Monographie zu Gerhard von Kügelgen und seinem Werk vorgelegt.9 Auch die bereits angesprochene Retrospektive über die Malerzwillinge in Tallinn, die im März 2016 zu Ende gegangen ist, bestätigt eindrucksvoll die Modernität der beiden Bildkünstler.10

Wilhelm von Kügelgen – ein Bürgerleben zwischen Ballenstedt und Baltikum Weithin bekannt geworden als der ‚Alte Mann‘ ist der Sohn des seinerzeit berühmten Malers Gerhard von Kügelgen und der livländischen Adelstochter Helene Marie (genannt Lilla) Zoege von Manteuffel erst nach seinem Tod 1867 in Ballenstedt, der kleinen Residenzstadt am Fuße des östlichen Harzes. Der Publizist Philipp von ­Nathusius (1815–1872), Gründer eines Knabenrettungs- und Bruderhauses, der sogenannten Neinstedter Anstalten, der unter anderem auch Herausgeber und Verleger des konservativen Volksblatts für Stadt und Land zur Belehrung und Unterhaltung war, hatte 1870 Kügelgens Jugenderinnerungen eines alten Mannes herausgegeben. Sie erschienen zunächst anonym, jedoch war Kügelgen als deren Verfasser rasch ausgemacht. Denn zum einen hatte Nathusius bereits das Kapitel „Die Tabakspfeife“ im Volksblatt vom 29. Mai 1869 vorabgedruckt und dabei auf die Memoiren und deren Verfasser hingewiesen, und zum andern sind darin alle Personen namentlich genannt. Darüber hinaus enden die Jugenderinnerungen mit der Ermordung des Vaters Gerhard von Kügelgen – ein Kriminalfall, der lange für großes Aufsehen und später für die Aufnahme des Falls in den Neuen Pitaval gesorgt hatte, also in jene ab 18 Vgl. Knittel, Anton Philipp: Zwischen Idylle und Tabu. Die Autobiographien von Carl Gustav ­Carus, Wilhelm von Kügelgen und Ludwig Richter. Dresden 2002 (Arbeiten zur Neueren deutschen Literatur 15), v. a. S. 92–114; ders: Bruchstücke einer Konfession. Frömmigkeitsgeschichtliche Anmerkungen zu Wilhelm von Kügelgens Jugenderinnerungen eines alten Mannes (1870). In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 48/2 (1996), S. 138–151 (online im Goethezeitportal. 09.07.2007. URL: http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/kuegelgen/knittel_jugend.pdf [17.06.2020]); ders.: Bilder-Bücher der Erinnerung. Wilhelm von Kügelgens Jugenderinnerungen eines alten Mannes im Kontext ihrer Zeit. In: Weimarer Beiträge 42/4 (1996), S. 545–560. 19 Vgl. Hellermann, Dorothee von: Gerhard von Kügelgen (1772–1820). Das zeichnerische und malerische Werk. Berlin 2001. Vgl. dazu auch die Rezension: Knittel, Anton Philipp: Patriotischer Kunstkämpfer und poetischer Künstlerfreund. In: Kleist-Jahrbuch (2003), S. 330–334. 10 Vgl. Polli, Dresdeni ja Peterburi vahel (wie Anm. 2).

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1842 von Eduard Hitzig und Wilhelm Häring in Leipzig begründete „Sammlung der interessantesten Kriminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit“ – so deren Untertitel.11 Wilhelm von Kügelgen, 1802 in St. Petersburg geboren, verbrachte nach der Rückkehr der Familie nach Deutschland seine Kindheit und Jugend – mit einer kurzen Ausnahme während der Besetzung von Dresden 1812/13 – im sächsischen Elbflorenz, wo sich sein Vater Gerhard als Maler niedergelassen hatte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen; trotz seiner Vorliebe für die Historienmalerei war Gerhard von Kügelgen immer wieder auch zur Porträtmalerei gezwungen.12 Dessen Zwillingsbruder, der Landschaftsmaler Karl von Kügelgen, war mit seiner Frau Emilie, der jüngsten Schwester von Helene Marie, im Baltikum geblieben. Wilhelm von Kügelgen lässt in seinen Jugenderinnerungen eines alten Mannes, vermutlich zwischen 1854 und 1864 in Ballenstedt und im nahegelegenen Schloss Hoym entstanden, die Zeit seiner Kindheit und Jugend zwischen 1802 und 1820 Revue passieren.13 Ende März 1820, mit der Auffindung der Leiche seines Vaters Gerhard, der von einem marodierenden Soldaten erschlagen wurde, bricht Kügelgen seine Memoiren eher abrupt ab, als dass er sie enden lässt: „Und hiermit mag ein Schleier auf mein weiteres Ergehen fallen“, lautet der letzte Satz.14 Diesen Schleier lüfteten mehrere Mitglieder der Familie, nachdem die Jugenderinnerungen eines alten Mannes alsbald ein großer Publikumserfolg geworden waren. 1876 lag die achte und 1898 schon die 18. Auflage vor; im Jahr 1901 gab es bereits 21 Auflagen. 1897, 30 Jahre nach dem Tod des Autors, als die Schutzfrist abgelaufen war, folgten zahlreiche Nachdrucke in anderen Verlagen. 11 Bis 1890 erschienen 60 Bände im Brockhaus Verlag. 12 So beispielsweise im Dezember 1808, als er nach Weimar fuhr, um seinen schwerkranken Freund, den Kunstkritiker und Bibliothekar Carl Ludwig Fernow (1763–1808) zu besuchen. „Kügelgen bleibt bis Ende Februar 1809 und beginnt die Porträts von Goethe und Wieland und die posthumen Bildnisse von Herder und Schiller für seine ‚Galerie berühmter Zeitgenossen‘“, schreibt Hellermann, Gerhard von Kügelgen (wie Anm. 9), S. 24. 13 Dass es Kügelgen in seiner Autobiographie auch um eine ‚Entwicklungsgeschichte‘ seiner Eltern ging, betonte er in einem Brief vom 9. September 1865: „Nun hatten die Mädchen zusammen meine Jugenderinnerungen gelesen, die sich wesentlich um das Wachsthum unserer Eltern und mancher auf meine Entwickelung einflußreicher Freunde aus dem Nihilismus in den Rationalismus und aus diesem in das biblische Christenthum dreht und bewegt“ (Kügelgen, Bürgerleben [wie Anm. 1], S. 953). Diese Entwicklungsgeschichte ist eben auch als Bildungsgeschichte zu lesen, zumal das Dresdner „Haus zum Gottessegen“ ein vielfrequentierter Ort des Austauschs war. Unter anderem öffnete Kügelgen sein Atelier, worüber etwa Karl August Böttiger in der Zeitung für die elegante Welt berichtete. Kügelgens Frau beispielsweise meldete in einem Brief von 8. Oktober 1810 an ihre Eltern: „Nein, ich hätte es nicht geglaubt, daß das Leben eines Künstlers so gar unruhig wäre! […] Überdies zieht er die Menschen noch unglaublich an durch sein Wesen und seine große Ehrlichkeit und Freundlichkeit – kurz sie suchen ihn, die weit über ihm stehen im Range, wie einen Bruder.“ Zit. nach Hellermann, Gerhard von Kügelgen (wie Anm. 9), S. 35. 14 Kügelgen, Wilhelm von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Berlin-Leipzig 1992, S. 431.

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Mit den verschiedenen Ausgaben und Nachdrucken verlagerte sich zudem auch das Rezeptionsinteresse vom erzählten Teil des Kügelgen’schen Lebens, von dem Kunstwerk auf die Biographie, von der erzählten Kindheit und Jugend in Dresden auf das weitere Schicksal des Autors und seiner Familie. Während Anna und Emma von Kügelgen im Jahr 1900 das Lebensbild in Briefen ihrer Großmutter Helene Marie von Kügelgen herausgaben – ein Werk, das ebenfalls immer wieder aufgelegt wurde und 1950 seine elfte Auflage erlebte –, lüfteten im Jahr 1923 Johannes Werner und Paul Siegwart von Kügelgen auch den „Schleier“ über den weiteren Lebensweg von Wilhelm von Kügelgen, indem sie den Band Lebenserinnerungen des Alten Mannes in Briefen an seinen Bruder Gerhard 1840–1867 herausgaben. Im Jahr darauf legte Werner eine Neuausgabe der Jugenderinnerungen eines alten Mannes nach „dem Original-Manuskript mit reichem, zumeist noch unveröffentlichtem Bildschmuck“ und mit zahlreichen Fußnoten versehen vor; wiederum ein Jahr später folgte, erneut von Werner herausgegeben und zusammengestellt aus vielen Tagebuchnotizen und Briefen, der Band Zwischen Jugend und Reife des Alten Mannes 1820–1840.15 In den zu Lebenserinnerungen kompilierten Briefen Kügelgens an den Bruder Gerhard, die 1942 auf der Grundlage der Werner’schen Edition nochmals von Otto Freiherr von Taube herausgegeben und 1990 von Walther Killy erstmals nach der Originalfassung neu transkribiert vorgelegt wurden, zeigt sich der ‚Alte Mann‘ als ein überaus scharfer Beobachter seiner Zeit. Wilhelm von Kügelgen, der mit seiner Mutter und den Geschwistern zwischen 1822 und 1823 zu den Verwandten in die Ostseeprovinz Estland gezogen war und als Maler Fuß zu fassen versuchte, ließ sich nach einem kurzen Romaufenthalt (1825) zunächst wieder als Maler in Dresden nieder und lebte dann nochmals für kurze Zeit in Poll (Põlula) und in Reval (Tallinn). 1833 wurde er im kleinen Residenzstädtchen Ballenstedt Hofmaler und später ausschließlich Kammerherr des geisteskranken und etwa gleichaltrigen Herzogs Alexander Carl von Anhalt-Bernburg (1805–1863); als dessen Kammerherr und baldiger Krankenwärter wurde er später von seinen Aufgaben als Porträtmaler entbunden – dieses war ihm umso willkommener, als er an 15 Johannes Werner ist zu entnehmen, dass Gerhard u. a. „die Verwaltung des v. Uexküllschen Majorats Fickel [Vigala]“ übernommen hatte: „Er war schon während Wilhelms Romreise im Juni 1826 nach Estland zurückgekehrt und dann auf Neuharm (Uue-Harmi), und seit April 1827 auf dem Mustergut (Merinoschafzucht) der estnischen Ritterschaft Orrenhoff (Oru) tätig gewesen, wohin er auch nach seiner Vermählung am 28. August 1827 seine junge Frau führte. 1830 kauft er dann das Gut Fersenau, das er im Sommer 1836 wieder verkaufte, nachdem er 1833 die Verwaltung des zu dem Adligen Fräuleinstift Finn gehörenden Gutsbetriebs übernommen hatte. In Finn lebte Gerhard 37 Jahre, 1870 zog er nach Reval und kaufte sich hier ein ‚Höfchen‘, das er ‚Stillheim‘ nannte.“ (Kügelgen, Wilhelm von: Zwischen Jugend und Reife des Alten Mannes 1820–1840. Aus Briefen, Tagebüchern und Gedichten gestaltet und mit reichem, zumeist noch nicht veröffentlichtem Bildschmuck hg. von Johannes Werner. Leipzig 1925, S. 194, Anm. 1. Siehe auch: Ders.: Lebenserinnerungen des Alten Mannes in Briefen an seinen Bruder Gerhard 1840–1867. Hg. von Paul Siegwart v. Kügelgen u. Johannes Werner. Leipzig 1923.)

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einer für einen Maler fatalen Rot-Grün-Schwäche litt. Kügelgen avancierte dabei zum inoffiziellen Ratgeber und zeitweiligen Reisemarschall der Herzogin Friederike Caroline Juliane von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg (1811–1902). Zeitlebens tauschte sich Wilhelm von Kügelgen, den zeitweilig auch pietistische Nabelschauen und Hypochondrie- sowie Melancholie-, vielleicht sogar Depressionsphasen quälten, mit der verstreut lebenden weitverzweigten Familie brieflich aus. So sind aus der Zeit zwischen 1840 und 1867 allein 159 mehrseitige Briefkonvolute an den in diesen Jahren in Finn als Gutsverwalter tätigen Bruder Gerhard erhalten – gut 1.000 Druckseiten. Tagesbegebenheiten und Neuigkeiten im Familienund Bekanntenkreis, theologische Fragen und nicht zuletzt die politische Lage in Deutschland wie auch in Estland sind die Themen seiner Briefe. So äußert sich Wilhelm von Kügelgen mehrfach kritisch und ablehnend zu den Revolutionsunruhen im kleinen Duodezfürstentum Anhalt-Bernburg wie auch zur Lage der Bauern in Estland und des in Auflösung begriffenen Feudalstaates. Beispielsweise schreibt er dem Bruder am 17. Februar 1850 aus Ballenstedt nach Estland: „Was helfen z. B. der ehstländischen Ritterschaft alle ihre Landtage. Sie kann ihren Fehler nicht einsehen, weil er in ihr selbst liegt und sie wird sich immer tiefer ins Elend reiten. So erwarte ich auch, wenn der König nicht fortfährt zu octroiren nichts anderes von der preußischen Verfassung als endlosen Hader. Wie kann eine Nation nach Köpfen oder nach Geldbesitz vertreten werden. Die Interessen müßen vertreten sein und richtig gegen einander abgewogen, nicht die einzelnen Köpfe. […] Durch Revolutionen wird nichts gewonnen, überall nur verloren.“16

Oder am 23. Dezember 1857: „Dann sehe ich Dich wieder vor euerm neuen Bauergesetzbuch sitzen. Wie ist es aber möglich 1315 Paragraphen über bäuerliche Verhältniße auszuhecken! Anstatt auf Principien muß man sich auf alle möglichen Vorkommenheiten vereint haben. Wenn man das zur Zeit im Posseß der Bauern befindliche Land nicht zum geschlossenen, unveränderlichen Bauereigenthum macht, was ich meine, ohne Nachtheil der Herren zu ermöglichen wäre, so möchte es doch wohl sehr schwer sein, die armen Kerls zu einigem menschlichen Wohlsein zu nöthigen. Freilich können wir von hier aus kein Urtheil über so entlegene Zustände haben. Die Ostseeprovinzen sind nur ein Winkel, doch was im ganzen weiten Reiche sich vorbereitet, zieht schon die Aufmerksamkeit gewaltig auf sich. […] Daß die alten Zustände nicht gut waren, bekenn ich mit Dir, aber die neuen sind es auch nicht. Die Leibeigenschaft ist aufgehoben und damit mag der Bauerstand etwas gewonnen haben, der Arbeiterstand aber hat verloren. […] Auf dem Lande giebt es keine Autoritäten mehr. Weder der Gutsherr noch der Pastor ist es mehr; die Beamten aber werden vom Bauer verachtet, weil sie eine nur übertragene Gewalt haben, daher Diener sind, während der Bauer ein freier Herr ist, und weil sie an den Hungerpfoten saugen, während jener ein reicher Mann ist. Mit 16 Kügelgen, Bürgerleben (wie Anm. 1), S. 387.

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Anton Philipp Knittel den geborenen Obrigkeiten ist auch überhaupt der Respect verloren gegangen und damit eine Hauptbedingung des Zusammenlebens vieler Menschen. Die öffentliche Meinung ist auf Umsturz aller und jeder Autorität gerichtet, und damit gehen auch wir wohl dem Imperialismus entgegen, den sie in Frankreich haben.“17

Am 29. Oktober 1859 weist er Gerhard, der offenbar an den Verhältnissen in Estland allerhand auszusetzen hat und wohl darüber nachdenkt, sich im Kaukasus niederzulassen, brüderlich sanft zurecht: „Auch bist Du zu sehr Deutscher als daß Du ohne Deutsche leben könntest. […] Sonst kann ich’s wohl begreifen, daß Du in einem Tollhause zu leben glaubst; denn unser liebes Ehstland ist ein eben so trefflicher Verschlag in einem solchen als Dänemark, und gehe man wohin man wolle, so findet man überall denselben bedenklichen Character. […] Wenn die Ehstländer den Verkauf der Rittergüter frei geben, wenn sie ihrer eigenen Verwaltung entsagend sich einer Kaiserl. Bürokratie unterwerfen, wenn sie sich ihrer alleinigen Standesherrlichkeit entäußern und auf ihren Landtagen von Bürgern und Bauern frei gewählte Literaten, Advokaten und Juden zulassen, wenn sie den Kaiser bitten ihre Güter mit Grundsteuer zu belasten, wenn sie ihren eximirten Gerichtsstand aufgeben usw. so will ich glauben, daß es ihnen in Deutschland besser gefällt als bei sich zu Hause. Bis dahin möge es unser Einem gestattet sein die zu Schau getragene Vorliebe für Deutschland für eine bloße Redensart zu halten.“18

Walther Killy hat in der Einleitung zu seiner Edition dieser Briefe unter dem ­Titel Bürgerleben zudem auf einen Umstand hingewiesen, der an dieser Stelle ­ebenfalls skizziert werden soll und der „symptomatisch sein mag für die Veränderung bürgerlicher Gesinnungen überhaupt und zwar durchaus vor Reichsgründung und Gründerjahren“.19 Denn vor 1848 ist bei Kügelgen „nur ganz gelegentlich die Rede von jüdischen Dingen“, eine Tatsache, die sich mit den revolutionären Ereignissen 1848 jedoch ändert. „Alle Welt“, so schreibt Kügelgen in einem Brief am 3. Mai 1861 nach Estland, „kennt […] die Meinung nur aus den entstellenden Resümés der Judenblätter. Es ist die herrschende Phrase geworden das Herrnhaus sei reactionär […]. Daß es am Rhein anders ist, ist merkwürdig genug, und habe ich dazu keinen Schlüssel, wenn es nicht der ist, daß jene Provinzen zu weit entfernt vom politischen Mittelpunkt sind und an den Brüsten der Kölnischen Zeitung liegen, von welchem Judenblatt sie sich belügen und belämmern lassen“.20

Kügelgen, der sich selbst immer wieder ob seines laschen christlichen Glaubens anklagt, beklagt sich am 1. April 1862 über Leute, die „Alles auf Treu und Glauben 17 18 19 20

Ebd., S. 696f. Ebd., S. 753f. Killy, Walther: Einleitung. In: Ebd., S. 7–36, hier S. 26. Kügelgen, Bürgerleben (wie Anm. 1), S. 813.

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hinnehmen, was Juden und Judengenossen in die Welt schreien und schreiben“. Und als in Preußen Wahlen anstehen, befürchtet er in einem Brief vom 2. Mai 1862 ganz unverblümt: „Die Wahlen fallen wieder nach jüdischem Geschmack aus.“21 Walther Killy ist zuzustimmen, wenn er einleitend schreibt: „Gewiß wäre es verfehlt, in diesem ernsthaften Christen einen ernsthaften Antisemiten zu sehen; aber ebenso gewiß ist, daß hier eine Tendenz sich abzeichnet und daß Wendungen gebraucht werden, die zum festen Bestand des Antisemitismus gehören und im Bürgertum akzeptabel werden.“22

In der Tat wird der Ton bei Kügelgen in den letzten Jahren ein anderer. Ein Wendepunkt seines politischen Denkens scheinen insbesondere die revolutionären Unruhen im Jahr 1848 gewesen zu sein, die Kügelgen wohl nachhaltig verstört haben: Am 29. März schreibt er dem Bruder über die Unruhen nach Estland: „Das schönste Frühlingswetter begünstigt den Rumor. Nur auf 8 Tage Landregen würde sehr ersprießlich sein. Mir bangt vor dem Landtage in Berlin und doch muß ich wünschen, daß er zu Stande kommt, damit die neue Ordnung der Dinge auf gesetzlichem Wege herbeigeführt werde. Die schönste Frucht, auf revolutionärem Boden gereift, ist Gift und keinen Pfifferling werth.“23

Und zwei Tage später notiert er im selben Brief: „Es wäre für uns ein Unglück, wenn Rußland verhindert würde, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen. Gott schütze den Kaiser und die Ordnung der Dinge in Rußland.“24 Neben den politischen und zeitgeschichtlichen Begebenheiten erörtert Kügelgen wiederholt auch Fragen zum Schul- und Bildungswesen, zur Ökonomie und vor allem zur Theologie und zu Glaubensthemen. Selbstverständlich werden stets Begebenheiten der weitverzweigten Familie in Deutschland und in Estland vermeldet. Die engen Bande ins Baltikum bilden das Fundament für das Bildungsdispositiv einer großen Familie zu der u. a. auch die von Bocks, von Bergs, von Stackelbergs und einige andere gehören. Mit den Publikationen weiterer Familienmitglieder bricht sich dieses Bildungsdispositiv neue Bahn, erstmals im Jahr 1900 mit dem aus Briefen kompilierten Lebensbild der Mutter von Wilhelm von Kügelgen.25 21 Ebd., S. 829 und 835. 22 Killy, Einleitung (wie Anm. 19), S. 27. Am 17. Februar 1857 schreibt Wilhelm dem Bruder, der sich offenbar auch gegen jüdische Minister ausgelassen hatte: „Auch mir ist ein Jude, der rechnen kann als Finanzminister lieber als ein Christ, der es nicht kann“. Er fährt dann allerdings fort: „So lange es aber noch rechnende Christen giebt, ziehe ich den Christen vor.“ (Kügelgen, Bürgerleben (wie Anm. 1), S. 655). 23 Ebd., S. 346. 24 Ebd., S. 346f. 25 Die Herausgeberinnen verknüpfen in diesem Lebensbild nicht nur Briefe der Mutter Wilhelm von Kügelgens an verschiedene Adressaten, sondern auch Briefe der Familienmitglieder untereinander, um so die Atmosphäre einzufangen, in der Wilhelm aufgewachsen ist. „So sahen wir“, schreiben

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Helene Marie von Kügelgen – eine baltische Adelstochter zwischen Anpassung und Aufbruch Im Begleitkatalog zur Ausstellung Between Dresden and St. Petersburg. Artist Twin Brothers von Kügelgen in Tallinn umreißt die Herausgeberin Kadi Polli die Ziele der Schau folgendermaßen: „Firstly, the brothers are shown as the first professional artists in Estonia and Livonia, who took local portraiture and landscape painting to a new level. Secondly, the brothers elevated the status of the artist’s profession locally, by defining themselves not in the artisans’ world of guilds, but in the circle of free creators and intellectuals, who entered into familial relationships with the Baltic nobility. They are viewed as the founders of the Zoege von Manteuffels-Kügelgens dynasty, as teachers and intermediaries between St. Petersburg and Dresden, and between the nobility, intellectuals and artists.“26

In der Tat, die Kügelgens und ihre Kreise, wie zum Beispiel Karl Morgenstern, ­waren mehrfache Vermittler zwischen dem baltischen Adel, den Intellektuellen und den Künstlern im Baltikum, in Russland und in Deutschland. Eine entscheidende Rolle kommt hierbei auch Helene Marie von Kügelgen zu, der ältesten von acht Kindern des livländischen Adligen Wilhelm Johann Zoege von Manteuffel und seiner Frau Helene Henriette von Bock. Gerhard Kügelgen, in Bacharach als Sohn eines kurkölnischen Kammerrats geboren, hielt sich seit September 1795 in Reval auf, wo er sich als Maler niederlassen wollte. Zuvor hatten er und sein Bruder Karl in Rom aus der Heimat keine finanziellen Mittel mehr erhalten können, nachdem französische Revolutionstruppen das Rheinland besetzt hatten, was auch eine Rückkehr unmöglich machte. Kügelgen ging deshalb von Rom aus mit seinem Freund Hans Schwarz ins Baltikum. 1798 wurde er im Hause des Barons Zoege von Manteuffel als Zeichenlehrer für dessen Tochter Helene Marie angestellt. Alle Kinder des Barons von Manteuffel genossen eine breite Erziehung. In seinen Jugenderinnerungen eines alten Mannes schreibt Wilhelm: „Mein Großvater hatte nämlich, behufs der Ausbildung seiner Kinder, Lehrer der verschiedensten Art an sich gezogen, Handwerker, Künstler und Gelehrte, die alle sie, „von einer vollständigen Biographie ab und gaben einem Gedanken Raum: nämlich ein Lebensbild seiner Mutter nach deren Briefen zusammenzustellen, von dem ja das des Sohnes untrennbar ist, wenn er auch nicht als Hauptperson darin auftritt.“ (Kügelen, A[nna] von; Kügelgen, E[mma] von (Hg.): Helene Marie von Kügelgen geb. Zoege von Manteuffel. Ein Lebensbild in Briefen. Herausgegen von ihren Enkelinnen. Mit einer Heliogravüre und 23 Autotypien. Stuttgart 7 1918, S. 2). Zu den bildnerischen Arbeiten von Anna von Kügelgen vgl. auch Schöner, Hans: Die Selke rauschte lieblich. Ballenstedt zur Kügelgen-Zeit. Mönkeberg 22000. 26 Polli, Kadi: Dresdeni ja Peterburi vahel / Between Dresden and St. Petersburg. In: Dies., Dresdeni ja Peterburi vahel (wie Anm. 2), S. 13–30, hier S. 18.

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unter seinem Dache wohnten und dem Hause das Ansehen einer kleinen Akademie gaben. Neben wissenschaftlichen Disziplinen wurden neuere Sprachen getrieben, man malte, modellierte, kupferstecherte, drechselte, tischlerte, klempnerte und machte ganz vortreffliche Musik. Die schönen Quartette, an Weihnachten von der Familie ausgeführt, haben im Andenken der Nachbarschaft noch lange fortgelebt.“27

Das Manteuffel’sche Gut Harm erscheint wie eine Kopie etwa der Ideen des freiherrlichen Kaufmanns von Risach in Stifters Der Nachsommer und entspricht dem, was der ultrakonservative Heinrich Riehl in seinem dritten Band unter dem Titel Familie seiner Naturgeschichte des deutschen Volkes als Ideal des ‚ganzen Hauses‘ ausführt.28 Lilla scheint sich früh ihres künstlerischen Anspruchs bewusst geworden zu sein, noch bevor sie Gerhard von Kügelgen kennenlernte und Zeichenunterricht bei ihm erhielt. So schreibt sie am 7. Mai 1797 aus Harm ihrer Schwester Anna Sophie (1775–1828), die mit Gustav Adolf Baron von Stackelberg (1773–1848) verheiratet war: „Uns Malern ist es ja eine Kleinigkeit, unsern Bildern das glänzendste Kolorit zu geben“, weswegen sie auch in der Phantasie reisen könne.29 Überhaupt scheint die junge Adlige von ihren Arbeiten, die mit der Geburt der Kinder dann in den Hintergrund traten, überzeugt gewesen zu sein. So schreibt sie von Harm aus am 2. Mai 1800 während der Brautzeit an Gerhard: „Wäre es nicht besser, ich legte eine kleine Maler- und Zeichen-Akademie an und unterrichtete junge Mädchen. […] Ich könnte alles im Hause und in der Küche besorgen, wie es einem Weibe ziemt, und es wäre mir leicht, ein paar Stunden des Tages dem Unterricht zu widmen […] und könnte doch auch etwas Geld zur Haushaltung verdienen. […] [V]ielleicht könnte ich auch für Dich arbeiten, es wäre freilich wenig“.30

Beachtlich erscheint diese Aussage auch, wenn man bedenkt, dass sie aus dem Munde einer Adligen erfolgt, deren Vater ausgesprochen streng über die Standesgrenzen wachte und erst nach langem Hin und Her – während Lilla öfter schwer krank wurde – dem Werben Kügelgens nachgab, allerdings verbunden mit drei fast unerfüllbaren Bedingungen an ihn: Kügelgen sollte sich ein Vermögen von mindestens 20.000 Rubel verdienen, er sollte darüber hinaus seinen alten Adelstitel erneuern 27 Kügelgen, Jugenderinnerungen (wie Anm. 14), S. 7f. 28 Über Riehl und sein Werk äußert sich Kügelgen am 1. April 1857 aus Hoym gegenüber seinem Bruder Gerhard: „Gestehen muß ich, daß ich auch nur ein Buch von Riehl habe lesen können, nämlich das von den vier Ständen. Zur ‚Familie‘ habe ich mich nie entschlossen, erstens weil alle Damen so sehr des Teufels damit sind und zweitens weil ich selbst Familie genug habe. Die Wahrheit der Riehlschen Schriften scheint mir die zu sein, daß zu einem gesunden Staatsleben vornehmlich ein Volksorganismus gehöre, den wir verloren haben oder zu verlieren im Begriff sind.“ (Kügelgen, Bürgerleben [wie Anm. 1], S. 662.) 29 Kügelgen, Lebensbild (wie Anm. 25), S. 5. 30 Ebd., S. 50. Vgl. auch Polli, Dresdeni ja Peterburi vahel (wie Anm. 26), S. 26.

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und zudem als Katholik seine künftigen Kinder in der evangelischen Konfession derer von Zoege von Manteuffels erziehen lassen. Lilla schwankte denn auch in diesen Jahren immer wieder zwischen Aufbruch und subtiler Auflehnung einerseits und Anpassung und Räson des adligen Standes andererseits. Als offenbar vom alten Zoege von Manteuffel der Vorschlag kommt, ein Gut zu erwerben, um vermeintlich standesgemäß zu leben, schreibt sie von Harm aus am 4. Dezember 1799 sarkastisch an Gerhard: „Darum sollst Du selbst ein großes Gut kaufen, sollst Dich in Schulden stürzen – sollst auch nicht mehr arbeiten, denn Arbeit ist heutzutag Schande, sondern Du sollst wirtschaften, obgleich Du weder die Kenntnisse dazu hast, noch die Sprache verstehst. Wenn wir dann von Schulden erdrückt werden – so glänzen wir in unseren Lumpen dann noch mehr, als in einem einfachen, aber ruhigen Privatleben, usw. usw. ... Gott weiß, die Welt wird mir von Tag zu Tag verächtlicher! – o der elenden Männerseelen! Was Ehre ist, nennen sie Schande, und was mir Schande dünkt, ist ihnen Ehre […].“31

Die Verschränkung von religiösen, ökonomischen und emotional-sozialen Bereichen kommt in Lillas Aussagen immer wieder zum Ausdruck, wenn sie etwa schreibt: „[S]o will ich suchen immer besser zu werden, will Dich lieben und ehren, meine Pflicht erfüllen, Gutes tun, soviel in meinen Kräften steht und so meine Schuld bei wenigem bei Gott abtragen. Denn Dich will ich als ein geliehenes Kapital ansehen, dafür ich meine Zinsen richtig abtragen werde.“32

Im Februar 1800 ruft sie aus Reval in einem Brief an Gerhard aus: „O der unglückliche Adel, was er mich schon gekostet hat! ... Ich finde alles ganz begreiflich und bedaure nur, daß wir beide unseren Eltern so viel Kummer machen mußten. Können wir denn nicht glücklich werden ohne so viel Thränen und Seufzer auf uns zu laden?“33

Und dennoch fügt sie sich in die „Ordnung der Dinge“ und hält auch ihren Bräutigam immer wieder dazu an, nichts gegen ihres Vaters Willen zu übereilen. Zugleich macht sie ihm auch immer wieder klar, wie sehr sie selbst, die sehr pietistisch geprägt ist, die Ordnung liebt und als künftige Haus- und Ehefrau diese einzuhalten gedenkt. ‚Arbeit‘, ‚Tugend‘ und ‚Ordnung‘ sind die immer wiederkehrenden Begriffe, die Lilla in ihren Briefen – meist an Gerhard – gebraucht, etwa wenn sie formuliert: „Wir werden arbeiten und fleißig sein, und so kann auch selbst die Langeweile uns nicht schlechter machen, denn glaube mir, Gerhard, Müßiggang und Langeweile

31 Kügelgen, Lebensbild (wie Anm. 25), S. 33. 32 Ebd., S. 43 (Brief aus Reval vom 26. Februar 1800). 33 Ebd., S. 40 (Brief aus Reval vom 22. Februar 1800).

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bringen die meisten Menschen zu Untaten und Verbrechen“34 oder schlicht: „Arbeit ist mir Freude“.35 Zugleich betont sie in einem Brief vom 7. Februar 1803 aus Ottenküll (Otiküla) auch: „Duldung ist die erste Tugend des Weibes“36 und „wenn alle Männer denken und handeln könnten wie Du, wie gern würden dann die Weiber ihr Unrecht einsehen, wenn sie gefehlt haben, und den Männern immer gehorsam sein,“37 so in einem Brief aus Harm am 3. Juli 1800. Aus Dresden hält sie am 12. Dezember 1808 an Gerhard, der in Weimar als Porträtist arbeitet, emphatisch fest: „O, wie verhaßt und dreidoppelt verhaßt sind mir doch alle Weiber, die mehr sein wollen als Weiber, die aber dadurch so viel weniger sind; die da glänzen, ­scheinen wollen und nicht sein! Aber über allen Ausdruck verhaßt ist mir ein weiblicher Freigeist“.38

Das sind Töne, die sich bei Helene Maries Enkelin Sally, der Tochter von Wilhelms Bruder Gerhard von Kügelgen, ein gutes halbes Jahrhundert später in ihrem Stillen Tagebuch nicht mehr finden.

Sally von Kügelgen oder die Notwendigkeit der Gestaltung des eigenen Lebens Sally von Kügelgens Stilles Tagebuch eines baltischen Fräuleins 1855–1856 ist zunächst ein „privates Dokument“, wie die herausgebende Enkeltochter Oda ­Schaefer betont.39 Gleichwohl hatten Tagebücher und Briefe der damaligen Zeit – nicht nur im Hause Kügelgen – von vornherein auch eine kleine Leserschaft im Blick. Wurden Briefe ganz selbstverständlich von mehreren Familienmitgliedern oder im Kreise der Familie gar laut vorgelesen, so war auch bei Sallys Tagebuch immer schon eine eventuelle, auch intergenerationelle Leserschaft mitgedacht – zumal zwischen Januar und Mai 1856 Sallys Schwester Helene (1831–1865, wie die Großmutter Lilla genannt) als Co-Autorin im Wechsel mit Sally auftritt.40 Inwiefern die Tagebuchein34 35 36 37 38 39

Ebd., S. 50 (Brief aus Harm vom 2. Mai 1800). Ebd., S. 52 (Brief aus Reval vom 8. Mai 1800). Ebd., S. 89. Ebd., S. 62. Ebd., S. 135. Schaefer, Oda: Einleitung. In: Kügelgen, Sally von: Stilles Tagebuch eines baltischen Fräuleins 1855/1856. Mit sechs farbigen Tafeln und Aquarellen der Verfasserin. Berlin 1936, S. 5–9, hier S. 5. Die Lebensgeschichte der Herausgeberin inspirierte wiederum ihren Großneffen Chris Kraus zu dem Spielfilm Poll (2010). 40 „Unser Buch soll ein interessantes mixtum compositum werden, über das sich noch Enkel und Urenkel freuen sollen. Denkst Du Dir nicht auch hübsch, diese niedlichen Urenkel, die unser Buch

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träge für den Druck bearbeitet wurden, ist ohne Vergleich mit dem im Familienbesitz befindlichen Original nicht zu sagen. Während der ‚Alte Mann‘ in diesen Jahren in Ballenstedt und im nahegelegenen Schloss Hoym mit seinen Jugenderinnerungen begann und in seinen Briefen ins Baltikum sehr stark die politischen, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten der „Ordnung der Dinge“ mitreflektiert, kommen politische Aktualitäten im Tagebuch seiner 30 Jahre jüngeren Nichte deutlich seltener vor – bis auf kurze Hinweise auf den Krimkrieg und die Querelen mit den Verbündeten, wobei Sally hier bezeichnenderweise ebenfalls von der „Ordnung der Dinge“ spricht.41 Meist widmet Sally, die zu dieser Zeit mit Anfang 20 als Erzieherin ihrer kleineren Geschwister auf Finn lebt, Familienereignissen breiten Raum. Zugleich reflektiert die Tagebuchschreiberin immer auch ihre psychische Verfasstheit, notiert Stimmungen und Sehnsüchte. Oda Schaefer bemerkt 1936 – ganz im sehnsuchtsvollen Duktus der oben angesprochenen ‚besonnten Vergangenheit‘ – daher einleitend über das biedermeierliche Kolorit des Tagebuchs eines Backfischs: „Während das historisch-politische Geschehen nur in kurzen Randbemerkungen notiert wird […] kommen Sitten, Familiensinn und Menschlichkeit breit zum Ausdruck, und man gewinnt schon nach den ersten Seiten ein durchaus persönliches Verhältnis zu den Gestalten und Landschaften des Baltikums, so daß man zuletzt das Stift Finn wie ein gastliches Haus nur schweren Herzens verläßt.“42

Allerdings sind es nicht nur idyllische, innerliche Stimmungsschilderungen, die Sally notiert, sondern auch durchaus kritische Anmerkungen zu ihrer Situation als Gouvernante in ihrer Familie: „Das Leben ist so ernst und enthält für ein Weib, außer dem moralischen Streben, nichts, was sie erlangen und erkämpfen möchte. Wie ganz anders, wenn man was werden könnte und einem der Himmel voll hoffnungsvoller Geigen hinge!“43 Auch ihre Tagebuch-Co-Autorin Helene klagt über das stupide Los, als Erzieherin arbeiten zu müssen. In einem Brief an ihren Onkel Wilhelm von Kügelgen in Ballenstedt betont sie am 20. September 1857 aus Finn: „Du Glücklicher! Kannst dem Schönen, das in Dir lebt, Form und Gestalt verleihen, das ist Befriedigung. Ich sitze immer nur am Schultisch und zwinge mich entsetzlich den ganzen Tag, mache dabei Kindergestalten aus Hade und Lappen, sehr unvollkommene Abbilder des Urbildes von Schönheit, das in mir lebt. […] Gott helfe mir

studieren? Jenes blonde große Mädchen mit der Habichts-Nase und den dunklen großen Augen, die sich neben ihren Bruder setzt: ‚Komm, laß uns Urgroßmamas Buch lesen‘“. (Kügelgen, Stilles Tagebuch, S. 152). 41 Ebd., S. 106. 42 Schaefer, Einleitung (wie Anm. 39), S. 5. 43 Kügelgen, Stilles Tagebuch (wie Anm. 39), S. 20.

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noch einige Jahre, dann ziehe ich den fatalen Gouvernantenrock aus und habe Zeit, ein Mensch zu werden.“44

Auch Sally träumt von einem Künstlerinnendasein und von einer Reise nach Italien: „‚Und was bleibt überhaupt einem Weibe, das ihr Schicksal nicht selbst schaffen kann? Öde und dürr ist jede Zukunft, die der Frau und die der alten Jungfer‘. – ‚Freilich‘, sagte Lilla, ‚uns bleibt nur Gottseligkeit übrig‘ – ‚Ja‘, antwortete ich, ‚Predigten lesen und Strümpfe stricken für die Hottentotten in Boriobulagah!‘ – Ist das eines Weibes Los? O Künstlerleben, du blickst mit einem Strahl süßer Hoffnung in mein Herz, doch unerreichbar ist mir dies Ideal. Nur der Gedanke allein schwellt mir die Brust. Könnte ich wandern als Künstler über ferne Alpen und in das blühende Land der Mandeln und Zitronen, wo unter einem blauen Himmel ewiger Sommer glüht. Wir dachten uns das mit Lilla so schön, wenn wir zwei Brüder wären, wie die Zwillinge Gerhard und Carl Kügelgen, und reisen könnten. Statt dessen kreist unser Blick nur über nordische Schneeflächen! O Prosa des Lebens, während ich dieses schrieb, wurden drei volle Nachttöpfe durchgetragen!“45

Wie ihre Schwester Helene klagt Sally über die wenig geistvolle Haushaltstätigkeit: „Der Tag war für mein Wirtschaftsleben sehr munter, da wurden Kuchen gebacken, Birnen getrocknet, Kirschen eingekocht, aber ich sehe, wenn sich nichts anderes im Geiste regt, so bleibt man leer, und ich möchte nicht leer sein. Ich möchte gern dem Höheren und Edlen entgegenstreben, wie die Blumen der Sonne, aber ich bin bange, daß ich von Natur eine Kartoffel bin, die ihr Wurzelwerk in den Schoß der Erde verbirgt und das Tageslicht nicht schaut.“46

Einerseits sieht sie wie ihre Großmutter Helene Marie von Kügelgen auch ihren Adelsstand kritisch, andererseits weiß sie dessen Privilegien durchaus zu schätzen. So notiert Sally, die sich wie Lilla häufig um kranke Bauern- und Pflegekinder kümmert, die in teils üblen hygienischen Zuständen leben:47 „Warum überschätzt man so die Vorrechte der Geburt? Und doch sind sie auch tief in meiner Seele eingewur-

44 Zit. nach Schöner, Hans; Lindenberg, Bettina (Hg.): Briefe aus dem alten Estland. Briefe der Familie von Kügelgen 1822–1920. Mönkeberg-München 2014, S. 54–59, hier S. 57, 59. 45 Kügelgen, Stilles Tagebuch (wie Anm. 39), S. 36. Und an anderer Stelle schreibt sie: „Das Leben ist doch eine lange Enttäuschung auf einen kurzen Traum. Zwar ist es recht schön, aber kein blühendes Künstlerleben unter blauen Himmeln, nur eigentlich ein Abhaspeln der Zeit mit Nähen, Flicken und Stopfen. Dazwischen glühen schöne Momente, Flämmchen eines anderen Daseins.“ (Ebd., S. 83). 46 Ebd., S. 107. 47 Wie sehr es zu der Zeit gerade im Bereich der Hygiene, insbesondere bei Kindern, mangelte, macht auch Otto Freiherr von Taube in seinen Memoiren deutlich, wo er betont: „Die Körperpflege der Kinder in jenen Jahrzehnten lag noch sehr im argen.“ (Taube, Otto von: Im alten Estland. Kindheitserinnerungen. Stuttgart o. J. [1944], S. 17).

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zelt, und wenn ich mich lange bedenke, so möchte ich lieber eine Gräfin als eine estnische Bäuerin werden, sei es auch nur um den Namen und die Idee.“48 Doch bei aller Kritik an den Rollenzuweisungen wie aber auch bei der Selbstkritik, die Sally immer wieder vermerkt, etwa, wenn sie sich der Eitelkeit bezichtigt oder sich zu Geduld und Demut aufruft,49 entsteht gleichwohl der Eindruck, dass hier eine Anfang 20-Jährige schreibt, die zwar hin und wieder „noch ein Kind sein“50 möchte, gleichwohl aber auch sich den gesellschaftlichen Erwartungen unterwirft und von der Sorge, keinen Ehemann zu bekommen, gepackt wird. Insofern scheint ihr die aufgezwungene Rolle als Erzieherin der Geschwister und als Hauswirtschafterin öfter doppelt langweilig, vermisst sie zum einen doch eine anspruchsund geistvolle Tätigkeit und hat zum andern das Gefühl, ihre Bestimmung zu verpassen. So notiert sie am 21. Januar 1856: „Sonnabend hatte ich einen schlechten Schultag, der so endete, daß Emma heulend davonging und ich heulend zurückblieb und trostlos dachte: ‚Wird mein ganzes Leben darin bestehen, daß ich dummen Kindern das verbe avoir eintrichtere?‘ Später schämte ich mich sehr und schlich so leise wie möglich durch den Saal, damit es niemand einfallen sollte, einen Blick auf mich zu werfen.“51

In der Tat, Abwechslung und ein erfüllender Tagesablauf sahen auch in der damaligen Zeit anders aus. Doch auf den Gütern der baltendeutschen Adligen blieb jungen Frauen wie Sally oder Helene von Kügelgen kaum eine andere Beschäftigung als sich im häuslichen Umfeld mit Handarbeiten, Musizieren, Unterrichten und Lesen und Briefeschreiben zu beschäftigen.52

Kügelgen-Editionen als „Signaturen ihrer Zeit“53 Dem Stillen Tagebuch eines baltischen Fräuleins war wohl bei seiner Herausgabe 1936 keine allzu große Rezeption beschieden. Zu betulich, zu pubertär ist der Ton an vielen Stellen. Dass Oda Schaefer dieses Doppeltagebuch dennoch publiziert hat, 48 Kügelgen, Stilles Tagebuch (wie Anm. 39), S. 58. 49 Vgl. ebd., S. 66. 50 Ebd., S. 23. 51 Ebd., S. 157. 52 In der Einleitung zu Briefe aus dem alten Estland (wie Anm. 44), S. 5–10, hier S. 8f. ­formuliert Hans Schöner: „Für die jungen Frauen gab es auf den abseits gelegenen Gütern nur wenig Abwechslung. Auf dem Programm des Tages standen etwa folgende Punkte: Klavier spielen, Unterrichten, Englisch und Russisch lernen, spazierengehen, Handarbeit, Briefe schreiben und Vorlesen. Besuche bei Verwandten und Fahrten zu den benachbarten Gütern waren Höhepunkte in diesem Leben.“ 53 In diesem Teil lehne ich mich eng an meine Ausführungen im gleichnamigen Abschnitt meines Aufsatzes zum kleinstädtischen Bürgerleben im 19. Jahrhundert am Beispiel der Kügelgens an. Vgl. Knittel, „Die Macht neuer Verhältnisse“ (wie Anm. 1).

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mag aus der Zeit heraus zu erklären sein. Denn Sallys Stilles Tagebuch, schreibt die Herausgeberin, sei „ein schönes Beispiel für die Kraft, mit der in vorgeschobenen Kulturbezirken deutsches Bildungsgut und deutsche Art erhalten wurden.“54 Töne, die auch in den Anmerkungen des deutschbaltischen Herausgebers der Jugenderinnerungen eines alten Mannes und der Lebenserinnerungen des Alten Mannes, Otto Freiherr von Taube, in den Jahren 1941 und 1942 zu hören sind. Taube, zunächst ein früher Anhänger der Nazis, der sich jedoch schon nach dem Hitler-Putsch wieder distanzierte, gilt als Vertreter der sogenannten inneren Emigration und war befreundet unter anderem mit Werner von Bergengruen und Rudolf Alexander Schröder.55 Aristokratisch gesinnt, tragen einige Publikationen sehr konservative Züge, so auch einige Hinweise in den 1941 und 1942 publizierten Neuausgaben der beiden Kügelgen-Werke. Deutlich wird jedenfalls in vielerlei Bemerkungen die Verherrlichung des alten Estlands, der Heimat Taubes, etwa wenn der Herausgeber in seiner Einleitung der Lebenserinnerungen schreibt: „und war auch das damalige Deutschland noch nicht so überzivilisiert, so technisiert und asphalten geworden wie heute, der Mensch in Estland war doch in vieler Hinsicht noch naturnäher geblieben und damit ein altväterlicher Mensch; gleichnishaft gesprochen: er war dem goldenen Zeitalter näher.“56

Überhaupt liegt Taube daran, Kügelgen als „ständisch“ denkenden Menschen vorzustellen: „Seine Gesinnung war in derselben Weise wie bei Stein weder monarchisch-absolutistisch noch parlamentarisch, sondern ständisch. Also mag man sie, wie sie sich zuletzt zeigte, konservativ nennen; sie hat sich aber nicht [wie Johannes Werner meinte] aus dem Liberalismus, vollends nicht aus demokratischer Gesinnung durch eine Umwandlung entwickelt, sie ist seit jeher bei ihm dagewesen, nur später unverhüllt und geklärt zutage getreten.“57 54 Schaefer, Einleitung (wie Anm. 39), S. 9. 55 Im Internet kursiert der Hinweis, Taube sei während der Nazizeit mit Schreib- und Publikationsverbot belegt worden. Dass dies keinesfalls zutrifft, zeigt nicht zuletzt die Neuausgabe der Jugenderinnerungen und der Lebenserinnerungen des Alten Mannes. Zudem hat Taube auch einige andere Texte in dieser Zeit publiziert, musste allerdings bei der zweibändigen Geschichte unseres Volkes Zugeständnisse an das politische System machen. Vgl. Fromm, Woldemar: Otto Freiherr von Taube. In: Neue Deutsche Biographie 25 (2013), S. 799–801. URL: https://www.deutsche-biographie. de/pnd118756249.html#ndbcontent (27.05.2021). 56 Taube, Otto Freiherr von: [Vorwort]. In: Kügelgen, Wilhelm von: Lebenserinnerungen des Alten Mannes in Briefen an seinen Bruder Gerhard. Neu hg. v. Otto Freiherrn von Taube. Leipzig 1942, S. 5–22, hier S. 9. Zum geisteskranken Herzog von Anhalt-Bernburg notiert Taube, „wie bei aller Entstellung durch die Geisteskrankheit die vornehme, durch Jahrhunderte differenzierender Zucht gestaltete Seele in diesem Fürsten immer noch durchzuscheinen vermochte“ (Ebd., S. 17). Antirationalistische Züge prägten Taubes Schriften auch nach 1945. 57 Ebd., S. 21.

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Auch gut zwanzig Jahre vor dieser Ausgabe scheinen zeitpolitische Überlegungen den damaligen Herausgeber Johannes Werner bei seiner kompilierenden Edition geleitet zu haben: „Wenn der bescheidene, zurückhaltende Alte Mann es wüßte, was seine Persönlichkeit jetzt, sechzig Jahre nachdem er schwach und krank im stillen Kügelgenhaus zu Ballenstedt mit Bienenfleiß an seinen Jugenderinnerungen feilte, dem deutschen Volk bedeutet, und daß die Selbstbezeichnung, die er mit stiller Resignation und leiser Ironie prägte, ihm längst schon zum in Alldeutschlands Gauen volkstümlichen Ehrennamen geworden ist.“58

Ging es in den 1920er und 1940er Jahren den beiden Herausgebern darum, Wilhelm von Kügelgen als „den Träger und Verkünder bester deutscher Art“59 zu würdigen oder auch darum, wie bei Otto von Taube, das alte Estland in seinem vermeintlichen Glanz darzustellen, so nahm die Kügelgen-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg drastisch ab. Während Wilhelm von Kügelgen in der DDR durchaus ein Begriff blieb, geriet er in der alten Bundesrepublik in den Hintergrund. Bis 1992 der ostdeutsche Verlag Koehler & Amelang vermutlich aus Anlass des 125. Todestages des ‚Alten Mannes‘ eine Neuausgabe der Jugenderinnerungen herausbrachte, gab es im westdeutschen Buchhandel nur die Züricher Manesse-Ausgabe (1970; 3. Aufl. 1988), die Ausgabe im Frankfurter Verlag von Wolfgang Weidlich (1963; 2. Aufl. 1979) und eine Taschenbuch-Ausgabe im Wuppertaler Brockhaus-Verlag. Ist es Kügelgens Vermögen, Geschichte lebendig, zur Gegenwart werden zu lassen, wie Detlef Droese in seiner Ausgabe der Jugenderinnerungen eines alten Mannes in der Manesse-Ausgabe schreibt, die auch nach 1989 zu neuen Kügelgen-Ausgaben führte?60 Oder ist es eher der Wunsch, nach vermeintlich ‚besonnter Vergangenheit‘? Jedenfalls ist in Anschlag zu bringen, dass auch die Rezeption der Texte der Kügelgens „die Macht neuer Verhältniße“ und die „Ordnung der Dinge“ in mehrfacher Weise widerspiegeln.

58 Werner, Johannes: Ein Blick in die Entstehung der „Jugenderinnerungen“. In: Kügelgen, Jugenderinnerungen (wie Anm. 15), S. XIV–XVII, hier S. XVII. 59 Ders.: Über Eigenart und Entstehung dieses Bandes. In: Kügelgen, Zwischen Jugend und Reife (wie Anm. 15), S. VII–IX, hier S. VII. 60 So unter anderem auch zwei Editionsbände: Kügelgen, Wilhelm von: Erinnerungen aus dem Leben des Alten Mannes. Tagebücher und Reiseberichte. Hg. v. Hans Schöner und Anton Knittel. München-Berlin 1994 (2. Aufl. 1996); Kügelgen, Wilhelm von: Das eigene Leben ist der beste Stoff. Briefe an die Schwester Adelheid, an Wilhelm Volkmann und Ludwig Richter. Hg. v. Anton Knittel und Hans Schöner. München-Berlin 1995.

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IV. Bildung in der Literatur (Genres, Geschichten, Reflexionen)

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Gelebte Bildung: Hochzeitsschriften aus der Sammlung Recke Im Jahr 1807, fünf Jahre nach Gründung der Kaiserlichen Universität zu Dorpat (Tartu) und wenige Monate nach der feierlichen Eröffnung des Bibliotheksquartiers auf dem Domberg, erstand die Dorpater Universitätsbibliothek im Rahmen der klugen und sehr engagierten Anschaffungspolitik ihres Direktors Karl Morgenstern eine Sammlung mit Gelegenheitsschriften.1 Es handelt sich um mehr als dreihundert Titel, zumeist Einzeldrucke, vor allem aus dem Kurland des 18. Jahrhunderts, gesammelt von Johann Friedrich von Recke (1764–1846), der nach einem Studium in Göttingen als Jurist im Dienst des Kurländischen Hofes in Mitau (Jelgava) Karriere machte und als Altertumsforscher und gelehrter Sammler eine wichtige Rolle für die Aufklärung im Baltikum spielte. Diese von Recke zusammengetragenen, als Gelegenheitsschriften bezeichneten Texte von wenigen Seiten Umfang wurden zu festlichen Anlässen verfasst: etwa zu einem hohen Besuch, zu fürstlichen Namenstagen, zu Jubiläen oder auch zu bürgerlichen Begräbnissen und Hochzeiten. Die zumeist in Mitau gedruckten Schriften – in der Regel handelt es sich dabei um Versdichtung – sind überwiegend auf Deutsch verfasst, also in der Sprache der Oberschicht, und nicht mehr auf Latein, der Sprache, die exklusiv dem Gelehrtenstand vorbehalten war und traditionell für Casualcarmina Verwendung gefunden hatte.2 Dass vollständig auf Latein verfasste Texte in der Recke’schen Sammlung selten sind, ist ein Indiz dafür, dass diese Gelegenheitsdichtung ihren Ort außerhalb der abgeschlossenen Welt gelehrter Zirkel hatte. Auch lettische Schriften sind die Ausnahme. So gibt es beispielsweise ein lettisches Gedicht auf den Namenstag des Herzogs von Kurland aus dem späten 17. Jahrhundert3 und aus der Zeit um 1800 das Lied einer lettischen Gemeinde zum fünfzigsten Jubiläum ihres Pastors.4 Zudem finden sich eine lettische Einladung an die Bauernschaft, die Verleihung des Gutes durch die Kaiserin auf dem Hofe festlich zu feiern,5 sowie, vom lettischen Aufklärer Gotthard Fried1 Vgl. das zweibändige Konvolut aus den Rara-Beständen der Universitätsbibliothek Tartu (Signatur: R-Estica B-245) sowie das diesem beiliegende gedruckte Verzeichnis von August von Raison: Die Gelegenheitsschriften der Bibliotheca Reckiana. 2 Vgl. Drux, Rudolf: Gelegenheitsgedicht. In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3. Darmstadt 1996, Sp. 653–667, hier Sp. 661. 3 Vgl. Raison: Bibliotheca Reckiana (wie Anm. 1), S. 9 (Bd. II, 25). 4 Vgl. ebd., S. 4 (Bd. I, 99). 5 Ebd., S. 5 (Bd. I, 133).

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rich Stender verfasst, die Übersetzung eines Gedichtes von Sophie Schwarz auf die Geburt des Erbprinzen von Kurland.6 Die lettischen Texte der Sammlung sind also vor allem Huldigungen der Bauern an die Repräsentanten der Herrschaft; es darf angenommen werden, dass sie nicht einmal von ihnen selbst verfasst wurden. Welche Funktion aber hatten die bisweilen aufwändig gestalteten und schön verzierten deutschsprachigen Texte, aus denen Reckes Sammlung im Wesentlichen besteht? Als schriftliche Bestandteile einer kulturellen Praxis sind Gelegenheitsschriften grundsätzlich hochinteressante kulturgeschichtliche Zeugnisse, und die umfassenden und tiefschürfenden Arbeiten der Osnabrücker Frühneuzeit-Forschung haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass diese anlass- und adressatenbezogene, daher ephemere Literatur, die unabhängig vom Buchmarkt produziert und rezipiert und allenfalls privat archiviert wurde, heute systematisch erschlossen werden kann.7 Eine geschichts- und/oder literaturwissenschaftliche Auswertung der Sammlung Recke steht allerdings bislang noch aus. Vermutlich ist das Material aus anderthalb Jahrhunderten – von der Mitte des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts – ohnehin lückenhaft, wie in anderen vergleichbaren Fällen auch, sodass Rückschlüsse auf den jeweiligen Anlass (wie etwa die Zusammensetzung der Gesellschaft, die sich zu dem besonderen Ereignis eingestellt hat, oder die Zahl der insgesamt gedruckten Ehrungen) höchst spekulativ bleiben müssen. So beschränkt sich der vorliegende Beitrag auf einige Fallbeispiele, die als Dokumente einer geselligen literarischen Praxis im Baltikum interessant erscheinen. Als Korpus soll eine Auswahl aus Epithalamien, also Hochzeitsgedichten, der Recke’schen Gelegenheitsschriften dienen. Dabei wird ein doppelter Fokus gewählt: In einem ersten Schritt werden Epithalamien vom Beginn des 18. Jahrhunderts in den Blick genommen, die weitgehend barocker Tradition verpflichtet sind, in einem zweiten Schritt geht es um Hochzeitstexte aus der zweiten Jahrhunderthälfte, die in ihrer Form und Motivik auf die Empfindsamkeit verweisen. Diese Schwerpunktsetzung ergibt sich nicht nur qualitativ – in Hinblick auf unterschiedliche literarische Traditionen –, sondern auch quantitativ aus dem Textmaterial: Etwa die Hälfte der gut fünfzig Epithalamien der Recke’schen Sammlung fallen in die Jahre 1707 bis 1726, weitere fünfzehn stammen aus der Zeit von 1756 bis 1778. 6 Vgl. ebd., S. 10 (Bd. II, 62). 7 Vgl. Forschungsstelle ‚Literatur der Frühen Neuzeit‘ der Universität Osnabrück (Hg.): Göttin Gelegenheit. Das Personalschrifttums-Projekt der Forschungsstelle ‚Literatur der Frühen Neuzeit‘ der Universität Osnabrück. Osnabrück 2000 (Kleine Schriften des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit 3); Klöker, Martin: Das Testfeld der Poesie. Empirische Betrachtungen aus dem Osnabrücker Projekt zur ‚Erfassung und Erschließung von personalen Gelegenheitsgedichten‘. In: Keller, Andreas; Lösel, Elke; Wels, Ulrike; Wels, Volkhard (Hg.): Theorie und Praxis der Kasualdichtung in der Frühen Neuzeit. Amsterdam-New York 2010 (Chloe 43), S. 39–84; Ders.: Gelegenheitsdichtung im alten Livland um 1800. Plädoyer für eine neue Literaturgeschichte der baltischen Länder. In: Bosse, Heinrich; Elias, Otto-Heinrich; Taterka, Thomas (Hg.): Baltische Literaturen in der Goethezeit. Würzburg 2011, S. 65–81.

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Epithalamien in barocker Tradition Die Hochzeitsgedichte aus dem frühen 18. Jahrhundert sind üblicherweise auf ­einen (einmal gefalteten) Bogen gedruckt; dem ausgeschmückten Titelblatt folgen drei Seiten Text, der häufig mit Vignetten verziert ist. Der Titel und der folgende Text in gebundener Sprache stehen in der Tradition barocker Rhetorik und nehmen oft virtuos sprachspielerisch Bezug auf den Beruf oder den Namen des Bräutigams oder auf Vor- oder Nachnamen der Braut. Viele dieser Epithalamien sind in Alexandrinern verfasst, manche sind zur Abwechslung mit einem Madrigal oder einer Arie kombiniert. In der Regel richten sie sich an den Bräutigam, dem die Frau als treue Gefährtin durch die Wechselfälle des Lebens bei- und nachgeordnet wird. Auffällig an den Texten dieser Gruppe ist die Beliebtheit mythologischer Bezüge. Das früheste der hier analysierten Textbeispiele ist in Königsberg (Kaliningrad) gedruckt und trägt die Überschrift Der Kleine Grob-Schmidt Cupido.8 Verfasst wurde es 1707 anlässlich der Hochzeit des Pastors Johann Ernst Schmidt zu Nurmhausen mit der Tochter des (katholischen) Königlichen Hof-Medicus Weygandt. Der Verfasser ist namentlich genannt und seinem Familienstand nach als Schwager, seinem Beruf nach als Fürstlich Curländischer Hofgerichts-Advocat ausgewiesen. Es handelt sich um ein Rollengedicht: Die Alexandrinerverse sind Cupido in den Mund gelegt, der sich wortreich und eindeutig zweideutig als Schmied vorstellt: „mein Hammer ist mein Pfeil / Der Amboß Venus-Schooß“. Dann leitet er zum Bräutigam namens Schmidt über – „Der Schmiede-Hammer steht zu seinem Ubermuth“, heißt es – und schließt damit, dass nun das „Gluth-beröhtet Eisen“ zum „Amboß hin“ geführt werden solle. So „stellt sich mit der Zeit ein kleiner Grob-Schmidt ein“. Cupido, der Gott der Liebe und der Fruchtbarkeit, gehört zum üblichen Personal in der Hochzeitsdichtung der Frühen Neuzeit, das Spiel mit dem Namen der Brautleute (hier Pastor Schmidt) ist ebenso topisch, also durch die rhetorische Tradition vorgegeben, wie am Schluss der Verweis auf die Fruchtbarkeit der Ehe durch Nachkommen. Die offene Thematisierung von Sexuellem will, freilich in einseitig männlicher Perspektive, als Ausweis von unterhaltsamem Witz verstanden werden.9 8 Gelegenheitsschriften der Bibliotheca Reckiana I, 137 [149]. Im Folgenden werden die Hochzeitsschriften mit der Sigle GBR nach der handschriftlichen Nummerierung der Sammlung Recke angeführt – in der Regel ohne Seitenangabe, da die meisten Texte als unpaginierte Einzeldrucke erschienen sind. Auf eine vollständige Wiedergabe der umfangreichen Titulatur wird der Übersichtlichkeit halber verzichtet. Ausführlichere Angaben finden sich in dem Handbuch, auf dessen jeweiligen Eintrag hier und im Folgenden die Ziffer in eckigen Klammern hinter der GBR-Nummer verweist: Garber, Klaus (Hg.): Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Bd. 8: Dorpat – Tartu. Hildesheim-Zürich-New York 2003. – Frau Susanna Rennik sei herzlich dafür gedankt, dass sie für den vorliegenden Aufsatz einen Großteil des relevanten Textmaterials in der Universitätsbibliothek Tartu sorgfältig fotografiert hat. 9 Vgl. hierzu Segebrecht, Wulf: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 157–161.

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Dass ausgerechnet einem Pastor unverhohlen Sexuelles präsentiert wird, hat im vorliegenden Fall, in dem sich offensichtlich ein Verwandter den losen Scherz erlaubt, einen konfessionspolitischen Sinn. Denn der Text betont ausdrücklich, dass die Frage, „[o]b solche Schmiede sich ein Priester darff zulegen?“, von Luther explizit bejaht worden sei – entgegen der Lehrmeinung der katholischen Kirche, auf die übrigens in einer Reihe lateinischer Fußnoten verwiesen wird. Diese Nachweise in Anmerkungen unterstreichen zum einen die Gelehrsamkeit des juristisch gebildeten Verfassers und sind zum anderen ein Indiz dafür, dass der Text, wie bei gedruckten Gelegenheitsgedichten üblich, an die Anwesenden verteilt worden ist. Denn in ­einem bloßen Vortrag würden sich Fußnoten erübrigen. Deutlich züchtiger ist der Ton, wenn Pastoren ihrer hohen Herrschaft zur Vermählung gratulieren. So im Fall der Verbindung des Herrn Nicolaus Korff von Kreutzburg (Krustpils) mit der einzigen Tochter des Rittmeisters von den Wahlen im Jahr 1723 – beide Herren sind als im Dienste des polnischen Königs stehend ausgewiesen. Zu diesem Anlass, der auf den Gütern des Brautvaters in „Hochansehnlicher Adelicher Versammlung“10 „solenniter celebriret“11 wurde, finden sich in der Recke’schen Sammlung gleich drei Hochzeitsgedichte aus der Feder namentlich genannter Pastoren: ein an gelehrte Disputationen erinnernder, wiederum mit lateinischen Fußnoten versehener Text zu der Frage, Ob der eheliche oder uneheliche Stand fürtrefflich sey?, des Pastors aus Kreutzburg, „[s]einem Hohen und gütigem Patron“ gewidmet;12 ein Glück-jauchzendes Ehren- und Freuden-Gedicht des Pastors zu Calsenau (Kaltsnaue) und Fehteln (Weetole), „seinem Hohen Gönner“ als „schuldige Pflicht“ dargebracht;13 und schließlich eine Schrift mit dem Titel Die Liebe / das wunderliche Ding, von dem Pastor zu Laudohn (Laudohnes) und Lassdohn (Lasdohnes) „aus ergebenster Devoir Seinem hohen Gönner glückwünschend übergeben“.14 Dass diese Texte auf geistreichen Scherz verzichten und den üblichen Wunsch für das Hochzeitspaar ausdrücklich mit einem Gebet um Gottes Segen verbinden, entspricht dem Selbstverständnis und der Rolle der Geistlichkeit gegenüber ihrem begüterten adeligen Herrn. Vervollständigt wird die Sammlung von Glückwunschgedichten zur Hochzeit Korff-Wahlen übrigens durch den Text eines Mitauer Schulleiters, Gottlob Thilo, der den Namen der Braut zum Anlass für lehrreiche Gedanken zum Thema ‚gute Wahl in Liebesangelegenheiten‘ nimmt15 und in diesem Zusammenhang ein Ideal der treusorgenden Gattin und klug wirtschaftenden Hausfrau entwirft. 10 11 12 13 14 15

GBR I, 171 [182]. GBR I, 172 [183]. GBR I, 171 [182]. GBR I, 173 [184]. GBR I, 172 [183]. GBR I, 170 [181]. Daran lässt sich übrigens erkennen, dass es sich um einen Irrtum handelt, wenn das Handbuch des Gelegenheitsschrifttums (wie Anm. 8) den Namen als ‚Mahlen‘ statt ‚Wahlen‘ liest [181–184].

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Noch ein anderer, deutlich bekannterer Schul-Rektor tritt in der Sammlung Recke als Verfasser von Hochzeitsgedichten in Erscheinung: Christian Bornmann (1639–1714), der „größte Dichter, den Kurland auf der Wende zum 18. Jahrhundert hervorgebracht hat“.16 Bornmann hatte in Leipzig und Wittenberg studiert und war von Kaiser Leopold I. zum Dichter gekrönt worden; seit 1682 war er als Hof-Bibliothekar in Mitau angestellt, wo er wenig später auch Rektor der Lateinschule wurde.17 Aus seinen letzten Lebensjahren finden sich in der Sammlung Recke vier Epithalamien – ausgewiesen durch Verfassernamen, Beruf („der Mitauischen Schulen Rectore“) und Würde des vom Kaiser gekrönten Dichters („P. L. Caes.“) –, die artifizieller und kunstvoller gestaltet sind als jene von Thilo. Sie sind ein Zeugnis spätbarocker Virtuosität. So schreibt Bornmann 1713 zur Eheschließung des HochFürstlichen Accis-Verwalters (Steuereinnehmers) Thierberg mit Susanne Margaretha von Schaum ein Gelegenheitsgedicht in Alexandriner-Strophen mit dem Titel Perl- und Rosen-Ehe. Es ist, wie auch seine übrigen Hochzeitsgedichte, in Mitau in der Hoch-Fürstlichen Hof-Buchdruckerei Radetzki gedruckt. Bornmann beginnt, nach dem üblichen Wunsch „Alles mit Gott!“, folgendermaßen: „Es hatte Jupiter / Saturns und Rhéen Sohn / Ich weiss nicht was für Fleisch dem Vater abgeschnitten / Das warff er in die See / dem alten Greiss zu Hohn / Und konnte weder Gott noch Göttinn ihn erbitten. Da schwamm das arme Blut in Wellen hin und her / Bis eine Muschel kahm getriben ohngefähr / In welcher Fleisch und Blut und Schaum zusammen kahmen / Und hier den ersten Grund zur schönsten Schönheit nahmen.“18

So wird der Bogen zu Venus, der Schaumgeborenen, geschlagen. Das Bild vom Schaum, das den Mädchennamen der Braut aufgreift, durchzieht, ergänzt um das Bild der Perle, das sich aus der Bedeutung des Vornamens Margaretha ergibt,19 leitmotivisch das Gedicht, das auf die griechisch-römische und jüdische Mythologie 16 Garber, Klaus: Schatzhäuser des Geistes. Alte Bibliotheken und Büchersammlungen im Baltikum. Köln-Weimar-Wien 2007 (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas 3), S. 194; ausführlicher zu Bornmann vgl. ebd. S. 319–329. 17 Vgl. den Artikel „Bornmann, Christian“. In: Gottzmann, Carola L.; Hörner, Petra: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 1. Berlin-New York 2007, S. 266–268. 18 GBR I, 76 [98]. Hier scheinen zwei mythologische Stränge amalgamiert worden zu sein: Nach Homer gilt Aphrodite als Tochter des Zeus und der Dione; nach Hesiod ist sie dem Meeresschaum entsprungen, der entstand, als Kronos (Saturn) seinen Vater Uranos mit einer Sichel entmannt und dessen Geschlechtsteil ins Meer geworfen hatte. Vgl. den Artikel „Aphrodite“. In: Moormann, Eric M.; Uitterhoeve, Wilfried: Lexikon der antiken Gestalten. Mit ihrem Fortleben in Kunst, Dichtung und Musik. Stuttgart 1995, S. 82–91, hier S. 82. 19 Zur Häufigkeit dieses „Topos ex loco etymologiae“ vgl. Segebrecht, Das Gelegenheitsgedicht (wie Anm. 9), S. 115f.

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anspielt, auf Homers Odyssee und die Bibel. Es schließt in einer performativen Wendung mit der konkret situationsbezogenen Aufforderung, die Anwesenden mögen auf das Paar anstoßen und ihm Gottes Segen wünschen; zum Tauf-Fest werde man gern wieder zusammenkommen. Profunde mythologische Kenntnisse sind zum Verständnis des Gedichts nicht nötig – Bornmann nimmt es auch nicht ganz so genau mit der Mythologie20 –, aber nur wer die Versatzstücke aus Namen und Motiven erkennt, wird das Geistreiche des Textes goutieren können. Hier wie in vergleichbaren Fällen dient die Bildung, die sich im Text manifestiert, sowohl der unterhaltsamen Ehrung des Brautpaars als auch der Selbststilisierung des Verfassers als gelehrt und sprachlich gewandt. Das zeigt sich in noch größerem Maße bei der Vermählung des vornehmen George von der Reck mit einer Verwandten im April 1711. Mit einem gattungstypischen Bezug auf die Jahreszeit, lateinischsprachiger Eingangshuldigung an den Bräutigam, einem deutschsprachigen „Madrigal“ auf die Braut und (als solche ­kenntlich gemachten) Anagrammen auf die Namen der Brautleute versieht Bornmann sein Hochzeitscarmen, das er – möglicherweise als Auftragsdichtung – zur adeligen ­Hochzeit auf Gut Blieden (Blīdene) sendet.21 Unter dem Titel Der Venus-geheiligte Reck setzt er sprachspielerisch den Namen der Brautleute mit der Bezeichnung eines im Norden verbreiteten Fisches22 gleich: „Es wird auch der Reck geprisen / weil der Venus er die Bahn | Durch die wilde Fluth gewisen in dem bunten Muschel-Kahn.“ Mit einer Variation von Reimwörtern („Schrecken“, „Zecken“, „Flecken“, „­hecken“, „Ecken“) auf den Namen, der nun in der Bedeutung von ‚Held‘ interpretiert wird,23 schließt das Carmen mit dem üblichen Wunsch: „Lebe glücklich / schönstes Pahr! Lebet wohl / Ihr Grossen Recken!“ Doch nicht nur adelige Personen wurden von Bornmann bedichtet, vielmehr findet sich aus demselben Jahr 1711 auch ein Epithalamion auf die Verbindung des Kaufmanns Himmelreich mit der Witwe des Compastors einer Kirche zu Mitau, das Bornmann unter den Leitgedanken von der Ehe als dem „irdischen Himmelreich“ stellte.24 Und anlässlich der Hochzeit des Arztes Justus Tottien mit Dorothea Helena Merkert, Tochter eines „Ansehnlichen RathsVerwandten der HochFürstl. Residenzund Haubt-Statt Mitau“, schrieb er im Jahr 1708 eine ebenfalls mit Anagrammen (auf Latein für den Bräutigam, auf Deutsch für die Braut) versehene Dichtung, 20 Der griechischen Mythologie zufolge entmannt nicht Zeus (Jupiter) seinen Vater Kronos (Saturn), sondern Kronos seinen Vater Uranos. Vgl. den Artikel „Kronos“. In: Moormann/Uitterhoeve: Lexikon der antiken Gestalten (wie Anm. 18), S. 403–406, hier S. 403. 21 GBR I, 169 [180]. 22 Vgl. den Artikel „Reckling, Reckel, Raff“. In: Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 30. Leipzig-Halle 1741, Sp. 1541. 23 Vgl. den Artikel „Recke“. In: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 14. Leipzig 1893, Sp. 443. 24 GBR I, 192 [204].

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deren Bildlichkeit sich aus dem Beruf des Adressaten speist.25 Da triumphiert Venus über die Göttin Meditrin,26 wenn sie das Herz des Doktors durch ein wirksames Mittel heilt, nämlich durch seine Verbindung mit einem tugendhaften und anmutigen „Kind“, das nicht nur „fromm und gut“, sondern auch „rein“, „fein“ und „höfflich“ ist – halt „was delicaters“ als ein dickes und gesundes „Mägdgen“, wie es einem „starken Bauer-Knecht“ zukommt. Solch eine explizite ständische Abgrenzung ist selten in den Hochzeitsgedichten der Sammlung Recke. Üblich aber ist es, lobend zu betonen, dass die Passenden – gemeint ist: ihrem sozialen Stand nach zueinander Passenden – zusammengefunden haben. Von der Möglichkeit der Abgrenzung abgesehen, hat ein Bauernmädchen in dieser Art Dichtung auch nichts verloren, denn die Sprache, in der sich die Honoratioren der Stadt Mitau und die Damen und Herren diverser Kurländischer Güter feiern lassen, ist nicht ihre Sprache. Zwar hat Bornmann in seinem Lobgedicht auf Mitau die Stadt als einen „Port“ besungen, an dem man „zugleich fünff Sprachen lernen“ könne: „Wie die Littuanen reden, wie die Kuhren sprechen aus, | Wie die Polen, Teutschen, Schweden, hört man fast in jedem Hauss“.27 Doch es ist ein Zeichen von Exklusivität, dass die Hochzeitsgedichte der gesellschaftlich führenden Schicht in Kurland zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf Deutsch geschrieben sind. Selbstvergewisserung durch soziale Abgrenzung ist eine wichtige Voraussetzung für diese Art demonstrativ gebildeter literarischer Praxis – und sie ist zugleich auch deren Effekt. Die Hochzeitsgedichte aus der Sammlung Recke, die der Hof-Capellmeister Johann Gottfried Wehrt (auch Werth geschrieben) Anfang der 1720er Jahre für vornehme Kaufleute und Funktionäre des Mitauer Hofes verfasst hat, lassen sogar Einflüsse französischer Galanterie erkennen.28 So stilisiert er anlässlich der im Winter 1724 gefeierten Hochzeit des Seidenhändlers29 Schriever mit einer Kaufmannstochter die Anbahnung eines Liebesverhältnisses zu einem „Angenehmen LiebesKrieg“,30 in dem „der Mund mit netten Complimenten“ in den Streit zieht. Die Bereitschaft, „gleich als wie ein Sclave“ zu „sterben“, weiche allerdings schnell dem 25 GBR I, 190a [202]. 26 „Meditrina […] war eine Göttinn der Römer, welche den Krankheiten abhelfen sollte.“ (Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770, Sp. 1546.) 27 Christian Bornmann: Mitau. Ein historisches Gedicht aus dem siebzehnten Jahrhundert. Neue, mit Anmerkungen versehene Ausgabe. Mitau 1802, S. 23. Verantwortlich für die Herausgabe von Bornmanns Text aus dem Jahr 1686 war übrigens Johann Friedrich von Recke, der Sammler der hier analysierten Gelegenheitsschriften. 28 Vgl. hierzu Hess, Peter: Artikel „Galante Rhetorik“. In: Ueding, Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3 (wie Anm. 2), Sp. 507–524; Florack, Ruth; Singer, Rüdiger (Hg.): Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin-Boston 2012 (Frühe Neuzeit 171). 29 So kenntlich aus dem Titel von GBR I, 189 [200]. 30 GBR I, 181 [192].

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nächsten Liebesabenteuer – „wenn man nicht auf die Vermählung zielt“. In diesem Fall aber gehören „Blicke / Mienen / Schertz“, „Geberden“ und „Worte“ zu den „Waffen“: „So kan der Sieg geschehen.“ Das zunächst allgemein gehaltene Bild leitet über zum besonderen Ereignis: Mit Schrievers Hochzeit sei das „Liebes-Kämpffen“ nun glücklich ins „Braut-Bett“ verlegt – und man erwarte, dass den Gästen in absehbarer Zeit das „Vergnügen“ zuteilwerde, die „Beute“ dieses ‚Krieges‘ „in einer neuen Wiegen“ zu sehen. Geistreich-galant sind auch die beiden kleinen Erzählungen – ebenfalls in ­Alexandriner-Versen –, die Wehrt auf Hochzeiten im Jahr 1723 verfasste. Zur Eheschließung des Pastors Johann Siewertz mit der Tochter des Fürstlich Kurländischen Hofgerichts-Advokaten Jacob Biselstein veröffentlichte er „zur mehreren GemühtsErgötzligkeit“ einen Text über Cupido als „Jouvelirer“, der mit dem Segen seiner Mutter Venus nach Mitau zieht.31 Zu Cupidos Edelstein-Sammlung gehört ein (anagrammatisch zu verstehender) „Liebes-Stein“ mit dem Bildnis der Braut, ­Maria Charlotta Biselstein, der den Bräutigam sofort in seinen Bann schlägt. „Heut“, am Hochzeitstag, „führ’t“ der Pastor nun „dis Kleinod an der Hand“, und Cupido wünscht ihm: „Geneußt Corallen-Frucht von Eurem Liebes-Stein / | Die Anmuth wolle Euch so Tisch als Bett bereiten / | Euch Cröhne sonder Ziel des Glückes holder Schein.“ Und zu der Rigaer Hochzeit von Martin Heinrich Blücher, einem Hoch-Fürstlichen Auditeur (d. h. einem Staatsanwalt am Militärgericht), erschien aus der Feder des Hof-Capellmeisters: Der vor dem Kriegs-Recht der Liebe advocirende Cupido.32 Diesmal ist es wiederum der Beruf des Bräutigams, auf den sich die Bildlichkeit des Textes stützt: Minart (gemeint ist der Bräutigam Martin Blücher) verklagt Ave (die Braut Eva Forster) bei Gericht, seine Liebe entflammt zu haben und ihn nun durch ihre Sprödigkeit ins Unglück zu stürzen. Und so wird Ave nach einem leidenschaftlichen Plädoyer aus Cupidos Mund von der Richterin Venus zum Flammentod verurteilt. Auf dem Scheiterhaufen von Minarts Brust soll Ave sterben: „Sein feurig Küssen geb’ ihr in den Flammen Lust“. Aus ihrer Asche soll „übers Jahr“ ein „Phoënix“ entstehn – das heißt in der misogynen Logik der Zeit: „Des Urtheils Würckung sey zuletzt ein junger Sohn.“ So lautet der Schlussvers. Der Adressat dieser Verserzählung über Cupido bei Gericht, nämlich der Bräutigam und Auditeur am Militärgericht Martin Blücher, hat übrigens zwei Jahre zuvor, 1721, selbst unter der Überschrift Die Liebes-Capelle eine kleine Hochzeitsdichtung verfasst zur Eheschließung von Anna Louysa Biselstein, der ältesten Tochter des soeben erwähnten Hofgerichts-Advokaten.33 Produzenten und Adressaten von Gelegenheitsdichtung sind also nicht immer streng voneinander zu unterscheiden. Im Kontext von Gelegenheitsdichtung als einer geselligen literarischen Praxis der gebildeten 31 GBR I, 175 [186]. 32 GBR I, 176 [187]. 33 GBR I, 177 [188].

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deutschsprachigen Oberschicht handelt es sich vielmehr um unterschiedliche Rollen, die bei passender Gelegenheit angenommen werden konnten. Möglicherweise war Blücher mit dem Adressaten seines Hochzeitsgedichts auch befreundet, denn im Text spricht das Ich den Bräutigam, den Hoch-Fürstlichen Kurländischen CommissionsSekretär Bernhard Cappell, als „wehrten Hertzens-Freund“ an. Allerdings schließt die Formulierung auch nicht aus, dass es sich um eine (bezahlte) Auftragsdichtung gehandelt hat; so etwas war bei Gelegenheitsschriften durchaus üblich. Die Namen der Brautleute, Cappell und Biselstein, dienen in Blüchers Text Die Liebes-Capelle einmal mehr als Bildspender, wenn dem Sprecher-Ich im Traum Venus und Cupido als Architekten einer „Capell’ […] in Form von Zwey / doch eines Hertzens“ erscheinen. Im übrigen finden sich noch drei weitere Gedichte auf die Cappell-Biselstein’sche Hochzeit in Reckes Sammlung, nämlich Tugend ist ein EdelStein des schon erwähnten Mitauer Schulleiters Gottlob Thilo, der die Eigenschaften verschiedener Steine mit den positiven Wirkungen der Ehe verknüpft,34 sowie ein Text mit dem Titel Das durch die Liebe und Anmuhts-vollen Frauen-Zimmer überwundene Mannes-Volck aus der Feder eines Hoch-Fürstlichen Jagd-Sekretärs, in dem recht abstrakt von den Vorzügen der Liebe und der Frauen gesprochen wird.35 Die überlieferten Gratulationen werden vervollständigt durch das „Sonnet“ von einem anonymen „Getreuen Soldurio“, das mit zahlreichen Verweisen auf klassische Bildung – wie das Goldene Vlies, Odysseus, Minerva oder Astraea – hyperbolisch das Glück des Bräutigams beschwört, der nun das „schönste Kind der Stadt“ ehelicht.36 Im Fall der Cappell-Biselstein’schen Hochzeit handelt es sich um Angehörige eines gehobenen Bürgertums in höfischen Diensten, das offensichtlich viel Wert darauf legte, seine Bildung zur Schau zu stellen, indem es sich anlässlich des großen Ereignisses geistreich bedichten ließ und durch die Verbreitung und Bewahrung der einzeln gedruckten Epithalamien ins Gedächtnis von Familie, Freunden und Bekannten einschrieb. Außer Bürgern im Dienst der fürstlichen Verwaltung pflegten, wie an den Titelblättern der Epithalamien aus der Sammlung Recke leicht erkennbar, Kaufleute,37 Ärzte und Pastoren das große Ereignis durch eigens dafür geschriebene, gedruckte und an die Hochzeitsgäste verteilte Texte feiern zu lassen. Somit diente in der Residenzstadt Mitau – fünfzig Jahre bevor sie mit der Gründung der Academia Petrina zu einem Zentrum der Aufklärung im Baltikum wurde  – die Gelegenheitsdichtung offenkundig als Ausweis der Zugehörigkeit zum gehobenen städtischen Bürgertum. Dass dieses sich durchaus auch von denselben 34 35 36 37

GBR I, 179 [190]. GBR I, 178 [189]. GBR I, 180 [191]. Noch in dem Text eines Anonymus, der im Jahr 1738 bei der Hochzeit des Kaufmanns Agricola nicht persönlich anwesend sein konnte, präsentiert sich Amor als ein Händler – er spricht von „Capital“, „Negotium“, „Privilegium“ und „Credit“ –, der erfolgreich mit Herzen handelt; überall in der Welt „florirt“ sein Handel, „Barbar“ und „Mohren“ eingeschlossen (GBR I, 187 [198]).

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Autoren und auf dieselbe Art und Weise durch Verse verewigen ließ wie die Gutsbesitzer aus altehrwürdigem Geschlecht, zeugt von Selbstbewusstsein und von ­einem vergleichbaren Anspruch auf Repräsentation in und durch Sprache. Nicht mehr richtig gelehrt, aber doch gebildet musste derjenige sein, der diese Texte in Auftrag gab, der sie schrieb und der sie als Teilnehmer der Festlichkeiten verstehen konnte, sie bewunderte und von ihnen unterhalten wurde. Der Gebrauch eines elaborierten Hochdeutsch, zum Teil mit lateinischen Passagen oder Fremdwörtern versehen und mit mythologischen Versatzstücken gespickt, diente Angehörigen der deutschsprachigen Elite als Selbstvergewisserung und betonte, nicht zuletzt durch das Fortführen der Tradition solchen Dichtens bei Gelegenheit, die Bedeutsamkeit und den Zusammenhalt der eigenen sozialen Gruppe.

Hochzeitsschriften der Empfindsamkeit Die Hochzeitsschriften aus der Sammlung Recke, die aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überliefert sind, bestätigen grosso modo die Forschungsthese, dass mit der Empfindsamkeit die rhetorische Tradition der Gelegenheitsdichtung aufgegeben wurde zugunsten eines (vermeintlich) natürlichen, persönlichen Stils, der die Intimität des Paares in den Vordergrund rückt.38 Nun lässt sich ein verbindlicher Konsens für die Gestaltung der Glückwunschschreiben nicht mehr erkennen, sie sind stärker individualisiert und verzichten ebenso auf barocke Manier wie auf Esprit und Galanterie. Doch immerhin sind sie gedruckt worden, waren also ebenso wie ihre Vorläufer als Andenken zur Verbreitung und zur Aufbewahrung gedacht. Inwiefern die Gelegenheitsdichtung dem Wandel des Geschmacks und damit literarischen Moden unterlag, ist an den Texten selbst deutlich erkennbar. So erinnert etwa das Titelblatt zur Hochzeit des Jacob Friederich von der Osten genannt Sacken mit Fräulein Maria Elisabeth von Bolschwing im Jahr 1762 in seiner Gestaltung – nicht zuletzt durch die Überschrift Die eheliche Gesellschaft mehr als alle Gesellschaft – noch sehr an die Barock-Tradition. Auch der Aufbau – von einer allgemeinen Betrachtung über die Vorzüge der Vergesellschaftung zum Lob des ehelichen Miteinanders bis zum Glückwunsch im konkreten Fall – wirkt traditionell.39 Dagegen sind aber auch die empfindsamen Züge des nun in Prosa verfassten, mit Rokoko-Vignetten und französischen Versen40 versehenen Textes unverkennbar. Dessen zentraler Topos ist das Herz; „Zärtlichkeit“ und Seelenverwandtschaft ersetzen nun den überkommenen Hinweis auf den alltagspraktischen Nutzen der 38 Vgl. etwa Klöker, Das Testfeld der Poesie (wie Anm. 7), S. 83. 39 GBR I, 19 [ - ]. 40 „Que la vie est ennuyeuse | Quand on n’a point de desirs: | Qui n’a pas l’ame amoureuse, | La voit couler sans plaisirs.“ Die Verse finden sich im Recueil de pièces galantes, en prose et en vers, de Madame la Comtesse de la Suze et de Monsieur Pelisson. Bd. 3. Trévoux 1725, S. 99.

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Ehe. Vor allem aber wird die „Mächtige Liebe“ als quasi-göttliche Instanz, nämlich als „erster Grund der alles erschaffenen Natur“, angerufen und wortreich in ihrer Allmacht beschworen – nun aber ohne jeden Bezug auf Gott oder auf mythologisches Personal.41 Das anonym publizierte „Sendschreiben“ an die „Wohl-Edle und Tugendbegabte Jungfrau […] Helena Juliana Melzer, bey Ihrem Hochzeits-Tage“ im Jahr 1756, reflektiert sogar explizit die Überwindung des traditionellen Hochzeitscarmens.42 Es thematisiert ausdrücklich den Gegensatz von „Reimschmieden“ der alten Schule und echten „Poeten“ (S. 4). Zu diesen zu gehören, möchte der Schreiber sich nicht anmaßen, und zu jenen will er ausdrücklich nicht mehr zählen, auch wenn er zum Schluss doch noch einige Strophen gereimter Verse präsentiert – als Zugeständnis an die „alte Mode“ (S. 7). Da aber die „Welt“ inzwischen die obligatorischen Hochzeitswünsche als bloße „Schmeicheleyen und Staats-Complimente“ erachte (S. 7), sei ein anderer, persönlicher Ton angebracht. Die Form der Wahl, um das „Hertz“ des Gratulanten sprechen zu lassen, das der Braut „alles gutes“ wünscht (S. 7), ist eben das „Sendschreiben“ (S. 1), also der Brief, für den Christian Fürchtegott Gellert wenige Jahre zuvor Natürlichkeit als Maßstab propagiert hatte. Dass der Brief „eine freye Nachahmung des guten Gesprächs“ sein solle, hatte Gellert gefordert,43 und eben daran hält sich der Verfasser, wenn er seinen Gedanken freien Lauf zu lassen scheint – erst in seiner Reflexion über das gewählte Medium und in seiner Absage an die rhetorische Schreibweise,44 dann in der ausführlichen Schilderung seiner eigenen emotionalen Reaktion auf die Nachricht von der bevorstehenden Hochzeit der Frau, die er in seiner Anrede als „Werthgeschätzte Jungfer Braut“ (S. 3) bezeichnet: „Ich wuste selbst nicht, was ich machen solte. Ich gieng herum. Ich setzte mich nieder. Ich stund wieder auf, und spielte mir etwas vor. Kurtz! jede Handlung ja gar jeder Zug meines Gesichts konte ein Zeuge von einer fühlbahren Freude abgeben. Ach! wäre ich da, so redete ich zu mir selbst von lauter Vergnügen berauschet, ich wolte diese werthe, diese theure Freundin begrüssen. Ich wolte ihre kleine Hand an 41 Der Bruch mit der Tradition wird sogar explizit formuliert: Die Eheleute als ein „vollkommenes Geschöpfe schafft nur die Liebe, die dafür Jahrhunderte den Namen der Göttin geführet hat. Jetzt geringer an Benennung; aber noch von gleicher Macht, fährt sie fort in ihren göttlichen Tagewerken.“ (GBR I, 19). 42 GBR I, 64 [89]. Der Prosatext ist paginiert. Daher werden Zitate aus dieser Schrift im Folgenden direkt im fortlaufenden Text mit Seitenzahlen angegeben. 43 Vgl. Gellert, Christian Fürchtegott: Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751, S. 3. – Auf Gellert verweist auch das – auf „Kenner“ und „Narren“ als Literatur-Kritiker gemünzte – Motto des vorliegenden „Sendschreibens“ (GBR I, 64 [89], S. 1). 44 „Soll ich Sie auch nach Art der Gelegenheits-Dichter loben? Nein! das will ich nicht thun, wenn Sie auch darüber etwas böse werden solten. Die Ihre Tugenden nicht kennen, die mögen Sie künftighin kennen lernen; Ihren Bekannten aber bleiben schon dieselben bey dem blossen Anblick Ihres Nahmens verehrungswürdig.“ (GBR I, 64 [89], S. 3).

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Ruth Florack meine Lippen drücken. Ich wolte Ihr Glück wünschen. […] Ich wolte – – – – […] Ich entschloß mich zu schreiben, es möchte herauskommen, wie es wolte. Es war die erste Hitze, und mein Vorsatz kam würcklich zur Erfüllung. Sie haben nunmehro meine Gedancken in Händen. […] Ich habe meiner Seele in dieser Entzückung den völligen Lauf gelassen.“ (S. 4f.)

Das sind das Vokabular und die Syntax empfindsamen Sprechens – und in diesem Stil wird im Folgenden auch der Ortswechsel der Braut vom weltläufigen Königsberg zum kleineren Liebau (Liepāja) als einem Ort „wahrer Freundschafft“ (S. 7) ausgemalt. Der Leser erfährt noch, dass der Bräutigam ein „Prediger“ ist (S. 7), und das Postscriptum zeugt von Vertrautheit: „Wenn Sie Ihren Eheschatz küssen, so küssen Sie ihn auch vor mich, er ist mein alter guter Freund, das weiß ich.“ (S. 8) Wenn nicht einmal mehr der Name des Bräutigams fällt, geht es in dieser Hochzeitsdichtung offensichtlich weniger um Repräsentation als um den Anschein einer vertrauten Privatheit, die mit Eingeweihten geteilt wird – eben den Lesern des gedruckten Briefes, die gewiss nicht nur wissen, wer der Bräutigam ist, sondern wohl auch den Verfasser kennen. Dieser gibt durch Inhalt und Machart seines „Sendschreibens“ zu erkennen, dass er literarisch auf der Höhe seiner Zeit ist: Nicht nur Gellert führt er an, sondern auch Gottlieb Wilhelm Rabener (S. 4), teilt einen Seitenhieb gegen die Anakreontiker aus (S. 4), schmiedet einerseits Reime (S.  8) und präsentiert sich andererseits in empfindsamer Manier als ein Herzensfreund, der sein fühlendes Ich der „theuren Freundin“ (S. 5f.) in Briefform offenbart. Dabei ist es weniger der (kaum originelle) Inhalt des Schreibens als der Umstand, dass der abwesende Gratulant diese modische Schreibweise beherrscht, die seinen Text als eine besondere Hochzeitsgabe erscheinen lässt – vorausgesetzt, die Adressatin verfügt über eine entsprechende literarische Vorbildung. Ein Druckort wird übrigens nicht genannt, aber die einzige Vignette, die den Text ziert (S. 3), ist eben die Abbildung eines Putto, die sich wenige Jahre später auch in der Hochzeitsdichtung für das Paar von der Osten-Bolschwing finden wird, dort mit dem Hinweis auf den Hochfürstlichen Hofbuchdrucker in Mitau.45

45 Vgl. GBR I, 19 (wie Anm. 39). Die Verwendung identischer Vignetten findet sich auch schon in früheren Epithalamien. Ein Beispiel dafür ist das kreisrunde Emblem mit der Inscriptio „Quod deus coniunxit, id homo non separet.“ [Was Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen.] (Mt. 19, 6). In dessen Mitte sind zwei Hände abgebildet, die gemeinsam eine Rose halten, unter diesen ein durch einen Ring verbundenes Taubenpaar, darüber eine strahlenbekränzte Taube als Symbol des Heiligen Geistes. Dieses Emblem hat die Mitauer Hof-Buchdruckerei verschiedentlich eingesetzt: nicht erst bei der Hochzeit des Ober-Jägermeisters Dieterich von Käyserlingk mit Anna Alexandrina Manteuffel genannt Szoege im Jahr 1739 (GBR I, 120 [134]), sondern schon bei der Eheschließung zwischen dem Starosten Nicolaus Korff und Constantia Ursula von den Wahlen im Jahr 1723 (GBR I, 173 [184]) sowie bei der Vermählung von Otto Adam Hahn, Erb-Herrn auf Pomusch u. a., mit Anna Dorothea Hahn im Jahr 1724 (GBR I, 174 [185]).

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Auch andere Texte der Sammlung, aus den frühen 1760er Jahren, gestalten den Hochzeitsglückwunsch als ein Stück zeitgemäße Literatur. So bietet ein anonymer „wahrer Freund“ zur „Vermählung des Hochedlen Herrn“ Friderich Ludewig Rühl, von Beruf Hofchirurg, mit Catharina Dorothea Heitmann im Jahr 1763 ein anakreontisches Gedicht, in katalektischen jambischen Dimetern, denen Verse des Zeitgenossen Johann Jakob Dusch als Motto vorangestellt sind.46 Hier sind übliche Motive der Epithalamien – etwa das Lob der glücklichen Verbindung des Bräutigams mit einer vorzüglichen Frau und der Wunsch, die Ehe möge lange dauern und mit Nachkommenschaft gesegnet sein – verquickt mit anakreontischen Elementen wie Lebensfreude und Genuss, Liebe, Vergnügen und Scherz: „Wer glüklich lieben wil, Der wähl’ sich eine Schöne; Er wähl’ ein schönes Mädchen, Das liebend ihm verehret. Ein Kind das rürend schmeichelt! Ein Kind das Tugend kennet; Ein Kind das zärtlich küsset; Ein Kind das wizig scherzet. […] Dies Glük war Rühl bestimmet, Er fand ein schönes Trinchen, Ein Kind vol holder Anmut, Ein Meisterstük des Himmels. Heut küst Sie Ihm als Gattin, Heut’ lont Sie seiner Treue. Sie nah’t sich seinen Armen, Und schenkt Sich Ihm auf ewig.“

Und mit der Angabe, „Jena, den 30sten August 1762“ ist ein Brief „A Mademoiselle […] N. Merckert à Mitau“ gezeichnet,47 der sich auf den ersten Blick, da die Versgrenzen nicht markiert sind, wie Prosa liest und erst auf den zweiten als Komposition aus Alexandrinern erkennbar wird. Der Absender – oder die Absenderin? – bleibt unbekannt, schlüpft in die Rolle einer Schäferin namens Sylvia, die sich bei der Adressatin, die mit „Du Liebenswerthe Braut!“ angesprochen wird, beklagt, dass sie sich nun ausgerechnet mit demjenigen verbinde, der ihr selbst untreu geworden sei. Doch am Ende der scherzhaft-frivolen Klage heißt es:

46 GBR I, 101 [117]. 47 GBR I, 94 [ - ].

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Ruth Florack „Was Wunder, wenn Damöt Dich, schöne Braut! erwählet, die aller Reiz erhebt, der mir doch ewig fehlet? Drum liebe glücklicher als Sylvia geliebt, die Dir Damöten denn gelassen übergiebt, wenn er vielleicht schon gar in Deinen Armen lieget, und süsse Müdigkeit die Nachreu überwieget. Ist für mich Arme, schon kein Schein der Hofnung, da; o! so bedaurt nur noch das Herz der Sylvia.“

Motivisch gesehen ist das tändelnde Rokokomanier, die bei den Leserinnen und Lesern Gefallen erregen mag, aber – als ein demonstratives Stück Privatheit – nur noch von Eingeweihten kontextualisiert werden kann. Für die Entwicklung der Hochzeitsliteratur besonders aufschlussreich ist der Vergleich eines ‚Ehestandsspiegels‘ aus der Sammlung Recke, der zur Vermählung von Ernst Nicolaus von Kleist mit seiner Cousine Elisabeth Sophia Luise von Kleist 1778 in Mitau gedruckt wurde,48 mit dem (oben bereits erwähnten) Hochzeitscarmen, das im Jahr 1723 der Pastor zu Kreutzburg zur Eheschließung zwischen Nicolaus Korff und Constantia Ursula von den Wahlen herausgebracht hat,49 den Großeltern des Ernst Nicolaus von Kleist.50 In der Gegenüberstellung dieser Glückwünsche aus ein und derselben Familie über einen Zeitabstand von zwei Generationen zeigen sich deutliche Veränderungen in der Gratulationskultur. Zwar verweist der Ausdruck „Ehestandsspiegel“ von 1778 ebenso wie die Überschrift von 1723, Ob der eheliche oder uneheliche Stand fürtrefflich sey?, noch auf die frühneuzeitliche Tradition der Ehestandsliteratur. Aber schon das Titelblatt zur Kleist’schen Hochzeit setzt einen ganz neuen Akzent. Denn es verzichtet auf Angaben zu dem Brautpaar und zum konkreten Anlass – diese stehen, recht schlicht gehalten, erst auf einem zweiten Blatt – und präsentiert sich als schöne Literatur.51 In großen Lettern über die Hälfte der Seite gesetzt, lautet der Titel vollständig: Der Ehestandsspiegel, oder die Geschichte Wilhelms und Juliens. Eine Erzählung. Es folgen, ohne Angabe des Autors, die Anfangsverse aus Johann Gottfried Herders Gedicht Eifersucht: „O Leben, wie im Himmelreich, | Zwei Herzen, edel und sich gleich, | Und Eins! Ein Wunsch! Ein süßes Streben | Nach Glück! Ein Glück! Ein Liebeleben! | Ein Himmelreich! –“52 und zuletzt der Hinweis auf den Hofbuchdrucker Steffenhagen in Mitau (S. 1). Er48 GBR I, 141 [153]. Der Prosatext ist paginiert. Daher werden Zitate aus dieser Schrift im Folgenden direkt im fortlaufenden Text mit Seitenzahlen angegeben. 49 GBR I, 171 [182] (wie Anm. 10). 50 Zur Genealogie vgl. Kypke, H.: Geschichte des Geschlechts von Kleist. Dritter Theil. Dritte Abtheilung, enthaltend die Biographien der Muttrin-Damenschen Linie. Berlin 1885, S. 82, 85. 51 Als eigenständige Erzählung, nun ohne jeden Hinweis auf die ‚Gelegenheit‘, zu der er in Mitau gedruckt worden war, erschien der Text vier Jahre später in: Ganymed für die Lesewelt. Bd. 3. Eisenach 1782, S. 185–198. 52 Vgl. Herder, Johann Gottfried: Eifersucht. In: Ders.: Werke. Nach den besten Quellen revidirte Ausgabe. Hg. v. Heinrich Düntzer. Bd. 1. Berlin o. J., S. 320. In einer Fußnote gibt der Herausgeber an, dass Herders Gedicht auf eine Vorlage von Dryden zurückgehe (vgl. ebd.).

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zählt wird dann von der glücklichen Verbindung zweier Liebender, die von Natur füreinander geschaffen sind: Wilhelm, „ein Jüngling von edlem Herzen und guten Neigungen, aber von einem etwas unruhigen Blute“, und Julie, „ein Mädchen, dessen sanfter Charakter, Verstand und gutes Herz, ihr die Freundschaft aller, die sie kennen lernten, gewann“ (S. 5). Das Carmen aus dem frühen 18. Jahrhundert hatte die Ehe noch als gottgewollte, ‚unauflösliche‘ Einrichtung beschworen mit dem Ziel, dass „Einer hilfft des Andern seine Last ertragen / | Und ist Ihm treu bey guten und bey bösen Tagen“. Dabei wurde die Frau, die erst durch das Sakrament der Ehe „heisse Liebes-Gluht“ verspüren soll, als nützlich-sorgende Gefährtin des Mannes gesehen: „Wann in der Eh’ / der Mann mit Kummer wird gedrücket / | So kommt die Frau mit süssem Trost und Raht herbey / | Dadurch wird sein betrübtes Hertze recht erquicket / | Von vielem Kummer und von grossen Sorgen frey.“53 Die empfindsame Erzählung dagegen entwirft die Frau als die moralisch reifere, ‚bessere Hälfte‘ des Paares, die durch ein duldsam „sanftes, liebevolles Betragen“ die „hizige“ und zugleich unflexible „Gemütsart“ ihres Mannes zu bessern vermag (S. 8). So erscheint sie als eine „schöne Seele“ (S. 6), für die Religion nicht länger Autorität, sondern Bedürfnis ist, weil sie ebenso zur Herzensbildung gehört (S. 7) wie die Lektüre der „beßten Schriftsteller“, deren „Wahrheiten“ sie „mit unermüdetem Fleisse“ verinnerlicht (S. 6). Die auf Gefühl gegründete Eintracht des liebenden Paares wird entworfen als Harmonie von Mensch und „Mutter Natur“ (S. 9), wie es in Anspielung auf Klopstock heißt,54 und zu einem Familienidyll erweitert, das von pädagogischem Optimismus zeugt. Denn anstatt sich mit dem obligaten Hinweis auf Kinder als Sinn und Zweck des Ehebündnisses zu begnügen, bietet die Erzählung den Entwurf einer idealen, von tugendhaft Liebenden gestifteten Gemeinschaft als Vorgeschmack einer besseren Gesellschaft: „Die Herzen der Kleinen, von ihren Eltern frühzeitig gebildet, wallten jedem edlen Antriebe entgegen; ihre Empfindungen stimmten sich nach den Empfindungen ihrer Eltern, und das Bild ihrer Tugenden drükte sich tief in ihre empfängliche Seelen.“ (S. 9) Und von der Familie geht die Kraft aus, mit der Wilhelm – wie ein vorbildlicher Gutsherr, den die Erzählung ja eigentlich adressiert – zum Wohle seiner Bauern tätig ist (S. 10f.) und Julie sich allgemeine Zuneigung erwirbt, sodass „die Heiterkeit und Eintracht, die in der ganzen Familie herrschte“, die „Unterthanen“ derart beeindrucken, „daß auch diese ihnen nachzuahmen sich bestrebten, und in kurzem das ganze Gebiet nur Eine Familie zu sein schien“ (S. 11). Nach diesem ebenso aufgeklärten wie empfindsamen Modell sollte das Eheleben von Ernst Nicolaus und Elisabeth Sophia Luise von Kleist wohl gelingen – das ist die Botschaft des Schreibens, das sich 53 GBR I, 171 [182] (wie Anm. 10). 54 „Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht“ lautet bekanntlich der Eingangsvers von Klopstocks Ode Der Zürchersee (1750).

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erst in einer (anonymen) Schlusswendung auf das „glükliche Brautpaar“ bezieht: „Pflüken Sie, wie Julie und Wilhelm iedes Blümchen das der Schöpfer auf den Pfad Ihres Lebens gepflanzt hat!“ (S. 12) Statt gelehrte lateinische Verweise auf Luther und die Kirchenväter zu bieten, wie das Epithalamion für die Großeltern, kombiniert die Erzählung auf die Hochzeit derer von Kleist Anspielungen auf namhafte Vertreter der europäischen Empfindsamkeit. Klopstocks Ode wurde schon genannt. Die Verbindung der ebenso zärtlichen wie gebildeten Julie mit einem hitzigen Mann, der ihr bisweilen Kummer bereitet und mit dem sie doch ihr Liebesglück findet, ist selbstverständlich als Anspielung auf Rousseaus berühmten Roman Julie ou la Nouvelle Héloïse von 1761 zu lesen. Und wenn der Erzähler Juliens Aussehen mit dem „Gesicht Elisens“ vergleicht, präzisiert eine Fußnote, wer gemeint ist: „S. Yoricks Briefe an Elisa“ (S. 5) – der Verfasser Laurence Sterne wird als bekannt vorausgesetzt. Der Vorname Wilhelm erinnert unmissverständlich an den Adressaten von Werthers Briefen. Und sowohl das enthusiastische Gefühl der Liebenden, in der Schönheit der Natur allenthalben dem Schöpfer zu begegnen, als auch Juliens sprachlose Antwort auf Wilhelms überschwängliche Zärtlichkeit haben ihre Entsprechung in Goethes Roman.55 Freilich sind es nur empfindsame Versatzstücke zeitgenössischer Literatur, auf die sich die kleine Erzählung bezieht – die Gefährdung der Harmonie, etwa durch Eifersucht, wie in Herders Gedicht, durch Leidenschaft, wie in Rousseaus Julie, oder durch äußere Hindernisse, wie bei Sterne und in Goethes Werther, wird konsequent ausgeblendet. Sie würde auch nicht zu dem Hochzeitsglückwunsch in Form eines ‚Ehestandsspiegels‘ passen.

55 Im Brief vom 10. May schildert Werther, wie er sich eins fühlt mit der Schöpfung: Im Gras am Bach liegend, das dampfende Tal und den dunklen Wald vor Augen, „fühle [ich] die Gegenwart des Allmächtigen, der uns all nach seinem Bilde schuf“ (Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werthers. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 1.2: Der junge Goethe […]. Hg. v. Gerhard Sauder. München 1987, S. 196–299, hier S. 199). In der Geschichte Wilhelms und Juliens heißt es, „im kühlenden Schatten der Bäume, im Murmeln der Bäche, […] im bunten Gewande der Wiesen“ seien sie „versenkt in die Harmonie der Schöpfung“: „Ueberall empfanden sie Gott in der Natur […]; überall fanden sie seine Spuren und hörten des Allgütigen Stimme.“ (GBR I, 141 [153], S. 9f.) – In einer Schlüsselszene des Romans kommen sich Werther und Lotte beim Anblick der Landschaft nach einem Gewitter nahe: „[...] ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte – Klopstock! Ich versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrugs nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollesten Tränen.“ (Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, S. 215.) Umgeben von seiner Familie, rinnen dem „glüklichen Wilhelm“ Tränen der Freude und der Dankbarkeit über die Wangen und er offenbart Julie sein Glück. „Ein ganzer Himmel strömte durch sein gerührtes Herz, und seine ganze Seele war Liebe. – Dann konnt’ sie nicht reden, und blos ein feuriger Druk der Hand, und ihre ganze Seele im Auge, schilderten ihm die Rührung ihres Herzens, und er verstand sie.“ (GBR I, 141 [153], S. 9.)

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Fazit Man darf nicht verallgemeinern: Ein Text wie dieser ist in den Gelegenheitsschriften der Sammlung Recke aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Ausnahme. Zahlreicher sind schlichtere Schreiben, oft in jambischen Versen,56 in denen nur hin und wieder noch mythologische Figuren auftauchen. Im Vergleich zu den älteren Epithalamien mit ihrer barocken Rhetorik aber ist unverkennbar, dass sich die Hochzeitsschriften der zweiten Jahrhunderthälfte von der rhetorischen Tradition, wie sie in Lateinschulen vermittelt wurde, gelöst haben. Nun dominiert die vermeintliche Natürlichkeit empfindsamen Sprechens, der Schreibstil ist von „Emotionalität“ statt „Artifizialität“ geprägt.57 Unabhängig davon, ob es sich um eine adelige oder eine bürgerliche Hochzeit handelt, tritt der Repräsentationsanspruch des Paares – vordem kenntlich an umfangreichen Namen und Titeln mit Angaben zu Besitz und Herkunft – zurück, auch die explizite Anrede der Hochzeitsgesellschaft am Schluss des Glückwunschs verschwindet. Während die frühen Epithalamien der Sammlung mit ihrer performativen Dimension auf die kollektive Rezeption in einem Repräsentationsraum angelegt waren, heben die Hochzeitstexte aus späterer Zeit mit ihrer Tendenz zur Inszenierung von Gefühlen viel stärker auf Privatheit ab. Sie sind nicht nur subjektiv im Ton, sondern auch individuell in ihrer Form und sogar in der Wahl ihrer Papier-Formate. Nun tritt die persönliche Vertrautheit zwischen Gratulant und Brautpaar an die Stelle der sozialen Rolle, die durch Abstammung, Stand und Funktion definiert wird. Die literarische Bildung, die diesen empfindsamen Glückwünschen eingeschrieben ist, hat dabei eine wichtige Funktion. Denn indem die Texte experimentell und kreativ, bisweilen eklektisch Altes mit Neuem kombinieren und Schreibweisen übernehmen, die über Deutschland hinaus en vogue sind, setzen sie voraus, dass die Brautleute diese Verweise – die eben keine topischen Versatzstücke mehr sind – erkennen, verstehen und wertschätzen können, und suggerieren so einen freundschaftlichen Gleichklang der Gemüter von Adressat und Verfasser. Dass aber die Praxis der Gelegenheitsdichtung derart literarischen Moden unterlag, wie die Hochzeitsschriften barocker, galanter oder empfindsamer Prägung gezeigt haben, zeugt vom Selbstverständnis ihrer Verfasser und Rezipienten: Auf diese Weise demonstriert die kurländische Elite ihre Zugehörigkeit zu den literarisch Gebildeten nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und betont zugleich den kulturellen Abstand zwischen sich und den Anderssprachigen im eigenen Land.

56 Siehe etwa aus den 1760er Jahren GBR I, 114 [130] und GBR I,149 [160] oder zwanzig Jahre später, in ‚klassischen‘ Blankversen, GBR I, 124 [138]. 57 Auf diese Formel bringt es Garber, Klaus: Gelegenheitsdichtung. Zehn Thesen – in Begleitung zu einem forscherlichen Osnabrücker Groß-Projekt. In: Keller/Lösel/Wels/Wels, Kasualdichtung (wie Anm. 7), S. 33–37, hier S. 36.

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Die Polaritäten der Weltordnung in den Metai von Kristijonas Donelaitis Das Leben und Werk des Begründers der litauischen Nationalliteratur ist von diversen Polaritäten und Dichotomien gekennzeichnet. Seine Zweisprachigkeit, seine theologische Ausbildung und sein lebenslanges Kirchenamt in einer deutschlitauischen Gemeinde im preußischen Tollmingkehmen (russ. Čistye Prudy, lit. ­Tolminkiemis) prägten den Charakter seines Lebenswerks, der Versdichtung Metai (Die Jahreszeiten / Das Jahr). Die literarischen Bilder des Landlebens von PreußischLitauern im 18. Jahrhundert konstruierte Donelaitis auf zwei Achsen: Die unbestreitbare göttliche Macht an der Spitze der Vertikale war maßgeblich für die horizontal situierten Dinge des Lebens. Die Natur spielte dabei eine entscheidende Rolle als Mittlerin zwischen Gott und der Welt der Bauern und bildete so einen Berührungspunkt zwischen der Vertikalen und der Horizontalen. Als wunderbare Schöpfung Gottes war sie jedoch auf der Seite der Menschen, die sich an das Leben der Natur anpassen und aus dessen Erscheinungen eine vernünftige Lebensführung lernen mussten. Das ‚waagerechte‘ Leben in der entlegenen Provinz Preußens wurde von Donelaitis wiederum aufgrund verschiedener Dichotomien entwickelt. Dies betraf in erster Linie die gesellschaftliche Struktur mit ihrer Ordnung und ihren Unterordnungsmechanismen, in der die Gegensätze zwischen litauischen Bauern und fremden Kolonisten, zwischen Bauern und Herren, zwischen Land- und Stadtbewohnern, zwischen frommen und gottlosen Gemeindemitgliedern zum Ausdruck gebracht wurden. Der preußisch-litauische Dichter Kristijonas Donelaitis (1714–1780), der in der deutschen Kulturgeschichte bis zum 20. Jahrhundert vorwiegend als Christian Donalitius bekannt war,1 begründete mit seiner Hexameter-Dichtung Metai die litauische Nationalliteratur. Das in der Konvention der europäischen Natur- bzw. Jahreszeitendichtung verfasste Werk entwirft Bilder des Landlebens einfacher Bauern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im nordöstlichen Teil Preußens, in Klein- oder Preußisch-Litauen. Zweifelsohne besteht eine gewisse Referenzialität der Metai zu den ­literarischen Tendenzen der Frühaufklärung. Außer der Formreferenz, die aus der antiken Geor1 Vgl. Kuzborska, Alina: Eine doppelte Rezeption: Christian Donalitius versus Kristijonas Donelaitis. In: Stüben, Jens (Hg.): Ostpreußen – Westpreußen – Danzig. Eine literaturhistorische Landschaft. München 2007 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 30), S. 259–284.

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gik-Literatur stammte,2 hatten die Metai mehrere Bezüge zur zeitgenössischen Naturlyrik. Eine weitere Gemeinsamkeit betrifft die aufklärerische Didaxe, die für die Autoren der Frühaufklärung typisch war. Mit Albrecht von Haller3, James Thomson4 oder Barthold Heinrich Brockes5 sind die Landleben-Bilder von Donelaitis durch Aspekte verbunden, die im Folgenden näher vorgestellt werden sollen: eine Natur-GottDichotomie; das Diesseitserlebnis als Ausdruck des aufklärerischen Utilitarismus und der Realitätsbezogenheit; Zivilisations- bzw. Stadtkritik und – daraus folgend – das Lob des Landlebens. Das horizontal situierte Leben von Natur und Mensch wird als Schöpfung Gottes betrachtet, auf der anderen, vertikalen Ebene befindet sich Gott, der Allmächtige, der von der Horizontalen her gepriesen wird.

Natur-Gott-Dichotomie Als protestantischer Pfarrer der litauisch-deutschen Gemeinde deutet Donelaitis in seinem Lebenswerk die Dinge des Lebens aus der Position der christlichen Hierarchie als in der Macht Gottes stehend. Die alltäglichen – horizontalen – Angelegenheiten, die in den Metai dominieren, sind gleichwohl einer höheren, göttlichen Ordnung unterstellt. Der Gattungskonvention gemäß werden in der Dichtung der ‚litauischen Georgik‘ Naturbilder entworfen, die nach der Jahreszeitenordnung das Leben der Bauern bestimmen. In der christlichen Tradition von der Spätantike bis zur Frühaufklärung wird die Natur als zweite Offenbarung Gottes neben die Bibel gestellt. Sie enthält geheime Zeichen, in denen eine Botschaft für die Menschen verborgen ist. In dieser Tradition kann und soll die Natur – als ‚Schöpfung‘ betrachtet  – gelesen und entziffert werden. Die allgegenwärtige Metapher hierfür ist die vom ‚Buch der Natur‘ und dem ‚Buch der Welt‘. In diesem Sinne ist die Welt der Metai von Donelaitis eher einheitlich als dichotom: Die Natur- und Menschenwelt gehört zu der großen Schöpfung Gottes. Laut Rimvydas Šilbajoris „wird von Donelaitis die Transformation der Welt in die Hei2 Vgl. Dilytė, Dalia: Kristijonas Donelaitis ir antika [Kristijonas Donelaitis und die Antike]. Vilnius 2005; Kuzborska, Alina: Kristijono Donelaičio kūrybos europietiškosios ištakos [Europäische Quellen des Werkes von Kristijonas Donelaitis]. In: Pocytė, Silva (Hg.): Kristijono Donelaičio epochos kultūrinės inovacijos [Kulturelle Innovationen der Epoche von Kristijonas Donelaitis]. Klaipėda 2013 (Acta historica universitatis Klaipedensis 26), S. 22–31. 3 Vgl. Haller, Albrecht von: Die Alpen (1729). Bearbeitet von Harold T. Betteridge. Berlin 1959. 4 Vgl. Herrn B. H. Brockes, Com. Palat. Caes. und Raths-Herrn der Kayserl. freyen Reichs-Stadt Hamburg, aus dem Englischen übersetzte Jahres-Zeiten des Herrn Thomson. Zum Anhange des Irdischen Vergnügens in Gott. Hamburg 1745. 5 Vgl. Brockes, Barthold Heinrich: Fertigkeit zu lesen in dem Buche der Natur (1732). In: Killy, Walther (Hg.): Die deutsche Literatur vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Texte und Zeugnisse. Bd. 4: 18. Jahrhundert. Teilbd. 1. München 1983, S. 372; Ders.: Irdisches Vergnügen in Gott. Naturlyrik und Lehrdichtung (1721–1748). Hg. von Hans-Georg Kemper. Stuttgart 1999.

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ligkeit keineswegs abstrakt dargestellt, sie betäubt nicht ihre normale, organische Naturhaftigkeit“.6 Der Mensch gehorcht dem Gesetz des Zeitwechsels, für dessen Ordnung die Jahreszeiten sorgen, steht dabei jedoch in der Reihe aller Lebewesen. In der großen Frühlingsfeier – nicht zufällig heißt der erste Teil der Dichtung „Frühlingsfreuden“7 – wird Gott von allen Lebewesen gepriesen, insbesondere von den Vögeln, die für die Neubelebung der Natur stehen: „Nein, sie kamen zusammen zum Weinen nicht, sondern zur Freude, […] / Kletterten manche auch in den Zweigen und priesen den Schöpfer.“8 Die Naturpassagen von Donelaitis gehören zur idyllischen oder idealen Lebensauffassung. Dies geschieht aber nur dank dem göttlichen Willen: „Ach, Du ruhmwürdiger Gott, wie wunderbar ist Deine Fügung!“9 In diesem Satz kann man die Nachklänge der deutschen Naturlyrik erkennen, in erster Linie die Brockes. In der Anschauung der erwachenden Natur kommt bei Donelaitis die Bewunderung für eine schöne und vernünftige Weltordnung zum Ausdruck. Dies ist nichts anderes als das fleißige und andächtige Lesen ‚im großen Buche der Natur‘, wie es Brockes formuliert hat: „[…] Ist denn die Wissenschaft Im Buch der Creatur, den Schöpfer selbst zu finden, Und Seine Weisheit, Lieb’ und Allmacht zu ergründen, Nicht einst der Mühe wert, daß wir der Seele Kraft Offt auf so edlen Vorwurff lencken, Und, wann wir hören, sehn und schmecken, Des gedencken, Der uns für so viel Guts, und Seiner Wercke Pracht So wunderbarlich sinnlich macht?“10

Die Naturbeobachtung von Donelaitis erfolgt, genau wie bei den deutschen zeitgenössischen Bezugsautoren, mit mehreren Sinnen. Er lässt die Leser die einzelnen Szenen nicht nur sehen, sondern auch hören. Durch die Lautmalerei wird der Effekt des natürlichen Vogelgesanges erzeugt: 16 Šilbajoris, Rimvydas: Teksto plotmių santykiai Donelaičio Metuose [Die Beziehungen der TextEbenen in den Metai von Donelaitis]. In: Netekties ženklai. Lietuvių literatūra namuose ir svetur [Die Zeichen des Verlusts. Litauische Literatur daheim und in der Fremde]. Vilnius 1992, S. 20. [Übersetzung von A. K.] 17 Im vorliegenden Beitrag wird Donelaitis nach folgender Ausgabe zitiert: Donelaitis, Kristijonas: Die Jahreszeiten. Nachdichtung von Hermann Buddensieg. München 1966. In der deutschen Sprache liegen insgesamt fünf Übersetzungen vor. Vgl. Kuzborska, Alina: 200 Jahre Übersetzungsgeschichte der Metai von Kristijonas Donelaitis: von Rhesa bis Schneider. In: Annaberger Annalen über Litauen und deutsch-litauische Beziehungen 26 (2018), S. 207–230. 18 Donelaitis, Jahreszeiten (wie Anm. 7), S. 12. Im Original wird der „Schöpfer“ als „Gott“ (Dievas) bezeichnet. 19 Ebd., S. 14. 10 Brockes, Fertigkeit zu lesen (wie Anm. 5), S. 372.

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Alina Kuzborska „Alle Welt, ja, der Bauer, der Herr, der die Hände nur einstemmt, Kinder noch ohne Buxen, im Hemd nur, die hüstelnden Greise, Jeglicher, jeder von uns, er lobt deine trefflichen Lieder, Wenn du das göttliche Nachtigallwunder trillernd uns vorträgst. Orgel- und Zymbalklänge machst du gänzlich zuschanden. Geigen und Kanklės müssen von dir mit Beschämung verstummen, Wenn du hellockend beginnst mit deiner süßklingenden Stimme Und mit ‚Jurgis, schirr fix, schlag zu, hott hü!‘ ihn dann aufweckst.“11

In seiner Beobachtung der Natur geht Donelaitis wie die Physikotheologen auf die kleinsten Details ein und stellt das Leben der Natur als Prozess dar: Dies ist besonders sichtbar an seinem Verbalstil. Alle Tiere, groß und klein, wachen im Frühling auf, „krochen in Scharen heraus, die Sonne zu grüßen“: „Ratten, auch Iltisse kamen aus ihren kalten Verstecken. Krähen und Raben mitsam, nicht minder Elstern und Eulen, Mäuse mit ihren Jungen und Maulwürfe priesen die Wärme. Fliegen und Käfer und Mücken und ganze Haufen von Flöhen Kamen in Scharen schon überall, um uns wieder zu plagen, Sperrten bereits ihr Maul auf, um Herren wie Bauern zu stechen. Aber der Weisel vergaß nicht, jetzt sein Gesinde zu wecken Und zur Arbeit zu schicken, damit es etwas verdiene. […] Auch die Spinnen saßen in Ecken und webten Gespinste Oder sie liefen lautlos herum, ihre Jagdnetze strickend. Aber auch Bären und Wölfe freuten sich herumher springend, Schlichen schweigend zum Waldrand, um etwas mit Lust zu zerreißen. Ach welch Wunder ists doch […].“12

Die von den Tieren begrüßte Sonne ist bei Donelaitis aber keine Gottheit. Die Lebewesen beginnen vielmehr, nachdem sie ihre Lebensfunktionen aufgenommen haben, „Gott zu preisen“. Alle Wunder der Natur gehen von Gott aus: „Ach, Du ruhmwürdiger Gott, wie wunderbar ist Deine Fügung!“;13 einen schönen Nachtigallengesang nennt Donelaitis „das göttliche Nachtigallwunder“.14 Die Tierwelt hat bei ihm gewisse anthropomorphe Züge, auch die Menschen weisen manche Ähnlichkeiten mit ihren ‚kleineren Brüdern‘ auf, wie in diesem Nachtigall-Gleichnis: „Dann erscheinst du vor uns fast wie ein bäurischer Sperling. Du verschmähst das untadlich gefertigt gefällige Herrnkleid Ebenso wie den Schmuck des Turbans vornehmer Frauen; 11 12 13 14

Donelaitis, Jahreszeiten (wie Anm. 7), S. 14. Ebd., S. 11f. Ebd., S. 14. Ebd.

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Einer Bäuerin gleich, die, schlicht, nur zu Gast weilt, singst du. Ach, ein Gleiches ereignet sich unter den Menschen auch öfters, Wenn wir den wechselnden Weltlauf recht ihn verfolgend beachten.“15

Die Zusammenhänge zwischen der Natur und dem Menschen deutet Šilbajoris als einen die Welt interpretierenden Gedanken von Donelaitis, wobei alles Leben das allumfassende Sein Gottes bestätigt: „Diese sakrale Weltauffassung in den ‚Frühlingsfreuden‘ wird nicht nur aufgrund der einzelnen Vergleiche, sondern auch als ein einheitliches System von Metaphern entwickelt; hier werden vier Hauptelemente: Vogel, Raum, Musik und Mensch aufeinander bezogen.“16

Mit Gewissheit trennt Donelaitis die Bereiche des privaten, des dichterischen und des amtlichen Lebens. Seine Metai sind daher Ausdruck eines Dichters. Der im Text implizite Autor Donelaitis verkündet seinen Adressaten ein Weltbild der idealen Gottesordnung, sowohl im Bereich des Lebens der Natur als auch auf der sozialen Ebene. Diese Welt ist perfekt von Gott erdacht: Wenn es Nutztiere gibt, sollte es auch Raubtiere geben, ohne Bauern könnten auch die Herren nicht existieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Donelaitis die gesellschaftlichen Verhältnisse unkritisch darstellt. Seine Kritik begnügt sich aber hauptsächlich mit der Gegenüberstellung von Gegensätzen. Das Gute mäßigt das Böse, den hungernden Winter ersetzt der üppige Herbst, denn so ist es Gottes Wille. Das Hohe und das Niedrige existieren zwar, sie sind aber zu trennen, zu erkennen und nicht zuletzt: anzuerkennen. Im Text der Metai manifestiert sich dies im sogenannten niederen Stil, der bekanntlich für satirische und didaktische Zwecke schon seit dem Mittelalter gebraucht wurde. Die einfache, mit nur wenigen Stilmitteln ausgeschmückte Sprache, die Donelaitis in den Bauerndialogen verwendet, ahmt die Bauernsprache nach. Die Naturpassagen gleichen dem ‚mittleren Stil‘, obwohl hier nicht von der Liebe, sondern von der Natur die Rede ist. Den ‚hohen Stil‘ verwendet Donelaitis in seinem deutschen Gedicht Ihr Schatten schneller Zeit, das Adressaten aus der besser gestellten gesellschaftlichen Schicht ansprechen soll.17 Diese Änderung des Stilregisters in den Metai entfernt Donelaitis von den Bezugsautoren der deutschen Frühaufklärung aber nur bedingt, bleibt er doch in derselben Konstellation der aufgeklärten Weltordnung: Die Schöpfung Gottes ist nicht nur schön und perfekt, sondern auch vernünftig. In den Gleichnissen des Lebens von Mensch und Natur belehrt Donelaitis den Menschen, das höherstehende Lebewesen, sich an den Vö-

15 Ebd., S. 15. 16 Šilbajoris, Teksto plotmių santykiai (wie Anm. 6), S. 18. 17 Über die deutsche Dichtung von Donelaitis vgl. Kuzborska, Alina: Deutsche Gedichte von Kristijonas Donelaitis. In: Annaberger Annalen 13 (2005), S. 158–176, hier S. 164–168.

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geln ein Beispiel zu nehmen. Somit ist die Natur bei Donelaitis mit praktischen Attributen versehen und also auch lehrhaft: „,Als einst Gott‘, sagte er [der Storch – A.K.], diese Welt erschaffend gebaut hat, Hat er mit Odem beseelt viel tausend lebendige Wesen Und einem jeden die passende Nahrung bestimmt und Behausung; Hier erscheinen doch überall Wunder, wohin wir auch schauen. Eine der Scharen entsandte Gott, unser Schöpfer, ins Wasser, Anderem schenkte er Flügel, um in den Lüften zu schwimmen, Viel Lebendiges birgt sich unter den Bäumen in Wäldern, Und wie viele flattern auch fröhlich über den Feldern Oder krabbeln piepsend auf den Höfen der Menschen! Seht doch, ein jeglich Geschöpf sättigt Gottes gütige Sorge.“18

Gott allein ist Garant der Weltordnung, nicht nur im Leben der Natur, sondern auch des Menschen. Im Werk von Donelaitis wird das Wort ‚Gott‘ 103-mal gebraucht, genauso oft das Wort ‚Bauer‘, 101-mal das Wort ‚Herr‘: „Das Substantiv bestimmt das Thema. In den Metai herrscht also die Gegenüberstellung von Bauern und Herren, der Gott ist hier ein eigenartiger Schiedsrichter“, konstatiert Albinas Jovaišas.19 Bemerkenswert ist, dass Donelaitis – als protestantischer Pfarrer – ziemlich selten Bibelmotive in den Metai verwendet: Nur einmal kommt Kain vor, außerdem werden „die Worte der heiligen Propheten“ und einmal David erwähnt. Die Entstehung des Übels und die menschlichen Plagen führt er jedoch auf die Bibelgeschichte über die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies zurück. Der Erlöser Christus wird nur einmal erwähnt, und dies im Monolog des frommen Selmas, der im Ton eines Volkspredigers seine Landsleute vor der Verderbnis und allerlei Sünden zu warnen trachtet, indem er auf die sündenvolle Natur des Menschen aufmerksam macht: „So wars seit je auf der Welt, wies die Heilige Schrift uns verkündet: Immer schon war das liebe Häuflein der Redlichen kleiner Als jener törichte Haufen der bösen und gottlosen Leute. Ja, es wird auch noch künftig so bleiben: die Welt gibt sich närrisch, Blind bleibt sie, taub und wendet in selbstischem Sinn sich zum Satan. Alle Worte der heiligen Propheten bezeugens untrüglich, Christus auch selber, der Herr, sowie die Schriften der Jünger, Daß vor dem Weltuntergang ein solcher Wirrwarr entstünde, Daß sich höllische Greuel über die Erde verbreiten,

18 Donelaitis, Die Jahreszeiten (wie Anm. 7), S. 17. 19 Jovaišas, Albinas: Moralės kriterijai K. Donelaičio kūryboje [Moralische Kriterien im Werk von K. Donelaitis]. In: Gineitis, Leonas; Samulionis, Algis (Hg.): Darbai apie Kristijoną Donelaitį [Arbeiten über Kristijonas Donelaitis]. Vilnius 1993, S. 8–21, hier S. 16.

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Und das unter den Herren wie unter den dummdümmsten Bauern: Überall sehen wir Listen und Schurkereien jetzt umgehn.“20

Diese ‚Predigt‘ ist der einzige Beleg einer direkten ‚Kanzelrede‘ des Pfarrers Donelaitis, auch wenn diese Worte in den Mund einer literarischen Figur gelegt werden. Leonas Gineitis bezeichnet den Monolog von Selmas als pietistisch: „Wenn man bedenkt, von welchen Ideen die Umgebung geprägt war, lässt sich von einer synkretistischen Weltanschauung bei Donelaitis sprechen.“21 Vytautas Kavolis sieht in Donelaitis einen universalen Theologen der Aufklärungszeit.22 Es unterliegt keinem Zweifel, dass ein geistlicher Ton in seiner Dichtung zu vernehmen ist. Wenn die Natur hier auch keine sakrale Funktion hat, so ist sie doch vernünftig und manchmal den Menschen überlegen. Die anthropomorphischen Vögel sind besser organisiert als die Menschen, und sie preisen gleich wie die Menschen Gott, den Allmächtigen.

Diesseitserlebnis als Erscheinung des aufklärerischen Utilitarismus und der Realitätsbezogenheit Im 18. Jahrhundert konvergierten Vernunft- und Naturbegriff: Von der Physikotheologie der Frühaufklärung bis zum Pantheismus der Spätaufklärung war die Natur – als Ausdruck der göttlichen Vernunft – selbst vernünftig. Die Dichtung bekundete dabei grundsätzlich ein optimistisches Naturverhältnis.23 Bei Donelaitis ist die ­Natur im moralischen Sinne den Menschen überlegen. In „Frühlingsfreuden“ vergleicht Donelaitis die Essgewohnheiten der Vögel und die der Menschen. Die Tierwelt stellt sich dabei als besser organisiert dar, wozu auch der harte Kampf um das Dasein keinen Widerspruch bildet: „O du lieber Vogel, du isst dich nicht satt nach der Herrnart. […] Nimm nur dreist und verschon nicht, was um unsere Köpfe herumschwirrt. Iß dir zum Wohl und Genuß, wie du willst, den Käfer, den bunten! Iß die Maikäfer, Fliegen wie auch die seltsame Grille!“24

20 Donelaitis, Die Jahreszeiten (wie Anm. 7), S. 87. 21 Vgl. Gineitis, Leonas: Kristijono Donelaičio aplinka [Die Umgebung von Kristijonas Donelaitis]. Vilnius 1998, S. 68. 22 Vgl. Kavolis, Vytautas: Žmogus istorijoje [Der Mensch in der Geschichte]. Vilnius 1994, S. 409, 413. 23 Vgl. Riedel, Wolfgang: Natur/Landschaft. In: Ricklefs, Ulfert (Hg.): Das Fischer Lexikon Literatur. Bd. 3. Frankfurt/M. 1996, S. 1417–1433, hier S. 1429. 24 Donelaitis, Die Jahreszeiten (wie Anm. 7), S. 16.

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Den Menschen, der einem ständigen Kampf mit Hunger und Kälte ausgesetzt ist und gegen Missstände aufzubegehren pflegt, belehrt der allwissende Erzähler: „O du nichtiger Mensch! Du lerne hieraus dich zu begnügen, Wenn dirs zuweilen auch zustößt, dass du kärglich dich sättigst. Schau auf die Vögel!“25

Der protestantische Pfarrer Donelaitis kennt die Stellung des Menschen in der Welt: Er soll sich mit der herrschenden Natur- sowie Gesellschaftsordnung abfinden. Den armen Bauern bemitleidet Donelaitis zwar in der ganzen Dichtung, jedoch gibt er ihm keine Anregung zum Protest: „Dir, o Mensch, dir schenkte der liebe Gott sehr viel mehr noch, Und da murrst du noch, wenn du zuweilen manchmal auch hungerst Oder in kärglichen Zeiten dir deinen Brei kratzt aus Erbsen?“26

Das irdische Leben stellt Donelaitis trotz aller Widersprüchlichkeiten hauptsächlich als eine ideale Welt dar, weil sie einen göttlichen Plan realisiert. Die Bejahung der Diesseitigkeit, anders als in der barocken Literatur, die das irdische Sein verachtete und sich nach dem Jenseits sehnte, reiht Donelaitis in eine neue literarische Epoche ein. Die rationalistischen und moralischen Voraussetzungen der Frühaufklärung sind in den Metai deutlich sichtbar. Die vernünftige Natur ist für den Menschen lehrhaft; die gesellschaftlichen Verhältnisse gehen aus dem ‚gesellschaftlichen Vertrag‘ hervor. Die ganze Welt-Ordnung ist also von Gott bestimmt und beaufsichtigt. Das irdische Glück kann der Mensch nur infolge seiner moralischen Vervollkommnung erreichen, die Verbesserung seiner existenziellen Lage – durch tüchtige ­Arbeit. Die Vögel werden von Gott ernährt, ohne dass sie arbeiten müssen, denn „ein jeglich Geschöpf sättigt Gottes gütige Sorge“.27 Die preußisch-litauischen Bauern sollen ihre harte Fronarbeit leisten – nicht nur, um zu überleben, sondern auch, um den göttlichen Plan und den gesellschaftlichen Vertrag zu erfüllen: „Ohne Mühsal kann nämlich nicht einer hier leben auf Erden.“28 Über die Polarität des Irdischen und des Himmlischen in der Weltsicht von Donelaitis schreibt Šilbajoris wie folgt: „Gerade durch die Erde mit ihrem ganzen irdischen Wesen offenbart sich das göttliche Sein: Es gibt nichts Wirklicheres als Pflanze, Ton, Mist, also – nichts Wirklicheres als Gottes Gnade hier und jetzt, auf der Erde. […] Die Erde als Loblied auf den Himmel und die Erde als ein Blumenstrauß in der Hand: von diesem Gegensatz stammt die Ganzheit der Weltauffassung von Donelaitis.“29 25 26 27 28 29

Ebd. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd., S. 21. Šilbajoris, Teksto plotmių santykiai (wie Anm. 6), S. 20.

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Die lehrhafte Didaxe von Donelaitis bezieht sich vor allem auf die Prämissen des praktischen Lebens. Den Alltag eines preußisch-litauischen Bauern macht vor allem die Arbeit aus, die hier auch von Gott verordnet wurde: „Nun also, da wir die göttliche Hand schon hilfreich gewahren, Rühren wir uns allgemach, unsre Arbeiten rasch anzupacken, Sein wir nicht bang, wenn wir mal das Rauschen des Regens vernehmen, Oder wenn allerlei Unwetterstürme oftmals uns ängsten! Sputen wir uns, gehn wir dran, für alles, was nötig zu sorgen!“30

Dieser ermunternde Ansporn zur Arbeit, den der Dorfschulze Pričkus – eine durchaus positive Figur – an die Bauern richtet, zieht sich durch das gesamte Werk. Die Bedeutung der Arbeit ist für die Bauern zentral. Sie befriedigt die elementaren Bedürfnisse des Menschen, ist aber nicht nur nötig, sondern auch nützlich: „Gott hats nun mal nicht versprochen, uns ohne Mühe zu nähren, Denn immer faulenzend, schlafend sind wir für die Welt untauglich. Will unser hungriger Magen sich recht am Wohlschmack erlaben, Muß unser ganzer Leib zuerst einmal tüchtig sich rühren.“31

Dem ‚nutritiven‘ Element, das für die Befriedigung der existenziellen Bedürfnisse der Menschen bestimmend ist, schenkt Donelaitis in seiner Dichtung besondere Aufmerksamkeit. Werden in den Naturpassagen des Frühlings Parallelen zwischen Menschen und Vögeln gezogen, so kommt es bei den Arbeitsszenen zu Vergleichen zwischen Menschen und Ochsen, wobei das Thema der Ernährung wiederum apostrophiert wird: „Jeder Ochse verdient, wie du hörst, unter Mühen sein Futter, Und selbst dieses muß er noch oft in mageren Zeiten Flehentlich auch von dir erst erbitten, fast unter Tränen. O meine Lieben, auch wir erleben ja öfters dasselbe, Da wir, obgleich von den Lastern der Arbeit wir sattsam geplagt sind, Wegen der Not oft kaum eine trockene Krume bekauen Und mit unseren Ochsen das Wasser aus Pfützen nur schlürfen.“32

Die Bauern werden jedoch damit getröstet, dass nach den „mageren Zeiten“ auch „die fetten“ folgen: Auf den Wiesen „hüpfen umher die stattlichen Kälber“ – auch Lämmer und Ferkel – die „Hühner beginnen zu glucken“, „die Gänschen drängen heraus aus den Eiern“: „Ja, so mancherlei Fleisch und liebliche leckere Bissen / Bieten sich bald uns an zum schmackhaften Kochen und Braten.“33 Ein wahrer 30 31 32 33

Donelaitis, Die Jahreszeiten (wie Anm. 7), S. 30. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26f. Ebd., S. 28.

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Festschmaus findet in den Metai in der Hochzeitsszene der „Herbstfülle“ statt, als drei Kühe und zwei Ochsen geschlachtet werden. Weiter ist zu lesen: „[W]ieviele Schweine und Schafe, mochte der Metzger nicht zählen, / Doch von den Gänsen und Hühnern blieb kaum eines noch übrig.“34 In diesen Zeilen wird der Hang des Autors zur Übertreibung sichtbar: Die Hyperbel ist eine seiner beliebtesten rhetorischen Figuren. Die Essgewohnheiten unterscheiden die Bauern auch von ihren Herren: Wenn sich die preußisch-litauischen Bauern zu „fetten Zeiten“ an traditionellen Gerichten aus Fleisch und Gemüse laben und sich zu „mageren Zeiten“ mit Brot und vegetarischen Speisen begnügen, so werden die Herrenspeisen von Pričkus mit einem ausgesprochenen Ekel dargestellt. Er kriecht heimlich in die Herrenküche und beobachtet die Zubereitung der Speisen: „Einer der Garste zerlegte gerad einen kohlschwarzen Habicht, Und der andre zerriß mit bloßen Nägeln den Hasen, Kratzte aus dessen Innern die Nester lebendiger Würmer; Aber der Dritte, nachdem er zwei eklige Töpfe ergriffen, Klatschte in eine flache Schüssel greuliche Kröten, Denn diese Kröten die priesen unsere Herren begeistert.“35

Rimvydas Laužikas weist diesem ‚fremden‘ Essen in den Metai die Bedeutung einer kulturellen Abneigung zu: „In diesem protestantisch-pietistischen […] Kontext konnten die Austern (im Original Kröten) noch eine Schattierung des ‚Ekelhaften‘ erhalten. Sie waren doch ein damals bekanntes Aphrodisiakum, somit waren sie ekelhaft nicht nur wegen des Geschmacks, sondern auch aus moralischen Gründen.“36 Neben dem Essen gehört die Bekleidung zu den wichtigen Merkmalen der Bauernexistenz. Die Kleidung unterscheidet die Bauern von den Herren nicht nur äußerlich (arm versus reich), sondern dient auch als ethnisches Identifizierungsmerkmal. Die Litauer sollen nämlich ihre traditionellen Trachten tragen. Das Aufgeben dieser Tradition bedeutet zugleich Assimilation: Die neuen Moden seien gefährlich, warnt der konservative Donelaitis seine Landsleute. Die althergebrachte Bekleidung schütze zudem vor Kälte und erfülle somit, ähnlich wie das Essen, ein elementares Lebensbedürfnis. Besonders gelobt werden die tüchtigen Frauen, die die langen Winterabende am Spinnrad verbringen: „Ach, wenn doch alle Frauen mit gleicher Klugheit verführen! / Gäb es dann wohl, bedenk es, viel unbekleidete Arme?“37 34 Ebd., S. 65. 35 Ebd., S. 70. 36 Laužikas, Rimvydas: Maisto reikšmės Kristijono Donelaičio Metuose XVIII a. kultūros kontekste [Die Bedeutung des Essens in den Metai von Kristijonas Donelaitis im Kontext der Kultur des 18. Jahrhunderts]. In: Vaicekauskas, Mikas (Hg.): Kristijono Donelaičio reikšmės. Straipsnių rinkinys [Die (Be-)Deutung von Kristijonas Donelaitis. Sammelband]. Vilnius 2016, S. 443–460, hier S. 451. 37 Donelaitis, Die Jahreszeiten (wie Anm. 7), S. 29.

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Es ist offensichtlich, dass Donelaitis dem Menschenleben viel mehr Platz als der Natur widmet. Diese scheinbar dichotomen Lebensformen stehen bei ihm jedoch in Einklang mit der vernünftigen Gottesordnung. Donelaitis schreibt also eine preußisch-litauische ‚Georgik‘: Durch seine zahlreichen Belehrungen sowohl im moralischen als auch im praktischen Bereich des Lebens bekennt er sich zu den zeitgenössischen Tendenzen des Utilitarismus. Donelaitis tritt mit seiner Dichtung als Lehrer der preußisch-litauischen Bauern auf, indem er seinen Landsleuten beizubringen versucht, wie sie sich benehmen und was sie tragen sollen, um sich von den ‚Fremden‘ zu unterscheiden.

Zivilisations- bzw. Stadtkritik: Das Lob des Landlebens Die Schilderung des Landlebens bei Donelaitis unterscheidet sich wesentlich von den Schilderungen zeitgenössischer Naturlyriker wie Albrecht von Haller oder Ewald Christian von Kleist. Wenn Kleist von den „güldnen Kerkern der Städte“38 spricht und daraus zu fliehen versucht („wenn Boßheit und Stolz aus Schlössern und Städten mich treiben“39), übt er eine Zivilisationskritik im Geiste von Rousseau. Der poetische Zufluchtsort der beiden ist eine annähernd utopische Landschaft, auch wenn sie realitätsbezogen bleibt. Das Dorf bei Donelaitis dagegen ist durchaus realistisch, weil er dahin nicht zu fliehen braucht, sondern aus der Perspektive eines Bauern – und für den Bauern – dessen Bild zeichnet. Die Feindlichkeit von Donelaitis der Stadt gegenüber ist jedoch ganz klar. Neben der Stadt übt er auch Kritik an den Herren. Der antithetische Aspekt des gesellschaftlichen Diskurses der Metai wurzelt hauptsächlich in den Gegenüberstellungen: Dorf versus Stadt und Bauer versus Herr. Diese Welten stehen in einem engen Zusammenhang miteinander, denn die Herren repräsentieren oft die Stadtbewohner. In der idealen Weltordnung von Donelaitis wird diese Dichotomie jedoch durch die Idee von der „angeborenen Gleichheit“ des Menschengeschlechts gemildert. Ansätze sozialer Gerechtigkeit entnimmt Donelaitis dabei grundsätzlich der Bibel: Alle Menschen „kommen splitternackt zur Welt“: „So die größten der Herrn aber auch wir Armen in Bastschuhn, Gleichwie der Kaiser wie seine Gefolgschaft in Lumpen. […] Keiner der Herren noch ward in der Welt mit dem Degen geboren, Aber auch keiner der Bauern brachte gleich einen Pflug mit […] 38 Kleist, Ewald Christian von: Ihn foltert Schwermut, weil er lebt. Gedichte. Prosa. Stücke. Briefe. Hg. von Gerhard Wolf. Frankfurt/M. 1983, S. 11. 39 Ebd., S. 34.

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Alina Kuzborska Wohl, es gab schon Gott den passenden Platz einem jedem, Daß der eine dann wie ein gefürchteter Fürst seinen Kamm trägt Und der andere, watend in Schlammpfützen, nurmehr den Mist wühlt.“40

Das Problem der gesellschaftlichen Gleichheit wurde bereits zur Zeit der Frühaufklärung in akademischen Kreisen diskutiert. Zur Studienzeit von Donelaitis waren den aufgeklärten Königsbergern die Gedanken aus Christian Thomasius’ Grundlehren des Natur- und Völkerrechts (1709) über die Stellung des Menschen in der Gesellschaft wohl bekannt. Über die Notwendigkeit, im gesellschaftlichen Leben auch die Naturgesetze wirken zu lassen, schrieb Christian Wolff in Vernünfftige Gedancken von den Würckungen der Natur (1721). Die Anhänger der Ideen von Thomasius und Wolff an der Albertina waren der Philosophieprofessor und Rechtswissenschaftler Johann Gregorovius und Christian Fischer. Nach Angaben von Georg Pisanski wurde im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts an der Königsberger Universität über das Verhältnis von Naturrecht und Sittenlehre diskutiert.41 Die zivilisationskritischen Passagen der Metai beziehen sich in erster Linie auf die Stadt: Von hier stammen die schädlichen Moden und die verdorbenen Ideen. Höchstwahrscheinlich war Königsberg das literarische Vorbild bzw. das Gegenbild zum harmonischen Landleben. Es war eine Stadt, die Donelaitis gut kannte. Neben der geographischen Bezeichnung ,Litauen‘ (Lietuva) ist es die einzige Ortsbezeichnung, die er in den Metai mehrmals (8-mal) gebraucht. Diese Stadt spielt eine wichtige Rolle für das Sujet der Dichtung. Dabei fungiert der Schulze Pričkus als ein Mittler zwischen der Dorfgesellschaft und den Behörden, also zwischen dem Dorf und der Stadt. Er schaut hinter die Kulissen des städtischen Herrenlebens und ­berichtet seinen Landsleuten zum Beispiel über die merkwürdigen Essgewohnheiten. Charakteristisch ist, wie der gutmütige und getreue Pričkus im letzten Teil der Dichtung, in den „Wintersorgen“, stirbt. Nachdem er „nach Königsberg mit dem gedroschnen Getreide des Amtsrats“ gefahren war, fehlt nach dem Verkauf ein Schilling, worauf der Amtsrat ihn zu Tode prügeln lässt.42 Diese Episode veranschaulicht deutlich, dass sowohl die Herren als auch die Stadt für die patriarchalische Dorfgesellschaft der Preußisch-Litauer eine gewisse Gefahr darstellen. Königsberg erscheint ebenfalls in der Warnung des Pričkus, achtsam mit dem Feuer umzugehen, weil ein Brand viel Unglück verursachen könne.43 Die Gewalt des Feuers habe

40 Donelaitis, Die Jahreszeiten (wie Anm. 7), S. 76. 41 Vgl. Pisanski, Georg Christoph: Entwurf einer preuszischen Literärgeschichte in vier Büchern. Königsberg 1886, S. 562f. 42 Vgl. Donelaitis, Die Jahreszeiten (wie Anm.7), S. 106f. 43 Leonas Gineitis erwähnt, dass Donelaitis im Jahre 1757 kurz in Königsberg weilte. Er konnte noch die Spuren des Brandes der Stadt im Jahre 1756 erkennen. Zu weiteren Bränden in der Stadt kam es in den Jahren 1769 und 1775, also noch zur Lebenszeit von Donelaitis. Vgl. Gineitis, Kristijono Donelaičio aplinka (wie Anm. 21), S. 128.

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„[n]icht nur Hütte und Habe der Bauern in Asche verwandelt, Sondern die Wohnungen auch der Herren rasch prasselnd vernichtet. Habt ihrs gehört doch, wie das im herrlichen Königsberg zweimal Wegen des Übermuts, schwerer Sünden des Volks dort geschehen.“44

In dieser Passage sind zwei Dichotomien enthalten: Herr versus Bauer und Stadt versus Dorf. Eine so pointierte Didaxe veranschaulicht, dass die Plagen sowie die Ursachen des Unglücks in gleicher Weise die Herren wie auch die Bauern betreffen. Die natürliche Ordnung der Dinge ist den Menschen im Allgemeinen gegeben, nicht nur im sozialen, sondern auch im moralischen Sinne des Wortes. Diese Ansätze bezeugen, dass Donelaitis aus seinem Studium in Königsberg Lehren zog, mit denen er – als ausgebildeter Theologe und Dichter – seine Landsleute nicht nur erziehen, sondern auch trösten konnte. Obwohl sich Donelaitis’ deutsche Referenztexte in ihrer stilistischen und ästhetischen Gestaltung von seinen Metai unterscheiden, weisen sie doch auch viele Gemeinsamkeiten auf. In erster Linie sind dies die aufklärerische Auffassung von ­einem parallelen Leben des Menschen und der Natur, die göttliche Weltordnung, die alle Gegensätze zu mäßigen vermag, wie auch die zivilisationskritischen Tendenzen, die jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt wurden. Während ­Thomson, Haller und Kleist in ihren Werken eine poetische Flucht in die Natur, in das unverdorbene Landleben darstellen, so präsentiert Donelaitis die entgegengesetzte Richtung: Seine Kritik richtet sich – aus der Position des Bauern – an die Stadt, die eine Bedrohung und Sittenverderbnis mit sich bringt. Die Strukturreferenz der ­europäischen Landleben-Dichtungen ist offenkundig: Alle haben das Landleben zum Thema, alle stehen in der literarischen Konvention der abgewandelten Idylle, der Georgik, die – zeitgemäß – keine Schäfer, sondern richtige Bauern in die Naturbeschreibungen einführen. In den Metai stellt Donelaitis diverse Episoden aus dem Leben der preußischlitauischen Bauern dar. Es erscheinen hier Knechte, Mägde, Landarbeiter und Hirten, die ins Scharwerk gehen, ferner Scharwerker, die bei den Gutsbesitzern und Domänenverwaltern, die im Text als ‚Herren‘ bezeichnet werden, arbeiten müssen. Neben der sozialen Differenzierung werden hierbei auch die ethnischen Unterschiede der Dorfgemeinschaft hervorgehoben: Die Herren sind hauptsächlich Deutsche, die Scharwerker aber – Preußisch-Litauer. Donelaitis zeichnet ein realistisches Bild der preußisch-litauischen Dorfgesellschaft, die aus drei sozialen Schichten bestand: Den größten Teil machten die litauischen Scharwerker aus, zugleich standen sie auf der niedrigsten Stufe dieser Ordnung. Zu der mittleren Schicht gehörten mehr oder weniger selbstständige Bauern (die Kölmer), die in der Dichtung oft zu Wort kommen und größtenteils ‚redliche‘ und fromme Litauer 44 Donelaitis, Die Jahreszeiten (wie Anm. 7), S. 101.

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sind, wie der Schulze Pričkus oder Selmas. Die dritte, zugleich auch am besten situierte gesellschaftliche Gruppe in den Metai bilden die ‚Herren‘: Deutsche Beamte, insbesondere Amtsräte und Gerichtsherren. Die wichtigsten staatlichen Repräsentanten, die Amtsräte, werden in dieser Dichtung nicht immer positiv dargestellt. Damit wollte Donelaitis aber keine soziale Verallgemeinerung vornehmen. Der in den Metai amtierende (namenlose) Amtsrat ist zwar geizig („der Geiz dieses Amtrats kannte keinerlei Grenzen“)45 und brutal: Wegen fehlenden Kleingelds lässt er den Schulzen Pričkus totschlagen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Repräsentanten des preußischen Staates die Untertanen straflos zu Tode prügeln dürfen. In dieser Episode verwendet Donelaitis die von ihm besonders bevorzugte rhetorische Figur der Hyperbel. Obwohl nur ein Schilling für das verkaufte Getreide fehlt, lässt der geizige Amtsrat Pričkus und auch andere Bauern, denen er am Verlust die Schuld gibt, so heftig verprügeln, „[d]aß der Arme, nachdem kaum drei Tage verstrichen, dahinschied.“46 Selbst der Wachtmeister wird während des Wutanfalls des Amtsrats nicht verschont: „Aber den Wachtmeister auch, den schlug er aufs Ohr derart heftig, / Daß er gleichfalls fünf Tage lang krank im Bett liegen mußte“.47 In der dichotomen Einteilung der Gesellschaft in ‚Herren‘ und ‚Bauern‘ sieht Donelaitis eine ‚weltliche‘ Ungerechtigkeit. Die kritischen Worte den Herren gegenüber spricht dabei keiner der Bauern aus, sondern der auktoriale Erzähler: „Brüderchen, ach, das ist nun der Dank, die Gnade der Weltherrn! / Das also ist unser Lohn dafür, dass wir treulich den Dienst tun“.48 Der fromme Selmas erklärt dieses Geschehen vom Standpunkt der göttlichen Gerechtigkeit, der Weltordnung: „Nichts kann geschehen auf der Welt hier, ohne daß Gott es gefügt hat. Ohne ihn können die Herren dieser Erde niemals je herrschen, Ebenso können wir Bauern ohne ihn niemals in Not sein.“49

Für die Ahndung der ungerechten Taten gibt es auch eine höhere Instanz, die über der weltlichen Gerechtigkeit steht – das Gottesgericht: „Wart nur bis zu dem Tag, da der Weltenrichter sich zeigt dir, Und nachdem er die Herren wie auch uns zum Gericht vorgeladen, Jedem den Lohn, den er hier auf der Welt sich verdient, gerecht zuspricht.“50

45 46 47 48 49 50

Ebd., S. 106. Ebd., S. 107. Ebd., S. 108. Ebd. Ebd. Ebd.

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Da Donelaitis in den Metai die Gegensätze zu mäßigen pflegt, indem er negative Beispiele durch positive ergänzt, so gibt es neben den ‚schlechten‘ Herren auch die ‚guten‘. Den ‚guten‘ Herrn, den verstorbenen Amtsrat, beweinen die preußischlitauischen Bauern. Der selige Amtsrat wusste die Menschenwürde der einfachen Bauern zu schätzen, indem er sie niemals duzte, immer gut zu ihnen war und sie, wenn er sie loben wollte, in ihrer bäuerlichen litauischen Sprache ansprach. Die Erinnerung an den guten Herrn bleibt den Dorfbewohnern lebendig, sie gedenken seiner voller Nostalgie: „Ach, Herr Amtsrat, ach, warum bist du uns vorjahrs gestorben! / Ach, mit dir sind auch unsere Freuden alle gestorben!“51 Die moralische Polarität bezieht sich in den Metai aber nicht nur auf die Herren. Ebenso ‚gut‘ und ‚böse‘ sind auch die Bauern selbst. Seine Helden präsentiert Donelaitis nicht als individuelle Charaktere, sondern als Menschentypen. Die Figur des Dočys repräsentiert beispielsweise einen äußerst negativen, tadelswerten Menschen. Donelaitis’ charakteristische Übertreibung kommt in der Darstellung der Schäden, die Dočys anrichtet, folgendermaßen zum Ausdruck: „Alljahrs pflegt der Dočys, die Fülle des Herbstes erwartend, So die Welt zu erschrecken, wenn sein Getreide er ausdrischt, Ach, viele Behausungen hat er, so wütend, beschädigt, Ach, wie viel Wälder und Berge durcheinandergeworfen im Vorjahr!“52

Der freche und zudem faule Dočys wird von den Bauern wegen seiner dummen Taten und des ihnen zugefügten Schadens angeklagt. Im Zusammenhang mit seinem Prozess wird zweimal eine staatliche Einrichtung, das Gericht mit den Gerichtsherren in Königsberg, erwähnt. Der erste Streitfall wird von den Gerichtsherren bagatellisiert. Donelaitis sieht die Ursache eines solchen Verfahrens allerdings nicht in der Arbeitsweise der preußischen Behörden, sondern in der Verdorbenheit der Epoche: „Nun wissen wir ja, Gott sei uns gnädig, wie unsere Zeit jetzt / Alle vergossenen Tränen mißachtet, höhnisch nur grinsend.“53 Als Dočys das zweite Mal vor dem Königsberger Tribunal erscheint, wird trotz eines ordentlichen Verfahrens mit Zeugen kein Urteil gefällt. Der Knecht des Dočys, Durakas, hat das Hab und Gut der Nachbarn verbrannt, indem er mit der Flinte auf Krähen schoss. Dočys wird nun „in eisernen Ketten“ nach Königsberg gefahren.54 Der zweite Prozess des Unruhestifters erscheint ambivalent: Einerseits ist der zugefügte Schaden wirklich erschreckend, andererseits klingt in der ‚Verteidigungsrede‘ des Angeklagten eine Sozialkritik an der Einstellung und dem Verhal-

51 52 53 54

Ebd., S. 42. Ebd., S. 82. Ebd., S. 83. Ebd., S. 104.

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ten der Herren an. Dočys ließ die Krähen nämlich zum einen abschießen, weil er hungrig war, zum anderen war vom König selbst befohlen worden, die schädlichen Vögel auszurotten: „,Was geht es eigentlich euch an‘, erklärt er, ‚ihr gnädigen Richter, Daß ich, wenn mich mal Fleisch auch von Krähen zu braten gelüstet, Mir dann einmal ein paar fette Krähen zum Mittagsmahl schieße? Hat denn sie auszurotten nicht unser König geboten? […] Habt doch ihr Herren uns Bauern öfter schon derart gepiesackt, Daß wir künftighin Ratten und Mäuse zu fressen gezwungen‘.“55

Im Zusammenhang mit dem Gericht wird, auch an anderen Stellen, der preußische König als Staatsoberhaupt erwähnt. In der Tollmingkehmer Lebensperiode von Donelaitis regierte Friedrich der Große, der die Politik seines Vaters, Friedrich Wilhelm I., fortführte. Der König erscheint im Werk von Donelaitis ausschließlich als ein guter Verwalter des Landes, der sich um dessen wirtschaftliche Angelegenheiten kümmert. Er wird zwar auch im Zusammenhang mit Abgaben erwähnt, die von den Schulzen nach Königsberg gebracht werden sollen. Donelaitis zeigt dennoch seine echte, nicht vorgetäuschte Treue dem preußischen König gegenüber als dem Oberhaupt der weltlichen Macht: „Die Geschäfte des Königs und jeder gebotenen Arbeit / Soll ein jeder sich annehmen, wie es die Pflicht ist des Dieners“. Vom König hängt auch die materielle Existenz der Bauern ab: „Was aber wird dann aus uns, wenn wir nicht mehr fürs Tagewerk taugen / Und für den König nicht mehr, was nötig, zu schaffen vermöchten.“56 Eine besondere Gruppe, die in der Dichtung auftritt, wenn sie auch nur am Rande erwähnt wird, ist die Dorfintelligenz der Lehrer und Pfarrer. Sie kommen zwar nicht selbst zu Wort, aber die Bauern unterhalten sich über sie. So fordert Selmas seine Landsleute auf, ihre Kinder in die Schule zu schicken: „Wenn euch die Geistlichen mahnen, die Kinder zur Schule zu schicken, Wenn man den Schulmeistern manches Stück Geld in die Hand steckt, Ach, da hört man dann überall nur ein törichtes Murren.“57

Donelaitis, der selbst die Schulen in seiner Gemeinde beaufsichtigte, gibt hier zu verstehen, dass die Leute, die die Schule kritisierten, selbst weder lesen noch schreiben konnten: „Diese erdreisten sich, Schulmeister wie auch die Schulen zu tadeln.“58

55 56 57 58

Ebd. Ebd., S. 109. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87.

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Zu den öffentlichen Vertretern der Dorfgemeinschaft, die die oberste und die mittlere Bauernschicht bilden, gehören die Dorfschulzen, Förster, Forstwarte und Wachtmeister. Der Schulze Pričkus ist einer der wichtigsten Figuren der Metai. Er sorgt für die Kontakte zwischen den ‚Herren‘ und den ‚Bauern‘. Seine Amtspflicht besteht darin, die Scharwerker auf dem Feld zu beaufsichtigen, ihnen Ratschläge und Anordnungen zu erteilen. Der Wachtmeister führt die Befehle seines Vorgesetzten, des Amtsrats, aus und gehört zu den untersten Repräsentanten der staatlichen Macht. Als die größte gesellschaftliche Gruppe erscheinen aber die Scharwerker. Das Scharwerk, eine harte Fronarbeit auf Feldern und Wiesen, auch in Stall und Scheune, die von den Männern und Frauen zu jeder Jahreszeit geleistet wird, bestimmt die Lebensweise der Preußisch-Litauer. Es wird Mist gefahren und gesät, gemäht und gedroschen – bei Hitze und Kälte und bei kargem Essen. Pranas D. Girdžius schreibt in seinem Essay über die Lebensweise der Bauern bei Donelaitis: „Das Scharwerk war wie Elend, einheitlich und organisch. Aus dem Scharwerk entstand Poesie. Das Scharwerk war das Leben“.59 Donelaitis spricht ‚durch die Bauern‘ sie selbst an, indem er die Alltagssprache der Preußisch-Litauer verwendet. Diese poetische Staffage ist mit Michail Bachtins Theorie der Redevielfalt zu erklären. Der Dichter führt einen Dialog mit der ‚niedrigen‘ Bauernkultur in der Sprache, die von den Adressaten der Dichtung verstanden werden kann, und die mal grob, mal naiv, mal komisch und mal grotesk ist: „Einzig in den ‚niederen‘ poetischen – satirischen, komödienhaften u. a. – Gattungen hat die Redevielfalt einen gewissen Platz. Gleichwohl kann die Redevielfalt […] auch in die rein poetischen Gattungen eingeführt werden, vornehmlich in die Personenrede. […] Auch über das Fremde spricht der Dichter in seiner eigenen Sprache.“60

Die zahlreichen Übertreibungen, Hyperbeln, auch derbe Ausdrücke, die Ludwig Rhesa in seiner Erstausgabe der Metai oft ausließ,61 bezeugen das Bekenntnis von Donelaitis zur ‚Lachkultur des Volkes‘. Solche Schriftsteller waren auch Rabelais und Gogol, die für Bachtins Kategorie der ‚Lachkultur des Volkes‘ relevant sind: „Das ‚positive‘, ‚hohe‘ Lachen Gogol’s, das auf dem Boden der Lachkultur des Volkes gewachsen ist, wurde nicht verstanden […]. Dieses Lachen hat sich jedoch in der ‚Poetik Gogol’s‘, im Sprachaufbau selbst ganz und gar aufgedeckt. In diese Sprache

59 Girdžius, Pranas D.: Tos pačios motinos sūnūs. Trys graudulingi essai – Kristijonas. Antanėlis. Adomas [Die Söhne derselben Mutter. Drei klägliche Essays – Kristijonas. Antanėlis. Adomas]. Chicago 1981, S. 27. 60 Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Georg Grübel. Übersetzt von dems. u. Sabine Reese. Frankfurt/M. 1979, S. 154–300, hier S. 179. 61 Vgl. Das Jahr in vier Gesängen, ein ländliches Epos aus dem Litthauischen des Christian Donaleitis, genannt Donalitius, in gleichem Versmaaß ins Deutsche übertragen von L[udwig] J[edimin] Rhesa. Königsberg 1818.

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Alina Kuzborska findet das nichtliterarische sprachliche Leben des Volkes (seiner nichtliterarischen Schichten) freien Eingang.“62

Eine solche ‚außerliterarische Intertextualität‘ der Volkssprache ist auch im Werk von Donelaitis zu sehen. Er führt in die Metai den realistischen Kontext seiner Umgebung ein, wodurch er die literarische Konvention der Zeit aktualisiert und in einem gewissen Sinne auch modernisiert. Die satirischen Elemente, die nur in den scherzhaften Dichtungen vorkommen, verwendet er in einem Werk, das nach den antiken Vorbildern in Hexameterform geschrieben wurde. Dabei lacht er über die Herren in der Maske des einfachen Bauern. Den derben Humor der ‚Lachkultur des preußisch-litauischen Volkes‘ illustrieren am besten die Beschreibungen der Essgewohnheiten der Herren, die zum Beispiel der Knecht Paikžentis gibt: „Lieber, denke nur nicht, dass nur unsre halbwüchsigen Herren Auf den Gastmählern toll, wie wild mit den Jungfrauen tanzen, Dann, ganz blindlings, knallvoll, den Bauern Schande nur antun; Nein, viele Bauern selbst schämen sich auch nicht, ihnen zu gleichen. Denn sie meinen, stets ehrenwert sei, was die Herren verehren, Daß auch stets klug sei, was diese gedankenlos plappern so schwätzen. Herrentrottel gibt’s viele, die täglich, die Arme in Ruhe, Kaviar fressen und allerlei ekle fremdländische Frösche, Wenn sie sich satt gefressen, von fremden Weinen besoffen, Dann bemogeln sogleich sie einander mit Kartenspielkniffen […].“63

Das Lachen von Donelaitis hat die Funktion, die Bauern zu ‚ergötzen‘ und auch im gewissen (therapeutischen) Sinne für die soziale Ungerechtigkeit zu ‚entschädigen‘. Die Identifikation des Autors mit seinen Landsleuten ist ganz offensichtlich: „Ach, wir Litauer, arme Tröpfe, auf Bastschuhen gehend, / Können wohl niemals den Herren noch ihren Dienern je gleichen“.64 Es unterliegt keinem Zweifel, dass Donelaitis die preußisch-litauischen Bauern bemitleidete; er fühlte sich tief mit ihnen verbunden. Er gab jedoch keine Rezepte, wie man etwas hätte ändern können, weil die gesellschaftlichen Rollen – seiner Auffassung nach – nicht von den Menschen, sondern von Gott bestimmt wurden. So konnte er nur konstatieren: „Ach, wo blieben die Herren, wenns keine Bauern mehr gäbe, / Wenn solch ein armer ihnen mit Mist nicht immerfort hülfe.“65 Donelaitis überschritt mit seiner literarischen Leistung zweifellos die regionalen Grenzen Preußisch-Litauens. Durch seine Realitätsbezogenheit und den lehrhaften Ton sprach der Autor seine Landsleute an. Aus diesem Grund wurzelt sein Werk 62 Bachtin, Michail M.: Rabelais und Gogol. Die Wortkunst und die Lachkultur des Volkes. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes (wie Anm. 59), S. 338–348, hier S. 344. 63 Donelaitis, Die Jahreszeiten (wie Anm. 7), S. 50f. 64 Ebd., S. 36. 65 Ebd., S. 44.

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dennoch stark im Kontext des (ost)preußischen Raumes. Preußisch-Litauen schilderte Donelaitis als eine heterogene Region, die von vielen Nationalitäten bewohnt wurde. Mit einer besonderen Aufmerksamkeit thematisierte er in seinen Metai die litauisch-deutsche Nachbarschaft. Sein Werk ist deutlich ‚national‘ gefärbt. In seiner Dichtung erscheinen die Deutschen als Fremde, und die Trennlinie zwischen Litauern und den ‚Fremden‘ verläuft auf der ethnischen Ebene (Sprache, Sitten und Bräuche). Andererseits gibt es aber auch viele Gemeinsamkeiten mit den Deutschen, zum Beispiel die Konfession und die politische Zugehörigkeit: Kritik an der preußisch-königlichen Macht kommt für Donelaitis nicht in Frage, da der König seinem Weltbild nach die von Gott eingesetzte Autorität ist und demnach zur unverrückbaren Weltordnung gehört. Folgerichtig stellt Donelaitis’ Werk ein Bild des Nebeneinanders von Litauern und ‚Fremden‘ in den Mittelpunkt. Die weltliche Horizontale mit der vorbestimmten Machthierarchie nimmt Donelaitis als Pfarrer, also formell gesehen als preußischer Kirchenbeamter, mit absoluter Hingabe entgegen. Jürgen Joachimsthaler hat die gesellschaftlichen Zustände der multiethnischen Gesellschaft, in denen Donelaitis sich mit seinen Metai bewegt, pointiert dargestellt: „Als Gebildeter bewegt er sich in übernationalen Kommunikationsräumen, ‚seine‘ Schäfchen sind ethisch (und nicht ethnisch!) auf die in diesen Kommunikationsräumen herrschenden Wertvorstellungen hin zu formendes menschliches Material – gleichgültig, welche Sprache sie sprechen. ‚Seine‘ Litauer, ‚seine‘ Lietuvininkai sind ‚Volk‘, eine im Geist der Zeit der hohen und späten Aufklärung halb sentimental verklärte, halb ‚vernünftig‘ zu belehrende Ansammlung ‚natürlich‘ unverbildeter Menschen (die er zugleich vor verderblichen Einflüssen warnt, die die Zuwanderer mit in die Religion brachten).“66

Die Weltsicht von Donelaitis ist aber keine klaglose Fügsamkeit in die vorgegebene Ordnung, eher eine vernünftige Erkenntnis der Dinge des Lebens, die Vladimir Gilmanov in Bezug auf die Metai als „Dies-Sein-Therapie“ bezeichnet hat.67 Das von Gott gesteuerte Leben von Natur und Mensch ist demnach vernünftig und gerecht. Für Brüche in dieser Weltordnung tragen allein die Menschen Schuld, deren sündhafte Natur imstande ist, das gesellschaftliche Gleichgewicht zu stören. Die aufklärerische Didaxe von Donelaitis, die er an seine Landsleute richtet, ist ein Versuch, das Gute und Vernünftige als das Göttliche zu präsentieren. 66 Joachimsthaler, Jürgen: Text-Ränder. Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem in der deutschen Literatur. Bd. 2: (Post-)koloniale Textur. Heidelberg 2011 (Probleme der Dichtung 46/2), S. 14f. 67 Gilmanov, Vladimir: Kristijonas Donelaitis ir priešnuodis prieš apokalipsę: Apie išgyvenimo hermeneutiką „Nedorybės paslapties“ epochoje [Kristijonas Donelaitis und das Gegengift gegen die Apokalypse: Über Überlebens-Hermeneutik in der Zeit des „Geheimnisses der Tugendlosigkeit“]. In: Vaicekauskas, Mikas (Hg.): Kristijono Donelaičio reikšmės. Straipsnių rinkinys [Die (Be-)Deutung von Kristijonas Donelaitis. Sammelband]. Vilnius 2016, S. 506–524, hier S. 512.

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Riga um 1900 als Spannungsfeld zwischen verschiedenen Kulturen in den Schriften von Augusts Deglavs und Jānis Poruks Am Ende des 19. Jahrhunderts besaß Riga eine große Anziehungskraft. Es war eine der wichtigsten Handels- und Industriemetropolen des Russischen Zarenreichs sowie eine Stadt mit rasch wachsender Bevölkerung. Die Einwohnerzahl, die im Jahr 1800 27.894 Menschen umfasst hatte, war im Jahr 1867 auf 102.590 gestiegen, und diese Entwicklung sollte sich am Ende des 19. und zu Anfang des 20. ­Jahrhunderts noch einmal beschleunigen. Im Jahr 1913 hatte die Zahl der Einwohner schon die Marke von einer halben Million überschritten.1 Diese Entwicklung wurde allerdings nicht durch höhere Geburtenzahlen, sondern durch eine wachsende Zuwanderung bestimmt; nur ein Drittel der gesamten Bevölkerung Rigas im Jahr 1913 war in Riga geboren. Die Zuwanderer, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Leben der Stadt besonders veränderten, waren vor allem lettischer und ­russischer, in geringerem Ausmaß auch litauischer und polnischer Nationalität. Die Zahl der deutschen Bevölkerung änderte sich demgegenüber nicht so erheblich, denn zu dieser Zeit hielt sich die Migration aus Deutschland in Grenzen. Ein Resultat dieser Zuwanderung war eine zunehmende Plurikulturalität der Stadt, aber auch eine gewisse Spannung, die zwischen den verschiedenen Nationalitäten und gesellschaftlichen Schichten bestand. Während in den 1860er Jahren die Deutschen noch 42,9 Prozent der Bevölkerung ausgemacht hatten (neben 25,1 Prozent Russen, 23,6 Prozent Letten und 5,1 Prozent Juden), bildete im Jahr 1913 die lettische Bevölkerung mit 39,6 Prozent die relative Majorität. Dazu kamen etwa 21,2 Prozent Russen, deren Präsenz besonders durch die wachsenden politischen Ambitionen Russlands bestimmt war, sowie 16,7 Prozent Deutsche, die traditionell die dominierende Volksgruppe in Riga darstellten. Diese Entwicklung wurde vom

1 Die genauen Zahlen variieren. Vgl. 517.264 Einwohner in Plakans, Andrejs: Iedzīvotāji [Die Einwohner]. In: Latvija 19. gadsimtā. Vēstures apceres [Lettland im 19. Jahrhundert. Historische Betrachtungen]. Riga 2000, S. 47–71, hier S. 62 gegenüber 507.976 Einwohnern bei Oberländer, Erwin: Rigas Aufstieg zur multinationalen Wirtschaftsmetropole. In: Ders.; Wohlfahrt, Kristine (Hg.): Riga: Porträt einer Vielvölkerstadt am Rande des Zarenreiches, 1857–1914. Paderborn 2004, S. 11– 30, hier S. 28.

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Zusammenstoß verschiedener Interessen begleitet und bedeutete auch ständige Positionswechsel in der politischen und wirtschaftlichen Verortung. Es entstand ein komplexes, wechselhaftes, aber auch faszinierendes gesellschaftliches Klima, das die Tendenzen des modernen Lebens vielfältig wiederspiegelte und die Stadt zu einem Experimentierfeld der Moderne machte. In diesem Aufsatz wird das Schaffen zweier lettischer Autoren, Augusts ­Deglavs und Jānis Poruks, näher betrachtet, die ganz unterschiedliche Vorstellungen vom ästhetischen Wert der Literatur hatten und von denen doch jeder auf seine Weise die Entwicklung der Gesellschaft, Literatur und Kultur der Jahrhundertwende ­geprägt hat. Das Werk der beiden Autoren, die unterschiedlicher kaum sein könnten, beschreibt die sozialen Milieus wie auch die kulturellen Tendenzen der Großstadt der damaligen Ostseeprovinz des Russischen Zarenreiches am Ende des 19. Jahrhunderts. Die literarische Szene der Jahrhundertwende wird zum einen durch politische und ideologische Differenzen bestimmt. Man sieht klare Unterschiede zwischen dem Konservatismus der deutschen Oberschicht, dem Liberalismus des Bürgertums und der Bauernschaft sowie dem Marxismus von Teilen der Arbeiterschaft. Die sozialen Aspekte der Literatur werden durch verschiedene Interpretationen der Milieus und der patriarchalen Gesellschaft sowie von neuen Tendenzen in der Darstellung der Geschlechter bestimmt. Von Bedeutung sind auch wichtige Unterschiede zwischen verschiedenen nationalen und sozialen Gruppen im Bereich des kulturellen Gedächtnisses. Diese Entwicklung wird von Prozessen des mentalen Kartographierens begleitet, die eine Verortung der zeitgenössischen lettischen Gesellschaft zum Ziel haben. Dadurch werden auch die wichtigsten Denkmuster der Literatur definiert, die verschiedene Schreibweisen bevorzugen. Besonders relevant für diesen Aufsatz sind das retrospektive und das individuelle Denkmuster, die im Kontext des literarischen Schaffens von Augusts Deglavs und Jānis Poruks näher betrachtet werden sollen. Ein wesentlicher Teil des mentalen Kartographierens ist durch wechselnde räumliche Vorstellungen bestimmt. Die wichtigsten Raummodelle, denen man in der lettischen Literatur der Jahrhundertwende begegnet, sind nach wie vor die Schilderung des ländlichen Milieus sowie die Darstellung der Migration in die Städte der baltischen Provinzen Russlands. Ein neuer Trend wird durch die kosmopolitische Weltanschauung bestimmt, die sich kontinuierlich zu einem wichtigen Bestandteil des modernen Lebens entwickelt. Die literarischen Werke von Augusts Deglavs und Jānis Poruks führen vor Augen, wie unterschiedlich die Eindrücke einer modernen Stadt wahrgenommen werden können. Wo Deglavs vor allem die sozialen Prozesse beschreibt und dabei auch unmissverständlich nostalgisch frühere ländliche Lebensumstände schildert, sind die Protagonisten von Poruks nicht nur im Prozess einer Erfindung des eigenen Selbst im zeitgenössischen städtischen Umfeld befangen; sie weisen auch deutliche Einflüsse eines veränderten Lebensstils auf.

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Soziale Mobilität und gesellschaftlicher Wandel Eine bedeutende Rolle bei den Veränderungen, die die Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte, spielte der soziale Aufstieg der lettischen Bevölkerung. Der Historiker Andrejs Plakans hat darauf hingewiesen, dass die Aufhebung der Leibeigenschaft, die ihre Grundlage in den Gesetzen von 1817 bzw. 1819 hatte, Freiräume für die Mobilität der Bauern schuf, auch wenn der Verkehr über die Grenzen des entsprechenden Gouvernements nach wie vor untersagt blieb.2 Eine wichtige Änderung in diesem Sinne war 1863 die Übertragung des russischen Gesetzes von 1860 auf die baltischen Provinzen, das den Bauern ermöglichte, Eigentum zu erwerben.3 In den folgenden Jahrzehnten wurde die soziale Mobilität zum wichtigsten Zeichen des wachsenden Selbstbewusstseins der lettischen Bevölkerung. Der Historiker Gints Apals hat gezeigt, dass die entsprechende Entwicklung nur durch einen wesentlichen sozialen Aufstieg ermöglicht wurde, in dessen Folge auch eine neue Elite entstand.4 Es war diese Elite, die dann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch für die Verbreitung der Ideen der nationalen Emanzipation sorgte. Trotzdem blieb der soziale Aufstieg oft mit einem Wechsel der Identität und einem Prozess der Germanisierung verbunden. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Entwicklung der städtischen und ständischen Gesellschaft in Riga sind gut durch die Erforschung der Geschichte des Rigaer Letten Vereins dokumentiert.5 Das Phänomen der Mobilität wurde nicht mehr so kritisch wie früher wahrgenommen. Vorher oft als ein Zeugnis der Kriminalität empfunden,6 wurde die Mobilität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem als eine Möglichkeit der Bildung oder auch sozialer Entwicklung betrachtet. Da die Verbreitung der nationalen Ideen am Anfang noch ganz rudimentär und die Zahl der Letten, für die eine höhere Ausbildung überhaupt möglich war, eher gering blieb, wurde die lettische Nationalbewegung wesentlich durch den wirtschaftlichen Sektor bestimmt.7

2 Vgl. Plakans, Iedzīvotāji (wie Anm. 1), S. 59. 3 Vgl. Priedīte, Aija: Kāpēc Pēterim Krauklītim bija jādodas uz Rīgu laimi meklēt? [Warum musste Pēteris Krauklītis in Riga sein Glück suchen?]. In: Cimdiņa, Ausma (Hg.): Rīgas teksts. Augusta Deglava romānam Rīga 100 [Der Riga’sche Text. 100 Jahre des Romans Riga von Augusts Deglavs]. Riga 2013, S. 158–166, hier S. 158f. 4 Vgl. Apals, Gints: Latviešu nacionālā kustība [Die lettische Nationalbewegung]. In: Latvija (wie Anm. 1), S. 423–473, hier S. 425. 5 Vgl. Wohlfahrt, Kristine: Der Rigaer Letten Verein und die lettische Nationalbewegung von 1868 bis 1905. Marburg 2006. 6 Vgl. Priedīte, Kāpēc (wie Anm. 3), S. 159. 7 Vgl. Lasmane, Skaidrīte: Ideju vēsture [Die Geschichte der Ideen]. In: Latvija (wie Anm. 1), S. 398– 422, hier S. 404.

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Ein substantieller Bestandteil im Prozess der sozialen Etablierung wurde die Klärung des Verhältnisses zur dominierenden deutschen Oberschicht und zum Bürgertum. Die Ideen, die die ökonomische Entwicklung der lettischen Gesellschaft beeinflussten, stammten, wie es schon seit dem 18. Jahrhundert der Fall war, zum größten Teil aus Westeuropa und aufgrund der historischen Beziehungen vor allem aus Deutschland. Die Stimme der lettischen Nationalbewegung war somit eine westliche Stimme.8 Das hatte zur Folge, dass die Hegemonie der Deutschen zunächst mit denselben ideologischen Konzepten herausgefordert wurde. Diese Situation änderte sich teilweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die neue Bewegung von Jung-Letten, die auch in der russischen Hauptstadt St. Peterburg aktiv wurde und dort die erste nationale Zeitschrift Pēterburgas Avīzes (St. Petersburger Zeitung) initiierte, versuchte Einfluss auf die politischen Strategien Russlands in einer solchen Weise zu nehmen, dass die Position der deutschen Oberschicht in den baltischen Provinzen geschwächt wurde. Die lettische Nationalbewegung versuchte teilweise sogar, slawophile Ideen zu ihren eigenen Gunsten zu nutzen. Doch die Situation wurde in den späten 1880er Jahren durch die Politik der Russifizierung kompliziert, was wiederum eine Annäherung mit den in den baltischen Provinzen lebenden Deutschen zur Folge hatte. Daraus entstand eine gewisse Sentimentalität gegenüber vergangenen Zeiten, die man auch in einigen literarischen Beispielen gut erkennen kann. Die Beziehungen zwischen den Deutschen und anderen Nationalitäten blieben zwar kompliziert und von stereotypen Vorurteilen stark beeinflusst, aber die Gefahr der Russifizierung verband die Letten mit den Deutschen. Es wurde von der lettischen Seite trotz der vorliegenden Konflikte auch anerkannt, dass der Prozess der Bildung sowie das seit Jahrhunderten andauernde Zusammenleben in einer Gesellschaft die Sitten der beiden Nationalitäten trotz der gesellschaftlichen Klassenunterschiede einander nähergebracht hatten. Die Geschichte des aufstrebenden lettischen Bürgertums besonders in Riga wird im 19. Jahrhundert durch Beziehungen bestimmt, die sowohl Fortschritte als auch Probleme widerspiegeln. Die Zahl der Letten, die es geschafft hatten, sich im oberen Bereich der Gesellschaft der Stadt zu etablieren, war am Ende des 19. Jahrhunderts noch relativ gering. Die meisten der hinzugekommenen Rigaer Letten waren in der Industrie beschäftigt und im Laufe der industriellen Entwicklungsprozesse und technischen Fortschritte war die soziale Schicht der Arbeiterschaft deutlich gewachsen. Die jungen lettischen Intellektuellen beobachteten diese Entwicklungen ebenfalls und versuchten insbesondere in den 1890er Jahren, die Arbeiter in den Prozess der sozialen Mobilisierung einzubeziehen.9 Die Popularität der marxistischen Ideen in den baltischen Provinzen ist auch durch den Umstand zu erklären, dass der Marxismus 8 Vgl. Jurevičs, Pauls: Pretstatu pasaule [Die Welt der Gegensätze]. New York 1973, S. 167. 9 Vgl. Lasmane, Ideju (wie Anm. 7), S. 417.

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eine wenigstens scheinbare Option für schnelle Änderungen in der Gesellschaft und damit eine Alternative zur sozialen Ungleichheit bot. Die wichtigsten Wortführer des marxistischen Denkens, die sich um die Zeitung Dienas Lapa (Das Tageblatt) in Riga sammelten, waren zumeist Repräsentanten einer jungen Generation, die gut ausgebildet war und eine moderne Weltanschauung verkörperte. Die ältere Generation der lettischen Nationalen war im Gegensatz dazu eher konservativ geworden und nicht mehr auf der Höhe der intellektuellen Tendenzen, die im Westen Europas ihren Lauf nahmen.10 Repräsentationen der sozialen und kulturellen Umstände dieses gesellschaftlichen Wandels finden sich in der literarischen Tätigkeit zweier wichtiger lettischer Autoren der Jahrhundertwende.

Riga in den Romanen von Augusts Deglavs Der Schriftsteller Augusts Deglavs (1862–1922) war ein kritischer Beobachter der genannten Prozesse, dessen Werke eine gewisse Sentimentalität gegenüber den traditionellen Sitten und ländlichen Lebensmustern aufweisen, was die retrospektive Tendenz seines Schaffens unterstreicht. Sein Kollege Andrievs Niedra hielt fest, dass die historisierende Orientierung Deglavs vor allem an einer Schilderung von gesellschaftlichen Typen bemerkbar sei, die ein vereinfachendes Bild der geschichtlichen Ereignisse zur Folge habe.11 Deglavs schildert das moderne Leben Rigas als Zeitgenosse wie auch retrospektiv in bewundernswerter Breite, wobei in allen seinen Werken eine ähnliche Vorgehensweise zu beobachten ist. 1890 verfasste Deglavs im Auftrag des Rigaer Letten Vereins die Abhandlung Latviešu attīstības solis no 1848. līdz 1875. gadam (Der lettische Entwicklungsschritt von 1848 bis 1875), die 1893 erschien. In seiner Schilderung des sozialen Aufstiegs der Letten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der besonders in Verbindung mit den Aktivitäten des genannten Vereins betrachtet wird, sieht er die Konfrontation zwischen den Letten und den Deutschen als eine wichtige Voraussetzung für die zunehmende soziale Mobilität. Die Abhandlung hebt zum Beispiel die sich in der Mitte der Stadt befindende Kathedrale als ein Beispiel fremder Bauart hervor, die kaum den Interessen der lettischen Nation entspricht und als ein Fremdkörper im lettischen Riga erscheint.12 Deglavs stellt die Letten als eine aufstrebende Nation dar, die bereit ist, die Organisation des städtischen Lebens selbst in die Hand zu 10 Vgl. Apals, Latviešu (wie Anm. 4), S. 469. 11 Vgl. Niedra, Andrievs: Jaunā pasaule. Augusta Deglava romāns trijās daļās [Die Neue Welt. Der Roman von Augusts Deglavs in drei Teilen]. In: Ders.: Nemiera ceļi [Die Wege der Aufregung]. Bd. 3. Riga 1931, S. 117–122, hier S. 120. 12 Vgl. Deglavs, Augusts: Latviešu attīstības solis no 1848. līdz 1875. gadam [Der lettische Entwicklungsschritt von 1848 bis 1875]. Riga 1893, S. 4.

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nehmen. Dabei werden die realen Bedingungen in der Stadtgesellschaft Rigas, die durch soziale, ethnische und kulturelle Vielfalt gekennzeichnet ist, stark vereinfacht. Die viel tiefer in der geschilderten Gesellschaft verwurzelten Konflikte versteht Deglavs dagegen in seinen literarischen Werken zu zeigen, die auf zeitgenössischen Beobachtungen basieren. Ein besonders wichtiger Text ist in diesem Zusammenhang der Roman Zeltenīte (Das Mädchen, 1896). Wichtig für die Beurteilung dieses Textes ist die Tatsache, dass Deglavs hier der Poetik des zeitgenössischen Naturalismus folgt. Seine Schilderung des Arbeitermilieus ist entsprechend voll von bitterer Wahrheit, Blut und alltäglichem Gestank.13 Zeltenīte ist ein sozialer Roman, wie er auch in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende gut bekannt war. Der Literaturwissenschaftler Günter Helmes ­schreibt, dass „sowohl die Produktion als auch die akademische und nichtakademische Rezeption von ‚sozialen‘ Romanen in dieser Epoche dominierte“14, bevor das Interesse an ihnen in Leserschaft und Forschung wieder stark zurückging. Die besondere Anziehungskraft des sozialen Romans bestand vermutlich gerade in der fast photographisch genauen Schilderung der Realität. Auch die Szenen vom Leben der Arbeiter, denen man im Roman von Deglavs begegnet, sind Abbildungen von solcher Art. Der Schriftsteller hatte gute Kenntnisse dieses Milieus, weil er selber nach seiner Ankunft in Riga einige Jahre als Arbeiter – vor allem im Bereich der Holzbearbeitung – tätig gewesen war.15 Viele seiner Texte beinhalten eine detaillierte Beschreibung der entsprechenden Arbeitsprozesse.16 Im Roman Zeltenīte widmet Deglavs dem täglichen Leben der Arbeiter besondere Aufmerksamkeit. Er beschreibt die Lebensbedingungen in einem der Vororte Rigas, wo viele Familien auf engstem Raum ihre sehr begrenzte freie Zeit verbringen. Die schweren Lebensverhältnisse führen zu Exzessen während der seltenen Feste, denen die Rückkehr in den Alltag folgt. Der Historiker Jānis Bērziņš hat hervorgehoben, dass die Arbeiter besonderen Wert darauf gelegt haben, sich bei den Festlichkeiten so zu verhalten, als ob sie Teil einer besseren Gesellschaftsschicht wären, obwohl dies nur eine kurzfristige Befreiung bedeutete.17 Das Erwachen danach wurde zu13 Vgl. Klaustiņš, Roberts: Augusts Deglavs. In: Bērziņš, Ludis: Latviešu literātūras vēsture [Lettische Literaturgeschichte]. Bd. 3. Riga 1935, S. 196–212, hier S. 200. 14 Helmes, Günter: Der ‚soziale Roman‘ des Naturalismus – Conrad Alberti und John Henry Mackay. In: Mix, York-Gothart (Hg.): Naturalismus. Fin de siècle. Expressionismus. 1890–1918. München 2000 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 104–115, hier S. 104. 15 Vgl. Zeiferts, Teodors: Latviešu rakstniecības vēsture [Die Geschichte der lettischen Literatur]. Teil 3. Riga 1925, S. 199–201. 16 Vgl. Grāpis, Andrejs: Augusta Deglava personiskās pieredzes reminiscences, atveidojot Rīgas kokzāģētavas [Die persönlichen Reminiszenzen von Augusts Deglavs bei der Schilderung der Rigaer Sägemühle]. In: Cimdiņa, Rīgas teksts (wie Anm. 3), S. 115–123, hier S. 116. 17 Vgl. Bērziņš, Jānis: Latvijas rūpniecības strādnieku sociālais portrets 1900–1914 [Das soziale Porträt der Industriearbeiter in Lettland 1900–1914]. Riga 2009, S. 56.

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dem nicht selten als peinlich empfunden, weil gelegentlich viel Geld ausgegeben worden war und die Probleme in den Familien und in der Nachbarschaft sich so nur vertieften, was rasch zur Entfachung neuer Konflikte führte. Für die meisten Protagonisten des Romans bleibt Riga ein fremder, ungünstiger Ort. Im Zentrum der Handlung steht das Schicksal der Schneiderin Anna Zeltenīte. Sie ist nach Riga in der Hoffnung gekommen, sich im sozialen Leben zu etablieren, aber ihre Versuche scheitern vollständig. Im Laufe der Handlung heiratet sie den schönen Saša Pumpurs, aber bald wird klar, dass der Mann diesen Schritt nur gewagt hat, weil er von seiner eigentlichen Liebe betrogen worden war und durch seine Heirat auf einen sozialen Aufschwung hofft, da Anna Zeltenīte als eine wohlhabende Braut gilt. Als sich herausstellt, dass das Geld nur für eine groß angelegte Hochzeit gereicht hat, verlässt der junge Mann seine Frau sofort. Im weiteren Verlauf der Handlung sinkt er auf die niedrigste Lebensstufe herab und führt ein ärmliches Leben. Er wird von seiner Frau zwar gerettet, als sie ihn an einem winterlichen Tag auf der Straße entdeckt und durch enorme physische Anstrengung nach Hause bringt, aber dieses Ereignis wird zur Ursache ihrer Krankheit und ihres Todes. Viele Episoden des Romans schildern die hoffnungslosen Bedingungen des Arbeiterlebens. Anna Zeltenīte ist am Anfang noch mit ihren bescheidenen Mitteln gut ausgekommen, aber der Versuch, sich über ihre Möglichkeiten zu erheben, scheitert erbarmungslos. Ein kleines persönliches Detail spielt dabei eine wichtige Rolle, vor allem bekommt es aber auch eine symbolische Bedeutung: In ihrer Jugend war sie eines der schönsten Mädchen auf dem Lande gewesen und viele junge Männer hatten um ihre Hand angehalten. Doch dann erkrankte sie unglücklicherweise an Pocken und die Krankheit hinterließ Narben in ihrem schönen Gesicht. In ihrer Wohnung hat sie noch ein Bild von ihrem früheren Selbst an der Wand hängen, aber diese Zeiten sind schon lange vorbei.18 Die Narben besitzen im Kontext des Romans eine symbolische Bedeutung im Hinblick auf die Umsiedlung in die Stadt, die als eine Initiation, als Beginn eines neuen Lebens zu betrachten ist, in dem Anna jedoch keinen festen Fuß fassen kann. Deglavs deutet hier auf ein physisches und zugleich ein metaphorisches Trauma hin, das durch einen körperlichen Mangel versursacht ist, der das Leben Annas in einen Umbruch versetzt und zum Zeichen eines Menschen in einer Übergangssituation wird, mit der er nicht klarkommt. Die Integration in die Stadt ist damit gescheitert, was zu der retrospektiven Weltanschauung und geschichtlichen Nostalgie von ­Deglavs zurückführt. Von Bedeutung ist in diesem Kontext auch das Scheitern einer Frau, die den Maßstäben einer männlichen Umgebung ausgesetzt ist. Der Körper fungiert in der Kultur der Jahrhundertwende als ein wichtiges Symbol. Die traditionelle Opposition zwischen dem Körper und der Seele, in der die Seele als eine Geisel des Körpers angesehen wird, erfährt zu dieser Zeit vor allem von Fried18 Vgl. Deglavs, Augusts: Zeltenīte. Riga 2006 [1896], S. 28.

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rich Nietzsche eine wesentliche Umdeutung. Der Körper wird zu einer empfindlichen Oberfläche, auf die die Zeichen des Lebens aufgetragen werden. Der Ethnologe Pierre Clastres verweist darauf, dass Narben und andere körperliche Abdrücke zum wichtigen und langfristigen Schauplatz des kulturellen Gedächtnisses gehören.19 In vielen Episoden des Romans sind die sozialen Unterschiede der städtischen Gesellschaft dargestellt. Eine der wichtigsten Szenen ist in dieser Hinsicht der Besuch von Anna bei einer Familie von Rigaer Patriziern, wo sie mit ihrem gerade genähten Kleid stundenlang darauf warten muss, empfangen zu werden, und doch kein Geld für ihre Arbeit bekommt. Diesem Besuch folgt die schicksalhafte Rückkehr nach Hause, wo sie ihrem Mann auf der Straße begegnet, ihn nach Hause bringt und danach das Opfer ihrer fatalen Erkältung wird. Die Räume, zum Beispiel die städtischen Parks, die mit schönen Erlebnissen locken, sind nur für die oberen Schichten der Gesellschaft reserviert. Die Orte, die Deglavs später retrospektiv auch als Treffpunkte der Rigaer Letten andeutet und beschreibt (unter anderem der schöne Wöhrmann’sche Garten im Zentrum der Stadt), sind eigentlich nur dem lettischen wie dem deutschen Bürgertum zugänglich.20 Für die Arbeiter bleiben in den 1890er Jahren nur die Vororte und ein schwerer Lebenskampf übrig, wie der Roman Zeltenīte klar schildert. Auch in dieser Hinsicht spiegelt Riga die widersprüchlichen Züge einer Großstadt der Jahrhundertwende wider. Der Roman Zeltenīte kann folglich einerseits als die Geschichte einer Frau gelesen werden, die für ihre Arbeit keinen entsprechenden Lohn erhält und sich damit auch keine angemessenen Lebensumstände sichern kann. Die didaktischen und retrospektiven Aspekte des Erzählten werden dadurch hervorgehoben. Die Absicht des Schriftstellers geht aber darüber hinaus. Deglavs versucht, ein sozialkritisches Gesamtbild Rigas an der Jahrhundertwende zu zeichnen, in dem verschiedene gesellschaftliche Schichten auf sehr unterschiedlichen Lebensniveaus aufeinandertreffen und soziale Reformen dringend nötig sind. Auch eine ethnische Annäherung scheint unter diesen Umständen fast undenkbar und die Möglichkeit eines schnellen sozialen Aufstiegs in der Stadt entpuppt sich in vielen Fällen nur als Illusion. Einige Jahre später stellte Deglavs die ersten Teile seiner geplanten, aber unvollendeten Romantrilogie Rīga (Riga, 1912/1921) fertig, die als fester Bestandteil der lettischen Literatur-, aber auch Kulturgeschichte angesehen wird. Der Roman ist als ein Panorama der Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt. Der Schriftsteller legt großen Wert darauf, eine Erfolgsgeschichte der Letten zu schreiben, die sich an der Seite der deutschen Oberschicht zu behaupten verstehen.

19 Vgl. Assmann, Aleida: Cultural Memory and Western Civilization. Functions, Media, Archives. Cambridge 2013, S. 234. 20 Vgl. Lux, Markus: Das Riga der Deutschen. In: Oberländer/Wohlfahrt, Riga (wie Anm. 1), S. 75– 114, hier S. 74.

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Deglavs vollendete zwei Teile seiner geplanten Trilogie, die mehr als 1.700 Seiten umfassen. Sein literarisches Werk kann vor allem als eine Dokumentation und als Beitrag zur Zeitgeschichte betrachtet werden. Die Gattung des Romans hatte sich in der lettischen Literatur des 19. Jahrhunderts noch nicht besonders entfalten können und es gab nur wenige Beispiele, die nicht bloß als Erzeugnisse der Trivialliteratur angesehen werden können. Die modernsten lettischen Autoren der damaligen Zeit wählten entweder die Gattung der Novelle oder aber des Dramas für ihre Zwecke. Doch im Sinne der Gesamtentwicklung der europäischen Literatur war der Roman besonders im 19. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung, da er unter anderem auch in der (Selbst-)Verortung der Nationen und Kulturen eine wichtige Rolle spielte. In diesem Sinne war der Versuch Deglavs von großer Bedeutung, einen großen Roman über die Stadt Riga und vor allem über die Veränderungen, die sich durch die gesteigerte Präsenz der lettischen Bevölkerung im zivilen wie auch im politischen Leben ergaben, zu schreiben. Obwohl es hier in erster Linie um eine retrospektive Schilderung der Geschichte der Stadt in den vergangenen fünfzig Jahren ging, die wesentlich von den politischen und kulturellen Ambitionen der Letten geprägt war, sollte auch die Gattung des Romans als literarische Form die Reife der lettischen Kultur demonstrieren. Der erste Teil des Buches, Patrioti (Die Patrioten, 1912), umfasst die Periode von der Mitte der 1860er Jahre bis 1875, während der zweite Teil, Labākās famīlijas (Die besseren Familien, 1921) in der Mitte der 1880er Jahre beginnt und sich über die nächsten zehn Jahre (bis etwa 1895) erstreckt. Der geplante, aber nicht verwirklichte dritte Teil sollte dann die Geschichte um 1905 wieder aufnehmen und die Ereignisse rund um und nach den Unruhen des Revolutionsjahrs schildern. Die beiden abgeschlossenen Teile entsprechen auch zwei unterschiedlichen Phasen der russischen Staatspolitik gegenüber den Provinzen Livland und Kurland, die sich nach dem Tod des Zaren Alexander II. im Jahr 1881 änderte und in der Mitte der 1880er Jahre in eine Politik der Russifizierung durch den neuen Zaren Alexander III. mündete. Dieser Wandel bestimmte auch eine Änderung in der Politik der lettischen Bevölkerung Rigas, die sich anfänglich größtenteils gegen die deutsche ökonomische und politische Dominanz richtete, doch später auch mit der ansteigenden Russifizierung in den Bereichen Verwaltung und Bildung nicht einverstanden war.21 Die zwei Teile des Romans haben unterschiedliche Schwerpunkte. Im ersten Teil geht es vor allem um die Verortung der Rigaer Letten im Kontext der frühen Aktivitäten des 1868 gegründeten Rigaer Letten Vereins, während der zweite Teil die Spaltung der Interessen nicht nur zwischen verschiedenen Nationalitäten der Rigaer Gesellschaft, sondern auch die sozialen Konflikte innerhalb der lettischen Bevölkerung schildert.

21 Vgl. Wohlfahrt, Der Rigaer Letten Verein (wie Anm. 5), S. 9, 30.

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Der erste Teil des Buches beginnt mit der Ankunft eines jungen Letten in Riga, wo er auf die Unterstützung seines Onkels hofft, doch das Treffen der beiden hat völlig unerwartete Auswirkungen. Der Onkel, der schon seit einiger Zeit in Riga weilt, hat materiellen Wohlstand erreicht und sich von seinen lettischen Wurzeln schon fast losgelöst. Der Junge, Pēteris Krauklītis, anfangs noch von seinem Onkel, Georg Rabemann, „der kleine Rabe“ genannt, versucht, sich wirtschaftlich selbstständig in Riga zu etablieren. Obwohl dieser am Anfang noch von der Unterstützung seines Onkels abhängig ist, werden bald die Ambitionen Pēteris unterstrichen und sein Selbstbewusstsein durch die Verwendung der eigenen Sprache im täglichen Umgang verstärkt. Dadurch wird auch sein Wille, einen Beitrag zum wachsenden nationalen Bewusstsein zu leisten, sichtbar. Auf diese Weise erscheint die Geschichte des jungen Mannes eng mit der Gesamtentwicklung der lettischen Bevölkerung Rigas verbunden. Im ersten Teil des Romans werden dementsprechend die Gründung und danach auch die ersten Jahre des 1868 gegründeten Rigaer Letten Vereins geschildert. Die späten 1860er und frühen 1870er Jahre sind durch das Hauptinteresse für große Ereignisse, wie zum Beispiel das erste nationale Sängerfest in Riga im Jahr 1873, gekennzeichnet. Diese Tendenz unterstreicht auch die symbolische Bedeutung der Aktivitäten des Rigaer Letten Vereins. Pēteris Krauklītis, der Held des Romans, wird ein fester Bestandteil dieser Entwicklungsprozesse. Im Sinne ihrer politischen Ambitionen versucht die junge lettische Nationalbewegung in den 1860er und 1870er Jahren noch, die russische Staatsmacht als Unterstützung im Kampf um eine bessere soziale Lage gegenüber den zumeist von deutschsprachigen Schichten bestimmten lokalen Verwaltungsstrukturen einzubeziehen und sich dadurch auch bessere Entwicklungsmöglichkeiten in der Stadt zu sichern. Die meisten Spannungen im ersten Teil des Romans sind entsprechend zwischen den Deutschen und den Letten anzutreffen. Während die Forschung in Bezug auf die wachsende Migration meistens von einer „Einwanderung“ nach Riga im 19. Jahrhundert gesprochen hat,22 ist in der neuesten Rezeption des Buches sogar die Rede von einer „Reconquista“ oder Zurückeroberung der Stadt seitens der Letten.23 Die Geographie der Stadt, wie sie im Roman geschildert wird, entspricht teilweise einer solchen ‚Zurückeroberung‘, weil die Letten zuerst an der Peripherie der Stadt angesiedelt sind und sich nur schrittweise dem Zentrum Rigas annähern, wobei einer der wichtigsten Momente in diesem Prozess der Bau des lettischen Vereinsgebäudes in Riga wird. Der Bau des Vereinshauses im Boulevardbezirk, der seit der Niederlegung der Stadtmauern im Jahr 1857 entstand, wurde zum Symbol für die Bemühungen der Letten, zu vollberechtigten Bürgern Rigas und zu 22 So z. B. Oberländer, Rigas Aufstieg (wie Anm. 1), S. 28. 23 Dobrovenskis, Roalds: Kas to Rīgu kaldināja [Wer hat Riga geschmiedet?]. In: Cimdiņa, Rīgas teksts (wie Anm. 3), S. 167–173, hier S. 170.

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Mitgestaltern des städtischen Lebens zu werden.24 Trotz der politischen Annäherungsversuche an die russische Politik in den 1860er und 1870er Jahren blieben dabei die kulturellen Beziehungen zwischen den Letten und den Deutschen von dominierender Bedeutung. Im zweiten Teil des Romans, der im Jahr 1921 mit dem Titel Labākās famīlijas (Die besseren Familien) veröffentlicht wurde, werden nicht nur die wirtschaftlichen, sondern vor allem die politischen und kulturellen Ambitionen der lettischen Bevölkerung dargestellt. Der Verlauf der Handlung wiederholt den des ersten Teils: Erneut kommt ein junger Protagonist vom Lande nach Riga (diesmal nicht zu Fuß, sondern mit dem Zug), der das Ziel hat, sich in der Stadt zu etablieren. Aber diesmal, etwa zwanzig Jahre nach dem Beginn des ersten Teils, verläuft die Bildungsgeschichte anders, weil der junge Mann, obwohl er sich das materielle Leben am Anfang noch mit einfacher Arbeit sichern muss, vor allem versucht, sich in der Kulturlandschaft der Stadt zu verorten. Sein Weg führt auch in die erste lettische Studentenkorporation in Riga, Selonija, die größtenteils aus Studierenden des 1862 gegründeten Polytechnikums zu Riga besteht. Auch in diesem Fall – wie zuvor schon bei der Gründung des Rigaer Letten Vereins – werden von der lettischen Seite die bereits existierenden deutschen Strukturen (Vereine, Burschenschaften usw.) nachgeahmt.25 Doch gerade die ähnlichen Strukturen der Organisationen, die unterschiedliche Interessen vertreten, unterstreichen das im steigenden Maße sichtbare Sich-Voneinander-Absondern der verschiedenen nationalen Gruppen im Rigaer Alltag der Jahrhundertwende.26 Während Deglavs im ersten Teil vor allem historische Quellen sowie Informationen verarbeitet, die ihm Zeitgenossen zutrugen, basiert der zweite Teil auf persönlichen Erlebnissen des Schriftstellers. Der Protagonist dieses Teils, Kārlis Ērglis, sucht in der Stadt vor allem seinen geistigen Horizont zu erweitern. Durch seine Wanderungen in der Kulturlandschaft Rigas wird die schon im ersten Teil vorhandene Strategie des Schriftstellers, konkreten Ereignissen eine symbolische Deutung beizumessen, fortgesetzt. Als Beispiel kann hier eine vom Protagonisten erlebte Episode im Rigaer Lettischen Theater in den 1880er Jahren dienen. Der deutschstämmige Spielleiter der Truppe, Hermann Rhode-Ebeling, und seine Ambitionen werden hier mit dem 24 Vgl. Wohlfahrt, Kristine: Das Riga der Letten. In: Dies./Oberländer, Riga (wie Anm. 1), S. 31–74, hier S. 54. Die symbolische Bedeutung dieses Gebäudes ist historisch auch dadurch hervorgehoben, dass während der Zugehörigkeit zur Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der später an demselben Ort neugebaute Sitz des Rigaer Letten Vereins zum Hauptquartier des Oberkommandos der sowjetischen Armee im Baltikum gewählt wurde. 25 Vgl. Čakare, Valda: Multikulturālisms romānā Rīga [Multikulturalismus im Roman Riga]. In: Kalniņa, Ieva (Hg.): Rīgas kultūrvide 19. gadsimtā: Augusta Deglava romāns Rīga [Das kulturelle Milieu Rigas im 19. Jahrhundert: Der Roman Riga von Augusts Deglavs]. Riga 1999, S. 10–17, hier S. 16. 26 Vgl. Oberländer, Rigas Aufstieg (wie Anm. 1), S. 30.

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Talent und dem selbstbewussten Auftreten des jungen lettischen Schauspielers und späteren Spielleiters, Jēkabs Duburs, konfrontiert. Zusammenfassend sieht man, dass eine retrospektive Tendenz eine Konstanz in Deglavs Schaffen bildet. Besonders in seiner Romantrilogie lässt sich eine Konstruktion der Vergangenheit verfolgen, die die Entwicklung der lettischen Nation und ihre Etablierung in Riga als Ziel vorgibt. Mit Blick auf das Gesamtwerk des Schriftstellers lässt sich festhalten, dass seine Texte die widerspruchsvolle Realität der Jahrhundertwende am Beispiel Rigas vielgestaltig widerspiegeln. Deglavs richtet seine Aufmerksamkeit dabei vor allem auf die ökonomischen und sozialen Aspekte des städtischen Lebens.

Riga im literarischen Schaffen von Jānis Poruks Zur gleichen Zeit gab es seit den 1890er Jahren auch eine deutliche Tendenz, die kulturelle Entwicklung zu fördern. Insbesondere junge lettische Individualisten forderten, das Erbe der Weltkultur intensiv aufzunehmen und dadurch die lettische Literatur und Kunst auf eine neue Stufe zu heben. In diesem Kontext stand auch das Leben und literarische Schaffen des Schriftstellers Jānis Poruks (1871–1911), einem der bedeutendsten Repräsentanten der lettischen literarischen Moderne. Poruks war einer der ersten Letten, der den Anspruch erhob, die Entwicklung der Weltliteratur in seinem Werk zu berücksichtigen.27 Der Schriftsteller entwickelte großes Interesse für die antike Kultur und das Zeitalter der Aufklärung wie auch für die Romantik. Andererseits verfolgte er die Strömungen der modernen Literatur, deren Repräsentanten ihm gut bekannt waren. Dazu trug auch seine Ausbildung als Musiker bei, die er Anfang der 1890er Jahre in Riga begann und wenig später in Dresden fortsetzte. Obwohl sein Aufenthalt in Deutschland nur einige Semester in den Jahren 1893 und 1894 andauerte, waren diese Eindrücke von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Im Vergleich zu Dresden schien ihm Riga nach seiner Rückkehr im Frühjahr 1894 ein vergleichsweise provinzieller Ort zu sein. Diese Erfahrungen in der zeitgenössischen Gesellschaft spielten fortan eine wichtige Rolle in Poruks literarischem Schaffen. Im Folgenden werden zwei seiner Texte, die Erzählung Pērļu zvejnieks (Der Perlentaucher, 1894) und der Roman Rīga (Riga, 1899), näher betrachtet, deren besondere Qualität darin besteht, dass sie ein Bild von neuen, kosmopolitisch orientierten Menschen der Jahrhundertwende zeichnen. 27 Vgl. Vecgrāvis, Viesturs: Jāņa Poruka skatījums uz pasaules literatūru – laikmeta apsteigšana un personības traģika [Der Blick von Jānis Poruks auf die Weltliteratur]. In: Rožkalne, Anita (Hg.): Materiāli par pasaules strāvām latviešu literatūrā [Materialien zu internationalen Strömungen in der lettischen Literatur]. Riga 1998, S. 23–29, hier S. 25.

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Die Erzählung Pērļu zvejnieks steht in der Tradition des Bildungsromans und transformiert dabei die traditionellen räumlichen Modelle. Der Kritiker Guntis Berelis merkt an, dass die Schilderung der ländlichen Realität, die in der lettischen Literatur des 19. Jahrhunderts dominant war, hier nur auf einige Schauplätze, vor allem den Bauernhof, das Landgut, die Kirche und das Wirtshaus, reduziert ist.28 Die Handlung beginnt auf dem Lande, bevor der Weg des Protagonisten, Ansis Vairogs, in die große Welt geschildert wird. Zunächst kommt er nach Riga, später nach Dresden, so dass die autobiographischen Züge der Erzählung unmissverständlich erkennbar sind. Für den Schriftsteller scheint es dabei von besonderer Bedeutung, ein Modell der geistigen Entwicklung eines jungen Menschen zu entwerfen, dessen Persönlichkeit vor allem durch die Erlebnisse im Bereich der Kultur reift. Das Motiv der Bildungsreise wird somit in einer für die lettische Literatur innovativen Form aufgegriffen.29 In dieser Hinsicht ist es auch bemerkenswert, wie sich die Beschreibung des Milieus im Laufe der Handlung ändert. Was auf dem Lande immer noch ganz konkrete Züge der Realität besitzt, wird in der Stadt zum Beispiel durch Traumsequenzen ergänzt. Dagegen werden jedoch Theatervorstellungen, die der Protagonist in Riga wie auch in Dresden erlebt, detailliert beschrieben und vor allem die Eindrücke ausführlich wiedergegeben, die die Werke Richard Wagners bei ihm hinterlassen. Die sozialen Unterschiede sind mitunter dennoch in der Gesellschaft spürbar, etwa wenn Ansis Vairogs in Dresden Fuß zu fassen versucht. Der Schriftsteller hat in seinen Erinnerungen zugegeben, dass er selbst sich in Dresden bevorzugt als Russe ausgegeben hatte, weil ihm das den Weg in die dortige Gesellschaft erleichterte.30 Bei Ansis ist es eigentlich vor allem eine mentale Frage, weil sein Aussehen und sein Kleidungsstil in Dresden kaum einen Unterschied ausmachen.31 Er fühlt sich wie ein Teil eines größeren Ganzen, der Menschheit. Das ist ein Gefühl, das er in Riga noch nicht in demselben Maße findet, obwohl es hier mehr ethnische Affinität zu den Letten gibt, die für ihn aber eher zweitrangig geworden ist. Diese Sichtweise macht Poruks zu einem der ersten und wichtigsten Repräsentanten des modernen Individualismus in der lettischen Literatur der Jahrhundertwende. Bereits die Kritikerin Paula Jēgere-Freimane hat jedoch hervorgehoben, dass der Weg zur modernen Wahrnehmung des Lebens bei Poruks vor allem durch seine Erfahrungen in Riga eröffnet wurde.32 Der Schriftsteller bekam dort die Möglich28 Vgl. Berelis, Guntis: Latviešu literatūra. No vissenākajiem rakstiem līdz 1999. gadam [Die lettische Literatur von den Anfängen bis zum Jahr 1999]. Riga 1999, S. 28. 29 Vgl. ebd., S. 31. 30 Vgl. Poruks, Jānis: Erinnerungen aus meiner Dresdener Schulzeit. In: Ders.: Kopoti raksti [Gesammelte Werke]. Bd. 18. Riga 1930, S. 31–65, hier S. 48. 31 Vgl. ders.: Pērļu zvejnieks [Der Perlentaucher]. In: Ders.: Raksti [Schriften]. Riga 1971 [1894], S. 402–509, hier S. 478. 32 Vgl. Jēgere-Freimane, Paula: Jāņa Poruka fantāzija Pērļu zvejnieks. Zinātniski estētiskas analīzes mēģinājums [Der Perlentaucher von Jānis Poruks. Versuch einer wissenschaftlich-ästhetischen Ana-

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keit, sich mit Hilfe seiner Gönner in den deutschen Kreisen zu bewegen, was ihm einen tieferen Einblick in das kulturelle Milieu Rigas verschaffte. Auch die Grenzen zwischen den Nationalitäten verloren dadurch ihre starken Konturen. Diese beiden Aspekte, die Eindrücke von Riga sowie die zumindest persönlich erlebte Annäherung zwischen Deutschen und Letten im gemeinsamen intellektuellen Raum, sind ebenfalls wichtige Komponenten des 1899 veröffentlichten Romans Rīga (Riga). In diesem Kurzroman, der etwa 100 Seiten umfasst, versucht der Schriftsteller, einen modernen Text zu verfassen, in dem die inneren Widersprüche der zeitgenössischen Menschen erforscht werden. Der Autor hebt vor allem die Unbeständigkeit der seelischen Konstitution seiner Helden hervor. Der Protagonist des Romans, Alfrēds Landens, ist ein Mann, der durch sein väterliches Erbe reich wurde; weil aber seine Existenz durch keinerlei tiefere geistige Interessen gekennzeichnet ist, führt er – von einem traditionellen Standpunkt aus betrachtet – ein sinnentleertes Leben. Die Ereignisse des Romans spielen sich in der Stadt ab, und der Text schildert phasenweise eine Topografie Rigas, die nicht weniger konkret als die bei Deglavs ist. Landens wohnt in einem prachtvollen Privathaus in der Nähe des Stadtzentrums mit einem Garten, in dem sich sogar eine künstlich gestaltete Höhle befindet. Auch wichtige Verkehrsstraßen wie die ganz zentrale Alexanderstraße, populäre Vergnügungslokale und angenehme Vororte Rigas sind detailliert beschrieben. Sowohl die Pläne einer Auslandsreise wie auch ein kurzfristiger Besuch auf dem Lande markieren ein weiter gezogenes räumliches Handlungsfeld im Vergleich zu den Protagonisten von Deglavs, für die Riga als das unbestrittene Hauptziel ihres Bildungsweges gilt, das nach ihrer Ankunft auch nicht wieder verlassen wird. Der Protagonist des Romans, Alfrēds Landens, hat die Möglichkeit, alles, was die Stadt bietet, zu genießen, und trotzdem fühlt er sich in der modernen Gesellschaft nicht ganz wohl. In ihm schildert der Schriftsteller einen Typus des modernen Menschen, der sich an einem Scheideweg befindet. Landens hat die Aufgabe, das Werk seines Vaters, der ein erfolgreicher Industrieller gewesen war, fortzusetzen und die geerbten Geschäfte zu erweitern, fühlt sich aber für diesen Auftrag innerlich nicht vorbereitet. Die Aussicht, die von der vorangegangenen Generation begonnene ­Arbeit einfach fortzusetzen, findet er wenig reizvoll, sieht aber in seinem Leben auch keine andere lockende Perspektive. Damit ist ein dekadenter Typ der Jahrhundertwende dargestellt, den Poruks teilweise kritisch, aber auch mit einer gewissen Bewunderung schildert. Ein ironischer Kontrast zu Landens ist im Roman durch die Figur des Pauls Vītols gezeichnet, einem Letten, der im Verlauf der Handlung die Bekanntschaft mit dem Protagonisten macht. Vītols ist ein ganz anderer Typus, der immer von neuen Ideen strotzt und mit Landens Unterstützung ebenfalls die Möglichkeit einer Auslandsreise erhält. Die Pläne, die durch seine Ausbildung entstehen, sind aber eher phantaslyse]. In: Izglītības Ministrijas Mēnešraksts 5 (1922), S. 493–504; 6 (1922), S. 598–604, hier S. 598.

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tischer Natur, wie z. B. ein Korallendamm zwischen Asien und Afrika. Der Idealismus und auch die wirtschaftliche Aktivität der Jahrhundertwende, die manchmal einem möglichen Leerlauf ausgesetzt sind, stehen damit in starkem Kontrast zu einem gebildeten, aber eher passiven Menschen, der seine Tage dem Genuss des Lebens widmet, weil keine bessere Perspektive in Sicht ist. Die Differenz zwischen der sozial gesicherten Position Landens und den teilweise chaotischen Bestrebungen Vītols, die auch von seinem Wunsch nach sozialem Aufstieg bedingt sind, wird durch den Kontrast der beiden Charaktere relativiert. Die Skepsis, die Landens verbreitet, ist teilweise auch durch das für seine Verhältnisse eher durchschnittliche kulturelle Niveau Rigas zu erklären. Diese Eindrücke von der Stadt wurden auch von anderen jungen Intellektuellen der damaligen Zeit geteilt.33 Diese Tatsache folgt zumindest teilweise aus Erlebnissen in der modernen Welt, durch welche die geistigen Ansprüche deutlich gestiegen sind.

Fazit Wenn die hier betrachteten Texte, die das soziale und kulturelle Leben Rigas reflektieren, im Vergleich interpretiert werden, bemerkt man die wesentlichen Unterschiede ganz deutlich. Der Roman Rīga von Jānis Poruks schildert die psychologischen Merkmale des modernen Lebens der Jahrhundertwende, deren zeitgenössischer Zeuge der Autor ist. Augusts Deglavs bietet dagegen in seiner Romantrilogie einen retrospektiven Rückblick in die Geschichte Rigas von den 1860er Jahren bis zur Jahrhundertwende. Er zeigt die wachsende Stadt mit ihren Traditionen und dem täglichen Leben auch als einen Ort, an dem die symbolischen Manifestationen der Bestrebungen des lettischen Volkes in einem multikulturellen Milieu gesehen werden. Die Zeit der Entstehung und der Publikation seines Textes (vor und nach dem Ersten Weltkrieg, mit dem zweiten Teil als einem frühen Beispiel der lettischen Literatur nach dem Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit) erklärt teilweise die ­Notwendigkeit und bietet die Rechtfertigung eines solchen Projektes, das literaturhistorisch betrachtet auch als ein gewisser Anachronismus gesehen werden kann. In diesem Falle könnte man von den Letten (vor allem im Kontext der Entwicklung der Stadt Riga) als einer ‚verspäteten Nation‘ sprechen, was sich bei Deglavs literarisch in der Form des romanhaft-realistischen ‚Nationalepos‘ niederschlägt. Doch zur gleichen Zeit (vor und nach der Jahrhundertwende) gab es auch schon eine moderne lettische Literatur und Schriftsteller wie Poruks (sowie andere, zum Beispiel Rūdolfs Blaumanis und Rainis), die unmittelbar und bruchlos an die aktuellen Strömungen der Weltliteratur anknüpften. 33 Vgl. Klotiņš, Arnolds: Mūzika un idejas: Apceres par mūziku laikmetā, cilvēkā, sabiedrībā, vēsturē [Musik und Ideen: Betrachtungen über Musik im Kontext von Epoche, Individuum, Gesellschaft und Geschichte]. Riga 1987, S. 22.

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‚Äsopische‘ Sprache in der litauischen Literatur der Sowjetzeit – ein Bildungsauftrag der Schreibenden? Das Phänomen der ‚äsopischen‘ Sprache in der litauischen Literatur der Sowjetzeit ist eine der vielen in diesem Band präsentierten baltischen Bildungsgeschichten. Was ist aber unter ‚äsopischer‘ Sprache zu verstehen und warum kann sie als ein Bildungsinstrument der Schreibenden angesehen werden? Auf diese zwei Grundfragen konzentriert sich der vorliegende Beitrag. Bestimmte literarische Texte aus der Sowjetzeit werden von litauischen Literaturkritiker*innen und Schriftsteller*innen mit dem Begriff der ‚äsopischen‘ Sprache verbunden. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive stellt sich jedoch die Frage – da es bis dato keine ausführlichen historischen und theoretisch fundierten Untersuchungen zu dieser Fragestellung in Litauen gibt –,1 ob es sich dabei um einen Terminus, eine Metapher, ein wesentliches Kriterium der sowjetischen Literatur und/ oder eine literarische Kommunikationssituation handelt.2 Die vorhandenen wissenschaftlichen Beiträge zu diesem Thema speziell im Hinblick auf Litauen behandeln unter anderem folgende Fragen, die auch für diesen 1 Vgl. aber die wichtige Publikation zur ‚äsopischen‘ Sprache im Baltikum am Beispiel Lettlands von Briedis, Raimonds: Censorship and Aesopic Language: An Analysis of Censorship Documents (1940–1980). In: Baliutytė, Elena; Mitaitė, Donata (Hg): Baltic Memory. Processes of Modernisation in Lithuanian, Latvian and Estonian Literature of the Soviet Period. Vilnius 2011, S. 15– 24. Außerdem seien hier einige wichtige internationale Publikationen zu diesem Thema genannt: ­Loseff, Lev: On the Beneficence of Censorship: Aesopian Language in Modern Russian ­Literature. München 1984; Patterson, Annabel: Fables of Power. Aesopian Writing and Political History. ­Durham 1991; Meer, Jan IJ. van der: „Latarnik“ in between Romanticism and Positivism: The Function of Aesopian Language in Henryk Sienkiewicz’s Most Famous Short Story. In: Zeitschrift für Slawistik 40/1 (1995), S. 31–50; Menting, Henriëtte Alida: The Reading of the Heart: AntiAesopian Language in the Work of M.  E. Saltykov-Ščedrin. In: Russian Literature 48/3 (2000), S. 389–407; Reifarth, Gert; Morrisey, Philip (Hg.): Aesopic Voices. Re-Framing Truth through Concealed Ways of ­Presentation in the 20th and 21th Centuries. Newcastle upon Tyne 2011. Vgl. dazu auch die kunstgeschichtliche Publikation von Katsnelson, Anna Wexler: My Leader, Myself? Pictorial Estrangement and Aesopian Language in the Late Work of Kazimir Malewitsch. In: Poetics Today 27/1 (2006), S. 67–96. 2 Vgl. Satkauskytė, Dalia: Ezopo kalba kaip teorinė sąvoka, arba kaip mums kalbėti apie sovietmečio literatūrą [Die äsopische Sprache als ein theoretischer Begriff oder Wie sollen wir von der Literatur der Sowjetzeit sprechen]. In: Metai 5 (2007), URL: http://www.tekstai.lt/zurnalas-metai/643dalia-satkauskyt-ezopo-kalba-kaip-teorin-svoka-arba-kaip-mums-kalbti-apie-sovietmeio-literatr (16.12.2020).

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Aufsatz leitend sind:3 Welche Gründe führen zur Entstehung der ‚äsopischen‘ Sprache? Welche Ähnlichkeiten und Differenzen bestehen zur poetischen Sprache? Wie lässt sich im Falle der ‚äsopischen‘ Sprache das Verhältnis zwischen Autor*in und Leser*in bestimmen?4 Besteht die Gefahr, dass die ‚äsopische‘ Sprache und ihre verschlüsselten Bedeutungen in einem veränderten historisch-kulturellen Kontext nicht mehr erkennbar sein werden?5 Lässt sich ein zeitlicher Rahmen für das Phänomen der ‚äsopischen‘ Sprache in Litauen festlegen? Ein Essay von Tomas Venclova (geb. 1937), ein Artikel und mehrere Interviews von Marcelijus Martinaitis (1936–2013), vier ausgewählte Gedichte von demselben, Vladas Braziūnas (geb. 1952) und Janina Degutytė (1928–1990) bilden das Textkorpus, anhand dessen im Folgenden einige konkrete Beispiele für die ‚äsopische‘ Sprache und ihren litauischen Kontext vorgestellt werden. Dabei soll es auch um den Bildungsaspekt der ‚äsopischen‘ Sprache gehen. Der Begriff ‚Bildung‘ bedeutet nach dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm unter anderem Form, Gestalt, Gestaltung; dies bezieht sich auch auf die Formung des Menschen, seiner Gedanken und seines Charakters sowie auf die Bildung des Charakters ­einer Nation.6 Dies kann aber auch die Bildung eines Ideensystems betreffen, das zu ­einem Teil des Denkens der Menschen wird. Diese Zusammenhänge können mit 3 Ich orientiere mich dabei hauptsächlich an den Arbeiten der Literaturwissenschaftlerin ­Dalia Satkauskytė. Vgl. Satkauskytė, Dalia: Poetikos negalimybė, arba Ezopo kalba semiotikos ir literatūros sociologijos akiratyje [Unmögliche Poetik oder Äsopische Sprache in Bezug zur Semiotik und Literatursoziologie]. In: Colloquia 36 (2016), S. 13–30; dies.: The Role of Aesopian Language in the Literary Field: Autonomy in Question. In: Dies.; Jurgutienė, Aušra (Hg.): The Literary Field under Communist Rule. Boston/MA 2019, S. 18–36. Vgl. außerdem auch Klumbys, Valdemaras: Ezopo kalbos prielaidos ir formavimasis sovietinėje Lietuvoje [Annahmen und Bildung der äsopischen Sprache im sowjetischen Litauen]. In: Genocidas ir rezistencija 40 (2) (2016), S. 68–85; ­Jevsejevas, Paulius: Ezopo kalba kaip semiotinis mechanizmas [Äsopische Sprache als semiotischer Mechanismus]. In: Satkauskytė, Dalia (Hg.): Tarp estetikos ir politikos. Lietuvių literatūra sovietmečiu [Zwischen Ästhetik und Politik. Litauische Literatur in der Sowjetzeit]. Vilnius 2015, S. 289–311; ders.: Ezopo kalba: Turinio nušalinimas, visuomeninė stereotipija, tekstinė esatis [Äsopische Sprache: Entfernung des Inhalts, gesellschaftliche Stereotype und textuelle Präsenz]. In: Acta Academiae Artium Vilnensis 73 (2014), S. 141–156; Kelertienė, Violeta: Cenzūros apėjimo sovietiniais metais formos kaip nacionalizmo išraiška [Formen zur Umgehung der Zensur in der Sowjetzeit als Ausdruck des Nationalismus]. In: Dies.: Kita vertus…: Straipsniai apie lietuvių literatūrą [Andererseits…: Artikel zur litauischen Literatur]. Vilnius 2006, S. 290–304. 4 Dieses Verhältnis wird auch in einem Aufsatz von Elke Mehnert untersucht, in dem es um das „Nachdenken über das Funktionieren eines Autor-Leser-Dialogs in der geschlossenen DDR-Gesellschaft“ geht. Mehnert, Elke: Äsopische Schreibweise bei Autoren der DDR. In: Brockmeier Peter; Kaiser, Gerhard R. (Hg.): Zensur und Selbstzensur in der Literatur. Würzburg 1996, S. 263–273, hier S. 263. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961, Bd. 2 (1860), Sp. 22f. (URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?s igle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GB07250#XGB07250 [16.12.2020]).

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der ‚äsopischen‘ Sprache in Verbindung gebracht werden, worauf an einer anderen Stelle dieses Beitrags noch näher eingegangen wird. Der Begriff der ‚äsopischen‘ Sprache selbst wird in Anlehnung an den antiken griechischen Dichter Äsop verwendet, „dem wortgewandten Sklaven und listenreichen Gesellschaftskritiker aus dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung“,7 und an seine Fabeln, die als Gleichnis samt dem Prinzip der allegorischen Übertragung in Erscheinung treten. Vor allem knüpft die Bezeichnung an die Tatsache an, dass die Personifikation der Tiere oder Dinge in den Fabeln dem Autor Schutz vor Bestrafung lieferte, weil er damit keine explizite Kritik übte. Äsop gilt also „als Erfinder einer Sprache, die mehr meint, als sie vordergründig sagt“.8 Der russische Schriftsteller, Satiriker und Zarenkritiker aus dem 19. Jahrhundert Michail Saltykov-Ščedrin (1826–1889) gilt als derjenige, der den Terminus ‚­äsopische‘ Sprache etabliert hat.9 Zwar gab es den Begriff bereits zuvor, SaltykovŠčedrin verwendete ihn um 1860 jedoch als erster für eine indirekte politische Kritik  – im Kontext politischer Verfolgung, Kontrolle und Zensur. Tomas Venclova meint: „Die Tradition der äsopischen Sprache ist genauso alt wie die Zensur selbst. Diese Tradition hat immer in Russland und Osteuropa existiert“.10 Ergo wird der Begriff der ‚äsopischen‘ Sprache meistens für Russland, die Sowjetunion und die Länder des ehemaligen kommunistischen Blocks gebraucht, nicht nur für Literatur und Kunst, sondern auch für Publizistik, Philosophie, Geschichte, Literaturkritik und andere Fachgebiete.11 Es muss jedoch unterstrichen werden, dass Gert Reifarth und Philip Morrisey eine weiter gefasste Verwendung des Begriffs beanspruchen, wie ihrem Sammelband zu der 2008 in Melbourne stattgefundenen Konferenz „Aesopic Voices: Re-framing Truth in Twentieth-Century Folklore, Fairy Tales and Fables“ zu entnehmen ist : „While the Aesopic is often and most prominently associated with the struggle against repression and censorship in dictatorial societies, it is by no means restricted to such severe circumstances. Milder forms of Aesopic struggles means also take place in Western democracies where they are engaged with issues such as migration, minorities, political leadership, genetic engineering, climate change, war, the threat of

17 Mehnert, Äsopische Schreibweise (wie Anm. 4), S. 263f. 18 Ebd., S. 264. 19 Vgl. Loseff, On the Beneficence (wie Anm. 1), S. 1; Satkauskytė, Poetikos negalimybė (wie Anm. 3), S. 13–15. 10 Venclova, Tomas: Žaidimas su cenzoriumi [Ein Spiel mit dem Zensor]. In: Ders.: Vilties formos: eseistika ir publicistika [Formen der Hoffnung: Essayistik und Publizistik]. Vilnius 1991, S. 418– 425, hier S. 421: „[…] ezopinės kalbos tradicija, tokia pat sena, kaip ir pati cenzūra. Ta tradicija visada egzistavo Rusijoje ir Rytų Europoje […].“ Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen aus dem Litauischen ins Deutsche – auch die der nachfolgenden Gedichte – von der Verf. (L.U.). 11 Vgl. Satkauskytė, Poetikos negalimybė (wie Anm. 3), S. 14f.

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Lina Užukauskaitė terrorism. Inevitably, however, any Aesopic approach is initiated by the existence of a ,discursive régime‘, a society’s régime of truth, its ,general politics‘ of truth, which assists or even force intellectual and artistic choice.“12

Der Begriff der ‚äsopischen‘ Sprache und sein zeitlicher Rahmen in Litauen In Litauen wird der Ausdruck seit den 1960er Jahren, während der sogenannten Tauwetterperiode in der Chruščëv-Ära intensiv eingesetzt, da in dieser Zeit die strengen Vorschriften für den Sozialistischen Realismus etwas gelockert wurden.13 In der Enzyklopädie der litauischen Literatur definiert Vytautas Kubilius 2001 den Begriff der ‚äsopischen‘ Sprache wie folgt: „Die ‚äsopische‘ Sprache steht in stilistischer Hinsicht für übertragene Bedeutungen, sie kodiert die konträr zum Regime stehenden Ideen in Form von Metaphern, Allusionen und Paraphrasen, sie konstruiert die doppelte Werkstruktur, die der Zensur verschlüsselt bleibt, dem Leser aber erkennbar ist. Symptomatisch für die Literatur der Länder mit totalitären Regimes.“14

Ausgehend von den Charakteristika, die Kubilius hier anführt, lässt sich schlussfolgern, dass ein ‚äsopisch‘ kodierter Text über eine verschwiegene, ‚ungeschriebene‘ Schicht verfügt15 und sich der Sprache der Macht widersetzt.16 Wann, wo und von wem der Begriff in der litauischen Literatur zum ersten Mal verwendet wurde, ist bis jetzt nicht genau geklärt. Klumbys schreibt, dass die rudimentären Anfänge der ‚äsopischen‘ Sprache in Litauen vor der Sowjetzeit liegen, das heißt sie reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück, ohne dass sich dabei die kulturellen Mechanismen für die Funktionsweisen dieser Sprache formierten; die

12 Reifarth, Gert; Morrisey, Philip: Aesopic Voices: A Foreword. In: Dies., Aesopic Voices (wie Anm. 1), S. 1–12, hier S. 3f. 13 Vgl. Klumbys, Ezopo kalbos prielaidos (wie Anm. 3), S. 72f. Vgl. dazu Mehnert, Äsopische ­Schreibweise (wie Anm. 4), S. 268: „Der DDR-Leser entwickelte zunehmend Fähigkeiten, im Untertext versteckte Botschaften zu decodieren. Seit den 70er Jahren begegnet man dieser besonderen Form der Autor-Leser-Beziehung immer häufiger.“ 14 Kubilius, Vytautas: Ezopo kalba [Äsopische Sprache]. In: Ders. u. a. (Hg.): Lietuvių literatūros enciklopedija [Enzyklopädie der litauischen Literatur]. Vilnius 2001, S. 136: „Ezopo kalba, perkeltinių prasmių stilistika, užšifruojanti priešingas esamam režimui idėjas metaforų, aliuzijų, parafrazių priemonėmis, konstruojanti dvilypį kūrinio planą, aiškų visuomenei ir neįkandamą cenzūrai. Būdinga totalitarizmo šalių literatūrai.“ 15 Vom Subtext spricht Briedis, Censorship and Aesopic Language (wie Anm. 1), S. 17. 16 Vgl. dazu ebd., S. 16f. Briedis zitiert hier den lettischen Autor Knuts Skujenieks, der die ‚äsopische‘ Sprache zu den Resistenzformen in der Sowjetzeit zählt.

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Grundlagen für die Mechanismen der ‚äsopischen‘ Sprache wurden erst in den 1950er und 1960er Jahren gelegt:17 „The rudiments of the Aesopian language existed prior to the Soviet occupation, but there were no established traditions for the creation and use of such language. This gives rise to the question how the Aesopian language with its coherent code system, which was more or less understood by totally unrelated people, could have been created and spread in the repressive Soviet system.“18

Es lässt sich also der zeitliche Rahmen für das Phänomen der ‚äsopischen‘ Sprache in Litauen bestimmen, deren Produktion mit dem Anfang der Unabhängigkeitsbewegung in den späten 1980er Jahren endete. Dies belegt etwa Vladas Braziūnas’ poetologisches Gedicht Äsop ist tot aus dem Jahr 1988, in dem über das Ende der ‚äsopischen‘ Sprache reflektiert wird: Vladas Braziūnas Ezopas mirė

Äsop ist tot

Nepaleidžia jausmas, kad rašausi nuosprendį. Ašaros nejaukios – atgailauti, juokinti?

Das Gefühl läst mich nicht los, ich schreibe eine Selbstverurteilung. Üble Tränen – soll ich büßen und belustigen?

Iš tarties ezopinės – iš gyvačių išnarų – aš su savo sopėmis nedvejopai išneriu.

Aus der äsopischen Sprache aus der Schlangenhaut gleite ich mit meinen Wunden unmissverständlich heraus.

Jau reikės iš naujo skiemenuoti mokytis. Jau dabar per kraują – verkite ar juokitės.19

Schon muss ich aufs Neue syllabieren lernen. Jetzt aber bis aufs Blut – Entweder weint oder lacht ihr.

(1988)

17 Vgl. Klumbys, Ezopo kalbos prielaidos (wie Anm. 3), S. 70f. 18 Ebd., S. 85 (aus dem englischsprachigen Abstract). 19 Braziūnas, Vladas: Ezopas mirė [Äsop ist tot]. In: Kubilius, Vytautas (Hg.): Dvidešimto amžiaus lietuvių poezija. Antologija [Litauische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Anthologie]. Bd. 2. Vilnius 1995, S. 501.

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Auch Marcelijus Martinaitis spricht in den 1990er Jahren in Interviews von dieser veränderten Situation: Mit dem Beginn der Unabhängigkeit „muss ich das eigentümliche Borkenkäfersyndrom überwinden, dass man gelernt hatte, an den regimestützenden Balken lange und geduldig zu nagen“.20 Und: „Die wiedererlangte Freiheit störte auf eigene Weise mein Schaffen. Mit der Zensur verschwanden und verschwinden sehr viele Bedeutungen, Lesemöglichkeiten, Andeutungen, vereinbarte Hinweise […]. Ich als Literat lerne fast von Neuem zu leben.“21 Nach der Wende müssen also die Autor*innen die für ihre Texte gewohnte ‚äsopische‘ Kodierung zurücknehmen. Dabei sei jedoch auf den ­problematischen Zusammenhang hingewiesen, dass manche Wissenschaftler*innen in Litauen den Begriff weiterhin für übertragene Bedeutungen verwenden, auch wenn sie sich nicht unbedingt auf die Sowjetzeit beziehen.22 Darüber hinaus sei in diesem Zusammenhang der im Jahr 2006 veröffentlichte, sprachkritische Beitrag Entfremdete Sprache von der Schriftstellerin Renata Šerelytė (geb. 1970) genannt, in dem sie meint, dass es jetzt, nachdem die ‚äsopische‘ Sprachkodierung nicht mehr existiere, kaum mehr ungesagte Worte gebe; die Worte seien inflationär und primitiv, sie seien zu Waren geworden.23

Das sowjetische System in Litauen, die Zensur und die ‚äsopische‘ Sprache In dem Aufsatz Geheime Zensur aus dem Jahr 1994 erläutert Marcelijus Martinaitis aus eigener Erfahrung, wie das komplexe und verwirrende ideologische System in Litauen funktionierte. Vollständige Kontrolle und Zensur führten dabei, wie bereits erwähnt, zur Entstehung der ‚äsopischen‘ Sprache: „[…] das Wesen des sowjetischen Systems war die allgemeine Totalzensur, die fast alles durchdrang; […] verschiedene Behörden, schriftstellerisches Schaffen, die Sprache, Buchlektüre, Bezie-

20 Martinaitis, Marcelijus: Kirvarpos sindromas [Das Borkenkäfersyndrom] (1991). In: Ders.: Lietuviškos utopijos: Dialogai, pokalbiai, straipsniai, interviu, 1991–2003. [Litauische Utopien: Dialoge, Gespräche, Artikel, Interviews, 1991–2003]. Vilnius 2003, S. 80–94, hier S. 81: „[T]eks įveikti keistą kirvarpos sindromą, nes buvo išmokta ilgai ir kantriai graužti siją, kuri ramstė režimą“. 21 Ders.: Garbė vaikšto basa [Die Ehre geht barfuß] (1997). In: Ebd., S. 180–195, hier S. 185f.: „Atgauta laisvė savaip sutrikdė kūrybą. Su cenzūra išnyko ir išnyksta labai daug reikšmių, skaitymo būdų, užuominų, sutartinių nuorodų […]. O aš – kaip literatas – tarsi mokausi iš naujo gyventi.“ 22 Vgl. Klumbys, Ezopo kalbos prielaidos (wie Anm. 3), S. 68. 23 Šerelytė, Renata: Susvetimėjusi kalba [Entfremdete Sprache], 25.09.2016. In: www.bernardinai. lt, http://www.bernardinai.lt/straipsnis/2006-09-25-renata-serelyte-susvetimejusi-kalba/29877 (14.07.2019, Link nicht mehr aktiv)].

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hungen zwischen den Menschen, Denken“.24 Zensiert wurde alles, was veröffentlicht werden sollte: Romane, Lyrikanthologien, wissenschaftliche Publikationen, Visitenkarten, Einladungen, Konzertankündigungen, Bier- oder Käse-Etiketten, Plakate und Straßennamen.25 Zu den veränderten Straßennamen im sowjetischen Vilnius gibt es im Roman Vilnius-Jazz (1978, erschienen 1993) von Ričardas Gavelis (1950–2002) eine kritisch-polemisierende Passage, in der ersichtlich wird, dass die Umbenennungen von Straßen und Plätzen als Zensur, die neuen Namen als aufgepfropfte „falsche Namen“ empfunden wurden: „Der vollgestopfte Trolleybus quietschte träge entlang der Komsomol-Straße, dann kommt die Kapsukas-Straße. Beide Namen sind falsch; in Wirklichkeit soll es die Pylimas26-Straße sein (Tomas sagte, er weiß es). Wenige erinnern sich daran, insbesondere junge Menschen. Obwohl einige sich empören, warum für die Straßen falsche Namen gewählt worden sind. Aber warum sollte man sich wundern, unser ganzes Leben ist gefüllt mit falschen Namen. Alle Wörter trügen, trügerische Sprache schafft trügerische Welt. Dainius seufzte schwer: Tiefe Gedanken lösten unweigerlich Seufzer in seinem Körper aus, manchmal einen unkontrollierbaren Schluckauf. Er dachte oft über irreführende und falsche Worte nach. Sie versteckten vor den Menschen das Wesen der Welt. In diesem Fall das Wesen von Vilnius. Hier war die Böschung der Stadt und die neuen falschen Namen behaupten, in Vilnius gibt es nur Kapsukas und Komsomol.“27

24 Martinaitis, Marcelijus: Įslaptinta cenzūra [Geheime Zensur]. In: Ders., Lietuviškos utopijos (wie Anm. 20), S. 49–68, hier S. 51 u. 50: „[…] sovietinės sistemos esmė buvo visuotinė totali cenzūra, persmelkusi beveik viską; „įvairias institucijas, rašytojų kūrybą, kalbą, knygų skaitymą, žmonių santykius“ (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Burkhart, Dagmar: Fallstudien zu Zensurvorschlägen in der Stalinzeit: Mandelštam, Achmatova Pasternak. In: Brockmeier/Kaiser, Zensur und Selbstzensur (wie Anm. 4), S. 173–192, hier S. 175: „[Es] gibt praktisch keinen sowjetischen Schriftsteller, dessen Werk nicht mehr oder weniger von der Zensur verstümmelt wurde. Und keine Geschichte der russischen Literatur, die in der SU publiziert wurde, ist ohne Fälschungen. Die Zensur erstreckte sich nämlich nicht nur auf Eingriffe bei sowjetischen Autoren, sondern auch auf die klassische russische Literatur vor der ‚Oktoberrevolution‘ […]. Selbst vor Eingriffen in die übersetzten Werke ausländischer Autoren schreckte die sowjetische Zensur nicht zurück.“ 25 Vgl. Martinaitis, Įslaptinta cenzūra (wie Anm. 24), S. 50. Vgl. dazu auch Kelertas, Violeta: Soviet Censorship in Lithuania 1945–1989. In: Neubauer, John; Cornis-Pope, Marcel (Hg.): History of the Literary Cultures in East-Central Europe: Junctures and Disjunctures in the 19th and 20th Centuries. Bd. 3: The making and remaking of literary institutions. Amsterdam-Philadelphia 2007, S. 125–134; Sabonis, Arvydas; Sabonis, Stasys (Hg.): Rašytojas ir cenzūra [Der Schriftsteller und die Zensur]. Vilnius 1992. 26 Dt.: Böschung. 27 Gavelis, Ričardas: Vilniaus džiazas [Vilnius-Jazz]. Vilnius 32015, S. 30: „Prikimštas troleibusas vangiai nugirgždėjo Komjaunimo gatve, paskui bus Kapsuko. Neteisingi pavadinimai – abudu; iš tikro turi būti Pylimo (Tomas sakė, jis žino). Maža kas tą bepamena, ypač jaunimas. Nors kai

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Martinaitis führt in dem Aufsatz Geheime Zensur des Weiteren aus, dass die Zensur dieser Zeit streng geheim war. Sie verfügte über keinen litauischen Namen, sondern trug den geheimnisvollen und gefährlichen russischen Namen Glavlit (Glavnoe ­upravlenie po delam literatury i izdatel’stv [Hauptverwaltung für Literatur und Verlage]). Diese Moskau untergeordnete Behörde arbeitete gänzlich im Verborgenen. Die meisten Schriftsteller*innen wussten nicht, wo die halb mystische Einrichtung untergebracht war; spezielle Kuriere transportierten ihre Manuskripte.28 „Das Hauptmittel der Zensur und ihrer Ausübung war nicht die Tinte, auch nicht die Tusche, mit der die klassischen Zensoren gearbeitet haben, indem sie einzelne Worte, Zeilen, Absätze oder ganze Seiten schwärzten. In diesem komplizierten Technologie-Jahrhundert griff man auf den einfachen Bleistift zurück […]. Außerdem zum Radiergummi, der die Spuren des Zensors oder eines Parteifunktionärs an den Rändern beseitigte.“29

Das herrschende System drängte außerdem Autor*innen dazu, selbst Zensor*in zu sein: „Alles, was in den literarischen Werken weggestrichen wurde, wurde von den ­Autoren selbst weggestrichen […]. Es wurde danach gestrebt, dass der Autor selbst ­etwas wegstreicht, korrigiert oder auf etwas verzichtet. […] So wurde listig die Autozensur eingerichtet.“30 Mehnert verwendet diesbezüglich den Begriff „Selbstzensur“.31 Über die sowjetische Sprachlenkung reflektiert das folgende, in ‚äsopischer‘ Sprache verfasste Gedicht Kukutis’ Worte aus dem Zyklus Kukutis-Balladen von Marcelijus Martinaitis. Der Autor hat, so die Neue Zürcher Zeitung im Jahr 2002, „mit seinen Kukutis-Balladen in den siebziger Jahren eine Art archetypischen, melancholischen sowjetlitauischen Schwejk geschaffen“.32 Martinaitis bedient sich in den Balladen des rhetorischen Stilmittels der Ironie.



kurie niršta, kam gatvės pervadintos neteisingai. O kuo čia stebėtis – visas mūsų gyvenimas sklidinas neteisingų pavadinimų. Visi žodžiai apgaudinėja, apgaulinga kalba kuria apgaulingą pasaulį. Dainius sunkiai atsiduso: gilios mintys neišvengiamai sukeldavo jo organizme atodūsius, o kartais nesuvaldomą žagsulį. Jis dažnai mąstydavo apie apgaulingus ir melagingus žodžius. Jie slėpė nuo žmonių tikrąją pasaulio esmę. Šiuo atveju slėpė Vilniaus esmę. Čia buvo miesto pylimas, o naujieji apgaulingi pavadinimai teigia, kad Vilniuje tebuvo Kapsukas ir komjaunimas.“ 28 Vgl. Martinaitis, Įslaptinta cenzūra (wie Anm. 24), S. 49. 29 Ebd., S. 55: „Pagrindinė cenzūros ir cenzūravimo priemonė buvo ne rašalas, juo labiau ne juodas tušas, kuriuo darbuodavosi klasikiniai cenzoriai, užjuodindami pavienius žodžius, eilutes, pastraipas ar ištisus puslapius. Šiame sudėtingų technologijų amžiuje grįžta prie paprasčiausio pieštuko […]. Beje – dar trintukas, kuris paraštėse panaikindavo cenzoriaus ar partinio veikėjo pėdsakus.“ 30 Martinaitis, Įslaptinta cenzūra (wie Anm. 24), S. 53: „Visa, kas literatūros kūriniuose išbraukta, neretai išbraukta pačių autorių […]. Buvo siekiama, kad išbrauktų, pataisytų ar ko nors atsisakytų pats autorius. […] Taip klastingai buvo diegiama autocenzūra […].“ (Hervorhebung im Original). 31 Mehnert, Äsopische Schreibweise (wie Anm. 4), S. 265. 32 Too little, too late. In: Neue Zürcher Zeitung, 05.10.2002, URL: https://www.nzz.ch/article 8FB03-1.429156 (16.12.2020).

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Marcelijus Martinaitis Kukučio žodžiai

Kukutis’ Worte

Kodėl tenai niekas nevaikšto, nelaksto netgi joks vaikas?

Warum geht dort niemand, läuft gar kein Kind?

– Kukuti, ten dirba žodžius ir juos ten apmoko suprast, ką jie reiškia.

– Kukutis, dort arbeitet man an Worten und es wird dort zu verstehen gelehrt, was sie bedeuten.

Kodėl ten negirgžda net durys, pro langus niekas nežiūri?

Warum knarrt dort gar keine Tür, schaut niemand durch die Fenster?

– Kukuti, tau ten dirba žodžius, juos apmoko, kad turėtum ir tu ką kalbėt.

– Kukutis, dort arbeitet man an Worten für dich, sie werden gelehrt, damit auch du weisst, was zu sagen ist.

Sakai, jie labai užsiėmę ir nieko nepriima?

Du sagst, sie sind sehr beschäftigt und empfangen niemanden?

– Kukuti, ten saugoja tavo žodžius nuo tavo palaido liežuvio.33

– Kukutis, dort bewacht man deine Worte vor deiner losen Zunge.

(1977) 33

Laut Martinaitis hat er mit Kukutis eine mythische Figur geschaffen. Der Mythos, die mythische Erzählung verhelfen ihm dazu, das zu sagen, was auf anderen Wegen nicht möglich ist; sie schaffen somit die Grundlagen für die ‚äsopische‘ Sprache.34 Zudem sprechen die Kukutis-Balladen schlicht über das Leben hinter dem Eisernen Vorhang: „Für mich ist Kukutis mehr als Lyrik oder irgendein Lachen. Vielleicht Elend, ein vergessenes Leben und das, dass ich vielleicht nie nach Paris fahren werde. Man errät nicht die Worte und ihre Bedeutung, sondern das, was ist, sagen wir, ein gelber Heuballen, der auf schwarzem Acker liegt.“35 33 Martinaitis, Marcelijus: Kukučio žodžiai [Kukutis’ Worte]. In: Ders.: Kukučio baladės. Baladžių poema [Kukutis’ Balladen. Balladenpoem]. Vilnius 2012, S. 18. 34 Ders.: Poezija – tai pastanga užmegzti ryšius su kažkuo [Poesie ist die Bemühung, Verbindungen mit jemandem herzustellen]. In: Ders., Lietuviškos utopijos (wie Anm. 20), S. 164–179, hier S. 173. 35 Ders. an Algimantas Švėgžda, 30.09.1983. In: Ders., Kukučio baladės (wie Anm. 34), Cover: „Man Kukutis yra daugiau nei eilėraščiai ar koks juokas. Gal vargas, užmirštas gyvenimas ir tai,

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Die ‚äsopische‘ Sprache, das Verhältnis zwischen Autor*in, Text und Leser*in, das Kontextwissen und der Bildungsaspekt Für das Gelingen der ‚äsopischen‘ Sprache ist das Verhältnis zwischen Autor*in, Text und Leser*in von entscheidender Bedeutung. Martinaitis formuliert diesbezüglich, dass die Leser*innen gelernt haben, „ungeschriebene Texte zu lesen.“36 Damit Leser*innen die kodierte Textschicht entschlüsseln und verstehen können, müssen sie vor allem über das Wissen der Autor*innen verfügen – wie auch über eine kritische, nonkonforme Weltanschauung. Die gemeinsame Basis für das gegenseitige Verständnis ist in diesem Falle „die sowjetische Realität und Ideologie“.37 „Die geheime Botschaft mußte allerdings decodierbar sein für jeden, der über ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit verfügte und mit den landesüblichen Konventionen (darunter auch offiziellen Sprachregelungen) so vertraut war, daß er nicht ein ‚Zentralorgan‘ für das Herz und ‚die Organe‘ für ein Synonym von ‚Innereien‘ gehalten hat. Auf diese Weise stellte sich bisweilen […] jenes Einverständnis zwischen Autoren und Lesern her, das geeignet war, ‚zusammen auf die Wahrheit‘ zu kommen.“38

Damit die „verborgenen Botschaften in literarischen Texten jener Jahre verstanden werden [können]“,39 müssen Leser*innen, um einen Vergleich mit Anna Seghers anzuführen, wachsam sein: „[M]an darf nicht schläfrig lesen, man muß wach, abtastend lesen, auf der Suche. Nur dann kommt heraus, was ich meine.“40 Raimonds Briedis akzentuiert dabei die Intention der Autor*innen, welche die Leser*innen entschlüsseln sollen: „While subtext (originating from the text and its contexts) can be intentional or unintentional, Aesopic language, while a type of subtext, forms as the text functions in special circumstances that preclude direct communication, making it part of the author’s conscious strategy. Aesopic language thus becomes a metaphoric device, requiring from the reader knowledge of the context and an ability to decode the author’s ,cryptogram‘.“41

Valdemaras Klumbys hebt aber in seinem Aufsatz hervor, dass die ‚äsopische‘ Sprache mitsamt der Reziprozität zwischen Autor*in und Leser*in kein die gesamte Gesell-

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kad gal niekada nenuvažiuosiu į Paryžių. Tu atspėji ne žodžius ir jų prasmę, o tai, kas yra, sakysim, geltonų šiaudų grįžtė, pamesta juodam arime.“ Ders., Įslaptinta cenzūra (wie Anm. 24), S. 59: „[…] išmoko skaityti neparašytus tekstus“. Klumbys, Ezopo kalbos prielaidos (wie Anm. 3), S. 82. Mehnert, Äsopische Schreibweise (wie Anm. 4), S. 264. Ebd., S. 268. Seghers, Anna: Reisebegegnung. In: Dies.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 12: Erzählungen 1963–1977. Berlin 21981, S. 497–529, hier S. 506. Briedis, Censorship and Aesopic Language (wie Anm. 1), S. 17.

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schaft umfassendes Phänomen war, denn es betraf mehr die Intelligenzija und die Kulturschaffenden und war deshalb als eine Form des kulturellen Widerstands angesehen.42 Erwin Rotermund schreibt in seinem Aufsatz zu den verdeckten Schreibweisen während des Nationalsozialismus unter Bezugnahme auf den Philosophen Leo Strauss ähnliche Gedanken nieder. Dabei bezieht er sich auf die von Strauss gestellte Frage: „But how can a man perform the miracle of speaking in a publication to a minority, while being silent to the majority of his readers?“43 „Strauss relies on the trustworthy, intelligent and thoughtful readers at whom the writing between the lines is directed: they alone are meticulous readers. Therefore an author intending to address such people would simply have to write in such a way that only a meticulous reader will discover the meaning of his book. […] According to Strauss, the attentive and intelligent reader is directed towards the possibility of a particular interpretation above all through apparent contradictions in the books written under the conditions of persecution; the contradictions cause him or her to infer the secret message, the author’s real opinion.“44

Dalia Satkauskytė bezeichnet in ihrem Aufsatz die Überlappung des Wissens zwischen Leser*in und Autor*in als ihre gemeinsame Verschwörung und stumme Absprache gegen das sowjetische System.45 Dieses Wissen bezog sich auf die vom Regime tabuisierten Bereiche wie zum Beispiel die Geschichte Litauens, die Zeit der Unabhängigkeit und Okkupation, die Nachkriegsresistenz und Verbannung, die Menschenrechte oder die Kritik an der sowjetischen Innen- und Außenpolitik. Tomas Venclova schreibt 1983 zu diesem Sachverhalt: „In der Sowjetunion […] gehören bestimmte Worte und Termini, bestimmte Sätze und bestimmte (fast alle) Wirklichkeitsbereiche zur verbotenen Zone. Es ist nicht nur nicht erlaubt, sondern auch unanständig, gewisse Graphem-, Wort- oder Ideenkombinationen zu drucken. […] Was nicht gedruckt wird, hört beinahe zu existieren auf […]. Unanständig, also nicht existent, sind auch andere Sachen: Religion und Homosexualität, Korruption und Hunger, Juden und nackte Frauen, Dissidenten und Emigranten, Erdbeben und Vulkane, Epidemien und Geschlechtsorgane.“46

42 Klumbys, Ezopo kalbos prielaidos (wie Anm. 3), S. 68. 43 Strauss, Leo: Persecution and the Art of Writing. Glencoe/Ill. 1952, S. 25. 44 Rotermund, Erwin: ,Concealed Writing‘ in the ,Third Reich‘: Forms and Problems of Reception. In: Reifarth/ Morrisey, Aesopic Voices (wie Anm. 1), S. 76–100, hier S. 83. 45 Vgl. dazu Satkauskytė, Ezopo kalba (wie Anm. 2). 46 Venclova, Žaidimas su cenzoriumi (wie Anm. 10), S. 418f.: „Tarybų sąjungoje […] tam tikri žodžiai ir terminai, tam tikri sakiniai, tam tikros (beveik visos) tikrovės sritys priklauso draudžiamajai ­zonai. Ne tik neleistina, bet stačiai nepadoru spausdinti kai kurias grafemų, žodžių ar idėjų kombinacijas. […] O tai, kas nespausdinama, tarytum liaujasi egzistavę […]. Nepadorūs, taigi neegzistuoja ir kiti dalykai: religija ir homoseksualumas, kyšiai ir badas, žydai ir nuogos merginos, disidentai ir emigrantai, žemės drebėjimai ir ugnikalnių išsiveržimai, epidemijos ir lytiniai organai.“

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Neben diesen verbotenen Sachgebieten waren beispielsweise Hinweise auf den Nationalsozialismus in den literarischen Werken erlaubt; auch die sogenannte „Verbeugungs‑“ bzw. „Blitzableitertechnik“ war laut Venclova gerne gesehen, wenn in den Text loyale Phrasen in der Hoffnung eingefügt wurden, dass die Leser*innen ihrer ungeachtet den gemeinten Sinn begreifen würden.47 In diesem Fall konnte die ‚äsopische‘ Sprache mit der ideologisierten Sprache der Macht einhergehen. Wenn einzelne Worte wie ‚Fahne‘, ‚Denkmal‘, ‚Soldat‘, ‚Arbeit‘ oder ‚Leben‘ benutzt wurden oder etwas in hohen Tönen gelobt wurde, konnten nur die Namen der Autor*innen oder der Gebrauchszusammenhang die wirkliche Haltung erahnen lassen. Venclova meint zwar, dass Künstler*innen mit Anstand und Selbstwertgefühl auf diese Methode verzichtet haben.48 Manchmal aber konnte das Werk nur so gerettet werden. Die Leser*innen müssen also heute all diese Kontextkenntnisse samt der Werkdatierung für die Erschließung des literarischen Textes aus der Sowjetzeit besitzen, weil nach den veränderten ideologischen Bedingungen im unabhängigen Litauen die Texte mit ihren ‚äsopischen‘ Verschlüsselungsstrategien sonst nicht mehr verständlich sind, vor allem wenn neue Generationen diese Texte rezipieren.49 Wie oben bereits erwähnt, waren es vor allem die gebildeten Rezipient*innen, die die ‚äsopische‘ Sprache, diese „poetische Geheimschrift in Diktaturen“,50 lesen und verstehen konnten. Zusammen mit den Schriftsteller*innen teilten sie das Wissen über das sowjetische System wie auch das kritische, subversive Denken. Man muss dabei aber auch die in den ländlichen Regionen lebenden Teile der litauischen Gesellschaft erwähnen, da der Widerstand dieser Menschen gegen das Regime und die Sowjetisierung sehr groß war.51 Die Autor*innen betrachteten es als ihre Aufgabe, mit der ‚äsopischen‘ Sprache ein Ideensystem zu bilden, das sich gegen das ideologisierte System auflehnte und eine Alternative anbot. Da die ‚äsopische‘ Sprache zur Bildung des kritischen Denkens beitrug, kann man in diesem Zusammenhang von einem Bildungsauftrag der Schreibenden sprechen. Valdemaras Klumbys schreibt des Weiteren in seiner Untersuchung, dass das Regime selbst „die Grammatik und Lexik der äsopischen Sprache“ gelehrt habe,

47 Vgl. ebd., S. 423: „‚reveransų‘ ir ‚perkūnsargių‘ taktika“. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. Satkauskytė, Poetikos negalimybė (wie Anm. 3), S. 20f. Vgl. dazu Mehnert, Äsopische ­Schreibweise (wie Anm. 4), S. 263: „Pascal hat darauf hingewiesen, daß es für die zutreffende Beurteilung einer Sache wichtig ist, sie aus der richtigen Distanz zu betrachten: Dabei erweist sich zu große Ferne als ebenso hinderlich wie zu große Nähe.“ 50 Jens, Walter: Von deutscher Rede. In: Müller, Adam: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland. Mit einem Essay und einem Nachwort von Walter Jens. Frankfurt/ Main 1967, S. 7–32, hier S. 31. 51 Vgl. Mikonis-Railienė, Anna; Kaminskaitė-Jančorienė, Lina: Kinas sovietų Lietuvoje [Das Kino in Sowjet-Litauen]. Vilnius 2015, S. 38.

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weil die Menschen mit permanentem Verdacht auf andere Menschen und Texte reagieren sowie fortlaufend Texte und Bedeutungen uminterpretieren mussten und schließlich auch genau gelernt hatten, welche Codes für das herrschende System problematisch und unerwünscht waren: „The study has shown that it was the Soviet regime that not only created premises and conditions conducive to the Aesopian language, but actually taught the grammar and lexis of this language. First, the Stalin regime taught to treat people, actions and texts with suspicion. The regime taught this both directly through the pursuit of enemies of the regime and wide-spread suspicion, and indirectly ­– through the fear of reprisals and distrust among people. Second, the regime strongly politicised all texts and actions. It is also important that politicization was achieved through reinterpretation of the texts or actions. As a result, a habit and skill to easily change meanings was instilled, which is an important mechanism of the Aesopian language. Third, by disclosing enemies and the inconsistencies between the texts and the prevailing ideological discourse, the regime also taught people specific codes by indicating what the regime found unacceptable and how specifically this was encoded and expressed.“52

Ob Texte mit ‚äsopischer‘ Sprache in die sowjetischen Schulcurricula und Lehrwerke aufgenommen wurden und welcher Umgang mit ihnen überhaupt herrschte, muss noch genauer erforscht werden. Ebenso ist die Frage noch nicht untersucht worden, wie im heutigen Litauen ‚äsopisch‘ kodierte Texte aus den Jahren 1960–1988 vermittelt werden.

Das Verhältnis zwischen der poetischen und der ‚äsopischen‘ Sprache Marcelijus Martinaitis und Tomas Venclova betonen beide die strukturelle und funktionelle Ähnlichkeit zwischen der ‚äsopischen‘ und der poetischen Sprache. „Die äsopische Sprache ist in einem gewissen Sinne der Literatur eingeboren. Sie gehört zur gleichen Sach-Kategorie wie Symbol und Ellipse“, schreibt Venclova.53 Und Martinaitis konstatiert: „Lyrik ist im Grunde die äsopische Sprache – manchmal künstlich, ausgedacht, grammatikalisch unzusammenhängend, nirgendwo anders anwendbar. […] Sie ist eine auf eigene Weise vereinbarte, sekundäre, in der Sphäre der Kultur entstandene Sprache.54 52 Klumbys, Ezopo kalbos prielaidos (wie Anm. 3), S. 85. 53 Venclova, Žaidimas su cenzoriumi (wie Anm. 10), S. 421: „Ezopinė kalba tam tikra prasme įgimta literatūrai. Ji priklauso tai pačiai reiškinių kategorijai, kaip simbolis ir elipsė.“ 54 Martinaitis, Kirvarpos sindromas (wie Anm. 20), S. 91: „Apskritai poezija ir yra Ezopo kalba – kartais dirbtinė, išgalvota, gramatiškai nerišli, niekur kitur nepritaikoma. […] Tai savaip sutartinė, antrinė, kultūros sferoje atsiradusi specifinė kalba.“

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Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass der Subtext eines literarischen Textes intentional oder nicht intentional sein kann, während der ‚äsopische‘ Subtext immer eine Intention der Autor*innen darstellt55 und auf die sowjetische Ideologie bezogen ist. Die ‚äsopische‘ Nachricht zählt zu den mit legalen Mitteln weitergegebenen illegalen Nachrichten unter Bedingungen der politischen Zensur;56 deshalb sind ihre wesentlichen Charakteristika Subversivität und Kritik. „Literatur hat in den strengsten Regime-Zeiten die Rolle der schwer kontrollierbaren Vermittlerin gespielt“, schreibt Martinaitis57 und führt an anderer Stelle aus: „Vor kurzem war die in unserer Lyrik sogenannte äsopische Sprache eine gewisse poetische und politische Konspiration. Lyrik ist jedoch das, was bleibt, nachdem man Politik, Publizistik und Chiffren von Schlüsselworten weggelassen hat.“58 Dementsprechend wird die ‚äsopische‘ Sprache zu einer politischen oder moralischen Wertung. Mit welchen poetischen Mitteln oder rhetorischen Techniken arbeitet die ‚äsopische‘ Sprache? Dalia Satkauskytė nennt in ihrem Aufsatz folgende: Zeitliche oder räumliche Übertragung, die immer als Analogie-Prinzip und indirekter Vergleich wirkt; Erzählen mit der Stimme einer vertrauensunwürdigen Person (oder Wechsel dieser Stimmen); bestimmte Gattungen wie Science-Fiction und Parabel; Andeutungen, Allusionen, Gleichnisse, „Blitzableitertechnik“, Verschweigen, ironische Benutzung von offiziellen Diskursmitteln, Kritik des offiziellen Diskurses oder der Politik, die in eine komplizierte Textstruktur eingebettet wird.59

Die ‚äsopische‘ Sprache und die Autonomie des Kunstwerks Ein Text mit ‚äsopischer‘ Sprache ist Beweis dafür, dass auch in einem totalitären Regime die Möglichkeit des freien Denkens aufrechterhalten werden kann. Ein solcher Text verfügt zum einen über eine künstlerisch-ästhetische, zum anderen über eine sozialpolitische Ebene.60 Diese ist ‚äsopisch‘ kodiert. Wenn die politische Zensur endet, kann ein solcher Text auch ohne die ‚äsopische‘ Nachricht gelesen werden.61 Für die Entschlüsselung der ‚äsopischen‘ Sprache benötigen die Leser*innen, wie bereits erwähnt, ein spezielles Kontextwissen. Zu der Autonomie des Kunstwerks schreibt 55 Vgl. Briedis, Censorship and Aesopic Language (wie Anm. 1), S. 17. 56 Vgl. Satkauskytė, Poetikos negalimybė (wie Anm. 3), S. 16. 57 Martinaitis, Įslaptinta cenzūra (wie Anm. 24), S. 64: „[…] literatūra griežčiausio režimo metais vis dėlto atliko sunkiai kontroliuojamos ryšininkės vaidmenį“. 58 Ders., Kirvarpos sindromas (wie Anm. 20), S. 92: „Neseniai mūsų poezijoje vadinamoji Ezopo kalba buvo dar ir tam tikra poetinė bei politinė konspiracija. Tačiau vis dėl to poezija yra tai, kas lieka atmetus politiką, publicistiką, slaptažodžių šifrus.“ 59 Vgl. Satkauskytė, Poetikos negalimybė (wie Anm. 3), S. 16f. 60 Ebd., S. 23. 61 Ebd.

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Martinaitis 1993: „Ich meine andere Verbindungen, die in den tiefsten Schichten der Kultur, Kunst, Literatur […] verheimlicht sind. Solche Verbindungen können die repressiven Regime weder kontrollieren noch unterdrücken.“62 Zwei Texte aus dem Fundus litauischer Literatur der Sowjetzeit können als Beispiele für ‚äsopische‘ Sprache unter Berücksichtigung der genannten künstlerisch-ästhetischen und sozialpolitischen Ebenen dienen. Es handelt sich um zwei Gedichte von Janina Degutytė: Ištrėmimo sonetai63

Verbannungssonette

1 Iš rojaus, iš ramybės ištremti, mes riedam tolyn. Po ištrėmimo ženklu. Širdis iš žalvario, iš sopulio, iš viesulo nulieta. Pro šitiek vartų žengta... Mus varė iš namų, iš pasakų […]

1 Aus dem Paradies, aus der Ruhe vertrieben, rollen wir vorwärts. Mit dem Zeichen der Verbannung. Das Herz, gegossen aus Messing, aus Schmerz, aus Sturm. Durch so viele Tore geschritten... Vertrieben von zu Hause, aus den Märchen. […]

3 Nuosprendžiai beveidžiai ir kurti mums ant balto kelio palikti. Kas pasirenka: aš ar mane? […]

3 Die Beschlüsse gesichtslos und taub, für uns am weißen Weg gelassen. Wer wählt: ich oder mich? […]

7 Bet nereikia pamiršti nieko. Užmarštis už mirtį baisesnė. Po vokais tegu sapnas lieka, gomurys teatsimena kąsnį tartum atšaką, o delnai – ugnį ledą išsiskyrimo. […]63

7 Aber man muss nichts vergessen. Vergessenheit ist schrecklicher als der Tod. Die Lider sollen den Traum bewahren, der Gaumen soll sich an den Bissen erinnern wie an eine Gräte und das Handinnere – an das Eis das Feuer der Trennung. […]

(1972/1973)

62 Martinaitis, Marcelijus: Įslaptintų ryšių legalizavimas [Legalisierung der geheimen Verbindungen]. In: Ders., Lietuviškos utopijos (wie Anm. 20), S. 69–79, hier S. 69: „Turiu mintyse kitokius ryšius, įslaptintus gilesniuose kultūros, meno, literatūros kloduose […]. Tokių ryšių nesugeba iki galo nei kontroliuoti, nei užgniaužti represiniai režimai.“ 63 Degutytė, Janina: Ištrėmimo sonetai [Verbannungssonette]. In: Dies.: Rinktiniai raštai [Gesammelte Werke]. Bd. 2: Poezija, poezija ir proza vaikams, vertimai [Lyrik, Lyrik und Prosa für Kinder, Übersetzungen]. Vilnius 1988, S. 26–29.

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Degutytės siebenteiliger Gedicht-Zyklus mit dem Titel Verbannungssonette ist vielschichtig konzipiert. Es werden Naturbilder und mythologische Bezüge verwendet. Die Welt der Kindheit und der Märchen, Erwachsenwerden, Einsamkeit, Vergänglichkeit, Erinnerung sind angesprochene Themen. Das Motiv der Verbannung kann auch historisch und politisch gelesen werden als Anspielung auf die durch Stalin initiierten Deportationen von ca. 300.000 Litauern nach Sibirien in den Jahren 1940–1953. Viele Menschen wurden in die sibirischen Gulags gesperrt. Die Dichterin appelliert im Gedicht indirekt daran, die Erinnerung an diese Ereignisse zu bewahren. Die ‚äsopischen‘ Andeutungen sind als Kritik an der Politik und als Erinnerungsappell zu lesen. Ein weiteres Gedicht von Janina Degutytė trägt den Titel Im Jazz-Rhythmus:64 Džiazo ritme

Im Jazz-Rhythmus

Tas bevardis nerimas stipresnis už mus. Išbėgame iš namų mintimis, traukiniais ir lėktuvais. Ir užpildom gatves, kavines ir viešbučius. Ir išplaukiam ant sielių vieniši – akistaton su vandenynu.

Diese namenlose Angst ist stärker als wir. Wir rennen fort von zu Hause in Gedanken, Zügen und Flugzeugen. Und füllen die Straßen, Cafés und Hotels. Wir treiben auf Flößen in Einsamkeit – auf Konfrontation mit dem Ozean.

Apakę nuo skaičių, nuo protingų raketų ugnies, Apkurtę nuo garsiakalbio žodžių ir nuo Mėnulio fleitų, – Nustebę ir tylūs ragaujam iš delno aitrią kanapių sėklą…

Unsere Augen sind blind von den Zahlen, vom Feuer der klugen Raketen, Unsere Ohren sind taub von den Lautsprecherstimmen, von den Flöten des Mondes, – erstaunt und stumm kosten wir aus dem Handinneren die herbe Hanfsaat…

Tokie lankstūs mūsų stuburkauliai! Bet betono ir stiklo sienos nepaslepia. Bet laiptų spiralės kyla ir leidžias žemyn. Ir pasimatyme su savim trokštame būti dievais Pasaulio Pirmąją Dieną.64

So flexibel sind unsere Rückgrate! Aber die Beton- und Glaswände verstecken nicht. Aber die Treppenspiralen steigen und fallen. Bis wir uns selbst begegnen wollen wir wie die Götter sein am Ersten Tag der Welt.

(1967) 64 Dies.: Pilnatis [Vollmond]. Vilnius 1967, S. 108.

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Degutytė thematisiert gleich zu Beginn ihres Gedichts die Emotion der „Angst“ bzw. „starken Unruhe“ und verweist damit auf den sowjetischen Kontext. In Anlehnung an Martinaitis kann dieser Verweis als Anspielung auf die Zensur gelesen werden, die „schizophrene Verfolgungskomplexe“65 beförderte. In der darauffolgenden Strophe wird diese starke Emotion über die Körperreaktionen des lyrischen Wir „blind“ und „taub“ zum Ausdruck gebracht, womit die Autorin indirekt – also mit ‚äsopischer‘ Sprache – auf den sowjetischen Kontrollmechanismus, die Propaganda und Raketenpolitik aufmerksam macht: „Unsere Augen sind blind von den Zahlen, / vom Feuer der klugen Raketen, / Unsere Ohren sind taub von Lautsprecherstimmen, / von den Flöten des Mondes“. Überdies wird der Konnex zur Trauer und Enttäuschung über die Einsamkeit des Wir hergestellt. Der im Gedichttitel genannte Jazz steht vor diesem zeithistorischen Hintergrund für Individualität, Freiheit und Diversität. Degutytė rekurriert damit auf die Diskrepanz zwischen sowjetischem Standard und sowjetischer Individualität, zwischen Alltagsleben und Moral. Denn es war zu der Zeit üblich – im Sinne einer doppelten Moral – etwas zu sagen und etwas anderes zu tun: „So flexibel sind unsere Rückgrate!“ Die letzten zwei Verse nehmen Bezug auf die Heilige Schrift – und dies in der Sowjetzeit! Mit dem Hinweis auf den ersten Tag der Schöpfung wird die Bedeutung der Trennung zwischen dem Tag und der Nacht, der Helligkeit und der Dunkelheit, der (sowjetischen) Wahrheit und der Lüge aktualisiert.

Zusammenfassung (1) Die ‚äsopische‘ Sprache verfügt über eine verschwiegene, ‚ungeschriebene‘ Schicht – einen Subtext – und widersetzt sich der Sprache der Macht. Den Terminus gibt es in Litauen bereits vor der Sowjetzeit. Die 1950er und 1960er Jahre sind aber entscheidend für die Entwicklung der ‚äsopischen‘ Sprachtradition. In den 1960er Jahren, während der Tauwetterperiode, wird der Begriff intensiv eingesetzt. Die vollständige Kontrolle und Zensur im totalitären Regime Litauens führen zur Etablierung der ‚äsopischen‘ Sprache. Zensiert wird alles, was zum Druck und zur Veröffentlichung gelangt. Das herrschende System drängt außerdem die Autor*innen zur Selbstzensur. Es lässt sich somit der zeitliche Rahmen für das Phänomen der ‚äsopischen‘ Sprache in Litauen bestimmen: Nach der Wende 1989 müssen die Autor*innen die für ihre Texte gewohnte ‚äsopische‘ Kodierung zurücknehmen. Die Leser*innen müssen all diese Kontextkenntnisse samt der Werkdatierung für die Erschließung des literarischen Textes aus der Sowjetzeit besitzen, weil ansonsten nach den veränderten ideologischen Bedingungen im unabhängigen Litauen die 65 Martinaitis, Įslaptinta cenzūra (wie Anm. 24), S. 51.

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Texte mit den ‚äsopischen‘ Verschlüsselungsstrategien nicht mehr verständlich sein können, vor allem für die jüngeren Generationen. Für das Gelingen der ‚äsopischen‘ Sprache ist das Verhältnis zwischen Autor*in, Text und Leser*in von entscheidender Bedeutung. Damit die Leser*innen den Subtext entschlüsseln und verstehen können, müssen sie vor allem das Wissen mit den Autor*innen teilen – wie auch über eine kritische, nicht-konforme Weltanschauung verfügen. Die gemeinsame Basis für das gegenseitige Verständnis ist in diesem Falle das ideologische System Sowjetlitauens. Die Leser*innen müssen außerdem die Intention der Autor*innen entschlüsseln können. Zwischen der poetischen und der ‚äsopischen‘ Sprache bestehen strukturelle und funktionelle Ähnlichkeiten. Beide arbeiten unter anderem mit Symbolen, Ellipsen, Übertragungen und Allusionen. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass die kodierte Textschicht eines literarischen Textes intentional oder nicht intentional sein kann, der ‚äsopische‘ Subtext stellt immer eine Intention der Autor*innen dar und ist auf die sowjetische Ideologie bezogen. Die ‚äsopische‘ Nachricht zählt zu den unerlaubten Nachrichten unter Bedingungen politischer Zensur, deshalb sind ihre wesentlichen Charakteristika Subversivität und Kritik. Ein Text mit ‚äsopischer‘ Sprache ist Beweis dafür, dass auch in einem totalitären Regime die Möglichkeit des freien Denkens aufrechterhalten werden kann. Ein solcher Text verfügt über eine künstlerisch-ästhetische wie auch über eine sozialpolitische Ebene. Diese zeichnet sich durch die ‚äsopische‘ Kodierung aus. Wenn die politische Zensur endet, ist es möglich, einen solchen Text auch ohne die ‚äsopische‘ Mitteilung zu lesen. (2) Die ‚äsopische‘ Sprache wurde vor allem von den gebildeten Leser*innen rezipiert und verstanden. Sie teilten zusammen mit den Schriftsteller*innen das Wissen über das sowjetische System wie auch das subversive Denken. Die Autor*innen machten es sich zur Aufgabe, mit der ‚äsopischen‘ Sprache ein alternatives Ideensystem zu bilden. Aus diesem Grund kann man von einem Bildungsauftrag der Schreibenden sprechen, weil die ‚äsopische‘ Sprache zur Bildung des kritischen Denkens beitrug. Aber auch das Regime selbst samt seinen Mechanismen lehrte die Menschen zu verstehen, wie die ‚äsopische‘ Sprache funktioniert. Ob Texte mit ‚äsopischer‘ Sprache in die sowjetischen Schulcurricula und Lehrwerke aufgenommen wurden, müsste noch genauer erforscht werden. Ebenso müsste der Frage nachgegangen werden, welcher Umgang mit ‚äsopisch‘ kodierten Texten aus den Jahren 1960–1988 heute in den Schulen vermittelt wird.

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Verheißung und Verrat – zu Bildungsgeschichten bei Jaan Kross Haritud eestlane on nii haruldane asi, et kui ta ka olemas on, peab ta neetult tark olema. (Kolme katku vahel)1

Welche Bedeutung der Bildung in der estnischen Kulturgeschichte zukommt und welche Ambivalenz dem Paradigma eingeschrieben ist, lässt sich in nuce an den Erzähltexten von Jaan Kross (1920–2007) ablesen, den Jaan Undusk einmal als den „beste[n] Kenner der estnischen Kulturgeschichte“ bezeichnet hat.2 Der vorliegende Aufsatz untersucht literarisch inszenierte Bildungsgeschichten in Kross’ Erzählwerk, wobei der Fokus auf der Novelle Michelsoni immatrikuleerimine (1971, dt. Die Immatrikulation des Michelson, 1985) sowie auf dem historischen Roman Rakvere romaan (1982, dt. Die Frauen von Wesenberg oder Der Aufstand der Bürger, 1997) liegt. Beide Texte gehören zur ersten Phase seines erzählerischen Werks. Ein kurzer Werkabriss ordnet sie hinsichtlich der Entstehungsbedingungen ein und weist auf das für den Autor zentrale Verhältnis von Geschichte und Fiktion sowie von (Auto-)Biographie und Schreiben hin. Im Hauptteil soll interpretativ die These erörtert werden, dass Kross’ frühe historische Romane und Novellen Geschichten erzählen, in denen ein gesellschaftlicher Aufstieg in unauflösliche Widersprüche führt: Wer aufsteigt, muss seine Herkunft hinter sich lassen und behält dennoch deren Markierung, so dass er nie oben ankommen wird. Die Verheißungen des sozialen Aufstiegs – insbesondere durch Bildung – erweisen sich zwar als Möglichkeit, über ethnische Grenzen und Standesgrenzen hinwegzugehen, sie zeigen sich aber zugleich als begrenzt, da der Aufsteiger zum doppelten Außenseiter wird, sowohl hinsichtlich seiner Herkunft als auch hinsichtlich der Gesellschaft, in die er aufsteigt. Somit zeugen diese Geschich1 Das Motto entstammt der Trilogie Kolme katku vahel (1970–1980; dt. Das Leben des Balthasar Rüssow, 1986) und lässt sich auf Deutsch wie folgt wiedergeben: „Ein gebildeter Este ist eine solche Seltenheit, und wenn sich denn einer findet, dann muss dieser unglaublich klug sein.“ Es führt eine Liste der 15 berühmtesten Kross-Zitate an, die der Estnische Rundfunk veröffentlicht hat: Kuusik, Silver: Jaan Krossi 15 populaarsemat tsitaati [Die 15 berühmtesten Zitate von Jaan Kross]. Eesti Rahvusringhääling (ERR). 01.09.2013. URL: https://menu.err.ee/267427/jaan-krossi-15-populaarsemat-tsitaati (21.12.2021). 2 Undusk, Jaan: Isiksusest, ajaloost ja häbist: Jaan Krossi lugedes [Über Persönlichkeit, Geschichte und Scham: Jaan Kross-Lektüren]. In: Looming 4 (2005), S. 597–619, hier S. 608.

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ten von Verheißung und Verrat zugleich. Scheiternde Bildungsgeschichten also? Ja, aber dennoch eröffnen Kross’ Erzähltexte die Möglichkeit von Veränderung und zeigen Alternativen zur Geschichte auf.

Werkgeschichtliche Einordnung Jaan Kross debütierte 1958 mit Gedichten, und erst in den 1970er Jahren kündigte sich sein Wechsel zur Prosa an. Wenngleich er für die Entwicklung der experimentellen estnischen Lyrik wichtig war, hat er seinen – nicht zuletzt internationalen – Ruhm vor allem als Autor von Romanen erlangt. Sein Erzählwerk ist in viele europäische Sprachen übersetzt, neben dem Finnischen, Russischen, Englischen und Französischen nicht zuletzt auch ins Deutsche. In Deutschland erreichte der estnische Schriftsteller nach seinem Debüt in der DDR in den 1970er Jahren vor allem in den 1990er Jahren Popularität durch die Aufnahme seiner Werke in den Hanser Verlag sowie durch eine deutschsprachige Konferenz zu seinem Œuvre im Jahr 1989.3 Insbesondere die historischen Romane haben Kross, wie Cornelius Hasselblatt schreibt, „zu einem Botschafter seiner Literatur und auch seines Landes in der Welt gemacht.“4 In den letzten Jahren ist in Deutschland ein erneutes Interesse für sein Erzählwerk zu beobachten, da mit den Romanen Wikmani poisid (1988; dt.  Wikmans Zöglinge, 2017), übersetzt von Irja Grönholm, und Vastutuulelaev (1987, dt. Gegenwindschiff, 2021), übersetzt von Cornelius Hasselblatt, zwei weitere Werke ins Deutsche übertragen wurden. Noch immer sind jedoch zahlreiche Erzähltexte des großen estnischen Autors nicht auf Deutsch zugänglich. Jaan Kross’ Romanwerk lässt sich grob in zwei Phasen unterteilen. In den 1970er und 1980er Jahren schreibt er sich entlang der estnischen Geschichte, vom Livländischen Krieg bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts: Die Trilogie Kolme katku vahel (1970–1980, dt. Das Leben des Balthasar Rüssow, 1986) behandelt die Zeit um den Livländischen Krieg in Form von drei Zeitabschnitten (1. Teil: 1547 bis 1558, 2. Teil: 1558 bis 1562, 3. Teil: 1562 bis 1578). Der Roman Keisri hull (1978, dt. Der Verrückte des Zaren, 1982) hat zwei Zeitebenen und thematisiert die Spätphase der baltischen Aufklärung; eine Rückblende setzt 1813 während der Regentschaft des Zaren Alexander I. ein und nähert sich sukzessive der Zeitebene der Rahmenhandlung, die 1827, während der Herrschaft des Zaren Nikolaus I., be3 Ausführlich geht Cornelius Hasselblatt auf die Kross-Rezeption in Deutschland und die deutschsprachigen Kross-Übersetzungen ein. Vgl. Hasselblatt, Cornelius: Estnische Literatur in deutscher Übersetzung. Eine Rezeptionsgeschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Wiesbaden 2011, S. 314–341. Siehe außerdem Schwencke, Olaf (Hg.): Der Verrückte des Zaren. Jaan Kross in Loccum. Rehburg-Loccum 1990. 4 Cornelius Hasselblatt: Geschichte der estnischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 2006, S. 695.

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ginnt. Der Rakvere romaan (1982, dt. Die Frauen von Wesenberg oder Der Aufstand der Bürger, 1997) spielt in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts (1764ff.) während der Hochphase der Aufklärung, und der Roman Professor Martensi ärasõit (1984, Professor Martens’ Abreise, 1992) erzählt in der Rahmenhandlung den Todestag des Protagonisten im Jahre 1909, wobei die darin eingelagerten Reminiszenzen weit ins 19. Jahrhundert und punktuell sogar darüber hinaus zurückreichen – in die Zeit, als sich mehr und mehr das sogenannte nationale Erwachen der Esten (und Letten) ankündigt. Zudem verfasste Jaan Kross kürzere historische Prosa, die oft Wegmarken der estnischen Geschichte zur Sprache bringt und historische Persönlichkeiten wie etwa den General im Dienst der Zarin Katharina II., Johann von Michelson, oder den Dichter Kristian Jaak Peterson sowie andere mehr thematisiert. Zentral für dieses Erzählwerk ist das spannungsreiche Verhältnis zwischen Geschichte und Fiktion. Dabei treten zumeist homodiegetische Erzähler auf den Plan, die in Form von Analepsen über historische Ereignisse berichten und reflektieren. In seinem ersten Roman handelt es sich sogar um einen authentischen Fall. So löste der zweite Band seines Romans über Balthasar Rüssow, der vor dem Hintergrund des Livländischen Krieges spielt und zugleich von der Entstehung eines Geschichtswerks, der Livländischen Chronik,5 erzählt, einen kleinen Historikerstreit aus: „The Chronicle itself is subtly reinvented and peels out of and away from the novel’s narrative. Kross’ fictionalisation and metafictional [...] irritated historians in Estonia when Volume II of Between Three Plagues was published in 1972. The ­ensuing debate was not merely about factual accuracy and poetic licence [...]; rather, it concerned the openness of the aperture between history and ideology in the Soviet 1970s, and the validity of historical fiction as surrogate history.“6

Die estnische Literaturwissenschaftlerin Tiina Kirss erhellt, mit welchen literarischen Mitteln der Autor die Livländische Chronik nicht nur aufgreift, sondern auch deren Versteinerung in der Rezeption aufbricht, um so alternative Deutungen der ­estnischen Geschichte anzubieten und auf das Arsenal noch nicht erzählter Geschichte(n) hinzuweisen. Dieser Befund lässt sich auf seine weiteren historischen Romane und Erzählungen aus der ersten Werkphase übertragen, wie die Kross-Forschung gezeigt hat.7 5 Henrici chronicon Livoniae / Heinrich von Lettland. Neu übersetzt von Albert Bauer, bearbeitet von Leonid Arbusow und Albert Bauer. Darmstadt 1959. Das Original von 1874 ist als Digitalisat bei der Staatsbibliothek München verfügbar, URL: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/ bsb11184632?q=%28Heinrici+Cronicon+Livoniae%29&page=2,3 (19.12.2021). 6 Kirss, Tiina Ann: Balthasar Russow at Koluvere Peasant Rebellion in Jaan Kross’ Between Three Plagues. In: Kaljundi, Linda; Laanes, Eneken; Pikkanen, Ilona (Hg.): Novels, Histories, Novel Nations. Historical Fiction and Cultural Memory in Finland and Estonia. Helsinki 2015 (Studia ­Fennica Historica 19), S. 257–278, hier S. 258. 7 Vgl. Thomas Salumets’ Bemerkung: „Whatever factual disputes there might be between historians and Jaan Kross, in his fiction, Estonia’s history presents itself in a fundamental way as more real than the dominant discourse of professional historians, East and West, permitted for a long time.“ Salu-

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Kross’ historische Romane beziehen sich stets sowohl auf eine vergangene Epoche als auch auf die Gegenwart des Autors. Am nachdrücklichsten ist sicherlich Kross’ bekanntester Roman Keisri hull (dt. Der Verrückte des Zaren) sowohl als historischer als auch als Zeitroman verstanden worden. Die Geschichte des – authentischen – deutschbaltischen Adligen Timotheus von Bock, der selbst nach seiner langen und harten Haftzeit Bespitzelungen ausgesetzt ist, schließlich mit seiner Frau Eeva und seinem Schwager Jakob Mättik die Flucht ins Exil plant und kurz vor der Abfahrt beschließt, trotz alledem im Land zu bleiben, kann als verhüllte Darstellung des Lebens unter den Bedingungen der sozialistischen Diktatur gelesen werden.8 In den späten 1980er Jahren setzt aus zwei Gründen ein Übergang zur zweiten Phase im Kross’schen Werk ein. Erstens überschneidet sich fortan die erzählte Zeit der Texte mit der Lebenszeit des Autors, und zweitens schreibt Kross fortan nicht mehr unter den Bedingungen der Zensur.9 Diesen Übergang markieren Vastutuulelaev (1987, dt. Gegenwindschiff, 2021) und Tabamatus (1993, dt. Unerreichbarkeit),10 da diese Romane hinsichtlich der erzählten Zeit weder eindeutig der einen noch der anderen Phase zuzuschlagen sind.11 Doch ersichtlich ist schon an diesen Texten, dass dem Autor nun nicht mehr nur historische Quellen zur Verfügung stehen, sondern dass er neben Zeitzeugen auch auf die eigene Erfahrungswelt zurückgreifen kann. Dennoch ist in keinem der beiden Texte jenes Merkmal zu finden, das die zweite Phase kennzeichnet, nämlich das Auftauchen von Figuren und Erfahrungen, die dem Leben Jaan Kross’ offenkundig zuzuordnen sind; teilweise erkennt man unschwer ein Alter Ego des Autors. Schon hinsichtlich der ersten Phase des erzählerischen Werkes wurde die These aufgestellt, Kross schreibe in den historischen Romanen immer auch seine eigene Geschichte, und dies umso mehr, als seine historischen Romane, wie erwähnt, auf einer weiteren Ebene stets als Zeitromane zu verstehen sind.12 Kross selbst hat sich zu einem „Schreiben als erweiterte Biographie“13 bekannt. Auf der Tagung der Evan

mets, Thomas: Jaan Kross. In: Journal of Baltic Studies 31/3 (2000), S. 225–236, hier S. 226f. Vgl. außerdem Kirss, Tiina: History and Narrative. An Introduction to the Fiction of Jaan Kross. In: Cross Currents 6 (1987), S. 397–404. 18 Vgl. Jaanus, Maire: Estonia and Pain. Jaan Kross’ „The Czar’s Madman“. In: Journal of Baltic Studies 31/3 (2000), S. 253–272. 19 Vgl. Kurman, George: Literary Censorship in General and in Soviet Estonia. In: Journal of Baltic Studies 8/1 (1977), S. 3–15. 10 Dieser Roman ist noch nicht ins Deutsche übersetzt. 11 Cornelius Hasselblatt unterteilt die Prosa ebenfalls wie beschrieben, schreibt allerdings in seinem Nachwort zu Gegenwindschiff, dass die beiden erwähnten Romane weder der historischen noch der biographisch geprägten Phase zuzuordnen sind. Vgl. Hasselblatt, Cornelius: Nachwort. In: Jaan Kross. Gegenwindschiff. Übersetzt von Cornelius Hasselblatt, S. 421–430, hier S. 422f. 12 Vgl. hierzu etwa Kirss, Tiina: Playing the Fool in the Territory of Memory: Jaan Kross’ Autobiographical Fictions of the Twentieth Century. In: Journal of Baltic Studies 21/3 (2000), S. 273–294. 13 Kross, Jaan: Sei kein Narr… Mein Schreiben als erweiterte Biographie. In: Schwencke, Der Verrückte des Zaren (wie Anm. 3), S. 25–36, hier S. 25.

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gelischen Akademie Loccum 1989 unterscheidet er drei „Ebenen“, auf denen der Autor sich in sein Werk einschreiben könne: erstens in einem „zur Konturlosigkeit erweiterten Sinn“, da die Worte Produkte des Autors sind; zweitens insofern die erzählte Welt ohne die Erfahrung, Erlebnisse und Wahrnehmungen des Autors nicht möglich sei und also „der Stoff seine Lebenserfahrung […] in neuen Zusammenhängen und Auslegungen“14 in den Texten entstehen lässt; und schließlich drittens in einem sehr konkreten Sinn, wenn die „eigene Story“15 in den Text Eingang findet. Da gleichsam jeder Text die Bedingung der ersten Ebene erfüllt, ist allein die Unterscheidung zwischen zweitens und drittens relevant – und just hier liegt auch die Grenze zur zweiten Phase des Erzählwerks. So ist der Schulroman Wikmani poisid (1988; dt. Wikmans Zöglinge, 2017) in hohem Maße autobiographisch grundiert. Hinter der Figur des Jaak Sirkel erkennt man unschwer den Autor, und hinter der Wikman’schen Schule das Jakob Westholm’sche Gymnasium in Tallinn (Reval), wo Jaan Kross 1938, also im selben Jahr wie Jaak Sirkel im Roman, das Abitur ablegte. Hinsichtlich der Schüler und ihrer Lehrer hat der Roman Züge eines Schlüsselromans, doch erschöpft er sich nicht darin, sondern handelt von der gesamten ersten Generation der Esten, die in Unabhängigkeit aufgewachsen sind, und zu der auch Jaan Kross gehört. Der Untertitel des Romans Mesmeri ring (dt. Der Mesmer-Kreis), der 1995 veröffentlicht wird, lautet Romaniseeritud memuaarid nagu kõik memuaarid ja peaaegu iga romaan,16 womit fiktionalisierte Lebenserinnerungen zum poetischen Prinzip eines jeden Romans erklärt werden. In der Kross-Forschung spricht man von biographischen Romanen oder fiktionalisierten Biographien, da Episoden aus Kross’ Lebensgeschichte in den Texten offensichtlich sind und der Autor sein Alter Ego durchaus unterschiedlich in der erzählten Welt in Szene setzt.17 Die Korrelation der erzählten Zeit respektive erzählten Welt mit der Erfahrung des Autors bzw. seiner Biographie zur Unterscheidung der Werkphasen korrespondiert also mit veränderten Entstehungsbedingungen. Die Romane und Erzählungen der ersten Phase sind in der sowjetestnischen Zeit verfasst bzw. veröffentlicht und somit im Bewusstsein drohender Zensur sowie unter den Bedingungen ­eingeschränkter Recherchemöglichkeiten entstanden. Dagegen wurden die Texte der zweiten Phase in der Zeit der wiedererlangten Unabhängigkeit Estlands geschrieben und publiziert. Obgleich Bildungsgeschichten in beiden Werkphasen zu finden sind, sei im Folgenden die Konzentration auf Texte der ersten Phase begründet.

14 Ebd. 15 Ebd., S. 26. 16 Dt. Lebenserinnerungen als Roman wie alle Lebenserinnerungen und fast jeder Roman (übersetzt von Silke Pasewalck und Dieter Neidlinger; der Roman ist noch nicht ins Deutsche übersetzt). 17 Cornelius Hasselblatt spricht von „autobiographische[r] Prosa“. Vgl. Hasselblatt, Geschichte der estnischen Literatur (wie Anm. 4), S. 693.

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Bildungsgeschichten bei Jaan Kross Fragt man nach Bildungsgeschichte und Bildungsgeschichten bei Jaan Kross, so springt einem sofort der bereits erwähnte Roman Wikmani poisid (dt. Wikmans Zöglinge) ins Auge, der sich auch vor dem Hintergrund estnischer Schulromane analysieren ließe. Zweifelsohne weiß sich Kross in dieser Traditionslinie18 und bietet in Wikmans Zöglingen einen unterhaltsamen Einblick in das Bildungssystem der ersten Estnischen Republik. Vornehmlich geht es im Roman wie gesagt um die Zeit der ersten Unabhängigkeit Estlands zwischen den beiden Weltkriegen und der ersten in dieser Freiheit aufgewachsenen Generation. Unser Interesse richtet sich im Folgenden indes weder auf diese Zeit noch speziell auf die Bildungseinrichtung Schule und auch nicht auf die Frage, was die Esten aus ihrer Freiheit gemacht haben. Vielmehr wenden wir uns den Bildungsgeschichten unter den Bedingungen der Fremdbestimmung zu, in denen zugleich die Idee der Selbstbestimmung explizit wird, weshalb nur Texte der ersten Werkphase in Frage kommen. Hierbei erstaunt, dass die historischen Romane dieser Phase, obgleich sie in der Zeit quasi kolonialer Zustände spielen, Aufstiegsgeschichten von Esten erzählen. „Kross’ project in Between Three Plagues and his subsequent novels was to read and write petite histoire, thereby creating a gallery of educated Estonian heroes of whom there were at least some traces in archival sources, and who had risen above the mute mass of a toiling, enserfed peasantry to till the soil of culture.“19

Balthasar Rüssow, der Protagonist des ersten historischen Romans, der Trilogie Das Leben des Balthasar Rüssow, steigt vom Sohn eines einfachen Kutschers, nach Lateinschule und deutscher Hochschule, zum Pastor und schließlich zum Verfasser der Livländischen Chronik auf. Berend Falck aus Die Frauen von Wesenberg muss sein Studium in Deutschland zwar aus Geldmangel abbrechen, ergattert aber – darin zahlreichen Angehörigen des sogenannten Literatenstandes vergleichbar, die nach dem Nordischen Krieg aus Deutschland in die russischen Ostseeprovinzen kamen – eine Stelle als Hofmeister in Wesenberg (Rakvere). Jakob Mättik ist zwar nicht der zentrale Protagonist im Verrückten des Zaren, hat jedoch als Erzähler, der schriftlich über die historischen Ereignisse Zeugnis ablegt, eine zentrale Funktion, die weit 18 Der Roman bezieht sich auf den ersten Seiten ausdrücklich auf diese Tradition, insbesondere auf den zweiten Band aus Anton Hansen Tammsaares Tetralogie Tõde ja õigus (1926–1933, dt. Wahrheit und Gerechtigkeit): „Zum Kuckuck, warum sollte man über das einst so berühmte und jetzt so vergessene Wikmansche Gymnasium nicht einen Roman schreiben?! Wo doch das Maurus’sche mit Hilfe einer fünfbändigen Epopöe bekannt wurde! Und nicht nur bekannt, sondern auch anerkannt.“ Kross, Jaan: Wikmans Zöglinge. Übersetzt von Irja Grönholm. Hamburg 2017, S. 7. Zu denken wäre auch an Oskar Luts’ vergnügliche Schulalltagsgeschichten in zwei Bänden unter dem Titel Kevade (1912/13, dt. Frühling), die zugleich eines der populärsten Bücher in Estland sind. 19 Kirss, Balthasar Russow at Koluvere Peasant Rebellion (wie Anm. 6), S. 257f.

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darüber hinausgeht, dass er der Schwager des baltischen Adligen Timotheus von Bock und damit sein Leben mit dessen Schicksal verbunden ist. Von Bocks Ziel, die Esten zu bilden, findet seinen Ausdruck unmittelbar in der Biographie Mättiks, der vom Bauernjungen zum Chronisten der Geschichte wird. Mit Friedrich Fromhold Martens schließlich greift Jaan Kross in seinem Roman Professor Martens Abreise auf eine historische Figur zurück, die eine Bildungs- und Aufstiegsgeschichte ohnegleichen bieten kann: Denn er besitzt nicht nur den höchsten Bildungsabschluss im Kross’schen Figurenkabinett, er ist auch beruflich die Leiter des Erfolges bis zur letzten Stufe emporgestiegen: zum Professor für Völkerrecht, Diplomat im Dienste des Zaren und Schiedsrichter bei Friedensverhandlungen, der nicht zuletzt mehrfach für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wird. Ihn in seinem Erfolg als gescheitert zu erkennen, belegt in aller Deutlichkeit das Phänomen des Aufstiegs ohne Ankunft bei gleichzeitigem Verlust der Herkunft.20 Im Folgenden beschränken wir uns auf zwei historische Erzähltexte, deren Geschichten beide in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, kurz vor der Französischen Revolution und mitten in der Epoche der Aufklärung, spielen. Die Bildungsgeschichten der Esten werden vom Licht der aufklärerischen Ideen angeleuchtet, die über Medien (Bücher, Zeitschriften, moralische Wochenschriften), Träger (Literaten und Pastoren) und Institutionen (Bibliotheken, Lesezirkel, Theater) die deutsche und die russische Elite in den Ostseeprovinzen erreichen.21 Im Lichte dieser neuen Ideen tritt die Diskrepanz zwischen Verheißung des Aufstiegs und Verrat hinsichtlich Herkunft und Ankunft besonders deutlich zu Tage. Es handelt sich um jene Jahre, als das Gebiet des heutigen Estlands Teil des Petersburger Imperiums geworden war. Schweden hatte nach dem Nordischen Krieg seinen Einfluss verloren, doch die deutsche Minderheit behauptete sich in einem Pakt mit den neuen Machthabern weiterhin in den entstehenden russischen Ostseeprovinzen Estland und Livland als lokale Macht und kulturelle Elite. Der Mehr20 „Martens macht eine steile und beispiellose Karriere als Wissenschaftler und Jurist […]. Doch schafft er dies eben nicht als bekennender Este; mit der nationalestnischen Bewegung hat er nichts zu schaffen. Vielmehr könnte man sagen, er schafft es, obwohl er Este ist und weil er sein Estentum verdrängt. Am Ende seines vermeintlich so erfolgreichen und erfüllten Lebens gerät er darüber ins Zweifeln. […] Trotz seiner Sprachbegabung und Intelligenz, trotz seiner Heirat mit einer reichen Frau aus der deutschen Oberschicht St.  Petersburgs und trotz seiner Loyalität gegenüber dem Zaren schafft er es nicht, als einer der Ihren anerkannt zu werden. Letztlich ist er Deutscher und Russe nur in einem Rollenspiel der Gesellschaft, und sich als Este zu behaupten, kam ihm nicht in den Sinn.“ Pasewalck, Silke: Zwischen verweigertem Estentum und verdrängtem Kosmopolitismus. Zu Jaan Kross’ Roman Professor Martens Abreise. In: Dies.; Bers, Anna; Bender, Reet (Hg.): Zum Beispiel Estland. Das eine Land und die vielen Sprachen. Göttingen 2017 (Valerio 19), S. 122–134, hier S. 127f. 21 Siehe zu den Medien der baltischen Aufklärung: Lukas, Liina; Pasewalck, Silke; Hoppe, Vinzenz; Renner, Kaspar (Hg.): Medien der Aufklärung. Aufklärung der Medien. Die baltische Aufklärung im europäischen Kontext. Berlin-Boston 2021.

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heitsbevölkerung der Esten – bzw. der Letten im südlichen Teil Livlands – war eine Partizipation vorenthalten oder ein gesellschaftlicher Aufstieg über das Deutsche auferlegt. Ein Standeswechsel, der ohnehin nur wenigen ermöglicht wurde, ging mit einem Sprachwechsel einher und brachte eine habituelle Orientierung an der deutschen Kultur mit sich.22 Wer bäuerlicher Herkunft war, musste sich durch besondere Begabungen auszeichnen, gefördert und vom ,Undeutschen‘ zum ,Deutschen‘ werden. „Ein sozialer Aufstieg aus dem [estnischen] Bauernstand in höhere gesellschaftliche Schichten war nur über die deutsche Sprache möglich. Dies führte nicht selten zu einem Loyalitäts- und auch Identitätsproblem, woraus sich ein zentrales Sujet der Kross’schen Prosa ableitet: der Konflikt zwischen Anpassung und Unterwerfung, zwischen kompromissloser Selbstbehauptung und selbstbewusstem Kompromiss.“23

Dieses Dilemma zwischen verweigerter und verlorener Zugehörigkeit sei zunächst anhand der Novelle über den ersten estnischen General in der Zarenarmee aufgezeigt, bevor die Analyse zum Rakvere romaan übergeht.

Auf dünnem Eis: Die Immatrikulation des Michelson In der frühen Novelle Michelsoni immatrikuleerimine (1971, dt. Die Immatrikulation des Michelson, 1985),24 die Jaan Undusk als „eines der stolzesten Werke von Kross, vielleicht gar als den Kern seines Oeuvres“ bezeichnet hat,25 gelingt es dem Sohn eines estnischen Leibeigenen, zum berühmtesten General der Zarin Katharina der Großen aufzusteigen und also die Standesgrenzen zu überschreiten – ohne seine Herkunft zu vergessen. Diese unerhörte Begebenheit kulminiert sinnbildlich in der Szene, in der er Hand in Hand mit seinen Eltern, die Bauernschuhe tragen und 22 Selbst wenn kein Aufstieg intendiert ist, gehört der Erwerb der deutschen Sprache bzw. der kulturellen Sitten zum guten Ton bzw. ist pragmatisch geboten. So muss etwa Maade, die zentrale Frauenfigur neben der Gräfin Tiesenhausen im Rakvere-Roman, bevor sie dem Stadtbürger Rosenmark zur Frau gegeben wird, die deutsche Sprache und deutsche Sitten erlernen. 23 Hasselblatt, Cornelius: Jaan Kross. In: Munzinger Online/KLfG – Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. URL: http://www.munzinger.de/document/18000000254 (20.09.2021). 24 Die Novelle wurde über die Transfersprache Russisch von Werner Creutziger übersetzt. Sie erschien zusammen mit der Novelle Vier Monologe Anna Domini 1506 erstmals 1974 im Aufbau Verlag und danach in der Buchreihe „Sammlung Trajekt“, die in Zusammenarbeit mit Klett-Cotta vom Otava Verlag Helsinki herausgegeben wurde: Kross, Jaan: Vier Monologe Anna Domini 1506. Historische Novellen. Helsinki 1985, S. 69–180. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe jeweils mit der Seitenzahl direkt im Haupttext zitiert. 25 Undusk, Jaan: Käest kinni. Krossiga [Hand in Hand. Mit Kross]. In: Tuna 1 (2021), S. 2–8, hier S. 5: „Jaan Krossi ühe uhkemaid teoseid, võib-olla isegi ta loomingu tuumteksti“.

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nach Rauch und Vieh riechen, die Treppe im Gebäude der Estländischen Ritterschaft zu Reval zur feierlichen Immatrikulation emporsteigt. Kross rekurriert in der Novelle – wie für seine historische Prosa charakteristisch – auf eine verbürgte Persönlichkeit der estnischen Geschichte, in diesem Fall den General Johann (Ivan Ivanovič) von Michelson (1735/1740–1807).26 Michelsons militärisches Hauptverdienst besteht in seinem Sieg über den Anführer des russischen Bauernaufstandes (1773–1775), Emeljan Ivanovič Pugačëv. Auf diesen Sieg über den aufständischen Donkosaken wird in der Erzählung beziehungsreich angespielt, steht er doch in auffälligem Kontrast zur eigenen bäuerlichen Herkunft des Protagonisten. Historisch ist Johann von Michelsons Herkunft nicht gesichert, und dies macht sich Kross sowohl erzähltechnisch als auch für sein Sujet zunutze. Formal besteht der Erzähltext aus zwölf Kapiteln, die jeweils von verschiedenen Stimmen erzählt werden. Alternierend kommen zunächst der Kammerdiener und Michelson selbst zu Wort, im siebten Kapitel schiebt sich die Stimme des Vaters und im elften Kapitel schließlich die der Mutter dazwischen, jeweils gefolgt von einem Kapitel, das wiederum aus Michelsons Perspektive erzählt.27 „Aber, meine Lieben, was ihr mir hier über unsern General gesagt habt, was die Leute hier reden – ich kriege das vor euch doch kaum noch einmal über die Lippen ... er soll ... ein Bauernsohn sein? ...“ (S. 115). Hier spricht der Kammerdiener, der sich in Form eines Briefes an seinen Bruder und seine Schwägerin wendet, und er spricht das Gerücht, Michelson stamme aus dem Bauernstand, hier nicht nur aus, sondern zeigt zugleich, welches Skandalon allein die Möglichkeit solch einer Herkunft bzw. deren Aufdeckung darstellt.28 Nach und nach bewahrheitet sich in der Erzählung das Gerücht: Michelson ist als Leibeigener und dann als Laufbursche des baltischen Gutsherrn von Rosen aufgewachsen. Seine Begabungen werden als Erklärung für seinen Aufstieg begleitend eingestreut. Den Eltern waren die Neugierde 26 Vgl. zur Vita und insbesondere zur Frage nach der Herkunft der zugrundeliegenden ­historischen Figur Johann (Ivan Ivanovič) von Michelson: Wistinghausen, Henning von: Freimaurer und Aufklärung im Russischen Reich. Die Revaler Logen 1773–1820. Mit einem biographischen Lexikon. 3 Bde. Köln-Weimar-Wien 2016, Bd. 1 (Die Revaler Logen im Spannungsfeld der russischen Freimaurerei des 18. Jahrhunderts), S. 165. 27 Die Novelle wurde in Estland auch als Theaterstück inszeniert, wofür sie sich ihrer Form nach vorzüglich anbietet. Beispielhaft sei auf die zweiteilige Inszenierung im Theater von Rakvere aus dem Jahr 1984 verwiesen, die der Estnische Rundfunk ERR als Aufzeichnung zur Verfügung stellt: ERR-Arhiiv: Michelsoni immatrikuleerimine [Die Immatrikulation des Michelson]. URL: https://arhiiv.err.ee/guid/201005120249525010010002081001517C41A040000005020B0000 0D0F070837 (08.12.2021). 28 In der fiktiven Welt des Erzähltextes tritt der künftige Schriftsteller und Komödienautor August von Kotzebue auf, der später das berühmte Liebhabertheater in Reval gründen sollte und sich zur besagten Zeit tatsächlich in der Stadt aufhielt. Kross lässt Kotzebue an der Immatrikulation teilnehmen und legt ihm die Worte in den Mund: „Eine großartige Szene, zu schön sogar für die beste Komödie.“ (S. 160)

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und Klugheit des Jungen aufgefallen. Der Hauslehrer des Gutshofes, Gottlieb, hatte Michelson, als dieser Laufbursche auf dem nahegelegenen Gut wurde, gleich ins Auge gefasst: „[…] sel on pherlid phees“ (dt. er hat Perlen/Brillanten im Kopf ), sagt er zu Michelsons Vater in gebrochenem Estnisch. Durch intertextuelle Anspielungen auf aufklärerische Positionen und Werke,29 die in den Novellentext eingestreut sind, wird die umfassende Bildung dieses Generals deutlich. So kennt er beispielsweise bereits die Theorie des Mesmerismus, die 1775 erst veröffentlicht worden war (S. 158), oder er äußert sich über ‚Katjas‘ Enthusiasmus – gemeint ist hier selbstverständlich Katharina die Große – für Voltaire und dessen Schriften: „die Sachen von dem alten Narren […], dessen Lob ihr beinahe Wollust bereitete, von diesem Voltaire, sein Märchen über die Gleichheit der Menschen“ (S. 159). En passant erwähnt er einen ‚Sonderling aus Königsberg‘ – selbstredend Kant –, dessen Gedanken am Hofe gerade en vogue sind: „Er soll gesagt haben, die höhere Stufe der Anpassungsfähigkeit sei das, was den Menschen vom Tier unterscheidet“ (S. 151). Diese Zitate verdeutlichen zugleich, dass sie nicht nur als Hinweis gemeint sind, wie gebildet Michelson ist, der zudem vier Sprachen in allen Nuancen beherrscht, sondern wie illusionslos und abgeklärt er die aufklärerischen Gedanken angesichts seiner eigenen Lebenserfahrung wahrnimmt. Er ist gerade kein Timotheus von Bock, der zum Verrückten des Zaren wird, weil er die Aufklärung allzu ernst nimmt und die Worte in Taten umzusetzen versucht, sondern ein Vorgänger von Friedrich Frommhold Martens aus dem späteren Roman Professor Martens Abreise, dem Diplomaten und Diener des Zarenreiches, der Kants hier zitiertes Distinktionsmerkmal des Menschen vollkommen zu verkörpern scheint. Entsprechend wird auf Michelsons taktisches Geschick hingewiesen, welches er nicht nur als General beweist, sondern zuvor schon bei seiner Flucht aus dem Hause der von Rosens, und das ihm für seine Karriere im Zarenreich dienlich ist. Er taucht bei Zirkusleuten unter und tritt schließlich in die Armee ein, bewährt sich, wird befördert und macht Kampf um Kampf, Wunde um Wunde30 eine glänzende militärische Karriere, ist Vertrauter 29 Zu den intertextuellen Bezügen zur russischen Literatur vgl. Guzairov, Timur: Sočinenija russkoj literatury kak kommentarii k novelle Ia. Krossa ,Immatrikuliatsiia Mikhel’sona‘/Vene kirjanduse tekstid Jaan Krossi novelli ,Michelsoni  immatrikuleerimine‘ kommentaaridena [Texte der russischen Literatur als Kommentare in Jaan Kross’ Novelle ,Die Immatrikulation des Michelson‘]. In: Pild, Lea (Hg.): Rossija i Ėstonija v XX veke: Dialog kul’tur [Russland und Estland im 20. Jahrhundert: Kultureller Dialog]. Tartu 2010, S. 217–227. 30 Im zweiten Kapitel steht Michelson vor dem Spiegel und berichtet anhand der Narben seines Körpers und nicht anhand der ihm verliehenen Orden von den Wegmarken seiner Karriere. Sinnbildlich hat sich – unter den Orden – sein Aufstieg als ein Weg der Wunden in seinen Körper eingezeichnet. Noch erfährt man nicht, dass es zudem einer Lüge hinsichtlich der eigenen Identität bedurfte, um diese Karriereleiter hinaufzusteigen. Denn im Zarenreich, so verrät uns Professor Martens, bleibt man mit indigener Herkunft, trotz aller Auszeichnungen, ein Nichts: „Daß man in Rußland, wenn man kein Bastard eines Großfürsten, kein Graf, kein Millionär, kein Schwindler ist, der sich für einen Wundertäter ausgibt, sondern nur der weltbeste Kenner seines Faches, nur

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und – so wird angedeutet – sogar Liebhaber der Zarin Katharina der Großen. Nichts davon ist historisch gesichert. Belegt sind lediglich Michelsons militärischer Aufstieg und seine feierliche Aufnahme in den estländischen Adelsstand im Jahr 1783. Das Skandalon, die Unerhörtheit dieser Novelle besteht indes nicht im sozialen Aufstieg, sondern darin, dass der Emporkömmling seine Herkunft nicht vergisst und bei der Immatrikulation völlig aus seiner Rolle fällt, indem er es wagt, seine Eltern vom Lande in die Stadt zu holen und zur Feierlichkeit auf dem Revaler Domberg mitzunehmen. 31 Immer hatte er sich bis dahin taktisch verhalten und auf diese Weise allen Widrigkeiten, die seinem Aufstieg im Wege standen, getrotzt. Doch an diesem Tag, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, gilt für ihn eine andere Devise: „Aber heute habe ich ein anderes Ziel. Keine Selbstverleugnung. Nein!“ (S. 120). Lediglich diesen einen Tag umfasst die Handlung, in die eingebettet Erinnerungen Michelsons Lebensweg einholen. An diesem Tag reist er – auch symbolisch – zurück zum Ort seiner Jugend, nimmt seine Eltern mit nach Reval, um gemeinsam mit ihnen, die noch in ihren „selbstgemachten Wickelschuhen“ (S. 134) stecken, die Treppe zum Haus der Adelsversammlung hinaufzusteigen. Um dieses symbolisch aufgeladene Bild, in dem ethnische Grenzen und Standesunterschiede aufgehoben erscheinen, arrangiert Kross Stimmen und Stimmung, die diese Utopie spannungsvoll in Frage stellen. Zwar muss der geladene baltische Adel das Schauspiel mitspielen, doch in den Augen der schockierten Adelsgesellschaft sind die Eltern ihrer unwürdig, und auch Michelson nehmen sie nur auf, weil die Zarin darauf besteht. Trotz seiner Verdienste bleibt er für sie ein Parvenü, der nur geduldet wird, aber nicht dazugehört. Der soziale Aufstieg über ethnische Grenzen und Standesschranken hinweg hebt diese Barrieren also nicht auf, sondern bestätigt sie nur in anderer Form. Die Angehörigen des baltischen Adels spielen Michelsons Schauspiel mit, aber erklären es zugleich zur Scheinveranstaltung, was sich – mit Bourdieu gesprochen – in den ,feinen Unterschieden‘ bekundet: Sie tragen an diesem Abend nicht ihre feierliche Kleidung, sondern bloß die Mode aus Moskau. Die Lakaien rümpfen die Nase über die Kleidung seiner Eltern. Und schließlich tuscheln sie hinter nur halb vorgehaltener Hand, was sie wirklich denken: Michelson ist ein Günstling der Zarin, er wird immer ein Parvenü bleiben, ein Außenseiter. Über die Scheinhaftigkeit seiner utopischen Geste, mit den Eltern die Treppe zur Immatrikulationsfeierlichkeit hinaufzusteigen, gibt Michelson sich keinerlei Illusionen hin.32 Doch neben dem Skandalon auf der Feier, auf die alles zuläuft, wird eine ein Nichts ist.“ Kross, Jaan: Professor Martens Abreise. Übersetzt von Helga Viira. München-Wien 1992, S. 29. 31 „Aber so etwas ist ja unerhört!“, ruft eine Dame der adeligen Gesellschaft aus, als die Eltern auf der Feier öffentlich vorgestellt werden sollen. (S. 158). 32 So durfte beispielsweise nicht er, der Pugačëv besiegt hatte, diesen nach Moskau überführen, sondern ein Adliger russischer Herkunft. Er musste um jede Stufe seiner Karriere kämpfen, die anderen waren schon auf der obersten geboren worden.

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zweite Geschichte erzählt – und diese handelt von der verratenen eigenen Identität. Michelsons Reise zu seinen estnischen Wurzeln zeigt, dass er noch weiß, woher er kommt; zugleich erkennt er, dass er sich verleugnet hat. Auf der Fahrt nach Reval gesteht er sich ein: „Wer bin ich eigentlich! Was stelle ich dar? … Die beiden Leute hinter mir, in ihren Wickelschuhen, sind (unendlich vertraut und – beschämend fremd) mein Anfang“ (S. 136). Auf dem Weg zu seinem Elternhaus begegnet er einem jungen Ausreißer – in dem er sich wiedererkennt –, der ihm einen anderen möglichen Werdegang aufzeigt und somit als sein Doppelgänger fungiert. Vor 20 Jahren war Michelson als Laufbursche dem baltischen Gutsbesitzer von Rosen weggelaufen und von dessen Mannen an einem Septembermorgen gestellt worden. Anstatt zu fliehen oder zu kämpfen, hatte er die neue Rolle als „Major Johann Michelson vom Astrachaner Grenadierregiment Ihrer Kaiserlichen Majestät Katharinas der Zweiten“ (S. 123) angenommen und war durch diesen Identitätswechsel tatsächlich – nach drei Wochen Haft – aufgrund einer Anordnung aus St. Petersburg freigekommen. Sein ,Doppelgänger‘ namens Jona hingegen war in seiner Jugend durch besondere musikalische Begabung aufgefallen, weshalb man ihn nach Reval schickte, wo er zum Musiker ausgebildet wurde. Dies geschah allerdings nicht mit karitativen Absichten, sondern um ihn anschließend einer Gutsherrin zu Unterhaltungszwecken  – einem Sklaven vergleichbar – zu verkaufen. Diesem Schicksal eines leibeigenen Musikers will Jona entkommen und über das Meer fliehen. Doch Kälte und Eis vereiteln die Flucht mit dem Schiff, Jona wird gefangen und soll nach Reval zurückgebracht werden. In dieser Situation trifft Michelson ihn zufällig auf dem Weg und bietet seinem Doppel- bzw. Wiedergänger die Armee als Fluchtweg an. Jona lehnt diese Chance trotzig-selbstbewusst ab – lieber will er frei sein in einem deutschen Kerker als ein Trommler der russischen Armee. In Jonas Entscheidung erkennt Michelson erstmals, dass er seine bäuerliche Herkunft verleugnet hat, als er sich bei seiner Verhaftung als Sohn eines Schweden ausgab. Und nicht nur da, in seinem ganzen Aufstieg hatte er sich stets angepasst und seine Herkunft verraten. Hatte nicht Pugačëv die unterdrückten Bauern angeführt! Hatte er also bei seinem Sieg über Pugačëv gegen seinen eigenen Stand gekämpft? Schein und Sein fallen auseinander – und nun will er mit seinem Streich auf der Feier beides wieder zusammenfügen. Dies wird auch im Gespräch mit der Mutter deutlich, das sich am Abend nach der Feier ereignet: Denn die Mutter stellt ihm die Frage, ob er wirklich „auf sauberem Grunde und am richtigen Platz“ (S. 178) stünde, und richtet die Gretchenfrage an ihn, wie er sich als russischer General bei einem estnischen Bauernaufstand verhalten würde. In aller Schärfe verdeutlicht sie ihm seinen potentiellen Loyalitätskonflikt, hinter dem sich ein Identitätskonflikt verbirgt. Müsste er nicht der „livländische Pugatschow“ (S. 179) sein? Michelson erkennt im Laufe dieses Tages, der zugleich – wie Martens Reise im späteren Roman Professor Martens Abreise – eine Erinnerungsreise durch sein Leben ist, dass er seine Herkunft verleugnen bzw. gar verraten musste, um Paria unter den

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Esten zu sein und doch nur Parvenü unter den baltischen Adligen bleiben zu können. Am Ende, in der Nacht nach der Feier, sieht er den Widersprüchen33 seines Lebens ins Auge. Und er denkt an die Alternativen. Er denkt an seine Eltern, die wieder in ihre rauchige Hütte zurückkehren werden, und an Jona, dem sie auf seiner Fahrt als Gefangener nach Reval begegnen werden. Er blickt aus dem zufrierenden Fenster und erblickt den Hermannsturm, wo im Untergeschoss ein Kerker auf Jona wartet. Im Selbstgespräch und mit dem Blick aufs Meer34 sagt er sich, dass dieses im Frühling auftauen und Jona seinen Weg finden werde. Für Jona bedeutet das auftauende Meer, das hier für Veränderungen und neue Aussichten steht, eine Chance. Für Michelson hingegen, von dem es mehrmals heißt, er wandle auf seinem Weg auf dünnem Eis,35 bedeutet dies – nimmt man die Metapher ernst – seinen unvermeidlichen Untergang.

Kurzer begrifflicher Exkurs: Parvenü und Paria Terminologisch greifen wir auf das Begriffspaar ,Parvenü‘ und ,Paria‘ zurück, das Hannah Arendt in ihrem Buch über Rahel Varnhagen geprägt hat.36 Obgleich Hannah Arendt ihre Überlegungen anhand der jüdischen Existenz in der Diaspora – konkret des Schicksals der Schriftstellerin Rahel Varnhagen – entwickelt hat, sind 33 Die Widersprüche kulminieren in der Metapher von einem Knoten, und resignierend stellt er – in Gedanken mit der Mutter redend – fest: „Es steht nicht bei dir, den Knoten zu entwirren. Auch nicht bei mir. Keiner wird es können“ (S. 179). 34 Das Meer taucht bei Kross immer wieder in symbolischer Bedeutung auf. Es steht oft als Chiffre für Freiheit, ist aber als konkrete Fluchtmöglichkeit nicht positiv besetzt, da damit zugleich das Land (also Estland) verlassen wird. Berühmt ist die Szene in Der Verrückte des Zaren, als Timotheus von Bock vor der Flucht ins sichere Ausland im letzten Moment zurückschreckt. Falck in Die Frauen von Wesenberg will unbedingt in einem Haus am Meer leben, am Schluss findet er eine letzte Zuflucht auf einem Holm. 35 Das Eis bedroht Michelson sogar in doppelter Weise: Wenn es ihm den Weg zu seinen Eltern versperrt und er sich erst mühsam den Weg wieder freischaufeln muss, steht es metaphorisch für die Schwierigkeit, zum Ort seiner Herkunft zurückzukehren. Falck, der Protagonist aus dem RakvereRoman, wird wegen der Schneedecke nicht mehr das Grab seiner Eltern finden, was in gleicher Weise gedeutet werden kann. Aber das Eis ist zudem metaphorisch die Eisschicht auf dem Meer, unter der kein Ort ist, und welche einbrechen kann. Michelsons Mutter erkennt in diesem Bild den Weg ihres Sohnes: „Wenn mir auf einmal in den Sinn kommt, dass Johanns ganzes Leben so ist, als ginge er über dünnes Eis, über einem unbekannten Meer, und wenn ich mich selber frage, ob vielleicht das Eis, auf dem er geht, noch viel dünner ist, als sie alle glauben.“ (S. 173). 36 Rahel Varnhagen (1771–1833) hatte von Geburt an mit einer doppelten Außenseiterrolle als Frau und als Jüdin umzugehen. Von Hauslehrern unterrichtet und durch Bildungsreisen geschult, gelang es ihr, der höhere Schule und universitäre Bildung versagt blieben, aufgrund ihrer ungewöhnlichen Begabungen umfassende Bildung zu erlangen. Gleichwohl konnte sie nicht gleichberechtigt am Geistesleben partizipieren, und die ihr gebührende Anerkennung blieb aus.

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diese auf andere Situationen prekärer oder problematischer Zugehörigkeit übertragbar, wie etwa jener, der die estnische (resp. lettische) Mehrheitsgesellschaft über Jahrhunderte ausgesetzt war. Arendt erkannte bei der Beschäftigung mit Varnhagen, „daß ihr Aufstieg nur Schein ist, daß ein Paria in der wirklich guten Gesellschaft nur Parvenu bleibt“.37 Paria und Parvenü sind keine Gegensätze, schließen sich nicht nur nicht aus, sondern stehen in enger Beziehung. Ein Parvenü kann sein Paria-Sein nicht hinter sich lassen, der Schein der Partizipation verdeckt es lediglich. Die Novelle Die Immatrikulation des Michelson führt diesen fatalen Zusammenhang zwischen Paria und Parvenü vor: Dass der soziale Aufstieg mit dem Verrat an der eigenen Herkunft einhergeht, erkennt Johann Michelson erst, als er sich dieser wieder zuwendet, ja mehr noch, als er sich zu dieser bekennt. In der Figur des Doppelgängers Jona deutet sich ein alternativer Weg an, der nun anhand des Romans Die Frauen von Wesenberg oder der Aufstand der Bürger näher untersucht werden soll. Wie schon die Michelson-Novelle spielt auch dieser Text in der Zeit der baltischen Aufklärung.

Zum Bildungsversprechen der Aufklärung und seinen realen (Un-)Möglichkeiten: Die Frauen von Wesenberg oder der Aufstand der Bürger Im Estnischen trägt dieser historische Roman, der 1982 erschienen ist, den Titel Rakvere romaan. Der Originaltitel, der ins Deutsche übersetzt ,Wesenberg-Roman‘ heißen würde, pointiert, dass es um „die Geschichte von Wesenberg“ geht.38 Die Stadt ist also der Protagonist, und ihr besonderes Schicksal, das Kross aufgreift, ist historisch verbürgt: 1250 erstmals urkundlich erwähnt, erhielt Wesenberg (Rakvere) 1302 das Lübische Stadtrecht. Nachdem der schwedische König Gustav II. Adolf einerseits dieses Stadtrecht bestätigt und andererseits einen Gutsbesitz bei Wesenberg samt der Stadt dem Gesandten Brederode, Sproß eines holländischen Adelsgeschlechts, geschenkt hatte, war der Grundstein für einen langwierigen Rechtsstreit zwischen den Stadtbürgern und den Gutsbesitzern gelegt. Gehört die Stadt zum geschenkten Gut, oder sind die Bürger frei, geschützt durch ihr Stadtrecht? Brederode verkaufte 1669 den Besitz an Hans Heinrich von Tiesenhausen. Als die Bürger 37 Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München 91997, S. 220. Das ganze Kapitel über die beiden Begriffe umfasst die Seiten 209–225. Vgl. auch die neue kritische Gesamtausgabe: Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Barbara Hahn. Göttingen 2021. 38 Kross, Jaan: Die Frauen von Wesenberg oder der Aufstand der Bürger. Übersetzt von Helga Viira. München-Wien 1997, S. 298. Im Folgenden wird direkt aus dieser Übersetzung unter Angabe der entsprechenden Seite zitiert.

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Mitte des 18. Jahrhunderts versuchten, auf juristischem Wege ihre Rechte als freie Bürger einzufordern, spitzte sich der Konflikt zu. Dieser Rechtsstreit endete erst 1774, als die Familie Tiesenhausen die Stadt, die bis dahin faktisch zu deren Privateigentum gehörte, freigab.39 In seiner literarischen Version, die in den 1760er Jahren spielt, erlaubt sich Kross, die historische Wirklichkeit hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und gemäß der Wahrscheinlichkeit bzw. Plausibilität zu gestalten. So wird im Roman der Stadt Recht zugesprochen, nicht weil ein Gericht die Urkunden prüft und das Für und Wider der Argumente des Streitfalls abwägt. Es ist vielmehr ein Zufall,40 der den ­Ausschlag gibt, wobei das Urteil letztlich nicht umgesetzt wird. Auch ist der Ich-Erzähler, Berend Falck, frei erfunden. Fiktiv ist damit auch das abenteuerliche Doppelspiel, auf das dieser sich einlässt, zwischen Loyalität gegenüber der Gutsherrin Tiesenhausen, für die er arbeitet, und gegenüber den Stadtbürgern, mit denen er sympathisiert. Falck ist neben der Stadt der zweite Protagonist des Romans; dieser hat, obgleich erfunden, in Michelson ebenso einen Verwandten wie in Mättik aus Der Verrückte des Zaren und in Martens aus Professor Martens Abreise. Alle sind estnischer Herkunft, alle überschreiten in ihrem Werdegang die soziale und kulturelle Grenze, die zwischen ,Deutsch‘ und ,Undeutsch‘ verläuft. Und alle erzählen41 von dieser Erfahrung, die hier exemplarisch anhand Berend Falcks Werdegang aufgezeigt sei. Der vom Original abweichende deutschsprachige Titel des Romans Die Frauen von Wesenberg oder der Aufstand der Bürger zeigt die Verknüpfung von Berends Geschichte mit der Geschichte der Stadt an:42 Die Frauen von Wesenberg sind selbst39 Zur Geschichte des Gutes und zur Stadtgeschichte vgl. Kirss, Odette: Kodulugu: Rakvere mõisa peremehed ja teenijad [Lokalgeschichte: Die Gutsherren und die Bediensteten von Wesenberg]. In: Virumaa Teataja. 26.04.2011. URL: https://virumaateataja.postimees.ee/424449/kodulugurakvere-moisa-peremehed-ja-teenijad (23.01.2022). Einen direkten Bezug zu Kross’ Roman stellt ein Familienbrief der Familie von Tiesenhausen von 2005 her, vgl. Tiesenhausen, Wolter v.: Rundbrief 2005 des Familienverbandes v. Tiesenhausen, S. 7. URL: https://tiesenhausen.de/wpcontent/uploads/2018/03/Familienbrief_2005.pdf (23.01.2022). 40 Der Zufall erscheint in Gestalt eines Pferdes namens Luzifer. Graf Fermor nämlich, der die Macht hat, den Stadtbürgern zu ihrem Recht zu verhelfen, lässt sich mit dem Grafen Sievers, dem früheren Geliebten der Frau von Tiesenhausen, auf eine Wette ein: ein Pferderennen. Sollte Luzifer, das Pferd von Sievers, gewinnen, so hat die Gutsherrin das Nachsehen; gewinnen Fermors Pferd und Reiter, verlieren die Wesenberger den Rechtsstreit. Offenkundig wird hier, dass keine Rechtssicherheit herrscht, sondern die Willkür der richtenden Instanzen – solch eine konnte ein Gutsbesitzer sein, ein Richter oder eben der Souverän in Person des Zaren. Kross hat als studierter Jurist mit dem Pferd Luzifer ein treffendes Sinnbild für die Willkür der damaligen Judikate geschaffen – wie Kleist mit seinem Zerbrochenen Krug. 41 Alle sind nicht nur Erzähler und Protagonisten in der erzählten Welt, sondern auch in dem einen oder anderen Sinne Schriftsteller: Balthasar Rüssow schreibt seine ‚Chronik‘, Falck übersetzt und verfasst juristische Schriftstücke, Mättik führt sein ‚Tagebuch‘, Martens verfasst neben seinen Schriften auch eine Biographie. 42 Der Roman wird im Folgenden nicht mit dem Titel der deutschen Übersetzung, sondern der Kürze und Prägnanz wegen – angelehnt an den estnischen Originaltitel – als Rakvere-Roman bezeichnet.

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redend die Gutsherrin von Tiesenhausen und Maade, eine estnische Bauerstochter. Zwischen diesen beiden Seiten sucht der Protagonist Berend Falck seinen Weg. Seiner Herkunft nach ist er Este, gehört also zu Maade. Doch zugleich ist er einer der wenigen, denen sich aufgrund ihrer Begabung ein Bildungsweg eröffnet, der ihnen die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstiegs verspricht, und auf der Seite dieser Verheißung steht die Herrin von Tiesenhausen. Falck geht diesen Weg, er wird Hofmeister und Sekretär im Hause der Tiesenhausen. Doch nachdem er die Gutsherrin erfolgreich in einem Rechtstreit gegen die Esten unterstützt hat, wissend, dass hier nicht Recht, sondern Unrecht gesprochen wird, beginnt er heimlich damit, vielleicht um sein Handeln auf der ‚falschen Seite‘ wieder gutzumachen, ebenfalls die Bürger der Stadt in ihrem Rechtsstreit gegen die Gutsherrin zu unterstützen. Zudem verliebt er sich in Maade, die Tochter des Schuhmachers, der einer der führenden Köpfe der Opposition gegen die Tiesenhausen ist, was ihn zusätzlich zu seinem doppelten Spiel motiviert, Angestellter der Gutsherrin zu sein und zugleich gegen sie zu intrigieren. Doch Maade ist bereits dem reichsten Bürger der Stadt versprochen, den sie heiratet, obwohl auch sie Falck liebt. Aus einer heimlichen Liebesnacht geht ein Sohn hervor, der durch ein Mal auf dem Rücken, das er mit Falck gemein hat, als solcher auch Maades Ehemann nicht verborgen bleibt. Das Mal ist zugleich symbolisch zu lesen sowohl für eine nicht zu verleugnende Herkunft als auch als Hoffnung auf Erlösung.43 Am Ende wird die ,falsche‘ Ehe geschieden und Maade zieht – nun als Ehebrecherin öffentlich gezeichnet – mit Falck und dem gemeinsamen Sohn nach Reval; öffentlich darf ihre Beziehung gleichwohl nicht werden. Dabei hatte Falck zuvor im Geheimen und mit Hilfe von Sievers, dem ehemaligen Geliebten der Gutsherrin, vermeintlich erfolgreich für die Sache der Stadt intrigiert, um nun Ausgestoßener zu sein. Er endet als Paria und Parvenü, obwohl sein Weg verheißungsvoll als Aufsteiger begonnen hatte. Berend Falck beschreitet den typischen baltischen Werdegang im 18. Jahrhundert; er besucht die Schule in Estland und geht zum Studium nach Deutschland,44 er wird in der deutschen Kultur und Sprache sozialisiert, so dass er sich, obgleich er die Universität aus Geldmangel nicht abschließen kann, ins Baltikum zurückgekehrt, zunächst als Schreiber bei Gericht verdingt und dann als Hofmeister bei Frau von Tiesenhausen eine Anstellung findet. Seine Großeltern, so erfährt man, waren noch estnische Bauern, sein Vater hatte es schon zum Glöckner in Reval 43 So wird das Mal etwa auch als „Fingerabdruck des Jesuskindes“ bezeichnet (S. 342 und 377). 44 Die Universität in Dorpat (Tartu), von Gustav II. Adolf 1632 gegründet, stellte nach dem politischen Machtwechsel in Folge der Nordischen Kriege 1710 ihren Betrieb gänzlich ein und wurde erst 1802 wiedergegründet. Obwohl auch in den Zeiten, da man die Universität in Dorpat besuchen konnte, ein Studium in Deutschland nicht unüblich war, bestand im 18. Jahrhundert keinerlei Möglichkeit, in Estland, Livland oder Kurland zu studieren. Die Universität in Riga wurde sogar erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert aufgebaut. Vgl. zur Geschichte der Universität Tartu den Beitrag von Markus Käfer im vorliegenden Band.

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gebracht. Er ist nun, allem Anschein nach, aufgestiegen und in der baltischen Gesellschaft angekommen. Zumindest von den estnischen Bauern wird er bereits als Deutscher wahrgenommen. Als er im zweiten Teil45 von der Gutsherrin hinsichtlich eines Vorfalls, der einige Jahre zurückliegt, einen Rechercheauftrag bekommt, muss er sich in einem Dorf umhören, und wir erfahren, dass er nicht mehr als einer der ihren angesehen wird: „Denn ein fremder deutscher Herr kann von estnischen Bauern nie und nimmer etwas von heiklen Dingen erfahren“ (S. 121). Doch schon im ersten Teil, als er der Frau von Tiesenhausen juristisch behilflich ist, zeigt sich, auf welcher Seite er handelnd agiert. Aus seiner Feder stammt der Einspruch der Gutsherrin in einem Rechtsstreit, in dem das Gericht ihr Recht zuspricht, was nicht nur bedeutet, dass die Klage der Esten abgewiesen wird, sondern auch eine drakonische Bestrafung der Kläger („zu vierzig Paar Rutenstreichen“, S. 11) zur Folge hat. Berend Falck weiß dabei genau, dass es sich um ein Fehlurteil handelt und er sich also auch moralisch gesehen auf der falschen Seite für die falsche Sache eingesetzt hat. Deshalb versucht er, seine Rolle zunächst kleinzureden: „Lieber Gott, mir war ja klar, dass das Landgericht die Klage auf jeden Fall zurückgewiesen hätte. Selbst wenn die alte Dame sich nicht die Mühe gemacht hätte, Einspruch zu erheben, hätte das hochadelige Gericht die Anmaßung der Bauerntölpel mit Füßen getreten.“ (S. 11)

Gleichwohl kann der Roman so gelesen werden, dass Falck in seinem juristischen Schreiben einen Sündenfall sieht, was sein gesamtes weiteres Handeln motiviert. „Herrgott, in einer verborgenen Schicht meines Gehirns begriff ich wohl: ich hatte mich bereiterklärt, mich mit diesen Papieren abzugeben, um dadurch meine indirekte Beteiligung an der Züchtigung Simons und seiner Gefährten zu sühnen.“ (S. 64)

Demnach engagiert er sich für die Stadt (und damit gegen seine Arbeitgeberin von Tiesenhausen) einzig, um seine Tat zu sühnen.46 Man kann den Roman indes auch vor dem historischen Hintergrund der Aufklärung lesen. Über die Bücher und Bildungseinrichtungen gelangten die Ideen der Aufklärung in die Köpfe junger Menschen wie Berend Falck. So studiert er in Jena zu einer Zeit, als die Aufklärung längst die Hallen der dortigen Bildungseinrichtung erreicht hatte. Einige Jahre vor seiner Studienzeit hatte der Frühaufklärer Chris-

45 Der Roman besteht aus vier Teilen, die ihrerseits in Kapitel unterteilt sind. 46 So interpretiert die Tartuer Slavistin Lea Pild den Roman, wobei sie zudem einen Bezug zu Dostoevskij sieht, der das Motiv, ein Vergehen zu bereuen und sühnen zu wollen, in seinen Romanen zentral behandelt. Vgl. Pild, Lea: Valgustussajandi kangelane ja rahvuslik müüt Jaan Krossi „Rakvere romaanis“ [Ein Held der Aufklärung und der Volksmythos in Jaan Kross’ „Rakvere Roman“]. In: Keel ja kirjandus 2 (2015), S. 100–110.

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tian Wolff dort studiert, einige Jahre nach seinem Studium wird dort Schiller seine berühmten Vorlesungen halten. Falck, so können wir annehmen, ist aufklärerisch infiziert, und die feudalen Strukturen in seiner Heimat stehen hierzu in offenem Widerspruch. Mit den Gedanken, die in Paris die Französische Revolution auf den Weg bringen, kehrt er also zurück, und entsprechend rebelliert nicht allein sein moralisches Gewissen, sondern auch sein aufgeklärter Gerechtigkeitssinn.47 In dem juristischen Fall, der gleich am Anfang des Romans geschildert wird, wird nicht nur der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz durch Falcks juristische Schützenhilfe verletzt, er verdeutlicht auch exemplarisch, dass zwei Zeiten in ihrer Gleichzeitigkeit miteinander in Konflikt geraten – hier der mittelalterliche Feudalismus mit seiner Leibeigenschaft und dort die bürgerliche Moderne mit ihrer Erklärung der allgemeinen Menschenrechte. Deutlich wird dieser eklatante Widerspruch nicht zuletzt in der Gutsherrin. Denn Frau von Tiesenhausen liest ebenfalls die aufklärerischen Bücher, ein zentrales Medium des pädagogischen Jahrhunderts, die gerade in aller Munde sind, beispielsweise Rousseaus Erziehungsroman Émile. Ihre feudale Geisteshaltung ist allerdings gegen die revolutionären Gedanken immun: „Ich weiß noch längst, dass meine Gnädige den Tagavälja Priit, den Aufseher, den die Wesenberger Bauern hassen und fürchten wie eine giftige Vipper, ihren tüchtigsten Leibeigenen nennt. Sie hat ihn über den grünen Klee gelobt (‚Ein sehr pflichtgetreuer Mann, genau wie unsere Bauerntölpel sein sollten!‘) und dabei durch ihr Lorgnon einen französischen Roman namens ‚Émile‘ gelesen, den ich mir später aus ihrem Regal holte. Beim Lesen wurde mir der Widerspruch zwischen dem Lob der Gnädigen und ihrer Lektüre klar. Doch darüber wunderte ich mich nicht.“ (S. 85)

Die Ambivalenz der Aufklärung, die sich gerade in ihren Bildungspraktiken zeigt, kommt hier prägnant zum Ausdruck.48 Frau von Tiesenhausen lässt sich von ­Rousseau so wenig beeindrucken, wie Zar Alexander I. von der aufklärerischen Schrift seines Freundes Timotheus von Bock im Verrückten des Zaren. Die Machteliten im Zarenreich sind tunlichst darauf bedacht, ihre Machtstellung durch nichts zu gefährden, und das bedeutet, aufklärerische Reformen und Bemühungen der Volksaufklärung höchstens zuzulassen, sofern diese das Machtgefüge stabilisieren, was der Apotheker Richmann in einem Gespräch nach der in Wesenberg gescheiterten ‚Revolution auf juristischem Wege‘ verdeutlicht: 47 Lea Pild weist in ihrer Interpretation ebenfalls auf die intertextuellen Bezüge zu aufklärerischen Schriften hin, vgl. insbesondere ebd., S. 106. 48 Auf die Ambivalenz, die dem Paradigma der Bildung im pädagogischen Jahrhundert eingeschrieben ist, geht am Beispiel zahlreicher Fallstudien zum östlichen Europa der folgende Themenband ein: Pasewalck, Silke; Weber, Matthias (Hg.): Bildungspraktiken der Aufklärung. Berlin-Boston 2020 (Journal für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 1), vgl. insbesondere die Einleitung ebd., S. 1–8, sowie den Beitrag von Armin Langer zum Konzept des native informant am Beispiel von Naftali Herz Homberg, ebd., S. 157–178.

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„‚Lauter Betrug!‘ rief Richmann. ‚Glaubt ihr, daß die Macht die Volksbildung an und für sich braucht?! Sie braucht gebildete und damit bessere Befehlsvollstrecker. Jeglicher Bildung, die etwas anderes repräsentiert – Zweifeln, Kritizismus, Reformideen –, macht sie sofort den Garaus. Ihr werdet bemerkt haben: […] die Zarin korrespondiert mit Voltaire. Wieviel weiß man in Russland von Voltaire? Frau Tiesenhausen liest Rousseau – das habt ihr mir erzählt –, was nützt das uns? Es bringt uns nichts als Schaden.‘“ (S. 219)

Berend Falck ist selbst einer dieser gebildeten und damit ‚besseren ­Befehlsvollstrecker‘. Sein Bildungsweg und seine Bildung haben ihm keinen Zugang zu den höheren Schichten gewährt, wie er anfangs dachte, sondern ihn auf die falsche Seite gebracht und zum Anwalt der herrschenden Verhältnisse gemacht. Dort agiert er – bloß in anderer Form – wie der Aufseher Tagavälja Priit, als gebildeter „Bauerntölpel“ und „pflichtgetreuer Mann“ (S. 85). Obwohl er die Gutsherrin bis in ihren Tod im Glauben lässt, ihr treu zu dienen, kämpft Falck in seinem heimlichen Kampf für die Stadt genau gegen dieses Bild von sich an. Er nutzt seine Bildung, seine juristische Expertise und seine Fähigkeiten als Übersetzer, um der gerechten Sache den Weg zu bahnen. Er spielt dabei nicht nur ein doppeltes Spiel als Diener zweier Herren, bzw. sinnbildlich im Roman in Szene gesetzt als Mann zwischen zwei Frauen, sondern er stellt wie Michelson fest, dass die Sache der Stadt ohne taktisches Verhalten und Intrige keine Chance hat. Er gesteht sich ein, man könne ihn „für einen Wendehals und Ränkeschmied halten“ (S. 213). Dabei hat er nicht nur einen Loyalitäts-, sondern auch einen Identitätskonflikt: „Mir war, als stünde ich dabei neben mir, hinter mir, ja als wäre ich doppelt anwesend. Ein Ich lauschte schaudernd den beschwingten Worten dieses Doppelgängers und dachte: Lieber Gott, auf welch höllische Art sind wir so weit gekommen“. (S. 98)49

Wie Johann von Michelson oder auch Professor Martens im Roman Professor Martens Abreise agiert er als Opportunist und Taktiker, der das Machtspiel zwar durchschaut, aber letztlich mitspielt, um zu versuchen, die herrschenden Mächte mit ihren eigenen Mitteln und Regeln zu schlagen. Dies wird deutlich, wenn man den Verrückten des Zaren kontrastiv hinzuzieht. Timotheus von Bock taktiert gerade nicht, verhält sich pragmatisch gesehen ungeschickt. Zwar scheitert – in politischer Perspektive – auch er, aber nicht moralisch betrachtet. In Mättiks Augen bleibt eine Hoffnung, solange seine Aufzeichnungen von Timotheus Haltung nicht verschwinden.50 Falck scheitert wie Michelson (und Martens) in doppelter Weise – persönlich 49 Es wäre eine lohnende Aufgabe, das Motiv des Doppelgängers bei Kross eigens zu untersuchen. Es findet sich in fast jedem seiner Romane, so etwa ganz prominent auch in Professor Martens Abreise, wo dem baltischen Professor Martens ein Namensvetter in Göttingen an die Seite gestellt wird. 50 Zugleich verweigert sich Timotheus von Bock durch seine spezifische Loyalität gegenüber dem Zaren seiner Identität als der Tradition und den herrschenden Verhältnissen verpflichteter Balte. Er wird zum Paria unter den Balten, wie alle anderen Protagonisten estnischer Herkunft Paria unter

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sowie politisch. So wenig die Stadt durch Falck zu ihrem Recht kommt, so wenig erreicht Martens mit seiner „zentralen Idee“ des Völkerrechtssystems.51 Und beide scheitern auch privat hinsichtlich ihres eigenen Lebens. Bei Martens wird seine Abreise, die eine Reise in Form von Reminiszenzen durch seinen Werdegang ist, zu einer Abrechnung mit seinem vermeintlich so erfolgreichen Leben. Falcks persönliches Scheitern ist komplexer, insofern er die ganze Zeit ein doppeltes Spiel treibt und ein doppeltes Leben führt. Sein äußerliches Scheitern liegt recht klar auf der Hand: Mit dem Tod der Tiesenhausen verliert er seine Stellung auf dem Gut und in der Stadt Wesenberg. Obwohl er sich für diese so eingesetzt hat, wird er sogar Persona non grata. Selbst in Reval, wohin er mit Maade und ihrem gemeinsamen Sohn flieht, verliert er seine Anstellung als Schullehrer. Am Ende des Romans befindet sich die kleine geächtete Familie auf der Flucht. Doch liegt in seinem Scheitern nicht doch eine Hoffnung? Falck scheint am Schluss nirgendwo mehr hinzugehören, was sich sinnbildlich darin zeigt, dass er – wie bereits erwähnt – das Grab seiner Eltern auf dem Revaler Friedhof nicht mehr findet, weil alles zugeschneit ist (S. 361f.). Doch nach erfolgloser Suche beruhigt er sich mit der Hoffnung, dass er sie „im Frühling, wenn der Schnee schmilzt, bestimmt finde …“ (S. 362). Und als ihn Maade fragt, was aus ihnen nun werden solle, nachdem er auch seine Anstellung als Schullehrer verloren hat und sie in Reval keine Zukunft mehr haben, antwortet er: „Frage nicht, was aus uns wird. Frag, was wir sind!“ (S. 363). Hat er zu Beginn der Romanhandlung als Gehilfe bei Gericht und als Hofmeister offensichtlich seine Herkunft aus dem Auge verloren, so dient sein Einsatz für die Sache der Stadt der Suche nach seiner verlorenen Identität. Er beginnt gleichsam als Paria und Parvenü und stellt sich zunehmend die Frage, wohin er gehört. Als die kleine Familie, zwar ausgestoßen und im Leben trotz aller Begabung und Bildung gescheitert, am Ende auf der Kutsche Hand in Hand – wir erinnern uns an das Bild der Familie in der Michelson-Novelle –52 auf den Holm zu Richmann Esten werden. Doch wird er, dessen Werdegang in diesem Kontext als Absteigergeschichte gefasst werden kann, keineswegs zum Parvenü. 51 Kross, Professor Martens Abreise (wie Anm. 30), S. 147. 52 Die beiden untersuchten Erzähltexte, die Michelson-Novelle und der Rakvere-Roman, sind über die erzählte Zeit hinaus auch thematisch und motivisch miteinander verbunden. Und auf der Ebene der Motive ist besonders das Motiv der einander haltenden Hände hervorzuheben. Wie zentral dieses Motiv für Kross ist, hat Jaan Undusk in einem Essay zu Ehren von Kross’ 100. Geburtstag aufgezeigt: „Das Motiv der einander haltenden Hände scheint einen versteckten, aber bedeutsamen Platz in Kross’ Werk innezuhaben. Das Motiv steht für einen Menschen, der soziale und politische Hindernisse überwunden hat, ebenso wie Furcht und Scham. [...] Die Hand eines anderen Menschen zu halten, ist eine hochgradig intime Geste. Sie markiert den Übergang von biologischer und sozialer Determiniertheit zu persönlicher Verantwortung.“ Undusk, Käest kinni (wie Anm. 24), S. 6: „Käest-kinni-motiivil näib Krossi loomingus olevat varjatud, aga õige kaalukas koht. Umbkaudu saab see motiiv sotsiaalsed ja poliitilised tõkked ning rutiinse hirmu ja häbi

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flieht, ist die Suche Falcks beendet. Sein Bildungsweg hat ihn zum Paria und Parvenü gemacht, sein Lebensweg hat ihn jedoch schließlich auf den Weg zu sich selbst zurückgeführt.

Schluss und Ausblick Jaan Kross erzählt in seiner historischen Prosa der ersten Werkphase, angefangen von der frühen Michelson-Novelle bis zu Professor Martens Abreise, Geschichten, in denen das Bildungsversprechen in seiner ganzen Ambivalenz entfaltet wird. Besonders deutlich wird dies in solchen Texten, die die Zeit der baltischen Aufklärung behandeln, da sich hier die aufklärerischen Ideale von den allgemeinen Menschenrechten, dem Recht auf Bildung und Entwicklung des Individuums an den realen Bedingungen und Zwängen der Ständegesellschaft brechen.53 Inwiefern diese Ambivalenz auch in der Phase der nationalen Selbstbestimmung aufrechterhalten bleibt, ist eine eigene Fragestellung, da dann die „Nähe und Distanzlosigkeit“ des Parvenüs mit dem Bekenntnis zur eigenen Herkunft konfligiert –54 eine Frage, zu deren Untersuchung sich insbesondere der Roman Professor Martens Abreise empfiehlt. Doch lässt sich schon jetzt festhalten, dass Kross – durchaus exemplarisch zu lesende – Bildungsgeschichten erzählt, die vom Spannungsverhältnis des willentlichen Parias und des unwillentlichen Parvenüs handeln und in denen das Versprechen der Bildung an den sozialen Aufstieg geknüpft wird – beides ist letztlich nicht zu trennen. Die Texte zeigen, welcher Preis für einen solchen Aufstieg zu zahlen war. Kross’ Bildungsgeschichten erzählen von Verheißung und Verrat zugleich, sie laufen darin auf eine Möglichkeit der Veränderung, auf einen Hoffnungshorizont zu, auch wenn dieser selbst erzählerisch nicht ausgestaltet, sondern nur aufgezeigt wird, indem das Scheitern des Bildungswegs die Umkehr ex negativo evoziert. Eine weiterführende und provokative Frage lautet, ob sich die hier manifest gewordene Ambivalenz von Bildungsgeschichten in der Zeit der Unabhängigkeit nach dem Ersten Weltkrieg, durch welche sich die Bedingungen radikal ändern, fortschreibt oder nicht. Und wie gestalten sich die Bildungswege unter den histoületanud inimese märgiks. […] [S]iis on teise inimese käest kinni võtmine ülimalt isiklik žest. See märgib bioloogiliste ja sotsiaalsete tingituste ning kokkulepete üleminekut isiklikuks vastutuseks.“ 53 Vgl. zu diesem Charakteristikum der baltischen Aufklärung auch Lukas, Liina; Pasewalck, Silke: Einleitung. In: Lukas/Pasewalck/Hoppe/Renner, Medien der Aufklärung (wie Anm. 21), S. 9–18, insb. S. 11–15. Bezieht man Kross’ historische Prosa auf die historischen Verhältnisse zur Zeit der Aufklärung in den Ostseeprovinzen, so ist auffällig, dass er der sogenannten Volksaufklärung recht wenig Raum gibt. Er erzählt von Aufsteigern, die sich in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen aufhalten, nicht aber von den – für das Baltikum ebenfalls prägenden – Akteuren, Medien und Praktiken der Volksaufklärung. 54 Arendt, Rahel Varnhagen (wie Anm. 37), S. 211.

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rischen Bedingungen der sowjetischen Zeit nach 1945? Auch dies könnte anhand Kross’scher Texte untersucht werden: Sind die scheiternden und problematisierten Bildungsgeschichten auf diejenigen Erzähltexte beschränkt, die der Autor in der ersten Werkphase bis in die späten 1980er Jahre geschrieben hat? Passen sie nur in die Zeit vor der estnischen Eigenstaatlichkeit oder lässt sich der hier beobachtete kritische Blick auf Protagonisten, die den Verheißungen von Bildung und Aufstieg folgen, auch in Erzähltexten der zweiten Werkphase finden – in Texten, die von der Erlebnisperspektive des Autors selbst mitgeprägt werden? Diese Fragen drängen sich auf, gehen aber über diesen Aufsatz hinaus und laden zu einer intensiveren Beschäftigung an anderer Stelle ein.

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Anhang

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Programm der Tagung „Baltische Bildungsgeschichte(n)“, Tartu 2016 Gesamtübersicht 20.09. 19:00–11:00 Plenum (Hauptgebäude der Universität Tartu, Aula) 11:45–17:30 Sektionen Sektion 1: Medien der Bildung (Jakobi 2-114) Sektion 2: Sprachen der Bildung – Bildung der Sprachen (Jakobi 2-217) Sektion 3: Bildung, Schule und Integration (Jakobi 2-102) Sektion 4: Symbolische Ordnungen (Jakobi 2-230) 13:30–15:00 Mittagspause 16:00–16:30 Kaffeepause Abendvortrag (Weißer Saal des Universitätsmuseums auf dem 19:00 Domberg) 21.09. 19:00–11:00 Plenarvorträge (Hauptgebäude der Universität Tartu, Auditorium 128) anschl. Kaffeepause 11:30–16:00 Sektionen Sektion 5: Institutionen der Bildung (Jakobi 2-130) Sektion 6: Akteure der Bildung (Jakobi 2-110) Sektion 7: Nation building – Bildung der Nationen (Jakobi 2-129) Sektion 8: Strukturen der Macht in Sprache, Literatur und Kultur (Jakobi 2-114) 13:15–14:30 Mittagspause 16:00–16:30 Kaffeepause 22.09. 19:00–11:00 Sektionen Sektion 5: Institutionen der Bildung (Jakobi 2-230) Sektion 6: Akteure der Bildung (Jakobi 2-106) Sektion 7: Nation building – Bildung der Nationen (Jakobi 2-217) Sektion 8: Strukturen der Macht in Sprache, Literatur und Kultur (Jakobi 2-114)

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Programm der Tagung „Baltische Bildungsgeschichte(n)“, Tartu 2016

11:00–11:30 Kaffeepause 12:00–16:30 Plenum (Hauptgebäude der Universität Tartu, Auditorium 128) Plenarvorträge Abschlussveranstaltung 14:00–15:00 Mittagspause

Programm der Tagung „Baltische Bildungsgeschichte(n)“, Tartu 2016

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Programm1 20.09. Hauptgebäude der Universität Tartu (Ülikooli 18), Aula 19:00–10:00 Tagungseröffnung Offizielle Begrüßung Jürgen Joachimsthaler (Marburg): Baltische Bildungsgeschichte(n) Silke Pasewalck (Tartu): Das Baltikum als Modellregion 10:00–11:00 Eröffnungsvortrag Heinrich Bosse (Freiburg): Ständische Bildung in den russischen Ost seeprovinzen im 18. Jahrhundert 11:00–11:30 Kaffeepause Jakobi 2 11:45–17:30 Sektionen 1–4 Sektion 1: Medien der Bildung (Sektionsleitung: Ulrike Plath und Maris Saagpakk) Raum: Jakobi 2-114 In der Sektion soll die Vielfalt der Medien aufgezeigt werden, über die Bildungsinhalte vom Ende des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts vermittelt wurden. Auch wenn das Buch häufig als Inbegriff und Symbol der Bildung angesehen wird, müssen doch gerade für den baltischen Raum mit seinen ausgeprägten Strukturen der Mündlichkeit auch andere Medien sowie mediale Übergangs- und Mischformen mitberücksichtigt werden. Neben dem gedruckten Wort in seinen unterschiedlichen Ausprägungen wollen wir daher auch über Theater, Musik und Kunst sprechen und die in den jeweiligen Medien gewählten Bildungsinhalte vergleichend diskutieren.

11:45–12:00 Eröffnung der Sektion: Ulrike Plath (Tallinn) und Maris Saagpakk (Tallinn) 12:00–12:30 Ruth Florack (Göttingen): Gelebte Bildung: Die Gelegenheitsschrif- ten der Sammlung Recke 12:30–13:00 Alīda Zigmunde (Riga): Die in Riga herausgegebene Presse für Bildung und Erziehung in deutscher Sprache (vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1939) 13:00–13:30 Tiina-Mall Kreem, Linda Kaljundi (Tallinn): Visual Media and Entangled Pasts: Estonian and Latvian Adaptations of the Baltic German Historical Images 13:30–15:00 Mittagspause 15:00–15:30 Maris Saagpakk (Tallinn): Komische Bildung oder Bildung durch die Komödie. August von Kotzebue und sein estnisches Publikum 15:30–16:00 Tiina-Erika Friedenthal (Tartu): „Das ganze Publicum war theatralisch …“. Das Theater als Bildungsmedium in Riga am Ende des philosophischen Jahrhunderts 1 Die Konferenz wurde in dieser Form umgesetzt.

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16:00–16:30 Kaffeepause 16:30–17:00 Tiiu Ernits (Tartu): Die Lehrbücher im Musikunterricht als Medien der Bildung und wesentliche Kulturträger in den deutsch- und estnischsprachigen Schulen 1860–1914 17:00–17:30 Ulrike Plath (Tallinn): Deutschbaltische Kinder- und Jugendbücher als Medien der Bildung Sektion 2: Sprachen der Bildung – Bildung der Sprachen (Sektionsleitung: Reet Bender und Eglė Kontutytė) Raum: Jakobi 2-217 In der Sektion soll die Rolle der Sprache als Instrument der Bildung in Geschichte und Gegenwart (z. B. anhand der Bibelübersetzung aus dem Deutschen oder der Funktion von Mehrsprachigkeit in der Sowjetzeit und heute) sowie als Ziel der Bildung diskutiert werden. Zu erörtern wird dabei auch die Frage sein, inwiefern Sprache als Ausdruck von Identität (nationaler, regionaler, europäischer) verstanden werden kann.

11:45–12:00 Eröffnung der Sektion: Eglė Kontutytė (Vilnius) und Reet Bender (Tartu) 12:00–12:30 Stephan Kessler (Greifswald): Johann Wischmann († 1705) – der Opitz von Nordkurland? 12:30–13:00 Lina Plaušinaitytė und Vilma Zubaitienė (Vilnius): Die litauische Übersetzung des Neuen Testaments (1727, 1735) als Quelle der litauischen Lexikographie des 18. Jahrhunderts 13:00–13:30 Reet Bender (Tartu): Deutschbaltische Studentensprache als eine Widerspiegelung der historischen Sprachsituation im Baltikum 13:30–15:00 Mittagspause 15:00–15:30 Gita Bērziņa (Riga): Ancient Greek in Educational History of Riga 15:30–16:00 Brigita Cīrule (Riga): Latin Teaching in the Early Educational History of Riga 16:00–16.30 Kaffeepause 16:30–17:00 Heiko Marten (Potsdam/Rēzekne): Lettgallisch im Bildungssektor: Traditionen, Unterdrückung und Revitalisierung im europäischen Kontext 17:00–17:30 Eglė Kontutytė (Vilnius): Mehrsprachigkeit in linguistischen Publikationen in Litauen zur Sowjetzeit und heute Sektion 3: Bildung, Schule und Integration (Sektionsleitung: Monika Reif-Hülser und Karlheinz Hülser) Raum: Jakobi 2-102 Die Beiträge dieser Sektion blicken auf Bildung im Sinn von Erziehung und Sozialisation durch Bildungsinstitutionen, wobei auch das auf Bildung blickende Medium, wie der Bildungsroman oder Erinnerungsliteratur, mit in den Blick genommen wird. Thematisch umfasst das Spektrum der Beiträge den Umgang mit dem Problem zu geringer Bildungsmöglichkeiten, sei es in der Frühen Neuzeit, sei es für die „Findlinge“ nach dem Zweiten Weltkrieg, über (weibliche) Bildungsmigration aus dem Baltikum, konkrete Schulerfahrungen von Autoren unterschiedlicher nationaler Zugehörigkeit bis hin zu aktuellen Problemen der Bildung im Baltikum.

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11:45–12:00 Eröffnung der Sektion: Monika Reif-Hülser und Karlheinz Hülser 12:00–12:30 Liina Lukas (Tartu): Der Bildungsroman – ein Tartuer Beitrag zur Romantheorie 12:30–13:00 Trude Maurer (Göttingen): ‚Baltische‘ Doktorinnen deutscher Universitäten. Zur Prägung weiblicher Studien- und Berufswege durch ethnisch-kulturelle und soziale Herkunft 13:00–13:30 Valentina Talerko (Daugavpils): Verstellte Wahrheit: Darstellung des Schul- und Studentenalltags in Werken deutschbaltischer Autoren der Zwischenkriegszeit 13:30–15:00 Mittagspause 15:00–15:30 Monika Reif-Hülser (Konstanz): Findlings-Geschichten als Bildungsgeschichte(n), oder: ein Thema der Integration? 15:30–16:00 Olaf Mertelsmann (Tartu): Der Umbau des estnischen Bildungswesens unter den Sowjets in den vierziger und fünfziger Jahren 16:00–16:30 Kaffeepause 16:30–17:00 Kairit Kaur (Tartu): Die Vermittlung der deutschbaltischen literarischen Kultur in der estnischen Schule von heute? Möglichkeiten und Herausforderungen 17:00–17:30 Karlheinz Hülser (Konstanz): Baltische Bildungsgeschichte und ein altes Bildungsideal Sektion 4: Symbolische Ordnungen (Sektionsleitung: Karsten Brüggemann und Jaan Undusk) Raum: Jakobi 2-230 Der Begriff der „Symbolischen Ordnungen“ soll für diese Sektion recht weit gefasst und auf allerlei Vorstellungen von kulturellen Verhältnissen bzw. sozialen Strukturen angewandt werden. Zur Sprache kommen ganz allgemein Vorstellungen vom Menschen in der Aufklärung, die ordnungsschaffende Kategorie des Wissens, literarische Bilder des Baltikums, eine transnationale Praxis als Kern nationaler Kultur sowie Bilder der Vergangenheit, die im Heute sinnstiftend wirken sollen.

11:45–12:00 Eröffnung der Sektion: Karsten Brüggemann (Tallinn) und Jaan Undusk (Tallinn) 12:00–12:30 Andris Levans (Riga): Von rechtsgelehrten Schreibern und Mädchen, die Briefe schreiben können. Bildungsnot und -stand in Livland des späten Mittelalters 12:30–13:00 Hans Graubner (Göttingen): Zur anthropologischen Differenz zwischen den frühen Erziehungs- und Bildungskonzepten bei Hamann und Herder 13:00–13:30 Jörg Hackmann (Szczecin): Sängerfeste und symbolische Ordnungen 13:30–15:00 Mittagspause 15:00–15:30 Gabriela Ociepa (Marburg): Das Baltikum in den Romanen von Henryk Sienkiewicz (ausgef.)

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15:30–16:00 Jürgen Joachimsthaler (Marburg): Baltikum und Weltordnung. Die archäologischen Phantasien der Marija Gibutas (ausgef.) 16:00–16.30 Kaffeepause 16:30–17:00 Abschlussdiskussion zur Sektion Universitätsmuseum auf dem Domberg, Weißer Saal (Lossi 25) 19:00–20:00 Abendvortrag Gert von Pistohlkors (Göttingen): Schulbildung und sozialer Aufstieg für Esten und Letten in Livland in deutschbaltischer Perspektive (1860–1914) 21.09. Hauptgebäude der Universität Tartu (Ülikooli 18), Auditorium 128 19:00–10:00 Plenarvortrag Ljubov Kisseljova (Tartu): Imperial Ideology in the High-School History Textbooks at the End of the 19th and the Beginning of the 20th Century 10:00–11:00 Plenarvortrag Ulrich Kronauer (Heidelberg): Garlieb Merkels Rousseau 11:00–11:30 Kaffeepause Jakobi 2 11:30–16:30 Sektionen 5–8 Sektion 5: Institutionen der Bildung (Sektionsleitung: Liina Lukas und Silke Pasewalck) Raum: Jakobi 2-130 Die Sektion fokussiert am Leitfaden der Chronologie zahlreiche Bildungseinrichtungen im historischen Estland und Livland vom 17. Jahrhundert bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen (Geschichte, Rechtsgeschichte, Theologie, Germanistik). Dabei werden sowohl spezifische Institutionen (wie etwa das Lyceum zu Riga, die Rigaer Domschule oder die Universität Dorpat) in den Blick genommen als auch verschiedene Institutionen-Typen (Gerichtsstube, orthodoxe Schulen, universitäre Einrichtungen) auf deren Bildungsfunktion hin näher beleuchtet.

11:30–11:45 Eröffnung der Sektion: Liina Lukas (Tartu) und Silke Pasewalck (Tartu) 11:45–12:15 Peter Wörster (Marburg): Drei Jahrhunderte Bildungsgeschichte im Spiegel einer Einrichtung: Das Lyzeum zu Riga und seine Nachfolgeeinrichtungen (1675–1917) 12:15–12:45 Matthias Asche (Tübingen): Die Professorenprofile an den beiden ­ersten Dorpater Universitäten – akademische Mobilitäts- und soziale Vernetzungsphänomene in der nord- und mitteleuropäischen Gelehrtenrepublik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts

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12:45–13:15 Kaspar Renner (Berlin): Mikrologie der Bildung: Herder als Lehrer an der Domschule zu Riga (1764–1769) 13:15–14:30 Mittagspause 14:30–15:00 Felix Köther (Marburg): „Professor Kalendermacher“ – Die Kalenderund Zeitungsprivilegien der Mitauer Academia Petrina 15:00–15:30 Beata Paškevica (Riga): Zur Geschichte der Lehrerausbildungsstätte von Magdalena Elisabeth von Hallart (1683–1750) für die Nationalen (die Letten) in den Jahren 1738 bis 1742 15:30–16:00 Michael Rocher (Halle-Wittenberg): Das Waisenhaus in Alp – eine Bildungseinrichtung des 18. Jahrhunderts für alle? 16:00–16:30 Kaffeepause (Jakobi 2, Raum 115) Sektion 6: Akteure der Bildung (Sektionsleitung: Jost Eickmeyer und Anu Schaper) Raum: Jakobi 2-110 In dieser Sektion wird ein bildungsgeschichtlich weiter Bogen vom 16. bis ins 20. Jahrhundert geschlagen, um aus der Perspektive diverser Disziplinen (Geschichte, Literaturwissenschaft, Theologie, Philosophie, Musikwissenschaft) wichtige Akteure der Bildungslandschaft Baltikum (u.  a. Vestring, Hamann, von der Recke, Cimze), ihr Handeln und ihre Wirkungen zu beleuchten. Dabei wird es gleichermaßen um das sozialgeschichtliche Umfeld gehen, in dem agiert wird (etwa die Möglichkeiten eines frühen Humanismus in Livland), wie auch um publizistische oder philosophische Konzeptionen von Bildung und die jeweilige pädagogische oder bildungspolitische Praxis. Ein Vortrag über Otto A. Webermann soll als Reflexion über die Geschichte der baltischen Bildungsgeschichtsschreibung das Panorama abrunden.

11:30–11:45 Eröffnung der Sektion: Jost Eickmeyer (Berlin) und Anu Schaper (Berlin/Tallinn) 11:45–12:15 Martin Klöker (Osnabrück/Tallinn): Schule und Kirche: Heinrich Vestring als Reformer des Revaler Schulwesens 12:15–12:45 Ljudmila Dub’eva (Tartu): Senator Manasein’s Revision in 1882–1883 and the Teachers of Rural Orthodox Peasant Schools 12:45–13:15 Raivis Bičevskis (Riga): Johann Georg Hamann zwischen der Bildung der Handelsrepublik und der Bildung des Nichtwissens 13:15–14:30 Mittagspause 14:30–15:00 Aiga Šemeta (Riga/Berlin): C. George [d. i. Johann Georg Czarnewski] (1766–1832) und seine Zeitschrift Geoponika in Zeiten des Bildungsraubs (18. Jahrhundert). Zu Bildungsmöglichkeiten in den deutschen Ostseeprovinzen Russlands ohne ‚Mutterland‘ Deutschland. 15:00–15:30 Valérie Leyh (Liège): Die Familie von Medem: Zur Verbindung von Bildung, Literatur und Politik in Kurland 15:30–16:00 Aīda Krūze und Ieva Sproģe (Riga): Jānis Cimze (1814–1881) – eine herausragende Persönlichkeit in der Baltischen Bildungsgeschichte 16:00–16:30 Kaffeepause (Jakobi 2, Raum 115)

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Sektion 7: Nation building – Bildung der Nationen (Sektionsleitung: Antje Johanning-Radžienė und Andris Levans) Raum: Jakobi 2-129 Die Sektion beschäftigt sich mit der Rolle der Kategorie der Nationalität in Geschichte und ­Gegenwart des Baltikums als einer ausgesprochen pluriethnischen und multikulturellen europäischen Region. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei Prozessen der Formierung kollektiver Identitäten in Recht, Religion, Schule, Literatur, Massenmedien, Historiographie und Memorialkultur. Notwendig stehen dabei Phänomene des Kulturkontakts ebenso im Mittelpunkt wie Kulturkontraste und Kulturkonkurrenzen.

11:30–11:45 Eröffnung der Sektion: Antje Johanning-Radžienė (Daugavpils) und Andris Levans (Riga) 11:45–12:15 Anja Lange (Kiew): „Unser Lettland“ – Nationenerziehung für Kinder 12:15–12:45 Petr Mirejovsky (Camrose): The Teaching of History in Bohemia and the Czech-German Conflict (1845–1945) 12:45–13:15 Viktorija Šeina (Vilnius): Zur Formierung des Verständnisses von Nationalität im Unterricht der litauischen Literatur (1918–1940) 13:15–14:30 Mittagspause 14:30–15:00 Elina Adamson (Tartu): Dorpat-Bilder in der deutschsprachigen Literatur als ein Raum des Kulturtransfers: Wie wird der Andere in der Musenstadt erzogen? 15:00–15:30 Benedikts Kalnačs (Riga): Ein Doppelgänger: Der Schriftsteller Rūdolfs Blaumanis (1862–1908) zwischen der lettischen und der deutschen Kultur 15:30–16:00 Silke Pasewalck (Tartu): Estnische Geschichte im Spannungsfeld kultureller Diversität. Jaan Kross’ Romane als Bildungsgeschichten 16:00–16:30 Kaffeepause (Jakobi 2, Raum 115) Sektion 8: Strukturen der Macht in Sprache, Literatur und Kultur (Sektionsleitung: Rūta Eidukevičienė und Ewald Reuter) Raum: Jakobi 2-114 In der Sektion sollen die durch religiöse, politische und kulturelle Kolonisierungsprozesse verursachten Machtverhältnisse im baltischen Raum, einschließlich Preußisch Litauen, aus kulturhistorischer Perspektive diskutiert werden. Chronologisch betrachtet liegt der Schwerpunkt auf den Missionierungsanstrengungen und erzieherischen Schriften lutherischer Pastoren und Prediger (17. und 18. Jahrhundert), den politischen Bildungskonzepten des deutsch-baltischen Bürgertums Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts und den komplexen Identitätsdiskursen der Deutschbalten in den 1950er und 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Beiträge sollen deutlich machen, dass die genannten Machtverhältnisse sowohl den Ideengehalt der publizistischen und literarischen Schriften der beteiligten Akteure als auch verschiedene sprachliche Konstellationen und den sprachlichen Ausdruck selbst bestimmen.

11:30–11:45 Eröffnung der Sektion: Rūta Eidukevičienė (Kaunas) und Ewald Reuter (Germersheim) 11:45–12:15 Andres Andresen (Tartu): Between Colonialism and Enlightenment: The Lutheran Church as the Formative Cultural Force in the Baltic Provinces

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12:15–12:45 Gregor Babelotzky (Cambridge): Lenz und Lenz: Allmächtiger Vater und verlorener Sohn – Die Gewalt/Macht der Predigt und ihre Transformation durch die Literatur 12:45–13:15 Alina Kuzborska (Olsztyn): Die Polarität von Macht und Gesellschaft in den Metai von Kristijonas Donelaitis 13:15–14:30 Mittagspause 14:30–15:00 Anja Wilhelmi (Lüneburg): Deutschbaltische Pastoren und ihr Verständnis von Bildungsvermittlung 15:00–15:30 Anton Philipp Knittel (Flein): „Durch die Macht der Verhältniße zur Ordnung gezwungen“. Die Kügelgens, eine deutsch-baltische Familie des Bildungsbürgertums 15:30–16:00 Rolf Füllmann (Köln): Elegische Ethnographie und ‚alte Burschenherrlichkeit‘ an der Universität Tartu: das estnisch-deutsche Verhältnis von Jaschka und Janne (Siegfried von Vegesack) 16:00–16:30 Kaffeepause (Jakobi 2, Raum 115) 22.09. Jakobi 2 19:00–11:00 Sektionen 5–8 (Fortsetzung) Sektion 5: Institutionen der Bildung (Sektionsleitung: Liina Lukas und Silke Pasewalck) Raum: Jakobi 2-230 19:00–9:30 Markus Käfer (Heidelberg): Das Bildungsprogramm der 1802 wiedergegründeten Universität Dorpat 19:30–10:00 Marju Luts-Sootak (Tartu): Die Gerichtsstube als Bildungsanstalt: die Gerichtsbarkeit in den bäuerlichen Rechtssachen im 19. Jahrhundert 10:00–10:30 Aleksej Kouprianov und Tatjana Kostina (St. Petersburg): Turning from a Peripherial European into a Provincial Russian University: Mobility Patterns of the Faculty at Dorpat and Their Temporal Dynamics (1802–1884) 10:30–11:00 Irina Paert (Tartu): Organic Intellectuals or Troublemakers? Teachers in the Orthodox Schools in Baltic Provinces between 1840 and 1914 11:00–11:30 Kaffeepause (Jakobi 2, Raum 115) Sektion 6: Akteure der Bildung (Sektionsleitung: Jost Eickmeyer und Anu Schaper) Raum: Jakobi 2-106 19:00–9:30 Jost Eickmeyer (Berlin): ‚Sodalitas litteraria Rigensis‘? Umrisse eines Netzwerks livländischer Humanisten im sechzehnten Jahrhundert 19:30–10:00 Anu Schaper (Berlin/Tallinn): Johann Valentin Meder (1649–1719) und der Musikunterricht am Revaler Gymnasium

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10:00–10:30 Dorothee M. Goeze (Marburg): Der ‚zu Bildende‘ oder der ‚Bildende‘? Kultur- und Wissensvermittlung in Zeiten des Kalten Kriegs am Beispiel des Esten Otto A. Webermann 10:30–11:00 Abschlussdiskussion zur Sektion 11:00–11:30 Kaffeepause (Jakobi 2, Raum 115) Sektion 7: Nation building – Bildung der Nationen (Sektionsleitung: Antje Johanning-Radžienė und Andris Levans) Raum: Jakobi 2-217 19:00–9:30 Alīna Romanovska (Daugavpils): Tätigkeit der Herrnhuter im Bildungsbereich: Geschichte und Literaturdiskurs 19:30–10:00 Antje Johanning-Radžienė (Daugavpils): „Gegen die Uniformierung aller Staatsbürger“. Paul Schiemanns Blick auf den Nationsbildungsprozess im Lettland der Zwischenkriegszeit 10:00–10:30 Benjamin Naujoks (Köln): Bildung am Bösen? Černobyl’ und Ignalina – vom (post-)kolonialen Erbe zur europäischen Frage 10:30–11:00 Abschlussdiskussion zur Sektion 11:00–11:30 Kaffeepause (Jakobi 2, Raum 115) Sektion 8: Strukturen der Macht in Sprache, Literatur und Kultur (Sektionsleitung: Rūta Eidukevičienė und Ewald Reuter) Raum: Jakobi 2-114 19:00–9:30 Łukasz Sommer (Warschau): Imagined Geographies of Language Kinship: The Finno-Ugric Conferences (1921–1938) and the Baltic Space 19:30–10:00 Silvia Machein (Heidelberg): Baltisches Erbe – (post)kolonialer Diskurs und kulturelle Verortung der Deutschbalten in Selbst- und Fremdzeugnissen der fünfziger Jahre 10:00–10:30 Lina Uzukauskaite (Salzburg): Gegen die Sprache der Macht: Zur ,äsopischen Sprache‘ in der litauischen Literatur der Sowjetzeit 10:30–11:00 Abschlussdiskussion zur Sektion 11:00–11:30 Kaffeepause (Jakobi 2, Raum 115) Hauptgebäude der Universität Tartu (Ülikooli 18), Auditorium 128 12:00–13:00 Plenarvortrag Rūta Eidukevičienė (Kaunas): Deutsche Bildungskonzepte in Litauen während und zwischen den beiden Weltkriegen: Zwangsmaßnahmen und Innovationen 13:00–14:00 Plenarvortrag Jaan Undusk (Tallinn): Die schwere Aneignung der Gesetzlichkeit. Über die rechtliche Wende im Baltikum Anfang des 19. Jahrhunderts 14:00–15:00 Mittagspause 15:00–16:00 Abschlussveranstaltung

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Gesprächsrunde mit Akteur*innen der Tagung1 Vom 20. bis zum 22. September findet in Tartu die internationale Konferenz „Baltische Bildungsgeschichte(n)“ statt, die in Kooperation zwischen den Universitäten Tartu und Marburg mit Unterstützung der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages durchgeführt wird. An der interdisziplinären Konferenz mit über 70 Vorträgen nehmen Philologen, Historiker, Rechtshistoriker, Kunsthistoriker, Musikwissenschaftler, Pädagogen und Theologen aus Estland, Lettland, Litauen, Deutschland, Polen, Russland, Belgien, Kanada und weiteren Ländern teil. Die Webseite der Konferenz in deutscher und englischer Sprache findet sich unter https://sisu.ut.ee/bildungsgeschichten/. Einige Teilnehmer habe ich zu einem runden Tisch eingeladen, um die Ziele und das Thema der Konferenz zu erläutern. L. L: Das Motto für dieses Gespräch möchte ich Goethe entlehnen: Man solle die Menschen nicht beobachten, ohne sich für ihre Bildung zu interessieren, sagt Abbé im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre – ein Roman, der als Musterbeispiel für einen Romantypus, den Bildungsroman, gilt. Das Konzept des Bildungsromans wurde erstmals 1803 von Karl Morgenstern, Professor an der Universität Dorpat (Tartu), eingeführt. Heinrich Bosse, Sie sind Literaturwissenschaftler, und Sie sind Urheber der Tagungsidee sowie des Tagungstitels – Bildungsgeschichte(n). Der Titel ist mehrdeutig und kann sowohl als Bildungs- als auch als Entwicklungsgeschichte verstanden werden, kann sowohl die Geschichte von Bildung und Bildungsinstitutionen als auch individuelle Bildungsgeschichten und Entwicklungswege bedeuten. Heinrich Bosse: Das im Titel verwendete Wort ist in erster Linie als eine Geschichte der Bildung zu verstehen. Die Bildungsgeschichte kann uns erstaunen lassen über

1 Die Gesprächsrunde ist auf Estnisch in der Kulturzeitschrift SIRP vom 16.09.2016 erschienen (URL: https://www.sirp.ee/s1-artiklid/c9-sotsiaalia/mis-on-peidus-hariduse-ajaloos/ [07.02.2022]). Das Gespräch wurde zum großen Teil per E-Mail auf Deutsch geführt und ist für die Veröffentlichung in SIRP übersetzt worden. Die estnischsprachigen Abschnitte wurden für diese Zweitveröffentlichung von Silke Pasewalck übersetzt.

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heutige Selbstverständlichkeiten, etwa dass wir Lesen und Schreiben gleichzeitig lernen, oder gleichaltrig in die Schule geschickt werden, oder nicht studieren dürfen, ohne ein Abitur oder so etwas zu haben. Staunen ist befreiend, es hilft, der Gegenwart mit mehr Phantasie gegenüberzutreten. Gerade die heutige wissensbasierte Gesellschaft sollte wissen wollen, wie sie so geworden ist, wie sie ist. Die Geschichte der Bildung ist nicht auf die Schule beschränkt. Das Lernen hat immer außerhalb der Schule stattgefunden, auf eigene Faust. Das Selberlernen wird in der Aufklärung wichtig, und es wird in Programmen diskutiert und gefördert. Diese Programme sind in der Tat die Vorläufer der heutigen Bildungseinrichtungen. L. L: Wenn man die Geschichte der Bildung (oder Ausbildung) in den baltischen ­Staaten erzählt, darf die koloniale Dimension nicht übersehen werden: Bildung braucht einen zu Bildenden und einen anderen, der den Inhalt und die Form der Bildung vermittelt. Im Baltikum tritt die Machtfrage besonders deutlich zutage. Enthält bereits das Attribut ‚baltisch‘ im Titel der Konferenz koloniale Konnotationen? Jürgen Joachimsthaler, Professor für Germanistik an der Universität Marburg: Mitte der 1990er Jahre fand ich in Oppeln (Opole) umfangreiches Archivmaterial, aus dem im Detail (bis in die Gestaltung von Schulstunden herab) hervorging, wie im Zuge der Germanisierungspolitik in Oberschlesien Zensur, Literaturpolitik und eben Schule und Bildung eine unheilige Allianz zur Germanisierung der mehrheitlich polnischsprachigen Bevölkerung eingingen – ein Beispiel für schändliche Kolonisierung. Die Begriffe ‚Bildung‘ und ‚Kolonisierung‘ sind seither ­untrennbar mit meiner Forschung verbunden und spielen eine wichtige Rolle. Von diesem Blickwinkel aus habe ich mich immer neuen Regionen genähert, in denen trotz aller Unterschiede die Bildung in ähnlicher Weise vermittelt wurde und wird. Als logische Erweiterung des deutsch-polnischen Themas rückte der baltische Raum in mein Interessengebiet, zunächst die Beziehungen in Klein- und dann in Großlitauen. Insbesondere die Geschichte des Litauischen Seminars der Universität Königsberg (Kaliningrad) zeigt sehr schön die Mehrfachwirkung solch kolonialer Verhältnisse bei Ausformung der litauischen Literatursprache (Donelaitis) einerseits, ihrer Rückwirkung nach Deutschland (Volksliedsammlungen, Volks-Konzept, Herder etc.) andererseits. Von da aus war dann der Blick in die einstigen Ostseeprovinzen des Russischen Reiches naheliegend, weil hier vieles analog verlief, durch die besonderen Herrschaftsverhältnisse im Zuge der Leibeigenschaft aber noch ausgeprägter ist. Bildung ist eng mit Macht verbunden, und nirgendwo wird dies so deutlich wie im Baltikum. L. L: Gert von Pistohlkors, als baltischer Historiker beschäftigen Sie sich in Ihrem Vortrag mit der Schulbildung der Esten und Letten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aus deutschbaltischer Perspektive.

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Gert von Pistohlkors:2 In meinem Vortrag werde ich darüber sprechen, dass die deutschbaltische Öffentlichkeit auf die Bildungsbestrebungen der Esten und Letten von den 1860er Jahren an – seien es die Aktivitäten der Gesellschaften oder der Zeitschriften wie Eesti Postimees und Sakala sowie Baltijas Vēstnesis und Balss in Riga – mit einem Achselzucken reagierte. Vorwürfe von Esten und Letten, die Deutschbalten wollten Letten und Esten germanisieren, wurden von deutschbaltischen Journalisten als absurd empfunden. Angriffe russischer Zeitungen auf die Deutschbalten und die Sonderstellung der Ostseeprovinzen wurden hingegen als gefährlich angesehen. Trotz der Zensurbeschränkungen, die der lokalen Presse ab 1865 auferlegt wurden, kam es zu langen Abwehrschlachten. In Deutschland wurden von deutschbaltischen Publizisten im Übrigen viel beachtete Plädoyers gegen die Unterdrückung der baltischen Völker und der Finnen veröffentlicht. L. L: Sie haben sich Ihr ganzes Leben mit der baltischen Geschichte beschäftigt. Schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs haben Sie sich um die Zusammenarbeit baltischer Historiker bemüht und hatten fast 30 Jahre lang den Vorsitz der Baltischen Historischen Kommission (BHK) inne. Jaan Undusk hat einmal über die Unterschiede zwischen dem estnisch-lettischen und dem deutschbaltischen historiographischen Paradigma geschrieben, stellte aber auch eine Tendenz zur Konvergenz fest. Inwieweit bestimmt die Bildungsgeschichte eines Historikers sein Geschichtsbild? Verschmelzen diese Paradigmen jetzt? Gert von Pistohlkors: Als ich 1979 Vorsitzender der Baltischen Historischen Kommission wurde, war der Unterschied in der wissenschaftlichen Herangehensweise und Terminologie in vielerlei Hinsicht noch deutlich. Heute hat sich die Situation völlig verändert. Tiit Rosenbergs historiographische Aufarbeitung der Hungersnot der 1860er Jahre in Estland zu Beginn des letzten Jahrzehnts hat mich zum Beispiel sehr beeindruckt. Er sprach von den gemeinsamen Bemühungen der Ritterschaft und der estnischen Ortsgemeinden, das Schlimmste zu verhindern. Die Behauptung, die Ritterschaften und die kommunalen Selbstverwaltungsinstitutionen hätten die Organisation der Armenfürsorge in beeindruckender Weise gemeinsam zum Funktionieren gebracht, wäre von estnischen und lettischen Wissenschaftlern in früheren Zeiten mit Misstrauen betrachtet worden. Jetzt wird eine solche Darstellung jedoch mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen. Ich kann nicht sagen, dass es keine paradigmatischen Unterschiede mehr gibt (es gibt auch große Unterschiede in der Quellenkenntnis: die eine Quelle ist bei Deutschen besser bekannt und verstanden, die andere bei Esten, Letten oder Russen), aber es gibt eine Annäherung im Sinne einer offenen, freien wissenschaftlichen Diskussion. Für jeden Historiker und jede Historikerin ist und bleibt sein oder ihr Bildungshintergrund der entscheidende Faktor. In all den 55 Jahren, in denen die baltische 2 Gert von Pistohlkors hat seine Antworten für diese Zweitveröffentlichung geringfügig überarbeitet.

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Geschichte im Mittelpunkt meiner Forschungen stand (1961 schrieb ich meine Staatsexamensarbeit über „Die Entstehung der deutschbaltischen Russophobie im Zeitalter Nikolaus I.“), hatte ich meinen akademischen Lehrer Reinhard Wittram (1902–1973) als Interpret des baltischen 19. Jahrhunderts vor Augen, gegen ­dessen dominierende Sicht ich mich gewehrt und von dessen Geist ich zugleich immer sehr profitiert habe. Ich teilte seine positive Haltung gegenüber der beharrenden Politik des konservativen Flügels in der livländischen Ritterschaft nicht und bevorzugte die Ansichten der reformorientierten Kreise der livländischen Ritterschaft und der deutschbaltischen Literaten. Die führende Rolle der Ritterschaft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schien mir insgesamt überbewertet, und der Abwehrkampf der Deutschbalten gegen den russischen Zentralismus der 1840er Jahre und die gegen das Luthertum gerichtete russisch-orthodoxe Konversionsbewegung eher verzweifelt als erfolgversprechend. Die baltischen Archive in der Sowjetunion waren für mich bis in die späten 1980er Jahre unzugänglich, aber es gelang mir, in den Archiven und Bibliotheken von Helsinki, Berlin, Bonn und Marburg etwas zu finden, das mich von einer allzu deutschen Einstellung zur baltischen Geschichte wegführte. In der Zwischenzeit ist eine Generation jüngerer Historiker herangewachsen (unter den Historikern, die sich mit dem 19. Jahrhundert beschäftigen, Brüggemann, Feest, Plath, Henning u. a.), die alte Barrieren, auch sprachliche, überwunden haben und sich weniger schwer zu tun scheinen, die Haltungen der Vorgängergenerationen zu überwinden, als dies bei uns, der heutigen Generation der über 80-Jährigen, der Fall war. L. L: Tartu scheint als einzige Universitätsstadt im Baltikum im historischen Sinne sehr geeignet, sich mit der Bildungsgeschichte des Baltikums auseinanderzusetzen. Veranstalter der Tagung sind die Germanisten aus Tartu und Marburg, Kooperationspartner ist das Deutsch-Baltische Netzwerk Germanistik. Wie interdisziplinär ist die Germanistik? Silke Pasewalck, Leiterin der Germanistik an der Universität Tartu: In der Tat ist Tartu der Ort, an dem seit der Gründung der Universität die baltische Bildungsgeschichte besser als anderswo verkörpert wird. Ihr Ruhm reichte weit über die Grenzen der Region hinaus. Im 19. Jahrhundert war Tartu als Heidelberg des Ostens bekannt. Die heutige Universität ist nicht nur eine nationale Universität, sondern auch eine international anerkannte Bildungseinrichtung, kein Heidelberg, sondern eher ein Oxford des Ostens. Tartu war daher eine logische Wahl, aber auch Riga oder Vilnius wären geeignet gewesen. Die baltischen Germanisten sollten stärker zusammenarbeiten, sowohl untereinander als auch mit anderen Disziplinen. Schiller bedeutet hier mehr als nur ein weiterer deutscher Schriftsteller, und die Rolle des deutschen Kulturerbes ist ambivalent, da sie sowohl kulturelle Bereicherung als auch koloniale Unterdrückung beinhaltet. Derzeit arbeiten wir an einem Forschungsprojekt zum Thema „Tartu als interkulturelles Palimpsest“, das interdisziplinär ausgerichtet ist und für Doktorarbei-

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ten aus verschiedenen Fachrichtungen offensteht. Andere Projekte der Germanistik in Tartu gehen in die gleiche Richtung, wie das in Kürze erscheinende Buch „Zum Beispiel Estland. Das eine Land und die vielen Sprachen“. Ich hoffe, dass der baltische Ansatz in der Germanistik auch Auswirkungen auf die Germanistik in den deutschsprachigen Ländern haben wird. Mit der bevorstehenden Konferenz wollen wir Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen zusammenbringen, um ein Objekt zu untersuchen, das beispielhaft für eine komplexe (Kolonial-)Geschichte steht. L. L: Kaspar Renner, Sie promovieren derzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema „Johann Gottfried Herder und die baltische Aufklärung“. Sie sind auch einer der Initiatoren des kürzlich im Rahmen des Erasmus-Programms ausgezeichneten Kooperationsprojekts „Medienpraktiken der Aufklärung“ zwischen den Universitäten Bordeaux, Potsdam, Riga und Tartu. Was ist das Ziel dieses Projekts? Kaspar Renner: Wir wollen in Lehre und Forschung die Veränderungen, die während der Aufklärung in Frankreich, Deutschland und dem Baltikum stattfanden, untersuchen. Während der Aufklärung konnten die sozialen Unterschiede (insbesondere zwischen dem Volk und der Bildungselite) nur überwunden werden, indem man lernte, die medialen Unterschiede (insbesondere zwischen der literarischen und der mündlichen Kultur) zu erkennen und zu nutzen, wodurch die nationale Identität auf neue Weise definiert wurde. Das nationale Erwachen in Frankreich, Deutschland, Estland und Lettland am Ende des achtzehnten Jahrhunderts beweist dies. Wir werden die Verbindungen zwischen transnationalen Ideen und der Mediengeschichte untersuchen und uns dabei auf einige Namen (Raynal, Herder und Merkel), Konzepte (wie beispielsweise Verantwortungsvermögen) und Medien (Zeitschriften, Kalender und Volkslied) konzentrieren. L. L: Was lehrte Herder an der Domschule in Riga? Kaspar Renner: Herder war in den Jahren 1764 bis 1769 als Aushilfslehrer an der Domschule tätig. Eine kurze Zeit, in der aber große Umbrüche stattfanden. In der Frühen Neuzeit war die Domschule noch eine klassische Gelehrtenschule: Es wurde vor allem Latein unterrichtet, um die Schüler auf ihr zukünftiges Theologiestudium vorzubereiten. Auch der deutsche Grammatik- und Poetik-Unterricht war nach dem Vorbild des Latein-Unterrichts angelegt. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts vollzog sich jedoch ein Wandel: Die modernen Fremdsprachen gewannen mehr und mehr an Bedeutung, weshalb Herder auch Französisch unterrichtete. Gleichzeitig wurde der Unterricht in der deutschen Muttersprache neu konzipiert: Die Schüler sollten nicht mehr nur lateinische Gedichte reproduzieren, sondern in ihrer eigenen Sprache schöpferisch tätig werden. Zu diesen Bildungsreformen hat Herder selbst maßgeblich beigetragen, durch seine Schulreden, aber auch ganz praktische

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Vorschläge für neue Lektionspläne. Gerade in Riga, wo Kaufleute eher den Ton angaben als Gelehrte, waren neben den klassisch-humanistischen auch realistischmoderne Fachgebiete wichtig, wie Naturgeschichte und Geographie, die Herder selbst unterrichtete. Er war der Auffassung, dass diese Fächer besonders die sinnlichkonkrete Wahrnehmung der Schüler fördern; das begrifflich-abstrakte Denken sei nur sekundär: Dies ist der Anknüpfungspunkt für das Modell einer Realschule, wie es das Reisejournal entwirft. Schon als Hilfslehrer in Riga entwickelte Herder also revolutionäre Bildungsmodelle, die er jedoch nur ansatzweise realisieren konnte. L. L: Marju Luts-Sootak, welche Rolle spielten die Gerichte als Bildungseinrichtungen in den baltischen Ländern? Wer wurde dort zu welchem Zweck ausgebildet? Marju Luts-Sootak: Wir sind es gewohnt, über die Esten oder über die baltischen Provinzen des Königreichs Schweden und später des zaristischen Russlands im Allgemeinen als eine hochgebildete Region zu sprechen, verglichen mit dem modernen Ost-, West- und Südeuropa, ganz zu schweigen von Russland. Ich habe Nordeuropa absichtlich nicht erwähnt, weil es wie unsere Region vom Luthertum beeinflusst wurde. Das heutige Estland und in gewissem Maße auch Lettland unterschieden sich vom schwedischen Mutterland dadurch, dass selbst Leibeigene lesen und schreiben lernten. Es war nicht so, dass die Schweden ihre Leibeigenen ungebildet ließen – sie hatten einfach keine Leibeigenen, alle Bauern waren frei. Sicherlich trug diese frühe und flächendeckende Alphabetisierung auch dazu bei, dass die Esten und Letten hundert Jahre nach der Befreiung von der ­Leibeigenschaft sofort zur Eigenstaatlichkeit fähig waren. Die Leibeigenschaft war hier kein ­kurzes Intermezzo, sondern bedeutete für die ganze Bevölkerung eine Jahrhunderte währende Abgeschnittenheit von jeglicher öffentlicher Macht und Selbstverwaltung, sogar auf der Ebene des Dorfes. Es liegt auf der Hand, dass die Alphabetisierung allein nicht ausreicht für die Ausübung einer Selbstverwaltung, geschweige denn, dass sich die politische Unabhängigkeit zu einer Eigenstaatlichkeit entwickeln kann. Wir können die bäuerlichen Selbstverwaltungsstrukturen und die mit den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts zum Alltag gewordene Beteiligung an ihrem Funktionieren mit Fug und Recht als Vorläufer der Staatlichkeit bezeichnen. Am 3. März dieses Jahres (19. Februar nach dem alten julianischen Kalender, der im Russischen Reich anerkannt war) ist es 150 Jahre her, dass der russische Reformzar Alexander II. das Gemeindegesetz der Ostseeprovinzen verabschiedet hat. Selbstverwaltung bedeutete damals nicht nur einen Gemeinderat und eine Gemeindeverwaltung, sondern auch Gemeindegerichte spielten eine wichtige Rolle. Das Gemeindegericht war die erste Instanz für Streitigkeiten zwischen den Bauern, einschließlich kleinerer Vergehen. In jedem Fall waren es die Bauerngerichte, die auf den höheren Ebenen in das lokale Justizsystem der Provinzen sowie in das allgemeine Justizsystem des Reiches integriert waren. Unabhängig von ihrer Stellung

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in der Hierarchie der gerichtlichen Institutionen waren die örtlichen Gerichte viel mehr mit Rechtsberatung, der Vermittlung von richtigen Verhaltensweisen und der Schlichtung der Parteien befasst als mit der strengen Rechtsprechung. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts trugen die Gemeindegerichte und vor allem die höheren Gerichte, die bäuerliche Streitigkeiten behandelten, viel dazu bei, die Esten darauf vorzubereiten, ein Volk mit staatlicher Autorität, ja eine Nation mit Rechtsstaatlichkeit im westlichen Sinne zu werden. Neben den Beschwerden zwischen Bauern gab es auch viele Fälle, in denen die Gegenpartei einem anderen, meist höheren Stand angehörte. Auch sie mussten nun lernen, sogar die Bauern ernst zu nehmen, denn nun standen diese ihnen im Gerichtssaal als eine gleichberechtigte Prozesspartei gegenüber. So können die Gerichte und die Rechtsprechung jener Zeit als Vorschule nicht nur für die Esten, sondern für alle hier lebenden Nationalitäten und Stände betrachtet werden, nicht nur für die Staatlichkeit, sondern für eine moderne Gesellschaftsordnung, die auf der Idee der Freiheit und Gleichheit beruht. L. L: Sie sind auch die Vorsitzende der Gelehrten Estnischen Gesellschaft. In der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich diese Gesellschaft zu einem Ort der Zusammenarbeit zwischen estnischen und deutschen Intellektuellen, die jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zerbrach. Was macht die Gesellschaft heute? Marju Luts-Sootak: Die Gelehrte Estnische Gesellschaft ist die älteste wissenschaftliche Gesellschaft in Estland und wurde 1838 gegründet. Ich bin die erste Frau in dieser Funktion in der ehrwürdigen langen Geschichte der Gesellschaft. Der Konflikt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen den estnischen und den deutschen Mitgliedern der Gesellschaft ausbrach, ist heute nur noch eine Seite in der Geschichte der Gesellschaft. Was die Haltung gegenüber den Deutschen, genauer gesagt den Deutschbalten, oder anderen mit dem estnischen Land und Volk verbundenen ethnischen Gruppen, wie den Russen, betrifft, so überwiegen das übliche wissenschaftliche Interesse und die Neugierde. Laut der Satzung der Gesellschaft von 1838 war ihr Ziel die „Förderung der Kenntnisse über Vergangenheit und Gegenwart, Kultur, Sprache und Literatur des estnischen Volkes und des von Esten bewohnten Landes“. Dies ist auch heute noch der Fall. In der Regel halten wir zweiwöchentlich mittwochs Vortragssitzungen ab, organisieren Konferenzen und versuchen, mit anderen Gesellschaften zusammenzuarbeiten. Am Tag dieses Interviews, dem 16. September, findet im Gemeindezentrum von Tabivere eine Konferenz zum 200-jährigen Bestehen des Buchstabens ‚õ‘ statt. Die wichtigste Veröffentlichung der Gesellschaft ist das seit 1863 erscheinende Jahrbuch, die älteste noch erscheinende periodische Publikation über nationale Kultur und Wissenschaft.

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Tagungsbericht1 Das vielfach als Randgebiet markierte Baltikum, ein Grenzland zwischen Osten und Westen, ist eine Transitzone nicht nur von Völkern, Handelskontakten und Ordenskriegen gewesen, sondern auch für Ideen. Sie kann als eine Modellregion für gewisse Kolonisationsprozesse verstanden werden, indem verschiedene dominante Kulturen, die in den vielen Jahrhunderten hierzulande Fuß gefasst haben, einen großen Einfluss auf die Beherrschten ausgeübt haben. Derart asymmetrische Spannungsverhältnisse, wo die Bildenden und die zu Bildenden relativ klar zu differenzieren sind, wie es im Baltikum der Fall gewesen ist, ziehen sich bis in die Gegenwart hinein, wo diese Bildungsproblematik im engeren Sinne in unserem heutigen Schulsystem keinesfalls verschwunden ist. Vom 19. bis 22. September 2016 fand in Tartu eine interdisziplinäre und internationale Tagung mit dem vieldeutigen Titel „Baltische Bildungsgeschichte(n)“ statt – die größte und wichtigste Tagung, die die Tartuer Germanistik bisher veranstaltet hat. Durch die Initiative von Jürgen Joachimsthaler (Marburg) und Silke Pasewalck (Tartu) in Kooperation mit dem Baltisch-Deutschen Netzwerk Germanistik, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages, sind aus zehn verschiedenen Ländern neben Germanisten und Historikern auch weitere Philologen, Kunst- und Rechtshistoriker, Theologen und Musikwissenschaftler zusammengekommen, um mit ihren über 70 deutsch- und englischsprachigen Beiträgen baltische ­Bildungsgeschichte und Bildungsgeschichten in ihren vielen Facetten zu thematisieren. In den fast vollbesetzten Auditorien haben sich nicht nur die Referenten versammelt, sondern auch viele weitere Wissenschaftler aus anderen Abteilungen und Instituten der Universität Tartu sowie Studenten und weitere Interessierte aus der Stadt. Der ziemlich provokative Tagungstitel besteht recht eigentlich aus drei mehrschichtigen Begriffen. Erstens braucht der Marker ‚baltisch‘ immer eine gewisse Erläuterung: das, was ‚baltisch‘ heute ist, ein die drei baltischen Länder fragwürdigerweise bindender geopolitischer Begriff, ist kaum dasselbe, was es vor einem Jahrhundert bedeutet hat – und aus etlichen Erinnerungstexten kann man herauslesen, dass das Wort ‚baltisch‘ eher identitätsproblematisch als identitätsbestätigend gewesen ist. 1 Dieser Tagungsbericht ist veröffentlicht worden in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen 2016, S. 143–146. Er wird hier mit geringfügigen sprachlichen Korrekturen erneut abgedruckt.

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‚Bildung‘ seinerseits weist zum einen auf einen pädagogischen, belehrenden Aspekt hin, der mindestens zwei asymmetrisch markierte Beteiligte vorschlägt; aber zum anderen wird dabei etwas geschaffen, aufgebaut. Und drittens: Dass heutzutage die Rede von Geschichten im Plural anstatt einer Geschichte ist, garantiert produktive kulturwissenschaftliche Forschung, was auch aus den Beiträgen über die im Baltikum stattgefundenen allerlei Geschichten deutlich wurde. Die Tagung war thematisch in acht Sektionen untergliedert: Medien der Bildung (Sektion 1), Sprachen der Bildung – Bildung der Sprachen (Sektion 2), Bildung, Schule und Integration (Sektion 3), Symbolische Ordnungen (Sektion 4), Institutionen der Bildung (Sektion 5), Akteure der Bildung (Sektion 6), Nation building – Bildung der Nationen (Sektion 7), Strukturen der Macht in Sprache, Literatur und Kultur (Sektion 8). Informationen über die Sektionen, Referenten und Abstracts zu den Vorträgen siehe unter der Konferenzhomepage: https://sisu.ut.ee/bildungsgeschichten/. Die Sektionen waren allesamt recht offen konzipiert und boten somit den einzelnen Beiträgen viel Freiheit. Dies sei sowohl als Vorteil als auch als Nachteil verstanden, denn unter derart breiten Rahmen gewann jedes Subthema Aufmerksamkeit, das – gerade bei den großen Sektionen 5 bis 8 – beinahe eine eigenständige Tagung hätte sein können; zugleich aber ist es schwierig, alle behandelten Themen in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen. Die Begründung eines so breiten Themenspektrums wurde indes aus den Vorträgen zur Tagungseröffnung klar (siehe die Eröffnungsreden von z. B. Silke Pasewalck, Christoph Eichhorn, Eva Marquardt und den Eröffnungsvortrag von Heinrich Bosse, Live-Mitschnitt auf http://www.uttv. ee/naita?id=24621). Insbesondere wäre Jürgen Joachimsthaler, der leider nur per Skype an der Tagung teilnehmen konnte, mit der Leitfrage der Tagung zu referieren: Wie geht die dominante Kultur mit Bildung um? Daneben wäre die provokative These, dass die Nationalbewegungen der Esten und Letten ihrerseits Kolonialisierungsprozesse seien. Und gerade unter dieser Voraussetzung können neue Erkenntnisse in die heutige Diskussion über Minderheiten hineingebracht werden. Neben den synchron stattfindenden Sektionsvorträgen gab es auch einige Plenarvorträge, bei denen alle Teilnehmer anwesend sein konnten. Ein echter Superstar (so mindestens von zwei Tagungsbesuchern apostrophiert) der Tagung war Gert von Pistohlkors (Göttingen), einer der bekanntesten deutschbaltischen Historiker, der über Schulbildung und sozialen Aufstieg für Esten und Letten in Livland aus deutschbaltischer Perspektive gesprochen hat. Er stellte dabei explizit die Wichtigkeit der damaligen Presse heraus, die heute fast gänzlich in digitalisierter Form für alle zugänglich ist und einen spannenden Blick darauf bietet, wie es dazu gekommen ist, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts gerade die deutsche Oberschicht das baltische Erwachen in Gang gesetzt hat und wie sich die aufsteigenden Esten und Letten in den Spannungsgefügen zwischen dem russischen Zarenreich und der deutschen Oberschicht durchsetzen konnten. Auch thematisch kann man mit die-

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sem Vortrag das ganze Spektrum der interkulturellen Verhältnisse im alten Estland und Livland einschließen und zusammenfassen. Herr von Pistohlkors Vortrag, der als Abendvortrag im Weißen Saal des Universitätsmuseums stattfand, zog ein breites und buntes Publikum aus vielen anderen Fakultäten der Universität an. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht, was die Autorin dieses Berichts vielleicht am meisten interessiert, war das Hauptproblem klar: Wie soll man die deutschbaltische Literatur heute (wieder) popularisieren? Gibt es ein sinnvolles Programm für die Schule, wo sie eine pädagogische Rolle als ein Teil der deutschen Literatur beziehungsweise der estnischen/lettischen Literatur innehaben könnte? In welchem Maße gehört die deutschbaltische Literatur nach ästhetischen Maßstäben zu sogenannter ,wertvoller Literatur‘ und inwieweit ist sie zum Scheitern verurteilt? Was ist daraus zu lernen? Auf solchen groß angelegten Tagungen werden immer neue Interessierte gefunden. Als unübertriebene Anekdote sei beispielsweise erwähnt, dass eine Bakkalaureusstudentin direkt nach einigen Vorträgen über die deutschbaltische Literatur in die Stadtbibliothek gelaufen ist, um sich Bücher auszuleihen, über die in den kurz davor vorgetragenen Präsentationen die Rede war. Der Tartuer Bildungstagung lag noch ein anderer, vielleicht sogar ein neuer ideologischer Aspekt zugrunde. Indem historische Kolonialbeziehungen betrachtet wurden, die von den dominanten Kulturen gesteuert waren, wurde einmal mehr das Gedankenmuster ‚das Kleine erzieht den Großen‘ kultiviert. Mit solchen Tagungen wird auch gesichert, dass die Themen und Forschungsfragen der Germanistik der baltischen Länder ihrerseits die ‚große‘ Germanistik der deutschsprachigen Länder beeinflussen kann. Die Beteiligung von so vielen renommierten Wissenschaftlern und Denkern, die hier nicht alle aufgezählt sein können, war eine große Ehre und Bestätigung dieser in zwei Richtungen sich bewegenden Dynamik der Geisteswissenschaften. Insgesamt markiert die stattgefundene Tagung bestimmt einen Fortschritt einer Forschungsrichtung, die in der Tartuer Germanistik heute fortgeht. Es war eine Tagung der Fragestellungen: nämlich das Baltikum als ein historisches und interkulturell prägnantes Spannungsgebiet – eine Modellregion von besonderem exemplarischen Wert – zu postulieren, das auch die heutige, mit Minderheiten verbundene Bildungsproblematik beleuchten kann. Nicht zuletzt wurde durch die Tagung auch ein weiterer Fortgang in einem Themenkreis konkreterer Forschungsthemen erkennbar, der bereits durch geplante Dissertationen zu Tartu als interkulturelles Palimpsest oder zu deutschbaltischen historischen Romanen zum Ausdruck kommt, die mit Orten, Personen und Geschehnissen zu tun haben, die man unter dem Begriff Erinnerungsorte subsumieren kann. Da sieht zumindest die Autorin dieses Berichts den Schlüssel für heutige politische Kulturkonflikte. Die asymmetrischen Machtkonstellationen der Vergangenheit verwandeln sich wohl, aber nie in symmetrische; und das ewige Unterdrücktsein von jemandem ist der Grund, warum die

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Bildungsstrategien der Gestrigen immer relevant für die Heutigen bleiben. Man sagt, dass jede Geschichte ein Ende hat; ‚Geschichte(n)‘ aber haben ganz im Gegenteil die Eigenschaft, immer weiterzugehen, ob wir das wollen oder nicht. Ironischerweise trug die Form dieser Tagung einen Kern der Wahrheit in sich: indem sie in acht verschiedenen Sektionen abgelaufen ist, fanden im Hauptteil der Tagung etwa vier Vorträge auf einmal statt, so dass es physisch unmöglich war, alle Beiträge, die einen interessierten, mitzubekommen. Geschichte(n) wurden parallel erzählt und man stand ständig vor einer Wahl. Die Tatsache, dass wir schon lange nicht mehr über eine Geschichte reden können, ist klar; vielmehr leben wir schon jetzt in der Ära der vielen ‚Gegenwarten‘.

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Autorinnen und Autoren Gregor Babelotzky, Dr., Leiter des Lenz-Archivs und wiss. Mitarbeiter an der kommentierten J. G. Hamann-Ausgabe bei der Theodor Springmann Stiftung Heidelberg sowie Lehrbeauftragter für deutsche Kurrentschrift an der Universität Heidelberg, 2016–2020 Research Associate der Digital Critical Schnitzler Edition an der University of Cambridge. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18.–20. Jh; Editionsphilologie. Ausgewählte Publikationen: Jakob Michael Reinhold Lenz: „Kann Er auch zeichnen?“. Skizzen aus dem Nachlass (2021); Ludwig Philipp Hahn: Sämtliche Dramen (Hrsg., 2019); Jakob Michael Reinhold Lenz als Prediger der „weltlichen Theologie“ und des „Naturalismus“. Wechselwirkungen zwischen Prediger und Dichter in Biographie und poetischem Schaffen (2019). Heinrich Bosse, Dr., akad. ORat i. R. am Deutschen Seminar der Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial-, Bildungs- und Öffentlichkeitsgeschichte des 18.  Jh.; Jakob Michael Reinhold Lenz. Ausgewählte Publikationen: Medien, Institutionen und literarische Praktiken der Aufklärung (2021); Bildungsrevolution 1770–1830 (2012); Baltische Literaturen in der Goethezeit (Mithrsg., 2011); Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit (1981/2014). Rūta Eidukevičienė, Dr., assoziierte Professorin für Germanistik an der Vytautas Magnus Universität in Kaunas, 2012–2013 Inhaberin der Gastprofessur Europaicum an der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Erinnerung; literarische Topographie; deutsch-litauische Literaturkontakte; interkulturelle Kommunikation. Ausgewählte Publikationen: Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur (Aufsatz, 2021); „Sprechen sie Deutsch? A. Merkel nori daugiau vokiečių kalbos Europoje“ (delfi, 19.06.2013): Zum Image des Deutschen in litauischen Medien (Aufsatz, 2018); The Neman River. The Multicultural Diversity of the River’s Space (Aufsatz, 2016); Interkulturelle Aspekte der deutsch-litauischen Wirtschaftskommunikation (Mithrsg., 2014); Von Kaunas bis Klaipėda. Deutsch-jüdisch-litauisches Leben entlang der Memel (Mithrsg., 2007). Ruth Florack, Prof. Dr., Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jh.; Jahrhundertwenden 1700, 1800 und 1900; Stereotype in der Literatur; Kulturtransfer FrankreichDeutschland; Sexualdiskurs und Literatur; Literatur und Gedenkkultur. Ausgewählte Publikationen: Gallotropismus – Bestandteile eines Zivilisationsmodells und die Formen der Artikulation (Mithrsg., 2016); Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit (Mithrsg., 2012); Be-

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kannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur (2007); Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur (2001); Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur (Hrsg., 2000). Hans Graubner, Dr., Akademischer Direktor i. R. am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen. Publikationen zum 18. Jh. (Hamann, Kant, Herder, Lenz, deutschbaltische Geschichte) und 20. Jh. (Rilke, Celan, Bachmann, Bobrowski). Antje Johanning-Radžienė, Dr., wiss. Mitarbeiterin und stellv. Leiterin der Abteilung Wissenschaftsforum des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft in Marburg, Projektkoordinatorin des Online-Portals Copernico. Geschichte und kulturelles Erbe im östlichen ­Europa am Herder-Institut, 2006–2012 DAAD-Lektorin an der Vytautas ­Magnus Universität in Kaunas und 2013–2018 an der Universität Daugavpils. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jh.; Literaturgeschichtsschreibung; Regionalliteratur; interkulturelle Germanistik; Literatur und bildende Kunst; Gerhart Hauptmann. Markus Käfer, Dr., geb. 1942; 1992–2016 Dozent für Neuere Deutsche Geschichte am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Universität Heidelberg, Mitherausgeber der „Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft“, Kuratoriumsmitglied und Ehrenmitglied der Winckelmann-Gesellschaft, Mitbegründer und Erst-Vorsitzender des „Freundeskreises Panajotis Kondylis e. V.“, 1969–1981 DAAD-Lektor an der Germanistischen Abteilung der Universitäten Abidjan und Lyon (zuletzt Assistant associé). Forschungsschwerpunkte: J. J. Winckelmann; Carl Gustav Jochmann; Panajotis Kondylis; Ernst Jünger. Benedikts Kalnačs, Prof. Dr., wiss. Mitarbeiter am Institut für Literatur, ­Folklore und Kunst an der Universität Lettlands in Riga und Professor an der Universität Liepāja. Forschungsschwerpunkte: Lettische und vergleichende Literatur; Geschichte des europäischen Dramas; postkoloniale Studien. Ausgewählte Publikationen: A  New History of Latvian Literature. The Long Nineteenth ­Century (Mithrsg., 2022); Rūdolfs Blaumanis (1863–1908). Lettische Moderne und deutschsprachige Literatur (Mithrsg., 2019); Rūdolfs Blaumanis. Frost im Frühling. Die deutschsprachigen Erzählungen (Mithrsg., 2017); 20th Century Baltic Drama. Postcolonial Narratives, Decolonial Options (2016). Kairit Kaur, Dr., wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Komparatistik an der Universität Tartu und wiss. Mitarbeiterin an der Baltica-Abteilung der Akademischen Bibliothek der Universität Tallinn. Forschungsschwerpunkte: Baltische Literatur-

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und Kulturgeschichte und ihre Beziehungen zu Westeuropa; frühe Frauenliteratur im Baltikum. Ausgewählte Publikationen: Balti kirjakultuuri ajalugu I. Keskused ja kandjad [Geschichte der baltischen literarischen Kultur I. Zentren und Träger] (Mitautorin, 2021); Totentanz and Graveyard Poetry. About the Baltic German Reception of English Graveyard Poetry (Aufsatz, 2018); Recke – Becker – Reimarus oder Sophie zwischen Elise(n) und Emilie. Ein Beitrag zur Entstehung der frühen belletristischen Prosa von baltischen Frauen (Aufsatz, 2018); Dichtende Frauen in Est-, Liv- und Kurland, 1654–1800. Von den ersten Gelegenheitsgedichten bis zu den ersten Gedichtbänden (Diss., 2013). Ljubov Kisseljova, Prof. Dr., em. Professorin für Russische Literatur am Lehrstuhl für Slavistik an der Universität Tartu. Forschungsschwerpunkte: Russische Literatur und Kultur des 18. und 19. Jh.; russische Kultur in Estland; Jurij Lotman und sein Erbe; Aspekte des imperialen und nationalistischen Diskurses. Autorin von über 200 Publikationen, u. a. Eesti-vene kultuuriruum [Der estnisch-russische Kulturraum] (2017).   Martin Klöker, Dr., Senior Researcher am Under und Tuglas Literaturzentrum der Estnischen Akademie der Wissenschaften in Tallinn, 1996–2010 wiss. Mitarbeiter in Projekten zur „Erfassung und Erschließung von personalen Gelegenheitsschriften“ am Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (IKFN) der Universität Osnabrück, 1993–1996 am DFG-Graduiertenkolleg „Bildung in der Frühen Neuzeit“. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Frühen Neuzeit; Gelegenheitsdichtung; baltische Literatur- und Kulturgeschichte; Buch- und Bibliotheksgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Davild Hilchen: Sub velis poeticis. Lateinische Gedichte (Mithrsg., 2021); Balti kirjakultuuri ajalugu I: Keskused ja kandjad [Geschichte der baltischen literarischen Kultur I: Zentren und Träger] (Mitautor, 2021); Caspar und Catharina. Eine Revaler Liebe in Briefen des 17. Jahrhunderts (2020); Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (2005, estn. Übers. 2014). Anton Philipp Knittel, Dr., Leiter des Literaturhauses mit angeschlossenem KleistArchiv Sembdner der Stadt Heilbronn, 2000–2019 stellv. Pressesprecher der Stadt Heilbronn, 1998–2000 wiss. Mitarbeiter am Kleist-Archiv Sembdner der Stadt Heilbronn. Ausgewählte Publikationen: „Jedes einzelne Leben ist die Welt.“ Neue Einblicke in Arnold Stadlers Text(t)räume (Mithrsg., 2020); Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung (Mithrsg., 22009); Zwischen Idylle und Tabu. Die Autobiographien von Carl Gustav Carus, Wilhelm von Kügelgen und Ludwig Richter (2002); Erzählte Bilder der Gewalt. Die Stellung der „Ästhetik des Widerstands“ im Prosawerk von Peter Weiss (1996); Kügelgen, Wilhelm von: Erinnerungen aus dem Leben des alten Mannes. Tagebücher und Reiseberichte (Mithrsg., 21996); Kügel-

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gen, Wilhelm von: Das eigene Leben ist der beste Stoff. Briefe an die Schwester Adelheid, an Wilhelm Volkmann und Ludwig Richter (Mithrsg., 1995). Ulrich Kronauer, Dr., Hon.-Prof. für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg und danach am KIT, 1974–2009 Mitarbeiter an der Forschungsstelle Deutsches Rechtswörterbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen zur europäischen Aufklärung und zur deutschen Rechtsgeschichte. Mitherausgeber der Gesammelten Schriften Carl Gustav Jochmanns und der Jochmann-Studien. Ausgewählte Buchpublikationen: Der „Ungläubige“ in der Rechts- und Kulturgeschichte des 18. Jh. (Mithrsg., 2015); Aufklärer im Baltikum (Hrsg., 2011); Gegenwelten der Aufklärung (2003); Rousseaus Kulturkritik und die Aufgabe der Kunst (1978). Alina Kuzborska, Dr., wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Literatur und Kultur deutschsprachiger Länder an der Warmia und Masuren-Universität in Olsztyn. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18.–21. Jh.; Literatur Preußisch-Litauens; Preußen-Motive in der Literatur; interkulturelle Gegenwartsliteratur. Ausgewählte Publikationen: Anfang. Literatur- und kulturwissenschaftliche Implikationen des Anfangs (Mithrsg., 2018); Imaginationen des Endes (Mithrsg., 2015); Kulturlandschaften. Auf Herders Spuren zwischen Mohrungen und Königsberg (Mithrsg., 2012). Valérie Leyh, Prof. Dr., Professorin am Département de Langues et Lettres Germaniques der Université de Namur. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18.–20. Jh. (insb. Aufklärung, Realismus, Wiener Moderne); Poetik der Gerüchte; literarische Netzwerke; deutsch-französischer Kulturtransfer; Kinder- und Jugendliteratur. Ausgewählte Publikationen: Fictions morales à la fin du XVIIIe siècle. Traduction, diffusion, réception à l’échelle européenne (Mithrsg., 2022); Konventionen und Tabubrüche. Theodor Storm als widerspenstiger Erfolgsautor des deutschen Realismus (Mithrsg., 2019); Elisa von der Recke. Aufklärerische Kontexte und lebensweltliche Perspektiven (Mithrsg., 2018). Marju Luts-Sootak, Prof. Dr., Professorin für Rechtsgeschichte an der juristischen Fakultät der Universität Tartu, Gastprofessorin an den Universitäten Münster (2000), Helsinki (2003, 2006), Turku (2005), Frankfurt am Main (2008), Zürich (2011, 2013) und Köln (2013, 2016, 2019). Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Rechts und der Rechtskultur in Estland, im baltischen Raum und in Nordosteuropa; Rechtswissenschaftsgeschichte der Neuzeit und Moderne. Ausgewählte Publikationen: Recht und Wirtschaft in Stadt und Land (Mithrsg., 2020); Legal pluralism – cui bono? (Mithrsg., 2018); Einheit und Vielfalt in der Rechtsgeschichte im Ostseeraum (Mithrsg., 2012).

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Heiko F. Marten, Dr., Direktor des DAAD-Informationszentrums Riga und -­Lektor an der Universität Lettlands, Senior Researcher an der Technologischen Akademie Rēzekne, 2009–2015 DAAD-Lektor an der Universität Tallinn. Forschungsschwerpunkte: Sprach(en)politik; Mehrsprachigkeitsdiskurse; Linguistic Landscapes; Sprachminderheiten; Spracheinstellungen und -lernmotivationen. Ausgewählte Publikationen: Linguistic Landscapes im deutschsprachigen Kontext. Forschungsperspektiven, Methoden und Anwendungsmöglichkeiten (Mithrsg., 2021); Schnittstelle Germanistik 2/1: Sprachkontakte (Mithrsg., 2021); Multilingualism in the Baltic States: Societal Discourses and Contact Phenomena (Mithrsg., 2019); Linguistic Landscapes und Spot German an der Schnittstelle von Sprachwissenschaft und Deutschdidaktik (Mithrsg., 2017); Sprach(en)politik. Eine Einführung (2016). Sanita Martena, Prof. Dr., Professorin für Angewandte Sprachwissenschaft an der Technologischen Akademie Rēzekne und Leiterin eines Projektes zu Spracheinstellungen und innovativen Praktiken in der Sprachausbildung. Forschungsschwerpunkte: Mehrsprachigkeit in Bildung und Gesellschaft; Bildungsdiskurse in Lettland; Lettgallisch in Bildung und Gesellschaft; lettgallische Sprachkorpora; Linguistic Landscapes. Ausgewählte Publikationen: Lingvodidaktika: latviešu valodas mācības pusaudžiem un jauniešiem [Linguodidaktik: Lettischer Sprachunterricht für Jugendliche] (Mithrsg., 2020); Multilingualism in the Baltic States. Societal Discourses and Contact Phenomena (Mithrsg., 2019); Integrācija sākas ar mācīšanos: Latvijas pieredze 21.  gadsimtā [Integration beginnt mit Lernen: Erfahrungen aus Lettland im 21. Jh.] (Hrsg., 2016); CLIL jeb mācību satura un valodas integrēta ­apguve: izglītības paradigmas maiņa [CLIL oder Integrierter Sprach-Fach-Unterricht: ein Wandel im Bildungsparadigma] 3 (Hrsg., 2015). Dieter Neidlinger, M. A., freier Autor und Übersetzer, 2010–2018 Lehrbeauftragter in der Germanistik in Tartu. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Erinnerung; Kulturelles Lernen; Mehrsprachigkeit. Ausgewählte Publikationen: Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungsorte – ein kulturdidaktisches Konzept und seine Relevanz für die baltische Germanistik (Aufsatz, Mitautor, 2017); Interkulturalität und (literarisches) Übersetzen (Mithrsg., 2014); Die Redlichkeit des Betrugs – Literarische Erinnerung und Totalitarismus bei Herta Müller und Vladimir Vertlib (Aufsatz, Mitautor, 2013). Silke Pasewalck, Dr., wiss. Mitarbeiterin im Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa und Lehrbeauftragte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 2010–2018 Assoziierte Professorin für deutsche Literatur an der Universität Tartu. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18.– 21. Jh. (insb. Aufklärung, klassische Moderne und Gegenwartsliteratur); Baltische Literatur- und Kulturgeschichte; Alteritätsdiskurse in der Literatur; Literatur und

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Erinnerung. Ausgewählte Publikationen: Medien der Aufklärung – Aufklärung der Medien. Die baltische Aufklärung im europäischen Kontext (Mithrsg., 2021); Bildungspraktiken der Aufklärung (Mithrsg., 2020); Zum Beispiel Estland: Das eine Land und die vielen Sprachen (Mithrsg., 2017); Interkulturalität und (literarisches) Übersetzen (Mithrsg., 2014); Zwischen verweigertem Estentum und verdrängtem Kosmopolitismus. Zu Jaan Kross’ Roman Professor Martens Abreise (Aufsatz, 2017). Beata Paškevica, Dr., wiss. Mitarbeiterin in der Nationalbibliothek Lettlands. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Baltische Literatur- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts; Pietismusgeschichte in Livland; Gelehrtennetzwerke im Baltikum zur Zeit der Aufklärung. Ausgewählte Publikationen: Dzejnieks un mākslinieks Karls Gothards Grass (1767–1814) = The Poet and Artist Carl Gotthard Graß (1767–1814) = Der Dichter und Maler Carl Gotthard Graß (1767–1814) (Hrsg., 2020); Auf der Spurensuche nach dem pietistischen Netzwerk in Riga und in Livland am Anfang des 18. Jh. Magdalena Elisabeth von Hallarts Verbindung mit dem pietistischen Kreis um den Pfarrer Theodor Krüger in der Jakobskirche in Riga (Aufsatz, 2019); Das transkulturelle herrnhutische Schrifttum als Bestandteil des Medienwandels im lettischen Livland (Aufsatz, 2020); Latviešu ­tautasdziesmu ­teksti, to pierakstītāji un sūtītāji J. G. Herderam „Tautasdziesmu“ izdevuma vajadzībām (Lettische Volksliedtexte, ihre Verfasser und Sender an J. G. Herder für seine „Volkslieder“-Ausgabe) (Aufsatz, 2017). Michael Rocher, M. A., wiss. Mitarbeiter im Projekt „Jugendkriminalität in der Sattelzeit“ am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Siegen, 2015 Baltica Stipendiat der Akademischen Bibliothek Tallinn. Forschungsschwerpunkte: Historische Bildungsgeschichte; Baltikum im 18. Jh.; Sozial- und Kulturgeschichte der Devianz im 18. u. 19. Jh.; Kulturtransferforschung. Doktorarbeit: „Zwei Musterschulen des 18. Jahrhunderts? Das Pädagogium Regium Halle und das Philanthropin Dessau im Vergleich“ (eingereicht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am 30.09.2021). Lina Užukauskaitė, Dr., Lehrbeauftragte für Vergleichende ­Literaturwissenschaft an der Universität Salzburg (seit 2017) und an der Universität Heidelberg (seit 2018), 2018–2021 wiss. Mitarbeiterin an der Vytautas Magnus Universität in Kaunas. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur (18.–21. Jh.); Ästhetik und Poetik; Ingeborg Bachmann; Franz Kafka; Komparatistik; Literatur und andere Medien (Kunst, Musik); Literatur und Geschichte; Literatur und Philosophie; Filmanalyse. Ausgewählte Publikationen: Ingeborg Bachmann und die Kunst. Intermedialität in den Italien-Kunstwerken von Cy Twombly, Elisa Montessori und Marina Bindella (Aufsatz, i. E.); Utopie- und Widerstandsdenken bei Ingeborg Bachmann in Korrespondenz zu Ernst Bloch und Theodor W. Adorno (Aufsatz, 2021);

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Das Schöne im Werk Ingeborg Bachmanns. Zur Aktualität einer zentralen ästhetischen Kategorie nach 1945 (2021). Anja Wilhelmi, Dr., wiss. Mitarbeiterin am Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa (Nordost-Institut) e. V. an der Universität Hamburg, Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Mentalitätsgeschichte; Gender Studies; Geschichte des Baltikums. Ausgewählte Publikationen: Nordost-Archiv 28: Familien-Politiken in Nordosteuropa (18.–20. Jahrhundert): Innerfamiliale Hierarchien und Machtverhältnisse (Hrsg., 2021); Das Baltikum. Geschichte einer europäischen Region. Bd. 3: Die Staaten Estland, Lettland und Litauen (Mitautorin, 2020); Grenzerfahrungen in der Biographie der Künstlerin Monika Hunnius (Aufsatz, 2020); To Italy! Elise Jung-Stilling’s Travel Journal (Aufsatz, 2020).

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Personenregister Aarma, Liivi 182, 187, 193, 196 Abaelard, Peter (1079–1142) 267 Adamovičs, Ludvigs (1884–1943) 170, 171, 173, 180 Adamson, Elina 32, 458, 469–472 Albrecht, August Christian (um 1720) 192, 195 Alexander I., Zar von Russland (1777– 1825) 27, 215–221, 223, 225, 234, 236, 237, 333, 428, 444 Alexander II., Zar von Russland (1818– 1881) 82, 401, 466 Alexander III., Zar von Russland (1845– 1894) 83, 401 Alekseevna, Sophia, Zarin von Russland (1657–1704) 82, 86 Anderson, Alexander (um 1740) 174 André, Christian Karl (1763–1831) 325 Anhalt-Bernburg, Alexander Carl Herzog von (1805–1863) 340, 351 Apals, Gints 395, 397 Ashilevi, Jim 131 Äsop (620–560 v. Chr) 413 Assmuth, Eduard Johann (1792–1853) 302–311 Audula, Pehteris (Peteris Audula) (um 1740) 174, 180 Augustauskas, Vytautas (1904–1958) 102–104 Aust, Martin 75 Babelotzky, Gregor 28, 283–296 Bachtin, Michail (1895–1975) 389 Balk, Daniel Georg (1764–1826) 224, 227–230 Barlach, Johann Caspar (1736–1766) 171, 173, 174

Basedow, Johann Bernhard (1724– 1790) 48 Battus, Bartholomaeus (1571–1639) 243 Bechstein, Johann Matthäus (1757– 1822) 325 Beeck, Ericus von (1588–1650) 246, 247, 262 Beer, Paula 128 Beethoven, Ludwig van (1770–1827) 236 Belljarminov, Ivan (1837–1911) 85, 87 Bender, Reet 20, 119, 120, 125, 126, 131, 433, 454 Berdsohn, Gregorius (um 1680) 44 Berelis, Guntis 405 Berens, Arend (1723–1769) 68 Berens, Johann Christoph (1729–1792) 18, 39, 47 Berens, Johanna Sophia, verh. Schwartz (1750–1806) 68 Berens, Katharina (1727–1805) 68 Berens, Rigaer Patrizierfamilie 39 Berg, Jakob Georg von (1760–1844) 218, 343 Bergengruen, Werner von (1892–1964) 121, 122, 126, 351 Bērziņš, Jānis 398 Biefer, Friedrich Wilhelm Adolf (1706– 1779) 179 Biron, Familie von 321 Biron, Peter von (1724–1800) 321, 326 Biržiška, Mykolas (1882–1962) 95, 96 Biržiška, Vaclovas (1884–1956) 95, 96 Biselstein, Anna Louysa (1686–1746) 362 Biselstein, Jacob (um 1720) 362

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Personenregister

Biselstein, Maria Charlotta (um 1720) 362 Blaufuß (Blaufuss), Friedrich Bernhard (1697–1756) 168, 174, 180 Blaumanis, Rūdolfs (1863–1908) 407, 458, 474 Blessig, Johann Lorenz (1747–1816) 324–328, 332, 334 Blücher, Martin Heinrich (um 1720) 362, 363 Bock, Familie von 335, 343 Bock, Helene Henriette von, verh. Zoege von Manteuffel (1749–1833) 335, 344 Bock, Timotheus Eberhard von (1787– 1836) 430, 433, 439, 444, 445 Bode, Johann Joachim Christoph (1731–1793) 327 Bodisco, Theophile von, geb. von Wistinghausen (1873–1944) 121 Bolschwing, Maria Elisabeth von (1738–1804) 364, 366 Bornmann, Christian (1639–1714) 359, 360, 361 Bosse, Heinrich 14, 17, 18, 21, 23, 35– 58, 71, 12, 220, 232, 356, 453, 461, 470, 473 Böttiger, Carl (Karl) August (1760– 1835) 329, 331, 339 Braziūnas, Vladas 31, 410, 413 Brecht, Bertolt (1898–1956) 62 Briedis, Raimonds 409, 412, 418, 422 Brockes, Barthold Heinrich (1680– 1747) 374, 375 Brockhusen, Christian Wilhelm (1768– 1842) 55, 56 Browne, George Graf von (1698–1792) 53 Brüggemann, Karsten 455, 464 Bruiningk, Alexander von (um 1850) 311

Bruiningk, Friedrich Justin von (1707– 1774) 179 Buntebart (Buntebarth), Magnus Friedrich (1717–1750) 168, 169, 173–176, 179, 180 Büsch, Johann Georg (1728–1800) 47, 48 Cagliostro (1743–1795) 327 Campe, Joachim Heinrich (1746– 1818) 332 Campenhausen, Balthasar von (1689– 1758) 167–169, 171, 175, 179, 197 Cappell, Bernhard (um 1720) 363 Caradeuc de la Chalotais, Ludwig Renatus de (1701–1785) 49, 57 Chruščëv, Nikita Sergeevič (1894– 1971) 412 Chytraeus, David (1530–1600) 244 Cicero (106–43 v. Chr.) 251 Clastres, Pierre (1934–1977) 400 Cronegk, Johann Friedrich Freiherr von (1731–1758) 323 Culvensis, Abraham (Kulvietis, Abraomas) (1509–1545) 95 Czartoryski, Adam Fürst (1734–1823) 237 Dahlberg, Erik Jonsson Graf von (1625–1703) 42 Darnton, Robert 265 Dausa, Kazys (1907–1995) 103 David, Christian (1692–1751) 164, 165, 171, 174 Deglavs, Augusts (1862–1922) 30, 393–407 Degutytė, Janina (1928–1990) 31, 410, 423–425 Dellinghausen, Catharina → Vestring, Catharina

Personenregister

Dellinghausen (Dellinghusen), Barthold (Bartholdt) († 1643) 246 Derenthal, Johann (1575–1630) 259, 261 Diderot, Denis (1713–1784) 267, 281 Diehtsch, Krisch (um 1740) 174 Dilthey, Wilhelm (1833–1911) 110, 114 Dingelstädt, Christian (1741–1790) 292 Donelaitis, Kristijonas (Donalitius, Christian) (1714–1780) 9, 30, 373– 391, 459, 462 Donnert, Erich (1928–2016) 182, 192, 197, 329 Dovlatov, Sergej (1941–1990) 131 Dovydaitis, Pranas (1886–1942) 108, 109 Droese, Detlef 352 Dubrovskij, Aleksandr 83, 92 Duburs, Jēkabs (1866–1916) 404 Dunte, Ludwig (1597–1639) 258, 260, 261 Dusch, Johann Jakob (1725–1787) 367 Efimenko, Anna (1848–1918) 87 Egede, Hans (1686–1758) 278 Eggersdorfer, Franz Xaver (1879–1958) 114, 115 Eidukevičienė, Rūta 11–32, 95–117 Elisabeth I. (Elisabeth Petrovna), Zarin (1709–1761/1762) 163, 172, 173, 178, 198 Erdmann II. von Promnitz, Graf von Sorau (Żary) (1683–1745) 172 Feest, David 464 Ferros, Marc (1924–2021) 73 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814) 222, 223

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Fischer, Christian Gabriel (1686–1751) 384 Fischer, Jakob Benjamin (1684–1744) 53, 164, 173, 176 Fischer, Johannes (1636–1705) 51 Florack, Ruth 9, 30, 41, 355–371, 453, 473 Foerster, Friedrich Wilhelm (1869– 1966) 96, 108, 109, 114, 115 Forselius, Bengt Gottfried (1660–1688) 51, 52 Forster, Eva, verh. Blücher (um 1720) 362 Francke, August Hermann (1663– 1727) 26, 27, 165, 166, 169, 172, 181, 182, 185–198, 286 Freidenberg, Olga (1890–1955) 78 Friedrich II. (Friedrich der Große), König von Preußen (1712–1786) 45, 388 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen (1688–1740) 388 Frisch, Max (1911–1991) 62 Fuller, William C., Jr. 75 Gadewald, Georg (um 1740) 39 Garve, Christian (1742–1798) 329 Gaudig, Hugo (1860–1923) 112 Gavelis, Ričardas (1950–2002) 415 Gedike, Friedrich (1754–1803) 329 Gellert, Christian Fürchtegott (1715– 1769) 365, 366 Gilmanov, Vladimir 391 Gineitis, Leonas (1920–2004) 379, 384 Girdžius, Pranas D. (1902–1997) 389 Glück, (Johann) Ernst (1652/54–1705) 51, 52, 172 Goethe, Johann Wolfgang von (1749– 1832) 57, 123, 289, 292, 329, 339, 370, 461 Gogol’, Nikolaj (1809–1852) 389

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Personenregister

Goldstein (Chrysolitus), Johann(es) (1560–1635) 244, 246 Göttler, Joseph (1874–1935) 114 Grasman(n), Andreas (1704–1783) 168 Graubner, Hans 24, 61–72 Gregorovius, Johann Adam (1681– 1749) 384 Grigorjeva, Sveta 131 Grimm, Jacob Ludwig Karl (1785– 1863) 410 Grimm, Melchior (1723–1807) 268 Grimm, Wilhelm Karl (1786–1859) 410 Grohtes, Michel (um 1740) 174 Gudaitis-Vabalas, Jonas (1881–1955) 109, 111 Gustav II. Adolf, König von Schweden (1594–1632) 440 Gutsleff, Eberhard (1691–1749) 187, 188, 189, 192, 194, 196 Gutzeit, Woldemar von (1816–1900) 170 Hadwig (Hardwig), Marth (um 1740) 168, 177 Hahn, Anna Dorothea (um 1720) 366 Hahn, Otto Adam (um 1720) 366 Hallart (Hallard, Hallardt, Hallert), Magdalena Elisabeth von (1683– 1750) 26, 163–171, 173, 176–180, 197, 457, 478 Hallart (Hallard, Hallardt, Hallert), Nikolaus Ludwig von (1659–1727) 165, 166 Haller, Albrecht von (1708–1777) 374, 383, 385 Hamann, Johann Georg (1730–1788) 18, 24, 41, 47, 61, 62, 63, 64, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 455, 457, 473, 474

Häring, Wilhelm (1798–1871) 339 Hecker, Johann Julius (1707–1768) 49 Heeg, Jürgen 332 Heim (Lehrer) (um 1740) 179 Heine, Heinrich (1797–1856) 123 Heitmann, Catharina Dorothea (verh. Rühl) (um 1740) 367 Hellermann, Dorothee von 338, 339 Helles, Anton Thor (1683–1748) 187 Helmershausen, Christoph Heinrich (1695–1724) 194, 195 Helmes, Günter 398 Heloisa / Héloïse (–1164) 266, 267, 370 Helvétius (1715–1771) 326 Hencke, Georg Johann (1681–1720) 169 Henning, Detlef 464 Herder, Johann Gottfried (1744–1803) 15, 18, 19, 24, 47, 55, 61–72, 130, 289, 290, 339, 368, 370, 455, 457, 462, 465, 466, 474 Herlin, Axel Julius (1690–1737) 189 Hermann, Karl Theodor (1796–1837) 41 Hermann, Bruder (um 1740) 173, 174 Hermes, Johann Timotheus (1738– 1821) 329 Herrnschmidt, Johann Daniel (1675– 1723) 185, 191, 192 Hesiod (ca. 700 v. Chr.) 251, 359 Hesse, Hermann (1877–1962) 124 Hesse, Johannes (1847–1916) 124 Hesse, Carl Hermann (1802–1896) 124 Himmelreich, Johann Dieterich, Kaufmann (um 1710) 360 Hirschhausen, Johann Adam (1690– 1730) 191 Hitler, Adolf (1889–1945) 102, 106, 116, 351

Personenregister

Hitzig, Eduard (1780–1849) 339 Hobbes, Thomas (1588–1679) 266, 273, 275 Hollmann, Friedrich (1833–1900) 314–317, 320 Hollmann, Leonhard Johann (um 1800) 314 Hollmann, Rudolf (1798–1858) 314 Homberg, Naftali Herz (1749–1841) 444 Homer (ca. 7./8. Jh. v. Chr.) 251, 359, 360 Horaz (65 v. Chr.–8 v. Chr.) 235 Hower, Johan (vor 1606) 257 Hueck-Dehio, Else (1897–1976) 121– 123 Hume, David (1711–1776) 269, 270 Hunnius, Monika (1858–1934) 121, 122, 479 Hupel, August Wilhelm (1737–1819) 130, 131 Hvostov, Andrei 131 Ignatsi, Jaak (ca. 1670–1741) 19, 52 Ilovajskij, Dmitrij (1832–1920) 80, 82, 83, 86, 92, 93 Ivan IV. (der Schreckliche), Zar von Russland (1530–1584) 78, 79 Ivanov, Andrei 131 Ivanov, Konstantin Alekseevič (1858– 1919) 87 Ivanovna, Anna, Zarin von Russland (1693–1740) 163 Jahn, lettischer Bauer (um 1740) 174 Jankus, Martin (Martynas Jankus) (1858–1946) 96 Jannau, Heinrich Johann von (1753– 1821) 284, 285 Jäsche, Gottlieb Benjamin (1762–1842) 221, 227

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Jēgere-Freimane, Paula (1886–1975) 405 Joachimsthaler, Jürgen (1964–2018) 11, 12, 35, 55, 57, 58, 275, 391, 453, 456, 462, 469, 470 Johanning-Radžienė, Antje 11–32 Jovaišas, Albinas (1931–2006) 378 Jüssi, Fred 131 Käfer, Markus 27, 41, 215–237, 442, 459, 474 Kähär-Peterson, Kadi 119 Kallas, Aino (1878–1956) 131 Kalnačs, Benedikts 30, 393–407 Kant, Immanuel (1724–1804) 38, 55, 66, 221, 229, 234, 235, 236, 265, 436, 474 Kant, Johann Heinrich (1735–1800) 38 Karamzin, Nikolaj Michajlovič (1766– 1826) 78, 85, 296 Kareev, Nikolaj (1850–1931) 76, 85 Kariņš, Krišjānis 158 Karl IX., König von Schweden (1550– 1611) 50 Karl XI., König von Schweden (1655– 1697) 51 Karl XII., König von Schweden (1682– 1718) 86 Katharina I., Zarin von Russland (1684–1727) 52 Katharina II., Zarin von Russland (1729–1796) 49, 53, 329, 330, 331, 429, 436 Kaur, Kairit 25, 119–135 Kaus, Jan 131 Kavolis, Vytautas (1930–1996) 379 Keiling, Heinrich Casper (um 1720) 192, 193 Kellner, Christine Margarethe → Lenz, Christine Margarethe

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Personenregister

Kerschensteiner, Georg (1854–1932) 112, 114, 115 Keyserling (Keyserlingk, Käyserlingk), Dietrich Graf von (1713–1793) 366 Keyserling, Eduard von (1855–1918) 121, 123 Kihs, Peter (Ķīša, Pēteris) (1698/99– 1771) 168 Killy, Walther (1917–1995) 340, 342, 343 Kisseljova, Ljubov 24, 73–94 Klee, Christian Karl Ludwig (1765– 1829) 41 Kleist, Elisabeth Sophia Luise von (1760–1837) 368–370 Kleist, Ernst Nicolaus von (1756–1784) 368, 370 Kleist, Ewald Christian von (1715– 1759) 383 Kleist, Heinrich von (1777–1811) 385, 441, 475 Klinger, Friedrich Maximilian (1752– 1831) 216, 220, 233, 234 Ključevskij, Vasilij (1841–1911) 77, 80, 83, 84 Klöker, Martin 11–32, 28, 43, 241– 263, 457, 475 Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724– 1803) 236, 288, 289, 326, 369, 370 Klumbys, Valdemaras 412, 418, 420 Knittel, Philipp Anton 29, 335–352 Knopius, Johannes (1578–1632) 258, 259 Koch, Johann Friedrich (1692–1772) 191, 192, 193, 194, 197 Koidula, Lydia (1843–1886) 131 Kolonickij, Boris 75 Korff, Nicolaus Baron von (1682–1752) 358, 366, 368 Kotzebue, August von (1761–1819) 435, 435

Kraus, Chris 128, 347 Kraus, Hugo Emil (1826–1908) 337 Krause, Johann Wilhelm (1757–1828) 18, 41, 46, 54, 225, 226, 227, 228, 236, 237 Kreita, Mārtiņš (um 1740) 173 Kronauer, Ulrich 28, 265–282 Kross, Jaan (1920–2007) 31, 36, 124, 427, 428, 429, 430, 431, 432, 433, 434, 435, 437, 439, 440, 441, 445, 446, 447, 448, 458 Krügelstein, Sigmund David (1698– 1760) 179 Kubilius, Vytautas (1928–2004) 412 Kügelgen, Adelheid von (1808–1874) 337 Kügelgen, Anna von (1831–1919) 340, 344 Kügelgen, Emilie von, geb. Zoege von Manteuffel (1787–1835) 336, 339, 343 Kügelgen, Emma von (1845–1920) 340 Kügelgen, Familie von 29, 335–352, 459 Kügelgen, Gerhard von (1772–1820) 335, 337, 338, 339, 344, 345, 346, 347, 349 Kügelgen, Gerhard von (1806–1883) 336, 337, 340, 341, 342, 343, 347, 348 Kügelgen, Helene Marie (genannt Lilla) von, geb. Zoege von Manteuffel (1774–1842) 335, 337–340, 344– 347, 349 Kügelgen, Helene von (1831–1865) 348, 349, 350 Kügelgen, Karl (Carl) von (1772–1832) 335, 336, 339, 349 Kügelgen, Paul Siegwart von (1875– 1952) 340

Personenregister

Kügelgen, Sally von (verh. Kraus) (1835–1868) 337, 347–351 Kügelgen, Wilhelm von (1802–1867) 335–344, 351, 352, 475 Kügelgen, Wilhelmine (genannt Elmine) von (1808–1889) 336 Kühne, Heinrich († 1724) 195 Kungeta, Jēkabs (um 1740) 173 Kurland, Dorothea von → Medem, Anna Charlotte Dorothea von (1761– 1821) Kurland und Semgallen, Herzog Peter von → Biron, Peter von (1724–1800) Kuzborska, Alina 30, 373–391 La Harpe, Frédéric-César de (1754– 1838) 218, 219 La Mettrie, Julien Offray de (1709– 1751) 229 Lancmanis, Imants 321, 322 Lange, Joachim (1670–1744) 185 Langius, Michael (1564–1618) 244 Laužikas (Laisvūnas / Svajužis), Jonas (1903–1980) 105, 106, 111–113, 116, 117 Laužikas, Rimvydas 382 Lay, Wilhelm August (1862–1926) 109 Lazersonas, Vladimiras (1889–1945) 96, 97, 110, 111, 116, 117 Lazersonaitė-Rostovskaja, Tamara (1929–2015) 110 Lenin (i.e. Vladimir Il’ič Ul’janov) (1870–1924) 93 Lenz, Christian David (1720–1798) 28, 38, 40, 221, 283–292, 459 Lenz, Christine Margarethe, geb. Kellner (um 1770) 292 Lenz, Friedrich David (1745–1809) 221, 236, 295, 296 Lenz, Jakob (Jacob) Michael Reinhold (1751–1792) 15, 18, 28, 38, 46, 236,

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283–285, 287–290, 292–296, 459, 473, 474 Lenz, Johann Christian (1813–1894) 288 Leopold I., Kaiser (1640–1705) 359 Lessing, Gotthold Ephraim (1729– 1781) 14, 66, 267, 269 Levits, Egils 157, 158, 159, 160 Lewin (Levin), Kurt (1890–1947) 106 Leyh, Valérie 29, 41, 321–334, 457, 476 Lichtenstein, Ernst (1900–1971) 17 Lielgaiļa, Mārcis (um 1740) 173 Lielķīšu, Sīmanis (um 1740) 173 Liiv, Juhan (1864–1913) 131 Lindner, Johann Gotthelf (1729–1776) 18, 69 Lippe-Biesterfeld, Marie Gräfin zur (1744–1776) 70 Lippmann, Otto (1880–1933) 106 Lobeck (Lobechius), David (1560– 1603) 244 Loder, Johann (1687–1775) 197, 198 Lomonosov, Michail (1711–1765) 78 Lopuchina, Evdokija Fëdorovna Romanov, Zarin von Russland (1669–1731) 87 Loskiel, Georg Heinrich (1740–1814) 177 Löveling, Dorothea → Vestring, Dorothea Löveling, Gert (um 1580) 246 Luce, Johann Wilhelm Ludwig von (1756–1842) 130 Ludwig XIV. (Louis XIV.), König von Frankreich (1638–1715) 76 Ludwig, Emil (1881–1948) 78 Luft, Ines 182 Luhr, Catharina → Vestring, Catharina Luhr, Hans († 1631) 246, 247 Luik, Viivi 131

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Personenregister

Lukas, Liina 15, 23, 32, 56, 120, 447, 455, 456, 459, 461–467 Lukšienė, Meilė (1993–2009) 22 Luther, Martin (1483–1546) 44, 68, 203, 256, 358, 370 Luts, Oskar (1887–1953) 35, 432 Luts-Sootak, Marju 27, 199–214, 459, 466, 467, 476 Mačiulis, Dangiras 22 Manteuffel, Anna Alexandrina von (1723–1784) 366 Manteuffel, Gotthard Andreas Graf von (1762–1832) 221–223 Manteuffel, Peter August Friedrich von (1768–1842) 121, 130, 345 Marten, Heiko 25, 137–160 Martena, Sanita 25, 137–160 Martens, Friedrich Fromhold (1845– 1909) 433, 436, 438, 441, 445, 446 Martinaitis, Marcelijus (1936–2013) 410, 414, 416–418, 421–423, 425 Masiliūnas, Kazimieras (1902–1973) 101–103 Masing, Otto Wilhelm (1763–1832) 130 Maurach, Elisabeth Charlotte Catharine (genannt Betsy, geb. Sevecke) (1829–1915) 301 Maurach, Carl Peter Ludwig (1824– 1900) 301, 308–314, 316–318 Maurach, Martin (1785–1848) 308 Maurach, Paul (1862–1895) 309 Medeheym, Claus (um 1450) 322 Medem, Anna Charlotte Dorothea von (1761–1821) 321, 322, 328, 334 Medem, Charlotte Elisabeth Constanze von → Recke, Elisa von der Medem, Christoph Johann (Jeannot) Friedrich von (1763–1838) 321, 322

Medem, Johann Friedrich von (1722– 1785) 322 Medem, Johann Friedrich von (1758– 1778) 322–328, 334 Medem, Karl Johann Friedrich von (1762–1827) 321, 322, 333 Meiners, Christoph (1747–1810) 222 Mel’gunov, Sergej (1879–1956) 80, 88 Melzer, Helena Juliana (um 1760) 365 Merckert, N. (um 1760) 367 Meri, Lennart (1929–2006) 131 Merkel, Garlieb Helwig (1769–1850) 15, 19, 28, 55, 130, 131, 265–275, 277, 279–282, 329–333, 465 Merkert, Dorothea Helena (1686– 1774) 360 Meumann, Ernst (1862–1915) 109 Melanchthon, Philipp (1497–1560) 251, 252 Michelson, Johann (Ivan Ivanovič) von (1735/1740–1807) 429, 435 Micksch, Thomas († 1763) 179 Mickwitz, Christoph Friedrich (1696– 1748) 196–198 Miķelis, lettischer Bauer (um 1740) 173 Milde, Heinrich (1676–1739) 185 Miller, Aleksej 75 Morgenstern, Karl (1770–1852) 15, 221, 224, 225, 227, 233, 234, 235, 336, 344, 355, 461 Morrisey, Philip 411 Mühlen, Patrik von zur 121, 122 Munnynck, Marc de (1871–1945) 114 Mylich, Gottfried Georg (1735–1815) 41 Naber, Jaak (1952–2021) 19 Nartov, Andrej (1683–1756) 87 Nathusius, Philipp von (1815–1872) 338

Personenregister

Neidlinger, Dieter 31, 427–448, 477 Nicolai, Friedrich (1733–1811)322 Niedra, Andrievs (1871–1942) 397 Niemi, August Robert (1869–1931) 98, 99 Nieroth, Baron Magnus Wilhelm von (1663–1740) 27, 181, 187–197 Nietzsche, Friedrich (1844–1900) 265, 400 Nikolaus I., Zar von Russland (1796– 1855) 75, 80, 428, 464 Nitschmann, David (1705–1779) 164, 166 Oberlin, Friedrich (1740–1826) 295 Oertel, Friedrich von (1764–1807) 280, 281 Õnnepalu, Tõnu 123 Oras, Ants (1900–1982) 123 Osten (genannt Sacken), Jacob Friederich von der (1717–1796) 364 Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.) 251 Pankratova, Anna (1897–1957) 92 Parijõgi, Jüri (1892–1941) 131 Parrot, Georg Friedrich (1767–1852) 216, 218–220, 223, 225–227, 229, 230, 236, 237 Parthey, Friedrich (1745–1822) 322, 323 Pascal, Roy (1904–1980) 336 Pasewalck, Silke 11–32, 57, 427–448, 464, 469, 470, 477 Pasternak, Boris (1890–1960) 78 Paškevica, Beata 26, 53, 163–180, 478 Paul I., Zar von Russland (1754–1801) 215, 216, 236 Paulus von Tarsus (vor 10 – nach 60 n. Chr.) 66 Pauly, Melchior (um 1740) 170, 172 Pauska, Kaspars (um 1740) 173

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Pečkauskaitė, Marija (Pseudonym Šatrijos Ragana) (1877–1930) 96, 107–109, 116 Peekmann, Marika 132 Pestalozzi, Johann Heinrich (1746– 1827) 234 Peter I. (der Große), Zar von Russland (1672–1725) 24, 27, 63, 64, 69, 76– 89, 92–94, 188, 191, 192, 194, 197, 236 Petersen, Gustav (um 1800) 227 Petersen, Peter (1884–1952) 113 Peterson, Kristian Jaak (Petersohn, Christian Jakob) (1801–1822) 131, 429 Petraeus, Nikolaus (1569–1641) 243 Petreius, Paulus (1562–1611) 244 Petri, Johann Christoph (1762–1851) 130 Petrovič, Aleksej Zarewitsch (1690– 1718) 80 Phocilides (um 540 v. Chr.) 251 Pisanski, Georg Christoph (1725– 1790) 384 Pistohlkors, Gert von 18, 56, 456, 462, 463, 470, 471 Plakans, Andrejs 395 Plaschnig, Tobias (1703–1757) 46, 48 Plath, Ulrike 120, 453, 454, 464 Platonov, Sergej (1860–1933) 77, 80, 84, 85, 90 Pliekšāns, Jānis → Rainis, Jānis Pokrovskij, Michail (1868–1932) 91, 93 Põldvee, Aivar 39, 50 Polli, Kadi 336, 344 Poniatowski, Stanisław August, König von Polen und Großfürst von Litauen (1732–1798) 328 Poppendyk, Andreas (um 1740) 168, 173, 174

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Personenregister

Poruks, Jānis (1871–1911) 30, 31, 393, 394, 404–407 Pöschmann, Georg Friedrich (1768– 1812) 227, 233 Posselius, Johannes (1528–1591) 251 Pugačëv, Emeljan Ivanovič (1742– 1775) 435, 437, 438 Puškin, Alexander (1799–1837) 78 Putin, Vladimir 73, 94 Pythagoras (570 v. Chr.–510 v. Chr.) 251 Rabener, Gottlieb Wilhelm (1714– 1771) 366 Rabelais, François (1494–1553) 389 Rachel, Paul (1851–1923) 322, 323 Radetzki (Radetzky), Georg (1648– 1726) 359 Rainis, Jānis (i.e. Jānis Pliekšāns) (1865– 1929) 407 Raison, August Ernst von (1807–1882) 355 Rambach, Johann Jakob (1693–1735) 188, 286 Ramm, deutschbaltische Familie 121 Ranzau, Erich von (1719–1796) 165, 167, 168, 171, 173–176, 178, 179 Raudsepp, Anu 73 Raynal, Guillaume-Thomas François (1713–1796) 266, 280, 281, 465 Recke, Elisa von der, geb. Charlotte Elisabeth Constanze von Medem (1754–1833) 15, 29, 41, 45 321– 324, 326–334, 457, 475, 476 Recke, Georg Magnus von der (1739– 1795) 322 Recke, Johann Friedrich von (1764– 1846) 30, 355–357, 359, 361, 363, 364, 368, 371, 453, 475 Reifarth, Gert 411, 412 Renner, Kaspar 457, 465

Rennit, Marge 120 Rhesa, Martin Ludwig Jedemin (1776– 1840) 389 Rhode-Ebeling, Hermann (1843–1903) 403 Richert, Hans (1869–1940) 100 Rickert, Heinrich (1863–1936) 110, 113 Riehl, Heinrich (1823–1897) 345 Robespierre, Maximilien de (1758– 1794) 237, 265 Rocher, Michael 26, 181–198 Rodde, Kaspar Matthias (1689–1743) 196, 488 Romanov, russische Adelsdynastie 78 Rosen, Eugène (Eugenius) Octave August Freiherr von (1759–1834) 41 Rosen, Familie von 436 Rosen, Friedrich Freiherr von (1767– 1851) 435, 438 Rosenberg, Alfred (1892–1946) 105 Rosenberg, Tiit 463 Rosenplänter, Johann Heinrich (1782– 1846) 130 Rotermund, Erwin (1932–2018) 419 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778) 28, 69, 70, 234, 265–282, 370, 383, 444, 445, 456, 476 Roždestvenskij, Sergej (1834–1891) 80, 85–87, 93 Rudbeckius, Johannes (1581–1646) 259, 260 Ruģēna, Juris (um 1740) 173 Rühl, Friderich Ludewig (1736–1806) 367 Runnel, Hando 131 Rüssow (Russow / Ruessow), Balthasar (1536–1600) 429, 432, 441 Saagpakk, Maris 120, 125 Sabler, Georg (1700–1740) 194, 195

Personenregister

Sagittarius, Gerhard (1540–1612) 248, 249, 257, 259, 260 Sallas, Jahn (um 1740) 174 Sallneeka, Michel (um 1740) 174 Saltykov-Ščedrin, Michail (1826–1889) 411 Sandhagen, Andreas (1612–1657) 246, 260, 262 Satkauskytė, Dalia 410, 419, 422 Sausiņa, Dāvids (um 1740) 173 Schaefer, Oda (1900–1988) 128, 337, 347, 348, 350 Schalenius, Johannes (um 1597) 244 Schaudinn, Heinrich Fritz (1906–1945) 19, 53 Schaum, Susanne Margaretha von (um 1710) 359 Schiller, Friedrich von (1759–1805) 14, 65, 66, 220, 339, 444, 464 Schindling, Anton (1947–2020) 17 Schleich, Carl Ludwig (1859–1922) 336 Schleswig-Holstein-SonderburgGlücksburg, Friederike Caroline Juliane Herzogin von (1811–1902) 341 Schlosser, Johann Georg (1739–1799) 292 Schlözer, August Ludwig von (1735– 1809) 55 Schmale, Wolfgang 47 Schmidkunz, Hans (1863–1934) 114 Schmidt, Joachim (1692–1757) 166– 169, 174, 175 Schmidt, Johann Ernst zu Nurmhausen (um 1710) 357 Schöner, Hans (1929–2014) 350 Schopenhauer, Arthur (1788–1860) 265, 282 Schriever, Diederich (um 1720) 361, 362

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Schröder, Rudolf Alexander (1878– 1962) 351 Schubert, Heinrich (1780–1860) 286 Schumann, Friedrich (1863–1940) 110 Schwar(t)z, Johann George (Hans) (1773–1830) 344 Schwartz, Johanna Sophia → Berens, Johanna Sophie (1750–1806) Schwarz, Rigaer Patrizierfamilie 39 Schwarz, Sophie (geb. Becker) (1754– 1789) 329, 356 Scipio, Christian (um 1720) 192 Seebach, Lehrer (um 1720) 195 Seghers, Anna (1900–1983) 418 Selge, Edgar 128 Seneca (1–65 n. Chr.) 286 Sielmann, Johann Friedrich (1712– 1770) 170 Sievers, Jacob Johann Graf von (1731– 1808) 441, 442 Siewertz, Johann (um 1720) 362 Sieyès, Emmanuel Joseph (1748–1836) 218 Skawrońska, Marta → Katharina I. von Russland Skester, Peter (um 1740) 173 Skujenieks, Knuts 412 Smetona, Antanas (1874–1944) 102, 103, 105, 116 Smith, Adam (1723–1790) 228 Spener, Philipp Jakob (1635–1705) 286 Spranger, Eduard (1882–1963) 106, 113 Spreckelsen, Propst (um 1740) 168 Solov’ëv, Sergej (1820–1879) 77–84 Sonntag, Karl Gottlob (1765–1827) 44 Stackelberg, Anna Sophie von (geb. Zoege von Manteuffel) (1775–1828) 345 Stackelberg, Baron von (um 1880) 213, 214

492

Personenregister

Stackelberg, Familie von 121, 335, 343 Stackelberg, Gustav Adolf Baron von (1773–1848) 345 Stalin, Iosif (1878–1953) 78, 83, 92– 94, 424 Starck, Johann August (1741–1816) 327 Steffenhagen, Johann Friedrich (1744– 1812) 368 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum (1757–1831) 351 Stender, Gotthard Friedrich (1714– 1796) 356 Steponavičius, Jonas (1880–1947) 109 Stern, William (1871–1938) 110 Sterne, Laurence (1713–1768) 370 Stolleis, Michael (1941–2021) 199 Storost, Wilhelm (Pseudonym Vydūnas) (1868–1953) 96, 98, 109, 114, 116 Stralborn, Anna → Vestring, Anna Stralborn, Arnhold (um 1640) 247 Straumīte, Indriķīs (1832–1905) 309 Strauss, Leo (1899–1973) 419 Sturm, Johann (1507–1589) 251, 252 Styx, Martin Ernst (1759–1829) 236 Swift, Jonathan (1667–1745) 273 Šalkauskis, Stasys (1886–1941) 114– 117 Šapoka, Adolfas (1906–1961) 95 Šatrijos Ragana → Pečkauskaitė, Marija Šerelytė, Renata 414 Šilbajoris, Rimvydas (1926–2005) 374, 377, 380 Šiško, Leonid (1852–1910) 80, 88 Šuplinska, Ilga 154–156 Talleyrand (1754–1838) 321 Tammsaare, Anton Hansen (1878– 1940) 124, 132, 432

Taube, Otto Freiherr von (1879–1973) 340, 349, 351, 352 Teidearu, Tenno 120 Terenz (zwischen 195 und 184 v. Chr.– 159/158 v. Chr.) 251 Tering, Arvo 23, 41, 182 Tetelbach, Johannis (1517–1598) 261, 262 Thierberg, Abraham Michael (um 1710) 359 Thilo, Gottlob (um 1720) 358, 359, 363 Tiander, Karl (1873–1938) 329 Tideböhl, Johann Georg (1711–1756) 198 Tiesenhausen, Familie von 441 Tiesenhausen, Hans Heinrich Freiherr von (1628–1710) 440 Tobien, Alexander von (1854–1929) 237 Toischer, Wendelin (1855–1922) 114 Tolstoj, Aleksej (1882/83–1945) 79 Thomasius, Christian (1655–1728) 384 Thomson, James (1700–1748) 374, 385 Tottien, Justus (um 1710) 360 Trapp, Ernst Christian (1745–1818) 332 Tuisk, Tambet 128 Turck (Türck), Johann Friedrich (um 1740) 168, 174 Ude, Johann Wilhelm (1693–1769) 196 Uexküll, Jakob Johann von (1864– 1944) 121, 340 Ulmanis, Kārlis (1877–1942) 138 Under, Marie (1883–1980) 132 Undusk, Jaan 427, 434, 446, 463 Ustrjalov, Nikolaj (1805–1870) 80, 81, 85, 87, 88, 93

Personenregister

Uvarov, Sergej (1786–1855) 77, 80 Užukauskaitė, Lina 31, 409–426 Varnhagen von Ense, Rahel (geb. Levin) (1771–1833) 439, 440 Vasil’eva, Ol’ga 94 Vegesack, Siegfried von (1888–1974) 121, 122, 128 Venclova, Tomas 31, 410, 411, 419– 421 Vergil (70 v. Chr.–19 v. Chr.) 251 Vestring, Anna, verh. Stralborn († 1688) 246, 247 Vestring, Catharina, verw. Luhr, verh. Dellinghausen (ca. 1605–1650) 246, 247 Vestring, Dorothea, geb. Löveling († nach 1650) 246 Vestring, Dorothea († 1623) 246, 248 Vestring, Margareta (Gretke) († 1641) 247 Vestring(ius), Heinrich (Henricus) d.Ä. (1562–1650) 28, 241–252, 254–263, 457 Vestring(ius), Heinrich d.J. († 1643) 246–248 Vestring, Johann (ca. 1616–1662) 246, 247 Vierhaus, Rudolf (1922–2011) 17 Vierorth, Albert Anton (1697–1761) 166, 196 Voltaire (1694–1778) 265, 267, 436, 445 Vulpius, Ricarda 75 Vydūnas → Storost, Wilhelm Wagner, Richard (1813–1883) 405 Wahlen, von, Rittmeister (um 1720) 358 Wahlen, Constantia Ursula von den (1698–1790) 366, 368

493

Walter, Ferdinand (1794–1879) 306, 307 Walther, Gerrit 17 Wehrt (auch Werth), Johann Gottfried (um 1720) 361, 362 Weidlich, Wolfgang (1928–2019) 352 Werner, Johannes 340, 351, 352 Weygandt, Georg (um 1700) 357 Weyland, Philipp Christian (1765– 1843) 332, 333 Wicherkiewicz, Tomasz 141 Wichgreve, Albert (1575–1619) 243 Wieland, Christoph Martin (1733– 1813) 323, 339 Wildenband, Wilhelm (1848–1915) 113 Wilhelmi, Anja 22, 29, 297–320 Willemsen, Eberhard (um 1725) 196 Willmann, Friedrich Wilhelm von (1746–1819) 130 Willmann, Otto (1839–1920) 114, 115 Wilpert, Gero von (1933–2009) 20, 21 Winckelman, Berent († vor 1606) 257 Winckelmann, Johann Joachim (1717– 1768) 225 Winter, Eduard (1896–1982) 182, 187, 191, 193, 194 Wistinghausen, Henning 121 Wistinghausen, Theophile von → Bodisco, Theophile von Wistinghausen, Walther von (1879– 1956) 121 Witten, Peter Christoph Baron von (1744–?) 70 Wittram, Heinrich (1931–2018) 302 Wittram, Reinhard (1902–1973) 226, 464 Wittrock, Karl August (1901–1959) 317, 318, 320 Wittrock, Viktor (1869–1944) 302

494

Personenregister

Wolff, Christian (ab 1745 Freiherr von) (1679–1754) 384, 444 Wrede, Heinrich Christoph (1691– 1764) 181, 187–191, 193–195, 197 Wundt, Wilhelm (1832–1920) 109 Yčas, Jonas (1880–1931) 98–101 Young, Edward (1683–1765) 323 Zedlitz, Karl Abraham von (1731– 1793) 45 Zeschau, Heinrich von (1760–1832) 70 Zinzendorf, Erdmuthe Dorothea von (1700–1756) 179 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von (1700–1760) 164–169, 176, 180, 197

Zimmermann, Jakob Andreas (1706– 1770) 53 Zoege von Manteuffel, Emilie → Kügelgen, Emilie von Zoege von Manteuffel, Helene Henriette → Bock, Helene Henriette von Zoege von Manteuffel, Helene Marie → Kügelgen, Helene Marie Zoege von Manteuffel, Wilhelm Johann, Baron (1745–1818) 335, 344, 346 Zuckerbecker, Rigaer Patrizierfamilie 39 Žekevičius, Jonas (1904–1982) 104 Želce, Vita 297, 299

495

Ortsregister mit Konkordanz Aufgenommen wurden nur Städtenamen, Dörfer, Höfe und Kirchspiele, aber ­keine Länder, Regionen oder topographische Bezeichnungen (z. B. historische Landschaften, Berge, Flüsse, Inseln). Åbo → Turku Ahaus 242 Aglona → Aglohn Aglohn (lav. Aglona) 140 Albu → Alp Alp (est. Albu) 26, 27, 181–183, 185, 187–198, 457 Alt-Rahden (Vecsaule) 38 Alūksne → Marienburg Āraiši → Arrasch Arensburg (est. Kuressaare) 43, 196 Arrasch (lav. Āraiši) 177 Auciems → Auzen Auzem → Auzen Auzen (lav. Auciems) 174 Asow (rus. Azov) 89 Azov → Asow Bacharach 344 Bad Schwartau 302, 318 Ballenstedt 335, 338–341, 344, 348, 352 Baltinava 142–144 Basel 95 Bauska → Bauske Bauske (lav. Bauska) 43–45 Berlin 49, 99, 114, 116, 169, 181, 293, 333, 334, 343, 464, 465 Bischofshof (est. Piiskopi mõis), Gut 51 Blieden (lav. Blīdene) 360 Blīdene → Blieden Bonn 236, 464 Breslau (pol. Wrocław) 329

Brinkenhoff (est. Kriimani) 179 Bückeburg 70 Calsenau (lav. Kaltsnaue) 358 Cesvaine → Seßwegen Cēsis → Wenden Čistye Prudy → Tollmingkehmen Danzig (pol. Gdańsk) 247, 292 Darmstadt 101 Dessau 48 Dijon 276 Dillingen 95 Dorpat (est. Tartu) 11, 15, 16, 21, 23, 27, 28, 32, 35, 40, 42, 43, 46, 48, 50, 51, 110, 119–121, 123–125, 127, 129, 130, 132, 182, 203, 209, 215, 216, 217, 220–223, 225, 227, 230, 232, 233, 235–237, 246, 251, 269, 284, 296, 301, 303, 308, 315, 317, 318, 355, 357, 442, 443, 451– 453, 456, 460, 461, 464, 465, 469, 471 Dramburg (pol. Drawsko Pomorskie) 168 Drawsko Pomorskie → Dramburg Dresden 164, 170, 172, 334–336, 339, 340, 344, 347, 404, 405 Dzērbene Drusti → Serben-Drostenhof Eigstfer (est. Eistvere) 335 Eistvere → Eigstfer Emmendingen 292

496

Ortsregister mit Konkordanz

Engelswach bei Greifswald 169 Ērģeme → Erms Erms (lav. Ērģeme) 168, 174 Fehteln (lav. Weetole) 358 Fellin (est. Viljandi) 43, 309 Finn (est. Vinni) 336, 340, 341, 348 Frankfurt am Main 96, 101, 110, 199 Frankfurt an der Oder 95 Friedrichstadt (lav. Jaunjelgava) 42 Gdańsk → Danzig Glaucha bei Halle 26, 181, 185–187, 189 Goldingen (lav. Kuldiga) 42, 43 Gotha 302 Göttingen 302, 355, 445 Greifswald 144, 168, 169, 243 Guben (pol. Gubin) 169, 170 Gubin → Guben Groß-Roop (lav. Lielstraupe) 55 Halle an der Saale 26, 27, 38, 49, 163– 166, 170,181–198 Hamburg 47, 48, 105, 112, 116, 158, 234 Hargla → Harjel Harjel (est. Hargla) 314, 315 Harm (est. Harmi) 335, 345–347 Harmi → Harm Heidelberg 95, 215, 464 Helsinki 98, 434, 464 Herrnhut 53, 163–165, 167–169, 173, 178, 180, 198, 302, 316 Ingolstadt 95 Jaunjelgava → Friedrichstadt Jaunrauna → Neuhoff Järva-Madise → Jerwen [St. Matthäi] Jelgava → Mitau

Jena 96, 110, 168, 169, 367, 443 Jerusalem 288 Jerwen [St. Matthäi] (est. Järva-Madise) 181, 190, 247 Jõgeva → Laisholm Kaalepi → Kaulep Kaliningrad → Königsberg Kaltsnaue → Calsenau Karkel / Karckel (lav. Kārķi) 174, 177 Kārķi → Karkel / Karckel Kārsava → Kudum / Kūdums Karsau Kaulep (est. Kaalepi) 181, 190 Kaunas 11, 108–112, 114 Klaipėda → Memel Klein-Marien (est. Väike-Maarja), Kirchspiel 39, 83 Königsberg (rus. Kaliningrad) 19, 55, 67, 68, 95, 96, 175, 283, 291, 357, 366, 384, 385, 387, 388, 436, 462 Kosch (est. Kose) 247, 303 Kose → Kosch Krakau (pol. Kraków) 95 Kraków → Krakau Kreutzburg (lav. Krustpils) 358, 368 Kriimani → Brinkenhoff Krustpils → Kreutzburg Kudum / Kūdums Karsau (lav. Kārsava) 140, 174 Kuldiga → Goldingen Kunda (est. Kunda) 122 Kunda → Kunda Kuressaare → Arensburg Landsberg 168 Laisholm (est. Jõgeva) 121 Lasdohnes → Lassdohn Lassdohn (lav. Lasdohnes) 358 Laudohn (lav. Laudohnes) 358 Laudohnes → Laudohn Leal (est. Lihula) 130

Ortsregister mit Konkordanz

Leiden 95 Leipzig 95, 109, 251, 301, 339, 359 Le Paraclet, Kloster bei Troyes 267 Libau (lav. Liepāja) 43, 366 Lielstraupe → Groß-Roop Liepas muiža → Lindenhoff Liepāja → Libau Lihula → Leal Lindenhoff (lav. Liepas muiža), Hof 174, 177 Löbichau 334 Loccum 431 Ludsen (lav. Ludza) 140 Lund 50 Lübeck 196 Ludza → Ludsen Magdeburg 104 Mahrzen (lav. Mārsnēnu muiža), Hof 177 Marburg 11, 16, 461, 462, 464, 469 Marienburg (lav. Alūksne) 51, 52, 172 Mārsnēnu muiža → Mahrzen Melbourne 411 Memel (lit. Klaipėda) 16 Mitau (lav. Jelgava) 19, 30, 38, 40, 42, 43, 322, 355, 359–363, 366–268 Mõraste → Versenau-Neuhall Moskau (rus. Moskwa) 79, 80, 82, 88, 114, 416, 437 Moskva → Moskau München 101, 106, 429 Münster 158, 242 Narva → Narwa Narwa (est. Narva) 43, 194, 196 Neuenburg, Gut 322 Neuharm (Uue-Harmi) 340 Neuhoff (lav. Jaunrauna), Hof 177 New York 131

497

Oberpahlen (est. Põltsamaa) 308, 309, 312, 313–315, 317 Opole → Oppeln Oppeln (pol. Opole) 12, 462 Orellen (lav. Ungurmuiža), Hof 168, 174, 177, 197 Osnabrück 356 Otiküla → Ottenküll Ottenküll (est. Otiküla) 347 Paide → Weissenstein Paistel (est. Paistu) 308, 309, 312, 313 Paistu → Paistel Palcgrāves muiža → Pfalzgrafen Palms → Palmse Palmse (est. Palms) 122, 130 Pamūšis → Pomusch Panevėžys → Poniewiesch Paris 79, 268, 417, 444 Pärnu → Pernau Pernau (est. Pärnu) 43 Pfalzgrafen (lav. Palcgrāves muiža) 329, 331, 333 Piiskopi mõis → Bischofshof Pleskau (rus. Pskov) 194 Poll (est. Põlula) 128, 340, 347 Poltawa (rus. Poltava) 78, 82, 89 Põltsamaa → Oberpahlen Põlula → Poll Pomusch (lav. Pamūšis), Gut 366 Poniewiesch (lit. Panevėžys) 98 Posen (pol. Poznań) 144 Poznań →Posen Preobražensk 84 Pskov → Pleskau Rakvere → Wesenberg Ratzeburg 243 Rauge (est. Rõuge) 314–316 Reŭall → Reval

498

Ortsregister mit Konkordanz

Reval (est. Tallinn) 28, 43, 44, 46, 121–123, 126, 166, 175, 183, 185, 188–192, 195, 196, 198, 200–250, 252, 254, 255, 256, 259–263, 292, 302, 316, 318, 340, 344, 346, 347, 431, 435, 437–439, 442, 446 Rēzekne → Rossiten Riga 11, 18, 19, 21, 22, 30, 31, 39, 40, 42–44, 46, 47, 50, 51, 63, 67–69, 141, 142, 144, 160, 164, 168, 174, 176, 183, 185, 197, 198, 203, 218, 295, 316, 362, 393, 395–407, 442, 456, 463–466 Rohp / Roop (lav. Straupe) 168, 177 Rom 276, 340, 344 Roosa → Rosenhof Rozbeķu muiža → Rosenbeck Rosenbeck (lav. Rozbeķu muiža), Hof 174, 177 Rosenhof (est. Roosa) 315 Rossiten (lav. Rēzekne) 138, 141, 142, 144, 154, 157, 159 Rostock 243–247 Rõuge → Rauge

110, 144, 187, 191, 197, 216, 222, 315, 329, 339, 344, 396, 433, 438 Straßburg 251, 283, 324, 327 Straupe → Rohp / Roop Sulechów → Züllichau Szczecin → Stettin Szydłów → Schidlo Šiauliai → Schaulen

Sankt-Peterburg → St. Petersburg Schaulen (lit. Šiauliai) 102 Schidlo (pol. Szydłów) 169 Schwerin 302, 318 Seeland (Schloss Hoym) 339, 348 Seidla → Seydel Serben-Drostenhof (lav. Dzērbene Drusti), Kirchspiel 284 Seßwegen (lav. Cesvaine) 283 Seydel (est. Seidla) 181, 190 Soest 244 Sorau (pol. Żary) 172 Sovetsk → Tilsit Steintal 295 Stettin (pol. Szczecin) 336 St. Petersburg (rus. Sankt-Peterburg)

Ungurmuiža → Orellen Uue-Harmi → Neuharm

Tabbifer (est. Tabivere) 467 Tabivere → Tabbifer Tallinn → Reval Tartu → Dorpat Tarvastu → Tarwast Tarwast (est. Tarvastu) 291, 295 Tilsit (rus. Sovetsk) 96, 114 Tobolsk (rus. Toboľsk) 172, 186 Tollmingkehmen (rus. Čistye Prudy, lit. Tolminkiemis) 373 Tolminkiemis → Tollmingkehmen Torma-Lohusu (est. Torma-Lohusuu) 303 Torma-Lohusuu → Torma-Lohusu Turku (swe. Åbo) 50

Valmiera → Wolmar Valmieras muiža → Wolmarshof Väike-Maarja → Klein-Marien Vecsaule → Alt-Rahden Ventspils → Windau Versenau-Neuhall (est. Mõraste) 336 Viljandi → Fellin Vilnius → Wilna Vinni → Finn Vitebsk → Witebsk Warschau 328 Weetole → Fehteln

Ortsregister mit Konkordanz

Weimar 292, 339, 347 Weissenstein (est. Paide) 124 Wenden (lav. Cēsis) 43, 177, 287–288 Wesenberg (est. Rakvere) 31, 36, 121, 124, 427, 429, 432, 434, 435, 439, 440, 441, 444, 446 Windau (lav. Ventspils) 43 Wilna (lit. Vilnius) 21, 95, 109–111, 113, 219, 415, 464 Witebsk (rus. Vitebsk) 138 Wittenberg 95, 244, 359

499

Wolmar (lav. Valmiera) 26, 43, 163, 168, 169, 171, 172–174, 177, 303 Wolmarshof (lav. Valmieras muiža) 26, 53, 164, 166–172, 176, 178, 179 Wrocław → Breslau Züllichau (pol. Sulechów) 168 Zürich 96, 101, 107, 110, 112, 113, 116, 352 Żary → Sorau