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German Pages 332 [334] Year 2018
Evelyn Buyken
Bach-Rezeption als kulturelle Praxis Johann Sebastian Bach zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 81 Franz Steiner Verlag
Evelyn Buyken Bach-Rezeption als kulturelle Praxis
Bei hef te zu m A rc h iv f ü r Mu si k w i s sen sc ha f t herausgegeben von Albrecht Riethmüller in Verbindung mit Ludwig Finscher, Frank Hentschel, Hans-Joachim Hinrichsen, Birgit Lodes, Anne Shreffler und Wolfram Steinbeck Band 81
Evelyn Buyken
Bach-Rezeption als kulturelle Praxis Johann Sebastian Bach zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der Mariann Steegmann-Foundation
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12058-6 (Print) ISBN 978-3-515-12066-1 (E-Book)
VORWORT Die hier vorliegende Studie wurde im Februar 2016 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Eine Arbeit wie diese ist Teil einer Lebens- und Forschungspraxis, die von vielen Menschen um mich herum mitgetragen und ermöglicht wurde. Ihnen möchte ich an dieser Stelle danken. Drei Personen, meinen beiden Doktormüttern und meinem Doktorvater, gebührt mein erster Dank. Besonders prägend für den Beginn und die gesamte Entwicklung meiner Arbeit war meine Betreuerin Dr. Annette Kreutziger-Herr (Berlin). Für ihren konstruktiven Rat, ihr unerschütterliches Vertrauen in dieses Dissertationsprojekt und ihren Mut, das Eigene zu wagen und sich immer wieder auf sich selbst zu berufen, bin ich ihr von Herzen dankbar. Prof. Dr. Frank Hentschel (Köln) danke ich für seine kontinuierliche und umfassende Beratung und Betreuung, für seine Detailgenauigkeit, seine Begeisterung für das Debattieren und ‚Sich-Streiten‘ sowie seine klar und transparent kommunizierten und fundierten Einschätzungen. Seine Liebe für die historischen Quellen und seine wohltuende Skepsis all zu vielen theoretischen Moden gegenüber haben mich einmalig geprägt. Prof. Dr. Melanie Unseld (Wien) ist auf den letzten Metern auf das Projekt aufgesprungen und hat dementsprechend für Fahrt gesorgt. Ich bin ihr unendlich dankbar für ihren Blick des großen Ganzen, für das Platzieren von Gedanken am richtigen Ort, für ihre Geduld in ungezählten Beratungen gerade in den Monaten vor der Abgabe der Arbeit, ob persönlich, per E-Mail oder Skype. Ich danke ihr für ihre ansteckende Leichtigkeit und Gelassenheit, Wissenschaft und Familie als zwei sich positiv ergänzende ‚Projekte‘ zu betrachten. Ich danke ebenso Prof. Dr. Peter Wollny (Leipzig), der mir in vielen fachlichen Fragen zur frühen Bach-Rezeption konstruktiv zur Seite stand und mir den Weg zu manchen Quellen geebnet hat. Mein Arbeitsschreibtisch stand in den letzten Jahren in Büros verschiedener Institute. Zu allererst danke ich der a. r. t. e. s. Graduate School for the Humanities Cologne (Graduiertenschule der Universität zu Köln), die mich als Stipendiatin gefördert und mir Forschungsreisen nach Wien und Krakau ermöglicht hat. Ich danke insbesondere Prof. Dr. Dr. h. c. Andreas Speer für seine Unterstützung als Drittgutachter dieser Arbeit sowie meinen dortigen Kolleginnen und Kollegen Francesca Valentini, Emanuele Caminada, Dr. Eva-Maria Hochkirchen, Dr. Stefanie Coché, Jule Schaffer und Dr. Valerie Lukassen für die gemeinsam erlebte Forschungszeit. Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Christine Stöger und Prof. Dr. Arnold Jacobshagen an der Hochschule für Musik und Tanz Köln sowie bei den mit der Hochschule verbundenen Wissenschaftlerinnen Dr. Gesa Finke, Prof. Dr. Katrin Losleben und Dr. Gabriela Lendle – sie alle haben auf ihre Art und Weise den Fortgang meiner Arbeit durch kluge Bemerkungen und intensive Diskussionen bereichert. Ich danke
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Vorwort
meinen Kolleginnen und Kollegen des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität zu Köln, insbesondere Jonas Löffler, für seine zuverlässige und umsichtige Hilfe beim Lektorieren sowie den Kolleginnen und Kollegen des UFOs, des von der Mariann Steegmann Foundation geförderten Forschungskolloquiums. Dagmar Petzold und Dr. Thekla Keuck danke ich für den gemeinsamen Austausch über die Familien Itzig und Levy. Ein Dank gebührt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Musikabteilung in der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, der Biblioteka Jagiellońska in Krakau sowie des Literarturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Unterstützung bei der Transkription einiger Quellen sowie bei der Korrektur der Arbeit leisteten mir Mirijam Beier, Hans Heinrich Salzmann (†), Friedhelm Buyken, Ursula Vones-Liebenstein und Christian Spickermann. Danken möchte ich meinem Vater Hans-Hermann Buyken, der die Seiten der Arbeit oft als erster las und der den Prozess der Umarbeitung und der Korrektur kontinuierlich und geduldig begleitet hat. Der Konrad-Adenauer-Stiftung danke ich für ihre langjährige Unterstützung durch das mir gewährte Promotionsstipendium, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung und der Mariann Steegmann Foundation für die Finanzierung der Drucklegung, dem Franz Steiner Verlag, namentlich Dr. Thomas Schaber, Katharina Stüdemann und Andrea Hoffmann, für die geduldige Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts sowie Prof. Dr. Albrecht Riethmüller für die Aufnahme dieser Dissertation in die Reihe Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft. Meinen Kolleginnen und Kollegen im Cölner Barockorchester danke ich für die vielen Konzerte und die intensive Probenarbeit. Mit ihnen gemeinsam wurden aus der Musik, über die ich in diesem Buch schreibe, reale Töne. Meiner Familie danke ich für so vieles: für die Liebe zur Musik Johann Sebastian Bachs, für das große Vertrauen in mich und für unzählige klärende Gespräche. Meinen Eltern bin ich von Herzen dankbar, dass sie mir und uns in den turbulenten und herausfordernden Phasen so verlässlich und treu zur Seite gestanden haben. Meinem Mann Nico Buyken und unseren Kindern Caspar, Lotta und Elsa gilt mein innigster Dank. Sie haben auf ihre je eigene Art und Weise dieses Projekt mitgetragen und so manche Abwesenheit von mir ertragen. Sie haben mit mir Bibliotheken und Archive bereist und durch ihren Optimismus und ihre Lebensenergie meine Forschungspraxis überhaupt erst ermöglicht. Ich danke euch für diese intensiv gelebte Zeit. Umgeben von wunderbaren Menschen ist diese Arbeit meinem Großvater und meinen drei Kindern gewidmet. Köln im Januar 2018
INHALT Einleitung ........................................................................................................... 11 Erster Teil Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption .............................. 22 1. Zur Forschungslage: Rezeption in der Bach-Historiographie ..................... 1.1 Ausgangslage: Kritische Betrachtung des Rezeptionsbegriffs ........... 1.1.1 Reduktion von Rezeption auf Komposition und öffentliche Interpretation ............................................................................ 1.1.2 Hierarchisierung von Rezeptionspraktiken .............................. 1.1.3 Rezeptionslücke: Das Problem 18. Jahrhundert ...................... 1.2 Ideologeme im Rezeptionsdiskurs ...................................................... 1.2.1 Öffentlichkeit ........................................................................... 1.2.2 Geschlecht ................................................................................ 1.2.3 Werk ......................................................................................... 1.3 Folgen: Bach-Rezeption zwischen Inklusion und Exklusion .............
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2. Zur Methode: Rezeption als Praxis ............................................................. 2.1 Praxisvielfalt statt Praxisreduktion ..................................................... 2.1.1 Akzentverlagerung vom Werk in das soziale Alltagsverhalten ....................................................................... 2.1.2 Materialität ............................................................................... 2.2 Weibliche Handlungsräume ................................................................ 2.3 Historizität von Praktiken ...................................................................
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Zweiter Teil Bach-Rezeption I: Bach reflektieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin .......... 54 1. Diskursive Dimension von Rezeptionspraxis – Methodische Vorüberlegungen ......................................................................................... 54 2. Bach-Diskurse zwischen 1750 und 1829 in Berlin. Ein Überblick ............. 2.1 Zwischen strengem und freiem Stil – Ein Spannungsfeld entsteht ..... 2.2 Bach, der Kontrapunktiker .................................................................. 2.3 Bach, das Genie .................................................................................. 2.4 Bach, der Nationale .............................................................................
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Inhalt
3. Mikro-Blick Lea Mendelssohn Bartholdy: Bach reflektieren in Briefen .... 3.1 Voraussetzungen und Kontexte ........................................................... 3.1.1 Zwischen den Interessensgebieten der Forschung: Ein Forschungsrückblick ......................................................... 3.1.2 Mitten in der Bach-Forschung: Methodisches Konzept .......... 3.1.3 Quellenkorpus .......................................................................... 3.1.4 Briefe: Gattung – Probleme – Lesarten ................................... 3.1.5 Eine Frage der Wirkung: Familie zwischen Innen und Außen ................................................................................ 3.1.6 Selbstverständnis: Die Mutter als Musikvermittlerin .............. 3.2 „Die wahre, keusche, stärkende, nicht erschlaffende Gewalt der Musik“: Bach-Diskurse bei Lea Mendelssohn Bartholdy ............ 3.2.1 Bach und Rossini ..................................................................... 3.2.2 Bach und das „Alterthum“ ....................................................... 3.2.3 Bach und Aufführungspraxis ................................................... 3.2.4 Bach und Erziehung .................................................................
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4. Zusammenfassung: Bach reflektieren ......................................................... 142 Dritter Teil Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin ........ 147 1. Bach in den Räumen Berlins: Soziale Dimension von Rezeptionspraxis ... 147 1.1 Berlin als Musikraum – Bach-Räume Berlins .................................... 147 1.2 Medien der Bach-Rezeption ............................................................... 153 2. Bach-Rezeptionspraktiken zwischen 1750 und 1829 in Berlin. Ein Überblick .............................................................................................. 2.1 Die Kopierstube .................................................................................. 2.1.1 Kopieren ................................................................................... 2.1.2 Drucken und Verlegen .............................................................. 2.2 Der Hof ............................................................................................... 2.2.1 Der Hofmusiker in außerhöfischen Kontexten ........................ 2.2.2 Anna Amalia von Preußen ....................................................... 2.3 Der Haushalt ....................................................................................... 2.3.1 Familie Stahl ............................................................................ 2.3.2 Familie Itzig ............................................................................. 2.3.3 Familie Wessely ....................................................................... 2.3.4 Familie J. P. Salomon ............................................................... 2.3.5 Familie von Voß ....................................................................... 2.3.6 Familie Mendelssohn Bartholdy .............................................. 2.4 Der Saal ............................................................................................... 2.4.1 Konzert für Kenner und Liebhaber .......................................... 2.4.2 Fließsche Konzert .................................................................... 2.4.3 Sebaldts Liebhaberkonzert ....................................................... 2.5 Der Verein ...........................................................................................
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Inhalt
3. Mikro-Blick Sara Levy: Bach praktizieren im Salon .................................. 3.1 Voraussetzungen und Kontexte ........................................................... 3.1.1 Quellenlage und Forschungsüberblick ..................................... 3.1.2 Rezeptionsnarrative ................................................................. 3.1.3 Biographische Kontexte ........................................................... 3.1.4 Musikalischer Werdegang ........................................................ 3.1.5 Sara Levys Mitgliedschaft in der Sing-Akademie zu Berlin ... 3.2 „Es ward Musik gemacht“: Bach-Rezeptionspraktiken bei Sara Levy ............................................................................................ 3.2.1 Bach sammeln .......................................................................... 3.2.2 Bach spielen ............................................................................. 3.2.3 Bach vernetzen ......................................................................... 3.2.4 Bach fördern ............................................................................ 3.2.5 Bach salonfähig machen ..........................................................
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4. Zusammenfassung: Bach praktizieren ........................................................ 290 Schluss ............................................................................................................... 296 Abkürzungen ...................................................................................................... Quellenverzeichnis ............................................................................................. Literaturverzeichnis ........................................................................................... Personenregister .................................................................................................
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EINLEITUNG Übrigens gehörten […] außer musikalischen Schriftstellern, Erfindern und Verbesserern musikalischer Instrumente und Maschinen, geschickten Orgel- und Instrumentenmachern, auch Dilettanten mit zu meinem Plane, welche der Kunst durch ihre Kenntnisse Ehre gemacht haben. Und ich habe das Vergnügen, in meinem Buche manchen Dilettanten und manche Dilettantin, selbst gekrönte, von großem Kunstverdienste zu sehen.1
In seinem Vorwort zum Historisch-Biographischen Lexicon der Tonkünstler (1780) geht Ludwig Gerber von einer bemerkenswerten methodischen Prämisse aus: Die Vielfalt und nicht eine spezifische Auswahl an Praktiken und Professionen bildet die Referenz dessen, was nach Ansicht Gerbers die Geschichtlichkeit von Musikkultur ausmacht. Dabei werden von ihm sowohl Professions- als auch Geschlechtergrenzen überschritten. Neben dem Beruf des „Tonkünstlers“ nennt er Interpreten, Instrumentenbauer, Orgelbauer, musikalische Schriftsteller und Dilettanten.2 Gerade auf die Kategorie des musikalischen Dilettanten richtet Gerber besonderes Augenmerk. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war der Begriff durchweg positiv konnotiert und diente als Bezeichnung der Musikerinnen und Musiker, die ihren Lebensunterhalt nicht durch die Ausübung eines musikalischen Berufs bestritten.3 Obwohl Gerber die dem Dilettanten und der Dilettantin zugesprochenen musikalischen Praxisformen nicht explizit aufführt, kann nach dem heutigen Kenntnisstand ein recht klares Tätigkeitsprofil rekonstruiert werden: die musikalische Ausübung im Kontext des intimen Musizierens in der Familie, in einem musikalischen Salon 1
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Ernst Ludwig Gerber, Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler; welches Nachrichten von dem Leben und Werken musikalischer Schriftsteller, berühmter Componisten, Sänger, Meister auf Instrumenten, Dilettanten, Orgel und Instrumentenmacher enthält, Leipzig 1790, hier zitiert nach der Ausgabe von Othmar Wessely (Hg.), Graz 1977, S. VIII. Vgl. auch Melanie Unseld, Genie und Geschlecht. Strategien der Musikgeschichtsschreibung und der Selbstinszenierung, in: Kordula Knaus / Susanne Kogler (Hgg.), Autorschaft – Genie – Geschlecht. Musikalische Schaffensprozesse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Köln/Wien 2013, S. 23–45, hier S. 30. Zwei Absätze zuvor betont Gerber, dass auch die „Sänger und Sängerinnen gleich anfangs mit in meinem Plane“ waren. Gerber, Historisch-Biographisches Lexicon, S. VII. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die negative Wertung des Begriffes Dilettant bestimmend. Vgl. hierzu: Erich Reimer, Art. „Kenner – Liebhaber – Dilettant“, in: Hans Heinrich Eggebrecht / Albrecht Riethmüller (Hgg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, 6 Bde., Stuttgart 1972, CD-Rom 2012, Bd. 3, S. 495–511. Auch Johann Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der Tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler etc. Leben, Wercke, Verdienste etc. erscheinen sollen, Hamburg 1740, ND mit Nachträgen hg. von Max Schneider, Berlin 1910, Vorbericht zur musikalischen Ehrenpforte, S. VII–XXXV, hier S. XXXIII–XXXIV, § 50, wertete den dem Dilettanten nahe stehenden Begriff des Musikanten bewusst nicht negativ. Siehe auch Melanie Unseld, Genie und Geschlecht, S. 31.
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Einleitung
oder einer musikalischen Gesellschaft sowie das Hören von Musik in öffentlichkommerziellen Konzerten.4 Anders wird die Frage nach der Geschichtswürdigkeit musikkultureller Praktiken und Professionen im Vorwort zum Band Rezeption als Innovation aus dem Jahr 2001 beantwortet: Rezeption meint dabei die kompositorisch ausgetragene Auseinandersetzung sowohl mit einzelnen Werken und Komponisten als auch mit Gattungen, Satzmodellen, Stilkonzepten und ästhetischen Ideen. Die zu Grunde liegende historiographische These lautet in aller Kürze, dass der interne Fortgang der Kompositionsgeschichte zu einem wesentlichen Teil als auskomponierte Rezeption zu begreifen ist: erst der reflektierte Rückbezug auf Vergangenes setzt die Kräfte der Innovation frei.5
Die Kategorie Rezeption stellt eine Möglichkeit dar, Geschichtsinhalte zu sortieren. So wie Gerber für sein lexikalisches Projekt historiographische Kriterien formuliert, beinhaltet auch der Rezeptionsbegriff eine Vorauswahl dessen, was als Geschichtsinhalt abgebildet werden soll. Allerdings wird Geschichtswürdigkeit in den zwei hier präsentierten Ansätzen auf gänzlich unterschiedliche Art und Weise eingeschätzt, neben Gerbers inklusiven Bild steht die stark exkludierende Formulierung von Siegfried Oechsle, Bernd Sponheuer und Helmut Well. Setzt man die von den letzteren drei Autoren im Jahr 2001 formulierten Prämissen von Rezeptionsgeschichte und die eingangs zitierten, zweihundert Jahre zuvor formulierten methodologischen Reflexionen Gerbers vor dem Nexus der Geschichtswürdigkeit musikkultureller Praktiken zueinander in Beziehung, erstaunt die Aktualität und Modernität von Gerbers Geschichtsbegriff. Oechsle, Sponheuer und Well begreifen Rezeptionsgeschichte als eine Geschichte der kompositorisch ausgetragenen Auseinandersetzung mit Stilen, Gattungen und ästhetischen Ideen vorangegangener Kompositionen, wodurch letztlich die künstlerisch-kompositorische Auseinandersetzung mit Musik zu der zentralen Praxisform erhoben wird. Während in Gerbers Definition des Lexikalischen ein vielfältiges Spektrum an musikkulturellen Praxisformen als geschichtswürdig bewertet wird, erfährt Musikkultur im Kontext von Rezeptionsgeschichte, wie sie im angeführten Beispiel aus dem Jahr 2001 verstanden wird, eine Einengung. Die hier skizzierte Problematik ist ein Ausgangspunkt der vorliegenden Studie: Der historische Blick auf die Rezeption J. S. Bachs wurde wie bei Oechsle, Sponheuer und Well oft verengt. Im Gegensatz dazu und durchaus im Sinne der Methodologie Gerbers schließt Rezeption in dieser Studie eine Vielfalt von Praktiken ein. Am Beispiel der Bach-Rezeptionsgeschichte soll untersucht werden, welches Rezeptionsverständnis im aktuellen Forschungs-Diskurs vorherrscht, welche Fol4
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Vgl. zu diesem Themenkomplex z. B. Celia Applegate, „Kenner“, „Liebhaber“ and „Patrioten“ in the Musical Culture of the Vormärz, in: Detlef Altenburg / Rainer Bayreuther (Hgg.), Musik und kulturelle Identität (Bericht über den XIII. Kongress der Gesellschaft für Musikforschung, Weimar 2004), Bd. 2: Symposien B, Kassel u. a. 2012, S. 13–27. Siegfried Oechsle / Bernd Sponheuer / Helmut Well, Vorwort, in: Dies. (Hgg.), Rezeption als Innovation. Untersuchungen zu einem Grundmodell der europäischen Kompositionsgeschichte. Festschrift für Friedhelm Krummacher zum 65. Geburtstag (Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 46), Kassel 2001, S. VII.
Einleitung
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gen dieses wiederum für die Geschichtsschreibung der Bach-Rezeption im 18. und frühen 19. Jahrhundert hatte und wie sich die Beschäftigung mit Bach mittels eines breiten und praxisorientierten Rezeptionsbegriffs alternativ darstellen lässt. UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND Den Untersuchungsgegenstand im weiteren Sinne bildet die Berliner Bach-Rezeption zwischen 1750 und 1829 in ihrer Ausprägung als kulturelle Praxis. Verstanden als solche ist Rezeption die in sämtlichen Lebensbereichen von Musikkultur nachzuweisende Auseinandersetzung mit musikalischen Kompositionen. Diese Phase der Bach-Rezeption, die bewusst die Zeit vor der musikhistoriographischen Zäsur von 1829 (Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion durch Felix Mendelssohn Bartholdy) umfasst, ist als Fundgrube von Rezeptionspraktiken jenseits von Produktionspraxis (Komponieren) und Reproduktionspraxis (Interpretieren in einer öffentlichen Aufführung) besonders geeignet. Denn hier lassen sich neben materialen Praktiken (Sammeln, Kopieren, Drucken von Bach-Handschriften) vor allem soziale und kommunikative Praktiken, wie das Aufführen Bachs im familialen Kontext, in musikalischen Gesellschaften und Salons und das Reflektieren Bachs in privaten Briefkorrespondenzen, erkennen. Berlin stellte im 18. Jahrhundert eine Hochburg der diskursiven und praktischen Auseinandersetzung mit Bach dar und eignet sich daher besonders als Gegenstand für eine detaillierte Untersuchung dieser Art. Die Eckdaten 1750 und 1829 repräsentieren keine fest gesetzten Zäsuren, sondern sollen vielmehr symbolisch verstanden werden. Selbstverständlich wurde J. S. Bach auch vor seinem Tod im Jahr 1750 rezipiert. Ebenso werden in der vorliegenden Studie Materialien aus den frühen 1840er Jahren verwendet. Anders als in der Vergangenheit meist unreflektiert geschehen, markiert das Jahr 1829 hier aber nicht den Beginn einer vermeintlichen Bach-Renaissance durch Felix Mendelssohn Bartholdy. Vielmehr steht in dieser Studie das Jahr 1829 für die Dekonstruktion des Mythos „Bach-Renaissance“, der bisher als starkes Narrativ die Bach-Historiographie geprägt hat. In zwei Makroanalysen wird zunächst danach gefragt, was unter Bach-Diskurs (Teil II) und Bach-Praxis (Teil III) in Berlin zwischen 1750 und 1829 überhaupt verstanden werden kann. Diese Überblicke legen die Grundlage für die Untersuchungen in den beiden Mikrostudien. Untersuchungsgegenstand im engeren Sinne sind familiale und im häuslichintimen Kontext stattfindende Prozesse, an denen sich eine Bach-Rezeptionspraxis nachweisen lässt. In zwei Mikro-Blicken befasst sich die Studie mit der Rezeptionspraxis zweier Frauen, Lea Mendelssohn Bartholdy (1777–1842) und Sara Levy (1761–1854). Ihr Handeln betrifft Kontexte des innerfamilialen Raumes, eines oft verborgen gebliebenen sozialen Nahbereichs. Diese Rezeptionspraktiken sind, anders als z. B. das öffentliche Aufführen oder die schriftlich fixierte kompositorische Nachahmung von einer anderen Praxisgestalt: Sie sind weniger verfestigt oder zielgerichtet, stattdessen steht die Unmittelbarkeit, Interaktion und Spontaneität der musikalischen Umsetzung im Mittelpunkt. Oftmals ist diese häusliche Musikpraxis durch Wiederholungen und Routinen geprägt, wie etwa am Beispiel des wöchent-
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lich stattfindenden musikalischen Salons Sara Levys deutlich wird. Mit dem Fokus auf die familiale und häusliche Alltagspraxis6 werden Rezeptionspraktiken sichtbar, die das bisher untersuchte Rezeptionsverhalten erweitern und so das Phänomen der Bach-Rezeption vor 1829 als ein differenzierteres erscheinen lassen. Die Arbeit geht über das Aufzeigen der Pluralität an Bach-Rezeptions-Praktiken und deren Akteurinnen und Akteure hinaus und fragt nach den Eigenschaften der Praktiken, d. h. danach, wie sie sich untereinander formieren, ablösen und transformieren. Ziel dieses Fokus auf die Eigenschaften der Praktiken ist es, die im Forschungs-Diskurs meist disparat gedachten Praktiken und Phasen der frühen Berliner-Bach-Rezeption miteinander zu verknüpfen. Wie konkret präfiguriert oder retardiert bspw. die Salonkultur Berlins, wie sie im Salon der Sara Levy zum Ausdruck kommt, die BachRezeption des 19. Jahrhunderts? Wie hängt der auf Bachs Kontrapunktik fokussierte musiktheoretische Diskurs nach 1750 mit Erziehungsvorstellungen Lea Mendelssohn Bartholdys zusammen? Wie lassen sich Praktiken der Sing-Akademie zu Berlin mit denen im Salon Sara Levys vergleichen? Welche Praktiken unterliegen welchen sozialen, historischen, personellen und räumlichen Bedingungen? Dass Lea Mendelssohn Bartholdy für die Musikpraxis im Haus der Familie Mendelssohn Bartholdy eine bedeutende Funktion innehatte, ist hinlänglich bekannt und untersucht worden.7 In dieser Studie werden sämtliche veröffentlichte und unveröffentlichte Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys auf die darin konstituierten Bach-Diskurse hin untersucht. Der Mikro-Blick auf ihre Person macht deutlich, dass sie ihre eigenen Vorstellungen und Ideen zum Stellenwert J. S. Bachs in der damaligen Musikkultur entwickelt hat. Damit ist sie zugleich als Partizipandin zeitgenössischer Bach-Diskurse aufzufassen. Die schriftlichen Reflexionen Lea Mendelssohn Bartholdys sind durch eine konkrete alltägliche Situation motiviert. Sie unterscheiden sich damit von Narrationen, wie sie in anderen zeitgenössischen und meist öffentlich zugänglichen biographischen oder musiktheoretischen Schriften tradiert werden. Die Bach-Rezeption Sara Levys, einer Tante Lea Mendelssohn Bartholdys, ist Gegenstand der Untersuchung des zweiten Mikro-Blicks. Ihr Profil als BachRezipientin zeichnet sich im besonderen Maße durch eine Kombination verschiedener musikkultureller Praktiken aus. Sie spielte Bach auf dem Cembalo sowohl in intimen häuslichen Musikräumen als auch in öffentlich-kommerziellen Konzerten, sammelte (autographe) Bach-Handschriften, korrespondierte mit Bach-Experten, Bach-Söhnen und -Schülern, vergab Kompositionsaufträge, vernetzte die Akteurinnen und Akteure der zeitgenössischen Bach-Szene untereinander und verschenkte 6
Der Alltagsbegriff hat in dieser Studie keine normative Bedeutung. Mit ihm soll nicht eine Binarität zwischen dem Alltäglichen und dem Besonderen hergestellt werden. Stattdessen wird die Studie anhand der frühen Bach-Rezeption zeigen, dass Praktiken, die das Alltägliche prägen (Üben, Unterrichten etc.) und die, die das Besondere kennzeichnen (Aufführung im Konzert etc.) keine disparaten Gegensätze darstellen, sondern dass die Übergänge zwischen den Bereichen fließend sind. 7 Vgl. dazu die Forschungen von Cornelia Bartsch, u. a. ihren Aufsatz: Lea Mendelssohn Bartholdy (1777–1842) „In voller geistiger Lebendigkeit“, in: Irina Hundt (Hg.), Vom Salon zur Barrikade. Frauen der Heinezeit, Stuttgart 2002, S. 61–74.
Einleitung
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zahleiche ihrer kostbaren Bach-Handschriften an das Archiv der Sing-Akademie zu Berlin. Der Salon Sara Levys wird als ein Kulminationspunkt vielfältiger Rezeptionspraktiken untersucht, der in dem im dritten Teil aufgefächerten Tableau von Bach-Räumen und Rezeptionspraktiken eine Sonderrolle einnimmt. Am Beispiel ihres Salons lassen sich Wandlungsprozesse der Rezeptions-Praxis zwischen 1750 und 1829 nachvollziehen. ERKENNTNISINTERESSE Zwei Fragenkomplexe bilden das Erkenntnisinteresse der Studie. Wie stellt sich die Rezeption J. S. Bachs – und zwar explizit verstanden als kulturelle Praxis – zwischen 1750 und 1829 in Berlin dar? Und inwieweit beeinflusste der bisher vorherrschende, verengte Rezeptionsbegriff die Geschichtsschreibung dieser BachRezeptionsphase? Der erste Komplex betrifft die Frage, wie Bach im alltäglichen Verhalten und musikbezogenen Handeln Bedeutung zugeschrieben wurde, d. h. in welchen Lebensbereichen, welchen spezifischen Situationen und Routinen Johann Sebastian Bach und seine Musik eine Rolle spielten. In dieser Studie wird die häuslich-familiale Musikpraxis als Prisma verstanden, durch das die frühe Bach-Rezeption sichtbar wird. Nur sekundär wird für die Untersuchung die Praxis von Kulturinstitutionen wichtig. Institutionen wie z. B. die Sing-Akademie zu Berlin entfalten ihre Wirksamkeit meist auf der Ebene einer anderen Praxisgestalt, nämlich auf der von bereits gefestigten, im kulturellen Gedächtnis durch bestimmte Medien verankerten Praktiken wie der öffentlich-kommerziellen Interpretation (Reproduktion) eines bachschen Werks oder der kompositorischen Anlehnung an ein bachsches Werk (Produktion). Diese Studie soll zeigen, dass der Blick auf die Interaktionen zwischen familialen und institutionellen Kontexten dazu verhilft, Beweggründe und Strategien für die Beschäftigung mit J. S. Bach offenzulegen. Auf der Ebene der diskursiven Bach-Rezeption (Teil II) geht es darum zu klären, wo und wie die Frage „Was ist Bach?“ immer wieder neu ausgehandelt wurde und welche Zuschreibungen und Kategorisierungen in diesem Zusammenhang entstanden. In Teil III (Bach praktizieren) stehen die konkreten sozialen Kontexte von Bach-Rezeption, die Räume und Medien der Bach-Rezeption im Fokus. Wie wird Bach praktiziert? Welche Praktiken sind Bestandteil von Unterricht oder von einer Bach-Aufführung im familialen Rahmen? Wie agieren die Akteurinnen und Akteure, wenn sie z. B. Bach im Salon spielen und hören? Der zweite Erkenntniskomplex, der die Untersuchungen auf einer Metaebene leitet, beinhaltet Fragen rund um das historiographische Konzept von Rezeption und folgt dabei einer ideologiekritischen Perspektive auf die Musikgeschichtsschreibung über Bach. Inwieweit beeinflusste das bisher geltende Rezeptionsverständnis den Ein- oder Ausschluss bestimmter Akteurinnen und Akteure und Praktiken? Die oben beschriebene verengte Auffassung von Rezeption wird als Instrument untersucht, mit dessen Hilfe entschieden wurde, was als geschichtsrelevant bzw. -irrelevant betrachtet wurde. Eine wichtige Rolle bei dieser Untersuchung spielt
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Einleitung
die Etablierung des Themas Bach-Rezeption als Gegenstand musikwissenschaftlicher Forschung. Rezeption aus Sicht des Akademisierungsprozesses zu betrachten, lenkt den Blick auf die hergestellte Grenzziehung zwischen wissenschaftlich relevant und irrelevant. Bestimmten Akteurinnen, Akteuren und Praktiken wurde im Vergleich zu anderen mehr Wissenstauglichkeit und Relevanz in der Bach-Rezep tionsgeschichte zugesprochen. Johann Nikolaus Forkels Bach-Biographie gilt bspw. „als herausragendes Zeugnis für die in professionellen Musikerkreisen angesiedelte Bach-Rezeption um 1800“8 und wird in seiner Bedeutung als musikwissenschaftlich relevante Quelle nicht hinterfragt. Sara Levy wird bereits im 19. Jahrhundert kaum noch erinnert und ihre Bedeutung als Bach-Rezipientin wird erst seit etwa zwanzig Jahren im Fach wieder anerkannt. Hier klafft ein Spannungsfeld zwischen möglich gewesenen Geschichtsinhalten und tatsächlich erinnertem Geschichtswissen auf. In dieser Studie soll die Grenzziehung zwischen wissenschaftlich relevant bzw. irrrelevant als Abbild bestimmter disziplinärer Wertvorstellungen betrachtet werden und die Hintergründe dieser Entwicklung beleuchtet werden. Mit diesen Forschungsfragen wird eine einerseits historisch-dekonstruierende und eine andererseits historisch-konstruierende Arbeitsweise umgesetzt: Dekon struierend, da Mechanismen, die Rezeption im Forschungsdiskurs regulierten, auseinandergenommen und auf ihre historischen Bedingungen hin untersucht werden. Im Hauptteil der Arbeit (Teile II und III) steht der Versuch im Fokus, das im Dekonstruktionsprozess zuvor „Zerstörte“9 im Sinne eines historisch-konstruktivistischen Vorgangs als etwas Neues zu formulieren. Das wiederum bedeutet, dass das Quellenmaterial, das zu einem Neuverständnis oder zu einer Neubewertung der BachRezeption beiträgt, unter Heranziehung eines den Gegenstand plausibel darstellenden Narrationsprinzips (praxisorientierter Rezeptionsbegriff) analysiert wird. Wie bereits eingangs erwähnt, beruht das methodische Vorgehen auf der Prämisse, dass im Rezeptionsverständnis der Bach-Forschung eine Reduktion des Begriffsverständnisses stattgefunden hat – dass nämlich unter Rezeption vor allem kompositorische und öffentlich-interpretatorische Auseinandersetzungen mit J. S. Bach verstanden wurden. In Folge einer solchen Regulierung des Rezeptionsbegriffes gerieten Praktiken, die eng mit der Produktion bzw. Reproduktion des bachschen Werkes verbunden waren, in den Vordergrund des Forschungsinteresses. Praktiken, die als weniger wissenschaftlich-relevant erachtet wurden, wie z. B. das Spielen und Proben Bachs in familialen Kreisen oder das Konstituieren von Aufführungsräumen in außerhöfischen und außerkirchlichen Kontexten, galten als weniger rezeptionswirksam. Diese Regulierung im Bach-Rezeptionsdiskurs ist auf unterschiedliche Art und Weise für die Historiographie der verschiedenen Phasen der Bach-Rezeptionsgeschichte bedeutsam. Mit Blick auf die hier untersuchte Phase der Bach-Rezeption 8 9
So Christoph Wolff im Vorwort zu der von ihm 2008 besorgten Ausgabe von Johann Nikolaus Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802 (= Dok VII), S. VII. Siehe die Ausführungen in der Einleitung von Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871, Frankfurt/New York 2006, S. 10.
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zwischen 1750 und 1829 stellt sich die Frage von Reduktion und Erweiterung des Rezeptionsverständnisses in besonderem Maße: Die Rezeption Bachs vor 1829 basierte vornehmlich auf Praktiken, die im häuslich-familialen Kontext stattfanden und kaum im kulturellen Gedächtnis verankert waren. Kompositorische Auseinandersetzungen mit dem Werk Bachs und öffentliche Aufführungen von bachschen Werken werden als Facetten von Bach-Rezeption erst ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts besonders relevant. Bach-Rezeption im 18. und frühen 19. Jahrhundert unter der Prämisse kompositorischer oder öffentlich-interpretatorischer Auseinandersetzungen zu untersuchen, führt zu einem argumentativen Zirkelschluss und zu ideologisch aufgeladenen Auffassungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts als einer Rezeptionslücke. Der Mythos der Bach-Renaissance ist ein historiographischer Topos, der auf die Bedeutungsreduktion von Rezeption zurückzuführen ist. Überlieferungspraktiken, wie das Sammeln, Herstellen und Drucken von bachschen Werken, wurden zwar für die Zeit vor 1829 als relevant erachtet und dementsprechend untersucht.10 Epistemologisch gesehen gehörten sie jedoch dem Konzept von Rezeption, wie es im Forschungsdiskurs etabliert war, nicht an. ZUM REZEPTIONSBEGRIFF An die Stelle des beschriebenen reduktionistischen Verständnisses von Rezeption tritt in dieser Studie ein pluralistisches. Rezeption bezieht sich auf eine Vielfalt an Rezeptionspraktiken, die sowohl eine verfestigte als auch eine lose, historiographisch also eher fragile Gestalt haben. Häuslich-familiale Praktiken erhalten als Träger der frühen Bach-Rezeption eine deutliche Aufwertung. Zur Grundierung dieses pluralistischen Ansatzes werden Aspekte wie der Fokus auf das soziale Alltagsverhalten und die Materialität von Praktiken zu wichtigen methodischen Prämissen. Diese knüpfen an Diskurse der Praxistheorie und der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung11 an. Rezeption wird in dieser Arbeit als breiter und offener Begriff verwendet. Unter Rezeption fallen Phänomene wie z. B. das Sammeln von Bach-Handschriften, das Aufführen und die Vermittlung von Bachs Musik, das Hören oder Erinnern Bachs in Briefen. Diese Vielfalt ist bereits in der ursprünglichen Wortbedeutung des lateinischen Verbs „recipere“ angelegt. Es kann sowohl mit „zurückholen, zurückbringen und wiedererobern“ als auch mit „befreien, sich sammeln oder sich zurückwenden“ übersetzt werden. Gerade Aspekte wie „annehmen“, „erhalten“ und „sich zurückwenden“ tangieren diejenigen Bedeutungsaspekte von Rezeption, die in dieser Studie von besonderem Interesse sind, wie z. B. das Sammeln, Verbreiten, Vermitteln oder die Aneignung der bachschen Musik in einem offenen Aufführungsrahmen. 10 Vgl. das Kapitel Zur Forschungslage: Rezeption in der Bach-Historiographie (Teil I, Kap. 1.). 11 Siehe hierzu Melanie Unseld, Auf dem Weg zu einer memorik-sensibilisierten Geschichtsschreibung. Erinnerungsforschung und Musikwissenschaft, in: Corinna Herr / Monika Woitas (Hgg.), Erkenntnisgewinn durch Methode? Kulturwissenschaft, Genderforschung und Musikwissenschaft (Musik – Kultur – Gender 1), Köln 2006, S. 63–74.
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Das Wort Rezeption referiert sowohl auf die Bedeutungszuweisungen des Forschungsdiskurses als auch auf das hier bewusst ausgeweitete Verständnis im Sinne einer Vielfalt an Praktiken. Um einen möglichst flüssig lesbaren und durchgehenden Text zu erzeugen, wurde davon abgesehen, die unterschiedlichen Bedeutungsebenen von Rezeption durch Anführungsstriche kenntlich zu machen. Welche Ebene von Rezeption im jeweiligen Kontext gemeint ist, wird im Text durch die entsprechenden Ausführungen und die angeführten Analysen verdeutlicht. ZUM VORGEHEN Ausgangspunkt dieser Studie ist der aktuelle Forschungs-Diskurs der Bach-Forschung und das darin etablierte Rezeptionsverständnis. Hier wird der Nexus von Bach und Rezeption hinsichtlich begrifflicher Auffälligkeiten, geschichtlicher Modelle und ideologischer Zuschnitte kritisch reflektiert. Außerdem wird das praxistheoretische Rezeptionsmodell, das als Untersuchungswerkzeug der Bach-Rezeption zwischen 1750 und 1829 in Berlin fungieren soll, vorgestellt (Teil I). Anders als allgemein üblich, befindet sich der Forschungsrückblick nicht in der Einleitung, sondern im Methodenteil der Arbeit, da er Bestandteil vertiefender ideologiekritischer Gedanken ist. In den beiden Hauptteilen der Arbeit (Teile II und II) werden Diskurse und soziale Praktiken der frühen Berliner Bach-Rezeption unter besonderer Berücksichtigung der Rezeptionspraxis Lea Mendelssohn Bartholdys und Sara Levys analysiert. Auf systematischer Ebene werden diskursive und soziale Praktiken separiert dargestellt. Diese Trennung ist allein der Darstellung, nicht dem Inhalt geschuldet. Praktiken des Bach Reflektierens (Teil II) und Praktiken des Bach Praktizierens (Teil III) stellen in der Praxis nicht zwei getrennte Bereiche dar, sondern sind zueinander durchlässig. Sie werden als gleichwertige Bestandteile einer Bach-Rezeptionspraxis verstanden. Bach-Rezeption in den Diskursen der Zeit zu betrachten, beinhaltet ebenso die Umsetzung und Herstellung dieser Diskurse im sozialen Kontext. Genauso beachtet eine Untersuchung der Bach-Rezeption in sozialen Praktiken ihre diskursiven Repräsentationen. Astrid Erll hat für die Darstellung der verschiedenen Dimensionen von Erinnerungskulturen ein Konzept entwickelt, das in modifizierter Art für die Unterteilung in diskursive und soziale Rezeptionspraktiken Pate gestanden hat.12 Erll differenziert zwischen einer materialen, einer mentalen und einer sozialen Ebene von Erinnerungskulturen: Die materiale Dimension referiert auf die Medien und Artefakte, die zu kulturellen Objektivationen des kollektiven Gedächtnisses bestimmt wurden (Denkmäler, Dokumente, Fotos usw.). Die soziale Dimension umfasst Praktiken und soziale Institutionen als Träger von Erinnerung (Personen, Archive, Universitäten usw.). Die mentale Dimension von Erinnerung beschreibt all jene Wissenscodes und kulturellen Schemata, die auf symbolischer Ebene kollektives Erinnern 12 Vgl. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: eine Einführung, Stuttgart/ Weimar 2005, Stuttgart 22011, S. 103.
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überhaupt ermöglichen (Geschichtsbilder, Werte und Normen usw.). Die mentale Dimension dieses Konzepts verweist auf Teil II der Arbeit „Bach reflektieren“, die soziale auf Teil III „Bach praktizieren“. Die materiale Ebene ist als methodische Prämisse13 in beiden Teilen implizit vorhanden, ohne dass ihr ein eigener Analyseteil gewidmet würde. Beide Untersuchungsebenen – diskursive (Teil II) und soziale Dimension (Teil III) – beinhalten eine makro- und eine mikrohistorische Analyse. Im Makro werden größere und abstraktere Zusammenhänge dargestellt, dabei wird auf vorhandene Forschungen zurückgegriffen. Darüber hinaus legen sie einen besonderen Fokus auf personelle Konstellationen bzw. diskursive Reflexionen, die für die Analyse der beiden Protagonistinnen in den Mikro-Blicken bedeutsam sind. So nehmen bspw. unter „Bach, der Nationale“ (Teil II) Männlichkeitszuschreibungen, die im Zuge dieses Diskurses unmittelbar Bedeutung erlangten, einen großen Raum in der Darstellung ein. Sie sind für das Verständnis von Rezeption und die Reduzierung von Rezeption auf kompositorische und öffentlich-interpretatorische Auseinandersetzungen von großer Bedeutung und tangieren das Verständnis der Rezeptionspraxis Lea Mendelssohn Bartholdys und Sara Levys und ihre Bedeutung in der Bach-Rezeptionsgeschichtsschreibung. Ebenso wird der Musikraum „Haushalt“ im Makro-Überblick (Teil III) ausgiebig besprochen, da sich rund um das soziale Netzwerk der Familien Itzig und Levy weitere Akteurinnen und Akteure der frühen Bach-Rezeption auftun, die auf personelle bzw. diskursive Konstellationen verweisen, die für eine Vielzahl der Akteure prägend waren (wie z. B. die Familien von Voß, Wessely und Salomon). Mit der Unterteilung in eine Makro- und eine Mikroebene reagiert die Arbeit sowohl auf quellenspezifische Voraussetzungen der Bach-Forschung als auch auf das theoretische Anliegen der Praxistheorie, „eine Verbindung von Mikro- und Makrogeschichte“14 umzusetzen. Praxistheoretische Analysen sind per se mikrohistorisch angelegt,15 ähnlich wie auch die (Mentalitätsund) Alltagsgeschichte.16 In den Mikro-Blicken der Arbeit werden zwei Akteu rinnen – Lea Mendelssohn Bartholdy und Sara Levy – behandelt, deren Rezep tions-Praktiken bisher nicht oder kaum als wissenschaftlich relevant angesehen und deren Tätigkeiten nicht vollständig und angemessen dargestellt wurden.17 Hier werden Dokumente wie z. B. Briefe, Tagebücher, Gästelisten und Visitenkarten untersucht. Das sind Quellen, die das Handeln von Menschen dokumentieren, die aufgrund bestimmter Ideologeme (Öffentlichkeit, Geschlecht, Werk) nicht als Teil größerer Diskurse (Makroebene) angesehen wurden.18 In der Verbindung zwischen 13 Vgl. das Kapitel Materialität (Teil I, Kap. 2.1.2). 14 Sven Reichardt, Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte 22/3 (2007), S. 43–65, hier S. 45. 15 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Kontingenzperspektive der ‚Kultur‘. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm, in: Friedrich Jäger / Burkhard Liebsch / Jörn Rüsen / Jürgen Straub (Hgg.), Handbuch der Kulturwissenschaften 3, Stuttgart/ Weimar 2004, 22011, S. 1–20, hier S. 16. 16 Jakob Tanner, Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004, bes. Kap. 4.2 und 4.3. 17 Für detaillierte Forschungsrückblicke siehe die entsprechenden Abschnitte in Teil II und III. 18 Vgl. das Kapitel Ideologeme im Rezeptionsdiskurs (Teil I, Kap. 1.2).
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Makro- und Mikrogeschichte geht es nicht primär um das Ergänzen von Informationen, quasi um das Auffüllen von Forschungslücken, sondern um die Reflexion von Bedeutungszuschreibungen in der Konstitution unseres heutigen historischen Wissens. Wie wurden Akteure bisher eingeordnet bzw. wurden sie bisher überhaupt dargestellt? Welche Bedeutung hat ihre Bach-Rezeptions-Praxis für soziale Prozesse insgesamt? Inwieweit haben diese Praktiken eine ganz eigene Geschichte, bringen also Stränge von Rezeption zu Tage, die bisher nicht für relevant erachtet wurden? Wie verändert ihre Geschichte die Historiographie von Bach-Rezeption? Abschließend werden in Form eines Ausblicks die beiden eingangs vorgestellten Erkenntniskomplexe (Wie stellt sich die Bach-Rezeption nach 1750 als kulturelle Praxis dar? Und in wieweit hat das verengte Rezeptionsverständnis die Bach-Historiographie beeinflusst?) zusammenfassend enggeführt. So lässt sich das Vorgehen im Sinne eines Dreischritts erfassen: Methodenkritische Reflexion von Bach-Rezeption im Forschungsdiskurs, Entwicklung eines theoretischen Modells von „Rezeption als Praxis“ als einer alternativen Perspektive auf die Bach-Rezeptionsgeschichte zwischen 1750 und 1829 und die im Mittelpunkt stehende Untersuchung der frühen Bach-Rezeption aus der Sicht der häuslich-familialen BachRezeptionspraxis. Diese Studie versteht sich als ein wissenschaftliches Dialog-Projekt, das zwischen philologisch ausgerichteten Wissenschaftsmethoden der Bach-Forschung und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen vermittelt. Unbekannte und bekannte Quellen zur frühen Bach-Rezeption werden anhand eines geschärften, in kulturwissenschaftlichen Wissenschaftstraditionen verankerten Methodenwerkzeugs untersucht. Diese Vermittlung berührt sowohl die kritische Auseinandersetzung mit der Genese von Bedeutungskonstruktionen als auch den Umgang mit Quellenmaterial. Den Nachweis über die kulturhistorische Relevanz der Musikpraxis zu bringen, wie sie hier am Beispiel der Bach-Rezeption in den familialen Räumen verdeutlicht wird, ist ein zentrales Anliegen dieser Studie. Neben dem Dialog zwischen philologischen und kulturwissenschaftlichen Forschungsmethoden sieht sich diese Studie auch einem interdisziplinären Dialog verpflichtet. Forschungsansätze aus der Kultur- und Raumsoziologie,19 der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung und der Musikbiographikforschung20 wurden für die Etablierung eines praxisorientierten Rezeptionsmodells fruchtbar gemacht. Besonderen Stellenwert haben Forschungen aus dem Bereich der kulturwissenschaftlichen Genderforschung. Dies betrifft zum einen Studien über Akteurinnen der Musikgeschichte, an die sich die Analyse in den beiden Mikro-Blicken anlehnt.21 Zum anderen geht es um die kritische Reflexion von Bedeutungszuschreibungen, wie z. B. um die Rolle des autonomen Werkbegriffs für die Historiographie der Bach-Rezeption und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Darstellung 19 Siehe hierzu u. a. Martina Löw, Raumsoziologie (Suhrkamp TB Wissenschaft 1506), Frankfurt a. M. 2001, 82015. 20 Siehe hierzu vor allem Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie (Biographik. Geschichte – Kritik – Praxis 3), Köln 2014. 21 Vgl. hierzu das Kapitel Weibliche Handlungsräume (Teil I, Kap. 2.2).
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einer auch durch Frauen getragenen Musikpraxis in der Musikgeschichte. Vor allem in Bezug auf die Kategorie Gender haben das Konzept Bach-Rezeption und die ihm anhaftenden Ideologeme ein Abseits von Praktiken und Akteurinnen hervorgebracht. Vor diesem Hintergrund erscheint die Auswahl der Protagonistinnen dieser Studie, Lea Mendelssohn Bartholdy und Sara Levy, als geradezu notwendiger Schritt.
ERSTER TEIL EINE METHODENKRITISCHE GRUNDIERUNG: BACH UND REZEPTION Innerhalb der Fachgeschichte der Musikwissenschaft wurde unter dem Begriff Rezeption vorwiegend die kompositorische Auseinandersetzung mit bzw. kompositorische (Wieder)Aneignung von präexistenten Kompositionen verstanden. Wie in der Musikwissenschaft generell hat auch in der Bach-Forschung der Begriff der Rezeption eine große Bedeutung. Welche Inhalte auf welche Art und Weise mit Rezeption assoziiert wurden und weshalb diese einen verengten Rezeptionsbegriff darstellen, wird im Folgenden untersucht (Kapitel 1). Der Rezeptionsbegriff wird daraufhin im Sinne einer breiten, vielerlei Tätigkeiten umfassenden Bedeutung revidiert und für die Bedürfnisse dieser Studie fruchtbar gemacht (Kapitel 2). 1. ZUR FORSCHUNGSLAGE: REZEPTION IN DER BACH-HISTORIOGRAPHIE Wie alle Begriffe, die zum Verstehen von Historie unerlässlich sind, ist der Rezeptionsbegriff abhängig von der Perspektive des Geschichtsschreibers bzw. der Geschichtsschreiberin. Der Rezeptionsbegriff ist nicht als ein per se existentes, quasi naturwüchsiges und gleichförmig gültiges Phänomen zu begreifen, sondern ist als historiographisch-methodischer Begriff selbst historisch bedingt. Gegenstand dieses Forschungsrückblicks sind nicht sämtliche Aushandlungsprozesse des Rezeptionsbegriffes seit Beginn der Bach-Forschung, auch wenn sich aus Sicht des aktuellen Forschungs-Diskurses immer wieder Deutungskontinuitäten bis zur Bach-Forschergeneration um Leo Schrade, Gerhard Herz und Hermann Kretzschmar aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen könnten.1 Auch ließe sich am Beispiel des Rezeptions-Diskurses die Geschichte der 1
Vgl. die frühen Texte von Hermann Kretzschmar, Bach-Kolleg. Vorlesungen über Johann Sebastian Bach, Leipzig 1922, ders., Die Bachgesellschaft in Leipzig. Bericht bei Beendigung der Gesamtausgabe von J. S. Bachs Werken, Leipzig 1899, Gerhard Herz, Johann Sebastian Bach im Zeitalter des Rationalismus und der Frühromantik. Zur Geschichte der Bachbewegung von ihren Anfängen bis zu Wiederaufführung der Matthäuspassion im Jahre 1829, Würzburg 1935 und Leo Schrade, Johann Sebastian Bach und die deutsche Nation. Versuch einer Deutung der frühen Bachbewegung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 15 (1937), S. 220–252. Zu Forschungen, die sich kritisch mit den darin vertretenen historiographischen Modellen auseinandersetzen, siehe z. B.: Michael Heinemann, Art. „Kretzschmar, Hermann“, in: Ders., Bach Lexikon, S. 318 f., und Ders., Kretschmar und Spitta – Kretzschmars Bach-Bild, in: Rainer Cadenbach / Helmut Loos / Hildegard Mannheims (Hgg.), Hermann Kretzschmar: Konferenz-
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Bach-Forschung insgesamt rekonstruieren, was hier unterbleibt.2 Stattdessen geht es um den aktuellen Forschungs-Diskurs der letzten drei Jahrzehnte und um die Frage, wie hier Rezeption verstanden wurde und inwieweit dieses Verständnis für das Verstehen der diskursiven und sozialen Auseinandersetzungen mit der Musik Bachs zwischen 1750 und 1829 in Berlin plausibel ist oder nicht. Diese Untersuchung geht davon aus, dass anhand der Zuordnung von Praktiken zu einem bestimmten Begriff eine wissenschaftliche Praxis und deren Bewertungsmuster abzulesen sind. Wenn, wie im Folgenden gezeigt wird, Rezeption als Begriff für kompositorische, öffentlich-interpretatorische und von Männern praktizierte Auseinandersetzungen mit Bachs Werk gebraucht wird, aber im Gegensatz dazu Begriffe wie Bach-Pflege meist von Frauen ausgeführte Praktiken, wie das Sammeln und Bewahren von Bachs Musik abbilden, entsteht hinsichtlich des epistemischen Status, den diese Begriffe einnehmen, eine Hierarchie. Innerhalb dieser Hierarchie wird dem Rezeptionsbegriff im Vergleich zum Begriff der Pflege die forschungsrelevantere Position zugesprochen, u. a. aus dem Grund, weil Rezeption vermeintlich größere Überschneidungen zu allgemeinen Diskursen des Faches Musikwissenschaft herstellt. Bevor im Einzelnen die Verwendungen und Bedeutungen des Rezeptionsbegriffs kritisch reflektiert werden, soll der hier folgende kurze Überblick einige der zentralen Schriftenreihen und Publikationen der Bach-Forschung ab 1980 zur frühen Bach-Rezeption nach 1750 vorstellen. Neben Hans-Joachim Schulzes Studien zur Bach-Überlieferung (1984) haben sich in den letzten drei Dekaden drei weitere Sammelbände bzw. Forschungsreihen exklusiv der Bedeutung der frühen Bach-Rezeption gewidmet und sind damit für den nachfolgenden Forschungsrückblick von besonderer Bedeutung. Das Staatliche Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Berlin richtete drei Jahrbücher (1985/86, 1993 und 1994) thematisch auf die frühe BachRezeption aus. Die Beiträge des Jahrbuchs 1985/86 beschäftigen sich mit der Bedeutung des 18. Jahrhunderts für die Bach-Historiographie.3 Das Jahrbuch 1993 geht nicht nur auf die Bach-Rezeption Felix Mendelssohn Bartholdys ein, sondern untersucht Bach-Sammlungen, Bach-Drucke und Institutionen der frühen Berliner Bach-Rezeption.4 Fragen zur Historischen Aufführungspraxis und der Rolle von Bachs Musik in einer als Traditionslinie aufgefassten Kompositionsgeschichte stehen im Mittelpunkt des Jahrbuchs 1994.5 Eine erste umfassend angelegte Aufarbeitung der gesamten Bach-Rezeption von 1750 bis heute realisiert das auf vier Bände konzipierte Kompendium Bach
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bericht Olberhau 1998, Chemnitz 1998, S. 193–210 und Martin Petzold, Die Neue Bachgesellschaft (NBG). Bilanz zweier Jahrhunderte, in: Ulrich Leisinger, Bach in Leipzig, Bach und Leipzig (Konferenzbericht Leipzig 2000) (Leipziger Beiträge zur Bach-Forschung 5), Hildesheim 2002, S. 557–572. Die systematische Untersuchung der Geschichte der Bach-Forschung stellt ein Forschungsdesiderat dar. JbSIM 1985/86 (1989). JbSIM 1993 (1993). JbSIM 1994 (1995).
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
und die Nachwelt unter der Herausgeberschaft von Michael Heinemann und HansJoachim Hinrichsen (1997–2005).6 Diese Reihe ist ein Meilenstein in der BachRezeptionsforschung, da hier die verschiedenen Modi der Bach-Historiographie und Defizite bisheriger Ansätze – von der Bach-Forschergeneration um Hermann Kretzschmar bis in die 1960er Jahre – dargestellt werden: Linearität und Homogenität in der Geschichtsschreibung, insbesondere die Vereinheitlichung und Vereinfachung von Rezeptionsprozessen und eine Werkidee, die dem Werk eine eigene Kraft der Selbstentfaltung einräumt.7 Die vierbändige Schriftenreihe Beiträge zur Geschichte der Bach-Rezeption unter der Herausgeberschaft von Anselm Hartinger, Christoph Wolff und Peter Wollny beinhaltet die aktuellsten Forschungsbeiträge und realisiert erstmalig eine Durchmischung verschiedener Forschungsansätze.8 Die Bedeutung des 18. und 19. Jahrhunderts für die Bach-Rezeption wird nicht nur aus der Perspektive der Bach-Forschung, sondern auch der Schumann- und Mendelssohn-Forschung reflektiert. Im Folgenden wird zunächst der Rezeptionsbegriff, wie er sich im aktuellen Forschungsdiskurs abzeichnet, kritisch analysiert (Kapitel 1.1). Dann werden die Maßstäbe (Ideologeme) untersucht, die das Rezeptionsverständnis derart reguliert haben und es wird erläutert, woher der verengte Rezeptionsbegriff kommt (Kapitel 1.2). Das auf wenige Praktiken reduzierte Rezeptionsverständnis prägte wiederum die Darstellung der Bach-Auseinandersetzungen im 18. und frühen 19. Jahrhundert und sorgte für die Exklusion bzw. Inklusion bestimmter Bedeutungsinhalte (Kapitel 1.3). 1.1 Ausgangslage: Kritische Betrachtung des Rezeptionsbegriffs Das Rezeptionsverständnis, das bisher die Bach-Historiographie prägte, erweist sich – wie die folgende Analyse zeigen wird – als lückenhaftes Modell zur Untersuchung der Bach-Rezeption zwischen 1750 und 1829. Der Begriff der Rezeption wurde im Diskurs der Bach-Forschung stark eingegrenzt verstanden und bezog sich 6
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Bach und die Nachwelt, 4 Bde., Bd. 1: 1750–1850 (1997), Bd. 2: 1850–1900 (1999), Bd. 3: 1900–1950 (2000), Michael Heinemann / Hans-Joachim Hinrichsen (Hgg.), Band 4: 1950– 2000 (2005), Joachim Lüdtke (Hg.), Laaber 1997–2005. Der letzte (vierte) Band des Kompendiums Bach und die Nachwelt wurde nicht mehr von Heinemann und Hinrichsen veröffentlicht, die dafür einen Band über Johann Sebastian Bach und die Gegenwart, Köln 2007, publizierten. Bach und die Nachwelt 1, S. 14. Anselm Hartinger / Christoph Wolff / Peter Wollny, „Zu groß, zu unerreichbar“. Bach-Rezeption im Zeitalter Mendelssohns und Schumanns (Beiträge zur Geschichte der Bach-Rezeption 1), Wiesbaden 2007; Peter Wollny, „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel BachKultus“. Sara Levy und ihr musikalisches Wirken (Beiträge zur Geschichte der Bach-Rezeption 2), Wiesbaden 2010; Anselm Hartinger / Christoph Wolff / Peter Wollny (Hgg.), „Diess herrliche, imponirende Instrument“. Die Orgel im Zeitalter Felix Mendelssohn Bartholdys (Beiträge zur Geschichte der Bach-Rezeption 3), Wiesbaden 2011; Dies. (Hgg.), Von Bach zu Mendelssohn und Schumann. Aufführungspraxis und Musiklandschaft zwischen Kontinuität und Wandel (Beiträge zur Geschichte der Bach-Rezeption 4), Wiesbaden 2012.
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vor allem auf kompositorische und im öffentlichen Raum stattfindende interpretatorische Auseinandersetzungen mit der Musik J. S. Bachs (Kapitel 1.1.1). Daraus entstand eine implizite Bewertung von Praktiken als Rezeption und als Nicht-Rezeption bzw. Noch-Nicht-Rezeption (Kapitel 1.1.2) und ein Geschichtsmodell, das dem 18. Jahrhundert eine vermeintliche Rezeptionslücke attestierte (Kapitel 1.1.3). 1.1.1 Reduktion von Rezeption auf Komposition und öffentliche Interpretation Überblickt man die Verwendung des Rezeptionsbegriffs in Publikationen der letzten 30 Jahre, so ergibt sich folgendes Bild: Rezeption wird großenteils als Beschreibung für Komposition und öffentliche Interpretation verwendet. Als übergeordneter Begriff, der Auseinandersetzungen mit Bach im Sinne einer vielfältigen Praxis beschreibt, wird Rezeption kaum gebraucht. Die zuletzt erschienene Bach-Bibliographie im Bach-Jahrbuch 2011 versammelt unter dem Stichwort „Wirkungsgeschichte im 18./19. Jahrhundert“ z. B. fast ausschließlich Einträge, die aufgrund der Titelbezeichnung bereits darauf schließen lassen, dass Rezeption auf die Bedeutung von kompositorischer bzw. öffentlichinterpretatorischer Auseinandersetzung eingeengt wird.9 Einträge, in denen der Rezeptionsbegriff als Oberbegriff verwendet wird, sind kaum vorhanden. Auch in den Aufsätzen des Sammelbandes ‚Zu groß, zu unerreichbar‘. Bach-Rezeption im Zeitalter Mendelssohns und Schumanns (2007) überwiegt der Gebrauch von Rezeption als Beschreibung einer kompositorischen und/oder öffentlich-interpretatorischen Beschäftigung mit Bach.10 Gleiches gilt für die Aufsätze in Johann Sebastian Bach. Beiträge zur Wirkungsgeschichte (1992)11 und Die Fuge zwischen Rezeption und Wandel von Volkhardt Preuß (2002/3).12 Insbesondere im Kontext der Auseinandersetzung Felix Mendelssohn Bartholdys mit der Musik Bachs wird den Merkmalen von Rezeption als Komposition prägnante Kontur verliehen.13 Im Jahrbuch des 9 10
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Marion Söhnel, Das Bach-Schrifttum 2001–2005, in: BJ 97 (2011), S. 117–250, hier S. 208– 217. Janina Klassen untersucht in diesem Band Rezeption als ein dreistufiges Modell, in dem die kompositorische Produktion als zentraler und finaler Aspekt dieses Dreischritts verstanden wird. Janina Klassen, Von Vor- und Übervätern. Familiäre und musikalische Genealogien im Selbstkonzept der Mendelssohns, Schumanns und Wiecks, in: Beiträge 1, S. 51–58. Ingrid Fuchs (Hg.), Johann Sebastian Bach. Beiträge zur Wirkungsgeschichte, Wien 1992. Volkhardt Preuß, Die Fuge zwischen Rezeption und Wandel, in: Reinhard Bahr (Hg.), Melodie und Harmonie. Festschrift für Christoph Hohlfeld zum 80. Geburtstag (Veröffentlichung der HfMT Hamburg, Neue Folge 3), Berlin 2002, S. 63–84, ND in: Raliza Nikolov (Hg.), BachInterpretation und -Rezeption seit dem 18. Jahrhundert: Bach-Fest 2000 in St. Jacobi Hamburg, Schneverdingen 2003, S. 29–46. Zur kompositorischen Bach-Rezeption Felix Mendelssohn Bartholdys siehe: Hans-Joachim Hinrichsen, Jenseits des Historismus. Fuge und Choral in der Instrumentalmusik Felix Mendelssohn Bartholdys, in: Beiträge 1, S. 99–119. Dinglinger, Aspekte der Bach-Rezeption Mendelssohns, S. 379–418, Friedhelm Krummacher, Bach, Berlin und Mendelssohn. Über Mendelssohns kompositorische Bach-Rezeption, in: JbSIM 1993 (1993), S. 44–78, sowie immer noch grundlegend Susanna Großmann-Vendrey, Felix Mendelssohn Bartholdy und die
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
Staatlichen Instituts für Musikforschung aus dem Jahr 1993 wird Rezeption sowohl als Oberbegriff verwendet, als auch in seiner auf kompositorische Auseinandersetzungen beschränkten Form. Außerdem lässt sich beobachten, dass der Begriff der Rezeption, wenn er nicht die konkrete Bedeutung der kompositorischen oder öffentlichen Rezeption trägt, sondern einen Oberbegriff bilden soll, oft unbestimmt und vage bleibt. Bettina Faulstich etwa benutzt in ihrer Arbeit den Begriff der Rezeption nur auf eine oberflächliche und nicht näher definierte Weise. „In der Geschichte der Berliner BachPflege und Bach-Rezeption zwischen 1750 und 1850 hat die Familie von Voss mit ihrer Musikaliensammlung eine bedeutende Rolle gespielt.“14 Primär im engeren Wortsinn als kompositorische bzw. öffentlich-interpretatorische Beschäftigung mit Bach findet der Begriff der Rezeption in der Forschungsliteratur Verwendung. Dieser Eindruck bestätigt sich auch mit Blick auf die vierbändige Reihe Bach und die Nachwelt: Beide bereits angesprochenen Bedeutungsfacetten von Rezeption spielen auf den ersten Blick in der Konzeption dieser Reihe eine Rolle. Diese Reihe sei – so die Herausgeber Heinemann und Hinrichsen – darauf angelegt, „die Geschichte der Wirkung und Rezeption Johann Sebastian Bachs und seiner Musik auseinanderzulegen in ihre verschiedenen Dimensionen: in ‚Überlieferungen‘, in ‚Traditionen‘, in ‚Aneignungen‘ und in ‚Rezeptionen‘.“15 Rezeption wird in Abgrenzung zur Wirkung einerseits als Oberbegriff und andererseits als eine von vier Dimensionen von Rezeption selbst verstanden. In Bach und die Nachwelt I (1750– 1850) wird im Kapitel „Rezeptionen“ die je spezifische kompositorische Auseinandersetzung mit dem Werk Bachs von Ludwig van Beethoven, Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann untersucht. In Bach und die Nachwelt II (1850– 1900) sind es in dem Kapitel „Rezeptionen“ Franz Liszt, Richard Wagner und Johannes Brahms. Der Begriff der Rezeption wird in den einzelnen Kapiteln homogen und kontinuierlich zum Beschreiben der kompositorischen Auseinandersetzung mit Bachs Werken gebraucht. Anders gestaltet sich die Verwendung des Begriffs als allgemeiner, übergeordneter Terminus: Je nach Zeitabschnitt des jeweiligen Bandes variieren hier die Begriffe. Dass „Überlieferungen“ und „Traditionen“ zwei große Themenkomplexe des ersten Bandes (1750–1850) darstellen, mag einleuchten. Inwieweit aber „Aneignungen“ (Band I), „Interpretationen“, „Bach-Bilder“ (Band II), „Adaptionen“, „Deutungen“ und „Umsetzungen“ (Band III) voneinander zu unterscheiden sind, ist schwer nachvollziehbar. Vor allem im Unterschied zu Rezeption (als Oberbegriff) sind explizite Bedeutungsgrenzen nicht auszumachen. Das, was also Rezeption im Sinne einer allgemeinen Beschreibung (als Oberbegriff) kennzeichnet, auch im Unterschied zu Adaption, Deutung, Umsetzung o. ä. wird nicht ersichtlich. Umso mehr fällt auf, wie präzise der Bedeutungsrahmen von Rezeption als kompositorische bzw. öffentlich-interpretatorische Auseinandersetzung von
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Musik der Vergangenheit (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 17), Regensburg 1969. Bettina Faulstich, Die Werke Johann Sebastian Bachs in der Musikaliensammlung der Familie von Voss, in: JbSIM 1993 (1993), S. 131–140, hier S. 131. Bach und die Nachwelt 1, S. 15.
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(ausschließlich männlichen) Komponisten16 mit Bach abgesteckt wird, wie z. B. der Blick in die Bände I und II von Bach und die Nachwelt gezeigt hat.17 Die Doppelbedeutung von Rezeption als einerseits allgemeiner Begriff für die Beschreibung posthumer Auseinandersetzung insgesamt und als spezifischer Begriff zur Beschreibung von kompositorischer Rezeptionspraxis andererseits ist zwar in Bach und die Nachwelt erkennbar.18 In den Arbeiten der Reihe spielt aber diese Doppeldeutigkeit des Begriffs keine Rolle mehr, sondern erfährt eine Bedeutungsreduktion auf Komposition und öffentliche Interpretation. Diese wird allerdings nicht explizit als solche in der Forschung definiert.19 Stattdessen wird von einem wissenschaftlichen Konsens ausgegangen, innerhalb dessen die Bedeutung von Rezeption in der bereits beschriebenen Weise auf wenige Praktiken reduziert wurde. Der Rezeptionsbegriff wird damit auf Basis einer disziplinären Grundannahme mit einem bestimmten Wissenscode versehen, der eben nicht zufällig vergeben wird, sondern dessen normativer Anspruch verschleiert wird. Andreas Reckwitz bezeichnet dieses Phänomen als eines der „rationalitätsverbürgenden Invisibilisierungen“.20 Wolfgang Neuser hat in seiner Arbeit auf die Differenz zwischen einem expliziten und einem impliziten bzw. latenten Bedeutungsgehalt von Begriffen hingewiesen und weist letzterem, also dem impliziten bzw. latenten Bedeutungsgehalt das größere Gewicht zu, den epistemischen Stellenwert eines Begriffs zu beeinflussen.21 Die latente Codierung des Rezeptionsbegriffs hinsichtlich seiner Präzisierung als Komposition und öffentliche Interpretation ist somit selbst das Ergebnis einer wissenschaftlichen Praxis, die auf ganz bestimmten, wenn auch nicht explizit gemachten Musik- und Wertevorstellungen beruht.
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In Band I und II werden tatsächlich nur Komponisten und keine Komponistinnen behandelt. Fanny Hensel wird in Bach und die Nachwelt 1 zwar gelegentlich erwähnt – so von Wolfgang Dinglinger, Aspekte der Bach-Rezeption Mendelsohns, S. 379–418 –, aber nicht angemessen gewürdigt oder in einer einzelnen Darstellung berücksichtigt. Ähnlich verfährt auch Peter Gülke, Kompositionsgeschichtliche Situation und Bach-Aneignung der Generation Robert Schumanns, in: Beiträge 1, S. 21–29, der hier ein größeres Panorama verspricht, als er einhält. Fanny Hensel und Clara Schumann werden hier nicht erwähnt. Die Art und Weise, wie in Bach und die Nachwelt 3 mit dem Thema kompositorische Auseinandersetzung umgegangen wird, zeigt aber auch, dass es innerhalb dieses Bereiches Abstufungen gibt. Anders als in den ersten beiden Bänden werden hier die kompositorischen Auseinandersetzungen mit Bach von Honegger, Poulenc, Krenek etc. unter dem Schlagwort „Deutungen“ gefasst. Die Gründe dafür, warum hier ein neuer Begriff auftaucht, sind unklar. Vgl. Vorwort zu Bach und die Nachwelt 1. Siehe z. B. die Untersuchung von Felix Loy, Bach-Rezeption in den Oratorien von Mendelssohn Bartholdy (Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft 25), Tutzing 2003. Andreas Reckwitz, Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, 22010, S. 37, vgl. auch Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 438. Vgl. Wolfgang Neuser, Wissen begreifen. Zur Selbstorganisation von Erfahrung, Handlung und Begriff, Wiesbaden 2013, S. 77.
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
1.1.2 Hierarchisierung von Rezeptionspraktiken Während Tätigkeiten wie die kompositorische bzw. öffentlich-interpretatorische Beschäftigung mit Bachs Musik dem Bedeutungsfeld der Rezeption zugerechnet wurden, sind Praktiken wie etwa das Sammeln, Hören, Üben, Finanzieren, oder die theoretische Durchdringung von Bachs Musik zwar bekannt, fallen aber aus der Semantik des Rezeptionsbegriffs heraus. Stattdessen werden diese Praktiken mit anderen, alternativen Begriffen beschrieben: Bach-Pflege für das nichtöffentliche Proben, Aufführen und Sammeln in Kreisen sogenannter Musikliebhaberinnen und Musikliebhaber,22 Bach-Tradition für die vermeintlich unbewusste Weitergabe von Handschriften und Aufführungspraxis in Berlin23 und Bach-Überlieferung für das Sammeln, Kopieren und Drucken.24 Weitere Begriffe, die allerdings, da sie im Forschungs-Diskurs der letzten 30 Jahre kaum verwendet wurden, in diesem Forschungsrückblick nur peripher behandelt werden, sind: Bach-Kultus,25 BachBewegung26 und Bach-Gotik27. Das Phänomen der posthumen Auseinandersetzung mit Bach nach 1750 zersplitterte im Prozess seiner Geschichtswerdung in verschiedene Begriffe. 22
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Siehe z. B. Joachim Jaenecke, Zur Bedeutung der Werke Johann Sebastian Bachs in der SingAkademie zu Berlin zwischen 1791 und 1850, in: JbSIM 1993 (1993), S. 98–105, und die Aufsätze von Peter Wollny, Zur Bach-Pflege im Umfeld Sara Levys, in: Beiträge 1, S. 39–49, und von Susanne Oschmann, Die Bach-Pflege der Singakademie, in: Bach und die Nachwelt 1, S. 305–347. Gleiches gilt auch für die Beschreibung der Bach-Pflege der Sing-Akademie in Sankt Petersburg: Zanna Knjazeva / Lucinde Braun, Bach-Rezeption in Russland: Sankt Petersburg, in: Bach und die Nachwelt 2, S. 85–124, mit dem Unterkapitel: Die Bach-Pflege der Singakademie, S. 102. Siehe z. B. Hans-Joachim Hinrichsen, „Urvater der Harmonie“? Die Bach-Rezeption, in: Konrad Küster (Hg.), Bach-Handbuch, Stuttgart/Weimar 1999, S. 31–66 oder Peter Wollny, Abschriften und Autographe, Sammler und Kopisten, in: Bach und die Nachwelt 1, S. 27–64, hier S. 51. Siehe z. B. Hans-Joachim Schulze, Studien zur Bach-Überlieferung im 18. Jahrhundert, Leipzig/Dresden 1984 und ders., Karl Friedrich Zelter und der Nachlass des Bach-Biographen Johann Nikolaus Forkel. Anmerkungen zur Bach-Überlieferung in Berlin und zur Frühgeschichte der Musiksammlung an der Königlichen Bibliothek, in: JbSIM 1993 (1993), S. 141– 150. Der Begriff Bach-Kultus erinnert ähnlich wie der der Bach-Bewegung an Formen eines religiösen Verehrertums bzw. an eine religiöse Anhängerschaft. In dieser Funktion weist er auf einen Aspekt der Bach-Rezeptionsgeschichtsschreibung hin, der ähnlich wie die Begriffe Bach-Bewegung und Bach-Renaissance das identitätsstiftende Potenzial Bachs für die deutsche Kultur ab dem 19. Jahrhundert brennpunktartig widerspiegelt. Über die vielfältigen und äußerst komplexen Verflechtungen, die zwischen Bach und einer deutschen Kultur über die Jahrhunderte hinweg konstruiert wurden, siehe: Patrice Veit, Art. „Johann Sebastian Bach“, in: Etienne François / Hagen Schulze (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 239–252. Der Begriff Bach-Bewegung geht auf Hermann Kretzschmar (1848–1924), Mitbegründer der Neuen Bach-Gesellschaft zurück und steht paradigmatisch für das Geschichtsmodell, in dem Bach-Rezeption als homogener, sich kontinuierlich ausbreitender und ausdifferenzierender Prozess im Sinne einer Fortschrittsgeschichte dargestellt wird. Vgl. Hermann Kretzschmar, Bach Kolleg, Leipzig 1922, S. 77. Vgl. das Kapitel Bach und das „Alterthum“ (Teil II, Kap. 3.2.2).
1. Zur Forschungslage: Rezeption in der Bach-Historiographie
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Dabei entstand hinsichtlich des epistemischen Status dieser Termini eine Hierarchie, die dem Rezeptionsbegriff und den ihm zugeordneten Praktiken (Komposition und öffentliche Interpretation) sowie den Akteurinnen und Akteuren sowohl die wissenschaftlich relevanteste als auch die geschichtstauglichste Rolle zuschrieb. Die Hierarchisierung der Rezeptionspraktiken findet Ausdruck vor allem in der Unterscheidung zwischen einerseits eher verborgenen bzw. losen Praktiken (wie dem Unterrichten, dem privaten Musizieren, dem Herstellen einer angemessenen räumlichen Aufführungsatmosphäre etc.) und Reproduktionspraktiken (öffentliche Interpretation) bzw. Produktionspraktiken (Komposition) andererseits. Neben der inhaltlichen Hierarchisierung ist mit Blick auf die Forschungsliteratur auch eine zeitliche Einteilung der Begriffe in bestimmte historische Gegenstandsbereiche zu beobachten.28 So transportieren die Begriffe Bach-Überlieferung, Bach-Tradition, Bach-Pflege und Bach-Rezeption aufgrund der ihnen zugewiesenen Praktiken und Akteurinnen und Akteure eine Zuordnung zu einer bestimmten historischen Phase. Mit Blick auf den Forschungs-Diskurs ergibt sich also folgende scheinbar kohärente Chronologie, die einer progressiven Entwicklung folgt: Auf Bach-Tradition als Beschreibung der ersten Phase folgt Bach-Überlieferung, die wiederum durch Bach-Pflege abgelöst wird und als letzte Stufe folgt Bach-Rezeption. So oder ähnlich wird in vielen Beispielen die Geschichte der Bach-Rezeption von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert dargestellt, wie es z. B. auch eine Kapitelüberschrift im Bach-Handbuch illustriert: „Die ersten Jahrzehnte nach Bachs Tod: Von der Tradition zur Rezeption.“29 Ein genauer Blick auf die mehrbändige Reihe Bach und die Nachwelt macht deutlich, dass darin zwar ursprünglich eine lineare und als uneingeschränkt kohärent zu bezeichnende Geschichtsschreibung vermieden werden sollte, wie es die Herausgeber in ihrem Vorwort formulieren.30 Dieser Anspruch wurde letztlich aber nicht stringent genug umgesetzt. Die Herausgeber geben an, Bach-Rezeptionsgeschichte nicht nach streng chronologischen, sondern nach systematischen Kriterien zu ordnen. Diese Systematik besteht aus einer Unterteilung in vier verschiedene „Dimensionen“: Überlieferungen, Traditionen, Aneignungen und Rezeptionen. Bei näherer Betrachtung wird aber deutlich, dass diese Systematik einer impliziten Chronologie folgt. In „Überlieferungen“ wird die früheste Zeit des Untersuchungszeitraums und in „Rezeptionen“ die späteste Phase besprochen. „Überlieferungen“ bezieht sich auf Abschriften, Autographe und deren Sammler und Kopisten, die unmittelbar nach Bachs Tod wirkten. Unter „Traditionen“ werden die Gattungsformen Choral und Fuge auf ihre traditionsbildenden Aspekte hin untersucht. Hier dreht es sich um die Kompositionslehren von Theoretikern wie Marpurg und Kirnberger zwischen 1750 und 1800. Unter „Aneignungen“ stehen biographische und musikhistoriographische (Forkel), editionstheoretische (erste Editionen, Gesamtausgaben) und musikpraktische (Bach-Pflege der Sing-Akademien) Aspekte im Mittelpunkt. Damit ist die Zeit um 1800 erreicht. Mit „Rezeptionen“ bei Beethoven, Mendelssohn Bartholdy und Schumann geht es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts 28 29 30
Vgl. z. B. Hinrichsen, Art. „Rezeption“, S. 446. Hinrichsen, „Urvater der Harmonie“?, S. 33. Heinemann/Hinrichsen, Mit Bach, S. 15.
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
voran. Rezeptionen werden als Zielpunkt und als Ende dieser vorher stattfindenden Kette beschrieben: Für die Untersuchung einer im engeren Sinne kompositorischen Bach-Rezeption liegt in dieser Auseinanderlegung des Gegenstandes die unabdingbare Voraussetzung. Jeder individuelle Rezeptionsmodus kann einerseits nur vor dem Hintergrund einer Überlieferungs- und Urteilsgeschichte destilliert werden, in die er andererseits wieder rückwirkend eingeht.31
Setzt man diese vier Dimensionen, die implizit auch Zeitabschnitte sind, zueinander in Beziehung, zeichnen sich Kontinuitäten ab. Ein wachsender Kreis an Rezipientinnen und Rezipienten, ein zunehmender Grad an Öffentlichkeit (Größe von Räumen, in denen Bach aufgeführt wurde), eine wachsende Ausdifferenzierung der Praktiken vom Sammeln, über das Besprechen in Theoriewerken bis hin zur kompositorischen Verarbeitung und die Akademisierung, d. h. die Umsetzung und Deutung von Inhalten in fachwissenschaftliche Strukturen (Institutionen, Gremien, Publika etc.). Problematisch an diesem Modell ist nicht die Darstellung einer wachsenden Anzahl an beteiligten Rezipientinnen und Rezipienten oder die zunehmende Größe des Raumes. Kritisch zu betrachten ist die Position, die der Rezeption als finale Stufe dieser Abfolge zukommt und die Rezeption auf das einengende Rezeptionsverständnis reduziert, d. h. auf die im engeren Sinne kompositorische und interpretatorische Beschäftigung. Das Merkmal der Produktion, die „tatsächliche“ Arbeit am musikalischen Material und dessen Weiterverwendung in anderen Kompositionskontexten wird zum Hauptkriterium von Rezeption. Damit wird suggeriert, alle anderen Praktiken (das Sammeln, Besprechen, Üben etc.) seien nicht Rezeption, sondern Rezeptions-Vorstufen oder Rezeptions-Bedingungen. Was mit dem terminologischen Wechsel hin zu Rezeption hier zu Tage tritt, ist ein nicht klar benannter, aber dennoch angenommener Qualitätsanstieg. Es kommt ein „Verbesserungsbewusstsein“32 zur Geltung, das den Wandel einer legitimen Geschichtserzählung als Entwicklungs- bzw. Veränderungsprozess hin zu einer Fortschrittsgeschichte markiert. Interessanterweise wird für die Zunahme der kompositorischen Auseinandersetzung mit der Musik Bachs, die sich für die Zeit nach 1800 beobachten lässt, auch gerne der Begriff „Rezeptionsschub“ verwendet, der erneut die Emphase auf die kompositorische Rezeption legt.33 Der Rezeptionsbegriff hat im Vergleich zu den Begriffen Pflege, Überlieferung und Tradition einen anderen epistemischen Status. Ihm wird in der Forschung ein höherer Wert beigemessen. Eben die Zuordnung von Praktiken zu bestimmten Begriffen beruht auf einer wissenschaftlichen Praxis, die eigenen Bewertungsmustern folgt. Die Bewertung, die Rezeption einen höheren Wert als Pflege zuspricht, schlägt sich nieder in dem hier vorgestellten Geschichtsmodell, das Rezeption auf die kompositorische und öffentlich-interpretatorische Auseinandersetzung mit Bach reduzierte. Durch das höhere Ansehen, das Forschung zur Rezeption zukam, wurden Akteurinnen wie Sara Levy und Lea Mendelssohn Bartholdy – die bei31 32 33
Ebd., S. 16. Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 214. Hinrichsen, „Urvater der Harmonie“?, S. 37.
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den Protagonistinnen der Mikro-Blicke – ins Abseits des Forschungsinteresses katapultiert.34 Der Ausschluss bzw. die geringere Beachtung loser und verborgener Praktiken führte dazu, dass einige dieser Praktiken wie z. B. das Konstituieren von Räumen, in denen Bachs Musik zur Aufführung gelangen konnte oder die Installation von Bach als Gegenstand von Erziehung, nicht berücksichtigt wurden. Es gibt zwar Studien, die sich mit Sammlungs- und Überlieferungswegen beschäftigen,35 diese stellen jedoch nur einen Ausschnitt des Rezeptionsverhaltens vor 1829 dar. In ihnen werden außerdem Wirkungszusammenhänge von Praktiken, beispielweise die Transformation von Bach-Rezeptionspraktiken aus anderen sozialen Kontexten, wie z. B. dem höfischen oder dem jüdischen Kontext nur in Ansätzen beachtet, eben weil sich der Fokus primär auf materiale Überlieferungswege richtet. Lose und meist verborgene Praktiken sind Teil eines gesellschaftlichen Alltagsverhaltens, was sich im Fall der frühen Bach-Rezeption vor allem auf die innerhäuslichen, familialen und zu großen Teilen durch Frauen gestalteten Räume sowie auf kleinere Musikgesellschaften bezieht. Mit den in den beiden Mikro-Blicken erörterten Akteurinnen Lea Mendelssohn Bartholdy und Sara Levy werden Nahaufnahmen dieser alltäglichen Sphäre der frühen Bach-Rezeption vorgenommen. 1.1.3 Rezeptionslücke: Das Problem 18. Jahrhundert In einem Geschichtsmodell, das Rezeption als finales Stadium eines Entwicklungsprozesses betrachtet, werden diejenigen historischen Stadien, in denen „noch nicht rezipiert“ wurde, als eine Vorstufe verstanden. Das wiederum hatte in vielen Narrationen der Bach-Rezeption zur Konsequenz, dass das 18. Jahrhundert als eine Rezeptionslücke bewertet wurde und mangels relevanter Rezeptionsinhalte ein Legitimationsproblem bekam. Häufig fungierte als Darstellung dieses Mangels an kompositorischer Bach-Rezeption das Bild des Stillstands oder der Lücke. Meistens wird dann der Übergang ins 19. Jahrhundert, vor allem das Jahr der Wiederaufführung der Matthäus-Passion als ein plötzlicher Umbruch von Nicht-Rezeption in Rezeption beschrieben. Die Konnotation des Mangels, die sich hier im Bild der Lücke widerspiegelt, ist bereits bei den frühen Bach-Historiographen als Narrativ erkennbar. Zentrale These war jene des noch vor seinem Tod vergessenen Bach. Gerhard Herz, der 1935 seine Dissertation über die „Geschichte der Bach-Bewegung“ erstmalig mit dem Anspruch verfasste, eine Bach-Historiographie zu schreiben, intensiviert hierin die Vorstellung des „vergessenen Bachs“ und schreibt über die „junge Bachpflege“, dass diese „fern von allem gesellschaftlich Repräsentativen, kaum hörbar leise, nur in dörflicher Zurückgezogenheit gedeihen konnte, gleichsam unterirdisch unter dem Strom der historisch sichtbaren Tagesereignisse weiter sickerte“.36 Während bei Herz, aber auch bei Kretzschmar im Sinne einer sogenannten Bach-Bewegung 34 35 36
Vgl. das Kapitel Folgen: Bach-Rezeption zwischen Inklusion und Exklusion (Teil I, Kap. 1.3). Siehe z. B. Schulze, Studien zur Bach-Überlieferung und Peter Wollny, Abschriften und Autographe. Herz, Johann Sebastian Bach im Zeitalter des Rationalismus, S. 17.
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
ein kontinuierlicher Progress von Bach-Rezeption konstatiert wird, basiert die Erzählung bei Leo Schrade auf der Schilderung eines Regresses: „Seit dem Todesjahr beschleunigt sich der Prozeß, der Johann Sebastian Bach in eine Isolierung und Vergessenheit hineintrieb.“37 Während laut Schrades Darstellung die Lücke im 18. Jahrhundert immer größer wird, fassen Herz und Kretzschmar sie als immer kleiner werdend auf. Verschiedentlich wurde die für die Bach-Rezeption defizitäre Stellung des 18. Jahrhunderts hinterfragt.38 Friedhelm Krummacher versucht den Vorwurf der Nicht-Rezeption des 18. Jahrhunderts auszuhebeln, und untersucht Kompositionen aus Bachs direktem Schüler- und Söhnekreis nach Faktoren, die auf eine kompositorische Anbindung an Bachs Werk schließen lassen. Dabei kommt er zu dem sehr allgemeinen Ergebnis, dass diese Kompositionen „gewiß keine verschollenen Meisterwerke“ seien, sie aber „das wechselnde Verhältnis für Bachs singuläre Lösungen in den einzelnen Gattungen“ und „den Abstand, den Bach selbst zu den Tendenzen seiner Zeit wahrte“ reflektieren würden.39 Krummacher, der das 18. Jahrhundert in Anlehnung an die Metapher der Lücke, als „Abstand zwischen dem Nekrolog und dem Neuansatz um 1800“40 beschreibt, räumt mit einigen Vorurteilen das 18. Jahrhundert betreffend auf: Er distanziert sich z. B. von der Vorstellung, dass sich ein Künstler „an seiner Wirksamkeit zu erweisen habe“.41 Allerdings verlässt Krummacher das verengte Denkmuster von Rezeption als öffentlich-interpretatorischer und kompositorischer Auseinandersetzung nicht. Er bleibt in seiner Argumentation dem Primat der Komposition als Garanten für Rezeption treu und argumentiert dabei in hohem Maße ideologisch („Meisterwerke“). Ähnlich ideologisch eingefärbt erscheint die Argumentation Hans Heinrich Eggebrechts. Dieser postuliert die Idee des „Traditionsknicks“, der das Umbrechen von rhetorisch orientierter Musik des 18. Jahrhunderts zu ästhetisch orientierter Musik des 19. Jahrhunderts markiere.42 Bezeichnenderweise wird die Bach-Rezeption als Paradigma für die Blütezeit einer für die Musikwissenschaft relevanten Rezeptionsgeschichte – nämlich die des 19. Jahrhunderts – in Anspruch genommen. Bach war seit Konstituierung des Faches Musikwissenschaft ein Gegenstand, an dem sich die musikwissenschaftliche
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Schrade, Johann Sebastian Bach und die deutsche Nation, S. 227. Siehe z. B. in den Veröffentlichungen von Friedhelm Krummacher, Bach als Maß? Über Motetten aus Bachs Schülerkreis, in: JbSIM 85/86 (1989), S. 180–198 und Hans Heinrich Eggebrecht, Bach in der Tradition, in: JbSIM 1994 (1995), S. 41–52, Günther Wagner, „Mit Newtons Geist“, ebd. S. 53–70 und Christian Martin Schmidt, Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, ebd. S. 96–109. Diese Studien greifen die im Jahr 1955 geführte Diskussion zwischen Heinrich Besseler, Bach als Wegbereiter, in: Archiv für Musikwissenschaft 12/1 (1955), S. 1–39, und Hans Heinrich Eggebrecht, Das Ausdrucksprinzip im musikalischen Sturm und Drang, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29 (1955), S. 323–349, ND in: Ders., Musikalisches Denken. Aufsätze zur Theorie und Ästhetik der Musik, Wilhelmshaven 1977, 32004, S. 69–111, wieder auf. Krummacher, Bach als Maß?, S. 198. Ebd. Ebd., S. 181. Eggebrecht, Bach in der Tradition, S. 47.
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Diskussion um Rezeption generiert und entschieden hat.43 Im Sammelband Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft aus dem Jahr 1991 schreiben die Herausgeber Hermann Danuser und Friedhelm Krummacher: Zum anderen bildet, da Kritik und Schrifttum im 19. Jahrhundert zunehmend auch Erfahrungen an früherer Musik einbezogen haben, die neue Entdeckung alter Musik in dieser Zeit – mit der Bach-Rezeption als Paradigma – eine besondere Chance der Rezeptionsgeschichte, deren Wirkungen vielfach vermittelt bis heute andauern.44
In der Festlegung darauf, dass die Rezeption Bachs im 19. Jahrhundert prototypisch für die Auseinandersetzung mit älterer Musik und damit prototypisch für Rezeptionshistorie insgesamt sei, erfährt die Frage nach der Auseinandersetzung mit J. S. Bach eine zeitliche Festlegung auf das 19. Jahrhundert. Da sich aber nicht bestreiten lässt, dass Bach auch vor 1800 rezipiert wurde, entsteht als Konsequenz eine Wertung, die dem 19. Jahrhundert zwar nicht die alleinige, aber die bei weitem bedeutsamere Rezeptionstätigkeit zuweist als den Jahrzehnten davor. Ludwig Finscher stellt erstmalig die Methode an sich – d. h. Rezeption ausschließlich als Komposition zu verstehen – in Frage. Er betont, dass nicht ausschließlich kompositorische Rezeptionspraktiken als Beweis von Rezeption funktionieren und erweitert damit das Geltungsspektrum des 18. Jahrhunderts. Ein Beispiel, das die Bedeutung des 18. Jahrhunderts stärkt, ist das des Unterrichtens. The Well-Tempered Clavier had become a fairly common vehicle for teaching piano and counterpoint already in the eighteenth century, at least in North and Central Germany, and the tradition continued and expanded considerably in the nineteenth century. In this process, the boundaries between using the Well-Tempered Clavier as a tool for teaching and for demonstrating ‚erudite‘ virtuosity were not always clearly definded […].45
Einflussnahme, Veränderung und Entwicklung durch Bachs Musik, ist also der Sache nach keine singulär kompositorische Angelegenheit. Wie Finscher betont, stellen Praktiken, wie z. B. die des Unterrichtens, Möglichkeiten dar, eine Präsenz von Bachs Musik zu konstatieren, ohne in eine argumentative Sackgasse zu geraten. Dort, wo nur wenige im engeren Sinne und vor allem aus der Sicht des 19. Jahrhunderts als Komposition zu bewertende Rückgriffe auf Bachs Musik zu finden sind, erzielt die Sichtweise, Rezeption ausschließlich als kompositorische und interpretatorische Auseinandersetzung zu begreifen, weiße Flecken auf der Landkarte. Weitet man den Fokus im Sinne einer Gesamtheit an Rezeptionspraktiken, bedeutet dies keine Beliebigkeit. Vielmehr werden Qualitäten des 18. Jahrhunderts hervorgehoben, wie z. B. eine ausgeprägte Unterrichtspraxis, in der die Grenzen der Rezeption von Bachs Musik zwischen Interpretation, Improvisation und Lehrwerk verschwimmen. Damit rückt das 18. Jahrhundert aus dem Legitimations-Dilemma heraus. 43 44 45
Darauf weisen auch Michael Heinemann und Hans-Joachim Hinrichsen in ihrem Vorwort zu Bach und die Nachwelt 1 hin. Vgl. Heinemann/Hinrichsen, Mit Bach, S. 13. Hermann Danuser / Friedhelm Krummacher, Vorwort, in: Dies. (Hgg.), Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, Laaber 1991, S. 10. Ludwig Finscher, Bachs Posthumous Role in Music History, in: Bach Perspectives 3 (1998): Creative Responses to Bach, from Mozart to Hindemith, hg. von Michael Marissen, S. 1–21, hier S. 7.
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
Auch sollen an dieser Stelle die Untersuchungen des Historikers Jürgen Osterhammel erwähnt werden, der für eine Sichtweise auf den oft als Umbruch bezeichneten Wechsel vom 18. ins 19. Jahrhundert als eine Phase der vielfältigen Übergänge sensibilisiert und dies explizit auf die Bach-Rezeption in diesem Zeitabschnitt bezieht.46 Er entkräftet die Annahme eines abrupten Umbruchs und stärkt stattdessen das Spektrum an Veränderungen auf sämtlichen Ebenen des kulturellen Lebens: Bildung, Kulturinstitutionen, musikalisches Arbeitsfeld. Für Osterhammel ist der Gegenstand von Geschichte die kulturelle Praxis und nicht die Werke, eben um fließende und weniger abrupte Veränderungen zu illustrieren. Mit dieser Perspektive Osterhammels, aber auch mit den zahlreichen Ansätzen der kulturwissenschaftlich orientierten Musikwissenschaft lässt sich Bach-Rezeption im Sinne einer kulturellen Praxis neu beleuchten.47 1.2 Ideologeme im Rezeptionsdiskurs Die Maßstäbe, mit denen Praktiken als Rezeption bzw. als Nicht-Rezeption oder Noch-Nicht-Rezeption bezeichnet wurden, sind meist rational nicht nachvollziehbar. Stattdessen lassen sich normativ eingefärbte Kriterien nachweisen, die den Bedeutungsinhalt von Rezeption regulierten. 1.2.1 Öffentlichkeit Die Kategorie Öffentlichkeit erhält in den Bedeutungszuweisungen von Rezeption implizit einen großen Stellenwert und wird zum Maßstab dafür, welche Praktiken als Rezeption verstanden werden und welche nicht. Als Rezeption werden im Forschungs-Diskurs diejenigen Praktiken bezeichnet, die in öffentlichen, d. h. öffentlich zugänglichen Räumen stattfanden. Praktiken, die dem Privaten oder den sogenannten semiprivaten Räumen zugeordnet werden, werden stattdessen unter Begriffen wie Pflege oder Tradition summiert. Diese binäre Systematik (Rezeption/ öffentlich, Nicht-Rezeption/privat) tritt besonders deutlich hervor, wenn zwischen einzelnen Phasen der Bach-Rezeptionsgeschichte unterschieden wird. Bei Hinrichsen heißt es: „Die noch unmittelbar auf Bach – über seine Kinder und seine Schüler – zurückreichende Tradition wurde beim Übergang zur nächsten Generation zu einer Angelegenheit bewusster Rezeption.“48 Dieser von Hinrichsen postulierte Umschwung von Tradition in bewusste Rezeption steht zu Beginn eines mit „Das frühe 19. Jahrhundert“ betitelten Abschnitts. Die nachfolgend dort summierten In46 47
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Jürgen Osterhammel, Übergänge ins 19. Jahrhundert – Anmerkungen eines Historikers, in: Beiträge 4, S. 21–40, hier S. 39. Vgl. Melanie Unseld, Die Kulturwissenschaften als Herausforderung für die Musikwissenschaften – und was sich daraus für die Historische Musikwissenschaft ergibt, in: Michele Calella / Nikolaus Urbanek, Historische Musikwissenschaft: Grundlagen und Perspektiven, Stuttgart 2013, S. 266–288. Hinrichsen, Art. „Rezeption“, S. 446.
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formationen lesen sich als nachträgliche Details und Beschreibung dessen, was zu Beginn des Abschnitts sehr vage unter „bewusster Bach-Rezeption“ gefasst wurde, und zwar: „öffentliche Präsenz“ im Zuge der ersten (unvollständigen) Gesamtausgabe, „öffentliche Reputation“, „breites Publikum.49 Forkels Bach-Biographie wird als „halb noch ein Dokument unmittelbarer Überlieferung, halb schon ein Resultat nüchterner wissenschaftlicher Forschung“ bezeichnet.50 Auch im Bach-Handbuch (1999) wird auf die vermeintliche Bewusstheit von Rezeption verwiesen.51 Christian Martin Schmidt fügt dem Wechsel von Nicht-Rezeption (Tradition) zu Rezeption ein räumliches Argument hinzu, wonach die Bach-Tradition des 18. Jahrhunderts trotz der „inhaltlichen Intensität in Berlin im lokalen Rahmen“ stattgefunden habe und „nicht auf Weltgeltung“52 angelegt gewesen sei. Auch wenn der Begriff „öffentlich“ nicht explizit verwendet wird, erhält die Frage nach Wirkung in die Öffentlichkeit („Weltgeltung“) als Maßstab von Rezeption eine wichtige Rolle in Schmidts Argumentation. Die Wiederaufführung der Matthäus-Passion im Jahr 1829 unter Felix Mendelssohn Bartholdys Leitung verkörpert in der Forschung stets den rasanten Anstieg von öffentlicher Wirkung, die das bachsche Werk entfaltet.53 Implizit erfährt die Gegenüberstellung von öffentlicher Rezeption und nichtöffentlicher Nicht-Rezeption (Tradition bzw. Pflege) eine Bewertung im Sinne von nüchtern bzw. wissenschaftlich (Rezeption) vs. unbewusst (Nicht-Rezeption). Diese Verknüpfung ist aber in den Quellen als solche nicht nachweisbar und deshalb rational und stringent nicht nachvollziehbar. Dennoch gibt es natürlich Quellen, wie z. B. wissenschaftliche Veröffentlichungen (u. a. Forkels Bach-Biographie), die eindeutig auf eine öffentliche Wahrnehmung ausgerichtet sind. Dass die durchweg als privat bzw. als verborgen bezeichneten Praktiken54 wie das innerfamiliale Aufführen oder das Unterrichten der in einem Haushalt ansässigen Kinder weniger bewusst stattgefunden haben sollten oder als weniger wirkungsvoll anzusehen seien, wird in den folgenden Untersuchungen problematisiert. Gerade die Beispiele der Familie Itzig und Mendelssohn Bartholdy zeigen, wie sehr innerfamiliale und häuslich-intime Praktiken durch bewusste Strategien motiviert wurden. Die Kategorie
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Ebd. Ebd. Die Bewertung von Forkels Bach-Monographie als Übergangstext, der zwischen den Prädikaten nichtwissenschaftlich und wissenschaftlich changiert, ist vor dem Hintergrund der Gattungsgeschichte der Musiker-Biographik und ihrer umstrittenen Rolle in der Musikwissenschaft insgesamt zu verstehen. Dass also Forkels Schrift im Aufsatz von Hinrichsen als nicht unproblematisch und nicht als zweifellos akzeptiertes – wie es heißt – „nüchternes“ Resultat musikwissenschaftlicher Forschung beschrieben wird, liegt auch daran, dass im 20. Jahrhundert die Biographik innerhalb des Fachs diskreditiert wurde. Siehe Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 367 ff. Hinrichsen, „Urvater der Harmonie“?, S. 34. Christian Martin Schmidt, Die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts kann man ohne Bach nicht schreiben, in: JbSIM 1994 (1995), S. 96–109, hier S. 100. Vgl. z. B. Werner Breig, Art. „Bach“, in: MGG2 Personenteil Bd. 1, Sp. 1514. Vgl. Wollny, Abschriften und Autographe, S. 27. und Christoph Wolff, Bach-Rezeption und -Quellen aus der Frühzeit und im Umfeld des Königlichen Instituts für Kirchenmusik zu Berlin, in: JbSIM 1993 (1993), S. 79–87.
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
Öffentlichkeit steht als Untersuchungsperspektive der Bach-Rezeption zwischen 1750 und 1829 kritisch zur Debatte. 1.2.2 Geschlecht Eng verbunden mit dem Aspekt der Öffentlichkeit ist jener der Geschlechterordnungen. Wie im zweiten Teil der Arbeit detailliert besprochen wird, haben Geschlechterordnungen auf die Bach-Geschichtsschreibung bereits im 18. Jahrhundert eine große Wirkung gehabt. Vor allem hinsichtlich der Nationalismus-Debatte um 1800 und der darin generierten Prämissen von Wissenschaftlichkeit bzw. Geschichtsschreibung war der Einfluss auf den Ein- bzw. Ausschluss von Frauen immens.55 Wie weiter unten gezeigt wird, kann die Relevanz von geschlechtskonnotierter Wissensproduktion bis in den heutigen Bach-Rezeptionsdiskurs hinein nachgewiesen werden. Besonders das Beispiel Sara Levy reflektiert den epistemisch wirkungsvollen Konnex zwischen Rezeption und Gender. Geradezu paradigmatisch wird die Bach-Auseinandersetzung Sara Levys als Bach-Pflege bezeichnet.56 So trägt der Aufsatz von Peter Wollny auch den Begriff Pflege im Titel. Bach-Rezeption wird als Beschreibung der Tätigkeiten Sara Levys kaum verwendet.57 Sara Levys BachPflege wird mit einem sogenannten Bach-Verehrertum58 in Verbindung gebracht, als dessen Ausdruck man das Sammeln und Musizieren bachscher Musik ansah – mit der klaren Zuweisung ins Private („Verborgene“).59 Anders als Rezeption ist Pflege zur Beschreibung eines Vorgangs, in dem ein Gegenstand oder eine Person Fürsorge oder im übertragenen Sinne Bewahrung erhält, hochgradig genderkonnotiert. Pflege gehörte im Geschlechterverständnis des 19. Jahrhunderts automatisch zum Aufgabenbereich von Frauen, die für alle innerhäuslichen und privaten Angelegenheiten (auch für die Pflege von Kranken, Alten, Kindern etc.) zu sorgen hatten. Dieses Rollenverständnis führte zu einem eingeschränkten Handlungsradius, z. B. hinsichtlich des kulturellen Engagements. Frauen blieb die Mitwirkung an Kulturproduktion im Sinne von Komposition oder öffentlicher Interpretation verwehrt. Wenn also Sara Levys Bach-Auseinandersetzung als Bach-Pflege be55 56 57
58
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Vgl. das Kapitel Bach, der Nationale (Teil II, Kap. 2.4). Vgl. die Aufsätze von Peter Wollny, Abschriften und Autographe, S. 27–64, und Ders., Zur Bach-Pflege im Umfeld Sara Levys, S. 39–49, sowie dessen Buch, Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus (= Beiträge 2). So wird im Aufsatz Wollnys, Zur Bach-Pflege im Umfeld Sara Levys, S. 39–49, Bach-Rezeption nur einmal, Bach-Pflege drei Mal für die konkrete Bach-Auseinandersetzung Sara Levys verwendet. Dieses Verhältnis trifft auch auf Peter Wollny, Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus (= Beiträge 2) zu. Martin Petzold, Die Neue Bachgesellschaft, S. 557–572, kennzeichnet Bachverehrung als einen Vorgang, in dem Bach erinnert und seine Werke gesammelt werden. „Bach-Verehrertum“ gehört wie „Bach-Pflege“ zu den Begriffen, die implizit bestimmte Bedeutungsebenen hervorkehren. „Verehrertum“ wird meistens mit einem unreflektierten Handeln in Verbindung gebracht. Vgl. Wollny, Zur Bach-Pflege im Umfeld Sara Levys, S. 39.
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schrieben wird, erhält dieser Terminus vor dem Hintergrund der Begriffsgeschichte von Pflege eine besondere Brisanz. Die Bach-Rezeption Sara Levys unhinterfragt als Bach-Pflege zu bezeichnen ist daher problematisch, weil das Stigma der Nichtbeachtung Sara Levys als Bach-Rezipientin, das die Sara-Levy-Forschung überwinden möchte, weitergeschrieben wird. Eben weil das Kriterium des Geschlechts, was bereits im 19. Jahrhundert zu determinierten Handlungsvorgaben für Sara Levy führte, erneut zur Exklusion aus dem im Diskurs anerkannten Bach-Rezipientenkanon beiträgt.60 Das Kompositum Bach-Pflege reproduziert das Geschlechterverständnis des 19. Jahrhunderts und perpetuiert die Exklusion weiblichen kulturellen Handelns aus der Musikhistoriographie. Beatrix Borchard hat auf die exklusiven Mechanismen im Kontext der BachRezeption Fanny Hensels aufmerksam gemacht. Fanny Hensel würde zwar rein zeitlich gesehen unter Titeln wie die Bach-Rezeption im Zeitalter Mendelssohns und Schumanns61 eingeschlossen, sie ist aber trotzdem nicht Teil dessen, was in der Forschung als Rezeption aufgefasst wird. Borchard begründet dies mit „Geschlechterkonventionen ihrer Zeit“, aufgrund derer sie nicht öffentlich wirksam werden konnte.62 Fanny Hensel wurde wie auch Clara Schumann nur als Interpretin und Lehrerin erfasst, war aber nicht Teil dieser vermeintlich ‚großen‘ Rezeptionserzählung. Es ergibt sich also eine Diskrepanz zwischen Chronologie einerseits und semantischer Struktur andererseits. Gleiches betrifft auch Sara Levy, Lea Mendelssohn Bartholdy und Rahel Varnhagen von Ense, die jede in unterschiedlicher Art und Weise zur Bach-Rezeption beigetragen haben. Sie werden bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in keiner Bach-Historiographie genannt oder ihre Tätigkeiten als Teil einer gesamten BachRezeption berücksichtigt. Anna Amalia von Preußen bildet im Zirkel dieser Frauen eine Ausnahme, die bei Gerhard Herz bereits als „tüchtige Musikerin“ und ihr musikalischer Salon als „einzige Zufluchtsstätte für die Lehre Bachs“63 bezeichnet wird. Bereits zu den Lebzeiten Sara Levys und Lea Mendelssohn Bartholdys wird die Geschichte der Bach-Rezeption, wie sie in den Zeitungsberichten A. B. Marx’ zum Ausdruck kommt, ohne sie erzählt.64 Wie kommt es dazu, dass Zeit ihres Lebens Bach-Rezeptionstätigkeiten dieser Frauen als nicht erwähnenswert betrachtet werden? Hier deutet sich bereits an, welche Wirkmacht das Paradigma, Bach-Rezeption als öffentlich-interpretatorische oder kompositorische Rezeption zu verstehen, entfaltete: Erst Ende des 20. Jahrhunderts werden diese Akteurinnen zum Thema der Bach-Rezeptionsforschung. Allerdings ist selbst da noch die Wirkmächtigkeit der alten Paradigmen deutlich zu 60 61 62 63 64
Vgl. das Kapitel Folgen: Bach-Rezeption zwischen Inklusion und Exklusion (Teil I, Kap. 1.3). Vgl. Beiträge 1. Beatrix Borchard, Einschreiben in eine männliche Genealogie? Überlegungen zur Bach-Rezeption Fanny Hensels, in: Beiträge 1, S. 59–76, hier S. 59. Herz, Johann Sebastian Bach im Zeitalter des Rationalismus, S. 33 f. Vgl. dazu Helmut Kirchmeyer, Ein Kapitel Adolf Bernhard Marx. Über Sendungsbewußtsein und Bildungsstand der Berliner Musikkritik zwischen 1824 und 1830, in: Walter Salmen (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Musikanschauung im 19. Jahrhunderts (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 1), Regensburg 1965, S. 73–101.
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
erkennen. Sara Levy wird bspw. im Artikel „Rezeption“ des Bach-Handbuchs65 aus dem Jahr 1999 nicht erwähnt, obwohl 1997 in Bach und die Nachwelt I bereits der Aufsatz von Peter Wollny über die Musikpraxis Sara Levys veröffentlicht wurde. Auch im Bach-Lexikon gibt es keinen Artikel zu Sara Levy. Konstitutionsmomente von Bach-Rezeption – im Sinne des bisherigen Forschungs-Diskurses – wie der Topos der Bach-Renaissance und die Reduzierung des Rezeptionsverständnisses auf die Kategorien Werk, Komponist und Interpret, trugen dazu bei, Bach-Rezeption als eine vornehmlich männliche Geschichte zu konstruieren und lösten den Ausschluss von Frauen aus der Bach-RezeptionsGeschichte aus. 1.2.3 Werk Die Idee des musikalischen Werks im Sinne eines autonomen und selbstreferentiellen Kunstwerks hat als implizites Kriterium zur Beschreibung von Praktiken als Rezeption bzw. Nicht-Rezeption eine erhebliche Wirkung. Es sind die Produktions- bzw. Reproduktionspraktiken, die als vermeintlich wesentliche – weil der Vorstellung eines autonomen Kunstwerks am nächsten stehenden – Praktiken von Rezeption bewertet werden. Weniger verfestigte Praktiken, wie z. B. das Unterrichten, das Vermitteln Bachs im Unterricht oder das Vernetzen von Bach-Experten, haben innerhalb dieses Konstrukts kaum Bedeutung. Der Nexus von Rezeption und normativem Werkbegriff ist schon im Rezeptions-Diskurs innerhalb der Musikwissenschaft angelegt. Hierzu ein kurzer Seitenblick in die Fachgeschichte: In den 1980er Jahren war die Auseinandersetzung mit dem Thema Rezeption im Fach besonders groß.66 Der Diskurs wurde allerdings vehement problematisiert, was dazu führte, dass Rezeption als Möglichkeit, Musikgeschichte zu schreiben, kompliziert wurde. Bezeichnenderweise tragen zahlreiche Aufsätze dieser Zeit die problematische semantische Konnotation von Rezeption bereits im Titel.67 Hintergrund für dieses schwierige Verhältnis ist vor allem der Werk-Begriff, mit dem operiert wurde und der das musikalische Werk als autonome und unanfechtbare Instanz betrachtete.68 Die Herausgeber – Bernd Sponheuer, 65 66
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Hinrichsen, „Urvater der Harmonie“?, S. 31–65. Vgl. die beiden Bände: Helmut Rösing (Hg.), Rezeptionsforschung in der Musikwissenschaft, Darmstadt 1983, und Hermann Danuser / Friedhelm Krummacher (Hgg.), Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft (Publikationen der Hochschule für Musik und Theater Hannover 3), Laaber 1991. Probleme der Musikgeschichte (in: Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte (MusikTaschen-Bücher Theoretica 15), Köln 1977, S. 237–259), Vom Nutzen und Nachteil der ‚Rezeptionsgeschichte‘ (Ders., Neue Zeitschrift für Musik 134, Heft 11 (1973), S. 686), oder Rezeptionsgeschichte als Problem der Musikwissenschaft (Friedhelm Krummacher, in: JbSIM. 1979/80 (1981), S. 154–170). Studien zur Rezeptionsgeschichte, wie sie bspw. Carl Dahlhaus durchgeführt hat, sind für diese Arbeit nicht anschlussfähig. Dahlhaus’ Rezeptionsbegriff basiert auf einem starren und normativen Werkbegriff, vor dessen Hintergrund sich sein Verständnis von Rezeption als nicht relevant für diese Arbeit herausgestellt hat. Siehe hierzu z. B. Dahlhaus, Probleme der Rezeptions-
1. Zur Forschungslage: Rezeption in der Bach-Historiographie
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Siegfried Oechsle und Helmut Well – der den vielversprechenden Titel Rezeption als Innovation. Untersuchungen zu einem Grundmodell der europäischen Kompositionsgeschichte tragenden Festschrift deuten Rezeption als „kompositorisch ausgetragene Auseinandersetzung sowohl mit einzelnen Werken und Komponisten als auch mit Gattungen, Satzmodellen, Stilkonzepten und ästhetischen Ideen“.69 Hier bleiben andere Formen der Auseinandersetzung mit Werken und Komponistinnen und Komponisten sowohl in der Interpretation als auch im Unterrichten etc. unberücksichtigt. Eine kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Traditionen von Rezeption im Fach Musikwissenschaft steht bisher noch aus.70 Die Bedeutungsreduktion von Bach-Rezeption ist also im Bezug zum akademischen Rezeptions-Diskurs zu sehen und wird hier als Folge des hohen Stellenwerts, den das Werk für die Tradierung des Rezeptionsbegriffs und dem ihm verwandten Wirkungsbegriff in der Musikwissenschaft hat, interpretiert. Ähnlich argumentiert Esteban Buch im Hinblick auf den Umgang der Forschung mit der Rezeption von Beethoven: […] les musicologues, biographes et autres critiques s’étaient toujours intéressés à la Wirkungsgeschichte, l’histoire des effets d’une œuvre sur d’autres œuvres; ou, si l’on prend les choses de l’autre côté, à la réception d’un compositeur par d’autres compositeurs.71
Nach einigen Absätzen vollzieht Buch den präzisen Rückbezug dieser Vorstellung von Rezeption hin zu einem Werkverständnis, das dem Werk einen autonomen Wahrheitsgehalt zuspricht. Dabei hat er vor allem Studien von Hans Heinrich Eggebrecht im Blick. La Wirkungsgeschichte est le lieu du déploiment de la vérité de l’œuvre, pour qui sait faire la part des choses entre le noyau (Kern) intemporel et l’enveloppe (Hülle) historique. Cette distinction est précisée dans un essai annexé [Hans Heinrich Eggebrecht: Zur Wirkungsgeschichte der Musik Beethovens. Theorie der Ästhetischen Identifikation], où l’auteur, par un retournement circulaire de son argument, conclut que tout discours nouveau est condamné à rester extérieur à ce ‚noyau‘ de vérité déjà énoncé par la tradition.72
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geschichte, S. 237–259, und Ders., Textgeschichte und Rezeptionsgeschichte, in: Danuser/ Krummacher (Hgg.), Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte, S. 105–114. Sponheuer/Oechsle/Well (Hgg.): Rezeption als Innovation, S. VII. Vgl. die Ausführungen in der Einleitung zu dieser Studie. Esteban Buchs Biographie von Beethovens Neunter Sinfonie dokumentiert eine alternative und sehr lohnende Art Rezeptionsgeschichte zu schreiben. Buch sensibilisiert für den Moral- und Ideologieanteil, der in Rezeptionsgeschichten enthalten ist, die die Tradition einer moralischen Wahrheit von Musikwerken verkünden. Vgl. Esteban Buch, Beethovens Neunte. Eine Biographie, Berlin/München 2000. In seinem Aufsatz Réception de la réception de Beethoven, in: Revue de Musicologie 88/1, 2002, S. 157–170, nimmt er dezidiert Stellung zur Epistemologie von Rezeption und Wirkung in der deutschen Musikwissenschaft. Buch, Réception, S. 158. („[…] die Musikwissenschaftler, Biographen und anderen Wissenschaftler waren schon immer an der Wirkungsgeschichte interessiert, an der Geschichte der Wirkung eines Werks auf andere Werke, oder, wenn man die Dinge andersherum betrachtet, daran, wie ein Komponist von anderen Komponisten rezipiert wird.“). Ebd., S. 162. („Die Wirkungsgeschichte ist der Ort, an dem die Wahrheit eines Werkes für jeden zu Tage tritt, der zwischen dem zeitlosen Kern und der historischen Hülle zu unterscheiden versteht. Diese Unterscheidung wird in einem beigefügten Essay verdeutlicht [Hans Heinrich Eggebrecht: Zur Wirkungsgeschichte der Musik Beethovens. Theorie der Ästhetischen Identifi-
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
Esteban Buch sieht in der Normativität des Werkbegriffs und der Werktreue die Ursache dafür, dass Rezeption vornehmlich als Rezeption eines Komponisten durch andere Komponisten verstanden wird. Rezeption erscheint dann als bloßer Austausch zwischen Komponist und Komponist bzw. Komponist und Interpret. Die Vorstellung von Musikgeschichte als einer Geschichte des aus sich heraus wirkenden Kunstwerkes („Wirkung“) beeinflusste die Kategorie Rezeption. Dieses ist auch mit Blick auf den aktuellen Bach-Forschungs-Diskurs zu bestätigen. Gerade im Kontext der Wiederaufführung der Matthäus-Passion im Jahr 1829 bekam der Werkbegriff im Rezeptions-Diskurs eine besondere Emphase, was sich paradigmatisch im Begriff Bach-Renaissance ausdrückte. Wie zahlreiche aktuelle Studien belegen,73 wird die im Begriff der Bach-Renaissance durchschimmernde Vorstellung einer radikalen Neuentdeckung Bachs durch Felix Mendelssohn Bartholdy als Konstrukt einer Ideologiebildung zunehmend dekonstruiert.74 Ist also im aktuellen Forschungs-Diskurs von Bach-Renaissance und dem ihm verwandten Begriff der Wiederentdeckung die Rede, wird seine Verwendung daher meist mit einer Erklärung versehen, die auf den ideologischen Charakter von „Bach-Renaissance“ hinweist und die Benutzung des Begriffes zu legitimieren verspricht. Im Bach-Lexikon heißt es z. B. unter dem Lemma „Wiederentdeckung“: „Mendelssohns Wiederaufführung bezeichnet also keineswegs eine ‚Wiederentdeckung‘ Bachs im weiten und nicht einmal eine ‚Wiederentdeckung‘ seiner Vokalmusik im engeren Sinne (bedeutende Vokalwerke wie die Motetten, die Messen und einige Kantaten waren auch vorher schon bekannt und publiziert).“75 Formulierungen dieser Art, die auf den ideologischen Charakter der Vorstellung einer Wiederentdeckung Bachs durch Felix Mendelssohn Bartholdy hinweisen, sind in der Forschung häufig zu finden.76 Auch der in der Forschung angebrachte Begriff der Bach-Renaissance schließt oft implizit ein kritisch zu bewertendes Werkverständnis ein, wie etwa bei Axel
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74
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kation], in dem der Autor durch einen Zirkelschluß nachweist, dass jede neue Aussage dazu verdammt ist, außerhalb dieses wahren „Kerns“ zu bleiben, der bereits durch die Tradition festgelegt ist.“). Siehe hierzu die Veröffentlichungen, die den Mythos der Wiederentdeckung Bachs durch Felix Mendelssohn Bartholdy dekonstruieren, z. B. Patrice Veit, Bach à Berlin en 1829: une „redécouverte“?, in: Annales: Histoire, Scicnces sociales 62/6 (2007), S. 1347–1386 und Celia Applegate, Bach in Berlin. Nation and Culture in Mendelssohn’s Revival of the St. Matthew Passion, Ithaca, N. Y./London 2005. Martin Geck kritisiert die unreflektierte Verwendung des Begriffes Bach-Renaissance und weist auf den Umstand hin, dass Begriffsfelder dieser Art „gern als mehr oder weniger naturwüchsige Phänomene“ hingenommen werden. Vgl. Geck, Als Praeceptor Germaniae, S. 35. Auch an anderer Stelle wurde versucht, den Begriff der „Bach-Renaissance“ zu dekonstruieren. Vgl. Helmut Rudloff, Beiträge zur Geschichte der Bach-Renaissance in Deutschland (1750– 1850), Diss. phil., Halle Wittenberg 1983 (masch.), und Martin Zenck, Stadien der Bach-Deutung in der Musikkritik, Musikästhetik und Musikgeschichtsschreibung zwischen 1750 und 1800, in: BJ 68 (1982), S. 7–32. Hinrichsen, Art. „Wiederentdeckung“, S. 564. Vgl. z. B. Gottfried Eberle, „Du hast mir Arbeit gemacht“. Schwierigkeiten der Bach-Rezeption im Umkreis der Sing-Akademie zu Berlin, in: JbSIM 1993 (1993), S. 88–97, hier S. 88, Heinemann/Hinrichsen, Mit Bach, S. 14, Wollny, Zur Bach-Pflege im Umfeld Sara Levys, S. 39, oder Lehmann, „Eines der vortrefflichsten Kunstwerke“, S. 357.
1. Zur Forschungslage: Rezeption in der Bach-Historiographie
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Fischer deutlich wird: „Zweifelsohne umweht ihn [d. h. den Begriff Bach-Renaissance] eine faszinierende Aura des Verborgenen, des Entdeckens und des Abenteuers.“77 Weiter heißt es dort: Zugleich ist eine Renaissance in dieser Bedeutung jedoch keineswegs ein Qualitätssiegel, sondern im Gegenteil ein Kainsmal, stigmatisiert der Begriff doch stets diejenigen Komponisten, die nicht durch sich selbst, d. h. aufgrund der Qualität ihrer Werke ihren gebührenden Platz im Musikleben einnehmen, sondern hierbei tätiger Hilfestellung bedürfen.78
Die Argumentation, der Begriff Bach-Renaissance dürfe deshalb nicht verwendet werden, da Bach dadurch Schaden nehmen würde, bedarf einer kritischen Distanzierung. Die Vorstellung, dass dem bachschen Werk eine eigene Qualität innewohne, die wiederum für die eigene Werktradierung sorgen könne, ist unter ideologiekritischem Blick problematisch.79 1.3 Folgen: Bach-Rezeption zwischen Inklusion und Exklusion Die hier beschriebenen Bedeutungszuschreibungen hatten elementare Folgen für die Art und Weise, wie die Bach-Rezeption des 18. Jahrhunderts in die Geschichte einging und bieten Erklärungen, weshalb diese Zeitspanne – z. B. durch unklare Begriffsverwendungen – in vielen Narrationen marginal und nebulös erscheint und warum es oft an Plastizität dessen mangelte, was als Bach-Rezeption vor 1829 konkret zu verstehen sei. Ursächlich für diesen historiographischen Missstand sind Bedeutungsimplikationen von Rezeption, die mit Blick auf die historischen Quellen nicht plausibel erscheinen. Wie am Beispiel der Zusammenhänge zur Fachgeschichte (Werkbegriff etc.) deutlich wurde, ist das historiographische Verschieben von Bedeutungen – das Hervorheben oder Vernachlässigen von Bedeutungskomponenten von Rezeption – Ausdruck einer wissenschaftlichen Praxis, die je nach historischem Kontext variiert, aber keinesfalls beliebig ist oder als implizit bewertet werden kann. In dem Prozess der Bach-Rezeptionsgeschichtsschreibung erfährt der realgeschichtliche Gegenstand „Bach-Rezeption zwischen 1750 und 1829 in Berlin“ historiographische Zuschnitte, die als Ergebnis dieser in der wissenschaftlichen Praxis hervorgebrachten, epistemischen Modellierung von Rezeption zu deuten sind. Vorliegendes Kapitel fasst zusammen, welche Bedeutungsinhalte bisher in das Begriffsmodell Rezeption inkludiert bzw. daraus exkludiert wurden und erläutert, worauf diese Einschluss- bzw. Ausschlussmechanismen beruhen.
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Fischer, Die Bach-Renaissance im 19. Jahrhundert, S. 9. Ebd. Die Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule verortet die Rolle des Kunstwerks für seine Tradierung gänzlich neu: „Tradition im Bereich der Kunst ist kein organisch-selbsttätiges Werden, substantielles Sich-Erhalten oder bloßes ‚Bewahren des Erbes‘: Tradition setzt Selektion voraus, wo immer eine Wirkung vergangener Kunst in gegenwärtiger Rezeption erkennbar wird.“ Hans Robert Jauß, Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, 41994, S. 353–400, hier S. 387.
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
Für die Historiographie der Realgeschichte hat der Fokus auf die kompositorische und öffentlich-interpretatorische Auseinandersetzung mit Bach Folgen. Der Schwerpunkt liegt einzig auf der Praxis der Komposition und der öffentlichen Interpretation statt auf einem Netz an Praktiken, die letztendlich die Praxis der Komposition und der öffentlichen Interpretation unmittelbar bedingen. Damit gerät eine pluralistische Darstellung von Praktiken, Akteurinnen und Akteure in den Hintergrund. Mit der Reduktion von Rezeption auf kompositorische und öffentlichinterpretatorische Auseinandersetzungen geht auch eine Abqualifikation anderer Praktiken als Noch-Nicht-Rezeption einher. Das Sammeln, Unterrichten, Diskutieren, Verlegen, Spielen, Hören von Bach fällt aus dem Bereich von Rezeption heraus. Warum das Etikett der Noch-Nicht-Rezeption als Qualitätsmerkmal dient, hängt wiederum mit der Fachgeschichte und dem Status von Rezeption im Vergleich zu anderen alternativen Begriffe wie z. B. Bach-Pflege zusammen. Rezeption ist der etablierteste Begriff innerhalb der Bach-Forschung und wird in Titeln von Sammelbänden, Monographien oder in Überschriften von Aufsätzen weitaus häufiger verwendet als z. B. Bach-Pflege oder Bach-Tradition.80 Von den möglichen Termini, die als Beschreibung posthumer Auseinandersetzungen mit Bach hätten Verwendung finden können, scheinen im Bach-Lexikon nur Rezeption und Wiederentdeckung auf.81 Bach-Rezeption knüpft anders als Pflege, Tradition oder Überlieferung an theoretische Paradigmen an (wie z. B. an einen ideologischen Werkbegriff), vor allem aus dem Grund, dass Rezeption selbst in Gestalt der historischen und ästhetischen Rezeptionsforschung zu einem eigenständigen Forschungszweig der Musikwissenschaft geworden ist. Bach-Rezeption ist unter den hier erwähnten Begriffen (Tradition, Pflege, Überlieferung) derjenige, der den größten Bezug zur Fachgeschichte und den im Fach diskutierten Themen aufweist. Stellt man sich eine Skala vor, die das Anknüpfungspotenzial von Begriffen zu Diskursen im Fach Musikwissenschaft und ihre wissenstheoretische Akzeptanz einstuft, so wäre Bach-Rezeption im oberen Bereich dieser Skala und vor Bach-Überlieferung oder Bach-Pflege zu finden. Hinsichtlich der Akteurinnen der frühen Bach-Rezeption wurde das ausschließende Potenzial des Rezeptionsmodells besonders greifbar. Innerhalb des Rezeptions-Diskurses führten die Geschlechterkonventionen der Zeit mit ihrem Fokus auf die Kategorien des Komponisten und Interpreten dazu, dass weibliche Akteurinnen nur bedingt und größtenteils nicht öffentlich wirksam werden konnten. So stellt Beatrix Borchard in Bezug auf Fanny Hensels Wirken als Bach-Rezipientin fest, dass die „Traditionslinie Bach-Beethoven […] zu Fanny Hensels Lebzeiten von Freunden wie Adolph Bernhard Marx als eine explizit deutsche und männliche konstruiert“82 wurde. Das Paradigma des Geschlechts ist bis in den heutigen 80
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Gibt man in der Literatur-Datenbank RILM die Stichworte „Bach-Rezeption“, „Bach-Überlieferung“, „Bach-Tradition“ und „Bach-Pflege“ ein, so erhält man für den Zeitraum 1985–2015 folgendes Verhältnis hinsichtlich der Anzahl der Veröffentlichungen: 213:14:66:52 (Stand: 30.04.2015). Heinemann (Hg.), Bach-Lexikon. Borchard, Einschreiben in eine männliche Genealogie?, S. 76. Vgl. zu diesem Themenkomplex auch Janina Klassen, Von Vor- und Übervätern, S. 51–58.
2. Zur Methode: Rezeption als Praxis
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Forschungs-Diskurs hinein wirkmächtig, u. a. wenn wie im Falle Sara Levys aufgrund des Geschlechts Praktiken nicht als Rezeption, sondern als Pflege bezeichnet werden. 2. ZUR METHODE: REZEPTION ALS PRAXIS Der Rezeptionsbegriff – das hat die Analyse in den vorherigen Kapiteln deutlich gemacht – muss hinsichtlich seiner Bedeutung revidiert werden. Die verengte Vorstellung von Rezeption weicht in dieser Arbeit einem weiten Rezeptionsverständnis, in dem Rezeption – angeregt durch die Verankerung des Rezeptionsbegriffes in Ansätzen der Praxistheorie und der Erinnerungsforschung – als kulturelle Praxis verstanden wird. In diesem Sinne referiert der Begriff der Rezeption auf ein Netz von Rezeptionspraktiken, in denen Auseinandersetzungen mit J. S. Bach unterschiedlichster Ausprägung zum Ausdruck kommen. In dieser Arbeit wird daher eine Definition vorgeschlagen, die Rezeption als ein Tableau von musikbezogenen Praxisformen versteht. Damit einher geht eine Aufwertung von Tätigkeiten wie dem Sammeln, Unterrichten, Einstudieren, Reflektieren, Fördern und Vernetzen. Außerdem trägt diese Definition zu einer differenzierteren Bewertung von bisher unbeachteten Zusammenhängen zwischen sogenannter Bach-Pflege, Bach-Überlieferung sowie Bach-Tradition und öffentlich-interpretatorischer bzw. kompositorischer Rezeption bei. Die Akzentuierung von Rezeption als kultureller Praxis soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tätigkeiten, wie Komposition oder öffentliche Interpretation selbst eine Praxis darstellen. Mit Hilfe des praxeologischen Blicks soll die Vielfalt und die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den bisher in der Forschung als relevant erachteten Praktiken und den hier ins Zentrum gerückten Praktiken herausgearbeitet und betont werden. Bisher bestimmte das Priorisieren von Praktiken und das Hierarchisieren bestimmter Rezeptionsphasen die Erzählung der Bach-Rezeption. Sinnvoller erscheint es, die Struktur der Rezeptionspraxis vor 1829 selbst in den Blick zu nehmen, also die Ablösung und Transformation von Praktiken und ihre Regelmäßigkeiten zu untersuchen. Ziel ist es, erzeugte Hierarchien zwischen Bach-Rezeptionspraktiken und zwischen einzelnen Bach-Rezeptionsphasen aufzulösen und stattdessen die Vielfalt an Praktiken und Akteuren herauszuarbeiten (Kapitel 2.1). Der Fokus liegt auf Musikpraktiken, die von Frauen etabliert wurden. Hier lassen sich in besonderem Maße weniger verfestigte Rezeptionspraktiken, etwa das Unterrichten, das private Musizieren und die Konstitution von Musikräumen, nachweisen, die in Folge des reduktionistischen Rezeptionsbegriffs defizitär behandelt wurden, aber für den hier etablierten pluralistischen Rezeptionsbegriff von besonderem Interesse sind (Kap. 2.2). Abschließend wird die Historizität der Praktiken, d. h. ihre Verwobenheit, ihre Ablösung voneinander, ihre Transformation aus anderen kulturellen und sozialen Kontexten, als methodische Untersuchungsebene herausgearbeitet (Kapitel 2.3).
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
2.1 Praxisvielfalt statt Praxisreduktion Der hier zum Ausdruck kommende Fokus auf die Vielfalt und Diversität von Rezeptionspraxis basiert auf der Annahme, dass im Rezeptionsdiskurs der Bach-Forschung eine Reduktion von Rezeptionspraxis stattgefunden hat und nicht, dass die bisher bevorzugten Praktiken wie Komposition und Interpretation kein Ausdruck einer Rezeptionspraxis seien. Zur Debatte steht nicht eine vermeintliche Nicht-Praxis (Komposition, Interpretation), sondern die Bedeutungsengführung des Gesamtphänomens Rezeption. Um für die Unterschiede zwischen im Forschungs-Diskurs etablierten Produktions- bzw. Reproduktionspraktiken und eher losen, im kulturellen Gedächtnis weniger verfestigten Praktiken zu sensibilisieren, bedarf es methodischer Prämissen wie der Akzentverlagerung vom Werk in das soziale Alltagsverhalten (Kapitel 2.1.1) und des Fokus auf die Materialität praktischer Phänomene (Kapitel 2.1.2). Auf die angemessene Darstellung und Bewertung kultureller Praxis verweisen aktuell vor allem Praxistheorien, wie sie in der Ethnologie, Anthropologie und Soziologie entwickelt und erprobt wurden.83 Verschiedene musikwissenschaftliche Ansätze wie z. B. der des „musikkulturellen Handelns“ beinhalten praxisrelevante Aspekte. Unter dem Konzept des musikkulturellen Handelns hat sich innerhalb der Genderforschung in der Musikwissenschaft eine Forschungsrichtung konstituiert, die Musikgeschichte als Netz von Handlungsformen untersucht.84 Der Impuls für diese methodische Ausrichtung generierte sich aus dem Bestreben, das musikbezogene Handeln von Frauen in der Musikgeschichte sichtbar zu machen und die Musikhistoriographie und Methoden musikwissenschaftlichen Arbeitens hinsichtlich ihrer epistemologischen Prämissen zu hinterfragen. 2.1.1 Akzentverlagerung vom Werk in das soziale Alltagsverhalten Mit der Ausweitung des Rezeptionsverständnisses auf lose, weniger verfestigte Praktiken rückt der soziale Nahbereich auf gesellschaftlicher Mikroebene ins Zentrum des Interesses. Das Rezeptionsverhalten in öffentlichen Diskursen oder Institutionen nachzuzeichnen, würde primär das musikalische Werk in den Mittelpunkt 83
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Der Band Praxis denken. Konzepte und Kritik, hg. von Thomas Alkemeyer / Volker Schürmann / Jörg Velbers (Wiesbaden 2015) dokumentiert den aktuellen Forschungsstand und thematisiert aus einer kritischen Distanz heraus zentrale Aspekte praxistheoretischer Ansätze. Aufgrund der Vielzahl an interdisziplinären Ansätzen ist momentan nicht von einer Praxistheorie zu sprechen, sondern vielmehr von unterschiedlich ausgeprägten praxistheoretischen Ansätzen, die sich selbst noch im Wandel befinden. Sven Reichardt, Praxeologische Geschichtswissenschaft, spricht von der Praxeologie als einer „theoretische[n] Suchbewegung“, S. 63. Vgl. vor allem die Forschungen von Susanne Rode-Breymann, die dem Ansatz von Peter Burke, Was ist Kulturgeschichte? Frankfurt a. M. 2005, folgt, die Geschichte der Kunst als eine Geschichte der Praxisformen zu schreiben: Susanne Rode-Breymann, Wer war Katharina Gerlach? Über den Nutzen der Perspektive kulturellen Handelns für die musikwissenschaftliche Frauenforschung, in: Dies. (Hg.), Orte der Musik. Kulturelles Handeln von Frauen in der Stadt, Köln 2007, S. 269–284.
2. Zur Methode: Rezeption als Praxis
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rücken und damit vor allem die bisher bevorzugten Praktiken wie Komposition und öffentliche Interpretation berücksichtigen. Praxistheorien stellen die Bedeutung kultureller Praxis selbst zur Debatte. Sie machen bewusst, wie einengend Perspektiven, die von einem Werk ausgehen, die Praxis abbilden. Praxis verharrt in solchen Modellen in der Rolle des methodischen Dienstleisters, der den Kontext des Werks oder der musikalischen Aufführung lediglich abbildet, statt selbst Kultur hervorzubringen. Die damit implizit vorgenommene Trennung von Methode (kultureller Praxis) und Gegenstand (Werk) wird von praxistheoretischen Ansätzen problematisiert. Denn hier wird Praxis nicht als historischer Gegenstand sui generis verstanden, sondern zum Hervorbringen von Historie benutzt. Musikalische Praxis sei – so der Musiksoziologe Antoine Hennion – eben nicht methodisches Beiwerk, Kontext des musikalischen Werks, sondern Ausdruck musikkultureller Entwicklung selbst.85 Praxistheorien gehen von einem Praxisbegriff aus, der – ganz im Sinne des griechischen Wortes „prā́ xis“ (πρᾶξις) – als gemeinsames Tun definiert wird und der sich abgrenzt vom schöpferischen, intentionalen und zweckgebundenen Produzieren „poiesis“ (ποιέω). Mit Praxis, so Thomas Bedorf, ist in einer minimalen Bestimmung das „geteilte, wiederholte Tun“ gemeint, „das nicht von seiner Zwecksetzung her gedacht und beschrieben wird, sondern ‚bloß‘ in seinem Vollzug“.86 Diese Differenz zwischen Produzieren und dem gemeinsamen Tun bildet den Hintergrund, vor dem sich die hier eingenommene Perspektive einer Akzentverschiebung vom Werk in das soziale Alltagsverhalten begreifen lässt. In Analysen, denen die Idee eines Werks zugrunde liegt, kommt der soziale Aspekt von Handlungen in elaborierten und zweckgebundenen Praxisformen wie dem Aufschreiben oder dem Produzieren (z. B. Komposition) zur Geltung. Praxisformen, die sich nicht in Werken manifestieren und in ihrem Wesen oft fragiler sind, etwa musikalische Aneignungsprozesse wie z. B. das alltägliche Üben und Unterrichten, das Ermöglichen von musikalischen Erfahrungen in der Erziehung oder das Einflechten von Musikaufführungen in gesellschaftliche Versammlungen, geraten aus praxistheoretischer Sicht in den Vordergrund. Eben diese Praxisformen werden sich im Laufe dieser Studie als zentrale Träger der frühen Bach-Rezeption herauskristallisieren.
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Antoine Hennion, Music Lovers: Taste as Performance, in: Theory, Culture, Society 18/5 (2001), S. 1–22. In diesem Sinne erscheint der musikalische Amateur nicht als passiver Konsument, der einer immanenten Ästhetik des Werks folgt, sondern als Akteur musikalischer Praxis im Sinne der produktiven Kraft von Geschmack. Siehe hierzu auch Antoine Hennion, Music and Mediation. Toward a New Sociology of Music, in: Martina Clayton / Trevor Herbert / Richard Middleton (Hgg.), The Cultural Study of Music. A critical Introduction, New York/London 2003, S. 80–91. Neuerdings ergänzte Hennion seine Soziologie der Mediation durch den Begriff des Attachments, siehe Antoine Hennion, Von einer Soziologie der Mediation zu einer Pragmatik der Attachements. Rückblick auf einen soziologischen Parcours innerhalb des CSI, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2013), S. 11–35. Thomas Bedorf, Leibliche Praxis. Zum Körperbegriff der Praxistheorien, in: Thomas Alkemeyer / Volker Schürmann / Jörg Velbers, Praxis denken. Konzepte und Kritik, Wiesbaden 2015, S. 129–150, hier S. 130.
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Eine methodenkritische Grundierung: Bach und Rezeption
Zwei Aspekte können die Charakteristik des Praxisbegriffs konkretisieren: Implizites Wissen und Performativität. Praxistheorien gehen von einem impliziten Praxis- und Erfahrungswissen aus, das die Praktiken generiert, erhält oder transformiert.87 Im Fokus des praxeologischen Interesses stehen also nicht die Regeln oder Normierungen, die hinter einem Tun zu vermuten sind (Ausbildung, gesellschaftliche Diskurse etc.), sondern, die „beobachtbare[n] Regelmäßigkeiten im impliziten Regelwissen der Akteure, welche diese in ihren Handlungsvollzügen zum Ausdruck bringen“.88 Die Grundlage für die Annahme eines impliziten Wissensaustausch zwischen Akteuren bzw. zwischen Akteuren und Artefakten, bildet das körperliche Wissen. Mittels des körperlichen Wissens – Schatzki spricht von den „skilled bodies“89 und Bourdieu von der körperlichen Dimension des Sozialen im Rahmen seines Habitus-Konzepts90 – vollziehen, inszenieren und schreiben sich Praktiken fort und nicht mittels eines bewusst gefassten mentalen Plans.91 Die Perspektive der Praxis bezieht also den Akteur in seiner Leiblichkeit, mit seinem körperlichen Wissen mit ein. Möchte man verstehen, wie die Musik Bachs im Alltag behandelt (d. h. ausgeführt und reflektiert) wird, richtet sich der Blick auf die routinierten, fest in familialen oder allgemeingesellschaftlichen Prozessen verankerten Praktiken (wie z. B. in einem Salon), die zu einem großen Anteil implizit d. h. unausgesprochen, also stumm funktionieren. Das Vorwissen und die Erfahrungen der Akteure spielt für praxeologische Analysen eine untergeordnete Rolle. Stattdessen steht die Performativität der Praxis im Vordergrund (das Denken geschieht im Handeln). Vorstellungen und Erfahrungen werden demnach nicht als „Bestandteil oder Eigenschaften von Personen, sondern immer nur in Zuordnung zu einer Praktik“92 verstanden. „Statt zu fragen, welches Wissen eine Gruppe von Personen […] ‚besitzt‘, lautet die Frage, welches Wissen in einer bestimmten sozialen Praktik zum Einsatz kommt.“93 Akteure reproduzieren aus praxistheoretischer Sicht nicht nur vorgegebene kulturelle Schemata, sondern transformieren soziale Ordnungen. Diese Möglichkeit der Transformation von sozialen Ordnungen bildet die Grundlage u. a. dafür, den Transformationsprozess, den ‚Bach‘ im Salon Sara Levys erfährt, zu verstehen. Rezeption als Hervorbringung von Kultur zu verstehen und das Alltägliche in den Blick zu nehmen, bedeutet in Bezug auf Bach und die Auseinandersetzungen 87 88 89 90 91 92 93
Karl H. Hörning, Kultur und soziale Praxis. Wege zu einer ‚realistischen‘ Kulturanalyse, in: Andreas Hepp / Rainer Winter (Hgg.), Kultur-Medien-Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen 1997, S. 31–45, hier S. 34. Reichardt, Praxeologische Geschichtswissenschaft, S. 53 f. Theodore Schatzki, Introduction: PracticeTheory, in: Theodore Schatzki / Karin Knorr Cetina / Eike von Savigny (Hgg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2001, S. 1–14, hier S. 3. Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987, S. 97–120. Bedorf, Leibliche Praxis, S. 130. Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), S. 282–301 (ND in: Ders., Unscharfe Grenzen, S. 97–130), hier S. 292 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 292 (Hervorhebung im Original).
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mit seiner Musik, die Rezeptionspraktiken als soziale Praxisformen zu verstehen und die Lebensweltlichkeit dieser Bach-Rezeptionspraxis zu betonen. Der Fokus liegt auf der jeweiligen Situativität der zu untersuchenden Praxis, z. B. auf der Integration im sozialen Alltag und auf sozialen Einheiten wie Routine und Wiederholung. Lose, weniger verfestigte Praktiken, die im Zentrum dieser Arbeit stehen, erhalten aus praxistheoretischer Perspektive eine deutliche Aufwertung. Es lassen sich Wirkungszusammenhänge zwischen diesen losen, meist in privaten Kontexten stattfindenden Praktiken und verfestigten Produktions- bzw. Reproduktionspraktiken darstellen, wie dies z. B. mit Blick auf den Salon Sara Levys und dessen Funktion als Vorbild für größere Reproduktionskontexte bspw. der Sing-Akademie zu beobachten ist.94 2.1.2 Materialität Praxistheorien messen der Materialität von Artefakten und den spezifisch räumlichen Kontexten ihres Gebrauchs große Bedeutung bei. Artefakte werden nicht als technische Hilfsmittel verstanden, „sondern als Gegenstände, deren sinnhafter Gebrauch, deren praktische Verwendung Bestandteil einer sozialen Praktik selbst darstellt“.95 Praktiken existieren in der Auseinandersetzung mit Artefakten. Sie sind selbst materielle Träger von „eingebauten sozialen Regeln“ und damit „dauerhafte Depots sozialen Wissens, sozialer Fähigkeiten und Zweckmäßigkeiten“.96 Die spezifische Materialität der Dinge hat Einfluss auf die Praktiken an sich. Sie kann Gebrauchsweisen erschweren oder stabilisieren und Routinen und Gewohnheiten hervorbringen. Andreas Reckwitz verwendet das Beispiel des Schreibens: „Eine Praktik – wie etwa die Praktik des Schreibens – bezieht sich dann auf eine Mikroeinheit, eine Alltags- und Kulturtechnik, die aber notwendigerweise – im Beispielfall etwa im spezifisch trainierten Schreibkörper, in den Schreibwerkzeugen, Schreiborten etc. – durch materiale Einheiten getragen wird, die die Praktik ebenso ermöglichen wie einschränken.“97 Die Materialität und Körperlichkeit von Praktiken und das in ihnen generierte routinierte und praktische Wissen soll der scheinbar intellektuelleren Dominanz von Diskursen entgegen gestellt werden.98 Die starke Konzentration auf die Diskurse war in der Bach-Rezeptions-Geschichtsschreibung lange der Grund dafür, dass bestimmte Quellen, bestimmte Akteure und Akteurinnen nicht berücksichtigt
94 95 96 97 98
Vgl. das Kapitel Mikro-Blick Sara Levy: Bach praktizieren im Salon (Teil III, Kap. 3.). Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 292 (Hervorhebung im Original). Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012, S. 63. Andreas Reckwitz, Die Materialisierung der Kulturtheorien, in: Reinhard Johler (Hg.): Kultur_ Kultur. Denken – Forschen – Darstellen. 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Tübingen 2011, Frankfurt a. M. 2013, S. 28–37, hier S. 35. Vgl. Reckwitz, Unscharfe Grenzen, S. 194.
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wurden, weil sie nicht als Teil des als zentral geltenden philosophisch-ästhetischen Diskurses bewertet wurden. Auch für die Analyse von musikalischen Praxisformen spielen Artefakte eine gewichtige Rolle. Entwicklungen im Instrumentenbau und die damit zusammenhängende sich wandelnde Klangästhetik stellen Aspekte dar, die für die Analyse einer Bach-Rezeptionspraxis bedeutsam sind. Die involvierten Instrumente und ihr Arrangement im Raum ermöglichen z. B. die Probenpraxis der Sing-Akademie bzw. schränken diese ein, indem damit eine von Bach angelegte Klanggestalt realisiert wird oder nicht.99 Auch Sara Levy und Lea Mendelssohn Bartholdy befassen sich mit Aspekten des Cembalobaus, die wiederum als Spiegelbild ihrer klangästhetischen Präferenzen interpretiert werden können. Vor allem das Notenmaterial, seine Herstellungsweise und seine spezifische Ausprägung – ob als (autographe) Handschrift, als Notendruck oder als Bestandteil einer Gesamtausgabe – beeinflussen die Rezeptionspraxis. Autographe Handschriften galten z. B. bereits Mitte des 18. Jahrhunderts als besonders wertvoll und regulierten das Sammelverhalten vieler Akteurinnen und Akteure. Ebenso stellen Texte, in denen Bach reflektiert wird, eine bestimmte Form schriftlich materialisierter Erinnerung dar. Diese das Material betreffende Spezifik erhält in den Untersuchungen große Aufmerksamkeit. Verschiedene Texttypen werden als eine bestimmte Ausprägungsform von Erinnerungswissen über Bach verstanden, an dem je spezifisch unterschiedliche Akteurinnen und Akteure Anteil hatten. Melanie Unseld untersucht das Verhältnis von Musik und kulturellem Gedächtnis und betont, dass Musik in ein erinnerbares Medium transformiert werden muss: Musik bedarf einer Konkretion in ein erinnerbares Medium. Dieses Medium ist eine Codierung, etwa eine Notation, ein Tonträger, eine Beschreibung der Musik in Sprache o. a.100
Die Konkretion von Bach-Erinnerung in ein erinnerbares Medium ist somit selbst als eine Rezeptionspraxis zu begreifen, die in eine spezifische Entstehungssituation eingebettet ist. Ein musiktheoretisches Traktat erfordert andere De-Codierungsmethoden als eine Anekdote. Ein Archiv wurde unter anderen Umständen hergestellt als eine Liebhabersammlung. Diese Vielgestaltigkeit des Bach-Materials ist für die Beurteilung der frühen Rezeptionspraxis und ihrer alltäglichen Aushandlungsprozesse von großer Bedeutung. 2.2 Weibliche Handlungsräume Mit den beiden Mikro-Blicken rückt diese Studie zwei Praxisräume in den Mittelpunkt, die primär von Frauen gestaltet wurden. Diese werden nicht nur deshalb untersucht, weil sie ein Forschungsdesiderat innerhalb der Bach-Forschung darstellen, sondern weil sie einen Pool an zu untersuchenden Praktiken bereitstellen, die in besonderer Weise die hier im Zentrum stehende häuslich-intime und familiale Facette von Rezeption verkörpern. Dieser Bereich von Rezeption unterscheidet 99 Vgl. den Abschnitt Bach institutionalisieren im Kapitel Der Verein (Teil III, Kap. 2.5). 100 Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 56.
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sich von der im öffentlichen Diskurs verhandelten Rezeptionspraxis. An ihr lassen sich neue Zusammenhänge von Bach-Rezeption – sowohl historisch als auch strukturell – nachweisen. Die von Frauen etablierte Musikpraxis stellt einen besonders geeigneten Untersuchungsgegenstand dar, an dem sich die Vielfalt des hier vorgeschlagenen Rezeptionsbegriffs nachweisen lässt. Die im 18. Jahrhundert vorherrschenden Geschlechterordnungen hatten großen Einfluss auf kulturschaffende Frauen.101 Der Einbezug dieser Geschlechterordnungen ermöglicht das Verständnis von geschlechtlich konnotierten Handlungsfeldern, wie z. B. dem der Mutter als Erzieherin oder das der Nachlassverwalterin.102 Diese Handlungsräume beeinflussten auf je spezifische Weise die Entwicklung von Musikkultur. Für diese geschlechtsabhängigen kulturellen Erscheinungsformen hat vor allem die kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung sensibilisiert.103 Aber nicht nur auf methodisch-analytischer Ebene ist die Erinnerungsforschung für die Bewertung weiblicher Handlungsräume relevant. Sie reflektiert die Art und Weise, wie die Praxis von Frauen im Vergleich zur Praxis von Männern in die Geschichte eingegangen ist. Dieser die Historiographie betreffende Aspekt ist für die Frage, welche Bedeutungsinhalte in der Geschichte der Bach-Rezeption erinnert bzw. vergessen wurden, relevant und betrifft die dieser Arbeit auf einer Metaebene übergeordnete Frage nach Rezeption als einem historiographischen Modell. Zentraler Aspekt in der Relevanz von Gender für die Erinnerungsforschung ist das Zusammendenken von Erinnern und Vergessen als den beiden Funktionsweisen des kulturellen Gedächtnisses. Die Frage, ob etwas oder jemand erinnert wird, d. h. als Wissensbestand in den Wissensspeicher übernommen wird, verweist auf die Kriterien, mit denen über das Vergessen oder das Erinnern entschieden wird. Dies betrifft die Erinnerungswürdigkeit einer Person oder eines Ereignisses. Diese Gegenstände sind allerdings wiederum selbst „veränderbar und verhandelbar“.104 Die Einschätzung, ob etwas oder eine Person bedeutsam, sinn- und identitätsstiftend ist, wird geprägt durch die Gegenwart, in der sich der Erinnernde erinnert. Hier ist der jeweils gegenwärtige Wert von Erinnerung entscheidend: Erinnertes wird für
101 Vgl. dazu u. a. Sigrid Lange (Hg.), Ob die Weiber Menschen sind. Geschlechterdebatten um 1800, Leipzig 1992 und Ute Frevert, „Mann und Weib und Weib und Mann“. Geschlechterdifferenzen in der Moderne, München 1995. Zum musikspezifischen Diskurs vgl. u. a. Marcia Citron, Gender and the Musical Canon, Cambridge u. a., 1993, Rebecca Grotjahn, Domino-Effekte. Überlegungen zu einer Geschlechtergeschichte der Musik, in: Annette Kreutziger-Herr u. a. (Hgg.), Gender Studies in der Musikwissenschaft – Quo vadis? Festschrift für Eva Rieger zum 70. Geburtstag (Jahrbuch Musik und Gender 3), Hildesheim u. a. 2010, S. 71–82. 102 Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart. Zum Thema Nachlassverwaltung von Künstlernachlässen siehe auch Volkmar Hansen / Ulrike Horstenkamp / Gabriele Weidle (Hgg.), Von Künstlernachlässen und ihren Verwaltern (Eine Publikation des Arbeitskreises selbstständiger Kultur-Institute e. V. – AsKI), Bonn 2011. 103 Vgl. dazu u. a. Aleida Assmann, Kanon und Archiv – Genderprobleme in der Dynamik des kulturellen Gedächtnisses, in: Marleen Bidwell-Steiner / Karin S. Wozonih (Hgg.), A Canon of Our Own? Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies, Innsbruck 2006, S. 20–34. 104 Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 45.
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den Erinnernden identitätsstiftend, wenn daran z. B. der eigene Ruhm wächst.105 Die Kategorie Geschlecht spielte für die Bewertung von Erinnerungswürdigkeit eine immense Rolle. Die Beschaffenheit des kulturellen Gedächtnisses spiegele, so Aleida Assmann, Vorstellungen von Genealogie, Autorität und Macht wider, die „patriarchalischen, nationalen oder imperialen Prinzipien folgen“106 können. Erinnern und Vergessen prägen auch die Historiographie der Bach-Rezeptionsgeschichte, was sich vor allem in dem Geschichtsmodell des Umbruches 1829 bzw. der als solche bewerteten Rezeptionslücke im 18. Jahrhundert zeigt. Rezeptionspraktiken, die sich nicht den Kategorien Interpretation oder öffentliche Komposition zuordnen ließen, galten weitgehend bis ins 20. Jahrhunderts hinein als nicht erinnerungswürdig und wurden aktiv vergessen. Gleiches betrifft die Akteurinnen und Akteure, wie z. B. Sara Levy. Nicht-Erinnern bzw. Vergessen ist im Fall Sara Levys ein Hinweis dafür, dass ihre Rezeptionspraxis aufgrund ihres Geschlechts lange Zeit nicht als identitätsstiftend für die Erzählung der Bach-Rezeptionsgeschichte gegolten hat. Insofern kann auch der „Ausschluss von Wissensbeständen aus Wissensspeichern“107 auf eine, den ursprünglichen Sinn verfremdende Art ‚Identität‘ stiften. 2.3 Historizität von Praktiken Praxisformen haben ihre eigene Geschichte: Jede Form stellt für sich einen zeitlichen Prozess dar und hat eine Eigenbewegung, d. h. einen Anfang und ein Ende in Abhängigkeit zum Raum und zu den Artefakten. Praktiken sind darüber hinaus auch in sofern historisch, als dass sie auf eine je eigene Historie verweisen. Es lässt sich z. B. untersuchen, wie sie sich konstituiert haben, aus welchen anderen gesellschaftlichen Kontexten sie transferiert und transformiert wurden, inwieweit sie sich ablösen oder bündeln und wie sie mit gesellschaftlichen Prozessen verwoben sind. Praxisformen etablieren und erhalten sich aufgrund positiver Erfahrungen (weil sie funktionieren), ansonsten würden sie nicht gemacht werden. Sie changieren zwischen Wiederholung und Kreativität und werden z. B. aus erprobten Kontexten in andere Lebensbereiche übertragen.108 Kulturelle Entwicklung, so nehmen Praxistheorien an, ist kein immanenter, diskursgesteuerter Prozess, sondern Ergebnis des impliziten Praxiswissens, das sich durch Routinen, Wiederholungen, Habitus etc. konstituiert.109 Praktiken können Gegenstand eines Transfers aus einem sozialen Kontext in einen anderen sein. Dann bleiben sie ihrer Form nach ähnlich, es verändert sich 105 Vgl. in diesem Kontext Jan Assmanns Herleitung des kulturellen Gedächtnisses aus dem Totengedächtnis (pietas), das säkular gedacht (fama), der Selbstinszenierung und Selbstdarstellung des Erinnernden dient. Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, S. 38 ff., und Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 44/45. 106 Aleida Assmann, Geschlecht und kulturelles Gedächtnis, S. 40. 107 Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 46. 108 Reichardt, Praxeologische Geschichtswissenschaft, S. 48. 109 Vgl. auch Reckwitz, Grundelemente, S. 297.
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nur ihre soziale Einbettung. Darüber hinaus können Praktiken aber auch Gegenstand von Transformationen sein. Dies bedeutet, dass Praktiken des Wissens über Musik oder des Aufführens von Musik aufgrund des Transfers in einen anderen gesellschaftlichen Bereich so verändert werden, dass sich neues Wissen und neue Aufführungspraktiken entwickeln.110 Diese Unterscheidung ist für das Verstehen der Bach-Praxis Sara Levys relevant, da sich hier zum einen Transferprozesse von etablierten Praktiken, wie z. B. aus dem jüdischen Elternhaus ihrer Eltern in ihren Salon hinein, nachweisen lassen. Zum anderen transformiert und verändert die Aufführungs- und Geselligkeitspraxis des bürgerlich-musikalischen Salons das Wissen über Bach (Kenntnis von Bach-Werken insgesamt, Aufführungspraxis bachscher Werke, Kanonisierung von Bach). Der gesellschaftliche Wandel um 1800, der unter Begriffen wie „Revolutionszeitalter“,111 „Sattelzeit“112 oder „Scharnierperiode“113 untersucht wird, stellt eine gesamteuropäische Entwicklung dar, die weitreichende Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche hatte. Bach-Rezeption, verstanden als soziale Praxis, ist Teil dieses Prozesses. Praxisformen stellen im Methodenverständnis dieser Studie das verbindende Element dar, an dem sich die spezifische Bach-Rezeptionspraxis zeigt und sich soziale Strukturen und Indikatoren für den gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess erkennen lassen. Zentraler Aspekt der Musikhistoriographie und der Bürgertumsforschung ist die Frage nach der Emanzipation des Bürgertums.114 Hier zeichnet sich in der Forschung eine Wende ab, die sich als Abkehr von der etablierten Vorstellung äußert, bürgerliche Emanzipation sei durch intentionale, zielgerichtet handelnde Individuen bewirkt worden, die „aus sich heraus“ den eigenen sozialen Wandel anstrebten. In klassischen Handlungstheorien wird die Umbruchszeit um 1800 als Geburtsstunde des handelnden Menschen („Bürger“) bezeichnet.115 Die Idee, die soziale Welt als Handlungswelt zu verstehen, wird als Resultat einer „Rationalisierung der Weltbeherrschung“116 gedeutet. Handeln, als äußerer Ausdruck eines 110 Federico Celestini weist darauf hin, dass Kulturtransfers nicht nur auf diskursiver, sondern auch auf performativer Ebene verlaufen. Eben diese performativen Handlungen sorgen für eine Transformation des Wissens über Bachs Musik. Siehe hierzu: Federico Celestini, Musik und kollektive Identitäten, in: Michele Calella / Nikolaus Urbanek (Hgg.), Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, Stuttgart/Weimar 2013, S. 318–337, hier S. 328. 111 Jacob Burckhardt, Werke, Kritische Gesamtausgabe Bd. 28: Geschichte des Revolutionszeitalters, aus dem Nachlass hg. von Wolfgang Hardtwig u. a., München/Basel 2009. 112 Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972–1997, Bd.1, Stuttgart 1972, ND 1979, S. XIII–XXVII, hier S. XV. 113 Osterhammel, Übergänge ins 19. Jahrhundert, S. 26. 114 Zum bürgerlichen Emanzipationsgedanken und dessen Resonanz in der Musikgeschichtsschreibung siehe: Hentschel, Bürgerliche Ideologie, bes. Kapitel 4 Musikgeschichte als Emanzipationsprozess, S. 257–315. 115 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt a. M. 1990. 116 Andreas Reckwitz, Die Entwicklung des Vokabulars der Handlungstheorien: Von den zweckund normorientierten Modellen zu den Kultur- und Praxistheorien, in: Manfred Gabriel (Hg.), Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie, Wiesbaden 2004, S. 303–328, hier S. 303.
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zweckvoll agierenden Menschen, sei – so rekapituliert Reckwitz – entstanden um 1800. Praxistheoretiker problematisieren diese homogene Struktur der Genese des handelnden Menschen und zweifeln die Legitimierung der mentalen Selbstbestimmung der Handelnden im Sinne eines intentionalen Aktes an. Die Frage, wie soziale Ordnung erklärt wird, ob als mental-intentionaler Akt oder als soziale Praktik, berührt die Frage nach der Genese eines handelnden Menschen überhaupt. Angesichts dieser praxistheoretischen und sozialgeschichtlichen Neuansätze zeichnen sich Umbrüche ab: Geht man von aktionswilligen, intentionalen Handelnden aus, beruht die Entwicklung der Gesellschaft auf durchdachten Handlungen von Individuen („Bürgern“).117 Bewertet man soziale Praxisformen als kleinste Einheit von Kultur und als verantwortlich für die Variabilität von geschichtlichen Prozessen, entwickelt sich Gesellschaft aus routiniertem Tun, das erprobt und ermöglicht wird durch Vorbilder, d. h. durch bereits erprobte Praxisformen z. B. des Adels. Heinrich Bosse, Bildungs- und Sozialhistoriker, stellt mit seiner These, die Gesellschaft habe das Bürgertum verändert, Forschungen von Jürgen Habermas in Frage, z. B. ob die moderne Öffentlichkeit aus der „Mitte der Privatsphäre“118 des Bürgertums entstanden sei.119 Bosse beschreibt die Entwicklung des Bürgertums als Resultat gesellschaftlicher, ständischer Umbrüche und hebt das Paradigma einer „Emanzipation des Bürgertums“ im Sinne von Peter Schleunings Der Bürger erhebt sich120 auf. Bosse setzt die Genese eines Bürgertums (Menschen, die im Stande sind, sich selbst zu bilden) später an als Habermas, erst auf das erste Drittel des 19. Jahrhunderts. In diesem Gestus argumentiert auch Jürgen Osterhammel, einerseits mit dem deutlichen Fokus auf die sozialen Praxisformen, die er – ähnlich wie Bosse – als Motor des gesellschaftlichen Wandels versteht und andererseits mit der Verschiebung der Umbruchphase auf die Mitte des 19. Jahrhunderts.121 Melanie Unseld weist mit der Differenzierung zwischen einem im emphatischen Sinn verstandenen Individuum (Individualsubjekt) und bürgerlichen SubjektCodes (Allgemeinsubjekt) auf eben diesen Umdeutungsprozess in der Bewertung einer bürgerlichen Idee hin. Unter „Subjekt-Codes“ wird bei Melanie Unseld in Anlehnung an Andreas Reckwitz eine „allgemeinverbindliche, bürgerlich-moderne Formierung des Subjekts“ verstanden, die durch „spezifische Praktiken der Arbeit,
117 Vgl. Heinrich Bosse, Die Bildung des Bürgers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Juli 2012, Nr. 165, S. 5. Für diesen Hinweis danke ich Martin Zillinger. 118 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 13. Eine Übersicht über Kritik und Reflexion an Habermas’ Öffentlichkeitsmodell bietet Wolfgang Kaschuba, Öffentliche Kultur – Kommunikation, Deutung und Bedeutung, in: Friedrich Jäger / Burkhard Liebsch (Hgg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2011, S. 128– 138. 119 Bosse, Die Bildung des Bürgers und ders., Bildungsrevolution 1770–1830 (Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft 169), Heidelberg 2012, insbesondere das Kapitel Die gelehrte Republik, S. 305–325. 120 Peter Schleuning, Der Bürger erhebt sich: Geschichte der deutschen Musik im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2000. 121 Osterhammel, Übergänge ins 19. Jahrhundert, S. 21–40.
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der Intimsphäre und schriftorientierte Selbstpraktiken“122 hervorgebracht wird. Unseld summiert, dass „sich zwar mit den bürgerlichen Subjekt-Codes eine Loslösung von religiösen oder standesbedingten Hierarchien vollzog, dass aber nicht das Individuum im emphatischen Sinne, sondern vielmehr jene Codes (nach)vollziehende Subjekte das Ziel waren“.123 Das Bürgertum wird daher in der vorliegenden Studie nicht als eine eindeutig zu bestimmende homogene soziale Gruppierung verstanden, denn letztendlich bestanden sogenannte bürgerliche Kreise sowohl aus Teilen des Kleinbürgertums, des Adels als auch des Militärs. Vielmehr wird die „bürgerliche Idee“ als ein Diskursfeld mit eigenen Bedeutungszuschreibungen und Ideologien begriffen.124 Auch die übliche Konnotation des Begriffes „Bürgertum“ als eine Gruppierung mit eigenen, vermeintlich autonom gesetzten Werten wird hier kritisch hinterfragt. Es lässt sich am Beispiel der Bach-Rezeption nicht belegen, dass es eine Praxis bürgerlicher Musik gab, die aus sich selbst heraus entstand. Vielmehr ist bürgerliche Musikkultur mit Bezug auf die Bach-Praxis als eine Durchmischung verschiedener, sowohl höfischer als auch kirchlicher Praxisformen zu verstehen. Das Neudenken des gesellschaftlichen Wandels um 1800 ist am Beispiel der Bach-Rezeption klar nachzuvollziehen. Bach-Rezeption erfolgte ähnlich, eben nicht als Emanzipation vom Adel, sondern durch das Kopieren von etablierten, sich ‚lohnenden‘ Praxisformen. Wie angedeutet, lässt sich u. a. sehr präzise an der Praxis des Unterrichtens der Transfer von praktischem Bach-Wissen in das Berliner Bürgertum hinein nachvollziehen. Eben solches gilt für den Transfer jüdischer Religionspraktiken in die häusliche Bach-Praxis der Familien Levy und Itzig.
122 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 97. Vgl. Melanie Unseld, Genie und Geschlecht. Strategien der Musikgeschichtsschreibung und der Selbstinszenierung, in: Kordula Knaus / Susanne Kogler (Hgg.), Autorschaft Genie Geschlecht. Musikalische Schaffensprozesse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Köln / Weimar / Wien 2013, S. 23–45, hier S. 25. 123 Unseld, Genie und Geschlecht, S. 25. 124 Vgl. hierzu u. a. Osterhammel, Übergänge ins 19. Jahrhundert, S. 34 und Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 202.
ZWEITER TEIL BACH-REZEPTION I: BACH REFLEKTIEREN ZWISCHEN 1750 UND 1829 IN BERLIN Zu Bachs Lebzeiten sowie nach seinem Tod war sein Werk und seine Person kontinuierlich Gegenstand von Reflexionen. Der folgende zweite Teil dieses Buchs stellt diese Reflexionen, verstanden als diskursiv hervorgebrachte, intellektuelle Auseinandersetzungen mit J. S. Bach in den Mittelpunkt. Ausgehend von einigen methodischen Vorüberlegungen zur Analyse der Bach-Diskurse, zu den Quellen und zu Berlin als Diskursfeld der Bach-Rezeption (Kapitel 1) wird zunächst ein eher genereller Überblick über Diskurse der BachRezeption (Kapitel 2) gegeben. Diese Makro-Ebene stellt grobe Zusammenhänge und übergeordnete Strukturen der Bach-Diskurse im raumzeitlichen Rahmen von Berlin in den Jahren 1750–1829 dar. Hier stehen Texte im Zentrum, die in den entsprechenden Bänden der Bach-Dokumente aufgeführt sind und die vor allem aus musiktheoretischen Schriften, Zeitungen oder Musikjournalen stammen.1 Ziel der Makro-Analyse ist es, einen Überblick über die vorhandenen Bach-Besprechungen zu schaffen. Was wurde allgemein mit Bach assoziiert? Als was wurde er dargestellt? Galt er als modern oder antiquiert, als abstrakter oder als konkreter Bezugspunkt? Durch eine Analyse der Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys wird ein differenzierteres und tiefer gehendes Bild der Berliner Bach-Rezeption ermöglicht (Kapitel 3). Diese Mikro-Perspektive hat ein konkretes, isoliertes Beispiel im Zentrum: die Bach-Diskurse in den Briefen Lea Mendelssohn Bartholdys. An diesen wird untersucht, inwiefern sich die Bach-Diskurse der Makro-Ebene darin finden lassen bzw. ob sich in ihnen neue Diskurse abzeichnen. 1. DISKURSIVE DIMENSION VON REZEPTIONSPRAXIS – METHODISCHE VORÜBERLEGUNGEN Zur Analyse der Bach-Diskurse Gegenstand dieser Untersuchung sind Texte. Es handelt sich im Folgenden um die Analyse von Diskursen, d. h. im weitesten Sinne um die Untersuchung der in einem Text oder einer Äußerung gebündelten Auseinandersetzungen mit einem Thema.2 1 2
Bach-Dokumente, hg. vom Bach-Archiv Leipzig: Bände III, VI, VII (= Dok III, VI, VII). Auch wenn das Verfahren der Diskursanalyse für die wissenschaftliche Praxis inzwischen als „common sense“ betrachtet werden kann, soll an dieser Stelle folgende Definition Erwähnung finden, die die für diese Studie relevanten Aspekte im Verständnis von Diskursen beinhaltet: „Die historische Diskursanalyse geht grundsätzlich vom Konstruktionscharakter sozio-
1. Diskursive Dimension von Rezeptionspraxis – Methodische Vorüberlegungen
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Unter Diskurs wird die Bündelung von ähnlichen sprachlichen Regeln, Codes und Denkmustern verstanden, die sich Akteurinnen und Akteure in einer bestimmten Zeit über ein bestimmtes Thema machen. Diskurse bieten kollektive Codes und gemeinsame Symbole zum Erinnern und Rezipieren. Sie sind Bestandteil aktueller politischer, religiöser oder sozialer Debatten und wirken auch auf diese zurück. Die Texte werden in der folgenden Untersuchung einer sprachlichen Analyse unterzogen. Dabei werden Formeln und Topoi isoliert, die im Schrifttum über Bach immer wieder vorkommen. Betrachtet man die Menge an Texten, in denen Bach besprochen, reflektiert oder bewertet wird, lassen sich zwischen ihnen dahingehend Überschneidungen feststellen, wie Bach jeweils Bedeutung beigemessen wird. Bach wird in bestimmten sprachlichen Codes3 repräsentiert, in Vergleichen, Metaphern, Konnotationen und Bewertungen. Diese Repräsentationsformen lassen sich zusammenfassen und in drei verschiedene Diskurse aufteilen: „Bach, der Kontrapunktiker“, „Bach, das Genie“ und „Bach, der Nationale“. Es handelt sich bei den drei hier isolierten Diskursen dabei keineswegs um diskrete Diskursformen, die zeitlich oder räumlich getrennt sind. Vielmehr lassen sie sich aufgrund stetiger Veränderungen der kulturellen Rahmenbedingungen, in denen sie standen, nur retrospektiv erkennen und isolieren. Wie in der nachfolgenden Analyse gezeigt wird, sind die Übergänge zwischen den Diskursen fließend und vielfach werden inhaltliche Aspekte, die in dem einen Diskurs besonders prägnant erscheinen, bereits in Texten erwähnt, die hier einem anderen zugeordnet werden. Es könnte angebracht erscheinen, Bach-Diskurse hinsichtlich ihrer Nähe oder Distanz zur realgeschichtlichen Person Bachs zu bewerten und den Diskurs „Bach, der Kontrapunktiker“ als authentischer, weil vermeintlich weniger verklärt und historisch näher am Gegenstand, einzuschätzen. In diesem Gestus argumentiert z. B. Anselm Hartinger, der die Geschichte der Historisierung und Ästhetisierung Bachs einerseits als Fortschritt deutet, da Bach bekannter wird.4 Andererseits stelle sich – so Hartinger – dabei eine Entfremdung, also gewissermaßen ein Rückschritt ein, da der Mensch und Musiker Bach zur „unnahbaren musikhistorischen Riesengestalt ‚Bach‘“5 würde. Die Beobachtung Hartingers, dass Bachs Bekanntheitsgrad mit der
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kultureller Wirklichkeiten aus und fragt vor diesem Hintergrund nach den Arten und Weisen, mit denen im historischen Prozess Formen des Wissens, der Wahrheit und der Wirklichkeit hervorgebracht werden. Als Diskurse werden dabei geregelte und untrennbar mit Machtformen verknüpfte Ordnungsmuster verstanden, in denen diese Konstruktionsarbeit organisiert wird. Sie lassen sich häufig in sprachlicher Form fassen, jedoch können prinzipiell alle Elemente soziokultureller Wirklichkeit zum Gegenstand entsprechender Analysen gemacht werden, denn es gibt kein Medium, keine Praxis und keinen Gegenstand, die nicht zur Formierung mindestens eines Diskurses beitragen würden. Diskurse wirken dabei sowohl produktiv als auch restriktiv, sie sind strukturiert und bringen ihrerseits Strukturen hervor.“ S. Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2008, S. 98 f., vgl. ders, Diskurs und Diskursgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia.de/zg/Diskurs_und_ diskursgeschichte?oldid=84596, S. 6 (letzter Zugriff: 10.01.2018). Astrid Erll deutet in Kollektives Gedächtnis, S. 101 ff., diese kulturellen Codes als mentale Dimension von Erinnerungskulturen und als Bedingung für das Funktionieren von gemeinsamem Erinnern durch symbolische, sprachliche Vermittlung. Anselm Hartinger, Einleitung zu „Ästhetik und Analyse“ (Teil B) in: Dok VI (2007), S. 194. Ebd.
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Bach-Rezeption I: Bach reflektieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Zeit zunimmt und die ihm zugeschriebenen Konnotationen immer differenzierter wurden, ist nicht von der Hand zu weisen. Dass dabei aber von Fortschritt einerseits und Rückschritt andererseits zu sprechen sei, ist zu hinterfragen. Ob der in den 1750er Jahren in Lehrtraktaten Friedrich Wilhelm Marpurgs dargestellte Fugenkomponist Bach weniger „unnahbar“ erscheint als das von Rahel Varnhagen, Adolf Bernhard Marx oder Johann Friedrich Reichardt als metaphysisch aufgeladene Bach-Genie, ist nur schwerlich zu begründen. Selbstverständlich lassen sich historisch plausiblere Bach-Bilder von weniger plausiblen unterschieden. Die Kriterien aber, mittels derer diese Bach-Bilder als fort- oder rückschrittlich zu bewerten wären, sind wiederum selbst nicht plausibel zu begründen. Eine solche Bewertung ist auch für die folgenden Untersuchungen nicht entscheidend. Denn in dieser Arbeit wird nicht analysiert, ob Bach-Diskurse der realgeschichtlichen Person Bach entsprechen oder von diesen abweichen, sondern als was Bach von wem wahrgenommen und beschrieben wurde. Bach-Bilder werden in den verschiedensten Quellentypen entworfen. Sie lassen sich sowohl in öffentlich-intellektuellen Texten als auch in Schriften, die dem intim-privaten Kontext entstammen, ausmachen. Neben biographischen und anekdotischen Schriften stehen musikjournalistische und -theoretische Texte und Editionen. Im Folgenden werden Quellen behandelt, in denen Bach ästhetisch reflektiert, Bachs historischer Stellenwert und Kompositionsstil bewertet werden und konkrete Hör- oder Spielerlebnisse von bachschen Werken mitgeteilt werden. Es handelt sich um Besprechungen in theoretischen Lehrwerken und Werkeditionen, um musikalische Monographien im Allgemeinen (wie z. B. Reiseberichte, musikhistorische Überblicke), um Rezensionen, Vorankündigungen von Veröffentlichungen, öffentlich geführte Korrespondenzen (Streitschriften) in Musikzeitschriften oder allgemeinen Zeitschriften, öffentliche Briefe und Reiseschilderungen. Innerhalb eines Diskurses werden verschiedene Quellenarten besprochen. Briefe werden im Gegensatz zu musiktheoretischen oder musikjournalistischen Texten als Quellen verstanden, die eine häuslich-intime Kulturpraxis reflektieren und einer explizit kommunikativen Schreibform folgen.6 Bestehende Forschung zur Bach-Rezeption zirkuliert oft um die öffentlich-intellektuelle Auseinandersetzung mit Bach nach 1750. Bach-Rezipienten wie Friedrich Wilhelm Marpurg, Johann Philipp Kirnberger oder Johann Friedrich Reichardt wird dabei große Aufmerksamkeit geschenkt und philosophisch-ästhetische Quellentypen werden in den Vordergrund gerückt.7 Ausgehend vom pluralistischen Rezeptionsverständnis dieser Arbeit und einem weit gefassten Musikbegriff sollen hier in der Folge auch Quellen betrachtet werden, die in vorangegangen Arbeiten ausgespart wurden. Die Mikro-Analyse der Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys ermöglicht Einblicke in nichtöffentliche, familiale Aushandlungsprozesse und soll das bisherige Wissen 6 7
Vgl. hierzu u. a. Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit: exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a. M. 1979, 22003. Vgl. u. a. Reinhard Schäfertons, Paradigma Bach: Konventionen komponierender Organisten und Michael Heinemann, Paradigma Fuge: Bach und das Erbe des Kontrapunkt, beide in: Bach und die Nachwelt 1, S. 65–104 und S. 105–192.
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über die frühen Bach-Diskurse um das Wissen dieses Kontextes erweitern und dabei verdeutlichen, dass auch andere soziale Bereiche als die öffentlich-intellektuelle Auseinandersetzung für die Distribution diskursiver Inhalte relevant waren. Quellen Die berücksichtigten Texte ließen sich keiner Gruppierung anhand von klar zu bestimmenden Quellengattungen oder Textsorten unterziehen, da sie keinen einheitlichen Kriterien hinsichtlich Form, Umfang oder Funktion folgen. Vorworte zu Werkeditionen oder theoretische und vermeintlich streng analytische Ausführungen in Lehrwerken nehmen – wenn auch zum Teil implizit – Bezug auf musikästhetische Debatten, und biographische Notizen sind geprägt von den gängigen Klischees von Künstleranekdoten und ihren rhetorischen Mitteln.8 Der Sprachstil von Pressetexten nimmt zum Teil, auch in sachlich orientierten Texten, polemischen Charakter an und wirkt aus heutiger Sicht oft unwissenschaftlich und subjektiv. Anekdoten haben für die Bach-Diskurse des 18. und 19. Jahrhunderts eine große Bedeutung.9 Sie waren im 18. Jahrhundert eine anerkannte Gattung historischen Schreibens und hatten insbesondere für die Entwicklung der Musikerbiographik eine entscheidende Funktion:10 Die Anekdotik kann als Nucleus des biographischen Schreibens über Musiker und Musikerinnen im 18. Jahrhundert bezeichnet werden. Mit einer sehr deutlichen Anleihe an kunsthistorische Vorbilder beginnt – so könnte man pointiert sagen – das Schreiben über Musiker und Musikerinnen mit der Anekdote.11
Quellen, die die Wiederaufführung der Matthäus-Passion betreffen, sind – wie in der Einleitung bereits erwähnt – nicht Kern der Untersuchung. Sie würden zum einen den Quellenumfang sprengen. Zum anderen würde sich dann der Fokus auf die Bach-Rezeption Mitte des 19. Jahrhunderts verschieben und von dem eigentlichen Interesse abrücken, den Stellenwert des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts zu reflektieren. Selbstverständlich ist die Wiederaufführung im Jahr 1829 und Felix Mendelssohn Bartholdys Auseinandersetzung mit Bach immer wieder präsent. Die
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In dieser Einschätzung folge ich Hartinger, Einleitung zu „Ästhetik und Analyse“ (Dok VI (2007)), S. 196. Vgl. auch Laurenz Lütteken: „Da die Periodika des 18. Jahrhunderts keine einheitliche Faktur aufweisen, ist die Auswahl von Beiträgen besonders schwierig. Vor allem die unterhaltenden Blätter kennen neben dem eigentlichen Aufsatz eine Fülle von Publikationsformen, die praktisch nicht zu klassifizieren sind.“ in: Ders. (Hg.), Die Musik in den Zeitschriften des 18. Jahrhunderts. Eine kommentierte Bibliographie mit Datenbank auf CD-Rom. Bearb. von Gudula Schütz / Karsten Mackensen (Catalogus Musicus 18) Kassel 2004, hier Einleitung, S. 13 f. Die Marchand-Anekdote, in der Bachs Antritt zum geplanten Wettstreit mit Louis Marchand dargestellt wird, hat in den Schriften um 1800 besondere Prominenz und wird in sämtlichen Berichten und Stellungnahmen motivisch verarbeitet. Über Anekdoten und deren Stellenwert für die Biographie-Forschung vgl. Melanie Unseld, Eine Frage des Charakters? Biographiewürdigkeit von Musikern im Spiegel von Anekdote und Musikgeschichtsschreibung, in: Dies. / Christian von Zimmermann (Hgg.), Anekdote – Biographie – Kanon., S. 3–18, und Dies., Biographie und Musikgeschichte, S. 117–136. Ebd., S. 118 f.
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Analyse im engeren Sinne endet aber mit der Aufführung der Matthäus-Passion 1829. Die Bedeutung von Johann Nikolaus Forkel für das Wissen über Bach um 1800 kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Mit seiner Bach-Monographie von 1802, seinen biographischen Nachforschungen zu Bach in der Korrespondenz mit dem 35 Jahre älteren C. P. E. Bach, die er seit 1774 nachweislich führte, hatte er einen großen Einfluss auf die Bach-Diskurse seiner Zeit.12 Für die vorliegende Arbeit stehen jedoch Veröffentlichungen aus dem Berliner Raum im Fokus, da Berlin zu den führenden Orten der Bach-Rezeption um 1800 zählte. Die Texte, die diesem raumzeitlichen Rahmen entstammen, werden daher als aussagekräftiger und ausreichender Analysegegenstand bewertet. Forkels Bach-Texte und sein Umfeld in Göttingen finden immer nur dann Berücksichtigung, wenn sie für bestimmte Aspekte des Diskurses als so zentral in der aktuellen Forschung diskutiert werden, dass es, um die Anschlussfähigkeit zu bewahren, unvermeidlich ist, sie einzubeziehen.13 Kontext Berlin Berlin entwickelte sich im 18. Jahrhundert zu einem Zentrum der deutschen Musiktheorie und Musikkritik,14 was sich auch an der verhältnismäßig hohen Anzahl an in Berlin erscheinenden Musikzeitschriften festmachen lässt.15 Carl Dahlhaus beurteilt den Status Berlins hinsichtlich der ästhetisch-historischen Reflexion über Musik als singulär: Mit der Hervorkehrung und institutionellen Stützung der Bildungsfunktion, die durch Musik erfüllt werden kann, hängt es zusammen, dass Berlin – neben Leipzig – die Stadt gewesen ist, 12 13
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Vgl. die entsprechende Korrespondenz: Dok III (1972), Nr. 792, 793, 794, 795, 801, 802. Ausführliche biographische Informationen über J. S. Bach sind in Nr. 801, 802 und 803 erhalten geblieben. Hier sei auf weiterführende Literatur verwiesen: Zenck, Stadien der Bach-Deutung, vor allem S. 17 ff., Axel Fischer, Das Wissenschaftliche der Kunst: Johann Nikolaus Forkel als Akademischer Musikdirektor in Göttingen (Abhandlungen zur Musikgeschichte 27), Göttingen 2015, Ders., „So, mein lieber Bruder in Bach …“. Zur Rezeption von Johann Nikolaus Forkels BachBiographie, in: Archiv für Musikwissenschaft 56, Heft 3 (1999), S. 224–233., Ders., Einleitung zur kommentierten Ausgabe von Johann Nikolaus Forkels Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Kassel 1999, S. 7 ff., Karen Lehmann, Forkels Handexemplar seiner Bach-Biographie, in: BJ 90 (2004), S. 233–240, und Hans-Joachim Hinrichsen, Johann Nikolaus Forkel und die Anfänge der Bachforschung, in: Bach und die Nachwelt I, S. 193–253. Hans-Günter Ottenberg, Der critische Musicus an der Spree. Marginalien zum Berliner Musikleben von 1740 bis 1770, in JbSIM 1995 (1996), S. 29–50. Acht von insgesamt ca. 30 deutschsprachigen Musikzeitschriften sind in Berlin bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen. Dazu gehörten: Friedrich Wilhelm Marpurg Der critische Musicus an der Spree (1749/50), Kritische Briefe über die Tonkunst (1759–63), HistorischKritische Beyträge zur Aufnahme der Musik (1754–1778), Johann Friedrich Reichardt Musikalisches Kunstmagazin (1782 und 1792), Das Musikalische Wochenblatt (1792) und die Berlinische Musikalische Zeitung (1805/06) sowie Karl Spazier Berlinische Musikalische Zeitung historischen und kritischen Inhalts (1793/94). Vgl. die Übersicht bei Ulrich Tadday, Diskussionsforen der Musikkritik und ästhetische Manifestationen in Berlin um 1800, in: Eduard Mutschelknauss (Hg.), Urbane Musikkultur. Berlin um 1800 (Berliner Klassik – eine Grossstadtkultur um 1800 Bd. 18, Schriftenreihe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), Hannover 2011, S. 215–229, hier S. 215.
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in der sich eine ästhetisch-historische Reflexion über Musik ausbreitete, wie es sie gleichzeitig – und auch später – in Wien nicht gegeben hat.16
Das musikalische Schrifttum der 1750er und -60er Jahre war geprägt von Friedrich Wilhelm Marpurg, dessen Schreibstil dem der „Gelehrtenzeitschrift“ glich und „noch ganz in der Tradition der Aufklärung“ stand.17 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts veränderte sich der Charakter des Musikschrifttums und die Wahrnehmung des musikalischen Gegenstandes wurde mehr und mehr durch eine Ästhetisierung geprägt – eine zentrale journalistische Figur war hierbei der Herausgeber Johann Friedrich Reichardt. Bach war auch in Zeitschriften Thema, die nur sekundär musikalische Themen behandelten, so z. B. in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek und in der Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek.18 Auch die beiden großen Tageszeitungen der preußischen Metropole, die Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen (auch Haude-Spenersche Zeitung genannt) und die Berlinisch Privilegierte Zeitung (auch Vossische Zeitung genannt) dokumentieren die Bach-Rezeption, etwa durch Konzertankündigungen.19 Um 1800 hatte sich mit der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung ein flächendeckendes musikalisches Sprachrohr etabliert, das die musikjournalistische Landschaft in ganz Deutschland – und somit auch in Berlin – veränderte. Neben dieser neuen, überregionalen Zeitschrift, die immer noch als eine Art Fachzeitschrift verstanden werden kann, entstanden immer mehr feuilletonistische Zeitungen, wie etwa die Zeitung für die elegante Welt, die vom Berliner Publizisten Karl Spazier gegründet wurde. Während sich die Allgemeine musikalische Zeitung um eine möglichst allgemeine Leserschaft bemühte und primär die ästhetische Bedeutung von Musik, weniger ihre soziale Funktion reflektierte,20 verhielt es sich in der Feuilletonzeitung Zeitung für die elegante Welt genau umgekehrt. Ulrich Tadday betont, dass „der Unterschied von musikalischer Fachzeitschrift einerseits und Feuilletonzeitung andererseits von Anfang an durch den kommunikativen Gebrauchswert 16 17 18 19
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Carl Dahlhaus, Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert, Regensburg 1980, S. 7. Tadday, Diskussionsforen, S. 216. Für eine Auflistung weiterer allgemeiner kultureller Zeitungen in Berlin siehe Tadday, Diskussionsforen, S. 217. Vgl. Ottenberg, Der critische Musicus, S. 29. Christoph Henzel dokumentiert das Berliner Musikleben anhand dieser beiden Zeitungsorgane. Vgl. dazu Henzel, Das Konzertleben der preußischen Hauptstadt 1740–1786 im Spiegel der Berliner Presse, Teil 1, in: JbSIM 2004 (2005), S. 229–291, Teil 2, in: JbSIM 2005 (2007), S. 139–241, sowie Ders., Das Konzertleben der Preußischen Hauptstadt 1787–1792 im Spiegel der Berliner Presse. Zu Wolfgang Amadeus Mozarts Aufenthalt in Berlin 1789, in: JbSIM 2006/07 (2008), S. 42–116. Zu musikalischen Monographien, die in Berlin bzw. von Berlinern herausgegeben wurden, vgl. Ottenberg, Der critische Musicus, S. 55–82. Ulrich Tadday sieht bei der Entstehung des musikalischen Feuilletons einen Zusammenhang mit der Berliner Salonkultur, vor allem hinsichtlich sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Voraussetzungen, wie z. B. eines ästhetischen Denkens über Musik und Kunst als Bildung und Unterhaltung. Siehe Tadday, Diskussionsforen, S. 224. Dieser interessante Ansatz wird in dieser Studie im Kapitel Bach-Rezeptionspraktiken zwischen 1750 und 1829 in Berlin. Ein Überblick (Teil III, Kap. 2.) aufgegriffen.
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musikalischer Bildung in Deutschland bestimmt“21 wurde. Auch Anselm Hartinger verweist auf die Bedeutung Berlins für die Entstehung eines musikalischen Feuilletons. Es bildeten sich „Strukturen eines organisierten und dabei nach Wissensniveau und Erkenntnisinteressen ausdifferenzierten Diskurses über die Musik der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft heraus, die einen immer größeren Einfluss auf das in der musikalischen Praxis vertretene Repertoire und dessen Wahrnehmung durch das Publikum gewinnen“22 sollten. Insgesamt ist zu beobachten, dass sich das Musikschrifttum professionalisiert. Die Anzahl der journalistischen Organe nimmt zu und deren Vernetzung mit anderen Kunstgattungen und Diskursen wird dichter. Melanie Unseld beurteilt das 18. Jahrhundert als „Experimentierfeld des Schreibens über Musik“, auf dem eine „neue Vielfalt entsteht, wie und für welchen Adressatenkreis über Musik geschrieben wird“.23 Das Reden über Musik als öffentlicher Diskurs nimmt mit den Bestrebungen, Musik als eine autonome Kunst zu etablieren und den „feinsinnigen poetischen Äußerungen eines der Musik aufgeschlossenen Künstlerkreises um Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder“24 erheblich zu. Der musikalische Journalismus wird populär, vor allem, weil es Journalisten wie Friedrich Rochlitz und Adolf Bernhard Marx gelingt, das soziale und vor allem nationale Moment von Musik zu stärken. Hans-Günter Ottenberg spricht von einem „hinsichtlich der Universalität seiner Themen großartigen theoretisch-ästhetischen Gedankengebäude“,25 das von Musiktheoretikern, Musikjournalisten und privaten Personen erbaut wurde. Bach spielt eine große Rolle in diesem Umfeld allgemeiner musiktheoretischer und -praktischer Überlegungen. Er wird gebraucht, um Standpunkte zu stützen und die Rolle der deutschen Musik generell zu stärken. Bach wird aus ästhetischer Sicht instrumentalisiert, um grundsätzliche Fragestellungen der Musiktheorie, der Musikästhetik und der Musikgeschichte zu diskutieren. 2. BACH-DISKURSE ZWISCHEN 1750 UND 1829 IN BERLIN. EIN ÜBERBLICK 2.1 Zwischen strengem und freiem Stil – Ein Spannungsfeld entsteht Ausgangspunkt dieses Kapitels über Bach-Diskurse in Berlin ist die sogenannte „Scheibe-Birnbaum-Kontroverse“, die von 1737 bis 1740 zwischen Johann Adolph Scheibe (1708–1776), publizierender Musikkritiker, Herausgeber und Autor der Zeitschrift Der critische Musicus, und Johann Abraham Birnbaum (1702–1748), Schüler J. S. Bachs, in Leipzig geführt wurde. Diese Debatte markiert den Be-
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Tadday, Diskussionsforen, S. 222. Hartinger, Einleitung zu „Ästhetik und Analyse“ (Dok VI (2007)), S. 193–197. Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 86. Ottenberg, Der critische Musicus, S. 34. Vgl. ebd., S. 29.
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ginn einer schriftlich geführten, kritischen Auseinandersetzung mit Bach.26 Mit der Scheibe-Birnbaum-Debatte werden darüber hinaus die Pole eines ästhetischen Spannungsverhältnisses gelegt, das um die Frage kreist, wie sich Künstlichkeit (strenger, kontrapunktischer Stil) und Natürlichkeit (freier, oberstimmenbetonter Stil) speziell im Werke Bachs verhalten und in welcher Gattungsform die Synthese beider Stile im Allgemeinen erfolgen kann.27 Diese an Bach entzündete Frage wurde in den nachfolgenden Auseinandersetzungen mit Bach, auch über den engeren musikästhetischen Kontext hinaus, immer wieder aufgegriffen. Obwohl sie vor dem eigentlichen Untersuchungszeitraum dieser Arbeit steht, werden die nachfolgenden Überlegungen mit einem näheren Blick auf sie eröffnet. Ausgangspunkt der Kontroverse ist der Beitrag Johann Adolph Scheibes im 6. Stück des Critischen Musikus, in dem er die bachsche Musik als „schwülstig“, „verworren“ und „unnatürlich“28 kennzeichnet.29 Diese Kritik von Scheibe wurde nicht nur idealtypisch als Ausdruck eines neuen Stilempfindens gedeutet, als Wunsch nach einem freien, galanten und natürlichen Stil, sondern führte auch zu einer einseitigen Bewertung Scheibes als eines radikalen Bach-Kritikers und Birnbaum-Kontrahenten.30 J. A. Birnbaum nahm nämlich im Kontrast zu Scheibe eine entgegengesetzte Bewertung der bachschen Kontrapunktik vor und votierte als ehemaliger Bach-Schüler für die Stimmenführung im kontrapunktischen Satz J. S. Bachs, „in dem man ein durchgängiges gleiches Arbeiten aller Stimmen bewundern muss“.31 Günther Wagner fordert aus heutiger Sicht eine Neubewertung von Scheibes Position, die weitere Bach-Ausführungen Scheibes mit einbeziehe und dessen Ansichten relativiere.32 So schlussfolgert Wagner, dass sich Scheibes Bach-Kritik erstens primär gegen Bachs Vokalkompositionen und seinen „rüden Umgang mit der dichterichen Vorlage“33 richtete und dass primär dieser Umgang mit der Sprache als bloßer Funktionär der Musik von Scheibe als „unnatürlich“ bezeichnet würde. 26 27
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Günther Wagner, Die Bach-Rezeption im 18. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen strengem und freien Stil, in: JbSIM 1985/86 (1989), S. 221–238, hier S. 236. Die Beiträge zu diesem Streit sind zusammengefasst in J. A. Scheibe, Critischer Musikus. Neue, vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1745. Darin [J. A. Scheibe]: Das 6. Stück. Dienstags, den 14 May, 1737, S. 55–56 und 62; [J. A. Birnbaum], Unparteyische Anmerkungen über eine bedenkliche Stelle in dem sechsten Stücke des critischen Musikus [1737], S. 833– 858; [J. A. Scheibe], Beantwortung der unparteyischen Anmerkungen … [1738], 859–898. Johann Adolf Scheibe, Stück 6, 14. Mai 1737, in: Critischer Musicus, Theil 1 (1738), S. 41–48. Zu Recht weist Eduard Mutschelknauss, Bach-Interpretationen – Nationalsozialismus: Perspektivenwandel in der Rezeption Johann Sebastian Bachs, Frankfurt a. M. u. a. 2011, S. 254 f., darauf hin, dass Scheibe implizit im semantischen Feld des Gotischen argumentiert, wie es vor dem Paradigmenwechsel Ende des 18. Jahrhunderts gedeutet wurde, nämlich als dunkel und schwülstig. Vgl. dazu das Kapitel Bach und das „Alterthum“ (Teil II, Kap. 3.2.2). Vgl. Zenck, Stadien der Bach-Deutung, S. 7–32. Johann Abraham Birnbaum, Vertheidigung seiner unparteyischen Anmerkungen … [1739], in: J. A. Scheibe, Critische Musikus. Neue, vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1745, S. 899–1031, hier S. 1026. Hierzu vgl. Wagner, Bach-Rezeption, S. 224, und ausführlicher Ders., J. A. Scheibe – J. S. Bach: Versuch einer Bewertung, in: BJ 68 (1982), S. 33–49. Wagner, Bach-Rezeption, S. 224.
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Wagner argumentiert zweitens, dass sich Birnbaum und Scheibe in ihrer Argumentation näher seien, als von der Geschichte tradiert wurde. Beiden geht es darum, einen Ausgleich zwischen dem strengen und freien Stil zu suchen, der – so formuliert es Birnbaum – bei Bach hergestellt sei, weil dort natürliche Gedanken kunstvoll miteinander verbunden würden.34 Obwohl Wagner also zwischen Scheibe und Birnbaum eine Übereinkunft der beiden Debattierenden ausmacht, blieb das in der schriftlichen Kontroverse entstandene gedankliche Gerüst als ein System von These und Antithese erhalten, dessen Terminologien und Begriffskontraste in den Bach-Diskursen gängiges Vokabular waren und wurden: Harmonie vs. Melodie, gebundener vs. freier Stil, strenger vs. freier Satz, reine vs. angewandte Tonkunst, mechanischer vs. ästhetischer Geist.35 In den nachfolgend behandelten Texten ist dieses bipolare Spannungsverhältnis durchweg präsent. 2.2 Bach, der Kontrapunktiker Nimmt man diejenigen Texte in den Blick, die über Bach in den 1750er Jahren in Berlin geschrieben und veröffentlicht wurden, fällt der starke thematische Fokus auf die durch Bach repräsentierte Kontrapunktik auf. Die Werke, die in den größtenteils musiktheoretischen Traktaten und Lehrwerken besprochen werden, stammen weitestgehend aus Bachs Klavier- und Orgelschaffen. Als exemplarisch für diese eindimensionale, weil fast ausschließlich die Kontrapunktik in den Blick nehmende Perspektive auf Bach liest sich eine Beschreibung des bekannten BachPorträts von Elias Gottlieb Haußmann, die 1791 im Musikalischen Wochenblatt veröffentlicht wurde: „Bach, der große Grammatiker und Contrapunktist, steht da mit voller Wange, runzlicher Stirne, breiten Schultern in stattlicher Bürgerkleidung, und hält ein musikalisches Kunststück einen canon triplex a 6. V. in der Hand, den er uns zum Auflösen vorhält.“36 Ernster Charakter, kritischer Denker und musikalischer Grammatiker und eben nicht Semantiker, das sind Assoziationen, die mit der Vorstellung von Bach, als „Contrapunktist“ wachgerufen werden. Der Verfasser betrachtet ein zweites Bild, auf diesem ist Gluck abgebildet: „Gluck sitzt im Schlafrocke am Flügel und spielt, den Kopf genialisch fein gehoben, die Stirne heiter, den Himmel im Auge, und holde Freundlichkeit auf den Lippen, im ganzen Gesichte den schönsten wärmsten Kunstgenuß.“37 Und dann räsoniert der Schreiber: „ – Ich
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Johann Abraham Birnbaum, Erste Verteidigungsschrift, Januar 1738, abgedruckt in: Dok II (1969), Nr. 441, vgl. auch Wagner, Bach-Rezeption, S. 225. Vgl. Dahlhaus, Zur Entstehung der romantischen Bach-Deutung, S. 203. Carl Dahlhaus rekonstruiert die Herkunft der Deutung des Instrumentalen mit dem Mechanischen aus den Theorien von Jean-Jacques Rousseau, der „die ‚wahre‘ Musik in der gefühlvollen Simplizität gesungener Melodien suchte“ (ebd. S. 203). Brief eines deutschen reisenden Künstlers vom 12.11.1791: Bericht über zwei Porträts im Besitz Reichardts, in: Musikalisches Wochenblatt, zitiert in: Dok III (1972), Nr. 964. Ebd.
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kann es Dir nicht ausdrücken, wie die so äußerst bedeutende Verschiedenheit in der Darstellung dieser beiden Männer mich traf und durchdrang.“38 Eine Deutung zweier Bildnisse, die konträrer nicht sein könnte. Vor allem in den 1750er bis 1780er Jahren wurde die Person Bachs immer wieder bürgerlichhandwerklich gedeutet, ein Ansatz auf den im Folgenden noch näher eingegangen wird. Aber bereits mit dem von C. P. E. Bach und J. Fr. Agricola 1750 verfassten Nekrolog,39 in aller Deutlichkeit dann mit dem Aufsatz von J. Fr. Reichardt aus dem Musikalischen Kunstmagazin40 im Jahr 1782 hebt sich eine zweite Deutungsebene ab, die das kontrapunktische Prinzip zum Anlass nimmt, Bach genialische Züge zuzuschreiben und seine Musik als erhaben zu bezeichnen – Assoziationen, die der eingangs erwähnte Bildbetrachter eher Gluck als Bach zugewiesen hätte. Zwischen 1750 und 1760 veröffentlicht allein Friedrich Wilhelm Marpurg41 (1718–1795) vier musiktheoretische Lehrwerke, in denen die Rolle Bachs in der Entwicklung des Kontrapunkts besprochen wird: Die Kunst das Clavier zu spielen42 (1750), Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen43 Band I (1753) / Band II (1762), Anleitung zum Clavierspielen44 (1755) und Handbuch bey dem Generalbasse45 (1758, Anhang 1760). Carl Philipp Emanuel Bachs Subskriptionsaufruf46 („Avertissement“) zum Verkauf der Kunst der Fuge (1751), seine Ankündigung zum Verkauf der Druckplatten letzteren Werkes47 (1756) und nicht zuletzt die starke Rolle, die er seinem Vater als Vorreiter einer neuen Ära des Klavierspiels in seinem epochemachenden Lehrwerk Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen (Band I 1753, Band II 1762) beimisst, zeugen von ähnlichem Interesse. Zwei weitere Bach-Schüler, Johann Philipp Kirnberger und Johann Friedrich Agricola, die wichtige Positionen im Berliner Musikleben einnahmen (Kirnberger als Musiklehrer Anna Amalias von Preußen und Agricola als königlicher Kapellmeister), weisen in ihren kontrapunktischen Studien und Lehrtraktaten Bach als ihren Gewährsmann aus.48 Bachs Vokalmusik wurde auf musiktheoretischer Ebene kaum bzw. wenn, dann meist abwertend besprochen. Marpurg kritisiert so in seiner Anlei38 39 40 41
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Ebd. Nekrolog, Dok III (1972), Nr. 666, S. 87. Reichardt, Musikalisches Kunstmagazin 1, IIII. Stück, S. 197, ND in: Dok III (1972), Nr. 864. Hans-Joachim Schulze, Friedrich Wilhelm Marpurg, Johann Sebastian Bach und die „Gedanken über die welschen Tonkünstler“ (1751), in: BJ 90 (2004), S. 121–132, fasst die gesicherten Fakten zusammen. Insgesamt ist es aufgrund der ungesicherten Quellenlage problematisch sich ein genaueres Bild über den unter dem Pseudonym „Critischer Musicus an der Spree“ schreibenden Musikschriftsteller Marpurg zu machen. Dok III (1972), Nr. 632. Dok III (1972), Nr. 655. Dok III (1972), Nr. 667. Dok III (1972), Nr. 697 und 709. Dok V (2007), Nr. 638a. Dok III (1972), Nr. 683. Vgl. u. a. J. Ph. Kirnberger, Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, 2 Bde., Königsberg/ Berlin 1776–1779, ND Hildesheim 1968, ders., Gedanken über die verschiedenen Lehrarten in der Komposition als Vorbereitung zur Fugenkenntniß, Berlin 1782, Wien 1793, ND in: Dok. III, Nr. 867 und J. Fr. Agricola in Allgemeine Deutsche Bibliothek 1766 (Hg. von Fr. Nicolai), in: Dok. III (1972), Nr. 732.
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tung zur Singcomposition (1758) die Ablösung der beiden Chöre im Eingangschor der Matthäus-Passion recht heftig: „Die kurz abgebrochnen Fragen: wen, wie, was, wohin? klingen ohne Zweifel bey dem nicht weiter beschäfftigten Chore, etwas brutal, und sind in keinem Singgedicht nachzuahmen.“49 Soziologische Bedeutungszuweisung im Kontrapunktik-Diskurs Die Vorrangstellung Bachs als Kontrapunktiker ist größtenteils auf die Popularität der Kunst der Fuge als letztes, noch dazu unvollendetes Werk Bachs zurückzuführen.50 Außerdem erfreute sich die Kontrapunktlehre in pädagogischen Kontexten großer Beliebtheit.51 Auch für Komponisten, die keine Fugen komponierten, gehörte „die Fuge als satztechnisches Verfahren“52 zur Ausbildung dazu. Das pädagogische Moment in der Funktion der Kontrapunktik stellt einen wichtigen Aspekt der Rückbesinnung auf Traditionen des frühen 17. Jahrhunderts (z. B. auf Heinrich Schütz) dar. Die historische Rückbesinnung bot außerdem, wie später noch zu klären ist, die Möglichkeit, den kontrapunktischen Stil als eine deutsch-nationale Angelegenheit zu deuten.53 Ob die Fokussierung auf Bachs Klaviermusik als stärksten Repräsentanten des kontrapunktischen Stils tatsächlich als eine bewusste Entscheidung der Erben und Anhänger Bachs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bewertet werden kann, ist fraglich. Matthew Dirst argumentiert, dass aufgrund der Einschätzung von Bachs Anhängern, seine Klaviermusik gelte als repräsentativ für Bachs „einzigartige Begabung“, die Fokussierung auf Bachs Klavierwerk entstanden sei.54 Rezeption, wie Dirst sie beschreibt, kann nicht als Resultat einer Entscheidung Einzelner gelten, sondern muss eingebettet in ein Handlungsnetzwerk vieler Beteiligter verstanden werden. Neben der spezifischen Rückführung auf die Veröffentlichung der Kunst der Fuge als Movens dieser Kontrapunktik-Bewegung ist die Anschlussfähigkeit des kontrapunktischen bachschen Stils und der Klaviermusik an Reflexionen über zeitgenössische Ideale von Musik die wohl wesentliche Ursache für die Popularität dieses Werks. Das große ästhetische Reflexionspotential, das die Musik Bachs kennzeichnet, führt, wie Dahlhaus nachzeichnet, zu dem Exempel-Status des Klavierwerks Bachs für Autonomiebestrebungen der Musik.55 In der Widmung, die Marpurg im Vorwort des zweiten Teils seiner Abhandlung von der Fuge an die Bach-Söhne C. P. E. und W. F. Bach richtet, betont er Bachs Vorreiterstatus als Kontrapunktiker: Gerade zu einer Zeit, als die Welt auf einer andern Seite auszuschweifen begunte, als die leichte Melodiemacherey überhand nahm, und man der schweren Harmonien überdrüssig ward: war 49 50 51 52 53 54 55
Friedrich Wilhelm Marpurg, Anleitung zur Singekomposition, Berlin 1758, in: Dok V (2007), Nr. 697a. Siehe dazu auch Matthew Dirst, Engaging Bach. The Keyboard Legacy from Marpurg to Mendelssohn (Musical Performance and Reception), Cambridge/New York 2012. Vgl. Wagner, Bach-Rezeption, S. 227. Ebd., S. 224. Vgl. das Kapitel Bach, der Nationale (Teil II, Kap. 2.4). Dirst, Engaging Bach, S. 169. Vgl. das Kapitel Bach, das Genie (Teil II, Kap. 2.3).
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der seel. Herr Capellmeister [Bach] derjenige, der ein kluges Mittel zu ergreiffen wuste, und mit den reichsten Harmonien einen angenehmen und fliessenden Gesang verbinden lehrte.56
Bachs kontrapunktische Kompositionsweise zeichnet sich in den Augen Marpurgs dadurch besonders aus, dass sie harmonisches Konzept und Melodie miteinander verbindet. Marpurg vermischt dabei zwei Positionen, die sich in der ScheibeBirnbaum-Debatte eigentlich gegenüberstanden, nämlich den strengen, harmonischen (kunstvollen) mit dem freien, melodiösen (natürlichen) Stil. In dem von Marpurg verfassten Vorwort zur zweiten Auflage der Kunst der Fuge aus dem Jahr 1752, bringt er die beiden Pole von „kunstvoller Arbeit“ und „gleichzeitiger Natürlichkeit“57 zu einer Synthese.58 Auf Marpurgs Begründung zu dieser Ansicht wird in der Bach-Rezeption im 18. Jahrhundert immer wieder zurückgegriffen. Er schreibt: Thut man aber einen Blick in seine Schriften [Das sind seine komponierten Werke, vorher spricht Marpurg von Bachs Eigenschaft des „Erfindens“. D. V.]: so könte man aus allen, was jemahls in der Musik vorgegangen und täglich vorgehet, den Beweiß hernehmen, dass ihn keiner in der tiefen Wissenschaft und Ausübung der Harmonie, ich will sagen, einer tiefsinnigen Durcharbeitung sonderbarer, sinnreicher, von der gmeinen Art entfernter und doch dabey natürlicher Gedanken übertreffen wird; ich sage natürlicher Gedanken, und rede von solchen, die in allen Arten des Geschmacks, er schreibe sich her aus was für einem Lande er wolle, ihre Gründlichkeit, Verbindung und Ordnung wegen Beyfall finden müssen.59
Die „tiefsinnige Durcharbeitung“ der „natürlichen Gedanken“ schließen sich in Bachs Fugen nicht aus, weil – und das ist Marpurgs eigentliches Argument – nur „natürliche und bündige Gedancken allezeit und durchgängig ihren Wehrt [behaupten].“60 Eine Melodie, die sich nur nach dem Geschmack der Zeit richtete, verliere unweigerlich ihren Wert. Marpurg spricht hier dem bachschen Werk implizit die Idee eines „absoluten Kunstwerks“61 zu (auch wenn er den Begriff selbst nicht benutzt), das die Geschmäcker der Zeit überdauere, eben weil es aus der Synthese von kunstvoll gearbeitetem harmonischen Konstrukt und natürlicher Melodie besteht. Diese Bach zugeschriebene Synthese scheint eine Argumentationsstrategie Marpurgs zu sein, mit der er der Musik Bachs einen größeren Bekanntheitsgrad, auch außerhalb des musiktheoretischen Kontextes verschaffen wollte.62 56 57 58
59 60 61 62
Friedrich Wilhelm Marpurg, Abhandlung von der Fuge, nach den Grundsätzen und Exempeln der besten deutschen und ausländischen Meister entworfen, 2 Bde., Berlin 1753/54, ND New York 1970, hier das Vorwort zu Bd. 2, abgedruckt in Dok III, (1972) Nr. 658. Vgl. Wagner, Bach-Rezeption, S. 227. Hintergrund für die Entstehung dieses Vorworts ist die Bekanntschaft Marpurgs mit Bach und den Bach-Söhnen und seine gute Kenntnis der bachschen Fugentechnik. Ob sich Marpurg mit seinem theoretischen Werk Abhandlung von der Fuge explizit als Antwort auf die praktische Unterweisung Bachs „Die Kunst der Fuge“ versteht, ist offen. Vgl. Schulze, Friedrich Wilhelm Marpurg, S. 132. Marpurg, Vorwort zu Abhandlungen von der Fuge II (1752), in: Dok III (1972), Nr. 648. Ebd. So formuliert es Wagner, Bach-Rezeption, S. 227. Vgl. hierzu Dirst, Engaging Bach, S. 23, und ausführlicher Mary Sue Morrow, German Music Criticism in the Late Eighteenth Century: Aesthetic Issues in Instrumental Music, Cambridge/ New York 1997, S. 88 und 139–140.
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Die Bewertung des gearbeiteten Satzes erfolgt noch nicht (wie später bei Reichardt, Rellstab, Schubart etc.) vor dem Hintergrund der Genieästhetik, sondern vor der bürgerlichen Idee, dass zur Erlangung universaler Meisterlichkeit Geschick, Tüchtigkeit und Kunstfertigkeit erforderlich sei.63 Ähnlich beschreibt Agricola die Essenz des Unterrichts bei Bach: „Hieraus lernete ich vorzüglich, wie eine arbeitsame Vollstimmigkeit, mit einer fließenden Leichtigkeit, und mit einer malenden, an Erfindung unerschöpflichen Lebhaftigkeit verbunden werden können.“64 Begriffe, mit denen Marpurg und Agricola Bach als einen Kontrapunktiker beschreiben, assoziieren handwerkliche Tätigkeiten wie z. B. „Durcharbeitung“, „arbeitsam“, „Gründlichkeit, „Verbindung“ und „Ordnung“. Bach werden handwerkliche Züge zugeschrieben, so dass die kontrapunktische Satztechnik ein soziologisch aufgeladenes Fundament erhält. Der Universalismus, den Marpurg den Fugen Bachs aufgrund der Synthese beider Stile zuschreibt, findet in anderer Formulierung, bereits 1751, Erwähnung: Doch wie Griechenland nur einen Homer, und Rom nur einen Virgil gehabt: So wird Deutschland wohl nur einen Bach gehabt haben, dem in der vorigen Zeit, es sey in der Setz- oder Spielkunst auf der Orgel und dem Flügel in ganz Europa keiner gleich gekommen ist, und den in der Folgewelt keiner übertreffen wird.65
Mit diesem Zitat deutet sich bereits die Vereinnahmung des kontrapunktischen Stils durch eine nationale Stimmungslage an, in der Bach und sein kunstvoll gearbeiteter Stil als typisch deutsch und damit anderen Nationen, wie Italien und Frankreich, überlegen konstruiert wurde.66 Eng verbunden mit der Vorstellung des Kontrapunktisten als Handwerker ist die des Lehrmeisters. In den Schriften C. P. E. Bachs wird J. S. Bach als Lehrmeister im Bereich des Kontrapunkts beschrieben, seine Fugen gelten als mustergültig. In seinem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen schreibt C. P. E. Bach: Es ist also besser, dass ein geschickter Lehrmeister seine Schüler nach und nach an schwerere Sachen gewöhnet. […] Bey ihm [J. S. Bach] musten seine Scholaren gleich an seine nicht gar leichte Stücke [seine Fugen] gehen.67
Geschlechtsspezifische Bedeutungszuweisung im Kontrapunktik-Diskurs Dem kontrapunktischen Stil wird neben der soziologischen (und später nationalen68) auch eine geschlechtsspezifische Bedeutung zugeschrieben. Eine düstere Zukunft weist Marpurg voraus, wenn die bachsche Fuge aus dem Konzertwesen 63 64 65
66 67 68
Vgl. Wagner, Bach-Rezeption, S. 228. Johann Friedrich Agricola in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 1766 (Hg. von Fr. Nicolai), in: Dok. III (1972), Nr. 732. Friedrich Wilhelm Marpurg, Gedanken über die welschen Tonkünstler: Zur Beantwortung des im sieben und dreissigsten Stücke der hamburgischen freyen Urtheile befindlichen Schreibens an den Verfasser des Kritischen Musikus an der Spree, Berlin 1751, abgedruckt Dok III (1972), Nr. 641. Auch zitiert bei Schulze, Friedrich Wilhelm Marpurg, S. 121–132. Vgl. das Kapitel Bach der Nationale (Teil II, Kap. 2.2.4). Carl Philipp Emanuel Bach, Vorwort zum Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Berlin 1753, in: Dok III (1972), Nr. 654. Vgl. das Kapitel Bach der Nationale (Teil II, Kap. 2.4).
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verschwinden würde – vom „Mechanisten“ (dem Interpreten) nicht mehr aufgeführt und vom „zeitigen Componisten“ nicht mehr komponiert würde, dann fehle das „männliche Wesen, das in der Musik herrschen soll“.69 Vollständig lautet dieser Absatz: Der zeitige Componist, der die Fuge für eine Geburt des aberwitzigen Alterthums hält, giebt dem Mechanisten keine Gelegenheit die Reitze einer Fuge dem Zuhörer empfindlich zu machen. Da bleibt denn das männliche Wesen, das in der Musik herrschen soll, aus derselben gänzlich weg, denn es ist ohne weitern Beweiß zu glauben, dass derjenige musikalische Setzer, der sich mit Fugen und Contrapuncten besonders bekandt gemachet, so barbarisch dieses letzte Wort auch den zärtlichen Ohren unserer itzigen Zeit klinget, in alle seine übrige Ausarbeitungen, so galant sie auch heißen sollen, etwas darnach schmeckendes einließen laßen, und sich dadurch der einreißenden Trödeley eines weibischen Gesangs entgegen setzen wird.70
Die Gegenseite des kontrapunktischen Satzstils ist in Marpurgs bipolarem Modell der „weibische Gesang“, der sich durch „Trödeley“ und „hüpfende Melodiemacherey“71 auszeichnet. Dieses Denkmodell, das zwischen dem kontrapunktisch gearbeiteten Stil und dem natürlichen, melodiebezogenen Stil einen Gegensatz konstruiert, wird hier mit geschlechtsspezifischen Bewertungsmustern versehen, sodass in der Folge Bachs Fugenschaffen mit einem „männlichen Wesen“ und der zeitgenössisch-empfindsame Stil („zeitige Componist“) weiblich konnotiert wird.72 Die „zärtlichen Ohren“, die metaphorisch das zeitgenössische Musikhörertum abbilden sollen, sind ebenfalls als Ausdruck von Weiblichkeits-Vorstellungen des 18. Jahrhunderts geprägt. Diese musiktheoretisch untermauerte Geschlechterideologie ist hier im Falle Marpurgs, aber auch in den entsprechenden Beispielen in Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch vor dem Hintergrund einer Stilisierung des Instrumentalstils zur vermeintlich wahren Gattung und der Herabstufung des Vokalstils vor allem hinsichtlich der italienischen Opera Buffa zu sehen.73 Das Bewertungsprinzip beruht auf scheinbar im Ausdruck der Musik liegenden Charaktermerkmalen. So wird der gearbeitete Satz mit dem logisch-rationalen, männlichen Charakter und die galante Melodie mit den als weiblich konnotierten Qualitäten wie Einfachheit, Unschuld und Natürlichkeit in Verbindung gebracht. Die hier zum Ausdruck kommende Gegenüberstellung des Künstlich-Gearbeiteten mit dem Natürlichen rekurriert auf dem bipolaren Topos von Natur und Kultur bzw. Kunst, der die geschlechtsspezifischen Ideologien in der Musikkultur und in der Musikgeschichtsschreibung nachhaltig beeinflusste. „Das Männliche wurde als erzeugend und befruchtend und damit als geniehaft angesehen; das Weibliche hingegen als gebärend und empfangend 69 70 71 72
73
Marpurg, Vorwort zu Abhandlungen von der Fuge II (1752), in: Dok III (1972), Nr. 648. Ebd. Ebd. Zur geschlechtsspezifischen Charakteristik wie sie A. B. Marx am Beispiel Beethovens entwickelt hat, vgl. Ingeborg Pfingsten, „Männlich“/„Weiblich“: Nicht nur im Sprachgebrauch von Adolf Bernhard Marx, in: Cornelia Bartsch / Beatrix Borchard / Rainer Cadenbach (Hgg.), Der „männliche“ und der „weibliche“ Beethoven. Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongress vom 31. Oktober bis 4. November 2011 an der Universität der Künste Berlin (Schriften zur Beethovenforschung 18), Bonn 2003, S. 59–76. Roe-Min Kok, Art. „Klaviermusik (Gattung musikalische)“, in: Annette Kreutziger-Herr / Melanie Unseld (Hgg.), LMG, Kassel/Stuttgart 2010, S. 222–224, hier S. 222.
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und somit untergeordnet.“74 Über die Auswirkungen des im deutschen Sprachraum angesiedelten Topos Natur vs. Kunst bzw. Kultur auf das kulturelle Handeln von Frauen resümiert Susanne Kogler: „Dass Natur traditionell weiblich konnotiert ist, Rationalität jedoch männlich, trug und trägt zu einer Frauen benachteiligenden Hierarchiebildung im Bereich des kompositorischen Schaffens bei.“75 Die hier im musiktheoretischen Kontext hergestellte Geschlechterideologie hatte Einfluss auf die nachfolgenden Bach-Rezeptions-Generationen. So lässt sich der Konnex aus Fuge und Männlichkeit als eine konstante Kategorie des Bach-Diskurses formulieren.76 Beatrix Borchard konstatiert den Nexus von Bach-Rezeption und Männlichkeits-Bildern am Beispiel von Fanny Hensels Identität als Künstlerin und bewertet die „gedachte Traditionslinie Bach-Beethoven“ als eine „explizit deutsche und männliche“77, die vor allem durch die Ideen von A. B. Marx und K. Schirmer geprägt wurde.78 Wesentlich für diese geschlechterfokussierte Komponente im Bach-Diskurs ist die bei Marpurg und C. P. E. Bach auf J. S. Bach ausgerichtete Verbindung des Kontrapunktischen mit dem Männlichen. Das bedeutet, dass der geschlechtsideologische Topos – wie ihn Borchard für das beginnende 19. Jahrhundert formuliert – bereits als Bestandteil des musiktheoretischen Diskurses im 18. Jahrhundert bewertet werden kann. Die Stilisierung des kontrapunktischen Stils sowohl im 18. und unter veränderten, im Banne der Genieästhetik stehenden Vorzeichen im 19. Jahrhundert trug dazu bei, dass die Idee des männlichen Wesens nachhaltig im Bach-Diskurs verankert wurde. Wenngleich noch in zeitlicher Distanz ist Robert Schumanns Huldigung der Fuge aus dem Jahr 1832 unter ähnlichen Vorzeichen zu betrachten: Die Fuge habe ich der Reihe nach bis in ihre feinsten Zweige zergliedert; der Nutzen davon ist groß und wie von einer moralisch-stärkenden Wirkung auf den ganzen Menschen, denn Bach war ein Mann – durch und durch; bei ihm gibt’s nicht Halbes, Krankes, ist alles für ewige Zeiten geschrieben.79
Allerdings gerät hier neben der Geschlechterkategorie noch der Aspekt der Krankheit in den Fokus. Krankheit steht für Schumann im absoluten Gegensatz zur läuternden Wirkung der bachschen Musik. Der moralisierende, quasi-religiöse Nimbus, in dem Robert Schumann hier Bachs Fuge als Resultat seines männlichen Geschlechts beschreibt, steht ganz im Zeichen der kunstreligiösen Überhöhung Bachs im 19. Jahrhundert, wie sie in der Generation Clara Wiecks, Robert Schumanns, 74 75
76 77 78 79
Martin Loeser, Art. „Natur“, in: LMG, S. 402–404, hier S. 403. Vgl. Eva Rieger, Frau, Musik und Männerherrschaft. Zum Ausschluß der Frau aus der deutschen Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Musikausübung, Berlin 1981, Kassel 21988, S. 124–131 / S. 146–150. Susanne Kogler, Autorschaft, Genie, Geschlecht. Einleitende Überlegungen zum Thema, in: Kordula Knaus / Susanne Kogler (Hgg.), Autorschaft, Genie, Geschlecht. Musikalische Schaffensprozesse von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (Musik – Kultur – Gender 11), Köln/ Wien 2013, S. 9–22, hier S. 12. Vgl. das Kapitel Bach, der Nationale (Teil II, 2.4). Borchard, Einschreiben in eine männliche Genealogie?, S. 76. Vgl. Kirchmeyer, Ein Kapitel Adolf Bernhard Marx, S. 87. Arnim Gebhardt, Robert Schumann als Symphoniker (Forschungsbeiträge zur Musikwissenschaft 20), Regensburg 1968, S. 107.
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Fanny Hensels und Felix Mendelssohn Bartholdys nachzuzeichnen ist.80 Diese kunstreligiöse Zuschreibung Bachs ist eng verbunden mit dem Diskurs „Bach, das Genie“. 2.3 Bach, das Genie Ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gesellt sich neben das werk- und theoriefokussierte Verständnis von Bach als einem bürgerlich-handwerklichen Kontrapunktiker eine neue Deutungsebene. Diese zeichnet sich durch eine grundlegende Ästhetisierung Bachs im Sinne eines Genies aus. Bach wurde zu einem Kunstobjekt erhoben, in dem sich Wirkung, Erfahrung und Stimmung der Hörenden manifestierten. Um die Genialität, die Bach in den hier untersuchten Berliner Texten zugeschrieben wird, zu begreifen, soll zunächst darauf hingewiesen werden, dass Unterschiede auszumachen sind zwischen dem gemeinhin mit Ludwig van Beethoven in Verbindung gebrachten Genie-Diskurs des 19. Jahrhunderts und den Bildern und Vorstellungen, mit denen Bach bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts beschrieben wurde. Diese Differenzen zwischen dem alten Genie-Begriff des 18. und frühen 19. Jahrhunderts versus dem des späteren 19. Jahrhunderts werden nicht als gänzlich disparat zueinander verstanden. Stattdessen ist von einem Entwicklungsprozess in der Zuschreibung Bachs als Genie zu sprechen. Bei den hier vorgestellten Texten handelt es sich um eine Frühphase genieästhetischen Gedankenguts. Es hantiert anders als der neue Genie-Begriff des 19. Jahrhunderts nicht mit Konzepten wie Freizügigkeit und Heldenhaftigkeit. Bachs Genialität wird stattdessen innerhalb des moralischen Wertekanons und mit den für den Genie-Begriff des 18. Jahrhunderts typischen Eigenschaften wie der natürlichen Begabung, der engen Anbindung an die Regelhaftigkeit und die Vorbildhaftigkeit begründet. Bachs Genialität wird besonders greifbar in den zahlreichen Bezügen zum Bescheidenheits-Topos. Trotz aller zunächst aufscheinenden Differenzen zwischen dem alten und neuen Genie-Begriff ist nicht zu übersehen, dass Topoi, wie sie bei Melanie Unseld als zentrale rhetorische Mittel des neuen Genie-Begriffes beschrieben werden,81 auch in den Bach-Anekdoten des 18. Jahrhunderts präsent sind. Den Hintergrund für die Entwicklung eines genieästhetischen Gedankenguts bildet die neu entstandene Vorstellung einer Unabhängigkeit der Musik von allen nicht in ihr selbst verankerten Zwecken, wie etwa von den gesellschaftlichen Funktionen an Kirche und Hof. Diese Entfunktionalisierung der Musik und die Annahme, dass Musik die sie regulierenden Gesetzmäßigkeiten aus ihr selbst 80
81
Vgl. dazu die Forschungen von Janina Klassen, Fugenfinger und reine Kunst. Hintergründe der Bach-Rezeption Fanny Hensels, in: Borchard/Schwarz-Danuser (Hgg.), Fanny Hensel, geb. Mendelssohn Bartholdy, S. 203–208, und dies., Von Vor- und Übervätern. Familiäre und musikalische Genealogien im Selbstkonzept der Mendelssohns, Schumanns und Wiecks, in: Beiträge 1, S. 51–58. Unseld, Genie und Geschlecht, S. 36.
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heraus schafft, sind die vorherrschenden Denkmuster des musikalischen Autonomiebestrebens um 1800. Diese neuen Vorstellungen führten zur Idee einer reinen Instrumentalmusik, die als autonom verstanden wurde, eben weil sie ohne Sprache und Bild auskam.82 Instrumentalmusik galt als die absolute Musik, die die Grenzen von Sprache transzendieren konnte und deshalb erhaben war, weil sie das Unsagbare ausdrücken konnte. Nicht nur wurde die Musik als Kunstwerk für autonom erklärt, sondern auch der sie schaffende Künstler, der Komponist, erhielt einen neuen Bestimmungsrahmen, der sich nicht an bestimmten gesellschaftlichen (kirchlichen oder höfischen) Vorgaben wie Anlässen und kompositorischen Konventionen orientierte, sondern der aus sich selbst heraus das Schöne schuf. Schlüsselfigur innerhalb dieses ideologischen Denkansatzes ist das Genie, die prototypische Figur des Künstlers, der aus sich selbst heraus schöpft, zum Kunst-Schöpfer wird. Originalität, Subjektivität, Kreativität waren die Kennzeichen seines Geisteszustands. Mit der Erstarkung seines eigenen künstlerischen Selbstbewusstseins vollzieht der Künstler gleichzeitig „den bürgerlichen Emanzipationsprozess prototypisch an sich selbst“.83 Textvorbilder der deutschen Literaturbewegung des sogenannten „Sturm und Drang“ wie Herders Shakespeare-Aufsatz (1773),84 Goethes Prometheus (1772–74) und Johann Kaspar Lavaters Genie-Apostrophe (1775–1778)85 stellten die Weichen für den GenieKult des 18. und 19. Jahrhunderts. Berliner Literaten und Philosophen wie Ludwig Tieck, Wilhelm Schlegel, Friedrich Schleiermacher und E. T. A. Hoffmann sorgten für das musikästhetische Vokabular, mit dem die metaphysische Überhöhung von Musik im Zeichen der „Genieperiode“86 an Form gewann. Blickt man aber zunächst auf das 18. Jahrhundert ist bereits dort ein verstärktes Ringen um den Genie-Begriff und dessen Bedeutung für die Musikhistoriographie spürbar. So fasst Melanie Unseld zusammen: „Dass und wie intensiv hier Elemente des späteren Genie-Begriffs diskutiert wurden und wie eng dies mit dem sich wandelnden Bild vom Komponisten um 1800 in Verbindung stand, scheint nicht unerheblich zu sein, […].“87 Dieses Ringen um den Genie-Begriff ist auch bzw. sehr deutlich greifbar, in der Art und Weise wie J. S. Bach als genialer Künstler entworfen wurde. Im Folgenden stehen also Stufen dieses Zuschreibungsprozesses von Bach als Genie im Fokus. Dies betrifft erstens die Reduktion von Bachs Schaffen auf die Praxis der Komposition, zweitens den Fokus auf Bach im Sinne
82 83 84 85 86 87
Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 307. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750–1945, 2 Bde., Darmstadt 1985, 3. verb. Aufl. Heidelberg 2004. Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, S. 4. Vgl. Johann Gottfried Herder, Shakespeare (1773), in: Ders., Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1891, Bd. V, S. 208–231. Siehe Johann Kaspar Lavater, Physiognomische Fragemente: zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775–1778), hg. von Christoph Siegrist (Reclam Universalbibliothek 350), Stuttgart 1984, ND 1992, S. 297. Vgl. Eberhard Ortland, Art. „Genie“, in: Barck/Fontius, Ästhetische Grundbegriffe 2, S. 661– 708, hier S. 687. Melanie Unseld, Genie und Geschlecht, S. 23.
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eines bescheidenen und moralisch-integren Mannes (hier sind große Parallelen zum Luther-Diskurs um 1800 zu sehen) und drittens die Verbindung zum Gotik-Diskurs. Reduktion auf Bachs Kompositionspraxis Wie Melanie Unseld prägnant herausgearbeitet hat, gingen der Vorstellung vom Genie im Sinne eines „herausragenden Individualobjekts“88 Vorstufen voraus. Dazu gehörte u. a. die Aufwertung der Tätigkeit des Komponierens und damit einhergehend eine Abwertung anderer kultureller Praktiken (Improvisation und Instrumentenbau) und eine veränderte Wahrnehmung des Charakters des Komponisten. Während noch im Nekrolog aus dem Jahr 1750 eine Vielzahl an Tätigkeiten Bachs Erwähnung finden, wird in Texten des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts fast ausnahmslos das Komponieren Bachs in den Mittelpunkt gerückt. Der von Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Friedrich Agricola verfasste Nekrolog wurde 1754 in der Musicalischen Bibliothek unter der Rubrik VI „Denkmal dreyer verstorbener Mitglieder der Societät der musikal. Wissenschaften […]“ im Mizlerschen Bücher-Verlag in Leipzig veröffentlicht. Die implizite Vierteilung des Nekrologs in Biographisches, Würdigung des Werks, Bachs Mitgliedschaft in der „Societät“ und einem Widmungsgedicht entspricht der Aufteilung der Autorschaft zwischen Carl Philipp Emanuel Bach (Biographisches), J. Fr. Agricola (Würdigung des Werks), Mizler (Bachs Mitgliedschaft in der „Societät“) und Georg Wenzky (Widmungsgedicht). Wenngleich nicht in Berlin veröffentlicht, so ist der Nekrolog unter Mitwirkung C. P. E. Bachs und Agricolas verfasst, also von zwei prominenten Protagonisten der frühen Berliner Bach-Rezeption und wird hier daher als Teil des Berliner Bach-Diskurses behandelt. Er bildet zudem die Vorlage für alle folgenden Bach-Biographien, wie z. B. für die nur sprachlich leicht variierte Fassung Hillers89 und für J. N. Forkels Bach-Biographie. Das bereits herausgearbeitete Spannungsverhältnis zwischen dem freien und gearbeiteten Stil (Scheibe-Birnbaum-Debatte) dient im Nekrolog dazu, zwei zentrale Tätigkeiten Bachs, nämlich das Komponieren und das Improvisieren, zu beschreiben. Beide Stile (der natürliche und der künstliche Stil) werden verschiedenen Teilbereichen des Schaffens Bachs zugeordnet: der freie (natürliche) Stil der Fähigkeit Bachs zum Improvisieren und der gearbeitete (künstliche) Stil seinen Kompositionen. Die Stil-Synthese liegt bei Bach also im Zusammenwirken von Komposition und Improvisation. Als Exempel des gearbeiteten Stils bei Bach wird seine „künstlichste Ausübung“ der „verstecktesten Geheimnisse der Harmonie“ und sein „ernsthaftes Temperament“ im Komponieren von „arbeitsamer, ernsthafter und tiefsinniger Musik“90 genannt. Demgegenüber sind seine „Einfälle im Phantasiren“ „schön“ und „vollkommen“ und „im Spielen“ konnte er sich einer „leichten und scherzhaften Denkart bequemen“.91 Neben Bachs Improvisationsfähigkeiten 88 89 90 91
Unter „Individualsubjekt“ versteht Melanie Unseld ein künstlerisches Genie, das sich auf die eigene Individualität konzentriert. Kennzeichen sind u. a. das Regellose, das Aus-sich-selbstSchöpfende und das Zukunftsweisende. Vgl. Melanie Unseld, Genie und Geschlecht, S. 27. Dok III (1972), Nr. 895. Nekrolog, Dok III (1972), Nr. 666, S. 87. Ebd.
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wird auch seine Beschäftigung mit dem Orgelbau und seine Tätigkeit Orgeln zu testen und zu überprüfen hervorgehoben, ihnen wird im Vergleich zur Darstellung seiner Kompositionen verhältnismäßig viel Platz eingeräumt. Es ist bezeichnend, dass die Vielfalt an musikalischen Praktiken, die im Nekrolog dargestellt werden und Bachs Künstlertypus festigen sollten, in späteren biographischen Texten an Bedeutung verlieren und primär seine Produktion von Werken in den Fokus der Rezeption gerät. Vor allem auch das noch im Nekrolog so prominente Improvisieren gerät als Aspekt der Bach-Rezeption immer mehr in den Hintergrund. Forkel erwähnt Bachs Fähigkeiten als Improvisator nicht mehr explizit, stattdessen führt er als „Verdienste, welche Bach in der Kunst“ vorweisen konnte „Spieler, Componist und Musiklehrer“92 an. In der Materialsammlung Bemerckungen die musicalische Theorie betreffend (1770–1777) beschreibt Forkel ausschließlich Bachs „Einbildunsgkraft“ in seinen kompositorischen Ideen als Voraussetzung für seine Genialität. Und so vergleicht er unter dem Absatz „Ueber die Fehler des Styls“ J. S. Bach mit seinem Sohn Carl Philipp Emanuel: J. S. [scheint] aber weit mehr Genie, und eine lebhafftere und feurigere der erhabensten Ideen fähige Einbildungskraft [zu haben]. […] seine Ideen sind groß und erhaben, für Wesen einer höhern Ordnung als wir sind. […] J. S. Werke haben einen starken besonderen und ausgezeichneten Charakter, sie sind einzig und allein aus seiner Seele entsprungen, welche so vielen Reichthum und Ueberfluß hatte, dass sie fremder Hülfe nicht bedurfte.93
Diese Reduktion der Mannigfaltigkeit des bachschen Schaffens allein auf seine kompositorische Tätigkeit ist als eine Vorstufe des neuen Genie-Begriffes zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Es wird deutlich, dass Topoi, die in der Entwicklung des Genie-Diskurses an Bedeutung erlangten (Produktion, Innovation, Kreation), für die Historiographie der Bach-Rezeptionsgeschichte insgesamt eine stupend große Rolle einnehmen. Die im ersten Teil der Arbeit konstatierte Bedeutungsreduktion von Rezeption auf die kompositorische (und öffentlich-interpretatorische) Auseinandersetzung mit Bachs Werk ist in Bezug zu setzen, zu diesem, in den genieästhetischen Zuschreibungen erfolgten Fokus auf die Praxis der Komposition und deren Legitimation als Abbild genialer Einbildungskraft. So wie Forkel stellt auch J. Ph. Kirnberger, Bach-Rezipient erster Generation, den besonderen Charakter bachscher Kompositionen heraus. Kirnberger bleibt in seinen Werken zwar primär einem technischen, streng musiktheoretischen BachVerständnis verbunden,94 spricht aber in seinen Gedanken über die verschiedenen Lehrarten in der Komposition, als Vorbereitung zur Fugenkenntniß (1782) von einem bachschen „Karakter“, der Bachs Fugen innewohne und der sie maßgeblich von denen Johann Joseph Fux’ unterscheide. „Die Bachschen Fugen unterscheiden sich, wie gesagt, von allen andern eben dadurch, daß bey ihm alle Schönheiten, Rhythmus, Melodie und Karakter so, wie in allen andern seiner Stücken vereinigt
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Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, hg. von Wolff, S. 57, Original S. 45. Johann Nikolaus Forkel, Bemerckungen die musicalische Theorie betreffend, in: Dok III (1972), 800a. Zu Kirnbergers Bach-Rezeption siehe Heinemann, Paradigma Fuge, S. 119 ff.
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sind.“95 Bereits in seinem Lehrwerk Die Kunst des reinen Satzes (1771) bemerkt er den einheitlichen Charakter, der in Bachs Fugen beibehalten worden sei.96 Auch bei ihm lassen sich erste Tendenzen einer Erweiterung des mechanischen Urteils über Bach hin zu einem ästhetischen erkennen. Sowohl Forkel als auch Kirnberger statuieren Bach als besonderen, herausragenden Künstler anhand des Charakter-Begriffes. Die Haltung eines Komponisten stand im Entwicklungsprozess des Komponistenbildes im Sinne eines Genies neu zur Disposition. Während bei Forkel und Kirnbeger der Charakter in den Kompositionen als Nachweis für Bachs Einzigartigkeit diente, kam ab der Mitte des 18. Jahrhunderts eine weitere Deutungsebene hinzu, wie sie u. a. in Darstellungen Bachs im Sinne eines bescheidenen Menschen greifbar wird. Bach und der Bescheidenheits-Topos Ziel der Neubewertung des Charakters eines Komponisten war es, seine moralische Verfasstheit als Maßstab für seine Historiographie- bzw. Biographiewürdigkeit geltend zu machen. Es sollte überprüft werden, ob der Komponist als Genie bezeichnet werden konnte. Allerdings wandelten sich die Maßstäbe, mittels derer der Charakter eines Komponisten positiv bzw. negativ bewertet wurde. Während noch in Johann Matthesons Ehren-Pforte aus dem Jahr 1740 bürgerlich-moralische Tugenden im Vordergrund standen,97 brauchte es für den neuen Genie-Begriff eine Korrektur. Es waren eben die nicht-bürgerlichen, die „schattigen“ Charakterseiten, die – besonders prägnant mit der Schlüsselfigur des neuen Genies, mit Ludwig van Beethoven, – geniefähig wurden.98 Aber zunächst einen Schritt zurück: In den hier untersuchten Texten steht genau dieses Ringen um den Charakter Bachs und dessen Bedeutung für seine Genialität im Mittelpunkt. Es wird gezeigt, dass die Bach attestierte Bescheidenheit sein Bild als ein Genie festigte und ihm gewissermaßen den Status eines Helden verlieh. Ein anerkanntes Medium, eine historische Person zu entindividualisieren und ihr stattdessen scheinbar typische bürgerliche Charaktereigenschaften wie z. B. Bescheidenheit und Fleiß zu attestieren, war in der Geschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts die Anekdote und ihre Rhetorik. Gleichzeitig galt sie als angesehenes Mittel, das Fehlen ausreichender biographischer Quellen und historischer Belege zu überspielen, diese Lücken mittels ideologischer Konstruktionen
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Johann Philipp Kirnberger, Gedanken über die verschiedenen Lehrarten in der Komposition als Vorbereitung zur Fugenkenntniß, Wien 1793, Berlin, bey George Jacob Decker, 1782, ND in: Dok III (1972), Nr. 867. Vgl. Dok III (1972), Nr. 767. „Soviel mir bekannt, ist hier kein geitziger Taffi, kein mördrischer Castagno, kein bullen-mäßiger Raphael u. d. g. unter meinen Musicis anzutreffen, sondern es sind (menschliche Schwachheiten ausgenommen) tüchtige, gottsfürchtige, redliche fromme Männer, an deren etlicher Schreibart selbst man so gar erkennen kann, daß sie den Lastern feind sind.“ Johann Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der Tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler, etc. Leben, Wercke, Verdienste etc. erscheinen sollen, Hamburg 1740, Vorbericht, S. IX. Vgl. Melanie Unseld, Genie und Geschlecht, S. 33 f.
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zu überhöhen und sie damit unkenntlich zu machen.99 Diese beiden für die Anekdote typischen Eigenschaften sind auch im Bach-Bild C. P. E. Bachs, wie er es im Nekrolog verankert, anzutreffen: Sowohl die Kindheits-Anekdote als auch die Marchand-Anekdote überbrücken Lücken, die mangels ausreichender historischer Belege entstanden sind, und bilden die rhetorische Plattform, von der ausgehend Bach zu einem idealtypischen deutschen Bürger stilisiert wird. Ihm werden zwei zentrale Charaktereigenschaften des bürgerlichen Wertekanons im 18. und 19. Jahrhundert zugeschrieben: Fleiß/Pflichtbewusstsein und Bescheidenheit. Fleiß ist das Hauptmotiv in der Kindheitsanekdote und Bescheidenheit in der Marchand-Anekdote. Bach wird auch in weiteren Passagen des Nekrologs als fleißiger, eifriger und pflichtbewusster Charakter beschrieben.100 Bereits im ersten Satz des Nekrologs wird ein Eindruck von Bach als bescheidener Mensch erweckt, der seine musikalische Begabung als reines Geschenk wahrnimmt. Wie groß diese Begabung ist, wird erst später betont – sich selbst und seine Leistung stellt Bach jedenfalls dahinter vollkommen zurück: „Johann Sebastian Bach gehörte zu einem Geschlechte, welchem Liebe und Geschicklichkeit zur Musick, gleichsam als ein allgemeines Geschenck, für alle seine Mitglieder, von der Natur mitgetheilet zu seyn scheinen.“101 Bachs musikalisches Talent wird ihm als ein empfangenes „Geschenck“ attestiert, ganz im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung von „ingenium“ (lat. das Hineingeborene, das durch die Geburt Verliehene). Das Genie empfängt die Begabung und erwirbt sie nicht selbst.102 Hier wird deutlich wie stark der Bescheidenheits-Topos mit genieästhetischem Gedankengut verwoben ist. Dem bachschen Familien-„Geschlechte“103 wird ebenso Bescheidenheit zugeschrieben: „[…] dass diese ehrlichen Thüringer mit ihrem Vaterlande, und ihrem Stande so zufrieden waren, dass sie sich nicht einmal wagen wollten, weit ausser demselben ihrem Glücke nachzugehen.“104 Der Hinweis auf die Genealogie der Familie Bach entfaltet seine volle Bedeutung erst mit Blick auf den ersten Teil des 99 100 101 102 103
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Vgl. Frank Hentschel, Wie der ohnmächtige Dr. Martin Luther durch Musik wieder zu Bewusstsein kam. Lutherfiktionen im deutschen Musikschrifttum des 19. Jahrhunderts, in: Unseld/von Zimmermann (Hgg.), Anekdote – Biographie – Kanon, S. 145–158, hier S. 156. Vgl. z. B. Nekrolog, Dok III (1972), Nr. 66, S. 81 und 85. Nekrolog, Dok III (1972), Nr. 666, S. 80. Dem Terminus Genie liegen die beiden lateinischen Wörter „genius“ und „ingenium“ zugrunde. Vgl. Kogler, Autorschaft, Genie, Geschlecht, S. 11 und Achim Aurnhammer, Art. „Genie“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Sp. 456–461, hier 456. Es bedarf eingehender Forschungen, um die große Präsenz der Bach-Familie als Topos der Bach-Rezeption näher zu beleuchten. Rebecca Grotjahn wies in ihrem Vortrag im Rahmen des Bach-Symposiums am 3. und 4. Mai 2013 in Detmold auf die Verschränkung der Wahrnehmung und gleichzeitigen Etablierung einer Bach-Familiengenealogie mit dem aufkommenden Genie-Diskurs im 19. Jahrhundert hin (Veröffentlichung in Vorbereitung). Nicht nur der von J. S. Bach verfasste Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie, in: Dok I (1963), Nr. 184, als Ahnherrin der Familiengenealogie, auch der Nekrolog und viele weitere Texte des 19. Jahrhunderts etablieren die bachsche Familien-Genealogie als Topos der Bach-Rezeption (z. B. Johann Abraham Peter Schulz, in: Dok III (1972), Nr. 923, und Johann Friedrich Reichardt, in: Dok III (1972), Nr. 961). Vgl. das Kapitel Bach, der Nationale (Teil II, Kap. 2.4). Nekrolog, Dok III (1972), Nr. 666, S. 81.
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Nekrologs, der eine Auflistung sämtlicher männlicher Vorfahren Bachs und ihrer musikalischen „Geschicklichkeit“105 enthält. Hier wird Bachs Künstlerstatus ganz explizit aus seiner genealogischen Herkunft erläutert.106 „Es geht also nicht um das voraussetzungslose Erscheinen eines Genies, sondern um dessen geradezu notwendiges Hervorgehen aus seiner Abstammung […]“.107 Was Stefan Willer hier Forkels Bach-Monographie attestiert, ist somit bereits für den Nekrolog zu konstatieren. Allerdings – und das wird erst mit Forkel eingelöst – wird die Genealogie Bachs noch nicht vor dem Hintergrund von Bachs Nachfahrenschaft also mit Blick auf seine Söhne erfasst. C. P. E. Bach nutzt im Nekrolog den genealogischen Charakter der Erzählung, indem er seinen Vater als Nachkommen eines musikalischen Geschlechtes konstruiert. Sowohl die Bescheidenheit als auch die musikalische Begabung von Bachs Vorfahren werden als Voraussetzung des bachschen Genies deklariert. Der zwischen J. S. Bach und Louis Marchand im Jahr 1717 geplante, jedoch aufgrund des Ausbleibens von Marchand nicht umgesetzte Wettstreit, der anekdotenhaft in zahlreichen Texten besprochen wird, eignet sich als Plattform für weitere Vertiefungen dieser Art.108 Im Nekrolog heißt es: Bach der also nunmehr allein Meister des Kampfplatzes war, hatte folglich Gelegenheit genug, die Stärcke, mit welcher er wider seinen Gegner bewafnet war, zu zeigen. […] und musste die erworbene Ehre als die einzige Belohnung seiner Bemühungen mit sich nach Hause nehmen.109
Ehre als Belohnung – also kein finanzieller Gewinn – dient als Beweis seiner Bescheidenheit. Auch sei Bach – so der Nekrolog weiter – wohlwollend seinem Konkurrenten Marchand gegenüber gewesen: „Uebrigens gestund unser Bach dem Marchand den Ruhm einer schönen und sehr netten Ausführung gerne zu.“110 Neben den Aspekt der Bescheidenheit treten im Nekrolog weitere Eigenschaften u. a. Selbstaufgabe und Opferbereitschaft für die Kunst, mit denen der Charakter Bachs gekennzeichnet werden sollte. Ohne eine explizite Erwähnung schreibt etwa Carl Philipp Emanuel Bach seinem Vater genialische Züge zu, wenn er Bachs Tod als Resultat seines eigenen Ehrgeizes und seiner Passion darstellt. Er bezieht sich vor allem auf Bachs Augenleiden, das – so der Sohn – durch zu viel Lesen und Abschreiben von Noten in der Dunkelheit während Bachs Kindheit hervorgerufen 105 Ebd., S. 80. 106 „Johann Sebastian Bach, gehöret zu einem Geschlechte, welchem Liebe und Geschicklichkeit zur Musik, gleichsam als ein allgemeines Geschenck, für alle seine Mitglieder, von der Natur mitgetheilet zu seyn scheinen. So viel ist gewiß, dass von Veit Bachen, dem Stammvater dieses Geschlechts, an, alle seine Nachkommen, nun schon bis ins siebende Glied, der Musik ergeben gewesen, auch alle, nur etwa ein Paar davon ausgenommen.“ (Nekrolog, Dok III (1972), Nr. 666, S. 80). 107 Stefan Willer, Biographie – Genealogie – Generation, in: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie: Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 87–94, hier S. 89. 108 Der Marchand-Wettstreit wird z. B. bei Marpurg, Legende einiger Musikheiligen, anekdotenhaft wiedergegeben (Dok III (1972), Nr. 914). Vgl. dazu auch Dok III (1972), Nr. 441, 666, 675, 693, 907. 109 Nekrolog, Dok III (1972), Nr. 666, S. 83. 110 Ebd., S. 84.
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worden sei.111 „Aber hat nicht eben diese Begierde in der Musik weiter zu kommen, und eben der, an das gedachte Buch, gewandte Fleiß, zufälliger Weise vielleicht den ersten Grund zu der Ursache seines eigenen Todes geben müssen?“112 Der starke Fokus auf das Versagen der Sehkraft, dessen Mythologisierung – aus heutiger Sicht betrachtet – als eine Antizipation der Narration des beethovenschen Gehörverlusts verstanden werden kann, hüllt Bach in eine Aura des Über-Menschlichen, der sich allein seiner Kunst verschrieben sieht und dem Erblinden zum Trotz auf dem Sterbebett Kompositionen diktiert. Indem wiederum die Kindheits-Anekdote, die beinhaltet, dass Bach verbotenerweise Notenhandschriften aus dem Notenschrank seines älteren Bruders stahl und diese in nächtlicher mühevoller Arbeit selbst abschrieb, als Ursache seines Sterbens dargestellt wird, verfestigt dieses Zitat in doppelter Art und Weise den Genie-Topos: Bach als Genie, dessen Talent in der frühen Kindheit missachtet wurde und der allen Hindernissen zum Trotz seiner Wissbegierde nachging und Bach als Märtyrer, der eben dieser kindlichen Hochbegabung durch Überanstrengung seiner Augen erliegt. Carl Philipp Emanuel Bach stellt mit dieser zweifachen Erwähnung der Kindheits-Anekdote auf wirkungsvolle Art narrativ ein biographisches Stufenleitermodell her, das auf der aufklärerischen Vorstellung der „systematischen Ausbildung und Entwicklung“113 fußte. Beginn und Ende des biographisierten Lebens sollten darin zueinander in einem teleologischen Verhältnis stehen. Alles sollte so erscheinen, als sei es auf das finale Lebensstadium sinnvoll ausgerichtet gewesen. Vollständig lautet die Kindheits-Anekdote im Nekrolog: Er holte es [das Buch voller Clavierstücke] also, weil er mit seinen kleinen Händen durch das Gitter langen, und das nur in Pappier geheftete Buch im Schranke zusammen rollen konnte, auf diese Art, des Nachts, wenn jedermann zu Bette war, heraus, und schrieb es, weil er auch nicht einmal eines Lichtes mächtig war, bey Mondenscheine, ab. Er suchte sie sich, insgeheim mit ausnehmender Begierde, zu Nutzen zu machen, als, zu seinem größten Herzeleide, sein Bruder dessen inne wurde, und ihm seine mit so vieler Mühe verfertigte Abschrift, ohne Barmherzigkeit, wegnahm.114
Künstler-Anekdoten folgten bestimmten „biographischen Formeln“,115 anhand derer die Typisierung des Künstlers und letztendlich seine Aufwertung zum Künstlerheroen erfolgen sollte. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Aussage, die wir der Anekdote in diesem oder jenem Falle entnehmen dürfen, wird dabei unerheblich, allein bedeutsam vielmehr der Umstand, dass eine Anekdote öfters, dass sie so berichtet wird, dass wir aus ihr auf eine typische Vorstellung vom Künstler schließen dürfen.116
Nekrolog, Dok III (1972), Nr. 666, S. 84. Ebd., S. 82. Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 148. Nekrolog, Dok III (1972), Nr. 666, S. 81. Vgl. Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 122. Begriff nach Ernst Kris / Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Wien 1934, ND Frankfurt a. M. 1995 (Suhrkamp TB Wissenschaft 1202), S. 158. 116 Kris/Kurz, Die Legende vom Künstler, S. 32 f. Vgl. auch Melanie Unseld, Genie und Geschlecht, S. 36. 111 112 113 114 115
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In Anlehnung an die Forschungen von Ernst Kris und Otto Kurz117 stellt Melanie Unseld eine Übersicht von fünfzehn für die musikalische Biographik relevanten Anekdoten-Formeln zusammen.118 Die im Nekrolog enthaltenen Anekdoten folgen dabei größtenteils diesen Formeln.119 So sind sowohl das Motiv des Autodidakts als auch das der frühen Widerstände, die Bach in den Weg gestellt werden und an denen sich das bedingungslose Durchsetzen seines Talents beweisen konnte, im Bach-Bild des Nekrologs präsent. Bachs religiöse Selbstbestimmung bleibt im Nekrolog vollständig unerwähnt. C. P. E. Bach beschreibt die musikalische Begabung seines Vaters als etwas Metaphysisches, nicht explizit Religiöses, Protestantisches, sondern deklariert sie als etwas „von der Natur mitgetheilet[es]“.120 Interessanterweise wird die Polarisierung zwischen einem Künstlertum bei Bach, das der Religion verschriebenen ist, und einem, das unter genialer, natürlicher Eingebung erfolgt, auch in der Bach-Forschung des 20. Jahrhunderts perpetuiert.121 Mit Blick auf den Luther-Diskurs wird die Verbindung zwischen dem Genieund Bescheidenheits-Topos für die Bach-Historiographie besonders evident.122 Für die diskursive Darstellung Luthers wurden ähnliche rhetorische Mittel verwendet wie später (bzw. gleichzeitig) für Bach. Anlässlich des Wartburgfestes im Jahr 1817 entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein patriotisch motiviertes Luther-Bild, das sich weniger auf Luther als eines arbeitsamen, aber vor allem privaten und häuslichen Menschen stützte – eine Komponente des Luther-Bildes, die bis dahin sehr präsent war –, sondern dass ihn zu einer politischen Figur mit nationaler Geltung erhob. Lutz Winckler macht deutlich, dass scheinbar konträre Eigenschaften – der häusliche, bescheidene, arbeitsame und sittsame Luther (nach Winckler „aufgeklärtes Luther-Bild“) vs. der patriotische, emanzipatorische und nationale Luther als Schöpfer deutscher Nationalreligion (nach Lutz Winckler: „patriotisches Luther-Bild“) – zwei Seiten desselben Phänomens
117 Kris/Kurz, Die Legende vom Künstler. S. 32 f. 118 Vgl. die Übersicht der Anekdoten-Formeln bei Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 123 ff. 119 Laut Konrad Küster, Zum Umgang mit Musikeranekdoten des 18. Jahrhunderts: Das Beispiel Bach, in: Joachim Kremer / Wolf Hobohm / Wolfgang Ruf (Hgg.), Biographie und Kunst als historiographisches Problem: Bericht über die internationale wissenschaftliche Konferenz anlässlich der 16. Magdeburger Telemann-Festtage, Magdeburg, 13. bis 15. März 2002 (Teleman-Konferenzberichte 14), Hildesheim/New York 2004, S. 142–160, ist es problematisch, die Bach-Anekdotik des 18. Jahrhunderts mit der Anekdotik und ihrer Funktion in der sich etablierenden Musikhistoriographie im 19. Jahrhundert zu vergleichen. Vgl. dazu Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 119, Anm. 348. 120 Nekrolog in Dok III (1972), Nr. 666, S. 80. 121 Z. B. bei Zenck, Stadien der Bach-Deutung, S. 8, aber auch Wagner, Bach-Rezeption. 122 Frank Hentschel, Lutherfiktionen, S. 156 f., untersucht das Luther-Bild in der Musikhistoriographie des 19. Jahrhunderts und stellt fest, dass durch die Verwendung von Anekdoten und ihrer spezifischen Rhetorik das historische Individuum Luther zu einer idealtypischen Figur, z. B. zum idealen Bürger, zum vorbildhaften Deutschen etc. stilisiert wurde.
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darstellen.123 Als „deutsch“ bezeichnete Eigenschaften wie Bescheidenheit und Sittsamkeit dienten der patriotischen Gesinnung in religiöser und kultureller Hinsicht.124 Damit korrelierte die Darstellung Luthers als eines privaten, vorbildlichen Haus- und Familienvaters mit Darstellungen im öffentlichen Leben, da man davon ausging, dass die „Grundsätze bürgerlicher Sittlichkeit auch im öffentlichen Leben in der äußeren und inneren Freiheit der Nation verwirklicht werden müssten“.125 So lässt sich – in Anlehnung an den Luther-Diskurs – für den Bach-Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts erneut konstatieren, dass Bescheidenheit, Pflichtbewusstsein und Askese als vereinbar zur Genieästhetik betrachtet werden können, bewertet man im Sinne Wincklers das Private als Spiegel des Öffentlichen (Nationalen). J. S. Bach wird – vor allem mittels der rhetorischen Formeln der Anekdote – zum idealtypischen Bürger stilisiert. Und diese ihm attestierten Eigenschaften gehen kongruent mit den Topoi, die ihn als Heroen beschreiben und die vor der Folie der Genieästhetik an Relevanz gewinnen. C. P. E. Bachs Bild-Konzept des Vaters ist sowohl dem traditionellen Musikerbild des Gelehrten also auch dem sich entwickelnden Bild des Musikers als eines freien Künstlers verschrieben. Diese beiden (Selbst-)Konzepte spiegeln sich in der Art und Weise, wie Bach gleichsam als bescheidener und als emphatisch-genialer Künstler konstruiert wird. Bach und der Gotik-Diskurs Ein weiteres begriffliches Feld, das zum Verständnis der genieästhetischen Bewertung Bachs zwischen 1750 und 1829 wichtig ist, betrifft das des Gotischen in der Musik. Erhabenheit und Rührung gehörten zu den zentralen Implikationen des Gotik-Diskurses um 1800, in dem der Hörende und seine subjektiven Hörerfahrungen im Mittelpunkt der Reflexion standen. Der Gotik-Diskurs zählt zu den Hauptrezeptionsmustern nach 1800 und beschreibt eine ästhetische Kategorie, die die Bach-Geschichtsschreibung betreffend eine in höchstem Maße ideologisch behaftete ist.126 Insbesondere in den Schriften Johann Friedrich Reichardts wird deutlich, wie wirksam Aspekte des Gotik-Diskurses mit den Tendenzen, Bach als Genie darzustellen, verknüpft wurden. Bereits 1774 spricht Reichardt von Bach als „Genie“,127 1796 von „Eigenheit“ und „Kühnheit“, die er Bach in seiner harmonischen Kunst attestiert.128 In einem Aufsatz aus dem Jahr 1782 resümiert Reichardt im Anschluss an die vollständige Wiedergabe des Aufsatzes von J. W. Goethe Von deutscher Baukunst (1772), dass er beim Spielen von Bachs f-Moll Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier gar nicht aufhören konnte sie zu spielen, „da ich sie zuerst sah, und war darob in das 123 Lutz Winckler, Martin Luther als Bürger, Patriot und Kirchenmann. Untersuchungen über das Wartburgfest 1817 und die Politisierung des Luther- und Reformationsverständnisses im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation, Tübingen 1969, S. 60. 124 Ebd. 125 Ebd., S. 74. 126 Mutschelknauss, Bach-Interpretationen, S. 251. 127 Vgl. Dok III (1972), Nr. 799. 128 Vgl. Dok III (1972), Nr. 996.
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tiefste und doch süßeste Trauergefühl versunken“.129 Das Straßburger Münster dient Reichardt als Objekt der ästhetischen Selbstfindung. Goethe fungiert als Mittler in der Beschreibung des Kunstgegenstandes. Kern der Betrachtung ist die Umwandlung vom Gotisch-Grotesken, vom Barbarischen hin zum Erhabenen, die Goethe vollzieht.130 Das tertium comparationis zwischen dem Straßburger Münster und der bachschen Fuge ist das Erwecken eines Eindrucks beim Betrachter bzw. beim Hörer. Der Fokus in der Beschreibung Reichardts liegt also auf der Rührung des Betrachters, nicht auf der kunstvollen Konstruktion der bachschen Fuge.131 Der strenge Satz ist lediglich Ausgangspunkt, von dem aus sich die Rührung entwickelt. Dabei ist es in diesem Fall Reichardts ganz persönliche Rührung, die bei ihm durch das Spielen und Hören der f-Moll Fuge hervorgerufen wird. Die Referenz auf Goethe, die Reichardt vornimmt, soll die bei Goethe so präsente Erfahrung von Kunst für Reichardts Argumentation betonen: Wie Goethe dem Straßburger Münster gegenüber eine von Vorurteilen freie und nicht durch Reflexion gebrochene Wahrnehmung fordert, so soll ein die ästhetische Spekulation ausschließender Totalitätseindruck von der Musik Bachs diese von den ihr anhängenden Vorurteilen befreien.132
Bei Reichardt geht der Vergleich nur mühsam zugunsten Bachs auf. Die f-Moll Fuge scheint als Beispiel für die Idee eines als natürlich empfundenen Stils, der den Zeitgenossen Reichardts eher in Bezug auf Händel einleuchtet, nicht eindeutig zu funktionieren: „Diese Fuge, die ich hier abdrucken lasse, kann nun zwar von all diesem nicht viel zeigen […].“133 Die Frage drängt sich auf, warum sich Reichardt unbedingt mit dieser Fuge (bzw. an Bachs Fugen überhaupt) auf das Vergangene bezieht, von dem er sich augenscheinlich eine Bestätigung des aktuellen neuen Stils erhofft. Reichardt versucht durch seine Argumentation einer allgemeinen Tendenz vorzubeugen, die den „alten“ bachschen Stil vor dem Hintergrund neuer ästhetischer Positionen als antiquiert und leer darstellen will. Die Neubewertung des Alten sollte für eine positive Konnotation des neuen Stils sorgen, die Martin Zenck als „Resubstantialisierung“134 bezeichnet: Der „alte, ernste Stil“ verkörpere Erhabenheit und Größe, während der gearbeitete Stil für Intensität stehe.135 Die Argumentation Reichardts erfolgt allerdings rein aus der Perspektive seiner persönlichen Hörerfahrung – die Fuge evoziere das „tiefste und doch süßeste Trauergefühl“136 –, ohne einen konkreten Bezug auf das Tonmaterial der Fuge nehmend. Die in der 129 Reichardt, Musikalisches Kunstmagazin 1, IIII. Stück, S. 197, ND in: Dok III (1972), Nr. 864. 130 Vgl. das Kapitel Bach und das „Alterthum“ (Teil II, Kap. 3.2.2). Zum Gotik-Diskurs vgl. die Ausführungen von Bernd Sponheuer, Zur Kategorie des „Gotischen“ (nicht nur) in der BachRezeption des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Ders./Oechsle/Well (Hgg.), Rezeption als Innovation, S. 217–246. 131 Vgl. Wagner, Bach-Rezeption, S. 231. 132 Zenck, Stadien der Bach-Deutung, S. 10. 133 Reichardt, Musikalisches Kunstmagazin 1, IIII. Stück, S. 196–197, ND in: Dok III (1972), Nr. 864. 134 Ebd. 135 Vgl. Zenck, Stadien der Bach-Deutung, S. 13. 136 Reichardt, Musikalisches Kunstmagazin 1, IIII. Stück, S. 196–197, in: Dok III (1972), Nr. 864.
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„Scheibe-Birnbaum-Kontroverse“ ausgelöste Kontrastierung zweier vermeintlich gegenseitiger Stile versucht Reichardt geschickt außer Kraft zu setzen, indem er die Nähe des bachschen Stils zum empfindsamen und rührenden neuen Stil betont und mit dem Zeitgeschmack verbindet. Das, was bei Scheibe und Birnbaum in den 1740er Jahren konträr und unvereinbar schien, wird nun innerhalb des Bach-Verständnisses bei Reichardt – Bach als Erfahrung – ins Gegenteil verkehrt. Bach wird zum Gewährsmann des neuen Stils, da sein nun als rührend wahrgenommener Stil zugleich Tiefe und Erhabenheit symbolisiere – eine Komponente, die ein für den klassisch-empfindsamen (melodiebezogenen) Stil notwendiges Fundament darstellt. „Damit geht das Erhabene“, so Martin Zenck, einen Bedeutungszusammenhang mit dem ‚Classischen‘ ein. Das Strenge, Gearbeitete und Erhabene ist wie das ‚Classische“ in dem Sinn substantiell, dass es den Veränderungen der Zeit enthoben ist. Die Rehabilitierung des Erhabenen wird in der Phase des Stilverfalls zum zentralen Thema der Kompositionslehre und Ästhetik. Von seiner Aktualisierung erhofft man sich eine Überwindung des allzu zeitbedingten Stils.137
Reichardts unüberhörbare Unsicherheit in der Gegenüberstellung von bachschen Fugen mit dem Eindruck, den Goethe beim Anblick des Straßburger Münsters schildert, erfährt erst in den Texten E. T. A. Hoffmanns die finale Bestätigung, in denen er Bachs Musik mit der Architektur des Straßburger Münsters unmittelbar in Beziehung setzt.138 In Hoffmanns Texten so formuliert es Carl Dahlhaus erhalte der Bach-Diskurs „eine sehnsüchtige Färbung und einen enthusiastischen Akzent, die man als ‚romantisch‘ empfinden kann“.139 Ebenfalls zum Diskurs des bachschen Genietopos gehört das gegenseitige Ausspielen von Bach und Händel. Dieser Dioskuren-Topos war bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein ein anerkanntes Modell, der eigenen ästhetischen Position Fundament zu geben, wobei das Natürliche bei Händel und das Künstliche bei Bach eine große Rolle spielt. Mendelssohn-Bartholdys Zeitgenossin und Freundin Rahel Varnhagen van Ense geb. Levin (1771–1833) etwa argumentiert exakt im Gestus der knapp 100 Jahre zuvor angestoßenen Scheibe-BirnbaumDebatte: Schon vorigen Winter hörte ich mehrere Musiken von Händel, und jedes Mal war ich gleich erhoben und begriff nicht, wie auch nur drei Töne, für den Gesang von diesem Mann gesetzt, unausbleiblich diese Wirkung hervorbringen. […] Er weiß sie anfangen zu lassen, in eine Folge zu bringen, dass sie uns jedes Mal entheben und auf ein Feld der Wehmuth, der Erhabenheit und Ergebung versetzen. […] Ich begriff und begriff es nicht! besonders nicht, dass kein Komponist, nicht einmal der metaphysische, gottesfürchtige, mit höchstem Witz begabte Sebastian Bach mir diese gewaltsam-sanfte Versetzung und Erhebung unmittelbar bewirkte.140 137 Zenck, Stadien der Bach-Deutung, S. 17. Zenck bezieht sich mit diesen Ausführungen auch auf die Schriften von Christian Friedrich Daniel Schubart, dessen Texte in Wien erschienen und deshalb für die Darstellung in der vorliegenden Arbeit nicht berücksichtigt werden. 138 E. T. A. Hoffmann, Höchst zerstreute Gedanken vom Kapellmeister J. Kreisler (aus den noch ungedruckten ‚Fantasiestücken‘ in Callots Manier’, welche nächstens erscheinen), in: Zeitung für die elegante Welt, 14. Jg., Nr. 2–5, 1814 (4.–8. Januar). 139 Dahlhaus, Zur Entstehung der romantischen Bach-Deutung, S. 195. 140 Rahel Varnhagen van Ense an Ludwig Robert, Berlin, den 26. November 1824, zitiert in: Dok VI (2007), Nr. B 30, S. 227.
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Händels Melodie erzeugt bei ihr den Eindruck von Natürlichkeit und Erhabenheit. Bach komponiert in ihren Augen mit höchstem Witz, einem besonderen „esprit“.141 Die im Bezug auf Bach angesprochene Metaphysik wird von ihr im Verlauf des Briefes genauer definiert, nämlich als ein Abbild der Gesetzgebung von Gedanken in der Natur. Derart komponiere Bach, „ohne Gemütsbeziehung in den Tönen untereinander“.142 Rahel Varnhagen von Ense bewertet Bach somit vor dem Hintergrund des Gelehrten-Topos während sie Händel Erhabenheit attestiert. Wie dargestellt, lassen sich unterschiedliche Facetten des Genie-Diskurses in der Bach-Rezeption zwischen 1750 und 1829 erkennen, die als Stadien innerhalb eines genieästhetischen Zuschreibungsprozesses zu begreifen sind. Wenngleich hinsichtlich eines Komponistenbildes, für das Ludwig van Beethoven als Prototyp galt, Unterschiede auszumachen sind – z. B. galten Charaktereigenschaften des auf Beethoven ausgerichteten Genie-Begriffs wie Freizügigkeit, Anti-Bürgerlichkeit, aber auch Gewalt und Aggressivität, als unvereinbar mit dem Bach-Bild des 18. und auch des 19. Jahrhunderts –, so sind dennoch Kontinuitäten zu beobachten, die vor allem implizit in den zahlreichen Anekdoten verhandelt werden. Dies betrifft die Aspekte Bescheidenheit, Selbstaufgabe und Opferbereitschaft. Die Rührung, die Reichardt beim Hören der Musik Bachs beschreibt, sollte nicht nur Bachs Genialität beschreiben, sondern diente ebenfalls dazu, Bach als einen deutsch-nationalen Komponisten zu titulieren. 2.4 Bach, der Nationale Die Beziehungen zwischen Nationalismus und Musikgeschichte in Deutschland sind komplex.143 Und auch die schlichte Feststellung, dass Bach in Texten zwischen 1750 und 1829, die in Berlin verfasst oder veröffentlicht wurden, mit natio141 Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm wird unter Witz folgende Erklärung abgegeben, die als Kontexts des Zitats von Rahel Varnhagen sinnvoll erscheint: „eine neue aufgabe fällt dem worte im 17. jh. zu, als das gesellschaftlich-literarische ideal des bel esprit, ‚des aufgeweckten, artigen kopfes‘ aufkommt. witz wird unter einflusz des franz. Esprit und engl. wit bezeichnung für die gabe der sinnreichen und klugen einfälle.“ Jakob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 32 Bde., Leipzig 1854–Berlin 1961, Bd. 30, Sp. 863, OnlineVersion: www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=witz (letzter Zugriff am: 15. Juni 2017). 142 Rahel Varnhagen van Ense an Ludwig Robert, Berlin, den 26. November 1824, zitiert in: Dok VI (2007), Nr. B 30. 143 Wie heikel dieses Themengebiet ist, versinnbildlicht Applegate, How German Is It?, S. 274, mit den Worten: „For the pitfalls in the study of nationalism are many and the path through them difficult to negotiate.“ An angloamerikanischer Literatur zum Thema Musik und Nationalismus in Deutschland siehe: Pamela Potter, Most German of the Arts. Musicology and Society from the Weimarer Republik to the End of Hitler’s Reich, New Heaven 1998, den Sammelband Music and German National Identity, hgg. von Celia Applegate / Pamela Potter, Chicago/London 2002, und Barbara Eichner, „Was ist deutsch?“ Musical Solutions to Problems of National Identity (1848–c.1900). Diss. masch., Oxford 2005, veröffentlicht unter dem Titel: History in Mighty Sounds: Musical constructions of German National Identity, 1848–1914, Woodbridge/ Rochester 2012. An deutschsprachiger Literatur siehe: Hermann Danuser / Herfried Münkler (Hgg.), Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik, Schliengen
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nalen Zuschreibungen versehen wurde, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein vielschichtiges Phänomen. Frank Hentschel weist auf die Komplexität und Wechselseitigkeit der Zusammenhänge zwischen der Entwicklung eines bürgerlichen Nationalismus und der Musik als Träger und Katalysator deutscher Nationalismusideen hin144 – bürgerlicher Nationalismus deshalb, da sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nationalistische Ideen im Zuge der Erstarkung des deutschen Bürgertums und seiner Herausbildung zur kulturtragenden Schicht entwickelten. Musik wurde mit ästhetischen Kriterien bewertet, die den Interessen einer Gesellschaft entsprachen, in der der Nationalismus eine tragende Rolle als Selbstvergewisserungspotenzial und Orientierungshilfe spielte.145 Musik wurde unter diesem Blickwinkel als Trägermedium nationalistischer Ideen instrumentalisiert, um den Stellenwert der Musik selbst in der Gesellschaft und auch den Stellenwert nationalistischer Ideen zu festigen.146 Der Nexus zwischen dem bürgerlichen Wertekanon und dessen Einwirken in den Nationalismusdiskurs des 18. und 19. Jahrhunderts betrifft auch die bürgerlichen Geschlechterordnungen. Die bipolare Konstitution der Kategorie Geschlecht und die damit verbundenen wertenden Konnotationen wurden mit der Ausprägung des bürgerlichen Selbstverständnisses neu manifestiert.147 In diesem Prozess hatten der Nationalismus und Konzepte von „Größe“ und „Genie“, wie sie im Heroentum des 19. Jahrhunderts besonders wirksam zum Ausdruck kamen, eine große Bedeutung. Das Geschlecht funktionierte als trennscharfe Linie zwischen einer potentiell die Nation repräsentierenden Schicht (Männer) und derjenigen Gruppe, die als nationale Identitätsstifter nicht in Frage kommen würden, den Frauen.148 Ute Frevert formuliert den Konnex zwischen der Idee des Heroischen als zentralem Aspekt des Nationalen und des Männlichen am Beispiel der Texte des schottischen Historikers Thomas Carlyle (1795–1881):
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2001; Vladimir Karbusický, Wie deutsch ist das Abendland? Geschichtliches Sendungsbewusstsein im Spiegel der Musik, Hamburg 1995, Rebecca Grotjahn (Hg.), Deutsche Frauen, deutscher Sang – Musik in der deutschen Kulturnation. Vorträge der Ringvorlesung am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold, Paderborn (Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik 1), München 2009, 22010, mit einem Forschungsüberblick auf S. 11 f. sowie Hentschel, Bürgerliche Ideologie, bes. Kapitel 5. Vgl. ebd., S. 335. Zum Verhältnis Bürgertum und Nation sowie den Ursachen des Nationalismus vgl. HansUlrich Wehler, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen (Beck’sche Reihe 2169), München 2001, die Übersicht bei Hans Manfred Bock, Nation als vorgegebene oder vorgestellte Wirklichkeit? Anmerkungen zur Analyse fremdnationaler Identitätszuschreibung, in: Ruth Florack (Hg.), Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 76), Tübingen 2000, S. 11–36, und Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 335. Diese Begründung schlägt Applegate, How German Is It?, S. 281–296, vor. Vgl. Melanie Unseld, Das 19. Jahrhundert, in: Kreutziger-Herr/Unseld (Hgg.), LMG, S. 87– 97, hier S. 88. Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 260.
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Welcher Art diese Helden sein würden, ließ der Prophet im Dunkeln. Eins jedoch war klar: Sie mußten Männer sein. Männlichkeit, die Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht zeichnet sämtliche Personen aus, die Carlyle in seiner Heldengalerie aufmarschieren ließ. Keine einzige Frau war darunter. Diese Abwesenheit wurde ebensowenig kommentiert wie die Männlichkeit der Anwesenden. Sie war offenbar selbstverständlich.149
Blickt man auf den „nationalen Bach“ und den Zuschreibungsprozess im Zuge der bürgerlichen Identitätsfindung, ist die Kategorie Geschlecht als eine zentrale Untersuchungsebene zu berücksichtigen. Überblick: Nationalismus-Diskurs und Bach Folgender Überblick skizziert die unterschiedlichen Qualitäten im NationalismusDiskurs um J. S. Bach und benennt einige zentrale Texte, die sich zeitlich und räumlich auch über den Untersuchungsgegenstand hinaus erstrecken. Nationale Bedeutungszuschreibungen prägen die Diskurse der Bach-Rezeption schon zu Lebzeiten J. S. Bachs, aber vor allem die postmortale Rezeption. Allerdings ist dabei nicht von dem einen Nationalismus-Diskurs zu sprechen, sondern von verschiedenen Ausprägungen des Nationalismus, die je unterschiedliche Phasen der Bach-Rezeption betreffen. So sind beispielsweise zwischen C. P. E. Bachs Beschreibung seines Vaters im Nekrolog (1754) als einem Mann, „der der Musik, seinem Vaterlande, und seinem Geschlecht, zu gantz ausnehmender Ehre gereichet“150 und Forkels Einschätzung der Werke Bachs als eines „unschätzbare[n] NationalErbgut[s], dem kein anderes Volk etwas ähnliches entgegen setzen kann“151 Unterschiede auszumachen – nicht nur hinsichtlich der sprachlichen Intensität und Vehemenz, sondern auch hinsichtlich des jeweiligen Schreibanlasses. Während Forkels Bach-Biographie im Kontext der Drucklegung der Oeuvres complettes de Jean Sébastian Bach (1801–1804) als Werbeschrift zu betrachten ist,152 verfolgten die Autoren des Nekrologs das Ziel, zeitnah an Bachs Tod das „unverwechselbar Individuelle des Verstorbenen“153 öffentlich zu dokumentieren.154 Frank Hentschel erläutert für die Musikkultur zwischen 1776 und 1871 in Deutschland, dass die Ausprägung des Nationalismus als ideologisches Konzept für 149 Ute Frevert, Herren und Helden. Vom Aufstieg und Niedergang des Heroismus im 19. und 20. Jahrhundert, in: Richard von Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Wien/Köln/Weimar 1998, S. 323–344, hier S. 323 f. Vgl. auch Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 257. 150 Nekrolog, Dok. III, Nr. 666, S. 87. 151 Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, hg. von Wolff, S. 9 (S. V im Original). 152 Forkels Bach-Biographie lässt sich ebenso als Schlusspunkt seiner Allgemeinen Geschichte der Musik betrachten. Vgl. hierzu Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 209. Zum Charakter von Forkels Bach-Biographie als einer Werbeschrift siehe u. a. Annette Oppermann, Die Geburt des Herausgebers aus dem Geist des Widerspruchs – Johann Nikolaus Forkel und die Oeuvres complettes de Jean Sébastian Bach, in: Christiane Henkes / Walter Hettche / Gabriele Radecke / Elke Senne (Hgg.), Schrift-Text-Edition, Hans Walter Gabler zum 65. Geburtstag, Tübingen 2003, S. 171–179 (Beihefte zu editio, Bd. 19). 153 Myriam Richter / Bernd Hamacher, Biographische Kleinformen, in: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie: Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 137–142, hier S. 139. 154 Zum Nekrolog als Form des biographischen Schreibens vgl. ebd.
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die Beschreibung von musikalischen Phänomenen sukzessiv präziser und konkreter wurde.155 Bevor es zur Ausbildung von spezifischen, größtenteils stereotypen Nationaletikettierungen und Nationalcharakteren kam, existierten frühere Ausdrucksformen von Nationalismus, die sich z. B. in Form eines ausgeprägten Nationalstolzes zeigten und die sich bereits im 18. Jahrhundert herausbildeten. „Insofern kann man sagen, dass Nationalstolz der inhaltlichen Ausformung des musikalischen Nationalismus vorausging, der schließlich zur Stereotypisierung von Nationalcharakteren führte.“156 Hentschel konkretisiert seine Überlegungen an J. S. Bach und erläutert die unterschiedlichen Qualitäten von Nationalismus an drei Beispielen – Schubarts Autobiografie (Stuttgart 1791–1793), Forkels Bach-Monographie (Göttingen 1802) und Riehls Musikalische Charakterköpfe (Stuttgart 1853).157 Schubart war gar nicht auf die Idee verfallen, Bach ins Spiel zu bringen; Forkel machte ihn zur Nationalangelegenheit, aber erst allmählich schälte sich die Idee heraus, Bach verkörpere den deutschen Nationalcharakter, so dass Riehl ihn 1853 schließlich als ‚deutsche Kernnatur‘ ansprechen konnte.158
Diese drei Bach-Biographien stehen – so Hentschel – exemplarisch für drei verschiedene Etappen im Nationalismus-Bewusstsein, wie sie hier am Beispiel der Historiographisierung bzw. Biographisierung Bachs zur Geltung kommen. Als zentraler Entwicklungsprozess im Bach-Nationalismus-Diskurs wird meist die Phase zwischen Forkels Bach-Biographie und A. B. Marxens Schriften gesehen. Dabei wird der Frage, ob Forkels Nationalismen als Ursprung einer Nationalitätskonstruktion oder als Form eines Patriotismus’ zu bewerten seien, eine gewichtige Rolle beigemessen.159 Auch Hans-Joachim Hinrichsen unterscheidet zwischen 155 Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 419. 156 Ebd. 157 Christian Friedrich Daniel Schubart, Schubart’s Leben und Gesinnungen, von ihm selbst im Kerker aufgesetzt, 2 Bde., Stuttgart 1791–1793, Ausgabe in einem Bd., Stuttgart 1839, Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, ed. Wolff und Wilhelm Heinrich Riehl, Musikalische Charakterköpfe. Ein kunstgeschichtliches Skizzenbuch, 3 Bde., Stuttgart 1853–1878, dritte Aufl., Stuttgart 1861, achte Aufl. 1899. 158 Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 420. 159 Hinrichsen, Forkel und die Anfänge der Bachforschung, S. 238 ff., fordert ein kritisches Bewusstsein dafür, welche Texte überhaupt als Ursprung einer Nationalitätskonstruktion von Bach bewertet werden können und impliziert damit die Kritik, Forkels Bach-Monographie als Nationalismus-Schrift miss- und überzuinterpretieren. Er deutet Forkels Intention, Bach als Deutschen darzustellen, nicht als Nationalismus, sondern als Patriotismus – allerdings ohne dabei auf Definitionen zurückzugreifen und die terminologische Differenz zwischen Patriotismus und Nationalismus zu konkretisieren. Forkels Haltung sei – so argumentiert Hinrichsen – simpel patriotisch und nicht streng nationalistisch, weil sich bei Forkel eine starke „europäische Orientierung“ nachweisen ließe. Er zieht Textbeispiele aus Forkels Entwurf zur Vorrede der mit Joseph Sonnleithner geplanten Denkmälerausgabe hinzu, mit denen er Forkels europäische Gesinnung fundiert. Außerdem entlarvt Hinrichsen Forkels Strategie, Bach als einen Deutschen zu konstruieren, lediglich als ein Mittel zu Werbezwecken. Dies beruhe auf Forkels Einschätzung, Bach sei aus ästhetischen Gründen nicht genug vermittelbar. So resümiert er, dass „[…] der Patriotismus […] als Surrogat für die mangelnde ästhetische Einsicht einspringen [muss]“ (S. 239). Hinrichsens Argumentation, das patriotische Moment in der Konstruktion von Bach-Bildern als eine konstante Entwicklung zu betrachten, deren Ursprung (betrachtet
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nationalen Zuschreibungen, wie sie bspw. als Patriotismus in Forkels Bach-Biographie und einem „wenig später aufkommenden bornierten Nationalismus“160 im 19. Jahrhundert existierten. Markus Rathey argumentiert in ähnlicher Weise und betont, dass Facetten des Nationalismus-Diskurses bereits Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden sind und summiert, dass sich im 19. Jahrhundert nicht die Bach-Bilder änderten, „sondern die Art, wie diese zusammengefügt [wurden], und zwar im Hinblick auf eine national-kulturelle Identitätsfindung und -stiftung“.161 Unzweifelhaft gelangte der nationalistische Diskurs um Bach im Laufe des 19. Jahrhunderts, also erst nach dem hier untersuchten Zeitraum, zu größter Popularität und Differenziertheit. Auf musikjournalistischer Ebene zeichnet sich um 1829 der Höhepunkt einer Kampagne durch A. B. Marx ab.162 Er entwirft Bach als „Gründungsvater der deutschen Musik“163 und setzt ihn hinsichtlich seines musikhistorischen Status’ mit Beethoven gleich.164 Dies bedeutete einen erheblichen Schritt von neuer Qualität im Nationalismus-Diskurs. Auf musikbiographischer Ebene ist eine Zunahme an monographischer Literatur über Bach (Biographie Hilgenfeldt 1850, Schrift Schauer 1850, Biographie Spitta 1873 etc.) zu beobachten. Für den Biographen Schauer bedeutete seine Bach-Biographie den Ausdruck einer „wahren Begeisterung für echt deutsche Kunst“,165 die Bach-Gesellschaft sprach von der „Ehrenschuld der Nation“,166 die sie mit der Herausgabe der Gesamtwerke Bachs einzulösen garantiere und Philipp Spitta erklärte das „ganze deutsche
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man die Schriftstücke, die nach Bachs Tod erschienen sind) bereits im Nekrolog nachzuweisen ist, ist grundsätzlich zuzustimmen. Ob und inwieweit die Bezeichnung eines spezifischen Deutschtums Bachs als „patriotisch“ oder als „national“ die Qualität dieser Zuschreibung differenziert, ist fragwürdig. Betrachtet man das Vokabular Forkels, so lässt sich eher eine gleichwertige Verwendung beider Termini als die Bevorzugung von „Patriotismus“ nachweisen. Hinrichsens Bedenken, Forkels „Patriotismus“ mit der gezielten Nationalismus-Konstruktion eines Adolf Bernhard Marx gleichzusetzen, lässt sich nachvollziehen. In Anlehnung an Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 40, wird diese Entwicklung nicht als Wandel eines Patriotismus hin zum Nationalismus, sondern als Wandel einer ideologischen Qualität von Nationalismus verstanden. Hinrichsen, „Urvater der Harmonie?“, S. 37. Rathey, Bach-Renaissance, S. 189 f. Zur Bedeutung von Adolf Bernhard Marx und der Musikzeitschrift Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung für den Musikjournalismus in Berlin sowie für die Bach-Rezeption rund um die Wiederaufführung der Matthäus-Passion siehe Applegate, Bach in Berlin, S. 104–116 und 116–124. Hinrichsen, Forkel und die Anfänge der Bachforschung, S. 240. „Niemals hat ein Volk zwei solche Tonmeister nebeneinander besessen, wie unser Volk den Bach und den Händel; und niemals einen wie Bach. Es soll damit aber nicht äusserlich seine Grösse gegen andere Grössen gemessen werden, sondern er als Einziger in seiner Art und Stellung bezeichnet sein wie es später Beethoven in der seinigen war.“ Adolf Bernhard Marx, Ludwig van Beethoven. Leben und Schaffen, Berlin 1859, ND Hildesheim 1979, hier Bd. 1, S. 51. Siehe Hinrichsen, Forkel und die Anfänge der Bachforschung, S. 241. Johann Karl Schauer, Johann Sebastian Bachs Lebensbild. Eine Denkschrift auf seinen 100jährigen Todestag, den 28. Juli 1850, aus Thüringen, seinem Vaterland, Jena 1850, Vorwort, S. 2, zitiert in Sandberger, Das Bach-Bild Philipp Spittas, S. 204 f. J. S. Bachs Werke. Gesamtausgabe der Bachgesellschaft zu Leipzig, Leipzig 1851–1899, Bd. 1, Vorwort, zitiert in: Sandberger, Das Bach-Bild Philipp Spittas, S. 204.
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Volk […] zum Erben“167 der Werke Bachs. Textausschnitte dieser Art muten floskelhaft an und es ist kritisch zu hinterfragen, inwieweit sie nicht vielmehr als paratextuelle Elemente zu bezeichnen wären. Für den Zweck dieser Untersuchung ist die Frage nicht relevant, es ist ausreichend zu konstatieren, dass sich Nationalismen in Bezug auf Bach im 19. Jahrhundert manifestieren und sich verselbstständigen. Im Jahr 1850 wurde die erste vollständige Bach-Gesamtausgabe in den Druck gegeben und zeitgleich die Gründung der Bach-Gesellschaft gefeiert, mit der sich die Bach-Rezeption national und institutionell verankerte. Betrachtet man nun die Berliner Texte bis 1829 hinsichtlich ihrer nationalen Bedeutungszuschreibungen, werden unterschiedliche Nationalismus-Qualitäten deutlich. Mal sind es direkte nationale Zuschreibungen, mal sind es indirekte Beschreibungen, die aus heutiger Sicht als Implikationen eines nationalen BachBildes verstanden werden können, wie z. B. bestimmte Tugenden (Bescheidenheit etc.), die zu deutsch-nationalen Eigenschaften umgedeutet wurden. Wie bereits erwähnt, ist die Forschung zu Bach und dem Nationalismus extrem umfangreich.168 Ich setzte den Fokus deswegen bewusst auf zwei Aspekte des Nationalismus-Diskurses, die bislang wenig bis gar nicht beachtet wurden. Ziel dieser Analyse ist es, zwei bislang weniger reflektierte Aspekte in die Diskussion einzuflechten. Dies betrifft erstens die Kontinuität der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten Musikstildebatten und ihre Umdeutungen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Zweitens werden am Beispiel des Begriffsfeldes „Vater, Urvater, Übervater“ Nationaletikettierungen hinsichtlich ihrer geschlechtsspezifischen Bedeutungszuschreibungen untersucht, die wiederum für das Einordnen weiblicher Handlungsräume im 18. Jahrhundert und für das Verstehen ihrer Geschichtsschreibung relevant sind. Musikstildebatten Die Debatte um die musikalische Stilistik im Werk Bachs wurde Mitte des 18. Jahrhunderts auf zwei Ebenen geführt. Diese werden im Folgenden nachgezeichnet, da in Beschreibungen von Nationalstilen diese immer wieder aufgriffen wurden und das Bild von „Bach, dem Nationalen“ konstituierten. Die eine Ebene der Stildebatte betrifft den sogenannten „vermischten deutschen“ Stil, für den Bach als Schlüsselfigur ausgegeben wurde. So formuliert J. J. Quantz: 167 Spitta, Johann Sebastian Bach, II, S. 763. 168 Dies hängt insbesondere mit der gemeinhin als Schlüsseltext des Bach-Nationalismus-Diskurses gedeuteten Bach-Biographie von J. N. Forkel aus dem Jahr 1802 zusammen. Ihr Stellenwert ist in der Forschung gleichermaßen anerkannt und umstritten. Forkels Umgang mit biographischem Material, seine Ausführungen zu Bachs Vivaldi-Bearbeitungen werden bei Hinrichsen, Forkel und die Anfänge der Bachforschung, S. 215, als Lücken in Forkels Bach-Bild gedeutet. Siehe auch Fischer, Einleitung zu Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, ed. Fischer, S. 11., sowie Ders., „So, mein lieber Bruder in Bach …“, S. 224–233, Lehmann, Forkels Handexemplar, S. 233–240, und Wolffs Vorwort zu Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben. Zu Forkels Bach-Biographie als Modell für musikalische Biographik siehe Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 207 ff.
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Wenn man aus verschiedener Völker ihrem Geschmacke in der Musik, mit gehöriger Beurtheilung, das Beste zu wählen weis: so fließt daraus ein vermischter Geschmack, welchen man, ohne die Gränzen der Bescheidenheit zu überschreiten, nunmehr sehr wohl: den deutschen Geschmack nennen könnte.169
Zentrales Thema war die Verschmelzung verschiedener, teils gegensätzlicher kompositorischer Muster, denen jeweils eine spezifische nationale Stilistik zugesprochen wurde.170 Dieser vermischte deutsche Stil galt als ein Merkmal des bachschen Spätwerks. Die andere Stildebatte bezieht sich auf den Vergleich zwischen dem gearbeiteten, kontrapunktischen Stil und dem empfindsamen, die Melodie in den Vordergrund rückenden Stil. Im Disput zwischen Scheibe und Birnbaum171 beharrte Birnbaum darauf, dass in Bachs Werken eben auch der empfindsame, natürliche Stil zum Ausdruck kommen würde, während Scheibe Johann Adolf Hasse und nicht Bach als Gewährsmann dieses neuen Stils profilierte. Diese Scheibe-BirnbaumDebatte stellte die Ausgangslage für eine Debatte um Nationalcharaktere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dar. Beide Stildebatten werden nach 1750 in Texten tradiert, die später über einen immanent musiktheoretischen Kontext hinaus nationale Zuschreibungen Bachs erzeugten, um Bach in einem nationalen Kulturepos zu bewahren. Nun ist zunächst zu betonen, dass sich beide Stildebatten insofern unterscheiden, als die Frage nach dem vermischten deutschen Geschmack zwar sehr wohl eine nationale Komponente beinhaltet, die Scheibe-Birnbaum-Debatte zunächst aber keinen expliziten Bezug zu einem nationalen Topos aufweist.172 Ein Nationalstil bezieht sich eher auf ein musikalisch-technisches Mittel, wie dies z. B. beim lombardischen Rhythmus der Fall ist. Dahingegen referiert ein Nationalcharakter vor allem auf die Ausdrucksqualität von Musik und ist damit – weil diese Zuschreibungen kaum rational erklärbar waren – höchst anfällig für Ideologisierungen. „Insofern entpuppt sich der scheinbare Mangel an Versuchen, den musikalischen Nationalcharakter an den Kompositionen präzise aufzuzeigen, als ein konstitutives Element dieser Ideologie.“173 Blicken wir nun auf die Texte, in denen die Stildebatte im Hinblick auf Nationalismen eine Rolle spielt: Ein wesentlicher Aspekt der bereits mehrfach erwähnten Marchand-Anekdote ist die Gegenüberstellung des französischen und deutschen Stils. Zentrales Motiv, das die Vorrangstellung Bachs aufgrund einer Nationenzugehörigkeit reflektiert, ist der von Bach initiierte Wettstreit mit Louis Marchand im Jahr 1717. Dieser fand allerdings nie statt, da Marchand am Morgen des Wett169 Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung die flute traversière zu spielen, Berlin 1752; Faksimile-Nachdruck der 3. Aufl. Berlin 1789 (Documenta musicologica 1; DruckschriftenFaksimiles 2), Kassel 1953, § 87. 170 Günther Wagner, Johann Sebastian Bach und der „Berliner Geschmack“, in: JbSIM 2004 (2005), S. 75–88, hier S. 79. 171 Vgl. das Kapitel Zwischen strengem und freiem Stil – Ein Spannungsfeld entsteht (Teil II, Kap. 2.1). 172 Hentschel unterscheidet zwischen Nationalstilen und Nationalcharakteren, gibt aber zu bedenken, dass diese Differenz primär theoretischer Art und nicht realiter zu denken sei. Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 362. 173 Ebd., S. 365.
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kampftages, so die Überlieferungsgeschichte der Marchand-Anekdote „heimlich“ abreiste. Werner Breig legt in seiner überlieferungskritischen Studie detailliert 21 verschiedenen Quellen dar, die sich zwischen 1739 (erste Verteidigungsschrift Birnbaums) und Forkels Bach-Biographie (1802) auf diese Anekdote beziehen.174 Die Berliner Texte sind die Folgenden: Der Nekrolog (1754), die Abschnitte in Marpurgs Historisch-kritischen Beyträgen (1755) und Marpurgs Satire Legende einiger Musikheiligen. Ein Nachtrag zu den musikalischen Almanachen und Taschenbüchern jetziger Zeit175 (1786) sowie die anonyme Zuschrift in Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutschen Bibliothek (1788). Diese anonyme Zuschrift wird C. P. E. Bach als Autor zugeordnet. In den entsprechenden Abschnitten des Nekrologs geht es um eine weitestgehend als Nationalstil-Debatte geführte Diskussion. So summiert C. P. E. Bach im Anschluss an die detaillierte Schilderung des geplanten Wettstreits mit Marchand im Nekrolog: „Ob aber Marchands Müsetten für die Christnacht, deren Erfindung und Ausführung ihm in Paris den meisten Ruhm zu Wege gebracht haben soll, gegen Bachs vielfache Fugen vor Kennern würden haben Stand halten können: das mögen diejenigen, welche beyde in ihrer Stärcke gehöret haben, entscheiden.“176 Das in Leipzig 1790–1792 erschienene Historisch-Biographische Lexikon von Ernst Ludwig Gerber, erwähnt in seinem Bach-Artikel den Marchand-Wettstreit als Ereignis, in dem Bach die Ehre der Nation rettete.177 Anders als im Nekrolog wird nicht explizit musikalisch argumentiert und auch nicht in Bezug auf einen Nationalcharakter, der vermeintlich in Bachs Werk anzutreffen sei. Nicht die Musik, sondern Bach – als berühmter Name – wird hier als Held der Nation angesehen. Anders in der – C. P. E. Bach zugeschriebenen – anonymen Schrift in Friedrich Nicolais Allgemeiner deutschen Bibliothek aus dem Jahr 1788. C. P. E. Bach weist hier eine Kritik Charles Burneys aus dem Jahr 1785 zurück, nach der Händels Orgelfugen J. S. Bachs Kompositionen bei weitem überstiegen.178 Claviersachen von Bachen und Händeln erschienen zur gleichen Zeit in den zwanziger Jahren dieses Sekulums im Druck. Aber welche Verschiedenheit! In Händels Sviten ist viel Copie nach der damaligen Art der Franzosen, und nicht viel Verschiedenheit; in Bachs Theilen der Clavierübung ist alles Original und verschieden.179
Die Degradierung des französischen Stils kommt in diesem Zitat präzise zum Ausdruck und richtet sich gegen Bachs Kontrahenten Händel, der eben nicht „ver174 Werner Breig, Bach und Marchand in Dresden. Eine überlieferungskritische Studie, in: BJ 84 (1998), S. 7–18. 175 Das Pseudonym, unter dem Marpurg diese Satire veröffentlichte, lautete Simeon Metaphrastes. 176 Nekrolog (1754), Dok III (1972), Nr. 666. 177 „1717 rettete er die Ehre seiner Nation gegen den berühmtesten französischen Organisten Marchand […].“ Ernst Ludwig Gerber, Art. „Bach“, in: Ders., Historisch-Biographisches Lexicon, Sp. 87. 178 Vgl. Charles Burney, An Account of the Musical Performances in Westmister-Abbey and the Pantheon, May 26th, 27th, 29th, and June the 3rd and 5th, 1784 in Commemoration of Handel, Dublin 1785, London 1834, ND in: Dok III (1972), Nr. 905. 179 Anonym [Carl Philipp Emanuel Bach], in: Nicolai, Allgemeine Deutsche Bibliothek 79 (1788), ND in: Dok III (1972), Nr. 927.
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schieden“, d. h. im Sinne des vermischten deutschen Stils komponierte. Mitte des 19. Jahrhunderts ist der vermischte Stil auch bei August Reißmann Fundament für eine, wenngleich weitaus radikalere Nationalisierung Bachs und soll an dieser Stelle die Kontinuität der ursprünglich in den Musiktheorien geführten StilDebatte und ihre Ideologieanfälligkeit verdeutlichen. „Wir finden unsern Meister [J. S. Bach] im französischen und italienischen Stil tätig, er schreibt Konzerte im italienischen und Suiten und Ouvertüren im französischen Stil, aber er germanisiert beide, oder was vielleicht noch weit wichtiger ist, er gibt beiden eine universelle, eine ewige Bedeutung.“180 C. P. E. Bach verwendet in seiner Schrift die Bach-Marchand-Begegnung als Argument dafür, die Überlegenheit Bachs zu behaupten. „Vielleicht fällt aber jemanden hiebey die bekannte Geschichte mit dem nicht ohne Verdienst berühmten französischen Orgelspieler Marchand ein, der nach Dresden kam, um mit Bachen um die Wette zu spielen, und ohne Sieg bescheiden sich in sein Vaterland zurückzog […].“181 Die Stabilität, mit der Bachs Musik auf französische Einflüsse untersucht bzw. von ihnen abgegrenzt wurde, verdeutlicht auch das knapp 50 Jahre später erschienene Urteil C. Fr. Zelters.182 Er schreibt 1827 an Goethe, dass er bei Bach einen „französischen Schaum“183 erkennen würde – einen französischen Einfluss, dem man Bach nicht absprechen könne. Zelter führt weiter aus: „Dieses Fremde kann man ihm aber abnehmen wie einen dünnen Schaum und der lichte Gehalt liegt unmittelbar darunter.“184 Blicken wir nun auf die Debatte um den künstlichen vs. den natürlichen Stil. Wie Günther Wagner herausgearbeitet hat, verliert die in den 1730er bis 1750er Jahren zwischen den Apologeten Scheibe und Birnbaum geführte Diskussion dahingehend an Vehemenz, als dass nach 1750 einseitig nur „die kontrapunktische Komponente“185 des Disputs hervorgehoben wurde. So findet sich bereits bei Marpurg und Agricola der eindeutige Fokus auf Bachs Kontrapunktik186 und der Aspekt, inwieweit Bachs Werk den empfindsamen, natürlichen Stil im Sinne eines J. A. Hasses spiegele, gerät in den Hintergrund. Als Grund für diese Entwicklung benennt Wagner das Potenzial, sich mittels des kontrapunktischen Modells national zu profilieren. „Den frühen Bachbiographen kam die kontrapunktische Komponente in Bachs Werk insofern gelegen, als der kontrapunktisch-gearbeitete Stil die nationale Akzentuierung ermöglichte.“187 Vor diesem Hintergrund fand sowohl bei Reichardt, aber auch bei Forkel eine grundsätzliche Ästhetisierung in der Beur180 August Reißmann, Allgemeine Geschichte der Musik, 3 Bde., München/Leipzig 1863–1864, hier Band 3, S. 125, zitiert in: Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 400 f. 181 Anonyme Zuschrift veröffentlicht in Nicolai, Allgemeine Deutsche Bibliothek 79 (1788), S. 443, hier zitiert aus: Dok III (1972), Nr. 927. 182 Zur Thematik „Bach und der französische Stil“ siehe Dominik Sackmann, Französischer Schaum und deutsches Grundelement: Französisches in Bachs Musik, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 28 (2004), S. 81–93. 183 Brief von Carl Friedrich Zelter an Goethe (8. Juni 1827), zitiert in: Dok VI (2007), Nr. B 34. 184 Brief von Zelter an Goethe (8. April 1827), zitiert in: Dok VI (2007), Nr. B 33. 185 Wagner, „Berliner Geschmack“, S. 80. 186 Vgl. das Kapitel Bach, der Kontrapunktiker (Teil II, Kap. 2.2). 187 Wagner, „Berliner Geschmack“, S. 80.
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teilung von Bachs Musik statt.188 Nationalcharaktere, wie sie u. a. bei Lea Mendelssohn Bartholdy in großem Maße anzufinden sind, lassen sich auf eben diese Nationalisierung des kontrapunktischen Stils zurückführen.189 Lea Mendelssohn Bartholdy attestiert Bachs Musik einen ernsten Ausdruck. Ernsthaftigkeit war in Kombination mit Sittsamkeit im bürgerlichen Wertekanon durchweg positiv konnotiert und damit prädestiniert für eine nationale Charakterstereotype zur Beschreibung deutscher Musik.190 Vater, Urvater, Übervater Bestimmte Charaktereigenschaften, die zur nationalen Identitätsbildung wichtig waren, wie z. B. Stärke und Tüchtigkeit, wurden als spezifisch männliche Eigenschaften verstanden.191 Ute Frevert beschreibt Stärke, Mut und Tapferkeit als für das Männlichkeitsbild bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zentrale Charaktereigenschaften.192 Bach wurde, wie bereits an verschiedenen Stellen in den Kapiteln „Bach, der Kontrapunktiker“ und „Bach, das Genie“ gezeigt wurde, mit stabiler Kontinuität und anhaltender Dauer mit solchen, ausschließlich dem männlichen Geschlecht zugewiesenen Attributen wie Tiefe, Tüchtigkeit und Gründlichkeit charakterisiert – vom Nekrolog bis hin z. B. zu J. Fr. Rellstab, der Bach in einer Rezension der Kaffee-Kantate im Jahr 1837 als „tüchtigen ernsten Deutschen“193 bezeichnete. Geschlechterbezogene Wertungsmuster konnten vorher auch schon im musiktheoretischen Kontext ausgemacht werden.194 Die Kategorie Geschlecht erhält so im Zusammenhang mit den auf Bach bezogenen nationalistischen Diskursen eine prägnante Rolle,195 die hier am Beispiel des Begriffsfeldes „Vater, Urvater, Übervater“ näher untersucht wird. Neben den genannten Charaktereigenschaften Stärke, Mut und Tapferkeit – Eigenschaften, die gemeinhin mit Männlichkeit in Verbindung gebracht wurden – lässt 188 Vgl. das Kapitel Bach, das Genie (Teil II, Kap. 2.3). 189 Vgl. das Kapitel Bach und Erziehung (Teil II, Kap. 3.2.4). 190 Siehe dazu Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 461 ff., worauf im Kapitel „die wahre, keusche, stärkende, nicht erschlaffende Gewalt der Musik“: Bach-Diskurse bei Lea Mendelssohn Bartholdy (Teil II, Kap. 3.2) Bezug genommen wird. 191 Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 453–457, weist immer wieder auf die Bedeutung des Männlichen hin, der Charaktereigenschaften wie Stärke und Kraft attestiert wurden. 192 Ute Frevert, „Mann und Weib und Weib und Mann“, S. 30. 193 Ludwig Rellstab, Rezension von „Joh. Seb. Bach. Komische Cantate No. I. Schlendrian mit seiner Tochter Liesgen (Coffee-Cantate) herausgegeben von S. W. Dehn. Berlin bei Gustav Cranz.“, in: Iris im Gebiete der Tonkunst 8 (1837), Nr. 50 (8. Dezember 1837), S. 198–199, ND in: Dok VI (2007), Nr. C 39. 194 Vgl. das Kapitel Bach, der Kontrapunktiker (Teil II, Kap. 2.2). 195 Zum Forschungsfeld Nationalismus und Geschlecht allgemein vgl. Grotjahn (Hg.), Deutsche Frauen, deutscher Sang, 2. verb. Aufl. 2010; Ute Planert, Vater Staat und Mutter Germania. Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, (Geschichte und Geschlechter 31), Frankfurt a. M./New York 2000, S. 15–65, Marcia J. Citron, Männlichkeit, Nationalismus und musikpolitische Diskurse. Die Bedeutung von Gender in der Brahmsrezeption, in: Annette Kreutziger-Herr / Katrin Losleben (Hgg.), History Herstory, Alternative Musikgeschichten, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 352–374.
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sich in der Untersuchung der Berliner Rezeptionszeugnisse ein weiteres begriffliches Feld verorten, das eine explizit männliche Konnotation auszeichnet und das vor diesem Hintergrund für eine nationale Identitätsbildung relevant wurde. Und zwar betrifft dies das Begriffsfeld „alt“ und Synonyme wie Vater, Ur-Vater oder die Kombination „Altvater“, die hier zunächst anhand drei verschiedener Facetten von „alt“ und „Vater“ vorgestellt und dann vor dem Hintergrund einiger Darlegungen der bachschen Familiengenealogie untersucht werden sollen. Als erste – recht simple – Deutungsebene referiert die Bezeichnung „alt“ auf das Vergangene, d. h. auf den vergangenen Zeitabschnitt, in dem Bach gewirkt hat. So klingt es aus Zelters Worten „Hätte doch der alte Bach unsere Ausführung hören können […]“.196 Auf zweiter Deutungsebene erhält „alt“ als überzeitliche Dimension Bedeutung, im Sinne von Tradition und Klassizität. Es ist eben nicht der „junge Bach“, den es rein faktisch gesehen ebenso gab, der als kulturelles Kollektiv in Anspruch genommen wird, sondern der „alte Bach“. Rochlitz bezeichnet Bach schon 1798 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung als „Altvater deutscher Musik“.197 In Erwartung der sogenannten ersten Bach-Gesamtausgabe des „Bureau de Musique“ in Leipzig schreibt Beethoven, dass sein Herz ganz „für die Hohe Große Kunst dieses Urvaters der Harmonie schlägt“.198 Die Beschreibung Bachs als Vater deutscher Musik und seiner Werke als alt, verweist auf die Vorstellung, dass Bach Klassizität verkörpere. Celia Applegate bezeichnet diese historische Neueinordnung Bachs als „homemade classicism“.199 Matthew Dirst bringt Bachs Klassizität in direkte Verbindung zur nationalen Idee einer „serious music“: „Making a place for Bach at the intellectual table meant articulating his music’s ability to project serious thoughts and its place within the grand teleology of Western (i. e., German) art music.“200 Knapp zweihundert Jahre früher formuliert Hans Georg Nägeli die Idee des Klassischen. Er konstatiert, dass „zur Classizität […] ja die Geistesprodukte aller Art erst erhoben [werden], nachdem sie die Zeitansicht überlebt, die Veränderungen des Zeitgeschmacks überstanden haben, und hierauf die Anerkennung ihrer Musterhaftigkeit sich zum National-Urtheil gesteigert hat“.201 Die Verknüpfung einer Bach attestierten Klassizität im Sinne
196 Brief von Zelter an Goethe (12. März 1829), in: Dok VI (2007), Nr. D 83. Weitere Beispiele dieser Art gibt es viele. Vgl. u. a. Peter Wollny (Hg.), Ein Denkstein für den alten Prachtkerl: Felix Mendelssohn Bartholdy und das alte Bach-Denkmal, Leipzig 2004. 197 Friedrich Rochlitz, Biographien, Anekdoten aus Mozarts Leben, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 1 (1798/99): Nr. 2 (10. Okt. 1798), Sp. 17–24, Nr. 4 (24. Okt. 1798), Sp. 49–55, Nr. 6 (/. Nov. 1798), Sp. 81–86, Nr. 8 (21. Nov. 1798), Sp. 113–117, Nr. 10 (5. Dez. 1798), Sp. 145– 152, Nr. 12 (19. Dez. 1798), Sp. 179–180, hier Sp. 117, zitiert in: Dok III (1972), Nr. 1009. 198 Brief von Ludwig van Beethoven an Franz Anton Hoffmeister am 15. Januar 1801, zitiert in der Einleitung zu Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, ed. Fischer, S. 11. 199 Applegate, How German Is It?, S. 286. 200 Dirst, Engaging Bach, S. 103. 201 Hans Georg Nägeli, Der Streit zwischen der Alten und der Neuen Musik. Enthaltend: Nägeli’s Beurtheilung der Schrift: Die Reinheit der Tonkunst in der Kirche; nebst der Erwiderung des Verfassers sowie Gottf. Webers Ansicht über denselben Gegenstand, Breslau 1826, abgedruckt
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eines Überdauerns202 und einer nationalen Wirkung wird bei Nägeli präzise vollzogen. Vor diesem Hintergrund, also dem Ineinanderflechten von Ideen von Klassizität und dem Nationalen, kommt die Relevanz der Vater-Metaphorik bei Bach zur Geltung. Bach wird als Vater deutscher Musik im Sinne eines klassischen Künstlers (im Sinne des Überdauernden) zum nationalen Vater („Altvater deutscher Musik“). Auch Zelter beschreibt Bach in diesem Denkmodell von Väterlichkeit wie z. B. im Brief an Goethe aus dem Jahr 1827: Könnte ich Dir an einem glücklichen Tage […] eine von S. Bachs Motetten zu hören geben, im Mittelpunkte der Welt solltest du dich fühlen, denn einer wie du gehört dazu. Ich höre die Stücke zum wievielhundertsten Male und bin lange noch nicht damit fertig und werde es nie werden. Gegen Den sind wir alle Kinder hat sein Sohn Philipp Emanuel gesagt. Ja, ja: Kinder; ich fühle mich erhoben und vernichtet; er ist grausam, aber göttlich. Da nun die meisten von uns auch keine Kernbeißer sind so ist es spaßhaft wie sie sich anfänglich dabei anstellen und nicht eher zu sich selber kommen bis sie den Rossini ausgepißt haben.203
Ungeachtet der Rossini-Metaphorik204 fällt hier vor allem die Vermischung mit evolutionärem Gedankengut auf: Während Bach das Erwachsenstadium verkörpere, verharren alle anderen im Kindheitsstadium. Um 1800 wurde mit Kindheit vor allem Defizitäres, Unvollkommenes und Irrationales in Verbindung gebracht.205 Vor diesem Hintergrund wird der im Zitat hergestellte Kontrast zwischen zeitgenössischen Künstlern und Interpreten, zu denen sich auch Zelter zählt, und dem überzeitlichen, unangefochten Künstler Bach, weiter verschärft. Hier rekurriert der Status Vater bzw. das Gegenbild Kinder auf eine hierarchisch gedachte familiale Ordnung, die dann aber auf ein musikalisches Generationenmodell übertragen wird. Als dritte Bedeutungsebene von „alt“ verweist das Motiv des Vaters bzw. Väterlichkeit auf die Funktion des Familienvaters. Dieser sollte im 19. Jahrhundert zu einem Topos bürgerlicher Tugend werden, für die Bach eine musikhistorische Referenz bildete. So postuliert bspw. Emil Naumann im Jahr 1873, dass Bach „auch ein musterhafter Familienvater“206 gewesen sei. Vater bzw. Familienvater ist ein Topos, der von Bach selbst in dem von ihm im Jahr 1735 verfassten Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie207 initiiert wurde. Das Modell Familienvater bezieht sich bei Bach vor allem auf die Situierung seiner Person in die musikalische Genealogie seiner Familie. Im Ursprung arbeitet Bach explizit die Vorfahrenschaft seines „musikalischen Geschlechts“ heraus.208 Sämtliche weibliche Familienmit-
202 203 204 205 206 207 208
in: Johann Gottfried Hientzsch, Der Streit zwischen der Alten und der Neuen Musik, Breslau 1826, hier zitiert nach Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 202. Ebd., S. 201. Brief von Zelter an Goethe (7. September 1827), in: Dok VI (2007), Nr. B 65. Vgl. das Kapitel Bach und Rossini (Teil II, Kap. 3.2.1). Zum Verständnis von Kindheit im 18. Jahrhundert vgl. Philipp Ariès, Geschichte der Kindheit, 18. Aufl., München 2014. Emil Naumann, Deutschlands musikalische Heroen in ihrer Rückwirkung auf die Nation. Vortrag gehalten am 15. Februar 1873 im wissenschaftlichen Verein zu Berlin, Berlin 1873, S. 24. Vgl. auch Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 457. Dok I (1963), Nr. 184. Siehe hierzu Peter Williams, J. S. Bach. A Life in Music. Cambridge/New York 2007, bes. S. 117–121.
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glieder bleiben in dieser Darstellung allerdings unerwähnt. Durch das Verschweigen der weiblichen Familienmitglieder wird dabei implizit übermittelt, dass der „Familien“-Vater ein Vater der musikalischen Söhne und nicht der musikalischen Töchter ist. Der Topos „Familienvater“ beruht auf einer grundlegenden geschlechtsspezifischen, das Weibliche ausschließenden Fokussierung. So wirkt auch der Nekrolog in seinem Bezug auf den Ursprung in höchstem Maße exkludierend, wenn „die Liebe und Geschicklichkeit zur Musik“ als ein „allgemeines Geschenk, für alle seine Mitglieder“209 beschrieben wird. Denn auch hier werden nur die männlichen Familienmitglieder impliziert. Die biographische Einführung des Nekrologs, der zu weiten Teilen auf dem Ursprung fußt, endet mit dem Satz: „Dies ist die kurtze Beschreibung des Lebens eines Mannes, der der Musik, seinem Vaterlande, und seinem Geschlechte, zu gantz ausnehmender Ehre gereichet.“210 Hier wird der Nexus von Familienvater („Geschlechte“) und Nationalismus („Vaterland“) als Deutungsebene von Bachs Musik offensichtlich vollzogen. Für den Topos „Familienvater“ ist ein wichtiger Umwandlungsprozess im Männlichkeitsbild des 18./19. Jahrhunderts zu berücksichtigen, der sich wiederum auch im Bach-Diskurs in Form bestimmter Geschlechterideologien spiegelt. Während die oben bereits angeklungenen Ideale des Männlichkeitsbildes im 18. Jahrhundert (Stärke, Mut, Tapferkeit) – wie Frevert darstellt – assoziativ und nicht rational-intentional begründet wurden, erhalten Definitionen des Männlichen im ersten Drittel des 19. Jahrhundert einen „logisch-systemischen“ Argumentationsrahmen, der sich auf die biologische Zeugungsfunktion des Mannes stützt.211 Mit Blick auf den oben hergestellten Kontext zur Familiengenealogie wird vor dem Hintergrund der männlichen Zeugungsfähigkeit, die im Männlichkeits-Diskurs zu Beginn des 19. Jahrhunderts diskutiert wird, der Aspekt der Vererbung bzw. Erblichkeit relevant. Dieser biologische Diskurs beeinflusste im Übrigen auch die Bestimmung des Genies im 19. Jahrhundert. Die Übertragung familiärer, biologischer Strukturen auf künstlerische Fähigkeiten ist dabei zentral. Willer erörtert: Es geht also nicht um das voraussetzungslose Erscheinen eines Genies, sondern um dessen geradezu notwendiges Hervorgehen aus seiner Abstammung – wobei nicht nur vom innerfamiliären musikalischen Unterricht und von der intergenerationellen Weitergabe von Traditionen die Rede ist, sondern auch von einer darüber hinausgehenden Erblichkeit der ‚Anlage‘.212
Willer spannt seinen Argumentationsbogen am Beispiel von Forkels Bach-Biographie auf, die er als erste deutschsprachige Genie-Anthropologie bezeichnet.213 Das zentrale Zitat Forkels, auf das er sich beruft, lautet: „Wenn es je eine Familie gegeben hat, in welcher eine ausgezeichnete Anlage zu einer und derselben Kunst gleichsam erblich zu seyn schien, so war es gewiß die Bachsche.“214 Forkels BachBiographie vereint so gesehen die bachschen Genie- und Nationalismus-Diskurse in einem Rückgriff auf Bachs eigene Reproduktionsfähigkeit. Es ist, bezogen auf 209 210 211 212 213 214
Nekrolog, Dok III (1972), Nr. 666 (Hervorhebung Evelyn Buyken). Ebd. Frevert, „Mann und Weib und Weib und Mann“, S. 31. Willer, Art. „Biographie – Genealogie – Generation“, S. 89. Ebd. Forkel, Über Johann Sebastian Bachs Leben, ed. Fischer, S. 28.
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Forkels Bach-Biographie die Reproduktionsfähigkeit, die Bach zum Genie und nationalen Topos macht. Vor dem Hintergrund des genieästhetischen Vater-Bildes erlangt der oben zitierte Ausspruch Zelters, den er als Zitat C. P. E. Bachs kennzeichnet („Gegen den sind wir alle Kinder“) eine neue Bedeutung. Es geht vor dem Hintergrund des biologischen Diskurses im 19. Jahrhundert um die Degeneration des Genies, d. h. um das Schwinden der musikalischen Begabung in den nachfolgenden Generationen der Familie Bachs. Reichardts Artikel mutet beinahe sorgenvoll an, wenn er über die Bach-Familie schreibt: Seit zwey Jahrhunderten entsprangen aus der Bachschen Familie viele der größten Componisten, Organisten und Clavierspieler. Joh. Seb. Bach, der größte Künstler von allen, zeugte noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vier Söhne, die alle große Meister wurden. Wer kennt nicht den hallischen, den berlinischen, den englischen (oder den mailändischen) und den bückeburger Bach? Alle diese hinterlassen keine Nachfolger […]. Keine Nachfolger, die den grossen Nahmen auf die Nachwelt bringen. Der majestätische Strom theilt seine höchste Fülle in vier Arme, schickt diese allen Weltgegenden zu und sie alle treffen auf Sümpfe in denen sich die schöne Flut unwiederbringlich verliert.215
Das Prinzip der degenerativen Narration geht hier voll auf: Die Emphase auf Bachs Zeugungsfähigkeit steht im Kontrast zur versiegenden Kunst der Bachs in den nachfolgenden Generationen mangels männlicher Nachfahren. Es ist also der Vater Bach, der für den Nationalismus-Diskurs relevant wird, eben weil er im Zuge der Biologisierung des Männlichen ein prägnantes Kriterium des künstlerischen Genies erfüllte, nämlich sowohl das Hervorgehen aus einer musikalischen Abstammung als auch die Vererbung seiner Begabung. Damit war Bach als Künstlerfigur so weit stilisiert, dass er zur nationalen Identitätsbildung beitragen konnte. Keineswegs waren damit andere Vater-Bilder unwichtig geworden. So heißt es bei Forkel unter dem Abschnitt „Bachs häusliches und bürgerliches Leben“: „Die Tugenden des Hausvaters bewies er durch seine Sorgfalt für die Bildung seiner Kinder, und die übrigen durch gewissenhafte Erfüllung gesellschaftlicher und bürgerlicher Pflichten.“216 Das bürgerliche Vater-Modell des moralischkonformen Haus- und Familienvaters existierte dabei parallel zum evolutionären, genieästhetischen Vater-Modell. 3. MIKRO-BLICK LEA MENDELSSOHN BARTHOLDY: BACH REFLEKTIEREN IN BRIEFEN Die Geschichte der Großfamilie Mendelssohn Bartholdy ist auf vielfältige Weise mit dem Namen Johann Sebastian Bach verknüpft. Wenn hier im Zentrum der Betrachtungen Lea Mendelssohn Bartholdy steht, stellt dies also auf den ersten Blick eine Art Selbstverständlichkeit dar. Auf den zweiten Blick aber schwindet 215 Johann Friedrich Reichardt, Auf den Tod Carl Philipp Emanuel Bach’s, in: Musikalisches Kunstmagazin 2, V–VIII. Stück, Berlin 1791, VIII. Stück, S. 93, ND in: Dok III (1972), Nr. 961. 216 Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, ed. Wolff, S. 57, ed. Fischer, S. 45.
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diese Selbstverständlichkeit, vermutet man im Kontext einer Bach-Rezeptionsgeschichte doch eher die Namen Fanny Hensel geb. Mendelssohn Bartholdy oder Felix Mendelssohn Bartholdy. Zu untersuchen, wie Bach in der Familie Mendelssohn Bartholdy tradiert wurde und welche Rolle Lea Mendelssohn Bartholdy dabei einnimmt, erfordert sowohl eine genaue Eingrenzung und Einordnung des Gegenstandes (Kapitel 3.1) als auch einen differenzierten Blick auf den Tätigkeitsbereich Lea Mendelssohn Bartholdys (Kapitel 3.2). 3.1 Voraussetzungen und Kontexte Lea Mendelssohn Bartholdys Bedeutung für die frühe Berliner Bach-Rezeption ist bisher nur in Ansätzen erforscht. Es bedarf daher an dieser Stelle einiger Vorbemerkungen zur Forschungslage (Kapitel 3.1.1) und zur Bedeutung, die ihr im Rahmen dieser Studie zugewiesen wird (Kapitel 3.1.2). Dies betrifft auch die Quellenlage (Kapitel 3.1.3) sowie die Relevanz des Briefes als Medium einer nichtöffentlichen meist intimen Korrespondenz (Kapitel 3.1.4). Der innerfamiliale Musikraum bildet den Kontext, in dem sich Lea Mendelssohn Bartholdy J. S. Bach widmet, seine Musik bewertet und ihn als künstlerisches Vorbild konstruiert (Kapitel 3.1.5). Implizit präsentiert sich Lea Mendelssohn Bartholdy als Musikvermittlerin217 ihrer Kinder, ein Handlungsbereich, der für ihre Bach-Reflexionen ausschlaggebend ist (Kapitel 3.1.6). 3.1.1 Zwischen den Interessensgebieten der Forschung: Ein Forschungsrückblick Lea Mendelssohn Bartholdys Bedeutung wird zwar in vielen Bereichen der Musikhistoriographie immer wieder herausgearbeitet. Innerhalb dieser hat sich aber bisher weder in der musikalischen Salonforschung, noch der Mendelssohn- oder der Bach-Forschung ein profilierter Forschungsdiskurs herausgebildet. Jede der erwähnten Forschungsrichtungen hat dennoch in ihrer jeweils eigenen Sicht auf Lea Mendelssohn Bartholdy einen Anteil an ihrem Gesamtbild. Die Mendelssohn-Forschung ist mit einer geringen Anzahl von Quellen konfrontiert, die Auskünfte über Lea Mendelssohn Bartholdys eigene Musikausübung geben und ihr eine über den 217 „Musikvermittlung“ ist ein derzeit populärer Begriff, der nicht auf eine klar zu umreißende Bedeutung festgelegt werden kann. Innerhalb dieser Studie wird „Musikvermittlung“ als breiter Begriff verstanden, der im Unterschied zur institutionell gebundenen, an Schule oder Musikschule praktizierten Instrumental- und Musikpädagogik, allgemeine Methoden und Praktiken künstlerischer, reflexiver und kommunikativer Art umfasst, mittels derer Musik in unterschiedliche soziale Kontexte gebracht wird. Selbstverständlich wird im Kontext dieser Arbeit „Musikvermittlung“ nicht als spezifische Praxis von Konzerthäusern, Orchestern oder Ensembles begriffen, die mittels verschiedener Kommunikationsformen Kontakt zu ihrem Publikum suchen. Vielmehr geht es hier in einem allgemeinen Sinne um das „Schaffen von Zugängen zu künstlerischen Ereignissen“, um die „Erweiterung eigener künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten“ und um die „Stärkung der kulturellen Kompetenz“. Constanze Wimmer, Die Kunst Musik zu vermitteln, in: Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ), Jg. 66/3, Wien 2011, S. 58–59.
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familialen Kontext hinausgehende Bedeutung beimessen könnten. Die Studien von Cornelia Bartsch stellen hierbei eine Ausnahme dar, insofern sie bisher unbekannte Quellen präsentieren und diese neu kontextualisieren.218 Innerhalb der musikalischen Salonforschung wird oft weniger Lea Mendelssohn Bartholdy selbst, als vielmehr das den Salons zugrundeliegende Geselligkeits- und Aufführungsmodell, das sich unter der Leitung von Fanny Hensel entwickelt hat, untersucht. Arbeiten, die sich mit der Bach-Rezeption im Werk Fanny Hensels geb. Mendelssohn Bartholdy und Felix Mendelssohn Bartholdys beschäftigen, betonen fast ausnahmslos den von einer besonderen Verehrung Bachs geprägten familiären Hintergrund Fannys und Felix’, der sich sowohl auf theoretischer und praktischer Ebene niedergeschlagen zu haben scheint.219 Selten aber wird über grobe Zusammenhänge hinaus das Bach-Interesse der Vorfahren Fannys und Felix’ untersucht. Arbeiten, die einen kausalen Zusammenhang zwischen innerfamiliären Traditionen und der späteren Auseinandersetzung des Geschwisterpaares mit Bach herstellen, suggerieren oft, dass solche Zusammenhänge selbstverständlich seien und keiner weiteren Ausführung bedürften. Zwei Narrative prägen die Forschung zur Bedeutung Lea Mendelssohn Bartholdys für die Bach-Tradition der Großfamilie Mendelssohn Bartholdy: Erstens werden konsequent ausschließlich zwei Aspekte ihrer Bach-Rezeption in den Fokus gerückt und mit identischen Quellendokumenten belegt:220 zum einen Lea Mendelssohn Bartholdys Beschreibung von Fanny Hensels Fingern als „Bachsche Fugenfinger“221 und zum anderen Adolf Bernhard Marx’ Erinnerung an sie, in der sie als Kirnberger-Nachfolgerin, die Bachideale in ihrer Familie „einpflanzt“, dargestellt wird.222 Früh hat sich in der Forschung auf diese Weise die Wahrnehmung ihrer Bach-Rezeption auf ihre Eigenschaft als Entdeckerin 218 Cornelia Bartsch, Dialogizität versus Univers(al)ität? – Musik bei Lea Mendelssohn, in: Beatrix Borchard / Heidy Zimmermann (Hgg.), Musikwelten – Lebenswelten. Jüdische Identitätssuche in der deutschen Musikkultur (Jüdische Moderne 9), Köln 2009, S. 135–158, und Dies., Lea Mendelssohn Bartholdy, S. 61–74. 219 Janina Klassen, Fugenfinger und reine Kunst, S. 203–208, Susanne Fontaine, Bach, das Gegenbild, S. 209–215, Hans-Joachim Hinrichsen, Choralidiom und Kunstreligion. Fanny Hensels Bach, S. 216–222 und Ellinore Fladt, Das problematische Vorbild: zur Rezeption des „vokalen Bach“ in der Kantate Hiob, S. 223–234, alle in: Borchard/Schwarz-Danuser (Hgg.): Fanny Hensel geb. Mendelssohn Bartholdy: Komponieren zwischen Geselligkeitsideal und romantischer Musikästhetik (M & P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung), Stuttgart 1999, Kassel 22002. 220 Siehe Christian Lambour, Fanny Hensel als Beethoven-Interpretin: Materialien, in: Bettina Brand / Martina Helmig, Maßstab Beethoven? Komponistinnen im Schatten des Geniekults (Text und Kritik), München 2001, S. 106–119. R. Larry Todd, Die Matthäus-Passion, und ders., Felix Mendelssohn Bartholdy: Sein Leben, seine Musik, Stuttgart 2008, Renate HellwigUnruh, Ein Dilettant ist schon ein schreckliches Geschöpf, ein weiblicher Autor ein noch schrecklicheres. Sechs Briefe von Fanny Hensel (1805–1847) an Franz Hauser (1794–1870), in: Mendelssohn-Studien 10 (1997), S. 215–225. 221 Brief Abraham Mendelssohns an Bella Salomon vom 15. November 1805: „Lea findet, es habe Bachsche Fugenfinger, […].“ D-B MA, Depos. 3,3,1. Siehe das Zitat auch bei Sebastian Hensel, Die Familie Mendelssohn, 1729 bis 1847. Nach Briefen und Tagebüchern, 2 Bde., Berlin 1911, Bd. I, S. 102. 222 Das Zitat lautet: „In ihr [Lea Mendelssohn Bartholdy] lebten Traditionen oder Nachklänge von Kirnberger her; von dorther war sie mit Sebastian Bach bekannt geworden und hatte das unaus-
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bzw. Prophetin der Gaben ihrer Kinder und als Enkel-Schülerin Bachs fokussiert. Zweitens fällt auf, dass in der Schilderung der Bach-Affinität der Vorgängergenerationen von Fanny und Felix nicht zwischen den einzelnen Generationen und ihrer jeweils spezifischen Bach-Rezeption unterschieden wird. Die Aneinanderreihung Moses Mendelssohn – Sara Levy – Lea Mendelssohn Bartholdy – Fanny und Felix wirkt wie eine scheinbar kohärente Abfolge an Bach-Traditionen, die – wenn überhaupt – nur im Vergleich zur Bach-Rezeption Fannys und Felix’, aber nicht innerhalb dieser verschiedenen Generationen an Bach-Rezipienten ausdifferenziert wird. Obwohl die innerfamiliäre Weitergabe von Bach offenbar in der Forschung einen großen Stellenwert besitzt, ist die Quellenbasis für deren Darstellung (fast) immer mager. Die oft auf weiblichen Familienmitgliedern beruhende Überlieferung findet daher häufig nur als rhetorische Figur zur Begründung der Bach-Faszination von Fanny und Felix Mendelssohn Bartholdy Eingang. Einzelne Akteure, vor allem Lea Mendelssohn Bartholdy, werden folglich nicht detailliert behandelt. Rudolf Elvers ist hier zwar eine Ausnahme, erfasst aber dennoch nicht die volle Bandbreite des Tätigkeitsfeldes Lea Mendelssohn Bartholdys. Er rückt einige Briefe aus dem inneren Zirkel der Mendelssohn-Familie in den Mittelpunkt, die konkrete Bach-Bezüge aufweisen.223 So berücksichtigt Elvers u. a. Auszüge aus den Briefen von Lea Mendelssohn Bartholdy an ihre in Wien lebende Cousine Henriette von Pereira-Arnstein, die auch im Zentrum der folgenden Analysen stehen werden. Allerdings bleiben bei Elvers einige zentrale Äußerungen Lea Mendelssohn Bartholdys über Bach unberücksichtigt. Er betrachtet die Briefe nicht als Quellen eigenen Rechts, sondern benutzt sie um gewisse, schon bestehende Ideen zu untermauern. Sein spezifisches Interesse gilt ausschließlich den Ursprüngen der Bach-Rezeption Felix Mendelssohn Bartoldys und seine Briefanalyse soll daher dem Leser nur nahelegen, wie „der Knabe Felix schrittweise an den Thomaskantor und seine Musik herangeführt wurde“.224 Darüber hinaus wird eine gewisse Skepsis deutlich, die Elvers dem Wirken Lea Mendelssohn Bartholdys entgegenbringt. Diese äußert sich in Form von lapidaren Beurteilungen der in ihren Briefen zum Ausdruck kommenden Wahrnehmung und Einschätzung der bachschen Musik. Dort heißt es bezogen auf eine Briefstelle, die im nachfolgenden Analysekapitel untersucht wird: „Händel und Bach blieben für Lea natürlich immer die ernstesten unter allen Musikern.“225 In einem am ehesten als Quellenkritik zu bezeichnenden Text bewertet Elvers Lea Mendelssohn Bartholdys Eigenart, Briefe oftmals undatiert zu versenden, als „wohl weibliche Eigenart“, die sie „an ihre beiden Töchter Fanny und Rebecka“226 weitervererbte. Im Anschluss heißt es „Felix sei da besser erzogen […]“.227 Hier kommen
223 224 225 226 227
gesetzte Spiel des temperierten Klaviers ihrem Hause eingepflanzt.“ Adolf Bernhard Marx, Erinnerungen. Aus meinem Leben. Berlin 1865, Bd. 2, S. 116. Rudolf Elvers, Bach im Briefwechsel der Mendelssohns. Eine Spurensuche, in: Beiträge 1, S. 407–414. Ebd., S. 414. Ebd., S. 410. Rudolf Elvers, Acht Briefe von Lea Mendelssohn an den Verlag Schlesinger in Berlin, in: Carl Dahlhaus (Hg.), Das Problem Mendelssohn (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 41), Regensburg 1974, S. 47–53, hier S. 47. Ebd.
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bei Elvers geschlechtsspezifische Wertungsmuster zur Geltung, die den Gegenstand hinsichtlich seines epistemischen Status’ herabstufen. In dieser Analyse liegt das Hauptaugenmerk auf den schriftlichen Äußerungen Lea Mendelssohn Bartholdys über J. S. Bach. Es wird sowohl an bestehende Forschungen angeknüpft als auch der hier als kritisch bewertete Ansatz aus einer gendersensiblen Perspektive revidiert. 3.1.2 Mitten in der Bach-Forschung: Methodisches Konzept Der Anspruch dieser Arbeit ist es, Bach-Rezeption als Bestandteil einer familialen Praxis differenziert zu untersuchen. Das bedeutet, die Praktiken, die für diesen Raum spezifisch sind, zu benennen und zu beschreiben. Mit Blick auf Lea Mendelssohn Bartholdy steht hier zu allererst ihre diskursive Auseinandersetzung mit der Musik J. S. Bachs im Vordergrund. Wie lässt sich eine konkretere Vorstellung davon entwickeln, wie, mit welchen Maßstäben und Wertungen etc. Bach in der Familie Mendelssohn Bartholdy reflektiert wurde? Wie wurde er als ästhetisches Vorbild und als Künstleridentiät von Lea Mendelssohn Bartholdy an ihre Kinder vermittelt? Es ist davon auszugehen, dass die Vermittlung von musikalischen Vorstellungen und musikalischem Geschmack sowie die sinnvolle Vorausplanung und Anlage von privatem Musikunterricht nicht selbstverständlich und nicht einfach nur unbewusst „tradiert“ werden, sondern dass diese Parameter selbst Voraussetzungen haben, sie z. B gesellschaftlich konditioniert sind. Sie folgen einem Konzept, sind z. B. mit bestimmten absichtsvollen Praktiken zu erklären. Bach ist, so soll diese Analyse zeigen, nicht nur Bestandteil von Gelehrtendiskursen, wie sie im vorausgegangen Kapitel erörtert wurden, sondern Thema und Anlass von im Alltag verankerter Praktiken. Bach als Diskurs gerät in einen subjektiven menschlichen Nahbereich und wird zu einer individuellen Angelegenheit. Dass diese individuellen Aneignungen von ‚Bach‘ selbst durchwoben sind von kollektiven Denkmustern, wie sie z. B. in den sogenannten Gelehrtendiskursen etabliert wurden, ist nicht von der Hand zu weisen. Gerade dieses Zusammenwirken einer als öffentlich und einer als privat zu bezeichnenden Sphäre ist ein kennzeichnendes Merkmal von Diskursen, wie sie als Gegenstand dieser Arbeit begriffen werden. Die folgende Analyse soll zeigen wie intime Vorstellungen von Bach als ästhetischem Vorbild, historischer Person, Werkgestalt etc. auch den Diskurs über Bach in einer sogenannten Öffentlichkeit beeinflussten. Selbstzeugnissse werden daher als gleichrangig mit anderen, scheinbar forschungsrelevanteren Texten – z. B. philosophisch-ästhetischen Texten – verstanden. Die Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys, die, wenn sie überhaupt für die Bach-Rezeptionsforschung Relevanz hatten, nur als Mittel zum Zweck und nicht als eigenständiger und damit zu analysierender Forschungsgegenstand betrachtet wurden, erhalten neues Gewicht. Da Briefe lange Zeit als Ausdruck weiblicher Schreibpraxis angesehen wurden, wurde ihnen kein Status als eigenständige Quellenart, die anhand spezifischer quellenkritischer Maßstäbe zu decodieren wäre, zugesprochen. Hier werden ihre Briefe als ein Zeugnis diskursiver Bach-Rezeption verstanden und
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dahingehend untersucht, wie sie an die zeitgenössischen Bach-Diskurse anknüpfen bzw. diese transformieren. Mit der Aufwertung der Quellengattung geht auch eine Aufwertung der Schreibenden einher. Die Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys geben Einblicke in das weibliche Tätigkeitsfeld der Musikerzieherin und Musikvermittlerin und übermitteln darüber hinaus Geschlechterordnungen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung, die wiederum interessante Aspekte über die geschlechtsspezifische Situation der Schreibenden liefern.228 Musikerziehung und -vermittlung im Kontext von Familie ist ein in historischen Quellen besonders schwierig greifbar zu machender Gegenstand, wofür gerade die Vorstellung einer selbstverständlichen familialen Musiktradition, wie sie für Musikerfamilien insgesamt oft voreilig angenommen wird, einzustehen hat. Die Beachtung musikerzieherischer Tätigkeiten, u. a. die der Mutter als Lehrerin und als Gestalterin von Lernräumen wird in den kulturwissenschaftlichen Gender Studies als ein Desiderat benannt: Wie wichtig Lehrerinnen und Lehrer für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder für die Karriere von herausragenden Künstlerinnen und Künstlern sind, stellt vermutlich kein Musiker wirklich in Frage. Wissenschaftlich wurde die Tätigkeit des Unterrichtens kaum beachtet und damit wertvolle Informationen über Netzwerke, Schulen und Stil außer Acht gelassen.229
Mit der Untersuchung der Bach-Reflexion Lea Mendelssohn Bartholdys wird an die Arbeiten Cornelia Bartschs angeknüpft, die für eine kulturhistorische Perspektive auf das Wirken von Lea Mendelssohn Bartholdy und Fanny Hensel maßgebend sind.230 Bartsch vermeidet vorschnelle Polarisierungen und lässt „Dissonanzen“ in der Erkenntnis zu, etwa wenn Quellenfunde wenige oder konträre Aussagen treffen. Das Überlappen von „Hörräumen“, „Bildungsräumen“ und „Spielräumen“ arbeitet Bartsch tiefsinnig und quellenkritisch als eine Eigenschaft der musikalischen Geselligkeiten heraus, die im „Wohnzimmer“ Lea Mendelssohn Bartholdys stattfanden.231 Basierend auf diesen Erkenntnissen wird die erzieherische Rolle von Lea Mendelssohn Bartholdy im privaten Raum untersucht. 3.1.3 Quellenkorpus Das dieser Arbeit zugrundeliegende Quellenkorpus bilden die von Lea Mendelssohn Bartholdy verfassten Briefe. Aufgrund der expliziten Fragestellung nach den von ihr übermittelten Bach-Diskursen werden die Gegenbriefe der Korrespon228 Sigrid Nieberle, Art. „Brief“, in: Kreutziger-Herr/Unseld (Hgg.), LMG, S. 158–160, hier S. 159. 229 Katrin Losleben, Kulturförderinnen in der Frühen Neuzeit, Einleitung zum Text von Susanne Rode-Breymann, „Allein ihr angenehmster zeit vertreib ist die music“. Musenhöfe: Zentren der Künste, Orte der Bildung (2003), in: Heesch/Losleben, Musik und Gender. Ein Reader, S. 99– 115, hier S. 99. 230 Cornelia Bartsch, Dialogizität versus Univers(al)ität?, S. 135–158, und Dies., Lea Mendelssohn Bartholdy, S. 61–74. 231 Bartsch, Dialogizität versus Univers(al)ität?, S. 147 ff.
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denzpartner, sofern diese überhaupt erhalten sind, nicht berücksichtigt. Ebenfalls unberücksichtigt bleiben Briefe, in denen Lea Mendelssohn Bartholdy nur einen Abschnitt verfasste, sogenannte Familienbriefe. Diese Entscheidungen sind pragmatischer Art, da angesichts der Vielzahl an Briefen, die von Lea Mendelssohn Bartholdy überliefert sind, keine Vollständigkeit angestrebt werden konnte. Die von ihr erhaltenen Briefautographen sind bislang meist nur teilweise oder in Auszügen ediert und werden in Archiven verschiedener Länder aufbewahrt. Ein Briefkonvolut von 127 Briefen,232 die Lea Mendelssohn Bartholdy an ihre Wiener Cousine Henriette von Pereira-Arnstein in den Jahren 1809–1842 geschrieben hat, bildet innerhalb des Gesamtkorpus der Briefe eine übersichtliche und repräsentative Einheit, da der Briefwechsel regelmäßig und über einen Zeitraum von fast vier Dekaden geführt wurde.233 Ungefähr dreihundert Briefe aus den Jahren 1821 bis 1842, inklusive der Familienbriefe, werden in den sogenannten „Green Books“ der Bodleian Library in Oxford verwahrt. Diese wurden stichprobenartig für die Zeit bis 1829 untersucht.234 Weitere 71 Briefe, die Lea Mendelssohn Bartholdy an Carl Gustav von Brinckmann verschickte, werden im Privatbesitz der Gräfin TrolleLjungby aufbewahrt. Sowohl Barbara Hahn als auch Hans-Günter Klein haben sie kurzzeitig, während der Auslagerung des Archivs in der Bibliothek Uppsala, einsehen und für ihre Forschungen verwenden können.235 Aufgrund der Beobachtung Barbara Hahns, die Briefwechsel zwischen Lea Mendelssohn Bartholdy und Carl Gustav von Brinkmann enthielten keine Anmerkungen über Musik und Lea Mendelssohn Bartholdys eigene Musikausübung, wurde auf weitergehende Forschungen rund um dieses Briefkorpus verzichtet. Im Konvolut der Briefe Henriette von Pereira-Arnsteins an Sophie Brentano (Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Savigny) sind einige wenige Briefe von Mendelssohn Bartholdy vorhanden, die aus den Sommermonaten des Jahres 1798 stammen, in denen Henriette von Pereira-Arnstein ihre Cousine in Berlin besuchte. 77 Briefe sind von Lea Mendelsson Bartholdy an ihre Tochter Fanny Hensel unter der Signatur „MA Depos. 3 3,3 Teilnachlass Seb. Hensel“ in der Staatsbibliothek zu Berlin erhalten. Diese wurden eingesehen und für die Analyse nutzbar gemacht. Ebenfalls in der Staatsbibliothek zu Berlin befinden sich sogenannte „Verlegerbriefe“ aus der Hand Lea Mendelssohn Bartholdys, in denen sie mit dem Verleger Adolf Martin Schlesinger Verhandlungen über die Drucklegung der Werke ihres Sohnes führte.236 232 D-B MA, Nachl. 15. 233 Dieses Konvolut erschien vollständig und in kommentierter Ausgabe im Jahr 2010 von den Herausgebern Wolfgang Dinglinger und Rudolf Elvers. 234 Ich danke den MitarbeiterInnen der Arbeitsstelle „Felix Mendelssohn Bartholdy Briefausgabe“ in Leipzig für die Einsichtnahme in dieses Briefkonvolut und Dr. Cornelia Bartsch für hilfreiche Auskünfte. 235 Siehe Barbara Hahn, Die Jüdin Pallas Athene: auch eine Theorie der Moderne, Berlin 2002, S. 14, und Hans-Günter Klein, „… als unsrer geistreichsten Landsleute einen.“ Lea Mendelssohn Bartholdys Briefe an Carl Gustav von Brinkmann aus den Jahren 1811–1822, in: JbSIM 2005 (2007), S. 243–266. 236 In der Berliner Staatsbibliothek befinden sich unter der Signatur „Mus. ep. Lea MendelssohnBartholdy 1–10“ zehn Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys. Darunter sind sieben Briefe an den Verleger Schlesinger. S. Elvers, Acht Briefe von Lea Mendelssohn, S. 47–53.
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Hinzu kommen 17 Briefe an Karl August Varnhagen, diverse an Rahel Varnhagen und Helmine von Chezy, die in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau aufbewahrt werden und ebenfalls eingesehen wurden.237 Mendelssohn Bartholdys Briefe an Henriette von Pereira-Arnstein bilden die Grundlage für die Untersuchung der Bach-Diskurse Lea Mendelssohn Bartholdys. Darüber hinaus sind Informationen über Lea Mendelssohn Bartholdys eigene Musikausübung, ihre Tätigkeit als Erzieherin und Beraterin von Felix und Fanny sowie Bemerkungen über zeitgenössische Komponisten und Bewertungen von musikalischen Ereignissen, aus denen ihr musikhistorisches Verständnis erkennbar wird, relevant. Im Umgang mit den Quellen eröffnet sich das Problemfeld, dass Schilderungen über Lea Mendelssohn Bartholdy als musikalisch praktizierende Frau beim Üben oder Aufführen eine Seltenheit sind. Die für viele künstlerisch tätige Frauen des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts geltende Frage, weshalb ihre musikalische Praxis in Selbstdarstellungen nur wenig reflektiert wird,238 scheint für den Forschungsgegenstand konstitutiv zu sein. Im Umgang mit den Quellen ist es daher nötig, Unsicherheiten in der Rekonstruktion von historischen und biographischen Zusammenhängen nicht zu tilgen, sondern sie als solche in Kauf zu nehmen und als Konstitution des Gegenstandes selbst gelten zu lassen.239 Wenn Lea Mendelssohn Bartholdy in den Briefen darüber größtenteils schweigt, dass sie selbst musiziert hat, kann dies auch bedeuten, dass sie es für selbstverständlich und daher nicht für erwähnenswert hielt oder dass ihr das eigene Rollenverständnis als bürgerliche Frau Zurückhaltung hinsichtlich des künstlerischen Selbstbewusstseins auferlegte. Wenn kaum etwas überliefert oder nichts geäußert worden ist, heißt dies nicht, dass nichts da ist. Stattdessen ist es notwendig, die Art und Weise, wie künstlerische Selbstdarstellungen übermittelt werden, zu hinterfragen. Leerstellen in der heutigen Wissensproduktion über Lea Mendelssohn Bartholdys Musikpraxis werden in der folgenden Analyse als solche benannt und die Kriterien, die diesen Verlauf begründeten, analysiert. 3.1.4 Briefe: Gattung – Probleme – Lesarten Historisch betrachtet ist die Entstehung des bürgerlich-privaten Briefes eng verknüpft mit der Erstarkung der Frau als literarischer Akteurin. Der Funktionswandel des Briefes vom gelehrten zum natürlichen Brief bzw. vom reinen Kommunikationsmedium hin zum „Vermittler gleich empfindender Seelen“240 vollzog sich in Abgrenzung zu kanonisierten und rhetorisch streng reglementierten Briefformen 237 PL-Kj, Sammlung Varnhagen, fol. 0001–0101. 238 Vgl. Barbara Hahn, Häuser für die Musik. Akkulturation in Ton und Text um 1800, in: Borchard/Schwarz-Danuser (Hgg.), Fanny Hensel geb. Mendelssohn Bartholdy, S. 3–26, hier S. 15. 239 Vgl. Beatrix Borchard, Lücken schreiben oder: Montage als biographisches Verfahren, in: Hans E. Bödeker (Hg.), Biographie schreiben, Göttingen 2003, S. 211–241. 240 Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, S. 207.
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des absolutistischen und schulrhetorischen Kontextes.241 Christian Fürchtegott Gellert hat in seiner „Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen“ (1751) zwei Kriterien zum Maßstab für eine neue Briefkultur formuliert: Das Dialogische und das Natürliche. „Das erste, was uns bey einem Briefe einfällt ist dieses, daß er die Stelle eines Gesprächs vertritt. […] Er ist eine freye Nachahmung des guten Gesprächs.“242 Garant für Natürlichkeit sowie Lebhaftigkeit und Leichtigkeit im Brief war für Gellert eng verbunden mit dem dialogischen Prinzip des Erzählens und wird von ihm als „eine muntere Beschreibung des Naheliegenden, die gelenkige Wiedergabe der Tageseindrücke“ beschrieben.243 An dieser Stelle vollzieht sich die Übertragung des neuen natürlichen Stils auf eine speziell weibliche Eigenschaft, die in der Literatur unterschiedlich begründet wird. Silvia Bovenschen argumentiert gattungsspezifisch: Der Brief als bürgerlich-privates Kommunikationsmittel sei im verwandtschaftlichen Schriftverkehr zwischen Müttern und ihren Kindern bereits erprobt und daher besonders leicht umsetzbar gewesen.244 Gellert beruft sich im Jahr 1763 auf die weibliche Konstitution der Seele und Unverdorbenheit der Frauen aufgrund ihrer Nicht-Beeinflussung durch ein Rhetorikstudium, das ihnen nicht zustand. „Die Empfindungen der Frauenzimmer sind zarter und lebhafter […] und weil sie nicht durch die Regeln der Kunst ihrem Verstande eine ungewöhnliche Richtung gegeben haben: so wird ihr Brief desto freyer und weniger ängstlich.“245 Johann Gustav Droysen beurteilt Briefe von Frauen als genuin subjektiv, Briefe von Gesandten dagegen als objektiv und „bemerkenswert“.246 Damit vermittelt sich – so formuliert es Melanie Unseld – der Eindruck, Briefe von Frauen seien „auf der nach unten offen zu denkenden Subjektivitätsskala qua Geschlecht niedriger zu veranschlagen, und damit weiter vom Objektivitätsstatus der Geschichtsschreibung entfernt“.247 Die Folgen, die sich aufgrund der problematischen Konnotation des Briefes als weibliches Medium in der Vergangenheit für den Stellenwert von Briefen insgesamt für die Forschung ergeben haben, sind auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln: Der Diskurs um die Literaturfähigkeit, die Frage nach dem Öffentlichkeitscharakter und der dialektische Charakter zwischen Emanzipation und Restriktion von Briefen im Zusammenhang mit der literarischen und sozialen Erstarkung von Frauen. Silvia Bovenschen spricht in diesem Zusammenhang von einer „Dialektik
241 Ebd., S. 203. 242 Christian Fürchtegott Gellert, Briefe nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, Leipzig 1763, S. 2–3. Siehe auch Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, S. 205. 243 Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, S. 206. 244 Ebd. 245 Gellert, Briefe nebst einer praktischen Abhandlung, S. 75–76. Vgl. auch Hannah Lotte Lund, Der Berliner „jüdische“ Salon um 1800: Emanzipation in der Debatte (Europäisch-jüdische Studien – Beiträge 1), Berlin/Boston 2012, S. 128. 246 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, München/Berlin 1937, 2. Aufl. hg. von Rudolf Huebner, München 1943, 8. unveränd. Aufl., München 1977, zitiert in: Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 63. 247 Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 63.
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des Ausschlusses“:248 Die klare Zuweisung der Gattung Brief zum weiblichen Geschlecht verursachte einerseits Erstarkung und Emanzipation gleichzeitig jedoch Unbestimmtheit und Ausschluss von anderen Gattungen wie z. B. der des Romans. Barbara Hahn vertritt die These, dass der Brief als weibliche Gattung die Autorschaft-Werk-Beziehung anderer Gattungen durch die Rolle des Anderen überhaupt erst stabilisierte.249 Inwieweit Briefen ein Öffentlichkeitscharakter zugeschrieben wurde, ist auch für die Interpretation der Briefe Lea Mendelssohn Bartholdy eine zentrale Frage. Sie formuliert in einem ihrer Briefe an ihre Wiener Cousine Henriette von Pereira Arnstein unmissverständlich, dass sich ihr Brief nicht nur an ihre Cousine, sondern an einen größeren Leserkreis richtet und bittet ihre Cousine um Weitergabe des Briefes an die Wiener Verwandten.250 Auch berichtet sie, dass sie wiederum die Briefe ihrer Gesprächspartnerin im Bekanntenkreis vorgelesen habe. Das für die Mendelssohn Bartholdy-Familie übliche Verfahren des Familienbriefes, der von mehreren Schreiberinnen und Schreibern verfasst wurde und schon in sich dialogisch angelegt ist, als auch die Vorgehensweise, Briefe von Familienmitgliedern oder Freunden weiterzuschicken, verdeutlichen ebenso die Funktion des Briefes als einer Art Zeitung, als eines zirkulierenden und nicht eindimensionalen – also an einen Leser gerichteten – Mediums.251 Cornelia Bartsch führt aus, dass das Feld der Tradierungsmedien um das der Briefe, Stammbücher, Reinschriften etc. erweitert werden müsse, weil auch diese Medien eine Art Öffentlichkeit erzeugen: Eine Öffentlichkeit, die eben nicht durch die oftmals als ausschließliche Form von Tradierung verstandene Drucklegung entstand, sondern durch Vorlesen, Mitschreiben und Weiterschicken.252 Die Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys lassen sich folglich auf unterschiedliche Arten lesen. Eine mögliche Lesart fokussiert die praktische Dimension des Briefverkehrs als ein Informationsmedium. Dann fungiert der Brief als Träger von Gratulationen zu Festtagen, als Berichterstatter von Reisen oder vom gesundheitlichen Wohlergehen der Familie. Mit dieser Lesart eng verbunden ist der Prozess der Selbst-Konzeption, der sich während des Schreibens für die Schreibenden entwickelt. Im Schreiben konzipiert sich demnach das eigene Selbst. Es werden private Geschehnisse, wie z. B. Fehlgeburten, Schwangerschaften und Unsicherheiten in der Mutterrolle schreibend memoriert und verarbeitet. So kann auch das Briefeschreiben Lea Mendelssohn Bartholdys als konstitutiv für ihr Selbstverständnis als Frau gewertet werden. Mit der Berichterstattung über lokalkulturelle Ereignisse (Konzerte, Einweihung von Konzerthäusern, Begräbnisse, Hochzeiten), der dezidierten Kritik von Aufführungen, ästhetischen Urteilserklärungen und Stellungnah248 Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, S. 206. 249 Barbara Hahn, Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen (Edition Suhrkamp 1723, NF 723), Frankfurt a. M. 1991, S. 9. 250 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Henriette von Pereira-Arnstein vom 19. Mai 1829, in: Lea Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“. Briefe an Henriette von Pereira-Arnstein, hgg. von Wolfgang Dinglinger / Rudolf Elvers, 2 Bde., Hannover 2010, hier Bd. 1, S. 215. 251 Vgl. Bartsch, Fanny Hensel, S. 125. 252 Ebd., S. 17.
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men zu politischen Ereignissen stellt sie ihre Verankerung im aktuellen kulturpolitischen Diskurs unter Beweis. Sängerinnen und Sänger, Instrumentalistinnen und Instrumentalisten und Komponistinnen und Komponisten werden zwischen den beiden Häusern in Berlin und Wien hin und her empfohlen, ein aktueller Kanon von Meisterwerken und Komponisten wird diskutiert und Bestellungen neuer Instrumente und neuen Materials für den Erhalt von Musikinstrumenten („fortepiano Leder“253) werden aufgegeben. Das Sammlungsverfahren Karl Gustav Varnhagens, der Briefe von Lea Mendelssohn Bartholdy an verschiedene Adressaten – u. a. auch an ihn und seine Frau – sammelte und katalogisierte254, weist auf die Bedeutsamkeit hin, die er den Briefen Mendelssohn Bartholdys beigemessen hat. Ihrem Brief vom 21. Januar 1835, der die Einladung zu einem gemeinsamen Abend beinhaltete, fügte er nach dem Besuch bei den Mendelssohns mit eigener Hand die Notiz hinzu: „(Mariane Saaling – mit der man mich nicht zusammen bitten wollte – hatte so spät erst abgesagt. Heyses’s waren da. Lafont spielte Geige.)“255. Für Varnhagen hatte der Brief also nicht nur als reine Informationsquelle Bedeutung, sondern auch als Hinterlassenschaft und als Medium, das Erinnerungen transportiert. Sein Wunsch Lea Mendelssohn Bartholdys Briefe für die Nachwelt rekonstruierbar zu machen, verdeutlicht auch die Bemerkung, die er dem Brief Lea Mendelssohn Bartholdys an Helmine von Chézy hinzufügte und mit der er beabsichtigte, ihren Brief historisch zu kontextualisieren: „(Der Mittag, zu dem sie einladet, war an dem Tage, an dem sie starb.)“256 Briefe werden in der nachfolgenden Analyse als Texte gelesen, die eine Vielschichtigkeit an Informationen bereithalten. Diese können sowohl gesellschaftliche Konzepte als auch Selbst- und Fremdbilder beinhalten.257 3.1.5 Eine Frage der Wirkung: Familie zwischen Innen und Außen Mit der Generation von Felix Mendelssohn Bartholdy und Fanny Hensel endete in der Großfamilie Mendelssohn Bartholdy die Tradition, Kultur und Musik nicht als Beruf auszuüben.258 Alle vorherigen männlichen Familienmitglieder haben ihren Lebensunterhalt in einem nichtkünstlerischen Beruf, als Bankier oder Handwerker, verdient. Anders die Funktion der weiblichen Familienmitglieder: Ihnen wurde vor allem die Aufgabe der Kulturbewahrerin und -vermittlerin zugesprochen. Sie
253 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 12, Brief vom 1. Mai 1819. 254 In der Sammlung Varnhagen der Biblioteka Jagiellońska in Krakau sind 5 Briefe an Rahel Varnhagen, 16 Briefe an Karl August Varnhagen und diverse Briefe an Helmine von Chezy erhalten. 255 Vgl. ebd. Konvolut Lea Mendelssohn, geb. Salomon, Kasten 121, Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Karl August Varnhagen vom 21. Januar 1835 (Klammern im Original). 256 Ebd., Brief vom 11. Dezember 1842 von Lea Mendelssohn Bartholdy an Helmina von Chézy (Klammern im Original). 257 Vgl. Bartsch, Fanny Hensel, S. 30. 258 Janina Klassen, Von Vor- und Übervätern, S. 51–58, betont, dass das Lebenskonzept der freien Künstlerexistenz zu Zeiten von Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann noch nicht verbreitet war.
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beschäftigten sich auf vielfältige Weise mit Musik und vermittelten diese in der Erziehung weiter.259 Mit dieser Entwicklung eines überwiegend männlich besetzten Berufsbildes des professionellen Künstlers und Interpreten, die die Generation von Felix Mendelssohn Bartholdy besonders betraf, verengte sich der künstlerische Handlungsspielraum der Frau: Ihr blieb die professionelle, den Lebensunterhalt bestreitende Musikausübung untersagt, da eine aktive künstlerische Ausübung dem neuen bürgerlichen Rollenverständnis widersprach. Die Zeit um 1800 ist durch einen erheblichen Wandel der weiblichen Handlungsräume und Aktivitäten geprägt260 und beruhte auf einem Paradigmenwechsel in den Geschlechterrollen allgemein, der von Karin Hausen auch als „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“261 bezeichnet wird. Dieser hatte zur Folge, dass Geschlechterdifferenzen auf sämtlichen Diskursebenen – biologisch, soziologisch, anatomisch – als gegensätzlich (nicht nur verschieden) und „ideal ergänzend“262 beschrieben wurden. Der Einfluss auf gesellschaftliche Strukturen, vor allem auf die geschlechtsspezifische Aufteilung zwischen Erwerbs- und Familienleben war enorm, wie eben diese Trennung in einen männlich codierten Produktionsbereich und einen weiblich codierten Reproduktionsbereich zeigt.263 Während in den Vorgenerationen Lea Mendelssohn Bartholdys Strukturen dokumentiert sind, in denen es Frauen und Männern in gleicher Weise zugesprochen war, Musik zu konsumieren und finanziell zu fördern – dies belegt eindrucksvoll das Ehepaar Samuel und Sara Levy, die beide Sammlungen anlegten, gemeinsam musizierten und Aufträge erteilten – wandelt sich mit dem Beginn der professionellen Musikausübung die Bestimmung des familiären Raumes. Der innerfamiliäre Raum ist primär für Frauen und ihre Musikausübung reserviert. Diese Einschränkung betraf und wurde für die Mendelssohn Bartholdy-Familie konkret mit der Generation Lea Mendelssohn Bartholdys. Zwar tritt erst ihr Sohn und noch nicht ihr Mann in den produktiven Kulturbetrieb ein, die Planung einer im öffentlichen Raum statt259 Die Aufgabenbereiche speziell der jüdischen Frau für die Bewahrung und Vermittlung von Tradition und Kultur und ihre Bedeutsamkeit im Kontext der Akkulturation legt Thekla Keuck in ihrer Studie über die Familie Itzig ausführlich dar. Thekla Keuck, Hofjuden und Kulturbürger. Die Geschichte der Familie Itzig in Berlin (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 12), Göttingen 2011. 260 Hierzu siehe u. a. Rebecca Grotjahn / Freia Hoffman, Geschlechterpolaritäten in der Musikgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, Herbolzheim 2002; Heesch/Losleben (Hgg.), Musik und Gender. Ein Reader. 261 Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363–393. Siehe auch Grotjahn (Hg.), Deutsche Frauen, deutscher Sang, S. 180; Ruth A. Solie, Whose Life? The Gendered Self in Schumann’s Frauenliebe-Songs, in: Steven Paul Scher (Hg.), Music and Text. Critical Inquiries. Cambridge 1992, S. 219–240. 262 Grotjahn (Hg.), Deutsche Frauen, deutscher Sang, S. 180. 263 Beatrix Borchard, Frau/Mutter/Künstlerin. Bilder – Muster – Reflexionen. Zum Künstlerinnenbild des 19. Jahrhunderts, in: Uwe Harten / Andrea Harrandt et al. (Hgg.), Bruckner-Symposium. Künstler-Bilder im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1998, Linz/Wien 2000, S. 103–116, hier S. 104.
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findenden Musikerkarriere Felix Mendelssohn Bartholdys prägte und spaltete aber bereits die Bedeutung des musikalischen Familienraums für die männlichen und weiblichen Familienmitglieder: Für Fanny bedeutet der familiäre Musikraum der hauptsächliche Wirkungskreis, für Felix das Sprungbrett in die öffentliche Musikerkarriere. Als besonders wirkmächtig im Kontext der Frage nach Wirkung und Bedeutung von innerfamiliärer Musikausübung steht die Opposition von Öffentlichkeit und Privatheit. Diese Opposition manifestierte geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen und als Folge dessen wurde das Wirken von Frauen, weil vermeintlich nur im Privaten sichtbar, als defizitär beschrieben.264 Zwischen der Wirkung eines Handelns, das im Öffentlichen und eines, das im Privaten stattfindet, wurde normativ unterschieden. Damit erklärt sich die Brisanz, die hinter dieser Frage Beatrix Borchards steht: „Könnte also das Zeitalter, in dem Fanny Hensel lebte und arbeitete, vielleicht doch auch durch ihren Namen markiert werden?“265 Dass diese Frage potentiell bejaht werden kann, ist dabei nur von sekundärer Bedeutung und auch der Wunsch, ein Zeitalter nach Personen zu bezeichnen scheint heutzutage abwegig zu sein. Wichtiger ist das Fragen an sich. Es geschieht aus einem Moment der Verunsicherung heraus, der den Gegenstand Fanny Hensel und ihre Rolle als Bach-Rezipientin kennzeichnet. Gleiches lässt sich problemlos auf das Wirken Lea Mendelssohn Bartholdys transferieren. Diese Verunsicherung entwickelt sich in dem Moment, in dem man diese Frauen mit den Kategorien konfrontiert, die den Stellenwert von Bach-Rezeptionspraktiken vermeintlich festlegen, also z. B. der öffentlichen Wirksamkeit. Lea Mendelssohn Bartholdy ist eine Repräsentantin der Institution Familie, ein Ort, der das Scharnier zwischen musikalischer Privatheit und musikalischer Öffentlichkeit darstellt und der in Bezug auf ihre Kinder Fanny und Felix eng mit ihrer musikalischen Erziehung und dem musikalischen Leben der Mendelssohn Bartholdy-Familie verbunden ist. Die soziale Rolle als Mutter, die es ihr ermöglicht, der Familie vorzustehen und Geschäfte zu führen ist von großer Bedeutung für ihre Rolle als Musikvermittlerin. 3.1.6 Selbstverständnis: Die Mutter als Musikvermittlerin Betrachtet man die Gesamtheit der verschiedenen autobiographischen Zeugnisse von Lea Mendelssohn Bartholdy, so kommt darin ein nicht versiegendes Interesse an der musikalischen Laufbahn ihrer Kinder und der Wunsch, diese mitzugestalten zum Ausdruck.266 Noch im Jahr 1836, ein Jahr nachdem Felix Mendelssohn 264 Martin Loeser, Art. „Salon“, in: LMG, S. 440–441, hier S. 441. 265 Borchard, Einschreiben in eine männliche Genealogie?, S. 76. 266 Dass sie sich aber auch um andere Bereiche, wie um die Anschaffung angemessener Literatur für junge Kinder bemühte, zeigt folgende Briefpassage: „Nicht diese Plaudereien, sondern die älteren, welche schon vor 26 oder 30 Jahren erschienen und für ganz kleine Kinder, wie der Verfaßer gleich in den ersten Zeilen der Vorrede sagt, bestimmt waren, wünschte ich zu kaufen.“ Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an den Buchhändler Dümmler, ohne Datum (D-B MA, Mus. ep. Lea Mendelssohn 3).
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Bartholdy sein Amt als Leiter der Gewandhauskonzerte angetreten hatte und damit endgültig dem elterlichen Haus entwachsen war, schrieb sie am 9. Februar über hausinterne Proben einiger Sätze aus dem Paulus anlässlich seines Geburtstags: Erkläre mir nur, lieb Söhnlein!, warum du, wenn Jesus redend eingeführt wird, mehrstim[m]ig singen läßest? es klingt wunderschön, das geb ich schon zu. Ists wahr, daß nur sehr wenige Soli im Paulus vorkom[m]en? u daß du das Werk Simrock gegeben statt deiner treuen Leipziger zu bedenken?267
Ein kritisches Hinterfragen der Komposition und der Verlagswahl dokumentieren ein recht selbstsicheres Auftreten Lea Mendelssohn Bartholdys ihrem inzwischen 27-jährigen Sohn und etablierten Musiker und Komponisten gegenüber. Ähnlich klingt auch diese Briefpassage aus dem Jahr 1838: Gott helfe dir zu einem Opern-Text u. einer Apostelgeschichte, as you like it! Schwebt dir Letztres auch noch nicht vor? Dein Paulus macht Glück wie eine Oper, c’est tout dire!268
Der Umstand, dass Lea Mendelssohn Bartholdy selbst eine kenntnisreiche Pianistin war, ist dafür verantwortlich, dass sie ihre Kinder zunächst selbst unterrichtete269 und die Auswahl der Lehrer für ihre Kinder traf. Über ihr eigenes Klavierspiel berichtet sie nur selten. An den Publizisten Garlieb Helwig Merkel schrieb sie 1799: Unter diesen Bäumen, die mein guter Grossvater pflanzte […] habe ich die rosenfarbenen Träume der Kindheit durchschwärmt; […] selbst die schwachen Töne, die meine ungeübten Finger hervorbrachten, wähne ich hier melodischer und reiner.270
Und ein Jahr vor ihrem Tod resümierte sie im Zuge der Nachlass-Veröffentlichung ihrer Tante Recha Itzig, dass „ich […] Recha in meiner Mädchenzeit, täglich 5 bis 6 Stunden mit Vorlesen, Spatzierenführen, diktirte Briefe schreiben, Musik machen etc. vertrieben habe […]“.271 Lea Mendelssohn Bartholdy bevorzugte Pianisten als Lehrer ihrer Kinder, die sich der klassischen Klavierschule verschrieben hatten und sich an den Werken J. S. Bachs und seiner Söhne orientierten. Es ist beachtlich, dass sie sich gegen den Zeitgeist, der sich an Virtuosen wie Fr. Kalkbrenner, J. N. Hummel und Ignaz Mo267 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 9. Februar 1836 (GB-Ob, Green Books, VII MS. M.D.M. d.33, 63). 268 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 16. Januar 1838 (GB-Ob, Green Books, V MS. M.D.M. d.31, 22). Dass die Komposition einer Oper ein bedeutsames Vorhaben für seine künstlerische Entwicklung bedeutet, zeigt folgendes Zitat von Felix Mendelssohn Bartholdy: „Ich möchte darum gern bald noch etwas im Kirchenstil schreiben, da sich zu einer Oper immer noch keine Aussicht zeigt; vielleicht ist das gut, es scheint mir mit allen deutschen Bühnen für den Augenblick so schlecht zu stehen, dass fast nirgends auf eine gute Aufführung zu rechnen wäre, so hat’s wohl noch ein paar Jahre Zeit, und geht dann vielleicht um so eher; dass ich aber welche schreiben muss, von dem Gedanken kann ich nicht loskommen.“ Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Carl Klingemann vom 1. Mai 1837, in: Karl Klingemann [jun.] (Hg.), Felix Mendelssohn-Bartholdys Briefwechsel mit Legationsrat Karl Klingemann in London, Essen 1909, S. 213–215, hier S. 214 (30. April). 269 Diese Information ist in Hensel, Die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 86, überliefert. 270 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy, hier noch Salomon, an Garlieb Helwig Merkel vom 2. Juli 1799, abgedruckt in Hensel, Die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 87–92, hier S. 88/89. 271 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 503, Brief vom 2. Juni 1841.
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scheles ausrichtete, Muzio Clementi, J. L. Dussek und J. B. Cramer präferierte, die sich an der Schule der „alten Meister“ ausrichteten. […] es existirt nicht ein großer Meister auf diesem so vielerlernten Instrumente in Berlin. Mich dünkt, man kann das ausübende Talent auch an der Komposition erkennen, und was ich v. Moscheles gehört, ist glänzendes Spring- und Laufwerk, ohne weitre Tiefe des Geistes oder Gefühls zu bekunden. […] Dussek, Clementi und Cramer strebten indeß einer andren Gattung Vollkommenheit nach, die meinem Sinne mehr zusagt, wiewohl ich diese Heroen leider! nur aus Traditionen und ihren Werken kenn.272
Carl Friedrich Zelter als Kompositionslehrer von Felix und Fanny zu engagieren, ist allerdings nicht das alleinige Verdienst Lea Mendelssohn Bartholdys.273 Zelter war als Musikpädagoge bekannt und beliebt und er hatte während seiner Leitung der Sing-Akademie zu Berlin zahlreiche Schülerinnen und Schüler. Es ist aber anzunehmen, dass Lea Mendelssohn Bartholdy für die Organisation des Unterrichts verantwortlich war. Dies geht aus einer kurzen Mitteilung hervor, die nur durch Zufall in den Unterlagen Zelters erhalten geblieben ist: „Ich ersuche Sie, bester Herr Professor! uns statt der verabredeten Dienstagsstunde, wie gewöhnlich am Mittwoch durch Ihre Gegenwart zu erfreuen. L. Mendelssohn.“274 Lea Mendelssohn Bartholdy war sich des Einflusses, den Zelter als Bachkenner und -sammler auf ihre Kinder nehmen konnte, bewusst. Die Sing-Akademie öffnete durch die regelmäßig stattfindenden Freitagsmusiken nicht nur erste Zugänge zu größer besetzten Aufführungen bachscher Musik, sondern auch einen Fundus an Bach-Quellen, zu dem die Familie Zugang hatte, wie die Abschrift von Zelters Partitur der MatthäusPassion belegt. Abraham Mendelssohn Bartholdy gehörte, wie auch Sara Levy, zu den Personen, die der Sing-Akademie zu Berlin Bach-Handschriften verschenkten. Lea Mendelssohn Bartholdy präsentiert sich in den Briefen als Kennerin der aktuellen und vergangenen Musikszene. Dass ihr musikalischer Sinn für Klangästhetik und ihre Kenntnis über instrumentenspezifische Bauweisen und Klangtechniken profund gewesen sind, zeigt u. a. folgende Stelle, in der sie Henriette von Pereira-Arnstein vom Kauf eines neuen Flügels bei Johann Andreas Streicher (1761–1833), einem Wiener Pianisten und Klavierbauer berichtet: Leider! muß Dein Herr Streicher hier einige Schelte für das uns zugeschickte Instrument finden. Es behält nicht nur fortwährend den Fehler, daß abwechselnd Töne stocken, […]; aber es hat auch einen dumpfen, bedeckten Ton und eine unangenehme, harte pelzige Spielart, so daß ich die Kinder ungern dazu bringen kann, es gegen das alte zu vertauschen, welches noch immer einen hellern, deutlicher Klang und einen leichtern Anschlag, besonders aber den Vorzug hat, das forte und piano deutlicher hervortreten zu lassen.275
Die Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys an ihre Wiener Cousine dokumentieren für die Jahre, in denen sie ihre Kinder selbst unterrichtete, sich um Lehrer und sich 272 Ebd., S. 30, Brief vom 28. und 30. Juni 1820. 273 Sebastian Hensel betont in seiner Familienbiografie, Abraham Mendelssohn Bartholdy habe Zelter als geeigneten Musiklehrer ausgewählt, ebenso auch Heyse (Sebastian Hensel, Die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 103 f.). 274 Rückseite des Papierumschlags, in dem Zelter C. P. E. Bachs Osterkantate „Gott hat den Herrn auferweckt“ (Wq 244) aufbewahrte (Berlin, Sing-Akademie, Notenarchiv, D-Bsa/SA 246). 275 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 22 f., Brief vom 5. und 6. November 1819.
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bei ihnen vorstellende Interpreten in Berlin bemühte, ein klares und in regelmäßigen Abschnitten aktualisiertes Bild ihrer musikalischen Erziehung. Die Briefe belegen einen regen Austausch von Empfehlungen über Musiker und Komponisten zwischen Berlin und Wien und Lea Mendelssohn Bartholdys Wunsch nach einer angemessenen musikalischen Erziehung ihrer Kinder, oftmals verbunden mit sehr klaren Vorstellungen, wie diese zu erreichen sei.276 So bittet sie ihre Cousine, Zelter, der in Wien zu Besuch ist, mitzuteilen, er möge ihren Kindern Bericht über das Wiener Musikleben geben, damit sie motiviert werden: „Ermuntre ihn auch hübsch, uns einige Zeilen zu schreiben, und die Kinder durch die Schilderung des Vollendeten Eurer Musikwelt zu Beispiel und Nacheifer anzureizen.“277 In ihren Briefen hebt sie immer wieder die große natürliche Begabung von Felix hervor.278 Sie beschwert sich bei ihrer Cousine über schlechte Klavierlehrer, teilt ihr ihre Besorgnis mit, dass Felix bereits im Alter von elf Jahren Anzeichen einer – aus heutiger Sicht als solche zu bezeichnenden – Hochbegabung aufweise und der Weg als Künstler kein leichter sei: „Die Bestimmung des Künstlers ist heutiges Tags aber äußerst schwierig, da bei der Unsumme des Producirten, bei der Menge von Halbkennern und Ganzkritikern es fast unmöglich wird, noch Neues und Großes zu liefern, und eine blasirte Welt zu befriedigen.“279 Geht es darum, Felix’ Stellenwert als Künstler darzulegen, ist ihr Ausdruck gewählt und rhetorisch konstruiert, wie es z. B. ihre klimaktische Reihung Felix’ künstlerischer Eigenschaften dokumentiert, die auf das reich konnotierte Gegensatzpaar „Kunst und Natur“ zurückgreift: Es ist aber alles darin sein eigen; sein zartes Gefühl, sein kindlicher Schmerz um den Verlorenen [Abraham Mendelssohn Bartholdy], sein gerader Verstand, sein weises Maaßhalten, sein Verschmähen der jetzigen übertriebenen Hülfsmittel – kurz, es ist originell; die Kunst der Arbeit ist unter dem Natürlichen des Ausdrucks versteckt, es muß wohl jedes unverdorbene Gemüth ergreifen und rühren.280
Ebenso gestaltete sie musikalische Zusammenkünfte und galt als Zentrum des Hauses. Auf Einladungsbilletts zu Sonntagsmusiken wird ausschließlich ihr Name genannt.281 Sie organisierte u. a. angemessenes Publikum für die von Fanny Hensel konzipierten und musikalisch geleiteten Sonntagsmusiken: Mit viel Freude hörte ich, daß die Komposition des Paulus Ihnen gefällt, verehrte Frau! Da meine Tochter Fanny Hensel nächsten Sonntag früh um halb 12 Uhr dies Oratorium am Klavier aufzuführen gedenkt, so erlaube ich mir die ergebene Anfrage, ob es Ihnen Vergnügen macht, derselben beizuwohnen, […].282
276 277 278 279 280 281 282
Vgl. das Kapitel Bach und Erziehung (Teil II, Kap. 3.2.4). Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 18, Brief vom 14. Juli 1819. Bartsch, Fanny Hensel, S. 44 f. Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 29, Brief vom 28. und 30. Juni 1820. Ebd., S. 377, Brief vom 21. Juli 1836. Vgl. ebd., S. 112, Anm. 71. Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Frau Dr. Meyer ohne Datum (D-B MA, Mus. ep. Lea Mendelssohn 1).
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Auch außermusikalisch oblag ihr die Organisation und Abwicklung der häuslichen und geschäftlichen Belange; sie verhandelte mit potenziellen Mietern und unterzeichnete Mietverträge.283 Ihr Selbstverständnis als Musikerzieherin ihrer Kinder erhält weitere Ausprägung in den Briefen, in denen sie mit der Verlegerfamilie Schlesinger korrespondierte.284 Das erste Dokument, das die Beziehungen der Familie Mendelssohn Bartholdy zu einem Musikverleger belegt, stellt der Brief Lea Mendelssohn Bartholdys vom 29. Juli 1823 dar. Sieben weitere Briefe aus den Jahren 1827 und 1834 sind von ihr erhalten. Nach dem Beginn der Vertragsverhandlungen durch Lea Mendelssohn Bartholdy im erwähnten Brief führte Felix Mendelssohn Bartholdy selbst, manchmal auch Fanny Hensel, die Korrespondenz. Lea Mendelssohn Bartholdy setzt sich selbst explizit als Mutter ihres Sohnes in Szene, die sich um die korrekte Drucklegung der Werke ihres Sohnes kümmert. Dieses gilt vor allem für die Briefe aus den Jahren 1823 bis 1827, ab dem Jahr 1834 agiert sie weniger eigenständig, sondern primär im Auftrag von Felix. Wichtige Faktoren einer korrekten Drucklegung, um die sie explizit bemüht ist, sind das äußere Erscheinungsbild des Notendrucks, die Verwendung der korrekten Opuszahl und des korrekten Titels und eine zügige Erscheinung des Drucks. Mit empathischem Geschick versucht sie das Wohlwollen Schlesingers zu gewinnen, indem sie ihm die Verantwortung seines Handelns unschwer zu erkennen gibt: Ihrer besonderen Güte und Sorgfalt legt die Mutter aber das unter Ihren Auspicien zu erscheinende erste Werklein des Sohnes ans Herz. Ueberzeugt, dass Sie es an äußrer Schönheit nicht werden ermangeln lassen, ersuche ich Sie nur noch dringend, die Probebogen zur Korrektur gefälligst hersenden zu wollen, wie verabredet.285
Sie agiert in der Rolle als Mutter, die im Verleger eine ähnliche, mütterliche Zuneigung zum „ersten Werklein des Sohnes“286 erzeugen möchte, wie sie selbst sie verspürt. Finanziell verhandelt sie sprachlich geschickt; sie erbittet die Rechnung „mit rasendem Rabatt“.287 Hinter dem Ansporn zur schnellen Auftragserledigung steckt ihre Motivation keine Möglichkeit der Distribution von Felix’ Werken auszulassen. Damit tritt sie als Verlagskorrespondentin und auch als Distribuentin der Werke 283 Im Brief Abraham Mendelssohn Bartholdys an seine Frau vom 12. Juni 1833 aus London spricht er anerkennend über ihre Mietverhandlungen mit General Braun, der kürzlich in die Leipziger Straße 3 eingezogen ist. Hans-Günter Klein, Abraham Mendelssohn Bartholdy in England. Die Briefe aus London im Sommer 1833 nach Berlin, in: Mendelssohn-Studien 12 (2001), S. 67–127, hier S. 78, auch erwähnt in Bartsch, Fanny Hensel, S. 113. Auch unterzeichnet sie bei Abwesenheit ihres Mannes Quittungsbelege: „Ich bescheinige hiermit, von Herrn Buchhändler Dümmler 315r[eichsthaler] und 63 billets zu den Vorlesungen des H. Dr. Julius richtig erhalten zu haben. In Abwesenheit meines Mannes: die Stadträthin Mendelssohn Bartholdy. Berlin 7 April 1827“ (D-B MA, Mus.ep. Lea Mendelssohn Bartholdy Varia 1). 284 Die Briefe sind abgedruckt bei Elvers, Acht Briefe von Lea Mendelssohn. 285 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Moritz Schlesinger vom 28. Juli 1823 (Elvers, Acht Briefe von Lea Mendelssohn, S. 48). 286 Das dem Fürsten Anton Radziwill gewidmete Klavierquartett, Op.1, erschien Ende 1823 bei Schlesinger. 287 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Carl Schlesinger im Frühjahr 1827 (Elvers, Acht Briefe von Lea Mendelssohn, S. 50).
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ihres Sohnes auf. Ihr Status als Mutter und ihr Selbstbild als Musikerzieherin waren für die Verhandlungen mit Schlesinger von großer Bedeutung. Als Mutter bürgt sie indirekt, ohne es explizit aussprechen zu müssen, für die Qualität und die Echtheit des Autographs, aber auch für die Autorschaft ihres Sohnes.288 Lea Mendelssohn Bartholdys Selbstbild als Musikvermittlerin verleiht ihrem Handeln ein starkes Profil, dessen Ausgeprägtheit mit Blick auf ihre Bach-Rezeption differenziert erörtert werden wird. Sie handelt als Lehrerin ihrer Kinder und Vermittlerin von Klavierpädagogen, als Netzwerkerin mit Musikvirtuosen und Musikinstitutionen, als Verlagskorrespondentin, als Distribuentin der Werke ihres Sohnes Felix und als Organisatorin von gesellschaftlichen Musikereignissen. Diese einflussreiche Rolle, die sie im familialen Musikraum einnimmt, bildet die Grundlage ihrer Bach-Reflexionen, die nachfolgend besprochen werden. 3.2 „Die wahre, keusche, stärkende, nicht erschlaffende Gewalt der Musik“: Bach-Diskurse bei Lea Mendelssohn Bartholdy Johann Sebastian Bach ist Thema zahlreicher Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys. Die folgende Untersuchung ist geleitet von der Frage, wie J. S. Bach in diesen Briefen narrativ dargestellt wird, d. h. mit welchen sprachlichen Bildern, rhetorischen Mitteln und auf welche Diskurse Bezug nehmend Bach reflektiert wird. Dabei werden vor allem die Briefe an ihre Cousine Henriette von Pereira-Arnstein und an ihren Sohn Felix Mendelssohn Bartholdy berücksichtigt.289 Im ersten Analyseschritt wird hinsichtlich folgender vier thematischer Diskurse geordnet: „Bach und Rossini“ (3.2.1), „Bach und das ‚Alterthum‘“ (3.2.2), „Bach und Aufführungspraxis“ (3.2.3) und „Bach und Erziehung“ (3.2.4). Die Vorstellungen von Bach, die in diesen Briefen eine Rolle spielen, nehmen Bezug auf die vielfältigen Diskurse, die bereits in Kapitel 2 (Teil II) am Beispiel von Berlin erörtert wurden. 3.2.1 Bach und Rossini Stellungnahmen und Urteile zu zeitgenössischen und früheren Komponisten prägen das gesamte Briefkorpus Lea Mendelssohn Bartholdys an ihre Wiener Cousine Henriette von Pereira-Arnstein. Innerhalb dieser Vielfalt von Typisierungen verkörpern Johann Sebastian Bach und Gioachino Rossini zwei gegensätzliche, nationale Musikstile, die von Mendelssohn Bartholdy prägnant und anschaulich beschrieben werden. Auch andere Nationen, etwa Frankreich oder England, spielen in ihren Vergleichen immer wieder eine Rolle. Die dabei erwähnten Komponisten repräsen-
288 Gesa Finke begründet den Stellenwert Constanze Mozarts mit ihrem Witwenstand, der es ihr ermöglichte, glaubhaft und überzeugend Vertragsverhandlungen zu führen. Ähnliches lässt sich nachweisen für Lea Mendelssohn Bartholdy in ihrer Rolle als Mutter. Vgl. Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart, S. 167. 289 Zur weiteren Quellenauskunft siehe das Kapitel Quellenkorpus (Teil II, Kap. 3.1.3).
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tieren den jeweiligen Nationalstil aber nie in so besonderer und prägnanter Weise, wie dies im Falle Italiens und Rossinis der Fall ist. Lea Mendelssohn Bartholdys Einschätzungen machen zwischen Bach und Rossini eine Opposition aus: Bachs Musik gilt als wahr und keusch, Rossinis als oberflächlich und trivial – normative Bewertungen, die letztendlich jeder rationalen Begründung entbehren, die aber aufzeigen, vor welchem Hintergrund und vor welchen politischen und kulturellen Diskursen Lea Mendelssohn Bartholdy ihnen Bedeutung beigemessen hat. Mittels kontrastreicher Gegenüberstellungen von Bach und Rossini – von Held und Anti-Held – erhält Bach selbst schärfere Kontur. Apropos der alten Musik, hörte ich ein sehr charakteristisches Wort, das der verstorbene Musikdirektor Schwenke in Hamburg von Rossini sagte: „das ist ein großer Sünder!“ Ein andrer Hamburger Musiker sagte immer von Seb Bach; an dem kann man sehen, dass ein Gott ist! und Zelter sagte, was ihn am meisten an Bach rühre, wäre die Einsamkeit, die darin herrsche. Und wirklich; hört man den meisten andern Komponisten nicht das oberflächliche Streben für Gesellschaft, auf die Menge zu wirken, an? und zwar durch den leichtfertigsten, trivialsten Ohrenkitzel? in diesem Sinne kann Schwenkes Wort auch nur verstanden werden. Will man einen Begriff von der Wunderkraft der heil Caecilie haben, so höre man gewiße Bach’sche Stücke, in der Kirche auf der Orgel. Das ist die wahre, keusche, stärkende, nicht erschlaffende Gewalt der Musik.290
Der in diesem Abschnitt geleistete Vergleich könnte überspitzter nicht sein: Bachs Musik wird als ein Abbild von Göttlichkeit verstanden und Rossini wird zum Sünder degradiert. Während Bachs Musik mit Einsamkeit assoziiert wird, wirkt die Musik Rossinis, die sich bloß an der großen Masse und am Zeitgeist orientiere, sinnentleert und oberflächlich. Einsamkeit erinnert an romantisch verklärte Künstlermythologien und weckt Assoziationen mit Momenten künstlerischer Inspiration und geniehafter Versunkenheit. Der „leichtfertigste und trivialste Ohrenkitzel“ wirkt sinnlos, wenn er mit der Wunderkraft der heiligen Cäcilie verglichen wird, deren Aura – so Mendelssohn Bartholdy – Bachs Werk umgibt. Lea Mendelssohn Bartholdy verleiht dem Vergleich zwischen Bach und Rossini durch eine auf zwei Ebenen angelegte Klimax besondere Prägnanz. So lässt sich erstens im Hinblick auf die Persönlichkeiten, auf die sie verweist, eine Steigerung ausmachen, zweitens ist auf semantisch-syntaktischer Ebene eine Klimax angelegt. Sie lässt zunächst zwei Hamburger Musiker zu Wort kommen, Christian Friedrich Gottlieb Schwencke (1767–1822) und einen unbekannten Hamburger Musiker.291 Carl Friedrich Zelter setzt die Steigerungsfigur fort. Sein Bach-Bekenntnis scheint auf Lea Mendelssohn Bartholdy selbst und auch auf ihre Adressatin große Autorität ausgewirkt zu haben.292 Ihre eigene Einschätzung bildet den Höhepunkt. Ihr gibt sie zum einen im Vergleich zu den drei anderen Referenzen den größten Raum, zum anderen gestaltet sie ihre Bach-Reflexion als normativen Lehrsatz: Nur wer 290 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 98, Brief vom 27. Mai 1823. Zelter bezeichnete 1827 Bachs Musik als Verkörperung von Einsamkeit, eine Aussage, die er auch schon früher gemacht hatte. Vgl. Dok VII (2008), Nr. B 34. 291 Lea Mendelssohn Bartholdy bezieht sich auf die Jahre 1805 bis 1812, in der sie und ihre Familie in Hamburg gelebt haben. 292 Vgl. das Kapitel Bach und Erziehung (Teil II, Kap. 3.2.4).
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„gewisse Bach’sche Stücke“ hört, kann die Wirkung von Musik („Wunderkraft der heiligen Cäcilie“) überhaupt erfahren, so die Quintessenz. Zweitens ist für Lea Mendelssohn Bartholdys Klimax die semantisch-syntaktische Ebene besonders bedeutsam. Zunächst zitiert sie nur bruchstückhaft („das ist ein großer Sünder“ und „Einsamkeit“), dann steigert sie die Aussagewirkung, indem sie die Einschätzung Zelters bestärkt („Und wirklich; hört man den meisten andern Komponisten nicht das oberflächliche Streben für Gesellschaft, auf die Menge zu wirken, an?“). Abschließend folgt ihre mit vier assoziationsreichen Adjektiven versehene Zusammenfassung: „Das ist die wahre, keusche, stärkende, nicht erschlaffende Gewalt der Musik.“293 Bach wird zum Synonym der Gewalt der Musik überhaupt. Gewaltig und allgewaltig sind Beschreibungen, die sie ausschließlich im Zusammenhang mit der Musik Bachs verwendet und die im Folgenden als Aspekt eines national aufgeladenen Diskurses gedeutet werden.294 Das Motiv der Gegenüberstellung der bachschen Musik mit der Rossinis zieht sich durch das gesamte Briefkorpus, zum Teil auch auf einer übergeordneten Ebene die Nationalstile betreffend. Zur Verdeutlichung der Unterschiede benutzt sie oft kulinarische Metaphern: „Aber ewig Rossini, hieße ein dîner von lauter crème zusammenzusetzen.“295 An anderer Stelle berichtet sie von Giacomo Meyerbeer, der verweichlichte, weil er sich dem neuesten italienischen Geschmack hingegeben habe.296 „Er ver-Rossinerlt“297 sich, führt sie weiter aus. Über den Besuch von Meyerbeers Oper Emma di Resburgo berichtet sie: Man […] konnte sich bei dem ewig süßen, gurgelnden, matten Einerlei des schlimmsten aller Eindrücke, der Langeweile nicht enthalten. Mir war zu Muthe, als ob ich eine Mahlzeit von lauter Kuchen gehalten hätte, ich forderte einen Schnaps – oder musica robusta, wie die Italiener unsre Gattung nennen.298
Süße, Kuchen oder Sahne sind ihre Metaphern für den italienischen und Schnaps für den deutschen Stil („musica robusta“). Schnaps ist beliebtes Antidot zum Zu-Süßen wie zu einem Nachtisch und eben diese Wirkung eines Gegenmittels, das eine zu einseitige, süße Ernährung relativieren soll, assoziiert sie mit dem deutschen Stil. Rossinis Musik mit Süßspeisen zu vergleichen ist ein bekannter Topos in der Musikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts.299 Hörgenuss als Genussbefriedigung durch Speisen zu beschreiben besitzt in der Musikkritik eine lange Tradi293 294 295 296 297 298 299
Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 98, Brief vom 27. Mai 1823. Vgl. die Ausführungen im Abschnitt Bach und das „Alterthum“ (Teil II, Kap. 3.2.2). Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 98, Brief vom 27. Mai 1823. Ebd., S. 26, Brief vom 18. und 19. Februar 1820. Ebd. Ebd. Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 459 und Sanna Pederson, Enlightened and Romantic German Music Criticism, 1800–1850, PhD diss., University of Pennsylvania, 1995, S. 114. Pederson zitiert u. a. Adolf Bernhard Marx, Rossini und die diebische Elster auf dem Berliner Theater, in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung, 2. Jg. (1825), Nr. 3 (19. Jan.), S. 22–23, Nr. 4 (26. Jan.), S. 29–31; Nr. 5 (2. Febr.), S. 36–37, hier S. 37. Bei Pederson heißt es: „Marx reasoned that Italians, who loved to sip chocolate, would naturally also have a taste for Rossini.“ Pederson, S. 114.
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tion.300 Hintergrund ist der bildungsbürgerliche Tugendkanon, der sich von allem Genusssüchtigen als Ausdruck von Laszivität, Sinnlichkeit und Körperlichkeit abwendete. Hinsichtlich der Kategorien (deutscher vs. italienischer Stil bzw. Gattung) bleibt Lea Mendelssohn Bartholdy in ihren Ausführungen vage und unkonkret. Nur an einer Stelle geht sie differenzierter auf ihre Ablehnung des italienischen Stils ein, beispielhaft verdeutlicht durch Rossini. Da heißt es: Den Reiz einer schönen italiän Oper kenne ich wohl […]. Seine komische Musik ist geistreich, lebhaft, witzig, angenehm, aber seine ernste, gar tragische, fällt ins Lächerliche, so wie sich überhaupt das jetzige Undramatische der italiän Musik aus der Art erklären lässt, wie sie ihre Opern hören. Da sie nur einzelnen Stücken ihre Aufmerksamkeit schenken, wärs überflüssig, einem Charakter Ausdruck und Einheit zu verleihen oder ein Ganzes zu bilden; es kömmt ihnen nur auf die Zierlichkeit oder Geschicklichkeit des Sängers an und dazu braucht man kein harmonisches, geniales, die Seele in Anspruch nehmendes Ensemble zu schaffen.301
Rossinis komische Opern klammert Mendelssohn Bartholdy aus ihrer Italien-Kritik aus. Un-dramatisch, nicht im Gegensatz zu komisch, sondern in der Bedeutung von ohne Stringenz, sei vor allem ernste italienische Musik. Das betrifft in diesem Fall alle anderen Musikgattungen neben der komischen Oper. Gerade diese ernste Musik bedürfe einer Einheit („harmonisches, geniales, die Seele in Anspruch nehmendes Ensemble“), ansonsten wirke sie lächerlich, langweilig und rein äußerlich, da sekundäre nicht musikimmanente Faktoren, wie die Zierlichkeit und Geschicklichkeit des Sängers, im Mittelpunkt stünden. Als Beispiel einer geglückten ernsten Musik dient ihr die Musik Bachs, die von ihr konsequent als „ernst“ und als „ernste Muße“ beschrieben wird.302 Ernst und Ernsthaftigkeit fungieren bei Lea Mendelssohn Bartholdy durchweg als positiv konnotierte Wertkategorie. Die Ernsthaftigkeit bildet im Vergleich zu Rossini die moralische Gegenseite, das Gegenteil von Frivolität und Laszivität ab. „Ernst“ benutzt sie auch als ein gattungsspezifisches Kriterium, wenngleich sie dabei sehr vage bleibt. Ob mit „ernst“ nur geistliche Musik Bachs gemeint ist, ist anzuzweifeln. Lea Mendelssohn Bartholdy würde damit zwar einer Tendenz im 19. Jahrhundert folgen, „ernst“ als Bewertungskategorie für geistliche Musik zu verwenden,303 im Widerspruch dazu stehen aber andere Briefpassagen, in denen sie „ernst“ als einen Ausdruck für historisch/vergangen bezeichnet und sich auf Instrumentalwerke bezieht: „Paul läßt sichs auch nicht nehmen, jeden Freitag Morgen mit zu Zeltern zu fahren, wo Instrumentalsachen v. Händel, den Bachs, kurz, die ernstesten Stücke gegeben werden; da studirt er sein Ideal-Kontrabaß mit unverwandter Aufmerksamkeit.“304 „Ernst“ bleibt als Bewertungskategorie von Bachs Musik vage und offen.
300 301 302 303 304
Vgl. Pederson, Enlightened and Romantic, S. 140, Anm. 16. Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 98, Brief vom 27. Mai 1823. Vgl. z. B. ebd., S. 11, Brief vom 1. Mai 1819, und S. 179, Brief vom 17. Februar 1826. Vgl. Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 461. Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 11, Brief vom 1. Mai 1819.
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Die bipolare Spannung, die der Text Lea Mendelssohn Bartholdys zwischen Bach und Rossini konstruiert, ist vor der Folie der Nationalismus-Debatte zu betrachten, deren Beginn im ausgehenden 18. Jahrhundert anzusiedeln ist.305 Hauptmerkmal des nationalistischen Denkens war das Konstruieren nationaler Charakterstereotypen, die sich im musikhistorischen Diskurs niederschlugen und ebenso den politisch-nationalen Diskurs distribuierten. So sieht Frank Hentschel die Funktion nationalistischen Denkens für Musikschriftsteller u. a. darin, dass sie half, „die Musik aufgrund der vermeintlich durch sie vermittelten Nationalcharaktere zu beschreiben und zu typisieren.“306 Das dialektische Modell Deutschland gegen Italien auszuspielen besaß also Tradition. Hentschel konstatiert, „[…] dass die Polarisierung des Italienischen und des Deutschen sämtliche Musikgeschichten durch und durch formte“.307 „Es war daher“, so Hentschel weiter, „kein Zufall, sondern logische Notwendigkeit, dass die Analyse der Merkmale deutscher Musik sogleich zu jenen der italienischen hinüberleitete“.308 Die Wahl der Exempel Bach und Rossini ist nicht willkürlich, sondern hat im nationalistischen Denken der Musikgeschichtsschreibung Programm. Bach galt als einer der Komponisten, an dem sich Nationalstolz manifestierte.309 Wilhelm Heinrich Riehl schrieb über Bach: „Bach blieb durch und durch national – vielleicht der einzige deutsche Künstler auf den Grenzscheiden des 17. und 18. Jahrhunderts, dem man dies im strengsten Wortsinne nachrühmen kann.“310 Für die Charakteristik der italienischen Musik galt vielen Musikschriftstellern Rossini als paradigmatische Figur, so erwähnt Hentschel beispielhaft Brendel und Ambros, die Rossini als Anti-Helden konstruierten. Es scheint, als habe sich Lea Mendelssohn Bartholdy eines „virtuellen“ Baukastenprinzips bedient, das zur Typologisierung des Italienischen als Antipode des Deutschen verhelfen sollte. Hentschel summiert folgende Adjektive unter den spezifisch italienischen Eigenschaften von Musik: „[…] nicht-tief, also flach, bloß unterhaltsam oder leicht, nicht-innerlich, also äußerlich, nicht-wahr, also verlogen, sie wurde als nicht-geistig also sinnlich, nicht-keusch, also lasziv oder frivol angesehen.“311 Sämtliche dieser Bedeutungskomponenten sind auch in den Briefen Lea Mendelssohn Bartholdys vorhanden: „oberflächliches Streben“ und „trivialer Ohrenkitzel“ im Sinne von nicht-tief, lasziv oder frivol im Sinne von nicht-keusch. Im oben genannten Zitat heißt es: „Das ist die wahre, keusche, stärkende, nicht erschlaffende Gewalt der Musik.“ Die Annahme, dass Musik wahr sein kann, spiegelt den Versuch wider, das sinnlich-ästhetische Erlebnis von Musik vernunftmäßig
Hierzu und im Folgenden vgl. Hentschel, Bürgerliche Ideologie, bes. S. 334 ff. Ebd., S. 336. Ebd., S. 393. Ebd., S. 390. Vgl. das Kapitel Bach, der Nationale (Teil II, Kap. 2.4). Riehl, Bach und Mendelssohn aus dem sozialen Gesichtspunkte, in: Musikalische Charakterköpfe I, 81899, S. 57–90, hier S. 66; siehe auch Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 357. 311 Ebd., S. 353.
305 306 307 308 309 310
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aufwerten zu wollen, der Musik also „einen im Bildungssystem verankerten, gesellschaftlich anerkannten Wert zu verleihen“.312 In diesem Auszug aus Lea Mendelssohn Bartholdys Brief vom 27. Mai 1823 erhält der nationale Diskurs in Form des deutsch-italienischen Vergleichs eine implizit moralische Dimension, die besonders prägnant durch die doppelte Repräsentation von „Keuschheit“ wirkt: Zum einen durch die adjektivische Verwendung und zum anderen in der Personifikation von Keuschheit in der christlichen Märtyrerfigur der Heiligen Cäcilie. Geschlechtslosigkeit und Reinheit sind zwei Bedeutungskomponenten, die der Cäcilienfigur eingeschrieben sind.313 Zwar könnte angesichts des christlichen Ursprungs des Cäcilienmythos eine religiöse Deutung des Cäcilienvergleichs auf der Hand liegen und folglich die von Lea Mendelssohn Bartholdy präferierten „gewiße[n] Bach’sche[n] Stücke, in der Kirche auf der Orgel“ als Ausdruck einer Bevorzugung der christlichen Kirchenmusik Bachs zu deuten sein. Im Kontext von Lea Mendelssohn Bartholdys Brief scheint die religiöse Deutung des Cäcilienvergleichs allerdings in den Hintergrund zu rücken, lediglich als Hülle zu fungieren und die moralische Dimension, Jungfräulichkeit und damit verbunden Enthaltsamkeit und Sittenhaftigkeit als Indiz für das Kunstvolle von Musik zu deuten, an Relevanz zu gewinnen. Diese Bedeutungszuschreibungen, die nicht in der Musik als solche nachgewiesen werden konnten und daher rein ideologischer Natur sind, basieren auf „spezifisch bildungsbürgerlichen Kriterien“,314 die Musik moralisch bewerteten. Teil dieser Entwicklung, bildungsbürgerliche Tugenden zu Bewertungsmaßstäben umzudeuten, ist auch die Anlehnung an religiöse, quasi-religiöse bzw. kunstreligiöse Inhalte, die enorme Auswirkungen auf die Konstruktion von Künstlermythologien hatten.315 Lea Mendelssohn Bartholdy geht es um diese kunstreligiösen Komponenten der Musik Bachs. Wenn Bachs „gewiße Stücke“ die Wunderkraft der heiligen Cäcilie verkörpern, bezieht sich diese Einschätzung auf die Eigenschaft von Bachs Werk, „dem Rezipienten mithilfe künstlerischer Verfahren Erfahrungen zu eröffnen, wie sie ansonsten der Religion vorbehalten waren“.316 Es ging also nicht darum, Musik als Ausdruck oder Mittel religiöser Gesinnung zu verstehen, sondern Religiosität als bildungsbürgerlich anerkannte Tugend, also als einen positiv konnotierten Deutungskontext zu stärken. Damit wird eine in der Salon-Forschung stark verbreitete These, die Musik Bachs bzw. Händels verkörpere eine individuelle religiöse Stärkung im Sinne einer Läuterung, relativiert. Die von Barbara Hahn anhand einer Passage aus Friedrich Nietzsches Fragment Nietzsche contra Wagner entwickelte Hypothese, Händel hätte mehr Wirkung auf Juden gehabt – ob getauft oder nicht – als „die geliebte Bach’sche Musik“, kann am Beispiel Lea Mendelssohn Bartholdys nicht 312 Ebd., S. 136. 313 Markus Grassl, Art. „hl. Cäcilie“, in: Kreutziger-Herr / Unseld (Hgg.), LMG, Kassel/Stuttgart 2010, S. 163. 314 Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 460. 315 Eckhardt Neumann, Künstlermythen. Eine psycho-historische Studie über Kreativität, Frankfurt a. M./New York 1986. 316 Heinrich Detering, Kunstreligion und Künstlerkult, in: Georgia Augusta. Wissenschaftsmagazin der Georg-August-Universität Göttingen 5 (2007), S. 124–133, hier S. 126.
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bestätigt werden.317 Die Idee, Händel im Vergleich zu Bach als den Komponisten zu beschreiben, dessen Musik die Idee verkörpere „die das ‚jüdisch-heroische‘ transportierte“,318 entbehrt einer nachvollziehbaren Argumentation. Bei Lea Mendelssohn Bartholdy scheinen „die großen Chöre“ der bachschen und händelschen Oratorien einen ähnlichen Stellenwert zu haben und die Unterscheidung zwischen einem dem Jüdischen näheren und dem Protestantismus verschriebenen Komponisten nicht zu gelten. Hierauf lässt auch die Tatsache schließen, dass Lea Mendelssohn Bartholdy selbst an keiner Stelle einen explizit konfessionellen Bezug zwischen der bachschen Musik und dem Christentum oder Judentum herstellt. Zwar begründet sie verschiedentlich, warum sie und Abraham zum Christentum konvertierten, auch betont sie ihre Abneigung gegenüber der Konvertierung ihrer beiden Schwägerinnen Dorothea Schlegel und Henriette Mendelssohn zum Katholizismus, nie ist aber der Kontext ein religiöser bzw. wird Musik explizit konfessionell gedeutet.319 Lea Mendelssohn Bartholdy nutzt diese deutschen, bürgerlichen Stereotypen (etwa Kunstreligion), um Bach schärfer zu konturieren und von dem Anderen (Rossini) abzugrenzen. Dabei wird Bachs Musik durchgängig als positiv und seriös („ernst“), weil auf einer schlüssigen Einheit beruhend, beschrieben. Zur Präzisierung greift Lea Mendelssohn Bartholdy auf kulinarische Metaphern zurück. Bach erscheint nicht nur als Knotenpunkt, an dem sich die deutschen Tugenden in der Musik herauskristallisieren, sondern auch als Normgröße für Musikerfahrung generell. Bach hat für Lea Mendelssohn Bartholdy auch als Identifikationsfigur eine Funktion. Indem sie der Seriosität und Ernsthaftigkeit in Bachs Musik klaren Vorzug gibt, schärft sie ihren eigenen Musikgeschmack. Während sie sich in den Briefen an ihre Kinder gegenüber Bachs Musik durchaus auch kritisch äußert320, gibt sie sich in den Briefen an ihre Wiener Cousine als tadellose Bach-Verständige, die 317 Hahn, Häuser für die Musik, S. 24 f. 318 Ebd., S. 26. 319 Es ist nicht zu übersehen, dass in Briefen Abraham Mendelssohn Bartholdys dieser Zusammenhang zwischen Bach und Protestantismus auf einer explizit religiösen, d. h. nicht ästhetischen Kategorie, sehr wohl hergestellt wird. Vgl. z. B. Abraham Mendelssohns Brief an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 10. März 1835: „Daß Bach der musikalische Repräsentant des Protestantismus sei, wird mir bei jedem neuen Stück, das ich von ihm höre, evident.“ Im selben Brief steht auch: „dass Bach „jedes Zimmer, wo er gesungen wird, zur Kirche umwandele“ (Felix Mendelssohn Bartholdy, Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847, hgg. von Paul Mendelssohn Bartholdy / Carl Mendelssohn Bartholdy, nebst einem Verzeichnisse der sämtlichen musikalischen Compositionen von Felix Mendelssohn Bartholdy, zusammengestellt von Julius Rietz, Leipzig 1863, S. 83–88, hier S. 83, künftig zitiert, Mendelssohn-Briefe 1833–1847). Vgl. auch Wolfgang Dinglinger, „Die Glaubensform der meisten gesitteten Menschen“: Aspekte der christlichen Erziehung der Geschwister Mendelssohn, in: Borchard/Schwarz-Danuser (Hgg.), Fanny Hensel, geb. Mendelssohn Bartholdy, S. 288–304, hier S. 301. Auch Fanny äußert sich explizit religiös: „Ich kenne keinen eindringlicheren Prediger als Bach.“ In: The Letters of Fanny Hensel to Felix Mendelssohn, hg. u. übers. von Marcia A. Citron, New York 1987, S. 479–482, Zitat S. 479. 320 Siehe z. B. den Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 21. Februar 1834 „Die Hmol Meße ist nun auch verübt u. ich bin dabei gewesen, trotzt Fannys abrathen. Ich bin auch froh darüber, denn bei viel Langweiligem (verzeih Herzensjunge!) habe
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gegenüber den leichtfertigen, sinnentleerten Musikgeschmäckern ihrer Zeit Bach zum Garanten eines fundierten, dauerhaften Stils macht. Scherzhaft kokettiert sie mit ihrer Affinität für „le bon vieux temps de la musique“321 und fordert ihre Cousine auf, sie „nicht für eine Pedantin in der Kunst [zu] halten“.322 Ihre Motivation für die Würdigung „unsrer großen Männer“323 – zu denen sie auch Bach zählt – äußert sich zum einen in ihrem persönlichen Verlangen, dem wahren Kunstwerk Empfindung, Wertschätzung und Unterstützung entgegenzubringen: Und wiewohl ich ein altes Mütterchen bin, erfreue ich mich und erhalte mir jene auf- und überwallende Empfindung für das Rechte, Wahre! Und wünsche jedem Glück, der statt kalter Krittelei und Apathie, zum Kunstwerk […] einen offenen Sinn, warme Lebendigkeit mitbringt, […] dem schreiendes Unrecht und Entwürdigung des Großen noch das Herz pochen und schwellen macht!324
Ihre Unterstützung der vergangenen Musik hat zum anderen auch eine nationale Dimension: „Ich kann nur wiederholen, daß wir keine Nation, keine Klaßicität erlangen werden, wie Engländer und Franzosen, bis wir unsre großen Männer wie sie die ihren, zu ehren, zu vertheidigen, endlich zu belohnen wissen werden!“325 Nationale Identität lässt sich in ihren Augen durch Kulturvermittlung und historisches Bewusstsein realisieren, Aspekte, die eng mit Ideen des Nationalismus- und des Historismus-Diskurses verknüpft sind. Klassizität ist im Sinne von „mustergültig überhaupt, künstlerisch vollkommen“326 zu verstehen und referiert auf etwas, das es zu bewahren gilt, das wert ist, in das kulturelle Gedächtnis einzufließen.327 Ihr Verständnis darüber, wie sich ein kulturelles Gedächtnis herausbilden könne, erfolgt unter geschlechtsspezifischen Denkkategorien, insofern es die „großen Männer“ sind, die als erinnerungswürdig und damit als nationale Identitätsstifter wahrgenommen werden. Diese Geschlechterkomponente war für die Genieästhetik des 19. Jahrhunderts und der aus ihr hervorgehenden Heroengeschichtsschreibung konstitutiv und das Beispiel Mendelssohn Bartholdys beruft sich auf eben diese Geschlechterdichotomie, die sowohl im Genie-Diskurs als auch im NationalismusDiskurs im 19. Jahrhundert eingeschrieben war.328 Lea Mendelssohn Bartholdy lässt an dieser Stelle offen, welche „großen Männer“ sie als Teil des klassischen Kanons definiert. Im vorherigen Briefabschnitt huldigt sie J. S. Bach, ebenso wie Goethe und Shakespeare. Die Kategorie der „großen Männer“ bleibt hier personell noch variabel und ist noch nicht in der klassischen Trias Haydn – Mozart – Beethoven verfestigt, wie sie 1836 bei Amadeus Wendt
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ich doch so viel Koloßal Grandioses […] gehört und empfunden.“ (GB-Ob, Green Books III MS. M.D.M. d.29, 35). Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 97, Brief vom 27. Mai 1823. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Ebd. Ebd. Art. „Klassisch“, in: Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Sp. 1007, Online-Version: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ (letzter Zugriff: 10.01.2018). Vgl. zum Klassik-Verständnis Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. 201 ff. Vgl. die Kapitel Bach, das Genie (Teil II, Kap. 2.3) und Bach, der Nationale (Teil II, Kap. 2.4).
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präzise formuliert wird: Als „classische Periode“ bezeichnet Wendt das „Kleeblatt: Haydn, Mozart, Beethoven“.329 3.2.2 Bach und das „Alterthum“ In den Briefen Lea Mendelssohn Bartholdys spielt der Begriff des „Alterthums“ im Bezug auf Bach eine große Rolle. Auch andere historische Begriffe wie „Gotik“ oder „Antike“ werden von ihr immer wieder benutzt um Bach und seine Musik zu charakterisieren. Was vordergründig den Anschein tatsächlicher historischer Kategorien hat, ist für Mendelssohn Bartholdy allerdings nicht mehr als eine Möglichkeit ästhetische Empfindungen, die von ihr und ihrem Umfeld bestimmten historischen Epochen zugeordnet werden, auf die Musik Bachs zu übertragen. Auch außerhalb der privaten Korrespondenz von Lea Mendelssohn Bartholdy spielen die assoziativen Felder „Bach und Gotik“ und „Bach und das ‚Alterthum‘“ eine wichtige Rolle, weswegen sie für die Geschichtsschreibung zu Bach große Relevanz haben. Dieses Kapitel fragt danach, wie Lea Mendelssohn Bartholdy J. S. Bach als einen Komponisten der Vergangenheit darstellt und welche Rolle das „Vergangensein“ von Bach in ihrer eigenen Gegenwart spielt. Mendelssohn Bartholdy präsentiert sich im folgenden Briefausschnitt aus dem Jahr 1826 als Bach-Kennerin, die ihre Abfälligkeit bei der Beurteilung zeitgenössischer Musik-Rezeption nicht verbergen kann: Die Welt ist auch gegen diese musikal. Trivialitäten so abgestumpft, daß man eine Simphonie v. Seb. Bach, die vorigen Sonntag bei uns gespielt wurde, allgemein neu fand. Natürlich, weil Gedanken, und in den jetzigen Sachen nur Phrasen sind.330
Die Frage nach der Neuheit Bachs ist mit einem moralischen Werturteil über zeitgenössische Kompositionen verknüpft. Lea Mendelssohn Bartholdys zentrales Motiv ist das des „Gedankens“: Zeitgenössische Musikproduktion erschöpft sich deshalb in Banalitäten und Trivialitäten, weil sie nicht aus Gedanken, sondern nur aus „Phrasen“ – das heißt aus losen und unreflektiert aneinandergereihten Einheiten bestehen. Dieser – in ihren Augen defizitäre – Zustand in der zeitgenössischen Musikproduktion ist wiederum Ursache dafür, dass sie die Hörgewohnheiten dementsprechend als abgestumpft beschreibt, sodass Bach von ihren Zeitgenossen als „neu“ wahrgenommen wird. Einen anderen Eindruck vermittelt folgende Briefpassage aus dem Jahr 1826. Hier erscheint Bach als vorwiegend distanziert und alt: „Man denkt sich diesen erschöpfendsten aller Meister aber stets als einen schwerfälligen Pedanten und Schulfuchs.“331 Pedanterie und Schulmeisterei sind Topoi, mit denen in musiktheoretischen Diskursen des 18. Jahrhunderts Bachs kontrapunktische Lehre in 329 Amadeus (alias Johann Gottlieb) Wendt, Über den gegenwärtigen Zustand der Musik besonders in Deutschland und wie er geworden. Eine kritisch beurtheilende Schilderung, Göttingen 1836, S. 3. 330 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 179, Brief vom 17. Februar 1826. 331 Ebd.
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den Vordergrund gerückt wurde.332 In den Worten Lea Mendelssohn Bartholdys spiegelt sich das Ringen wider, Bach in einem semantischen Spagat zwischen dem „erschöpfendsten aller Meister“ („erschöpfendsten“ wird hier im Sinne von „vollkommensten“ gedeutet) einerseits und dem „schwerfälligen Pedanten und Schulfuchs“ andererseits zu verorten. Möglicherweise steht dahinter auch ihr Bemühen, Bach vor den Augen ihrer Adressatin, der Cousine Henriette von Pereira-Arnstein, zu legitimieren und zu verteidigen. Denn während für die Generation ihrer Mütter (die Schwestern Bella Salomon geb. Itzig und Fanny von Arnstein geb. Itzig) Ähnlichkeiten im Musikgeschmack und ihrer Vorliebe für die Musik J. S. Bachs nachzuweisen sind, gehen Vorstellungen dieser Art in der nachfolgenden Generation auseinander.333 Beschwichtigend reagiert Mendelssohn Bartholdy daher auf die Kritik Henriette von Pereira-Arnsteins, die die Namensgebung von Fannys Sohn Sebastian betrifft und Lea Mendelssohn Bartholdys Antwortbrief vom 7. Juni 1831 vorausgegangen sein wird. Lea Mendelssohn Bartholdy schreibt: „[…] und somit nenne das kleine Jüngchen wie Du magst, oder bloß mein Enkelchen, nur wüthe mir nicht mehr in argem Zorne gegen des alten verzwickten Bachs Vornamen.“334 Anhand zweier Diskurse kann Mendelssohn Bartholdys Verständnis von Bach als eines Komponisten der Vergangenheit konkretisiert werde: Bach als Antike und Bach als Gotik. Bach als Antike Ein Vorgehen, mit dem Lea Mendelssohn Bartholdy J. S. Bach als eines Komponisten der Vergangenheit beschreibt, ist die Verknüpfung zur griechischen Antike. So vermerkt sie im Jahr 1826: „Bei uns wird jetzt alle 14 Tage seine [Bachs] große Paßion eingeübt, und es ist nicht möglich, sich eine reichere Fundgrube der tiefsten Empfindung, eine göttlichere Deklamation, kurz eine großartigere und rührendere Antike zu denken.“335 Im Jahr 1831 berichtet sie über ein Konzert von Felix Mendelssohn Bartholdy, in dem er Werke von G. F. Händel im mittelalterlichen Kölner Gürzenichsaal zur Aufführung bringt: „So wird, gleich der Bach’schen Paßion, wieder etwas ganz Neues aus dem Althertum entstehen.“336 Antike und Altertum sind Terminologien, die auf die Epoche der griechischen Antike referieren. Die griechische Antike besaß für das 19. Jahrhundert,337 aber auch für die Musikgeschichtsschreibung im Allgemeinen, einen Sonderstatus.338 Dabei fungierte die Verknüpfung zwischen der Antike und gegenwärtiger Musikbeschreibung auf der Ebene der Moral. Die Kulturleistung der Griechen wurde so
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Vgl. das Kapitel Bach, der Kontrapunktiker (Teil II, Kap. 2.2). Vgl. dazu die ausführlichen Erläuterungen im Kapitel Der Haushalt (Teil III, Kap. 2.3). Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 338, Brief vom 7. Juni 1831. Ebd., S. 179, Brief vom 17. Februar 1826. Ebd., S. 338, Brief vom 7. Juni 1831. Vgl. Berthold Hinz, Art. „Antikerezeption“ in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, S. 447–468. Vgl. Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 444 f., und Ders., Imagination historischer Quellen. Beispiele aus der Musikgeschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 91 (2009), S. 125–160, hier S. 142 f.
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weit glorifiziert, dass sie als Prototyp moralisch wertvoller Musik in der bürgerlichen Musikwahrnehmung galt. Auch in der folgenden Briefstelle wird die Verknüpfung mit dem Antike-Diskurs des 19. Jahrhunderts deutlich. Hier gerät allerdings der in der Literatur um 1800 verarbeitete Rückbezug zur Antike in den Fokus: Bachs Denkmal kömmt vor der Thomasschule zu stehen; der Leipziger Magistrat, über diesen Schmucke der Stadt erfreut, giebt den Platz unentgeldlich und läßt Bäume umher pflanzen. Ein neues WeimarAthen wird freilich hier nicht entstehen, wie Du richtig bemerkst; […].339
Lea Mendelssohn Bartholdy berichtet über die von Felix Mendelssohn Bartholdy initiierte und mitfinanzierte Errichtung eines Leipziger Bach-Denkmals im Jahr 1843.340 Die graphemische Verbindung dieser beiden Städte, die im Kompositum „WeimarAthen“ aufscheint, spiegelt den für die in der Literatur um 1800 typischen Rückbezug zur griechischen Antike (Athen) wider, für deren Verarbeitung in zeitgenössische literarische Werke vor allem Johann Wolfgang von Goethe (Weimar) als prototypisch angesehen wurde.341 Allerdings, so macht Lea Mendelssohn Bartholdy deutlich, misst sie Bach – hier verkörpert als Leipziger Bach-Denkmal – nicht das Potenzial bei, einen vergleichbaren kulturellen Status einnehmen zu können, wenngleich sie ergänzt: „Ein neues WeimarAthen wird freilich hier nicht entstehen, wie du richtig bemerkst; es ist doch aber eine lobenswerthe, glückliche Tendenz der Monarchen, bedeutende, begabte Leute um sich zu versammeln.“342 Bach als Gotik Eine Verbindung von Bach zur Gotik zieht Mendelssohn Bartholdy explizit nur an zwei Briefstellen. Im Jahr 1833 bemerkt Lea Mendelssohn Bartholdy: „Seine [Händels] und Seb Bachs Chöre haben gewiß viel Analogie mit den gothischen Domen und Kirchenbauten.“343 Die Analogie zwischen den „gothischen Domen und Kirchenbauten“344 und den Chören Bachs und Händels erhält im diskursiven Kontext der Bach-Rezeption in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts große Aussagekraft. Ein typisches Verfahren, ein Musikwerk als gotisch zu bezeichnen, stellt der analogiehafte Vergleich mit Bauwerken dar. Betrachtet man das zeitgenössische Musikschrifttum Lea Mendelssohn Bartholdys, so wird deutlich, welche enorme Wichtigkeit der Begriff der Gotik insbesondere im Hinblick auf die Rezeption von Bach hatte. Die ästhetische Kategorie, die mit „gotisch“ oder „Gotik“ umschrieben wird, ist im Hinblick auf die Geschichtsschreibung über Bach ideologisch höchst belastet.345 In zeitgenössischen Berichten wird der Vergleich zur Gotik benutzt, um 339 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 530, Brief vom 24. November 1842. 340 Zur Einrichtung des Denkmals siehe u. a. Peter Wollny (Hg.), Ein Denkstein für den alten Prachtkerl: Felix Mendelssohn Bartholdy und das alte Bach-Denkmal, Leipzig 2004. 341 Vgl. hierzu Stefanie Stockhorst, Art. „Weimarer Klassik“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 14, Sp. 777–782, hier Sp. 777. 342 Ebd. 343 Ebd., S. 307, Brief vom 23. November 1833. 344 Ebd. 345 Mutschelknauss leistet in Bach-Interpretationen, S. 251, einen Überblick über den Gotik-Diskurs in der Bach-Historiographie und dessen Ideologeme.
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Hörerfahrungen mit der Musik Bachs zu umschreiben. Die Kategorie des Gotischen sei, so formuliert Bernd Sponheuer, als ein „Teilmoment“ verortet in der Gemengelage von „Vorstellungen kompositions-, sozial- und ideengeschichtlicher Art“ im Zusammenhang mit der Wiederaufführung der Matthäus-Passion 1829.346 Die historische Rolle der Kategorie des Gotischen gleiche dem eines „heuristischhermeneutischen Werkzeugs“ und hat vor allem darin bestanden, daß sie [die Kategorie des Gotischen] erstens – wie auch immer metaphorisch vermittelt und konkretionsbedürftig – eine anschauliche Wahrnehmungsperspektive insbesondere für ältere, komplexe, kontrapunktisch gearbeitete Musik eröffnet hat, indem sie einen neuen sukzessiv-dynamisch gedachten Formbegriff introduzierte, der in seinem Kern auf den zeitlichen Prozeßzusammenhang der Musik gerichtet ist; zum zweiten darin, daß sie die Nobilitierung der Musik zu einem ernstzunehmenden Faktor der nationalen Kultur und Geschichte beförderte, indem sie der Musik unter der Perspektive des Erhabenen einen weiten, bis zum Religiösen ausgreifenden Verstehenshorizont als Kunst des ‚Unaussprechlichen‘ einräumte.347
Entscheidend für das Verständnis der Gotik-Metaphorik bei Lea Mendelssohn Bartholdy ist der Paradigmenwechsel, der sich innerhalb des Gotik-Diskurses vollzog. Ursprünglich war der Begriff des Gotischen nämlich negativ besetzt und so tritt diese Bedeutung auch im Zusammenhang mit Bach auf. Sie äußerte sich als Kritik seiner vermeintlich „verworrenen Harmonik“ als eine unverständliche Gelehrsamkeit. Dieses negativ konnotierte Gotik-Verständnis wurde in der ScheibeBirnbaum-Debatte von Scheibe als dem Verfechter der Melodie vertreten.348 Ende des 18. Jahrhunderts zeichnete sich im Gotik-Verständnis ein grundsätzlicher Vorzeichenwechsel ab: Gotik wurde zu einer als durchweg positiv bewerteten Kategorie. Dies setzte sich zunächst im allgemeinen geistesgeschichtlichen Kontext durch, dann aber auch in der Bach-Geschichtsschreibung. Johann Wolfgang von Goethe hatte mit seiner Schrift Von deutscher Baukunst diese Verknüpfung zu einem ins Positive gewandelten Begriffsverständnis auf allgemeiner Ebene geleistet.349 Die erste Verknüpfung des positiven Gotik-Verständnisses mit der Musik Bachs ist bei Johann Friedrich Reichardt in dem 1782 veröffentlichten Artikel Johann Sebastian Bach im Musikalischen Kunstmagazin zu finden.350 Im Jahr 1833, in dem Lea Mendelssohn Bartholdy in ihrem Brief an die Cousine in Wien Bachs und Händels Chöre mit den „gothischen“ Domen vergleicht, befand sich also der Gotik-Diskurs als eine Wahrnehmungsperspektive auf die Musik Bachs auf dem Höhepunkt, nicht zuletzt – wie Sponheuer darlegt – aufgrund der
346 Bernd Sponheuer, Zur Kategorie des „Gotischen“ (nicht nur) in der Bach-Rezeption des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Oechsle/Sponheuer/Well (Hgg.), Rezeption als Innovation, S. 217– 246, hier S. 246. 347 Ebd. 348 Vgl. das Kapitel Zwischen strengem und freiem Stil – Ein Spannungsfeld entsteht (Teil II, Kap. 2.1). 349 Johann Wolfgang von Goethe, Von deutscher Baukunst (1772), in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. XII, Hamburg 1960, S. 7–15. 350 Johann Friedrich Reichardt, Johann Sebastian Bach, in: Ders.: Musikalisches Kunstmagazin 1, IIII. Stück, Berlin 1782, S. 196–201.
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Wiederaufführung der Matthäus-Passion.351 Grund für den großen Stellenwert dieser Aufführung innerhalb des Gotik-Diskurses war der öffentliche Ereignischarakter, der dieser Aufführung innewohnte. Dieser wiederum wurde erzeugt durch eine strategisch geplante Werbekampagne von Adolf Bernhard Marx. Während sich die Diskussion um das Gotische in der Musik bis 1829 „eher in einer abgeschlossenen Sphäre musikalisch-literarischer Intellektualität“ aufhielt, die „zudem nur wenige Beteiligte aufwies“,352 so tritt sie mit der Wiederaufführung – als Verstehens-Horizont von Bach überhaupt – in einen öffentlichen, der gesamten gebildeten Gesellschaft zugänglichen Diskurs. Adolf Bernhard Marx beschreibt den Eingangschor der Matthäus-Passion als „überreiche Kunst“, die „in ihrer Zusammenwirkung so einfach, wie das Strassburger Münster, das uns Göthe sehen gelehrt“.353 Auch Reichardt und Hoffmann354 trafen positiv konnotierte Aussagen zum Gotischen bzw. zur Gotik, welche implizit und in einem etwas anderen Gewand ab 1829 bei Droysen, Marx und auch bei Rellstab (alle drei 1829), 1835 auch bei Robert Schumann355 und 1866 bei Philipp Spitta wieder auftauchen. Lea Mendelssohn Bartholdy erscheint hier als Rezipientin und Teilnehmerin des Gotik-Bach-Diskurses im 19. Jahrhundert. Damit dokumentiert sie implizit, dass das Gotische als eine Verstehensebene bachscher Musik fungiert hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass Lea Mendelssohn Bartholdy die Veröffentlichungen der engen Freunde Felix Mendelssohn Bartholdys, Droysen und Marx, gekannt hat und sich ihre Verwendung des Gotischen primär auf deren Deutung bezieht.356 Ebenso nur vermuten lässt sich, dass Lea Mendelssohn Bartholdy auch Leserin der Vossischen Zeitung war und ihr der Artikel Ludwig Rellstabs bekannt war, der ebenfalls Verbindungen zur Gotik-Analogie Goethes aufweist: Rellstab vergleicht die Satztechnik Bachs „mit erstaunenswürdiger Kunst gehäuften harmonischen Windungen, unendlich schön vorbereiteten und aufgelös-
351 Sponheuer, Zur Kategorie des „Gotischen“, S. 242 ff. 352 Ebd., S. 242. 353 Adolf Bernhard Marx, Erster Bericht über die „Passionsmusik nach dem Evangelisten Matthäus“ von Johann Sebastian Bach, in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung, 6. Jg. (1829), Nr. 10, (7. März), S. 73–78, hier S. 77. Vgl. auch Sponheuer, Zur Kategorie des „Gotischen“, S. 243. 354 E. T. A. Hoffmann vollendet den von Reichardt begonnenen Bach-Gotik-Vergleich, indem er den Bezug des Gotischen zu Bach explizit macht und auf die „kontrapunktische Struktur des motettischen Satzes“ bezieht. Siehe Sponheuer, Zur Kategorie des „Gotischen“, S. 240 f. 355 Robert Schumann, J. Moscheles (Konzert am 9. Oktober 1835), in: Ders., Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Bd. I, hg. von Martin Kreisig, Leipzig 1914, S. 114 f., hier S. 114. Vgl. dazu auch Sponheuer, Zur Kategorie des „Gotischen“, S. 239. 356 Leider ließ sich bisher noch nicht rekonstruieren, welche Tageszeitungen und Musikjournalien Lea Mendelssohn Bartholdy bezog. Dass sie jeden Morgen „die vorzüglichen Pariser liberalen Blätter“ erhielt, ist im Brief vom 27. Mai 1823 übermittelt. Ähnliches bezeugt Therese Devrient in ihren Jugenderinnerungen: „Alle Morgen, wenn Madame Mendelssohn ganz früh ihre Gartenpromenade machte, klopfte sie mit dem großen grünen Fächer an Eduards Fenster, setzte sich auf die Bank, die dicht darunter stand und las ihm, sobald er geöffnet hatte, das Wichtigste aus den französischen Zeitungen, die sie täglich erhielten, vor; […]“. Therese Devrient, Jugenderinnerungen, Stuttgart 21906, zitiert nach Bartsch, Lea Mendelssohn Bartoldy, S. 70.
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ten Dissonanzen und den meisterhaft verschlungenen Stimmen“.357 Eine gute Bekanntschaft zu Rellstab wird mit der Empfehlung, die Lea Mendelssohn Bartholdy 1825 ihrer Cousine gegenüber äußert, deutlich. „Lieutnant Rellstab“, der bereits seit mehreren Monaten Gast der Mendelssohns war, beschreibt sie als „ein[en] sehr heitrer[n], aufgeweckter[n] Gesellschafter“, der „Schwert mit Leier vertauscht“358 habe. Welche Bedeutung sie dem Gotischen in Bezug auf Bach beimisst, kann insbesondere auch in der Zusammenschau weiterer Textpassagen erörtert werden. In denen schildert sie Hörerlebnisse mit Bachs Musik mit Begriffen, wie z. B. „Erhabenheit“ und „Stärke“, die oft den Gotik-Diskurs implizieren. Vor allem kontrapunktisch gearbeitete Musik wird im Gotik-Diskurs zu einer, die Erhabenheit verkörpere. Die Eigenschaft von Größe und Stärke und gleichzeitiger Milde und Weichheit ist für den Gotik-Diskurs des 19. Jahrhunderts konstitutiv. 1834 schreibt sie über einen Besuch der h-Moll Messe, dass sie „so viel koloßal Grandioses, Rührendes, Erhabenes, Gewaltiges gehört u. empfunden“ habe, dass „Leuten wie ich, der Verstand still steht“.359 Mit nahezu identischen Attributen beschreibt sie drei Jahre später die Aufführung von Bachs Kantate Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit: „Das ist wahrlich ein koloßales Stück: bei dem ‚bestelle dein Haus‘, ‚Mensch du mußt sterben‘, stehen einem die Haare zu Berge; u. wie weich u. lind, wie rührend u. zart melodisch ist der Allgewaltige dann wieder in dieser kurzen, aber sehr großen Musik!“360 Einsamkeit, Kraft und Tiefe wird Bach ebenfalls bezogen auf die Kantate Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit von Abraham Mendelssohn Bartholdy im Jahr 1835 attestiert, allerdings mit einer explizit nationalen Konnotation: Schon die Einleitung [zur Bach-Kantate Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit], welche Fanny besonders schön spielte, hat mich überrascht und ergriffen, wie lange Nichts, und ich musste wieder an Bach’s Einsamkeit denken, an seinen ganz isolirten Stand in Umgebung und Mitwelt, an die reine, milde ungeheure Kraft, und die Klarheit der Tiefe. […] Nebenbei wurde mir auf’s Neue klar, welch’ großes Verdienst es von Zelter war und bleibt, Bach den Deutschen wiedergegeben zu haben, […].361 357 Ludwig Rellstab, in: Vossische Zeitung vom 13.03.1829, zit. nach Sponheuer, Zur Kategorie des „Gotischen“, S. 244, Anm. 55. 358 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 130, Brief vom 14. und 15. März 1825. 359 Brief Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 21. Februar 1834 (GB-Ob, Green Books, III. MS. M.D.M. d.29, 50). 360 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 17. Juli 1837 (GB-Ob, Green Books, VI. MS. M.D.M. d.32, 57). 361 Abraham Mendelssohn an Felix Mendelssohn Bartholdy am 10. März 1835, in Dok VI (2007), Nr. B 71. Auch Fanny Hensel stellt die Empfindung beim Spielen von Bachs „Actus tragicus“ ähnlich narrativ dar: „Es [ein Stück von Onslow] war aber so mattes, lahmes, grundlangweiliges Zeug, daß ich im Durchspielen fast verschimmelte, u. nachher zur Erholung, die Litaney u. meine Lieblingsmotette: Gottes Zeit, spielte. Ah!! Dabei wird einem wieder wohl. Ich kenne keinen eindringlicheren Prediger als den alten Bach. Wenn er so in einer Arie die Kanzel besteigt, u. sein Thema nicht eher verläßt, bis er seine Gemeinde durch u. durch erschüttert oder erbaut u. überzeugt hat. Schöneres kenn ich fast nicht, als das Furchtbare es ist der alte Bund, wozu die Soprane so rührend einstimmen: ja komm Herr Jesu komm. Sebastian nicht Bach nimmt mir die Feder aus der Hand.“ Brief von Fanny Hensel an Felix Mendelssohn Bartholdy, hier zitiert in: Dok VI (2007), Nr. B 70. Über die Bedeutung der Kantate Gottes Zeit ist die al-
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Auffällig ist in beiden Zitaten die Beschreibung von Bachs Musik als etwas Gewaltigem. Bachs Musik drückt – so Lea Mendelssohn Bartholdy – Stärke und Kraft aus. Dabei ist Stärke verbunden mit Substanz und Größe („Koloß“), also mit hartem, unnachgiebigem Gestein und umfassender Gestalt. In diesem Sinne ist auch folgender Satz aus dem Jahr 1836 zu verstehen, indem sie über die Probenarbeit der Matthäus-Passion im mendelssohnschen Familienkreis berichtet: „Gerade so klein hat das gewaltige Werk begonnen“.362 Stärke bekommt darüber hinaus eine weitere Bedeutung und zwar als Ausdruck körperlicher Stärke und Arbeitskraft („der Allgewaltige“) und referiert damit erneut auf bildungsbürgerliche Wertvorstellungen, wonach Stärke und Kraft einen moralischen Wert besaßen.363 Auch ist die religiöse Konnotation, im Sinne einer Allgewalt Gottes, eine Deutungskomponente des Begriffes „Stärke“. Zentral ist aber, dass die Beschreibungen, die sich um das Wortfeld „Stärke“ gruppieren lassen, nicht als unvereinbar mit scheinbaren Gegensätzen wie „Weichheit“ und „Rührung“ stehen. Vielmehr ergeben sie in Lea Mendelssohn Bartholdys Schilderungen eine schlüssige semantische Einheit. Erhabenheit wird im GotikDiskurs als neue Qualität kontrapunktisch gearbeiteter Musik konstruiert: „Aus dem Mangel des Unbestimmten, Nicht-Nachahmenden [als welches Kontrapunktik bis dahin negativ bewertet wurde, E. B.] wird der Vorzug des Über-Empirischen, des ‚Überirdischen‘“.364 Das Verständnis, Musik könne etwas Überirdisches, Göttlich-Erhabenes und gewissermaßen Unsagbares verkörpern, stellt Hörende, mit ihrem persönlichen Gefühl, neu zur Disposition. Die Schablone des Gotischen, vor der die Musik Bachs betrachtet wird, hat die nationalhistorische Funktion, sich erstens als explizit deutsche Kunst zu etablieren und zweitens aus der Perspektive des Erhabenen die wertästhetische Funktion der Musik zu nobilitieren. Beides kommt in den Briefen Lea Mendelssohn Bartholdys zum Ausdruck. In beiden obigen Zitaten wird die ästhetische Erfahrung von Bachs Musik als eine körperliche Erfahrung wiedergegeben – Lea Mendelssohn Bartholdy steht der Verstand still und, um mit ihren Worten zu sprechen, ihr stehen „die Haare zu Berge“. Die zweite explizite Gotik-Analogie, um die es nun gehen soll, ist eine Charakterisierung Zelters anlässlich des Gedenkens seines Todes im Jahr 1832: „Er war wie ein Pfeiler in einer alten gothischen Kirche; fest und gewaltig wie die hundertjährigen Eichen.“365 Der Vergleich mit Zelter als einem Pfeiler, der den gotischen Dom, also die metaphorisierte Musik Bachs und Händels, trägt, hat einen Hintergrund. Zelter galt Lea Mendelssohn Bartholdy als Bach-Kenner, der vor allem deshalb auch als Lehrer engagiert wurde, der Felix die „die alte Schule“ näherbringen sollte. Im Hintergrund von Lea Mendelssohn Bartholdys Aussage zu Zelter spielt eine Personenkonstellation eine Rolle, die auch für weitere Bach-Bezüge in
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lerbeste Zeit siehe Wolfgang Dinglinger, Mendelssohn und Bachs Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ BWV 106, in: Beiträge 1, S. 151–160. Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 18. Januar 1836 (GB-Ob, Green Books, V. MS. M.D.M. d.31, 5). Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 454. Sponheuer, Zur Kategorie des „Gotischen“, S. 239–240. Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 263, Brief vom 18. Mai 1832.
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Mendelssohn Bartholdys Briefen prägend ist: Goethe, per se anwesend im Bezug zur Gotik, Bach als metaphorisierter Gegenstand und Zelter, der Bach sinnbildlich trägt. Dass im Gotischen nicht nur die Personenkonstellation Bach, Goethe und Zelter wirksam ist, sondern auch Felix Mendelssohn Bartholdy integriert wird, lässt folgendes Zitat von Droysen erkennen: Wir halten es für ungemein wichtig, dass zu Berlin in unsern Tagen Bachs Passionsmusik wieder zur Kenntniß des Publikums gebracht worden ist. Wir danken es dem Herrn F. Mendelssohn mit demselben Danke, den Göthe verdient, daß er zuerst die tiefsinnige Kunst des gothischen Kirchenbautes wieder erkannte, […].366
Im Vergleich zu Goethe als Wiederentdecker der Gotik für die deutsche Kunst wird Felix Mendelssohn Bartholdy als musikalischer Wiederentdecker desjenigen Werkes gefeiert, das wiederum als Movens des musikalisch-Gotischen verstanden werden kann. Die Paßion wird jedes Jahr wiederholt und ist jedes Mal überfüllt: obschon sich nun auch dankbare Hörer finden, die sich deßen der sie ihnen zugänglich und mundrecht gemacht und aus dem Dunkel hervorgezogen, lebhaft erinnern, […].367
Lea Mendelssohn Bartholdy operiert wirkungsstark mit der Licht-Dunkel-Metapher und beschreibt ihren Sohn als einen Mittler zwischen Matthäus-Passion und Hörenden. Er bereitet die Musik Bachs vor, macht sie verständlich, da sie nach Einschätzung Lea Mendelssohn Bartholdys so nicht publikumstauglich sei. Der Kategorie des Gotischen ist es zu eigen, dass sie als Identifikations-Material für zeitgenössische Künstler oder Musiker dienen konnte. Hier bietet sie konkret Lea Mendelssohn Bartholdy die Möglichkeit, ihren Sohn in der Funktion als Entdecker des Gotischen (des metaphorisierten Bach-Werks) zu sehen und seine Rolle als Künstler und Komponist zu stärken, indem sie ihn mit dem wirkungsstarken Konzept des Gotischen verknüpft und ihn in den Personenzirkel Bach, Goethe und Zelter integriert. 3.2.3 Bach und Aufführungspraxis J. S. Bach wird in den Briefen Lea Mendelssohn Bartholdys an ihre Wiener Cousine auch im Kontext aufführungspraktischer Überlegungen reflektiert. Es handelt sich um Höreindrücke von Bach-Aufführungen, an denen anknüpfend sie aufführungsästhetische Ideen entwickelt, und um Schilderungen von Proben und Konzerten, in denen sie explizit aufführungspraktische Aspekte wie die Größe des Ensembles zum Thema macht.
366 Johann Gustav Droysen, Über die Passions-Musik von Johann Sebastian Bach, in: Berliner Conversations-Blatt für Poesie, Literatur und Kritik, Jg. 1829, S. 205 f., wiederabgedruckt in Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung 6, Nr. 13 (28. März 1829), S. 98–99, sowie bei Geck, Die Wiederentdeckung der Matthäuspassion, zit. nach Sponheuer, Zur Kategorie des „Gotischen“, S. 243, Anm. 36. 367 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 315, Brief vom 25. März 1834.
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In zahlreichen Schilderungen erhält der Leser der Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys aufführungspraktische Informationen; vom Stimmen der Instrumente im Konzert,368 über Probentechniken369 bis hin zum Umgang mit unterschiedlichen Stimmtonhöhen.370 In Bezug auf die Musik J. S. Bachs ist es die Größe des Ensembles, in diesem Fall die Anzahl der Sängerinnen und Sänger, die Erwähnung findet. Fanny setzt ihre matinées musicales stets fort, und hat das Letztemal 2 kleine geistliche Singmusiken, 1 v. Seb Bach, 1 v. Felix, sehr gut einstudirt und dirigirt: der Chor war nur klein, aber wohlgewählt, […].371
Dass Fanny Hensels Interpretation der „Singmusik“, wie die Gattung Kantate genannt wird, damit näher an die ursprüngliche Aufführungssituation zur Zeit Bachs heranrückt als die Aufführungen in der Singakademie mit bis zu 500 Sängern,372 lässt sich aus heutiger Sicht und unter Rekurs auf Erkenntnisse der Historischen Aufführungspraxis problemlos konstatieren. Fragwürdig ist allerdings, ob die Annahme einer als intentional zu bezeichnenden Entscheidung über die Größe des Ensembles u. v. m. im Sinne einer heutigen Alte-Musikpraxis als Deutungshorizont der hier wiedergegebenen Praxissituation bei Lea Mendelssohn Bartholdy überhaupt sinnvoll ist. Vielmehr scheint es, als seien die Bedingungen und Möglichkeiten für Aufführungen in Fanny Hensels Salon und in anderen Aufführungsformaten der Mendelssohn Bartholdys-Familie viel kontingenter, d. h. abhängiger von räum-
368 1836 notiert sie in einem Brief an Karl August Varnhagen: „Das Textbuch füge ich nur bei, da Sie wahrscheinlich manche bekannte Namen unter den Mitwirkenden finden werden, eben so die Anordnung der Proben um zu sehen, wie klug u. praktisch allen vorgebeugt wird, was Störungen geben könnte, so z. B. das unerträgliche Stimmen der Instrumente, was mir hier zu Landt schon manches Koncert verleidet hat.“ (Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Karl August Varnhagen vom 5. Juni 1836, PL-Kj, Sammlung Varnhagen [0064–0065]). Es handelt sich um die erste Aufführung des Paulus in der Sing-Akademie zu Berlin. 369 „Sonntag Vormittag war ich über 3 Stunden mit ihr in der Probe, u. kann mit Wahrheit versichern, daß Alle sich die größte Mühe geben u. daß Rung. u Ries trotz Direktorial- u. Koncertmeisterlichen Würde sich nicht schämten, deine Kunstschwester oft und gründlich zu Rath zu ziehen. Die Tempi waren sehr lebhaft, mitunter fast zu schnell, wie z. B. „seid uns gnädig“! – il y avait un entrainement dans les chœurs et l’orchestre, dem keine Apathie zu widerstehen vermochte. „Steiniget ihn“, u. „mache dich auf“ waren wirklich göttlich; der Klang u die Gewalt in dem fast leeren Saale unbeschreiblich großartig; für die Mama erschütternd.“ Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 16. Januar 1838 (GB-Ob, VII MS. M.D.M. d.33, 63). 370 Lea berichtet über eine gemeinsame Darbietung von Felix und dem Flötisten Louis Drouët bei Henriette Mendelssohn geb. Meyer: „[…] das Klavier stimmte nicht zur Flöte; Drouët erbot sich zu transponiren, klagte nach dem 1. Stück aber, dass es ihn zu sehr angriffe und wollte aufhören. Da erbot sich Felix zu transponiren und spielte die Variationen des Mittelsatzes und das letzte Stück, statt aus d, aus des Dur, […]“. Vermutlich war Drouëts Flöte in tiefer Stimmung 415 Hz gestimmt und der Flügel, auf dem Felix spielte, in hoher Stimmung 440 Hz. (Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 38, Brief vom 26. und 27. Februar 1821). 371 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 333, Brief vom 10. März 1835. 372 Im Brief vom 23. November 1833 schreibt Lea über den Chor der Singakademie: „Welch herrliches Material ist dieser Chor! er frappirt durch Kraft und Fülle, durch das Metall von 500 gebildeten Stimmen“ (Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 307).
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lichen, personellen und finanziellen Gegebenheiten, als dies auf den ersten Blick erscheint. Einige Monate später berichtet sie erneut von einer Probe, diesmal allerdings von einigen Chorsätzen aus dem Paulus, die sie aber dazu veranlasste, an die Anfänge der Probenarbeit mit der Matthäus-Passion zurückzudenken: Mittwoch Abend hatten wir eine kleine Probe v. den Paulus Stücken die du hier gelaßen. Devrients, Hausers, Antonie, Ed. Magnus, Woringen, Beckchen sangen, es ging bei der Wiederholung sehr gut, Hausers Arie war vortrefflich, der Chor, – „er wird sie abwischen“ – wie rührend u eindringlich! Welch Gedanken, Erinnerungen bemächtigten sich meiner! Auch der Anfang der Bach’schen Paßion mit eben so Wenigen, ward mir wieder gegenwärtig. Grade so klein hatte das gewaltige Werk begonnen.373
Was hier von Lea Mendelssohn Bartholdy als Parallele zwischen Bachs MatthäusPassion und dem Paulus von Felix Mendelssohn Bartholdy beschrieben wird, weist auf ein strukturelles bzw. organisatorisches Prinzip hin, das für die Musikpraxis im Haus der Mendelssohn Bartholdys konstitutiv gewesen zu sein scheint. Groß besetzte Chorwerke, wie die Matthäus-Passion, wurden in geselligen, familiären Aufführungsformaten geprobt, d. h. experimentell erfahren und praktiziert.374 Die Probensituation wird als sehr zwanglos geschildert, als Experimentierfeld noch unbekannter Vokalmusik. Parallel zu dieser Erprobungsphase im familiären Kontext wurde die Matthäus-Passion in der Sing-Akademie – in erstaunlich großer personeller Überschneidung zu den Proben- und Aufführungsformaten im Hause der Mendelssohn Bartholdys – weitergeprobt und öffentlich aufgeführt. Für diese Arbeit ist weniger relevant, dass es diese enge Verzahnung zwischen familiärer Musikpraxis und der Musikpraxis der Sing-Akademie gab,375 sondern wie diese strukturelle Verbindung wahrgenommen und dargestellt wird. Die Größe des Chores ist für Lea Mendelssohn Bartholdy nicht Kriterium von Aufführungspraxis im Sinne einer bewussten Entscheidung. Allerdings lässt es sie auch nicht gleichgültig, mit wie vielen Personen die Tutti der Chöre erklungen sind. Am 17. Juli 1837 schreibt sie über eine von Fannys Sonntags-Musiken, dass „von etlichen 30 tüchtigen Stimmen Sebast. Bach ‚Gottes Zeit‘ gesungen“376 wurde. Dabei geht es ihr nicht darum – und das wäre aus heutiger Sicht zu vermuten – die Größe des Chores im Verhältnis zur vermeintlich ursprünglichen Aufführungssituation zu bemessen. Stattdessen wird das Kunstwerk zu einer abstrakten Größe („das gewaltige Werk“) und zu einem Maßstab, mit dem verglichen die Anzahl der Choristen klein wirkte. Neben aufführungspraktischen Gesichtspunkten reflektiert Lea Mendelssohn Bartholdy in ihren Briefen auch aufführungsästhetische: Nachstehender Briefabschnitt berichtet über Aufführungen alter Musik, was für Lea Mendelssohn
373 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 16. Januar 1838 (GB-Ob, Green Books, V MS. M.D.M. d.33, 63). 374 Vgl. das Kapitel Der Haushalt (Teil III, Kap. 2.3). 375 Vgl. ebd. 376 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 17. Juli 1837 (GB-Ob, Green Books, VI MS. M.D.M. d.32, 57)
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Bartholdy vor allem die Musik J. S. Bachs bedeutete. Sie hinterfragt grundsätzlich die Tempowahl der Dirigenten bei alter Musik: Ihnen [vorher spricht sie von den philiströsen Dirigenten] ist ancient music, oder überhaupt ernste, mit Gedehntheit, Verschleppen synonim, und daher entsteht die Langeweile die sie in Oratorien und Psalmen hineinlegen. Lehrte die Tradition der Engländer uns auch nicht die raschen tempi, ich glaube, man müsste sie hineinlegen; denn wenn unsere Ahnen, zu Land und See dahinschlichen, so fliegen wir mit Dampf und Eisen und Luftball, und alles, in Leben und Genuß hat einen wirklich raschern Umschwung erfahren. Apropos, unsre (for shame!) erste Eisenbahn, entzückt die Fahrenden.377
Die Rückschritthaftigkeit, die sie den Deutschen in Bezug auf die technische Umrüstung der Verkehrsmobilität auf Bahnvernetzung vorwirft („for shame!“), setzt sie in Analogie zum rückschrittlichen Stand der Aufführungspraxis, die sie an ihrem Wohnort Berlin erlebt. Dass sie unter „überhaupt ernste“ Musik bzw. „ancient music“ auch die Musik J. S. Bachs fasst, wird an anderen Briefstellen explizit deutlich, an denen sie die Musik Bachs unter dem Attribut „ernst“ zusammenfasst.378 Ihre Gattungsbezeichnung Oratorium kann sich sowohl auf die händelschen Oratorien als auch auf die von Bach beziehen. Der Messias gehörte neben Bachs MatthäusPassion zu den am häufigsten aufgeführten Werken älterer, d. h. vergangener Musik.379 Für die Jahre um 1830 sind Nachweise über die Aufführung von Bachs Weihnachtsoratorium übermittelt, sodass ihr Bezug auf diese Kompositionen Bachs durchaus vorstellbar ist.380 Als Sängerin im Dienstags-Verein der Singakademie, für den sie sich bereits 1797 im Sopran-Register eingetragen hat,381 hat sie auch an den Proben von Bachs Motetten teilgenommen, die ab 1803 zum festen Probenbestandteil der Sing-Akademie gehörten. Wahrscheinlich ist es, dass sie unter „Psalmen“ auch die bachschen Motetten summiert, deren Texte zu großen Teilen den alttestamentarischen Psalmworten entstammen.382 Im Vergleich zwischen der englischen und der deutschen Aufführungspraxis entsteht Lea Mendelssohn Bartholdys eigene Vorstellung vom Aufführen vergangener Musik. Aufgrund der schnelleren verfügbaren Fortbewegungsmittel, erscheint ihr allgemein das Lebenstempo ein gesteigertes zu sein. Mit „Dampf und Eisen“ nimmt sie Bezug auf die erste Eisenbahnverbindung Preußens, deren Hauptstrecke 377 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 440, Brief vom 9. November 1838. 378 Vgl. das Kapitel Bach und Rossini (Teil II, Kap. 3.2.1). 379 Wie im Kapitel Bach und das „Alterthum“ deutlich wurde, ist die Verwendung des Attributs „alt“ im Kontext von „Alter Musik“ problematisch. „Alt“ bedeutet nicht nur vergangenen, sondern beinhaltet den Diskurs Alte Musik, als einen aufführungsästhetischen Diskurs, wie er vor allem seit der Mitte des 20. Jahrhunderts geführt wird. „Alt“ ist in Bezug auf Bachs Musik kaum ohne diesen aufführungsästhetischen Diskurs zu denken. Diese Deutungsebene ist aber für die Ausführungen Lea Mendelssohn Bartholdys noch nicht derartig präsent gewesen. „Alt“ bedeutet für sie vergangen, historisch. 380 Andreas Glöckner, „Ich habe den alten Bachen wieder lebendig gemacht, aber er hat mich weidlich schwitzen lassen“. Carl Friedrich Zelter und die Bach-Aufführungen der Sing-Akademie zu Berlin, in: Beiträge 1 (2007), S. 329–355, hier S. 354. 381 Stammrolle im Archiv der Sing-Akademie zu Berlin, momentan aufbewahrt in der Arbeitsstelle der Sing-Akademie zu Berlin. Für die Einsichtnahme danke ich Axel Fischer. 382 Lobet den Herren (Psalm 117), BWV 230 und Singet dem Herrn (Psalm 149), BWV 225.
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nach Berlin am 29. Oktober 1838 eröffnet wurde.383 Das Verfassen dieses Briefes geschah also unter dem Eindruck dieser zehn Tage zuvor eröffneten Bahnstrecke. Dass der Potsdamer Bahnhof nur unweit des Wohnortes Lea Mendelssohn Bartholdys in der Leipziger Straße 3 lag, machte die Begegnung mit der Eisenbahn für Lea Mendelssohn Bartholdy um einiges realer und eindrücklicher.384 Auch der „Luftball“ galt für sie sicherlich noch als modern, denn die erste Ballonfahrt in Berlin wurde erst 1805 von Friedrich Wilhelm Jungius unternommen. Der Gebrauch des Ballonsymbols war für die Literatur im 19. Jahrhundert ein zentrales rhetorisches Stilmittel.385 Bemerkenswert ist, wie eindrücklich sie die Fortbewegung des Menschen mit dem musikalischen Tempo in Beziehung setzt. Da sie selbst sich im Vergleich zu ihren „Ahnen“, die „schlichen“, so fühlt, als würde ihre Generation „fliegen“, fordert sie ein rascheres Tempo in der Aufführung „alter Musik“. Das Lebenstempo setzt sie in Analogie zum Tempo der Musikaufführung. Die Legitimation ihres Gedankens entwickelt sie am Vergleich mit englischer Aufführungstradition („Lehrte die Tradition der Engländer uns auch nicht die raschen Tempi, ich glaube man müsste sie hineinlegen; […]“). Das, was dann folgt („und alles, in Leben und Genuß hat einen wirklich raschern Umschwung erfahren“) ist weniger eine rationale Begründung, mit der sie ihre Forderung nach Tempobeschleunigung in der Musik stützen könnte, als eine Assoziation („raschern Umschwung“), die wiederum eingefärbt ist durch ein die Musikgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts prägendes Fortschrittsdenken.386 Lea Mendelssohn Bartholdy folgt in ihrer Analogie zwischen musikalischen Entwicklungen und der Entwicklung des Personentransports einem Fortschrittsdenken, das im 18. und 19. Jahrhundert aufkam und das sich auch in der Musikgeschichtsschreibung niederschlug. Der große, im Alltagsleben spürbare Fortschritt im technischen und wissenschaftlichen Bereich wurde durch dieses Denkmodell auf den musikalischen Bereich übertragen. Fortschrittsdenken wurde „seit dem 18. Jahrhundert auch als ein Analogon zu den technischen und wissenschaftlichen Innovationen des beginnenden industriellen Zeitalters sowie den ihnen vorangehenden Entwicklungen interpretiert“.387 Drei Bedeutungsebenen lassen sich aus obigem Zitat abstrahieren: Ausgangspunkt von Lea Mendelssohn Bartholdys Temporeflexion ist – erstens – die Gegenüberstellung von Aufführungspraktiken in der Verbindung mit nationalen Traditionen. Einige Zeilen zuvor lobt sie die Darbietung einer Händel-Arie durch die englische Sängerin Clara Novello und resümiert, dass ihre Darbietung deshalb für Begeisterung sorge, weil sie aufgrund des raschen Tempos „vollkommen neu für uns Deutsche“388 sei. So gelangt sie zu der Überzeugung, deutsche Dirigenten seien 383 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 674, Anmerkung der Herausgeber zum Brief vom 9. November 1838. 384 Ebd. 385 Jürgen Link, „Einfluß des Fliegens! – Auf den Stil selbst!“ Diskursanalyse des Ballonsymbols, in: Jürgen Link / Wulf Wülfing (Hgg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert (Sprache und Literatur 9), Stuttgart 1984, S. 149–164, hier S. 149. 386 Vgl. hierzu Hentschel, Bürgerliche Ideologie, vor allem S. 160–256. 387 Ebd. S. 162. 388 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 418/419, Brief vom 6. Februar 1838.
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„philiströs“, weil sie anders als die englischen keinen „lebendigen Charakter“ in der Musik erzeugen könnten.389 Dem National-Diskurs kommt in diesem Abschnitt die Funktion zu, ihr eigenes Urteil durch den Verweis auf das „Andere“ zu schärfen. Dabei kommt in diesem Fall dem „Anderen“, d. h. der englischen Aufführungspraxis nicht die Rolle des Fremden oder des Absonderlichen zu, sondern dient dazu, Missstände der eigenen „Nation“ – konkret bezieht sie sich hier nur auf die Aufführungsinterpretation – explizit zu machen.390 Zweitens: Wie oben bereits angedeutet, entwickelt Lea Mendelssohn Bartholdy ihre aufführungsästhetischen Überlegungen am Vokabular zeitgenössischer Erlebnisse mit Fortbewegungsmitteln. Die Erfahrung mit technischer Entwicklung wird unmittelbar in musikalische Erfahrung transformiert. Hier zeichnet sich ein Topos ab, den Reinhard Koselleck als Merkmal der so genannten „Sattelzeit“, also der Zeit um 1800 beschreibt, nämlich die Schilderung von Eindrücken der Beschleunigung.391 Für die Musikgeschichtsschreibung hatte dieser Topos unmittelbare Auswirkungen.392 Während in Werken wie Le chemin de fer (1844) von CharlesValentin Alkan reale Beschleunigung kompositionsästhetisch und im Sinne sogenannter „Programmmusik“ übersetzt wird, ist der Einfluss von Beschleunigung bei Lea Mendelssohn Bartholdy auf rezeptionsästhetischer Ebene zu lokalisieren. Sie nimmt alte Musik als zu langsam interpretiert wahr, plädiert für raschere Tempi und das auf der Argumentationsbasis, dass das Leben („alles, in Leben und Genuß“) sich genuin beschleunigt habe. Hier werden kultursoziologische Hintergründe von Aufführungspraxis fassbar, deren Untersuchung erst kürzlich Jürgen Osterhammel forderte.393 Nur hingewiesen sei darauf, dass Lea Mendelssohn Bartholdy derartig positiv, wie sie in diesem Fall den Einfluss moderner technischer Entwicklung auf die Musikpraxis beschreibt, an keiner anderen Stelle argumentiert. Ansonsten wird der zeitgenössische Lebensstil, den sie bereits 25 Jahre zuvor als „verworrenes Treiben“394 bezeichnet, als der Musik schadend dargestellt.395 Dass „ancient music“ durch „Gedehntheit“ und Verschleppen langweilig wird und deshalb eines rascheren Tempos bedarf, spiegelt ihre aufführungsästhetische Vorstellung wider, dass Musik – und hier meint sie explizit vergangene Musik – für das zeitgenössische Publikum erfahrbar gemacht werden müsse. Die Wirkung dieser Musik sei zu erreichen, wenn zeitgemäße Mittel nämlich „raschere Tempi“ – deshalb zeitgemäß, weil sie das Leben allgemein für beschleunigt hält – eingesetzt würden. Sie setzt alte Musik in Analogie zu aktueller Musikerfahrung und operiert
389 Ebd. 390 Zur Charakterisierung der deutschen Musik mit negativen Aspekten vgl. Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 340 f. 391 Vgl. Reinhart Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 150–176. 392 Vgl. Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 160 ff. 393 Osterhammel, Übergänge ins 19. Jahrhundert, S. 37. 394 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Rahel Varnhagen vom 19. Mai 1814 (PL-Kj, Sammlung Varnhagen, [0012–0015]). 395 Vgl. das Kapitel Bach und das „Alterthum“ (Teil II, Kap. 3.2.2).
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damit in dem für die Musikgeschichte im 18. und 19. Jahrhundert typischen Modell des chronozentrischen Schreibens.396 Mit der hier zum Ausdruck gebrachten Skepsis gegenüber einem gewählten Tempo rückt – drittens – ein Aspekt von Aufführungsästhetik ins Zentrum, der im 19. Jahrhundert vor allem in Bezug auf die Rekonstruktion antiker Dramen Bedeutung erlangte.397 1841 veröffentlichte der Altertumsforscher August Boeckh (1785–1867) den Artikel Über die Darstellung der Antigone398 in der Allgemeinen Musik Zeitung. Darin geht Boeckh, der Felix Mendelssohn Bartholdys Antigone (op. 55) aus dem Jahr 1841 als Textbearbeiter und Berater mitbetreute, der Frage nach, wie – so Frank Hentschel – „ein historisches Dokument zum Gegenstand aktuellen ästhetischen Genusses werden“399 könne. Boeckh vertritt darin die Ansicht, dass ein Kunstwerk zwar etwas „ewig Gültiges“400 sei, aber dessen Wirkungen, in diesem Fall die der griechischen Tragödie Antigone, immer wieder neu hergestellt werden müssten, da die ursprünglichen Mittel nicht rekonstruierbar seien.401 Boeckhs Konsequenz lautet: „Wollen wir diese [Wirkungen] wieder erreichen, so müssen wir unsere Mittel anwenden, und diese hat Hr. Kapellmeister MendelssohnBartholdy so in Bewegung gesetzt, wie es dem Charakter der Chorlieder und der darin enthaltenen Gedanken angemessen ist.“402 „Unsere Mittel“ ist das zentrale Stichwort seiner Gedanken: Boeckh interessierte die Wiederherstellung der Wirkung antiker Dramen durch zeitgenössische Mittel.403 Lea Mendelssohn Bartholdy misst diesen Mitteln eine ähnliche Bedeutung bei und bewertet schnellere Tempi als das geeignete Mittel, die Wirkung alter Musik wiederherzustellen, um so dem Eindruck vorzubeugen, sie könne langweilig wirken. Die wissenschaftliche, philologische und in der Fachpresse veröffentliche Perspektive wird durch Lea Mendelssohn Bartholdys Reflexion ergänzt. Ihre Alltagserfahrungen bilden die Grundlage dafür, Aufführungspraktiken alter Musik zu bewerten und sich mittels kulturellästhetischer Mitteilungen vor ihrer Cousine zu positionieren. Im selben Jahr, in dem Boeckh seinen Artikel in der AMZ veröffentlichte, war er Gast bei Lea Mendelssohn Bartholdys Geburtstagsfeier,404 die als große gesellschaftliche Veranstaltung mit Theater- und Musikvorstellungen begangen wurde. Hier wird erkennbar, dass der Diskurs einen praktischen Kontext und eine Umsetzung erhält, in dem sich mit Boeckh und Mendelssohn Bartholdy ein im engeren Sinne wissenschaftlicher und ein musikpraktischer Wirkungsbereich überschnitten.
396 397 398 399 400 401 402 403 404
Hentschel, Bürgerliche Ideologie, S. 160 f. Vgl. Hentschel, Imagination historischer Quellen, S. 125–160. Allgemeine musikalische Zeitung (AMZ) 43 (1841), Sp. 961–971. Hentschel, Imagination historischer Quellen, S. 142. Allgemeine musikalische Zeitung (AMZ) 43 (1841), Sp. 961–971, hier Sp. 961. Vgl. Hentschel, Imagination historischer Quellen, S. 143. Allgemeine musikalische Zeitung (AMZ) 43 (1841), Sp. 968. Hentschel, Imagination historischer Quellen, S. 143. Von den 200 Gästen erwähnt sie Boeckh namentlich und nach Alexander von Humboldt und Johann Franz Encke an dritter Stelle. Siehe Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 496, Brief vom 24. und 25. März 1841.
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Nachfolgender Ausschnitt, diesmal aus einem Brief an ihren Sohn Felix, befasst sich nicht mit dem Parameter Tempo, sondern allgemein mit dem Ausdruck bachscher Musik und stellt neben der nationalen, soziokulturellen und im engeren Sinne ästhetischen Bedeutungsebene die identitätskonstruierende Funktion des Aufführungsdiskurses, wie er hier bezogen auf Bachs Musik geführt wird, in den Mittelpunkt. Die Hmol Meße ist nun auch verübt u. ich bin dabei gewesen, trotz Fannys abrathen. Ich bin auch froh darüber, denn bei viel Langweiligem (verzeih Herzensjunge!) habe ich doch so viel koloßal Grandioses Rührendes, Erhabenes, Gewaltiges gehört u. empfunden, daß unwißenden Leuten wie ich, der Verstand still steht. Hättest du sie einstudirt, so zweifle ich nicht, vieles wäre klar u. eingänglich geworden, u. Feinheit, Schattirung wäre hineingekommen, da jetzt nur eine klobige, erdrückende, mit Kolben schlagende Maße erschien. Zwei lebhafte Chöre, 1 Quartett u. Quintett entzückten mich. Wie großartig, wie tiefsinnig, wie rührend melancholisch das Letztre!405
Lässt man die vielschichtigen Verweise auf zeitgenössische Diskurse (Erhabenheit u. a.), die sich beim Lesen von Lea Mendelssohn Bartholdys Hörempfindungen nach dem Besuch der Aufführung der h-Moll Messe in der Sing-Akademie auftun, zunächst beiseite, rückt die Zwiespältigkeit, in der sie ihren Höreindruck schildert, in den Fokus. Rührung und Erhabenheit stehen neben Momenten der Langeweile und eine als undifferenziert und intransparent wahrgenommenen Interpretation hielt sie nicht davon ab, Momente der Tiefsinnigkeit und der Melancholie zu erleben. Mitten in der Schilderung dieser sehr durchmischten Hörerfahrung bekommt das an Felix gerichtete, suggestive Bekenntnis, seine Interpretation wäre um einiges qualitätsvoller gewesen, eine besondere Funktion. Das Überlegenheits-Bekenntnis Lea Mendelssohn Bartholdys kann hier als eine Identitätskonstruktion gelesen werden. Lea Mendelssohn Bartholdy erfährt Bachs Musik im Verhältnis zur Bach-Interpretation, wie sie ihr Sohn wohl umgesetzt hätte. Dabei fungiert die Abqualifizierung der unter der Leitung von C. Fr. Rungenhagen am 20. Februar 1834406 ausgeführten Vorstellung als Stabilisierung der Kompetenzen ihres Sohnes. Bezeichnenderweise ist es erneut eine technische Metapher („mit Kolben schlagende Maße“), mit der sie ihre Hörerfahrung narrativ darstellt. Aufführungsästhetik und individuelle Lebenswelt werden hier aufs Engste miteinander verknüpft. Dieses Beispiel macht deutlich, dass die gesamtgesellschaftlichen Diskurse, an denen Lea Mendelssohn Bartholdy partizipiert und die sie mit konstituiert, auch im engen, privaten Rahmen von hoher Relevanz sind.
405 Brief Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 21. Februar 1834 (GB-Ob, Green Books, Ms. M.D.M. d.29, 50). 406 Lea Mendelssohn Bartholdy bezieht sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf die öffentliche Aufführung des Kyrie, Gloria und Credo aus der h-Moll Messe am 20. Februar 1834. Am 26. Januar und 9. Februar desselben Jahres wurde die vollständige Messe bereits vom Königlichen Institut für Kirchenmusik unter der Leitung von August Wilhelm Bach aufgeführt. Vgl. dazu Glöckner, „Ich habe den alten Bachen“, S. 341.
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3.2.4 Bach und Erziehung Dieses Unterkapitel befasst sich mit der Rolle, die J. S. Bach in Äußerungen Lea Mendelssohn Bartholdys zur musikalischen Erziehung ihrer Kinder sowie in ihrer eigenen Selbstwahrnehmung als Musikerzieherin spielt. Das sind zum einen Schilderungen von Strategien, mittels derer sie ihre Kinder im Sinne einer an Bach ausgerichteten Musiktradition erziehen will, aber auch indirekte Verweise auf Bach als Vorbild und als Bestandteil einer Künstlergenealogie, die hier als Aspekt ihres Erziehungskonzepts gewertet werden. Selbstverständlich waren sowohl Lea als auch Abraham Mendelssohn Bartholdy an der Ausrichtung der musikalischen Erziehung auf die bachsche Tradition beteiligt.407 Wenn im Zentrum dieser Analysen Lea Mendelssohn Bartholdy steht, so hat dies den pragmatischen Grund, dass ihre Briefe im Zentrum der Analyse stehen und nicht, dass Abraham Mendelssohn Bartholdy für die Erziehung keine Rolle gespielt hat. Im Folgenden sind drei Aspekte relevant: Als erstes soll grundsätzlich gefragt werden, welche Akteure sich hinter ihrem Erziehungskonzept verbergen. Wer wird im Sinne Bachs erzogen und von wem? Zweitens hat die Matthäus-Passion, in den Briefen wird sie kurz „die Passion“ genannt, für die gesamte Familie eine identitätsbildende Funktion. Ihre Rolle soll hier hinsichtlich ihres erziehungsrelevanten Potenzials beleuchtet werden. Drittens geht es um die Bedeutung J. S. Bachs in der aus Zelter, Goethe und Bach bestehenden Künstlergenealogie, die Lea Mendelssohn Bartholdy in ihren Briefen und in Bezug auf die Erziehung Felix Mendelssohn Bartholdys entwickelt. Spricht man – erstens – im Zusammenhang der Mendelssohn Bartholdy-Familie über Erziehung und Bach, ist zunächst zu fragen, welche Kinder in der Familie Mendelssohn Bartholdy eine besondere Aufmerksamkeit in musikalischen Erziehungsfragen erhielten und welche nicht. In folgendem Briefausschnitt wird Bach als Familienprojekt dargestellt, an dem die ganze Familie, Paul als Siebenjähriger, Felix als Zehnjähriger und Fanny als Dreizehnjährige, an den Freitagsmusiken der Sing-Akademie teilnimmt, um u. a. Bach zu hören.408 Später gehen diese FreitagsProben als „Zelters Freitage“409 in das Familienvokabular ein, im Rahmen derer sie möglicherweise auch ihre Großtante Sara Levy am Cembalo hörten. Lea Mendelssohn Bartholdy schreibt: 407 Zur Rolle Abraham Mendelssohn Bartholdys für die Erziehung Felix Mendelssohn Bartholdys vgl. u. a. Wolfgang Dinglinger, Sonntagsmusiken bei Abraham und Lea Mendelssohn Bartholdy, in: Hans-Günter Klein (Hg.), Die Musikveranstaltungen bei den Mendelssohns – Ein ‚musikalischer Salon‘? Die Referate des Symposions am 2. September 2006 in Leipzig, S. 35–46, hier S. 39. 408 Wie nachhaltig Felix Mendelssohn Bartholdy diese Freitags-Proben in der Sing-Akademie in Erinnerung geblieben sind, beweist dieser Brief, den er seinem Jugendfreund Klingemann im Zusammenhang mit der Herstellung einer Partitur für die h-Moll Messe schreibt: „Ich hatte mir aus Dresden die Stimmen der Bach’schen H moll Messe verschafft (erinnerst Du Dich ihrer von Zelter’s Freitagen her?) und aus diesen … habe ich meine Partitur nach und nach von den Fehlern befreit.“ Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Carl Klingemann vom 6. Dezember 1846, in: Mendelssohn-Briefe 1833–1847, S. 471. 409 Ebd.
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Um meinen Mann zu überraschen, laße ich Felix Violine anfangen. Er hat Paul die Thorheit beigebracht, auf 2 Stöcken die den Contrabaß vorstellen, zu accompagniren: (der kleinste Bube das größte Instrument) und in den tuttis der Koncerte fällt er so richtig die Begleitung singend ein und macht die tournure und Bewegungen unsers Theater-Kontrabaßisten so treffend nach, daß es den komischsten Anblick giebt. Paul läßt sichs auch nicht nehmen, jeden Freitag Morgen mit zu Zeltern zu fahren, wo Instrumentalsachen v. Händel, den Bachs, kurz, die ernstesten Stücke gegeben werden; da studirt er sein Ideal-Kontrabaß mit unverwandter Aufmerksamkeit.410
Die Art und Weise, wie sich hier frühe Musikvermittlung darstellt, wirkt natürlich und kindgerecht und in der geschilderten Imitation des Kontrabassspiels vermittelt sich ein lebendiges Bild musikalischer Erfahrungsbildung. Lea Mendelssohn Bartholdy stellt sich selbst als Akteurin und Initiatorin zumindest des Geigenspiels von Felix dar – eine Facette, die, wie bereits erwähnt, für ihre Rolle als Mutter und Musikvermittlerin zentral zu sein scheint.411 Das früheste Zeugnis einer Erziehungsstrategie stammt aus Fannys Geburtsjahr und beinhaltet die bekannte Fugenfinger-Assoziation. Ihre Prophezeiung der „Bach’schen Fugenfinger“ markiert die Herstellung eines zentralen Narrationsmotivs: nämlich die explizite Verankerung der Bach-Tradition in der Ausbildung ihrer Kinder. Sebastian Hensel gibt diese Prophezeiung aus der Retrospektive folgendermaßen wieder: Bis zum Jahr 1811 lebten Abraham und Lea Mendelssohn in Hamburg, wo ihnen drei Kinder geboren wurden, Fanny, die älteste, 1805 am 14. November; (in dem Anzeigebrief des Vaters an die Schwiegermutter Salomon fügt er hinzu: „Lea findet, das Kind habe Bach’sche Fugenfinger“; eine Prophezeiung, die sich allerdings bewährt hat;) Felix am 3. Februar 1809, und Rebecka am 11. April 1811.412
In der unscheinbaren Aufreihung der Geburtsdaten der in Hamburg zur Welt gekommenen Kinder verbirgt sich als Einschub in Parenthese-Klammern eine Erwähnung, deren Bedeutung für Hensel erst im Rückblick klar wird. Die Rezeption dieses Satzes bei Hensel wurde in der nachfolgenden Forschung zur Familie Mendelssohn Bartholdy richtungsweisend. In vielen Forschungen zu Fanny Hensel wird er zitiert, da sich Fannys musikalische Neigung, insbesondere zu der von Bach wie eine vermeintlich natürliche und selbstverständliche Veranlagung bis zurück zu ihrer Geburt konstruieren ließ.413 Die originale Briefstelle findet sich im sogenannten Anzeigebrief Abraham Mendelssohn Bartholdys vom 15. November 1805: Lea findet, es habe Bach’sche Fugenfinger, und der kleine Fould [414] meynt, es beiße sich schon auf die Nägel. Nun muß aber das Kind auch einen Namen haben! Wir hatten bereits ausgemacht, um beiden Großmüttern ihr Recht zu laßen, daß es wenn es ein Junge wird, Levy oder Louis, und wenn es ein Mädchen wird, nach meiner Großmutter Vögelchen oder Fanny heißen soll. Hoffentlich werden Sie diesen Tractat ratificiren. Lea liebt den Namen wegen der 410 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 11, Brief vom 1. Mai 1819. 411 Vgl. das Kapitel Selbstverständnis: Die Mutter als Musikvermittlerin (Teil II, Kap. 3.1.6). 412 Sebastian Hensel, Die Familie Mendelssohn, 1729 bis 1847. Nach Briefen und Tagebüchern, 2 Bde., Berlin 1879, Faksimile ND der Ausgabe von 1903, Boston, MA 2006, Bd. I, S. 86. 413 Vgl. das Kapitel Zwischen den Interessensgebieten der Forschung: Ein Forschungsrückblick (Teil II, Kap. 3.1.1). 414 Möglicherweise ist hiermit Achille Marcus Fould, Sohn von Beer Léon Fould und Charlotte Fould geb. Brullen gemeint.
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Bach-Rezeption I: Bach reflektieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin Tante Arnstein, und wird es gern sehen, daß sie ihn bestimmt; der Louis soll nicht ausbleiben, wir versprechen es.415
Abraham Mendelssohn Bartholdys Wiedergabe der Bemerkung Leas kann unterschiedlich gelesen werden. Zum einen steckt darin ein Rechtfertigungspotenzial, das dem Neuankömmling vor den Augen der Schwiegermutter Rechtmäßigkeit und Ansehen verleihen soll. Mit den „Bach’schen Fugenfingern“ knüpft Abraham Mendelssohn Bartholdy in der Wiedergabe der Worte seiner Frau an die musikalische Tradition der Familie seiner Schwiegermutter an, deren große Affinitäten zum Thomaskantor noch besprochen werden.416 Er ordnet seine Tochter Fanny damit gewissermaßen in den Kanon der von Seiten der Familie seiner Frau akzeptierten Stammesväter der Kunst ein. Dass als erstes Bach genannt wird und erst im Anschluss daran die Namensmitteilung erfolgt, betont den Wunsch nach Akzeptanz dieses Kindes auf der Ebene eines gemeinsamen musikalischen Interesses. Die folgenden Ausführungen setzen den Fokus auf Lea Mendelssohn Bartholdy und fragen nach der möglichen Motivation, die hinter einer prophetischen Einschätzung dieser Art stecken mag. Denn einerseits sagt es etwas über Fanny Hensel aus, wenn ihre mögliche musikalische Begabung bereits in der frühen Kindheit vermutet werden kann. Vor allem aber sagt es etwas über Lea Mendelssohn Bartholdy aus, die die Finger ihrer Tochter – als pars pro toto für das künstlerische Können – auf den Namen des Stammesvaters Bach „tauft“. In Lea Mendelssohn Bartholdys Einschätzung zeichnet sich ihre Motivation dafür ab, die musikalischen Anlagen und die Laufbahn ihrer Kinder zu lenken. Welche konzeptuellen Gedanken stecken hinter ihrer Einschätzung? Mit der Zuschreibung einer besonderen, quasi angeborenen Veranlagung zur Musik Bachs, schreibt Lea Mendelssohn Bartholdy ihre Tochter Fanny in eine musikalische Genealogie ein. Es ist nicht die Musik von Beethoven, Haydn oder Mozart, in deren Tradition sie ihre Tochter zu erziehen vorgibt, sondern die Musik Bachs, die in Leas und Abrahams Großfamilie gut etabliert war, die gespielt und bewahrt wurde. Ihre Mutter, Bella Salomon geb. Itzig (1749–1824), war Enkelschülerin Johann Sebastian Bachs, denn ihr Lehrer war der spätere Kompositionslehrer Anna Amalias von Preußen, Johann Philipp Kirnberger. Von wem Lea Mendelssohn Bartholdy selbst unterrichtet wurde, lässt sich aus den überlieferten Quellen nicht rekonstruieren. Dass es ebenfalls Kirnberger war, wie Eric Werner vermutet, ist anzuzweifeln.417 Kirnberger starb, als sie sechs Jahre alt war. Dass es zudem keine Sonaten-, Suiten- oder Präludienfinger sind, rückt einen Ausschnitt von Bachs Werk, sein Fugen-Schaffen, in den Fokus, gleichzeitig aber auch ein ästhetisches Empfinden. Die Gattung Fuge galt als zeitlos, da der polyphone Satz einen hohen Stellenwert innehatte.418 Ambitioniert verfolgt sie ihre an Bach ausgerichtete Erziehungsvorstellung, wenn sie ihre dreizehnjährige Tochter Fanny dazu ermuntert, sämtliche Präludien des Wohltemperierten Klaviers von 415 Brief von Abraham Mendelssohn an Bella Salomon vom 15. November 1805 (D-B MA, Depos. 3,3,1), zitiert nach Elvers, Bach im Briefwechsel der Mendelssohns, S. 407. 416 Vgl. das Kapitel Der Haushalt (Teil III, Kap. 2.3). 417 Eric Werner, Mendelssohn. Leben und Werk in neuer Sicht, Zürich/Freiburg i. Br. 1980, S. 20. 418 Vgl. das Kapitel Bach, der Kontrapunktiker (Teil II, Kap. 2.2).
3. Mikro-Blick Lea Mendelssohn Bartholdy: Bach reflektieren in Briefen
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J. S. Bach dem Vater Abraham Mendelssohn Bartholdy als Geburtstagsüberraschung vorzuspielen. Darüber unterrichtet uns ein Antwortschreiben von Lea Mendelssohn Bartholdys Schwägerin. Dort heißt es: „Fannys Meisterstück 24 Präludien auswendig zu lernen und ihre Beharrlichkeit sie einstudiren zu lassen, haben mich starr und stumm vor Erstaunen gemacht und ich habe nur die Sprache wieder gefunden, um allen Menschen dies ungeheure Gelingen mitzutheilen.“419 Dieses Zeugnis aus dem Jahr 1818 stellt das letzte dar, in dem Lea Mendelssohn Bartholdy Bach im Kontext der musikalischen Erziehung von Fanny erwähnt. Sie berichtet zwar von den Sonntags-Musiken, die Fanny veranstaltet und informiert über die Werke Bachs, die dort erklungen sind.420 Bach wird in diesen Beispielen aber nicht als Erziehungs- und Identitätsmaßstab erwähnt. Wie sich im Folgenden zeigen wird, überträgt Lea Mendelssohn Bartholdy ab Ende der 1820er Jahre diese Muster ausschließlich auf Felix.421 Die Frage nach der Rolle Bachs in den Ansichten Lea Mendelssohn Bartholdys zur Erziehung ihrer Kinder kann nicht als einheitlich beantwortbar erachtet werden. Während anfangs alle Kinder im Blickfeld der von Bach ausgehenden erzieherischen Visionen Mendelssohn Bartholdys sind, verengt sich später der Blick auf die „musikalisch talentierten“ Kinder Fanny und Felix und noch später, nachdem Fanny das heiratsfähige Alter erreicht hat, allein auf Felix. In Lea Mendelssohn Bartholdys Äußerungen über die Bedeutung Bachs für die Erziehung ihrer Kinder nimmt – zweitens – die bachsche Matthäus-Passion eine herausragende Stellung ein. Sie verselbstständigt sich als Terminus und im Familienkreis wird sie zum Paradigma, kursiert nur noch unter dem Begriff „die Passion“. Auch Felix Mendelssohn Bartholdys Erfolg und Ansehen in der Familie wird an ihr gemessen. Lea Mendelssohn Bartholdys Strategien, mit der „Passion“ Felix’ Reputation als Dirigent, Interpret und „Wiederentdecker“ zu verfestigen, steht seiner Popularisierung bezogen auf die Matthäus-Passion in öffentlichen Zeitungen in nichts nach. 1834 berichtet Lea Mendelssohn Bartholdy: Reißiger hat auch die Paßion gegeben. Es ist doch eine Satisfaktion für dich, wie diese Musik durch Deutschl. geht, liebes Herz! Alles was die Akademie seitdem aufgeführt, die Johannis Paßion u. Meße, mehrere vortreffliche Händels, hat keine Spur des Eindrucks hinterlaßen, so daß auch keins dieser wahrhaft großen Werke der Wiederholung bedurfte. So sehr die Paßion
419 Brief von Henriette Maria Mendelssohn an Lea Mendelssohn Bartholdy vom 1. August 1818, in: Hans-Günter Klein, Henriette Maria Mendelssohn in Paris. Briefe an Lea Mendelssohn Bartholdy, in: Mendelssohn-Studien 14 (2005), S. 101–187, hier S. 135 f. 420 Briefe vom 16.11.1833 (GB-Ob, Green Books, II MS. M.D.M. d.28, 143), vom 21. Februar 1834 (III MS. M.D.M. d.29,50), vom 17. November 1835 (IV MS. M.D.M. d.30, 151), vom 17. Juli 1837 (VI MS. M.D.M. d. 32, 57), vom 10. Februar 1838 (VII MS. M.D.M. d.33, 190). 421 Vgl. dazu die Beiträge von Franҫoise Tillard, Felix und Fanny Mendelssohn Bartholdy – Verkörperung bürgerlicher Perfektion (S. 237–247) und Marian Wilson Kimber, Zur frühen Wirkungsgeschichte Fanny Hensels (S. 248–262), in: Borchard/Schwarz-Danuser (Hgg.), Fanny Hensel, geb. Mendelssohn Bartholdy, wie auch Peter Schleuning, Fanny Hensel geb. Mendelssohn. Musikerin der Romantik (Europäische Komponistinnen 6), Köln/Weimar 2007.
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Bach-Rezeption I: Bach reflektieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin seitdem Altrogusto [422] geht, hat sie doch zu tief in der Meinung u. Erinnerung Wurzel geschlagen, als daß sie nicht jedesmal eine große Versammlung herbeiziehen sollte.423
Der ehemalige Thomaner Carl Gottlieb Reißiger (1798–1859) war Hofkapellmeister in Dresden und hat dort 1833 mit Francesco Morlacchi die Matthäus-Passion wiederaufgeführt.424 Nach den Berliner Aufführungen 1829, folgte ebenfalls 1829 eine in Frankfurt am Main, 1831 in Breslau und 1832 in Stettin und Kassel. Die Dresdener Aufführung bildete zunächst die letzte in dieser ersten Phase an Aufführungen. Lea Mendelssohn Bartholdy bewertet die Ausbreitung der MatthäusPassion in andere deutsche Städte als Erfolg und bindet diesen Erfolg wiederum explizit an das Wirken ihres Sohnes. Auf semantischer Ebene verschwimmt die Grenze zwischen Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy und „die Passion“ stellt sie als Leistung von Felix dar. Mit vergleichbarem Impetus verkündet sie ihrer Cousine in Wien: Vor allen den großen Werken Händels und Bachs, die aufgeführt wurden seit er die Paßion einstudierte, hat keins einen Eindruck hinterlassen, keins ist der Wiederholung bedürftig gefunden worden, obgleich höchst vortreffliche darunter waren. Die Paßion wird jedes Jahr wiederholt und ist jedes Mal überfüllt: obschon sich nun auch dankbare Hörer finden, die sich deßen der sie ihnen zugänglich und mundrecht gemacht und aus dem Dunkel hervorgezogen, lebhaft erinnern, so sprechen unsre beiden Recensenten nie seinen Namen bei dem naheliegendem Anlaß aus, so wenig sie jemals seiner Anerkennung im Ausland öffentlich gedenken. Ihn rührt und kränkt das wahrlich nicht, aber Mama Claudia und die liebenden Schwestern finden sich stets aufs Neue dadurch verletzt. Und ists nicht traurig, die guten Landsleute so vernagelt zu sehen?425
Sie formuliert hier – vermutlich aus ihrer Sorge heraus, Felix’ Ruf als Wiederentdecker der Matthäus-Passion würde mit der Zeit verblassen – fast die Forderung, deren Erfolg allein ihrem Sohn zuzuschreiben. Im selben Jahr schreibt sie mit Entrüstung: „Hingegen Zelter! Der schreibt – Felix hat die B. Paßion unter mir einstudiert u ich habe ihm meinen Stuhl überlaßen – […]“.426 In diesen Abschnitten sind Fragen nach Autorschaft und die Forderung, die Wiederaufführung als Leistung einer bestimmten Person geltend zu machen, narrative Motive – Topoi, die auf den Genie- und Autonomie-Diskus im 19. Jahrhundert verweisen.427 Der Streit um Autorschaft, wie man ihn hier bei Lea Mendelssohn Bartholdy, aber auch in zahlreichen Äußerungen Zelters nachvollziehen kann,428 422 Das Wort war bisher nicht eindeutig zu transkribieren. „Altrogusto“ (im Sinne des „anderen Geschmacks“) ist ein Vorschlag. 423 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 2. April 1834 (GB-Ob, Green Books, III MS. M.D.M. d.29, 87). 424 Siehe die Ausführungen in Martin Geck, Die Wiederentdeckung der Matthäuspassion im 19. Jahrhundert (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 9), Regensburg 1967, S. 117–125. 425 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 315, Brief vom 25. März 1834. 426 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Batholdy vom 2. April 1834 (GB-Ob, Green Books, III MS. M.D.M. d.29, 87). 427 Siehe die Ausführungen in Susanne Kogler, Autorschaft, Genie, Geschlecht, S. 15 f. 428 Siehe dazu Andreas Glöckner, Zelter und Mendelssohn – Zur „Wiederentdeckung“ der Matthäus-Passion im Jahre 1829, in: BJ 90 (2004), S. 133–155.
3. Mikro-Blick Lea Mendelssohn Bartholdy: Bach reflektieren in Briefen
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scheint auf den Schultern Felix Mendelssohn Batholdys ausgetragen worden zu sein, ohne dass er selbst um seine Vormachtstellung gerungen hätte. Sie attestiert ihm Eigenschaften wie Bescheidenheit und Wohlwollen, die wiederum dem GenieGedanken folgen. Eine weitere Facette ihrer Bachvermittlung spiegelt sich in dem Bemühen wider, die „Paßionsstimmen“ – also die für die Wiederaufführung im März 1829 hergestellten Einzelstimmen – zusammenzuhalten bzw. sie zunächst überhaupt zu finden, um sie dann womöglich für weitere Aufführungen in der Singakademie zur Verfügung zu stellen. Nach den Paßionsstimmen haben wir uns toll gesucht u sie doch nicht gefunden, liebstes Kind! Beim Ausräumen für den Generall, der deine 3 Stuben u. Carls ehemalige bekam, hätte ein oder das andre Heft verloren sein können; aber 112 sind unmöglich zu verlegen, u. so bleibt uns, nachdem ich auch Devrient umsonst befragt habe, nur die Vermuthung als daß sie vielleicht in Deßau wären, wohin Fanny auch schon geschrieben. Bitte, bitte, gieb uns Auskunft, falls du doch etwas darüber erinnerst.429
Eine Woche später berichtet sie: „Die Paßionsstimmen sind nicht in Deßau, mithin aus der Welt verschwunden, wenn du sie nicht hast. Das ganze Haus hab ich nochmals umsonst durchstöbert.“430 Am 2. April berichtet sie darüber, dass eine Paßionsaufführung stattgefunden habe, bzw. stattfinden werde: „Für die Paßionsaufführung am Sonntag Vormittag musste Erlaubniß erbeten werden.“431 Es ist davon auszugehen, dass im Rahmen der Sonntagsmusiken, die Fanny Hensel ab dem Frühjahr 1833 unter ihrer Regie wieder einführte,432 die von Lea erwähnte „Paßionsaufführung“ nicht zur Aufführung gelang, da Fanny Hensel oder ein anderes Familienmitglied sicherlich nicht um Erlaubnis für eine Aufführung im eigenen Haus hätte bitten müssen. Lea Mendelssohn Bartholdy hat sich aktiv darum bemüht, das Stimmen-Konvolut vollständig zu erhalten, um es dann möglicherweise auch selbst zu verwalten. Damit ermöglichte sie einerseits eine bleibende Erinnerung an ihren Sohn, der durch die wiederholten Aufführungen der Matthäus-Passion weiteres Ansehen in Berliner Kreisen genießen konnte, gleichzeitig setzte sie sich bewusst für die Verbreitung dieses bachschen Werkes ein. Dass der bedingungslose Zugriff auf Notenmaterial bachscher Kompositionen nicht selbstverständlich war, sondern einer aktiven Handlung bedurfte, wird in folgendem Ausschnitt deutlich. Darin beklagt sie: „Auch sind seine [Bachs] bedeutendsten Werke äußerst selten zu haben.“433 Drittens: Eindrücklich und in mehr als sechzig Zeilen schildert Lea Mendelssohn Bartholdy ihrer Cousine den Tod Zelters und seine Beerdigung. Angefangen mit der Prophezeiung, Zelter sei „unstreitig“434 daran gestorben, „daß er Goethe
429 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 21. Februar 1834 (GB-Ob, Green Books, III MS. M.D.M. d.29, 50). 430 Dies., Brief vom 28. Februar 1834 (GB-Ob, Green Books, III MS. M.D.M. d.29, 57). 431 Dies., Brief vom 2. April 1834 (GB-Ob, Green Books, III MS. M.D.M. d.29, 87). 432 Vgl. Cornelia Bartsch, Fanny Hensel, S. 151. 433 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 170, Brief vom 17. Februar 1826. 434 Ebd., S. 262, Brief vom 18. Mai 1832.
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Bach-Rezeption I: Bach reflektieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
nicht überleben konnte“435 und der Wiedergabe des letzten Ausspruchs Zelters, den er mit Verneigung vor Goethes Büste getan haben soll,436 bis hin zur Schilderung der musikalischen und räumlichen Ausgestaltung der Trauerfeier Zelters, ist dieser Abschnitt durchdrungen von den drei Personen Zelter, Goethe und Bach bzw. von Ereignissen, die mit diesen verknüpft sind: den Todesfällen Zelters und Goethes und der Aufführung Bachs Matthäus-Passion in einer der Wiederaufnahmen im Jahr 1832. So berichtet sie: „In seinen [Zelter] letzten Fantasien sprach er nicht nur von Weimar, von der Bach’schen Paßion (deren Aufführung in die Zeit von Goethes Tod fiel und die ihn deßhalb ungewöhnlich stark ergriff) und von Felix.“437 Welche Bedeutung hat nun aber Johann Sebastian Bachs Figur in der Trias mit Goethe und Zelter für die Bach-Rezeption von Lea Mendelssohn Bartholdy? Dass Johann Sebastian Bach in den Briefen Lea Mendelssohn Bartholdys an ihre Cousine in einem diskursiven Kontext mit Goethe und Zelter steht, bleibt nicht bedeutungslos für ihre Bach-Rezeption. Lea Mendelssohn Bartholdy schafft ein Bild von Bach, das viele Berührungspunkte mit Goethe und Zelter aufweist. Bach erscheint als Teil bzw. Ursprung einer nicht nur musikalischen, sondern musikübergreifenden, künstlerisch-literarischen Genealogie. Welchen Stellenwert ihre eigene Goethe-Rezeption innerhalb dieser Genealogie einnimmt, ist kaum zu rekonstruieren. Ob Goethe – so wie Barbara Hahn für jüdische Zeitgenossinnen Lea Mendelssohn Bartholdys wie Dorothea Schlegel, Henriette Herz, Rahel Levin Varnhagen formuliert – eine neue Ordnung und einen Gegenpol zur alten Welt der jüdischen Tradition repräsentiert, ist für Lea Mendelssohn Bartholdy nicht zu belegen.438 Goethe, so lässt sich im folgenden Briefausschnitt über ihren Besuch bei ihm in Weimar im Jahr 1822 nachspüren, hat für sie Bedeutung, vor allem weil er Felix Mendelssohn Bartholdy Aufmerksamkeit schenkt: „Goethe, der Vornehme, Hohe, Ministerielle, um den Würde, Adel, Ruhm, Dichterglanz, Genie und Superiorität jeder Gattung eine blendende Strahlenkrone bilden, vor der gemeine Sterbliche erbangen, ist so gütig […] ja eigentlich väterlich gegen den Knaben, […].“439 Hier wird die Beschreibung Goethes als künstlerischer Vater, als Bestandteil einer Genealogie explizit gemacht. Stellt Bach das musikalische Äquivalent zu Goethe dar? Bach dient ihr vor allem dazu, Felix Mendelssohn Bartholdys Stellenwert als Künstler zu festigen, wie das folgende Zitat verdeutlicht. J. S. Bach wird bewusst als ein Fundament der Musikgeschichte dargestellt. 435 Ebd. 436 Dieser Ausspruch soll folgendermaßen gelautet haben: „Ihro Excellenz warten auf mich? ich komme bald. Gute Nacht, Alter!“, siehe Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 262, Brief vom 17. Februar 1826. 437 Ebd., auch zitiert in: Glöckner, „Ich habe den alten Bachen“, S. 354. 438 Vgl. Barbara Hahn, Unter falschem Namen, S. 56. Hahn postuliert hier, dass durch die Rezeption der Werke Goethes diesen Jüdinnen Vorstellungen einer eigenen bürgerlichen Subjektivität vermittelt wurden. Der Bezug zur religiösen Tradition ist für das Verständnis von Lea Mendelssohn Bartholdys Goethe-Rezeption nicht relevant, da sie ihn selbst nicht herstellt. 439 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 88, Brief vom 25. November 1822, Hervorhebung im Original.
3. Mikro-Blick Lea Mendelssohn Bartholdy: Bach reflektieren in Briefen
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Felix hat für den Winter eine neue Art, die Koncerte intereßant zu machen, aufgefunden. Er hat 6 historische oder chronologische veranstaltet, die mit Seb Bach anfingen, mit Händel, Gluck, Haydn, Mozart vorrückten, und jetzt mit Beethoven als dem letzten Klaßiker schloßen. […] Du musst all das rococo nicht schelten, Liebe! Da doch das Hyperneueste auch dort einen Platz einnimmt, […]. Die chronologischen Koncerte hat vielleicht Goethe noch hervorgerufen; denn als Felix der 13jährihge Knabe, beim ihm war, forderte er ihn auf, ihm in historischer Folge eine Idee der ältern bis auf die neueste Zeit in Beispielen darzustellen.440
In ihrem Bericht über die historischen Konzerte, die Felix im Leipziger Gewandhaus veranstaltete, wird Bach als Ursprung der Musikgeschichte und als Bestandteil eines musikalischen Repertoirekanons dargestellt. Sie beschreibt das Konzept Felix Mendelssohn Bartholdys Konzerte zu veranstalten, die auf einem spezifisch definierten Kanon basieren, als eine durch Goethe übermittelte Idee. In ihrer Darstellung erscheint Felix einerseits als Urheber eines Kanons bedeutender Komponisten, andererseits aber als ausführendes Werkzeug einer goetheschen Idee und als Kenner und Bewahrer historischer Musik bzw. als Veranstalter außergewöhnlicher Konzertformate. Die aufgezählten Komponisten als „rococo“ abzutun, wirkt gegenüber ihrer Cousine in Wien wie eine unbeholfene Entschuldigung, die sie abzuschwächen versucht, in dem sie bekennt, dass auch das „Hyperneueste“ berücksichtigt würde. Dieser Briefabschnitt weist darauf hin, dass das Aufführen dieser „alten“ Meister noch nicht selbstverständlich war und dass „die Trias der Wiener Klassiker 1823 noch nicht existierte“.441 Der psycho-soziale Druck, dem die Generation von Felix und Fanny Mendelssohn Bartholdy und Robert und Clara Schumann aufgrund ihres noch nicht in der Gesellschaft etablierten Lebensentwurfs, als freischaffender Künstler oder Komponist den Lebensunterhalt zu verdienen, ausgesetzt sind, war ungemein hoch, wie Janina Klassen beschreibt.442 Dieser Erfolgsdruck wird auch Lea Mendelssohn Bartholdy nicht unberührt gelassen haben. Durch die Konstruktion imaginärer Stammbäume kann u. a. in einer solchen Situation Sicherheit bezogen werden. Janina Klassen unterscheidet zwischen zwei Arten von Genealogien: die private und die kollektive Genealogie. Die private Genealogie entsteht im Bezug zur innerfamilialen Tradition. Für diese sind das familiale Erbe (soziales Ansehen, Deutungsmacht etc.) im Sinne eines symbolischen Kapitals und das materielle Erbe relevant. Dem gegenüber basiert die kollektive Genealogie auf imaginären „Kunststammbäumen aus Wahl- bzw. Geistesverwandten“.443 In diese Ahnenreihe schreibt der Künstler das eigene künstlerische Schaffen fiktiv ein und verschafft sich selbst und seiner Kunst durch das Einflechten in eine Tradition Absicherung. Bach, Zelter und Goethe stellen, verstanden als Kunststammesväter, eine solche kollektive Genealogie her. Gleichzeitig ist die Praktik des Sammelns von Kunstschätzen, die Erinnerung an Komponisten und damit das Bewahren von kulturellem Erbe im Sinne eines kulturellen Kapitals eine familiale Tradition, betrifft also in Klassens Modell die private Genealogie. So ist hinsichtlich Lea Mendelssohn 440 441 442 443
Ebd., S. 491, Brief vom 17. Februar 1842. Ebd. Janina Klassen, Von Vor- und Übervätern, S. 51–58. Ebd., S. 54.
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Bach-Rezeption I: Bach reflektieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Bartholdys Erziehung zu konstatieren, dass sowohl das Schaffen einer privaten Genealogie – im Sinne der Praxis des Erinnerns – und einer kollektiven Genealogie – im Sinne der Rückbindung an eine künstlerisch-musikalischen Tradition – von Bedeutung ist. Genealogie-Konzepte werden von ihr ausschließlich in Bezug auf Felix, nicht aber in Bezug auf Fanny entwickelt. Auch bei Abraham Mendelssohn Bartholdy sind hinsichtlich der Konstruktion einer künstlerischen Genealogie Strategien zu erkennen. So zeigt dieser Brief an Felix aus dem Jahr 1835 deutlich, mit welch großer Wertschätzung er Zelters Bach-Bestrebungen bewertet hat: Ihm [Zelter] ist zuerst das wahre Licht über Bach aufgegangen, durch den Besitz anderer seiner Werke, die er als Sammler kennen lernte, und als wahrer Künstler Andre kennen lehrte. Seine musikalischen Aufführungen am Freitag sind abermals ein Beleg, daß nichts, was mit Ernst angefangen und in der Stille ununterbrochen fortgesetzt wird, ohne Erfolg bleiben kann. Ausgemacht ist es wenigstens, daß deine musikalische Richtung ohne Zelter eine ganz andere geworden wäre.444
Die Genealogie Bach, Zelter, Goethe stellt, so lässt sich resümieren, den Hintergrund dar, vor dem Lea Mendelssohn Bartholdy als Mutter, die sich als Musikerzieherin ihrer Kinder versteht, Selbstvergewisserung beziehen kann. Das genealogische Konzept ist ihr ein Garant für Erziehungsideale, für erfolgreiche Lebensmodelle von Künstlern und gelungene gesellschaftliche Anerkennung. Wie wichtig ihr diese ist, ist in einem Brief an Karl August Varnhagen übermittelt: „Mit Fanny habe ich 5 höchst angenehme Tage in Leipzig zugebracht. Für eine Mutter ists gewiß das beglückendste Gefühl, einen lieben Sohn so ganz anerkannt, geliebt, verehrt in Thätigkeit zu sehen.“445 Indem sie Felix, den familiären Erben, in eine derartig hochkarätige Ahnen-Tafel einschreibt, trägt sie gleichzeitig zur Selbsthistorisierung ihrer eigenen Person und Familie bei. 4. ZUSAMMENFASSUNG: BACH REFLEKTIEREN In diesem zweiten Teil der Studie wurde untersucht, wie Bach zwischen 1750 und 1829 in Berlin in verschiedenen Schriftzeugnissen besprochen und reflektiert wurde. Dabei wurden diese diskursiven Reflexionen in musikalischen Lehrwerken, theoretischen Abhandlungen und Zeitungsartikeln zunächst in Gestalt eines Überblicks geordnet und zu Diskursen zusammengefasst. Als Mikro-Blick angelegt standen dann die teils veröffentlichten und teils unveröffentlichten Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys im Mittelpunkt und wurden hinsichtlich der in ihnen zum Tragen kommenden Bach-Diskurse untersucht. Die im Makro- und Mikro-Blick entwickelten Gedankenstränge sollen nun zusammengeknüpft werden: Wie beleuchten sich Makro- und Mikrostudie gegenseitig und wie wurde das im Makro-Blick Erkannte im Einzelnen historisch umgesetzt? In wieweit durchdringen sich Stereotype des Bach-Diskurses und individu444 Brief von Abraham Mendelssohn Bartholdy vom 10. März 1835, in: Mendelssohn-Briefe 1833–1847, S. 85. 445 Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Karl August Varnhagen vom 29. März 1836 (PL-Kj, Sammlung Varnhagen, Konvolut Lea Mendelssohn, geb. Salomon, Kasten 121).
4. Zusammenfassung: Bach reflektieren
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elle Gedanken Lea Mendelssohn Bartholdys? Und wie konkret verhalten sich der allgemeine, meist in gedruckten und philosophisch-ästhetischen Schriftzeugnissen geführte Bach-Diskurs und der im häuslich-familialen Kontext und in Selbstzeugnissen und Briefen dokumentierte Bach-Diskurs zueinander? Die Bach-Diskurse, wie sie aus den Briefen Lea Mendelssohn Bartholdys herausgearbeitet wurden, nehmen Bezug auf Diskurse anderer Rezeptionskontexte, wie sie z. B. im Musikjournalismus, in der Musikbiographik und in der Musikgeschichtsschreibung geführt wurden. Dies betrifft vor allem die beiden Diskurse „Bach und Rossini“ und „Bach und das ‚Alterthum‘“. Hier präsentiert sich Lea Mendelssohn Bartholdy als Teilnehmerin und Distribuentin von Vorstellungen und Denkmustern über J. S. Bach, die auf allgemeiner Ebene, d. h. in primär öffentlich zugänglichen Medien verhandelt wurden. Anders gestaltet es sich bei den Diskursen zu „Bach und Aufführungspraxis“ und „Bach und Erziehung“. Hier wird ein neuartiges Reden über Bach erkennbar. Zunächst der Blick auf „Bach und Erziehung“: Die Idee, Bach als Orientierung und Korrektiv in der Musikausbildung zu bewerten, stellt der Sache nach keine Neuheit dar. Wie unter „Bach, der Kontrapunktiker“ (Teil II, Kap. 2.2) erörtert, war gerade in den ersten Dekaden nach seinem Tod der pädagogische Stellenwert seiner Tastenmusik als Exempel für Musiktheorie (Fugentechnik, Lehre des reinen Satzes etc.) unangefochten. Vorstellungen von Bach als Lehr- bzw. Schulmeister oder als Meister der Kontrapunktik hatten in der Rezeptionsgeschichte seit 1750 eine anhaltende Kontinuität. Beeinflusst von diesen Vorstellungen, versucht Lea Mendelssohn Bartholdy diese vor sich selbst oder vor ihrer Adressatin zu verteidigen. So gibt es zahlreiche Formulierungen, in denen dieses Ringen um Bachs Status als eines „schwerfälligen Pedanten und Schulfuchs“446 deutlich wird. Ebenso häufig sind ihre ästhetischen Empfindungen voller Ehrerbietung und Euphorie, wenn sie Bachs Musik als die „wahre, keusche, stärkende und nicht erschlaffende Gewalt der Musik“447 beschreibt. Der konkrete gesellschaftshistorische Kontext, nämlich die Ausrichtung der Musikerziehung ihrer Kinder (insbesondere die ihres Sohnes Felix), bildet die Grundlage ihrer Positionierung gegenüber Bach. Bach hat für Lea Mendelssohn Bartholdy nicht nur einen Stellenwert als Inhalt musikalischer Ausbildung (z. B. als Bestandteil eines Repertoirekanons), sondern Bach bildet für sie auch als Person die Grundlage von Musikerziehung. Bachs Musik ist also nicht ausschließlich in Form eines theoretischen Fundaments notwendiger musiktheoretischer und kompositionstechnischer Kompetenzen erforderlich (im engeren Sinne musikalischer Ausbildung). Verstanden als „klassischer Meister“ stellt er für Lea Mendelssohn Bartholdy einen Garanten für künstlerischen Erfolg, ein Objekt der Nachahmung und eine Identifikationsmöglichkeit dar. Bach im Sinne eines Ideals von Erziehung begriffen, ist weniger materialiter, d. h. als ein Objekt des Studiums kontrapunktischer Studien relevant, sondern als abstrakte Größe innerhalb einer Künstlergenealogie. Erziehung betrifft, anders als im Begriff der Ausbildung zum Ausdruck kommt, den „ganzen“ Menschen, d. h. die berufliche Karriere ebenso 446 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 179, Brief vom 17. Februar 1826. 447 Ebd. S. 98, Brief vom 27. Mai 1823.
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Bach-Rezeption I: Bach reflektieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
wie das künstlerische Selbstverständnis. Schriften, die den Wert von Bachs Kontrapunktik für musiktheoretische Lehren betonen, nehmen diese erzieherische und vermittelnde Komponente von Bach im pädagogischen Kontext nicht in den Blick. Es zeichnet die Aussagen Lea Mendelssohn Bartholdys aus, dass darin Bach als Gegenstand von Erziehung eine neue Bedeutung zugeschrieben wird. Wie ausführlich erörtert wurde, hat die Matthäus-Passion nicht nur eine entscheidende Funktion im Ausbildungsprozess Felix Mendelssohn Bartholdys (vor allem im Hinblick auf die Er- und Umarbeitung der bachschen Partitur), sondern ist Referenzobjekt für den Erfolg Felix Mendelssohn Bartholdys als Dirigent, Interpret und „Wiederentdecker“ alter Musik. Dass Bach in Bezug auf Fanny Hensel im Erziehungskonzept Lea Mendelssohn Bartholdys kaum eine vergleichbare Rolle spielte, weist auf die Wirkmächtigkeit genderspezifischer Mechanismen innerhalb der Bach-Historiographie hin. Neben der Bedeutung, die der Matthäus-Passion innerhalb ihres Erziehungskonzepts zukommt, entwickelt Lea Mendelssohn Bartholdy am Beispiel dieser Komposition Vorstellungen über die Aufführungspraxis bachscher Musik. Im Gegensatz zu öffentlich stattfindenden Aufführungen der Musik Bachs, etwa durch die Berliner Sing-Akademie, bezieht sich Lea Mendelssohn Bartholdy auf einen hybriden öffentlich-familiären Rahmen. Weil sich Ihre Ideen auf einen bisher noch wenig entwickelten Aufführungs- und Praxisraum beziehen, sind sie gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung, die die Musik Bachs als Bestandteil unterschiedlicher institutioneller Bindungen (als Hof-Musik, als Kirchen-Musik, als „Vereins“Musik etc.) bereits durchlaufen hat, neuartig. Anhand ihrer Überlegungen zur Umsetzung bachscher Musik (Tempo, Besetzung) zeichnet sich der durch und mit ihr gestaltete Bach-Raum der Familie Mendelssohn Bartholdy als ein Raum aus, in dem die Transformation bachscher Musik aus dem ursprünglichen kirchenmusikalischen und höfischen Kontext vollzogen wird. Aber auch über die Konstitution des innerfamilialen Raumes hinaus lassen sich interessante Aspekte über das Verständnis von Aufführungspraxis bachscher Musik aus ihren Aussagen herausfiltern. Dabei stellt die Praxis des Hörens, verstanden als eine musikkulturelle Praxis, die immanent das Erleben und Bewerten von Konzerten leitet, eine große Rolle.448 Gehörte Bach-Aufführungen, deren Tempobeschleunigungen bzw. -entschleunigungen werden bei ihr als leibliche Erfahrungen beschrieben. Darüber hinaus ist für die Narration ihrer Hörerlebnisse bachscher Musik die spezifische soziale Situation relevant. Sie beschreibt bspw. die kollektive musikalische Interpretation als Abbild gesellschaftlicher Verweichlichung und Beschleunigung und vergleicht die Wahl des Tempos in der musikalischen Aufführung mit der technischen Entwicklung der Eisenbahn. Hier verschränken sich eigene
448 Dass kulturgeschichtliche Ansätze zum Hörverhalten im musikwissenschaftlichen Diskurs an Relevanz gewinnen, beweist der große Anstieg an Veröffentlichungen zu diesem Thema. Vgl. u. a. James H. Johnson, Listening in Paris. A Cultural History, Berkely 1995, Peter Szendy, Listen. A History of Our Ear, New York 2008 und Jan Friedrich Missfelder, Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 21–47.
4. Zusammenfassung: Bach reflektieren
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praktische Musikerfahrungen im Moment des Musik-Hörens mit dem Kollektiv der beteiligten Musikpraktiker auf der Basis sozialer Erfahrung. Resümierend lässt sich festhalten, dass die Bach-Besprechungen Lea Mendelssohn Bartholdys im besonderen Maße auf einen konkreten Praxis- und Alltagsbezug hinweisen. Ihre Briefe ermöglichen Einblicke in die Entstehung und Relevanz von Diskursen. Bach stellt für sie eine Größe dar, mit der sie sich im Vergleich zu ihrer Wiener Cousine und der dort herrschenden Musikästhetik positioniert. Außerdem kommen in ihren Bach-Reflexionen individuelle Erfahrungs- und Aneignungsstrategien zur Geltung. Bachs Musik erscheint als ein konkretes soziokulturelles Phänomen. In ihrem alltäglichen, routinierten Tun werden Vorstellungen über Bach produziert und überhaupt notwendig. Dieser Aspekt ist auch hinsichtlich der Überschneidung zwischen Gästen der in ihrem Haus stattfindenden musikalischen Geselligkeiten und Personen, die sich in öffentlichen Aushandlungen mit Bach beschäftigen, relevant. August Boeckh, Adolf Bernhard Marx, Johann Friedrich Rellstab und C. Fr. Zelter waren, wie gezeigt wurde, Gäste Lea Mendelssohn Bartholdys und partizipierten als Musikschriftsteller bzw. Altertumsforscher an öffentlichen Diskursen. Der Diskurs um die Bedeutung Bachs bekommt somit einen konkreten realgeschichtlichen Raum. Nimmt man diese aufgezeigten Verflechtungen zwischen Stereotypen des Bach-Diskurses und den individuellen Aneignungsstrategien Lea Mendelssohn Bartholdy ernst, so fällt auf, wie wenig letztere bisher in der Rezeptionsgeschichte geltend gemacht wurden. Die Auseinandersetzung mit den Briefen von Lea Mendelssohn Bartholdys, die bisher nicht Teil von Forschungen waren, die sich mit Bach-Rezeption beschäftigen, hat aber die hohe Relevanz dieser Dokumente unter Beweis gestellt. Mendelssohn Bartholdy distribuiert und innoviert Diskurse über Bach. Wie in diesem Teil an verschiedenen Stellen bereits erörtert wurde, waren Ausbzw. Einschlusskriterien im Prozess der Rezeptionsgeschichtsschreibung immer präsent. Dies betrifft auch den Ein- bzw. Ausschluss von Frauen. Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, wie sie anhand genealogischer und nationalistischer Konzepte untersucht wurden,449 aber auch die in Lea Mendelssohn Bartholdys Erziehungskonzept zum Ausdruck kommenden Vorstellungen von Geschlechterordnungen weisen auf die Präsenz genderspezifischer Mechanismen hin, die den Diskurs um die Rezeption J. S. Bachs von Beginn an prägten. Unzweifelhaft stellen die Beispiele, in denen vor dem Hintergrund verschiedenartiger Diskurse (Nationalismus-Diskurs, Bürgerliche Geschlechterkonventionen etc.), aber immer aufgrund kollektiver Vorstellungen über das Geschlecht, Akteure bzw. Diskurse als nicht vereinbar mit Bach-Rezeption bewertet wurden, Beispiele dafür dar, dass Historiographie veränderbar, nicht feststehend, sondern abhängig vom soziokulturellen Kontext ist. Bach-Historiographie stellt sich verändert, dar, wenn Lea Mendelssohn Bartholdy als Diskursschöpferin und Akteurin integriert wird, denn es werden rezeptionshistorische Vorgänge in ihrer familialen und sozialen Veranke449 Vgl. hierzu den Abschnitt Vater, Urvater, Übervater im Kapitel Bach, der Nationale (Teil II, Kap. 2.4).
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Bach-Rezeption I: Bach reflektieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
rung und Vernetzung deutlich. Mit der Berücksichtigung ihrer Briefe, die streckenweise tagebuchähnlichen Charakter einnehmen, wird eine Quellenart besprochen, die bisher in Untersuchungen der frühen Berliner Bach-Diskurse keinen besonders hohen Stellenwert eingenommen hat. Das hier implizierte Wissen über Bach erweitert das Wissen über Bach mit Einblicken auf eine alltägliche Lebenspraxis. BachRezeption wird mit einem sozialen Bereich konfrontiert, der für das Verstehen der Bach-Rezeption nach 1750 relevant ist: dem vielfältigen, zahlreiche Praktiken umfassenden Bereich der innerfamilialen, größtenteils durch die Mutter gestalteten Erziehung.
DRITTER TEIL BACH-REZEPTION II: BACH PRAKTIZIEREN ZWISCHEN 1750 UND 1829 IN BERLIN Bach wurde nicht nur im privat-intellektuellen Rahmen besprochen, bewertet und konnotiert, seine Musik wurde auch gespielt, gehört, geprobt und aufgeführt, sie wurde aufgeschrieben, abgeschrieben, gedruckt, verlegt und finanziert, sie wurde unterrichtet und vermittelt. Der vorliegende dritte Teil widmet sich dieser praktischen Facette der Bach-Rezeption in Berlin zwischen 1750 und 1829 und geht durch die verschiedenen Berliner Räume, in denen mit Bach umgegangen wurde. Im Sinne des praxisorientierten Rezeptionsbegriffs ist es das Ziel, die verschiedenen Rezeptionspraktiken in ihren mal eindeutigen, mal uneindeutigen Bezügen zum jeweiligen Musikraum kenntlich zu machen und zu untersuchen, wie sie miteinander verknüpft sind, sich überschneiden oder voneinander unterscheiden. 1. BACH IN DEN RÄUMEN BERLINS: SOZIALE DIMENSION VON REZEPTIONSPRAXIS 1.1 Berlin als Musikraum – Bach-Räume Berlins Während Berlin zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch als eine kleine Residenzstadt beschrieben wird, ist bereits um 1800 ein deutlicher Zuwachs an Fläche, Bewohnern und kulturellen Angeboten zu verzeichnen, sodass sich Berlin zu einer europäischen Metropole entwickelte. Diese Entwicklung hatte selbstverständlich immensen Einfluss auf die Art und Weise, wo, in welchen sozialen Räumen, Bach rezipiert wurde. Die Etablierung Berlins als kultureller Metropole wurde maßgeblich bestimmt durch die preußische Monarchie unter Friedrich II. und deren wachsendes Geltungsbewusstsein, dem u. a. durch eine größere Hinwendung zu Kunst und Kultur Ausdruck verliehen wurde. Dieser Urbanisierungsprozess zwischen der friderizianischen Zeit und dem beginnenden 19. Jahrhundert, der die Verstädterung von einer Provinz- zu einer Großstadt zur Folge hatte und erhebliche soziale und politische Veränderungen bewirkte, vollzog sich in dichter Verschränkung mit den musikkulturellen Entwicklungen der Stadt, so dass die Musiklandschaft Berlins um 1800 als äußerst komplex verstanden wird.1 Eduard Mutschelknauss bezeichnet die 1
Nach einer Phase der Nichtbeachtung befasst sich die musikgeschichtliche Forschung seit einiger Zeit verstärkt mit der spezifischen Musikkultur Berlins. Die Verschränkung von Musikkultur und Großstadtkultur verbirgt sich hinter dem Forschungsprojekt „Berliner Klassik“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, deren angestrebtes Ziel eine Be-
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
„zwanglose Durchkreuzung von Wissenschaft, Bereichen der Kunst und politischgesellschaftlicher Diskussionskultur“2 als besonders signifikant für diese Phase der Berliner Kultur. Die unterschiedlich ausgeprägten kulturpolitischen Strategien der preußischen Könige beeinflussten die Berliner Musikkultur auf ihre je eigene Weise maßgeblich. Der siebenjährige (1756–1763) und der deutsch-französische Krieg in den Jahren 1806 und 1807 verursachten wirtschaftliche Probleme und brachten für die Musikkultur weitreichende Veränderungen mit sich. Dies geschah vor allem deshalb, weil sich im Kriegszustand der Hofstaat meist im Exil befand und das höfische Musikleben fast gänzlich erlahmte. Das außerhöfische, städtische Musikleben hingegen erfuhr durch diese politischen Entwicklungen neuen Aufschwung und wurde strukturell erneuert. Den Rahmen für diese Veränderungen bildete der sich vollziehende Verbürgerlichungsprozess, der u. a. am großen Zuwachs der außerhöfischen Musikräume in den Bürgerhäusern der Stadt abzulesen war.3 Die Berliner Musikkultur nimmt als Austragungsort der gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozesse um 1800 im Vergleich zu anderen Musikmetropolen wie z. B. Wien eine Vorreiterfunktion ein. Sie zeichnet sich nicht nur durch eine schier undurchdringbare Bandbreite verschiedener Musikkontexte aus, sondern auch durch eine „enge Verzahnung von repräsentativer Hofkultur, bürgerlichen Musikvereinen und -unternehmungen sowie einer breiten Populärkultur“.4 Ein Bereich, der in dieser Aufzählung unerwähnt bleibt, ist das innerhäusliche, familiale Musikleben. Der innerhäusliche Musikraum soll hier als eine Art Mischform verstanden werden, der durch höfische Repräsentationspraktiken ebenso geprägt wurde wie durch bürgerliche Praktiken. In diesem Wechselspiel zwischen Hof, bürgerlicher Institution und familialem Haus, etablierte sich eine Rezeptionspraxis der bachschen Musik, die gleichzeitig auf diese Räume zurückwirkte. Auch wenn die euphorisch anmutende Beschreibung Berlins als „Hauptstadt von Sebastian Bach“5 Anlass zu anderen Vermutungen gibt: Bachs Musik war nicht
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schreibung der Berliner Kulturblüte um 1800 ist. Vgl. Mutschelknauss, Einleitung. Wichtige Forschungen zum Konzertwesen legte Christoph Henzel in zwei Aufsätzen vor: Das Konzertleben der preußischen Hauptstadt 1740–1786 im Spiegel der Berliner Presse (JbSIM 2004, S. 216–291 und JbSIM 2005, S. 139–241). Hinsichtlich der Kontextualisierung und Interpretation neuerer Erkenntnisse zur Berliner Musikpraxis kommt angloamerikanischen Forschungen eine Vorreiterrolle zu. Siehe z. B. zwei unveröffentlichte Dissertationen der Harvard University, Cambridge, M. A.: Matthias Röder, Music, Politics and the Public Sphere in Late EigtheenCentury Berlin, PhD, 2009, und Ellen Elizabeth Exner, The Forging of a Golden Age: King Frederick the Great and Music for Berlin, 1732 to 1756, PhD 2010. Mutschelknauss (Hg.), Einleitung, in: Ders. (Hg.), Urbane Musikkultur, S. 9. Vgl. Matthias Röder, Zwischen Repräsentation und populärer Unterhaltung: Musik und Bürgertum im Berlin des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Christian Thorau (Hg.), Musik – Bürger – Stadt, Konzertleben und musikalisches Hören im historischen Wandel. 200 Jahre Frankfurter Museums-Gesellschaft, Regensburg 2011, S. 119–136. Ebd., S. 120. Vollständig lautet das Zitat: „Er [Meyerbeer] enthielt sich auch wohlweislich aller Ansprüche, und als ich ihm erzählte, mit welchem Enthusiasmus ich jüngst in Italien seinen ‚Crociato‘ aufführen sehen, lächelte er mit launiger Wehmut und sagte: ‚Sie kompromittieren sich, wenn Sie mich armen Italiener hier in Berlin loben, in der Hauptstadt von Sebastian Bach!‘“ Heinrich
1. Bach in den Räumen Berlins: Soziale Dimension von Rezeptionspraxis
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wie selbstverständlich überall in Berlin anzufinden. Weder am Hof noch in den königlichen Musikeinrichtungen wie dem Opernhaus oder dem Theater, spielte die Musik Bachs nach 1750 eine Rolle. Konkretere Einblicke vermittelt Carl Friedrich Zelter in einem Brief an Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahr 1829: […] ich bin seit 50 Jahren gewohnt den Bachschen Genius zu verehren. Friedemann ist hier gestorben, Em. Bach war hier Königl. Kammermusikus, Kirnberger, Agrikola Schüler vom alten Bach, Ring, Bertuch, Schmalz und Andere ließen fast nichts Anderes hören als des alten Bachs Stücke, ich selbst unterrichte seit 30 Jahren darin und habe Schüler die alle Bachschen Sachen gut spielen […]6
Auf drei Traditionsstränge weist Zelter hin: Auf die durch die Schüler und Söhne übermittelte Bach-Tradition7, auf die kirchliche Tradition – dargestellt durch die drei Organisten Johannes Ringk, Carl Volkmar Bertuch und Johann Daniel Schmalz – und die bürgerliche Tradition, hier verkörpert durch Zelters Musikunterricht, der implizit auf die von ihm geleitete bürgerliche Musikvereinigung, die Sing-Akademie zu Berlin, verweist. Die häusliche Musikpraxis sowohl innerhalb der Familie als auch die Musikpraxis in den Salons und den musikalischen Gesellschaften lässt Zelter ebenfalls aus. Das folgende Kapitel behandelt die Räume Berlins, in denen die Musik Bachs praktiziert wurde. Der Raum wird hier als Handlungsraum, nicht als architektonischer Raum verstanden, das heißt als ein „durch menschliches Handeln konkretisierter Raum mit bestimmten Grenzen und Freiheiten“.8 Aus der Perspektive des Raumes soll der Blick dafür geschärft werden, wie die Musik Bachs in der Wechselwirkung zwischen handlungsstrukturierenden Vorgaben des Raumes, wie z. B. die Größe des Raumes, und raumverändernden Praktiken, wie z. B. die Positionierung von Zuhörenden und Ausführenden im Auditorium bzw. auf der Bühne, zum Bestandteil von sozialem Leben wird. Zu den in dieser Studie identifizierten Berliner Bach-Räumen zählen die Kopierstube, der Hof, der Haushalt, der Saal, der Verein, die Kirche und der Salon. Die Kopierstube nimmt als imaginierter Raum materiale Praktiken wie das Abschreiben, Drucken und Verlegen in den Blick. Der Hof hat in Gestalt eines hybriden Raumes eine Sonderstellung. Er wird nicht daraufhin untersucht, welche Rezeptionspraktiken im Raum selbst stattfanden, sondern wie aus dem höfischen Raum Praktiken in andere Kontexte transformiert wurden. Der Haushalt nimmt Tätigkeiten und deren
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Heine, Über die Französische Bühne. Vertraute Briefe an August Lewald, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, München 1976, Bd. 3, S. 338. Beilage des Briefes von Zelter an Goethe vom 6. April 1829 (Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), 33 Bde., hg. von Karl Richter u. a., München 1985 ff., hier Bd. 20.3: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832, Teil 3: Einführung und Kommentar, hg. von Edith Zehm, München 1998, S. 1001). Carl Philipp Emmanuel Bach lebte von 1739–1768, Johann Christian von 1750–1755 und Wilhelm Friedemann von 1774–1784 in Berlin. Der Bach-Enkel Wilhelm Friedrich Ernst Bach zog in den 1780er Jahren ebenfalls nach Berlin. Susanne Rode-Breymann / Carolin Stahrenberg, Art. „Orte“, in: LMG, S. 413. Vgl. die Arbeiten von Martina Löw, Raumsoziologie (Suhrkamp TB Wissenschaft 1506), Frankfurt a. M. 2001, und Soziologie der Städte, Frankfurt a. M. 2008.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Trägerinnen und Träger in den Blick, die z. B. Bach zum Gegenstand von Musikunterricht machten, seine Werke in Musikformaten innerhalb des Hauses aufführten und Bach-Musikalien sammelten. Der Saal bezeichnet einen Musikraum, der sich sowohl innerhalb eines Hauses als auch außerhalb, z. B. in einer Gaststätte befinden kann, der aber durch eine bewusste Hinwendung zur Öffentlichkeit in Form einer Aufführung gekennzeichnet ist. Der Verein beschreibt hier den Musikraum, in dem die Sing-Akademie zu Berlin Bach praktizierte, d. h. seine Werke probte, aufführte und vermittelte. Die Kirche als Bach-Raum wird in dieser Übersicht nicht explizit untersucht. Die kirchliche Musikpraxis fokussierte sich nach 1750 vor allem auf die Orgelmusik Bachs und ist für die Ausrichtung dieser Untersuchung nur von sekundärem Interesse, da sich die Orgeltradition größtenteils separat entwickelte und keinen unmittelbaren Einfluss auf die anderen hier besprochenen Räume hatte. Selbstverständlich wird die kirchliche Bach-Praxis implizit, also da, wo es z. B. um Organisten und ihre Nebenverdienste als Musiklehrer oder Kopisten geht, immer wieder erwähnt. Der Salon als Raum der Bach-Rezeptionspraxis wird in Form von Sara Levys Palais untersucht.9 Sara Levys Salon war bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein der einzige Berliner Salon, in dem Bach praktiziert wurde. Er ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil er sämtliche Rezeptionspraktiken, auch solche des Vereins und der Kopierstube, vereint. Die Überlagerung von musikalischen Räumen des Hauses, die innerhalb der Familie und in Ausbildungskontexten konstituiert wurden, und solchen Räumen, die sich personell und strukturell für einen noch näher zu bestimmenden außerfamilialen Personenkreis öffneten, ist groß. Das Haus als Familien-Raum und der Salon können architektonisch identisch sein. Die Unterschiede liegen in den sozialen Bedingungen und Funktionen des musikalischen Raumes an dem jeweiligen Ort. Salons bzw. Musikgesellschaften kennzeichnen einerseits die personelle Erweiterung des familialen Netzwerks auf ein außerfamilales, andererseits die Transformation von Musik zu einem gemeinschaftlichen Ereignis, das – vor allem im Rahmen der kommunikativ angelegten Berliner Salons – Anlass zu musikästhetischer Reflexion bot. Familiale Hausmusikformate waren selbstverständlich ebenso ein gemeinschaftliches Ereignis, hatten aber eine andere Funktion und unterlagen anderen Bedingungen. Sie waren zeitlich flexibler, konnten spontan stattfinden und richteten sich eher nach innen auf die Konstitution und Stärkung der Familie. Der in diesem Kontext häufig verwendete Begriff der Hausmusik ist mit der hier beschriebenen familialen Musikpraxis kompatibel, insofern er als „Oberbegriff für ein privates, von Amateuren und Professionellen gepflegtes Spielen von Musik mit Kunstanspruch in einem bürgerlich geprägten Rahmen“10 verstanden wird. Wilhelm Heinrich Riehl bewertet in der Vorrede des von ihm im Jahr 1855 zusammengestellten Liederalbums den Begriff Hausmusik z. B. gänzlich anders. Er begreift
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Vgl. das Kapitel Mikro-Blick Sara Levy: Bach praktizieren im Salon (Teil III, Kap. 3.). Susanne Fontaine, Art. „Hausmusik“, in: Susanne Hauser / Julia Weber (Hgg.), Architektur in transdisziplinärer Perspektive. Von Philosophie bis Tanz. Aktuelle Zugänge und Positionen, Bielefeld 2015, S. 285–312, hier S. 291.
1. Bach in den Räumen Berlins: Soziale Dimension von Rezeptionspraxis
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„Hausmusik“ streng ideologisch als einen ästhetischen Schutzraum, in dem Musik vor vermeintlich negativen Modernisierungsprozessen bewahrt würde.11 Der Salon und die Musikalische Gesellschaft stellen ähnliche Formate dar, wobei in den Quellen der Salon als spezifisch weiblicher Raum und die musikalische Gesellschaft als spezifisch männlicher Raum überliefert wird.12 Diese geschlechtsspezifische Zuordnung wird implizit tradiert: Ist ein Mann Vorsteher einer (regelmäßigen) musikalischen Aufführung, die in einem Haus stattfindet, wird diese als musikalische Gesellschaft beschrieben und mit Titeln wie „Koncert“ bezeichnet.13 Das unter der Leitung von Joseph Moses Fließ, einem Schwager Sara Levys, stattfindende Fließssche Koncert wird explizit als eine musikalische Gesellschaft tradiert und es wäre undenkbar – obwohl sich räumlich und personell weniges ändern würde – diese Aufführung als Salon zu bezeichnen. Ähnliches gilt umgekehrt. Die Rezeptionspraktiken lassen sich in vier verschiedene Kategorien einordnen: Materiale Praktiken (Kopieren, Drucken, Verlegen, Sammeln, Archivieren), performative Praktiken (Spielen, Proben, Aufführen, Hören), didaktische Praktiken (Unterrichten, Erziehen, Vermitteln) und kommunikative Praktiken (Fördern, Pränummerieren/Subskribieren, Vernetzen, Vergesellschaften). Jeder Musikraum bringt unterschiedliche Praktiken zur Geltung. Ein Haushalt setzt einer Bach-Aufführung andere Grenzen bzw. eröffnet andere Möglichkeiten als der Verein. So entsteht in der Sing-Akademie aufgrund der klaren räumlichen Aufteilung zwischen Ausführenden und Publikum das Format eines Kunstwerks. Während des Rezipierens der bachschen Musik in diesem Aufführungskontext, entwickelte sich eine kollektive Identität, die auf die Musik Bachs projiziert wurde. Sie erhält über das bloße Hören und Tun hinaus symbolische Kraft. Anders gestaltet sind die Grenzen und Möglichkeiten einer familialen Aufführung: Man eignet sich Bach auf individueller Ebene an. Kleinere Räume bieten spezifische Möglichkeiten in Besetzung und Mitwirkung und die Musik wird Bestandteil von Tagesabläufen und routinierten Praktiken. Das Gestalten von Räumen, in denen Bach praktiziert wird, – Martina Löw spricht von der „Aktivität des Konstituierens“14 – wird zu einer eigenen kulturellen Praxis. Bach zu unterrichten und Bach zu einem Gegenstand von Bildung zu machen ist eine Praxis, die zwar auch für sämtliche andere Phasen der Bach-Rezeption bekannt ist, die aber für die Zeit nach 1750 eine besondere Bedeutung erhält und 11
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Wilhelm Heinrich Riehl, Zur Einleitung. Des Tonsetzers Geleitbrief, in: Hausmusik. Fünfzig Lieder deutscher Dichter in Musik gesetzt von W. H. Riehl, Stuttgart/Augsburg 1855, S. III– XVI. Vgl. dazu Evelyn Buyken, Musikalische Praxis, Gender und Politik. Oder: Wie kritisch sind die musikalischen Karikaturen James Gillrays, in: Melanie Unseld (Hg.), Delights of Harmony. James Gillray als Karikaturist der englischen Musikkultur um 1800, Wien u. a. 2017, S. 19–33, hier S. 22. Über den Salon als weiblichen Handlungsraum siehe das Kapitel Mikro-Blick Sara Levy: Bach praktizieren im Salon (Teil III, Kap. 3.). Dies betrifft bspw. alle Gesellschaften, in denen Bach-Aufführungen nachgewiesen werden konnten: das Fließsche Concert, das Konzert für Kenner und Liebhaber und Sebaldts Liebhaberkonzert. Martina Löw, Raum – Die topologischen Dimensionen der Kultur, in: Jaeger/Liebsch (Hgg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, S. 46–59, hier S. 57.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
damit als ein zentrales Strukturmerkmal dieses Zeitabschnitts gelten kann. Das Unterrichten sorgte für den Transfer von Bach-Wissen aus den bis dato etablierten Musik-Räumen (Hof und Kirche) in Kreise des sich konstituierenden Bürgertums. Dieser strukturelle Wandel betrifft vor allem die frühe Phase der Bach-Rezeption. Dem Unterrichten kann in der beschriebenen Funktion als Vermittlungspraxis zwischen alten und neuen Musikräumen eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Musikunterricht bedeutete, dass sich der familiale Raum des Hauses öffnete. Lehrer – und damit auch ihre Traditionen – betraten das Haus und veränderten dessen Musikpraxis. Der Unterricht sorgte im Fall der Bach-Rezeption in Berlin für Vermischungen und Durchkreuzungen der Stile und Traditionen und war damit ein wichtiger Motor musikkultureller Entwicklung. Das Unterrichten ist überwiegend eine spezifische Praktik des Hauses, weil hier diejenigen Akteurinnen und Akteure wohnen, die es betrifft, die Kinder.15 Die Zuteilung der einzelnen Familienhaushalte oder der musikalischen Gesellschaften auf die jeweiligen Musik-Räume ist nicht immer eindeutig zu treffen: Da Aufführungen im Haus der Familie von Voß als Liebhaber-Konzerte angekündigt werden, würden sie eigentlich der Gruppe des Saals angehören. Da dort aber nachweislich viel unterrichtet wurde, werden sie hier dem Haushalt zugeordnet. Wie einleitend bereits erwähnt, ist die Musiklandschaft Berlins bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts hinein von zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozessen geprägt. Diese betreffen auch die Bach-Rezeptionspraxis. So werden z. B. soziologische Aspekte wie die Unterscheidung von Dilettanten und Professionellen oder die Religionszugehörigkeit relevant. Ebenso spielen Geschlechterfragen eine Rolle. Werden Bach-Räume in den zeitgenössischen Quellen implizit oder explizit als spezifisch weibliche oder männliche tradiert? Führten geschlechtsspezifische Bewertungen, wie z. B. die weiblich konnotierte Salon-Kultur, zu einer nachrangigen Bewertung der dort etablierten Bach-Praktiken? Auch Bildungskonzepte sind an Räume gebunden. Wie wird Bach in den verschiedenen Musik-Räumen mit Bildungs-Diskursen in Verbindung gebracht? Ein weiteres Themenfeld betrifft den Aspekt der Öffentlichkeit bzw. der Privatheit. Kategorien wie privat und öffentlich wurden in der Bach-Historiographie mit verschiedenen Bedeutungen und Bewertungen versehen. Für den zeitgenössischen Kontext selbst mussten diese nicht zwangsläufig identisch sein. Es wird im Folgenden je nach Einzelfall definiert, welche Vorstellungen von „privat“ oder „öffentlich“ mit dem jeweiligen Raum assoziiert wurden. Die Untersuchung endet mit der Aufführung der Matthäus-Passion im Jahr 1829. Sie stellt innerhalb des Entwicklungsprozesses von losen, vorinstitutionellen Bach-Praktiken des Haushalts, des Salons, der höfischen und geselligen Räume Berlins hin zu institutionell gefestigten Bach-Rezeptionspraktiken der Sing-Akademie eine wichtige Stufe dar. Am Beispiel dieser Aufführung ist die Ablösung loser, eher verborgener Rezeptionspraktiken durch gefestigtere Praktiken deutlich zu erkennen. 15
Selbstverständlich erhielten auch Erwachsene Musikunterricht. Die im Folgenden aufgezeigten Beispiele betreffen allerdings meist die im Haushalt lebenden Kinder, so z. B. bei den Familien Itzig, Mendelssohn Bartholdy und von Voss.
1. Bach in den Räumen Berlins: Soziale Dimension von Rezeptionspraxis
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1.2 Medien der Bach-Rezeption Mit der Perspektive des Raumes geraten nicht nur die spezifischen Rezeptionspraktiken und die Akteurinnen und Akteure, sondern auch die materialen Dinge in den Blick.16 Der Begriff des Materials bezieht sich hier auf Artefakte, also auf menschlich hergestellte Dinge, wie z. B. Handschriften und Autographe, aber auch Musikinstrumente und Bilder.17 Artefakte, wie z. B. Musikalien, haben nicht nur einen praktisch-funktionalen Nutzwert, sondern vor allem eine spezifische Bedeutung als Medium. Sie sind Erinnerungsträger und nehmen Einfluss auf Werkdistribution und Musikpraxis. Autograph Das Wort „Autographum“ ist in Zedlers Lexikon bereits seit dem Jahr 1732 als Terminus etabliert und bezeichnet „das Original einer Schrift“.18 Diese ursprüngliche Bedeutungsebene im Sinne einer originalen Handschrift eines Komponisten wurde Mitte des 18. Jahrhunderts in Berlin überlagert von dem „Bewusstsein für den Wert eigenhändiger Niederschriften bedeutender Komponisten“.19 Bereits 1790 tauchte im Nachlassverzeichnis C. P. E. Bachs die Bezeichnung ein „rares Exemplar“ bzw. „originelle Handschrift“20 auf. Die Kostbarkeit eines Autographs aufgrund seiner Singularität wird hier als eine neue Bedeutungskomponente erkennbar. Zwanzig Jahre später berichtet Carl Friedrich Zelter dem Bach-Sammler Georg Poelchau, er habe sämtliche Musikalien von „Tausend braven Singemeistern“.21 Einschränkend bemerkt er, „nur an Handschriften fehlt es mir fast ganz und von Seb. Bach und C. P. E. Bach habe ich gar nichts“.22 Hier wird der Funktionswandel des Autographs deutlich. Eigenschriften – von Zelter als Handschriften bezeichnet – wurden unter Bach-Kennern bereits als besondere Kostbarkeiten gehandelt. Konnte man Autographe in seiner Sammlung vorweisen, steigerte dies den Wert der Sammlung um ein Vielfaches.
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Praxistheorien betonen die Aktualität und Relevanz der Erforschung materialer Kultur. Vgl. Stefanie Samida / Manfred K. H. Eggert / Hans Peter Hahn, Handbuch Materiale Kultur: Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart 2014, S. 2. Mangels aussagekräftiger Quellen, die über den Verbleib von Bildern oder Instrumenten aus dem Nachlass Johann Sebastian Bachs berichten, bleiben diese beiden Aspekte in der Arbeit unberücksichtigt. Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde., 4 Supplementbde., Halle/Leipzig 1731–1754, Bd. 2., Sp. 1168, und Suppl. S 2, Sp. 531. Vgl. Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart, S. 29. Peter Wollny, Anmerkungen zu einigen Berliner Kopisten im Umkreis der Amalien-Bibliothek, in: JbSIM 1998 (1998), S. 143–162, hier S. 155. Ebd. Brief von Zelter an Poelchau vom 30. Mai 1810, zitiert in: Christoph Henzel, Berliner Klassik, Studien zur Graun-Überlieferung im 18. Jahrhundert (Ortus Studien 6), Beeskow 2009, S. 43. Ebd.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Handschriften und Druckausgaben Historisch betrachtet lässt sich die Entwicklung von handschriftlichen und gedruckten Musikalien nicht als Ablösung des einen Mediums durch das andere deuten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte die Distribution von Musik in handschriftlichen Kopien. Mit der Verbreitung des Musikdrucks, vor allem mit der Entstehung der Lithographie Ende der 1790er Jahre und mit dem Zuwachs an Verlegern stieg zwar die Zahl der Musikdrucke erheblich an, die handschriftliche Werkverbreitung wurde aber nicht verdrängt. Verschiedene Vervielfältigungsmethoden existierten also zunächst parallel zueinander.23 Verantwortlich für die Entwicklung der musikalischen Distributionsmedien war ein Netzwerk aus Musikern, Komponisten, Kopisten und Verlegern.24 Diese steuerten durch ihren jeweiligen Bedarf Nachfrage und Angebot des technisch bzw. manuell hergestellten Musikmediums. Die Struktur dieses Netzwerkes änderte sich erheblich mit dem verstärkten Aufkommen der Musikverlage. Während die handschriftliche Werkverbreitung dezentral erfolgte, oblag Verlagen eine zentrale Befugnis zur Werkausgabe. Dem Berliner Verleger Hummel erteilte Friedrich II. im Jahr 1773 das alleinige Privileg für die Ausgabe von Musikalien, was infolgedessen Hummel dazu berechtigte, jede Musik nachstechen zu können, die für ihn von Nutzen war.25 Die Herausbildung eines Urheberrechts, das die Praxis des unkontrollierten Nachdruckens verhindern sollte, entwickelte sich erst ab dem Jahr 1825 mit der Gründung des Leipziger Börsenvereins und dem „Archiv der vereinigten deutschen Musikalienhändler in Leipzig“.26 Die Professionalisierung des Musikdrucks war also abhängig von der Entstehung und Etablierung der Musikverlage, die in Deutschland bis 1800 nicht einmal ansatzweise flächendeckend vorzufinden waren.27 Repräsentant für Mitteldeutschland war Breitkopf in Leipzig (seit 1719, von 1795 an als Breitkopf & Härtel), Leuckart in Breslau (seit 1782) und in Berlin Hummel (seit 1770) und Rellstab (seit 1784).28 Berlin erlangte später als andere deutsche Städte wie Nürnberg, Leipzig oder Frankfurt am Main an musiktypographischer Bedeutung.29 Das Jahr 1616 gilt als Beginn des Musiknotendrucks in Berlin, initiiert durch Georg Runge mit dem Druck
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Tobias Plebuch, Veräußerte Musik: Öffentlichkeit und Musikalienmarkt im Zeitalter Carl Philipp Emanuel Bachs, Diss. masch., Humboldt Universität Berlin 1996, S. 201. Zu diesem Thema siehe vor allem Axel Beer, Musik zwischen Komponist, Verlag und Publikum: die Rahmenbedingungen des Musikschaffens in Deutschland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, Tutzing 2000. Vgl. Elvers, Berliner Musikverleger, S. 285/286. Vgl. ebd., S. 287. Vgl. ebd., S. 48. Siehe dazu die Angaben ebd. Vgl. Rudolf Elvers, Berliner Musikverleger, in: Dahlhaus (Hg.), Studien zur Musikgeschichte Berlins, S. 285–291, hier S. 285. Siehe auch Ders., Altberliner Musikverleger, Berlin 1961, und Ders., Musikdrucker, Musikalienhändler und Musikverleger in Berlin 1750 bis 1850, in: Georg von Dadelsen / Andreas Holschneider (Hgg.), Festschrift für Walter Gerstenberg zum 60. Geburtstag, Wolfenbüttel/Zürich 1964, S. 37–44.
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geistlicher Musik und Gesangbücher.30 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also mit dem Zeitpunkt, der als Beginn des modernen Musikverlagswesens übermittelt wird – einige der in diesem Zeitraum entstandenen Verlage existieren bis heute –, bestritten die Verleger Johann Julius Hummel und Johann Carl Friedrich Rellstab, Vater von Ludwig Rellstab, das wirtschaftliche Rennen in Berlin. Rellstab handelte als einer der wenigen Berliner Verleger auch mit handschriftlichen Musikalien und bot diese sowie die gedruckten Musikalien zum Ausleihen an. Die Besatzung Berlins durch Napoleon im Jahr 1806 bedeutete für viele kleinere Verleger das wirtschaftliche Aus. Die Firma Rellstab wurde 1806 aufgelöst, Hummel 1822. Erst in den 1830er Jahren lassen sich zehn Berliner Verleger verzeichnen, darunter Adolph Martin Schlesinger, der zu einer der bedeutendsten Verleger-Persönlichkeiten wurde, u. a. als Originalverleger der Werke von Carl Maria von Weber. Auch Felix Mendelssohn Bartholdy ließ dort drucken. Der Verleger Werkmeister (gegründet 1802) unterhielt außerdem ein Leihinstitut, eine Einrichtung, die einige Verleger als Nebeneinkunft ins Leben riefen. Wenngleich das Prinzip des Ausleihens kein neues, sondern ein in Musikerkreisen erprobtes war, professionalisierten die Verleger den Leihhandel, indem sie das Ausleihen geschäftsfähig machten. Tobias Plebuch bewertet den Leihhandel von Musikalien als „Katalysator der musikalischen Allgemeinbildung“.31 Das Verlagshaus Trautwein & Co. (gegr. 1820) gab 1839 die erste in Berlin erschienene Gesamtausgabe heraus, die von Carl Friedrich Christian Fasch (1736– 1800). Als Bach-Verlag tritt er 1829 mit einer sogenannten Prachtausgabe auf, dem Erstdruck der Johannes-Passion. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Verleger auf 70 an, teils bedingt durch politische (Berlin wurde Reichshauptstadt) und durch technische Neuerungen (Einsatz der Notendruckschnellpresse).32 Die durch Schlesinger in Berlin eingeführte, von Alois Senefelder Ende der 1790er Jahre erfundene Lithographie ermöglichte zwar eine bessere Lesbarkeit des Notentextes, hatte aber bisher keine Vergünstigung der Produktion erreicht. Axel Beer begründet die geringe Anzahl an Musikverlegern bis 1800 mit mangelnder Nachfrage, die sich dadurch erkläre, dass der Bedarf an gedruckten Musikalien durch handschriftliche Abschriften ausreichend gedeckt gewesen sei.33 Er konstatiert, dass die Durchsetzung des Musikdrucks durch eine übermäßige abschriftliche Verbreitung retardiert worden sei.34 Beer betont die „Gefahren“35 solcher Abschriften und vergleicht sie mit heutigen Kopien, die für die Verleger geschäftsschädigend gewesen seien. In ähnlichem Gestus argumentiert Annette Op30 31 32 33 34 35
Vgl. Elvers, Berliner Musikverleger, S. 285. Plebuch, Veräußerte Musik, S. 213. Vgl. Elvers, Berliner Musikverleger, S. 289. Siehe Beer, Musik zwischen Komponist, S. 48. Ebd. Vgl. Beer, Musik zwischen Komponist, S. 70, Anm. 50. Ebenso argumentiert Annette Oppermann, Musikalische Klassiker-Ausgaben des 19. Jahrhunderts. Eine Studie zur deutschen Editionsgeschichte am Beispiel von Bachs „Wohltemperierten Clavier“ und Beethovens Klaviersonaten (Abhandlungen zur Musikgeschichte 10), Göttingen 2001, in ihrer Einschätzung der Entstehung der „Oeuvres complettes“ von Hoffmeister & Kühnel zwischen 1801–1804.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
permann mit ihrer Einschätzung darüber, welche Hintergründe die Entstehung der Oeuvres complettes de Jean Sébastian Bach (1801–1804) von Hoffmeister & Kühnel motiviert haben könnten. Als Ursache für die Forderung nach einer gedruckten Veröffentlichung der Klavierwerke bezeichnet sie die „reichhaltige wie fehlerhafte abschriftliche Überlieferung“.36 Anders als bei der handschriftlichen Musikverbreitung stand das Drucken von Musik im engen Zusammenhang mit einem Verständnis von Musik als einem autonomen Kunstwerk sowie mit einem Selbstverständnis des Komponisten als Autor seines Werks.37 Auch Musikhandschriften – denkt man z. B. an reichverzierte, kostbare Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts – konnten Stabilität im Sinne einer musikalischen Autorschaft verkörpern.38 Betrachtet man allerdings die weitreichende mediale Umwälzung (Zuwachs an Musikdrucken, Etablierung von Gesamtausgaben etc.) in Korrelation zur Professionalisierung des Komponisten, hatte der Musikdruck im späten 18. Jahrhundert eine besondere Funktion. Er sicherte dem Komponisten eine meist flächendeckende Verbreitung seines Werks und eine entsprechende Bezahlung. Relevanz für die musikalische Praxis Fragt man allerdings nach dem Wert, die eine Handschrift oder ein Druck für die musikalische Praxis haben konnte, geraten weitere Aspekte in den Blick, die den Bedeutungswandel der Distributionsmedien verdeutlichen: Was änderte sich für die Musikerinnen und Musiker, wenn sie aus Drucken oder Handschriften spielten und welche aufführungspraktischen Vor- oder Nachtteile brachten die unterschiedlichen Medien mit sich? Im Gegensatz zu einer Druckausgabe, die nur durch viele Interessenten und Käufer zu finanzieren war, konnten Abschriften auch in kleinen Auflagen und in einzelnen Kopien hergestellt werden. Hier kamen auch Werke in Frage, die wegen eines geringen Bekanntheitsgrades für einen Druck nicht rentabel erschienen. Ebenso ist die Besetzung ein entscheidendes Kriterium dafür, welches Verbreitungsmedium sich am besten eignete. Aufwendige Partituren mit einer zweistimmigen Notation in einer Musikzeile konnten manuell genauer und leserlicher notiert werden. Der traditionelle Typendruck, der vor der technischen Verfeinerung des Typendrucks durch Johann Gottlob Immanuel Breitkopf ein gängiges Druckverfahren darstellte, geriet hier an seine Grenzen und war daher besser für Einzelstimmen und weniger aufwendige Partituren geeignet.39 Die Vervielfältigung von Musikalien 36 37 38 39
Ebd., S. 71. Hier sei auf die zahlreichen Veröffentlichungen Axel Beers verwiesen, besonders auf Musik zwischen Komponist, Verlag und Publikum. Vgl. hierzu Michele Calella, Musikalische Autorschaft. Der Komponist zwischen Mittelalter und Neuzeit (Schweizer Beiträge zur Musikforschung 20), Kassel 2014, vor allem S. 103–133. Es muss zwischen drei Techniken von Musikdruck unterschieden werden: Dem Plattendruck (der Notentext wird auf Stichplatten eingraviert), dem Typendruck (kleinste metallene Elemente werden auf einer Platte montiert) und dem Flachdruck (hierzu gehört auch die Lithographie, der Steindruck). Vgl. Ulrich Drüner, Frühe Musikdrucke als Zeugen authentischer Textentwicklung. Über den Umgang mit Erst- und Originalausgaben im Allgemeinen, in: Ute Bär
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durch das Gravieren von Stichplatten war besonders für kleinere Auflagen rentabel. Allerdings traten auch hier Schwierigkeiten auf, da Stichplatten nach zu häufiger Benutzung rissig wurden. Handschriftliche Kopien waren für den einzelnen Musiker flexibler zu beschaffen. Anforderungen der musikalischen Praxis wie z. B. eine unkomplizierte, schnelle Anschaffung und die Bestimmung der Auflage gemäß einer bestimmten, dem Anlass und der Besetzung entsprechenden Anzahl, konnten mittels handschriftlicher Werkverbreitung besser berücksichtigt werden. Auch unterschied sich die Funktion von Handschriften und Drucken vor dem Hintergrund des Wissenstransfers. Mit dem Aufkommen der Musikverlage wurde die Erwerbssituation zunehmend anonymisiert, sodass der unmittelbare Kontakt zwischen Musiker und Kopist, wie er im Falle der handschriftlichen Vervielfältigung meist notwendig war, an Relevanz verlor. Im Falle einer Drucklegung brach mit dem Verkauf des Autographs an den Verleger die Nachvollziehbarkeit der Werkrezeption ab. Die handschriftliche Verbreitung bzw. die Möglichkeit des Abschreibens von einer Vorlage erfolgte hingegen meist nur durch einen direkten Kontakt zu den Nachfahren bzw. zur nachfolgenden Schülergeneration. Damit wurde die Handschrift unmittelbar Medium eines Wissenstransfers. Wahrscheinlich konnte hierdurch auch die Nähe zu der ursprünglichen Aufführungssituation länger gewährleistet bleiben. Denn mit dem persönlichen Kontakt zum Kopisten konnten Paratexte wie Anmerkungen zur Besetzung und Interpretation, aber auch Modifizierungen und Varianten des Notentexts, die je nach Aufführungssituation variierten, überliefert werden. Der Musikdruck legte unweigerlich eine Variante des Notentextes fest. Auch konnte der Rezeptionsweg, aus heutiger Perspektive betrachtet, im Rahmen einer handschriftlichen Werkverbreitung nachvollzogen werden, während nach Drucklegung Käufer, Kaufanlass und mögliche Aufführungssituationen meist unbekannt blieben.40 Mit der langsamen, lange auch parallel verlaufenden Entwicklung von handschriftlicher zur gedruckten Musikdistribution zeichnet sich ein Prozess der Zentralisierung, Entflexibilisierung und der Anonymisierung ab.41 Auch hinsichtlich der Geschlechtskonstruktionen sorgte die Verbreitung des Druckwesens für Veränderungen, u. a. durch Titelbezeichnungen einzelner Werke wie z. B. „pour les dames“. Diese konstruierten explizit männliche oder weibliche Adressatenkreise.42 Im Rahmen einer Erforschung dieser musikalischen Praxis sind Unterschiede zwischen handschriftlichem und gedrucktem Notenmaterial festzustellen. So ist z. B. die Aussagekraft handschriftlicher Musikalien für die Erforschung von nichtöffentlicher Musikkultur besonders relevant. Ulrich Leisinger betont, dass „Musikhandschriften […] über die Musik, die in privaten Kreisen tatsächlich studiert oder
40 41 42
(Hg.), Robert Schumann und die französische Romantik (Schumann Forschung 6), Mainz u. a. 1997, S. 219–233, hier S. 221/222. Die Identifizierung von Schreibern stellt u. a. in der Bach-Forschung eine zentrale Methode dar, Überlieferungswege zu rekonstruieren. Plebuch, Veräußerte Musik, S. 162. Vgl. Christine Siegert, Abschnitt „4. Musikdruck/Musikverlage“ im Artikel „Überlieferung“, in: LMG, S. 507–508, hier S. 507.
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aufgeführt wurde“,43 Auskunft geben. Je nachdem ob eine Handschrift in Form einer Partitur oder eines Stimmenkonvoluts angefertigt wurde, kann dies Informationen zum Aufführungsanlass und zur Spielsituation bieten. Ein Stimmenkonvolut würde verstärkt auf eine tatsächliche Aufführungssituation hinweisen. Inwiefern allerdings Partituren als Nachweis einer Studierpraxis und Stimmen als Nachweis einer tatsächlichen Aufführung geltend gemacht werden können, ist zu hinterfragen. Wie in den nachfolgenden Analysen gezeigt wird, ist die Unterscheidung zwischen einer Aufführungssituation einerseits und einer Proben- bzw. Studiersituation andererseits in den Quellen nicht immer deutlich zu erkennen. Stattdessen konnte aus einer Studier- und Unterrichtssituation auch eine Aufführungssituation erwachsen und hierbei wurde durchaus auch aus Partituren musiziert. Die Vorstellung einer expliziten Trennung zwischen Probe und Aufführung manifestierte sich mit Blick auf die Bach-Rezeption nach 1750 erst mit der Musikpraxis der Sing-Akademie zu Berlin. Gesamtausgaben Die erste vollständige Bach-Gesamtausgabe erschien in den Jahren 1850 bis 1899 anlässlich der Feierlichkeiten zu Bachs hundertjährigem Todestag. Diese Gesamtausgabe stellt einen wichtigen Schritt im Entwicklungsprozess des Bach-Materials dar, da das darin zum Ausdruck kommende Bestreben, einen Werkbestand vollständig und in einer kritisch revidierten Fassung zugänglich zu machen, den Schlusspunkt einer bis dahin dezentrierten, individuellen Werküberlieferung bildet. Eine Gesamtausgabe markiert die vollständige Sicherung des Nachlasses eines Komponisten und stellt eine explizite Verankerung im musikkulturellen Gedächtnis dar. Editorischer Vorreiter der Bach-Gesamtausgabe von 1850 war die bereits erwähnte Ausgabe Oeuvres complettes de Jean Sébastian Bach des Leipziger Verlages Bureau de Musique von Hoffmeister & Kühnel, der später unter dem Namen C. F. Peters existierte.44 Mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und auf eine korrekte, notentextgetreue Wiedergabe richteten sich Gesamtausgaben an ein eher elitäres, wissenschaftlich orientiertes Publikum.45 Die ebenfalls Mitte des 19. Jahrhunderts inflationär erscheinenden sogenannten Klassiker-Ausgaben verfolgten hingegen das Ziel, als instruktive Ausgaben und unter Hinzufügung von aufführungspraktischen, werkgeschichtlichen und biographischen Informationen Bildungsträger des musikalisch interessierten Bildungsbürgertums zu werden.46 Letztlich markieren die praktisch 43 44 45 46
Vgl. Ulrich Leisinger, „Das Erste und Bleibendste was die deutsche Nation als Musickunstwerk aufzuzeigen hat“. Johann Sebastian Bachs Werke im Berliner Musikleben, in: JbSIM 1995 (1996), S. 66–79. Hier sei auf die Forschungen von Karen Lehmann verwiesen: Die Anfänge einer Bach-Gesamtausgabe 1801–1865, Hildesheim 2004, und Dies., Die Idee einer Gesamtausgabe: Projekte und Probleme, in: Bach und die Nachwelt 1, S. 255–303. Ludwig Finscher, Musikalische Denkmäler und Gesamtausgaben, in: Hanspeter Bennwitz / Georg Feder / Ludwig Finscher / Wolfgang Rehm (Hgg.), Musikalisches Erbe und Gegenwart. Musiker-Gesamtausgaben in der Bundesrepublik Deutschland, Kassel 1975, S. 1–13. Vgl. Oppermann, Musikalische Klassiker-Ausgaben, S. 2.
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motivierte handschriftliche Abschrift und die an philologischer Korrektheit orientierte, auf mehrere Einzelbände und Erscheinungsjahre angelegte Gesamtausgabe zwei Extrempunkte der Werktradierung. Nachlassverwaltung Die Verwaltung des künstlerischen Nachlasses bestimmte die Verbreitung des musikalischen Materials nach dem Tod des Komponisten bzw. noch zu Lebzeiten. Die Sichtung und Verwaltung eines musikalischen Nachlasses steht am Anfang des Überlieferungsprozesses, der bei Aleida Assmann als „Auslagerungsprozess“47 bezeichnet wird. In dem Moment, an dem die Musikalien Bachs den ursprünglichen Wirkungskontext verlassen, spaltet sich das künstlerische Schaffen von der realgeschichtlichen Person ab und die Musikalien werden zu einem „Gedächtnismedium, das Selbstverewigung über kontinuierliche Lesbarkeit sichert“.48 Im Falle J. S. Bachs begann der Auslagerungsprozess bereits zeit seines Lebens z. B. durch Schüler, die Kopien anfertigten und diese an ihre Wirkungsstätten mitnahmen sowie durch Widmungskompositionen, die am Ort des jeweiligen Gönners blieben. Dennoch ist die Erbteilung im Jahr 1750 als eigentlicher Beginn der Externalisierung zu begreifen, da erstmals Musikalien in größerem und kompakteren Ausmaß Leipzig verließen.49 Blickt man auf Berlin nach 1750, so sind viele Entscheidungen über das Werk Bachs bereits getroffen. Anders als beispielsweise im Falle Wolfgang Amadeus Mozarts oder C. P. E. Bachs, deren Nachlässe nach ihrem Tod von ihren Ehefrauen versorgt und verwaltet wurden,50 ist eine solche Nachlassverwalterin oder ein solcher Nachlassverwalter des bachschen Werks nicht auszumachen. Zwar nimmt C. P. E. Bach in vielen Fällen eine solche Funktion ein, so wie dies für die Autorisierung der Choralausgabe von Birnstiel51 überliefert ist. In Gänze erfüllt C. P. E. Bach diese Aufgabe nicht, da er ausschließlich seinen eigenen Erbteil überblicken und verwalten konnte und nicht die Anteile seiner Brüder oder seiner Mutter.52 Sammlungen/Archive Nach bestimmten Kriterien angelegte Sammlungen von Musikalien dokumentieren das musikkulturelle Verständnis und die musikalischen Vorlieben des Sammlers,53 wie z. B. technische Fertigkeiten und musikästhetische Präferenzen eines bestimmten musikalischen Stils oder einer musikalischen Gattung. Zentral für die vorliegende Studie ist aber, dass die Entscheidung darüber, welche Materialien in eine Samm47 48 49 50 51 52 53
Aleida Assmann, Erinnerungsräume, S. 182. Ebd. Zur Erbteilung vgl. Wollny, Abschriften und Autographe, S. 29 ff. Zu Constanze Mozart siehe Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart. Die Erforschung der musikkulturellen Bedeutung, die die Ehefrau und die Tochter Carl Philipp Emanuel Bachs für die Nachlassverwaltung einnehmen, stellt ein Forschungsdesiderat dar. Vgl. das Kapitel Drucken und Verlegen (Teil III, Kap. 2.1.2). Vgl. Wollny, Abschriften und Autographe, Abschnitt Der Umgang mit dem väterlichen Erbe, S. 35–40. Vgl. Gesa Finke / Melanie Unseld, Abschnitt „2. Archive“ im Artikel „Überlieferung“, in: LMG, S. 505–506, hier S. 505.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
lung aufgenommen werden, auch spezifische „historiographische Vorstellungen“54 widerspiegeln können. Die Auswahl des Materials durch den Sammler stellt bereits einen wesentlichen Schritt innerhalb der Werküberlieferung dar. Die Herstellung von Abschriften, der Erwerb von Drucken und möglicherweise Autographen verlangten finanzielle Ressourcen. Dies erklärt, weshalb vor allem Personen aus aristokratischen und bürgerlichen Kreisen als Bach-Sammler und -Sammlerinnen Bedeutung erlangten. Die Verfügung über eine Sammlung, die meist nach dem Tod des Sammlers eintrat und im Vorhinein testamentarisch festgelegt wurde, war oft Ausdruck eines bestimmten Sammlungsbewusstseins des Sammlers oder der Sammlerin. Wie bereits erwähnt wurden Autographen zunehmend als wertvolle Raritäten angesehen, was auch das Bewusstsein von Sammlern transformierte.55 Sammlungen stellen die Vorstufe von Archiven und Bibliotheken dar. Einen Unterschied zwischen Sammlung und Archiv betrifft das Verhältnis zwischen Sammler und Sammlung bzw. zwischen Archivar und Archiv. An die Stelle des Sammlers oder der Sammlerin, deren persönliches Interesse und musikalische Expertise die Entstehung der Sammlung überhaupt generieren, tritt bei einem Archiv eine Institution, die weitaus anonymer für die Konservierung, Katalogisierung und Speicherung eintritt. Mit der Auslagerung eines Werks in ein Archiv wird das Werk zu einer eigenen Instanz, das sich von der Person des Komponisten vollständig losgelöst hat. Aleida Assmann beschreibt die Umdeutung, die schriftliche Artefakte als Bestandteile von Archiven erfahren, als „Chance eines zweiten Lebens jenseits des ursprünglichen Gebrauchskontextes“.56 Der Mitteilungscharakter eines musikalischen Werks hat für Sammlerinnen und Sammler um 1800 schon aus Gründen der Umsetzung in die Praxis eine immense Bedeutung, während dieser im Archiv an aktueller Geltung einbüßt. Gleichzeitig gewährleistet die Aufbewahrung im Archiv die Sicherstellung und Langlebigkeit eines Artefakts. Das Archiv kann nach Aleida Assmann sowohl Funktionsgedächtnis als auch Speichergedächtnis sein. Das dort gelagerte Material erhält dann entweder Bedeutung als „präsent gehaltene Vergangenheit“ (Funktionsgedächtnis) oder als „vergangene Vergangenheit“57 (Speichergedächtnis). Es kann also einerseits Medium von lebendiger Erarbeitung oder erhaltender Speicherung sein.58 Musiksammlungen bieten auf verschiedenen Ebenen Anknüpfungspunkte für die musikwissenschaftliche Forschung. Sie können zum Beispiel Gegenstand von philologisch motivierter Forschung sein. Hierbei stellen die Identifizierung von Schreibern und Provenienzmerkmalen sowie das Erstellen von Schreiberchronologien wichtige Forschungsinteressen dar. Sammlungen sind auch Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschungen, im Rahmen derer sie z. B. als Ausdruck
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Ebd. Henzel, Berliner Klassik, S. 61 Aleida Assmann, Art. „Archive und Bibliotheken“, in: Gudehus/Eichenberg/Welzer, Gedächtnis und Erinnerung, S. 165–170, hier S. 165. Ebd. Ebd.
2. Bach-Rezeptionspraktiken zwischen 1750 und 1829 in Berlin. Ein Überblick
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einer bestimmten „Musiziersphäre“59 untersucht werden. Martin Eybl betont am Beispiel der Musikaliensammlung der Erzherzogin Elisabeth von Österreich, dass Sammlungen neben den Hinweisen auf die Kennerschaft der Sammlerin oder des Sammlers, auch Hinweise auf die Unterrichtpraxis und die Beratung durch Lehrer geben.60 Ein Aspekt, der auch für die Bach-Rezeption relevant werden wird. Diese Studie nimmt Sammlungen unter der Perspektive ihrer Aussagekraft für die Berliner Bachpraxis in den Blick. Sammlungen konkretisieren das Umfeld der Bach-Rezeption und die Identifizierung von Schreibern bietet akteursbezogene Einblicke in Rezeptionsweisen und Präferenzen von Gattungen. Darüber hinaus lassen sich anhand des gegenseitigen Tauschens oder Ausleihens einzelner Sammlungsbestände und dem Aufkaufen bzw. Abkaufen von Sammlungsteilen personelle Netzwerke, auch über Berlin hinaus, erkennen. Dieses gilt z. B. für die Familie Itzig und für ihr weit verzweigtes Netzwerk. Provenienzmerkmale können Rückschlüsse über Überlieferungen, Besitzverhältnisse und Erwerbsanlass geben. Dieser Aspekt ist vor allem für das Archiv der Sing-Akademie zu Berlin relevant. Grundlage dieser Rückschlüsse stellen die wertvollen Eintragungen der Kataloge und Ergebnisse der philologischen Detailstudien dar, die im Einzelfall Erwähnung finden. Das Bach-Material in seinen verschiedenen, hier überblicksartig skizzierten Ausprägungen, ist wesentlicher Bestandteil und Bedingung von Bach-Rezeptionspraxis. Nachfolgend werden nun unter Berücksichtigung dieser materialen Voraussetzungen die Bach-Räume Berlins hinsichtlich der darin etablierten Rezeptionspraktiken untersucht. 2. BACH-REZEPTIONSPRAKTIKEN ZWISCHEN 1750 UND 1829 IN BERLIN. EIN ÜBERBLICK Das vorliegende Kapitel behandelt die Bach-Praxis in den verschiedenen Musikräumen Berlins. An ihnen lassen sich sowohl die je spezifischen Rezeptionspraktiken darstellen als auch der Einfluss, den die materialen und die räumlichen Voraussetzungen auf die Konstitution und den Wandel von Praktiken hatten. Die Kopierstube richtet das Augenmerk auf Überlieferungs- und Vervielfältigungspraktiken (Kapitel 2.1). Der Hof (Kapitel 2.2) bietet Expertise an praktischem und theoretischem Bach-Wissen sowohl für den Haushalt (Kapitel 2.3) als auch für den Saal (Kapitel 2.4). Der Verein (Kapitel 2.5) bündelt und verändert die in anderen Räumen etablierten Praktiken.
59 60
Tobias Schwinger, Die Musikaliensammlung Thulemeier und die Berliner Musiküberlieferung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Ortus Studien 3), Beeskow 2006, S. 393. Martin Eybl, Die Opern- und Ariensammlung der Erzherzogin Elisabeth von Österreich (1743–1808). Musizierpraxis im Kontext feudaler Bildungs- und Repräsentationskonzepte, in: Die Musikforschung 68, Heft 3 (2015), S. 255–279, hier S. 256 f.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
2.1 Die Kopierstube Die Kopierstube beschreibt einen imaginierten Handlungsraum, der die Akteurinnen, Akteure und Praktiken sichtbar macht, die sich mit dem Notenmaterial Bach beschäftigen, also diejenigen, die die Kompositionen Bachs handschriftlich kopierten (2.1.1) und diejenigen, die Bach-Noten druckten und verlegten (2.1.2). 2.1.1 Kopieren Das musikalische Material ist nicht nur Medium des künstlerischen Schaffens J. S. Bachs, es ist auch Zeugnis für biographische, soziale und allgemeinhistorische Kontexte61 sowie Ausdruck eines bestimmten Verständnisses von Bach.62 Die Analyse der materialen Weitergabe der Musikalien Bachs zeigt, dass das Werk nicht selbstständig besteht, sondern durch menschliches Interesse und Tun und in einem Netz vieler Akteurinnen und Akteure am Leben erhalten wird. Eine zentrale Schnittstelle dieses Netzes ist der Kopist, der ganz zu Beginn in Kontakt mit dem Werk tritt und erste Überlieferungswege bahnt. Der handschriftlichen Distribution kann für den Zeitraum bis 1800 innerhalb der materialen Weitergabe und Verbreitung der Werke Bachs eine nicht hoch genug einzuschätzende Bedeutung beigemessen werden. Während sich die Verbreitung der Kompositionen Bachs durch Drucklegung noch kaum etabliert hatte und Bach vor allem in häuslichen Räumen aufgeführt, für die individuelle Sammlung angeschafft und in Lehrer-Schüler-Verhältnissen praktiziert wurde, waren handschriftliche Abschriften das bevorzugte Verbreitungsmedium. Sie ermöglichten – die Existenz einer Vorlage vorausgesetzt – eine unkomplizierte, schnelle und auf den jeweiligen Bedarf abgestimmte Anschaffung. Aus heutiger Perspektive stellt sich die handschriftliche Weitergabe von Bachs Werk als ein undurchdringliches Netz dar, bestehend aus einer Vielzahl an BachHandschriften und deren Schreibern – eine „kaum zu überblickende Zahl von handschriftlichen Musikalien […], die jedweden Zweifel an deren Ausmaß und Tragweite verstummen lassen müssten.“63 Grund für diese Unübersichtlichkeit ist, dass die Mehrzahl der Schreiber nicht namentlich auf der Abschrift festgehalten wurde. Stattdessen blieben sie anonym. Während eine Drucklegung auf einer HerausgeberWerk-Beziehung aufbaute, blieb bei einer Eins-zu-eins-Anfertigung der Schreiber unbekannt. Dies offenbart Einblicke in das Selbstverständnis des Schreibers und seinen Stellenwert in der Gesellschaft und sorgt – aus heutiger Sicht – vor allem für Identifizierungsprobleme, die nur in Ansätzen durch philologische Kleinstarbeit gelöst werden können. Die Vielzahl an Handschriften, die kursierten und die sich nur mit Schwierigkeiten den Schreibern zuordnen lassen, deuten darauf hin, dass Bachs Kompositio61 62 63
Vgl. Wollny, Anmerkungen zu einigen Berliner Kopisten, S. 143. Vgl. Schulze, Studien zur Bachüberlieferung, S. 131. Peter Wollny, Ein „musikalischer Veteran Berlins“. Der Schreiber Anonymus 300 und seine Bedeutung für die Berliner Bach-Überlieferung, in: JbSIM 1995 (1996), S. 80–113, S. 85.
2. Bach-Rezeptionspraktiken zwischen 1750 und 1829 in Berlin. Ein Überblick
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nen nicht nur in dem recht überschaubaren Zirkel seiner Söhne und Schüler kursierten, sondern in einem weitaus größeren Kreis.64 Schreiber stellten selber noch eigene „Unter-Schreiber“ ein, sodass es schwierig ist, sich ein genaues Bild des Berufsfelds zu machen, bei dem die Nachfrage groß gewesen zu sein scheint und der Markt offenbar florierte. Peter Wollny vermutet eine Anzahl von über 100 Kopisten, die meist als professionelle Schreiber für Berliner Musikverlage arbeiteten und/oder auch private Sammler waren, die die Handschriften selbstständig und für die eigene Sammlung anfertigten. Lohnschreiber bzw. gewerbliche „Copy-Shops“ bildeten ein neues Strukturmerkmal des Musikmarktes65 und stellten für viele Musiker, wie im Umkreis der Hofkapelle Friedrichs des Großen, eine gute Nebenverdienstmöglichkeit dar.66 Die Kenntnis über die Schreiber ist vor allem im Zusammenhang mit der heutigen Erschließung von Notensammlungen relevant. Anhand einiger Einzelportraits von Kopisten, deren Identität ermittelt werden konnte,67 soll im Folgenden der Stellenwert des Kopierens von bachschem Notenmaterial sowie dessen Verankerung in der Bach-Rezeption der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts näher beleuchtet werden. Peter Wollny identifiziert den Schreiber „Anonymus 300“ als den Musiker Johann Friedrich Hering (um 1735–ca. 1786), der einen Ruf als „musikalischer Veteran Berlins und gar sorgsamer, eifriger Sammler und ausschließlicher Verehrer Bachischer Produkte“68 inne hatte. Dieser lebte und wirkte ab ca. 1750 in Berlin, stand im engen Kontakt zu C. P. E. Bach und war ein versierter Cembalist mit sehr guten Generalbass- und allgemeinen musiktheoretischen Kenntnissen.69 Hering wird als einer der wichtigsten Schreiber der frühen Bach-Rezeption bewertet, dessen Bedeutung aus der Vielzahl seiner auf ihn angewendeten Schreibersigla bemessen wird.70 Seine Sammlertätigkeit bilde – so Wollny – ein Musterbeispiel für eine rege, facettenreiche und fest im Berliner Netzwerk der Bach-Überlieferung veran64 65 66
Ebd., S. 86. Vgl. Plebuch, Veräußerte Musik, S. 202. Für weiterführende Einblicke in das Berufsfeld des Orchestermusikers siehe: Christoph Henzel, Zur Professionalität des höfischen Orchestermusikers im 18. und 19. Jahrhundert, in: Christian Kaden / Volker Kalisch (Hgg.), Professionalismus in der Musik: Arbeitstagung in Verbindung mit dem Heinrich-Schütz-Haus Bad Köstritz vom 22. bis 25. August 1996, Essen 1999, S. 179–184, ders., Zum sozialen Status der Orchestermusiker in der preußischen Hofkapelle um 1800, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 34 (1992), S. 76–105, sowie Tobias Plebuch, Urbanisierung und Profession. Der Musikunternehmer Carl Philipp Emanuel Bach in der Stadt, in: Kaden/Kalisch (Hgg.), Professionalismus in der Musik, S. 185–199. 67 Siehe die Forschungen von Schulze, Bach-Überlieferung und Wollny, Abschriften und Autographe. 68 Carl Spazier, Dok III, Nr. 984, zitiert in: Wollny, Ein „musikalischer Veteran Berlins“, S. 84. 69 Die folgenden Details zur Tätigkeit des Johann Friedrich Herings entstammen den Forschungen Peter Wollnys, bes. seinem Aufsatz Ein „musikalischer Veteran Berlins“. 70 Peter Wollny konnte anhand einiger aufwendiger philologischer Methoden ein Verzeichnis der von dem Schreiber „Anonymus 300“, dem identifizierten J.Fr. Hering, kopierten und revidiertem Handschriften, ebenso eine Chronologie dieser Handschriften rekonstruieren und einige wichtige Stationen seines Berliner Lebens nachzeichnen. Ebd., S. 86, wo Wollny vier verschiedene Schreibersigla anführt: „Anonymus y“ im Verzeichnis der Berliner Kopisten von Peter Wackernagel, „Anonymus VI“ in Eva Renate Blechschmidts Katalog der Amalien-Bibliothek,
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
kerten Kopisten- (und auch Sammler- und Klavierpädagogen-) tätigkeit.71 Einige dieser musterhaften, für das Befragen der Bedeutung von Kopisten für die Berliner Bach-Rezeption relevanten Handlungseigenschaften werden hier vorgestellt. Setzt man Kenntnis und Spielvermögen des kopierten Repertoires voraus, war Johann Friedrich Hering selber ein versierter Cembalist. Anhand der kopierten Werke lassen sich nicht nur ästhetische Vorlieben, sondern auch technisches und musikalisches Können des Schreibers bestimmen. Andersherum argumentiert: Ein Kopist musste angemessene musikalisch-technische und musiktheoretische Fähigkeiten mit sich bringen, denn ohne diese wäre eine korrekte Abschrift kaum herzustellen. Herings erste Bach-Abschriften betreffen die Kunst der Fuge, das Musikalische Opfer und die Schübler-Choräle. Um 1765 erhielt er dann Zugang zu Carl Philipp Emanuels Autographensammlung, ein Freundschaftsprivileg, das sich auch auf die Hamburger Zeit bis zum Tod C. P. E. Bachs im Dezember 1788 erstreckte.72 Als erste Abschrift aus dieser wertvollen Sammlung erfolgte die des Partiturautographs der h-Moll Messe, die an einigen Stellen – dort, wo sich für Hering Leseschwierigkeiten ergaben – in Zusammenarbeit mit dem Bach-Sohn entstanden ist.73 Hierauf folgten Abschriften weiterer Werke J. S. Bachs aus der Sammlung C. P. E. Bachs.74 Im Anschluss an Wilhelm Friedemanns Übersiedlung nach Berlin 1774 erhielt er ebenso Zugang zu dem sich im Besitz des ältesten Bach-Sohnes befindlichen BachNachlass, wie die Abschrift der Bach-Kantate Tue Rechnung! Donnerwort (BWV 168) bezeugt. Mit dem oben genannten Beispiel gerät die Bedeutung des Notenmaterials vor allem für die Anfangsjahre der materialen Bach-Überlieferung nach 1750 in den Blick. Nur durch Zugriff auf eine im besten Fall autographe Quelle lässt sich eine Abschrift herstellen. Teil des Netzwerks zu sein, idealerweise engen Kontakt zu den Bach-Söhnen und Bach-Schülern zu pflegen, war für die Jahre 1750–1780 notwendige Bedingung, um an diese Vorlagen zu gelangen. Auch wenn die Werke Bachs selbst dort nicht erklungen sind,75 stellt der Kreis der am königlichen Hof in Potsdam angestellten Musiker, Komponisten und Kopisten einen wichtigen Fundort für Bach-Kopisten dar. Hofmusiker hatten als Nebenjob Kopistenaufgaben übernommen, da der Bedarf an Notenmaterial mit der entste-
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„Ergänzer des Polonaisen Autographs“ in Martin Falcks Wilhelm-Friedemann-Bach-Buch und „Anonymus 300“ in Paul Kasts Katalog der Berliner Bach-Handschriften. Vgl. ebd., S. 100. Ebd., S. 93. Ebd., S. 90. Die Bauernkantate, Englische Suiten, die Kantaten BWV 38, 72, 176, 102, 51 und auch eine Abschrift der Matthäus-Passion, die Hering von einem für ihn arbeitenden Kopisten erstellen ließ und die er selbst korrigierte. Vgl. ebd., S. 80/81. Die einzige Quelle, in der Bach-Aufführungen am Hof erwähnt werden, ist ein Bericht von Johann Gottlieb Portmann über bachsche Werke, die „in Berlin und bey Hofe und im Publikum“ aufgeführt wurden. Dok III, Nr. 1002. Siehe dazu Wollny, Ein „musikalischer Veteran Berlins“, S. 81, Anm. 4, und S. 86. Zu Anonymus 400 siehe Hans-Joachim Schulze, Der Schreiber „Anonymus 400“ – ein Schüler Johann Sebastian Bachs, in: BJ 58 (1972), S. 104–117; verb. ND in: Studien zur Bach-Überlieferung, S. 130–145.
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henden innerstädtischen Musikpraxis der Berliner Kulturelite beständig anstieg.76 Wichtigster Untersuchungsgegenstand ist der Katalog der Amalien-Bibliothek und der dort nachgewiesenen Bach-Kopisten.77 Zu diesen Hofmusikern, die als Kopisten oder Lehrer für die Berliner Bach-Rezeption Bedeutung erlangten, zählen neben den Bach-Söhnen C. P. E. und W. F. Bach: Johann Gottlob Freudenberg, Johann Friedrich Agricola und Christoph Nichelmann. Johann Gottlob Freudenberg,78 Violinist der Hofkapelle, fertigte nicht nur Kopien für den Gebrauch am Hof – hier vor allem tätig für J. J. Quantz79 –, sondern ist als Kopist besonders von Bach-Kantaten bekannt.80 Peter Wollny mutmaßt, dass der Bach-Schüler Johann Friedrich Agricola Auftraggeber dieser Werke gewesen sei.81 Erneut verläuft die Verbreitung durch einen der Bach-Söhne bzw. indirekt auch durch Agricola als Bach-Schüler. Die auffallend reich bestückte Bläserbesetzung mit Zink, drei Posaunen, Oboen bzw. Oboe da caccia in drei der vier von Freudenberg kopierten Bach-Kantaten82 mag die von Peter Wollny entwickelte These unterstützen, dass „die von ihm [Agricola] veranlassten Kopien in dichter Folge entstanden sein“83 müssten und möglicherweise für einen konkreten Anlass bestimmt waren. Agricola fungiert in einem weiteren Fall als Vermittler von Vorlagen. Ein als „Anonymus 306“ bei Kast und „J. S. Bach XVI“ bei Blechschmidt/ Wutta bezeichneter Schreiber fällt als Kopist von Werken auf, die ausschließlich auf den Besitz Agricolas bzw. W. F. Bach verweisen. Ähnliches gilt für den Schreiber „Anonymus 400“, der durch Hans-Joachim Schulze als Bach-Schüler Christoph Nichelmann identifiziert wurde. Nichelmann war von 1730 bis 1733 Schüler J. S. Bachs in Leipzig und wirkte ab 1745 neben C. P. E. Bach als zweiter Cembalist und Komponist in der Potsdamer Hofkappelle. Agricola zeichnet sich im Fall Nichelmann erneut als Kontaktperson zu den Bach-Söhnen aus, was vor allem das Beschaffen von handschriftlichem Notenmaterial betraf. Ebenso stammen frühe Abschriften, das sind Vokalwerke (sieben Kantaten84 und die Motette Komm, Jesu komm BWV 229) noch aus seiner Leipziger Zeit bei Bach bzw. aus dem Besitz Schwinger, Die Musikaliensammlung Thulemeier, S. 444. Eva Renate Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek. Musikbibliothek der Prinzessin Anna Amalia von Preußen (1723–1787), historische Einordnung und Katalog mit Hinweisen auf die Schreiber der Handschriften (Berliner Studien zur Musikwissenschaft 8), Berlin 1965, und Dies. [Eva Renate Wutta], Quellen der Bach-Tradition in der Berliner Amalien-Bibliothek, Tutzing 1989. 78 Schreibersigla von Freudenberg: bei Blechschmidt/Wutta: „J. S. Bach IV“, bei Paul Kast „Anonymus 404“. 79 Horst Augsbach, Thematisch-systematisches Verzeichnis der Werke von Johann Joachim Quantz: Quantz-Werkverzeichnis (QV), Stuttgart 1997. 80 Vgl. Wollny, Anmerkungen zu einigen Berliner Kopisten, S. 144. 81 Wollny folgt dieser Überlegung, da die Abschriften allesamt aus dem Erbbestand Wilhelm Friedemann Bachs stammen und zwischen Agricola und dem ältesten Bach-Sohn persönliche Beziehungen bestanden. Vgl. ebd. 82 Dies betrifft die Kantaten BWV 25 (Am.B. 15), BWV 38 (Am.B. 16) und BWV 101/2–7 (Am.B. 22). 83 Wollny, Anmerkungen zu einigen Berliner Kopisten, S. 145. 84 BWV 36, 64, 16, 184, 42,180, 91. 76 77
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C. P. E. Bachs.85 Weitere Abschriften (in Stimmen und Partitur) fertigte er von den Cembalokonzerten d-Moll und E-Dur (BWV 1052 und 1053) an. Hans-Joachim Schulze vermutet, dass sich Nichelmann nach Beendigung seiner Dienstzeit 1755 am Hof den Kreisen der Musikkenner und -liebhaber in Berlin zuwandte, weil er dort potenzielle Arbeitgeber vermutete.86 Das Kopieren des Notenmaterials war der erste Schritt im Rezeptionsprozess. Er verlangte einen direkten Kontakt mit den Autographen. Kopisten der frühen Bach-Rezeption entstammten weitestgehend dem Kreis der Hofmusiker. Mittels ihrer Kopien brach die Trennung zwischen musikalischen Räumen auf und BachWissen gelangte in die bürgerlichen Häuser der kulturellen Elite. Gedrucktes Notenmaterial hingegen unterlag anderen Distributionsbedingungen. 2.1.2 Drucken und Verlegen Das Drucken und Verlegen bachscher Musikalien steht in Abhängigkeit zur Praxis der handschriftlichen Überlieferung: Je größer die Anfrage nach handschriftlichen Eins-zu-eins-Kopien war, umso weniger fanden gedruckte Werkausgaben Beachtung und Absatz. Zeitgenössische Versuche, den Absatz von Bach-Drucken durch Werbeschriften zu steigern, belegen, dass aktiv versucht wurde, auf die Verbreitung des bachschen Werks Einfluss auszuüben. Dies geschah bis 1820 von Seiten der Musikverlage mit eher geringem Erfolg. Erst mit der Institutionalisierung des Musikverlagwesens ab den 1820er Jahren87 ist auch in Bezug auf die Werke Bachs ein deutlicher quantitativer Anstieg an Bach-Drucken zu verzeichnen. Folgende Übersicht soll die Etappen der Drucklegung und der Verlegerpraxis skizzieren.88 Allgemeine Tendenz der ersten Phase (1750–1790) ist das Abdrucken bachscher Werke in nicht selbstständigen Ausgaben, sondern größtenteils als Teilabdruck in kompositionstheoretischen Abhandlungen.89Auffallend sind die durchgän85 86 87 88
89
Vgl. Schulze, Studien zur Bach-Überlieferung, S. 139 f. und 144. Vgl. ebd., S. 144 f. Zur generellen Situation in Berlin, angesichts des erstarrenden Musikgeschmacks am Hof, der absolutistischen Herrschaft Friedrichs des Großen und der Hinwendung der Musiker nach Berlin, vgl. Berlin als Musikraum – Bach-Räume Berlins (Teil III, Kap. 1.1). 1817 erschien mit Carl Friedrich Whistlings, Handbuch der musikalischen Literatur, die erste reine Fachbibliographie. Dieses Ereignis bewertet Beer, Musik zwischen Komponist, S. 55, als Beginn des institutionalisierten Verlagswesens. Folgende Ausführungen orientieren sich an Kirsten Beißwenger, Zwischen 1750 und 1850 erschienene „Berliner“ Drucke Bachscher Werke, in: JbSIM 1993 (1993), S. 106–130. Sie unterteilt die Entwicklung des Erscheinens von bachschen Werken zwischen 1750 bis 1850 in vier Phasen. Diese zeitliche Gliederung wird für die vorliegende Darstellung übernommen, allerdings ohne eine detaillierte Berücksichtigung der letzten Phase, also der Zeit nach 1830, die nicht mehr in den Untersuchungszeitraum der Arbeit fällt und deshalb nur in groben Zügen skizziert wird. Siehe auch Magali Philippsborn, Die Frühdrucke der Werke Johann Sebastian Bachs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Diss., Frankfurt a. M. 1975. Autoren, der in diesem Zeitraum erschienenen Abhandlungen, sind Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795), Johann Philipp Kirnberger (1721–1783) und Christoph Nichelmann (1717– 1762). Die Hälfte dieser Abhandlungen, die abgedruckte bachsche Musikbeispiele beinhalteten, hat F. W. Marpurg verfasst, wie z. B. die Abhandlung von der Fuge (1753 und 1754), An-
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gig nur wenige Takte umfassenden Musikzitate aus Bachs Werken. Musikbeispiele dieser Art dienten der Erläuterung theoretischer Ideen und waren eher zu Studienzwecken als zur praktischen Umsetzung gedacht. Weitaus weniger Werke, als in den musiktheoretischen Schriften beispielhaft wiedergegeben wurden, erschienen zwischen 1750 und 1790 als selbstständige Werke im Druck. 1752 erschien die Kunst der Fuge als Neuausgabe nach der Originalausgabe von 1751, die durch mehrere Herausgeber – Johann Friedrich Agricola, Johann Christoph Altnickol und Carl Philipp Emanuel Bach – in Leipzig zum Druck befördert wurde.90 1751 war der Aufruf zur Subskription für die Erstausgabe mit einem von C. P. E. Bach vorangestelltem Avertissement erfolgt.91 J. S. Bach hatte die Drucklegung zu seinen Lebzeiten selbst begonnen, zum Zeitpunkt seines Todes war allerdings erst ein Teil des Werkes fertig gestochen.92 Die Herausgeber der Originalausgabe unterließen editorische Eingriffe und beließen das Autograph als Fragment, versuchten aber durch Abdrucken des Chorals Wenn wir in höchsten Nöten sein die Unfertigkeit und den Torsocharakter des Werkes abzumildern.93 Bemerkenswert ist, dass der Impetus des Unvollendeten, zu diesem Zeitpunkt der Rezeption, ein Jahr nach dem Tod Bachs, als etwa Defizitäres, dem Werk Abbruch Tuendes gedeutet wurde. Die Unvollständigkeit, in der Bach die Kunst der Fuge hinterlassen hatte, sollte überdeckt und abgemildert werden. Diese Einschätzung sollte sich im Laufe der ersten Jahrzehnte wandeln und sorgte in späteren Veröffentlichungen für eine Verklärung des Werkes als das letzte Werk und für eine Beurteilung als „krönender Abschluss einer imposanten Reihe monothematischer Kompositionen“.94 Das Pendant zu den polyphon ausgerichteten musiktheoretischen Schriften stellen die 1765 und 1769 in zwei Bänden gedruckten vierstimmigen Choräle von J. S. Bach dar. Die Drucklegung dieser Choräle spiegelt anschaulich die verschiedenen Ebenen der Verlagskorrespondenz und die Funktion wider, die dem Verlag Birnstiel einerseits und C. P. E. Bach andererseits zukam. C. P. E. Bach übernahm –
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leitung zum Clavierspielen (1755) und Handbuch bey dem Generalbasse (1758). Polyphone Klavierwerke, wie das Wohltemperierte Klavier, die Kunst der Fuge und das Musikalische Opfer stellen den größten Anteil dieser abgedruckten Bachwerke dar. Vgl. Beißwenger, Zwischen 1750 und 1850, S. 107. Texte dieser Art wurden als Quellen auch im Kapitel Bach-Rezeption I: Bach reflektieren (Teil II) diskutiert. Vgl. Christoph Wolff, Zur Chronologie und Kompositionsgeschichte von Bachs Kunst der Fuge, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 25 (1983), S. 130–142, hier S. 130. Ankündigung dazu in „Critische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit“, für nähere Ausführungen siehe: Thomas Wilhelmi, Carl Philipp Emanuel Bachs „Avertissement“ über den Druck der Kunst der Fuge, in: BJ 78 (1992), S. 101–105. Zu einer Ergebniszusammenführung der Erforschung des Erstdrucks und Bachs Mitwirkung daran, siehe: Friedrich Sprondel, Das rätselhafte Spätwerk. Musikalisches Opfer, Kunst der Fuge, Kanons, in: Konrad Küster (Hg.), Bach-Handbuch, Kassel 1999, S. 937–975, hier besonders S. 966 ff. Hierzu ergänzten sie folgende Erklärung: „[…]; man hat dahero die Freunde seiner Muse durch Mittheilung des am Ende beygefügten vierstimmigen ausgearbeiteten Kirchenchorals, den der selige Mann in seiner Blindheit einem seiner Freunde aus dem Stegereif in die Feder dictiret hat, schadlos halten wollen.“ (Dok III, Nr. 645). Christoph Wolff, Johann Sebastian Bach, Frankfurt am Main 42011, S. 478.
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nachdem er erst spät in den Drucklegungsprozess einbezogen worden war – die Rolle eines Autorisators,95 schrieb für die Choralausgabe das Vorwort und legte eine ausführliche Druckfehlerübersicht an.96 C. P. E. Bach hatte allerdings selbst eine Sammlung von Chorälen angelegt und plante eine eigene Ausgabe gemeinsam mit J. Ph. Kirnberger.97 Nach Kirnbergers Tod 1783 übernahm der Bach-Sohn weitere Vertragsverhandlungen, bis dann 1787 die separate, von ihm zusammengestellte Choralsammlung in vier Bänden erschien. Die Ankündigung des zweiten Bandes dieser Ausgabe wird bei Johann Friedrich Reichardt in seinem Musikalischen Kunstmagazin mit fulminanten Worten angekündigt, die denen von Rellstab, die er drei Jahre später im Subskriptionsaufruf des Wohltemperierten Klaviers wählt, in nichts nachstehen.98 Hat je ein Werk die ernstlichste Unterstützung deutscher Kunstfreunde verdient, so ist dieses: der Inhalt: Choräle; höchstes Werk deutscher Kunst; der harmonische Bearbeiter: Johann Sebastian Bach, größter Harmoniker aller Zeiten und Völker.99
Rellstab, er ist 1773 Schüler Kirnbergers gewesen100 und gehört damit der Enkelschülergeneration Bachs an, war eine wichtige Figur im Berliner Musikaliengeschäft. Er gab regelmäßig „Sortimentskataloge“ heraus101 und trat als Verleger seiner gedruckten Werke und auch als Verkäufer von Bach-Handschriften hervor. Diese waren nicht vorrätig, sondern wurden – so Rellstab – „allemal erst auf vorhergegangene Bestellung und Bezahlung copirt“.102 95
Die Funktion eines Zeugen, die Gesa Finke überzeugend als Deuter und Autorisator des Werks gegenüber Verlegern definiert und der oft dem Kreis der direkten Nachfahren entstammt, nimmt Carl Philipp Emanuel Bach ein. Allerdings sind seine Bemühungen, den Nachlass seines Vaters betreffend, nicht vergleichbar mit denen, die Constanze Mozart in Bezug auf Wolfgang Amadeus Mozarts Nachlass unternimmt. Im Fall der Druckausgabe der vierstimmigen Choräle übernimmt er die Funktion des Zeugen, indem er sich für die korrekte, originalgetreue Druckwiedergabe einsetzt. Eine Gesamtausgabe zu initiieren, entsprach nicht seinem Interesse. Vgl. Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart, S. 72 ff. 96 Vgl. Leisinger, „Das Erste und Bleibendste …“, S. 74. Die Ausgabe des zweiten Teils von 1769 erfolgte erneut ohne Mitsprache von Carl Philipp Emanuel Bach, sodass er eine große Kritikschrift über diese Ausgabe in den „Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten“ veröffentlichte, siehe Dok III, Nr. 753. 97 Siehe den entsprechenden Brief in Dok III, Nr. 754. 98 Vgl. Wolff, Bachs vierstimmige Choräle, S. 257. 99 Dok III, Nr. 853. 100 Siehe Dok III, Nr. 955. 101 Das sind Verzeichnisse, die darüber Auskunft geben, welcher Bestand an gedruckten und geschriebenen Musikalien bei ihm im Verlag erworben werden konnten. 102 Supplement 5 (von 1793) zum „Vollständigen Verzeichniß aller gedruckten, gestochenen u. geschriebenen Musikalien wie auch musikalischen Instrumenten welche zu Berlin beym Musik- und Instrumentenhändler J. C. F. Rellstab, in der Jägerstraße zwischen der Charlottenund Friedrichstraße wohnhaft, zu haben sind“ Berlin, September 1790, in: Dok. III, Nr. 956. Im Druck konnten von ihm die beiden Teile der vierstimmigen Choräle, die Kunst der Fuge und eine unspezifische Sammlung von Sonaten, Capricen, Fugen und Preludien fürs Clavier allein erworben werden. Unter den handschriftlichen Musikalien waren nicht genauer zu identifizierende Orgelstücke, eine Ausgabe der Kunst der Fuge, „auf zwey Systemen zum Orgel und Clavierspielen geschrieben“ und mehrere Klavierwerke. Vgl. ebd.
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Seinen Aufruf zur Subskription der Drucklegung des Wohltemperierten Klaviers kündigt er in der Vorrede zur Druckausgabe der Orgelsonaten C. P. E. Bachs an: Diese Werke, das Erste und Bleibendste was die deutsche Nation als Musickkunstwerk aufzuzeigen hat, gehen in fehlerhaften Copien, die wenn der Copist nur irgend Salz und Brot dabey haben will, nicht unter 12 Thaler verkauft werden können, unter den Clavier- und Orgelspielern umher. Jemehr Abschriften, jemehr Fehler schleichen sich ein, man wagt sich nicht manches wirklich falsche zu corrigieren, weil Bachs durchgehende und Wechselnoten selbst Kennern die gewisse Entscheidung der Richtigkeit schwer machen. Wäre es nun nicht des Wunsches werth diese Werke richtig gedruckt und zum halben Preis gegen die jetzt in Abschrift herumgehende erhalten zu können?103
Dieser Aufruf verdeutlicht Rellstabs verlegerisches Interesse, das er mit der Druckausgabe verband: Das Versprechen einer korrekten, fehlerfreien Druckausgabe steht selbstverständlich in enger Abhängigkeit vom finanziellen Nutzen, der durch solch eine Druckausgabe für Käufer und Verkäufer entstehen würde. Hier wird die eingangs erwähnte Wechselwirkung zwischen handschriftlichem und gedrucktem Überlieferungsweg deutlich. Aufgrund der handschriftlichen Verbreitung des Wohltemperierten Klaviers war das Interesse an einer kritischen Druckausgabe nicht groß genug, so dass sein Vorhaben scheiterte.104 Diese gescheiterte Initiierung einer kritischen Ausgabe verdeutlicht, dass es mehr als nur einer Einzelperson, etwa eines Verlegers bedurfte, die Distribution eines Werkes voranzubringen. Wie im Folgenden die Untersuchungen zur innerhäuslichen familialen Musikpraxis zeigen werden, haben vor allem auch die Berliner Familien durch Aufträge, Subskription und Pränumeration und durch ihre je eigene Aufführungspraxis Absatz und Anfrage der Bach-Drucke und -Handschriften mitgesteuert. Zwischen 1790 und 1818 (zweite Phase) erschienen bachsche Werke kaum im Druck. Die Hintergründe waren vor allem politischer und damit zusammenhängend ökonomischer Art. Mit Beginn der napoleonischen Besatzung und aufgrund einer Vielzahl an Reglementierungen gerieten Verlage in finanzielle Schwierigkeiten. Diese innerstädtische Berliner Finanzkrise war ein Grund dafür, weshalb in anderen Städten das Verlegen gerade der Klavierwerke Bachs viel eher begann.105 In den 1820er Jahren (dritte Phase) stieg die Anzahl der Berliner Bach-Drucke bedeutend an. Der Fokus lag auf Bachs Vokalkompositionen, eine Entwicklung, die die Berliner Bach-Rezeption in besonderem Maße kennzeichnete. Das Engagement der Sing-Akademie, ihr Repertoire auch auf die Vokalwerke Johann Sebastian Bachs auszurichten, bildete die Ausgangslage für neue Werkausgaben. Georg Poelchau, seit 1813 als Bach-Sammler in Berlin lebend, gab zahlreiche Bach-Drucke
103 Dok III, Nr. 955. 104 Vgl. Leisinger, „Das Erste und Bleibendste …“, S. 78. Leisinger deutet diesen Aufruf zur Subskription, der anscheinend große Aufmerksamkeit erregte, als Beginn der Bach-Renaissance, daraufhin kam das Wohltemperierten Klavier bei Nägeli heraus, dann bei Hoffmeister & Kühnel in Leipzig, Simrock in Bonn und Imbault in Paris. 105 Hoffmeister & Kühnel (Leipzig, Wien) veröffentlichten 1801 das Wohltemperierte Klavier im ersten Band der Oeuvres complettes. In Berlin erschien es erst 1838 bei Riefenstahl.
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heraus, darunter 1818 die A-Dur Messe,106 zehn Jahre später die G-Dur Messe.107 Nach der Wiederaufführung der Matthäus-Passion im Jahr 1829 kam die Veröffentlichung des Vokalwerks verstärkt ins Rollen: 1830 erschien die Matthäus-Passion bei Schlesinger und bei Trautwein die Johannes-Passion. Marx gab bei Simrock in Bonn noch die h-Moll Messe und Sechs Kirchenkantaten heraus. Jährlich stieg nun die Anzahl an Drucken beständig an. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren Bachs Werke vollständig im Berliner Verlagswesen etabliert. Der Kreis der potenziellen Käuferinnen und Käufer – so lässt diese Übersicht erkennen – schien bis 1800 dem gedruckten Werk Bachs skeptisch zu begegnen. Deutliche Präferenz hatte die Handschrift, denn außer der Kunst der Fuge und den vierstimmigen Chorälen erschien in Berlin keine nennenswerte Ausgabe. Auch wenn die erwähnten politischen und ökonomischen Bedingungen in Berlin dazu beitrugen, dass das Verlagswesen erst verzögert den Markt eroberte, lagen Gründe für diese Entwicklung vor allem in der Musikpraxis selbst. Das Spielen aus handschriftlichen Noten, die aus der unmittelbaren Umgebung des engeren Bach-Kreises um die Bach-Söhne und Bach-Schüler bezogen wurden, ermöglichte eine authentischere musikalische Erfahrung als ein die Provenienz nur mittelbar verkörperndes Druckexemplar. Dies mag ein denkbarer Grund dafür gewesen sein, dass – so bezeugt Johann Gottlob Immanuel Breitkopf im Jahr 1770 – Musikliebhaber „nicht nach gestochenen und gedruckten Musikalien zu spielen sich gewöhnen, sondern öfters Abschriften theurer bezahlen, als diese haben wollen“.108 Während sich mit Blick auf die Bach-Drucke eine klare gattungsspezifische Tendenz nachvollziehen lässt, nämlich vom Klavierwerk zum Vokalwerk, ist eine ebensolche Entwicklung hinsichtlich der Präferenz einer Gattung im Bereich der Handschriften nicht zu erkennen. Am Beispiel der eingangs vorgestellten Kopisten zeichnet sich in der Gesamtschau ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Gattungen ab. Die Geschichte der handschriftlichen und gedruckten Überlieferung der bachschen Musikalien ist Abbild des Interesses derjenigen, die Bach praktizierten – wie nachfolgend untersucht wird. Es ist ein hinsichtlich sozialer und religiöser Herkunft heterogener Kreis an Musikakteurinnen und -akteuren.
106 Die Ausgabe dieser Messe wirkt wie ein direktes Resultat der Probenarbeit der Sing-Akademie, wo sie ab 1811 neben anderen Messen, Kantaten und Passionen geprobt wurde. Vgl. Beißwenger, Zwischen 1750 und 1850, S. 111. 107 Ebenfalls 1818 erschien bei J. D. Sander in Berlin unter dem Titel Die Heilige Cäcilie eine praktische Ausgabe mit Vokalwerken unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade, in der Bachs Motettensatz Sei Lob und Preis mit Ehren (BWV 28/2) abgedruckt wurde. Der Verlag Trautwein druckte 1825 Bachs Motette Singet dem Herrn ein neues Lied (BWV 225), 1827 die Englischen Suiten in zwei Bänden. 108 Oskar von Hase, Breitkopf & Härtel, Gedenkschrift und Arbeitsbericht. Bd. 1: 1542 bis 1827, Leipzig 1917, S. 91, zitiert in: Faulstich, Die Musikaliensammlung der Familie von Voß, S. 522.
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2.2 Der Hof Die Bedeutung der Musikpraxis am Hof ist für die frühe Bach-Rezeption in Berlin ambivalent. Einerseits ist die Rolle, die die Musik J. S. Bachs für die höfische Musikpraxis im Potsdamer Schloss einnahm, als marginal zu bezeichnen. Andererseits waren höfische Musikpraktiken und Musikakteure innerhalb der städtischen BachRezeption von wesentlicher Bedeutung. Hofmusiker arbeiteten als Lehrer in Häusern des kulturell ambitionierten Bürgertums, etablierten Bachs Kompositionen als Unterrichtswerke und trugen mit ihren teils sehr umfangreichen Musiksammlungen zur Verbreitung der bachschen Musik bei. Da sich viele dieser Hofmusiker nicht einem spezifischen Bach-Raum zuordnen lassen, sie aber für das Verständnis der Entstehung sämtlicher Praktiken und Räume relevant sind, werden im Folgenden diese Transferprozesse von höfischer Musikpraxis in außerhöfische Kontexte an einigen Beispielen vorgestellt (2.2.1). Darüber hinaus werden und wurden sie selbstverständlich in anderen Bach-Räumen, vor allem in der Kopierstube, im Saal und im Haushalt mitberücksichtigt. Dass die Musik Bachs aber sehr wohl in den Nebenhofhaltungen wie in dem Palais der Anna Amalia von Preußen (2.2.2) praktiziert wurde, wird im Anschluss am Beispiel ihrer umfangreichen Sammlung dargelegt. 2.2.1 Der Hofmusiker in außerhöfischen Kontexten Die außerhöfische Musikpraxis der Hofmusiker ist als Gegenreaktion zur höfischen Praxis und dem damit verbundenen Repertoire zu verstehen. Letzteres konnte sich je nach Besetzung des Königsstuhls erheblich unterscheiden. Das außerhöfische Verhalten der Hofmusiker bildet die Grundlage für die nachfolgenden Untersuchungen zur Rezeption J. S. Bachs. Auf verschiedenen Ebenen ist eine enge Durchmischung der höfischen Musiker mit denen der musikaffinen Berliner Gesellschaft zu verzeichnen. Angesichts der Bedeutungslosigkeit des Hofes als Aufführungsraum bachscher Musik könnte man annehmen, dass der Hof für die Bach-Rezeption vollkommen irrelevant sei. Dies ist allerdings nicht der Fall. Die höfische Tradition – externalisiert durch die von den Hofmusikern habitualisierten Praktiken – wurde in die Musikpraxis des städtischen Musiklebens übertragen, ohne dass dies das musikalische Repertoire besonders betroffen hätte. Vor allem die dort gepflegten Rituale, wie z. B. die reglementierte Aufführungssituation in Konzerten vor dem König oder das Sammelverhalten als Ausdruck politisch-kultureller Macht, waren Inhalt dieses Transfers. C. P. E. Bach, der zwischen 1739 und 1768 in Berlin lebte, arbeitete am Königshof als Hofcembalist. Er finanzierte seinen Lebensunterhalt allerdings auch durch das Unterrichten sogenannter Musikliebhaber, sowohl aus sogenannten bürgerlichen Kreisen als auch aus aristokratischen. Peter Wollny führt mehr als zehn Schüler Bachs auf, die selbst wiederum zentrale Funktionen in der Rezeption J. S. Bachs
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einnahmen.109 J. Fr. Agricola, späterer Gründer des Concert spirituelle, einer Berliner Musikgesellschaft, war C. P. E. Bachs Schüler und erhielt von ihm Einblick in die Notenbesitze aus dem väterlichen Leipziger Haus. Agricola selbst legte sich eine umfangreiche Sammlung an Bach-Handschriften an, die er möglicherweise in den Aufführungen seiner Musikgesellschaft spielte. J. Ph. Kirnberger, ebenfalls im Dienste des Königs als Lehrer der Königsschwester Anna Amalia von Preußen, verzeichnet mehr als zwanzig Schülerinnen und Schüler aus der Berliner Gesellschaft.110 Dazu zählt neben Moses Mendelssohn auch Bella Itzig, die älteste Schwester Sara Levys. Kirnberger legte ebenfalls eine umfangreiche Bach-Sammlung an und tradierte so und durch seine Lehre des reinen Satzes die Musik J. S. Bachs. Eine weitere Plattform für die Bach-Rezeptionspraxis stellt die Hofkapelle des Königsbruders im Rheinsberger Schloss dar.111 Bernhard Wessely und J. P. Salomon entstammten beide dieser Hofkapelle und für beide ist eine kompositorische Auseinandersetzung mit dem Werk Bachs verbürgt.112 In Sebaldts Liebhaberkonzert, einer frühen Konzertvereinigung, fungierten Joseph Benda und der Hoforganist Christian Friedrich Schale als künstlerische Leiter.113 Darüber hinaus traten sämtliche Hofmusiker in diesen frühen Konzertvereinigungen auf. Diese Durchmischung von höfischer Praxis und städtischem Raum war für die frühe Bach-Rezeption äußerst fruchtbar. Sie ist für das Verständnis der Entstehung sämtlicher innerstädtischer Bach-Räume unerlässlich. 2.2.2 Anna Amalia von Preußen Mit einem Bestand von 127 Bänden mit Werken J. S. Bachs stellt die Musikbibliothek der Prinzessin Anna Amalia von Preußen die größte Sammlung von bachschen Werken um 1750 in Berlin dar.114 J. N. Forkel bezeichnet Anna Amalia von Preußen 109 Peter Wollny, Carl Philipp Emanuel Bachs Berliner Schüler, in: Hans-Günter Ottenberg / Ulrich Leisinger (Hgg.), Carl Philipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandinavien. Bericht über das Internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Sɫubice – Frankfurt/Oder – Cottbus im Rahmen der 36. Frankfurter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musikbegegnungen „Ost-West“ Zielona Góra, Frankfurt/Oder 2005, S. 69–81, hier S. 72 f. 110 Ebd. 111 Vgl. Ulrike Liedtke (Hg.), Die Rheinsberger Hofkapelle von Friedrich II.: Musiker auf dem Weg zum Berliner „Capell-Bedienten“, Rheinsberg 22005. 112 Vgl. das Kapitel Der Haushalt (Teil III, Kap. 2.3). 113 Vgl. Johann-Wolfgang Schottländer (Hg.), Carl Friedrich Zelters Darstellungen seines Lebens (Schriften der Goethe-Gesellschaft 44), Weimar 1931, S. 109–110. 114 Dank der Forschungen von Eva Renate Wutta geb. Blechschmidt wurde die Bibliothek Anna Amalias vollständig katalogisiert. Siehe Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek (Musikbibliothek der Prinzessin Anna Amalia von Preußen 1723–1787). Historische Einordnung und Katalog mit Hinweisen auf die Schreiber der Handschriften, Diss. masch. FU Berlin 1963, einzusehen in der D-B [künftig zitiert als Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, Diss. masch.]. Ausschnitte daraus, einschließlich des Katalogs, wurden 1965 unter dem gleichen Titel gedruckt (= Berliner Studien zur Musikwissenschaft 8). Siehe ebenso Wutta, Quellen der Bach-Tradition.
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1783 als „wahre Kennerin von Musik“, die „sogar die [Werke] von [sic] alten Joh. Seb. Bach nicht nur kennt, sondern mit einer großen Begierde studirt hat […]“.115 Diese Untersuchungen nehmen neben Anna Amalias Bach-Kollektion, auch ihre Ausbildung und ihre künstlerischen Kompetenzen in den Blick. Ihre BachSammlung wird als Gegenstand einer Korrespondenz zwischen ihr und ihrem Lehrer Johann Philipp Kirnberger gedeutet. Abschließend geht es darum, die Funktion ihrer Sammlung für die frühe Bach-Rezeption zu umreißen. Künstlerische Kompetenz und Ausbildung Musik zu sammeln besaß in der Familie der Hohenzollern Tradition. Sowohl Anna Amalias Großmutter, die Königin Sophie Charlotte,116 als auch ihr Bruder Friedrich der Große und ihre Schwester Wilhelmine von Bayreuth brachten ihr musikalisches Interesse nicht nur durch Musizieren und Komponieren, sondern ebenso auch durch das Sammeln von Musikhandschriften und -drucken zum Ausdruck.117 Folgende Briefstelle macht deutlich, dass sie keine Mühen scheute, seltene Musikwerke aufzuspüren. So teilt sie ihrem Bruder Friedrich II. mit: […] J’ai faite ici après bien des recherches, une découverte magnifique d’Ancienne Musique qui date du 15ème Siécle, c’est tout ce que l’on peut voir de plus savant, de plus touchant, de plus correct et de mieux exprimé […] vous vous mocqueres mon cher frère de mon enthousiasme, mais la Musique a fait de tout temps ma passion […].118
Ein frühes Zeugnis, welches Auskunft über Anna Amalias Musikausbildung gibt, stellt ein Notenbuch dar, in dem für sie und ihre Schwester Luise-Ulrike verschiedene musikalische Übungen notiert wurden, vorwiegend Stücke für Violine und Klavier.119 Es umfasst die Jahre 1735 bis 1737. Unterricht erhielten sie vom Cellisten und Domorganisten Gottlieb Hayne.120 Dass ihr Bestreben eine Sammlung anzulegen schon in ihren Jugendjahren begann,121 dokumentieren die erhaltenen Briefe, die zwischen Anna Amalia und Friedrich dem Großen regelmäßig kursierten. In einem dieser Briefe aus dem Jahr 1737 bittet sie ihren Bruder um Noten.122
115 Johann Nikolaus Forkel, Musikalischer Almanach für Deutschland auf das Jahr 1783. Leipzig 1782, S. 140, zitiert in: Dok III, Nr. 872. 116 Vgl. Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 17. 117 Ebd., S. 51. Anna Amalia stellte Nachforschungen über den Verbleib der Musiksammlung ihrer Großmutter Sophie Charlotte an, die angeblich in die Königliche Bibliothek überführt wurde, dort aber nicht mehr aufzufinden war (ebd., S. 47). 118 „[…] nach vielem Suchen habe ich hier eine wundervolle Entdeckung gemacht. Ich habe ein Stück alte Musik aus dem 15. Jahrhundert gefunden, so kunstvoll, anrührend, untadelig und ausdrucksvoll, wie man es sich nur vorstellen kann […] Sie werden sich, teurer Bruder, über meine Begeisterung lustig machen, aber die Musik war schon immer meine ganze Leidenschaft […].“ (Brief Anna Amalias an Friedrich den Großen, Berlin 15. April 1775, zitiert in: Wutta, Quellen der Bach-Tradition, S. 53). 119 Vgl. ebd., S. 12. 120 Siehe Wutta, Quellen der Bach-Tradition, S. 47. 121 Vgl. Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, Diss. masch., S. 12, und Wutta, Quellen der BachTradition, S. 47. 122 Vgl. die Briefe vom 24. und 8. September 1738, die ebd. in Ausschnitten abgedruckt sind.
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Fundament ihrer Musikausübung ist das Orgelspiel. Ab 1755 ist sie im Besitz einer eigenen Orgel, deren Bau und Klangeinrichtung sie selbst betreute und von der sie genaue Vorstellungen hatte. In einem Brief an ihre Schwägerin Prinzessin Wilhelmine (Ehefrau von Prinz Heinrich in Rheinsberg) unterzeichnet sie – wie selbstverständlich – mit „Amelie Organiste“.123 Anna Amalia komponierte vereinzelt Kammermusik für Violine und Viola sowie für Flöte und Basso continuo. Vorwiegend aber blieb sie im vokalem Genre, vertonte Dichtungen z. B. von Gellert und Neander, sowie deutsche Mess- und Bibeltexte.124 Ihre kontrapunktischen Übungen und Skizzen spiegeln den Einfluss Kirnbergers. Ihr Interesse wurde maßgeblich beeinflusst durch den musiktheoretischen Unterricht, den sie durch Kirnberger erhielt. Er trat um 1754/55 in ihren Dienst und war bis zu seinem Tod ihr Berater und Lehrer. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis lässt sich auf mehreren Ebenen nachvollziehen. Ein Hauptaspekt bestand in der Lektüreempfehlung und -besprechung musikalischer Theoriewerke, die ihr Kirnberger zum Teil ins Deutsche übersetzte.125 Kirnberger korrigierte außerdem ihre satztechnischen Übungen126 und kann über seine Tätigkeit als Lehrer hinaus auch als Bibliothekar verstanden werden. Vielfache Etikettierungen, Beschriftungen und Korrekturen auf den Umschlägen der Musikalien stammen von seiner Hand.127 Diese Tatsache bewog Laurenz Lütteken dazu, die Art und Weise, wie Kirnberger die Bach-Sammlung Anna Amalias zusammenstellte, als wegweisend auch für den Bach-Kanon des 19. und 20. Jahrhunderts zu bezeichnen.128 In einer, dem Konvolut der Tripelfuge (BWV 1080,11) beigefügten Notiz Kirnbergers wird seine Didaktik am Beispiel der Werke Bachs verdeutlicht: Eine andere Art von Doppelfuge habe ich von J S Bach. Eine jede Fuge stellt eine Doppelfuge vor, wenn das Hauptthema ein Contrasubject hat, welches im doppelten Contrapunkt sich umkehren läßet, es geschehe in dem Contrap: der 8, 10, od.12 in dieser Fuge sind noch mehrere als nur ein Contrasubjekt. Welche es sind, und wie sie in Contrapunkten umgekehret sind, desgleichen wie die Gegenbewegungen, und wo zwey und mehrere Themata zusamen gebracht sind, wißen Königl Hoh. ohne meine Anzeige. Diese Fuge ist eine von denen, die Bach in den letzten Zeiten seines Lebens componirt hat, um bey der musicalischen Nachwelt unvergesslich zu bleiben.129
123 Brief von Anna Amalia an Prinzessin Wilhelmine o. J., zitiert in Blechschmidt, Die AmalienBibliothek, Diss. masch., S. 17. 124 Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 37. 125 Kirnberger übersetzte Abschnitte aus Stölzels Canon perpetuum. Anna Amalia beschäftigte sich mit Boethius und mit musikalischen Lehrwerken wie Johann Matthesons, Große GeneralBass-Schule. Hamburg 1700. Vgl. Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 21. 126 Vgl. D-Bim, Doc. original Brief 1–3, drei Briefe Anna Amalias an J. Ph. Kirnberger. 127 Vgl. Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 70. Vgl. z. B. die Kritik Kirnbergers an der Arbeit von Notenkopisten bzgl. des Eingangschores zu Bachs Kantate BWV 19. Die betreffende Kritik findet sich als Beilage von Am. B. 8/9. 128 Laurenz Lütteken, Zwischen Ohr und Verstand: Moses Mendelssohn, Johann Philipp Kirnberger und die Begründung des „reines Satzes“ in der Musik, in: Gerhard (Hg.), Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendelssohns, S. 135–164, hier S. 152. 129 Notiz Kirnbergers auf dem Band Am. B. 56, heutige Signatur: Mus.ep.Johann Philipp Kirnberger Varia 1, auch abgedruckt in Dok V, Nr. C 879a.
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Auswahl eines Beispiels, Vorstellung des Themas anhand des Exempels mit indirekter Aufgabenstellung und historischer Einordnung – nach diesem Schema unterrichtete Kirnberger seine Schülerin. Eine ähnliche Vorgehensweise – allerdings ohne Aufgabenstellung – ist auf einer Notiz übermittelt, in der Kirnberger der Prinzessin nähere Auskünfte über die Satztechnik der Messe BWV Anh. 167 und der Bach-Motette BWV 228 gibt.130 Dass Bach als Beispiel für Kontrapunktik genutzt wird, begründet Kirnberger selbst: sein Fugenschaffen mache ihn unvergesslich für die Nachwelt. Bach-Sammlung als Korrespondenz Anna Amalias Musiksammlung besteht aus zwei großen Teilen: Die von ihr selbst erworbenen Musikalien und die Bestände aus den Sammlungen der beiden Hofmusiker J. Ph. Kirnberger (1721–1783) und Christoph Schaffrath (1709–1763), die in ihrem Dienst gestanden haben.131 Testamentarisch ging ihre Sammlung an Büchern und Noten, sowie die Portraits von Kirnberger und J. S. Bach, an das Joachimsthalsche Gymnasium über, einer im Jahr 1607 gegründeten Fürstenschule. Das nach ihrem Tod erstellte Inventar nennt neben den Musikalien eine beachtliche Sammlung an Instrumenten, darunter zwei Orgeln, zwei Cembali, ein Fortepiano, ein „Clavier“, eine Gambe, drei Lauten und zwölf „Pulpete“.132 Carl Friedrich Zelter legte zwischen 1800 und 1802 einen Katalog der Sammlung an, eine vollständige Katalogisierung erfolgte durch Robert Eitner im Jahr 1884.133 1914 wurde das Joachimsthalsche Gymnasium nach Templin verlegt und nur durch das Eingreifen von Adolf von Hanrack wurde verhindert, dass Anna Amalias Sammlung dorthin gelangte. Stattdessen blieb sie als Leihgabe in der Königlichen Bibliothek, von der aus sie in den 1960er Jahren in die Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz überführt wurde.134
130 Notiz Kirnbergers auf Am. B. 17 und Am. B. 4a zitiert in: Dok III, Nr. 879. 131 Wutta, Quellen der Bach-Tradition, S. 21, geht davon aus, dass Anna Amalia nach dem Tod ihres Musiklehrers Johann Philipp Kirnberger im Jahr 1783 dessen Sammlung aufkaufte und damit indirekt auch diejenige Schaffraths, dessen Notenbestand 1763 von Kirnberger erworben worden war. Tobias Schwinger, Die Musikaliensammlung Thulemeier, S. 448 f. sieht den Erwerb der Musikalien Kirnbergers durch Anna Amalia weitaus differenzierter und zeigt auf, dass auch andere Personen seine Musikalien erworben haben, wie z. B. der Organist Johann Samuel Harson, in dessen Notenbestand Autographe Kirnbergers nachgewiesen werden können. 132 Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 54 f. 133 Robert Eitner, Katalog der Musikalien-Sammlung des Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin (Beilage zu den Monatsheften für Musikgeschichte 16), Berlin 1884. Siehe die Übersicht bei Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 60 f. Bevor Zelter ab 1800 den Bestand sichten konnte, wurde er nach dem Tod Anna Amalias unter Aufsicht des Direktoriums des Joachimsthalschen Gymnasiums gesichtet. Vgl. Dok III, Nr. 887. 134 Den Untersuchungen Wuttas haftet, was die Sammlungsgeschichte anbelangt, eine gewisse Vorläufigkeit an, da die Verfasserin aufgrund der politischen Verhältnisse im geteilten Deutschland keine weiteren Provenienzstudien betreiben konnte, sich 1989 letztmals zu diesem Thema äußerte und deshalb nicht den aktuellen Stand der Forschung wiedergeben konnte. Vgl. dazu ihre eigenen Bemerkungen in: Wutta, Quellen der Bach-Tradition.
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Ihre Bibliothek besteht aus 600 Nummern Musikalien und 3000 Bänden Büchern.135 127 Bände mit Werken J. S. Bachs sind in der Musiksammlung übermittelt.136 Der größere Teil der Bach-Bestände – 72 Bände – in der Sammlung Anna Amalias stammte aus der Sammlung Kirnbergers (und Schaffraths). Anna Amalia besaß selbst 55 Bände.137 Auch hinsichtlich des qualitativen Werts der Sammlung besteht ein deutliches hierarchisches Gefälle zugunsten der Anteile aus dem Kirnberger-Nachlass. Kriterien für die Qualität der gesammelten Bach-Werke sind die Anzahl der Autographe und Drucke und die Anzahl der Schreiber aus dem engeren Wirkungskreis J. S. Bachs. Die beiden Kostbarkeiten der Sammlung, die Autographe der Pfingstkantate O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe (BWV 34) und der Brandenburgischen Konzerte, als auch die meisten Bach-Drucke stammen aus dem vormaligen Besitz Kirnbergers.138 Hinsichtlich der Authentizität von Bach-Abschriften stellen diejenigen, deren Schreiber und Entstehungskontext identifiziert werden können, gegenüber denen, deren Schreiber nicht zu identifizieren sind, aus heutiger Sicht einen höheren Wert dar. Die Bach-Schüler J. Fr. Agricola, J. Chr. Altnikol, Chr. Nichelmann, Chr. G. Meißner und J. Chr. Köpping tauchen am häufigsten unter den identifizierten Schreibern auf und ihre Abschriften stammen bis auf zwei Ausnahmen alle aus dem Besitz Kirnbergers.139 Mehrere Faktoren machen die Bach-Sammlung Anna Amalias zu einem Dokument der Korrespondenz zwischen Kirnberger und Anna Amalia: Bach diente in Kirnbergers Unterricht, den er Anna Amalia erteilte (und für Kirnbergers Musiktheorie generell140), als Gewährsmann. Zahlreiche handschriftliche Zusätze aus der Hand Kirnbergers und Eintragungen in den Notentext (Fingersätze o. ä.) dokumentieren, dass die Werke Bachs Gegenstand des Unterrichts waren. Sie belegen außerdem die ähnliche Sammelmotivation Kirnbergers und Anna Amalias, nämlich bachsche Werke auch aus Gründen des musiktheoretischen Studiums anzuschaffen.141 Die gemeinsame Arbeit am Ausbau der Bach-Sammlung ist Gegenstand vielfältiger Korrespondenzen, die primär auf der Ebene des Unterrichts ausgetragen 135 Vgl. Eva Renate Wutta, Zur Allgemeinbibliothek der Prinzessin Anna Amalia von Preußens (1723–1787), jüngste Schwester Friedrich des Großen, in: Paul Mai (Hg.), Im Dienst der Quellen zur Musik. Festschrift Gertraut Haberkamp zum 65. Geburtstag, Tutzing 2002, S. 57–62, hier S. 57. 136 Ein Band umfasst entweder eine Komposition (eine Kantate, eine Motette, ein Präludium- und Fugen-Paar), eine Werkgruppe als Äquivalent zur Werkbezeichnung Bachs (Wohltemperiertes Klavier usw.) oder eine Werkgruppe, die Werke gleicher Gattung beinhaltet, unabhängig von der ursprünglichen Gruppenzugehörigkeit. Siehe Wutta, Quellen der Bach-Tradition, S. 35. 137 Vgl. ebd. 138 Wilhelm Friedemann Bach war der Vorbesitzer der Autographen der Bach-Kantate und der Brandenburgischen Konzerte. Vgl. z. B. Wollny, Abschriften und Autographe, S. 53. 139 Vgl. Ruth Engelhardt, Untersuchungen über Einflüsse Johann Sebastian Bachs auf das theoretische und praktische Wirken seines Schülers Johann Philipp Kirnberger, Diss. masch., Erlangen/Nürnberg 1974, S. 200 ff., und Wutta, Quellen der Bach-Tradition, S. 32 f. 140 Zur Verwendung seiner Bach-Sammlung als Beispiel in seinen Lehrwerken vgl. Engelhardt, Untersuchungen über Einflüsse Johann Sebastian Bachs, S. 200 ff., und Wutta, Quellen der Bach-Tradition, S. 209 f. 141 Vgl. Eintragungen in Am.B. 57/1, 57/2 und 548. Siehe dazu Engelhardt, Untersuchungen über Einflüsse Johann Sebastian Bachs, S. 203.
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werden. In einem Brief an Kirnberger, in dem Anna Amalia Bezug auf eine von ihr ausgeführte Kompositionsübung Bezug nimmt, stellt Bach in ihrer Argumentation ein Korrektiv dar. Hier geht es um satztechnische Freiheiten, die sie sich nach Ansicht Kirnbergers erlaubt habe: „S Bach und Verschiedene haben dergleichen Bocksprünge auch gethan; Niemand hat sie bemerket.“142 Rückblickend ist die Bach-Sammlung auch als Dokument einer Korrespondenz auf der Ebene der Materialbeschaffung zu bewerten. Oft befand sich der Druck im Nachlass von Kirnberger und die entsprechende Abschrift im Nachlass von Anna Amalia (z. B. Am.B. 113 bzw. 45 und Am.B. 80 bzw. 46/II). Im Falle der SoloPartiten für Violine (BWV 1001–1006) ist auf einem Billet von Anna Amalia an Kirnberger übermittelt, dass die Handschrift zum Abschreiben an Herrn Kühn ausgeliehen sei.143 Das ökonomische Kapital der Prinzessin verband sich mit dem sozialen Kapital und der Bach-Expertise Kirnbergers, der als Schüler J. S. Bachs und Musikerkollege der Bach-Söhne Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann eng mit dem Leipziger Wirkungskreis in Kontakt stand. Auch von Anna Amalia sind Impulse für das künstlerische Schaffen Kirnbergers ausgegangen. Kirnberger selbst betont den Einfluss Anna Amalias vor allem auf seine Tätigkeit als Schriftsteller. Sein Lehrwerk Die Kunst des reinen Satzes in der Musik wurde 1782 auf Anraten Anna Amalias veröffentlicht.144 Auch die Drucklegung seiner Haßlerschen Psalmen sollen im Auftrag Anna Amalias erfolgt sein.145 Ebenso empfiehlt sie ihm Kompositionen.146 Einfluss auf die Berliner Bach-Rezeption Die Bedeutung der Bach-Bestände aus dem Besitz Anna Amalias ist für die Berliner Bach-Rezeption immens. Sie sind zugleich Materialpool und materiales Verbreitungsmedium bzw. zugleich Speicher- und Funktionsgedächtnis.147 J. Ph. Kirnberger, C. Fr. Fasch und Carl Friedrich Zelter kopierten aus ihrer Sammlung Werke für den eigenen Gebrauch. Kirnberger für seine musiktheoretischen Studien und Veröffentlichungen, Fasch und Zelter für den Probenbetrieb in der Sing-Akademie. Aus der ursprünglichen Studier- und Lehrbibliothek Anna Amalias wurde so eine praktische Spielbibliothek. Anna Amalias Bach-Sammlung bildet eine zentrale Schaltstelle der frühen Bach-Rezeption. Werke von Bach konnten verbreitet und gespielt werden. Sie nimmt auch Einfluss auf die Wiener Bach-Rezeption und ist Pool eines Transfers von Musikmaterialien über Berlin hinaus. Gottfried van Swie142 Brief von Anna Amalia an J. Ph. Kirnberger, Berlin, o. D. (vor 1783), zitiert in Dok III, Nr. 878. 143 „S. Bach seine Violin Solos, hat Kühn zum abschreiben.“ (Brief von Anna Amalia an J. Ph. Kirnberger, Berlin, o. D. (vor 1783), zitiert in Dok III, Nr. 878, vgl. auch Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 86). Blechschmidt vermutet, dass es sich bei dem erwähnten Herrn Kühn um den Schreiber „Johann Sebastian Bach I“ handelte. 144 Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 43. 145 Ebd. 146 „[…] Ich schicke ihm eine kleine aufmunterung Duetten von Lotti welche er noch nicht kennt, sie sind schön des satzes wegen, hingegen ohne Declamation.“ (Brief von Anna Amalia an Kirnberger o. D., zitiert in Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 20, H. A.Rep.46.W.11b.). 147 Aleida Assmann, Art. „Archive und Bibliotheken“, in: Gudehus/Eichenberg/Welzer, Gedächtnis und Erinnerung, S. 165–170, hier S. 165.
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ten kopierte Werke Bachs aus ihrer Sammlung und brachte sie in seinem eigenen Salon in Wien zur Aufführung.148 Er hielt sich ab 1771 als österreichischer Gesandter in Berlin auf und ist Gast im Salon von Anna Amalia gewesen. Die Zusammenstellung von Anna Amalias Sammlung ist einzigartig in ihrer Fülle von Bach-Werken und ihrer Geschlossenheit. Dies dokumentiert auch das Testament Anna Amalias, in dem ein Verständnis des Sammelns nachvollziehbar wird, das erstmals Werken J. S. Bachs einen Wert als Denkmäler zuspricht. Explizit wird im Testament Anna Amalias auf die Exklusivität der Musikaliensammlung hingewiesen, die sich auch auf den Besitz von Autographen bezieht: „Unsere seltne Musicalien Sammlung von den grösten, ältesten und berühmtesten Meistern in der Tonkunst, welche Musicalien theils gedruckt, theils mit vielem Fleiß von original Schriften, sauber in Partitur abgeschrieben sind.“149 Dass J. S. Bach, dessen Werke den größten Anteil dieser Sammlung ausmachen, zu den erwähnten größten und ältesten Meistern gezählt wurde, ist zweifelsfrei anzunehmen. Der Absatz endet mit der Auflage an das Schuldirektorium, „für die saubere Verwahrung sämtlicher legirten Stücke, und dass nichts abhänden gebracht werde, Sorge zu tragen, weil besonders die Musicalien nicht wieder zu haben sind, und Wir selbige für unschätzbar achten.“150 Diese Anweisung dokumentiert, dass sie den Wert ihrer eigenen Sammlung zu Lebzeiten bereits erkannt hat und offenbart ein Geschichtsbewusstsein, das dem Sammeln, Aufbewahren und zur Verfügung Stellen von Notenmaterial große Bedeutung beimisst.151 Vor dem Hintergrund eines sich neu entwickelnden Geschichtsbewusstseins, liest sich Anna Amalias Verfügung als bewusster Beitrag zur Erinnerung eines kulturellen Materials. Ihre Sammlung wird mit dem Moment des Externalisierens (Auslagerung aus dem ursprünglichen privaten Kontext) auf den Weg gebracht, zu einem Archiv zu werden. Die Werke Bachs, die den Hauptteil der Sammlung bilden, erfahren damit zum ersten Mal die Transformation in ein Material, das Teil einer systematischen Ordnung eines Archives ist. Zwar war die Zugänglichkeit während der Lagerung im Joachimsthalschen Gymnasium limitiert. Vergleicht man sie aber mit königlichen Bibliotheken, die an Höfen angelegt wurden, erreicht Anna Amalias Notensammlung einen deutlich höheren Grad an Öffnung. Die Sammlung verlässt den höfischen Kontext und wird für Belange der innerstädtischen kulturellen Praxis Berlins durchlässig. Oft wird in der Forschung die Frage nach der Funktion einer Sammlung gestellt. So wird tendenziell scharf getrennt zwischen einer Sammlung als Studierbibliothek und einer Sammlung als Aufführungsfundus.152 Es ist allerdings nicht eindeutig, wie klar sich die Praxis des Aufführens von der des Studierens abhebt, vor allem mit Blick auf die Musikpraxis in Salons und semiöffentlichen Musikvereinigungen 148 Vgl. Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 88. 149 Vgl. ebd., S. 53. Dieser Auszug stammt aus der Testamentsfassung des Jahres 1786. 150 Testament Anna Amalia vom 3. Juli 1782, zitiert in Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 53. Anna Amalia hinterließ drei inhaltlich gleich lautende Testamente. 151 Auch die Herausgabe der Hasslerschen Psalmen erfolgte in der Absicht, diese nahezu unbekannten Werke für die Nachwelt zu erhalten. Vgl. Engelhardt, Untersuchungen über Einflüsse Johann Sebastian Bachs, S. 204. 152 Schwinger, Die Musikaliensammlung Thulemeier, S. 447.
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zwischen 1750 und 1800. Denn diese konstituierten sich geradezu um das Moment des Experimentierens, des Vermischens von Proben- und Aufführungscharakter. Das Studieren von Werken wird sich nicht allein auf tonloses Partitur-Lesen, sondern vielmehr auf das Partiturspiel am Tasteninstrument bezogen haben. Es ist daher fraglich, in wieweit die Trennung zwischen Studier- und Aufführungsbibliothek im Falle Anna Amalias sinnvoll ist. Mit Blick auf ihren musiktheoretischen Unterricht und ihre Kompositionsübungen ist eine Ausprägung als Studierbibliothek nicht zu übersehen. Ungeachtet der beiden vormals getrennten Sammlungen Kirnbergers und Anna Amalias lässt sich in der Gesamtheit der beiden Bach-Bestände feststellen, dass der Zweck ihrer Anschaffung im Studieren und weniger im praktischen Muszieren lag.153 Erst in der Verwendung durch Dritte (Fasch, Zelter u. a.) wandelte sich die Studier-Bibliothek in eine Bibliothek, die der praktischen Realisierung – im Sinne einer Probenarbeit – der Werke diente. In einem Fall (Triosonate für Violine, Traversflöte und B. c., BWV 10798, 8/9) ist Stimmenmaterial vorhanden, allerdings nur als Kupferstich, sodass gerade hier nicht die Praktikabilität, sondern die Kostbarkeit des Materials im Vordergrund stand. Alle anderen Werke sind ausschließlich als Partitur bzw. die Solowerke als Einzelstimme vorhanden. Die im Band Am.B. 55 erhaltenen Fugen sind als mehrstimmiger Partitursatz kopiert worden, obwohl sie als Klaviersatz vorlagen. Hier ist der theoretische Zweck der Werke offensichtlich, da sich aus einem Partitursatz die Faktur einer Fuge zwar besser ablesen, sie sich aber nur mühsam aufführen lässt. Musikalische Veranstaltungen stellen einen weiteren Aspekt dar, der Anna Amalias Bedeutung für die frühe Bach-Rezeption in Berlin verdeutlicht. Die Aufführung von Musik im Rahmen des Salons von Anna Amalia ist anhand zweier Quellen dokumentiert: Zwei Notizen, die bei Blechschmidt in der ungekürzten Abgabefassung ihrer Doktorarbeit Erwähnung finden,154 geben Hinweise auf Gesellschaften dieser Art aus ihrer eigenen Hand.155 Bis zu fünfzig Konzerte wurden Zeitungsberichten zu Folge in den Nebenhofhaltungen insgesamt veranstaltet; dazu zählen auch die Veranstaltungen im Palais Anna Amalias.156 Ob diese, wie Peter Wollny es beur153 Vgl. ebd. 154 Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 46. Die erste Notiz „Blatt von der Hd. Anna Amalias“ wird im Katalog als Bestandteil von Band Am.B. 149 aufgeführt. Dieser Band beinhaltet 33 Ouvertüren zu sämtlichen Opern und Oratorien von Georg Friedrich Händel. Die zweite Notiz „Notizbl. Anna Amalias über eine Sonnabend-Gesellschaft“ ist im Band Am.B. 453/454 mit Hammerschmidts „Musikalischen Andachten“ erwähnt. Letztere konnte nicht mehr in dem vorhandenen Band nachgewiesen werden. Ob der Ort, also die erwähnten Bände mit Händels bzw. Hammerschmidts Werken, Auskunft darüber gibt, dass diese Werke an den entsprechenden Veranstaltungen erklangen, ist nicht eindeutig zu klären. 155 Allerdings konnte nur eine der erwähnten Notizen über eine Gesellschaft an einem „Dienstag abend“ im Archiv der Staatsbibliothek wiedergefunden werden. Folgende Gäste waren laut dieser Notiz u. a. geladen: Graf und Gräfin Schulenburg, Graf Kenof (?), Ehepaar von Haynitz, Graf Kamke und Graf Gollowkin, ein Herr Machow (?), Fräulein Knesebeck und ein Herr Blumendahl. Vgl. Intusblatt in Am.B. 149. 156 Schwinger, Die Musikaliensammlung Thulemeier, S. 445, erwähnt neben den Soireen bei Anna Amalia folgende Nebenhofhaltungen, in denen Konzerte veranstaltet wurden: Schloß des Prinzen Heinrichs in Rheinsberg, bei der Königinmutter Sophia Dorothea und bei der im Schloß
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teilt, eher als „privater Salon“157 oder als eine höfische Einrichtung zu bezeichnen sind, ist nicht abschließend zu klären. Einen ausschließlich privaten Charakter scheinen die musikalischen Soireen nicht gehabt zu haben. Berichten des Grafen Lehndorff zufolge, hat sie regelmäßige Maskeraden und Bälle veranstaltet,158 die im Rahmen eines Salons kaum denkbar erscheinen, sondern eher auf höfische Veranstaltungsformate verweisen. Welchen Stellenwert J. S. Bach in den musikalischen Soireen, die Anna Amalia veranstaltete, einnahm, ist aus der Retrospektive nicht zu rekonstruieren. Blechschmidt kommt zu dem Ergebnis, dass der Salon Anna Amalias „in der Verehrung Johann Sebastian Bachs und Händels den Sinn seines Wirkens für die Musik“159 sah. An anderer Stelle spricht Blechschmidt von dem „Berliner Bach-Zirkel in Amaliens Salon“.160 Aufführungen der Musik J. S. Bachs im Salon Anna Amalias sind zwar vorstellbar, nicht aber nachweisbar. Dass ihr Salon kommunikativer Knotenpunkt war zwischen den am Hof angestellten Bach-Schülern Agricola und Kirnberger und auch den Bach-Söhnen C. P. E. und W. F. Bach, ist nicht zu unterschätzen. Kirnberger sieht sich selbst in der Vermittlerrolle zwischen Anna Amalia und W. F. Bach. So schreibt er im Dezember 1779 an Forkel „[…] durch mich, bewog ich meine Gnädige Prinzessin, dass Höchst Dieselbe einige Mahl ihm [W. F. Bach] reichlich beschenkte […]“.161 Bereits im Jahr 1774 – also unmittelbar nach Ankunft W. F. Bachs in Berlin – setzte sie sich bei ihrem Bruder dafür ein, Wilhelm Friedemann als Nachfolger des 1773 verstorbenen Hofmusikers Quantz, in Erwägung zu ziehen.162 Als Dank für diese Unterstützung ist die Widmungskomposition W. F. Bachs im Jahr 1778 zu verstehen.163 Anna Amalia war ebenso eine wichtige Mäzenin Carl Philipp Emanuel Bachs. Anlässlich seines Weggangs aus Berlin verlieh sie ihm den Titel eines Kapellmeisters.164 Hintergrund ist die fortwährende Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Kirnberger und C. P. E. Bach. Zwischen Kirnberger, Anna Amalia und C. P. E. Bach entwickelte sich ein reger Austausch, auch nach dem Umzug Bachs. Das dokumentiert die erhaltende Korrespondenz im Kontext der Druckausgabe der vierstimmigen Choräle von J. S. Bach. Daraus geht hervor, dass Anna Amalia den
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Niederschönhausen residierenden Frau Friedrichs II., Elisabeth Christine. Vgl. auch Christoph Henzel, Quellentexte zur Berliner Musikgeschichte im 18. Jahrhundert (Taschenbücher zur Musikwissenschaft 135), Wilhelmshaven 1999, Dok. 33, und den Kommentar S. 103–104. Vgl. Wollny, Ein „musikalischer Veteran Berlins“, S. 81. Ernst Ahasverus Heinrich Graf Lehndorff, Die Tagebücher des Grafen Lehndorff. Die geheimen Aufzeichnungen des Kammerherrn der Königin Elisabeth Christine, hg. von Wieland Giebel, Berlin 2011, Eintrag zu 1755 auch zitiert in: Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 26. Ebd., S. 46. Ebd. Brief Kirnbergers an Forkel, Berlin, Ende Dezember 1779, abgedruckt in: Dok III, Nr. 841, wie auch in AMZ Jg. VII (1872), S. 441 f. Brief von Anna Amalia an Friedrich II., vom 24. März 1774, zitiert in Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 33. Wilhelm Friedemann Bach widmet ihr die Acht Fugen (FK 31, AmB. 463). C. P. E. Bach führt den Titel eines „Königl. Preuß. Cammer-Musikus“ bereits auf dem Titelblatt seiner Schrift, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen mit Exempeln und achtzehn Probe-Stücken in sechs Sonaten, Berlin 1753. Vgl. auch Dok III, Nr. 654K.
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Ankauf der vierstimmigen Choräle aus dem Besitz C. P. E. Bachs finanziert hatte.165 Auch hatte C. P. E. Bach hinsichtlich der Beschaffung von Notenmaterial eine bedeutende Funktion.166 C. P. E. Bach vermittelte Anna Amalia über Kirnberger die Partitur der h-Moll Messe, damit diese für die Sammlung Anna Amalias kopiert werden konnte (Am.B. 3). C. P. E. Bach bedachte Anna Amalia mit Widmungskompositionen, u. a. mit seiner ersten Sammlung der Reprisen-Sonaten (Wq 50) und den Orgelsonaten (Wq 70).167 Der Salon Anna Amalias bleibt als Ort, an dem die Musik J. S. Bach erklungen sein könnte, abstrakt. Konkrete Facetten des Salons ergeben sich durch das Einwirken zahlreicher Bach-Schüler und -Söhne hinsichtlich seiner Funktion als ein kommunikatives Zentrum der Bach-Rezeption. Weiter ist ihr Salon als Plattform zu verstehen, mittels derer ihre Bach-Sammlung überhaupt erst an Relevanz gewinnt, im übertragenen Sinn „begehbar“ wird. Am Beispiel Gottfried van Swietens wurde deutlich, dass ihr Salon als Türöffner für ihre Sammlung fungiert hat. Vergleicht man den Salon Anna Amalias mit dem Musikleben an anderen Nebenhofhaltungen, z. B. mit dem von Prinz Heinrich in Rheinsberg oder dem von Wilhelmine von Bayreuth, so wird Anna Amalias Präferenz der bachschen Musik als ihr spezielles Profil und als Alleinstellungsmerkmal deutlich. Dass sich ihr Palais zu einem „städtischen Musenhof168“ entwickelte und sie zahlreiche musikalische Projekte als Mäzenin angeregt und finanziert hat, weist auf die erweiterten Bedingungen für die musikalische Bildung an Höfen generell hin, die „vor dem Wendepunkt des ‚gender‘-Systems im 18. Jahrhundert“, so resümiert Susanne Rode-Breymann, „vergleichsweise günstig“169 waren. Gleichzeitig kam der Musikund Kulturförderung der Musenhöfe als eines politischen Mediums eine immense 165 Vgl. den Brief von Johann Philipp Kirnberger an Breitkopf in Leipzig, Berlin, 19.6.1777, zitiert in: Dok III, Nr. 823. Vgl. auch ebd. Nr. 821 und 897. 166 Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek, S. 46. 167 Hinsichtlich der Überlieferung der Orgelsonaten von Carl Philipp Emanuel Bach vgl. Darrell M. Berg, Die Orgelsonaten Carl Philipp Emanuel Bachs, in: Hans-Günter Ottenberg (Hg.), Carl Philipp Emanuel Bach. Musik für Europa. Bericht über das Internationale Symposium vom 8. März bis 12. März 1994 im Rahmen der 29. Frankfurter Festtage der Musik an der Konzerthalle „Carl Philipp Emanuel Bach“ in Frankfurt (Oder), Frankfurt/Oder 1998, S. 245– 260. 168 Höfe, Nebenhofhaltungen oder Adelssitze an denen Musik, Kunst und Kultur besonders gefördert wurden, werden in der Literatur oft als Musenhöfe bezeichnet. Dabei stehen vor allem Herrscherinnen („Musen“) im Fokus, die mit Hilfe ihrer finanziellen und politischen Handlungsmöglichkeiten Künstler, Musiker und Literaten mäzenatisch unterstützten, anstellten und ihnen Aufträge erteilten. Bekanntlich bildet der Weimarer Musenhof unter der Fürstin Anna Amalia von Wolfenbüttel-Braunschweig ein typologisches Grundmodell dieses Musenhofes, der oftmals als Ort bedingungsloser Kunst- und Musikausübung im Blickpunkt von mythologisierenden Verklärungen und utopischen Projektionen stand. Zum Begriffs- und Deutungsverständnis vom „Musenhof“ siehe Reinhard Blänkner, Salons und Musenhöfe. Neuständische Geselligkeit in Berlin und in der Mark Brandenburg um 1800. Ein Forschungsumriss, in: Reinhard Blänkner / Wolfgang de Bruyn (Hgg.), Salons und Musenhöfe. Neuständische Geselligkeit in Berlin und in der Mark Brandenburg um 1800. Wehrhahn/Hannover 2009, S. 11–34, hier S. 11. 169 Susanne Rode-Breymann, „Allein ihr angenehmster zeit vertreib ist die music“. Musenhöfe: Zentren der Künste, Orte der Bildung, in: Matthias Kruse / Reinhard Schneider, Musikpädago-
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Macht zu. Diese Aspekte fügten sich für viele Herrscherinnen,170 so auch für Anna Amalia, zu einem wirkungsmächtigen kulturellen Handlungsfeld zusammen. „Solche Musenhöfe boten Frauen […] einen elitären Freiraum zu kulturellem Handeln und zur Entfaltung künstlerischer Begabung.“171 Hinsichtlich der Geselligkeitsform und der dort verkehrenden Gäste sind zwischen den Salons des Berliner Bürgertums und den Salons an den Nebenhofhaltungen („städtische Musenhöfe“) in Berlin um 1800 keine Unterschiede auszumachen. Sie differieren lediglich hinsichtlich „ihre[r] jeweils besonderen raumlogischen Mechanismen“.172 Salons, gelegen im Stadtkern Berlins, sind durch klare Termine („jour fixe“) und einer klaren Geschlechterordnung von Salonnières und Habitués geprägt. Im Fall Anna Amalias läge es nahe, ihre musikalischen Veranstaltungen unter dem Geselligkeitskonzept des Musenhofes zu beschreiben, da sie als Schwester des regierenden Königs einer Nebenhofhaltung vorstand und Musik, gemäß z. B. den Berichten des Grafen Lehndorff, eine Funktion im Rahmen des frühneuzeitlichen Verständnisses von Repräsentation erhielt. Auch kommt im Schüler-Lehrer-Verhältnis Kirnbergers zu Anna Amalia ihre Rolle als Königsschwester und ihr Selbstverständnis als musikalische Regentin zum Ausdruck (z. B. ehrt sie C. P. E. Bach mit dem Titel „Hofkapellmeister“). Andererseits gehörten zu ihren Gästen auch Musiker und Musikliebhaber, die mit denjenigen, die im Salon Sara Levy verkehrten, teilweise identisch sind (z. B. C. Fr. Zelter, W. F. Bach). Anna Amalias Status als unverheiratete Königsschwester entband sie und ihre Nebenhofhaltung in Berlin von den strikten Repräsentationspflichten am Hofe. Dies ist – möglicherweise – der Hintergrund für ihre ausgeprägte Sammel-, Studier- und Aufführungspraxis der bachschen Musik. Denn diese Unabhängigkeit ermöglichte einen hohen Grad an künstlerischer Innovation, die u. a. in ihren ausgeprägten, auf die „gelehrte Schreibart“ fokussierten Bach-Studien Ausdruck fand. Die Salons von Anna Amalia und Sara Levy ähneln sich hinsichtlich ihrer Rolle als Knotenpunkt für musikalische Transferprozesse der Werke J. S. Bachs nach Wien. Unter einer gendersensiblen Perspektive, einer Perspektive, die die kulturell artikulierten Geschlechtsunterschiede und deren Auswirkungen auf die sich historisch wandelnde Lebensgestaltung von Mann und Frau in den Bick nimmt, ergeben sich Parallelen zwischen Sara Levy und Anna Amalia hinsichtlich ihres sozialen Status’ und ihrer Bach-Rezeption. Bei Anna Amalia ist ihre Ledigkeit und bei Sara Levy ihre Witwenschaft (und bei beiden ihre Kinderlosigkeit) der Grund dafür, dass gesellschaftliche Geschlechterregeln nicht (so stark) griffen, die sonst ihren kulturellen Handlungsrahmen deutlich minimiert hätten.173
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gik als Aufgabe. Festschrift zum 65. Geburtstag von Siegmund Helms (Perspektiven zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft 29), Kassel 2003, S. 321–333, hier S. 325. Vgl. z. B. die Musenhöfe von Sophie Charlotte von Preußen, von Wilhelmine von Bayreuth und den von Anna Amalia von Weimar. Siehe dazu Rode-Breymann, „Allein ihr angenehmster zeit vertreib ist die music“, S. 321–333. Ebd., S. 326–327. Blänkner, Salons und Musenhöfe, S. 28. Hier sind wiederum Parallelen zur Erzherzogin Elisabeth von Österreich festzustellen, die wie Anna Amalia eine umfassende Musikaliensammlung anlegte und ebenfalls zur Äbtissin ernannt wurde. Siehe hierzu: Eybl, Die Opern- und Ariensammlung, S. 255–279.
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2.3 Der Haushalt Folgt man dem Hinweis Adolf Weissmanns aus dem Jahr 1911, fand in mehreren Häusern Berlins zu Beginn der 1770er Jahre eine rege Auseinandersetzung mit der Musik J. S. Bachs statt: Im Jahre 1771 ist Reichardt in Berlin und macht Kirnberger, dem berühmten Theoretiker, seine Aufwartung. Dieser spielt ihm auf seinem überaus rein gestimmten Klavier die Meisterwerke Johann Sebastian Bachs vor. In seinem Hause wie bei Marpurg, dessen Sohn sich bald zum trefflichen Violinspieler entwickeln wird, findet die Musik liebevolle Pflege. Auch im Itzig’schen Hause wird ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus getrieben. Diese Familie hält sich einen vortrefflichen Klavierlehrer gegen ein jährliches Gehalt. Und den genannten Häusern reiht sich das Nicolai’sche würdig an. Beim trefflichen Geiger Salomon, dem Konzertmeister der Kapelle des Prinzen Heinrich, lernt Reichardt die herrlichen Violinsonaten ohne Begleitung von Sebastian Bach kennen und schätzen.174
Weissmann spricht hier von einer Musikpraxis, die im familialen Rahmen stattfindet. Er erwähnt Personen die im heutigen Forschungsdiskurs als fest verankert gelten, wie z. B. J. P. Kirnberger und F. W. Marpurg. Hinzu kommen Familien, wie z. B. die Familie Itzig, die Familie Nicolai175 und die des Geigers J. P. Salomon, die bisher weniger bekannte Protagonisten der Bach-Rezeption darstellen. Alle eint aber das Kriterium der häuslichen Musikpraxis, der „liebevollen Pflege“, wie Weissmann sie bezeichnet. Bachs Werke erhalten in Weissmanns Bericht einen Stellenwert als Gegenstand von Musikunterricht und Musikaufführung, der eng verflochten scheint mit der häuslichen Musikpraxis. Nicht nur stellt der gesamte Abschnitt dar, welche Bach-Werke J. Fr. Reichardt während seiner Besuche in den verschiedenen Häusern kennengelernt hat, sondern der Abschnitt reflektiert auch den Modus der Musizierpraxis, wie Bachs Werke praktisch umgesetzt werden, wie z. B. durch das Engagement eines Klavierlehrers. Das Weissmann-Zitat soll Ausgangspunkt dafür sein, die häuslich-familiale Musikpraxis als einen Raum der Bach-Rezeption zu untersuchen. Fragen, die berücksichtigt werden, sind dabei u. a. welche Rezeptionspraktiken zum Einsatz kommen, ob diese im Kollektiv oder individuell stattfinden und welches Wissen dabei zum Tragen kommt. Der Haushalt wird als Handlungsraum sämtlicher häuslicher Musikpraktiken verstanden. Ihm kommt die Rolle zu, sowohl die Praktiken, aber vor allem die Akteurinnen und Akteure, die „Familie“ ausmachen, sichtbarzumachen. Angesichts der uneinheitlichen Quellenlage lassen sich nur in sehr unterschiedlichem Ausmaß die bei Weissmann aufgeführten Häuser hinsichtlich ihrer BachPraxis untersuchen. So sind die Musikpraxis bei J. Fr. Reichardt176 und Marpurg 174 Weissmann, Berlin als Musikstadt, S. 36/37. 175 Über eine rege Hausmusik im Hause Friedrich Nicolais ist bei Gudula Schütz nachzulesen. Allerdings konzentrierten sich die Hausmusiken auf die Aufführungen zeitgenössischer Komponisten wie Fasch, Reichardt und Hiller. Vgl. Gudula Schütz, Vor dem Richterstuhl der Kritik. Die Musik in Friedrich Nicolais „Allgemeiner deutscher Bibliothek“ (1765–1806), Tübingen 2007, S. 22. 176 Über die Musizierpraxis, wie sie im Haus der Familie Johann Friedrich (1752–1814) und Juliane Reichardts geb. Benda (1752–1783) stattgefunden haben mag und inwieweit die Werke
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betreffend kaum Quellen vorhanden und auch über die nicolaische177 gibt es keine Informationen, die auf eine Auseinandersetzung mit J. S. Bach in Form einer häuslich-familialen Praxis schließen lassen. Über das Weissmann-Zitat hinaus lassen sich anhand anderer Quellen weitere Familien und ihre Musikpraxis rekonstruieren, die im Folgenden untersucht werden. Das ist als erstes die Familie von Georg Ernst Stahl, die zeitlich gesehen eines der frühesten Zeugnisse für eine häusliche BachRezeptionspraxis darstellt (2.3.1). Darauf folgen die jüdischen Häuser der Familien Daniel und Mirjam Itzig (2.3.2), Wessely (2.3.3) und Salomon (2.3.4). Bachs Musik wurde in der nicht dem Hofadel zugehörigen aristokratischen Familie von Voß über zwei Generationen lang gesammelt, aufgeführt und war Gegenstand des Musikunterrichts (2.3.5). Den Abschluss bildet der Haushalt der Familie Abraham und Lea Mendelssohn Bartholdy, der zeitlich am weitesten in das 19. Jahrhundert ragt (2.3.6). 2.3.1 Familie Stahl Auf ein interessantes Beziehungsgeflecht zwischen der Bach-Familie und den Berliner Bürger-Häusern hat Michael Maul in seinen Forschungen über den Königlich Preußischen Hofrat und Leibarzt Georg Ernst Stahl (1713–1772) und dessen Beziehungen zur Familie Bach hingewiesen.178 Bemerkenswert ist die über zwei BachGenerationen geführte mäzenatische Verbindung, die sowohl von Seiten der BachSöhne durch verschiedene Widmungskompositionen,179 aber auch durch J. S. Bach selbst übermittelt ist. Bachs Kantate O holder Tag, erwünschte Zeit (BWV 210) konnte als Huldigungsmusik zur Hochzeitsfeier von Georg Ernst Stahl und seiner Ehefrau Johanna Elisabeth Schradern am 19. September 1741 identifiziert werden.180 Die Stimmensätze dieser Kantaten gehörten einst zum Musikalienbestand des Mediziners, wie aus dem Nachlassverzeichnis in einem Auktionskatalog her-
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Bachs darin Berücksichtigung fanden, ist aufgrund mangelnder Quellen weniges zu ermitteln. Über die Ausbildung ihrer Tochter, die spätere Sängerin, Komponistin und Gründerin der Hamburger Sing-Akademie Louise Reichardt (1779–1826) ist bekannt, dass sie ihre musikalischen Kenntnisse nicht durch ihre Eltern erhielt, sondern sich im Selbststudium beibrachte. Vgl. Nancy B. Reich, Louise Reichardt, in: Detlef Altenburg (Hg.), Ars Musica – Musica Scientia. Festschrift Heinrich Huschen zum 65. Geburtstag am 2. März 1980 (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte 126), Köln 1980, S. 369–377. Wie Gudula Schütz in ihrer Studie über Friedrich Nicolais „Allgemeine deutsche Bibliothek“ rekonstruiert, lag der Schwerpunkt des häuslichen Musizierens im Hause Nicolais auf der Vokalmusik, wobei vor allem das gemeinsame Singen vierstimmiger Choräle oder Lieder im Vordergrund stand. J. S. Bach erklang dort nicht. Vgl. Schütz, Vor dem Richterstuhl der Kritik, vor allem S. 16–23. Michael Maul, Neues über die Beziehungen zwischen den Familien Stahl und Bach, in: BJ 87 (2001), S. 7–21. Wilhelm Friedemann Bach widmete ihm seine erste im Druck erschienene Cembalo-Sonate (FK 3). In drei Werken Carl Philipp Emanuels ist ein Dank an den Gönner nachgewiesen: Das Charakterstück La Stahl (Wq 117/25), Der Zufriedene (Wq 199/10) und das Lied Bey dem Grabe des verstorbenen Mechanicus Hohlfeld (Wq 202/C/11). Maul, Neues über die Beziehungen.
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vorgeht.181 In der Sammlung Stahl sind an gedruckten Werken außerdem der erste Teil der Clavierübung (BWV 825–830) und das Musikalische Opfer (BWV 1079) vorhanden, sowie – handschriftlich – die fünfzehn Zweistimmigen Inventionen. C. P. E. Bach ist mit sämtlichen in Berlin erschienenen Klaviersonaten vertreten, Wilhelm Friedemann mit den Klaviersonaten FK3 und FK5.182 Zusätzlich zu der übermittelten Sammlung sind kaum Informationen über die Musikpraxis im Hause Stahl übermittelt. Zumindest aber geben die Stimmensätze zu BWV 210 Aufschluss darüber, dass diese Kantate zur Hochzeitsfeier im Jahr 1741 aufgeführt wurde, unter Mitwirkung des frisch aus Leipzig angereisten Bach-Schülers Agricola und von C. P. E. Bach.183 Trotz des eher kargen Ertrags an Informationen lassen sich zwischen der Musikpraxis im Hause Georg Ernst Stahls und der im Hause der Familie Itzig bzw. Levy einige Parallelen feststellen. C. P. E. Bach und W. F. Bach gehörten zum Kreis der Musiker, die sowohl durch G. E. Stahl als auch durch Sara Levy gefördert wurden. Die Anbindung zum Königshof ist ein zentraler Aspekt, sowohl bei Stahl als auch bei Levy, deren Vater königlicher Finanzentrepreneur war. Parallelen sind ebenfalls mit Blick auf die musikalische Präferenz für solistische Klavierliteratur von J. S. Bach und den beiden Bach-Söhnen festzustellen. Wie der Verkauf der Notensammlung im Jahr 1771 vermuten lässt, bricht die Beziehung zur Bach-Familie nach dem Tod von G. E. Stahl ab und damit auch eine – nicht näher zu bestimmende – Musikpraxis von bachschen Kompositionen. Damit richtet sich für die Jahre nach 1771 der Fokus auf die Musikpraxis der jüdischen Haushalte Berlins. 2.3.2 Familie Itzig Musik wurde da im reinsten, edelsten Sinn getrieben, Sebastian und Emanuel Bach mit einem Verständniß vorgetragen, wie sonst nirgends. Der beste Clavierlehrer wurde, wie noch andere treffliche Lehrer mit einer jährlichen Pension belohnt, damit die schönen, zahlreichen Kinder der Familie ganz nach Trieb und Gefallen jeden Unterricht in allen guten und wünschenswerthen Gegenständen nehmen konnten.184
Johann Friedrich Reichardt (1752–1814), seit 1775 Königlicher Hofkapellmeister, Gründer der Musikgesellschaft Concert spirituelle und Autor zahlreicher musikästhetischer Schriften, wohnte am Dönhofschen Platz im sogenannten Ranslebenschen Haus.185 Das itzigsche Palais in der Burgstraße 25 lag einen ca. zwanzigmi181 Der vollständige Titel lautet: „Verzeichniß | des| Naturalien=Cabinets,|der|Bibliothek,|Kupfer stiche und Musikalien, …| des seligen Hofraths und Doct. Med.| Herrn Georg Ernst Stahl …“, SBB, A. 24411, zitiert in: Maul, Neues über die Beziehungen, S. 11–12. 182 Vgl. ebd., S. 12–13. 183 Vgl. ebd., S. 19. 184 Johann Friedrich Reichardt. Sein Leben und seine musikalische Thätigkeit, dargestellt von H[ans] M[ichael] Schletterer, Augsburg 1865, S. 100. 185 Friedrich Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlicher Merkwuerdigkeiten und der umliegenden Gegend, Dritter Band, Berlin 1786, ND in: Ders., Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. 8,2: Historische Schriften I, Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Pots-
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nütigen Fußweg entfernt auf der anderen Seite der Spree. Reichardts Schilderung seines Eindrucks, den er aufgrund von Besuchen im Itzigschen Hause gewonnen hatte, enthält einige wichtige Hinweise auf die Musikpraxis im Haus von Daniel und Mirjam Itzig, den Eltern Sara Levys. Dabei bezieht er sich sowohl auf Musikaufführungen als auch auf Musikunterricht. Zwei Aspekte scheinen seinen Eindruck besonders geprägt zu haben: Die Interpretation der Werke J. S. und C. P. E. Bachs und der hohe finanzielle Aufwand um „treffliche Lehrer“ anzustellen. Johann Friedrich Reichardts Kenntnis von Werken und Aufführungspraxis sowohl der Werke J. S. als auch C. P. E. Bachs wird aufgrund seines Amtes und der Verwurzelung in der preußischen Hofkappelle unter Friedrich dem Großen überdurchschnittlich gewesen sein. Wie bereits erörtert,186 spielte sich ein Großteil der frühen Bach-Rezeption im Umkreis der Hofkapellmitglieder ab. Reichardts Einschätzung der Bach-Interpretation in der Itzig-Familie kann aufgrund seines personellen, beruflichen Umfelds ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit geschenkt werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass als Musikerinnen und Musiker bzw. Schülerinnen und Schüler, deren Bach-Interpretation Reichardt besonders hervorhebt, die drei Itzig-Töchter Zippora Wulff (später Cäcilie von Eskeles), Fanny von Arnstein187 und Sara Levy188 gemeint sind. Ebenso berichtet auch der Jenaer Moralphilosoph Justus Christian Hennings ausschließlich von der musikalischen Begabung der Töchter: „Itzigs Töchter erhöhen die Anmut ihrer Schönheit durch ihre Talente, besonders für Musik, und durch einen fein gebildeten Geist.“189 Außerdem spricht die Tatsache, dass während der Besuche Reichardts bei den Itzigs in den 1770er Jahren die andere Schwester Hanne Itzig verh. Fließ190 bereits verheiratet war und nicht mehr im elterlichen Haus wohnte, für den Schwesternkreis der dicht nacheinander geborenen Schwestern Fanny (1757), Zippora (1760) und Sara (1761). Letztere drei waren noch unverheiratet und lebten im elterlichen Haus. Bella Itzig verh. Salomon, die Mutter Lea Mendelssohn Bartholdys verließ spätestens im Jahr 1775 das Haus.191 Ist im Folgenden von der Familie Itzig die Rede, dann ist damit der Zeitabschnitt gemeint, an dem diese drei musikalisch am stärksten profilierten Töchter Fanny, Zippora und Sara noch im elterlichen Haus wohnten. Um die Bach-Rezeption der Itzigs greifbar machen zu können, bedarf es eines kurzen Seitenblicks auf die Musiklehre Kirnbergers, die jüdische Reformbewegung und auf das Erziehungskonzept Daniel und Mirjam Itzigs.
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dam, hg. von Philipp M. Mitchel, bearb. von Ingeborg Spriewald, Berlin u. a. 1995, S. 844. Im Norden des Dönhofschen Platzes lag die Leipziger Straße, im Osten die Jerusalemer Straße und im Süden die Krausenstraße. Vgl. das Kapitel Der Hofmusiker im außerhöfischen Kontext (Teil III, Kap. 2.2.1). Zippora Wulff und Fanny von Arnstein galten als talentierte Cembalistinnen, wie den nachfolgenden Untersuchungen entnommen werden kann. Über Sara Levys musikalische Ausbildung im Besonderen und ihr musikalisches Wirken siehe Kapitel Musikalischer Werdegang (Teil III, Kap. 3.1.4). Zitiert nach Wollny, „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach Kultus“, S. 22. Hannes Hochzeit fand am 8. Juni 1766 statt, vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 32. Bella heiratete am 2. Mai 1775, vgl. ebd., S. 48.
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Kirnbergers Musiklehre Woher rührt aber die von Reichardt zu Beginn der 1770er Jahre beschriebene Musikpraxis, in der Bach „im reinsten, edelsten“192 Sinne kultiviert wird? Worauf gründen die Ursprünge der Bach-Affinität der Familie Itzig, die gemeinsam mit anderen jüdischen Familien, u. a. den Familien Herz, Friedländer und Mendelssohn als erste Generation rechtlich privilegierter Juden bezeichnet werden kann? Die Schlüsselfigur ist Johann Philipp Kirnberger (um 1721–1783), der als Geiger der Kapelle von Prinz Heinrich in Rheinsberg angehörte und als Kompositionslehrer und Kapellmeister der Prinzessin Anna Amalia von Preußen wirkte. Sowohl Bella Itzig verh. Salomon, die ältere Schwester Sara Levys, als auch Moses Mendelssohn zählten zu seinem Schülerkreis.193 Kirnberger unterhielt enge Kontakte zu den jüdischen Familien Berlins, vor allem zu Moses Mendelssohn. Moses Mendelssohn war eine zentrale Figur der jüdischen Aufklärung Mitte des 18. Jahrhunderts in Berlin. Seine Interpretation der jüdischen Religion als eines – so Anselm Gergard – „rationalistisch erklärbare[n] Triumph[es] der Vernunft“194 bewirkte sowohl innerhalb der jüdischen als auch der nicht-jüdischen Aufklärung ein rapides Umdenken der religiösen, sozialen und pädagogischen Strukturen des Judentums. Kirnberger und Mendelssohn, so wird im Folgenden konkretisiert, beeinflussten sich gegenseitig. Moses Mendelssohn hatte sich bereits 1755 in seinem Elften Brief Über die Empfindungen (1755) für die Kraft der Musik, als einer Vermittlerin kultureller Werte stark gemacht.195 Göttliche Tonkunst! du bist die einzige, die uns mit allen Arten von Vergnügen überrascht! Welche süße Verwirrung von Vollkommenheit, sinnlicher Lust und Schönheit! Die Nachahmungen der menschlichen Leidenschaften; die künstliche Verbindung zwischen widersinnigen Uebellauten: Quellen der Vollkommenheit! Die leichten Verhältnisse in den Schwingungen […] Quellen der Schönheit! Die mit allem Saiten harmonische Spannung der nervigsten Gefäße: eine Quelle der sinnlichen Lust!196
Mendelssohn verfolgte den pragmatischen Ansatz, „dass jede Erfahrung des Schönen sowohl den körperlichen als auch den seelischen Zustand vervollkommnet“ und dass Musik als die „‚göttliche Tonkunst‘ alle anderen Künste überragt und als 192 Johann Friedrich Reichardt. Sein Leben und seine musikalische Thätigkeit, dargestellt von H[ans] M[ichael] Schletterer, Augsburg 1865, S. 100. 193 Vgl. Werner, Mendelssohn. Leben und Werk, S. 26. 194 Anselm Gerhard, Die Bedeutung der jüdischen Minderheit für die Musikkultur der Berliner Aufklärung, in: Ders. (Hg.), Musik und Ästhetik, S. 1–26, hier S. 1. 195 Anselm Gerhard legt ausführlich dar, dass das Herausarbeiten der Bedeutung Moses Mendelssohns für die Berliner Musikästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts noch ein Forschungsdesiderat darstelle. Er hält aber hypothetisch fest, dass der Einfluss Mendelssohns auf die im 19. Jahrhundert von Eduard Hanslick als „absolute Musik“ bezeichnete Strömung keineswegs als zufällig gelten kann. Er macht vielmehr deutlich, dass die Protagonisten einer Theorie der „absoluten Musik“ rund um Wackenroder und Tieck dem Kreis um Mendelssohn zugehörten. Siehe ebd., S. 23–24. 196 Moses Mendelssohn, Über die Empfindungen, Berlin 1755, ND in: Moses Mendelssohns gesammelte Schriften, hgg. von Georg Benjamin Mendelssohn u. a., 7 Bde., Leipzig 1843–1845. Bd. 1, S. 107–190 (Zitat, S. 148). Siehe dazu Gerhard, Die Bedeutung der jüdischen Minderheit, S. 21.
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einzige alle drei Arten des Vergnügens einbringt: Vollkommenheit, sinnliche Lust und Schönheit“.197 Was sind die Zusammenhänge von Mendelssohns Musikästhetik und Kirnbergers Lehren? Mendelssohn war als Schüler Kirnbergers praktisch und theoretisch mit dessen Lehren vertraut. Zwischen Moses Mendelssohn und Kirnberger existierte sowohl auf künstlerischer als auch auf musiktheoretischer Ebene eine Verbindung. Kirnberger vertonte vermutlich als erster Komponist den 137. Psalm in der Übersetzung von Moses Mendelssohn,198 der wiederum großen Einfluss auf die Kirnbergersche Musikästhetik nahm.199 Johann Philipp Kirnberger befürwortete in seinen Schriften die Ästhetik des „reinen Satzes“, die er als prototypisch für das Werk J. S. Bachs interpretiert. Kirnbergers Lehre vom reinen Satz war ein ästhetisches Programm, für das der vierstimmige Choralsatz J. S. Bachs als Musterfall in Anspruch genommen wurde. Seine Lehre war kein Ausdruck einer religiös inspirierten Bachverehrung. Denn im Mittelpunkt stand nicht der Text, sondern das Prinzip und die Regelhaftigkeit des reinen Satzes.200 Kirnbergers Ästhetik war maßgeblich durch die Ideen Moses Mendelssohns mitbestimmt. Hier ist vor allem Mendelssohns Idee der „Einheit in der Mannigfaltigkeit“201 zu nennen, die geradezu als Leitmotiv und Korrektiv in Kirnbergers musiktheoretischen und kompositorischen Schaffen bezeichnet werden kann, egal „ob Mannigfaltigkeit der Tonarten, der Modulationen, der Harmonie, der Rhythmen oder der Stimmen“.202 Der vierstimmige Bach-Choralsatz galt Kirnberger als Prototyp, da hier „die größtmögliche Mannigfaltigkeit auf kleinstmöglichem Raum, also ein Maximum an Fülle in einem Minimum an Zeit“203 umgesetzt würde. Die Idee der Einheit in der Mannigfaltigkeit, die bei Mendelssohn prominent auftritt („Das Maximum der Ideen entspricht der Mannigfaltigkeit, und das Minimum der Zeit der Einheit.“204), findet sich auch bei Kirnberger. Kirnbergers Huldigung der bachschen Kontrapunktik steht dieser Idee nahe: 197 Vgl. Yael Sela-Teichler, „Dem verewigten Moses Mendelssohn zu Ehren“. Musik, Akkulturation und jüdische Aufklärung zwischen Berlin und Königsberg in den 1780er Jahren, in: Mendelssohn-Studien 18 (2013), S. 105–139, hier S. 129. 198 Kirnberger besaß Mendelssohns Psalmenübersetzung bereits zehn Jahre bevor ein Exemplar davon veröffentlicht wurde. Vgl. Lütteken, Zwischen Ohr und Verstand, S. 153. 199 Vgl. ebd., S. 138. 200 Lütteken erläutert, dass sowohl für Kirnberger als auch für Mendelssohn die Textgebundenheit der Musik zwar von Bedeutung war, sie es jedoch für entscheidender erachteten, dass „der reine Satz problemlos auch ohne Text denkbar ist“, ebd., S. 162. 201 Unter „Einheit der Mannigfaltigkeit“ fasst Lütteken, ebd., S. 145, Moses Mendelssohns Postulat zusammen, dass in der Musik in einer Art von ausgewogener Spannung die Vermischung von drei Arten des Vergnügens stattfindet. „Jede Beschäftigung mit Musik hat bei dieser Dreiteilung des Vergnügens anzusetzen. ‚Einheit in der Mannigfaltigkeit‘, also Schönheit, gepaart mit verständlicher Vollkommenheit und sinnlicher Lust: drei Quellen, die es schon in den Grundlagen zu berücksichtigen gilt.“ 202 Ebd., S. 150. 203 Ebd., S. 151. 204 Moses Mendelssohn, Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften, in: Ders., Philosophische Schriften, Berlin 1761, zitiert in: Lütteken, Zwischen Ohr und Verstand, S. 147.
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Es ist vielleicht in der ganzen Wissenschaft des Satzes nichts schweereres [sic] als dieses, dass jede der vier Stimmen nicht nur ihren eigenen Fließsenden Gesang habe, sondern, dass auch in allen einerley Charakter beybehalten werde, damit aus ihrer Vereinigung ein einziges vollkommenes Ganzes entstehe. Hierinn [sic] hat der verstorbene Capellmeister Bach in Leipzig vielleicht alle Componisten der Welt übertroffen; deswegen sowol seine Choräle, als seine grössern Sachen allen Componisten, als die besten Muster zum fleißigen Studio, höchstens zu empfehlen sind.205
Mendelssohn tritt für das Bildungspotenzial von Musik ein, welches er vor allem in der instrumentalen Musik verwirklicht sieht. Der Bildungsgedanke war zentrale Leitidee seiner jüdischen Reformbewegung. Die Überzeugung, dass Musik affektive Kräfte besitze, die den Einzelnen und die Gesellschaft anrühren, bilden und erziehen könne – stellte nicht nur ein Gedanke der jüdischen, sondern auch der christlichen Aufklärung dar.206 Im Zuge der Verbreitung des Musikschrifttums in Berlin207 und vor der Folie der deutschen Aufklärung etablierte sich eine neue Musikästhetik, die das „Wecken menschlicher und moralischer Empfindungen als vorrangiges Ziel der Musik“208 verstand. „Dank ihres reinigenden Effektes auf die Empfindungen wurde Musik als erzieherisches Mittel zur moralischen Erbauung, gesellschaftlicher Verbesserung und zur Herstellung von Bildung und Sittlichkeit des Einzelnen und der ganzen Gesellschaft verehrt.“209 Um 1800 findet das Bestreben musikalische Bildung als Vehikel für individuelle und nationale Bildung zu verstehen auch in konkreten institutionellen Einrichtungen, vor allem durch Carl Friedrich Zelter, seinen Ausdruck. Aufgrund der an vernunftmäßigen Prinzipien orientierten Regeln konnten sich musikkulturell aufgeschlossene und gebildete Juden gut an die Lehren Kirnbergers anschließen. Stellte doch gerade das Paradigma der Rationalität und der Erklärbarkeit des jüdischen Glaubens einen zentralen Aspekt in Moses Mendelssohns Reformbestrebungen dar. Diese Prämissen spiegelten sich wider in den musiktheoretischen Lehren Kirnbergers (Nachvollziehbarkeit und Durchschaubarkeit des Materials) und fokussierten sich – da von Kirnberger besonders protegiert – auf J. S. Bach.210 Dieser Brückenschlag ist zentral um zu verstehen, weshalb gerade in jüdischen Familien eine intensive Musikpraxis bachscher Werke entstanden ist.211
205 Johann Philipp Kirnberger, Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, 2 Bde., Königsberg/ Berlin 1776–1779, ND Hildesheim 1968, Zitat abgedruckt in Dok III, S. 218 f. 206 Vgl. dazu z. B. das Bildungskonzept in den Schriften Wilhelm von Humboldts, aber auch die Reformbewegungen, die unter Carl Friedrich Zelter zugunsten der Etablierung der Musikausbildung an den Universitäten erfolgte. Vgl. Applegate, Bach in Berlin, S. 128 ff. und 141 ff. 207 Vgl. das Kapitel Diskursive Dimension von Rezeptionspraxis – Methodische Vorüberlegungen (Teil II, Kap. 1.). 208 Sela-Teichler, „Dem verewigten Moses Mendelssohn zu Ehren“, S. 128. 209 Ebd., S. 108. 210 Wollny, „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“, S. 44, zieht eine ähnliche Verbindung. 211 Diskursive Überschneidungen zwischen Kirnberger und Moses Mendelssohn festzustellen und die Attraktivität der Lehre Kirnbergers für die jüdischen Reformbewegungen zu konstatieren, bedeutet nicht, Musik als vehementes Medium der Akkulturation zu deuten, wie dies in der Salonforschung diskutiert wird. Vgl. das Kapitel Bach salonfähig machen (Teil III, Kap. 3.2.5).
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Jüdische Reformbewegung Gerade für Daniel Itzig hatte die jüdische Bildungsidee eine zentrale Bedeutung. Innerhalb der jüdischen Aufklärung (Haskala) ging es darum, durch den Aufbau eines Bildungsangebots für die preußischen Juden die Aufklärung im Berliner Judentum voranzutreiben und die jüdische Religion zu reformieren.212 Daniel Itzig spielte in diesem Prozess eine überaus bedeutende Rolle, da er als Ältester der Jüdischen Gemeinde Berlins für sämtliche Gemeindeämter Berlins und aller jüdischen Gemeinden Preußens verantwortlich war sowie in allen rechtlichen, sozialen, bildungspolitischen Angelegenheiten die Richtung mitbestimmte.213 Gemessen an seiner Vorstellung, dass nur durch eine Öffnung der jüdischen Ordnung und Tradition – aber ohne deren vollständige Aufgabe, sondern durch Reform – hin zu säkularem Bildungswissen eine soziale und rechtliche Statusverbesserung der Juden eintreten könne, engagierte er sich in zahlreichen Bildungsprojekten, in die die gesamte Familie Itzig auch nach seinem Tod eingebunden war. U. a. war er Initiator der jüdischen Reformschule und eines „Bet haMidrasch“, einer Bildungsanstalt für jüdische Gelehrte.214 Er engagierte sich in jüdischen Aufklärungsgesellschaften, die explizit für diesen Bildungsanspruch eintraten und in der Wohlfahrtspflege.215 Ebenso repräsentierte sein ausgeprägtes Sammelinteresse, das primär rabbinischer Literatur galt, aber auch den Naturwissenschaften, der Philosophie und Geschichte, seine religiöse, liberal ausgerichtete Motivation und seinen Kunstsinn. Seine Sammlung hatte aber auch einen symbolischen Status und sollte Ausdruck einer besonderen Wertschätzung der christlichen Literatur und Wissenschaft sein.216 Die Praxis der (finanziellen) Unterstützung sozialer Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen wurde vor allem von Sara Levy (und auch ihrer Schwester Recha Itzig) weitergeführt.217 Erziehungskonzept Das Erziehungskonzept gegenüber seinen Kindern war geprägt von einer ähnlichen Mischung aus Berufung auf jüdische Tradition einerseits und säkularem Wissen andererseits. Die Kinder der aufgeklärten und rechtlich privilegierten jüdischen Familien der 1760er und 1770er Jahre „gehörten zur ersten Generation im deutschsprachigen aschkenasischen Raum, die eine umfassende humanistische Erziehung in Musik, modernen Sprachen, Literatur, Geschichte und Geisteswissenschaften genossen“.218 So nahm beispielsweise auch Henriette Herz, gebürtige Jüdin, 212 Definition nach Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002, S. 17–47. Zitiert nach Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 171 f. Eng verbunden mit den Aufklärungsidealen war die rechtliche Besserstellung der Juden in der Preußischen Gesellschaft, die 1812 mit dem sogenannten Emanzipationsedikt einen ersten Erfolg zeitigte. 213 Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 171. 214 Siehe ebd., S. 277. 215 Thekla Keuck (ebd., S. 211) betont in ihren Ausführungen zum jüdischen Fürsorgewesen in Berlin, dass letzteres aus christlicher Sicht als vorbildlich galt. 216 Vgl. ebd., S. 288. 217 Siehe hierzu die Ausführungen ebd., S. 304 f. 218 Sela-Teichler, „Dem verewigten Moses Mendelssohn zu Ehren“, S. 126.
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Schriftstellerin und Salonnière in Berlin, am Sprachenunterricht der Itzig-Kinder teil.219 Zwischen seinen Kindern unterschied Daniel Itzig hinsichtlich der Erziehung geschlechtsspezifisch, sodass seine Söhne in sämtlichen neueren Sprachen, sowie wissenschaftlicher Bildung allgemein und dem Hebräischen, seine Töchter aber in den „feineren Formen des geselligen Lebens“220 (französische Sprache als Konversationssprache der Gebildeten und Erlernung mindestens eines Musikinstruments) unterrichtet wurden. Hierzu wurden professionelle Privatlehrer, wie auch Reichardt im oben stehenden Zitat erwähnt, angestellt, da die Ausbildung jüdischer Kinder nicht durch öffentliche Schulen abgedeckt wurde und herkömmliche jüdische Schulen zu stark traditionalistisch ausgerichtet waren und nicht dem Bildungsideal von Daniel Itzig entsprachen. Unabhängig von allgemeinen Erziehungstendenzen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die geschlechterstereotyp geformt waren und in denen Mädchen auf das zukünftige Wirken im Haus vorbereitet wurden, lässt sich das Erziehungskonzept Daniel Itzigs, in dem vor allem seinen Töchtern eine musikalische Ausbildung zuteil werden sollte, als bewusste Strategie verstehen, mittels derer die musikalische Praxis als kulturelles Kapital für seine Töchter etabliert werden sollte. Mirjam Itzig oblag als Ehefrau eines Oberlandesältesten die Führung eines offenen Hauses und die Bewahrung der jüdischen Tradition. Mit der von Daniel Itzig angestrebten Öffnung und Reform des Judentums zur Verbürgerlichung gehörte die Führung eines offenen Hauses als kultureller Raum mit Musikausübung vor allem für die Generation seiner Töchter zum Handlungsspektrum einer Frau dazu. Die Kinder von Daniel Itzig konnten sich bei der Gestaltung eigener offener Gesellschaften auf inhaltlicher Ebene auf die besondere musikalische Ausbildung und auf struktureller Ebene auf die unter ihrer Mutter Mirjam Itzig ausgeübten jüdischen Familien- und Gesellschaftsstrukturen berufen. Dabei – so arbeitet Thekla Keuck detailliert heraus – vollzog sich ein Umwandlungsprozess von explizit religiös motivierter Familien- und Alltagsstruktur zu Familienstrukturen, für die die jüdische Religion immer mehr an Bedeutung verlor, nicht aber die Familie selbst.221 Eben diese in der Familie erlernten Geselligkeitsstrukturen (wie z. B. der Aufbau kommunikativer, auf der Familie basierende Netzwerke) dienten den Itzig-Kindern Sara Levy, Cäcilie von Eskeles und Fanny von Arnstein als Vorbild für die eigenen Geselligkeiten. Inwieweit es den Itzigs der dritten Generation, d. h. den Kindern von Daniel und Mirijam Itzig gelang, die in den familialen Räumen praktizierte Geselligkeitskultur auch in andere Kommunikationsräume der Berliner Gesellschaft hineinzutragen, ist nicht eindeutig zu beantworten. Sara Levy wirkte, vor allem durch ihr Auftreten als Cembalistin, auch in anderen Räumen.222 Mit Blick auf die gesamte Kindergeneration Daniel und Mirjam Itzigs ist festzuhalten, dass in Momenten der religiös bedingten Exklusion auf das eigene fa219 Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 275. 220 D-B, Handschriftenabteilung, Privat-Archiv Cauer, K. 18, Nobiling, Itzig contra Arnim, 6, zitiert in Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 275. 221 Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 275. 222 Vgl. das Kapitel Musikalischer Werdegang (Teil III, Kap. 3.1.4).
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miliale Netzwerk zurückgegriffen wurde oder ein eigenes paralleles bürgerliches Vereinsleben aufgebaut wurde. „Diese Handlungsweise“, so Thekla Keuck, „ermöglichte es ihnen, ihre Vorstellung von Bürgerlichkeit unabhängig von Inklusions- und Exklusionserfahrungen zum Ausdruck zu bringen.“223 Neben dem Einfluss durch religiös-traditionelle und bürgerlich-säkulare Elemente stellte die Orientierung am Königshof eine weitere Strategie der Integration in die Berliner Gesellschaft dar. Mehrere Faktoren betonen den Ausdruck hofjüdischer Repräsentationskultur. Schon architektonisch glich das itzigsche Palais mit Orangerie und Gartentheater einem Adelshaus. Bei der Ausstattung der Fassade wurde auf die Baumeister zurückgegriffen, die auch im Dienst des Königs standen. Mit der Innenausstattung spiegelte das itzigsche Haus eine Mischung zwischen Adaption höfischer Lebenswelten und den Erfordernissen religiöser Gesetze wider. Das itzigsche Palais war mit einer Synagoge, Laubhütte und einer Mikwe (Bad) ausgestattet. Hier überlagerten sich ein höfisch-orientierter Raum, ein bürgerlicher Raum und ein religiös-traditioneller Raum. Diese räumlichen Komponenten bildeten die Grundlage des kulturellen Kapitals der Itzig-Kinder, wie sich u. a. am Salon Sara Levys zeigen wird. Daniel Itzig kann zusammenfassend als Initiator eines Bildungskonzeptes verstanden werden, das „die Erneuerung des jüdischen Wissenskanons unter Berücksichtigung jüdischer Tradition“224 zum Ziel hatte. Dieses Konzept fand u. a. Ausdruck in seiner Bibliothek, die Vorbild für gut sortierte Bibliotheken und Notensammlungen in den nachfolgenden Generationen war. Seine Reformbestrebungen waren auf das Ziel ausgerichtet, die jüdische Gesellschaft in die bürgerlichen Veränderungsprozesse einzugliedern und bildeten den Ausgangspunkt für den kulturellen Verbürgerlichungsprozess seiner Familie. Vor diesem Triangulum aus Kirnbergers Lehren, jüdischer Reformbewegung und Daniel Itzigs Erziehungskonzept lässt sich nun die Rezeption J. S. Bachs entfalten. Welchen Stellenwert Bach und seine Werke in diesem Erziehungskonzept einnehmen, ist im Hinblick auf die ästhetischen Interferenzen des Bach-Verständnisses Kirnbergers mit allgemeinen Bildungspraktiken des Judentums zu beantworten. Die Musik J. S. Bachs hat in der Familie Itzig – erstens – einen großen Stellenwert als Gegenstand von Musikausbildung und zwar aufgrund der großen Bedeutung, die Bachs Musik als Bildungsmedium beigemessen wurde. Bereits die Wahl der Musiklehrer aus dem Kreis der Bach-Familie bzw. der Bach-Schüler ist Ausdruck dieser Affinität. Es ist anzunehmen, dass Wilhelm Friedemann Bach bereits vor der Heirat Sara Levys im Jahr 1783 als ihr Lehrer fungiert hat.225 Laut Peter Wollnys Rekonstruktion stammt ein Hochzeitslied, das vermutlich zur Hochzeit Samuel Salomon Levys mit Sara Itzig komponiert wurde, von Wilhelm Friedemann Bach, woraus sich schließen lässt, dass der Kontakt zwischen dem ältesten BachSohn bereits vor Sara Levys Umzug in das Palais Hinter dem Neuen Packhof, also noch im elterlichen Haus, begonnen haben wird. Damit kann auch der Musikunterricht und die Wahl Wilhelm Friedemann Bachs als Musiklehrer für Sara Levy (und 223 Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 343. 224 Ebd., S. 290. 225 Wollny, Zur Bach-Pflege im Umfeld Sara Levys, S. 42.
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auch Kirnbergers für Bella Itzig) noch als ein Element der elterlichen Erziehung gedeutet werden. Bach wird – zweitens – zu einem Bestandteil familialer Geselligkeit. Der bei Reichardt übermittelte außergewöhnliche Vortrag der Musik von J. S. und C. P. E. Bach erschließt sich vor dem Konzept des offenen Hauses, wie es bei den Itzigs geführt wurde. Geselligkeit zwischen Familienangehörigen und Gemeindemitgliedern spielte bei den Itzigs eine große Rolle, wobei bei Zusammenkünften sowohl jüdisch-traditionelle als auch kulturelle und musikalische Elemente zum Tragen kamen. Die Bach-Rezeption der Familie Itzig knüpft an diese, aus der jüdischen Tradition habitualisierten, religiösen Praktiken an. Drittens spielt Bach eine große Rolle in der Sammelpraxis der Familie Itzig, die sich vor allem auf Handschriften Bachs konzentrierte. Diese ist allerdings erst ab der Generation von Sara Levy zu vermerken. Daniel und Mirjam Itzig besaßen selbst keine Bach-Handschriften – zumindest sind diese in den Rekonstruktionsversuchen dieser Sammlungen nicht aufgeführt –, sie entwickelten aber die Ambition zum Sammeln als eine familiale Praxis. Daniel Itzig sammelte vornehmlich Kunstgegenstände. Die Gemäldesammlung, die laut Thekla Keuck zu den mittelgroßen Privatsammlungen Berlins gehörte, sei Zeichen „seines kulturellen Selbstbewusstseins als Hofjude und seiner sozialen Mobilität“226 gewesen. Damit werden zwei zentrale Motive des Sammelns kultureller Güter deutlich: Darstellung der finanziellen Autorität und der Einfluss auf die Gesellschaft durch Geschmacksbildung. Beide Motive sind wesentliche Faktoren, die für die Sammlung Sara Levys und ihren Erwerb von Bach-Handschriften gelten. Über Daniel Itzigs Ambitionen als Musikalien-Sammler konnte bisher kein detailliertes Bild gewonnen werden, wenngleich die Sammelaktivität von Noten bereits für die Generation Daniel Itzigs verbürgt ist.227 Bach zu sammeln wird vor allem für die Kindergeneration eine profilierte Praxis. Benjamin Itzig (1756–1833), Sara Levys älterer Bruder, trug eine Sammlung mit anspruchsvoller Kammerund Orchestermusik zusammen. Zwei Handschriften von Werken Johann Sebastian Bachs haben sich im Besitz von Benjamin Itzig befunden: Die Flötensonate in Es-Dur (BWV 1031) und die Triosonate c-Moll aus dem Musikalischen Opfer (BWV 1079/8).228 Fanny von Arnstein geb. Itzig war im Besitz einer für zwei Cem226 Ebd., S. 317. 227 Aus seiner Sammlung erhalten hat sich lediglich eine Abschrift der Sechs Fugen (Wq 119/2–7) von C. P. E. Bach, auf der der Besitzstempel „D. Itzig“ Aufschluss über Daniel Itzig als Vorbesitzer der Handschrift gibt. Diese ist später an Zippora Wulff übergegangen. Anzunehmen ist, dass die Sammlung Daniel Itzigs weitaus größer gewesen ist. Darauf deutet einerseits der Stempel als Indiz für eine ausgeprägte Sammelaktivität hin und auch die Tatsache, dass zumindest mit dem Ausbildungsalter des zweiten Kindes, der Tochter Bella Itzig, eine Verbindung zu J. Ph. Kirnberger verbürgt ist, der Bella Itzig verh. Salomon Klavier- und Theorieunterricht gab. Auch in dieser Hinsicht müsste eine entsprechende Klavierliteratur vorhanden gewesen sein. Die Musikaliensammlungen der in Berlin und Wien ansässigen Familienmitglieder stehen im Zentrum der Forschungen Peter Wollnys und Christoph Henzels. Vgl. Wollny, Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“, und Henzel, Berliner Klassik. 228 Die praktische Umsetzung der Werke aus B. Itzigs Sammlung ist allerdings zu vermuten, da zwar kaum Partituren überliefert sind, zu den meisten Sinfonien jedoch durchgängig Stimmen-
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bali umgearbeiteten Fassung der „Sechs Triosonaten für Orgel“ (BWV 525–530) von J. S. Bach und seiner Partita in B-Dur (BWV 825), außerdem zweier CembaloKonzerte und -Sonaten von C. P. E. Bach. Fanny von Arnstein nahm nach ihrem Umzug nach Wien im Jahr 1776 ihre Musikaliensammlung mit. In Wien trat sie in den ersten fünfzehn Jahren mehrmals öffentlich auf, auch mit Stücken – so vermutet Peter Wollny – der Bach-Familie.229 Zippora Itzig verh. Cäcilie von Eskeles hinterließ bei ihrem Umzug im Jahr 1799 nach Wien ihre Musikaliensammlung ihrer Schwester Sara Levy. Dass die beiden Schwestern Zippora und Sara als Duopartnerinnen am Cembalo aufgetreten sind, dokumentieren einerseits einige Konzertrezensionen,230 andererseits wird dies aus dem Repertoire ihrer Sammlung ersichtlich. Zwei Doppelkonzerte von J. S. und jeweils eins von W. F. und C. P. E. Bach sind dort aufgeführt. Altsignaturen auf den Handschriften legen nahe, dass sich in ihrem Besitz offenbar eine viel größere Zahl an Doppelkonzerten befunden haben muss.231 Peter Wollny vermutet hinter diesen Werken das Repertoire, das die beiden Schwestern in den „Fließschen Konzerten“ aufgeführt haben. Zippora Itzig (geschiedene Wulff, verheiratete Cäcilie von Eskeles) besaß außerdem sämtliche Violinsonaten C. P. E. Bachs und pränummerierte auf alle sechs Sammlungen der Clavier-Sonaten für Kenner und Liebhaber. Die drei Schwestern Sara, Fanny und Zippora liegen altersmäßig am engsten beieinander, sodass ihre gemeinsame Musikausbildung möglicherweise Ursache für den sehr ähnlichen Geschmack hinsichtlich der Bevorzugung der Klaviermusik J. S. Bachs und der bachschen Familie allgemein ist. Für kein anderes der Geschwister ist dieser Fokus so deutlich zu erkennen. Die Sammlung Sara Levys sticht, wie noch ausführlich gezeigt wird, insofern heraus, als dass sie (teil-)autographe Handschriften von W. F. und C. P. E. Bach und einen beachtlichen Zahl an Handschriften mit Werken von J. S. Bach beinhaltet.232 Auch eröffnen die Provenienzen ihrer Sammlungsbestandteile interessante Verknüpfungen zu weiteren Räumen der Bach-Rezeption wie z. B. der Sing-Akademie und dem Akademischen Institut für Kirchenmusik. 2.3.3 Familie Wessely Ein Personenkreis, der bisher in der Bach-Forschung noch weitgehend unbeachtet geblieben ist, stellt die jüdische Familie Wessely dar. Carl Bernhard Wessely (1768–1826)233 wurde als Sohn des Textilfabrikanten Aron Wessely (1740–1812)
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material. Vgl. Henzel, Berliner Klassik, S. 288. Elvers, Quellen zur Bach-Rezeption, S. 178, weist darauf hin, dass Benjamin Itzig Stimmensätze zu Orchesterwerken gesammelt hat, d. h., dass in seinem Haus auf jeden Fall musiziert wurde. Vgl. Wollny, Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“, S. 42. Vgl. das Kapitel Bach spielen (Teil III, Kap. 3.2.2). Vgl. Wollny, Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“, S. 41. Vgl. das Kapitel Bach sammeln (Teil III, 3.2.1). Neuere Forschungen, die sich mit Carl Bernhard Wessely und seiner Rolle in der Berliner Musikkultur beschäftigen, stellten Sela-Teichler, „Dem verewigten Moses Mendelssohn zu Eh-
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in Berlin geboren. Aron Wesselys Brüder Naphtali Hartwig Wessely und Moses Wessely gehörten zum Netzwerk der Familie Itzig. Sämtliche Familienmitglieder unterstützten Moses Wesselys literarische Tätigkeit durch Subskription. Nach dem Tod von Moses Wessely engagierte sich besonders Sara Levy für die Edition der hinterlassenen Schriften Moses Wesselys, um die Witwe finanziell zu unterstützen.234 Ebenso herrschte zwischen Moses Mendelssohn und der Familie Wessely eine intensive Bekanntschaft. Moses Mendelssohn widmete Carl Bernhard Wessely, der sein Patensohn war, die literarische Figur „W.“ in seinem letztem Werk Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes (1785). Rellstab erwähnt Wessely 1789 als Geiger in einem seiner Konzerte für Kenner und Liebhaber, die in den Jahren 1787 und 1788 stattfanden. Dort heißt es außerdem, er sei Schüler von Carl Friedrich Fasch und Johann Abraham Peter Schulz gewesen.235 Gerber bezeichnet ihn als „braven Klavierspieler“, der seine Fähigkeiten mit einem „der schwierigsten Mozartischen Konzerte (aus G dur)“236 im Jahr 1793 im Rahmen eines Auftritts im „Fließschen Konzert“ bewies. Mit Sicherheit lernte er dort die Cembalistinnen Sara Levy und Zippora Wulff kennen, deren solistisches Auftreten im Konzert ihres Schwagers Joseph Fließ, dem Ehemann ihrer ältesten Schwester Hanna Fließ geb. Itzig, ebenfalls für das Jahr 1793 übermittelt ist.237 Carl Bernhard Wessely leitete ab 1788 zusammen mit Johann Jakob Engel und Karl Wilhelm Ramler als Musikdirektor das Königliche Nationaltheater. 1796 berief ihn Prinz Heinrich zum Kapellmeister seiner Hofkapelle in Rheinsberg. Er galt als einer der erfolgreichsten Berliner Komponisten um 1800. Mit seiner Debütkomposition, die er anlässlich der Trauerfeier Moses Mendelssohns auf der Textbasis von Karl Wilhelm Ramlers Trauerkantate mit dem Titel Sulamith und Eusebia komponierte, eröffnet sich ein neues Beziehungsgeflecht zwischen der frühen Bach-Rezeption und der jüdischen Musikkultur. Die Uraufführung des Werkes in Berlin im Jahr 1786 als auch die Wiederaufführung am 9. Mai 1787 in Königsberg ermöglicht Einblicke in die vielfältige Teilhabe jüdischer Musiker und Komponisten an der Berliner Musikkultur als auch interessante Perspektiven auf die Bedeutung, die J. S. Bach in dieser deutsch-jüdisch geprägten Kulturlandschaft zugewiesen wurde.238
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ren“, S. 105–139, Gerhard, Die Bedeutung der jüdischen Minderheit, bes. S. 13–16, und Dieter Härtwig, Art. „Wessely, Carl. B.“, in: MGG Bd. 14 (1968), Sp. 506–507, an. Dafür ließ sie auch ihre Verbindungen zum Salon der Elise Reimarus in Hamburg spielen, die sich ebenfalls an der finanziellen Unterstützung der Familie Wessely beteiligte. Johann Carl Friedrich Rellstab, Ueber die Bemerkungen eines Reisenden die Berlinischen Kirchenmusiken, Concerte, Oper, und Königliche Kammermusik betreffend, Berlin 1789, S. 20, auch zitiert in Henzel, Quellentexte zur Berliner Musikgeschichte, S. 112 f. Ernst Ludwig Gerber, Neues historisch-biographisches Lexikon, Vierter Theil, Leipzig 1814, zitiert in: Gerhard, Die Bedeutung der jüdischen Minderheit, S. 13. Vgl. Johann Friedrich Reichardt, in: Johann Gottlieb Karl Spazier (Hg.), Berlinische Musikalische Zeitung, Historischen und kritischen Inhalts, Berlin 1794, V. Stück, 9. März 1793, S. 17– 18. Vgl. hierzu die Forschungen Sela-Teichlers, „Dem verewigten Moses Mendelssohn zu Ehren“, S. 105–139.
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Carl Bernhard Wesselys Komposition wird von zeitgenössischen Rezensenten vor allem aufgrund der „Reinheit des Kontrapunkts“239 gelobt, wobei ausdrücklich auf seine renommierte musikalische Ausbildung durch Fasch, Schulz und Kirnberger240 verwiesen wird. Johann Philipp Kirnberger und Carl Friedrich Fasch gehörten zum direkten bzw. indirekten Schülerkreis Bachs, sodass davon ausgegangen werden kann, dass Wesselys Musikausbildung als Bach-Enkelschüler in bachscher Tradition stattgefunden haben dürfte. Auf Kirnbergers Funktion in der Übermittlung der reinen Satz-Lehre, seiner Etablierung J. S. Bachs als eines Garanten dieses Stils und den großen Überschneidungen zu Idealen und Strukturen jüdischer Reformbewegungen wurde bereits verwiesen.241 Wenngleich eine Interpretation der Kantate Sulamith und Eusebia nur vorläufigen Charakter haben wird, da nicht nur diese Kantate, sondern auch der Großteil seiner anderen Kompositionen insgesamt als verschollen gilt, kommt Yael Sela-Teichler anhand der Auswertung der Konzertkritiken und des vorhandenes Text-Librettos von Ramler zu dem Ergebnis, dass diese Kantate die Fortführung der bachschen Tradition in Berlin darstelle.242 Der bachsche Kontrapunkt, den Wessely in seinem Unterricht durch Kirnberger und Fasch erfahren haben wird, gerät mit Blick auf Wesselys Kantate Sulamith und Eusebia in den Kontext der frühen jüdischen Aufklärungsbewegung. Wessely ist daher ebenso wie die Familie Itzig diesem Kreis der kulturell gebildeten Juden zuzuordnen, die ausgehend von der Zusammenarbeit zwischen Moses Mendelssohn und J. Ph. Kirnberger die Musik Bachs, in diesem Fall primär die bachsche Kontrapunkt-Tradition, mit jüdischen Idealen der frühen Aufklärungsbewegung in Verbindung brachten. 2.3.4 Familie J. P. Salomon Der eingangs im Weissmann-Zitat erwähnte „Geiger Salomon“ gehört ebenfalls dem musikalischen Wirkungsfeld der Hofkapelle von Prinz Heinrich III. an. Dieser als Johann Peter Salomon (1745–1815) zu identifizierende Geiger und Komponist wird von Ernst Ludwig Gerber als „sehr würdiger Meister auf der Violine“243 beschrieben. Der gebürtige Rheinländer war von 1758 an Mitglied des Kurfürstlichen Orchesters in Bonn und kam 1765 nach Berlin, um als Konzertmeister der Hofkapelle zu Rheinsberg in den Dienst von Prinz Heinrich III. zu treten. Seine nächsten Lebensstationen waren Paris und als letzter ständiger Wohnsitz London, wo er ab 1781 als Konzertunternehmer arbeitete. Verschiedene Aspekte seines mu-
239 Ebd., S. 117. 240 Dass Wessely ein Schüler Kirnbergers war, wird von Karl Friedrich von Klöden, Jugenderinnerungen, nach der ersten von Max Jähns besorgten Ausgabe neu bearbeitet von Karl Koetschau, Leipzig 1911, S. 423–427, überliefert. 241 Vgl. das Kapitel Familie Itzig (Teil III, Kap. 2.3.2). 242 Vgl. Sela-Teichler, „Dem verewigten Moses Mendelssohn zu Ehren“, S. 134 f. 243 Gerber, Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler, Bd. 2, Sp. 377/378. [Digitale Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek, München].
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sikalischen Wirkens und seiner Biographie ergänzen die Vorstellung über die BachRäume Berlins nach 1750. Zwei Details fallen besonders in Betracht. Zunächst erstaunt das durch Weissmann überlieferte Detail, Reichardt habe „beim trefflichen Geiger Salomon, dem Konzertmeister der Kapelle des Prinzen Heinrich, […] die herrlichen Violinsonaten ohne Begleitung von Sebastian Bach kennen und schätzen“244 gelernt. Die bis dahin – Weissmann übermittelt 1771 als Jahreszahl des reichardtschen Besuches in Berlin – noch nicht im Druck erschienenen Sonaten und Partiten für Violine solo (BWV 1001–1006) gehörten zu den weniger bekannten Werken J. S. Bachs. Nach 1750 werden die Sonaten und Partiten für Violine solo sowohl in musiktheoretischen Schriften als auch in Sammlungskatalogen selten bis gar nicht erwähnt. Wie groß der Einfluss dieser Solo-Werke auf die Musiklaufbahn Salomons gewesen zu sein scheint, beweist ein bei Gerber angeführtes Detail, in Paris seien „6 Violinsolos“245 von Salomon gestochen worden. Auch wenn Bach nicht explizit als Komponist genannt wird, ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es sich hierbei um die bachschen Soli handelt, die Salomon also – so Gerber – während seines Aufenthalts in Paris für den Druck hat vorbereiten lassen.246 Zwanzig Jahre nach Bachs Tod sind die Geigen-Partiten Bachs also bereits über Salomon nach Paris gelangt, ein interessantes Detail innerhalb der Überlieferungsund Aufführungsgeschichte dieses Instrumentalwerks. Als zweites Detail ist die Bekanntschaft zu Carl Philipp Emanuel Bach zu nennen.247 Dieser erwähnt Salomon in einem Brief aus dem Jahr 1779 an einen bisher unbekannten Adressaten. Der Adressat scheint der Vater einer Schülerin von Salomon zu sein, denn C. P. E. Bach bezieht sich in seinem Schreiben auf die Bitte Salomons, Bach möge Salomons Schülerin Kompositionen von C. P. E. Bach schicken, damit diese ihre Begabungen weiter ausbauen könne.248 C. P. E. Bach übermittelt dem Vater dieses Mädchens eine vom Anspruch her durchmischte Liste mit gedruckten Klavierwerken, worunter sich neben den Sonaten für Damen auch die Klaviersonaten für Kenner und Liebhaber sowie verschiedene Klavierkonzerte befinden. Salomon hatte C. P. E. Bach demzufolge davon unterrichtet, welche Kompositionen seine Schülerin bereits von ihm besaß, denn Bach fügt an, er wüsste bereits, dass die junge Dame seine „3 Theile der Reprisen Sonaten“ und die „Würtem-
244 Weissmann, Berlin als Musikstadt, S. 36–37. 245 Gerber, Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler, Bd. 2, Sp. 377/378. 246 Eine andere Interpretation dieser bei Gerber erwähnten „6 Violinsolos“ könnte lauten, dass Gerber selbst Bachs Soli zum Anlass genommen hat, eine eigene kompositorische Replik nach dem Vorbild Bachs zu komponieren. Der Verbleib dieser möglichen Komposition Salomons ist aber ungeklärt. 247 Robert Pascall, Ein Überblick der frühen Bach-Rezeption in England bis zirka 1860, in: Ingrid Fuchs (Hg.), Johann Sebastian Bach. Beiträge zur Wirkungsgeschichte, Wien 1992, S. 147– 165, hier S. 150, verweist darauf, dass Salomon durch C. P. E. Bach von Bachs Partiten für Violine solo erfahren habe. 248 Vgl. Brief von C. P. E. Bach an unbekannt, Hamburg, den 20. November 1779, in: Carl Philipp Emanuel Bach, Briefe und Dokumente (hg. von Ernst Suchalla), 2 Bde., Göttingen 1994, hier Bd. 1, S. 800.
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bergischen Sonaten“249 besäße. Vermutlich ist sie über Salomon selbst an die Noten gekommen. C. P. E. Bach und Salomon haben sich möglicherweise während der gemeinsamen Zeit in Berlin kennengelernt, wodurch sich der Briefkontakt zu C. P. E. Bach auch nach seinem Umzug nach Hamburg erklärt. Salomon taucht außerdem als Pränummerant von Wq 217 im Jahr 1779 auf.250 Johann Peter Salomon ist mit zahlreichen Akteurinnen und Akteuren der frühen Berliner Bach-Rezeption, allen voran mit C. P. E. Bach vernetzt. An ihm wird erneut die Bedeutung höfischer Musikkultur als Träger von Bach-Rezeptionspraxis deutlich. Die anhand seines Wirkens übermittelte Auseinandersetzung mit Bachs Werken für Violine solo, die in einer Drucklegung mündete und für die Verbreitung der Komposition bis nach Frankreich sorgte, ist insofern außergewöhnlich, als dass eine vergleichbare für die Berliner Bach-Rezeption nicht bekannt ist. Ebenfalls dem Kulturtransfer zwischen Paris und Berlin zuzuordnen, ist der Kontakt zwischen J. P. Salomon und Hélène de Montgeroult. Es ist davon auszugehen, dass die Pariser Pianistin durch ihn die Kompositionen von J. S. Bach kennengelernt hat. Hélène de Montgeroult, J. P. Salomon und auch sein Dienstherr Prinz Heinrich von Preußen waren Gäste im Salon der Malerin Elisabeth Vigée-Lebrun. Dazu heißt es in einem Bericht der Salonnière: „Zur Instrumentalmusik hatte ich als Violinspieler Viotti […], Prinz Heinrich von Preußen, ein ausgezeichneter Dilettant, der mir obenein seinen ersten Geiger [J. P. Salomon] zuführte.“251 Anders als bisher angenommen, wird die Bach-Rezeption Hélène de Montgeroult nicht erst nach ihrer Reise nach Zwickau,252 sondern bereits mit dem Kontakt zu Salomon begonnen haben. Dieser Zweig der französischen Bach-Rezeption basierend auf dem Kulturtransfer zwischen Berliner und Pariser Bürgerhäusern ist bisher noch kaum untersucht. 2.3.5 Familie von Voß Die häusliche Musikpraxis der Familie von Voß eröffnet Einblicke in eine über zwei Generationen etablierte Rezeption bachscher Musik im familialen Kontext. Bach wurde gesammelt, aufgeführt und seine Musik war Gegenstand von Musikunterricht.
249 Ebd., S. 801. 250 Siehe ebd., Bd. 2, S. 1475. 251 Die Erinnerungen der Malerin Vigée-Lebrun, Bd. 1, deutsche Übersetzung von Martha Behrend Weimar 1912, S. 57. 252 Claudia Schweitzer, Art. „Hélène de Montgeroult“, in: Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts, hg. vom Sophie Drinker Institut für musikwissenschaftliche Frauenund Geschlechterforschung. www.sophie-drinker-institu.de/cms/index.php/montgeroult-helenede?page=montgeroult-helene-de (letzter Zugriff: 10.01.2018).
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Sammeln Die Musikaliensammlung der Familie von Voß umfasst insgesamt einen Bestand von ca. 2500 Kompositionen aus dem frühen 16. bis 19. Jahrhundert.253 Die Sammeltätigkeit erfolgte in zwei Generationen. Als Hauptsammler gelten Otto Carl Heinrich von Voß (1755–1823) – im Folgenden bezeichnet als Otto von Voß sen. – und Otto Carl Philipp von Voß (1792–1836) – hier bezeichnet als Otto von Voß jun. Der Anschaffungsbeginn der Sammlung durch Otto von Voß sen. ist auf die Mitte der 1780er Jahre zu datieren; die Sammeltätigkeit endete mit dem Tod von Otto von Voß jun. im Jahr 1836.254 Für Otto von Voß sen. ist eine lebenslange Beschäftigung mit dem Klavier- und Orgelwerk Bachs verbürgt. In der Gedächtnispredigt anlässlich seines Todes heißt es: „Der Minister spielte sehr fertig das Klavier, kunstgerecht die Orgel, größtentheils schwere Bachsche Sachen, und hatte Kenntnis vom Generalbaß.“255 Das Klavier- und Orgelwerk J. S. Bachs ist nahezu vollständig in der Musiksammlung der Familie von Voß vorhanden gewesen.256 Darunter befanden sich auch die 16 Hefte der Oeuvres complettes des Leipziger Verlagshauses Hoffmeister & Kühnel. Folgende Instrumentalwerke sind ebenfalls nachgewiesen: – – – – –
die Suiten für Violoncello solo (BWV 1007–1012)257, die Suite für Violine und obligates Cembalo (BWV 1025), die Sonaten für Viola da Gamba und Cembalo (BWV 1027–1029), für Flöte und Cembalo (BWV 1030–1035), die Sonate für 2 Flöten und Cembalo (BWV 1039).
253 Im Folgenden beziehe ich mich auf Forschungen von Bettina Faulstich, Die Werke Johann Sebastian Bachs, S. 132, und Dies., Die Musikaliensammlung der Familie von Voß. 254 Genaue Anschaffungsjahre für die vorhandenen Bach-Handschriften sind aus den Ausführungen Bettina Faulstichs nicht für jede Einzelquelle ersichtlich. Sie lassen sich lediglich durch externe Einflüsse, durch Aufkäufe von Sammlungen und Anregungen durch Bach-Kenner der Zeit rekonstruieren. Hinzu kam der Erwerb kostbarer Bach-Originalhandschriften aus der Sammlung Johann Friedrich Herings (1724–1810) um 1810 und aus der Sammlung Westphals in Hamburg im Jahre 1830. 255 K[arl] L[udwig] Hohnhorst, Gedächtnißpredigt auf den am 30sten Januar 1823 zu Berlin verstorbenen Herrn Otto Carl Heinrich v. Voß, […], am 16ten Februar in der Dom-Kirche zu Havelberg gehalten, Berlin 1823, zitiert in: Faulstich, Die Musikaliensammlung der Familie von Voß, S. 39. Zu vermuten ist, dass Otto von Voß sen. auf dem Instrument der Schlosskirche zu Berlin-Buch Orgel übte. Die Schenkung der im Besitz der Anna Amalia von Preußen befindlichen Orgel nach ihrem Tod an ebendiese Schlosskirche deutet auf eine Verbindung zur Königsschwester hin, möglicherweise auch auf das gemeinsame Interesse an bachscher Musik (ebd., S. 34). 256 Die folgenden Ausführungen basieren auf Faulstichs Studie, S. 496 ff. 257 Die Suiten für Violoncello solo entstammen einem Konvolut mit verschiedenen Instrumentalwerken Bachs, die hauptsächlich aus der Sammlung Westphal übernommen wurden. Laut den Recherchen Faulstichs zeigen zwei Handschriften des Konvoluts, darunter auch die Cellosuiten, keine direkten Hinweise auf die Sammlung Westphal. So bleibt es demnach offen, woher die Handschrift stammt.
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An Werken, die eine größere Besetzung erforderten, waren vorhanden: – – – – – – – – –
die Brandenburgischen Konzerte (BWV 1046–1051) als Partitur, das Violinkonzert (BWV 1045) als Partitur, das Cembalo-Konzert in d-Moll (BWV 1052) als Partitur und in Stimmen, das Cembalo-Konzert in E-Dur (BWV 1053) als Partitur, die beiden Konzerte in c-Moll und C-Dur für 2 Cembali (BWV 1060 und 1061) in Stimmen und Partitur, das Konzert für 3 Cembali in C-Dur (BWV 1064) und das Konzert für 4 Cembali in a-Moll (BWV 1065) beides als Partitur, die Ouvertüre in h-Moll für Flöte, Streicher und B. c. (BWV 1067)258, der erste Satz der Ouvertüre D-Dur für 3 Trompeten, Pauken, Oboen, Streicher und B. c. (BWV 1068/1).259
Außerdem zählten dazu das Musikalische Opfer (BWV 1079) und die Kunst der Fuge (BWV 1080). Auffällig ist die Bearbeitungspraxis, die einige Vokalwerke, darunter die Arie Ich gnüge mich an meinem Stande (BWV 523/3), und verschiedene Instrumentalwerke erfuhren. So wurden z. B. diverse Variationen der Goldbergvariationen für eine Streichquartett-Besetzung arrangiert. Arrangements von Bachs Klavierwerken für ein Streichquartettensemble waren nicht ungewöhnlich. Auch C. Fr. Zelter fertigte für die Ripienschule solche Bearbeitungen an, die auch Bestandteil des Proben- und Konzertrepertoires der Sing-Akademie wurden.260 Besonderen Stellenwert innerhalb der Vokalwerke nehmen die überlieferten Bach-Kantaten ein, bei denen es sich zum Teil um Originalstimmensätze handelt. Der als Johann Friedrich Hering identifizierte Kopist „Anonymus 300“261 war, wie Peter Wollny nachweisen konnte, Lehrer von Otto von Voß sen. und hatte, wie später noch auszuführen sein wird, auf die Musikpflege im Hause von Voß unmittelbaren Einfluss. Otto von Voß sen. kaufte sämtliche Musikalien aus dem Besitz Herings nach dessen Tod auf. Hierbei handelte es sich um Originalstimmen zu J. S. Bachs drittem Leipziger Kantatenjahrgang, die größtenteils zum Erbteil Johann Christian Bachs gehörten.262 Neben den Kantaten befanden sich außerdem
258 Davon eine gesonderte Abschrift des letzten Satzes Badinerie von der Hand des Otto von Voß jun. 259 Dies erklärt auch das Vorhandensein von Trompeten und Pauken in der Instrumentensammlung. 260 Vgl. Georg Schünemann, Die Bachpflege der Berliner Singakademie, in: BJ 25 (1928), S. 138– 171, hier S. 144 ff. 261 Vgl. hierzu die Forschungen von Wollny, Ein „musikalischer Veteran Berlins“, S. 80–113. 262 Wie diese den Weg zu Hering fanden, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Bettina Faulstich wie auch Peter Wollny vermuten, dass sie nach dem Weggang des jüngsten Bach-Sohnes Johann Christian Bach aus Berlin nach Italien im Jahr 1755 in Berlin bei Carl Philipp Emanuel verblieben sind und auf dessen Anregung hin an interessierte Bach-Kenner wie Hering verkauft wurden. Vgl. Wollny, Ein „musikalischer Veteran Berlins“, S. 100, und Faulstich, Die Musikaliensammlung der Familie von Voß, S. 505. Auf die enge Zusammenarbeit zwischen C. P. E. Bach und J. Fr. Hering wurde bereits in Teil III, Kap. 2.1 hingewiesen.
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die bachschen Motetten,263 die Partitur der h-Moll Messe, die Messen in F-Dur (BWV 233), A-Dur (BWV 234), g-Moll (BWV 235), G-Dur (BWV 236), eine Partitur der Matthäus-Passion (BWV 244), der Johannes-Passion (BWV 245), der Lukas-Passion (BWV 246/Anh. II 30) und die vierstimmigen Bach-Choräle in der Birnstiel-Ausgabe (1765 bis 1769).264 Die Rückbindung an die Bach-Söhne, ihre Vermittlung von Bach-Handschriften und Bach-Autographen – indirekt durch die Person J. Fr. Hering – war für die Entstehung und Etablierung der Sammlung von Voß ausschlaggebend.265 Die Kantaten lagen größtenteils in den originalen Stimmsätzen vor bzw. wurden durch Partiturabschriften Herings ergänzt. Sie waren zur praktischen Umsetzung im Haus von Voß nutzbar. Die Auswahl an solistischer und kammermusikalischer Instrumentalmusik wirkt außergewöhnlich. Unter Berücksichtigung des derzeitigen Forschungsstandes und im Vergleich mit anderen Musiksammlungen (Sammlung Itzig/Levy) wird deutlich, dass neben dem Hauptfokus auf die bachsche Tastenmusik ein ebenso ausgeprägter Fokus auf kammermusikalische Werke Bachs gelegt wurde. Auch hinsichtlich der Rezeption der Vokalmusik Bachs geraten mit der Sammlung von Voß neue Aspekte in den Blick, denn die Aufführung größer besetzter Chorwerke nach 1750 in Berlin wurde bisher vor allem der Sing-Akademie zugesprochen. Sollten tatsächlich die Bach-Kantaten aus dem Besitz Herings auch noch zu seinen Lebzeiten, also während des Unterrichtsverhältnisses zu Otto von Voß sen. im Rahmen der voßschen Musikveranstaltungen aufgeführt worden sein, dann kommt diesen innerfamiliären Aufführungen als Übermittler der bachschen Vokalmusik parallel zum Aufblühen der Sing-Akademie eine große Bedeutung zu. In dem Briefwechsel zwischen Otto von Voß sen. und Carl Friedrich Zelter in den Jahren 1802 bis 1804 ist das Interesse von Otto von Voß sen. für das bachsche Vokalwerk bereits vorhanden.266 Es zeigt sich konkret in einer passiven Mitgliedschaft in der SingAkademie. Über den weiteren Verbleib der Sammlung ist bekannt, dass noch bevor Carl Otto Friedrich Graf von Voß (1786–1864), Bruder des verstorbenen Otto von Voß jun., 1851 die Sammlung der Königlichen Bibliothek schenkte, sie auch anderen Nutzern zugänglich gemacht worden war.267 Aus dem Jahr 1844, dem Zeitpunkt, an dem die Sammlung noch nicht in die Königliche Bibliothek eingegliedert worden war, ist übermittelt, dass auch Felix Mendelssohn Bartholdy über den Bestand der voßschen Sammlung informiert war und darauf Zugriff nehmen konnte: 263 In der Druckausgabe von Breitkopf & Härtel aus dem Jahr 1802 (hg. von Johann Gottfried Schicht). 264 Es gab auch eine Fassung der Bach-Choräle für Orgel (Katalog-Nr. 776). Vgl. Faulstich, Die Musikaliensammlung der Familie von Voß, S. 212. 265 Dies gilt beispielsweise auch für die Sammlung Thulemeier, die einige wenige Bach-Handschriften aufweist. Vgl. Schwinger, Die Musikaliensammlung Thulemeier. 266 Vgl. den Briefwechsel zwischen Otto von Voß sen. und C. Fr. Zelter in: D-B, N. Mus. Sa 323. Siehe dazu: Faulstich, Die Musikaliensammlung der Familie von Voß, S. 41. 267 So ist beispielsweise der 1828 bei Trautwein in Berlin erschienene Druck der Englischen Suiten (BWV 806–811) nach einer in der Sammlung von Voss befindlichen Abschrift der Werke herausgegeben worden. Faulstich, Die Musikaliensammlung der Familie von Voß, S. 50.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin Die Bachiana die auf der Königlichen Bibliothek sind kann ich sämtlich ohne die geringste Mühe bekommen und für Dich abschreiben lassen, auch wohl die der Voßischen Sammlung. Letztere jedoch nicht so bestimmt, wie erstere.268
Die Einschränkung, die Felix Mendelssohn Bartholdy hinsichtlich des Zugangs zur voßschen Sammlung erwähnt, ist vermutlich auf den Umstand zurückzuführen, dass die Sammlung nach dem Tod Otto von Voß jun. im Jahr 1836 bis zu ihrer Überführung in die Königlich-Preußische Bibliothek ohne einen verantwortlichen Sammler war.269 Unterrichten Welchen praktischen Sinn die Sammlung tatsächlich hatte, lässt sich vor dem Hintergrund zweier Aspekte, den voßschen Konzertveranstaltungen und der musikalischen Ausbildung der Familienmitglieder, erschließen. Das fast vollständig überlieferte Klavier- und Orgelwerk Bachs deutet in Verbindung zu den ebenfalls überlieferten Generalbassschulen und Theoriewerken darauf hin, dass ein großer Schwerpunkt auf die musikalische Ausbildung der Familienmitglieder gelegt wurde. Eindrückliches Beispiel für die Intensität, mit der die musiktheoretische und praktische Ausbildung betrieben wurde, ist die Generalbassschule, die J. Fr. Hering für den Unterricht seines Schülers Otto von Voß sen. benutzte.270 Dieses Dokument aus der frühesten Unterrichtszeit von Otto von Voß sen. stellt ein Klavierbüchlein,271 ein Notenheft mit Klavierkompositionen, dar, das ihm als Unterrichtsbuch für frühe Abschriften wie auch für eigene Kompositionsversuche gedient hat. Schreiber einiger dieser Abschriften ist der Berliner Organist Johannes Ringk, woraus geschlossen werden kann, dass Ringk, den Carl Friedrich Zelter als Kenner Bachs beschreibt,272 Lehrer des jugendlichen Voß sen. war.273 In Briefkorrespondenzen zwischen den Kindern von Otto von Voß sen. ist übermittelt, dass drei der vier Kinder am Klavier und im Gesang ausgebildet wurden,274 Otto von Voß jun. ebenso auf dem Violoncello. Letzterer erhielt während seines Jurastudiums in Göttingen Klavier- und Theorie-Unterricht bei J. N. Forkel. Mit dem Unterricht, der sowohl das Instrument selbst, aber vor allem das Generalbassspiel beinhaltete, wirkten Traditionen wie die J. S. Bachs erst in die häusliche Musikpraxis hinein. An Hering, als einem der bedeutendsten Berliner Sammler bachscher Handschriften, wird diese Funktion des Mittelmanns besonders deutlich.
268 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Franz Hauser vom 3. März 1844, zitiert in: Faulstich, Die Musikaliensammlung der Familie von Voß, S. 50. 269 Ebd. 270 Vgl. Jörg-Andreas Bötticher, Generalbasspraxis in der Bach-Nachfolge. Eine wenig bekannte Berliner Handschrift mit Generalbaß-Aussetzungen, in: BJ 79 (1993), S. 103–126, und Wollny, Ein „musikalischer Veteran Berlins“, S. 96. 271 D-B MA, Mus. ms. 38045. 272 Vgl. einen Brief Carl Friedrich Zelters an Friedrich Konrad Griepenkerl vom März 1829 (Schünemann, Die Bachpflege, S. 143). 273 Siehe Wollny, Anmerkungen zu einigen Berliner Kopisten, S. 157. 274 Vgl. Faulstich, Die Musikaliensammlung der Familie von Voß, S. 45 ff.
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Aufführen Musikveranstaltungen im Haus des Grafen Otto von Voss (1755–1823) fanden nachweislich in den Jahren zwischen 1797 und 1807 statt.275 Darüber heißt es in Werdens Musikalischem Taschenbuch: Privat-Concerts und kleinere Zusammenstellungen zu Quartetten giebt es hier häufig. Das bedeutendste ist das wöchentliche Winter-Concert des Ministers von Voß, das aus reiner Liebe zur Kunst von dem großen Geschäftsmann, der zugleich ein braver Violinist und Fortepianospieler und mit der Theorie der Kunst vertraut ist, gegeben wird, und woran außer den berühmtesten Virtuosen auch fürstliche Personen Antheil nehmen.276
Zwei Jahre später ist eine ähnliche Beschreibung übermittelt: „Unter den Liebhaberconcerten Berlins behaupten den vorzüglichsten Rang die Privatconcerte der Minister von Voß und von Schröter und der wöchentliche Zirkel des Director Buisson.“277 Einen prägenden Einfluss auf die dramaturgische Gestaltung dieser Konzerte kann Johann Friedrich Hering zugeschrieben werden, der als Theorie- und Musiklehrer des Grafen arbeitete. So finden sich in der Sammlung Herings viele Abschriften von Bach-Kantaten, die für große Orchesterbesetzung bestimmt sind.278 Zu nennen sind z. B. die Kantaten Geschwinde, ihr wirbelnden Winde (BWV 201) und Schleicht, spielende Wellen (BWV 206), deren Besetzung Trompeten, Flöten und Oboen erfordern. Diese Kantaten dürften bei Konzerten im Haus von Voß erklungen sein. Nur so ließe sich erklären, warum Hering diese aufwendigen Abschriften anfertigten ließ.279 Auch die im Musikinstrumentenverzeichnis aufgeführten 32 Musikinstrumente – darunter neben den bereits genannten Blasinstrumenten vier Violinen, drei Bratschen, drei Violoncelli – legen die praktische Nutzung dieser Werke nahe. Für die Aufführung der 6. Suite aus den Sechs Suiten für Violoncello, die möglicherweise auch für die Viola da Braccio komponiert wurde, kam vermutlich die unter der Nr. 17 aufgeführte „große Bratsche“ in Frage, die – so das Notenverzeichnis – von Kapellmeister Graun gespielt wurde. Dass vorhandenes ökonomisches Kapital ein äußerst bedeutender Faktor gewesen sein muss, um diese Art Musikveranstaltung überhaupt durchzuführen, ist abzulesen am Kreis der erwähnten Virtuosen, die laut Zeitungberichten als Spieler für diese Aufführungen engagiert wurden. Ein Hofmusiker wie G. A. Benda hätte sich ohne das entsprechende Honorar sicherlich nicht zum Mitwirken bereit erklärt. Über die anwesenden Musiker und Gäste ist wenig bekannt. Im oben genannten Ausschnitt aus Werdens Musiklexikon wird erwähnt, dass neben den musizierenden „berühmtesten Virtuosen“ zahlreiche Personen der Aristokratie anwesend waren. Dass sich im Publikum solcher häuslichen Konzerte Personen des Berliner Bür275 Vgl. ebd., S. 40 f. 276 Julius Werden [= Friedrich Mann] / Adolph Werden [= Alexander Mann] (Hgg.), Musikalisches Taschenbuch auf das Jahr 1803, mit Musik von Wilhelm Schneider, Penig b. Leipzig 1803, S. 189; ebenso zitiert in: Faulstich, Die Musikaliensammlung der Familie von Voß, S. 40 f. 277 Julius Werden [= Friedrich Mann], Musikalisches Taschenbuch auf das Jahr 1805, Penig b. Leipzig 1805, S. 122. Vgl. Faulstich, Die Musikaliensammlung der Familie von Voß, S. 41. 278 Vgl. das Kapitel Kopieren (Teil III, Kap. 2.1.1). 279 Vgl. Wollny, Ein „musikalischer Veteran Berlins“, S. 99.
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gertums und Angehörige der Aristokratie mischten, ist charakteristisch für dieses Musikformat und kein Alleinstellungsmerkmal der voßschen Konzerte. Allerdings scheint die Anwesenheit adeliger Gäste ein Garant für Qualität zu sein, das suggeriert zumindest der Artikel in Werdens Lexikon, der diese Information besonders hervorhebt. Höfische Repräsentationskultur stellte auch im ausgehenden 18. Jahrhundert einen Maßstab dar, an dem sich spätere Formen von Musikpraxis ausrichteten bzw. mittels dessen genau diese höfischen Praktiken usurpiert wurden. Matthias Röder betont, dass in den Werbeankündigungen der Musikalischen Gesellschaften, die sich nach dem Siebenjährigen Krieg gründeten, die Verwendung von Pauken und Trompeten besonders exponiert dargestellt wurde.280 Röder führt dies auf die instrumentenspezifischen Affekte von Blechbläsern und Pauken zurück und den damit im Zusammenhang stehenden hohen Stellenwert von höfischer Repräsentations- und Militärkultur auf neuere außerhöfische Musik-Räume.281 Es sind wenige Zeugnisse überliefert, die auf einen unmittelbaren Kontakt zwischen der Familie von Voß und anderen musikaffinen Familien Berlins schließen lassen. Zwar hatte die Familie von Voß Kontakt zur Salonnière Bettina von Arnim,282 ob aber auch eine Verbindung zu jüdischen Häusern, wie die der Itzigs, Salomons oder Wesselys bestand, bleibt im Dunkeln. Sara Levy und Otto von Voß sen. überschneiden sich zwar hinsichtlich ihrer Lebensdaten, ihre Bach-Praxis baut aber auf unterschiedlichen Traditionen auf. Während Otto v. Voß’ Affinität zur Musik Bachs durch das Orgelspiel und den Orgelunterricht bei J. Ringk initiiert wurde, fehlt diese Art der Instrumentalausbildung bei Sara Levy gänzlich. Sara Levys Kontakte bezogen sich vor allem auf das Berliner Bürgertum und den personellen Zirkel der Mitglieder der Sing-Akademie. Otto von Voß sen. schien sich primär an aristokratischen Kreisen zu orientieren. Ihre beiden Netzwerke überschneiden sich neben Zelter nur in der Person J. Fr. Hering, der als „gemeinsamer Freund“ im Brief von Elise Reimarus an Sara Levy erwähnt wird.283 2.3.6 Familie Mendelssohn Bartholdy Mit der Musikpraxis im Haus von Lea und Abraham Mendelssohn Bartholdy rücken Musik-Räume in den Fokus, denen im Forschungsdiskurs bereits einige Aufmerksamkeit geschenkt wurde und die zum anderen zeitlich gesehen am weitesten in das 19. Jahrhundert hinein Bedeutung entwickelten.284 Die folgende Analyse der Bach-Rezeptionspraxis in den Musik-Räumen der Mendelssohn Bartholdy-Familie 280 Vgl. Röder, Zwischen Repräsentation und populärer Unterhaltung, S. 130. 281 Zur Bedeutung der Instrumentation im Zusammenhang mit Festlichkeit in der Musik vgl. Frank Hentschel, Festlichkeit. Expressive Qualität und historische Semantik bei Beethoven, in: Archiv für Musikwissenschaft 70/3 (2013), S. 162–190, hier vor allem S. 167 ff. 282 Zwischen den Familien von Voß und von Arnim bestanden freundschaftliche Beziehungen. So wohnte das Ehepaar von Arnim im Jahr 1811 für eine kurze Zeit im Gartenhaus des voßschen Palais in der Wilhelmstraße. 283 Vgl. das Kapitel Bach vernetzen (Teil III, Kap. 3.2.3). 284 Für einen Überblick über aktuelle Forschungen vgl. das Kapitel Zwischen den Interessensgebieten der Forschung: Ein Forschungsrückblick (Teil II, Kap. 3.1.1).
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erfolgt mit dem Ziel, sie in dem Umfeld der bereits vorgestellten Haushalte zu verorten und Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede herauszuarbeiten. Zwei Einschränkungen wurden getroffen: Um Doppelungen mit Forschungen zu vermeiden, die sich explizit z. B. mit Fanny Hensels Sonntagsmusiken oder Felix Mendelssohn Bartholdys Musikausbildung beschäftigen, wird der Untersuchungszeitraum auf die 1820er Jahre und mit dem Auszug Felix’ und dem Wiederbeginn der Sonntagsmusiken durch Fanny begrenzt. Zudem wird die Fragerichtung der folgenden Untersuchungen klar definiert: Der Blick auf die Phänomene des inner- und außerfamilialen Umgangs mit Bach wird aus Sicht seiner Gestaltung durch Lea Mendelssohn Bartholdys untersucht. Es geht also nicht – wie sonst oft üblich – darum, aus Aussagen der oder über die Kinder unmittelbar auf die Musikpraxis der Mutter zu schließen. Zweitens erfolgt die Untersuchung aus der Perspektive des Hauses als Raum der innerfamiliären Aufführung und des Unterrichts, nicht aus der Perspektive des Salons, wie er in Fanny Hensels Sonntagsmusiken eine prägnante Ausprägung erhält. Diese Phase gehört explizit nicht zum Untersuchungszeitraum. Während im vorangegangen zweiten Teil der Studie (Mikro-Blick Lea Mendelssohn Bartholdy: Bach reflektieren in Briefen) die Bach-Topoi in den Briefen Lea Mendelssohn Bartholdys im Mittelpunkt standen, wird an dieser Stelle der Blick explizit auf die praktische Dimension der Bach-Rezeption in der Familie Mendelssohn Bartholdy gerichtet. Musik-Räume im Haus der Familie Mendelssohn-Bartholdy Für die Zeit der 1820er Jahre, den zentralen Ausbildungsjahren von Fanny und Felix, sind in den Briefen Lea Mendelssohn Bartholdys an ihre Cousine in Wien und in zeitgenössischen Erinnerungsquellen drei verschiedene Musikraum-Formate dokumentiert: Informelle Musikabende, mit Musik begangene Familienfeste und Soireen und außerdem die Sonntagsmusiken.285 Zwei Kriterien, die die teilweise unterschiedlich ausgerichteten musikalischen Räume allgemein prägten, waren die Transformation der Zuschauer in Akteure und der Werkstatt- bzw. Experimentiercharakter. Der Charakter dieser Musikveranstaltungen reicht von den informellen Musikabenden, die Lea Mendelssohn Bartholdy in ihren Briefen als „Musikalische Winterabende“ bezeichnet, als intimstes Konzertformat bis zu den Sonntagsmusiken als öffentlichstes.286 Dazwischen siedelt Cornelia Bartsch „mit Musik begangene Familienfeste“ sowie größere Soireen an, bei denen Felix Mendelssohn Bartholdys Singspiele vor geladenen Gästen aufgeführt wurden“.287 Wolfgang Dinglinger differenziert die musikalischen Räume hinsichtlich ihres Anteils an Geselligkeit und Konzertaufführung. Kriterium für letzteres sei z. B. das Engagement von benötigten Musikern im Fall der Sonntagsmusiken aus der Berliner Hofkapelle.288 285 Vgl. Bartsch, Dialogizität versus Univers(al)ität?, S. 148. Auch die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich an Bartsch, Dialogizität versus Univers(al)ität?. 286 Vgl. ebd., S. 148. 287 Ebd. 288 Wolfgang Dinglinger, Sonntagsmusiken bei Abraham und Lea Mendessohn Bartholdy, in: Klein, Die Musikveranstaltungen bei den Mendelssohns, S. 35–46, hier S. 44.
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Der Umzug aus der Wohnung in der Neuen Promenade 7 in die Leipziger Straße 3 im Jahr 1825 bedeutete hinsichtlich der Raumbeschaffenheit für die Gestaltung der musikalischen Veranstaltungen eine Veränderung.289 So bot der Gartensaal aber auch das Haus in der Leipziger Straße 3 an sich neue Möglichkeiten der Musikdarbietung. Alle drei Formate – informelle Musikabende, musikalische Familienfeiern und Sonntagsmusiken – existierten vor dem Umzug und wurden danach weitergeführt. Viele Merkmale, so die Durchführung in den familiären Räumen, das Einbeziehen anwesender Musikerinnen und Musiker in die Musikdarbietung, gelten gleichermaßen für die verschiedenen Musikraum-Formate. Auf die spezifischen Merkmale wird im Folgenden eingegangen. Dinglinger bewertet die Aufführung von Felix’ Singspiel anlässlich seines zwölften Geburtstags am 3. Februar 1821 als Initiationspunkt der Sonntagsmusiken. Hierfür wurden die „besten Mitglieder der königl. Kapelle“290 engagiert, die von Felix am Klavier sitzend dirigiert wurden. Laut dem Zeugnis Hensels reichte die Anzahl der Gäste dieser Veranstaltungen von wenigen Personen aus dem Freundeskreis in der Neuen Promenade bis hin zu 200 Personen, die bei Musikaufführungen im Gartensaal der Leipziger Straße 3 Platz haben konnten. Dass auch die Wohnung in der Neuen Promenade einen angemessenen Aufführungsort besaß, der mindestens 60 bis 80 Zuhörer fasste, beschreibt Lea Mendelssohn Bartholdy im Mai 1823: Felix gab eine neue ouverture und ein Koncert für piano und Geige, letzteres für seinen Freund Ritz, den einzigen Schüler, welchen Rode hier gebildet, und der seiner Schule Ehre macht. Trotz des schönen Frühlingswetters finden sich noch immer zwischen 60 und 80 Zuhörer ein, man liebt hier le bon vieux temps de la musique, und Eure vergeßnen Klaßiker Haydn, Mozart, Beethoven leben bei uns auf, wiewohl auch Czerny, Moscheles, Mayseder einmal mit durchgucken.291
Im Unterschied zu den Musikaufführungen bei den informellen Musikabenden oder bei Familienfeiern fanden die Sonntagsmusiken nicht am Abend, sondern mittags um 12 Uhr statt.292 Dinglinger bewertet den Umzug in die Leipziger Straße als Zeitpunkt, an dem sich die Sonntagsmusiken professionalisierten aufgrund des reichhaltigeren Raumangebots und des sich stetig steigernden musikalischen Potentials von Fanny und Felix.293 Trotzdem blieb der Rahmen der Sonntagsmusiken 289 Sebastian Hensel berichtet, wieso dieser Umzug so wichtig war: „Im Jahre 1825 trat ein Ereignis ein, das auf die Entwickelung der Kinder, auf die ganze Gestaltung des Lebens der Familie auf Generationen hinaus vom bestimmendsten Einfluss werden sollte und das deshalb zur Ueberschrift dieses Kapitels gewählt wurde: Abraham kaufte das schöne Grundstück Leipziger Strasse No. 3. […] Allen Mitgliedern der Familie war aber dies Haus nicht ein gewöhnlicher Besitz, ein todter Steinhaufen, sondern eine lebendige Individualität, ein Mitglied, theilnehmend am Glück der Familie, es war ihnen und den Nächststehenden gewissermassen Repräsentant derselben.“ Sebastian Hensel, Die Familie Mendelssohn Bd. 1, S. 139 f. 290 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 36, Brief vom 26. und 27. Februar 1821. 291 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 97, Brief vom 27. Mai 1823, siehe auch in Dinglinger, Sonntagsmusiken, S. 41, und Bartsch, Dialogizität versus Univers(al)ität?, S. 153. Pierre Rode (1774–1830) war ein befreundeter Geiger der Familie Mendelssohn Bartholdy. 292 Vgl. die Erinnerung des Arztes Stromeyer, in: Dinglinger, Sonntagsmusiken, S. 43. 293 Dinglinger, Sonntagsmusiken, S. 42.
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ein nichtöffentlicher, der Werkstattcharakter hatte und in dem eine „Atmosphäre des Erprobens“294 herrschte. Über Musik im Rahmen der informellen Musikabende berichtet Lea Mendelssohn Bartholdy im Juni 1820: Mit Rode schwindet völlig der Reiz unsrer musikal. Winterabende. […] Eine unersetzliche Lücke in unserm Umgange! Er und seine kleine Frau sind das liebenswürdigste Paar das man sehen kann; er war so gefällig, bei uns zu spielen wann wirs wünschten, und der Genuß, von einem so ausgezeichneten Künstler begleitet zu werden, feuerte die Kinder nicht wenig an, seiner würdig zu spielen.295
Über die Häufigkeit der informellen Musikabende, den „Winterabenden“, geben die Briefe keine Auskunft. Bartsch formuliert die These, dass „informelles abendliches Beisammensein, bei dem gelesen und musiziert wurde, offenbar so alltäglich“ war, dass „sie es nur beiläufig als Nebeninformation zu Gewichtigerem für erwähnenswert hielt.“296 Lea Mendelssohn Bartholdy erwähnt musikalische Zusammenkünfte dieser Art nur ein weiteres Mal und zwar im Zusammenhang mit ihrer Mutter: „Sie [Bella Salomon] bringt jeden Abend fast, wenn ich zu Hause bin, oben bei mir zu, nimmt an Musik, lesen u. Gespräch lebhaft Theil.“297 Bartsch betont den Experimentiercharakter der informellen Abende, hinsichtlich des Aufführens von „neuer Musik anwesender oder eng mit dem Haus verbundener Musiker“.298 Als weitere mögliche Stücke, die während dieser informellen „Winterabende“ zur Aufführung gelangt sein könnten, rekonstruiert Bartsch die Proben für das „Experiment Matthäus-Passion“299 und die „Proben für die Singepiele des Sohnes Felix, denen der gesellige Anlaß zwar ebenfalls eingeschrieben war, die aber sehr bald nach einem größeren Aufführungsapparat verlangten.“300 Über die Vorgeschichte der Wiederaufführung der Matthäus-Passion geben Eduard Devrients Erinnerungen aus dem Jahre 1869 detaillierte Auskünfte. Ihm zufolge versammelte Felix Mendelssohn Bartholdy nach 1827 Samstagabends einen „kleinen zuverlässigen Chor“, mit dem er „seltene Musik“ probte.301 Die Beschäftigung mit der Matthäus-Passion erfolgte in sehr reduzierter Besetzung am Klavier innerhalb dieser informellen Musikabende seit dem 17. Februar 1826. Die Bewertung dieser unterschiedlichen Räume und ihrer Wirksamkeit für die Ausbildung der Mendelssohn-Kinder erfolgt im Forschungsdiskurs sehr unterschiedlich. Wolfgang Dinglinger betont den konzertähnlichen Charakter der Sonntagsmusiken als ein explizit auf Felix ausgerichtetes Musikformat. Er begründet seine Argumentation mit dem Hinweis, Felix habe gegenüber salonähnlichen Kon294 Ebd. 295 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 30, Brief vom 28. und 30. Juni 1820, siehe auch in Bartsch, Dialogizität versus Univers(al)ität?, S. 147 f. 296 Bartsch, Dialogizität versus Univers(al)ität?, S. 148. 297 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 91, Brief vom 19. und 20. März 1823. 298 Bartsch, Dialogizität versus Univers(al)ität?, S. 148. 299 Ebd., S. 149. 300 Ebd. 301 Eduard Devrient, Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy und Seine Briefe an mich, Leipzig 1869, S. 53, siehe auch in Bartsch, Dialogizität versus Univers(al)ität?, S. 149.
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zertformaten eine grundsätzliche Abneigung verspürt, die wiederum durch seine Erfahrungen in den Pariser Salons geschürt worden sei.302 Diese Lesart separiert die innerfamiliären Musikräume in zwei unterschiedliche Funktionsbereiche: Die informellen Musikabende und die musikalischen Familienfeste werden als gesellige Veranstaltung und die Sonntagsmusiken als eine konzertähnliche Veranstaltung beschrieben, in welchen Stücke mit Werkcharakter aufgeführt wurden. Deutlich ist hier die Intention spürbar, die Kompositionen von Felix und seine Professionalisierung als Berufsmusiker nachträglich von einem Einfluss durch musikalische Geselligkeiten, wie sie in den informellen Musikabenden und bei Familienfesten etabliert waren, freizusprechen. Cornelia Bartsch verweist auf die diskursive Verankerung dieser Argumentation, die bereits bei Adolph Bernhard Marx und dann auch bei Eric Werner etabliert wurde.303 Diese Einschätzungen verfolgen das Ziel, Felix Mendelssohn Bartholdy einen Platz im „Pantheon der europäischen Musikgeschichte“304 zu geben, indem er von allen geselligen und salonhaften Kontexten, die speziell jüdisch und weiblich geprägte Räume waren, zu befreien.305 Der Subtext dieser Lesart beinhaltet eine Bewertung geselliger Musikausübung als nicht karrierefreundlich. Cornelia Bartsch hingegen verweist auf das Überlappen mehrerer Funktionen von Musik in einem Raum und betont die Gleichzeitigkeit von Hörraum, Bildungsraum und Spielraum als das Gemeinsame der verschiedenen Musikformate. Die zwei oben genannten Kriterien lassen sich als Konstituenten dieser MusikraumGestaltung interpretieren: Die Transformation der Zuschauer in Akteure und der Werkstatt- bzw. Experimentiercharakter. Wie allerdings genau eine Aufführungssituation gestaltet war, wie sich Publikum und Musiker platzierten und – je nach Rollentausch – den Platz änderten, lässt sich kaum rekonstruieren. Es ist nur vorstellbar, dass ein Wechsel zügig erfolgen musste, wenn beispielsweise für eine größere Besetzung mit Chor die Sängerinnen und Sänger aus der Rolle der Zuhörer in die Rolle der Auftretenden wechseln mussten. Da bei den Musikveranstaltungen prinzipiell jeder anwesende Musiker und jede anwesende Musikerin zu jeder Zeit auftreten konnte, ist er oder sie mal Schaffender, mal Rezipient des Werks. Beatrix Borchard betont in ihren Studien über die musikalischen Geselligkeiten vor allem bei Fanny Hensel die Performativität der Veranstaltungen, u. a. durch den Umstand, dass die Zuhörer und Zuhörerinnen „selbst potentielle Mitwirkende [waren], die sich aus professionellen Musikern und musikbegeisterten Männern und vor allem Frauen, für die Musik nicht Beruf und Broterwerb darstellte, zusammensetzte“.306 In den Musik-Räumen der Mendelssohns bekommt das Interagieren miteinander einen hohen Stellenwert, so z. B. auch im Bezug auf die Proben für die Mat302 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Lea Mendelssohn Bartholdy vom 6. April 1825, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, Briefe, S. 42 f., vgl. auch Dinglinger, Sonntagsmusiken, S. 43. 303 Werner, Mendelssohn. Leben und Werk, S. 33, rühmt den Einfluss Zelters auf Felix, der ihn von einem „Absinken“ in einen „weiblichen, dandyhaften und ‚salonfähigen‘ Musikstil“ befreite. Siehe auch Bartsch, Lebenswelten, S. 146. 304 Ebd. 305 Ebd. 306 Borchard, Einschreiben in eine männliche Genealogie?, S. 67.
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thäus-Passion. Das gemeinsame Singen und Spielen sollte die Aufführbarkeit des Werkes erproben. Devrient bezeichnete die Passion als „räthselhafte musikalische Geheimsprache“,307 die unter Felix’ Leitung in den Proben entschlüsselt wurde. Dass dabei die Ausführenden die Bearbeitung der Matthäus-Passion indirekt mitbestimmten, ist nicht von der Hand zu weisen. Eine Mischung aus Spaß und Ernsthaftigkeit, der hohe Grad des Experimentierens und Ausprobierens und die implizite Bildungsfunktion haben den Impetus eines intimen familialen Musik-machen-Wollens. Lea Mendelssohn Bartholdy bezeichnet die Sonntagsmusiken auch als „SonntagsUebungen“308 und Heinrich Dorn berichtet über sie als einen „offenen Unterricht“309: Professor Zelter, bei welchem Felix die contrapunktischen Studien durchmachte, war natürlich sein eifrigster Zuhörer, auch aber sein strengster Censor; denn ich habe es mehr als einmal erlebt, dass er nach solcher Aufführung irgend eine Variante für nöthig befand, die er laut seinem Schüler andeutete, der dann muckstill die Partitur zusammenpackte, zum nächsten Sonntag umarbeitete und sie in verbesserter Ausgabe nochmals vorführte.310
Ein Werk, das zwei Mal in Folge sonntags erklingt, wird nicht als abgeschlossenes Gebilde verstanden, sondern betont die Entstehung von Musik im Prozess, im Moment des Aufführens selbst. Werke, die in den Musikräumen der Mendelssohns aufgeführt wurden, waren offen für Publikum und Kommunikation, wechselten die Richtung, mussten im Musikmachen dekodiert werden oder gaben Rätsel auf. Sie waren keine Kunstwerke, die es zu lesen, sondern Musik, die es zu „machen“ galt. Diese Form des Umgangs mit Musik wird hier explizit Lea Mendelssohn Bartholdy zugeschrieben. Sie knüpfte an die in ihrer Familie etablierte Aufführungstradition an und richtete sie an den spezifischen Anforderungen, die ihre Kinder an ihre eigene Musikausbildung stellten, aus. Bach-Aufführungen Details über Bach-Aufführungen während der Sonntagsmusiken können für den abgesteckten Zeitrahmen bis 1829 an drei Briefstellen im Briefkorpus Lea Mendelssohn Bartholdys nachgewiesen werden: Im November 1824 berichtet sie von der Aufführung eines Klavierkonzerts durch Fanny, im Februar 1826 berichtet sie von einer Symphonie und im Juni 1826 von einem nicht weiter bestimmten „piece“ von Bach.311 Die spärlichen Auskünfte über Programme der informellen Abende geben keine Informationen zu Aufführungen von Werken Bachs. Wie viel Bach war materialiter überhaupt vorhanden? Das Verzeichnis der Musikalien, die sich im Besitz der Familie Mendelssohn Bartholdy befanden, wurde 1823 angelegt und bis 1833 von Fanny geführt. Die Komponisten wurden in al-
307 Eduard Devrient, Meine Erinnerungen, S. 42. 308 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 315, Brief vom 25. März 1834. 309 Heinrich Dorn, Aus meinem Leben. Erinnerungen. Berlin o. J., S. 49, zitiert nach Dinglinger, Sonntagsmusiken, S. 37. 310 Ebd. 311 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, Briefe vom 28. November 1824, vom 12. Februar 1826 und vom 11. Juni 1826.
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phabetischer Reihenfolge und die Erwerbungen chronologisch darin notiert.312 Der Katalog notiert für das Jahr 1823 eine lange Liste bachscher Werke, u. a. die Partitur der h-Moll Messe, mehrere Kantaten und Motetten, das von Lea erwähnte „Concert aus d-Moll“ mit Einzelstimmen, außerdem beide Teile des Wohltemperierten Klavier, sämtliche Werke für Klavier (Englische Suiten, Französische Suiten, Goldberg-Variationen) und die Sonaten und Partiten für Violine solo. Wahrscheinlich ist, dass die Bestände bereits vor 1823 existierten, aber erst mit Beginn des Katalogs gebündelt notiert wurden. In den Folgejahren werden pro Jahr meist nur einzelne Stücke als Neuerwerb aufgeführt, was die Vermutung bestätigt. Insgesamt bilden die Bach-Bestände einen repräsentativen Querschnitt durch alle Gattungen Bachs. Die Befunde des Musikalienverzeichnisses und die mögliche Existenz von durch Leas Mutter vererbten Materials weisen darauf hin, dass in der Sammlung viel mehr von Bach existierte als in den erwähnten Briefstellen zu Tage tritt. Wann wurde es geprobt und aufgeführt? Im Juni 1820 beschreibt Lea Mendelssohn Bartholdy ihrer Cousine Felix’ musikalische Fähigkeiten: „Die Leichtigkeit mit der dies Kind alle Schlüßel liest, Partituren der größten Meister spielt und auswendig behält, Noten schreibt, komponirt, den Kontrapunkt erlernt hat, ist, ich muß es selbst sagen, bewundernswerth; […].“313 Stichworte die mit Bachs Werken in Verbindung gebracht werden sind: „Partituren der größten Meister“ und „den Kontrapunkt“. Ihre Schwägerin Henriette Mendelssohn, Abrahams Schwester, mit der Lea in stetigem Briefkontakt stand, erwähnt die besonderen Fähigkeiten Fannys Bach zu spielen. Sie schreibt am 1. August 1818 aus Viry in Frankreich: Fanny’s Meisterstück 24 Präludien auswendig zu lernen und ihre Beharrlichkeit sie einstudiren zu lassen, haben mich starr und stumm vor Erstaunen gemacht und ich habe nur die Sprache wieder gefunden, um allen Menschen dies ungeheure Gelingen mitzutheilen. Nachdem ich aber Ihnen und Fanny meine ungetheilte Bewunderung zuerkannt, muß ich doch gestehn, dass ich das Unternehmen strafbar finde, die Anstrengung ist zu groß, sie hätte leicht schädlich werden können.314
Wie Elvers vermutet hatte Goethe bereits 1816 von den Bach-Kenntnissen Fannys erfahren. Zelter schreibt an Goethe im April 1816: Der Banquier Abraham Mendelssohn ist es, der Dir diesen Brief bringt. Er ist der zweite Sohn des Philosophen und von seinen ersten Jünglingsjahren an, nach dem Tode des Vaters hat er sich mein Haus mit dem was drinnen war gefallen lassen. Er gehört zu den Braven und so wirst du ihn aufnehmen. Er hat liebenswürdige Kinder und sein ältestes Töchterchen könnte Dich etwas von Sebastian Bach hören lassen. Das Kind war etwas verschniegelt wie sie es noch ist und alle sind die früh zum Leben reifen. Auch die Mutter ist es und doch zugleich eine höchst treffliche Mutter.315
312 Vgl. Rudolf Elvers / Peter Ward Jones, Das Musikalienverzeichnis von Fanny und Felix Mendelssohn Bartholdy, in: Mendelssohn Studien 8 (1993), S. 85–103, hier S. 85. 313 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 29, Brief vom 28. und 30. Juni 1820. 314 Klein, Henriette Maria Mendelssohn in Paris, S. 135–136, auch zitiert in Elvers, Bach im Briefwechsel der Mendelssohns, S. 409. 315 Brief von C. Fr. Zelter an J. W. Goethe am 4. April 1816 in: Goethe, Sämtliche Werke 20,1, S. 411, ebenfalls zitiert bei Elvers, Bach im Briefwechsel der Mendelssohns, S. 409.
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Auch die Briefe, die Felix von seiner Reise im Jahr 1821 nach Weimar zu Goethe verschickte, enthalten häufig den Namen Bach.316 Am 3. Mai 1821 fragte er seinen und Fannys Orgellehrer August Wilhelm Bach: Was sagt der Küster, lieber Herr Bach. Können wir heute Nachmittag spielen? Giebt es keine Hochzeit? keine Einsegnung? Haben Sie die Güte mich durch Ueberbringung dieses auf meine vielen Fragen Antwort sagen zu lassen. Ist nun von allen diesen Dingen heute keine Störung zu befürchten, so stehe ich um Puncto 4 an dem Thurm, mit meiner Schwester, (wie Sie es erlaubt haben). Grüßen Sie doch Praeludium und Fuge aus g-Moll. Ich schwitze jetzt über einer Orgelfuge die nächster Tage zur Welt kommen wird. Allen Principalpfeifen meinen herzlichen Gruß Ihr Ergebner F. Mendelssohn.317
Felix wird sich hier auf die Komposition Präludium und Fuge in g-Moll BWV 535 bezogen haben.318 Dass sich unter den im Musikalienverzeichnis 1823 verzeichneten „6 Praeludien u. Fugen f. die Orgel“ die erwähnte in g-Moll befand, ist nicht auszuschließen. Da Felix sie in seinem Brief erwähnt, bestätigt sich aber bereits, dass sich auch vor 1823 Bach-Werke im Besitz der Familie befanden. Es ist kaum vorzustellen, dass Bach-Kenntnisse der Kinder, von denen Henriette Mendelssohn in Berlin und Goethe in Weimar erfuhren, nicht auch im Haus Mendelssohn Bartholdy eine Rolle spielten. Anhand eines Konzertprogramms, das durch Franz Xaver Mozart übermittelt worden ist, lässt sich rekonstruieren, dass im Rahmen der informellen Musikabende kleiner besetzte oder solistische Instrumentalmusik aufgeführt wurde. Dies ist vermutlich der Raum gewesen, in dem die betreffenden Bach-Werke gespielt wurden. Bach, vornehmlich seine Klavierwerke, waren überwiegend zunächst Lehrstücke.319 Sie waren Bestandteil des Klavier- und Orgelunterrichts. 1826 bezeichnet Lea Mendelssohn Bartholdy Bach selbst als „Pedanten und Schulfuchs“,320 ein Image das Bach lange begleitet hat. Auf Reisen galten sie als Vorzeigestücke. Stilistisch gehörten sie zu den Werken der Alten Meister, galten aber gleichzeitig in Bezug auf den „reinen Satz“ als modern. Lea Mendelssohn Bartholdy war sich der Rarität der Werke Bachs bewusst.321 Auch deswegen sprach sie ihnen einen gewissen exotischen Reiz zu. Es war sicherlich in ihrem Sinne, dass das Experiment Matthäus-Passion in ihren Räumen begann. Mit dem Verlassen des Aufführungsrahmens im Haus fand ein Entäußerungsprozess statt, der sich besonders klar am Beispiel der Matthäus-Passion verfolgen lässt. Die „Geheimsprache“ der Matthäus-Passion wurde, wie Devrient erwähnt, in den Proben an informellen 316 317 318 319
Ebd., S. 411–412. D-B MA, Ep. 1, zitiert ebd., S. 410. Vgl. Elvers, Bach im Briefwechsel der Mendelssohns, S. 409. Janina Klassen zeichnet für die Repertoire-Entwicklung von Clara Schumann hinsichtlich der Bach-Werke eine ähnliche Entwicklung. Bachs Klavierwerke waren in den Anfangsjahren Lehrstücke für ihre Schüler, erst in den Folgejahren wurde Bach zum Repertoire-Stück. Vgl. den Beitrag von Janina Klassen in: Rebecca Grotjahn / Peter Wollny, Bach. Genius, Genus, Generationen (Tagung im Rahmen des Bach-Festes Detmold 2013), Druck. in Vorb. 320 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 179, Brief vom 25. März 1834. Vgl. das Kapitel „Die wahre, keusche, stärkende, nicht erschlaffende Gewalt der Musik“: Bach-Diskurse bei Lea Mendelssohn Bartholdy (Teil II, Kap. 3.2). 321 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 179, Brief vom 17. Februar 1826.
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Musikabenden – so Lea 1834 selbst – „zugänglich und mundrecht“322 gemacht. Die Matthäus-Passion wurde in diesem Sinne nicht als geschlossenes Kunstwerk verstanden, sondern offen für Veränderungen und „Enträtselung“. Sie machte den Weg über die Spielkultur in den häuslichen Aufführungen der Familie Mendelssohn Bartholdy in die Sing-Akademie zu Berlin.323 Bach-Praxis der Familie Mendelssohn Bartholdy im Kontext Betrachtet man nun die Bach-Praxis im Haus Mendelssohn Bartholdy vor dem Hintergrund der bereits thematisierten Praktiken in den anderen Bürgerhäusern Berlins und in Vorausschau auf die in Sara Levys Salon und der Sing-Akademie, entsteht folgendes Bild: Hinsichtlich der mendelssohnschen Musiksammlung an Bach-Werken sind im Vergleich zur Beschaffenheit der Sammlung Sara Levys324 einige Unterschiede festzustellen. Kirchliche Kantaten, Oratorien, Passionen sind im Gegensatz zur Sammlung der Itzigs und der Sara Levys vorhanden, ebenso auch Werke für Orgel. Warum das Gattungsspektrum bei den Mendelssohn Bartholdys größer war als bei den Itzigs und auch bei Sara Levy ist als Resultat eines Bedeutungswandels zu verstehen, den die Musik Bachs für die familiale Musikpraxis in den genannten Haushalten durchlaufen hat. Sowohl für die Elterngeneration der Itzigs (Daniel und Mirjam Itzig) als auch für die Generation ihrer Kinder spielte die bachsche Kontrapunktik aufgrund ihrer Anschlussfähigkeit zur jüdischen Aufklärung eine große Rolle. Dass hier also vor allem die Instrumental- und Klavierwerke im Vordergrund standen, ist angesichts der wahrgenommenen Überschneidungen zwischen zeitgenössischer Musikästhetik im Kontext der jüdischen Aufklärungsbewegung und der instrumentalen, kontrapunktischen Musik Bachs plausibel. Die Bach-Praxis, die Lea Mendelssohn Bartholdy in ihrer Familie und vor allem in den zentralen Ausbildungsjahren von Fanny und Felix vorantreibt, rückt von dieser Bedeutungsfacette ab und stellt Bach als Bestandteil eines Musikrepertoires und als künstlerisches Vorbild mit einem viel größeren Spektrum an Gattungen in den Mittelpunkt. Bachs Musik erhält hier Bedeutung als Vehikel für eine gelingende musikalische Professionalisierung der Kinder, wenngleich diese – wie bereits mehrfach betont – je nach Geschlecht in unterschiedlicher Art angestrebt wurde. Diese Tendenz, angesichts der musikalischen Professionalisierung der Kinder an zeitgenössischen kulturellen Entwicklungen unmittelbar teilzunehmen bzw. sie mit voranzutreiben, ist auch angesichts der großen Diskrepanz zwischen der itzigschen und der mendelssohnschen Sammlung und mit Blick auf das Vorhandensein von Werken der Bach-Söhne zu verzeichnen. Carl Philipp Emanuel Bach ist in der Sammlung der Mendelssohn Bartholdys zwar vorhanden, ist aber nicht mit seinen kammermusikalischen Werken, sondern den groß besetzten Werken (57 Konzerte, 10 Symphonien, Passionsmusik) vertreten. Die großbesetzten, sinfonischen Kompositionen waren für Felix Mendelssohn Barthody mit Blick auf seine Karriere relevant, nicht die kleinbesetzten, kammermusikalischen. Wilhelm Friedemann Bach fehlt in der Sammlung der Mendelssohn Bartholdys gänzlich. Hier deutet sich an, was für die 322 Ebd., S. 315, Brief vom 25. März 1834. 323 Vgl. das Kapitel Bach und Erziehung (Teil II, Kap. 3.2.4). 324 Vgl. das Kapitel Mikro-Blick Sara Levy: Bach praktizieren im Salon (Teil III, Kap. 3.)
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Bach-Rezeption durch die Generation Felix Mendelssohn Bartholdys und Fanny Hensels verbürgt ist: Während die Instrumentalmusik, dann auch die Vokalmusik J. S. Bachs als klassisches Repertoire bewertet und in einen Repertoirekanon mit Haydn, Mozart, Beethoven gestellt wurde, gerieten die Söhne Bachs schnell in Vergessenheit.325 Möglich ist zwar, dass sich drei Werk-Bände von C. P. E. Bach und die Sammlung „drei leichte Sonaten“ von J. C. F. Bach, die sich vormals im Besitz von Bella Salomon geb. Itzig – also der Mutter Lea Mendelssohn Bartholdy – befunden haben,326 nach ihrem Tod im März 1824 an die Musikbibliothek der im Haus wohnenden Tochter Lea übergegangen sind. Allerdings verloren die BachSöhne im Laufe der Zeit erheblich an Bedeutung für die Bach-Praxis der Mendelssohn Bartholdys. Anders als bei Sara Levy, die – wie noch gezeigt wird – sowohl persönlich als auch musikästhetisch eine große Verbundenheit zu den Bach-Söhnen zeigte. Ähnlich wie bei Sara Levy gingen von den Mendelssohn Bartholdys Notenspenden an die Sing-Akademie zu Berlin. Im Jahr 1811 vermachte Abraham Mendelssohn Bartholdy der Berliner Singakademie eine große Spende in Form eines umfangreichen Bestandes an Bach-Handschriften, die er von Georg Poelchau erworben hatte.327 Zelter war sich dem Stellenwert der Schenkung bewusst, den dieser für Abraham Mendelssohn Bartholdy und seine Familie hatte: „H. Mendelssohn hat die schönen Bachschen Reste der Singakad. geschenkt und sich damit ein Denkmal gesetzt.“328 Die Praxis des Spendens von Bach-Material an die Sing-Akademie verdeutlicht den Wunsch sowohl der Itzigs als auch Sara Levys, sich mittels der Teilhabe an musikkultureller Erinnerungsarbeit selbst als aktiver Träger bzw. aktive Trägerin der zeitgenössischen Musikkultur zu inszenieren. Während die BachSammlung der Familie von Voß zwar später auch an eine größere Berliner Musikinstitution vermacht wurde, hat diese Art der posthumen Weitergabe eine andere Bedeutung als die Schenkung von Bach-Material zu Lebzeiten des Spenders bzw. der Spenderin wie sie bei den Mendelssohn Bartholdys und bei Sara Levy anzutreffen ist: Sie ist unmittelbar Ausdruck einer bewussten Mitwirkung am Repertoire der Sing-Akademie. Das Bach-Material wird nicht nur gespeichert, sondern erhält eine Funktion für die Gegenwart. 325 Vgl. Wollny, „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“, S. 46. 326 Wollny, ebd. S. 90, konnte anhand von Subskriptionslisten feststellen, dass Bella Salomon in den Jahren 1772 bis 1789 drei Werkausgaben C. P. E. Bachs und eine von J. C. F. Bach subskribierte: Sei Concerti per il Cembalo (Wq 43 1772), Clavier-Sonaten und Freye Fantasien nebst einigen Rondos fürs Forte-Piano für Kenner und Liebhaber (Wq 58 1783), Cramers Psalmen (Wq 196 1774) und J. C. F. Bachs Drei leichte Sonaten 1789. 327 Vgl. Glöckner, „Ich habe den alten Bachen“, S. 338. Der besonderen Bedeutung Poelchaus für die Berliner Bach-Tradition wurde in Teil II dieser Studie nachgegangen. Zwischen den Familien Mendelssohn, Itzig/Levy und Poelchau bestand eine lange Beziehung, die sich bereits in der Hamburger Zeit entwickelt hatte. Vgl. Wolfgang Dinglinger, Bach und die Familie Mendelssohn, in: Bach – Thema und Variationen. Ein Lese-Buch zum Konzertprojekt. hg. vom Konzerthaus Berlin / Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, red. von Habakuk Traber, Berlin 1999, S. 75–98, hier S. 76–77. 328 Brief von Carl Friedrich Zelter an Georg Poelchau vom 28. Juni 1811, zitiert in: Glöckner, „Ich habe den alten Bachen“, S. 338.
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Auf der Ebene der Akteurinnen und Akteure ist eine große Überschneidung zu den Mitgliedern der Sing-Akademie festzustellen. Neben C. Fr. Zelter sind es das Ehepaar Devrient, Hegel, Steffen und Jacobi, die auch als Gäste der Musikveranstaltungen bei den Mendelssohn Bartholdys Erwähnung finden. Das Bach-Repertoire der Familie Mendelssohn-Bartholdy weist größere Ähnlichkeiten zu dem der Sing-Akademie auf als zu dem Sara Levys, vor allem in Bezug auf die größer besetzten Vokalwerke Bachs. Auch hinsichtlich der Lehrer, die von Lea Mendelssohn Bartholdy eingestellt wurden, sind Unterschiede zu den Itzigs zu bemerken. Die Familie Itzig orientierte sich hinsichtlich ihrer Wahl der Lehrer – wie z. B. Kinberger – vor allem am Wirkungskreis des Hofes. Zelter und August Wilhelm Bach, die für die Bach-Ausbildung der Mendelssohn-Kinder zuständig waren, nahmen als Direktoren der SingAkademie bzw. des Instituts für Kirchenmusik zentrale Positionen in den bürgerlichen Ausbildungsstätten ein und entsprachen damit dem Wunsch Lea Mendelssohn Bartholdys, ihre Kinder im zeitgenössischen Musikbetrieb zu verankern. 2.4 Der Saal Der Saal beschreibt an dieser Stelle einen Handlungsraum, der sich für einen außerfamilialen musikalischen Anlass öffnet. Er kann sowohl Teil eines Bürger-Hauses sein als auch einer Gaststätte oder eines Hotels. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war der Saal ein Aufführungsort der sogenannten musikalischen Gesellschaften. Sie stellten für das Musikleben Berlins vor der Entstehung eines öffentlichen Konzertsaals einen wichtigen Aufführungsraum dar.329 Matthias Röder beschreibt zwei Phasen von Musikgesellschaften, die sich durch unterschiedliche Strukturmerkmale auszeichnen. Das sind zum einen die frühen Musikgesellschaften (Musikvereinigungen330), die bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges (1757–1763) bestanden. Hierzu zählen die Akademie des königlichen Kammermusikers Johann Gottlieb Janitsch (1708–1763), die Musikalische Assemblée des zweiten Hofcembalisten Christian Friedrich Schale (1713–1800), das Concert des Hofkomponisten Johann Friedrich Agricolas (1720–1774) sowie die Musikübende Gesellschaft unter der Leitung von Johann Philipp Sack (1722–1763). Während und nach dem Siebenjährigen Krieg gründeten sich weitere musikalische Gesellschaften, die sich im Vergleich zu den Gesellschaften der ersten Phase durch eine größere Mitwirkung von Musikliebhabern aus der Berliner Gesellschaft auszeichneten. Hintergrund für die Entstehung dieser Musikgesellschaften war 329 Hier und in den folgenden Ausführungen beziehe ich mich auf die Studien von Matthias Röder, Zwischen Repräsentation und populärer Unterhaltung, und Music, Politics and the Public Sphere. 330 Zwischen den einzelnen Bezeichnungen „Musikgesellschaft“, „Musikvereinigung“, „Musikverein“ wird bei Röder, Zwischen Repräsentation und populärer Unterhaltung, nicht klar differenziert. Ich verwende im Folgenden den Begriff „Musikgesellschaft“ zur Beschreibung musikalischer Zusammenkünfte in den Sälen des Berliner Bürgertums.
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die politische Situation während des Siebenjährigen Krieges. Mit der Flucht des Hofstaats nach Breslau erlahmte das Musikleben am Hof und das kulturelle Leben konzentrierte sich auf die Stadt und deren Bewohnerinnen und Bewohner. Anders als die Musikgesellschaften der ersten Phase, deren Aufführungen vornehmlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden und dem außerhöfischen Musizieren der höfischen Musiker dienten, kennzeichnet die Musikgesellschaften der zweiten Phase die bewusste Öffnung für die größere Allgemeinheit der Berliner Gesellschaft. Es wurde vermehrt in außerhäuslichen Räumen gespielt, vor allem in Gärten, Gasthäusern und Hotels. Strukturelles Merkmal der frühen Musikgesellschaften war neben dem Aufführungsort (private Häuser der Organisatoren) eine strenge Orientierung an den hierarchischen Reglementierungen, die in höfischen Musikräumen gepflegt wurden. Hierzu wurden Statuten aufgestellt, die einerseits das soziale Verhalten regeln sollten – vor allem in solchen Fällen, wenn der geschlossene Rahmen graduell für die Öffentlichkeit geöffnet wurde – und die Aufführung von Musik selbst. Neben der räumlichen Öffnung der späteren Musikgesellschaften wurde manch strenge Reglementierung gelockert und der Unterhaltungscharakter von Musik hervorgehoben.331 Dennoch war auch hier die höfische Musikpraxis als Vorbild zu erkennen. Zu den musikalischen Gesellschaften, die primär in öffentlichen Gastgärten stattfanden, wie z. B. Mengis Konzerte im Justinischen Garten, kamen in den 1770er Jahre weitere Musikgesellschaften hinzu, deren besonderes Kennzeichnen ihre Ausrichtung als Abonnementkonzerte darstellte. Hierzu zählten das LiebhaberKonzert unter der Leitung von Carl Ludwig Bachmann (1748–1809) und Johann Friedrich Ernst Benda (1749–1785) und das Concert für Kenner und Liebhaber von Johann Carl Friedrich Rellstab (1759–1813).332 Das Liebhaber-Konzert fand wöchentlich am Freitag im Gasthaus Corsica statt, Rellstabs Concert für Kenner und Liebhaber ebenfalls wöchentlich im Hotel Stadt Paris. Rellstabs Konzertreihe kann als kommerzialisierteste unter den Abonnementkonzerten bezeichnet werden. Zugang erhielten nämlich nicht nur die Mitglieder selbst, sondern auch zahlende Gäste und Musikliebhaber, wodurch sich erklärt, dass bei einem Mitgliederverhältnis von einundzwanzig professionellen Musikern und nur sieben Dilettanten die Mehrkosten der Honorare durch die erwirtschafteten Eintrittsgelder bestritten werden konnten.333 Durch den oben beschriebenen, abgeschlossenen Charakter der musikalischen Gesellschaften der ersten Phase, wurden keine genauereren Auskünfte über das dort gespielte Repertoire übermittelt.334 Es gibt kaum gesicherte Repertoirekenntnisse dieser frühen bürgerlichen Musikgesellschaften. Musikausübung wurde als „politikfreier Raum“ verstanden und der Zirkel aus Kennern und Liebhabern stark reg331 Details zu den formalistischen Statuten dieser Musikgesellschaften gibt Röder, Zwischen Repräsentation und populärer Unterhaltung, S. 127 f. 332 Siehe auch den Eintrag von Christoph Henzel, Konzert der Musikliebhaber, in: Uta Motschmann (Hg.), Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786–1815, Berlin u. a. 2015, S. 476–489. 333 Vgl. Röder, Zwischen Repräsentation und populärer Unterhaltung, S. 131 f. 334 Vgl. Wollny, Ein „musikalischer Veteran Berlins“, S. 83.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
lementiert. Es sollte „unter sich“ musiziert werden, in Anlehnung an die höfische Musikpraxis, die vorsah, dass unter Ausschluss der Öffentlichkeit musiziert wurde. Nach heutigem Kenntnisstand besaß beispielsweise der Hofkomponist Agricola, Leiter des Concert, zahlreiche Abschriften bachscher Werke. Diese wurden offenbar nicht für die musikalische Praxis am Hof selbst eingesetzt, weswegen davon ausgegangen werden kann, dass Bachs Werke in diesen privaten Zirkeln zur Aufführung kam. Diese frühen Musikgesellschaften hatten daher als ein alternativer Musikraum zu dem am Hof eine große Bedeutung, auch für die Bach-Praxis. Auch im Hinblick auf die Musiker Nichelmann und Marpurg kann auf Basis der verfügbaren Quellen nicht hergeleitet werden, wo die in ihren Beständen enthaltenen Bach-Abschriften erklangen. Erneut wäre es denkbar, dass die musikalischen Gesellschaften den entsprechenden Aufführungskontext geboten haben. Ebenfalls möglich ist die gegensätzliche Annahme, dass nämlich das Repertoire der außerhöfischen Musikerzirkel stark dem des Hofes glich.335 Dies ließe sich daraus erklären, dass die zahlreichen Hofmusiker, die in diesen Gesellschaften spielten, leichten Zugang zum ihnen bereits vertrauten Repertoire hatten und rein praktische Fragen nach Notenabschriften leicht zu klären gewesen wären. Dies würde die Frage nach den Aufführungskontexten von Bachs Musik im Zirkel der höfischen Musiker allerdings weiter im Dunkeln lassen. Zum jetzigen Zeitpunkt muss diese Frage ungeklärt bleiben. Die Repertoirefrage lässt sich einfacher bei den Musikgesellschaften der zweiten Entwicklungsphase beantworten. Hier ist sowohl für Rellstabs Konzert für Kenner und Liebhaber, als auch für das Fließsche Konzert die Aufführung von BachWerken überliefert. Im Fall des Konzert für Kenner und Liebhaber, das von 1770 bis 1797 im Gasthaus Corsica stattfand ist die Aufführung von Bach-Werken zwar nicht eindeutig übermittelt, aufgrund der Ausrichtung auf Oratorien und Kantaten Grauns, Hasses und C. P. E. Bachs durchaus denkbar. 2.4.1 Konzert für Kenner und Liebhaber Rellstabs Konzerte für Kenner und Liebhaber wurden in den Jahren 1787 und 1788 abgehalten, zuerst im Englischen Haus in der Mohrenstraße und ab 1788 im Hotel Stadt Paris. Laut Rellstab selbst bestand der Wert dieses Konzertformats in der „Deutlichkeit der Ausführung“,336 die dadurch gewährleistet wurde, dass viele der spielenden Musiker Komponisten waren, so z. B. C. Fr. Zelter und Bernhard Wessely. Berichten von Rellstabs Sohn Ludwig zu Folge habe Sara Levy dort „auf dem Flügel“ ausschließlich Werke von J. S. und C. Ph. E. Bach gespielt.337 Dass mit dieser Angabe nicht die solistische Klavierliteratur, sondern die orchestralen Klavierwerke von J. S. und C. P. E. Bach gemeint sind, ist mit Blick auf das vorhandene Orchester, bestehend aus zahlreichen Berufsmusikern, zweifellos zu bestätigen. 335 So argumentiert z. B. Röder, Zwischen Repräsentation und populärer Unterhaltung, S. 123. 336 Johann Carl Friedrich Rellstab, Ueber die Bemerkungen eines Reisenden, S. 20, auch zitiert in Henzel, Quellentexte zur Berliner Musikgeschichte, S. 112 f. 337 Vgl. Ludwig Rellstab, Aus meinem Leben, Bd. 1, S. 117.
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Zelter und Levy haben sich dort, also vor Gründung der Sing-Akademie im Jahr 1791 kennengelernt und – möglicherweise miteinander – Werke von Bach gespielt. Angesichts der hohen Zahl von professionellen Musikern in Rellstabs Orchester und der Größe des Publikums lässt sich im Fall der Konzerte für Kenner und Liebhaber von einem Konzertformat sprechen, das das Format der frühen Musikgesellschaften im Hinblick auf involvierte und erreichte Personen bei weitem überstieg und Züge eines aus heutiger Sicht modernen Konzertwesens annahm. Orchestrale Klavierwerke J. S. Bachs erklangen also bereits einige Jahre vor Gründung der Ripienschule, der Orchestervereinigung der Sing-Akademie in der Öffentlichkeit. 2.4.2 Fließsche Konzert Genauere Einblicke in das Repertoire des Fließschen Konzerts ermöglicht erneut Sara Levy. Eine Besonderheit, die das Fließsche Konzert im Vergleich zu den anderen musikalischen Gesellschaften der zweite Phase auszeichnet, ist, dass diese Gesellschaft weiterhin in Räumen des Hauses, also des Veranstalters stattfand. Ähnlich der Entwicklung, die sich für die musikalischen Salons der Töchter von Daniel Itzig herleiten lässt, mag auch für die Etablierung dieser öffentlichen Gesellschaft unter der Leitung des Schwiegersohnes von Daniel Itzig, Joseph Moses Fließ, gelten, dass die im innerfamilialen, religiösen Kontext tradierten Gesellschaftsformen, die im Haus Daniel und Mirjam Itzigs gepflegt wurden, Vorbild waren. Damit ist das Fließsche Konzert weniger als Weiterentwicklung der höfischen Musikpraxis zu verstehen, was für die anderen Gesellschaften zu gelten hat, sondern aus dem Spannungsfeld zwischen jüdisch-traditionellem Gesellschaftsmodell und dem sich entwickelnden musikalischen Konzertformat innerhalb der Berliner Gesellschaft erwachsen. Reichardt schreibt 1793 über die Konzerte bei Familie Fließ: Das Fließssche Koncert in Berlin hält Hr. Fließs, von der jüdischen Kolonie, in seinem Hause. Da hier aber auch der Eingang bezahlt wird […] so ist es immer auch als öffentliches zu betrachten. Es spielen darin concertirend das Clavecin Mad. Wulf, Mad. Levi und Hr. D. Fließs [338]: und auf andern Instrumenten einige von den obengenannten Herren [das sind die Musiker aus dem Koncert der Musikliebhaber]. Sängerinnen sind Dem. Sussmann, Mad. Fischer und Mad. Lippert. Sänger, der Königl. Bassist Hr. Fischer, Hr. Hurka, die Herren Lippert und Ambrosch. Es wird allerhand gegeben, selbst manch grosses Stück, mit verschiedentlichem Erfolg freilich, wie dies überall so ist. Aber über den Effekt der Musik wäre hier freilich manches zu sagen, wie er z. B. vor all dem Plaudern und Scharrsüsseleytreiben nicht sonderlich seyn könne. [339] Aber es mag dieserhalb der kräftige Spruch des ehrlichen Jesus-Sirach, Kap. 32, Ver 5 u. 6 hier stehen, der wohl über mehreren Koncertsälen mit grossen Buchstaben angeschrieben stehen
338 Das sind Zippora Wulf geb. Itzig, Sara Levy geb. Itzig und der Gastgeber Joseph Moses Fließ selbst. 339 Hier wird das Verhältnis von Musik und Kommunikation relevant. Anscheinend wurde zu viel geplaudert und die Affekte der Musik konnten ihre Wirkung nicht entfalten. Interessant ist, dass bei der „Musikübenden Gesellschaft“ das Sprechen während der Proben und Konzerte bei Geldstrafe untersagt war. Vgl. § 16 der Satzung der Musikalischen Gesellschaft, 1749, zitiert in: Henzel, Quellentexte zur Berliner Musikgeschichte, S. 112 f.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin sollte: Und irre die Spielleute nicht. Und wenn man Lieder singt, so wasche nicht darein; sondern spare deine Weisheit bis zu andern Zeit.340
Die französische Bezeichnung des Cembalos als Clavecin sollte sich als programmatisch erweisen. Selbstverständlich erfolgte die Bezeichnung dieses „besaiteten Schlaginstruments“,341 wie Johann Gottfried Walther das Cembalo beschreibt, je nach Landessprache unterschiedlich. Wollte man sich also als Deutscher bzw. als Deutsche dem französischen Geschmack näher zeigen, verwendete man den Begriff „Clavessin“ bzw. „Clavecin“.342 Die hier im Zitat von Reichardt zur Geltung kommende Verwendung des französischen Begriffes kann also zum einen auf die hohe Bedeutung, die der französische Geschmack für die Musik in der Barockzeit gehabt hat, verweisen und somit das Repertoire der Fließschen Konzerte als eines der älteren Musik, somit auch der von Bach, kennzeichnen. „Clavecin“ kann zum anderen Ausdruck einer besonderen Hinwendung zur höfischen Musikpraxis sein, die unter der Herrschaft Friedrich II. ausschließlich in französischer Sprache geführt wurde.343 Allgemein herrschte aber hinsichtlich einer bewussten Beschreibung des Cembalos als „Clavecin“, „Gravicembalo“ oder „Flügel“ und einer damit einhergehenden Bedeutung keine Einheitlichkeit oder gar Kontinuität. 2.4.3 Sebaldts Liebhaberkonzert344 Gemäß einer Schilderung in Zelters Selbstbiographie bildete sich in den Häusern des Schneidermeisters Johann Matthias Radicke345 und des Müllers Johann Gottfried Bruwill (1728–1801)346 im abwechselnden Turnus eine kleine Orchestervereinigung. Carl Friedrich Sebaldt (1752–1778)347 hatte diese Vereinigung gegründet und leitete sie auch bis zu seinem Tod. Die ganz Musik bestand hier in fünf Violinen, zwei Bratschen, zwei Violoncellen, einem Kontraviolon, zwei Flöten und dem Flügel. Sebaldt, der große Lust daran hatte, gab sich große Mühe. […] Sebaldt bezeichnete die Stimmen. Schwere Stellen wurden so oft wiederholt, bis sie 340 Johann Friedrich Reichardt, in: Spazier (Hg.), Berlinische Musikalische Zeitung, Berlin 1794, V. Stück, 9. März 1793, S. 17–18. 341 Johann Gottfried Walther, Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliothec, Art. „Cembalo, Cimbalo, Chiavicembalo, Clavicembalo, Gravecembalo“, Leipzig 1732, S. 151. 342 Bachs Französische Suiten tragen im Autograph daher selbstverständlich den Titel Suites pour le Clavessin. Für diesen Hinweis danke ich Prof. Gerald Hambitzer. 343 Auch für diesen Hinweise danke ich Prof. Gerald Hambitzer. 344 So bezeichnet von Johann-Wolfgang Schottländer, dem Herausgeber von Carl Friedrich Zelter, Darstellungen seines Lebens. 345 Johann Matthias Radicke wird in Zelters Selbstbiographie als Musikliebhaber beschrieben, der sich auch mit dem Bau von Orgeln und Fortepianos beschäftigte. Vgl. Zelter, Darstellungen seines Lebens, S. 107 ff. 346 Johann Gottfried Bruwill arbeitete als oberster Mühlenwerksführer in der Friedrichswerderschen Wassermühle in Berlin und baute nach silbermannschen Modellen Flügel und Orgeln. Siehe ebd., S. 108 ff. 347 Carl Friedrich Sebaldt (1752–1778) war Jurist und Sohn von Gottfried S. Sebaldt, der als Kastellan (Leiter in Verwaltungsangelegenheiten) am Joachimthalschen Gymnasium arbeitete.
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gut hervortraten, und in einigen Jahren hatte sich hier unter dem Dache der Werderschen Mühle ein musikalisches Ensemble gebildete, das endlich die Aufmerksamkeit einiger Kenner auf sich zog. Der Konzertmeister Joseph Benda und der Hoforganist Schale waren zuletzt immer gegenwärtig, unterstützen mit ihrem Rate und gaben ihren Beifall durch das sichtbare Vergnügen zu erkennen, welches sie hier fanden.348
Über das Repertoire dieser Vereinigung heißt es weiter bei Zelter, dass die „schwersten Sinfonien, Konzerte und Ouvertüren der Bach, Graun, Goldberg, Müthel, Benda, Händel, Wolf, Geminiani, Vivaldi, Tartini, Hasse, Kirnberger und Quantz“ aufgeführt wurden, und das „sicher und natürlich“.349 Zelter trat nach Sebaldts Tod dessen Leitungs-, d. h. Dirigierposition an. Neben den zeitgenössischen Komponisten Graun, Benda und Quantz lag der Schwerpunkt dieser Orchestervereinigung auf deutschen und italienischen Werken des Barock. Wie lange diese Vereinigung bestand, ist nicht bekannt. Ob möglicherweise Zelter innerhalb dieser Vereinigung seine ersten Dirigierversuche machte, ist nicht auszuschließen. 2.5 Der Verein Im Mittelpunkt vieler Forschungen über die Bach-Rezeption der Sing-Akademie zu Berlin350 stehen die Bedingungen und Kontexte der Wiederaufführung der Matthäus-Passion im Jahr 1829.351 Dass die Aufführung der Matthäus-Passion in vielerlei Hinsicht als Kulminationspunkt verschiedener musikästhetischer, politischer und struktureller Entwicklungsstränge betrachtet werden kann, dokumentiert die kulturhistorische Studie Celia Applegates.352 Meilenstein ist die inzwischen mehr als 45 Jahre alte Studie Martin Gecks über die historischen Kontexte der Wiederaufführung im Jahr 1829 und deren weiterer Rezeption bis 1833.353 Einblicke in die aufführungspraktischen Aspekte geben Studien von Christian Ahrens und Sachiko Kimura.354 Andreas Glöckner untersucht die verschiedenen Quellentypen und Partiturvorlagen, die Zelter und Mendelssohn zur Verfügung gestanden haben355 und
348 Zelter, Darstellungen seines Lebens, S. 109–110. 349 Vgl. ebd., S. 110. Bei Georg Schünemann, Die Sing-Akademie zu Berlin (1791–1941). Regensburg 1941, S. 7, heißt es, Zelter selbst habe dieses Orchester dirigiert. 350 Im Folgenden bezieht sich der Name „Sing-Akademie“ auf die durch Fasch 1791 gegründete Musikvereinigung, die den exakten Namen „Sing-Akademie zu Berlin“ trägt. Tatsächlich existieren in Berlin aktuell zwei Sing-Akademien, neben der hier thematisierten auch die 1963 im ehemaligen Ost-Berlin gegründete „Berliner Sing-Akademie“. 351 Vgl. den Überblick von Oschmann, Die Bach-Pflege der Sing-Akademien, S. 305–350, und Eberle, Du hast mir Arbeit gemacht, S. 88–97. An älterer Literatur siehe u. a. Friedrich Smend, Zelter oder Mendelssohn?, in: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 34 (Juli 1929), S. 207–209, Ders., Zelter oder Mendelssohn? Nachwort, S. 112–114, und Georg Schünemann, Zelter und Mendelssohn, S. 111–112. 352 Vgl. Applegate, Bach in Berlin. 353 Geck, Die Wiederentdeckung der Matthäus-Passion. 354 Ahrens, Bearbeitung oder Einrichtung?, S. 71–97, und Kimura, Mendelssohns Wiederaufführung der Matthäus-Passion, S. 93–120. 355 Glöckner, Zelter und Mendelssohn, S. 133–155.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
erstellt eine dezidierte Zusammenfassung aller unter der Leitung Zelters aufgeführten Bachwerke.356 Weniger beachtet wurde bisher die Anfangsphase der Sing-Akademie und wie sich die dortige Bach-Rezeption im Vergleich zu anderen Musikräumen Berlins verhielt. Hier geht es vor allem um die Berücksichtigung soziokultureller Aspekte, wie z. B. die unterschiedlichen sozialen Hintergründe der Mitglieder. Auch werden die räumlichen Bedingungen betrachtet, wie z. B. die verschiedenen Proben- und Konzertformate und ihr jeweiliger Grad an Öffentlichkeit.357 Im Zentrum stehen die Bach-Rezeptionspraktiken, wie sich diese im Laufe der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens verändert haben und wie sich Praktiken der Sing-Akademie und Praktiken der übrigen Bach-Räume Berlins gegenseitig beeinflussten. Das Forschungsfeld tangiert verschiedene Kontexte, z. B. institutionsgeschichtliche Aspekte, die den Stellenwert der Sing-Akademie als erste bürgerliche Musikvereinigung betonen, sozialhistorische Aspekte, die Fragen nach der Zugänglichkeit zum Kollektiv der Sing-Akademie, also nach Inklusion bzw. Exklusion von Geschlecht, Religion und Professionalität der Musikerinnen und Musiker hervorheben und ideengeschichtliche Aspekte, wie z. B. das Bildungsideal der explizit als „Akademie“ bezeichneten Musikvereinigung. Viele Aspekte berühren das Wirken Zelters, der aufgrund des abgesteckten Untersuchungszeitraums, in dem er als Direktor der Sing-Akademie agierte, für die Untersuchung besonders relevant ist. Als Kulturpolitiker Berlins, als erster Musikprofessor der Musiksektion an der Akademie der Künste, als Musikaliensammler, Komponist und Musiker war Zelters Einfluss auf die Ausrichtung und Entwicklung der Sing-Akademie als Raum der Bach-Praxis groß. Es ist retrospektiv kaum möglich, die Person Zelters von der Institution Sing-Akademie zu trennen. Im Fokus dieses Kapitels steht die Frage danach, in welche (neuen) Strukturen die Werke Bachs durch das Agieren der Sing-Akademie integriert wurden. Für alle Praktiken stellt der Raum als zentraler Einflussfaktor einen wichtigen Kontext dar, wobei das Jahr 1827, der Umzug in das neue Akademie-Gebäude, einen wichtigen Einschnitt bedeutete. Zunächst erfolgt ein historischer Überblick über die Räume, in denen die SingAkademie praktizierte, über deren Entstehung und über die Bedingungen, die sie für die dort etablierten Bach-Praktiken konstituierten. Es schließt sich eine Übersicht über die Bach-Praktiken an, die als neu bzw. als verändert innerhalb der Entwicklung der Bach-Praxis gelten können.
356 Glöckner, „Ich habe den alten Bachen“, S. 329–356. 357 Die Dissertation Claudia Heines, „Aus reiner und wahrer Liebe zur Kunst ohne äußere Mittel“. Bürgerliche Musikvereine in deutschsprachigen Städten des frühen 19. Jahrhunderts, Diss. masch. Zürich 2009, lässt die Sing-Akademie Berlin unberücksichtigt. Vgl. auch Dies., Geschlossene Gesellschaft oder öffentlicher Verein? Bürgerliche Musikvereine in deutschsprachigen Städten zwischen 1800 und 1840, in: Stefan Keym / Katrin Stöck (Hgg.), Musik in Leipzig, Wien und anderen Städten im 19. und 20. Jahrhundert: Verlage, Konservatorien, Salons, Vereine, Konzerte (Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen 3) Leipzig 2011, S. 457–466.
2. Bach-Rezeptionspraktiken zwischen 1750 und 1829 in Berlin. Ein Überblick
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Der Raum und die Folgen für die Bach-Rezeptionspraktiken der Sing-Akademie Unter der Leitung des ehemaligen Hofcembalisten C. Fr. Fasch wurde die SingAkademie im Mai 1791 gegründet. Für die ersten zwei Jahre lassen sich in den Ausführungen des Chronisten Martin Heinrich Karl Lichtenstein nur wenige Details zur Raumsituation entnehmen.358 Offenbar wechselten die Orte, an denen sich der Chor zum Proben einfand mit wachsender Zahl der Sängerinnen und Sänger. Erster Probenort war das sich im Garten des Milowschen Hauses befindliche Lusthaus in der Nähe des Spittelmarkts. Danach wurden die Proben in der Wohnung der Frau Voitus, Witwe des General-Chirurgen Voitus, zunächst Unter den Linden, dann in der Charlottenstraße 61 abgehalten. Damit glichen die Proben der Sing-Akademie in den ersten zwei Jahren ihres Bestehens denen der musikalischen Gesellschaften und des Haushaltes. Ab dem 22. Oktober 1793 fanden die Proben des Chores unter der Leitung Faschs im sogenannten Runden Saal der Königlich-Preußischen Akademie der Schönen Künste statt. Dieser Saal hatte lange Zeit keine bestimmte Funktion und stand für öffentliche Veranstaltungen zur Verfügung.359 1803, der Chor stand bereits seit drei Jahren unter Zelters Leitung, begannen Zelters Bestrebungen Musik als eigenständiges Fach an der Kunstakademie zu etablieren. Nach der räumlichen Integration der Sing-Akademie in die Akademie der Künste, die zunächst ohne eine institutionelle Anbindung erfolgte, wurde mit der Einrichtung einer Musikprofessur im Jahr 1809 und der Besetzung dieser Stelle durch Zelter auch eine institutionelle Verankerung der Sing-Akademie in den Zirkel der Schönen Künste realisiert. Aus der pragmatischen Raumlösung, die Proben im Runden Saal der Akademie abzuhalten, wurde unter den Reformbestrebungen Zelters ein inhaltliches Programm. Sieben sogenannte Denkschriften sind zwischen 1803 und 1812 von Zelter überliefert.360 In diesen konstituiert er seine Reformgedanken über die Umsetzung einer Neuordnung des Musikwesens in Preußen.361 Zelters Idee, die direkt auf die räumliche Integration der Sing-Akademie in die Akademie der Künste rekurriert, lautete, dass nur unter der Berücksichtigung aller Künste, also unter Einschluss der Musik, die Bildung der Nation und Bildung als Teil einer nationalen Identität überhaupt
358 Martin Hinrich Karl Lichtenstein, Zur Geschichte der Sing-Akademie in Berlin. Nebst einer Nachricht über das Fest am funfzigsten Jahrestage ihrer Stiftung und einem alphabetischen Verzeichnis aller Personen, die ihr als Mitglieder angehört haben, Berlin 1843, S. IV, hier im Nachdruck anlässlich der Wiedererrichtung des Denkmals für Carl Friedrich Fasch (1736 bis 1800) und des 220. Jahrestages der Gründung der Sing-Akademie zu Berlin, Berlin 2011. 359 Vgl. Claudia Sedlarz, „Ich bin ein gebohrner Preussischer Unterthan“. Die Denkschriften Zelters, in: Christian Filips (Hg.): Der Singemeister Carl Friedrich Zelter, Mainz 2009, S. 112–117, hier S. 112. 360 Vgl. ebd., S. 112–117. 361 Wolfgang Dinglinger, Zelters Musikalische Bildungsanstalt und die Gründung des Instituts für Kirchenmusik, in: Filips (Hg.): Der Singemeister Carl Friedrich Zelter, S. 118–125, hier S. 119, bezeichnet Zelter als Begründer der preußischen staatlichen Musikpflege und Musikerziehung.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
erfolgen könne: „Soll nun eine vollkommene Kunst-Akademie stattfinden, so ist es nöthig alle schönen Künste zusammen anzubauen.“362 Im Raum, also der räumlichen Integration der Sing-Akademie in die Akademie der Künste, verdichten sich die kulturpolitischen Bestrebungen Zelters, Musik als ein autonomes Universitätsfach zu etablieren, mit den Idealen des kulturaffinen Bürgertums Berlins, die mit dem Zusammenschluss der Sing-Akademie den Wunsch nach Kollektivierung der Musikkultur in einem selbstständigen und unabhängigen Verein realisiert sah. Die Werke J. S. Bachs wurden als Garant für die Wiederherstellung von „Tiefe und Kraft“363 angesehen, zwei Merkmale die aus Zelters Sicht der damaligen Musikkultur abhanden gekommen waren und die nur unter dem Schutz einer unabhängigen Akademie und einer Musik-Professur wieder hergestellt werden könnten.364 Die Chormusik der „Alten Meister“ galt als Maßstab. An ihr sollte der große Einfluss, den die Musik auf die Bildung des Individuums und der deutschen Nation insgesamt ausüben sollte, gezeigt werden. Neben den Bestrebungen Zelters, Musik als Universitätsfach zu etablieren und Musik als nationalitätsbildendes und volkserziehendes Element zu kodieren, zeigt sich mit dem Umzug der Sing-Akademie in das eigene Gebäude am Kupfergraben im Jahr 1827 die dritte am Raum festzumachende Dimension, die als Erklärung dafür dient, welche Veränderungen die Bach-Praktiken in den Räumen der Sing-Akademie erfuhren. Der Bau des neuen Sing-Akademie-Gebäudes auf dem Grundstück, das der Sing-Akademie von König Friedrich Wilhelm III. geschenkt wurde, wurde nach Entwürfen von Karl Friedrich Schinkel und Karl Theodor Ottmer errichtet. Schinkels Baupläne, die von Ottmer modifiziert wurden,365 verweisen auf das Verständnis dessen, was im Inneren des Raumes stattfinden sollte: Die Aufführung von Musik als einem autonomen Kunstwerk in einer strikten Trennung zwischen Publikum (Auditorium) und Ausführenden (Podium). Schinkels kubusartiger Tempelbau sei, so Roland Kanz, „von innen heraus gedacht“ und dränge die Annahme auf, dass „ein Saal das Volumen“ eines Gebäudes voll ausfüllt.366 Kanz geht soweit zu behaupten, dass mit Schinkels erstem Entwurf „die Metapher des Musentempels ihre erste architektonische Formulierung erfahren hat“.367 Schinkels Entwurf aus dem Jahr 1812, der aufgrund einer zu kostspieligen Realisierung verworfen wurde, und sein zweiter Entwurf aus dem Jahr 1821, der dann in modifizierter Art übernommen wurde, gelten als Initiationsprojekte des Kon-
362 Cornelia Schröder (Hg.), Carl Friedrich Zelter und die Akademie. Dokumente und Briefe zur Entstehung der Musiksektion an der Preußischen Akademie der Künste (Deutsche Akademie der Künste. Monographien und Biographien 3), Berlin o. J. [1958], S. 73 (Hervorhebung durch die Verfasserin). 363 Ebd., S. 86. 364 Sedlarz, „Ich bin ein gebohrner Preussischer Unterthan“, S. 116. 365 Für Details hierzu siehe Roland Kanz, Klangräume. Konzertsaalbauten im 19. Jahrhundert, in: Laurenz Lütteken (Hg.), Zwischen Tempel und Verein. Musik und Bürgertum im 19. Jahrhundert. Zürcher Festspiel Symposium 2012 (Zürcher Festspiel Symposien 4), Kassel 2013, S. 71– 91, hier vor allem S. 78 ff. 366 Ebd., S. 79. 367 Ebd.
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zertsaalbaus.368 Sein Entwurf zeichnete sich dadurch aus, dass er im Unterschied zu der räumlichen Ausstattung von vergleichbaren Musikräumen, wie Oper- oder Theatersälen, auf jegliche Rahmenkriterien wie Gesellschaftsräume, Erfrischungen und gesellschaftliche Begegnungen verzichtete. Auch wurden die Besucher und Musiker direkt im Eingangsbereich voneinander getrennt, sodass jeglicher geselliger Kontakt zu Gunsten einer rein auf den Nutzen der Musik fokussierten Konzentration ausgeschlossen wurde. Die Anlassbezogenheit sollte in der Raumarchitektur sichtbar werden. Aufgrund der ungeplanten Kostensteigerung während des Baus durch Ottmer wurde versucht, durch vermehrtes öffentliches Auftreten des Chores und durch Vermietung des Saales für außerchorische Zwecke die Schulden zu refinanzieren.369 Wie eng die Bedingungen des Raumes mit dem historischen Selbstbewusstsein der Sing-Akademie verknüpft war, macht der Chronist Lichtenstein am Beispiel des Umzugs in das eigene Sing-Akademie-Gebäude im Jahr 1827 und der zunehmenden Reflexion über den historischen Stellenwert der eigenen Institution und deren Geschichtsträchtigkeit deutlich. „Erst nach Errichtung des Sing-Akademie Gebäudes fand sich Raum und Gelegenheit, diese Papiere zu ordnen, und es wurde gleich damals erkannt, dass in ihnen die Materialien zu einer Geschichte der SingAkademie sehr vollständig enthalten seien.“370 Erst mit dem eigenen Konzertort wurde die Genese der Sing-Akademie als historisch interessant und erinnerungswürdig erachtet. Zuvor herrschte hinsichtlich der Chronik und Geschichte der Akademie weitgehend Unwissenheit, sogar das Gründungsdatum betreffend: Als im Jahre 1816 die Rede davon war, dass die Akademie 25 Jahre bestehe, musste eine eigentliche Feier unterbleiben, weil sich nicht sofort mit Gewissheit ermitteln liess, in welchem Monat und an welchem Tage man sie zu begehen habe. Zwar war es wohl bekannt, dass Aufzeichnungen von Fasch in ziemlicher Menge sich unter den aufbewahrten Papieren vorfinden müssten; es schien aber zu der damaligen Zeit der mühsamen Arbeit nicht werth, den sehr in Unordnung gerathenenen Vorrath, dessen Inhalt auch nicht für erheblich geachtet wurde, einer genauen Prüfung zu unterwerfen.371
Unter Berücksichtigung der Interferenzen zwischen Raum, historischer Selbstwahrnehmung und den Strategien Historie zu bewahren, wird deutlich, wie groß der Unterschied zu nichtinstitutionellen, privat organisierten musikalischen Einrichtungen, wie z. B. den musikalischen Gesellschaften oder den musikalischen Salons, war. Im Kontext der Sing-Akademie entstehen Strategien wie das Verfassen einer Vereinschronik oder Rituale wie das Gedenken von Jubiläen. Auch begeht die Sing-Akademie erstmalig Gedenk-Veranstaltungen, mit denen J. S. Bach gewürdigt werden soll. Zelter bemerkt am 21. März 1826: „ward heut auf Wunsch der Mitglieder gesungen, indem es der Geburtstag des großen Seb. Bach war“.372 Auch wurde 368 369 370 371 372
Ebd., S. 74. Vgl. Applegate, Bach in Berlin, S. 168 f. Lichtenstein, Zur Geschichte der Sing-Akademie in Berlin, S. IV. Ebd. Zelter bezieht sich auf die Aufführung der Motette Kündlich groß ist das gottselige Geheimnis (BWV Anh. III 161), zitiert in: Glöckner, „Ich habe den alten Bachen“, S. 335.
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anlässlich des 100-jährigen Todestages Bachs am 30. Juli 1850 die h-Moll-Messe aufgeführt.373 Praktiken, die eigene Historie zu bewahren, wurden in familialen oder häuslichen Kontexten in weit geringerem Maß entwickelt oder als tradierungsund historiographiewürdig empfunden. Chroniken, deren Überlieferung wiederum institutionell überwacht wurde, konnten daher viel selbstverständlicher in das kulturelle Gedächtnis eingehen. Das neue Gebäude der Sing-Akademie ist mit einem Musikwerk in besonderem Maße verknüpft, mit Bachs Matthäus-Passion, deren Wiederaufführung zwei Jahre nach Bezug des neuen Gebäudes als erste große Aufführung dort stattfand. Die Einheit, die der Raum, in seiner Konzeption als ein das Kunstwerk ins Zentrum der Aufführung setzender Musikraum, mit der Matthäus-Passion und der mit ihr verknüpften Konnotationen als deutsches Musikkunstwerk eingeht, führte zu der tradierten Sprengkraft dieses kulturellen Ereignisses. „[…] the performance did indeed take place in this new hall and did provide […] the first and most powerful demonstration of what the Sing-Akademie could accomplish as a public institution.“374 Bach vermitteln „Daß die Seb. Bachschen Motetten seit 30 Jahren immer mehr anklingen, ja ihren Schwierigkeiten zum Trotz geboten wird, ist ein Triumpf der Sing-Akademie und zeigt, das die Übung an Meisterwerken, sie mögen gefallen oder nicht, ihren unbestreitbaren Nutzen hat.“375 Dieses Resümee Zelters über die ersten drei Dekaden der Sing-Akademie bringt pointiert zum Ausdruck, welchen Impetus die Werke Bachs von Beginn an hatten.376 Sie waren Stücke, die es zu erlernen galt. Damit deutet sich ein neues Verständnis von bachschen Werken an: Das Erarbeiten von Kompositionen Bachs war nicht mit Bezug auf Bachs Lehre des gearbeiteten Satzes relevant. Seine Werke verkörperten einen Bildungszuwachs für diejenigen, die sie sich erarbeiteten. Zelter attestiert Bachs Werken einen „unbestreitbaren Nutzen“, der mit Blick auf die oben genannten Reformbestrebungen explizit einen Nutzen für das Individuum und für die Nation bedeutete. Es bedarf eines genaueren Blicks auf diejenigen, denen Bach vermittelt wurde, um die Neuheit dieser Praktik des Bach-Vermittelns zu erläutern. Gänzlich unbekannt war die Praxis, Bach als ein Medium von Bildung zu verstehen, nicht. So sind bei Sara Levy377 und bei Lea Mendelssohn Bartholdy im Kontext des Unterrichtens dezidiert auch nicht explizit musikalische Faktoren von Bedeutung. Bachs Musik wurde z. B. im Haus der Familie Mendelssohn Bartholdy nicht nur im Hinblick auf die in ihr vermittelte kontrapunktische Lehre, die mithilfe seiner Klavierlite373 374 375 376
D-B MA, N.Mus. SA 291. Applegate, Bach in Berlin, S. 170. Notiz von Zelter am 7. Januar 1823, zitiert in: Schünemann, Die Bachpflege, S. 151. Während Glöckner, „Ich habe den alten Bachen“, S. 332, bereits Fasch einen Vermittlungsauftrag bzgl. Bachs Vokalmusik attestiert, spricht Eberle, „Du hast mir Arbeit gemacht“, S. 88– 97, Fasch diese Ausrichtung gänzlich ab und bemüht sich, den Diskurs um die Sing-Akademie als Wirkungsstätte der Bach-Rezeption zu problematisieren. 377 Vgl. das Kapitel Mikro-Blick Sara Levy: Bach praktizieren im Salon (Teil III, Kap. 3.).
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ratur studiert wurde, rezipiert, sondern auch als Bestandteil einer Künstlergenealogie begriffen, was ihr einen hohen erzieherischen und identitätsstiftenden Wert einbrachte. Allerdings betrifft dies in beiden Fällen eine weitaus geringere Menge an Personen. Bach sollte, und das kennzeichnet die Vermittlungs-Praxis der SingAkademie im Besonderen, einer großen Masse zugänglich gemacht werden. Der Chor der Sing-Akademie bestand aus Berufsmusikern und ambitionierten Laien. Aus der Orchestervereinigung (die sogenannte Ripienschule), die Zelter 1807 gründete, ist übermittelt, dass die ersten Pulte von Berufsmusikern, die anderen von Laien besetzt waren.378 Wie dieses Verhältnis in der Chorvereinigung gestaltet war, lässt sich mangels soziologischer Untersuchungen über die Mitglieder der Sing-Akademie nicht ermitteln.379 Folgendes ist aber festzustellen: Auf Basis des anlässlich des 50-jährigen Bestehens im Jahr 1843 erstellten Mitgliederverzeichnisses lassen sich insgesamt 306 Mitglieder nachweisen. Hierbei sind alle Neuzugänge berücksichtigt, auch diejenigen, die nur für kurze Dauer Mitglied der Sing-Akademie blieben.380 Circa zehn Prozent dieser hier aufgeführten Sängerinnen und Sänger gingen einem professionellen Musikerberuf nach bzw. stammten aus Musikerfamilien. Diese verteilten sich wie folgt auf diese Berufssparten: Kantor (6), Musiklehrer (2), (Kammer)Musikus (6), Königliche Sängerin (3), Königlicher Sänger (3), Kapellmeister (1), Musikdirektor (3), Komponist (5) und Mitglieder aus Musikerfamilien (5). Eindeutig stammten die Mehrzahl der Mitglieder in der Chorvereinigung aus nicht explizit musikalisch gebildeten Haushalten, sondern gehörten zu derjenigen sozialen Gruppe, die aufgrund ihrer Ausbildung, ihres Berufstandes oder ihrer ökonomischen Mittel zur kulturell aufgeschlossenen Berliner Gesellschaft zählten. Sängerinnen und -sänger des sich verfestigenden Bürgertums standen im Chorgefüge unabhängig von Geschlechterrollen gleichberechtigt nebeneinander. Allerdings muss im Hinblick auf die Chöre innerhalb der Sing-Akademie differenziert werden: Die verschiedenen Singkreise der Sing-Akademie, hierzu zählten die Proben des großen Chores am Dienstagabend als auch die Vorproben bzw. klein besetzten Proben am Freitagabend, waren für beide Geschlechter offen. Zelters Liedertafel hingegen war ausschließlich als Männerchor angelegt. Geschlechtergemischte professionelle Chorvereinigungen (wie z. B. der Königliche Opernchor) als auch geschlechtergemischte Orchestervereinigungen (diverse privat organisierte Orchesterzusammenstellungen in den musikalischen Gesellschaften) waren für Berlin nichts Neues. Unbekannt war bisher allerdings die Aufführung von kirchenmusikalischen Werken durch einen geschlechtergemischten Chor, der überwiegend aus Laien bestand. In Hillers Aufführung des Messias im Jahr 1786 sangen zwar auch Frauen und Männer gemeinsam im Chor. Die weiblichen Sängerinnen waren aber mit wenigen Ausnahmen professionelle Sängerinnen der Königlichen Oper. Mit der Entstehung der Sing-Akademie setzte also eine Entwicklung ein, die einen Raum 378 Vgl. Glöckner, „Ich habe den alten Bachen“, S. 335. 379 Lichtenstein, Zur Geschichte der Sing-Akademie in Berlin, S. IV. 380 Lichtenstein selbst weist auf die Ungenauigkeit der Auflistung hin, die aufgrund von fehlerhaften Notizen in den Präsenzbüchern und aus mangelndem Erinnerungsvermögen der Chronisten entstanden sei.
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der Verwirklichung für singbegeisterte Frauen außerhalb eines professionellen Kontextes schuf.381 Diese, auf den ersten Blick positiv erscheinende Bilanz, erfolgte allerdings auf Kosten der Musikerinnen und Sängerinnen selbst. Denn die einzige Option in der Öffentlichkeit als Musikerin bzw. Sängerin aufzutreten, „was to wear the protective cloak of amateurism, with its connotations of private life and domesticity“.382 Hintergrund hierfür war der sukzessive Ausschluss von Frauen aus dem professionellen Musikleben aufgrund der sich verfestigenden moralischen Regeln des aufkommenden Bürgertums. Diese sahen zwar für Frauen eine private Musikausbildung sowie das Unterrichten der eigenen Kinder vor, eine professionelle Berufsausübung als Sängerin oder Musikerin war hingegen mit Schwierigkeiten verbunden.383 Weibliche Musikausübung wurde in den Bereich des Privaten und Emotionalen verbannt. Dieser Deckmantel wurde im Zuge der dilettantischen Mitwirkung der Frauen und Männer in der Sing-Akademie aufrecht erhalten, wenn es darum ging, so oft wie möglich für Wohlfahrtszwecke zu singen, um einen zu stark öffentlichen Charakter der (zu Beginn ohnehin wenigen) Auftritte zu verhindern.384 Die Mitwirkung von Jüdinnen und Juden ist ebenfalls im Hinblick auf inklusive sowie exklusive Mechanismen zu untersuchen. Die groß und klein besetzten Chorproben und auch die 1807 gegründete Ripienschule, standen sowohl Jüdinnen als auch Juden offen. Juden blieb allerdings die Mitgliedschaft in der Liedertafel untersagt. Dieses hatte möglicherweise mit Zelters persönlichem Verhältnis zu jüdischen Familien zu tun, welches sehr problematisch war und zwischen Ehrerbietung und Verachtung schwankte.385 Nach Veröffentlichung des zelterschen Briefwechsels mit Goethe nach Zelters Tod im Jahr 1833 wird der Riss zwischen Zelter und den in der Sing-Akademie partizipierenden jüdischen Familien, allen voran den Mendelssohn Bartholdys, offenbar. Die Familie Mendelssohn Bartholdy reagierte mit Besorgnis und Unverständnis auf die dort zu Tage tretende antijüdische Stimmung Zelters.386 So weist auch Thekla Keuck auf den Austritt der Familie Mendelssohn Bartholdy aus der Sing-Akademie hin, nachdem Felix Mendelssohn Bartholdy aufgrund antisemitischer Ressentiments nicht zum Nachfolger Zelters gewählt worden war.387
381 Vgl. Applegate, Bach in Berlin, S. 136. 382 Ebd., S. 138. 383 Unter welchen Anstrengungen Berufsmusikerinnen wie Clara Schumann diesen Weg bestritten zeigt Klassen, Clara Schumann. 384 Applegate, Bach in Berlin, S. 138, führt weiter aus, dass Zelter den Chor auch als Familie, mit Müttern und Söhnen, Vätern und Töchtern bezeichnete. Auch hierdurch sollte die private, emotionale Ausrichtung bewahrt werden. 385 Vgl. hierzu die angeführten Quellen in Thomas Lackmann, „Ach nein, ich träumte, du wärst mir gestohlen“. Carl Friedrich Zelter und die Juden: Offener Brief an einen Freund der Mendelssohns, in: Filips (Hg.), Der Singemeister, S. 156–169. 386 Vgl. Lackmann, „Ach nein, ich träumte, du wärst mir gestohlen“, S. 156–169. 387 Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 341 ff.
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Bach institutionalisieren Dass die Musik Bachs mit der Praxis der Sing-Akademie zunehmend institutionell verankert wurde, lässt sich auf zwei Ebenen nachweisen. Die erste betrifft das Material, die zweite die Aufführungs- und Probenorganisation. Die Musikaliensammlung der Sing-Akademie zu Berlin beherbergt heute nach der Staatsbibliothek zu Berlin die wertvollste Zusammenstellung musikalischer Quellen der Bach-Familie. Nur einige wichtige Stationen dieser Sammlungsgeschichte werden hier skizziert.388 Die Übersicht soll verdeutlichen, welche zentrale Rolle die Sing-Akademie als Sammelbecken für eine Vielzahl von Sammlungen aus der frühen Phase der Bach-Rezeption spielte. Carl Friedrich Zelter nimmt dabei eine wichtige Funktion ein, da unter seiner Sammlungspolitik die Bach-Sammlung der Sing-Akademie durch Schenkungen und Ankäufe von privaten Sammlern (z. B. von Abraham Mendelssohn Bartholdy und Sara Levy) überhaupt erst ihre derzeitige Gestalt angenommen hat. Vor dem Jahr 1800, als Zelter die Leitung der Sing-Akademie übernahm, sind die Bach-Handschriften aus dem Nachlass von Johan Friedrich Agricola (1720– 1774) als wichtiger Neuzugang zu verzeichnen. Matthias Kornemann bezeichnet das Archiv der Sing-Akademie pathetisch „Zelters Werk und Monument allein“.389 Zelters antisemitische Tendenzen hatten auf seine Sammlungspolitk keinen Einfluss. Schenkungen von Bach-Noten, die mehrheitlich aus jüdischen Kreisen kamen, nahm er wie selbstverständlich an. Zelters deutlicher Sammelschwerpunkt lag auf der alten Musik und basierte auf einem ausgeprägten Netzwerk zu Bach-Sammlern. Georg Schünemann formuliert 1937: Zelter war von jung an ein leidenschaftlicher Notenfreund. Er sammelte Handschriften und Bücher, wo er sie bekommen konnte. […] Schon durch seinen Lehrer Fasch war er mit dem Werk Emanuel und Sebastian Bachs bekannt geworden, dann stand er mit Kirnberger in enger Verbindung, kannte Friedemann Bach und den Göttinger Gelehrten Nicolaus Forkel, mit dem er über Noten und Bücher korrespondierte, bat Freund J. Friedrich Reichardt um Noten aus Italien […].390
Anders als bei Fasch, der, wie Günther Wagner darlegt, mit der Probenarbeit der Sing-Akademie die klangliche Realisation, das musikalische Tun im Sinn hatte und damit ganz aus Sicht des „Komponisten Faschs“ und nicht des Chorleiters handelte, besaß Zelter ein besonderes Bewusstsein für Öffentlichkeit und konzeptionelle Einbindung des Publikums.391 So lege er Wert darauf, Stücke zu sammeln, die sich gut 388 Hierbei folge ich größtenteils den Etappen, die Ulrich Leisinger in seinem Aufsatz anführt, der zweisprachig in Alex Fischer / Matthias Kornemann, The Archive of the Sing-Akademie zu Berlin. Catalogue / Das Archiv der Sing-Akademie zu Berlin – Katalog, Berlin/New York 2010, erschien: Ulrich Leisinger, The Bach Collection, S. 37–54 / Die Bach-Sammlung, S. 133–150. 389 Matthias Kornemann, Zelters Archiv. Porträt eines Sammlers, in: Fischer/Kornemann (Hgg.), Das Archiv, S. 117–125, hier S. 117. 390 Georg Schünemann, Carl Friedrich Zelter. Der Mensch und sein Werk, Berlin 1937, S. 53, zitiert in: Günther Wagner, Die Anfänge der Sing-Akademie zu Berlin und ihr frühes Repertoire, in: JbSIM 2002 (2002), S. 25–40, hier S. 26. 391 Vgl. Wagner, Die Anfänge der Sing-Akademie, S. 38 ff. Interessant ist der Ansatz Wagners, das Selbstverständnis der Sing-Akademie aus der Perspektive der Gründungsjahre als „Akademie“
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
realisieren ließen und deren Umsetzbarkeit auch vor Publikum gegeben war bzw. nach seiner Bearbeitung möglich wurde. Zelters Verständnis der Aufführungspraxis der bachschen Werke ist einerseits von Verehrung, andererseits von Rigorismus, mit welchem er Veränderung und Bearbeitungen an den Werken Bachs vornahm, gekennzeichnet. Dieser Rigorismus darf allerdings nicht als fachliche Unkenntnis bewertet werden. Er ist das Ergebnis einer Einschätzung derjenigen Möglichkeiten der Sängerinnen und Sänger und Musikerinnen und Musiker der Sing-Akademie und der Ripienschule bachsche Kompositionen überhaupt umsetzen zu können. Ebenso spiegelt das rigorose Verändern der bachschen Partitur seine Einschätzung der Hörerwartung des Berliner Publikums wieder. Die Sing-Akademie war in ihren frühen Jahren nicht nur eine bürgerliche Chorvereinigung, sondern sollte auch spätaufklärerische Ideale erfüllen, allen voran das universal angelegte Streben nach Wissen. Demnach verstand sich die Sing-Akademie als Institution mit einem universalen Bildungsauftrag, was sich paradigmatisch im Sammlungsverhalten Zelters widerspiegelt. Neben dem Ziel, Aufführungsmaterial – vokal und instrumental – bereitzustellen, galt sein Augenmerk dem Aufbau einer wissenschaftlichen Bibliothek, „die sowohl die mustergültigen Werke der Musik, als auch theoretische Abhandlungen, Lehrwerke und Schulen und ganz allgemein gesagt, das Wissen über Musik bereitstellen sollte […]“.392 Zelters Motivation war es, das nationale Erbe – und dazu gehörte Johann Sebastian Bach, sein musikalisches Vorbild – zu bewahren und zugänglich zu machen.393 Diese kulturpolitische Dimension fehlte bei Fasch noch völlig. Zelter verstand es außerdem, Netzwerke zu knüpfen und seine Mitglieder zu „Geschenken und Vermächtnissen zu animieren“.394 Folgende private Sammlungen wurden als ein Resultat von Zelters Kontakten und Bemühungen in die Musikaliensammlung der Sing-Akademie integriert: Aus der Sammlung Georg Poelchaus gingen 1811 einige bedeutende Bach-Vokalkompositionen in die Sammlung auf. Mittler zwischen Poelchau, der zu der Zeit noch in Hamburg wohnte, und der Sing-Akademie, war Abraham Mendelssohn, der 1811 mit seiner Familie von Hamburg nach Berlin zog und die betreffenden Musikalien Poelchau abkaufte. Besaß Poelchau von einem Werk Partitur und Stimmen, behielt er die Partitur für sich.395 So wurden die Autographen zwischen Partitur und Stimmen auseinandergerissen. Zum Ankauf Mendelssohns gehörte auch das Alt-Bachische Archiv.396 Ab 1813397 kam es zu Schenkungen von Bach-Musikalien
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im ursprünglichen Wortsinn zu werten, als eine Künstlergesellschaft und höhere Bildungsanstalt. Ebd., S. 27. Ebd., S. 35. Leisinger, Die Bach-Sammlung, S. 136. Ebd., S. 137. Siehe Peter Wollny, Geistliche Musik der Vorfahren Johann Sebastian Bachs. Das „Alt-Bachische Archiv“, in: JbSIM 2002 (2002), S. 41–59. Hierauf verweist eine der frühen Schenkungen nämlich des autographen Doppelkonzerts für Hammerklavier und Cembalo (Wq 47) von C. P. E. Bach (so Wollny, „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“, S. 76).
2. Bach-Rezeptionspraktiken zwischen 1750 und 1829 in Berlin. Ein Überblick
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aus dem Besitz Sara Levys, darunter waren Werke Johann Sebastian, Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann Bachs.398 Eine Notiz Zelters in der Abschrift des Cembalokonzertes in G-Dur (Wq 16) von C. P. E. Bach verweist auf Sara Levy als Schenkerin: „Von Madame Sara Levy geborene Itzig zum Geschenk am 9. Junii 1820.“399 Zwar gilt nach Zelters Tod die aktive Sammeltätigkeit der Sing-Akademie als beendet400, dennoch bildete die angelegte Sammlung die Grundlage für das BachArchiv der Königlichen Bibliothek, dem Vorläufer der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Mit der Verlagerung dieser Sammeltätigkeiten auf die Königliche Bibliothek und auf den Personenkreis, der für die Vorbereitung der bachschen Gesamtausgabe verantwortlich wurde, vollzieht sich ein „Strukturwandel“401 der Berliner Bach-Rezeption. Zum einen gibt die Sing-Akademie mit dem Tod Zelters ihre Aufgabe als musikwissenschaftliche bzw. musikphilologische Institution zugunsten einer ausschließlich musikalisch-praktischen Institution ab. Zum anderen zeichnet sich eine Differenzierung und Separierung von Bach-Rezeptionspraktiken ab: Das, was Zelter in einer Person verkörperte, differenziert sich nach seinem Tod in immer kleinere Praktiken aus, bis mit der Gründung der Bachgesellschaft im Jahr 1850 ein wissenschaftliches Kollegium auch um das Aufspüren alter Bach-Quellen Sorge trägt. In seiner Funktion als Sammler von Bach-Handschriften zeichnet Carl Friedrich Zelter besonders aus, dass er noch mit dem frühen Zirkel der Berliner Bach-Rezeption in Kontakt stand, sich der ersten Bach-Rezeptionsgeneration verbunden sah und zugleich in seinen letzten drei Lebensdekaden einer öffentlichen Institution musikalischer Bildung vorstand und die Werke Johann Sebastian Bachs zum Bestandteil von öffentlicher Aufführung, Erarbeitung und wissenschaftlicher Auseinandersetzung werden ließ. Die Verwaltung des Musikmaterials wurde institutionalisiert. Aber auch hinsichtlich der Proben- und Aufführungspraxis von Bachs Musik sind Strukturen erkennbar, die auf der Institution der Sing-Akademie beruhten, d. h. Gesetzmäßigkeiten folgten, die der Sing-Akademie als ein Komplex verschiedener Praktiken und Akteurinnen und Akteure einverleibt sind. Hier rückt erneut der Aspekt des Vermittelns konkreter gesangs- bzw. instrumentalpädagogischer Aspekte in den Fokus. Für die Anfangsjahre kann vermutet werden, dass die Probenversammlungen ähnlich abliefen, wie sie auch für Versammlungen von musikalischen Gesellschaften übermittelt sind. Gäste, die nicht zum probenden Chor zählten, waren vermutlich nur selten anwesend. Mit dem Umzug in das Akademie-Gebäude wuchs die Mitgliederzahl nicht nur stetig an, sondern es entstanden auch neue Aufführungskontexte. Die Größe und Höhe des Raumes ermöglichte aber auch das Aufführen von Werken vor einem Auditorium. Als explizit solche bezeichnet Lichtenstein die 398 Für Details zur Sammlung und Bedeutung der Schenkungen Sara Levys für die Singakademie siehe das Kapitel Bach sammeln (Teil III, Kap. 3.2.1). 399 Notiz auf dem Cembalokonzert G-Dur von C. P. E. Bach (D-B MA, SA 2576), zitiert in: Wollny, „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“, S. 75. 400 Vgl. ebd. 401 Wagner, Die Anfänge der Sing-Akademie, S. 31.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Aufführung am 8. April 1794, bei der die Anwesenheit des Prinzen Louis Ferdinand und anderer „vornehmer Personen vom Hof“402 für die notwendige Aura sorgte. Die Tatsache, dass den Aufführungen der Sing-Akademie Hofpersonal beiwohnte, ist ein einflussreicher Faktor innerhalb der zunehmenden Selbstbestimmung des bürgerlichen Musikbewusstseins in Form der Kollektivierung zu einem Musikverein zu bewerten.403 1797 zählte die Chorvereinigung schon einhundert Mitglieder und die Öffnung des Auditorium für Gäste von außerhalb ist in zahlreichen Notizen übermittelt.404 Auch die Probenarbeit der Sing-Akademie verfestigte sich, nicht zuletzt, um die wachsende Zahl an Sängerinnen und Sängern zu bewältigen. Im Jahr 1855 präsentierte sich die Proben- und Aufführungssituation als strukturell gefestigt und durchgeplant: Seb. Bachs ‚Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit‘ ist heute zum erstenmal in der Originalgestalt gegeben. (frühere Aufführungen besetzten die 1ste Gambe mit Violonen, u die 2te mit Violen.) Don[n]erstag Vormittag war eine vollständige Instrumentalprobe 9–12. Freitag von 8 ½ bis 10 ½ nur die Violen, Cellos u Bässe. Son[n]abend 4 ½ bis 7 ½ Uhr Hauptprobe. In der Aufführung waren die Violen u Cellos in Seb Bachs Musik noch nicht präcis.405
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der Frühphase der Sing-Akademie deren Bach-Praxis geprägt war von Praktiken verschiedener Bach-Räume, den Aufführungen der musikalischen Gesellschaften, musikalischen Salons und häuslichen Musik-Räumen. Es gab im Personenkreis der Sängerinnen und Sänger aus den Gründerjahren der Sing-Akademie Überschneidungen mit Akteurinnen und Akteuren anderer Musik-Räume. Dies z. B. bezieht sich auf die Familie von Friedrich Nicolai, auf Sara Levy, C. Fr. Zelter und den Musiklehrer und Musiker Johann August Patzig (1738–1816). Im Laufe der Zeit bildete die Sing-Akademie spezifische Aufführungspraktiken aus, die sich zunehmend nach den räumlichen Gegebenheiten richteten. Die hier herausgearbeiteten Praktiken beeinflussten sich gegenseitig: Bach einer großen Masse zu vermitteln, erforderte eine Neuorganisation von bisher in anderen Bach-Räumen etablierten Proben- und Aufführungsabläufen. Damit manifestiert sich ein Bewusstsein für die Trennung von Probe und Aufführung. Mit dem Umzug in den neu eingeweihten Schinkel-Bau im Jahr 1827 vollzog sich diese Trennung von Probe und Aufführung explizit. Eine weitere einschneidende Veränderung erfährt die Wahrnehmung der Musik. Das immens groß gewordene Auditorium erlebt in der öffentlichen Aufführung eine abgeschlossene Werk-Interpretation der Musik Bachs und nimmt diese als identisch mit dem Kunstwerk wahr. Die Wahrnehmung der Musik Bachs im Sinne eines selbstreferentiellen Werkes wurde auch durch die Sammelpraktiken Zelters und der privaten Sponsoren befördert, da Partituren zunehmend als Artefakte bewertet wurde.
402 Lichtenstein, Zur Geschichte der Sing-Akademie in Berlin, S. IX. 403 Vgl. das Kapitel Der Saal (Teil III, Kap. 2.4). 404 Vgl. die Notiz eines Besuchers, der Zelter um Eintrittskarten für die Aufführung am 13. Oktober 1812 bittet. Siehe Glöckner, „Ich habe den alten Bachen“, S. 332, Anm. 12. 405 D-B MA, N. Mus. SA 291.
3. Mikro-Blick Sara Levy: Bach praktizieren im Salon
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Die gegenseitige Beeinflussung von Sing-Akademie und anderen Bach-Räumen ist groß. Die Bach-Räume des Haushalts, des Saals und des Salons stellen Vorstufen der Arbeit der Sing-Akademie dar, bieten Expertisen in Bach-Praktiken, die in die neuen, größer angelegten Bach-Räume der Sing-Akademie übertragen wurden. Sie selbst wiederum wirkt auf die anderen Bach-Räume zurück, indem die Relevanz dieser vorinstitutionellen Räume zunehmend an Gewicht verliert. Auch kommt mit der Etablierung der Sing-Akademie den Praktiken des Bach-Unterrichtens eine veränderte Bedeutung zu. Mit der Bach-Expertise, die die Sing-Akademie dem kulturell aufgeschlossenen Berliner Bürgertum anbietet, verändert sich die Funktion von Musikunterricht im Haus. Musikunterricht ist nicht mehr ausschließlich auf den Haushalt als Musikraum beschränkt, sondern potentiell auch institutionell verfügbar und lenkbar. 3. MIKRO-BLICK SARA LEVY: BACH PRAKTIZIEREN IM SALON Sara Levys Bedeutung für die frühe Bach-Rezeption in Berlin rückt seit ca. zwanzig Jahren immer mehr in das Blickfeld der Musikwissenschaft.406 Trotz dieser Entwicklung steht eine umfassende Zusammenführung der verschiedenen, teils neuartigen Quellen und eine angemessene Kontextualisierung der Rezeptionspraxis Sara Levys unter kritischer Berücksichtigung bisheriger Bedeutungszuschreibungen noch aus. Bevor die Rezeptionspraktiken Sara Levys untersucht werden (3.2), wird zunächst der Forschungsdiskurs und der biographische Kontext skizziert (3.1). Ziel des Mikro-Blicks ist es, die Struktur von Sara Levys Rezeptions-Praxis als ein Netz an Praktiken darzustellen, die auf komplexe Art und Weise mit den sozialen und kulturellen Bedingungen der Berliner Gesellschaft verknüpft sind bzw. diese mitverändern. 3.1 Voraussetzungen und Kontexte Schon die Lebensdaten Sara Levys (1761–1854) machen deutlich: Die Zeitspanne, die ihr Leben umfasst, ist gerade im Hinblick auf die durchschnittliche Lebenserwartung im 18./19. Jahrhundert407 außergewöhnlich lang. Sie stellt zudem die Phase der Bach-Rezeption dar, die in der Forschung hinsichtlich des Verhältnisses zur Bach-Rezeption im 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert wird. So wird gerade in Bezug auf Sara Levy die Frage nach einer sinnvollen Bezeichnung ihrer Aus406 Vgl. das Kapitel Quellenlage und Forschungsüberblick (Teil III, Kap. 3.1.1). 407 Laut einer Übersicht des Statistischen Bundesamtes betrug z. B. die Lebenserwartung von den im Jahr 1871 geborenen Frauen ca. 38 Jahre. Mit 93 Jahren übersteigt Sara Levy die Lebenserwartung um mehr als das Doppelte. Vgl. „Entwicklung der Lebenserwartung Neugeborener seit 1871/1881“ vom Statistischen Bundesamt (2006), www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Sterbefaelle/Tabellen/Lebenserwartung.pdf (letzter Zugriff: 10.01.2018).
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
einandersetzungen mit J. S. Bach evident und es ist fraglich, ob der bisher auf ihr Wirken bezogene gängige Terminus Bach-Pflege tatsächlich förderlich ist.408 Ihr persönlicher Kontakt zur Bachfamilie als Schülerin W. F. Bachs und als Bekannte der Familie von C. P. E. Bach, ihre Musikpraxis als Cembalistin und Interpretin bachscher Musik, ihre Reputation als Bach-Kennerin, ihre Vernetzung mit zentralen Orten der Bach-Rezeption nach 1750 in Berlin, ihre familiäre Herkunft, die den religiösen, bildungstheoretischen und ökonomischen Hintergrund ihrer Bach-Rezeption darstellt und ihr direkter Verwandtschaftsgrad zur Familie Mendelssohn Bartholdy, stellen die Faktoren dar, vor deren Hintergrund sich der Forschungsgegenstand – Sara Levys Bach-Rezeption – als ein besonders reizvoller darstellt. Möchte man bisher unbeachtete Zusammenhänge zwischen sogenannter Bach-Pflege und interpretatorischer bzw. kompositorischer Bach-Rezeption herausarbeiten, so ist – vorerst als Hypothese formuliert – die Biographie Sara Levys als Zugang zur Bach-Rezeptionshistorie zwischen 1750 und 1829 geradezu prädestiniert. In diesem Kapitel wird in einem ersten Schritt die Rezeption von Sara Levy im Spiegel der Zeugnisse ihrer Zeitgenossen und des Forschungsdiskurses reflektiert (3.1.1) und zwischen unterschiedlichen Rezeptionsnarrativen differenziert (3.1.2). Ihr familiärer Hintergrund, ihr soziales Netzwerk und ihre lange Lebensperiode als Witwe stellen zur Erläuterung ihrer Bach-Rezeptionspraxis relevante biographische Kontexte dar (3.1.3). Abschließend werden Aspekte ihrer musikalischen Ausbildung und Mitwirkung im Berliner Konzertleben untersucht (3.1.4). Ihre Mitgliedschaft in der Sing-Akademie zu Berlin wird gesondert betrachtet (3.1.5), da hier unter Berücksichtigung einiger ungedruckter Archivalien Sara Levys singulärer Status innerhalb des kulturellen Lebens in Berlin plastisch wird. 3.1.1 Quellenlage und Forschungsüberblick Im Falle Sara Levys steht dem Wissen über ihre rege Schreibtätigkeit und ihr weit verzweigtes soziales Netzwerk ein erschütternd geringer Fundus an überliefertem Quellenmaterial gegenüber. Welche Gründe für Unterbrechungen bzw. starke Verluste in der Überlieferung von Quellen aus der Hand Sara Levys verantwortlich sind, entzieht sich der heutigen Kenntnis. Mit ihren Schwestern Fanny von Arnstein und Cäcilie von Eskeles führte Sara Levy eine fünfzigjährige Briefkorrespondenz.409 Mehrere Archivaufenthalte u. a. in der Biblioteca Jagiellonska in Krakau, im Literaturarchiv der Nationalbibliothek in Wien und im Leo-Baeck-Institut New York sowie systematische Nachforschungen
408 Vgl. das Kapitel Folgen: Bach-Rezeption zwischen Inklusion und Exklusion (Teil I, Kap. 1.3). 409 Vgl. die Aufzeichnungen von Karl August Varnhagen von Ense: „Sie führte über fünfzig Jahre mit ihren Schwestern in Wien regelmäßigen Briefwechsel, der wöchentlich alle Neuigkeiten beider Städte hin und her mitteilte.“ (PL-Kj, Sammlung Varnhagen, Sara Levy, Kasten 108).
3. Mikro-Blick Sara Levy: Bach praktizieren im Salon
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im Nachlass der Fanny von Arnstein-Biografin Hilde Spiel und im Nachfahrenkreis Fanny von Arnsteins410 erbrachten keine neuen Quellenfunde. Das einzige, noch dazu vermutlich vollständige Briefkorpus bestehend aus 16 Briefen bzw. Billets aus der Hand Sara Levys, ist im Archiv des Schwedischen Diplomaten Carl Gustav von Brinckmann („Brinkmanska Arkivet“) erhalten geblieben. Dieser verwahrte die Antwortschreiben seiner fast 2000 Briefpartnerinnen und Briefpartner in seiner schwedischen Heimat. Die Bedeutung dieses Archivs ist für die Berliner Salonforschung inzwischen unumstritten.411 Während ihrer kurzzeitigen Lagerung in der Bibliothek der Universität von Uppsala waren die Briefe für mich einsehbar. Derzeit befinden sie sich – für die Forschung unzugänglich – im Privatbesitz der Gräfin Trolle Ljungby in Südschweden. Die Briefe Sara Levys erstrecken sich auf den Zeitraum von 1798 bis 1819. Der gemeinsam mit ihrem Mann begonnene Briefkontakt – sie unterzeichnet stets mit „Ehepaar Levy“ – blieb auch nach dem Tod ihres Ehemanns im Jahr 1806 bestehen. Thematisch bedient sich Sara Levy eines für das 19. Jahrhundert gängigen SalonGesprächsmaterials: Erzählungen von Krankheit und Gesundheit in der Familie, tagespolitische Themen, das gegenseitige Austauschen von Grüßen, Berichte über eigene Reisen und Reisen von Familienmitgliedern. In den Billets überwiegen Einladungen und Terminabsprachen zum Tee bzw. Essen und zu gemeinsamen Ausflügen. Brinkmann schickte ihr außerdem einige seiner Gedichte.412 Nur an wenigen Stellen schimmert Sara Levys Profil als Musikerin hindurch, so z. B. in der Erwähnung der Komponistin und Sängerin Caroline Ridderstolpe, geb. Kolbe, im Mai 1816 und im Bericht über eine Komposition von Reichardt im Juli 1798. Ebenfalls im Brinkmann-Nachlass erhalten sind sechs Briefe von Sara Levys Schwager, Moses Salomon Levy (1757–1813), einem Bruder ihres Mannes Samuel Salomon Levy. Ein autographer Eintrag Sara Levys ist im Stammbuch ihrer Schwägerin Mirjam Itzig, geb. Oppenheimer, überliefert.413 Gegenbriefe sind etwas umfangreicher, aber gleichwohl immer noch spärlich erhalten geblieben. Antwortbriefe von ihren Schwestern sind nicht überliefert. 410 An dieser Stelle gilt mein Dank Homa Jordis, deren Mann ein Urenkel Henriette von PereiraArnsteins ist. Diese wiederum war die Tochter Fanny von Arnsteins und damit Nichte Sara Levys. Sämtliche im Privatbesitz der Familie erhalten gebliebene Quellen, auch diejenigen, die Hilde Spiel, Fanny von Arnstein oder die Emanzipation. Ein Frauenleben an der Zeitwende 1758–1818, Frankfurt a. M. 1962, in ihrem Vorwort als verschollen beurteilt, konnte ich einsehen. Sie enthalten allerdings keine nennenswerten Hinweise auf die Musikkultur Sara Levys, umso mehr aber auf die der Fanny von Arnstein. Dieses Forschungsfeld zu bearbeiten würde wertvolle Hinweise über die Wiener Musikkultur um 1800 bieten. 411 Vgl. die Sammlungsgeschichte des Brinkmanska Arkivet in: Lund, Der Berliner „Jüdische Salon“, S. 26 ff. 412 Vgl. den Brief von Sara Levy an Carl Gustav von Brinkmann vom 29. Juni 1799. Darin bedankt sie sich für die Elegien, die er ihr geschickt hat (Quelle im Privatbesitz der Gräfin TrolleLjungby in Schweden). 413 Leo Baeck Institut, New York, AR 4191, vgl. Wollny, „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“ (= Beiträge 2), S. 66 und Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 55. Diese Quelle liefert einen interessanten Hinweis darauf, dass das Generalprivileg nach dem Tod von Moses Daniel Itzig ablief und Mirjam Itzig, geb. Oppenheimer, zurück in ihre Heimat ziehen musste.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Gegenbriefe aus dem Familienkreis sind übermittelt von Fanny Hensel,414 Felix Mendelssohn Bartholdy,415 Eduard Hitzig, Julius Hitzig, Jakob Salomon Bartholdy und von Rebecka Ephraim. Antwortbriefe, die in der Autographensammlung im Familiennachlass Emil Cauers in der Staatsbibliothek Berlin erhalten geblieben sind, stammen aus ihrem Hamburger Freundeskreis und ihrem Berliner Netzwerk. Darunter sind Briefe von Elise und Sophie Reimarus, von der Schriftstellerin Fanny Lewald, von Michelangelo Arcontini, von Sara Grotthus und von Lazarus Bendavid. Ebenso enthalten sind Antwortschreiben des Cembalobauers Johann Friedrich Silbermann416 und der Sängerin Anna Milder-Hauptmann. Indirekte Hinweise über Sara Levys Biographie gibt ein Konvolut an Briefen von Henriette Pereira-Arnstein an Frau von Altenstein, Sophie und Gunda Brentano417 und die Briefe Lea Mendelssohn Bartholdys an Henriette von Pereira-Arnstein. Während schriftliche Quellen aus der Hand Sara Levys nur spärlich überliefert sind, ist ihre Musiksammlung in Anteilen erhalten geblieben.418 Die darin überlieferten Informationen, vor allem hinsichtlich der Spielsituation, der Besetzung und des Repertoires bilden wesentliche Orientierungspunkte für die Untersuchung ihrer Musikpraxis. Eine Vielzahl an Zeugnissen über Sara Levy entstammt der sogenannten Erinnerungsliteratur. Gäste, die an ihren Salongeselligkeiten teilgenommen haben, schrieben in einem häufig sehr großen zeitlichen Abstand zum Geschilderten über ihre Begegnungen mit Sara Levy. Dazu zählen u. a. Ludwig Rellstab, Felix Eberty, Paul Erman, Paul Heyse, Fanny Lewald, Lina Morgenstern und die Schwestern Bardua. Nur sehr vereinzelnd gibt es Auskünfte über Musik. Im Vordergrund stehen Schilderungen über ihre Person, ihren Charakter, ihre Veranstaltungen und ihr auf Wohltätigkeit ausgerichtetes Handeln. Drei Motivkomplexe lassen sich als besonders prägend für die Rezeptionsschichten dieser zeitgenössischen, schriftlich fixierten Erinnerungen an Sara Levy herauslesen.419 Sara Levys Bedeutung für die Berliner Musikkultur und die frühe Bach-Rezeption sowie ihr Einfluss auf die Sing-Akademie zu Berlin gerieten nach ihrem Tod im Laufe des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit. Ursache hierfür mag die Ablösung der privaten Musikkultur durch die sich ab 1800 ausbreitende öffentliche Musikkultur sein, deren Geschichte im Vergleich zu den privaten, nichtinstitutionellen Musikstätten zuverlässiger überliefert wurde. Sowohl in den ersten rezeptionshistorischen Untersuchungen der sich konstituierenden Bach-Forschung von Leo Schrade, Gerhard Herz und Hermann Kretzschmar als auch in der ersten Ausgabe der Enzy414 D-B, Handschriften, Nachlässe und Autographen, Nr. 343 Familienarchiv Emil Cauer, Kasten 3 Sara Levy. 415 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Sara Levy o. D. (Brief Nr. 240 „Mittwoch“), in: Felix Mendelssohn Bartholdy, Briefe, hg. von Rudolf Elvers, Frankfurt a. M. 1984. 416 Abgedruckt bei Wollny, Beiträge 2, S. 53. 417 D-B, Handschriften, Nachlässe und Autographen: Nachlass Savigny, Mp. 31 (1, 2, 3) und Mp. 33. 418 Vgl. das Kapitel Bach sammeln (Teil III, Kap. 3.2.1). 419 Vgl. das Kapitel Rezeptionsnarrative (Teil III, Kap. 3.1.2).
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klopädie Musik in Geschichte und Gegenwart (hg. von Friedrich Blume) wird Sara Levy nicht erwähnt. Ebenso fehlt ihr Name im entsprechenden Absatz des BachHandbuchs.420 Auch im Bach-Lexikon scheint ihr Name nicht als Lemma auf.421 Im 20. Jahrhundert begannen die Forschungen zur Sara Levy in den 1980er Jahren mit den Studien Peter Wollnys, der im Zuge seiner Dissertation über Wilhelm Friedemann Bach auf Musikalien aus dem Besitz Sara Levys stieß. Vorher erfolgte 1931 lediglich ein erster Hinweis auf die umfangreiche Sammlung Sara Levys in der Veröffentlichung von Ernst Fritz Schmid.422 Mit den Forschungen Peter Wollnys wurde erstmalig die Musiksammlung Sara Levys rekonstruiert.423 Im Kontext der Forschungen Peter Wollnys nahm die Bedeutung, die Sara Levy im Forschungsdiskurs zugewiesen wurde, zu, was bestätigt wird durch das Erscheinen von Lexikoneinträgen im Neuen MGG,424 im New Groove425 und im Internet zugänglichen Lexika MUGI. Musik und Gender im Internet426 und Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts.427 Eine Ausstellung im Mendelssohn-Haus in Leipzig im Jahr 2002,428 ein Symposium mit Musikaufführungen im Leo BaeckInstitut New York429 und Konzertformate, in denen Werke ihrer Sammlung gespielt werden,430 zeugen vom wachsenden Interesse an der Musikkultur Sara Levys. Dass Sara Levy und ihre Funktion in der Sing-Akademie innerhalb der Aufarbeitung der Geschichte dieser bürgerlichen Musikvereinigung erst Ende des 420 Hans-Joachim Hinrichsen, „Urvater der Harmonie“?, in: Küster (Hg.), Bach-Handbuch, S. 31–65. 421 Heinemann (Hg.), Das Bach-Lexikon. 422 Ernst Fritz Schmid, Carl Philipp Emanuel Bach und seine Kammermusik, Kassel 1931, S. 42– 44. Vgl. den Hinweis in Cornelia Bartsch, Art. „Sara Levy“ in: MUGI (Musik und Gender im Internet). Ein Forschungsprojekt an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, www. mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/sara_levy (letzter Zugriff: 10.01.2018). 423 Siehe Peter Wollny, Sara Levy and the Making of Musical Taste in Berlin, in: The Musical Quarterly 77 (1993), S. 651–688, Ders., „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel BachKultus“: Sara Levy, geb. Itzig und ihr literarisch-musikalischer Salon, in: Anselm Gerhard (Hg.), Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendelssohns (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 25), Tübingen 1999, S. 217–255, Ders., Zur Bach-Pflege im Umfeld Sara Levys, in: Beiträge 1, S. 39–49, sowie Ders., Beiträge 2. 424 Ders., Art. „Sara Levy“, in: New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 14 (22001), S. 615. 425 Ders., Art. „Sara Levy“, in: MGG2, Personenteil Bd. 11 (2004), Sp. 44–45. 426 Bartsch, Art. „Sara Levy“. 427 Hanna Bergmann, Art. „Sara Levy“, in: Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts, www.sophie-drinker-institut.de/cms/index.php/levy-sara (letzter Zugriff: 10.01.2018). 428 „Bach-Kultus“ in Berlin um 1800. Sara Levy und ihr musikalisch-literarischer Salon, Ausstellung im Gartenhaus des Mendelssohn-Hauses Leipzig vom 30. Oktober bis 15. Dezember 2002. Ein Kooperationsprojekt der Stiftung Bach-Archiv Leipzig und der Internationalen Mendelssohn-Stiftung e. V. Ausstellungskonzeption Peter Wollny / Dagmar Paetzold, Leipzig 2002. 429 Sara Levys World: Music, Gender, and Judaism in Enlightment Berlin, Symposium am 29. und 30. September 2014 an der State University New Jersey unter der Diskussionsleitung von Nancy Sinkoff. 430 Vgl. die Aufführung des Cölner Barockorchesters Der Salon Sara Levys – ein (H)Ort der Reminiszenz an Bach und seine Söhne am 21. September 2012 in Köln (im Rahmen der Kölner Musiknacht), Leitung und Konzeption: Evelyn Buyken.
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20. Jahrhunderts an Bedeutung gewann, kann möglicherweise auf antisemitische Tendenzen während der Zeit des Nationalsozialismus zurückgeführt werden.431 Ein weiterer Grund für die spät eingesetzte Beschäftigung mit Sara Levy stellt vielleicht auch die kriegsbedingte Auslagerung des Archivs der Sing-Akademie dar, das erst 2001 aus dem ukrainischen Exil zurück nach Berlin überführt wurde.432 Eine vollständige Aufarbeitung der sich hier befindlichen Musikalien Sara Levys konnte erst nach dieser Rückführung beginnen. Der Rekonstruktion der sich in der Sammlung Sara Levys befindlichen Musikalien mit Kompositionen der Brüder Johann Gottlieb und Carl Heinrich Graun hat sich Christoph Henzel angenommen.433 Petra Wilhelmy-Dollinger berücksichtigt in ihren Forschungen über den Berliner jüdischen Salon ebenfalls die musikalischen Gesellschaften Sara Levys, allerdings mit besonderem Fokus auf seine letzten Jahre und unter Berücksichtigung seiner allgemeinen musikalischen Ausrichtung.434 Cornelia Bartsch nimmt Sara Levy aus der Perspektive ihrer Nichte Lea Mendelssohn Bartholdy in den Blick.435 Ihr methodischer Ansatz die von Sara Levy in Auftrag gegebenen Werke C. P. E. Bachs als Medium der Korrespondenz zu beschreiben ist Gegenstand der Untersuchungen im Kapitel Bach fördern (Teil III, Kap. 3.2.4).436 Die Judaistin und Historikerin Thekla Keuck erstellt in ihrer Dissertation ein geschichtliches Panorama der Familie Itzig und weist darin Sara Levy und ihren Schwestern eine besondere Rolle zu, die mittels aktiver kultureller Praxis die Akkulturation in der Berliner Gesellschaft erreichten.437
431 Vgl. den Hinweis bei Bartsch, Art. „Sara Levy“. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Georg Schünemann Sara Levy bei der Auswertung von Zelters Probenprotokollen als Solocembalistin erwähnt. Vgl. Schünemann, Die Bach-Pflege der Berliner Singakademie, S. 138–171, speziell S. 144. 432 Zur Dokumentation und Historie dieser Überführung vgl. die Aufsätze im JbSIM 2002 (2002), bes. den Beitrag von Christoph Wolff, Wiederentdeckt und wiedergewonnen. Das Notenarchiv der Sing-Akademie aus der Perspektive der Musikforschung, S. 9–17. 433 Siehe Christoph Henzel, Die Musikalien der Sing-Akademie zu Berlin und die Berliner GraunÜberlieferung, in: JbSIM 2002 (2002), S. 60–106, und Ders., Berliner Klassik. Studien zur Graunüberlieferung im 18. Jahrhundert (Ortus Studien 6), Beeskow 2009, vor allem Kap. VIII. 434 Petra Wilhelmy-Dollinger, Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914), Berlin 1989, Dies., Emanzipation durch Geselligkeit. Die Salons jüdischer Frauen in Berlin zwischen 1780 und 1830, in: Marianne Awerbuch / Stefi Jersch-Wenzel (Hgg.), Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik, Berlin 1992, S. 121–138, und Dies., Musikalische Salons in Berlin 1815–1840, in: Hans-Günter Klein (Hg.), Die Musikveranstaltungen bei den Mendelssohns, S. 17–34, und Dies., Singen, Konzertieren, Diskutieren. Musikalische Aktivitäten in den Salons der „Berliner Klassik“, in: Mutschelknauss (Hg.), Urbane Musikkultur, S. 141–170. Ebenfalls aus Sicht der Salonforschung wird Sara Levy in der Dissertation von Lund, Der Berliner „Jüdische Salon“, bes. S. 379 ff., erwähnt. 435 Siehe Bartsch, Fanny Hensel, geb. Mendelssohn Bartholdy, bes. S. 96 ff. und dies., Dialogizität versus Univers(al)ität?, S. 135–158. 436 Vgl. den Vortrag von Cornelia Bartsch Ein Gespräch der alten mit der neuen Zeit – Sara Levy und die an sie gerichteten Kompositionen Carl Philipp Emanuel Bachs, Bach-Symposium vom 3. und 4. Mai 2013 in Detmold (Druck in Vorb.). 437 Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, bes. S. 343 ff.
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3.1.2 Rezeptionsnarrative In der Gesamtschau der Beschreibungen Sara Levys, die durch Zeitgenossen und in der Erinnerungsliteratur aus dem 19. Jahrhundert übermittelt sind, lassen sich drei thematische Motivkomplexe abstrahieren, die in konsequenter Weise biographische Darstellungen Sara Levys flankieren. Der erste Komplex betrifft geschlechtsbezogene Zuschreibungen, die sich vor allem auf ein vermeintlich nicht-weibliches Auftreten Sara Levys beziehen. Der zweite Komplex kreist um den „Konservatismus“, der sowohl ihr selbst als auch ihrem Salon in seinen letzten Jahren zugeschrieben wird. Drittens wird oft ihre jüdische Religionszugehörigkeit explizit thematisiert. Besonders ihre Nicht-Konvertierung zum Christentum wird häufig genannt. Diese Motivkomplexe entfalten als Narrative in der Rezeption Sara Levys bis in die heutige Forschung hinein eine Bedeutung und beeinflussen die Wahrnehmung ihrer Musikpraxis. So wird z. B. ihr als konservativ bewerteter Salon in Verbindung gebracht mit ihrer Vorliebe für die Musik J. S. Bachs. Geschlecht Auffallend häufig werden Sara Levy in den Beschreibungen ihrer Zeitgenossen und in der Erinnerungsliteratur des 19. Jahrhunderts weiblich konnotierte Eigenschaften abgesprochen. Der Verlust von Weiblichkeit und die im Umkehrschluss erfolgende Zuschreibung von Männlichkeit („männliches Wesen“) lassen Sara Levy als eine sexuell neutrale Person erscheinen. Es entsteht ein Eindruck der Ent-Weiblichung, der durch den Widerspruch zwischen Benennung ihres weiblichen Geschlechts einerseits und gleichzeitigem Aberkennen an Eigenschaften, die dem weiblichen Geschlecht im Sinne der bürgerlichen Geschlechterordnung zugetragen wurden, erzeugt wird. Dass ihre Ehe mit Samuel Salomon Levy kinderlos geblieben ist, mag die zeitgenössische Wahrnehmung verschärft haben. „Das war die ‚Tante Levy‘ […] eine steife, uralte Dame von feinster Bildung, eine stattliche, fast männliche Erscheinung […]“,438 so heißt es bei Adolf Erman. In den entsprechenden Charakterisierungen werden Sara Levy weiblich konnotierte Eigenschaften wie Schönheit und Zartheit abgesprochen, um stattdessen ihre Redeweise, ihr Wesen und ihren Körperbau als männlich zu bezeichnen. Sara Levy hatte ein gewisses steifes, fast männliches Wesen, eine tiefe Stimme und eine kurze und gebieterische Redeweise; noch in ihrem 76. Jahre ging sie straff und aufrecht mit ungewöhnlicher Energie und Kraft umher. Varnhagen berichtet, dass man sie einen ‚rechtschaffenen Mann‘ genannt habe. Ein Familienscherz verglich sie mit dem Trojanischen Pferde: ‚außen hölzern, innen die Griechen‘.439
Ähnlich formuliert es auch Felix Eberty: „Diese steife, geradesitzende Dame besaß aber trotz ihrer fast immer ernsten Miene, ihren beinahe männlichen Zügen und ih-
438 Adolf Erman, Mein Werden und mein Wirken. Erinnerungen eines alten Berliner Gelehrten, Leipzig 1929, S. 14. Paul Erman, Vater von Adolf Erman, war der Ehemann von Kela Itzig, einer Nichte Sara Levys. 439 Wilhelm Erman, Paul Erman. Ein Berliner Gelehrtenleben (1764–1851), Berlin 1927, S. 98.
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rer tiefen Stimme das weichste, wohlwollendste Herz.“440 Beliebt ist der äußerliche Vergleich mit ihren Schwestern in Wien: Von den äußeren Vorzügen dieser beiden Schwestern hatte aber, wie gesagt, Frau Levy gar nichts an sich. Sie war nur mittlerer Größe und mager, trug sich aber trotz ihrer sechsundsiebzig Jahre straff und aufrecht und ging, ob schon sie auffallend schielte und ihr Auge kurzsichtig war, mit einer für ihre Jahre doppelt und ungewöhnlichen Energie und Kraft umher […].441
Zuvor vergleicht Fanny Lewald Sara Levy mit Henriette Herz: „[…] während in Frau Levy überall ein gewisses männliches Wesen unverkennbar war.“442 Ähnlich resümiert Paul Erman: „Ihre Stellung in der Berliner Gesellschaft erinnerte etwas an die ihrer beiden Wiener Schwestern Arnstein und Eskeles […] und sie auch keineswegs diesen gleich durch Schönheit anziehend wirkte.“443 Dass die in vielen zeitgenössischen Berichten und familiären Korrespondenzen übliche Anrede „Tante Levy“ Ausdruck einer besonderen Distanz oder einer respektvollen Haltung ihr gegenüber sei444, kann hier nicht bestätigt werden. Vielmehr war die Anrede älterer Familienmitglieder, auch wenn der Verwandtschaftsgrad nicht explizit der einer Tante oder eines Onkels entsprach, rhetorische Gewohnheit. Sämtliche „Tanten“ und „Onkel“ werden z. B. im Briefkorpus Lea Mendelssohn Bartholdys an die Cousine Henriette von Pereira-Arnstein mit dem Nachnamen erwähnt (Tante Ephraim, Tante Friedländer etc.).445 Der Verlust von Weiblichkeit und die Attestierung eines männlichen Charakters sind um 1800 Phänomene, die in der Beschreibung von verwitweten Frauen keine Seltenheit darstellen. Als Sara Levys Mann, Samuel Salomon Levy, im Jahr 1806 starb, begann für Sara Levy eine 48-jährige Witwenschaft. Mehr als die Hälfte ihres Lebens hat Sara Levy als Witwe gelebt. Es lohnt sich daher, auf diese Zeitspanne ihrer Biographie einen genaueren Blick zu werfen. Nicht verwunderlich ist, dass ihre Witwenschaft als ein starkes Charakteristikum ihrer Biographie rezipiert wird. Dieses tritt nicht nur in Form der Bezeichnung „Witwe Levy“ zu Tage, sondern in den oben aufgeführten Konnotationen von Nicht-Weiblichkeit. Nachfolgend wird erörtert, wie die Konzepte der Nicht-Weiblichkeit und Witwenschaft miteinander in Verbindung stehen. Wie Gesa Finke in Bezug auf die Komponistenwitwe Constanze Mozart erörtert hat, gehörte es seit der frühen Neuzeit und in Anlehnung an das christliche Totengedenken zum Aufgabenbereich einer Witwe, den toten Ehemann zu erinnern und ihm nach seinem Tod die Treue zu wahren.446 Konkret bedeutete dies, keine neue Ehe einzugehen und die für Witwen als angemessen betrachteten Tugenden wie Keuschheit und Anspruchslosigkeit zu befolgen.447 Verhaltensrestriktionen 440 Felix Eberty, Jugenderinnerungen eines alten Berliners, Berlin 1925, S. 254. 441 Fanny Lewald, Meine Lebensgeschichte, 3 Bde., Berlin 1860–1863. Bd. 3: Befreiung und Wanderleben, hg. von Ulrike Helmer, Königstein/Taunus 21998, S. 86. 442 Ebd. 443 Erman, Paul Erman, S. 96. 444 Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 35. 445 Vgl. Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 186 ff., Brief vom 24. März 1826. 446 Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart, bes. S. 51–86. 447 Vgl. ebd., S. 68.
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für Witwen waren in der patriarchalisch organisierten Gesellschaft um 1800 allgemein bekannt. Dieses lag vornehmlich daran, dass Witwen aufgrund ihrer sexuellen Erfahrung und der durch den Witwenstand herbeigeführten Unabhängigkeit, die ihnen im Vergleich zu verheirateten Frauen zu eigen war, eine „Bedrohung der Geschlechter- und damit gesellschaftlichen Ordnung“448 darstellten. Witwen galten […] als machtvolle, sexuell mit eigenen Ansprüchen versehene und durch häusliche Erfahrung selbstbewusst gewordene Frauen, die nicht mehr für die dienende Rolle der Ehefrau geeignet waren und dadurch die eheliche Geschlechterordnung in Unordnung brachten.449
Das Gebot der Trauer, das der Witwe automatisch das Gebot der Keuschheit auferlegte, galt als Möglichkeit, den Handlungsspielraum von Witwen einzugrenzen, beispielsweise Wiederverheiratung oder neue Partnerschaften zu verhindern. EntWeiblichung und Witwenschaft ist ein lang tradierter Motivkomplex, vor dessen Hintergrund sich auch die Wahrnehmung Sara Levys vollzieht. Strategien, wie die soziale Herabstufung, die den Handlungsspielraum von Witwen eingrenzen sollten, lassen sich auch in der Art und Weise, wie Sara Levy durch Zeitgenossen wahrgenommen und beschrieben wurde, beobachten. Ihr wird Männlichkeit attestiert. Durch die Attestierung des Verlusts an Weiblichkeit wird die betreffende Person stigmatisiert und hinsichtlich dieses Aspekts ins gesellschaftliche Abseits gerückt – eine Strategie, die der hierarchisch organisierten Geschlechterordnung ihr Gleichgewicht zurückbringen sollte. Im Falle Sara Levys geht mit dem Absprechen eines weiblichen Geschlechts die Betonung von Krankheit, ihr altersbedingtes Augenleiden, einher, was den Motivkomplex von Nicht-Weiblichkeit ausstaffieren und das Wachrufen von absonderlichen Assoziationen verstärken sollte. Allerdings müssen Männlichkeitszuschreibungen an Frauen um 1800 differenziert betrachtet werden. Im Kontext der Rezeption von Kompositionen oder Musikaufführungen galt das Attribut „männlich“ als Ausdruck positiver Wertschätzung, gerade für weibliche Komponistinnen oder Interpretinnen.450 In solchen Fällen erhielt also die Konnotation mit dem männlichen Geschlecht eine positive Wertung. Anders verhält es sich bei Sara Levy. Hier treten der zeitgenössische Salon-Diskurs und die dort etablierten Geschlechterordnungen in den Vordergrund. Schilderungen der Salon-Kultur gingen meist mit Beschreibungen der Gastgeberinnen einher, wobei der besondere Fokus auf die äußere Erscheinung gelegt wurde. Schönheit war – ganz im Sinne des Diskurses um das „schöne Geschlecht“451 – ein implizites Charakteristikum von Salonnièren. Wenn 448 Ebd., S. 69. 449 Gesa Ingendahl, Witwen in der Frühen Neuzeit, Eine kulturhistorische Studie (Geschichte und Geschlechter 54), Frankfurt a. M. 2006, S. 35; Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart, S. 69. 450 Vgl. Melanie Unseld, Art. „Das 19. Jahrhundert“, in: LMG, S. 90. 451 Der Bereich der Schönheit wurde um 1800 einseitig der Frau zugeordnet. In Anlehnung an Immanuel Kants Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Königsberg 1766, etablierte sich die Vorstellung des schönen, weiblichen Geschlechts, das sich durch Sittsamkeit, Natürlichkeit und Sinnlichkeit auszeichnete. Vgl. Nina Noeske, Art. „Schönheit/ Hässlichkeit“, in: LMG, S. 459–460, hier S. 459.
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also Sara Levy vor dem Hintergrund ihrer Tätigkeit als Salonnière als „männliches Wesen“ bezeichnet wird, wird damit zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht den Erwartungen im Salon-Diskurs der Zeit entspricht. Zusammen mit dem Absprechen von Schönheit ergibt sich – vor dem Hintergrund der Geschlechterdebatte um 1800 – eine maximal defizitäre Beschreibung einer Frau. Nicht selten – und da werden Ambivalenzen im Salon-Diskurs hinsichtlich der Geschlechtsstereotypen deutlich – wurde das öffentliche Handeln der Berliner Salonnièren insgesamt als unweiblich betrachtet.452 Ähnlich wie im Umgang mit Witwenschaft geraten gesellschaftliche Geschlechtervorstellungen und Verhaltenscodes in Konflikt mit dem Handlungsspielraum von Frauen, wie sie z. B. im Salon vorzufinden waren. Galt das weibliche (im Sinne von schöne) Äußere einer Salonnière als gesellschaftlich akzeptiert, sorgte ihre soziale Stellung als Vorsteherin eines semiöffentlichen gesellschaftlichen Raumes für Widersprüche und Widerstand in der öffentlichen Wahrnehmung. Unreflektiert wird diese Rezeptionskonstante auch im aktuellen Forschungsdiskurs übernommen: Sara Levy war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, allerdings – im Gegensatz zu ihrer Schwester, der Baronin Fanny von Arnstein in Wien – nicht von schöner Erscheinung. Sie hatte, wie die Schriftstellerin Fanny Lewald später berichtet, ein ‚gewisses männliches Wesen‘, war hoch gebildet und in vieler Hinsicht sehr konservativ.453
Inwieweit im zeitgenössischen Bach-Diskurs die Vorstellungen eines „männlichen Bachs“454 soweit fortgeschritten waren, dass auch die Rezeption Sara Levys als eine Bach-Interpretin davon betroffen war, ist nur schwierig zu belegen. Das Phänomen, dass Hörerlebnisse von Kompositionen, die im kulturellen Gedächtnis vehement mit Nationalismen und Männlichkeitsbildern konnotiert sind und die aber wiederum von Interpretinnen aufgeführt werden, von Widersprüchen geprägt sind, exemplifiziert Janina Klassen an Beethoven-Aufführungen Clara Schumanns: Gerade bei den Bewertungen ihrer Beethoven-Interpretationen spielte die Genderfrage […] eine wichtige Rolle. Beethovens Musik war im kollektiven Urteil besonders mit Attributen von Männlichkeit verknüpft. Dass eine Virtuosin sie spielte, erschien manchen schon unangemessen, weil allein der Widerspruch zwischen der Bühnenfigur [Clara Schumann] und den höreigenen Vorstellungen von einer männlichen musikalischen Persona in Beethovens Stücken zu weit auseinanderklaffte. Man schwankte zwischen Bewunderung für die gelungene musikalisch-technisch Präsentation und einer grundsätzlichen Ablehnung, dass eine Frau die heroische Musik Beethovens öffentlich spielte.455
Mit Blick auf die Wahrnehmung Levys in den frühen Jahren ihrer Musiklaufbahn – also bis in die 1820er Jahre – ist dies nicht zu bestätigen. Mühelos wird die „musikalische Persona“ in Bachs Werken mit Sara Levy als Interpretin in Einklang 452 Sabine Giesbrecht, Art. „Salon“, in: LMG, S. 417. 453 Petra Wilhelmy-Dollinger, Die Berliner Salons. Mit kulturhistorischen Spaziergängen 2000, S. 147. 454 Vgl. das Kapitel Bach, der Nationale (Teil II, Kap. 2.4). 455 Janina Klassen, Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit (Europäische Komponistinnen 3), Köln/Weimar/Wien 2009, S. 26. Vgl. auch Unseld, Art. „Interpretationsgeschichte (Geschichtsschreibung)“, in: LMG, S. 252–253.
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gebracht.456 Je weiter das 19. Jahrhundert voranrückt und das Bach-Bild verstärkt männlich attribuiert wird, wird die Rezeption Levys unter dem Eindruck eines Widerspruchs zwischen Hörerwartung und -realisation beeinflusst. Denn als Bach-Interpretin findet sie im Bach-Diskurs des 19. Jahrhunderts keine weitere Erwähnung. Konservatismus Ein weiterer Motivkomplex, der als Narrativ in der Rezeption Sara Levys präsent ist, ist der eines ausgeprägten Konservatismus’. Der Vorwurf von Konservatismus betrifft besonders die Schlussphase ihres Salons und die darin gepflegten Umgangsformen. Clemens Brentano habe nach Angabe Wilhelm Ermans den Salon Sara Levys als „langweilig“457 bezeichnet. Karl August Varnhagen berichtet, dass „bei Madame Levi eine gewisse ehrbare Philisterei458 in ausgebreiteten und zum Teil auch vornehmen Gesellschaftsverbindungen sich geltend machte“.459 Die Schwestern Caroline und Wilhelmine Bardua berichten über einen Besuch bei Sara Levy im Jahr 1846: Zu Mittag waren wir bei Madame Levy – das Haus ist auch ein Tempel der Vergangenheit. Das neue Museum wächst darüber hinaus; es schrumpft immer mehr zusammen, je gigantischer der neue Bau sich ringsum erhebt. […] In ihrem Zimmer ist noch alles, wie vor 25 Jahren, dieselbe altmodische Behäbigkeit wie damals. Von allen Wänden grüßt uns längst zerstäubte Vergangenheit: die Uhden, die Milder, der alte Friedländer! Der alte Kreis ist gelichtet – nur Mad. Saaling ist noch da und die alte Chodowiecka mit ihrem Samthut von vor 30 Jahren!460
Vier Jahre später heißt es: „Gestern waren wir bei der Levy zu ihrem 89. Geburtstag – o graue Vergangenheit!“461 Felix Eberty erscheint sie wie ein „Denkmal aus alter Zeit“462 und ihre Gesellschaft wirkt auf ihn wie eine Versammlung „aus lauter konservierten Überresten der alten Zeit“.463 Bereits zeitgenössische Berichte stellen ihre Bach-Rezeption als Faktor von Altertümlichkeit dar, so heißt es in dem bekannten Zitat von Ludwig Rellstab die vortreffliche Bachspielerin bediene sich „jener alterthümlichen Klaviere“.464 Diese Sichtweise prägte viele Jahre lang die Rezeption ihres Salons und bezog sich primär auf die Zeitspanne von den 1820er Jahren bis zu ihrem Tod im Jahr 456 Vgl. das Kapitel Bach spielen (Teil III, Kap. 3.2.2). 457 Erman, Paul Erman, S. 97, ohne Angabe des Datums des Brentanozitats. 458 Philisterei wird im Grimmschen Wörterbuch als „widerliche abgeschmackte mischung von engherzigkeit und geistesflachheit, der nicht beizukommen ist als mit ihren eigenen waffen“ beschrieben. Vgl. Das Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, http://www.woerterbuchnetz. de/DWB?lemma=philisterei (letzter Zugriff: 10.01.2018). 459 Carl August Ludwig Varnhagen von Ense, Vermischte Schriften, 3. Auflage, Teil 2, 1875, S. 112, hier zitiert in: Erman, Paul Erman, S. 97. 460 Wilhelmine Bardua, Die Schwestern Bardua. Bilder aus dem Gesellschafts- Kunst- und Geistesleben der Biedermeierzeit. Aus Wilhelmine Barduas Aufzeichnungen gestaltet von Prof. Dr. Johannes Werner, Leipzig 1929, S. 204. 461 Bardua, Die Schwestern Bardua, S. 257. 462 Eberty, Jugenderinnerungen, S. 255. 463 Ebd., S. 253 f. 464 Ludwig Rellstab, Aus meinem Leben, 2 Bde., Berlin 1861, Bd.1., S. 117. Rellstab bezieht sich hier auf das Cembalo.
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1854. Sara Levys Festhalten an den Idealen der Aufklärung wurde „seit den 1820er Jahren ausschließlich als ein Relikt vergangener Tage wahrgenommen“.465 Worauf haben sich die Wertungen ihrer Zeitgenossen bezogen? Schon die lange Existenz ihres Salons und ihr hohes Alter mögen Voraussetzung für diese Wahrnehmung gewesen sein. Weiterer Anknüpfungspunkt war ihr jüdischer Glaube, dem sie – anders als die Mehrheit ihrer Generation – ihr Leben lang treu blieb. Konservatismus wurde in Verbindung gebracht mit einer traditionellen Religionsausübung. Auch aus Perspektive des politischen Diskurses wird ihrem Salon eine rückwärtsgewandte Haltung attestiert, die sich aufgrund ihres „Festhaltens an den Ideen der Aufklärung“ entwickelt habe. Konservatismus wird in der Wahrnehmung ihres Salons als wertende Beschreibung verwendet, sodass sich über die Wortbedeutung des Festhaltens an traditionellen Vorstellungen, die des Nicht-mehr-angemessenen, im Sinne eines Anachronismus spannt. Hierzu passt die Beschreibung der „Philisterei“, wie sie Karl August Varnhagen verwendet. Die Frage, ob ihr Salon als konservativ bezeichnet werden kann, beschäftigt auch Forschungen jüngeren Datums. Petra Wilhelmy-Dollinger bringt dabei explizit Sara Levys Auseinandersetzung mit der Musik J. S. Bachs ins Spiel: „Sara Levys Konservatismus kam durch die musikalischen Soiréen, die sie veranstaltete, der Pflege Bachscher Musik in jenen Jahren zugute, in denen Bach nicht mehr ‚modern‘ war.“466 Sara Levys vermeintlicher Konservatismus und Bachs Musik werden derart in einen argumentativen Zusammenhang gebracht, dass der Eindruck entsteht, die Bewahrung der bachschen Musik erwachse aus ihrem Konservatismus. Nicht nur werden hier Sinnzusammenhänge konstruiert, die nicht in den Quellen nachzuweisen sind, sondern es wird hier die Idee eines Konservatismus – ungeachtet des Rezeptionskontextes, aus dem sie entstammt – unreflektiert übernommen. Was den ihr in Bezug auf ihre Bach-Rezeption oft abgesprochenen Modernismus angeht, könnte man genauso davon ausgehen, dass Bach nicht „nicht mehr“, sondern „noch nicht“ wieder modern ist. Angesichts ihrer Musiksammlung, die sowohl Kompositionen älterer als auch jüngerer Zeit birgt, lässt sich ein allgemeiner Eindruck von Konservatismus hinsichtlich ihres Musikgeschmacks nicht halten und so kommt Peter Wollny zu dem Ergebnis: Die ästhetischen Ideale Sara Levys und die daraus resultierende Auswahl ihres Repertoires scheinen angesichts ihrer Bevorzugung des alten Bach eine ausgesprochen konservative Haltung anzudeuten. Diese Beurteilung wäre allerdings nur zum Teil zutreffend, denn zugleich ist bei ihr auch eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem zu erkennen, die mit der Einsicht in die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des musikalischen Geschmacks einhergeht.467
465 Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 352. 466 Wilhelmy-Dollinger, Die Berliner Salons, S. 147. 467 Wollny, Beiträge 2, S. 45.
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Jüdischkeit468 […] aber während die Hofrätin [Henriette Herz] in der Mitte ihres Lebens zum Christentum übergetreten [war], war Frau Levy dem mosaischen Glauben treu geblieben und hatte sich eine Mission daraus gemacht, die Vertreterin desselben zu sein, wo man sich gegen ihn erhob, und dabei jeden Fortschritt zur geistigen Bildung bei seinen Bekennern in der liberalsten Weise zu unterstützen.469
Konsequenterweise werden biographische Schilderungen über Sara Levy mit der spezifischen Erwähnung ihres jüdischen Glaubens flankiert. Besondere Betonung erhält dabei der Umstand, dass sie anders als zahlreiche jüdische Zeitgenossen ihrer Generation nicht zum Christentum konvertierte. Folgende Stellungnahme Sara Levys wird als Originalzitat und ohne fundierte Quellenangabe tradiert: Mit Wehmuth gedachte sie ihrer der väterlichen Religion entfremdeten Verwandten. ‚Ich komme mir vor‘, pflegte sie zu sagen, ‚wie ein entlaubter Baum; alle die Meinigen um mich her sind durch ihren Uebertritt zum Christenthum mir doch in vieler Hinsicht fremd geworden‘.470
Dort heißt es weiter: „Es erfüllte sie mit Stolz, wenn sie Erinnerungen aus ihrer Jugend mittheilte, daß in ihrem älterlichen Hause der ‚Seder‘ mit imposanter Feierlichkeit gegeben wurde, und daß immer viele jüdische Gelehrte an ihres Vaters Tisch zu Gaste saßen.“471 Ungeachtet missionarischer Bestrebungen, die Sara Levy attestiert werden, stellt ihre Religionszugehörigkeit einen erwähnenswerten Faktor ihrer Biographie dar.472 Wie kommt es dazu? Zum einen kann die Frage aus der Perspektive ihrer individuellen Biographie heraus beantwortet werden. Ihre Religionszugehörigkeit lässt sich als ein integraler Bestandteil ihrer Biographie bewerten. Ihrem jüdischen Bekenntnis wurde – bereits von ihren Zeitgenossen473 – eine Sonderrolle zugewiesen. Marcus Pyka beantwortet die Frage nach dem Sonderstatus biographischer Reflexion in den Jewish Studies vor dem Hintergrund der „einmaligen Situation von Juden in der Geschichte der christlich-abendländischen Welt, als ältester und oftmals einziger kultureller Minderheit inmitten eines Umfelds, das sich über Jahrhunderte deutlich und auch gewaltsam abzugrenzen trachtete, zu dem die Juden aber dessen ungeachtet essentiell dazugehörten“.474 Zum anderen lässt sich allgemeiner argumentieren: Im 18. und 19. Jahrhundert geschahen zahlreiche Umbrüche auf gesellschaftlicher und 468 Dieser Begriff wird in Anlehnung an Marcus Pyka verwendet, wonach die Frage nach der Jüdischkeit einer Person, die nach dem Charakter jüdischer Identität einer Person ist. Vgl. Marcus Pyka, Art. „Jewish Studies“ in: Klein (Hg.), Handbuch Biographie, S. 414–418, hier S. 414. 469 Lewald, Meine Lebensgeschichte, Bd. 3, S. 86. 470 Meyer Kayserling, Die jüdischen Frauen in der Geschichte, Literatur und Kunst, Leipzig 1879, S. 229. 471 Ebd. 472 Ein weiteres Textbeispiel, in dem Sara Levys Religionszugehörigkeit explizit thematisiert wird, findet sich bei Nahida Remy, Das jüdische Weib, Leipzig 1892, ND Frankfurt a. M. 1999 (Cultura Judaica), S. 255. 473 Über den Umstand, dass jüdische Salonnièren nicht nur als interessante Gesprächspartnerinnen, sondern auch als Jüdinnen verstanden wurden, vgl. u. a. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 358. 474 Pyka, Art. „Jewish Studies“, S. 414.
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politischer Ebene, von denen auch das deutsch-jüdische Zusammenleben direkt betroffen war, was im Gegenzug wieder auf die politisch-gesellschaftliche Situation rückwirkte. Es fanden Transfer-Prozesse zwischen der deutsch-christlichen und der deutsch-jüdischen Bevölkerung statt, die für die Frage nach deutsch-jüdischer Identität und Akkulturation bzw. Transkulturation475 von Interesse sind. Als ein Ort dieser Transferprozesse wird der jüdische Salon in seiner Form als musikalischgeselliger Kommunikationsraum verstanden. Unter diesem Blickwinkel gerät Sara Levy als ein Beispiel deutsch-jüdischer/deutsch-christlicher Transkulturation um 1800 in den Blick.476 Bei Sara Levy überlappen sich der allgemeinhistorische Diskurs über die Rezeption jüdischen Handelns von Frauen in Berlin um 1800 mit dem musikspezifischen Diskurs, welche Personen und Personengruppen, welcher Religion, auf welche Art und Weise Anteil an der Bewahrung des bachschen Erbes hatten.477 Vor dem Hintergrund der Frage, wie der Charakter der Jüdischkeit Sara Levys bewertet werden kann, kreuzen sich die Diskurse der jüdischen Geschichte, der Geschlechtergeschichte und der Kulturgeschichte. Der Möglichkeit, Sara Levys Bach-Rezeption aufgrund ihrer Jüdischkeit besonders hervorzuheben und zu bewerten, wird hier nicht nachgegangen. Es existiert kein Widerspruch zwischen ihrer Bach-Rezeption und ihrem jüdischen Glauben. Dass sich eine Jüdin um 1800 ein besonderes
475 Der Begriff der Akkulturation ist im Forschungsdiskurs über die Bedeutung jüdischer Tradition für die Berliner Musikkultur um 1800 fest etabliert. Vgl. z. B. Michael Maurer, Verbürgerlichung oder Akkulturation? Zur Situation deutscher Juden zwischen Moses Mendelssohn und David Friedländer, in: Gerhard (Hg.), Musik und Ästhetik, S. 27–56. In dieser Studie wird der Akkulturations-Begriff als Produkt des Diskurses selbst verstanden, der auf der Vorstellung eines geschichtlichen Nacheinanders von Praktiken und einer einseitigen Einflussnahme gründet. Um die Differenz zu dem hier entwickelten Gedanken eines Transfers von Praktiken deutlich zu machen, wird der in der Kultursoziologie nach Fernando Ortiz (1940) geprägte Begriff der Transkulturation verwendet. Dieser verweist explizit auf die Entwicklung von neuen kulturellen Phänomenen, die in der „Umarmung von Kulturen“ („abrazo de culturas“) gründen. Siehe zu diesem Begriff Fernando Ortiz, Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar: advertencia de sus contrastes agrarios, económicos, históricos y sociales, su etnografía y su tranculturación, La Habana 1940, ND hg. von Enrico Mario Santí, Madrid 2002, S. 260. 476 Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zur (musikalischen) Salonkultur in Berlin und zur Diskussion, inwieweit diese als eine jüdische Emanzipationsgeschichte gelesen werden kann, sei an dieser Stelle auf die Veröffentlichungen von Barbara Hahn verwiesen, bes. auf Der Mythos vom Salon. ‚Rahels Dachstube‘ als historische Fiktion, in: Hartwig Schultz (Hg.), Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons, Berlin/New York 1997, S. 213–234; siehe auch Lund, Der Berliner „Jüdische Salon“, vor allem S. 53 ff. Die Frage nach der Beurteilung ihres musikalischen Engagements als expliziter Ausdruck einer Transkulturation und die Einschätzung, Musik besitze eine inkludierende Macht, wird gesondert im Kapitel Bach salonfähig machen (Teil III, Kap. 3.2.5) diskutiert. 477 Die Diskussion der Frage, inwieweit Felix Mendelssohn Bartholdys Rolle für die Bach-Rezeption im 19. Jahrhundert durch seine jüdische Herkunft tangiert wurde, ist Thema der Forschungen u. a. von Jeffrey S. Sposato, The Price of Assimilation: Felix Mendelssohn and the Nineteenth-Century Anti-Semitic Tradition, New York 2005.
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Profil als Bach-Rezipientin erarbeitet, ist nicht verwunderlich, wenn die Mehrzahl der kulturell aktiven Berliner Gesellschaft Juden waren.478 Welche Bedeutung wird ihrem jüdischen Glauben in dieser Studie beigemessen? Pyka rät zur Differenzierung zwischen der „Identität einer Person als Individuum“ und „qualitativen, sich in bestimmten (meist Abgrenzungs-)Situationen ergebenden Identitäten, von denen ‚jüdisch‘ lediglich einen Aspekt darstellt“.479 Zu berücksichtigen seien Fragen – so Pyka –, „inwieweit Selbst- und Fremdzuschreibungen in Bezug auf Aspekte der Jüdischkeit übereinstimmen oder divergieren, und welche Bedeutung eine so geartete qualitative jüdische Identität für das Gesamtbild einer Person dargestellt haben mag“.480 Im Fall Sara Levys lässt sich ihr Selbstbild als Jüdin nur aufgrund der Portraitbilder rekonstruieren.481 Ikonographische Darstellungen von Jüdinnen und Juden um 1800 haben eine ganz eigene Tradition,482 so kann in Bildern ihre Nähe oder Distanz zum Judentum zum Ausdruck gebracht werden. Traditionelle Kopfbedeckung durch eine Kopfhaube, die das Haar bedeckte (bei der Frau), signalisierte Nähe zum Judentum, offenes Haar galt als modern und wurde als Abkehr von der jüdischen Tradition und als Hinwendung zu den Idealen der aufgeklärten Gesellschaft verstanden. Ebenso war die Haube ein Bekenntnis zur Witwenschaft und symbolisierte Schlicht- und Bescheidenheit. Bilder stellten eine Möglichkeit dar, das religiöse und soziale Selbstbild zum Ausdruck zu bringen. In Bildern lassen sich – mit den Worten Silke Wenks – Praktiken des Zu-sehen-Gebens rekonstruieren, ebenso auch Praktiken des Signifizierens. Diese Praktiken, so Wenk, müssen „intelligibel, wahrnehmbar und interpretierbar sein“.483 Das wiederum ist bestimmt von historisch und sozial herrschenden Codes. Anders formuliert: Wie man sich zu sehen gibt bzw. zu sehen geben möchte, ist immer auch bestimmt von ‚Rahmen‘, in denen man gesehen und (an)erkannt werden will.484
Zwei Darstellungen, die Sara Levy im Portrait abbilden (eine Lithographie von Paul Rohrbach um 1850485 und eine Bleistiftzeichnung von Henschel um 1810486), zeigen sie in traditioneller jüdischer Kopfbedeckung: Eine weiße spitzenumrandete Haube, die einen Großteil der Haare bedeckt. Auch schriftlich ist das Tragen einer
478 Vgl. die Angaben zur Bevölkerung Berlins in: Horst Ulrich / Uwe Prell (Hgg.), Berlin-Handbuch: das Lexikon der Bundeshauptstadt, Berlin 1992, S. 236 ff. 479 Pyka, Art. „Jewish Studies“, S. 414. 480 Ebd., S. 415. 481 Siehe Abbildung 1 (Seite 246) und Abbildung 2 (Seite 247). 482 Vgl. Annette Weber, Jupiter tonans im Bild. Musik und jüdische Musiker im Spiegel der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts, in: Borchard/Zimmermann (Hgg.), Musikwelten – Lebenswelten, S. 159–171, hier S. 163. 483 Silke Wenk, Praktiken des Zu-sehen-Gebens aus der Perspektive der Studien zur visuellen Kultur, in: Alkemeyer/Budde/Freist (Hgg.), Selbst-Bildungen, S. 275–290, hier S. 286. 484 Ebd. 485 Abgebildet in: Erman, Paul Erman, nach S. 96, siehe Abbildung 2 auf Seite 247. 486 Abgebildet in: Walter Stengel, Märkisches Museum. Bericht über die Erwerbungen des Jahres 1928, Berlin 1929, S. 41. Das ehemals im Märkischen Museum befindliche Original ist heute verschollen, siehe Abbildung 1 auf Seite 246.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Abbildung 1: „Musik Freundin Levy“, Bleistiftzeichnung von Henschel, Berlin, um 1810 Ehemals Märkisches Museum Berlin, verschollen, Abbildung nach Walter Stengel, Märkisches Museum, Berlin 1929, S. 41
3. Mikro-Blick Sara Levy: Bach praktizieren im Salon
Abbildung 2: Sara Levy, geb. Itzig, Lithographie von Paul Rohrbach, um 1850 Abbildung nach Wilhelm Erman, Paul Erman. Ein Berliner Gelehrtenleben 1764–1851, Berlin 1927, nach S. 96
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Haube tradiert: „Da saß die alte Dame, das feine, durchgeistigte Gesicht schön umrahmt von einer hohen Spitzenhaube alter Bauart und las mit ihren beiden Gesellschafterinnen den Sommernachtstraum mit verteilten Rollen […].“487 Anders als ihre beiden Schwestern Cäcilie von Eskeles und Fanny von Arnstein, die sich als wohlhabende und aufgeklärte Wiener Salonnière zeichnen ließen,488 richtet sich der Fokus der Betrachtung sowohl in der Bleistiftzeichnung als auch in der Lithographie auf die traditionell jüdische Bekleidung. Damit ist der Rahmen, in dem sich Sara Levy zu zeigen gibt, markiert und für den Betrachter rekonstruierbar. In zahlreichen Konvertierungen jüdischer Zeitgenossen Sara Levys äußern sich laufende Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zwischen deutsch-christlichem und deutsch-jüdischem Gedankengut. Sara Levys Treue zum Judentum drängt sich als zentraler Aspekt ihres sich Zu-sehen-Gebens förmlich auf. Innerhalb der Jewish Studies spielen Studien von Familiengeschichte eine besonders große Rolle. Gerade im „abgeschlossenen“ Familienraum spiegeln sich besonders gut sichtbar Strategien gegen drohende Exklusion oder Antisemitismus. Der Einbezug familienhistorischer Aspekte wird auch in Anbetracht der Großfamilie Itzig besonders fruchtbar, da sich für jede der Itzig-Generationen unterschiedliche Handlungsformen im Umgang mit dem eigenen (religiösen) Selbstverständnis und dessen Verankerung in der nichtjüdischen Gesellschaft nachweisen lässt.489 Kulturelles Engagement stellt in diesem Transferprozess von jüdischem Selbstverständnis in nichtjüdische Handlungsmuster ein wichtiges Medium dar, mittels dessen Prozesse wie Transkulturation und Verbürgerlichung stattfinden. Gerade aufgrund der großen Reputation von kulturellem Engagement eigneten sich kulturelle Praktiken als Handlungsstrategien innerhalb eines Transkulturationsprozesses seitens der jüdischen Familien in Berlin. Eine von vielen möglichen Erklärungen für Sara Levys musikalischen Geschmack stellt der durch religiöse Exklusion bedingte Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung dar. Sara Levys Bach-Rezeption ist möglicherweise als eine Strategie zu verstehen, sich trotz religiöser Ausgrenzung am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Ein solches Verständnis könnte ihren Fokus klären ohne dem Kurzschluss zu verfallen, ihr musikalischer Geschmack sei kausal durch ihre Religion bedingt. Wie Thekla Keuck in ihrer Studie zeigt, kann die Bedeutung des kulturellen Engagements und künstlerischen Handelns der Itzig-Familie als Mittel zur gesellschaftlichen Integration nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist daher ange487 Lina Morgenstern, Die Frauen des 19. Jahrhunderts. Biographische und culturhistorische Zeit- und Charaktergemälde. 3 Bde., Berlin 1888–1891, Bd. I, S. 100. Dieses Zitat stammt aus dem Brief eines nicht namentlich genannten preußischen Beamten an seine Tante, Frau Dr. Ziurek. 488 Vgl. das Gemälde von Cäcilie von Eskeles des Künstlers Friedrich Amerling (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Inv.-Nr. Gm 913, abgedruckt in Wollny, Beiträge 2, S. 33) und von Fanny von Arnstein (Künstler unbekannt, Foto: Steinheim Institut für deutsch-jüdische Zusammenarbeit, Gidal Bildarchiv Nr. 1750, abgedruckt in Wollny, Beiträge 2, S. 98). 489 Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger.
3. Mikro-Blick Sara Levy: Bach praktizieren im Salon
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bracht, Sara Levy hinsichtlich ihres musikalischen Interesses bzw. Ausdrucks nicht Beliebigkeit zu unterstellen, sondern ihre kulturellen Strategien als ein bewusstes Handeln zu begreifen. Gesellschaftliche Exklusion und in Folge dessen strategisches Handeln wird hier als Moment der konstruktiven, individuellen Lösung Sara Levys, als Moment der Zurückwerfung (reflectio) auf sich selbst verstanden. Sara Levy benutzt ihre Rezeptionspraxis von Bachs Musik als Instrument, um auf der Basis ihres musikalischen Interesses und Könnens in die kulturelle Bürgergemeinschaft Berlins aufgenommen zu werden – ein Vorgang, der aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit nicht selbstverständlich war. Diese Integrationsstrategien haben in der Familie Itzig Geschichte, wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird, äußern sich aber in je unterschiedlicher Art und Weise. Sara Levys Umgangsweise zeichnet sich durch ihre Bach-Rezeption aus, die noch dazu einen klaren Fokus besitzt, indem sie die Verbindung zwischen Alt und Neu, zwischen Bach, dem Vater, und den Bach-Söhnen sucht. 3.1.3 Biographische Kontexte Familiärer Hintergrund Die rechtliche und finanzielle Autonomie, die Sara Levys Vater Daniel Itzig im Zuge seiner Emanzipationsbestrebungen erwirkte, ging uneingeschränkt an seine Nachfahren über. Diese beiden Faktoren – rechtliche und finanzielle Emanzipation der Familie Itzig – boten Sara Levy das Handlungspotenzial einer Kulturschaffenden. Ihre wirtschaftliche Absicherung erhielt Levy durch die Aussteuer, die anlässlich ihrer Eheschließung aus dem elterlichen Kapital in ihre Ehe geflossen ist. Ebenso trugen die Erbschaft ihrer Eltern und das geerbte Vermögen ihres Mannes zu einer finanziell unabhängigen Lebenssituation bei. Sie besaß nicht nur eigenes Kapital, sondern auch ein Grundstück sowie auch das Güterrecht. Ihre rechtliche Absicherung entstand durch das Generalprivileg, dass Daniel Itzig 1761 erworben hatte und ihn von den strengen Restriktionen in Bezug auf Gütererwerbsrecht und Aufenthaltsgenehmigung von Juden befreite.490 Dieses sicherte Daniel Itzig die Gleichstellung mit christlichen Bankiers, gewährte ihm Handelsfreiheit und Grundstückserwerb. Sämtliche dieser Privilegien galten für ihn, seine Frau und seine ehelichen Nachkommen. Das Grundstück Hinter dem Neuen Packhof gehörte zu den Besitzerwerbungen, die Daniel Itzig nach 1761 tätigte. Es ging nach seinem Tod als Erbschaft an Sara Levy über. Die Privilegien ihres Vaters ermöglichten Sara Levy überhaupt erst als Eigentümerin des Hauses Hinter dem Neuen Packhof einzutreten. Sie verfügte zudem über ein Kapital von ca. 115.000 Talern, darunter die erwähnte Mitgift in einer Summe von 20.000 Talern und das Erbe ihres Ehemannes 490 Die rechtliche Emanzipation der Familie Itzig erfolgte in mehreren Etappen. Seit 1750 gehörte Daniel Itzig zu den preußischen Schutzjuden, 1761 wurde ihm das Generalprivileg verliehen und 1791 schließlich das Naturalisationspatent.
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Samuel Salomon Levy.491 Sara Levy führte ihre häuslichen Geschäfte und verwaltete ihren Besitz, regelte sämtliche Vermietungsgeschäfte und trat souverän für den Erhalt ihres Palais’ ein. Mehrmals gab es seitens des Königshauses Anfragen, es ihr abzukaufen, um für den Bau des Neuen Museums an der Spree Platz zu schaffen.492 So erinnert sich Wilhelm Erman: Charakteristisch für ihren freien und unabhängigen Sinn war auch ihr Verhalten, als 1841 für den Bau des Neuen Museums ihr Grundstück vom Staat erworben werden sollte und ihr dafür die günstigsten Anerbietungen gemacht wurden. Nur einen kleinen Teil des Gartens trat sie ab, das übrige verweigerte sie, obgleich mit allen Mitteln auf sie eingewirkt wurde. Auch Humboldt musste sie im Auftrag Friedrich Wilhelm IV. bearbeiten.493
Ökonomisches Kapital, das die Voraussetzung für gesellschaftliche Eingliederung und Mitbestimmung schuf und in dem ein Lebensstil mit Musik, Literatur und Theater gepflegt werden konnten, sowie die auf Daniel Itzig zurückzuführende Ambition zum Sammeln kultureller Güter und zur fundierten Bildung, stellen die Basis für die ausgeprägte Auseinandersetzung mit der Musik J. S. Bachs in der Familie Itzig dar. Ökonomisches und kulturelles Kapital gehen dabei eine Symbiose ein. Die Unterstützung der Bach-Söhne durch Subskription und Pränumeration war für die Familie Itzig, ähnlich wie das Sammelverhalten von Musikhandschriften und Musikdrucken, Ausdruck von finanziellem Wohlstand, aber auch einer Würdigung eines kulturellen Erbes, das die Bach-Familie mit einschloss. J. S. Bachs Werke erhielten Bedeutung, weil sie – wie im Kapitel zur Familie Itzig erörtert – eine ästhetische Brücke darstellten zu den Werten und Idealen der jüdischen Aufklärung.494 Finanziell ermöglicht und unterstützt wurde die Etablierung bachscher Musik durch die jüdische Wirtschaftselite Berlins, einerseits durch Pränumeration auf Werke der Bach-Familie, andererseits durch die Unterstützung, die die Bach-Söhne durch Sara Levy erfuhren.495 Das Geselligkeitskonzept, das bei Sara Levy in ihrer Rolle als Salonnière zum Tragen kommt, ist eng verknüpft mit den Traditionen ihres Elternhauses. Mit der dort angestrebten Öffnung und Reform des Judentums gehörte die Führung eines Hauses als kultureller Raum mit Musikausübung vor allem für die Generation Sara Levys zum Handlungsspektrum einer Frau dazu. Die in der Familie erlernten Geselligkeitsstrukturen wie z. B. der Aufbau kommunikativer, auf der Familie basierender Netzwerke dienten Sara Levy als Vorbild für die eigenen Geselligkeiten. Ihr soziales Netzwerk baute sie auf bereits bestehende Netzwerkstrukturen ihrer Eltern auf. So beruhte z. B. die Verbindung zu C. P. E. Bach auf einem Kontakt ihrer Eltern.496
491 Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 76. 492 Vgl. Neue Preußische Zeitung Nr. 111 vom (13.) 12. Mai 1854, S. 2, und Königlich Priviligierte Zeitung, Nr. 112, vom 14. Mai 1854. 493 Erman, Paul Erman, S. 98 f. 494 Vgl. das Kapitel Familie Itzig (Teil III, Kap. 2.3.2). 495 Vgl. das Kapitel Bach fördern (Teil III, Kap. 3.2.4). 496 Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 23, Anm. 12. Carl Philipp Emanuel Bach gehörte zum gesellschaftlichen Zirkel der Familie Reimarus in Hamburg, die bereits mit Sara Levys Eltern bekannt war.
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Netzwerk Sie benutzt täglich ihre équipage zu Besuchen und Erkundigungen bei den hundertfach verzweigten Verwandten; nimmt es aber auch denjenigen Familiengliedern übel, die aus Mangel an disponiblen Wagen oder größerer Beschäftigung im Hause, verhindert sind, dergleichen Ceremonienbesuche so oft abzustatten. Doch, vive la bonne tante; quand même.–497
Aus Sara Levys 89. Lebensjahr ist übermittelt, mit welcher Intensität sie ihr familiäres Netzwerk pflegte und Besuchsdienste erwartete. Ihr hohes Alter, das ihr das Er- bzw. Überleben ihrer eigenen Geschwister, das der Generation ihrer Nichte Lea Mendelssohn Bartholdy, als auch der ihrer Großnichte Fanny Hensel geb. Mendelssohn Bartholdy und ihres Großneffen Felix Mendelssohn Bartholdy ermöglichte, aber auch ihr rüstiger Gesundheitszustand und ihre persönliche Autorität, verliehen Sara Levy innerhalb ihrer Großfamilie Itzig-Levy-Mendelssohn eine zentrale und angesehene Position. So beschreibt Lea Mendelssohn ihre Tante 1836 in einem Brief an Henriette von Pereira-Arnstein: Merkwürdig bleibt die Lebenskraft der Itzigschen Schwestern;498 besonders zu bewundern ist Tante Levy; ihre liebenswürdige Laune, ihre Güte, Freundlichkeit, Heiterkeit, Geselligkeit übertreffen alles, was man sich zu 75 Jahren möglich denken kann; im Aeußeren hat sie sich kaum geändert; Gang, Haltung, Sprache, alles ist geblieben, und ihr herrliches, wohlthuendes Wesen, so wie ihr Interesse an Menschen und Dingen sind vielleicht eher erhöht als verringert. Gott erhalte uns diese edle FamilienPatriarchin noch lange!499
Sara Levy und Lea Mendelssohn Bartholdy standen zueinander in einem engen, persönlichen Verhältnis.500 Zwischen den beiden Häusern wurden gegenseitige Empfehlungen ausgesprochen, Neuigkeiten aus der Familie ausgetauscht, Kontakte vermittelt501 und in Fragen der Beschaffung von Tasteninstrumenten beraten.502 Sara Levy wohnte musikalischen Veranstaltungen der Mendelssohn Bartholdys 497 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 483, Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Henriette von Pereira-Arnstein vom 21. Juli 1840. 498 Auch Sara Levys Schwester Rebecca Ephraim, geb. Itzig, erreichte das hohe Alter von 83 Jahren. 499 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 376, Brief vom 21. Juli 1836. An anderer Stelle heißt es, Sara Levy stelle den „Vereinigungspunkt“ der Familie dar und ihre Geburtstage seien Anziehungspunkt für „FamilienErscheinungen, die man sonst das ganze Jahr nicht zu sehen bekömmt“ (ebd. S. 398, Brief vom 8. August 1837). 500 Dies zeigt sich bei der Schilderung von zwei Begebenheiten: Nach einer Fehlgeburt im Juli 1818 war Sara Levy die erste Vertraute, noch vor ihrer Mutter Bella Salomon, geb. Itzig, der Lea dieses Ereignis mitteilte „[…] nachdem ich jenes Unglück erfahren, lief ich mit dem fürchterlichen Herzklopfen zu T. Levy; dort erst löste sich bei ihrem und Rechas [Recha Itzig] Anblick mein stummer Schmerz in Thränen auf; nun galt es wieder, meiner Mutter die herzzerreißende Nachricht schonend beizubringen […].“ (Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 5). Bei einer anderen Gelegenheit fungierte Sara Levy als Streitschlichterin zwischen Lea Mendelssohn Bartholdy und ihrer Mutter Bella Salomon (ebd. S. 22). 501 So vermittelt Sara Levy den englischen Architekten Charles Barry (1795–1860) in das Haus Mendelssohn Bartholdy. Vgl. Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 18, Brief an Henriette von Pereira-Arnstein vom 14. Juli 1819. 502 Vgl. den Brief vom 14. Juni 1825 (ebd., S. 144), wonach Sara Levy die Beschaffung eines Streicher-Flügels über Rebecca Ephraim, geb. Itzig, vermittelt habe.
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bei.503 Mehr Aufschluss über ihr Verhältnis zu Felix Mendelssohn Bartholdy und Fanny Hensel geben die von ihnen erhaltenen Gegenbriefe. In einem von Felix Mendelssohn Bartholdy an seine Tante formulierten Brief wirkt es, als würde er einen Besuch bei seiner Großtante scheuen.504 Es ist keine explizit musikalische Begegnung zwischen Sara Levy und Felix Mendelssohn Bartholdy bzw. Fanny Hensel geb. Mendelssohn Bartholdy in den Quellen nachweisbar. Felix und Fanny erwähnen Sara Levys Bach-Repertoirekenntnisse und ihre Sammlung an BachHandschriften und -Drucken nicht. Nur indirekt lassen sich gegenseitige Besuche auch als Treffen interpretieren, in denen gemeinsam Musik gehört oder gespielt wurde. Ihr familiäres Netzwerk erstreckte sich seit dem Umzug ihrer Schwestern Fanny von Arnstein geb. Itzig und Cäcilie von Eskeles geb. Itzig bis nach Wien. Regelmäßig hielt sie sich dort auf. So sind z. B. mehrmonatige Aufenthalte für die Jahre 1802505 und 1826506 belegt. Auch außerfamiliär gestaltete sie ein intensives Netzwerk, so dass sie eine anerkannte und herausragende Stellung in der Berliner Gesellschaft einnahm. Im Nachruf wird berichtet, dass sie als eine der wenigen Frauen Berlins Königin Louise und der Großmutter des Königs Huldigungen überbringen durfte.507 Sara Levy nahm, wie auch ihre Familienmitglieder, an frühbürgerlichen Diskussions- und Lesegesellschaften teil.508 Sie gehörte, wie Thekla Keuck annimmt, dem von Henriette Herz gegründeten Tugendbund an – einem „Geheimbund“, der freimaurerischen Ritualen und einem idealisierten Freundschaftskult anhing.509 Samuel und Sara Levy waren als Ehepaar gemeinsam Mitglieder der Feßlerschen 503 Vgl. ebd. S. 497, den Brief vom 24. und 25. März 1841. 504 Vgl. den Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Sara Levy, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, Briefe, hg. von Elvers: „… aber durch ein Missverständnis ist der Bote mit einem bereits am Sonnabend geschriebnen Briefchen nicht recht angekommen, und da ich es heute erfuhr und selbst zu Ihnen eilen wollte, hält mich abermals eine unglückliche Verkettung der Dinge ab. Nun mag’s aber in den nächsten Tagen Steine oder Feuer oder Feuersteine regnen, so komm ich doch angestiegen, und danke Ihnen mündlich für Ihre liebevolle Freundlichkeit und das mir so erfreuliche und werthe Tintenfäßchen.“ 505 Außerdem schreibt sie im Frühjahr 1802 aus Wien an Carl Gustav von Brinkmann: „Wie wohl es mir hier geht, wenn ich bei meiner Schwester Eskeles Weinlaube oder mit unserer Jette ein trauliches Stündchen genieße, davon können sie sich einen Begriff machen, wenn sie auch nie gehört haben, das hier hinterm Ofen auch Leute wohnen.“ Brief von Sara Levy an Carl Gustav von Brinkmann vom 10. März 1802 (Quelle im Privatbesitz der Gräfin Trolle-Ljungby in Schweden). 506 Sara Levy reiste im Frühjahr 1826 für mehrere Monate (bis November 1826) nach Wien zu ihren Schwestern (Vgl. Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 187, Brief vom 24. März 1826). 507 Nachruf in der Haude-und Spenerschen Zeitung vom 12. Mai 1854 (PL-Kj, Sammlung Varnhagen, Sara Levy, Kasten 108). 508 Vgl. hierzu die entsprechenden Untersuchungen bei Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 325–343, worin die Autorin untersucht, inwieweit die Itzigs als Juden oder als akkulturierte Bürgerliche handelten und in wieweit Momente der Exklusion bzw. Inklusion zur Etablierung eigener Gesellschaftsstrukturen anregten. 509 Vgl. ebd. S. 335.
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Lesegesellschaft. Diese Art von Gesellschaften, in denen primär literarische und wissenschaftliche Texte vorgelesen und besprochen wurden, erfreuten sich vor allem in den 1780er und 1790er Jahren großer Beliebtheit. Sie waren offen für Frauen und Männer, Juden und Christen, Bürgerliche und Adelige gleichermaßen.510 C. Fr. Zelter und seine erste Ehefrau Julie Pappritz gehörten ebenfalls zu den Mitgliedern dieser Lesegesellschaft, in der in den „gesetzförmigen“ Sitzungen zwar literarische Lesungen im Zentrum standen, in den „gesetzfreyen“ hingegen Musik, Schauspiele und Gedichte vorgetragen wurden.511 Ob in diesem Kontext Sara Levy und C. Fr. Zelter bereits gemeinsam aufgetreten sind, kann nicht hinreichend belegt werden. Ihr Kontakt war aber, so lässt sich mit Blick auf die Sing-Akademie und Rellstabs Konzerte für Kenner und Liebhaber512 festhalten, durch die gemeinsame Mitwirkung in verschiedenen Berliner Gesellschaften und Kreisen entstanden und gefestigt. Personelle Überschneidungen kennzeichneten die vereinsähnlichen Gesellschaften Berlins um 1800 und so lässt sich mit Blick auf Sara Levys kommunikatives Netzwerk formulieren, dass dies ihre Rolle sowohl in musikalischen als auch außermusikalischen Kreisen festigte. Der Salon von Elise und Sophie Reimarus in Hamburg (Tochter und Schwiegertochter des Philosophen Hermann Samuel Reimarus) stellt neben den Wiener Zirkeln einen weiteren wichtigen Knotenpunkt ihres Netzwerks dar, der für den Kontakt zu C. P. E. Bach ausschlaggebend ist. Am Beispiel Sara Levys lässt sich paradigmatisch nachempfinden, dass die in der Generation Daniel und Mirjam Itzigs etablierte familiale Kommunikationstradition in der Generation Sara Levys und ihrer Geschwister auf die Salongesellschaft und auf die Stärkung des außerfamilialen Netzwerks übertragen wurde.513 Die Organisation von Geselligkeiten, die Teilnahme an offenen Geselligkeiten und Gesellschaften, Besuche innerhalb Berlins, Reisen, Kuraufenthalte und schriftliche Kommunikation in Briefform stellen Kommunikationswege dar, mittels derer Sara Levy ihr familiales und außerfamiliales Netzwerksystem pflegte und ausbaute. Weitere Mitglieder der Sing-Akademie, die zu Sara Levys Netzwerk gehörten, waren z. B. Friedrich Nicolai, Johann Gottlieb Schadow, die Sängerin Anna MilderHauptmann, aber auch ihre Untermieter, das Ehepaar Uhden. Sara Levys außerund innerfamiliales Netzwerk bildete eine wesentliche Voraussetzung für ihr Handeln als Bach-Rezipientin. Es ermöglichte ihr nicht nur direkte Kontakte zu anderen Akteurinnen und Akteuren der Bach-Rezeption um 1800, sondern verschaffte ihr Reputation und Ansehen.
510 Vgl. Otto Dann, Die Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts und der gesellschaftliche Aufbruch des deutschen Bürgertums, in: Herbert G. Göpfert (Hg.), Buch und Leser. Vorträge des ersten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für die Geschichte des Buchwesens 13. und 14. Mai 1976, Hamburg 1977, S. 160–193. 511 Vgl. [Wolf Davidson], Briefe über Berlin. Erste Sammlung, Landau 1798, S. 19, sowie dazu Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 338. 512 Vgl. das Kapitel Bach und das „Alterthum“ (Teil II, Kap. 3.2.2). 513 Siehe Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 325 ff.
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Witwenschaft Angesichts Sara Levys umfangreicher Lebensperiode als Witwe lohnt sich ein Blick auf die Frage, welche Veränderungen hinsichtlich ihres musikkulturellen Handelns und ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellung der Tod ihres Ehemannes hervorrief. Über die persönlichen Empfindungen, die der Tod Samuel Salomon Levys bei ihr ausgelöst haben mag, gibt es keine Auskünfte. Anhand ihres Briefes an Carl Gustav von Brinkmann vom 29. Juni 1799, in dem sie ihrer Trauer um den Tod ihres Vaters Daniel Itzig Ausdruck verleiht, lässt sich zumindest in Ansätzen nachvollziehen, wie ihr Verständnis von Trauerarbeit und Totengedächtnis ausgeprägt war. An exponierter Stelle und aus dem Sprachduktus des Alltäglichen herausfallend, steht die Schilderung der Trauer über den Verlust ihres Vaters Daniel Itzig, der am 21. Mai 1799 verstorben war. Der direkte Einfluss dieses Erlebnisses ist im Brief deutlich spürbar und lässt ihre große Verbundenheit und Nähe zum Vater deutlich werden: Sie fühlen es wohl, mein lieber Herr von Brinkmann. Sie, der sie unseren guten Vater oft mitten unter uns […] gewiss, der sie sein liebevolles weiches Herz kanten, und mitverfolgten wie sehr jeder freundliche Blick, jedes Lächeln, wodrauf er uns seine Zufriedenheit zu erkennen gab. Sie, der sie den Umfang zärtlich-kindlicher Gefühle ganz kennen, sie müssen es wissen und begreifen, was wir alle und was einjedes von uns empfindet durch die Verschiedenheit unseres Charakters und der Empfindungsart, muss gelitten haben und in welche Stimmung uns der Verlust des wendigsten und treuesten und geliebtesten Vaters versetzt hat. Jetzt, da eine stille Wehmut dem heftigsten Schmerz gefolgt ist, beschäftigt mich nichts auf eine beruhigendere Weise als das Andenken an seine unvergleichliche Herzensgüte, seine großen Eigenschaften als liebreicher Hausvater, stetiger Freund und Beistand der Unglücklichen und die stete Erinnerung an seine seltenen Tugenden, die seiner zahlreichen Nachkommenschaft zum nachahmenswürdigsten Muster dienen können.514
Anders als bei der Mehrzahl verwitweter Frauen üblich, stellte der Tod ihres Ehemannes im Jahr 1806 keinen Umbruch hinsichtlich ihrer öffentlichen musikkulturellen Tätigkeiten dar. Witwenschaft bedeutet bei Sara Levy nicht den Verlust ihrer finanziellen Existenz, es entstand kein „ökonomisches und rechtliches ‚Vakuum‘ für die Hinterbliebene[n]“.515 Dies stellte nicht den Normalfall dar. „In vielen Fällen ging Witwenschaft […] mit sozialem Abstieg und materialer Not einher […]“,516 denn für die Großzahl der Witwen stand weder vererbtes Familienkapital noch eine staatlich organisierte Rentenversorgung zur Verfügung.517 514 Brief von Sara Levy an Carl Gustav von Brinkmann vom 29. Juni 1799 (Quelle im Privatbesitz der Gräfin Trolle-Ljungby in Schweden). 515 Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart, S. 52. 516 Ebd., S. 59. 517 Eine weitere weit verbreitete Möglichkeit, als Witwe die eigene Existenz zu sichern, war die der ehelichen Stellvertretung. Hier übernahm die Frau nach dem Tod des Ehemannes die Fortführung der häuslichen Geschäfte, verwaltete das Familienkapital und übte – dies war vornehmlich im Handwerk üblich – den Beruf des Ehemannes aus. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel der ehelichen Stellvertretung stellt die Nürnberger Druckerin Katharina Gerlach (um 1520–1592) dar, die den Druckereibetrieb fortführte und sich für die Drucklegung italienischer Musik einsetzte. Vgl. ebd., S. 58. Für weiterführende Literatur zu Katharina Gerlach siehe Rode-Breymann, „Wer war Katharina Gerlach?, S. 269–284.
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Auch in Musikerehen und -familien gab es die Tradition, dass bei Abwesenheit und Tod des Ehemannes die in vielen Fällen ebenfalls musikalisch ausgebildete Frau Aufgaben aus dem Tätigkeitsfeld des Mannes übernahm. Constanze Mozart wirkt in ihrer fünf Jahrzehnte andauernden Witwenzeit als „Witwe Mozart“, als Nachlassverwalterin des kulturellen Erbes ihres Mannes.518 Auch in der Musikergroßfamilie Bach ist das Prinzip der ehelichen Stellvertretung durch Witwen und auch durch Töchter übermittelt. Anna Magdalena Bach, Bachs zweite Ehefrau, war an der Organisation der Kirchenmusik in St. Thomas und St. Nicolai nach dem Tod Sebastians und vor der Neueinsetzung des Nachfolgers Gottlob Harrer beteiligt.519 Auch in der nächsten und in der übernächsten Generation der Bachfamilie übernahmen Ehefrauen und Töchter nach dem Tod des Ehemannes berufliche Funktionen des Mannes. Johanna Maria Bach, die Witwe Carl Philipp Emanuel Bachs und ihre Tochter Anna Carolina Philippina Bach verwalteten den Nachlass C. P. E. Bachs und wirkten damit indirekt auch als Nachlassverwalterinnen J. S. Bachs, da ein Großteil seiner Handschriften C. P. E. Bach erbte.520 Sara Levy hatte sowohl zu Johanna Maria Bach als auch zu Constanze Mozart Kontakt. Berücksichtigt man die Tatsache, dass eine der letzten Kompositionen C. P. E. Bachs ein Auftragswerk Sara Levys war, so stellte der Erwerb dieser Komposition eine finanzielle Unterstützung der Hinterbliebenen dar. Blickt man auf die Verbindung von Constanze Mozart, Johanna Maria Bach und Sara Levy könnte man ihn als einen über Berlin hinausgehenden Witwenzirkel bezeichnen. Die kulturelle Praxis der Nachlassverwaltung und der kulturellen Erinnerung künstlerischer Persönlichkeiten zeichnet sich deutlich als eine Praxis von Musikerwitwen ab. Es ist allerdings bemerkenswert, dass Sara Levy eine eigene Kulturschaffende bleibt und sich nach dem Tod ihres Ehemannes nicht nur in der Nachlassverwaltung bzw. in der kulturellen Erinnerungsarbeit engagiert. Zurück zu Sara Levys eigenem Witwenstatus: Rein ökonomisch betrachtet, schränkte der Witwenstatus ihren Gestaltungsrahmen nicht ein. Vielmehr liest sich das Todesjahr Samuel Salomon Levys 1806 als Beginn einer neuen Entwicklungsstufe ihres Salons, da sie ihn trotz des Todes ihres Ehemanns und der französischen Besatzung Berlins als einen von insgesamt zwei Berliner Salons weiterführte. Alle übrigen Salons lösten sich unter dem Druck der politischen Ereignisse auf. Henriette Herz beispielsweise musste ihren Salon im Jahr 1803, nachdem sie verwitwet war, deutlich einschränken und mit Beginn der französischen Besatzung 1806 518 Vgl. Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart. 519 Zwar erfolgte die Wahl des neuen Thomaskantors bereits zehn Tage nach dem Tod Johann Sebastian Bachs (28. Juli 1750) am 7. August 1750, der Amtsantritt jedoch erst mehr als zwei Monate später am 2. Oktober. Einen Hinweis gibt Hans-Joachim Schulze in seinem biographischen Essay, in dem er der Witwe des Thomaskantors die Besorgung der Sonn- und Festtagsmusiken während dieser Übergangszeit, d. h. die Rolle einer Interims-Kantorin zuspricht. Hans-Joachim Schulze, „Zumahln da meine itzige Frau gar einen sauberen Soprano singet …“. Ein biographischer Essay, in: Maria Hübner (Hg.), Anna Magdalena Bach. Ein Leben in Dokumenten und Bildern, Leipzig 2005, S. 11–24. 520 Zur Aufteilung des Erbes vgl. Wollny, Abschriften und Autographe, und darin den Abschnitt: Die Erbteilung von 1750, S. 29 ff.
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schließen.521 Sara Levys Salon wurde zu einem zentralen Begegnungsort von französischen Beamten und Offizieren und deutschen Vertretern aus Politik, Kunst und Wissenschaft.522 Ihre Konzert- und Probentätigkeit als Cembalistin stieg nach 1806 ebenfalls an, was zu einem Großteil ihrem Beitritt in der Ripienschule der Singakademie im Jahr 1807 – also im Jahr nach dem Tod Samuel Salomon Levys – zuzurechnen ist. Die Ripienschule wurde im Jahr 1807 von Zelter als Orchestervereinigung gegründet.523 Nach 1806 trat sie außerdem in dem von Johann August Patzig gegründeten Übungskonzert für angehende Tonkünstler, regelmäßig auch in der Cauerschen Erziehungsanstalt auf. Ihre Witwenschaft begünstigte die Intensivierung ihrer Musikpraxis, insbesondere ihr Auftreten als Klaviersolistin. Grund für die außerfamiliäre Intensivierung der Auftrittsmöglichkeiten kann das Ausbleiben privater Musiziermöglichkeiten sein, die sich zumindest durch den Tod Samuel Salomon Levys reduziert haben werden. Während also die Öffnung und Anfangsphase ihres Salons als gemeinsame Tradition mit ihrem Ehemann und damit als Aufgreifen jüdischer Tradition insgesamt betrachtet werden kann, bedeutet das Jahr 1806 eine kulturelle Neuausrichtung ihres Salons, was sich durch Vergrößerung ihres Repertoires aufgrund der öffentlichen Auftritte bemerkbar macht. Hinsichtlich ihres großen ökonomischen Kapitals und der Tatsache, dass sich ihr Gestaltungsrahmen als Witwe vergrößerte, lässt sich die Witwenschaft Sara Levys eher mit der einer adligen Witwe vergleichen, deren Witwenstatus mit „öffentlicher Herrschaft und Repräsentation“524 verbunden war. Blickt man auf die Schwestern Sara Levys, die in vergleichbarem Lebensalter Witwen wurden, ist eine ähnliche Umgangsweise zu beobachten. Ihre Schwestern Bella Salomon und Edel Itzig blieben nach dem Tod ihres Ehemannes ebenfalls Witwen und gingen keine zweite Ehe ein.525 3.1.4 Musikalischer Werdegang Auf einem der beiden oben erwähnten Portraits Sara Levys, einer Bleistiftzeichnung des nicht genauer identifizierten Malers Henschel, ist in der rechten oberen Ecke handschriftlich festgehalten „Musik Freundin Levy“.526 Das was bildlich nicht dargestellt ist, wird schriftlich hinzugefügt: Die Wahrnehmung Sara Levys als Musikkennerin.527 Diese Zeichnung stammt aus dem Skizzenbuch der Breslauer 521 Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 352, und Wilhelmy-Dollinger, Die Berliner Salons, S. 75. 522 Vgl. ebd., S. 105. 523 Vgl. das Kapitel Der Verein (Teil III, Kap. 2.5). 524 Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart, S. 59. 525 Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 77. 526 „Musik Freundin Levy“. Bleistiftzeichnung von Henschel, Berlin um 1810. Ehemals Märkisches Museum Berlin (verschollen). Abbildung nach Stengel, Märkisches Museum, S. 41. Siehe die Abbildung bei Wollny, Beiträge 2, S. 18, siehe die Abbildung 1 auf Seite 246. 527 „Musik-Freundin“ wird hier im Sinne von Musik-Kennerin oder Musik-Liebhaberin interpretiert und nicht im Sinne einer Freundschaft zum Maler.
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Brüder Henschel, die sich um 1810 in Berlin aufhielten und sämtliche Persönlichkeiten der gehobenen Berliner Gesellschaft skizzierten. Neben Sara Levy wurden u. a. auch der Sänger Ludwig Fischer, der Musikalienhändler Rellstab und der Philosoph Johann Gottlieb Fichte abgebildet. Es ist anzunehmen, dass die Skizze Sara Levys im Rahmen einer musikalischen Geselligkeit in ihrem Palais angefertigt wurde, in der sie selbst konzertierte. Rellstab und Fichte waren beide Gäste ihres Salons und der handschriftliche Zusatz „Musik Freundin Levy“ bekäme dann eine praktische Dimension. Sara Levy wird nicht als Interpretin abgebildet, kein Instrument, keine Noten, die auf ein Selbstbild als Musikerin hätten schließen können. Stattdessen ist ihr Äußeres ganz im Sinne der jüdischen Tradition: Spitzenhaube mit Tracht. Der schriftliche Zusatz löst damit ein malerisch nicht berücksichtigtes biographisches Wirkungsfeld ein, steht aber hier für einen Aspekt des Biographierens, der immer wieder auftritt: Ihre musikalische Praxis ist in den Quellen lückenhaft repräsentiert und Mitteilungen, in denen eine eigene musikalische Vorstellung zum Ausdruck gebracht würde, sind nicht vorhanden. Versucht man also die „Musik Freundin“ Sara Levy zu beschreiben, bedeutet es, mit Lücken in der Überlieferung sinnvoll umzugehen, d. h. einerseits Lücken als solche zu benennen und andererseits nach den Ursachen zu fragen, wie es zu solchen Lücken kam. Der folgende Überblick skizziert ihre musikalische Ausbildung und die Phase der öffentlichen Auftritte und geht dabei chronologisch vor. Levy war Schülerin W. F. Bachs. Ihre Schülerschaft ist durch einen Hinweis von Justus Amadeus Lecerf (1789–1868, Komponist in Berlin und Dresden) übermittelt, der 1855 auf einer Bach-Handschrift notierte: „aus dem Nachlass der Lieblingsschülerin Friedemann Bachs, der Madame Sarah Levy geborene Itzig zu Berlin“.528 Der älteste Bach-Sohn lebte ab 1774 und bis zu seinem Tod 1784 in Berlin und bestritt seinen Lebensunterhalt überwiegend durch privaten Musikunterricht. Wilhelm Friedemann wird – davon zeugen die Klavierwerke in Sara Levys Sammlung – mit seinem Unterricht ihre Vorliebe für seine Kompositionen und die seines Vaters verstärkt haben. Dass Sara Levy die für die Barockzeit typische Form der Generalbass-Begleitung auf Basis einer bezifferten Bassstimmte beherrschte, dokumentiert die dezidiert bezifferte Bassstimme im Flötenkonzert in D-Dur von W. F. Bach aus dessen eigener Hand. Der Originalstimmensatz zu diesem Konzert stammt aus der Sammlung Sara Levys und wurde vom Bach-Sohn selbst korrigiert.529 Peter Wollny rekonstruiert in seinen Forschungen, dass das von Wilhelm Friedemann Bach komponierte Hochzeitslied „Cantilena nuptiarum“ anlässlich der Hochzeit Samuel Salomon Levys mit Sara Itzig entstanden sein könnte.530 Hieraus lässt sich schließen, dass der Kontakt zwischen dem ältesten Bach-Sohn bereits vor Sara Levys Heirat und Umzug in das Palais Hinter dem Neuen Packhof begonnen hat. Es ist schwer vorstellbar, dass Wilhelm Friedemann das Stück ohne einen di528 D-B MA, N. Mus. SA 2635 (Konzert für zwei Cembali Es-Dur, Fk 46) und SA 2637 (Flötenkonzert D-Dur), zitiert in Wollny, Beiträge 2, S. 25. 529 Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 25. 530 Ebd.
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rekten Bezug zur Adressatin dieses Werkes komponierte. In der Notensammlung von Zippora Wulff, die später an Sara Levy ging, sind autographe Stimmen des Doppelkonzerts für zwei Cembali in Es-Dur (Fk 46) übermittelt. Als Solistinnen kommen die beiden Schwestern in Frage, sodass die Vermutung, dass Kontakt und Schülerschaft bei Wilhelm Friedemann Bach deutlich vor ihrer Hochzeit begonnen haben, verstärkt wird. Denn diese Aufführung wird im Familienkreis der Itzigs stattgefunden haben, da auch hier dezidierte Stimmenbezeichnungen vorliegen.531 Der Unterricht durch W. F. Bach bestand aus praktischem Klavierspiel und musiktheoretischen Einweisungen in die Generalbassbegleitung. Das Erlernen dieser Basso-Continuo-Praxis verdeutlicht, dass Sara Levys Spielpraxis sich auf die Barockzeit fokussierte. Diese war für die Aufführung sogenannter klassischer Kompositionen aus dem Gebrauch gekommen. Insgesamt scheint das Lehrerverhältnis zu W. F. Bach Sara Levy Renommee als Cembalistin eingebracht zu haben. Ihr Klavierspiel verlieh ihr durch das direkte Anknüpfen an die Bach-Tradition eine gesteigerte Autorität, die auch in der eingangs erwähnten Notiz von J. A. Lecerf zum Ausdruck kommt. Die spärlich überlieferten Berichte über Sara Levys Auftreten als Cembalistin in Berlin ermöglichen nur eine recht grobe Skizzierung ihrer Aufführungstätigkeit. Fünf zeitliche Marker stellen das Raster dar, anhand dessen ihre Konzerttätigkeit nachvollzogen werden kann. Erstes Zeugnis einer öffentlichen Darbietung ist ein Konzert in ihrem Elternhaus im Jahr 1786, in dem sie der blinden Konzertpianistin Maria Theresia Paradis ein Werk C. P. E. Bachs vorspielt bzw. beibringt: „[…] als Madam Wulf und Levy, ebenfalls zwei Itzigsche Töchter, und meisterhafte Klavierspielerinnen ihr ein Rondo des unsterblichen Hamburger Bach’s in Gedächtnis und Finger bringen wollten; […]“.532 Für die Jahre 1787/1788 ist ihre Aufführung in der von Johann Carl Friedrich Rellstab veranstalteten Konzertreihe Konzerte für Kenner und Liebhaber festgehalten. Dort habe sie ausschließlich Werke von J. S. und C. P. E. Bach auf dem „Flügel“533 gespielt.534 Er [Johann Carl Friedrich Rellstab] verband sich mit einem wohlhabenden Musikfreunde und einer Musikfreundin; der erste war der schon genannte Graf Lehndorff, welcher sehr geschickt das Fagott blies, die andere eine bis vor wenigen Jahren im höchsten Alter in Berlin lebende Frau, die damals schon den älteren Damen zugezählt wurde und mit Recht für eine fertige Clavierspielerin galt, Frau Levi. Beide hatten den Wunsch öfters mit Orchester zu spielen, und so vereinigten sie sich mit meinem Vater, um die Kosten dafür gemeinschaftlich zu tragen. Diese Concerte fanden in unserer, ganz dazu eingerichteten Wohnung, wo zwei ansehnliche Säle, jeder von vier Fenstern Front aneinander stießen, in den Abendstunden von 6–9 Uhr statt. Doch sie beschränkten sich nicht auf die Fagottsoli des Grafen, und die Concerte auf dem 531 Vgl. ebd., S. 28. 532 Gottlieb Wilhelm Burmann [G. W. B.], Auszug eines Briefes aus Berlin, in: Christian August von Bertram (Hg.), Ephemeriden der Literatur und des Theaters (Bibliothek der deutschen Literatur), 6 Bde., Berlin 1785–1787, ND München 1981, Bd. 3, 13. Stück (1. April 1786), S. 193–198, hier S. 194. 533 „Flügel“ war im 18. Jahrhundert eine Bezeichnung für das Cembalo. 534 Rellstab, Aus meinem Leben, Bd. 1, S. 117.
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Flügel, (nicht Pianoforte) welche Frau Levi vortrug, die nur Sebastian und Philipp Emanuel Bach spielte, sondern außer diesen Werken wurden viele der wertvollen größeren und kleineren Musikstücke, reine Instrumentalsachen oder mit Gesang, je nachdem mein Vater die Wahl getroffen ausgeführt.535
Das nächste öffentliche Auftreten ist im Fließschen Konzert verbürgt, einer Konzertveranstaltung, die im Haus ihrer Schwester Hannah Fließ geb. Itzig stattfand. Reichardt berichtet, dass Sara Levy dort regelmäßig als Solistin in Erscheinung trat, ohne aber weitere Angaben zum Repertoire zu machen.536 Ab 1807 ist sie kontinuierlich als Solistin in der zelterschen Ripienschule aufgetreten. Die Probenprotokolle von C. Fr. Zelter sind nicht erhalten geblieben. Einziges Dokument, das Informationen über das Repertoire dieser Orchestervereinigung bietet, sind die Auswertungen der erwähnten Protokolle Zelters durch Schünemann im Jahr 1928. Dort wird sie als regelmäßige Solistin in den Klavierkonzerten J. S. und C. P. E. Bachs erwähnt.537 1811 notiert die AMZ ihr Auftreten in dem von Johann August Patzig begründeten Übungskonzert für angehende Tonkünstler und in den 1820er Jahren wirkt sie als Cembalistin bei Musikaufführungen der Cauerschen Erziehungsanstalt mit, einer Bildungseinrichtung, die von ihrem Neffen 1818 gegründet wurde. Mit Ausnahme des Konzertes im Haus ihrer Schwester und der Cauerschen Erziehungsanstalt tritt Sara Levy in Konzertveranstaltungen auf, die – im Fall der Rellstab-Konzerte, der Ripienschule und der Patzig-Konzerte – einer explizit musikalischen Veranstaltung glichen, d. h. nicht ursprünglich gesellschaftlich-sozialen Zwecken entsprangen. Angesichts der Informationen, die über die Konzerte von Rellstab übermittelt sind, zeugt sowohl die Größe des Raumes als auch die Tatsache, dass ein Orchester eigens dafür bestellt und bezahlt wurde, davon, dass der Anlass dieser Reihe ein öffentlicher war. Das Auftrittsformat war groß angelegt, was erhebliche Kosten mit sich brachte, wie das Honorar für Orchestermusiker und Orchestermusikerinnen. Hinsichtlich der Aufführungen der Ripienschule wird davon ausgegangen, dass sie vor einem Auditorium stattfanden, d. h. in dem Sinne öffentlich waren, dass ein Publikum anwesend war. Selbiges ist auch von anderen Akademieveranstaltungen übermittelt, so z. B. von den Aufführungen des Dienstagsvereins.538 Diese konnten Nichtmitglieder mittels einer Eintrittskarte besuchen. Die frühe Phase von Sara Levys Konzerttätigkeit, die mutmaßlich primär in familiären Veranstaltungen bei ihren Eltern bzw. im Haus ihrer Schwester Hannah Fließ stattgefunden haben wird, liegt weitestgehend im Dunkeln. Die Jahre zwischen 1790 und 1820 sind aufgrund ihres Beitritts in die Ripienschule verhältnismäßig gut nachvollziehbar und gelten mit Blick auf die Auftrittsdichte als „Blütezeit“ ihrer Konzerttätigkeit. Ab Mitte der 1830er Jahre scheint die inzwischen 535 Ebd., S. 116 f. 536 Vgl. Johann Gottlieb Karl Spazier (Hg.), Berlinische Musikalische Zeitung, 5. Stück, 9. März 1793, S. 17–18. 537 Vgl. Schünemann, Die Bachpflege der Berliner Singakademie, S. 138–171. Ähnliches beschreibt auch Hans Uldall, Das Klavierkonzert der Berliner Schule, mit kurzem Überblick über seine allgemeine Entwicklungsgeschichte und spätere Entwicklung (Sammlung musikwissenschaftlicher Einzeldarstellungen 10) Leipzig 1928, ND Nendeln 1976, S. 112. 538 Glöckner, „Ich habe den alten Bachen …“, S. 332.
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fast 70-Jährige das öffentliche Auftreten zu beenden. Aber noch 1831 hat sie sich aus dem Notenbestand Zelters die Cembalostimme des Tripelkonzerts in a-Moll (BWV 1044) ausgeliehen.539 Über privates Musizieren kann hingegen nur spekuliert werden bzw. angesichts ihrer Notensammlung zumindest auf das Repertoire geschlossen werden. Einige weitere Details für die Chronologie ihrer Auftritte liefern Hinweise, in denen Sara Levy als Cembalistin erwähnt wird, ohne dass ein direkter Bezug zu einem Konzert hergestellt wird. Sophie Reimarus, Hamburger Salonnière, berichtet in ihrem Brief vom Februar 1796 über eine musikalische Darbietung Sara Levys im Kreis der Familie Reimarus in Hamburg, an dem auch Reichardt teilnahm.540 Dort heißt es: „Ich sehe Sie noch so oft am Clavier sitzen, wie sie uns alle durch Ihr Spiel in Neumühlen hinrissen, auch Reichardt dies viel besser verstand als ich.“541 1798 betont der Berliner Arzt Wolf Davidson Sara Levys außerordentliches Talent und bezeichnet sie als „vortreffliche Klavierspielerinn“.542 Neben ihrem öffentlichen Auftreten in musikalischen Gesellschaften und halböffentlichen Konzertformaten gehörte sie seit dem Jahr 1810 der Sing-Akademie an, seit 1807 der Ripienschule.543 Diese stellte für Sara Levy – wie erwähnt – vor allem eine weitere musikalische Auftrittsplattform dar. Darüber hinaus ist die SingAkademie als ein zentraler Knotenpunkt innerhalb ihres kommunikativen Netzwerks zu verstehen. Hier überlagerten sich familiale und außerfamiliale Netzwerkstrukturen. 3.1.5 Sara Levys Mitgliedschaft in der Sing-Akademie zu Berlin Sara Levy gehörte innerhalb der Großfamilie Itzig-Levy-Mendelssohn gemeinsam mit ihrer Schwester Zippora Itzig, verh. Cäcilie v. Eskeles, zu den Initiatoren der familialen Tradition, aktiv in der Sing-Akademie zu Berlin mitzuwirken. Nach ihr traten Lea Salomon, ihr späterer Mann Abraham Mendelssohn, Brendel Veit und deren Kinder-Generation bei. Inwieweit die Rolle Sara Levys als Initiatorin dieser Verbundenheit zur Sing-Akademie, die Schlussfolgerung nahe legt, sie habe kontinuierlich Einfluss auf die musikalische Erziehung von Fanny und Felix Mendelssohn Bartholdy gehabt,544 ist zu hinterfragen. Weder von Seiten Felix’ oder Fannys 539 „Die ausgeschriebene Concertstimme ist an Mme Levy den 29. Mai 1831 verliehen.“ Vermerk Zelters in der Partiturabschrift D-B MA, Ms. Bach P 249, vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 39. 540 Brief von Sophie Reimarus an Sara Levy vom 1. Februar 1796 (D-B, Handschriften, Nachlässe und Autographen: Nr. 343 Familienarchiv Emil Cauer, Kasten 3 Sara Levy, Mappe 1, abgedruckt bei: Wollny, Beiträge 2, S. 55 f.). 541 Ebd. 542 Wolf Davidson, Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin 1798, S. 108 f. 543 Nach Lichtenstein ggf. auch schon seit den Gründerjahren. Vgl. Martin Hinrich Lichtenstein, Zur Geschichte der Sing-Akademie in Berlin. Nebst einer Nachricht über das Fest am funfzigsten Jahrestage ihrer Stiftung und einem alphabetischen Verzeichnis aller Personen, die ihr als Mitglied angehört haben, Berlin 1843, ND Berlin 2011, S. 1 ff. 544 Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 341.
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noch Sara Levys haben sich Dokumente erhalten, die Ähnliches bezeugen würden. Vielmehr ist kritisch zu reflektieren, weshalb beispielsweise Felix Mendelssohn Bartholdy Sara Levys seinerzeit als sehr gut aufgestellt geltende Musikaliensammlung nicht noch viel stärker in seine Bemühungen an Bach-Handschriften zu gelangen, einbezogen hat. So bat er stattdessen beispielsweise Georg Poelchau und Graf von Voß in dieser Angelegenheit um Hilfe.545 Sara Levys Mitgliedschaft in der Sing-Akademie ist in drei verschiedenen Quellen übermittelt. Die Stammrolle der Sing-Akademie zu Berlin führt sie unter der Nr. 180 und kennzeichnet ihren Eintritt in die Sing-Akademie für das Jahr 1810.546 Ihr Todesdatum (11.5.1854) markiert ihren Austritt. Die Stammrolle der Sing-Akademie zu Berlin ist die älteste und damit auch verlässlichste Quelle, die die Mitglieder der Sing-Akademie zu Berlin dokumentiert.547 Anders als die Mitglieder ihrer Großfamilie Mendelssohn Bartholdy, die zu einem großen Teil (Abraham Mendelssohn Bartholdy im April 1833, Felix Mendelssohn Bartholdy im Juli 1833, Fanny Hensel geb. Mendelssohn Bartholdy ebenfalls im Juli 1833548) bereits in den 1840er Jahren ihre Mitgliedschaft beendeten, trat sie nach dem Amtsantritt Carl Friedrich Rungenhagens als neuer Leiter der Sing-Akademie zu Berlin nicht aus. Die zweite Quelle, die Sara Levy als Mitglied der Sing-Akademie zu Berlin dokumentiert, bildet die unter der Signatur N. Mus. SA 299 geführte Liste, die anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der Sing-Akademie am 24. Mai 1841 erstellt wurde. Sie trägt den Titel: Mitglieder der Sing-Akademie am 24. Mai 1841 nach den vier Stimmen geordnet. Die ausführliche Beschreibung lautet „Album der Sing-Akademie 1841. Dem Andenken ihres Stifters C. F. C. Fasch und anderen der Gesellschaft werthen Erinnerungen als autographisches Gedenkbuch gewidmet bei der Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Singakademie, 24. Mai 1841“.549 Diese Liste N. Mus. SA 299 divergiert allerdings von dem bei Lichtenstein abgedruckten Mitgliederverzeichnis, das ebenfalls zur fünfzigjährigen Gründungsfeier erstellt wurde, in dem Sara Levy allerdings nicht verzeichnet ist.550 Sara Levy unterzeichnet in N. Mus. SA 299 mit autographer Unterschrift in der Liste „Dienstags Verein Sopran“ unter der Nr. 16. Sie war Sopran-Sängerin im Dienstagsverein der Sing-Akademie, in dem im Vergleich zum Mittwochs-Verein weitaus größeren Chor.551 In die Spalte, die den Familienstand oder den Beruf (bzw. den Beruf des 545 Vgl. das Kapitel Familie von Voß (Teil III, Kap. 2.3.5). 546 Vgl. die Stammrolle der Sing-Akademie zu Berlin (Archiv der Sing-Akademie zu Berlin, ohne Signatur), S. 304. Sara Levy wird hier unter dem Vornamen Rosa geführt. Das Eintrittsdatum 1810, das in großer Nähe zum Jahr 1811 steht, dem Eintrittsdatum, das in D-B, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv, Bestand N. Mus. (Depositum der Sing-Akademie), SA 299, verzeichnet ist (s. unten), vor allem aber das Austrittsdatum (Sterbedatum) verweisen eindeutig auf Sara Levy. 547 Mein Dank gilt Herrn Axel Fischer vom Archiv der Sing-Akademie zu Berlin, der mir zahlreiche Informationen bereitstellte und mir Einblick in die dort gelagerte Stammrolle gewährte. 548 Vgl. die Stammrolle der Sing-Akademie zu Berlin, S. 238, bzw. 333. 549 D-B MA, N. Mus. SA 299. 550 Lichtenstein, Zur Geschichte der Sing-Akademie, S. 1 ff. 551 Anzahl der Sänger und Sängerinnen im Dienstags- und Mittwochsverein (in Klammern) laut der Liste in N. Mus. SA 299: Sopran 153 (80), Alt 106 (53), Tenor 84 (9), Bass 105 (19).
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Ehemannes) dokumentieren soll, trägt sie „Banquier Wittwe“ ein und als Datum des Eintrittes das Jahr 1811. Auch die Jahreszahl ist in autographer Handschrift notiert. Es ist also davon auszugehen, dass Sara Levy erst im Jahr 1811 ihre formale Mitgliedschaft begann. Wie auch bei anderen Mitgliedern zu beobachten ist, war auch eine aktive musikalische Mitwirkung möglich, wie sie für Sara Levy als Cembalistin in der Ripienschule bereits ab 1807 verbürgt ist, auch wenn sie formal noch nicht aufgenommen war.552 Diese Lesart könnte auch erklären, weshalb Sara Levy in der bei Lichtenstein aufgeführten Liste nicht auftaucht, dafür aber in Lichtensteins Rückblick, der der Liste vorangestellt ist. Dort heißt es: „In dieser Zeit [im Laufe des Jahres 1792] traten die jetzt noch lebenden Damen, Demoiselle Troschel (Frau Superintendentin Pelkmann) und Demoiselle Itzig (Madame Levy) der Gesellschaft bei.“553 Möglicherweise deutet Sara Levys große Präsenz in der SingAkademie als Cembalistin, Sängerin und als Schenkerin von Notenhandschriften noch vor Beginn ihrer aktiven Mitgliedschaft darauf hin, dass ihr Status eher einer Ehrenmitgliedschaft als einer regulären Mitgliedschaft glich. Sara Levy hat also auch gesungen – ein Aspekt ihrer Musikpraxis, der bisher in der Forschung nicht berücksichtigt wurde. Geht man von einem Eintrittsdatum um das Jahr 1810 aus, gehörten zu ihrem Repertoire als Chorsängerin sämtliche Motetten, Kantaten und Oratorien J. S. Bachs.554 Eine im Archiv der Sing-Akademie (Depositum in der Staatsbibliothek zu Berlin) gefundene Quelle unterstützt die These, dass Sara Levy unter den Mitgliedern der Sing-Akademie eine Sonderrolle zukam. Ein Programmzettel anlässlich einer für sie veranstalteten Gedenkfeier (Requiem) am 30. Mai 1854, knapp drei Wochen nach ihrem Tod am 11. Mai 1854, dokumentiert die besondere Wertschätzung, die ihr mit dieser Ehrung in Form eines musikalischen Gedächtnis-Rituals von Seiten der Sing-Akademie zugesprochen wurde.555 Die Praxis, verstorbene Mitglieder mit einem Konzert posthum zu ehren, wurde nicht jedem zuteil. Die unter der Signatur „N. Mus. SA 291“ archivierte Quelle trägt den Titel Öffentliche Leistungen und Abonnement-Concerte der Sing-Akademie 1850–1857. Unter „Öffentliche Leistungen“ sind Benefiz-Konzerte zu verstehen, die anders als die Abonnement-Konzerte kostenlos zugängig waren. Auch hier wurden für Nichtmitglieder Karten im Voraus ausgehändigt, mittels derer eine Zugangsberechtigung gewährt wurde.556 Die aufgezählten Konzerte557 zwischen 1850 und 1857 lassen sich hinsichtlich ihrer Werkauswahl ordnen: Während in den Abonnement-Konzerten großformatige Werke wie die Matthäus-Passion, die h-Moll Messe und das Weihnachtsoratorium aufgeführt wurden, erklangen in den Benefiz-Konzerten vor552 Für diesen Hinweis danke ich Herrn Axel Fischer (Archiv der Sing-Akademie zu Berlin). 553 Lichtenstein, Zur Geschichte der Sing-Akademie, S. 1 ff. 554 Vgl. dazu die Übersicht der unter der Leitung von Carl Friedrich Zelter zur Aufführung gelangten Bach-Werke in: Glöckner, „Ich habe den alten Bachen …“, S. 333 ff. 555 D-B MA, N. Mus. SA 291, S. 75, siehe Abbildung 3 auf Seite 263. 556 An vielen Stellen wird die Anzahl der vergebenen Karten vermerkt. Die Höhe des Eintritts bei den Abonnement-Konzerten wird an den entsprechenden Stellen erwähnt. Bei der MatthäusPassion betrug der Eintrittspreis einen Reichstaler. 557 Hier werden nur diejenigen Programme berücksichtigt, in denen Werke von J. S. Bach erklangen.
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Abbildung 3: Programmzettel des Totengedächtnisses von Sara Levy in der Sing-Akademie zu Berlin, am 30. Mai 1854 D-B, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv, Bestand N. Mus. SA 291, S. 75
nehmlich kleiner besetzte und kürzere Werke. Mehrheitlich waren letztere Gedächtniskonzerte anlässlich eines Todestages oder explizit, wie auch im Falle Sara Levys, musikalische Todesfeiern, die unmittelbar nach dem Todestag stattfanden. Hier erklangen zwischen 1850 und 1857 die Kantate Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit (neun Mal), die Motette Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn (drei Mal) und verschiedene Choräle. Das Repertoire war eindeutig bestimmt durch den situativen Anlass des Konzerts (Totengedenken): So findet man neben Bachs Kantate Gottes Zeit, Kompositionen wie Mozarts Requiem, Grauns Tod Jesu, Rungenhagens Selig
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sind die Toten. Die Gedächtnisfeiern, die zum Gedenken eines Mannes veranstaltet wurden, bilden die Mehrheit gegenüber denjenigen, die einer Frau gewidmet wurden. Das Quellenkonvolut N. Mus. SA 277 mit dem Titel Zelters 70. Geburtstag 1828, ferner 92 Programme 1828–1958 bestätigt den höheren Anteil an Gedächtnisfeiern für Männer. Frauen wurden zudem nur durch Gedächtnisfeiern erinnert, Männer hingegen auch durch Jubiläumsfeiern anlässlich von Geburtstagen oder ihrer 40- oder 50-jährigen Mitgliedschaft in der Sing-Akademie. Todes-Gedächtnisfeiern für Frauen fanden außerdem nicht individuell, sondern als kollektive Gedächtnisfeiern im jährlichen Turnus statt. Männer hingegen wurden einzeln, nur in Ausnahmefällen im Kollektiv geehrt. Das Requiem für Sara Levy am 30. Mai 1854 gedachte nicht nur der am 11. Mai Verstorbenen, sondern auch des Geh. Rechnungsrats Benda, der am 5. Mai des Jahres gestorben war. Auf dem Programm standen sieben Werke: ein Choral von Fasch, das Requiem von Friedrich Wollank, das Offertorium und Sanctus aus Mozarts Requiem, ein Agnus Dei von Rungenhagen, die Motette Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn von J. S. Bach, der Chorsatz Siehe, wir preisen selig aus dem Paulus von Felix Mendelssohn Bartholdy und von Zelters Der Mensch lebet und bestehet. Das Auditorium war mit 300 Teilnehmenden voll besetzt.558 Dass Sara Levy, anders als zahlreichen anderen Frauen, ein Konzert gewidmet wird, ist ein Hinweis auf ihren besonderen Status, den sie in der Sing-Akademie inne hatte. Möglicherweise liegt die Ursache dafür in ihren großzügigen Spenden in Form von Musikhandschriften, die sie unter Zelters Ära als Direktor der SingAkademie vermachte und in ihrem Ansehen als jahrelange aktive Solistin der Ripienschule. Weiter ist zu konstatieren, dass die Vernetzung mit der Sing-Akademie demnach auch nach Zelters Tod im Jahr 1832 weiterhin sehr eng war, was die Berücksichtigung Rungenhagens in ihrem Testament beweist.559 3.2 „Es ward Musik gemacht“: Bach-Rezeptionspraktiken bei Sara Levy Der Salon Sara Levys ist als ein Kulminationspunkt innerhalb der Entwicklung der frühen Bach-Rezeption in Berlin zu begreifen. Es gibt keinen weiteren Ort in Berlin, der die bis dato etablierten Bach-Rezeptionspraktiken vereint und der gleichzeitig Strukturen aufweist, aus denen heraus die Bach-Rezeptionspraxis nach 1829 gedacht werden kann: Auf materialer (3.2.1), aufführungspraktischer (3.2.2), personeller (3.2.3), ökonomischer (3.2.4) und kommunikativer Ebene (3.2.5) lassen sich am Beispiel von Sara Levys Bach-Rezeptionspraxis Transferprozesse erkennen, sowohl zwischen häuslich-intimer und öffentlich-kommerzieller Bach-Praxis als auch zwischen den unterschiedlichen Musikräumen Berlins. Als besonders profiliert ist die Vernetzung zwischen ihrem Salon und der Sing-Akademie zu bezeichnen. 558 D-B MA, N. Mus. SA 291, S. 75. 559 Zelters Nachfolger Carl Friedrich Rungenhagen wird in ihrem Testament als Erbe von Instrumenten und Musikalien genannt. Vgl. Testament von Sara Levy (D-B, Handschriften, Nachlass Nr. 343: Familienarchiv Emil Cauer, Kasten 3, Sara Levy), abgedruckt in Wollny, Beiträge 2, S. 57 f.
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3.2.1 Bach sammeln Sara Levy hat eine rege Sammlertätigkeit verfolgt. Eine vollständige Rekonstruktion der Musiksammlung Sara Levys steht bisher allerdings noch aus, obwohl diesem Unterfangen aufgrund der Materialbasis und der Zugänglichkeit der Quellen nach Rückkehr und Katalogisierung der Musikalien der Sing-Akademie zu Berlin nichts mehr im Wege steht.560 Die Einschätzung ihres Sammlerinnenprofils auf Grundlage eines vollständigen Katalogs ist aber bisher noch nicht definitiv herzustellen. Einen Großteil ihres ursprünglichen Notenbestandes verschenkte sie im Laufe der 1810er Jahre an C. Fr. Zelter, so dass dieser Bestand in das Notenarchiv der Sing-Akademie zu Berlin einging. Dieser Teil von Sara Levys Sammlung ist der heute am vollständigsten erhaltene. Den Rest ihrer Notenbibliothek behielt sie bis zu ihrem Tode bei sich, danach verteilten sich die Bestände in verschiedene Sammlungen auf der ganzen Welt.561 Laut Testament durften sich die „Musikdirektoren Lecerf, Rungenhagen, Bach“ aus den bei ihr verbliebenen Musikalien das „Ihnen Zusagende“562 aussuchen. Der dann noch übrig gebliebene Rest, scheint dasjenige Notenmaterial zu umfassen, das nach ihrem Tod lose und auf nicht rekonstruierbarem Weg in die ganze Welt verstreut wurde. In der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin finden sich Musikalien Sara Levys sowohl im allgemeinen Bibliotheksbestand als auch im Archiv der Sing-Akademie zu Berlin. Ihre Sammlung an Werken der Familie Bach,563 der Brüder Graun564 und Johann Gottlieb Janitschs565 ist bereits gut erforscht. Angesichts der noch ausstehenden vollständigen Rekonstruktion existieren aber auch dort noch Forschungslücken. Dies betrifft z. B. den Verbleib sämtlicher Cembalokonzerte. Der geringe bisher nachzuweisende Bestand an Cembalokonzerten steht im Widerspruch zu ihrem breiten Wirken als Cembalistin.566
560 Axel Fischer / Matthias Kornemann (Hgg.), Das Archiv der Sing-Akademie zu Berlin. Katalog, Berlin/New York 2010. 561 Peter Wollny weist einzelne Werke aus ihrem Besitz in der Staatsbibliothek Berlin, in der Bibliothek des Königlichen Konservatoriums in Brüssel, der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel, der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, sowie in Bibliotheken der USA (Boston Public Library, Newberry Library Chicago und Library of Congress Washington) nach. Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 37. 562 Testament Sara Levys, abgedruckt ebd., S. 57 ff. 563 Siehe hierzu Wollny, Beiträge 2, und Ders., „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“, S. 217–255. 564 Siehe auch Henzel, Berliner Klassik, S. 292–304, Ders., Agricola und andere Berliner Komponisten im Notenarchiv der Sing-Akademie zu Berlin, in: JbSIM 2003 (2003), S. 31–98, und Ders., Die Musikalien der Sing-Akademie zu Berlin und die Berliner Graun-Überlieferung, in: JbSIM 2002 (2002), S. 60–106. 565 Tobias Schwinger, Die Musikaliensammlung Thulemeier und die Berliner Musiküberlieferung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Katalog und Textteil), Beeskow 2006, S. 534 ff. 566 Vgl. auch Wollny, Beiträge 2, S. 39.
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Die folgende Übersicht über Sara Levy als Sammlerin bachscher Werke basiert auf Forschungen Peter Wollnys und Christoph Henzels.567 Ziel ist es, mit Hilfe der Auswertung der Katalognummern und der Besitzvermerke ergänzende Informationen zu erlangen und mit Hilfe von Schreibervergleichen Verzweigungen mit anderen Berliner Bach-Sammlungen aufzuzeigen, um so Sara Levys Sammelmotivation und -strategie weiter zu erhellen. Angesichts der ebenfalls nachzuweisenden Sammeltätigkeit ihrer Geschwister, ihres Schwagers und ihrer Schwägerinnen soll ihre Sammlung mit diesen Familien-Sammlungen verglichen werden. Eine vollständige Rekonstruktion nicht nur der Sammlung Sara Levys, sondern auch der übrigen Itzigschen Familienmitglieder wäre auch deshalb wichtig, weil so Ungenauigkeiten hinsichtlich der Deutung von Besitzvermerken und Besitzerstempeln benannt und korrigiert werden könnten.568 Sara Levy ließ sämtliche Handschriften für ihren eigenen Gebrauch anfertigen. Dies beweist die Tatsache, dass ein Großteil der Musikhandschriften von einem einzigen Kopisten569 angefertigt wurde. Ihr Bruder Benjamin Itzig kaufte größte Teile seiner Sammlung aus älteren Sammlungen auf.570 Die umfangreiche Musiksammlung ihrer Schwester Zippora Wulff geb. Itzig ging vermutlich vor ihrem Umzug nach Wien im Jahr 1800, wo sie als Cäcilie von Eskeles die Ehefrau des Bankiers Bernhard Freiherr von Eskeles wurde, an Sara Levy über.571 Dies würde die enge Verschränkung von Notenmaterial in entsprechenden Notenbänden572 und auch die ähnliche Provenienz einiger Handschriften erklären. Das Gesamtbild der Musiksammlung Sara Levys ist nach jetzigem Kenntnisstand ausgesprochen facettenreich und umfasst Musikhandschriften und -drucke des 18. und 19. Jahrhunderts. Ihr Sammelfokus ist aufgrund ihrer eigenen musikalischen Ausbildung als Cembalistin auf anspruchsvolle Instrumentalmusik gerichtet. Am häufigsten vertreten sind die Kompositionen der Bach-Söhne W. F. und C. P. E. Bach und der Brüder Graun, aufgrund dessen Christoph Henzel die Bedeutung Sara Levys auch für die Graun-Überlieferung in Berlin als sehr hoch einschätzt. Neben denen J. S. Bachs sind auch einige Kompositionen Johann Christian 567 Siehe a. a. O. und zu den frühen Forschungen zur Familie Itzig Rudolf Elvers, Quellen zur Bach-Rezeption in Berlin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: JbSIM 1985/86 (1989), S. 175–179. 568 Dies betrifft die Musikalien im Besitz ihres Schwester Zippora Wulff, geb. Itzig, und ihrer Schwägerin (Frau ihres Bruders Benjamin Itzigs) Zippora Itzig, geb. Wulff. In Henzel, Berliner Klassik, S. 269, Anm. 8, werden fälschlicherweise sämtliche Werke aus dem Besitz Zippora Wulffs, geb. Itzig, als Besitz Zippora Itzig, geb. Wulff, ausgegeben. An gleicher Stelle erwähnt Henzel die Klaviersonate von C. P. E. Bach (H. 11, SA 478) und das Trio in D-Dur (H. 502, SA 4916) und gibt aufgrund des entsprechenden Besitzerstempels an, sie seien im Besitz von Zippora Itzig, geb. Wulff, gewesen. Dieser Stempel jedoch wurde von Peter Wollny Zippora Wulffs, geb. Itzig, zugeordnet. Die oben erwähnten Werke fehlen bei Wollny, Beiträge 2, und müssten also im Bachbestand von Zippora Wulff, geb. Itzig, ergänzt werden. 569 Dieser Kopist wird unter der Siglum Anonymus V 19 bzw. bei Blechschmidt als „Anon. Palestrina II“ bezeichnet. Auch bei Henzel wird er unter „Palestrina II“ geführt. 570 Vgl. Henzel, Berliner Klassik, S. 289. 571 Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 42. 572 Siehe D-B MA, N. Mus. SA 2612, ein Konvolut, das neben Stimmen aus dem Besitz Sara Levys auch Stimmen von Zippora Wulff, geb. Itzig, enthält.
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Bachs Teil der Sammlung. Zahlreiche Flötenkonzerte J. J. Quantz’, Flötensonaten Friedrichs des Großen, Kompositionen von Janitsch, Kohne und Richter zeugen von einem deutlichen Fokus auf die Berliner Meister aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Aber auch Kompositionen von G. Ph. Telemann, G. Fr. Händel und Giovanni B. Pergolesi sind vertreten. Die Werke J. S. Bachs bilden einen Sammlungsschwerpunkt ihrer Notenbibliothek. Sie sind zahlenmäßig am häufigsten in der Rubrik für Solo-Klavier und Klavierkonzerte vertreten. Aber auch einige kammermusikalische Werke Bachs sind vorhanden. Anders als bei der Sammlung ihres Bruders Benjamin Itzig ist der Katalog zu ihrer Sammlung nicht mehr vorhanden.573 Dass er einst angelegt wurde, bezeugen Signaturhinweise auf den Musikhandschriften und Bemerkungen auf den Mappen, in denen die Werke verwahrt wurden. Dort wird explizit auf die jeweilige Seite im Katalog verwiesen. Dieser musste demzufolge mindestens 40 Seiten umfassen.574 Die Systematik der Altsignaturen richtete sich nach der Anzahl der Stücke in einer jeweiligen Gattung bzw. Besetzung. Innerhalb dieser Rubriken wurde größtenteils nach Komponisten sortiert. Abweichungen davon sind darauf zurückzuführen, dass Notenkäufe, die nach der Bestandsaufnahme getätigt wurden, erst nachträglich hinzugefügt wurden und daher die Ordnung nach Komponisten unterliefen. Folgende Rubriken hat der Katalog Sara Levys einst besessen, die die Systematik ihrer Sammlung markieren:575 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Soli für diverse Instrumente (Vol. I) Duette für Flöte oder Viola (Vol. II) Trios für diverse Instrumente (Vol. III) Quartette für diverse Instrumente (Vol. IV) Quartette für Flöte und andere Instrumente (Vol. V) Quintette und Sextette (Vol. V) Cembalokonzerte (Kein Vermerk, mutmaßlich VI) Ouvertüren/Symphonien (Vol. VII) Flötenkonzerte (Vol. VIII)
Hinsichtlich der großen Sonderrolle, die Flöten- bzw. Cembalokompositionen innerhalb der einzelnen Rubriken zugewiesen bekommen, sind deutliche Unterschiede zu Benjamin Itzigs Sammlung erkennbar. Hier ist die Sammlung Sara Levys weitaus differenzierter. Flöten- bzw. Cembalowerke werden separat von den übrigen Besetzungen aufbewahrt.576 Inwieweit dieser Befund Anlass zu Vermutungen über die Musikpraxis des Ehepaares Levy und ihrer Instrumentenwahl gibt, wird weiter unten diskutiert.
573 Der Katalog von Sara Levys Bruder ist unter folgender Signatur zu finden: D-B, Mus. Ms. theor. Kat. 583. Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 40 und Henzel, Berliner Klassik, S. 270 ff. 574 Siehe die Angabe bei Henzel, Berliner Klassik, S. 302. 575 Vgl. die Angaben ebd., S. 293 ff. 576 So die Beschriftung der Mappe in SA 64: „Sonaten von Nom: 35 et Soli per il Cembalo 35 – von Nom: 46 – Nom: 62“. Vgl. Henzel, Berliner Klassik, S. 292 f.
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In der zum Teil erfolgten Rekonstruktion der Sammlungsbestände der Kompositionen Grauns durch Christoph Henzel, werden die Klavierwerke, die sich einst in Sara Levys Sammlung befunden haben, nicht berücksichtigt.577 Zu dieser Rubrik gehörten die meisten Werke J. S. Bachs. Mit Hilfe der Signaturen kann von den nachgewiesenen Klavier-Kompositionen auf die entsprechende Stelle im Katalog geschlossen werden. Auch die zu vermutenden Verluste zeichnen sich ab. Geht man davon aus, dass die Solowerke für Klavier (Cembalo) in einer eigenen Rubrik aufbewahrt wurden, so hat sich hier einst der zahlenmäßig größte Werkbestand befunden. Die mit der Altsignatur „Sara Levy; II. / No:153“ beschriftete Klaviersonate in D-Dur von W. F. Bach setzt einen einstigen Bestand von mindestens rund 150 Werken für Klavier (Cembalo) solo voraus. Das ist angesichts von Sara Levys Laufbahn als Cembalistin nicht verwunderlich. Für ihre Sammlung bedeutet dies allerdings, dass hier ein enormer Verlust an Werken von J. S. Bach eingetreten ist. Klavierwerke J. S. Bachs, die mit einer Altsignatur beschriftet sind, tragen die Nummern 41 (BWV 850/2) und 47 (BWV 525–530). Hinzu kommen vier Werke ohne Altsignatur.578 Die 72 vierstimmigen Choräle J. S. Bachs tragen die Nummer 116, sind allerdings mit dem Stempel „SSLev“ versehen und damit als Besitz des Ehepaares ausgewiesen. Sie werden daher nicht zum engeren Sammelkorpus Sara Levys gezählt, da sie sich einer eindeutigen Besetzungszugehörigkeit entziehen. Womöglich gehörten sie als Standardwerk zu einer Sammlung dazu und wurden zu Übungszwecken verwendet. Die Klavierwerke von C. P. E. und W. F. Bach sind jeweils mit einzelnen Signaturen aus der entsprechenden Rubrik beschriftet, weisen aber keine innere Systematik auf. Es lässt sich also nicht rekonstruieren, ob sich hinter einer bestimmten Menge an Nummern Kompositionen eines bestimmten Komponisten befunden haben. Hierfür müsste erst das bisher als verschollen geltende Inventar gefunden werden. Drei Konzerte von J. S. Bach, in denen das Cembalo solistisch konzertiert, sind verschollen (BWV 1044, 1050 und 1052). Hier lassen sich also keine Altsignaturen nachweisen und damit auch keine Rückschlüsse auf die vorhandene Anzahl an Cembalokonzerten rekonstruieren. Zwei Sonaten für Violine und Cembalo (BWV 1016 und 1019), die für eine konzertante Cembalostimme bekannt sind, gehören zu ihrer Sammlung. Auffallend ist, dass bei BWV 1016 lediglich die Cembalostimme vorhanden ist – möglicherweise ein Indiz dafür, dass diese Sonate aufgeführt wurde und sich die Geigenstimme bei dem entsprechenden Duopartner / der Duopartnerin befindet. Bachs Flötensonate (BWV 1031) ging mit vielen anderen Handschriften in den 1810er Jahren an Zelter über, der darin einige Eintragungen vornahm.579 Dass gerade im Bestand der Klavierwerke größere Verluste eingetreten sind, lässt sich durch eine weitere Beobachtung erklären. Auffallend ist, dass sämtliche Werke für Klavier (Cembalo), anders als die meisten Kammermusikwerke, in den 1810er Jahren nicht an die Sing-Akademie verschenkt wurden, sondern im Privat577 Ebd., S. 293. 578 Englische Suiten (BWV 806–811), Französische Suiten (BWV 812–817), Wohltemperiertes Klavier Band I und II (siehe dazu die Anmerkungen in Wollny, Beiträge 2, S. 70) und die Toccata in D-Dur (BWV 912). 579 Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 71.
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besitz Sara Levys blieben. Sara Levy hielt also diejenigen Werke zurück, die sie allein, ohne Orchester und Kammermusik-Partner, spielen konnte und die ihrem Geschmack am nächsten kamen. Von den vierzehn Bach-Werken, die sich nachweislich in ihrer Sammlung befundenen haben,580 wurde nur eines, die Flötensonate Bachs581 (BWV 1031), im Zuge ihrer Notenschenkungen der Sing-Akademie vermacht. Bei Bachs Söhnen ergibt sich ein ganz ähnlicher Befund: Klavierwerke W. F. Bachs, vor allem aber C. P. E. Bachs, blieben bei Sara Levy. Die Kammermusik-Werke, vor allem die mit Flöte besetzten, gingen an die Notensammlung der Sing-Akademie. Dies hatte folgende Bewandtnis: Sara Levys Ehemann Samuel Salomon Levy war nachweislich Flötist und erwarb sämtliche Flötenliteratur, so z. B. von der Bach-Familie, vor allem aber von Graun und Quantz. Als Sara Levy anfing, ihre Noten an Zelter zu verschenken, war ihr Mann bereits verstorben und die Kompositionen hatten somit ihren unmittelbaren Nutzen für den praktischen Gebrauch verloren. Dies führt zum heutigen Befund, dass die einst auf Wunsch Samuel Salomon Levys angeschafften Musikalien im Archiv der Sing-Akademie fast vollständig erhalten sind, die Werke, die zum unmittelbaren praktischen Gebrauch Sara Levys bestimmt waren, d. h. also die mit Cembalo besetzt waren, jedoch größtenteils verloren sind. Der heute noch existente Teil ihrer Sammlung ist durch eine starke Ausrichtung zugunsten der zahlreichen Flötenkompositionen (Soli, Duos, Trios, Quartette und Konzerte) von Komponisten der Berliner Klassik582 geprägt. Folgt man der Rekonstruktion nach heutigem Forschungsstand ist dies u. a. auch eine Folge von Sara Levys „Verschenkungs-Politik“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts und entspricht vermutlich nicht dem einstigen Verhältnis zwischen Klavier- und Flötenliteratur und damit auch zwischen Kompositionen Bachs und denjenigen der Berliner Klassik. Diese Vermutung lässt sich erst erhärten, wenn die Werke des einst umfangreichsten Bestandes an Klavierkompositionen wiedergefunden werden. Die Tatsache, dass sie auch die Kostbarkeiten ihrer Sammlung, nämlich die ihr gewidmeten autographen Handschriften – W. F. Bachs Bratschenduette und seine Cantilena nuptiarum, C. P. E. Bachs Cembalokonzert a-Moll, sein Doppelkonzert für Hammerklavier und Cembalo, seine Sonatina für zwei Cembali und Orchester und zwei Klavierquartette – verschenkte, könnte darauf hinweisen, dass sie diese einer sicheren Aufbewahrung zuführen wollte und dass sie eher den Status von Sammlerstücken ohne weiteren praktischen Wert für sie hatten. Folgt man den Besitzvermerken, die sich auf den Bach-Werken in ihrer Sammlung finden, so lassen sich einige neuartige Einzelheiten hinsichtlich der Sammlungsgeschichte feststellen, wodurch wiederum die Bedeutung, die die Werke J. S. Bachs für Sara Levy eingenommen haben, präzisiert wird. Am Bestand der Bach-Werke lässt sich eine Chronologie der Erwerbungen ablesen. Die Präludien und Fugen aus den beiden Bänden des Wohltemperierten Klaviers sind noch als Besitz von Sara Itzig vermerkt. Alle übrigen Werke sind – 580 Die Zahl basiert auf der Rekonstruktion ihrer Bach-Bestände ebd., S. 69–87. 581 Henzel, Berliner Klassik, S. 296, bezeichnet sie als Trio. 582 Diese Angaben basieren auf der Auflistung Henzels, Berliner Klassik, S. 293–302.
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wie der Rest der Sammlung – mit dem Vermerk Sara Levy geb. Itzig oder mit dem Stempel „SSLevy“, dem Besitzerstempel des Ehepaares, versehen.583 Die Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier wurden also noch vor ihrer Heirat für sie angefertigt. Da sie keine Katalognummern haben, liegt die Vermutung nahe, dass sie erst nach ihrer Heirat verstärkt Noten erworben hat, denn nur eine große Anzahl an Werken macht eine systematische Katalogisierung erforderlich. J. S. Bach bildet also den Ausgangspunkt ihrer Sammlungstätigkeit und stellt den Ursprung ihrer Notenbibliothek dar. Kompositionen von C. P. E. und W. F. Bach folgten erst danach. Eine Auswertung der Besitzvermerke ergibt außerdem, dass das Ehepaar Levy gemäß der jeweiligen Spielbedürfnisse Noten erwarb. Generell ist die klare Zweiteilung der Sammlung in Solo- bzw. Kammermusik für Cembalo bzw. für Flöte zu beobachten. Diese Sammelstruktur wird durch die Besitzvermerke auf den Handschriften untermauert: „SLevy“ als Sara Levys Kürzel steht auf Werken für Cembalo und Kammermusik mit Cembalo. Auf Werken für kammermusikalische Besetzung und Orchesterbesetzung mit obligater Flöte, aus denen also sowohl ihr Mann als auch sie selbst spielen konnten, sind mit dem Stempel „SSLevy“ versehen. Sara Levys Sammlung ist aus verschiedenen Gründen als Abbild einer musikalischen Praxis zu verstehen. Die Cembalostimme von W. F. Bachs Flötenkonzert enthält Bezifferungen aus seiner eigenen Hand und zeugt daher als in praktischen Zusammenhängen genutztes Medium von musikalischer Praxis.584 Zahlreiche Konvolute bestehen aus Stimmenmaterial, das die Aufführung dieser Werke belegt. Teilweise lassen sich hieraus mehrere Aufführungsschichten dieser Werke rekonstruieren. Im Fall des bereits erwähnten Flötenkonzerts stammt die Handschrift z. B. vom Komponisten selbst. Beigefügt ist außerdem eine Partitur aus der Hand Zelters und weitere Stimmen unbekannter Herkunft.585 Erstaunlich ist der Bestand an Literatur für Bratsche. Hier fallen vor allem die Bratschenduette (FK 50–62) W. F. Bachs auf, die als Autograph überliefert sind. Wer im Hause Levy Bratsche spielte, ob möglicherweise beide, ist nicht zu klären. Peter Wollny vermutet zwischen dem Doppelkonzert C. P. E. Bachs einen Bezug zum Doppelkonzert von W. F. Bach für zwei Cembali (FK 46), dessen autographer Stimmensatz im Besitz ihrer Schwester Zippora Itzig war. Das überlieferte Stimmenmaterial weist interessante Bezüge zur praktischen Realisierung auf:586 Erstens sind die Stimmen handschriftlich von W. F. Bachs Hand, zweitens gibt es einen weiteren Stimmensatz aus der Ära Zelters, sodass vermutet werden kann, dass dieses Stück unter Mitwirkung der beiden Itzig-Schwestern in der Ripienschule von Zelter aufgeführt wurde. Die Schreiber Palestrina II und der Musiker F. Baumann (Anon. Itzig 12) sind am häufigsten in ihrer Sammlung vertreten, ähnlich wie in der Sammlung ihres 583 Der Stempel SSLevy wird gemeinhin als gemeinsamer Stempel des Ehepaares Sara und Samuel Levy interpretiert. Möglich wäre auch, dass es der alleinige Stempel Samuel Salomon Levys gewesen ist, damit ergäbe sich eine noch deutlichere Zweiteilung der Sammlung. 584 Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 25, und das Kapitel Musikalischer Werdegang (Teil III, Kap. 3.1.4). 585 Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 74. 586 Vgl. ebd., S. 102.
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Bruders B. Itzig.587 „Palestrina II“ ist als Schreiber mehrerer Bach-Handschriften verbürgt, auch von denjenigen, die oben als früheste Anfertigungen für den Besitz Sara Levys gedeutet wurden (Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier). Aber auch Kompositionen zahlreicher anderer Komponisten hat er gefertigt, so auch für die Sammlungen von Sara Levys Geschwistern Benjamin Itzig, Fanny von Arnstein und Zippora Wulff. Vielleicht war Palestrina II als Musiklehrer für die Itzig-Kinder zuständig. Denn auffallend ist, dass die Bach-Bestände der drei altersmäßig am nächsten liegenden Geschwister (Fanny von Arnstein, Sara Levy und Zippora Cäcilie von Eskeles), die möglicherweise gemeinsam, zumindest aber in ähnlicher Art unterrichtet wurden, größtenteils von der Hand dieses Schreibers stammen. Dass die musikalische Ausbildung dieser drei Schwestern ähnlich verlief, nämlich mit dem besonderen Fokus auf J. S. Bach, beweisen auch die starken Parallelen, die hinsichtlich der Klavierkompositionen J. S. Bachs in ihren Sammlungen herrschen. Benjamin Itzig besaß demgegenüber nur zwei Bach-Handschriften. Die Beobachtung, dass der Schreiber F. Baumann nicht nur als Schreiber der Musikhandschriften in Erscheinung tritt, sondern sämtliche Titelbezeichnungen und Besitzvermerke von seiner Hand stammen, lässt vermuten, dass zum einen die Sammlungssystematik von ihm entwickelt wurde, zum zweiten, dass er dabei half, Notenmaterial zu beschaffen. F. Baumann kann darüber hinaus auch als itzigscher Familien-Kopist bezeichnet werden, denn auch im Besitz Benjamin Itzigs ist er stark vertreten. So scheint Paestrina II für die frühere Zeit und F. Baumann für die spätere Zeit von Sara Levys Sammeltätigkeit Bedeutung gehabt haben.588 Die ebenfalls von F. Baumann angelegte Katalogsystematik innerhalb der Sammlung ihres Bruders Benjamin Itzigs ist auf das Jahr 1783 datiert.589 In den Forschungen zu Sara Levy wird ihre Musiksammlung immer wieder mit der Anna Amalias von Preußen verglichen.590 Betrachtet man die Bestände an BachHandschriften bei Anna Amalia und den erhaltenen bei Sara Levy, so zeigen sich bei zehn von vierzehn Werken J. S. Bachs Überschneidungen, Werke also die sowohl Anna Amalia als auch Sara Levy besessen haben. Hinsichtlich des großen Interesses an der Kammermusik C. P. E. Bachs sind ähnliche Parallelen festzustellen. Zeugnisse, die Auskunft über eine Bekanntschaft zwischen der Mäzenin W. F. Bachs und der Schülerin W. F. Bachs geben könnten, sind allerdings nicht überliefert. Ihr deutlicher Fokus auf Instrumentalmusik wird in der Forschungsliteratur meist mit ihrer Religion begründet.591 Diese Einschätzung soll hier mit Blick auf eine angemessene Bewertung in einen größeren Kontext eingebunden werden. Zunächst besaß sie zwar wenige, aber dennoch einige Exemplare an vokaler Musik, die aber allesamt auf weltlichen Texten beruhen. Dass in Bachs vierstimmigen Chorälen die Textunterschriften und -anfänge gänzlich fehlen, mag einerseits der größeren religiösen Neutralität geschuldet sein. Andererseits war die textlose 587 Vgl. Henzel, Berliner Klassik, S. 270. 588 Auch Peter Wollny verortet Palestrina II für die frühere Zeit (um 1770–1785) und F. Baumann für die spätere Zeit (um 1780–1790), vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 64. 589 Henzel, Die Musikalien der Sing-Akademie, S. 70. 590 Vgl. Bartsch, Art. „Sara Levy“. 591 Siehe Wollny, Beiträge 2, S. 44 und Henzel, Berliner Klassik, S. 269.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Notierung von Bachs Chorälen gängige Praxis und in den Lehren Kirnbergers als solche angelegt.592 Der alleinige Wert des 4-stimmigen Satzes wird bei Kirnberger durch den Satz selbst, also durch die „Einheit der Mannigfaltigkeit“ bestimmt.593 Dabei ist der Text sekundär. Auch Kirnberger ging es nicht um einen religiösen Bezug – oder im Umkehrschluss um dessen Ausblendung –, sondern um die Kompositionsästhetik, für die Bach prototypisch stand. Der Fokus auf Instrumentalmusik benötigt also keine Legitimierung aus Gründen der Religion. Wie später noch genauer ausgeführt wird, war Sara Levy mit geistlichen Vokalwerken durch ihre Mitgliedschaft im Dienstags-Chor der Sing-Akademie vertraut. Ob daher also der bisher stark gemachte Widerspruch zwischen jüdischer Religionszugehörigkeit und geistlicher Vokalmusik eine solche Wirkmacht in ihrer Musikpraxis entfaltet hat, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. 3.2.2 Bach spielen Die oben entworfene chronologische Skizze ihrer Auftritte als Cembalistin bietet kaum Informationen über das genaue Bach-Repertoire, das sie an den jeweiligen Orten gespielt hat. Anhand ihrer Notensammlung und der Aufzeichnungen Zelters lassen sich einige Aspekte ihres Bach-Repertoires rekonstruieren. Bei öffentlichen Auftritten spielte sie vor allem die Cembalokonzerte Bachs. Dies wird durch die Beschreibung von Ludwig Rellstab belegt, von dem es heißt: „Doch sie beschränkten sich nicht auf die Fagottsoli des Grafen, und die Concerte auf dem Flügel, (nicht Pianoforte) welche Frau Levi vortrug, die nur Sebastian und Philipp Emanuel Bach spielt, […].“594 Auch in den Zusammenkünften der Ripienschule tritt sie als Solo-Cembalistin mit Konzerten J. S. Bachs auf. Solowerke gehörten nicht zu ihrem öffentlichen Konzertrepertoire. Ob sie im privaten Rahmen Cembalo-Konzerte aufführte, ist aus Mangel an Quellen nicht zu klären. Möglicherweise fehlte es ihr an der notwendigen orchestralen Besetzung. Bachs Solowerke für Klavier waren bei Sara Levy wohl vor allem Bestandteil des privaten Musizierens. Erst mit dem Auftreten Clara Schumanns werden Bachs solistische Klavierwerke zum Repertoirestück auf der Bühne. Bis dahin galten sie für den Konzertsaal als zu exotisch.595 Als Solistin am Cembalo trat sie nachweislich mit J. S. Bachs d-Moll Konzert (BWV 1052), dem fünften Brandenburgischen Konzert in D-Dur (BWV 1050) und dem Tripelkonzert in a-Moll (BWV 1044) auf. 592 Über den großen Einfluss Kirnbergers auf die Familie Itzig vgl. das Kapitel Familie Itzig (Teil III, Kap. 2.3.2). 593 Vgl. Laurenz Lütteken, Zwischen Ohr und Verstand. Moses Mendelssohn, Johann Philipp Kirnberger und die Begründung des „reinen Satzes“ in der Musik, in: Gerhard (Hg.), Musik und Ästhetik, S. 135–163, hier S. 162. 594 Rellstab, Aus meinem Leben, Bd. 1, S. 116 f. 595 Vgl. Janina Klassen, Vom Exotismus und Kanon. Zur Popularisierung von Bach im Repertoire von Clara Wieck Schumann und ihren Schüler_innen vor dem Hintergrund des Historismus, in: Rebecca Grotjahn / Peter Wollny (Hgg.), Bach: Genius – Genus – Generationen, Musikwissenschaftliches Symposium im Rahmen des 88. Bachfestes der Neuen Bachgesellschaft e. V. an der Hochschule für Musik Detmold (Druck in Vorb.).
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Peter Wollny vermutet außerdem ihre Mitwirkung bei den Aufführungen der Cembalo-Konzerte in F-Dur (BWV 1057), in g-Moll (BWV 1058) und dem Konzert für drei Cembali in d-Moll (BWV 1063).596 Das Konzert in d-Moll (BWV 1052) gehörte auch zum Repertoire von Felix und Fanny Mendelssohn Bartholdy.597 In den Probentagebüchern Zelters, die 1928 von Georg Schünemann ausgewertet wurden, wird sie als einzige weibliche Solistin der Ripienschule erwähnt.598 Alle anderen solistisch auftretenden Musiker waren Männer. Da die Probentagebücher, die unter Zelter geschrieben wurden, auch nach der Rückführung der Sing-Akademie-Sammlung aus dem Kiewer Exil nicht mehr aufzufinden sind, bleiben diese Überlegungen zum Stellenwert Sara Levys als Solistin selbstverständlich vorläufig. Allerdings ist es bemerkenswert, dass aus dem Zirkel der Instrumentalistinnen und Instrumentalisten der Ripienschule in Schünemanns Ausführungen keine weiteren Akteurinnen genannt werden. Vielfach werden Zippora und Sara als Duopartnerinnen erwähnt.599 Ihre Notensammlung weist eine Vielzahl an Konzerten für zwei Cembali auf, u. a. J. S. Bachs virtuoses Konzert für zwei Cembali und Streicher in c-Moll. C. P. E. Bachs Konzert für zwei Cembali in d-Moll war ebenfalls in ihrem Besitz, wobei sich in dem Konvolut interessanterweise sowohl ein vollständiger Stimmensatz aus dem Besitz Sara Levys als auch vier Streicherstimmen aus dem Besitz Zippora Wuffs befinden.600 Die erwähnten Werke für zwei Cembali von J. S. Bach und seinen Söhnen, stellen das Repertoire dar, das die beiden Schwestern vermutlich in den Fließschen Konzerten zur Aufführung brachten. Sara Levys Profil als Musikerin gewinnt für den Zeitraum, in dem ihre Schwester noch in Berlin wohnte, eine klare Ausprägung, die sich durch die familiäre Situation und die anscheinend vergleichbare musikalische Versiertheit der beiden Schwestern ergab. Sara Levy musizierte vor allem im Ensemble, als Cembalo-Duo mit ihrer Schwester Zippora. Fanny von Arnstein kam als Duo-Partnerin für Sara Levy nur bedingt in Frage, da sie bereits ab 1776 in Wien wohnte. Allerdings müssen ihre musikalischen Fähigkeiten ebenso umfangreich gewesen sein: Frau von Arnstein, (Fanny) die kernhaftesten und schwersten Kompositionen sind ihr Lieblingsspiel. Sie liest sehr gut, hat eine leichte Hand und meisterhaften Anschlag. In Geschwindigkeiten exzellirt sie.601
Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 39. Vgl. das Kapitel Familie Mendelssohn Bartholdy (Teil III, Kap. 2.3.6). Vgl. Schünemann, Bach-Pflege, S. 144. Vgl. u. a. Gottlieb Wilhelm Burmann [G. W. B.], Auszug eines Briefes aus Berlin, S. 194, auch zitiert in Marion Fürst, Maria Theresia Paradis. Mozarts berühmte Zeitgenossin (Europäische Komponistinnen 4), Köln 2005, S. 136, sowie in Aus Böttiger’s Tagebuch einer Reise nach Berlin. 1797, in: Karl August Boettiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl Aug. Böttiger’s handschriftlichem Nachlasse, hg. von Karl Wilhelm Böttiger, 2 Bde., Leipzig 1838, Bd. II, S. 102–111, hier S. 102. Siehe auch Rainer Schmitz (Hg.), Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Frankfurt a. M. 1984, S. 412. 600 Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 102. 601 [Johann Ferdinand Ritter von Schönfeld], Jahrbuch der Tonkunst von Wien und Prag, Wien 1796 (ND München/Salzburg 1976, mit Nachwort und Register von Otto Biba), S. 5. 596 597 598 599
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Zippora Wulff hinterließ Sara Levy im Jahr 1800 ihre Notensammlung, was den Hintergrund für die bereits erwähnte Durchmischung des Stimmenmaterials im Cembalo-Konzert von C. P. E. Bach bildet. Sara Levy wird es aber auch nach dem Umzug Zipporas gespielt haben, da sie zusätzliche Streicherstimmen hat anfertigen lassen. 3.2.3 Bach vernetzen Im Rahmen der Auseinandersetzungen Sara Levys mit der Musik J. S. Bachs nimmt ihre Funktion als Netzwerkerin eine wichtige Funktion ein. Sie knüpft Verbindungen zwischen verschiedenen musikkulturellen Akteurinnen und Akteuren, Institutionen, Komponistinnen und Komponisten, Zuhörenden, Sponsoren und Nachfahren und agiert in zahlreichen Berliner Musikräumen, so auch in Archiven und Aufführungs- bzw. Probenorten. Sie ist nicht nur im engeren Sinn als Netzwerkerin, sondern auch als Multiplikatorin der Werke J. S. Bachs zu verstehen. In den nachstehenden Ausführungen soll der Stellenwert dieser Netzwerkpflege für die Gestaltung von Bach-Rezeption an Beispielen explizit gemacht werden. Der persönliche Kontakt zu den Nachfahren Bachs war – wie bereits an vielen Beispielen erörtert – notwendige Voraussetzung, um sowohl Bach-Material als auch aufführungspraktisches Bach-Wissen zu erlangen. Außerhalb Berlins stellte der Hamburger Zirkel der Familie Reimarus einen wichtigen Kontakt dar.602 Auf diese Verbindung ist auch der Besuch des späteren Bach-Sammlers Georg Poelchau zurückzuführen, der – so berichtet Elise Reimarus603 – Gast ihres Salons war. Reimarus übermittelt Sara Levy eine Empfehlung und erwähnt Poelchaus musikalische 602 Der Kontakt zur Familie Reimarus äußerte sich in einer Vielzahl von gemeinsamen kulturellen Projekten: Im Fall des Schriftstellers Moses Wessely, der seine Familie unversorgt hinterließ, setzte sich Sara Levy für die Herausgabe seiner Schriften ein und verpflichtete ihre Briefpartnerin und Hamburger Salonkollegin Elise Reimarus zur Mithilfe bei der Subskription. Diese aktivierte wiederum ihr kommunikatives Netzwerk, sodass sich schließlich zwei Kreise, der um die Geselligkeiten Sara Levys und Elise Reimarus, für den Nachlass Moses Wesselys einsetzten. 603 Vgl. Briefe von Elise Reimarus an Sara Levy vom 18. September 1787, 16. November 1787 und 17. Mai 1799, erwähnt bei Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 352, Anm. 188. Vollständig lautet der Briefabschnitt: „Aber ehe ich wieder gehe, muß ich Ihnen sagen, wer der Uberbringer dieses Briefes ist, denn schon seit langer Zeit pflegten wir uns ja die guten und interessanten Menschen auf diese Weise einander zu zu schicken! Sein Nahme ist Poelchau, ein gebohrner Liefländer, den des Kaiser Pauls strenge Ukasen von seinem Vaterlande entfernt halten, und der daher seit länger als einem Jahre bey uns von seinen Talenten und Kenntnissen auf eine nützliche Art Gebrauch macht. Vorzüglich glaub ich werden Sie als eine Kennerin, in ihm einen entschiednen Geschmack u Geschicklichkeit in für Musik finden, dazu ihm die Natur auch eine angenehme Stimme verliehen hat. Sein nicht glückliches Schicksal, und ein von Natur ernster Character, haben ihm zwar das Gepräge von Schwermuth aufgedrückt: aber ich bin versichert daß ihm dieses bey Ihnen so wenig schaden wird als gewiß ich bin daß der Umgang in Ihrem angenehmen und geistvollen Cirkel ihm auf alle Weise eine erwünschte Aufheiterung seyn muß, sobald seine bescheiden Blödigkeit ihm erlaubt, sich denselben zu Nutze zu machen.“ Vgl. Brief von Elise Reimarus an Sara Levy vom 17. Mai 1799 (D-B, Handschriften, Nachlässe und Autographen: Nr. 343 Familienarchiv Emil Cauer, Kasten 3 Sara Levy, Mappe 1).
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Talente und Kenntnisse. Poelchau – gerade erst vierzehnjährig – lernt 1787 den „geistvollen Cirkel“604 Sara Levys kennen, der bereits in dieser frühen Phase einen Treffpunkt für Bach-Kenner darstellte. Hier wird erkennbar, welch eine große Bedeutung der „Cirkel“ Sara Levys als ein Ort der Vernetzung und der Begegnung darstellte. Ein vergleichbares Netzwerk und ein ähnlich profilierter Bach-Zirkel sind für die 1780er Jahre darüber hinaus nicht bekannt. Ein weiterer Kontakt, der aus einer Empfehlung Elise Reimarus hervorgegangen ist, ist der zum Organisten Johann Georg Witthauer (1750–1802).605 Dieser war Schüler C. P. E. Bachs in Hamburg und brachte ähnlich wie Poelchau ein großes Interesse an den Werken der Bach-Familie mit. Sara Levy subskribierte Witthauers Sonatenband. Innerhalb Berlins stellte C. Fr. Zelter einen wichtigen Knotenpunkt ihres Netzwerks dar. Erste Begegnungen fanden in den von Rellstab veranstalteten Konzerten für Kenner und Liebhaber statt. Ebenso besuchten beide die Treffen der Feßlerschen Lesegesellschaft.606 Mit Sara Levys Eintritt in die Sing-Akademie und ihrem Engagement als Cembalistin in Konzerten der Ripienschule festigte sich die Verbindung zu Zelter, was auch dazu führte, dass sie sich gegenseitig Aufführungsmaterial von Bach-Werken zur Verfügung stellten.607 Ihre Netzwerkpflege findet auch in dem regen Kontakt zu ihren beiden in Wien lebenden Schwestern Zippora Wulff verh. Cäcilie v. Eskeles und Fanny v. Arnstein Ausdruck. Dass Bach hierbei eine wichtige Rolle darstellt, ist anhand verschiedener Details nachzuzeichnen. Zwischen den drei Schwestern sind hinsichtlich ihrer Vorliebe für die Musik J. S. Bachs Ähnlichkeiten nachzuweisen. Alle drei besitzen zahlreiche Werke der Bach-Familie. Diese Parallele weist erstens auf den gemeinsamen familialen Ursprung, d. h. auf die Erziehung durch ihre Eltern und der in ihrem Elternhaus etablierten Bach-Rezeption hin. Zweitens scheint zwischen den drei Schwestern ein ähnlicher Umgang dahingehend geherrscht zu haben, wie die im Elternhaus etablierte offene Geselligkeit in eigene Geselligkeitsstrukturen übertragen wurde. Durch den Umzug der zwei erwähnten Schwestern nach Wien trennt sich auf räumlicher Ebene das musikkulturelle Wirken und spaltet sich in einen Wiener und einen Berliner Wirkungskreis auf. Die Art und Weise, wie Bachs Werke in den Praktiken Sara Levys aus einem familialen Musikraum in einen Musikraum der bürgerlichen Gesellschaft integriert wurden, hat als Vorbild für ihre Schwestern, insbesondere für Fanny von Arnstein fungiert. Sara Levy trat als erste ihrer Familie der Sing-Akademie bei. Ihr Umgang mit einer bürgerlichen Musikvereinigung hatte Einfluss auf Fanny von Arnstein, denn auch sie war Gründungsmitglied der 1812 gegründeten Gesellschaft der Mu-
604 Vgl. ebd. 605 Witthauer wird erwähnt in den Briefen vom 18. September 1787 und 16. November 1787 (Quelle im Privatbesitz der Gräfin Trolle-Ljungby in Schweden). 606 Vgl. Kapitel Biographische Kontexte, Abschnitt Netzwerk (Teil III, Kap. 3.1.3). 607 Sara Levy schenkte Zelter einige wertvolle Notenhandschriften und lieh sich im Gegenzug Einzelstimmen aus dem Zelterschen Notenarchiv aus. So z. B. die Cembalostimme aus dem Tripelkonzert in a-Moll. Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 39.
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sikfreunde in Wien, dem Wiener Äquivalent der Sing-Akademie zu Berlin.608 Genauso wie Sara Levy ein Teil ihrer Sammlung der Sing-Akademie vermachte, sind auch zwei Musikhandschriften im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde aus dem einstigen Besitz Fanny von Arnsteins überliefert, J. S. Bachs Partita B-Dur (BWV 825) und C. P. E. Bachs Cembalokonzert c-Moll.609 Neben diesem Transferprozess sowohl von Bach-Musikalien als auch von BachRezeptionspraktiken nach Wien, fand auch ein bisher noch weitestgehend unbeachteter Austausch zwischen Berlin und Paris auf der Ebene der musikalischen Salons statt. Auch wenn hier Sara Levy nicht die verantwortliche Netzwerkerin war, so ist es dennoch bemerkenswert, dass der Pariser Salon der Pianistin Hélène de Montgeroult (1764–1836) ähnlichen Prinzipien, wie z. B. dem Veranstalten von musikalischen Geselligkeiten und dem Aufführen von Bach-Werken in Salons, folgte.610 3.2.4 Bach fördern Im vorliegenden Kapitel steht die Förderung der Rezeption J. S. Bachs im Fokus, die durch Sara Levys Unterstützung zahlreicher Musikerinnen und Musiker zum Ausdruck kommt. Die Praxis des Musikförderns wird an dieser Stelle aus der Perspektive ihrer familialen Tradition betrachtet. Diese war durch großes soziales Engagement und Einsatz für wohltätige Zwecke geprägt. So heißt es im Nachruf über Sara Levy: Wie sie aber nach dieser einen Seite hin auf der Höhe des gesellschaftlichen Lebens stand, so wirkte sie nach einer anderen Seite hin als liebende Wohlthäterin der Armen, denen sie still und geräuschlos zur Seite stand. Ganz abgesehen davon, dass sie jedem wohlthätigen Vereine als Mitglied angehörte, war sie auch stets zur Hülfe bereit, und kein Bedrängter ging rathlos von ihr.611
Ähnlich betont die Neue Preußische Zeitung: „Die Verstorbene hat drei Viertheile ihres Vermögens testamentarisch für wohltäthige Zwecke und Legate und nur den Rest ihren drei Erben, den Kindern zweier Brüder bestimmt.“612 Basierend auf traditionellen jüdischen Wohltätigkeitsnormen engagierten sich Daniel Itzig und seine Nachfahren für wohltätige Zwecke in Form von Gründungen verschiedener Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, von wohltätigen Vereinen und individueller Hilfe für Notleidende. Sara Levy unterstützte sowohl jüdische Einrichtungen, wie z. B. Krankenpflegeeinrichtungen, Waisenhäuser und Schulen der Gemeinde, als auch christliche Einrichtungen und Organisationen.613 Sara Levy setzte sich in unterschiedlicher Art und Weise für Musikerinnen und Musiker ein, ein Engagement, das nach ihrem Verständnis den Idealen der Aufklä-
608 609 610 611 612 613
Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 341. Vgl. die Übersicht des Notenbestandes von Fanny von Arnstein in: Wollny, Beiträge 2, S. 97. Vgl. das Kapitel Familie J. P. Salomon (Teil III, Kap. 2.3.4). Nachruf in der Haude- und Spenerschen Zeitung vom 12. Mai 1854. Neue Preußische Zeitung, 17. Mai 1854, Nr. 114, S. 2. Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 225.
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rung entsprach.614 Ihre Musikförderung fand Ausdruck in Form von Subskriptionen, Kompositionsaufträgen und dem Verschenken von Notenhandschriften an die SingAkademie. Peter Wollny fasst zusammen, dass Sara Levy ab 1813 einen großen Teil ihrer Notenmanuskripte der Sing-Akademie schenkte,615 darunter befanden sich nachweislich das Cembalokonzert in G-Dur von C. P. E. Bach, die handschriftlichen Fassungen seines Konzerts für Hammerklavier und Cembalo in Es-Dur sowie seiner Klavierquartette in D-Dur und G-Dur.616 Möglicherweise war auch W. F. Bachs Flötenkonzert in D-Dur unter den Schenkungen Sara Levys. Dass sich unter den verschenkten Musikalien zwei Autographe C. P. E. Bachs – Sara Levy besaß insgesamt drei Autographe des Hamburger Bachs – befunden haben, weist auf den Sammlersinn Sara Levys hin, die darauf bedacht war, wertvolle Handschriften in den Besitz einer Institution zu geben, die den sicheren Verbleib der Handschriften gewährleisten konnten. Subskription war als Voraus-Finanzierung von Kompositionen ein gängiges Förderinstrument von zeitgenössischen Komponisten. Sara Levy förderte insbesondere Vertreter der Bach-Familie. Sie subskribierte alle sechs Bände von C. P. E. Bachs Clavier-Sonaten für Kenner und Liebhaber, Klopstocks Morgengesang sowie zwei Sonatenbände von J. Chr. Fr. Bach.617 Wenn sie Kompositionen außerhalb der Bachfamilie subskribierte, blieb sie dem Kreis der Bach-Schüler bzw. Enkel-Schüler treu: Sie pränummerierte auf einen Sonatendruck von Johann Georg Witthauer618 (1786), auf J. N. Forkels Variationen (1791), sowie auf Johann Abraham Peter Schulzes Chöre und Gesänge zur Athalia und Johann Gottlieb Naumanns Orpheus und Euridice (1787). Sara Levy ist vor allem als Auftraggeberin von C. P. E. und W. F. Bach bekannt, bat aber auch den alternden Joseph Haydn um eine Komposition. Dies dokumentiert ein Brief des Haydn-Biographen Georg August Griesingers: „Eine gebildete und geistreiche Musikfreundin Mad. Sara Levi geb. Itzig aus Berlin, die ich vor einigen Jahren bey Haydn aufführte, bat letztern, einige Fugen für die Singschule des He. Zelters zu componiren, ohne alle Instrum.musik.“619 Dieser Auftrag blieb allerdings unausgeführt, denn Haydn „entschuldigte sich aber, dass er wegen seiner so unbeständigen u. wankenden Gesundheit alle solche Anträge ablehnen müsse“.620 614 Ebd., S. 350. 615 Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 37. 616 Vgl. den Katalog der Werke der Bachfamilie, die sich im Besitz Sara Levys befunden haben. Ebd., S. 69 ff. 617 Vgl. ebd., S. 86 f. 618 Witthauer war ein Schüler C. P. E. Bachs. 619 Brief von Georg August Griesinger an den Verlag Breitkopf & Härtel, Wien 25. Januar 1804, siehe dazu Edward Olleson, Georg August Griesingers’s Correspondence with Breitkopf & Härtel, in: Haydn Year Book / Das Haydn Jahrbuch 3 (1965), S. 5–53, hier S. 46. 620 Ebd., auch erwähnt in Carl Maria Brand, Die Messen von Joseph Haydn, Würzburg 1941, S. 261 f. Brand vermutet außerdem, Sara Levy habe die autographe Handschrift von Haydns Heiligmesse während einer ihrer Wien-Aufenthalte erworben – möglicherweise auch durch die Vermittlung Griesingers. Diese Heiligmesse ist dann in den Besitz von Felix Mendelssohn Bartholdy übergegangen. Vgl. hierzu auch eine Bemerkung Wollnys, „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“, S. 231, Anm. 47.
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Vier Werke aus der Sammlung Sara Levys sind als Auftragskompositionen zu werten: C. P. E. Bachs Konzert in Es-Dur für Cembalo, Fortepiano und Orchester (Wq 47), seine Klavierquartette D-Dur und G-Dur für Klavier, Flöte, Bratsche und Bass (Wq 94–95), W. F. Bachs Duette für zwei Bratschen (Fk 60–62) und dessen Cantilena Nuptiarum consolatoria. In den späten 1790er Jahren, kurz vor dem Tod C. P. E. Bachs, hat Sara Levy diesem den Kompositionsauftrag für ein Konzert erteilt. Aufschluss darüber gibt der erhaltene Brief der Witwe Bachs, die einige Monate nach dem Ableben ihres Mannes an Sara Levy schreibt: Sie werden durch Herrn Wessely schon benachrichtigt worden seyn, dass die Krankheit meines lieben Mannes ihm nicht erlaubt hat, an das von Ihnen ihm comittiierte Concert zu denken. Was er diesfalls versprochen hat, ist gewiß nur in der Erwartung, es bald erfüllen zu können, geschehen. Aber leider! – Doch genug! Die Nachricht von den hinterlassenen Musikalien, die unser lieber H. Wessely zugesendet hat, ist nicht völlig richtig. Jetzt will ich einen kleinen richtigern Aufsatz diesem Briefe beyfügen.621
Das Kondolenzschreiben Sara Levys, für das sich Johanna Maria Bach zuvor bedankt, ist nicht erhalten, auch sind keine Informationen darüber übermittelt, über welches Denkmal zum Andenken C. P. E. Bachs Sara Levy J. M. Bach zuvor informiert hätte. Dort heißt es: Aber tausendfachen Dank muß ich Ihnen und allen Verehrern und Freunden meines lieben verewigten Gatten für die thätige Sorge, seinem Andenken ein Denkmaal zu stiften sagen. Die Nachricht dieser Ihrer Verwendung zu diesem Denkmaal war sanfter Balsam auf meine Wunde. Dem Herrn Professor, der gefälligst die Bemühungen dieses Unternehmenes über sich genommen hat, bitte ich in meinem Namen den verpflichtetesten Dank abzustatten.622
Die Mitteilung, C. P. E. Bach habe das bestellte Werk nicht mehr ausführen können, beruhe – so die Forschungen Peter Wollnys – auf einer zu ungenauen Sichtung des Notenmaterials seitens der Bachwitwe und sei darum nicht zu bestätigen, da auch das von ihr beigefügte Werkverzeichnis insgesamt als unvollständig zu betrachten sei.623 Bei der von Sara Levy in Auftrag gegebenen Komposition handelt es sich um das Doppelkonzert für Cembalo und Fortepiano, das C. P. E. Bach in seinem Todesjahr 1788 komponiert hat. Die Tatsache, dass die autographe Handschrift des Doppelkonzerts sich im Besitz Sara Levys befand, bestätigt diesen Befund, da in der Regel ungedruckte Autographe nicht weitergegeben wurden und sie als Auftraggeberin angesichts einer Bezahlung Anrecht auf das Autograph gehabt hätte.624 Die Besetzung für Cembalo und Pianoforte ist im Schaffen C. P. E. Bachs und der gesamten Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts einmalig und verlangt daher besondere Aufmerksamkeit.625 Sie wird in dieser Studie als expliziter Ausdruck der Bach-Rezeption Sara Levys bewertet. Das Cembalo steht für die Klangtradition 621 Brief von Johanna Maria Bach an Sara Levy vom 5. September 1789, in: Wollny, Beiträge 2, S. 49 (Dok. 1). 622 Ebd., S. 49 f. 623 Vgl. Wollny, „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“, S. 228. 624 Ebd., S. 229. 625 Ich danke an dieser Stelle Prof. Gerald Hambitzer (HfMT Köln) für das bereichernde Gespräch über diese Komposition.
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des frühen 18. Jahrhunderts, die bei Sara Levy uneingeschränkt auf J. S. Bach bezogen ist. Das Fortepiano ist hingegen das Tasteninstrument, für das zeitgenössische Komponisten komponierten. Mit der Förderung, wie sie in der Auftragserteilung von C. P. E. Bachs Doppelkonzert für Cembalo und Fortepiano zum Ausdruck kommt, wird die Musik J. S. Bachs neu, nämlich vereinbar mit dem zeitgenössischen Geschmack positioniert. Ebenso zeugen die beiden weiteren in der Sammlung Sara Levys im Autograph erhaltenen Werke des Hamburger Bachs von einer engen künstlerischen Kooperation und resultieren möglicherweise ebenfalls aus einem Kompositionsauftrag Sara Levys oder ihres Mannes. Hierzu zählen die beiden Klavierquartette in D-Dur und G-Dur (Wq 94–95) und die Sonatine für zwei Cembali und Orchester in D-Dur (Wq 109), in der C. P. E. Bach eigenhändig eingetragen hat: „diese Sonatine hat bloß Mme Zernitz und H. Levi in Berlin“.626 Sara Levys Förderung von musikalischen und kulturellen Projekten ist das Ergebnis eines Transferprozesses, der sich von einer allgemeinen Wohltätigkeit ihrer Eltern- und Geschwistergeneration hin zu einer individuellen, spezifisch musikalischen Förderung vollzog. Ihre Tätigkeit als Musik- und Kulturförderin ersetzte nicht ihr allgemeines soziales Engagement, sondern ergänzte es. Tätigkeiten wie die Subskription von Werken C. P. E. Bachs gehörten zwar auch zum Betätigungsfeld ihrer Geschwister, das Erteilen von Kompositionsaufträgen und die Förderung einzelner Musikerpersönlichkeiten ist aber ein individuelles Charakteristikum ihrer Kulturförderung. Von der Förderung von Musik oder anderen kulturellen Gütern ging neben der finanziellen Unterstützung für den Künstler auch eine politische Symbolwirkung von dem Förderer aus. Gerade im Fall von Sara Levys Fördermaßnahmen besitzt diese politische Symbolwirkung einen hohen Stellenwert – eine Tatsache, die sich mit dem Begriff der Patronage fassen lässt. Während das Konzept des Mäzenatentums – entstanden im Kontext von aristokratischer Förderung627 – mit der Idee einer ideell geleiteten, selbstlosen Förderung verschiedener Formen von Kunst628 in Verbindung gebracht wurde, betont der Begriff der Musikpatronage gerade den symbolischen und sozialen Nutzen für den Förderer bzw. die Förderin. Patronage meint einen performativen Akt meist städtischen Charakters, in dem männliche oder weibliche Personen, weltliche oder geistliche Gruppen oder Institutionen, Musikerinnen und Musiker beauftragen, Kompositionen zu verfassen, zu bearbeiten und/oder aufzuführen. […] Patronage als performativer Akt ist ein Tausch von ökonomischem Kapital (Geld) und gesellschaftlichem Schutz gegen kreatives Kapital; […] Das Tauschgeschäft bietet für den Patron die Möglichkeit, Orte mit Musik auszustatten und damit politische Räume zu definieren, […]. Der Status der Patroninnen und Patrone wirkt auf den Komponisten zurück; […].629
626 627 628 629
Vgl. Wollny, Beiträge 2, S. 23. Vgl. Katrin Losleben, Art. „Mäzenatentum“, in: LMG, S. 321. Ebd. Katrin Losleben, Musik – Macht – Patronage. Kulturförderung als politisches Handeln im Rom der Frühen Neuzeit am Beispiel der Christina von Schweden (1626–1689), Köln 2012, S. 83 f.
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Patronage ist auch ein Medium der gesellschaftlichen oder politischen Einflussnahme. Sara Levy nimmt aktiv Einfluss auf den Musikgeschmack der Zeit, indem sie ein Werk in Auftrag gibt, dessen klangästhetischen und kompositorischen Bedingungen auf die Vermischung des alten Stils (Cembalo) mit dem neuem Stil (Pianoforte) ausgerichtet sind. Auch distribuiert sie damit musikästhetische Diskurse insgesamt, die eben diese Stildebatten zum Ausgangspunkt haben. Sara Levy wird daher als ein Exempel „bürgerlicher Musikpatronage“ gesehen. Musikpatronage bildet für sie eine Möglichkeit, ihren eigenen musikalischen Raum zu konstituieren, der gleichzeitig eine sozial-politische Symbolwirkung hat. Denn die nach ihren Wünschen gestalteten Kompositionen definieren nicht nur ihr Können und ihren musikalischen Geschmack, sondern bestimmen auch den Raum, in dem die Musik aufgeführt wird. Auch kann ihr als Musikpatronin vor dem Hintergrund der Nachlassverwaltung eine wichtige Rolle beigemessen werden: Auftragskompositionen verweisen auf ein Netz von Rezeptionslinien, vom direkten Kontakt mit dem Komponisten und dem Transfer vom Entstehungskontext zur Auftraggeberin. Sara Levy gehört zur kulturellen Elite, die sich mittels ihrer Musikpraxis – dazu zählt u. a. ihre Musikförderung – innerhalb eines bürgerlichen Lebenskonzepts positionieren kann. Ihre Musikpatronage bezieht sich daher auch immer auf die besondere Bedeutung, die diese Kompositionen für ihr Konzept einer durch die Musikkultur getragenen bürgerlichen Idee zukommt. Die Rezeption J. S. Bachs bekommt aus dem Blickwinkel von Sara Levys Musikpatronage eine spezifische Kontur: Sie unterstützt die Söhne J. S. Bachs mit der Maßgabe, eine Symbiose des zur Zeit von J. S. Bach üblichen Klangideals mit dem des neuen empfindsamen Geschmacks der nachfolgenden Generation zu erreichen. J. S. Bach wird nicht als deutscher Klassiker neben Haydn und Mozart gestellt, wie dies ab dem Anfang des 19. Jahrhunderts geschieht, sondern im Kontext seiner Söhne und Schüler rezipiert.630 Sara Levy fördert die Rezeption J. S. Bachs, in dem sie ihn kanonisiert. 3.2.5 Bach salonfähig machen Im Salon Sara Levy finden die mannigfaltigen Rezeptionspraktiken von Bachs Musik zusammen. Der musikalische Salon stellt neben der musikalischen Gesellschaft und dem bürgerlichen Musikverein ein eigenes musikkulturelles Phänomen dar. Zentrale Unterschiede betreffen die soziokulturelle Geschichte mit dem französischen Salon als Vorbild und die Konstitution des musikalischen Salons als weiblicher Handlungsraum. Einleitend werden daher spezifische Eigenschaften des musikalischen Salons um 1800 in Berlin skizziert. Sara Levys musikalischer Salon wird dann hinsichtlich der räumlichen Bedingungen, Salongäste und Musikinstrumente untersucht. Abschließend wird die Bedeutung ihres Salons als ein Aufführungsort der Musik
630 Vgl. Wollny, Zur Bach-Pflege im Umfeld Sara Levys, S. 49.
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Bachs vor dem Hintergrund des Transfers von Praktiken aus ihrem jüdischen Elternhaus in ihren musikalischen Salon hinein diskutiert. 1. Salon und Musik in Berlin um 1800 Der Ausprägung des Salons in Berlin kommt eine besondere Rolle zu, weil zum einen die Dichte und Anzahl, in der diese ab den 1780er Jahren in Berlin entstehen, einzigartig ist631 und weil zum anderen der Salon als kulturelles Phänomen erscheint, das unterschiedliche soziale Schichten (neu entstehendes Bürgertum, Aristokratie, Hof-Angehörige, preußische und französische Staatsbeamte), religiöse Gruppen (Christen und Juden) und Frauen und Männer gleichermaßen miteinbezieht und deswegen generell als heterogenes und vielfältiges kulturelles Phänomen betrachtet werden kann.632 Die Berliner Salons bezogen einerseits ihr institutionelles Vorbild aus den französischen Salons des 17. Jahrhunderts. Andererseits entwickelten sie einen eigenen Raum, dem ein geistesgeschichtliches, soziokulturelles Ziel zugrunde lag, nämlich den Salon zu einem Ort der Aufklärung, der Emanzipation der Frauen und Juden zu machen.633 Gerade die Auseinandersetzung mit der Frage, in wieweit Salons als Orte gelingender Transkulturation und Gleichberechtigung bewertet werden können, wird ambivalent geführt. Juden wurde die Teilnahme an vielen gesellschaftlichen Vereinen und Kreisen außerhalb des Salons verweigert, sodass der Salon von vornherein zum exklusiven Raum einer Minorität wurde und die Möglichkeit bot, die gesellschaftliche Isolation zu durchbrechen.634 Barbara Hahn hat in vielen ihrer Forschungen darauf hingewiesen, dass trotz großer Akzeptanz, die den jüdischen Salonnièren entgegengebracht wurde, Ausgrenzung und Diskriminierung aufgrund der religiösen Zugehörigkeit auf der Tagesordnung standen.635 Carl Gustav von Brinkmann, der während seiner Abwesenheit aus Berlin im regen Briefkontakt mit vielen Salonvorsteherinnen stand, äußerte sich zu anderen – vorzugsweise männlichen – Briefpartnern abfällig über eben diese Frauen.636
631 Dass ebenso sämtliche Chronisten der Zeit die herausragende Bedeutung Berlins als Vorbild geistvoller Geselligkeit bewerten, stellt Peter Gradenwitz, Literatur und Musik in geselligem Kreise: Geschmacksbildung, Gesprächsstoff und musikalische Unterhaltung in der bürgerlichen Salongesellschaft, Stuttgart 1991, S. 72, heraus. 632 Die Tatsache, dass sich die Salonkultur in Berlin vor allem durch die Mitwirkung von Jüdinnen ausprägte, betont z. B. Sabine Giesbrecht, Art. „Salon“, in: LMG, S. 417. 633 Vgl. Wilhelmy-Dollinger, Singen, konzertieren, diskutieren, S. 141. 634 Vgl. ebd. 635 Siehe Hahn, Der Mythos vom Salon, S. 213–234. 636 Vgl. ebd.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Über die Geschichte des Berliner Salons637 im Allgemeinen sind die Forschungen von Petra Wilhelmy-Dollinger und Deborah Hertz maßgebend.638 Einen umfassenden Überblick über die Forschungslage zum Salon und zu Konstanten innerhalb des Salon-Diskurses bietet die Veröffentlichung zum Berliner Salon von Hannah Lotte Lund.639 Forschungen von Peter Gradenwitz,640 Andreas Ballstaedt und Tobias Widmaier641 richten ihr Augenmerk auf die spezifische Funktion von Salonmusik als bürgerliche Musikpraxis. Allerdings bleiben sie bei der Besprechung des Phänomens Salon dem 19. Jahrhundert verhaftet, sodass die musikalische Ausprägung der frühen Berliner Salons im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unberücksichtigt bleibt. Auch die aktuellste Veröffentlichung von Petra Wilhelmy-Dollinger birgt bezüglich der musikalischen Aktivitäten keine neuen Erkenntnisse oder Quellen, sondern stellt eher einen Überblick über bereits bekannte Fakten dar.642 Das liegt u. a. daran, dass sich der Erforschung dieser musikalischen Aktivitäten in den Salons in Berlin vor und um 1800 Schwierigkeiten wie z. B. mangelnde oder nur mittelbar aussagekräftige Quellen in den Weg stellen. Diese lassen zwar einerseits die Feststellung zu, dass in Salons musiziert wurde, bieten aber nicht ausreichende Informationen, um auf Regelmäßigkeiten oder allgemeine Strukturmerkmale schließen zu können. Um mit dem zur Verfügung stehenden Material dennoch Aussagen über die Konstitution der Musikpraxis in den frühen Salons zu treffen, können aus heutiger Sicht nur implizite Parameter, d. h. die Bedingungen, die zum Gelingen solcher Musikaufführungen beigetragen haben, rekonstruiert werden. Dazu zählen z. B. die Art der Musiksammlung und das Vorhandensein von Stimmensätzen. 637 Die Heterogenität eines Salons als Ort der Konversation, der Literaturbesprechung und der Musikaufführung machen den Salon von vorneherein zu einem Forschungsobjekt verschiedener Fachdisziplinen. Interdisziplinarität ist eine Grundkonstituente des Forschungsobjektes „Salon“. Darin ist zugleich eine Stärke und eine Schwäche zu sehen: Eine Stärke, weil die Verzahnung der Disziplinen, die sich in der historischen Praxis nahtlos verknüpfen, und das hieraus resultierende Potenzial auch retrospektiv zu Tage tritt, wie z. B. als geselligkeitsfördernde Funktion von Musik oder als Ästhetisierung von Musik in literarischen Kreisen. Zu einer Schwäche wird es dann, wenn die Perspektive einseitig bleibt und beispielsweise musikalische Faktoren primär aus der Sicht der Literaturwissenschaft betrachtet werden. In gewisser Weise hat sich die Salon-Forschung noch nicht aus der Position einer Außenseiterrolle befreit. Verschiedene Beobachtungen erzeugen diesen Eindruck: Das Vokabular mancher AutorInnen wirkt „alt-mütterlich“ und unwissenschaftlich. Emotionale Schreibweisen wie z. B. „liebenswürdige Schwester“ oder die „herzliche und originelle Mutter Meyerbeers“ wirken einer Etablierung kontraproduktiv entgegen (siehe Wilhelmy-Dollinger, Singen, konzertieren, diskutieren, S. 147 und 149). 638 Wilhelmy-Dollinger, Der Berliner Salon und Dies., Die Berliner Salons. Siehe auch Deborah Sadie Hertz, Die jüdischen Salons im alten Berlin. Frankfurt a. M. 1991 (zuerst 1988 in New Haven unter dem Titel Jewish High Society in Old Regime Berlin erschienen, ND Syracuse / NY 2005), und Emily D. Bilski / Emily Braun, Jewish Women and their Salons. The Power of Conversation, Ausstellungskatalog, New Haven 2005. 639 Siehe Lund, Der Berliner „jüdische Salon“, S. 12–16, 30–52 und 113–124. 640 Gradenwitz, Literatur und Musik. 641 Andreas Ballstaedt / Tobias Widmaier, Salonmusik. Zur Geschichte und Funktion einer bürgerlichen Musikpraxis (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 28), Stuttgart 1989. 642 Siehe Wilhelmy-Dollinger, Singen, konzertieren, diskutieren, S. 141–170.
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Um 1800 lassen sich sechs Berliner Salons als im engeren Sinne musikalische Salons bezeichnen: Der Salon der Prinzessin Luise (Frau des Fürsten Anton Radziwill und Schwester Prinz Louis Ferdinands), der Herzogin Dorothea von Kurland, der Elisa von der Recke, der Amalia Beer,643 der Elisabeth Graun-Staegemann644 und der Sara Levy. Der Salon Sara Levys bildete den einzigen Salon, in dem Bach und seine Söhne rezipiert wurden. 2. Der Salon Sara Levys Die Öffnung von Levys Salon ist auf die Mitte der 1780er Jahre zu datieren. Damit gehört ihr Salon zu den ersten in Berlin, noch dazu ist er der erste, der eine spezifisch musikalische Ausrichtung vorweist. Sie führte ihn kontinuierlich bis zu ihrem Tod im Jahr 1854. Während seiner Blütezeit um 1800 empfing sie täglich zum Tee und am Wochenende zu ausgiebigen „Diners“.645 Ihre Nichte Lea Mendelssohn Bartholdy bezeugt: „Tante Levy hat an ihrem Sonnabend immer Menschen bei sich; man ist gewiß, sie und auch andre zu finden […].“646 Ihr Salon bildete den zentralen Knotenpunkt ihres sozialen Netzwerks und kann selbst als Akteur eines „größeren dicht gewebten geselligen Netzes, das sich weit über Berlin und in andere Orte erstreckte“647 verstanden werden. Salon als Musikraum „Bei Mad. Levy wurde zur großen Musik geladen“,648 „[…] Beethoven hat einmal bei ihr gespielt.“649 und „Sonnab. bei Tante Levy. Es ward ein Melodram mit Musik v. Marx gegeben.“650 Diese drei kurzen Erwähnungen stellen die einzigen Zeugnisse dar, die auf eine explizite musikalische Aufführung bei Sara Levy hinweisen.
643 Vgl. an Forschungen zur Familie Beer und dem Salon der Amalia Beer: Sven Kuhrau / Kurt Winkler (Hgg.), Juden, Bürger, Berliner. Das Gedächtnis der Familie Beer-Meyerbeer-Richter, Berlin 2004, erschienen anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Märkischen Museum Berlin im Jahr 2004, wie auch den dort veröffentlichten Aufsatz von Sven Kuhrau, Amalia Beer. Salondame, Wohltäterin und Patriotin. Das Programm einer individuellen Akkulturation, S. 49–66. 644 Vgl. zu den vorhergenannten Wilhelmy-Dollinger, Die Berliner Salons, S. 145 ff. 645 Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 351. 646 Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 187, Brief an Henriette von Pereira-Arnstein vom 24. März 1826. Verschiedene Berichte bezeugen Sara Levys Salonzusammenkünfte, wie z. B. der Bericht von Henriette Herz in: Rainer Schmitz (Hg.), Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Frankfurt a. M. 1984, S. 183 f. Vgl. auch Kayserling, Die jüdischen Frauen in der Geschichte, S. 228. 647 Lund, Der Berliner „Jüdische Salon“, S. 7. 648 Karl August Varnhagen von Ense, Ludwig Achim von Arnim und Moritz Itzig, in: Ders., Biographien, Aufsätze, Skizzen, Fragmente, (= Bd. 4 der Werke in fünf Bänden), hgg. von Konrad Feilchenfeldt / Ursula Wiedenmann, Frankfurt am Main 1990, S. 674–680, hier S. 674. Vgl. auch Wilhelmy-Dollinger, Musikalische Salons in Berlin, S. 76, Anm. 22. 649 Erman, Paul Erman, S. 96. Mutmaßlich fand dieser Auftritt Beethovens in ihrem Salon im Jahr 1796 statt, als Beethoven die Sing-Akademie zu Berlin besuchte. Vgl. Wilhelmy-Dollinger, Musikalische Salons in Berlin, S. 21. 650 Fanny Hensel, Tagebücher, hgg. von Hans Günther Klein / Rudolf Elvers, Wiesbaden 2002.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Konkrete Details über Ablauf und Aufführungssituation der in ihren Räumen stattfindenden musikalischen Zusammenkünfte sind nicht überliefert. Folgender Abschnitt nähert sich dem Gegenstand von der Peripherie, das heißt von den Konstituenten, die die musikalischen Darbietungen ermöglichten und die diese heute rekonstruierbar machen. Das sind die räumliche Konstitution ihres Hauses, die Gäste ihres Salons und die Instrumente, die Einblick geben können, ob und wie dort in ihrem Haus Musik aufgeführt wurde. Zentraler Aspekt für die Realisation von Bach-Aufführungen war der Besitz von Bach-Handschriften, ggf. auch mit geeignetem Stimmenmaterial.651 Raum Ab wann Sara Levy das von ihrem Vater vermachte Palais Hinter dem Neuen Packhof auf der Spreeinsel bezog, ist unklar. Im Nachruf in der Neuen Preußischen Zeitung wird berichtet, dass sie ab 1795 das „ihr gehörige Haus“652 auf der heutigen Museumsinsel bewohnt hat. Da sie nachweislich ab Mitte der 1780er Jahre eigene Salongeselligkeiten veranstaltete, stellt sich die Frage, wo diese stattgefunden haben mögen. Vorstellbar ist es, dass sie unmittelbar nach der Eheschließung mit Samuel Salomon Levy am 2. Juli 1783 in ihr eigenes Haus zog.653 Die Zeitgenossin Fanny Lewald beschreibt Sara Levys Palais folgendermaßen: Zweistöckig, mit breiten, flach gelegten Treppen, mit räumigen Fluren, mit großen, hohen, Zimmern, machte es einen sehr ansehnlichen Eindruck in dem weiten, gepflasterten und mit einer Mauer eingeschlossenen Hofe, welcher die vordere Seite des Hauses umgab und dessen alte Bäume demselben aus mäßiger Ferne Schatten verliehen, während sich hinter dem Hause der große Garten ausdehnte. […] In den großen Sälen, die nur ein oder ein paar Mal im Jahre geöffnet wurden, glaubte man sich um ein halbes Jahrhundert zurückversetzt […].654
Als mondän und großangelegt erscheint Sara Levys Palais auch auf dem Panorama von Johann Friedrich Tielker.655 Wie groß die „großen Säle“, von denen Fanny Lewald spricht, tatsächlich waren, ist im Nachhinein kaum zu beurteilen. Dass sie geeignet waren für die Aufführung von Orchesterwerken, z. B. für das Klavierkonzert von Bach, ist anzunehmen.
651 Vgl. das Kapitel Bach sammeln (Teil III, Kap. 3.2.1). 652 Neue Preußische Zeitung, Nr. 111, 13. Mai 1854 (D-B, Handschriften, Nachlässe und Autographen: Nr. 343 Familienarchiv Emil Cauer, Kasten 3 Sara Levy). Vgl. auch Friedrich Nicolai, Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlichen Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend, 4 Bde., 3. völlig umgearbeitete Aufl. Berlin 1786, der in Bd. 1, S. 72, schreibt: „Der berühmte Sulzer ließ es 1749 nach Diterichs Zeichnung bauen. Nachher ward die Stirnwand nach der Straße vergrössert.“ 653 Unweit der Spreeinsel in der Burgstraße lagen die Häuser weiterer Familienmitglieder (das ihres Vaters u. a.) und in direkter Nachbarschaft am Neuen Packhof Nr. 2 wohnte ihre Schwester Bella Salomon und im Haus Nr. 5 Abraham Friedländer, ein Bruder ihres Schwagers David Friedländer. Die Familienmitglieder der Familie Levy wohnten zueinander in unmittelbarer Nähe. Vgl. Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 85 f. 654 Lewald, Meine Lebensgeschichte, Bd. 3, S. 88. 655 Aquarelle von Johann Friedrich Tielker um 1805. Ehemals Märkisches Museum Berlin (verschollen). Abbildung nach Stengel, Märkisches Museum, S. 37.
3. Mikro-Blick Sara Levy: Bach praktizieren im Salon
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Blickt man auf die Gäste und ihre musikalische Betätigung, so wird deutlich, dass zwischen Ausführenden und Auditorium keine starre Trennung herrschte, sondern dass die Übergänge zwischen Ausführung und Rezeption fließend waren. Denn eine Vielzahl der Gäste ihres Salons waren Mitglieder der Sing-Akademie, Berufsmusiker oder Komponisten. Es kann davon ausgegangen werden, dass der beständige Rollentausch zwischen Interpretierenden und Hörenden, vor allem aber die Unmittelbarkeit des Interpretierens selbst für eine sehr intime Aufführungssituation sorgte. Für ein Wechselspiel zwischen den Praktiken des Hörens und des Spielens sorgte auch der Austausch über Musik, der mit Worten das Aufführen und Hören von Musik überbrückte. Wie attraktiv ihr Salon auch für Literaten und Philosophen war, bezeugen Gäste wie E. T. A. Hoffmann, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher und Alexander von Humboldt. Thomas Kabisch hebt die wichtige Funktion des Austauschs in einem musikalischen Salon hervor: Auch für die Musik steht die alle Teilnehmer umfassende Konstellation des Austauschs im Vordergrund. Sie äußert sich in der Musizierpraxis im Salon dadurch, dass die Grenze zwischen Ausführenden und Zuhörern durchlässig ist.656
Der hier akzentuierte Austausch zwischen den Akteurinnen und Akteuren des Salons lässt sich mit Blick auf Sara Levys Salon noch weiter differenzieren. Ihr Salon kann den Gedanken des Austauschs weiterführend auch als musikbezogener Wissensraum verstanden werden, an dem sowohl neues Wissen produziert als auch bestehendes Wissen verstetigt wurde.657 Mit Blick auf die Rezeption von Bachs Musik wurde hier neues Wissen produziert, weil Kompositionen J. S. Bachs außerhalb eines theoriefokussierten Diskurses zu gesellschaftlichen Ereignissen wurden, d. h. überhaupt in gesellschaftlichen Kreisen bekannter wurden. Darüber hinaus wurden sie in Sara Levys Salon als vereinbar mit dem zeitgenössischen Musikgeschmack verstanden und in direkte Verbindung mit den Kompositionen seiner Söhne gebracht. Diese Aspekte kennzeichnen Sara Levys Salon im Sinne eines Labors, an dem neue Aufführungs- und Rezeptionskontexte erprobt wurden. Verstetigt und bewahrt wurde musikbezogenes Wissen in Form von Sara Levys Sammlung an BachMusikalien. Eine zentrale Rolle für die Konstitution des musikbezogenen Wissens nehmen selbstverständlich die Gäste des Salons selbst ein. Gäste Die Gäste von Sara Levys Salon gehörten zu ihrem sozialen Netzwerk oder wurden ihr empfohlen. Ihr Salon zählte sowohl international als auch national zu einer zentralen Anlaufstelle in Berlin. So heißt es im Nachruf von 1854: „Ihr Haus 656 Thomas Kabisch, Musik im Salon. Konvention und Nuance, in: Musiktheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 23/2 (2008), S. 110–114, hier S. 114. 657 Susanne Rau definiert „Wissensraum“ als Ort, an dem sich Wissen konstituiert: „Wissensräume können […] Orte der Wissensproduktion und der Wissensverstetigung sein: Labore, Akademien, Sammlungen, Wunderkammern, Bibliotheken.“ Siehe Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einführungen Bd. 14), Frankfurt a. M./New York 2013, S. 177.
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war, namentlich in frueheren Zeiten, ein Sammelpunkt aller edlen und bedeutenden Männer und Frauen.“658 Vor allem während der französischen Besatzungszeit, in der ihr Salon als einziger in Berlin fortbestand, wurde er zu einem Treffpunkt sowohl von Angehörigen der französischen Besatzungstruppen als auch des preußischen Militärs. Wie ihre zahlreichen Musikkontakte bestätigen, war ihr Salon Treffpunkt für Musikerinnen und Musiker. Auch ihre Nachbarn, die in ihrem Palais und den Nebengebäuden wohnten, sind als Gäste des Salons auszumachen. Anscheinend war eine gewisse musikalische Neigung potentieller Mieter überhaupt Voraussetzung, um in einem ihrer zur Vermietung stehenden Apartments wohnen zu können. Auffallend ist, dass unter ihren Mietern die Mehrzahl Mitglieder und Solisten der SingAkademie waren,659 so z. B. Sidonie Voitus geb. Pappritz, Ernestine Voitus und die Familie des Staatsrats Wilhelm Uhden, mit dessen Frau sie befreundet war.660 E. T. A. Hoffmann beschreibt Sara Levys Salon im Brief vom 7. Juli 1708 bereits als Treffpunkt von Musikern: „Morgen werde ich bey M[adame] L[evi] Zelters Bekanntschaft machen!“661 Zum Kreis der Musiker, die sich um Sara Levy versammelten, gehörten: C. Fr. Zelter, Fanny Hensel, Felix Mendelssohn Bartholdy, die Sängerin Anna Milder Hauptmann, der Bach-Sammler Georg Poelchau, der Organist und Komponist Johann Georg Witthauer, Constanze Mozart und Aloisia Lange, geb. Weber. Allein die verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Akteurinnen und Akteure (Dilettanten, Berufsmusiker, Komponisten, Musikliteraten) als auch die Diversität der sozialen Herkünfte insgesamt (Angehörige des Militärs, französische Besatzungsmitglieder, Aristokraten, Bürgerliche) macht deutlich, dass in Sara Levys Salon unterschiedliche Expertisen und Wissensstände zusammenkamen. Um dieser Heterogenität an musikbezogenem Wissen und der Vielfalt an sozialen Rollen zu begegnen, musste ein permanenter Erfahrungs-, vor allem aber Wissensaustausch stattgefunden haben. Dieser Austausch kann im Sinne einer kontinuierlich stattfindenden, musikbezogenen Wissensvermittlung verstanden werden.662 Instrumente Über den Verbleib der in ihrem Testament erwähnten „Instrumente u. Musicalien“, von denen sich die „Musicdirectoren Lecerf, Rungenhagen und Bach […] das Ihnen 658 Nachruf in der Haude- und Spenerschen Zeitung vom 12. Mai 1854. In den Briefen von Ludwig Börne finden sich ähnliche Beschreibungen der Gäste. Siehe Ludwig Börne, Berliner Briefe, nach den Originalen mit Einl. und Anm. hg. von Ludwig Geiger, Berlin 1905, vor allem S. 31. 659 Vgl. Wilhelmy-Dollinger, Musikalische Salons in Berlin, S. 22. 660 Vgl. Mendelssohn Bartholdy, „Ewig die deine“, S. 483, Brief von Lea Mendelssohn Bartholdy an Henriette von Pereira-Arnstein vom 21. Juli 1840. 661 E. T. A. Hoffmann, Briefwechsel, Bd. 1, S. 213. 662 Robert Simanowski betont die Funktion des Salons als eine Vermittlungsinstanz, sowohl zwischen den sozialen Ständen als auch zwischen unterschiedlichen Wissensständen. Siehe Robert Simanowski, Einleitung. Der Salon als dreifache Vermittlungsinstanz, in: Ders. (Hg.), Europa – Ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons, Göttingen 1999, S. 8–39, hier S. 13.
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Zusagende“663 aussuchen durften, sind keine Hinweise überliefert. Es ist allerdings bekannt, dass sie mehrere Instrumente der Instrumentenbauerfamilie Silbermann besessen hat.664 Johann Friedrich Silbermann schreibt: „Solten, Madam, geneigt seyn das eine oder andere erwähnte Instrument kommen zu lassen, so bitte Dieselben gütigst davon Nachricht zu geben um meine Massregeln darnach nehmen zu können.“665 Dass die Wahl auf Instrumente der Silbermann-Familie fällt, ist nicht ohne Bedeutung für die Einschätzung ihrer Bach-Rezeption. C. P. E. Bach spielte als Hofcembalist Friedrich des Großen auf Hammerflügeln Gottfried Silbermanns.666 Auch J. S. Bach bestellte in der Straßburger Werkstatt seine Instrumente. In Fragen des Instrumentenbaus und der Klangästhetik nimmt sie sich den Geschmack der Familie Bach zum Vorbild. Ihre Schwester Recha Itzig bestellte beispielsweise bei der Firma Oesterlein und Lea Mendelssohn Bartholdy bei dem Wiener Instrumentenbauer Johann Andreas Streicher. Die Tasteninstrumente aus der SilbermannWerkstatt zu beziehen, scheint somit eine bewusste Entscheidung gewesen zu sein. Mit Blick auf ihre Notensammlung ist hinsichtlich der Tasteninstrumente davon auszugehen, dass sie sowohl Cembali als auch Fortepianos besaß, wie dies beispielsweise das Doppelkonzert von C. P. E. Bach erforderte. Aber auch Kammermusik, wie z. B. Bachs Sonaten für Violine und Cembalo, sein Cembalo-Konzert in d-Moll und Konzerte für zwei Cembali, mit denen sie analog zu den Fließschen Konzerten mit ihrer Schwester Zippora Wulff auftrat, können auf dem Programm gestanden haben. Im Jahr 1876 wird rückblickend über den Besuch Beethovens bei ihr erwähnt, dass „[…] das Klavier, dessen er sich bediente, heut noch vorhanden [ist] und, wenn wir nicht irren, im Besitze des Prinzen Georg von Preußen“.667 Der Besitz wertvoller Tasteninstrumente gehörte in der Großfamilie Itzig-LevyMendelssohn zur Musikpraxis dazu.668 3. Transfer von Praktiken als Voraussetzung des Salons von Sara Levy Oft wird der Salon als ein Ort bürgerlicher Emanzipation gesehen, der paradigmatisch die Idee einer bürgerlichen Musikkultur abbildet, die aus einem Bruch mit bis 663 Testament von Sara Levy, abgedruckt in Wollny, Beiträge 2, S. 57 ff. 664 Vgl. den Brief von Johann Friedrich Silbermann an Sara Levy, Straßburg, den 12. Januar 1794 (D-B, Handschriftenabteilung, Nachlass 434 Cauer), abgedruckt bei Wollny, Beiträge 2, S. 53. Siehe auch Dieter Krickeberg, Zur sozialen Funktion des Fortepianos vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1850, in: Boje Schmuhl / Monika Lustig (Hgg.), Geschichte und Bauweise des Tafelklaviers. 23. Musikinstrumentenbau-Symposium, Michaelstein, 11.–13. Oktober 2002 (Michaelsteiner Konferenzberichte 68), Augsburg/Blankenburg 2006, S. 61–66. 665 Brief von Johann Friedrich Silbermann an Sara Levy, Straßburg, 12. Januar 1794 (D-B, Handschriften, Nachlässe und Autographen: Nr. 343 Familienarchiv Emil Cauer, Kasten 3 Sara Levy), abgedruckt bei Wollny, Beiträge 2, S. 53. 666 Vgl. Dieter Krickeberg, Clavichord und Fortpiano bei Carl Philipp Emanuel Bach – Ästhetische Aspekte, in: Hans Joachim Marx (Hg.), Carl Philipp Emanuel Bach und die europäische Musikkultur des mittleren 18. Jahrhunderts, Göttingen 1990, S. 405–410, hier S. 408. 667 Vossische Zeitung vom 9. Juli 1876 (Nr. 158, Sonntags-Beilage Nr. 28), S. 1, letzte Spalte. 668 Recha Itzig, die bei Sara Levy wohnte, schenkte der Jüdischen Freischule 1826 einen „Osterleinschen Doppelflügel“. Vgl. dazu Keuck, Hofjuden und Kulturbürger, S. 303.
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dato geltenden höfischen und klerikalen Voraussetzungen entstanden sei. Dies betrifft im Kontext der Berliner Salons vor allem den Gedanken einer „Akkulturation“ von Juden in die christlich-deutsche Gesellschaft. Wie bereits erläutert, wird hier zur Beschreibung der religiösen, sozialen und politischen Transferprozesse zwischen deutsch-jüdischen und deutsch-christlichen Traditionen in den Salons nicht der Begriff Akkulturation, sondern Transkulturation verwendet.669 Er richtet den Fokus auf die Durchmischung der Traditionen, ohne dabei eine einseitige, nur von einer Religion oder Kultur ausgehende Beeinflussung vorauszusetzen. Im Zentrum einer Transkulturation stehen die durch Transferprozesse verschiedener Art neu entstandenen kulturellen Phänomene. Im Falle des Berliner Salons wird meist die Konvertierung zum Christentum, die die Mehrheit der Berliner Salonnières vollzogen haben (u. a. Henriette Herz und Rahel Varnhagen), als Beweis dafür geltend gemacht, dass der Salon die neue bürgerliche Idee verkörpere. Musikinteresse und Musizieren wird als Ausdruck von Bürgerlichkeit und Distanzierung von jüdischer Lebenstradition gedeutet.670 Diese Argumentation soll an dieser Stelle kritisch hinterfragt werden und am Beispiel Sara Levys deutlich gemacht werden, dass statt von einem Neubeginn von einem Transferprozess von Praktiken zu sprechen ist. Dazu richtet sich der Blick im Sinne der Praxistheorie auf die Historizität der Praktiken.671 Sara Levy hält trotz Führung eines musikalischen Salons an jüdischen Lebensformen fest. Sie konvertiert nicht und auch ihr Salon steht in keinem Widerspruch zu ihrer familialen und religiösen Herkunft. Ihr Salon entwickelte sich aus den in der Itzig-Familie erprobten Praktiken wie z. B. der des Führens eines offenen Hauses. Dazu zählten das Einladen von Gästen, das Engagement für soziale Zwecke sowie die Idee, durch bildende Kunst (bei Daniel Itzig) bzw. durch Musik (bei Sara Levy) Gemeinschaft zu fördern und sich selbst darin zu positionieren. Diese, ursprünglich der jüdischen Religionspraxis zugewiesenen, Praktiken werden durch Sara Levy umgedeutet, d. h. in Bezug auf Musik transferiert. Ihr Salon war nicht länger nur ein offenes Haus für jüdische Bürger und Mitglieder der jüdischen Gemeinde, sondern richtete sich an das musikinteressierte und musikalisch-professionelle Berliner Bürgertum. Die Praxis ihres Elternhauses, Gemeinschaft durch Kunst zu fördern, erfuhr bei Sara Levy nicht nur eine Professionalisierung im Hinblick auf Musikaufführungen und musikbezogenes Wissen, sondern auch eine Spezialisierung, nämlich auf die Aufführung und Rezeption von Bachs Musik. Bemerkenswert ist außerdem, dass Sara Levy – anders als ihre Eltern – aus der Rolle der Kulturförderin heraustritt und als Cembalistin und Bachexpertin selbst zur Kulturschaffenden wird. Levys Salon stellt weniger einen Bruch mit dem Gemeinschaftsmodell ihres Elternhauses dar, sondern ist das Ergebnis einer Umsetzung bereits erprobter Praktiken aus dem jüdisch-religiösen in einen neuen bürgerlichen Bereich hinein. Bei Sara Levy stellt die innerfamiliale, jüdische Tradition diese routinierten Praktiken zu Verfügung, die die Grundlage für ihre Bach-Rezeption legten. Das Öffnen des eigenen Hauses für kollektive Kunsterfahrung im Haus ihrer Eltern bil669 Vgl. dazu Fußnote 475. 670 Vgl. Weber, Jupiter tonans im Bild, S. 163. 671 Vgl. das Kapitel Historizität von Praktiken (Teil I, Kap. 2.3).
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det die Voraussetzung für ihre Musikaufführungen im Rahmen einer offenen Gesellschaft. Auf Bach bezogen, heißt das: Die Ausrichtung auf die mit Kirnberger profilierte Theorie des reinen Satzes bei Daniel und Mirjam Itzig führte bei Sara Levy zur Integration J. S. Bachs in die zeitgenössische Musikästhetik, wie sie durch C. P. E. Bach geprägt war. Während beispielsweise im Bürgerhaus der Leipzigerin Henriette Vogt in den 1830er Jahren Bach als Klavierkomponist neben Schubert, Beethoven und Chopin eingereiht wird,672 entwickelt Sara Levy ein eigenes Geschmacksprofil. J. S. Bach wird in unmittelbarer Vergleichbarkeit mit seinen Söhnen gesehen, ein Repertoirekanon, mit dem sich ihr Künstlerprofil von anderen bürgerlichen Haushalten unterschied. Damit konnte sie bewusst geschmacksbildend wirken und Einfluss auf die Musikkultur nehmen.673 Neben familialen Praktiken sind auch andere Vorbilder für ihre Art zu nennen, einen Salon zu führen. Sie sind in den sogenannten Lesegesellschaften zu finden, in denen der gemeinschaftliche Austausch über Literatur im Zentrum steht. Diesen Austausch bewertet James Melton als einen zentralen Baustein Berliner Salons: „The aim of conversation was to give pleasure to all participants by enabling each to contribute.“674 Während die Musik J. S. Bachs in Diskursen nach 1750 primär auf musiktheoretischer Ebene geführt wurde, zeugen Akteurinnen und Akteure, wie die Familie Itzig, von einem regen musikästhetischen Austausch, z. B. in engem Kontakt mit J. Ph. Kirnberger und seiner Lehre. Im Salon Sara Levys wird der musiktheoretische Diskurs vertieft und ausdifferenziert, indem eine Vielzahl musikalischer Akteurinnen und Akteure – Musikliteraten wie E. T. A. Hoffmann, Musikinterpreten wie Anna Milda-Hauptmann und C. Fr. Zelter, Musiksammler wie Georg Poelchau, Komponisten wie Johann Georg Witthauer – Teil des Austausches sind. Bachs Musik wird aus den theoretisch-pädagogischen Diskursen der BachSchüler- und Bach-Söhne-Generation in einen praktisch-gesellschaftlichen Kontext überführt und durchläuft dabei einen Transformationsprozess. Die Musik Bachs und das Wissen über Bach werden durch die Aufführungs- und Geselligkeitspraxis des bürgerlich-musikalischen Salons von Sara Levy verändert. Bachs Musik erhält gesellschaftliche Relevanz außerhalb des theoriefokussierten Diskurses und wird Bestandteil eines Aufführungsformats, welches das des modernen Konzertwesens vorbereitet. Im Fall Sara Levys herrschten Voraussetzungen – neben ihrem finanziellem Kapital vor allem eine ausgeprägte Erfahrung Kultur und Gesellschaft miteinander zu verbinden –, die für diese Konstitution eines bürgerlichen Musikraums besonders förderlich waren. Die Rezeption J. S. Bachs ist nicht nur als Ergebnis dieser Konstitution in Form eines bürgerlichen Musikraums, sondern vor allem als Medium zu verstehen, mit dem dieser Musikraum konzipiert wurde. 672 Siehe Mirjam Gerber, „Der Musiker, schien es, war Herr im Haus, die Musik die oberste Göttin“ – Leipziger Bürgerhäuser des Vormärz und ihre Musikpraxis am Beispiel von Henriette Vogt, in: Beiträge 4, S. 223–235, hier S. 233. 673 Zur Funktion des Geschmacks im Musiksalon vgl. Gradenwitz, Literatur und Musik, vor allem S. 113 ff. 674 James Van Horn Melton, The Rise of the Public in Enlightenment Europe (New Approaches to European History 22), Cambridge/New York 2001, S. 202.
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Jürgen Osterhammel bezeichnet die Salons jüdischer Gastgeberinnen im Berlin nach 1780 als eine „Sonderform“675 der Salonkultur. Den Beginn der Berliner Salonkultur allgemein und auch die spezifisch musikalischen Salons datiert er auf die Jahre nach 1815. Unklar bleibt allerdings bei Osterhammel, wie der allgemeine Berliner Salon mit dem der Jüdinnen im Zusammenhang steht. Statt verschiedene Ausprägungen und Entwicklungsstufen innerhalb der Berliner Salonkultur wie Osterhammel vorschlägt getrennt zu denken, bewertet der hier am Beispiel Sara Levys vorgestellte Transfer von jüdischen Praktiken das Anknüpfen und Zusammenwachsen von deutsch-jüdischen und deutsch-christlichen Geselligkeitskulturen im Sinne einer Transkulturation. Finanzielle Autonomie, ein durch ihre lange Witwenschaft erweiterter Handlungsradius, ein großes kommunikatives Netzwerk, in dem sie Kontakt zu Protagonisten der Bach-Rezeption knüpfte, musikalisch-technische Fähigkeiten als BachInterpretin und der Besitz zahlreicher Bach-Handschriften bildeten die Voraussetzungen für diesen auf Bach spezialisierten musikalischen Salon, der gleichsam als Übergangsphänomen im Prozess der Etablierung Bachs im modernen Konzertwesen bewertet werden kann. 4. ZUSAMMENFASSUNG: BACH PRAKTIZIEREN In den vorangegangenen Analysen wurden die Musikräume Berlins hinsichtlich der dort etablierten Bach-Rezeptionspraktiken untersucht. Es entstand das Bild eines dicht verzweigten Netzes an vielfältigen Praxisformen. Unter dem Stichwort Transfer wurde gezeigt, dass der Hof – als hybrider Handlungsraum – große Relevanz besaß für die Herausbildung der für die Bach-Rezeptionspraxis erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten. Sowohl bezüglich materialer Praktiken, wie die des Abschreibens und Druckens von Musikalien Bachs als auch in Bezug auf didaktisch-methodische Praktiken, wie die des Unterrichtens, zeigen sich höfische Musikakteure verantwortlich. Sie wirkten als Kopisten, stellten Handschriften zur Abschrift zu Verfügung, kommunizierten mit Bach-Sammlerinnen und -Sammlern und stellten so ein materiales Depot an Musikalien sowie eine musikalisch-technische und musikalisch-ästhetische Expertise zur Verfügung, die im Austausch mit Akteurinnen und Akteuren des Berliner Bürgertums die Grundlage für die frühe Bach-Rezeptionspraxis konstituierten. Aber auch die aus der höfischen Praxis habitualisierten Praktiken, wie z. B. der stark reglementierte Ablauf einer Musikaufführung und der beschränkte Zutritt der Öffentlichkeit, waren Vorbilder, an denen sich Bach-Räume im außerhöfischen Kontext orientierten. Dies betrifft die musikalischen Gesellschaften, für die die Vermischung höfischer Praktiken mit Geselligkeitspraktiken der aufkommenden Berliner Kulturelite, wie sie sich in Lesegesellschaften und Vereinen manifestieren,676 geradezu charakteristisch war. Ebenso stellte die höfische Repräsentationskultur eine wirkungsstarke 675 Osterhammel, Übergänge ins 19. Jahrhundert, S. 33. 676 Vgl. hierzu die Ausführungen über das Berliner Vereinswesen um 1800 in Uta Motschmann, Die Liedertafel im Kontext des Berliner Vereinswesens um 1800, in: Integer vitae. Die Zelter-
4. Zusammenfassung: Bach praktizieren
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Ebene dar: Wenn Angehörige des Hofes bei Aufführungen anwesend waren, wurden diese explizit erwähnt. Mit ihrer Anwesenheit erfuhr die Veranstaltung eine deutliche Aufwertung. Durch die kommunikative Praxis des Musikunterrichts wurde Wissen und Material ausgetauscht und Transferprozesse ermöglicht. Mittels des Unterrichtens konnten höfische Musikakteure sowohl ihre Bach-Expertise als auch habitualisierte höfische Praktiken auf die Musikpraxis des Berliner Bürgertums übertragen. BachRezeption ist daher zu allererst im Haushalt anzutreffen, einem Musikraum der sogenannten bürgerlichen Häuser Berlins. Bach-Rezeptionspraxis entstand meist im Umfeld des Unterrichts für die dort im Haushalt lebenden Kinder. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist die Familie Itzig. Einige ihrer Kinder wurden durch J. P. Kirnberger und W. F. Bach unterrichtet und gerieten dadurch sowohl auf musikästhetischer als auch auf materialer Ebene in direkten Kontakt mit der BachRezeptionspraxis, die von den höfischen Musikern bzw. von den im Umfeld des Hofes angesiedelten Musikern etabliert worden war. Auch der Unterricht bildete eine Grundlage für den Kontakt zu anderen Akteuren der frühen Bach-Rezeption. Eine ähnliche Struktur bestimmt auch den Haushalt der Familie von Voß, deren Unterrichts- und Aufführungspraxis bachscher Kompositionen maßgeblich durch den, dem höfischen Umfeld nahe stehenden, Musikpädagogen, Bach-Sammler und Kopisten J. Fr. Hering beeinflusst wurde. Anders als die höfische Musikpraxis am Hof in Potsdam, zeichnet sich die Nebenhofhaltung von Anna Amalia als ein Musikraum aus, der vor allem auf materialer Ebene Relevanz für die Bach-Rezeption besaß. Ihr Bestand an Bach-Musikalien stellt die erste Verfestigung des Materials als eine geschlossene Musikaliensammlung dar. Sowohl van Swieten als auch Zelter profitierten nachweislich von Anna Amalias Bach-Handschriften. Zudem war ihre Nebenhofhaltung ein Knotenpunkt von Bach-Schülern (Agricola, Kirnberger) und Bach-Söhnen (C. P. E. und W. F. Bach), was sowohl in materialen (Austausch von Bach-Material) als auch in didaktisch-methodischen (Unterricht durch Kirnberger) und in kommunikativen Praktiken (Netzwerk von Bach-Rezipienten) zum Ausdruck kommt. Ihr Profil als Bach-Rezipientin ähnelt dem Sara Levys: Eine große Affinität zur Tastenmusik Bachs, das Anlegen einer Sammlung, finanzielles Kapital zum Einstellen eines Lehrers und ein vergleichbarer sozialer Stand als alleinstehende (ledige bzw. verwitwete) und kinderlose Frau, der ähnliche Freiräume zur Gestaltung von Musikpraxis zuließ. Während das Spielen eines Tasteninstruments und das Sammeln von Bach-Musikalien als Rezeptionspraktiken bezeichnet werden können, die großenteils verbreitet und als allgemein geltende Grundvoraussetzung beschrieben werden können, stellt die Kombination aus finanziellem Kapital und sozialem Status ein Kriterium dar, das für das Konstituieren eines Bach-Raumes durch weibliche Akteurinnen wichtig wurde. Wie eingangs erörtert, ist die lange Witwenperiode und die finanzielle Unabhängigkeit Sara Levys in einem engen Wechselverhältnis mit ihrem kulturellen Engagement zu sehen.677 sche Liedertafel als kulturgeschichtliches Phänomen (1809–1832) (Berliner Klassik. Eine Großstadt Kultur um 1800, Bd. 20), Hannover 2014, S. 147–167. 677 Vgl. das Kapitel Biographische Kontexte (Teil III, Kap. 3.1.3).
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
Für zahlreiche Rezeptionspraktiken im Haushalt ließen sich Verbindungen zum musikästhetischen Diskurs J. P. Kirnbergers zurückverfolgen. Am Beispiel der Familie Itzig wurde deutlich gemacht, dass die unter Moses Mendelssohn etablierte Verknüpfung von musikästhetischen Inhalten und Reformbestrebungen der aufgeklärten jüdischen Elite die Grundlage der Affinität vieler jüdischer Akteurinnen und Akteure für die Musik J. S. Bachs bildete. Die Werke Bachs besaßen für Kirnberger Bedeutung als prototypische Kompositionen im Sinne des reinen vierstimmigen Satzes. Akteurinnen und Akteuren der jüdischen Aufklärung galten diese Kompositionen wiederum als Paradebeispiel eines rational erklärbaren Musikwerks. Diese Schnittstelle zwischen musikästhetischem und jüdischem Diskurs ist für das Verstehen der Bach-Rezeptionspraxis wesentlich. Neben dem Einfluss, den die höfischen Musiker (d. h. die am Hof angestellten Bach-Söhne und Bach-Schüler) auf die Verankerung Bachs in der bürgerlichen Gesellschaft hatten, kann die Affinität der jüdischen Gesellschaft zur Musik Bachs als ein zentrales Element im Entwicklungsprozess der Bach-Rezeption verstanden werden. Es konnte gezeigt werden, dass die frühe Phase der Bach-Rezeption durch eine Bündelung von Rezeptionspraktiken gekennzeichnet ist. Bach zum Gegenstand von Unterricht zu machen, bedeutete, geeignetes Noten- und Instrumentenmaterial zu besitzen und sich der Bedeutung von Bachs Musik bewusst zu sein und die Musik zu konzeptualisieren, d. h. Teil der diskursiven „Bach-Community“ zu sein und entsprechend an aktuellen Diskursen teilzunehmen. Bach „salonfähig“, ihn zum Gegenstand von musikalisch-praktischer Aufführung und musikästhetischer Reflexion in Geselligkeit zu machen, bedeutet – neben der materialen Beschaffung von Noten und Instrumenten – einen geeigneten Raum zu schaffen, der neben musikalisch-praktischen Kriterien, wie der Größe des Raumes und geeignetem Platz für Musikerinnen und Musikern, musiksoziologischen Kriterien folgt. Gesellschaften, wie solche, die sich im Rahmen von Salons zusammenfanden, folgen bestimmten, meist unausgesprochenen Regeln, was z. B. die Durchmischung der Gäste hinsichtlich des Standes, der Religion, der Nationalität und des Geschlechts angeht. Wird in diesem Kontext Bach gespielt, gehört, beurteilt oder reflektiert, müssen diese für den Salon konstitutiven Regeln berücksichtigt werden – z. B. durch eine passende Werkauswahl. Die verschiedenen in den vorangegangen Kapiteln beschriebenen Rezeptionspraktiken stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern treffen sich immer wieder an Knotenpunkten, wie der Salon einen darstellt. Hier wird deutlich, wie disparat die im Forschungsdiskurs angenommene Fokussierung auf die kompositorische und öffentlich-interpretatorische Auseinandersetzung im Verhältnis zu den Quellen steht. Statt einer ideologisch überformten Bedeutung, die dem Werk als autonome Kraft in solchen Geschichtsbildern beigemessen wurde und durch die eine Vielzahl an Rezeptionspraktiken und deren Trägerinnen und Träger nicht bedacht wurden, betonen die hier beschriebenen Verknüpfungsprozesse die Dynamik vieler miteinander assoziierender Rezeptionspraktiken. Vor allem mit Bezug auf die Bach-Praxis im Haushalt und im Saal wurde immer wieder die Grenzziehung bzw. die Verwischung zwischen Proben- und Aufführungsraum thematisiert. Offene Strukturen im Umgang mit aufführungskenn-
4. Zusammenfassung: Bach praktizieren
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zeichnenden Parametern, wie der räumlichen Trennung zwischen Auditorium und Bühne und der Rollenzuteilung der anwesenden Akteurinnen und Akteure in Rezipientinnen und Rezipienten und Produzentinnen und Produzenten, kennzeichnen die Bach-Räume der häuslichen, meist innerfamilialen Musikpraxis. Eng verbunden mit dem Aushandeln dieser verschiedenen Paramater ist das Verständnis vom Musikwerk als ein abgeschlossenes bzw. offenes Gebilde. Bedingt durch ein verengtes Rezeptionsverständnis, welches sich an einem werkzentrierten Musikbegriff orientiert, werden nur wenige Rezeptionspraktiken sichtbar. Die anlassbezogene Herstellung von Notenmaterial, das Einrichten von Stimmen, das Ausleihen von Stimmmaterial, das Spielen Bachs in Geselligkeit, auch das Durchdringen einer Partitur im Partiturspiel u. v. m. sind Praktiken, die dem Musikwerk im Sinne eines offenen unabgeschlossenen Gebildes anhaften. Je geschlossener das Gebilde verstanden wird, umso mehr treten die reinen Re- bzw. Produktionspraktiken wie öffentliche Interpretation und Komposition in den Vordergrund, womit letztendlich die im Zusammenhang mit einer Aufführung notwendigen Praktiken – und die ausführenden Akteurinnen und Akteure – auf wenige reduziert werden. Die Voraussetzung für die Existenz der hier beschriebenen Bach-Rezeptionspraktiken war zunächst die Konstitution eines für sie angemessenen Raums. Das Schaffen eines solchen Raumes ist damit selbst als eine eigene Bach-Rezeptionspraxis zu verstehen. Die frühe Bach-Rezeption entstand in den häuslichen Kontexten zunächst erst einmal ohne konkrete Vorbilder, d. h. nicht in Form einer direkten Nachahmung. Denn wie gezeigt wurde, stellten die bis dato bedeutsamen Musikräume, in denen Bachs Musik gespielt wurde, wie z. B. der kirchliche Raum, kein unmittelbares Nachahmungspotenzial zur Verfügung. Die häuslichen Musikräume entstanden aus den oben dargestellten Transferprozessen. Ihre Konstitution ist damit zentrale Bedingung für die Bach-Rezeption gewesen. Dies wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass eine Einrichtung wie die Sing-Akademie auf diesen Strukturen und dem in den Haushalten und Sälen experimentell hervorgebrachten Bach-Wissen aufbaut. Der Salon Sara Levys nimmt in dem hier aufgefächerten Tableau an Bach-Räumen und Rezeptionspraktiken eine Sonderrolle ein. Diese kann dadurch begründet werden, dass ihr Salon ein Kulminationspunkt vielfältiger Rezeptionspraktiken ist: Wandlungsprozesse der Rezeptions-Praxis zwischen 1750 und 1829 lassen sich am Beispiel ihres Salons nachvollziehen und Zusammenhänge zwischen der Zeit vor und nach 1829 konkret machen. Für die Erläuterung der Funktion, die der levysche Salon einnimmt, dient der Begriff des Transfers. Praktiken werden aus ursprünglichen Kontexten heraus adaptiert, z. B. aus höfischen und familialen, und in neue transferiert Auf vier Ebenen lässt sich dieser Transfer nachvollziehen: auf materialer, musikästhetischer, kommunikativer und aufführungspraktischer Ebene. Sara Levys Musiksammlung umfasst nicht nur zahlreiche Bach-Handschriften, sondern auch Musikalien der Bach-Söhne W. F. und C. P. E. Bach. Zum Aufbau ihrer Sammlung bedient sie sich ihrer Kontakte zu den Bach-Söhnen und steht damit in unmittelbarem Austausch von Wissen, Material und Spielpraxis der Bach-Schüler und Bach-Söhne. Die von ihr an die Sing-Akademie verschenkten Musikalien wurden in die Sammlung der Akademie integriert und vergrößerten das dortige
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Bach-Rezeption II: Bach praktizieren zwischen 1750 und 1829 in Berlin
musikalische Aufführungsrepertoire. Bach-Handschriften aus ihrem Besitz, die im Rahmen ihres Unterrichts bei W. F. Bach entstanden sind, werden materialiter in die Sing-Akademie transferiert, in den Musikraum, der mit Blick auf die BachRezeptionspraxis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle einnimmt. Wie das Sammelverhalten der Familie Itzig insgesamt, insbesondere aber das Sara Levys zeigt, blieb die Bach-Rezeption nicht auf J. S. Bach und Kirnbergers Satzlehre beschränkt. Vielmehr wurde es integriert in ein Interesse an den Werken der gesamten Bach-Familie und zeichnet sich durch eine Öffnung für den galanten, empfindsamen Stil aus. Damit gelang ihr ein wesentlicher Schritt, nämlich die Integration der bachschen Kompositionen in den zeitgenössischen Musikdiskurs. Beispielhaft ist das Doppelkonzert für Cembalo und Fortepiano von C. P. E. Bach, für das sie den Kompositionsauftrag erteilte. Der musikästhetische Diskurs, der bei Kirnberger auf einer musiktheoretischen Ebene stattgefunden hatte, der aber im Zusammenhang mit Moses Mendelssohn zu einem jüdischen Diskurs wurde, erhält mit Sara Levys Kompositionsauftrag eine reale Umsetzung: die Kombination des kontrapunktischen Stils mit natürlicher Melodieführung. Bachs Kompositionen werden als vereinbar mit zeitgenössischen Musikidealen und vor allem als aufführbar verstanden. Sara Levy spielte die Klavierkonzerte J. S. und C. P. E. Bachs nicht nur in der Sing-Akademie, sondern auch in musikalischen Gesellschaften. Sie führt damit Bachs Werke aus dem innerfamilialen, häuslichen Musikraum in öffentlichere Musikräume. Mittels ihres Netzwerkes verknüpfte sie zentrale Personen der Bach-Rezeption miteinander und verankerte Bachs Kompositionen in Programmen von Berliner Musikaufführungen.678 Die Erforschung von Sara Levys Mitgliedschaft in der Sing-Akademie zu Berlin, macht deutlich, wie wichtig die weniger betrachteten Rezeptionswege der frühen Bach-Rezeption waren. Anhand des gut bearbeiteten Forschungsfeldes rund um die Bach-Rezeption der Sing-Akademie ist ebenfalls besonders gut greifbar, wie selektiv Geschichtsschreibung verfahren ist. Sara Levys Salon kann als Ergebnis vielfältiger Aneignungen und Transferprozesse von familialen Praktiken ihres jüdischen Elternhauses in musikkulturelle Praktiken verstanden werden. Dazu zählt das Einladen von Gästen, das Engagement für soziale Zwecke sowie die Idee, durch bildende Kunst (bei Daniel Itzig) bzw. Musik (bei Sara Levy) Gemeinschaft zu fördern und sich selbst darin zu positionieren. Während Bach in anderen Berliner Salons, wie z. B. in dem der Amalia Beer, keine Rolle spielte, scheint die große Funktion Bachs im Salon Sara Levys auf diesem Prinzip des Transfers von familialen Praktiken aufzubauen. Mit der Gründung ihres Salons ging, anders als in vielen anderen vergleichbaren Fällen, nicht die Konvertierung ins Christentum einher. Stattdessen blieb sie ihrem jüdischen Glauben und damit auch ihrer Familientradition treu und konnte auch die in ihrer Elterngeneration etablierten Ideale der bachschen Kontrapunktik fortführen. Sara Levy konstituiert einen Musikraum, den es in dieser Form vorher noch nicht gab, der aber – neben anderen Musikräumen – eine Vorbildfunktion für die SingAkademie hatte. Rein personell überschnitt sich z. B. der Kreis der Gäste ihres Sa678 Vgl. das Kapitel Bach spielen (Teil III, Kap. 3.2.2).
4. Zusammenfassung: Bach praktizieren
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lons mit dem der Sing-Akademie-Mitglieder. Die Rezeption J. S. Bachs ist nicht nur das Ergebnis dieser Praktiken, sondern muss vor allem auch als ein Medium verstanden werden, mittels dessen sie sich als Musikerin konstituierte und sich ein eigenes Profil gab. Bachs Musik wurde aufgrund der dargestellten Transferprozesse selbst transformiert. Die Bach-Rezeptionspraxis in Levys Salon kennzeichnet einen Zwischenraum der einerseits häuslich verankerten Musikpraktiken und den Aufführungs- und Probenpraktiken in den entstehenden Musikvereinen des Bürgertums. Der levysche Salon verkörpert am Berliner Beispiel diese Mittlerrolle. Was die Entwicklung bzw. die strukturellen Differenzen zwischen der Musikpraxis im Haushalt, im Salon oder im Verein insbesondere kennzeichnet, ist der Wandel der Bach-Rezeptionspraktiken von ephemeren zu verstetigten Praktiken wie die in öffentlich-kommerziellen Räumen stattfindende Interpretation oder die Praxis der Komposition. Für die Darstellung dieses Zwischenraums hat sich die Kategorie privat/öffentlich als undeutlich und nicht erkenntnisfördernd herausgestellt. Rezeptionspraktiken des Haushalts, des Saals, des Vereins und des Hofes lassen sich nicht vor diesem binären Modell abbilden. Der Wandlungsprozess von innerhäuslicher zu institutioneller Musikpraxis wurde in der Forschung oftmals normativ betrachtet, indem ephemere Praktiken wie z. B. das Spielen im Salon, das Unterrichten im Haushalt aufgrund ihrer „Konsistenz“ als weniger wissenschaftsrelevant angesehen wurden oder diese allzu schnell als privat und nicht wirksam abgetan wurden. Dies blieb auch für die historiographische Auseinandersetzung mit Sara Levy nicht folgenlos.
SCHLUSS Der Mensch ist, der er ist, indem er sich an sich über anderes erinnert. Egon Schütz in „Bildung als Erinnerung?“ (1985)
Wenn Johann Philipp Kirnberger am 14. März 1783 an Anna Amalia von Preußen schreibt, dass er Bachs „Kunststücke noch so wenig verstehe, als ein Affe, der einen Stein auf einem Schach- oder Brettspiel ziehen soll“,1 dann ist dieses Bekenntnis nicht als verzweifelter Ausdruck von Resignation, sondern eher als selbstbewusstes Zeugnis einer intensiven Auseinandersetzung mit der Musik J. S. Bachs zu begreifen. Unverständnis sowie auch ein beständiges Ringen um die Bedeutsamkeit der Musik J. S. Bachs kennzeichnen die Rezeptionspraxis des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ebenso wie eindeutige Platzierungen Bachs in unterschiedlichen sozialen Kontexten. Das Thema Bach und Rezeption wurde im Laufe dieser Studie mehrere Male gedreht und gewendet, es wurde auf verschiedenen Ebenen betrachtet und in unterschiedlicher Brennschärfe reflektiert: Mikrostudien zu den beiden Protagonistinnen Lea Mendelssohn Bartholdy und Sara Levy, Makroüberblicke über Diskurse und Praktiken der Berliner Bach-Rezeption und Überlegungen zum Umgang mit Bach und Rezeption im Diskurs der Bach-Forschung haben gezeigt, auf wie vielen gesellschaftlichen, historischen und diskursiven Ebenen Bach und dessen Rezeption Bedeutung erlangten. Ein zentraler Gedanke war der der Praxis. Rezeption als kulturelle Praxis zu verstehen, bedeutete in dieser Studie die sozialhistorische Verankerung Bachs in sämtlichen musikbezogenen Handlungen in den Blick zu nehmen und nicht nur eine spezifische Auswahl dessen. Dass und warum Praktiken und Akteurinnen und Akteure der frühen Bach-Rezeption lange Zeit nicht als Teil einer Rezeptionspraxis bewertet wurden, ist selbst wiederum nur in Abhängigkeit zu einer weiteren Praxis, nämlich zu der der Wissenschaft selbst zu begreifen. Die wissenschaftliche Praxis und ihre Auseinandersetzung mit dem Thema Bach und Rezeption ist als unmittelbares Spiegelbild dessen zu betrachten, was überhaupt als Praxis der Rezeption Johann Sebastian Bachs bekannt war. Diese Beziehungen zwischen der im disziplinären Kontext erfolgten historiographischen Positionierung und Bewertung der Akteurinnen, Akteure und der Praktiken und dem in den Quellen zu greifenden geschichtlichen Gegenstand auseinander zu flechten und gleichzeitig wieder neu miteinander zu verbinden, war Ziel dieser Arbeit. Auch diese neu gebundene Geschichte der Bach-Rezeption als kulturelle Praxis ist Gegenstand einer Forschungs1
Brief von Johann Philipp Kirnberger an Anna Amalia von Preußen vom 14.3.1783, in: Dok III (1972), Nr. 877.
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praxis, die im Rahmen des Schreibprozesses dieser Studie fortlaufenden Entscheidungen folgte. Eine Entscheidung war es also, Rezeption im Sinne einer kulturellen Praxis neu zu definieren. Diese beruhte auf der erworbenen Einsicht, dass die Bach-Rezeptionspraxis zwischen 1750 und 1829 in Berlin nicht mit den in der Bach-Forschung etablierten Konzepten zur Beschreibung von Rezeptionsphänomenen zu fassen ist. Im Forschungs-Diskurs der letzten dreißig Jahre ist ein eingeengtes Verständnis von Bach-Rezeption vorherrschend, das durch den Fokus auf kompositorische Auseinandersetzungen und öffentliche Aufführungen gekennzeichnet ist. Auch wenn sich die Bach-Forschung mit der Analyse materialer Überlieferungswege Praktiken gewidmet hat, die über diese reine Kompositions- und Interpretationspraxis hinausgehen, hat sich doch nie die Perspektive hin zu einem umfassenden Rezeptionsverständnis gedreht. Dieser Perspektivenwechsel erfolgte in dieser Studie anhand des revidierten, sämtliche Tätigkeiten umfassenden Rezeptionsbegriffs, der sowohl kompositorische, interpretatorische, materiale, interaktive und performative Praktiken mit einschloss. Eine weitere Entscheidung betraf die Fokussierung auf die häusliche, meist familiale Musikpraxis in den Berliner Bürgerhäusern und Salons. Die Familie wurde als Ort musikbezogenen Handelns und Lernens untersucht. Diese häusliche Kultur, d. h. die im engeren und weiteren Sinne im Haus etablierte Musikpraxis war der zentrale Austragungsort der frühen Berliner Bach-Rezeption. Ausgehend von der häuslich-intimen Musikpraxis ließen sich sowohl auf diskursiver als auch auf sozialer Ebene Aushandlungsprozesse mit der Musik J. S. Bachs erkennen. Diese Musikpraxis ist gekennzeichnet durch die Einbindung in familiale Abläufe, wie z. B. in alltägliche Routinen oder familiale Feierlichkeiten. Es sind vor allem interaktive, kommunikative und performative Praktiken, die die Bach-Praxis dieses intimen Musikraumes auszeichnen. Sie sind, anders als z. B. das öffentliche Aufführen oder die schriftlich fixierte kompositorische Nachahmung, von einer anderen Praxisgestalt: Sie sind weniger verfestigt, materialisiert oder zielgerichtet, stattdessen steht die Unmittelbarkeit und die Spontaneität der musikalischen Umsetzung im Mittelpunkt. Die häusliche Musikpraxis zeichnet sich durch eine offene Struktur aus, in der verschiedene Bach-Rezeptionspraktiken miteinander verschmelzen: das Unterrichten ähnelt einer Aufführung, das Proben einer Bearbeitung, das Sammeln erfordert das handschriftliche Kopieren und das Erziehen die eigene Expertise. Schnittstellen zum Hof und zu bürgerlichen Institutionen prägen die Familie als Ort der Bach-Rezeptionspraxis. Um die kulturhistorische Relevanz dieses primär durch die Mutter gestalteten Musikraumes für die Bach-Rezeption zur Geltung bringen zu können, war die Entscheidung wichtig, zwischen Makro- und Mikroperspektive zu trennen und die Wechselbeziehung zwischen beiden Ebenen in den Fokus zu rücken. In den Briefen Lea Mendelssohn Bartholdys wird der Musik Johann Sebastian Bachs eine neuartige soziale Bedeutung zugewiesen: Bach wird zu einer Angelegenheit von musikalischer Erziehung und mithilfe seiner Musik werden Konzepte für eine innerfamiliale Aufführungspraxis entwickelt. Während in musikalischen Lehrwerken, theoretischen Abhandlungen und im Musikjournalismus die Musik
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J. S. Bachs primär hinsichtlich ihres musiktheoretischen, musikbiographischen und musikdidaktischen Potenzials besprochen wird, wird in den Briefen Lea Mendelssohn Bartholdys die Bedeutung der Musik Bachs für die Belange und Bedingungen einer familialen Musikkultur reflektiert. Ihre Briefe sind Texte, die die Alltäglichkeit und Routine familialer Prozesse und die Bedeutung, die die Musik Bachs darin einnimmt, widerspiegeln. Am Beispiel J. S. Bachs dokumentiert und klassifiziert Lea Mendelssohn Bartholdy die künstlerisch-technischen Fähigkeiten ihrer Kinder. Über die Bedeutung von Bachs Kompositionen als Gegenstand von Musikausbildung hinaus, bekommt Bach die Funktion eines Vorbilds innerhalb einer Künstlergenealogie und wird zu einer Projektionsfläche künstlerischer Identifikationsprozesse. Auch die im Zusammenhang mit dem Salon Sara Levys erzielten Ergebnisse lassen neue Bedeutungszusammenhänge für die frühe Phase der Berliner BachRezeption erkennen. Der Salon Sara Levys ist ein Kulminationspunkt innerhalb der Entwicklung der frühen Bach-Rezeption in Berlin. Es gibt keinen weiteren Ort in Berlin, der die bis dato etablierten Bach-Rezeptionspraktiken vereint und der gleichzeitig Strukturen aufweist, aus denen heraus die Bach-Rezeptionspraxis nach 1829 gedacht werden kann: Auf personeller, materialer, musikästhetischer, kommunikativer und aufführungspraktischer Ebene lassen sich am Beispiel dieses Salons Transferprozesse erkennen, sowohl zwischen häuslich-intimer und öffentlichkommerzieller Bach-Praxis als auch zwischen den unterschiedlichen Musikräumen Berlins. Besonders hervorzuheben ist die Vernetzung zwischen ihrem Salon und der Sing-Akademie, was in der ihr gewidmeten musikalischen Gedenkfeier zum Ausdruck kommt. Diese Ergebnisse führen zurück zur ersten Entscheidung, nämlich den Rezeptionsbegriff zu revidieren. Denn: Die bei Sara Levy und Lea Mendelssohn Bartholdy erkannten und in der Bach-Geschichtsschreibung neu verankerten Rezeptionspraktiken provozierten das Überdenken des Rezeptionsbegriffs im Forschungs-Diskurs. Die Arbeit hat gezeigt wie u. a. geschlechterspezifische Vorstellungen die BachHistoriographie beeinflussten. Im Falle der hier bearbeiteten Bach-Rezeptionsphase lässt sich die Nichtbeachtung weiblicher Kulturpraxis sehr präzise auf das selektive Rezeptionsverständnis und auf die Konstitution einer männlichen Bach-Genealogie zurückführen, wie sie z. B. auch in den Erziehungsstrategien Lea Mendelssohn Bartholdys zum Ausdruck kommt. Es war das Anliegen dieser Arbeit, die Chance einer Synergie zwischen genderbasierter Forschung und eher traditionell ausgerichteter Bach-Geschichtsschreibung wahrzunehmen und einzulösen. Denn: Die mit der Arbeit in den Blick genommenen Bach-Praktiken der innerhäuslichen, familialen Musikpraxis gestalten das Wissen über die frühe Bach-Rezeption insgesamt plastischer und erzählen keine Parallelgeschichte. Mit der Verortung Johann Sebastian Bachs in der häuslichen Musikkultur und der Betonung auf die vielfältigen Überschneidungen zwischen Überlieferungspraxis, Interpretationspraxis, Unterrichtspraxis, Erziehungspraxis, Aufführungspraxis und Kompositionspraxis möchte die Studie verstärkt für die Berücksichtigung sozialer Prozesse als Bestandteil der Bach-Forschung plädieren. Es wäre erstrebenswert, wenn philologische Einzelstudien zu Johann Sebastian Bach
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in größere kulturelle Kontexte eingebunden würden. Dazu würde als ein Schritt auch die Erforschung der Bach-Töchter, Bach-Enkelinnen und Bach-Ehefrauen zählen.2 Tätigkeitsfelder wie die der Kantorenfrau oder der Nachlassverwalterin könnten dann mit Bezug auf die Bach-Familie kulturgeschichtlich erschlossen und als Bestandteil von Rezeptionsgeschichte verstanden werden. Die in dieser Studie untersuchten Mikrogeschichten einer auf Routinen und Alltagspraxis basierenden Rezeption wiesen zahlreiche Verbindungen zur Makrogeschichte auf. Gleichzeitig entstanden hier auch offene Fragen. Denn so deutlich der Bezug von Sara Levys Bach-Rezeptionspraxis zur Musikpraxis der Sing-Akademie und zu C. Fr. Zelter zu erkennen ist, so vage und diffus erscheint er mit Blick auf die Bach-Rezeption insbesondere Felix Mendelssohn Bartholdys. Wie die Analysen gezeigt haben, fand zwischen diesen beiden Generationen kein unmittelbarer Austausch statt.3 Während sich zwischen der Musikpraxis im Salon Sara Levys und der in der Sing-Akademie ein kontinuierlicher Wandlungsprozess nachzeichnen lässt, richtete sich die Ausbildung Felix Mendelssohn Bartholdys verstärkt auf das öffentlich-kommerzielle Musikwesen aus und damit auf ein Umfeld, in dem sich die Bedeutung von Musik zunehmend auf die Kompositions- und Interpretationspraxis fokussierte. Aufführungsbedingungen, wie sie für den Salon Sara Levys konstatiert werden können, etwa die unmittelbare Verschmelzung von verschiedenen Praktiken wie Komponieren, Aufführen, Hören, Reflektieren etc. verloren an Bedeutung. Anders hingegen die Musik-Praxis Fanny Hensels, deren Salon als eine kontinuierliche Entwicklung aus den vorhergehenden Generationen zu verstehen ist. Um die häuslich-private Musikpraxis, wie sie einerseits im innerfamilialen andererseits aber auch in Salon-Gesellschaften etabliert war, funktionell und zeitlich konkreter einordnen zu können, bedarf es weiterer Bezugspunkte und Vergleichsstudien. Allerdings ist hier nicht außer Acht zu lassen, dass der Vergleich mit anderen Städten oftmals nur schwer zu realisieren ist, da sich aufgrund der unterschiedlichen politischen und sozialen Verhältnisse die jeweilige Musikkultur anders entwickelte. So lassen sich zwar zur Studie Mirjam Gerbers über die bürgerlichen Salons des Leipziger Vormärz interessante Bezüge herstellen – z. B. hinsichtlich des dort zur Aufführung gelangten Repertoires – eine unmittelbare Vergleichsebene lässt sich aber kaum ermitteln, da die Musikpraxis in den Leipziger Salons erst deutlich später, in den 1820er Jahren, an Bedeutung gewann.4 2
3
4
Dabei ließe sich anknüpfen an die Forschungen Maria Hübners, Zur finanziellen Situation der Witwe Anna Magdalena Bach, S. 245–255 und „Eine große Liebhaberin von der Gärtnerey“, S. 173–177. Dass das Interesse an Frauen-Biographien der Bach-Zeit wächst, zeigen bspw. Ausstellungen wie Frauen der Bach-Zeit, die vom 8. Mai bis 11. Oktober 2015 im Leipziger Bach-Archiv zu sehen war. Einer Argumentation, die eine unmittelbare familiäre Rezeptionsgenealogie konstatiert, wird daher nicht nachgegangen. Sara Levy wird als Großtante in vielen Forschungen zur Bach-Rezeption Felix Mendelssohn Bartholdys erwähnt und auf biographischer Ebene als Voraussetzung seiner Bach-Affinität gedeutet. „Sie [Sara Levy] gab ihre Vorliebe für Bach an Felix’ Mutter weiter […].“ So R. Larry Todd, Die Matthäus-Passion, S. 80. Vgl. hierzu Mirjam Gerber, „Der Musiker, schien es, war Herr im Haus“, S. 235 und dies., Zwischen Salon und musikalischer Geselligkeit, Henriette Voigt, Livia Frege und Leipzigs bür-
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Warum sich aus heutiger Perspektive der Salon Sara Levys in seiner Funktionalität für das 19. Jahrhundert nur in Ansätzen umreißen lässt, hängt sowohl mit der geringen Tradierung und Erwähnung ihres Salons in Quellen des 19. Jahrhunderts zusammen, als auch mit der Minderbeachtung im Forschungs-Diskurs. Gründe, weshalb Sara Levys Bedeutung für die frühe Berliner Bach-Rezeption lange Zeit nicht erkannt wurde, liegen u. a. in dem normativen Verständnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Wie dargestellt, wurde die Kategorie öffentlich/privat meist nicht als Bestandteil einer Beschreibung von Musikräumen verstanden, sondern als Maßstab für die Bewertung von Musikräumen als wissenschaftlich relevant bzw. irrelevant verwendet. Musikräume, wie der Salon Sara Levys wurden durch das Etikett „privat“ als weniger bedeutsam bewertet.5 Die Bezeichnung des Salons von Sara Levy als Ort der Bach-Pflege bestärkte die normative Bewertung dieses Musikraumes.6 Wie in den Untersuchungen gezeigt wurde, ist die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit am Beispiel der Musik-Praxis im Salon Sara Levys nicht klar zu ziehen. Die Anwesenheit von Gästen und der Musikunterricht sorgten vielmehr für eine Durchlässigkeit zwischen privater und öffentlicher Musiksphäre. Dieser hybride Raum folgte eigenen Gesetzen auch hinsichtlich geschlechtsspezifischer Vorstellungen über die Partizipation von Frauen und Männern in künstlerischen Aufgaben. Auch wenn aufgrund mangelnder Quellen offen bleiben muss, wie konkret Bach-Aufführungen im Salon Levys stattgefunden haben, so lässt sich gerade ab dem Zeitpunkt, an dem sie als Solistin in den Probenprotokollen der SingAkademie nicht mehr erwähnt wird, konstatieren, dass sich ihr in ihrem Salon ein autonomer Wirkungsraum bot. Im Zuge der Institutionalisierung des preußischen Musiklebens, allen voran durch die Bestrebungen Zelters, manifestierten sich klare geschlechtsspezifische Zuweisungen: Die einzige Möglichkeit für Frauen in größeren, allgemein zugänglichen Konzertformaten aufzutreten, bot sich im Form der für Musikliebhaberinnen und Musikliebhaber eingerichteten Institutionen, wie der Sing-Akademie oder der Ripienschule.7 Während Männer auch im professionellen Sinne öffentlich agierten, stellte dies Frauen vor große Schwierigkeiten.8 An vielen Stellen der Studie liegen Fragen offen, die zu weiterer Beschäftigung einladen. Was in dieser Arbeit lediglich zur Fundierung der eigenen Methode untersucht wurde, nämlich die Frage, wie Rezeption im Zuge der Bach-Historiographie verstanden wurde, würde sich als Gegenstand einer weiterführenden, sämtliche Phasen der Bach-Rezeption umfassenden Analyse eignen. Diese Frage könnte man
5
6 7 8
gerliches Musikleben (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 90), Hildesheim u. a. 2016. In Peter Wollnys Aufsatz Abschriften und Autographe, Sammler und Kopisten wird eine präzise Vorstellung von den Akteuren und Praktiken der Bach-Pflege übermittelt. Bach-Pflege bezieht sich hier auf „eine ältere Generation von Bach-Verehrern […]“, die „seit Jahrzehnten in privaten Kreisen und damit gewissermaßen im Verborgenen die Werke des Komponisten sammelten und pflegten und die durch ihre persönlichen Kontakte zu den Bach-Söhnen und -Schülern noch in einer direkten Traditionslinie standen.“ Ebd., S. 27. Vgl. das Kapitel Folgen: Bach-Rezeption zwischen Inklusion und Exklusion (Teil I, Kap. 1.3). Vgl. hierzu Applegate, Bach in Berlin, S. 138. Siehe die Forschungen von Janina Klassen zu Clara Schumann und ihrer Karriere als öffentlich auftretende Pianistin. Klassen, Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, Köln 2009.
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zum Ausgangspunkt nehmen, um die Ideologien, die mit Rezeption in Verbindung gebracht wurden und die hier nur in Ansätzen und für die Zeit der Bach-Rezeption zwischen 1750 bis 1829 analysiert wurden, auf ihre Entstehung und ihre Wirkung hin zu untersuchen. Dabei ließe sich an ideologiekritische Studien, wie die von Eduard Mutschelknauss zum Bach-Verständnis im NS-Regime, anknüpfen.9 Ebenso könnten Vergleiche mit anderen kulturellen Kontexten, z. B. in Wien oder Paris, tragfähige Erkenntnisse dafür liefern, ob die Bedeutung der häuslichen Musik-Praxis als Träger von Musikkultur auch dort zentrale Bedeutung einnahm. Nur so ließe sich die Rolle Berlins hinsichtlich eines Kulturtransfers von BachRezeption dezidiert klären. Letztendlich können nur weitere Mikrostudien, wie sie hier am Beispiel von Sara Levy und Lea Mendelssohn Bartholdy vorgenommen wurden, ein konkreteres Bild davon zeichnen, wie häusliche Musikpraxis mit öffentlicher Musikkultur zusammenhängt. Möglicherweise wird auch dabei deutlich werden, wie stark musikalische Erfahrungsbildung von familialer bzw. häuslicher Musikkultur abhängen kann. Wirft man den Blick auf die aktuell zu verzeichnende Tendenz, mit Hilfe staatlicher Bildungsreformen Lernen immer mehr außerfamilialen Institutionen zu übertragen, wird die Frage virulent, wo und wie musikalische Erfahrungsbildung ermöglicht wird und welche Funktion hierbei der familiale Raum im Vergleich zu allgemeinbildenden Schulen, Musikschulen oder musikalischen Vermittlungsprogrammen an Konzerthäusern noch oder wieder einnimmt. Es wäre zukünftig lohnenswert, das Potenzial, das aktuelle musikpädagogische Forschungen sogenannten „wilden“ Lernorten10 zuweisen, auf die in dieser Studie fokussierte häusliche Musikpraxis um 1800 zu übertragen und somit das außerinstitutionelle musikalische Lehren und Lernen selbst zu beleuchten. Dass in dem hier konkret untersuchten häuslichen Musikraum im Kontext der Berliner Bach-Rezeption nach 1750 spezifische, möglicherweise auch „wilde“ Lehr- und Lernpraktiken etabliert wurden und dass von der familialen Musikpraxis ausgehend zahlreiche Überschneidungen zu anderen, außerfamilialen und institutionell verankerten Musikräumen zu beobachten waren, auch dafür hat diese Studie sensibilisieren wollen.
9 10
Mutschelknauss, Bach-Interpretationen – Nationalsozialismus. Peter Röbke / Natalia Ardila-Mantilla (Hgg.), Vom Wilden Lernen: Musizieren lernen auch außerhalb von Schule und Unterricht, Mainz 2015.
ABKÜRZUNGEN AMZ
Allgemeine Musikalische Zeitung, hg. von Friedrich Rochlitz, Leipzig 1798–1848
Bach und die Nachwelt
Bach und die Nachwelt, 4 Bde., Laaber 1997–2005 Bd. 1: 1750–1850 (1997), hgg. von Michael Heinemann / HansJoachim Hinrichsen Bd. 2: 1850–1900 (1999), hgg. von Michael Heinemann / HansJoachim Hinrichsen Bd. 3: 1900–1950 (2000), hgg. von Michael Heinemann / HansJoachim Hinrichsen Bd. 4: 1950–2000 (2005), hg. von Joachim Lüdtke
Bach-Handbuch
Das Bach-Handbuch, hgg. von Reinmar Emans / Sven Hiemke / Klaus Hofmann, 7 Bde., Laaber 2000–2013
Beiträge 1 Beiträge 2
Beiträge 3 Beiträge 4
Beiträge zur Geschichte der Bachrezeption, hg. vom Bach-Archiv Leipzig, Wiesbaden 2007–2012 Hartinger, Anselm / Wolff, Christoph / Wollny, Peter (Hgg.), „Zu groß, zu unerreichbar“. Bach-Rezeption im Zeitalter Mendelssohns und Schumanns, Wiesbaden 2007 Wollny, Peter, „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“. Sara Levy und ihr musikalisches Wirken. Mit einer Dokumentensammlung zur musikalischen Familiengeschichte der Vorfahren von Felix Mendelssohn Bartholdy, Wiesbaden 2010 Hartinger, Anselm / Wolff, Christoph / Wollny, Peter (Hgg.), „Diess herrliche, imponirende Instrument“. Die Orgel im Zeitalter Felix Mendelssohn Bartholdys, Wiesbaden 2011 Hartinger, Anselm / Wolff, Christoph / Wollny, Peter (Hgg.), Von Bach zu Mendelssohn und Schumann. Aufführungspraxis und Musiklandschaft zwischen Kontinuität und Wandel, Wiesbaden 2012
BG
J. S. Bachs Werke. Gesamtausgabe der Bachgesellschaft zu Leipzig, 46 Bde. Leipzig 1851–1899
BJ
Bach-Jahrbuch, Leipzig 1904 ff.
Abkürzungen
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Dok
Bach-Dokumente, hg. vom Bach-Archiv Leipzig. Supplement zu Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke Dok I Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs. Kritische Gesamtausgabe, hgg. von Werner Neumann / Hans J. Schulze, Kassel 1963 Dok II Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte J. S. Bachs 1685–1750. Kritische Gesamtausgabe, hgg. von Werner Neumann / Hans J. Schulze, Kassel 1969 Dok III Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1750–1800, vorgelegt u. erl. von Hans-Joachim Schulze, Leipzig / Kassel 1972 Dok V Nachträge zu Band I–III und Generalregister, hg. von Hans-Joachim Schulze, Kassel 2007 Dok VI Ausgewählte Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1801–1850, hgg. u. erl. von Andreas Glöckner / Anselm Hartinger / Karen Lehmann, Kassel 2007 Dok VII Johann Nikolaus Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, Edition, Quellen, Materialien, vorgelegt und erläutert von Christoph Wolff unter Mitarbeit von Michael Maul, Kassel 2008
JbSIM
Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz
LMG
Lexikon Musik und Gender, hgg. von Annette Kreutziger-Herr / Melanie Unseld, Kassel/Stuttgart 2010
MGG
Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hg. von Friedrich Blume, 1. Aufl., 17 Bde., Kassel 1949–1987
MGG2
Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begründet von Friedrich Blume, 2. neubearbeitete Aufl., hg. von Ludwig Finscher, 29 Bde., Kassel/Stuttgart 1994 ff.
BWV
Bach-Werke-Verzeichnis, Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Johann Sebastian Bach, hg. von Wolfgang Schmieder, Wiesbaden 1950, 2. überarb. u. erw. Aufl., Wiesbaden 1990
Wq
Thematisches Verzeichnis der Werke von Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788), hg. von Alfred Wotquenne, Leipzig u. a. 1905
QUELLENVERZEICHNIS D-B Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz 1) Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv N. Mus. SA 277 N. Mus. SA 291 N. Mus. SA 299 N. Mus. SA 1406 N. Mus. SA 2612
Mus. ep. Lea Mendelssohn 1–10 Briefe von Lea Mendelsohn Bartholdy Mus. ep. Lea Mendelssohn Bartholdy Varia 1 Mus. ep. Johann Philipp Kirnberger Varia 1 Mus. ep. 1 Brief Felix Mendelssohn Bartholdys an August Wilhelm Bach Teilnachlass Seb. Hensel MA Depos. 3.3. (77 Briefe von Lea Mendelsohn Bartholdy an ihre Tochter Fanny Hensel) MA Depos 3.3.1 (Brief von Abraham Mendelsohn an Bella Salomon vom 15. Nov. 1805)
2) Nachlässe und Sammlungen
Nachlass Emil Cauer (Nr. 343) Kasten 3 Sarah Itzig (1761–1854) ∞ Samuel Salomon Levy (1760–1806) Mappe 1 Briefe von Elise und Sophie Reimarus sowie von Fanny Lewald, Testament von Sara Levy Nachlass Friedrich Carl von Savigny Mappe 31 Briefe von Henriette Pereira-Arnstein an Fr. v. Altenstein Mappe 33 Briefe von Henriette Pereira-Arnstein an Sophie und Gunda Brentano
Berlin, Archiv der Sing-Akademie zu Berlin Die Stammrolle der Sing-Akademie zu Berlin (ohne Signatur)
D-Bim, Berlin, Staatliches Institut für Musikforschung, Bibliothek Doc. original Brief 1–3 (3 Briefe von Anna Amalia von Preußen an J. Ph. Kirnberger)
PL-Kj, Biblioteka Jagiellońska Kraków Sammlung Varnhagen, Lea Mendelssohn, geb. Salomon, Kasten 121 (17 Briefe) Sammlung Varnhagen, Sara Levy, Kasten 108
Quellenverzeichnis
GB-Ob, Oxford, Bodleian Library Green Books II MS. M.D.M. d.28, 143 III MS. M.D.M. d.29, 35 III MS. M.D.M. d.29, 50 III MS. M.D.M. d.29, 87 IV MS. M.D.M. d.30, 151 V MS. M.D.M. d.31, 22 VII MS. M.D.M. d.33, 63
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PERSONENREGISTER (Auswahl) A Agricola, Johann Friedrich 63, 66, 71, 89, 165, 167, 172, 176, 185, 214, 216, 227, 291 Arcontini, Michelangelo 234 Arnim, Bettina von 204 Arnstein, Fanny von (geb. Itzig) 120, 186, 191, 193–194, 232–233, 238, 240, 248, 252, 271, 273, 275–276 Assmann, Aleida 49–50,159–160, 177 Anna Amalia von Preußen 63, 136, 171–182, 187, 199, 271, 291, 296, 304 B Bach, Anna Carolina Philippina 255 Bach, Anna Magdalena 255 Bach, August Wilhelm 133, 211, 214, 286 Bach, Carl Philipp Emanuel 58, 63–64, 66–68, 71–72, 74–78, 83, 88–89, 94, 108, 149, 153, 159, 163–169, 171–172, 177, 180–182, 184–186, 193–194, 197–198, 200, 212–213, 216, 228–229, 232, 250, 253, 255, 258–259, 266, 268–271, 273–279, 287, 289, 291, 293–294 Bach, Johann Christian 200 Bach, Johann Christoph Friedrich 213 Bach, Johanna Maria 278 Bach, Wilhelm Friedemann 64, 149, 164–165, 176–177, 180, 182, 184–185, 192, 194, 212, 229, 232, 235, 257–258, 266, 268–271, 277–278, 291, 293–294 Bachmann, Carl Ludwig 215 Bardua, Caroline 234, 241 Bardua, Wilhelmine 234, 241 Bartholdy, Jakob Salomon 234 Bartsch, Cornelia 96, 99, 103, 205, 207–208, 236 Baumann, F. 270–271 Benda, Friedrich August 264 Benda, Georg Anton 203 Benda, Johann Friedrich Ernst 215 Benda, Joseph 172, 183, 219 Bendavid, Lazarus 234 Birnbaum, Johann Abraham 60–62, 65, 71, 80, 87–89, 122 Boeckh, August 132, 145
Borchard, Beatrix 37, 42, 67–68, 106, 208 Buch, Esteban 39–40 Brentano, Sophie 100 Brinkmann, Carl Gustav von 100, 233, 252, 254, 281, 305 C Cauer, Emil 234 Chézy, Helmine von 101, 104 D Devrient, Eduard 128, 139, 207, 209, 211, 214 Devrient, Therese 123, 128, 214 Dorn, Heinrich 209 Droysen, Johann Gustav 102, 123, 126 E Eberty, Felix 234, 237, 241 Elvers, Rudolf 97–98, 100, 210–211, 266 Ephraim, Rebecka 234, 238, 251 Erll, Astrid 18, 55 Erman, Paul 234, 237–238 Eskeles, Cäcilie von (s. a. u. Wulff, Zippora) 186, 191, 194, 232, 238, 248, 252, 260, 266, 271, 275 F Fasch, Carl Friedrich Christian 155, 177, 179, 183, 195–196, 219, 221, 223–224, 227–228, 261, 264 Fichte, Johann Gottlieb 257, 238 Fließ, Hanna (geb. Itzig) 186, 195, 217, 259 Fließ, Joseph Moses 151, 195, 217–218 Forkel, Johann Nikolaus 16, 29, 35, 58, 71–73, 75, 83–86, 88–89, 93–94, 172, 180, 202, 227 Freudenberg, Johann Gottlob 165 Friedrich II. 147, 154, 173, 180, 218 G Gerber, Ernst Ludwig 11–12, 88, 195–197 Goethe, Johann Wolfgang von 78–80, 89, 91–92, 118, 121–123, 126, 134, 139–142, 149, 210–211, 226
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Personenregister
Graun, Johann Gottlieb 216, 236, 265–266, 268 Graun, Carl Heinrich 203, 216, 219, 236, 263, 265–266, 268–269 Graun-Staegemann, Elisabeth 283 Grotthus, Sara 234 H Händel, Georg Friedrich 79–81, 85, 88, 97, 114, 116–117, 120–122, 125, 129–130, 135, 137–138, 141, 179–180, 219, 267 Haydn, Joseph 118–119, 136, 141, 206, 213, 277, 280, Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 214 Heinemann, Michael 24, 26, 33 Henschel, Wilhelm 245, 256, 257 Hensel, Fanny (geb. Mendelssohn Bartholdy) 27, 37, 42, 68–69, 95–96, 99–101, 104, 106, 108–110, 124, 127, 134–137, 139, 141, 144, 205–206, 208–213, 234, 251–252, 260–261, 273, 286, 299, 304 Hensel, Sebastian 100, 108, 120, 135, 206, 304 Hentschel, Frank 82–83, 84, 87, 115, 132 Hering, Johann Friedrich 163–164, 199–204, 291 Herz, Gerhard 22, 31–32, 37, 234 Herz, Henriette 140, 190–141, 243, 252, 255, 283, 288, Heyse, Paul 104, 108, 234 Hiller, Johann Adam 71, 183, 225, Hinrichsen, Hans-Joachim 24, 26, 33–35, 84–85 Hitzig, Eduard 234 Hitzig, Julius 234 Hoffmann, E. T. A. 70, 80, 123, 285–286, 289 Humboldt, Alexander von 132, 250, 285 I Itzig, Familie 6, 19, 35, 53, 105, 152, 161, 183–196, 204, 212–214, 236, 248–252, 258, 260, 266, 272, 287–289, 291–292, 294 Itzig, Bella (s. u. Salomon, Bella) Itzig, Benjamin 193–194, 266–267, 271 Itzig, Daniel 184, 186, 190–193, 212, 217, 233, 249–250, 253–254, 276, 288–289, 294 Itzig, Edel 256 Itzig, Kela 237 Itzig, Mirjam 184, 186, 191–193, 212, 217, 233, 253, 289 Itzig, Sara (s. u. Levy, Sara) J Janitsch, Johann Gottlieb 214, 265, 267
K Kirnberger, Johann Philipp 29, 56, 63, 72–73, 96, 136, 149, 166, 168, 172–177, 179–183, 186–189, 192–193, 196, 219, 227, 272, 289, 291–292, 296, 304 Kohne, August 267 Kretzschmar, Hermann 22, 24, 28, 31–32, 234 L Lange, Aloisia geb. Weber 286 Lecerf, Justus Amadeus 257–258, 265, 286, Levy, Familie 6, 19, 53, 185, 213, 287 Levy, Moses Salomon 233 Levy, Samuel Salomon 105, 192, 233, 237–238, 250, 252, 254–257, 269–270, 284, 304–305 Levy, Sara (geb. Itzig) 13–16, 18–19, 21, 30–31, 36–38, 43, 46–48, 50–51, 97, 105, 108, 150–151, 172, 182, 185–187, 190–195, 204, 212–214, 216–217, 224, 227, 229–291, 293–296, 298–300 Lewald, Fanny 234, 238, 240, 284 Lichtenstein, Martin Heinrich Karl 221, 223, 225, 229, 261–262 Luther, Martin (Luther-Rezeption) 71, 77–78 M Marchand, Louis 57, 74–75, 87–89 Marpurg, Friedrich Wilhelm 29, 56, 58–59, 63–68, 75, 88–89, 166, 183–184, 216 Marx, Adolf Bernhard 37, 42, 56, 60, 67–68, 84–85, 96–97, 113, 123, 145, 170, 208, 283 Mendelssohn, Moses 97, 172, 187–190, 195–196, 292, 294 Mendelssohn, Henriette Maria 117, 127, 137, 210–211 Mendelssohn Bartholdy, Familie 14, 35, 94–96, 103–104, 110, 128, 144, 204–214, 226, 251, 260–261, 287 Mendelssohn Bartholdy, Abraham 96, 108–110, 117, 124, 134–137, 142, 184, 204, 210, 213, 227–228, 261 Mendelssohn Bartholdy, Fanny (s. u. Hensel, Fanny) Mendelssohn Bartholdy, Felix 13, 23, 25–26, 29, 35, 40, 57, 69, 95–97, 101, 104–111, 117, 120–121, 123–128, 132–135, 137–144, 155, 201–202, 205–213, 219, 226, 234, 244, 251–252, 260–261, 264, 273, 277, 286, 299, 304 Mendelssohn Bartholdy, Lea 13–14, 18–19, 21, 30–31, 37, 48, 54, 56, 80, 90, 94–145, 184, 186, 204–210, 213–214, 224, 234,
Personenregister 236, 238, 251, 283, 286–287, 296–298, 301, 304 Mendelssohn Bartholdy, Paul 114, 134–135 Mendelssohn Bartholdy, Rebecka 97, 135 Milder-Hauptmann, Anna 234, 253 Montgeroult, Hélène de 198, 276 Morgenstern, Lina 234 Mozart, Constanze 111, 168, 238, 255, 286 Mozart, Wolfgang Amadeus 118–119, 136, 141, 159, 168, 206, 213, 263–264, 280 N Naumann, Emil 92 Naumann, Johann Gottlieb 277 Nichelmann, Christoph 165–166, 176, 216 Nicolai, Friedrich 88, 183–184, 230, 253 O Oechsle, Siegfried 12, 39 Ottmer, Karl Theodor 222, 223 P Pappritz, Julie 253 Paradis, Maria Theresia 258 Patzig, Johann August 230, 256, 259 Pereira-Arnstein, Henriette von 97, 100–101, 103, 108–109, 111, 117, 120, 140–141, 145, 233–234, 238, 251, 273, 283, 286, 304 Pergolesi, Giovanni Battista 267 Poelchau, Georg 153, 169, 213, 228, 261, 274–275, 286, 289 Q Quantz, Johann Joachim 86, 165, 180, 219, 267, 269 R Reichardt, Johann Friedrich 56, 59, 62–63, 66, 78–81, 89, 94, 122–123, 168, 183–187, 191, 193, 197, 217–218, 227, 233, 259–260 Reimarus, Familie 260, 274 Reimarus, Elise 195, 204, 234, 253, 274–275 Reimarus, Hermann Samuel 253, 260 Reimarus, Sophie 234, 253 Rellstab, Johann Carl Friedrich 66, 90, 145, 154–155, 168–169, 195, 215–217, 253, 257–259, 275 Rellstab, Ludwig 90, 123–124, 155, 216, 234, 241, 272 Riehl, Wilhelm Heinrich 84, 115, 150 Rochlitz, Friedrich 60, 91 Rohrbach, Paul 245 Rode, Pierre 206–207
331
Rossini, Gioachino 92, 111–115, 117 Rungenhagen, Carl Friedrich 133, 261, 263–265, 286 S Sack, Johann Philipp 214 Salomon, Johann Peter 19, 172, 183–184, 196–198, 204 Salomon, Bella (geb. Itzig) 96, 120, 136, 172, 186–187, 193, 207, 213, 251, 256, 284, 304 Schaffrath, Christoph 175–176 Schale, Christian Friedrich 172, 214, 219 Scheibe, Johann Adolph 60–62, 65, 71, 80, 87, 89, 122 Schinkel, Karl Friedrich 222 Schlegel, Dorothea 117, 140 Schlegel, Wilhelm 70 Schlesinger, Adolf Martin 100, 110–111, 155, 170 Schleiermacher, Friedrich 70, 285 Schrade, Leo 22, 32, 234 Schubart, Christian Friedrich Daniel 66, 80, 84 Schulze, Abraham Peter 277 Schulze, Hans-Joachim 23, 165–166, 255 Schumann, Clara 27, 37, 141, 211, 226, 240, 272, 300 Schumann, Robert 26, 29, 68, 104, 123, 141 Schünemann, Georg 227, 259, 273 Sebaldt, Carl Friedrich 151, 172, 218–219 Silbermann, Familie 287 Silbermann, Gottfried 218, 287 Silbermann, Johann Friedrich 234, 287 Spitta, Philipp 85, 123 Sponheuer, Bernd 12, 38, 122 Stahl, Georg Ernst 184–185 Streicher, Johann Andreas 108, 287 Swieten, Gottfried van 181, 291 T Telemann, Georg Philipp 267 U Uhden, Wilhelm 241, 253, 286 Unseld, Melanie 48, 52–53, 60, 69–71, 77, 102 V Varnhagen von Ense, Rahel 37, 56, 80–81, 101, 104, 131, 140 Varnhagen von Ense, Karl August 101, 104, 127, 142, 232, 241–242, 304 Voß, Carl Heinrich (Otto von Voß sen.) 19, 152, 184, 199–202, 291
332
Personenregister
Voß, Otto Carl Friedrich (Otto von Voß jun.) 199–200, 202, 204 Voitus, Ernestine 286 Voitus, Sidonie 221, 286 W Well, Helmut 12, 39 Werner, Eric 136, 208 Wessely, Carl Bernhard 172, 194–196, 216 Wessely, Moses 195, 274 Wieck, Clara (s. a. u. Schumann, Clara) 68 Wilhelmine von Bayreuth 173, 181–182 Witthauer, Johann Georg 275, 277, 286, 289 Wollank, Friedrich 264
Wollny, Peter 24, 36, 38, 163, 165, 171, 179, 192, 194, 200, 235, 242, 257, 266, 270, 277–278 Wulff, Zippora (geb. Itzig, s. a. u. Eskeles, Cäcilie von) 186, 193–195, 258, 266, 271, 274–275, 287 Z Zelter, Carl Friedrich 28, 89, 91–92, 94, 108–109, 112–114, 124–126, 129, 134–135, 138–142, 145, 149, 153, 175, 177, 179, 182, 189, 200–202, 204, 208–210, 213–214, 216–230, 236, 253, 256, 259–260, 262, 264–265, 268–270, 272–273, 275, 277, 286, 289, 291, 299–300
Trotz zahlreicher musikwissenschaftlicher Arbeiten hat die Vorstellung einer plötzlichen Wiederentdeckung J. S. Bachs durch F. Mendelssohn Bartholdy im Jahr 1829 beharrlich das kulturelle Gedächtnis bestimmt. Diese Studie setzt sich kritisch mit dieser Art von musikhistoriographischer und -wissenschaftlicher Wissensproduktion auseinander und definiert auf der Basis umfassender Quellenstudien und -kritik den Begriff der Rezeption neu, nämlich im Sinne einer Vielfalt kultureller Praxis. Denn die frühe Rezeption J. S. Bachs zwischen 1750 und 1829 fand auf vielfältige und distinkte Art und Weise in Berlin statt: Bachs Musik war Experimentierfeld
musikalischer Praxis in häuslich-intimer Atmosphäre, musikalisches Vermittlungsprogramm im privaten Bürgerhaus und Diskussionsstoff in Briefen. Evelyn Buyken zeichnet ein plastisches Bild dieser oft nur marginal behandelten frühen Phase der Bach-Rezeption. Im Fokus stehen die unterschiedlichen Rezeptionspraktiken, ihre Trägerinnen und Träger sowie die Räume und Medien, in denen die Musik Bachs nach 1750 aufgeführt und besprochen wurde. Mikrostudien zu Lea Mendelssohn Bartholdy und Sara Levy nehmen den häuslich-familialen Musikraum besonders in den Blick.
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ISBN 978-3-515-12058-6
9
7 83 5 1 5 1 20586