Johann Sebastian Bach [Reprint 2019 ed.] 9783111465494, 9783110032123


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German Pages 259 [276] Year 1950

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSANGABE
Erster Teil. DAS LEBEN
DIE BACHE
KINDHEIT UND LEHRJAHRE
ERSTE LEBENSSTATIONEN: WEIMAR, ARNSTADT, MÜHLHAUSEN
DER REIFE MEISTER: WEIMAR UND KOTHEN
DER THOMASKANTOR
BACHS UM- UND NACHWELT
Zweiter Teil. DIE WERKE
STIL UND GEIST
GEISTLICHE KANTATEN
WELTLICHE KANTATEN
GRÖSSERE GEISTLICHE CHORALWERKE
DIE INSTRUMENTALMUSIK
DIE WERKE FÜR KLAVIER
DIE WERKE FÜR ORGEL
WERKE FÜR SOLOSTREICHINSTRUMENTE
KONZERTE
LETZTE WERKE
EIN NACHWORT ÜBER DIE PFLEGE BACHSCHER MUSIK
ANMERKUNGEN
NAMENVERZEICHNIS
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Johann Sebastian Bach [Reprint 2019 ed.]
 9783111465494, 9783110032123

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ENGEL / JOHANN SEBASTIAN BACH

J O H A N N SEBASTIAN BACH

JOHANN SEBASTIAN

BACH VON

HANS E N G E L

WALTER D E G R U Y T E R & CO. / B E R L I N W 35 VORM. G. J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL J . TRÜBNER - VEIT Sc. COMP.

19S0

Das Titelbild ist das von E. G. Haußmann 1747 für die Musicalisdie Sozietät" gemalte Portrait. Bad) hält in der Hand den Canon triplex a 6 voc.-Vgl. S. 59.

Archiv-Nr. H 78 50 Satz und Druckt Parzeller «t Co. vormals Fuldaer Actiendruckerei, Fulda

M E I N E R LIEBEN FRAU GEWIDMET

VORWORT Zwei Jahrhunderte sind seit dem Tode Bachs vergangen. Fast ein Jahrhundert lag Badbs Werk brach. Seit über einem Jahrhundert ist der Einfluß dieses vielleicht größten Musikers aller Zeiten ständig gewachsen. Diese späte Wirkung Bachs nicht nur auf die ausübenden, sondern auch die schaffenden Tonkünstler ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen unserer Musikgeschichte, die keineswegs etwa mit dem Historismus dieser Epoche erklärt werden kann. Bachs Musik erfüllt werdende, schaffende und nachschaffende Musiker gleichermaßen. An sie wendet sich dies Buch. Die Wiedererweckung Bachs wurde durch die junge Musikwissenschaft gefördert, die selbst an den ihr durch Bach gestellten Aufgaben wuchs. Spittas Buch über Bach war eine der bedeutendsten Leistungen dieser jungen Wissenschaft, doch hat die Musikwissenschaft seit diesem Werk das Bild Bachs durch viele Einzelforschungen und grundsätzliche Betrachtungsweisen wesentlich erweitert und vertieft. Insbesondere ist die Erkenntnis des Werkes gefördert worden. Dieses Buch soll nun dem Musiker und Musikfreund in gedrängter Form als Einführung in das Werk Badis und in die Fragen der Bachforsdiung dienen. Um den geplanten Umfang nicht zu überschreiten, war Beschränkung notwendig bei der Besprechung der Werke, bei den Literaturangaben sowie auch bei den interessanten Fragen nach den Quellen des Bachschen Stiles im Werke der Vorgänger und Zeitgenossen. Wenn mein Buch den Leser anregt, sich an Hand der Kompositionen selbst in Form und Geist Bachschen Schaffens zu versenken, so ist das Ziel meiner Arbeit erreicht. Marburg, im Badijahr 1950 Dr. phil. Hans Engel o. Professor d e r Musikwissenschaft an der Philipps-Universität

INHALTSANGABE Erster

Teil

Seite

DAS L E B E N Sippe und Vorfahren 2, Joh. Christoph und Johann Michael Bach 4, der Vater Ambrosius 6 KINDHEIT

UND

LEHRJAHRE

Eisenach 9, Ohrdruf 10, Michaclssdiule Reinken 12, frühe Kompositionen 13

8 in Lüneburg 11,

Böhm und

ER S T E L E B E N S S T A T I O N E N . W E I M A R , A R N S T A D T , M Ü H L H A U S E N Weimar 14, Arnstadt 15, Ausflug zu Buxtehude nadi Lübeck 16, Maria Barbara, erste Gattin 17, Orgelwerke 18, Mühlhausen 18, Badi Orgelbauer 19

14

DER REIFE MEISTER:

20

WEIMAR UND KOTHEN

Weimar 20, Joh. Gottfried Waither, Anverwandter, 21, Meister der Orgel 22, Dresdener Oper 23, Kantaten mit Franck 24, italienischer Einfluß 25, Kothen 27, Kammermusik 28, Brandenburgisdie Konzerte 29, Klavier-Büchlein 29, Klavier-Büchlein für Anna Magdalena 30, Orgel-Büchlein 30, Wohltemperiertes Klavier 31, Händel verfehlt 32, T o d Anna Magdalenas 3, zweite Gattin 33, Reise nadi Hamburg 33, Trauermusik für die Fürstin 34 DER

THOMASKANTOR

35

Bewerber 36, Johannispassion 37, Stellung des Kantors und Sdiulverhältnisse 38, Dienst der Thomaner 40, Besetzung der Aufführungen 41, Collegium musicum 43, Stadtpfeifer 45, Streitfall mit Sdiulreformer 47, Johannispassion 48, Picander-Henrici und Matthäuspassion 49, Magnificat und h-Messe 51, Motteten und Gelegenheitswerke 53, KlavierUebung 55, Orgelspieler 56, Schüler und Söhne 57, Mizlers Sozietät 59, Kantaten der Spätzeit 61, Reise nadi Berlin 6, Musikalisches Opfer 63, Kunst der Fuge 64, Streit mit Biedermann 64, Krankheit und Tod 65 IX

BACHS UM- UND NACHWELT Bach und Händel 67, Kuhnau und Telemann 69, Deutsche, Franzosen und Italiener 70, Galanter Stil 71, die neue Zeit und die Söhne Badis 73, der jüngste von ihnen wird Italiener 75, Beethoven 76, Zelter und Mendelssohn und die Wiedererweckung 77, Gesamtausgabe 78, Einfluß auf 19. Jahrhundert 80, Reger 82

Zweiter

66

Teil

DIE WERKE STIL UND GEIST Rhetorik 86, Tonarten 87, Tonmalerei 88, Zahlensymbolik 90, Zitate 91, Schweitzer 92, Symbolik und Schering 94, Affektmalerei 95, Bewegungsabbildcr 98, Stimmungsgehalt 101, Formenreichtum 102, Orchester 104

85

GEISTLICHE KANTATEN Osterkantate 107, Kantaten 1712—17 109, Leipziger Werke 111, Weihnacfatsoratorium 116

106

WELTLICHE KANTATEN Kaffeekantate 123, Phöbus und Pan 124

122

GRÖSSERE GEISTLICHE CHORWERKE Magnificat 125, h-Messe 128, Motetten 133, Johannispassion 135, Matthäuspassion 141, Sdiemellis Gesangbuch 149

125

DIE INSTRUMENTALMUSIK

150

WERKE FÜR KLAVIER Capricci 153, Toccaten 154, Inventionen und Sinfonien 158, Wohltemperiertes Klavier 161, Chromatische Fantasie 169, Suiten 170, Partiten 175, Ital. Konzert 177, Goldbergvariationen 178

152

WERKE FÜR ORGEL Präludium und Fuge in C 182, d-Toccata 183, Passacaglio 186, Toccata F 187, Trinitätsfuge 189, Orgelkonzerte 190, Choralvorspiele 191, Partiten 193, Orgelbüdilein 196, Choralsammlung 201

179

WERKE FÜR STREICHINSTRUMENTE Violinsonaten 206, Ciaconna 207, Sonaten mit Klavier 210, Trios 214, Flöten- und Gambensonaten 215

205

X

KONZERTE Violinkonzerte 217, Klavierkonzerte 220, für mehrere Brandenburgisdie Konzerte 222, Ordiestersuiten 225 LETZTE

217 Klaviere 221,

WERKE

226

Musikalisches Opfer 226, Kunst der Fuge 228, Bach und die Theologie 234, EIN N A C H W O R T ÜBER DIE PFLEGE BACHSCHER MUSIK . . . . Instrumente 236, Besetzung 237, Editionstedinik 238, Geist und Ungeist der Aufführungen 239

236

ANMERKUNGEN

242

NAMENVERZEICHNIS

246

XI

DAS LEBEN

DIE BACHE Lieber fünfzig Musiker aus der Familie Johann Sebastian Bachs sind uns bekannt. Außer Sebastian sind von ihnen mindestens acht als hervorragende Komponisten zu bezeichnen, zwei Onkel. Joh. Christoph und Joh. Michael, zwei Vettern, Joh. Bernhard und Joh. Nikolaus, und vier Söhne Sebastians. Das ist eine Häufung von kleinen und großen Talenten, wie sie in anderen Musikerfamilien nicht anzutreffen ist. Die musikalische S i p p e B a ch ist im Herzen Deutschlands seßhaft gewesen, in Thüringen, der Landschaft, die neben dem südlichen Franken und Wien bis 1750 die meisten Musiker hervorgebracht hat. Wechmar, Arnstadt, Eisenach, Erfurt, Gotha, Jena, Meiningen sind die Sitze der Familie. In Gräfenroda begegnet in einer Urkunde vom 23. Februar 1509 zuerst ein Bauer Hans Bach, in Wechmar lebte um 1561 Hans Bach, der Ur-Ur-Ur-Großvater Joh. Sebastians. In Gotha ging. Jos. Sebastians Urgroßvater Hans bei dem Stadtpfeifer Caspar Bach in die Lehre. 1620—1640 war Caspar »Haußmann«, er heiratete seine Verwandte Catharine Bach und vererbte sein Amt an zwei Söhne. So war es und so blieb es zwei Jahrhunderte: die »Bache« lernten fast immer wieder bei einem aus ihrer Sippe, denn überall im Lande saßen Musiker ihres Namens. Oft heirateten sie Verwandte, so daß die Familienzusammenhänge schwer zu entwirren sind, und von einem thüringischen Städtdien führte sie Beruf und Amt ins andere. Aus Wechmar scheint der Ur-Ur-Großvater Bachs zu stammen, V i t u s B a di. Dort ließ sich Vitus nieder, als er aus Ungarn zurückkam. Vitus war Weißbädcer in Ungarn gewesen, der seines 2

evangelischen Glaubens halber Ungarn verließ, als Rudolf II. (1576—1612) eine grausame Gegenreformation durchführte. Der Glaube führte ihn in seine Heimat zurück. »Er hatte sein meistes Vergnügen an einem Cythringen gehabt, welches er auch mit in die Mühle genommen und unter währendem Mahlen darauf gespielet. Es muß doch hübsch zusammengeklungen haben! Wiewohl er doch dabei den Takt sich hat imprimieren lernen: Und dieses ist gleichsam der Anfang zur Musik bei seinen Nachkommen gewesen.« So erzählt launig eine von Joh. Sebastian angelegte, von seinem Sohn C. Ph. E. Bach mit Anmerkungen versehene Genealogie »Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie«. Veit Bach starb am 8. März 1619. Er soll zwei Söhne gehabt haben, in Wirklichkeit waren es vielleicht mehr. Einer war Teppichwirker. Von ihm stammt eine Linie, die zu Sebastians Zeiten am Hofe in Meiningen bedienstet war und die heute noch männliche Nachfahren hat. Einer dieser Bache zeigte malerische Begabung, wie der Sohn C. Ph. E. Bachs, Joh. Philipp (1751—1846), der Hoforganist und Maler war. Ein anderer, vielleicht der ältere Sohn Veits, war H a n s , als Spielmann in Wechmar seit 1604 und den umliegenden Städten geschätzt. Er starb am 25. Dezember 1626 an der Pest, wie neun Jahre später auch seine Witwe. Ein anderer Hans Bach, vielleicht ein Verwandter, lebte als Spielmann und starb am 1. Dezember 1615 in Nürtingen bei Stuttgart als Spielmann und Hofnarr der Herzoginwitwe von Württemberg. Hans Bach hatte zwei Söhne. Der älteste, J o h a n n e s , getauft am 26. November 1604 zu Wethmar, war kurze Zeit Organist in Schweinfurt, Wechmar und Suhl, und kam 1635 als Direktor der Ratsmusik nach Erfurt, wo er dann auch Organist an der Predigerkirche wurde. Er hat als der älteste der Komponisten der Familie zu gelten. Drei schöne Motetten seiner Komposition im »Altbadiischen Archiv« sind im tiefernsten Ton gehalten, wie er für die Bachsdie Religiosität kennzeichnend ist. Die schreckliche Not, die Deutschland im 30jährigen Krieg und der nachfolgenden Zeit durchmachte, hat nachhaltig auf die Gemüter der glaubensstarken Naturen eingewirkt. Der Seufzer: »Ach wie flüchtig, ach wié nichtig ist des Menschen Leben« der doppelchörigen Choralmotette und i

3

die Glaubensgewißheit der vierstimmigen Aria: »Weint nicht um meinen Tod! Ich hab in frohen Siegen nun völlig überstiegen Furcht, Jammer, Angst und Not«, entsprechen den »musikalischen Sterbensgedanken« dieser schweren Zeit. In zweiter Ehe heiratete Johannes eine Hedwig Lämmerhirt, aus deren Familie auch Sebastians Mutter stammte. Johannes starb 1673. Seine drei Söhne wurden Musiker in Erfurt, der älteste, Joh. Christian (1640—1683) nach Erfurter Jahren Nachfolger seines Vaters. Johannes hatte noch Brüder. H e i n r i c h (1615—1692) war 1635—1641 in der von Johannes geleiteten Ratskompagnie in Erfurt. 1641 wurde er Organist in Arnstadt, welchen Posten er über 50 Jahre bekleidete. Als er 7 7jährig, von allen betrauert, starb, folgten 28 Enkel seinem Sarge. Heinrich durfte auch in der Stadtkapelle mitwirken und tat als Mitglied der gräflichen Kapelle Dienst bei Hof. Die Familienchronik lobt seinen munteren Geist. Der hat ihm geholfen, denn das Leben in dieser Zeit war sdiwer, und Heinrichs Eingaben lassen erkennen, welche Not der Organist litt, der 1644 schon über ein Jahr keine Besoldung erhalten und alles vorher Erhaltene »sich fast mit weinenden Augen hatte erbitten müssen«. Eine von vielen Werken allein erhaltene Kantate Heinrichs ist frische und gesunde Musik. Heinrichs beide älteren Söhne sind die bedeutendsten Komponisten der Familie vor Joh. Sebastian. J o h a n n C h r i s t o p h (1641 bis 1703), in Arnstadt erzogen, verheiratet mit der Tochter des dortigen Stadtschreibers, wurde 1665 in Erfurt Stadtorganist und 1700 herzoglicher Kammermusiker. Auch er geriet in Not und schied verbittert am 31. März 1703 aus dem Leben. Die Familienchronik nennt ihn einen profunden, C. Ph. E. Bach setzt hinzu einen »großen und ausdrückenden Komponisten«. Als einen bedeutenden Komponisten seiner Zeit weisen ihn die heute veröffentlichten Werke aus, zwei Lamenti »Ach, daß ich Wassers genug« für Alt und »Wie bist Du denn, o Gott, in Zorn auf mich entbrannt« für Baß, wahrhaft ergreifende Stücke voll tiefster Ausdruckskraft, sowie vier Motetten, unter denen die Aria »Mit Weinen hebt sichs an« von quälender Lebensnot und pessimistischer Grundstimmung erfüllt ist. In der letztgenannten stellt die gequälte Kreatur an Gott die Frage: »Was 4

hat ein Mensch für Dich, was forderst Du für Gaben? Begehrst Du Herzensangst... Vielleicht ist Dir gedient mit Tränen ...?« Aber auch die gewaltige Michaelskantate »Es erhub sich ein Streit« und eine originelle Kantate für Ratsfeierlichkeit sowie eine Hochzeitsmusik nach dem Hohen Lied mit hübsdier szenischer Beschreibung lassen die vielseitige und erstaunliche Kraft dieses Bachschen Genies erkennen, dessen kühne Behandlung der übermäßigen Sexte noch C. Ph. E. Bach in Verwunderung versetzte. Zu diesen vokalen Werken treten nodi instrumentale, eine Fuge in Es für Orgel, die irrtümlich unter die Werke Joh. Sebastians aufgenommen wurde, 44 Choralvorspiele, eine Sarabande und eine »Aria Eberliniana« mit Varitaionen. J o h . M i c h a e l , der jüngere Bruder Christophs, reicht an diesen als Komponisten nicht heran, obwohl seine 17 Motetten, meist ein- oder doppelchörige Choralmotetten, davon zehn im »Altbachischen Archiv«, ebenso wie vier Kantaten den Meister in Gattung und Stil zeigen. Michael (1648—1694) wurde 1673 Organist und Stadtschreiber zu Gehren bei Arnstadt. Er ist nur 46 Jahre alt geworden. Seine Tochter Barbara wurde Sebastians erste Frau. Auch als Instrumentenmacher hat J. Michael Bach sich bewährt. C h r i s t o p h B a c h , der zweite Sohn des Johannes (1613—1661), der Großvater Sebastians, war bei seinem älteren Bruder Johannes, der damals als Spielmann in der ganzen Gegend bekannt war, in Wechmar in die Lehre gegangen. Mit noch nicht zwanzig Jahren wurde er »fürstlicher Bedienter« und gleichzeitig Musiker der herzoglichen Kapelle in Weimar, ging dann nach Erfurt in die »RatsMusikanten-Kompagnie«, die, vier bis sechs Mann stark, so viele Mitglieder der Familie Bach zu den ihren zählte, daß man die Musikanten kurz »B a dl e« nannte. Sein Sohn G e o r g C h r i s t o p h (1642—1697) war später Kantor zu Themar und dann 1689 zu Schweinfurt, wo er einen fränkischen Zweig der Familie begründete. Seinem Enkel Johann Elias (1705—1755) ist Joh. Sebastian begegnet. Er korrespondiert mit ihm noch in den letzten Lebensjahren 1748. Elias hat ihm fränkischen Wein geschickt. Eine »edle Gabe Gottes« nennt Bach diesen Rebensaft. Die einzig erhaltene Kantate »Siehe wie fein und lieblich ist, wenn Brüder 5

einträchtig beieinander wohnen« hat Georg zu seinem 47. Geburtstag 1689 geschrieben. Er feiert die Eintracht mit seinen Brüdern, den Zwillingen J o h a n n C h r i s t o p h und J o h a n n A m b r o s i u s . Diese beiden waren vier Jahre jünger als Georg, 1645 am 22. Februar geboren. Sie waren sich zum Verwundern ähnlich, in Erscheinung, Lebensgewohnheiten, Redeweise und musikalischem Geschmack. Selbst ihre eigenen Frauen sollen Mühe gehabt haben, sie zu unterscheiden. Ihr Leben verlief ähnlich, sogar Krankheiten suchten sie zu gleicher Zeit heim und beide starben in den besten Jahren, Christoph 1693, Ambrosius 1695. C h r i s t o p h war 1671 Hofmusiker in Arnstadt geworden. In Arnstadt v/ar der Vater seit 1654. 1661 starb er, und 1667 ist A m b r o s i u s Mitglied der Erfurter Musikanten-Kompagnie an Stelle seines Vetters Johann Christian, der nach Eisenadi übersiedelte. Am 8. April 1668 heiratete der 23jährige Ambrosius die 24jährige Kürschnermeisterstochter Elisabeth Lämmerhirt. 1611 übersiedelte Ambrosius mit Weib und Kind — von zwei Knaben war einer gestorben — nach Eisenadi. Nach Probezeit wurde er Stadtpfeifer, verpflichtet, jeden Tag zweimal auf dem Rathaus, mittags um 10 und abends um 5 Uhr, abzublasen und alle Fest- und Sonntage in der Kirche aufzuwarten. Dafür erhielt er außer einer bescheidenen Besoldung Kleidergeld, Freibier aus zweitem Ausguß im Brauhaus, Braurecht für den Haustrunk, freie Wohnung und bei Hochzeiten den Lohn, während die Bierfiedler, die nicht organisierten freien Musiker, nur das Trinkgeld behalten sollten. Seine Tätigkeit wurde allgemein geschätzt; er hat sich »in seiner Profession dermaßen qualifiziert, daß er sowohl mit Vokal- als Instrumentalmusik beim Gottesdienst und ehrlichen Zusammenkünften mit hoch und niedrigen Standespersonen guter Vergnügung aufwarten kann, als wir uns dergleichen, soweit wir gedenken, hiesigen Ortes nicht erinnern«. 1684 indes klagt Ambrosius dem Rat seine vielen Ausgaben wegen der Lehrjungen und drei Gesellen, seine schlechte Besoldung, die Widerwärtigkeiten mit den Bierfiedlern. Auch bei Hofe hatte Bach aufzuwarten. 1677 hatte der Fürst eine kleine Kapelle errichtet. Der bedeutende Orgelmeister Joh. Pachelbel (1653—1706), der auf Sebastians Orgel6

werk stark eingewirkt hat, wurde damals als »Musikus«, nicht als Hoforganist, angestellt. Das folgende Jahr schon ging er nach Erfurt als Organist bis 1680, 1692—1695 war er wieder in Gotha. 1685—1690 war Daniel Eberlin, ein begabter Musiker mit abenteuerlichem Lebensgang, der Vorgesetzte des Vaters Badi. 1692 umfaßte die Kapelle 6 Trompeter, 2 Trompeterjungen, 1 Pauker, 1 Paukerjunge, 1 Lautenisten und den Stadtmusiker Bach. Auch der Vetter Joh. Christoph, der Organist, hat Dienst in der Kapelle getan. Einer der Gehilfen der Stadtmusiker war ebenfalls ein Bach. Dem Ehepaar Bach waren nach dem in Erfurt geborenen Sohn J o h . C h r i s t o p h nodi drei Söhne und zwei Töchter geschenkt worden, von denen zwei Söhnlein und eine Tochter früh starben. Am 23. März 1685 wurde ihr achtes Kind getauft auf den Namen J o h a n n S e b a s t i a n . Schon 1694 verliert Ambrosius seine Gattin, der neunjährige Sebastian die Mutter; am 3. Mai wird sie begraben. Im November heiratet der Witwer die Witwe eines Diakonus in Arnstadt, Barbara Margarethe Bartholomäi, die in erster Ehe mit Heinrich Bachs Sohn Günther vermählt gewesen war. Auch diesmal war ihr kein Glück in der Ehe mit einem Bach beschieden. Schon am 24. Februar 1695 trägt man Ambrosius zu Grabe. Die Witwe, die nur zwölf Wodien und einen Tag an der Seite ihres Mannes leben durfte, bittet den Rat um das üblidie Gnadenhalbjahr. Sie beruft sich auf die Behandlung der Witwe des eineinhalb Jahre zuvor verstorbenen Joh. Christoph, des Bruders von Ambrosius, dessen Witwe der Graf hatte sagen lassen, »er sollte und müßte wieder einen Badien haben, weldies aber nicht geschehen könne, weil der liebe Gott das Bachisdie musikalische Geschledit binnen wenig Jahren vertrocknet«. Der Haushalt löste sich auf. Johann Jacob (geb. 1682) erlernte die Pfeiferkunst beim Nachfolger des Vaters, Joh. Heinrich Halbe aus Göttingen. Joh. Sebastian kam zu seinem Bruder Joh. Christoph nach Ohrdruf. Das Bachisdie musikalische Geschledit war nur für die Eisenadier Stadtpfarrei vertrocknet. Ein Badi war der Quelle entsprungen, welcher der reichste musikalische Wunderstrom Deutschlands werden sollte: J o h a n n S e b a s t i a n B a c h .

7

KINDHEIT UND LEHRJAHRE A m 23. März 1685 wurde J o h . S e b a s t i a n B a c h getauft, sein Geburtstag ist wahrscheinlich der 21. März. Ueber Bachs früheste Kindheit wissen wir nichts. Die stärksten musikalischen Eindrücke hatte er wohl von Joh. Christoph, der von 1665—1703, seinem Todesjahr, Organist an der St. Georgenkirche war. Padielbel wirkte 1677—1678 als Musikus in Eisenach. Ambrosius Badi, Hoffmann und Padielbel haben 1694 bei-einer Festlichkeit in Ohrdruf »miteinander in der Violine exerciert«. Also hat der »weitbelobte Stadtmusicus«, der Vater, musikalische Beziehungen zu diesem bedeutenden Meister weiterhin unterhalten. Jetzt, in der Kindheit wie in seinen Jünglingsjahren, fließen Bach immer wieder von Musikern der eigenen Sippe musikalische Eindrücke und Kenntnisse zu. Bach ist nicht Stadtpfeifer wie sein Vater und die »Bache« in Erfurt geworden, sondern Organist, fürstlicher Musikus und Kantor. Aber auch die Stadtpfeifer hatten kein geringes künstlerisches Niveau. Ihre Gebrauchsmusik hat den gediegenen vierstimmigen Satz weiterentwickelt, der die deutsche Instrumentalmusik des 17. Jahrhunderts auszeichnet und der den Verfall der polyphonen Technik der späteren Italiener nicht mitgemacht hat. Sonst war freilich das Leben des S t a d t p f e i f e r s nicht begehrenswert. Eine schwere Lehrjungenzeit, ein oberflächliches Lernen vieler, ja aller Instrumente, wurde von einer viele Sorgen bringenden Gesellen- und Meisterzeit gefolgt. Eine Stelle bekam man in der Regel nur, wenn man die Witwe oder zumindestens die Tochter des Vorgängers heiratete, was nicht immer ein Vergnügen war. Der große Haushalt mit Gesellen und Jungen, der strenge Dienst, das Spielen auf Hochzeiten, der Aerger mit den »Bierfiedlern« oder »Böhnhasen«, die oft unregelmäßig bezahlte Besoldung, all dies war nicht sehr verlockend. Da hatten es die O r g a n i s t e n ein wenig besser. Sie waren wenigstens 8

nicht auf Gesellen und Jungen angewiesen, wenn auch die kalten Kirchen, der Aerger mit Kantoren und Schülerchor unerfreuliche Dinge waren. Bach hat den Dienst in Kirche, Schule und bei Hof kennengelernt. Seine Herkunft aus dem Hause eines Stadtmusikus hat sicherlich von frühester Jugend an sein Interesse nicht einseitig auf Orgel- und Kirchenmusik gelenkt, wie Bach denn auch ein tüchtiger, nach seinen Solosonaten zu urteilen, ein glänzender Violinist war. Bach ist nicht nach Italien gereist, um seinen modischen Schliff zu erhalten, wie seinerzeit Schütz auf Kosten seines hochvermögenden Landgrafen von Hessen, wie Händel, der als 21jähriger nach Berührung mit der großen Welt den Plan faßte, nach Italien zu reisen, wenn auch wohl auf eigene Kosten. Von der Familie Bach sollen angeblich drei Söhne des Sohnes Veits, namens Lipps, von ihrem Herrn, dem regierenden Grafen von Schwarzburg-Arnstadt, nach Italien geschickt worden sein. Nicht belegt ist es, daß auch Bachs Vetter, Joh. Nikolaus, in Italien studiert habe. Es paßte diese modische Ausbildung nicht zu den einfachen thüringischen Stadtmusikanten und Organisten. Die Lehrjungenzeit der Stadtpfeifer war bei den Bachen wohl nicht so schwer, da die Jungen immer bei Onkeln und Tanten unterschlupfen konnten und die Bache ein gottesfürchtiger Schlag waren, der auch Humor besaß. Einmal im Jahre kam die ganze Sippe zusammen. Diese musikalische Gesellschaft, bestehend aus lauter Kantoren, Organisten und Stadtmusikanten, begann zuerst den Choral anzustimmen. »Von diesem andächtigen Anfang gingen sie zu Scherzen über, die häufig sehr gegen denselben abstachen. Sie sangen nämlich nun Volkslieder, teils von possierlichem, teils von schlüpfrigem Inhalt zugleich miteinander aus dem Stegreif... Sie nannten diese Art von extemporierter Zusammenstimmung Quodlibet und konnten nidit nur selbst recht von ganzem Herzen lachen, sondern erregten auch ein ebenso herzliches und unwiderstehliches Lachen bei jedem, der es hörte.« Joh. Sebastian kam in Eisenach, sieben- oder achtjährig, auf das Gymnasium, wo sein um drei Jahre älterer Bruder Johann Jakob neben ihm saß. Hier wurde der Grund zu einer g e d i e g e n e n h u m a n i s t i s c h e n B i l d u n g gelegt, die ihn später 9

als Thomaskantor befähigen sollte, Lateinunterridit zu erteilen und die seine ausgezeichnete Sprachbehandlung in der Komposition begründet hat. Der Chor der Schule sang in der St. Georgenkirche und zu Hochzeiten und Begräbnissen. Auch als Kurrendensänger ist der Knabe Bach mitgezogen. Das Kurrendensingen brachte Lehrern und Schülern gute Einnahmen, da der Chor beliebt war. Zu Neujahr sangen die Knaben in den umliegenden Dörfern. Als dieses Singen verboten wurde, richtete man 1693 an den Rektor die Bitte, es wieder zu erlauben. Joh. Sebastian verlor mit neun Jahren die Mutter, mit zehn den Vater. Ihn und seinen älteren Bruder Joh. Jakob nahm nun der älteste der Geschwister, Johann Christoph, auf, der in Ohrdruf, 45 km südöstlich Eisenach, seit drei Jahren Organist war. Ein Vierteljahr vor dem Tode des Vaters hatte er sich mit Johanna Dorothea vom Hofe aus Ohrdruf verheiratet. Johann Christoph war als Schüler Pachelbels ein tüchtiger Könner und wohl ein guter Lehrer, der fünf Söhne ausbildete. Sie sind Organisten und Kantoren geworden, ihrer drei zu Ohrdruf. Der Knabe Sebastian scheint raschere Fortschritte gemacht zu haben, als sein Bruder und Lehrer zugeben wollte. Deshalb soll Sebastian heimlich des Nachts, bei Mondlicht, in sechs Monaten ein Klavierbuch des Bruders abgeschrieben haben, das berühmte und für den Knaben zu schwer erachtete Stücke von Froberger, Fischer, Kerll, Pachelbel, Buxtehude, Bruhns und Böhm enthielt. Der Bruder nahm ihm aber die mühsam gefertigte Abschrift unbarmherzig wieder ab. Schon früh lernte der Knabe also die bedeutendsten nord- und süddeutschen Klaviermeister kennen. Das Gymnasium in Ohrdruf genoß hohen Ruf. Der 1679 verstorbene Herzog Ernst von Sachsen-Gotha hatte die Schulen des Herzogtums auf Anregung von Comenius reformieren lassen. Diese Reformbestrebungen wirkten noch nach. Sebastian zeichnete sich als Schüler aus, 1696 ist er unter sieben novitii als jüngster Tertianer der Erste, 1697 ist er Primus der Klasse. Rasch durcheilte er später auch die Prima. Der älteste Bruder Jakob war schon drei Jahre zuvor als Lehrling beim Nachfolger des Vaters in Eisenadi untergebracht, und nach seiner Konfirmation mit 14 Jahren 1699 sollte auch Sebastian in die Welt 10

hinaus. Vielleidit war beim Bruder Christoph kein rediter Platz mehr im Haus, denn drei Kinder waren diesem geboren worden. Auch stand eine Freistelle an der Schule nicht zur Verfügung. Am 15. März 1700 verließ Sebastian die Schule. Wohl auf Empfehlung eines jungen Lehrers, Elias Herda, der, aus Leina stammend, sechs Jahre in Lüneburg in der Midiaelissdiule gewesen war und seit 1697 in Ohrdruf Musikunterricht am Gymnasium erteilte, war Sebastian mit einem etwas älteren Mitschüler, Georg Erdmann, aus Leina nadi L ü n e b u r g an die Midiaelissdiule empfohlen worden. Dort scheinen die Thüringischen Sängerknaben geschätzt gewesen zu sein. Sebastian wurde in dem 5 Soprane, je 3 Alte und Tenore und • 2 Bässe umfassenden Mettenchor wie sein Ohrdrufer Schulfreund als Sopran mit 12 Grosdien monatlich honoriert. Mit 15 Mettenschülern hatte er Freitisch, und außerdem kamen noch die Einnahmen aus dem Kurrendechor und dem Singen bei Hodizeiten und Begräbnissen hinzu. Der diorus symphonicus war stärker als sein Kern, der Mettenchor, und umfaßte 8 bis 10 Soprane, 5 bis 6 Alte, je 5 Tenore und Bässe. Im Gottesdienst wurde der Chor stark verwandt, wie eine Mettenund Vesperordnung des Jahres 1656 ausweist. Als Fünfzehnjähriger hatte Sebastian bald Stimmbruch zu erwarten. Trotzdem dieser einsetzte und ihm das Singen unmöglich machte, blieb Sebastian an der Schule, wohl weil seine Fähigkeiten als Instrumentalist ihn nützlidi machten. In der Klostersdiule, dem Lyzeum, der Michaeliskirdie wurde die klassische Bildung eifrig gefördert. Der Kantor August Braun ist als Komponist von 24 verlorenen Kirdienstüdcen uns nicht, der Organist der Nikolaikirche als ein tüditiger Meister bekannt. Johann Jakob Loewe oder Low (1628 bis 1703) war Schüler von Heinrich Sdiütz gewesen, er war 1655 nadi Braunschweig, 1663 auf Empfehlung Schützens nach Zeitz, 1682 nach Lüneburg gekommen. In Wolfenbüttel hatte er zwei Opern aufgeführt. Loewes Suiten von 1658 mit einleitender Sinfonia sind die ältesten deutsdien Werke dieser Gattung. Seine Sonaten von 1659 sind verschollen. »Sonaten, Canzonen und Capriccen« von 1664 und Arien aus der »Satanischen Musenlust« von 1665 mit Ritornellen lassen ihn als begabten Komponisten erscheinen. Loewe 11

war Ende des Jahrhunderts, als'72jähriger, Vertreter einer vergangenen Epoche. Vom Organisten Christoph Morhard wissen wir nichts. Bedeutungsvoller war für den jungen Bach ein anderer Organist, G e o r g B ö h m an der Johanniskirche, die eine wertvolle 1551 bis 1553 gebaute Orgel besaß (und noch besitzt). Böhm war am 2. September 1661 bei Ohrdruf in Hohenkirchen geboren; er war mit der Kunst der Badie aufgewachsen, denn der Kantor Hildebrand, sein Lehrer, war Schüler Heinrichs und Christophs, Mitschüler Joh. Christophs, Johann Michaels und Ambrosius' Bach. 1698 kam Böhm von Hamburg nadi Lüneburg. Neben dem Einfluß Padielbels und Reinkens tritt die Einwirkung Buxtehudes auf Böhm zutage. Die französische Manier der Umspielung der Melodie der Choralvorspiele mit Verzierungen kommt noch hinzu. Dieser bedeutende Komponist hat den jungen Bach sicherlich wohlwollend aufgenommen und hat auf ihn eingewirkt. Vermutlidi war es Böhm, der Bach auf R e i n k e n gewiesen. Im Jahre 1701 trat Bach eine Reise nach Hamburg an, zu Fuß 45 km über die Heide. Er hat diesen Ausflug wohl öfters wiederholt. In Hamburg stand die 1678 gegründete Oper in voller Blüte, es ist die Zeit des Hervortretens Reinhard Keisers, der auf Bach eingewirkt hat, bis zu seinem ersten Bankrott 1706. J a n A d a m s R e i n k e n war bei der Begründung der Oper deren Berater gewesen. Audi in der Zeit des Kampfes der Pietisten gegen die Oper nahm Reinken oft für diese Stellung. Reinken, damals fast achtzig, war Schüler Sweelincks gewesen und galt als einer der glänzendsten Vertreter des norddeutschen Orgelstiles und Meister der großen Choralphantasie. 1720 suchte ihn Bach wieder auf. Ein anderes Ausflugsziel für den jungen, lernbegierigen Meister war Celle. Celle beherbergte eine französische Kolonie von Emigranten. Der Herzog Georg Wilhelm, linker Hand mit einer Hugenottin getraut, schwärmte für französische Komödie, für die er eine eigene Truppe hielt, für italienische Oper, die ihn ein schweres Geld kostete, und für französische Musik. Das Verzeichnis der Kapelle von 1681 bis 1705 nennt außer den deutschen Hoforganisten und Hofkantor nur Franzosen. Auch beim Tod von Mitgliedern wurde für Ersatz durch Franzosen gesorgt. Ob der Trompeter Johann 12

Pach ein Bach war, ist zweifelhaft. Vielleicht hat Bach gelegentlich in dieser Kapelle mitgewirkt. Jedenfalls ist er trotz der 90 km öfters nach Celle gepilgert, um französische Instrumentalmusik zu hören. Bach wurde ein Kenner auch der französisdien Klaviermusik, denn Werke von Nicolas de Grigny und Charles Dieupart finden wir in Abschriften Bachs wohl aus der damaligen Zeit. Eine Tabelle von neunundzwanzig Manieren, den französisdien Verzierungen, schließt sich an. François Couperins Musik hat Bach gut gekannt. Badis Schüler haben in Sammelwerken Kompositionen von Marchand, Nivers und Anglebert abgeschrieben. So erstreckte sich die Literaturkenntnis des jungen Bach bis zur neuesten französischen Modemusik. Nach rückwärts reichten seine Kenntnisse ins 16. Jahrhundert, denn die beiden für den Gottesdienst in Lüneburg gebrauchten Sammlungen, das »Promptuarium musicum« des Schadäus (1611—1617) und das »Florilegium portense« des Erhard Bodenschatz (1606, aufgelegt bis 1743!) brachten Motetten des 16. und 17. Jahrhunderts und meist völlig dem ersten Text und seiner musikalischen Ausdeutung entgegenstehende geistliche Umdichtungen von Madrigalen. Bach hat die Sammlung Florilegium noch als Thomaskantor benützt. Die Bibliothek des Lyzeums aber enthielt über hundert Werke von Schütz, Scheidt, Hammerschmidt, Ahle, Briegel, Rosenmüller, Michael, Sdiop, Crüger, Seile, Joh. Krieger, 1102 Handschriften von Heinrich Badi, Joh. Christoph Bach, Pachelbel, Agricola u. a. Der historische Umkreis dessen, was Bach jetzt schon gekannt hat, war demnach sehr groß. Er umfaßt die von der Schützzeit herstammende Motettenmusik seiner nächsten Vorfahren, die bedeutendsten mitteldeutschen Meister des 17. Jahrhunderts, Madrigal- und Motettenmusik des 16. Jahrhunderts, norddeutsche Orgel- und Klaviermusik der Sweelinckschüler, Hamburger Opern und die neueste französische Klavier- und Orchestermusik. Die f r ü h e n K o m p o s i t i o n e n B a c h s reichen wohl noch nach Ohrdruf zurück. Drei kleine Choralfugen im Stil Joh. Christoph Badis, eine nicht gut spielbare Fuge in e mit 14 Einsähen in der Grundtonart mögen zu den frühesten zählen. In Lüneburg entstanden wohl die Choralpartiten in Böhms Stil, darunter »O Gott, 13

Du frommer Gott!«*), vielleicht audi die Präludien und Fugen in a, c und G (III, 9, IV, 5, VIII, 11), vielleicht schon Präludium und Fuge in c (IV, 6).

ERSTE LEBENSSTATIONEN: WEIMAR, A R N S T A D T ,

MÜHLHAUSEN

A m 3. April des Jahres 1703 gehörte Bach dem Haushalt des Herzogs Johann Ernst von W e i m a r an, wahrscheinlich als Geiger oder Bratschist. Bach ist also frühzeitig von der Lüneburger Schule fortgekommen. Wahrscheinlich noch vor seiner Weimarer Anstellung hatte er sich zuerst um einen Organistenposten in Sangershausen beworben, der am 3. Juli 1702 freigeworden war. Bach wurde in der Wahl auch angenommen. Aber die oberste Entscheidung lag beim Herzog von Sachsen-Weißenfels, der die Stelle nicht dem Siebzehnjährigen, sondern dem 28jährigen Augustin Kobelius gab. Vielleicht hat der Herzog den Abgewiesenen aber weiter empfohlen. Prinz Johann Ernst, der Sohn des Herzogs, der damals acht Jahre zählte und 1715, kaum neunzehnjährig, starb, war musikalisch hochbegabt. Beim Kammerherrn von Eilenstein hatte der Prinz Violinunterricht gehabt, sicher auch bei Bach. Bach war Kammermusikus und hat den alten Organisten Johann Effler, der Vorgänger des Michael Bach in Gehren und Nachfolger des Johannes Bach in Erfurt gewesen war, im Amt vertreten, weshalb er in einem Protokoll 1703 in Arnstadt irrtümlich als fürstl. sächs. Hoforganist zu Weimar bezeichnet wurde. Als Kammermusikus und Kammersekretär wirkte dort Johann Paul von Westhoff, ein weitgereister Mann, der als Fähnrich gegen die Türken gekämpft, vor dem König von Frankreich und vor dem Kaiser gespielt hatte und von ihnen hoch geehrt worden, auch Professor für fremde Sprachen in Wittenberg gewesen war und von 1698 bis zu seinem * ) Die hier genannten Werke werden im zweiten Teil besprochen.

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Tode 1705 in Weimar wirkte. Als Virtuose pflegte er das doppelgriffige Spiel auf der Violine, wodurch er als Vorgänger Bachs neben Biber, Schmeltzer und J. J. Walter wichtig wurde. Dieser erste Aufenthalt in Weimar dauerte nur wenige Monate. In A r n s t a d t , dem alten Sitz der Bache, war 1701 eine neue Orgel fertig geworden. Der erst achtzehnjährige Bach in Weimar wurde als Sachverständiger zur Prüfung des Instrumentes eingeladen und spielte bei der Orgelweihe so eindrucksvoll, daß das Konsistorium ihm den Organistenposten anbot und den bisherigen Organisten Börner an eine andere Kirche versetzte. Am 9. August 1703 erhielt Bach seine Bestallung und eine ungewöhnlich hohe Besoldung. Nur dreimal die Woche hatte er Dienst, mußte aber in Ermangelung eines Kantors auch den verwilderten Schulchor leiten. Von den Schülern wird 1706 berichtet, sie trügen den Degen audi in der Schule, spielten im Gottesdienst und in der Schule Ball, brächten ihre Freizeit mit schlimmen Dingen zu und trieben des Nachts lärmenden Mutwillen. Angenehme Knaben! Rektor dieser disziplinlosen Schule war Joh. Friedrich Treiber, dessen Sohn Johann Philipp eine Art Universalgelehrter war, der 1704 ein Theoriewerk veröffentlichte, »der accurate Organist im GeneralBasse« benannt, in dem er aus nur zwei Bässen alle möglichen Akkorde ableitete, 1703 aber eine »Sonderbare Invention, eine Arie in einer einzigen Melodey aus allen Tönen und Accorden auch allerley Tacten zu componieren, so daß sie in dem härtesten Accord anfängt und in dem weichsten aufhöret«. Der Verfasser scheint ein sonderbarer Kauz gewesen zu sein. Wegen liberaler Ansichten des Atheismus beschuldigt, wurde er später in Erfurt Professor der Jurisprudenz und katholisch ( t 1753). Beide Treiber, Vater und Sohn, haben vermutlich zusammen ein Singspiel verfaßt, »die Klugheit der Obrigkeit in Anordnung des Bierbrauens«. Die Aufführung fand 1705 wahrscheinlich auf dem gräflichen Theater statt. Die Schauspieler waren dort bald Schüler, bald Handwerker. Der Graf stellte Theater, Dekorationen, Beleuchtung, Speisen und Getränke auf der Bühne und die Kapelle, die Stadt die Kostüme. Dafür konnte der Graf nach Belieben mit 14tägiger Ankündigung spielen lassen. Die Hofdienerschaft hatte 15

freien Eintritt, auch konnte jedermann »gegen ein gewiß Geld die Actiones ansehen«. So wurde in kleinen Verhältnissen Oper gespielt. Das kleine Theater war 1700 mit einer weltlichen Kantate von Salomon Franck, dem späteren Textdichter Badischer Kantaten, eröffnet worden. Im Ordiester, das 1690 21 Ausführende hatte, wirkten auch der Aktuar, der Kornsdireiber, der Küchenschreiber und Verwaltungspersonal mit, wie das noch 100 Jahre später an kleinen Höfen üblich war. Heinrich und Joh. Christoph Bach wurden gelegentlich herangezogen. Midiael Bach aus Gehren ebenfalls, sicherlich audi Joh. Sebastian. In Arnstadt lebte der Sohn Joh. Christophs, des Vaters Bach Zwillingsbruder, Johann Ernst, und Paul Gleitsmann, ein tüchtiger Spieler auf Streichinstrumenten und auf der Laute. Die sonstigen Musiker mögen Badi nidit immer begeistert haben. Er wurde nämlidi am 5. August 1705 vor das Konsistorium zitiert, weil er einen älteren Gymnasiasten und Fagottisten mit dem hübschen Ausdruck »Zippeifagottist« beleidigt hatte. Als Badis älterer Bruder J o h a n n J a k o b , Stadtmusiker in Eisenach, Abschied nahm, um als Hoboist in den Dienst Karls XII. von Schweden zu treten, mit dem er durch Polen und Rußland ziehen sollte, um nadi Jahren Aufenthalts in der Türkei später als Hofmusiker nach Stockholm zurückzukehren, da schrieb Bach ihm ein »Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo« (auf den Abschied seines geliebtesten Bruders). Der italienische, nidit sicher von Bach stammende Titel, deutet auf italienische Programmusik. Das Werk ist ein allerliebstes Stück. Auch Bachs Bruder Johann Christof erhielt ein Capriccio zu seinen Ehren (in honorem...). Ende Oktober 1705 nahm B a c h einen vierwöchigen Urlaub nach L ü b e de, den er beträchtlich überschritt: Er sei aber wohl viermal solange außen geblieben, wird bei seiner Vernehmung vor dem gräflichen Konsistorium am 21. Februar 1706 festgestellt. Bach antwortete, er sei zu Lübedc gewesen, um daselbst ein und anderes in seiner Kirnst zu begreifen. Das Ziel seiner Reise ist klar: was er von Lüneburg aus nicht durchführen konnte, das holte Bach jetzt nach. D i e t r i c h B u x t e h u d e (1637—1707) wirkte seit 1668 an der Marienkirche zu Lübedc. Er war nicht nur als Organist, sondern vor allem durch 16

seine Abendmusiken weithin berühmt. Als Komponist kirchlicher Vokalwerke ist Buxtehude vor Bach der gewaltigste, ausdrucksvollste, vielseitigste. Von einer Missa brevis im alten Stil, über ein sedischöriges Benedicamus Dominum im Sdiützstil bis zu den alle Möglichkeiten homophoner und polyphoner Satztechnik der Zeit kühn ausnützenden Kantaten und den einzelne oder mehrere Abende zusammenschließenden Riesenwerken der Abendmusiken hat Buxtehude vielfach mit seiner großartig formalen und klanglichen Phantasie Bach nachweislich Anregungen gegeben. Ueberdies ist Buxtehude der gewaltigste »nordische« Orgelmeister vor Bach. Choralvorspiele schlichter Innigkeit, großgebaute Choralphantasien, Passacaglio, Ciaconna, Präludien und Fugen, weitausholende Tokkaten künden von einer alle Gegensätze der Empfindungswelt, vom Zart-Innigen bis zum Wild-Phantastischen und Monumentalen umspannenden, edit germanisch-unerschöpflichen Künstlerseele. Der Organistenposten des schon 68jährigen Buxtehude hätte Bach wohl behagt, aber die 36jährige Tochter Buxtehudes dabei heiraten, dazu konnte der Zwanzigjährige sich so wenig entschließen, wie zwei Jahre zuvor zwei andere Anwärter, Mattheson und Händel. Das Konsistorium hatte Bach nicht nur die große Ueberschreitung seines Urlaubs vorgeworfen, sondern auch seine Spielweise im Gottesdienst. Er habe im Choral viele »wunderliche variationes gemacht, viele fremde Töne mit eingemischet, daß die Gemeinde drüber confundieret worden«. Auch sollte er mit dem Schülerchor figural und vokal musizieren. Einen eigenen Chordirektor, den er verlangt habe, könne man nicht anstellen. Ein halbes Jahr später wird Bach wieder vorgeworfen, daß er den Chor vernachlässige. Außerdem wird er befragt, aus welcher Machtbefugnis »er ohnlängst die fremde Jungfer auf das Chor bieten und musizieren lassen«. Da Bach das nächste Jahr heiratete, so kann man mit gutem Grund annehmen, daß diese Sängerin seine Braut gewesen: M a r i a B a r b a r a , die jüngste Tochter des 1694 verstorbenen Onkels, Joh. Sebastians, des hochbegabten Michael Badi in Gehren. Maria Barbara war demnach Bachs Base. Zwei große Bache Engel, Joh. Seb. Bach 2

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sind dieser Ehe entsprossen: Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel Bach. In Arnstadt hat Badi vorwiegend O r g e l w e r k e geschrieben. Da Anhaltspunkte äußerer Art für die Entstehungszeit dieser Orgelwerke so gut wie ganz fehlen, ist man auf den Versuch angewiesen, sie nach stilistischen Kennzeichen zu ordnen. Gegenüber Spitta haben die meisten neueren Forscher, zuletzt Keller, die bedeutendsten Orgelwerke einer viel früheren Zeit zugeschrieben, darunter die Präludien und Fugen in e (III, 10), G und D, ein ausgesprochenes Virtuosenstück, und die große Tokkata und Fuge d (IV, 4), dazu die Tokkata in E (G. A. Jg. 15, S. 276), dieselbe C III 7), Fantasie G (IX, 6), Fuge G (IX, 4) und kleinere Werke. In Arnstadt entstand auch die früheste der erhaltenen Kirchenkantaten »Denn du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen«, die Bach später in Leipzig umgearbeitet hat, ein prachtvolles Werk, wohl für Ostern 1704 komponiert, voll jugendlichenUebersdiwangs im älteren norddeutschen Stile. Ein Quodlibet des jungen Bach »Der Backtrog« stammt nachweislich aus dem Jahre 1707 und hat als Dichter den Rektor J. Fr. Treiber. Es nimmt humoristischen Bezug auf die Hochzeit eines J. Fr. Fudis, eines früheren Schülers von Treiber. Von Arnstadt führte der Lebensweg Joh. Seb. Bachs nach M ü h l h a u s e n . Hier war am 2. Dezember 1706 der Organist an der Kirche Divi Blasii, Johann Georg Ahle, verstorben. Am Ostersonntag 1707 spielte Bach Probe, wahrscheinlich dazu vom Ratsaussdiuß für die Besetzung dieser Stelle aufgefordert. Ein anderer Kandidat kam nicht in Frage. Als Gehalt hatte Bach dieselbe Summe verlangt, die er in Arnstadt erhalten hatte, weit mehr, als sein Vorgänger bezog, dazu ein Fuhrwerk für freien Umzug nach Mühlhausen. Am 10. August war sein Onkel, Tobias Lämmerhirt, verstorben. Der Onkel hatte Bach ein ansehnliches Legat bestimmt, das ihn in die Lage versetzte, am 17. Oktober 1707 Maria Barbara heimzuführen. Mühlhausen war freie Reichsstadt, die von einem Rate regiert wurde, welcher in drei Körperschaften eingeteilt war, die je ein Jahr regierten. Ihre Amtszeit wurde mit einer kirchlichen Feier eingeleitet, zu welcher diesmal am 4. Fe18

bruar 1708 der neue Organist Bach die Musik komponiert hatte. Bach hat den Titel der Partitur besonders kunstvoll geschrieben, dem »Jesu Juva« — Hilf Jesus — vorausgesetzt ist. Die »Glückwünsdiende Kirdien-Motette« für diesen Ratswedisel muß dem Rat und den Bürgern großen Eindruck gemacht haben, begreiflicherweise, denn das Werk ist mit seinem reich besetzten Orchester, in dem auch festliche Trompeten und Pauken nicht fehlen, und mit einer großartigen Fuge auf den Kaiser Joseph (dem die freie Reichsstadt unmittelbar unterstand) ungemein wirkungskräftig, aber auch von großer Gemütstiefe. Der Rat ließ die Kantate in Mühlhausen in Stimmen drucken. Es ist die einzige Kantate Bachs geblieben, die dieser Ehre teilhaftig wurde. Auch als Kenner des Orgelbaues hat sich Bach in Mühlhausen betätigt, als er einen seine Kenntnisse ins beste Licht setzenden Entwurf für einen Umbau der Orgel in seiner Kirche Divi Blasii lieferte*) und außerdem als Zutat ein von ihm erfundenes PedalGlockenspiel von 24 Glocken plante, das anzuschaffen der Rat beschlossen hatte. Allein Bach kam vor Ausführung dieser Pläne von Mühlhausen fort. In seinem Entlassungsgesuch vom 25. Juni 1708 spricht Bach von seinem »Endzweck, nämlich [daß er] eine regulierte Kirchenmusik zu Gottes Ehren [habe] gerne aufführen mögen«. Es habe »sich doch ohne Widrigkeit nicht fügen mögen«. Zu diesen Widrigkeiten haben sicherlich die Streitigkeiten gehört, die zwischen dem Bach auch weiterhin befreundeten Pastor Eilmar und seinem Vorgesetzten, dem Superintendenten und Pastor an St. Blasius, Joh. Ad. Frohne, ausgebrochen waren. Eilmar hatte den um 13 Jahre älteren, frommen und hochstehenden Frohne des Pietismus, des Majorismus, Chiliasmus und Terminismus beschuldigt, und zwar in einer rechthaberischen, groben Art. In diesem, auch in Mühlhausen aufflammenden Streit der Orthodoxen gegen die Pietisten, den Anhängern einer Frömmigkeitsbewegung, Pietismus genannt, die durch Speners Buch »Pia Desideria« 1675 eingeleitet wurde, stand Bach teils durch Erziehung, teils durch Freundschaft zu Eilmar auf Seiten der Orthodoxen, teils aber auch deshalb, weil die Pietisten gegen jedes Eindringen moderner musi*) Siehe Anhang.

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kalischer Formen in den Gottesdienst waren, in dem sie nur schlichte Lieder gelten lassen wollten. Die Fronten zwischen Orthodoxie und Pietismus verliefen längst nicht mehr klar erkennbar und gradlinig. Statt theologischen Gegensätzen lag den Streitigkeiten vielfach bloßes Pastorengezänk zugrunde. Die ursprüngliche Feindschaft der Pietisten gegen die Musik war längst kein entscheidendes Merkmal mehr für die religiöse Bewegung, deren feine Kunst der Seelenbeobachtung, deren poetisdie Gefühlsbetonung eine für die Musik so wichtige Verfeinerung des geistigen Lebens mit sich gebracht hatte, die sich bis zur Empfindsamkeit hin auswirkte. An geistigem und seelischem Gut haben die Pietisten die Umwelt Bachs bereichert.

DER REIFE MEISTER: WEIMAR U N D KOTHEN B ach hatte eine Anstellung beim Herzog von Sachsen -Weimar, Wilhelm Ernst, in dessen Hofkapell- und Kammermusik gefunden. Nun war Bach in gehobenerer Stellung in W e i m a r als fünf Jahre zuvor, als er bei dem Bruder des Herzogs, Johann Ernst, Musiker gewesen war. Auch mit den beiden Prinzen, Johann Ernst und Ernst August, war Bach von damals her nodi auf bestem Fuße. Von Leipzig aus besuchte er später Weimar, um Ernst August seine musikalische Huldigung darzubringen. Neun Jahre hat Bach am Hofe des Herzogs Wilhelm Ernst gewirkt. Der jüngere Bruder des. Herzogs, Johann Ernst, in dessen Diensten Bach 1703 gestanden hatte, war 1707 verstorben. Der Herzog Wilhelm Ernst war eine tiefreligiöse Persönlichkeit, der auch für kulturelle Bestrebungen aller Art reges Interesse zeigte. So gründete er ein Waisenhaus, ein Seminar für Lehrer und Prediger, das Gymnasium, eine Bibliothek und legte eine Münzsammlung an; letzteren beiden Einrichtungen stand der Sekretär des Konsistoriums, Salonion Franck, seit 1702 vor, Bachs kommender Kantatendichter. Konrek20

tor des Gymnasiums ward 1715 J o h . M a t h i a s G e s n e r , mit dem Badi sieben Jahre später in Leipzig Freundschaft verband. 1646 hatte der Herzog auch ein Opernhaus errichten lassen. Zum benachbarten kunstliebenden Weißenfelser Hof, an dem die Oper mit trefflichen Kräften, vor allem Joh. Philipp und J. D. Kobelius als Komponisten gepflegt wurde, bestanden Beziehungen. Der Weimarer Herzog hielt sich eine Kapelle: »Sein Gehör belustigten zuweilen 16 in Heyducken-Habit gekleidete, wohlabgerichtete Musikanten.« In diesem Habit hat also Bach auch spielen müssen. Es ist aber weder Husarenuniform noch Zigeunertracht, wie man in Bachbiographien erklärt bekommt, sondern die damals, seit den Türkenkriegen an Höfen beliebte Uniform der adeligen ungarischen Völkerschaft, mit Pelz verbrämt an Mütze und kurzem Mantel. Bach mag in dieser Kapelle zuerst als Violin- oder Cembalospieler, später als Konzertmeister mitgewirkt haben. Außerdem war er Hoforganist. Sein Gehalt war ein hohes, er bezog zuerst 156 Gulden 15 ggr., 1713 sdiließlich 225 Gulden und noch mehr. Kapellmeister war Joh. Samuel Drese, der damals schon 62 Jahre alt war und die letzten zwanzig Jahre von Vizekapellmeister Georg Christoph Strattner unterstützt wurde. Der interessante Kammersekretär und Violinist Johann Paul W e s t h o f f war schon 1705 gestorben. Die Kapelle zählte 1714—1716 22 Mitglieder, unter denen auch die Sänger begriffen sind, nämlich 7 Sänger, 2 Organisten, 3 Violinisten, 1 Fagottist, 7 Trompeter und Pauker. W i e üblich hatten die Mitglieder einen Beruf im Hofhalt, der Falsettist war Pagenhofmeister, der Altist Prinzeninformator, der Fagottist Gerichtsinspektor, ein Trompeter Kammerfurier. Intime Freundschaft verband aber Bach mit seinem Vetter zweiten Grades, J o h a n n G o t t f r i e d W a i t h e r (1648), der von 1707 bis zu seinem Tode 1748 in Weimar lebte. Seine Mutter war eine geborene Lämmerhirt wie die Mutter Bachs. Erst 1720 wurde Walther Hofmusiker und hatte die Prinzen im Klavierspiel unterrichtet. Walther, der im Selbstunterricht mehr gelernt hatte als bei seinem wunderlichen Lehrer Büttstedt, hat vorwiegend Orgelwerke über Choräle, Choralvorspiele, Orgelchoräle, Choralphantasien geschaffen, in denen er dem Vorbild von Scheidt und Pa21

dielbel folgte, aber auch dem von Buxtehude, Tunder und Böhm. In dieser Schaffensweise hat Walther auf Bach und sein in Weimar entstandenes »Orgelbüchlein« Einfluß gehabt. Ein Choralvorspiel seiner Komposition »Gott der Vater wohn* uns bei« ist bei dieser stilistischen Beziehung nicht zufällig unter Bachs Werke geraten. Aehnlich wie Bach hat auch Walther fremde Konzertwerke, darunter Concerti grossi von Torelli und Corelli, auf die Orgel übertragen. Die Zunahme der Doppel- und Tripelfugen Bachs seit der Weimarer Zeit geht wohl auf die gemeinsame Vorliebe beider Meister für den Kontrapunkt zurück. In Weimar wurden Bach sechs Kinder geboren, darunter 1713 Zwillinge, die den Tag ihrer Geburt nicht überlebten, und die beiden Söhne Wilhelm Friedemann (1710) und Carl Philipp Emanuel Bach (1714). Zu seiner Familie zählten nun auch Schüler, die sein ständig wachsender Ruhm angelockt hatte. Sein erster Lehrling, Joh. Martin Schubart, der 1717 sein Nachfolger in Weimar wurde, fand Genossen; Joh. Caspar Vogler, später Schubarts Nachfolger; Joh. Tobias Krebs, seit 1710 Organist, dessen berühmterer Sohn Joh. Ludwig Krebs nebst Brüdern später in Leipzig wieder bei Bach studierte; Johann Gotthilf Ziegler, der von Bach lernte, daß er die »Lieder nur nicht so ohnehin, sondern nach demAffect der Worte« spielen müsse. Vor allem aber seine Söhne zeugen für den Lehrer Bach, der in der Harmonielehre streng auf selbständige Stimmführung hielt und auch als Continuospieler selbständige, melodische Oberstimmen spielte; denn alles Kontrapunktische war ihm zur zweiten Natur geworden. In Weimar hat Bach seine Vollendung als der große M e i s t e r d e s O r g e l s p i e l s erfahren, als welcher er der Mitwelt vorzugsweise galt. Uns Späteren ist diese technische Meisterschaft erkenntlich an seinen eigenen Orgelwerken, in denen uns an Stelle der Meisterschaft in verklingendem Spiel die größere Meisterschaft unvergänglicher Komposition erhalten ist. Als Virtuose glänzte Bach sowohl durch seine Fingertechnik, die er auf eigentümliche Art ausgebildet hatte, als auch durch seine unerhörte Kühnheit und Sicherheit im Pedalspiel. Dazu kam eine unvergleichliche Art des Registrierens, bei der er in neuen Klangverbindungen unersdiöpf22

lieh, oft eigenartig bis zum Befremden war und vor allem die Stimmen klar heraustreten ließ. Sein Ruhm drang nach außerhalb, und so sehen wir ihn denn manche Kunstreisen unternehmen, 1714 nach Kassel, wo der Landgraf Karl unter Ruggiero Fedeli eine gute italienische Oper unterhielt. Wahrsdieinlidi hatte der Erbprinz Friedrich, der nachmalige König von Schweden, 1695 in Weimar Bach gehört, von wo er den Gambisten August Kühnel engagierte und nun auch Bach einlud. Bach war eigentlich zur Prüfung der restaurierten Orgel geladen. Dabei ließ sich Bach vor dem Erbprinzen hören, der vor Begeisterung einen kostbaren Ring vom Finger zog und Bach schenkte. 1713 war Bach auch in H a l l e , wahrscheinlich um die neue große Orgel in der Liebfrauenkirche zu probieren. Audi hier ließ er sich als Virtuose hören. Der Organistenposten war seit dem Tode Zachows, dem Lehrer Händeis, im Jahre 1712 nicht mehr besetzt. Bach war nidit abgeneigt, die Stelle anzunehmen und komponierte zum Zwecke der Bewerbung eine Kantate (Nr. 21) und führte sie am 6. November 1713 auf. Die Hallenser schickten ihm eine Vokation in doppelter Ausführung. Bach zögerte, denn der Herzog war nicht gewillt, seinen hervorragenden Musikus ziehen zu lassen. Die Hallenser warfen ihm vor, er habe ihre Berufung nur als Druckmittel in Weimar benutzt, wo er 1714 zum Konzertmeister ernannt wurde und eine erhöhte Besoldung von 250 Florins erhielt. Bach blieb die Antwort nach Halle nicht schuldig. Die Verstimmung zwischen Bach und den Hallensern behob sich jedoch, so daß Bach am 29. und 30. April 1716 die fertige Orgel in der Liebfrauenkirche zu Halle der Prüfung unterzog, unterstützt von Christian Friedrich Rolle aus Quedlinburg und Johann Kuhnau, dem Thomaskantor aus Leipzig, dessen Nachfolger er werden sollte. 1717 reiste Bach nach D r e s d e n . Damals erlebte die Dresdner Oper unter dem bedeutenden venezianischen Meister A n t o n i o L o t t i eine von 1717 bis 1719 dauernde Glanzzeit. Der französische Ballettmeister und Komponist Volumnier, vermutlich auch Pantalon Hebenstreit, der treffliche böhmische Komponist J. D. Zelenka (1679—1745) und der bedeutende Geiger J. G. Pisendel (1687—1755) wirkten hier. Auch der berühmte französische 23

Orgel- und Kalvierspieler L o u i s M a r d i a n d (1664—1732) entzückte damals den Dresdner Hof. Für Bach waren musikalische Anreize genug da. Im Hause des Grafen von Flemming, Bachs späterem Gönner, sollten Bach und Mardiand sich in musikalischem Wettstreit messen. Mardiand erschien nicht: er war abgereist. Die neugierigen Zuhörer nahmen das als Flucht und Niederlage der französischen Kunst und feierten den deutschen Meister doppelt. Auch nach Meiningen führte Bach eine Reise, wo ein Verwandter aus der dortigen Seitenlinie, J o h a n n L u d w i g B a d i , Kapellmeister war. Als Komponist von im Jahre 1715 gedruckten Ordiestersuiten, von Motetten und einer Passionsmusik von 1713 hat dieser Bach sich ausgezeichnet. In Leipzig weilte Bach Anfang Dezember 1714, wo er am 1. Adventssonntag seine Kantate »Nun komm, der Heiden Heiland« aufführte und das Organistenamt versah. Dabei hat er Kuhnaus nähere Bekanntschaft gemacht. Bachs Tätigkeit in Weimar war ausgedehnt. In erster Linie hat er als Orgelvirtuose geglänzt; sein neues Amt gab ihm Gelegenheit, 1714 bis 1716 in der Schloßkapelle eine Reihe von Kantaten aufzuführen, zu welchen S a l o m o n F r a n c k die Texte geschrieben hatte. Diese Kantaten folgten dem neuen Stil, den Eduard Neumeister kurz definiert hat: »Soll ich's kürzlich aussprechen, so siehet eine Cantate nicht anders aus, als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammengesetzt.« Neumeister, der 1704—1706 Hofdiakonus zu 'Weißenfels war, dichtete fleißig in diesem neuen Stil, und zwar nicht weniger als fünf Jahrgänge für die Sonntage, deren zweiter von Erlebadi in Musik gesetzt und deren dritter für G e o r g P h i l i p p T e l e m a n n , damals Kapellmeister in Eisenach, Bach befreundet und Pate seines zweiten Sohnes, gedichtet war. 1716 erschienen die Dichtungen gesammelt unter dem Titel »Fünffache Kirchen-Andachten«. Begreiflicherweise blieb diese Neuerung nicht ohne Widerspruch, der am schärfsten von dem Göttinger Rechtsprofessor Joachim Meyer formuliert wurde in einer Schrift: »Unvorgreiflidie Gedanken über die neuerlich eingerissene theatralische Kirchenmusik und die darin bisher üblich gewordenen Kantaten« (1726). Bach hat aus Neumeisters 24

Jahrgängen aus dem vierten Jahrgang vier, aus dem dritten zwei und aus dem ersten eine Kantate komponiert. Auf Befehl des Herzogs hat Salomon Franck ähnliche KantatenJahrgänge gediditet, die als »Evangelische Andachtsopfer« 1715 erschienen. Der Vizekapellmeister Strattner hatte die Verpflichtung, für jeden vierten Sonntag eine Kirdienmusik zu schreiben. Bach hat eine weitere Reihe komponiert, von denen noch neun erhalten sind. Der Vorwurf, der gegen die opernmäßige Anlage der Dichtungen solcher Kantaten und damit auch gegen ihre musikalische Form erhoben wurde, ist zweifellos nicht unberechtigt. Nicht nur Arie und Rezitativ wendet Bach als Formen der modischen, weltlichen Gattung Oper an, sondern er komponierte den Eingangschor der ersten Kantate des vierten Jahrgangs Neumeisters für den ersten Adventsonntag sogar als französische Ouvertüre, mit Grave und fugiertem Allegro, mit welcher Bach den Choral verbindet. Später hat Bach sogar einmal eine ganze Kantate in Suitenform vertont. Schon diese Weimarer Kantaten zeigen den ganzen Reichtum seiner Formen und seines Empfindungslebens. Auch in den Kantaten macht sich eine Quelle der Beeinflussung bemerkbar; es ist die n e u e i t a l i e n i s d i e K u n s t , die Bach in Weimar studiert. Eingedeutschte italienische Formen und Gattungen haben ihm schon seine thüringischen Vorfahren überliefert. Jetzt versenkt sich Bach in die neueste italienische Musik. Zu Studienzwecken schuf Bach Klavierbearbeitungen, wir könnten auch sagen Klavierauszüge von italienischen Concerti grossi. Bach hat sidi wohl erst eine Sparte gefertigt, da von diesen Konzerten, wie überhaupt damals, nur Stimmen gedruckt waren, und nach diesen Sparten, von denen sich nichts erhalten hat, die Klavierauszüge, wobei er die Werke teilweise in klaviergerechtere Tonarten transponiert, die Figuration umgestaltet, andere Stellen verziert, »diminuiert« und kontrapunktische Begleitung hinzukomponiert hat. Von dem bedeutendsten Vertreter des Concerto grosso und des Solokonzertes nach Corelli, Antonio Vivaldi, hat Bach aus Vivaldis op. 1 »L'Estro Armonica« (vielleicht am besten mit »musikalischen Diditerflammen« zu übersetzen) fünf Konzerte für Klavier und Orgel über25

tragen. Andere übertragene Konzerte der 16 Bearbeitungen Bachs stammen von Benedetto Marcello, Telemann und dem jung verstorbenen Prinzen Johann Ernst. Auch weitere Arbeiten deuten auf das Studium der Italiener. So erwarb Bach 1714 eine schön geschriebene Abschrift des Orgelwerkes »Fiori musicali« von G i r o l a m o F r e s c o b a l d i von 1635. Die Canzona in d (V. 4. 10) geht in ihrer Form, bei der erst das Thema im geraden, danach variiert im ungeraden Takt durchgeführt wird, unmittelbar auf das Vorbild des älteren Meisters zurück, das nodi in der »Kunst der Fuge« wirksam blieb. Ein »Thema Legrenzianum elaboratum cum subjecto pedaliter« stammt von G i o v a n n i L e g r e n z i (1626—96), von A r c a n g e l o C o r e l l i nimmt er eine Fuge aus dessen Triosonaten, op 3, Nr. 4, zur Ausarbeitung, bei der aus Coreliis 39 Takten eine ausgeführte Fuge von über 100 Takten wurde. Von T o m m a s o A l b i n o n i (1674—1745), dessen Werke Bach auch im Unterricht zum Generalbaßspiel benutzte, hat Bach aus op. 1 Nr. 3 und 8 zu ausgedehnteren Fugen verarbeitet, welche die kurzen Vorbilder weit hinter sich lassen. Gerade Nr. 3 in A ist eine Kirchensonate, deren langsamer Satz über chromatischen ostinato-Baß Bach tief angesprochen haben muß. Die Variationen »alla maniera italiana« nennen schon im Titel das Muster der Figuration, die italienische Violinspielweise. Die italienische Konzertform ist jetzt und ebenso in den späteren Werken häufig zu finden. Eine Verbindung von Konzertform und Fuge wendet Bach in dieser Zeit aber auch in späteren Werken an. In Weimar sind vor allem auch die großen tokkatenmäßigen Präludien und Fugen für Orgel (in G, D, 4. 1, D 4. 3), die dorische Tokkata für Orgel, die Klaviertokkaten, die große Fuge nebst Präludium in a für Klavier entstanden, welches Werk Bach in genialer Weise zu einem Tripelkonzert für Violine, Flöte, Klavier und Orchester umgestaltet hat, sowie die große Fuge nebst Präludium in a (2. 8). Nur Präludium und Fuge in g für Orgel (2. 4) können wir einigermaßen genau datieren. Mattheson zitiert das Thema der Fuge 1735 als schon 1725 bekannt. Das Thema ist eine Weiterbildung eines Themas einer Klavierfuge (B. G. III. 3.334) und gehört wie die große D-Fuge zu den tokkatenhaften Charakter zei26

genden Stücken. Zu den größten Werken zählt auch die Tokkata und Fuge C (3. 8). Eine Reihe von großen Orgelfugen ist wahrscheinlich in Weimar entstanden, vor allem die große c-Passaglia (1.7), deren Thema zur Hälfte von André Raison stammt. Das Werk läßt in seiner grandiosen Anlage selbst Buxtehudisdie Kühnheit hinter sidi. Bachs Tätigkeit in Weimar gestaltete sich im Verlauf nicht so angenehm, wie er zunächst erwartet haben mag. Bei Hof war er anfangs hochgeschätzt. Audi als Komponist weltlicher Musik tritt Badi mit einer Jagd-Kantate hervor: »Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd«. Herzog Wilhelm Ernst hatte Bach mit nach Weißenfels genommen zu der Geburtstagsfeierlichkeit am 23. Februar 1716 für den Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels. Als der alte Hofkapellmeister Drese am 1. Dezember dieses Jahres starb, glaubte Badi, sein Nachfolger zu werden. Der Herzog ernannte aber den Sohn Dreses, für den Bach in der Schloßkapelle seit 1714 eigene Kantaten aufgeführt hatte. Mit seinem neu zum Mitregenten ernannten Neffen Ernst August hatte der Herzog Mißstimmigkeiten, in die Bach hineingezogen wurde. Bach suchte einen Ausweg und nahm eine ihm vom Bruder der Herzogin, dem Fürsten Leopold von Anhalt-Kothen, angebotene Kapellmeisterstelle an. Der Herzog wollte begreiflicherweise seinen ausgezeichneten Musiker nicht ziehen lassen und glaubte, daß sein Neffe die Angelegenheit heimlich betrieben hatte, was seinen Aerger verstärkte. Als Badi nach der zweihundertjährigen Jubelfeier der Reformation sein Gesuch um Entlassung wiederholte, ließ der Herzog Bach kurzerhand einsperren. »6. November ist der bisherige Konzertmeister und Organist Bach wegen seiner halsstarrigen Bezeugung von zu erzwingender Dimission auf der Landrichterstube arretiert und endlich den 2. Dezember darauf mit angezeigter ungnädiger Dimission des Arrestes befreiet worden«, heißt es in den Akten. In diesen 26 Tagen Haft hat Bach vielleicht den Plan zu seinem Orgelbüchlein entworfen. In K o t h e n gab es keine Oper, aber auch keine Kirchenmusik, denn hier herrschte der reformierte Kultus. Bis 1700 wirkte nur ein Stadtmusikus. 1707 wurden für den 13jährigen Erbprinzen Leopold drei Musiker angestellt. Auf Reisen durch Holland, Eng27

land und Italien, wo er in Rom sich vom Musiker Heinidien, der später in Weißenfels seßhaft wurde, führen ließ, hatte der junge Prinz seinen geistigen und künstlerischen Horizont erweitert. Er selbst war musikalisch, spielte Violine," Gambe und Klavier und hatte eine hübsche Stimme. Im Jahre 1717 bestand die Instrumen-. tisten-Kapelle aus 12 Musikern, 2 Notenschreibern, 4 Trompetern und 1 Pauker, unter diesen der Kammer-Violgambist Christian Ferdinand Abel hervorragte. Von seinen zwei in Kothen geborenen Söhnen ist Karl Friedrich Abel später in London berühmt geworden, eng befreundet mit dem jüngsten Sohne Bachs, Johann Christian. Die Bläser wurden bei Gelegenheit von auswärts geholt. In Kothen hatte Bach keine Aufgaben als Organist, und er mußte sidi ganz der K a m m e r m u s i k widmen. Bach hatte in Kothen einen sehr hohen Gehalt von 400 Talern, einen weit höheren, als sein Vorgänger Reinhard Stricker hatte und denselben wie der Hofmarschall, der zweithöchste Beamte des Hofes. Daraus ist die hohe Achtung ersichtlich, die dem Musiker Bach entgegengebracht wurde. Bach hatte mit der Kapelle zu musizieren, die Collegium musicum genannt wurde und ihre Proben im Hause des Ladeninhabers Lautsch abhielt. Die Notenbestände enthielten von bedeutenden Komponisten Werke von Hasse, Galuppi und Johann Fischer, von Italienern nur solche von Manfredini. Corelli und Vivaldi fehlten, ebenso die großen Franzosen. Um das Repertoire zu erweitern, hat denn Bach unendlich viel komponiert, die herrlichen sechs S o n a t e n für Violine mit ausgearbeitetem Klavierpart sowie drei Flöten- und drei besonders schöne G a m b e n s o n a t e n . Die drei S o l o s o n a t e n und drei Solosuiten für Violine mit der Ciaconna stellen ein einzigartiges Dokument Badischen Schaffens dar. Sechs Suiten für Violoncello-Solo stehen diesen Werken zur Seite. Solche Solostücke für Streicher hatten vor allem die Oesterreicher Biber und Schmeltzer und Joh. Jakob Walter in Mainz geschrieben. Audi Triosonaten hat Bach geschaffen, eine in G für Flöte, Violine und Generalbaß und eine in C für 2 Violinen und Baß. Hier in Kothen sind sicherlich auch die Violin-Konzerte entstanden, das in a mit dem ergreifenden Mittelsatz 28

über dem Basso ostinato, das in E und das D o p p e l k o n z e r t für 2 Violinen in d, eines seiner bekanntesten Werke dieser Art. Schöneres wie der seligsten Frieden spendende Mittelsatz ist in diesem Rahmen wohl niemals geschrieben worden! Die sieben erhaltenen K l a v i e r k o n z e r t e sind wahrscheinlich alle Uebertragungen eigener Violinkonzerte, das d-Konzert wohl eines fremden Werkes für Klavier, die Bach vermutlich in Leipzig für seine Söhne vorgenommen hat. Audi das Konzert in c für 2 Klaviere ist ursprünglich für Violine, Oboe und Orchester komponiert. Man hat die ursprüngliche Fassung dieser Werke mit Erfolg wiederherzustellen versucht. In Kothen sind wohl auch zuerst die prachtvollen sog. B r a n d e n b u r g i s c h e n K o n z e r t e erprobt worden, die Bach mit einer französischen Widmung dem Markgrafen Christian von Brandenburg, Domprobst von Halberstadt, gewidmet hat, den er vielleicht auf einer Reise mit seinem Fürsten in Karlsbad getroffen hatte. Diese Konzerte stellen den Gipfel Bachscher Ausdeutung der italienischen Form des Concerto grosso dar, in denen der Meister souverän mit der Form und verschiedensten Concertini, konzertierenden Instrumenten, umgeht. Auch die vier Orchesterpartien dürften hier entstanden sein. Die Gattung der mit einer französischen Ouvertüre eingeleiteten Suite, wie sie deutsche Meister der Zeit mit Vorliebe pflegen, wird hier in gleicher Weise kontrapunktisch-orchestral wie melodisch gemeistert. Das Air der D-Suite ist das bekannteste Stück dieser Werke, ein Stüde von köstlicher Schönheit. In Kothen ist außer diesen großen, bedeutenden Werken nun noch eine Reihe von Sammelwerken für Klavier und Orgel entstanden, so das » C l a v i e r - B ü c h l e i n vor (für) Wilhelm Friedemann Bach«, das Bach am 22. Januar 1720 für seinen 10jährigen Aeltesten angelegt hat. Die Schlüssel, die hauptsächlichsten Manieren und der Fingersatz werden zuerst erläutert. Nach einem Präambulum und einem dreistimmigen verzierten Choral »Wer nur den lieben Gott läßt walten« steigen die Schwierigkeiten für den Schüler rasch, es folgen ein Choral, Präludien, Tanzstüdce, dann elf Präludien, die später meist erweitert im »Wohltemperierten Ciavier« wiederkehren, und außer Stücken und Suiten von Johann 29

Christoph Richter, Gottfried Heinrich Stöltzel und Georg Telemann 15 zweistimmige Inventionen und 15 dreistimmige Sinfonien, die Bach 1723 nodimals selbständig zusammenfaßt. Im Jahre 1722 hat Bach eine weitere Gebrauchssammlung angelegt, für seine junge, zweite Gattin: » C l a v i e r - B ü c h l e i n vor Anna Magdalena Bachin«. Den Inhalt des Büchleins madien zum größten Teil die »französischen Suiten« aus. Im Deckel dieses Bandes, das wohl ein Brautgeschenk war, notierte sich Badi die Titel dreier Bücher: »Anticalvinismus«, [Evangelische] »Christenschule« und »Anti-Melandiolicus« von Dr. August Pfeiffer, mit denen er seinen Glauben im reformierten Kothen zu stärken gedachte. Sie befanden sich später mit einem ähnlichen Werk in seinem Nachlaß. Ein zweites Büchlein, das durch die Initialen A. M. B. wieder als für Anna Magdalena bestimmt erscheint, legte Bach 1725 an. Es enthält zwei Partiten der zwei »französischen« Suiten, Präludien, Tänze, Arien, Märsche und Lieder, die meist von Anna Magdalena selbst geschrieben sind und nicht nur von Bach stammen. In Kothen entstand Bachs große handschriftliche Sammlung von Orgelchorälen, das » O r g e l - B ü c h l e i n , worinnen einem anfallenden Organisten Anleitung gegeben wird, auf allerhand Art einen Choral durchzuführen, anbei auch sich im Pedalstudio zu habilitiren, indem in solchen darinne befindlichen Chorälen das Pedal ganz obligat tractiret wird. Dem höchsten Gott allein zu Ehren, dem Nächsten, draus sich zu belehren.« Es sollte 164 Choräle enthalten, aber nur 46 wurden vollendet, hauptsächlich Sonntags- und Festchoräle des Kirchenjahres. Zugrunde liegen den Melodien die Choralbücher von Weimar aus den Jahren 1708 und 1713. Eindringlich wird der Choral geboten, tonmalerisch durch Kanon oder Harmonik textlich ausgedeutet. In Kothen entstand ferner 1722 der erste Teil der Sammlung von 24 Präludien und Fugen » D a s w o h l t e m p e r i e r t e C i a v i e r oder Praeludia und Fugen durch alle Tone und Semitonia.. .«*). Das Werk ist durch die unvergleichliche Kunst der Polyphonie wie durch seinen gewaltigen und seelischen Stimmungsreichtum das Hauptwerk der *) Siehe Wiedergabe des Titelblattes S. 32.

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älteren Klavierliteratur für den Pianisten geworden. Schumann mahnte: »Das .Wohltemperierte Klavier' sei dein täglich Brot. Dann wirst du gewiß ein tüchtiger Musiker.« Hans von Bülow nannte es das Alte Testament des Klavierspielers, Beethovens Sonaten das Neue Testament. Bachs Werk ist das Brevier des werdenden ernsten Musikers geworden, das Beethoven als Schüler und als Lehrer benützte. Der Titel deutet aber auch noch eine andere Bedeutung des Werkes an. Andreas Werckmeister hat 1691 eine Schrift veröffentlicht »Musikalische Temperatur oder deutlicher . . . Unterricht, wie man . . . ein Ciavier . . . wohltemperiert stimmen könne.« Werdemeister fordert darin eine Verteilung des »pythagoreischen Kommas«, jenes Restes, mit dem zwölf aneinandergehängte Quinten sieben Oktaven des Ausgangstones überragen, allerdings noch nicht auf nicht mehr zwölf, sondern erst auf vier der zwölf Quinten. Heute verteilen wir diesen Rest auf zwölf Quinten, die alle um ein Zwölftel des Kommas erniedrigt werden. Damit kann man von jedem beliebigen Ton aus eine Melodie spielen, deren Intervalle nun in jeder Tonart dieselbe Größe haben. Das war bei den damals herrschenden ungleichen Stimmungen nicht möglich. Bach verlangt für seine 34 Präludien und Fugen auf allen chromatischen zwölf Halbstufen in Dur und Moll die gleichschwebende Temperatur. Heinichen bemerkt in einer Generalbaßlehre 1728: ^In.H-dur und As-dur pflegt man nur selten Stüdce zu setzen, in Fis-dur und Cis-dur niemals.« Eine Canzone »durch das Ciavier in alle 12 Claves« hatte schon Froberger komponiert, wie Werdemeister berichtet. Joh. Phil. Treiber, dem Bach in Arnstadt begegnet ist, ein Sonderling, veröffentlichte 1702 eine »Sonderbare Invention, eine einzige Arie aus allen Tonen und Accorden und jeglichen Tacten und Mensuren zu componieren«. Johann Caspar Fischer verwendet immerhin schon 20 Tonarten in seinem op. 4 »Ariadne Musica Neo-Organoedum per X X Praeludia, totidem Fugas«, 1702 oder 1710. Mattheson läßt seine »Exemplarische Organistenprobe« 1719 in 24 Exempeln »aus allen Tönen« gehen. Im selben Jahr wie Badis Manuskript entstand ein »Labyrinthus musicus, bestehend in einer Fantasia durch alle Tonos, nemlich: Durch 12 duros und 12 molles, zusammen 24 31

Tonos«, von Fr. Suppig in Dresden. Bachs Werk fand Nachahmung. Gottfried Kirdihoff, G. A. Sorge und B. Chr. Weber schrieben ähnliche Präludien und Fugen; Weber benennt seine Arbeit aus dem Jahre 1743, zu der er durch den Bachschüler G. H. Noah angeregt worden war, mit dem Bachschen Titel. Von Kothen aus hat Bach eine Reihe von Reisen unternommen. 1717 reiste der Fürst im schönen Monat Mai nach Karlsbad über Leipzig und Zwickau. Er nahm dabei sechs seiner Musiker, darunter Bach, mit, der sein Cembalo unter der Obhut von drei Bediensteten mitführte. 1719 machte sich Bach nach dem allerdings nicht weit entfernt gelegenen Halle auf, um H ä n d e l zu treffen. Händel war von London nach dem Kontinent gekommen, um Gesangskräfte für seine Opernakademie zu engagieren. Er besuchte seine alte Heimatstadt auf dem Wege nach Dresden, um seine Mutter zu sehen. Auf dem Rückwege hielt er sich nochmals in Halle auf. Der Graf Flemming versuchte vergeblich, Händel zu sich einzuladen, als er in Dresden war und bei Hofe die gewohnten Erfolge und Einnahmen hatte. Aber es gelang dem Grafen nicht, Händel auch nur zu treffen. Als Bach in Halle angekommen war, war Händel bereits abgereist. So ist eine Begegnung zwischen diesen größten Meistern ihres Zeitalters nicht zustande gekommen. Händel hatte von Bach sicherlich durch Mattheson Kunde erhalten, der Bachs Größe ahnte. Bach dagegen hat den Komponisten Händel hochverehrt, er hat von Händel die Brockespassion in Abschrift besessen, die teils er selbst, teils seine zweite Gattin geschrieben hat, ferner ein Concerto grosso und die Solokantate Armida abbandonata. Im Jahre 1729 schickte Badi, durch Krankheit am Reisen verhindert, seinen Sohn Friedemann von Leipzig nach Halle, wo Händel wieder auf der Durchreise, von Italien kommend, weilte, mit einer Einladung, der Händel aber infolge Zeitmangels nicht Folge leisten konnte. Eine zweite Reise mit dem Fürsten nach Karlsbad im Mai 1720 fand einen erschütternden Abschluß. Als Badi zurückkam, traf ihn die Nachricht von einem furchtbaren Verlust: seine Gattin war am 7. Juli begraben worden. Vier Kinder waren am Leben, die älteste Tochter zählte zwölf, Friedemann, Emanuel und Bernhard 32

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Dienstantritt. Nach einem Stich von J. G. Krügner 1723. Die Dienstwohnung der Kantors lag in dem dem Beschauer zugewendeten Flügel der Schule, links, Erdgeschoß, erster und zweiter Stock.

zehn, sechs und fünf Jahre. Nadi anderthalb Jahren Witwerstand gab er seinen unmündigen Kindern eine zweite Mutter, denn am 3. Dezember 1721 heiratete Bach A n n a M a g d a l e n a , die jüngste Toditer des Hof trompeters in Zeitz, Johann Caspar Wüldcen. Sie war gerade zwanzig Jahre alt, Bach sechsunddreißig. Wie Barbara war audi sie hodimusikalisch und eine gute Sängerin. Sie hat Badi dreizehn Kinder geschenkt, unter denen Johann Christoph Friedrich, der Bückeburger Bach, ein starkes Talent, der jüngste, Johann Christian, aber (1735—1782) fast ein Genie wie seine ältesten Brüder war. Der schwere Sdiicksalssdilag, der Bach getroffen hatte, hat ihm wohl den Entschluß erleichtert, eine weite Reise zu unternehmen, nadi Hamburg, wo der Organist an der Jakobikirche, Friese, am 12. September 1720 gestorben war. Zur Wahl waren acht Bewerber gestellt, von denen Bach damals schon der berühmteste, Matthias Christoph Wideburg aus Gera bekannt, ein anderer der Sohn des trefflichen Hamburger Organisten Vincent Lübeck war. Bis zum Probespiel, das auf den 28. November festgelegt war, konnte Bach nicht bleiben. Vier Organisten Hamburger Kirchen, unter ihnen der 97jährige J a n A d a m s R e i n c k e n , sollten Schiedsrichter sein. Bach spielte in der Katharinenkirche und erweckte die Bewunderung Reindcens, als er über den Choral »An Wasserflüssen Babylon« phantasierte, über die auch Reincken phantasiert hatte: »Ich dachte, diese Kunst wäre ausgestorben, ich sehe aber, daß sie in Ihnen noch lebt.« In der Ausarbeitung dieser Orgelchoralphantasie (6. 12a) in kunstvollem fünfstimmigem Satz und durchgehend angewandtem Doppelpedal haben wir diese Improvisation erhalten. Badi mußte nach Kothen zurück, um die Geburtstagsfeier des Fürsten vorzubereiten. Vier der acht Kandidaten kamen zum Probespiel, der Rat aber hoffte immer noch auf Bachs Zusage, der aber die Stelle ausschlug. Hauptprediger der Kirche war der schon genannte Kantatendichter Erdmann Neumeister. Dieser war bitter enttäuscht, Badi nicht als Organisten gewonnen zu haben und ließ bei nächster Gelegenheit in die Predigt einfließen, »er glaube ganz gewiß, wenn auch einer von den bethlemitischen Engeln vom HimEngel, Joh. Seb. Bach 3

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mel käme, der göttlich spielte und wollte Organist zu St. Jacobi werden, er hätte aber kein Geld, so möchte er wieder davonfliegen«. Denn der Sohn eines wohlhabenden Handwerksmannes, der besser mit Talern, als auf der Orgel klimpern konnte, hatte die Stelle erhalten. Um dieselbe Zeit, als Bach zum zweiten Male heiratete, ehelidite auch sein Herr, der Fürst Leopold, seine Base Friederica Henriette von Alt-Bamberg. Bach hatte pflichtschuldigst eine heute verschollene Gratulationsode vertont, wie er ein Jahr später zum Geburtstag eines Töchterchens eine Kantate schrieb. Die Fürstin teilte nicht die Neigungen ihres Gatten. Bach nannte sie eine »amusa«, und es schien ihm, »als ob die musikalische Inclination bei gesagtem Fürsten in etwas laulicht werden solle«. Die Fürstin starb zwar schon am 4. April 1723. Der Fürst heiratete 1725 ein zweites Mal, eine Prinzessin von Nassau-Siegen, Charlotte Friederike Wilhelmine. Bach hatte Kothen schon verlassen, als er 1726 zum ersten Geburtstag der zweiten Fürstin eine Gratulationskantate sandte, denn er blieb des Fürsten »Kapellmeister von Haus aus«. Und als der Fürst 1728 sein junges Leben beschloß, da führte Bach in Kothen vermutlich selbst eine großartige, offenbar tief empfundene T r a u e r m u s i k auf, die leider verloren ist. Daß Bach sich nach den Episoden in Weimar und Kothen wieder um ein Kantorat, eine kirchenmusikalische Tätigkeit bewarb, ist sicherlich darin begründet, daß er seine musikalische Sendung im Dienst zu Gottes Ehre sah. Doch lag der Weg, den er über Weimar und Kothen genommen hatte, nicht gar so weit ab, es war kein allzu weiter Umweg, und vor allem keine Abirrung von seinem rechten Pfad, keine Versuchung, in der weltlichen Musik aufzugehen. Auch die absolute Musik Bachs bleibt im Bereich des Religiösen, von reinen Tänzen abgesehen, die er aber andererseits in der Kirchenmusik verwendet hat. Durch seinen Vater und viele seiner Verwandten, die Stadtmusiker waren und Hofdienst taten, war ihm der Dienst am Hof nichts durchaus fremdes. Allzu gute Erfahrungen hatte er dabei nicht gesammelt. »Viele Musiker sehnen sich nach der Stadt«, schreibt Johann Beer in seinen musikalischen Discursen 1714, »weil der Dienst bei Hofe unsicher ist«. 34

Das hatte Bach erfahren. Starb der musikfreudige Fürst, so konnte der Nachfolger unmusikalisch sein und die Kapelle entlassen. Es genügte auch, wenn der Fürst in zweiter Ehe eine »amusa« heiratete, um die Musik einzuschränken, das hatte Badi erlebt, ebenso daß mit den Herren nicht ganz leicht zu verhandeln war, wenn man gar eine Demission erzwingen wollte. Diese äußeren Gründe mögen mitgesprochen haben, daß Bach die Gelegenheit ergriff, sich um das Thomaskantorat zu bemühen. Die Welt der Kirche, die Orgel, der Schulchor, das freiere Leben unter gleichen Bürgern hat Bach dem Leben als Musikus bei Hofe, mit den sich ergebenden vielen und unregelmäßigen Verpflichtungen, der Aeußerlichkeit der Lebensführung vorgezogen. Die thüringischen Kleinhöfe waren freilich nicht die schlimmsten, was Prunksucht, Ausländerei und Sittlichkeit anbelangt. Den barocken Aufwand, der selbst diesen bescheidenen Höfen nach Versailler Vorbild unerläßlich schien, die Anregungen aus der französischen und italienischen Musik hat Bach ohne Schaden für seine Eigenart und seinen für die Höfe geschriebenen Werken mit übernommen.

DER THOMASKANTOR A m 5. Juni 1722 war J o h a n n K u h n a u 62jährig in Leipzig verschieden. Seit 1701 war er Thomaskantor, ein Amt, das vor ihm schon bedeutende Musiker innegehabt hatten, seit Georg Rhaw (1519—1520), Joh. Hermann (1531—1536), Wolfgang Figulus (1542—1551), Sethus Calvisius (1594—1615), J. Herrn. Schein (1615—1630), Tobias Michael (1630—1657), Sebastian Knüpfer (1657—1675) und Joh. Schelle (1676—1701). Sechs Wochen nach Kuhnaus Tode hatten sidi beim Rate der Stadt Leipzig bereits sechs Bewerber gemeldet: Kuhnaus Schüler, der ehemalige Alumnus der Thomasschule, Joh. Friedrich Fasch, seit 1722 Hofkapellmeister in Zerbst, wo er bis zu seinem Tode 1758 ver35

blieb, ein tüchtiger, auch von Bach hochgeschätzter Komponist; der Organist der Neuen Kirche in Leipzig, G. B. Schott; Chr. Fr. Rolle, der 1716 mit Bach und Kuhnau zusammen die Orgel der Liebfrauenkirche in Halle geprüft hatte; ein Kantor Lembke aus Taucha bei Leipzig; ein sedizigjähriger Kantor Steindorff aus Zwickau, und der berühmteste unter ihnen, G e o r g P h i l i p p T e l e m a n n . Er war um vier Jahre älter als Badi, mit Bach von Weimar her bekannt, wo er eine Patenstelle beim zweiten Sohne Bachs, Carl Philipp Emanuel, am 8. März 1714 übernahm, der später nach Telemanns Tod 1767 sein Nachfolger als Musikdirektor der fünf Hauptkirchen Hamburgs wurde. Seit 1721 hatte Telemann diese Lebensstellung inne. Telemann war 1701—1704 in Leipzig gewesen, das er als Student der Rechte aufgesucht hatte. Doch wurde er bald regelmäßig aufgeführter Kantatenkomponist dieser Kirche neben Kuhnau, ging dann zur Musik über, wurde Direktor der Oper, komponierte für Leipzig an zwanzig, für Weißenfels vier Opern, wurde Organist an der Neuen Kirdie und Musikdirektor und gründete das Collegium musicum, dieses zum Aerger Kuhnaus, dem die Studenten fortliefen. Kein Wunder, wenn der Rat diesen berühmten Telemann gerne als Organisten gehabt hätte. Telemann dachte trotz Probespieles aber wohl überhaupt nicht daran, nach Leipzig zu gehen und wollte nur eine Erhöhung seiner Besoldung in Hamburg herausschlagen. Dem Rat genügten die Bewerber nicht. Auf seine Bemühungen traten nodi zwei bedeutende Bewerber auf den Plan: C h r i s t o p h G r a u p n e r (1683 bis 1760), seit 1709 Vize-, seit 1712 Kapellmeister in Darmstadt, und Badi aus Kothen. Fasch war von der Bewerbung zurückgetreten, weil der Thomaskantor auch wissenschaftlichen Unterricht geben sollte. Telemann hatte man diese Bedingung schon erlassen. Graupner kam nach Leipzig, leitete die Weihnachtsmusik und legte drei Wochen später die Probe ab. Allein trotz ausdrücklicher Bitte des Rates gab der Landgraf von Hessen dazu seinen Kapellmeister nicht frei, sondern erhöhte dessen sdion stattliches Gehalt. Graupner empfahl schließlich dem Rat in einem Dankschreiben unter dem 4. Mai 1723 dringend, den Kapellmeister Bach als »einen Musicus ebenso stark auf der Orgel wie erfahren in Kir36

(hensachcn und Capell-Stücken«. Bach hatte auch nach dem Bewerber Schott am 7. Februar seine Probe abgelegt. Er führte seine Kantate »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« auf und reiste danach nach Kothen zurück. Dort starb am 4. April 1723 die amusische Fürstin, deren mangelndes Interesse an Musik Badi sicherlich den Entschluß erleichtert hatte, sich von seinem früher eifrig musizierenden Fürsten zu trennen. Bach hat in Kothen auf den Ausgang der Verhandlungen zwischen dem Rat und Graupner gewartet. Er ist aber im März wiederholt nadi Leipzig herübergekommen und hat dort auch am Karfreitag, 26. März 1723, in der Thomaskirche ein eigenes großes Werk zur Aufführung gebracht: die J o h a n n i s p a s s i o n . Am 5. Mai 1723 wurde Bach auf der Ratsstube feierlich vom Bürgermeister Lange mitgeteilt, daß er als der »capabelste« vor den Bewerbern einhellig zum Kantorendienst bei der Schule St. Thomae erwählt worden sei, und daß er die Bezüge seines Vorgängers Kuhnau erhalten solle. Drei Tage später erschien Bach vor dem Konsistorium, wo der Superintendent Deyling Bach den Mitgliedern des Konsistoriums vorstellte. Auf Grund eines mündlichen Examens durch den Pastor Schmidt war Bach auch in religiöser Hinsicht als tauglich für sein Amt befunden worden. Am 13. Mai wurde Bach von dem Konsistorium in seinem Amte »confirmirt«, am 1. Juli wurde er feierlich in sein Amt in der Thomasschule eingeführt. Die Schüler musizierten vor der Tür des oberen Auditoriums ein Stück, danach traten die versammelten Lehrer und der Pastor der Thomaskirche, Weiß, in das Auditorium, wo der Oberstadtschreiber Neuse Bach im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit auf Anordnung des Rates in sein Amt einführte. Tags zuvor, am 30. Mai, dem ersten Sonntag nach Trinitatis, hatte Bach bereits in der Nikolaikirche beim Hauptgottesdienst seine für das Leipziger Amt geschaffene Kantate »Die Elenden sollen essen« aufgeführt. Die T h o m a s s c h u l e war 1212 als Stiftsschule der regulierten Augustiner gegründet. Von der Stadt wurde sie vier Jahre nach der Einführung der Reformation 1543 übernommen. Schon die Klosterschule hatte ein Alumnat gehabt. Dieses wurde beibehalten. Mit der Reformation blühten die Gymnasien und höheren 37

Schulen wieder auf. Die musikalisdie Ausgestaltung des Gottesdienstes, die Pflege und Verbreitung des neuen evangelischen Gemeindelebens verlangten tüditige Schülerchöre. So wurde auch in der protestantischen Thomassdiule die Musik als wichtigste Aufgabe angesehen. Die Stellung des K a n t o r s blieb deshalb sehr bedeutend. Er war im Lehrerkollegium in der Rangordnung nach Rektor und Konrektor der dritte. Der Kantor mußte auch wissenschaftlichen Unterricht geben. Welch eine Belastung für einen Musiker und welche Belastung für ein Genie wie Badi, dessen ungeheurer Schaffensdrang durch solchen Dienst in der Schule behindert war! Der Kantor Bach mußte am Freitag früh um 7 Uhr die Schüler zur Kirche führen, dann war er den ganzen Tag frei. Am Sonnabend mußte er um dieselbe Zeit in Tertia und Quarta den lateinischen Katechismus erklären, an den übrigen Tagen, bis auf einen freien Donnerstag, in Tertia eine Lateinstunde geben. Der Kantor mußte außerdem Gesangunterricht in den vier oberen Klassen erteilen. Von den sieben Lehrern hatten die vier oberen (superiores), Konrektor, Kantor, Tertius und Quartus, abwechselnd j e eine Woche das Amt eines Inspektors im Alumnat zu übernehmen und dann auch dort zu wohnen und an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen. Sommers 5, winters 6 Uhr wurde geweckt, um 10 Uhr zu Mittag, um 5 zu Abend gegessen, um 8 Uhr wurde schlafen gegangen. Wie der Rektor, so hatte auch der Kantor seine Dienstwohnung im Schulgebäude. Der Rat hatte diese Wohnung nach Kuhnaus Tod mit großen Kosten instand setzen lassen. Das Gebäude der Sdiule, das im Jahre 1553 neu errichtet worden war, genügte längst nicht mehr den Ansprüchen. Man mußte zum Teil mehrere Klassen von verschiedenen Lehrern zu gleicher Zeit in einem Lokal unterrichten lassen, und auch die Schlafräume waren so beengt, daß oft zwei Knaben in einem Bett schlafen mußten. Erst 1731 wurde das Schulhaus durch Aufbau von zwei Stockwerken erweitert. Wie die äußeren Verhältnisse schwierig waren, so war es auch mit den inneren. Die Schulzucht war unter dem Rektor Heinrich Ernesti verfallen. 1652 geboren, war Ernesti seit 1684 Rektor, seit 38

1691 zugleich Professor poesos an der Leipziger Universität. Große Unreinlichkeiten herrschten unter den Sdlülern. Zuchtlosigkeit und Unbotmäßigkeit wurden gerügt. Die Lehrerschaft war unter sich uneinig und zerfallen. Deshalb schickten die Bürger ihre Kinder lieber in die Winkelschulen oder ließen sie um billiges Geld privatim unterrichten. Namentlich in die untersten Klassen gingen nur Knaben ärmster Herkunft, die beim Leichensingen verdienen wollten und von ihren Lehrern angehalten werden mußten, nicht bei den Leichenzügen barfuß einherzulaufen und die sogar gelegentlich in der Stadt herumbettelten. Wir dürfen die damaligen Zustände an den Schulen vom pädagogischen Standpunkt aus nicht mit den heutigen vergleichen. Sie müssen uns dann als redit armselig und elend erscheinen. Schon die Verhältnisse im Alumnat selbst waren höchst unerquiddich. Zu den genannten Schwierigkeiten kam noch die Tyrannei, welche die älteren Schüler gegen die jüngeren übten, die den älteren, wie Friedridi Rochlitz, selbst gegen 1780 Thomaner, berichtet, als Sklaven und zu den niedrigsten Diensten, zu ganz unbedingtem Gehorsam, willkürlichen Demütigungen und selbst Züchtigungen hingegeben waren, welche traurige Sitte man Pennalismus nannte. Schon der viele Dienst, den der Schülerchor in den im Winter kalten Kirchen ausüben mußte, war nicht gesund. Viel schlimmer waren die Leichenbegängnisse, bei denen die Knaben im sdiwarzen Rock und Mantel erst im Gehen, dann am Grabe stehend bei jeder Witterung singen mußten, die Hodizeiten, bei denen sie zweideutige Lieder hörten und trotz der in vielen Städten wiederkehrenden Verordnungen auch trinken lernen konnten. Auf zahlreiche Krankheitsfälle spielt Bach in seinem Bericht von 1730 an, »so etwa einer unpaß wird, wie denn sehr oft geschieht und besonders bei hitziger Jahreszeit (August!), da die Rezepte, so von dem Schulmedico in die Apotheke verschrieben werden, es ausweisen müssen«. Viele Todesfälle durdi Schwindsucht kamen vor. Erst 1876 wurde das Leichensingen abgeschafft! Ein Drittel der Knaben waren »gar keine Musici«, wie Bach schreibt: »Summa: 17 zu gebrauchende, 20 noch nicht zu gebrauchende, und 17 untüchtige«. Die Schüler wurden meist mit 13 bis 14 Jahren auf39

genommen, doch auch jüngere, so unter Bach ein Neunjähriger. Dazu kam noch die Kurrende, das Singen in den Straßen, vor Häusern vermögender Bürger, bei denen Gaben verschiedenster Art flössen, vor allem zu Neujahr. Immer mehr empfand das aufgeklärte Jahrhundert dieses Kurrendesingen als Bettelei. Der D i e n s t d e r T h o m a n e r war sehr anstrengend und vielseitig. Nur die Fasten- und Adventszeit war musikarm, sonst gab es so viel Dienst, daß die Schulbehörde nach besonders anstrengenden Musikzeiten eigene »Ausschlafetage« einzulegen sich veranlaßt sah. In vier verschiedenen Kirchen mußte, abgesehen von den nach Gelegenheit zu beschickenden Hochzeiten, Leichenbegängnissen, »Ehren-Gelagen« oder »solennen Convivia« und der Kurrende, Sonntags- und Feiertagsdienst gemacht werden, in den Hauptkirchen St. Nikolai und St. Thomae, in der sogenannten Neukirche, der heutigen Matthäikirche, und der vor den Toren gelegenen Petrikirche. An hohen Feiertagen kam dazu noch die Pauliner- oder Universitätskirche. Eine schon zu Kuhnaus Zeiten gebräuchliche Kantoreiordnung regelte diesen Dienst, der die verschiedensten Aufgaben mit einem sehr ungleichen Schülermaterial bewältigen mußte. Von den 54 bis 56 Alumnen zu Bachs Zeiten sangen die besten 12 Sänger unter Aufsicht des Kantors in der Nikolai- und Thomaskirche als »erster Chor«. Der zweite Chor umfaßte die nächstbesten zwölf Sänger unter der Inspektion des Konrektors; er sang abwechselnd mit dem ersten Chor jeden zweiten Sonntag in denselben Kirchen. Den dritten Chor bildeten die mittelguten 12 Sänger; als Motettensänger sangen sie ausschließlich in der Neukirche unter Leitung eines Präfekten. Den vierten Chor bildeten 8 mindere Sänger, »der Ausschuß, nämlich die, so keine Musik verstehen, sondern nur notdürftig einen Choral singen können«, die in der Peters- oder Johanniskirche nur Choräle zu singen hatten. Für den Neujahrsumgang wurden jedesmal vier Gruppen zu 8 bis 10 Schülern zusammengestellt. Der Kantor Bach leitete jede Woche Sonntag vormittags in einer der beiden Hauptkirchen die Musik selbst, bei welcher der erste Chor von 12 bis 14 ausgewählten Sängern sonn- oder festtägliche Kantatenmusik ausführte, während in der anderen Kirche der zweite Chor unter dem 40

zweiten Präfekten nur Motetten sang. Nachmittags war die Einteilung dann umgekehrt. Der Kantor probte die betreffende Musik nach der Schulordnung mit dem ersten Chor selber. Bach beschränkte sich, wie ihm später vorgeworfen wurde, auf eine Probestunde. Er war auch verpflichtet, besonders begabte Schüler gelegentlich einzeln vorzunehmen. »Damit die Kirdben nicht mit unnötigen Unkosten beleget werden«, sollte der Kantor die Knaben »auch in der Instrumentalmusik fleißig unterweisen«. Wie haben wir uns Ausführung und Güte dieser großen Kirchenmusiken unter Bachs eigener Leitung zu denken? Den besten Aufschluß darüber gibt Bachs »Kurzer, jedoch hödist nötiger Entwurf einer wohlbestallten Kirchenmusik; nebst einigen unvorgreiflidien Bedenken von dem Verfall derselben« aus dem Jahre 1730, also ein Jahr nach der Aufführung der Matthäuspassion. Bach spricht in diesem Bericht zunächst von der Einteilung der 55 Alumnen in vier Chöre, wie sie vorstehend erwähnt wurde. Zu einem Chor wären 12, besser 16 Personen nötig, zu einem Doppelchor also 24 bis 32. (Der dritte Chor singt in der Peterskirche.) An Instrumentalisten wünscht Bach 2—3 erste und zweite Violinen, j e 2 erste und zweite Violen, 2 Celli, Baß 2—3 Oboen, 1—2 Fagotte, 3 Trompeten, 1 Pauke, zusammen 18, mit 2 Flöten 20. Davon können die. zur Mitwirkung bestellten Stadtmusici nur einen Teil besetzen, so daß die 9 Streichinstrumente und 2 Flöten zum Teil von Studenten gespielt werden müssen, für die aber kein Honorar zur Verfügung steht, so daß sie fernbleiben. So müssen mindestens 7 Streicher wieder von den Schülern gestellt werden, die dann im Chor fehlen. Also hatte Bach im besten Fall 25, im schlechtesten 17 Knaben für den Chor (und Doppelchor!) und bestenfalls für zwei Orchester 32 Spieler und 2 Organisten, wahrscheinlich aber nur 24 Instrumentalisten zur Verfügung. Ueber die Qualität klagt Bach sehr. Die Stadtmusiker sind teils alt, emeriti, teils Lehrlinge. Was Knaben leisten, das können wir auch heute erproben. Wie haben sie wohl außer den Chören die schweren Soli bewältigt? Denn Frauen haben bis nadi 1800 in Leipziger Kirchen nicht mitgesungen. Vielleicht wirkten doch auch Studenten mit, welche die Sopran- und Altpartien als Falsettisten singen konnten. Für welt41

liehe Aufführungen sind Falsett singende Studenten nachgewiesen. Wir müssen uns demnach die festlichen Aufführungen recht bescheiden denken, bescheiden in der Klangstärke, bescheiden in der solistischen Kunst. Die vielen Schwierigkeiten, die sich durch Krankheiten und Ueberanstrengung der Sängerknaben ergaben, über welche schon Kuhnau nachdrücklich Klage führte, haben Bach sicher manche bittere Stunde bereitet. Bach führte an Festtagen konzertierende Kirchenmusik in größtmöglichster Besetzung auf, die dann nachmittags in der anderen der beiden Hauptkirchen verkürzt wiederholt wurde. Zur »Kommunion« wurden Motetten und konzertierende Stücke, wohl aus Kantaten, gesungen, ebenso Choral-Arien. Bei Begräbnissen wurden vor dem Hause, »ehe die Leiche abgeführt wird«, Motetten, wohl einfache Sterbegesänge aus dem Motettenschatz des 17. Jahrhunderts, dargeboten, auf dem Wege zum und vom Grabe Kirchenlieder. Bei der Einsegnung vornehmer Leichen konnten dann eigens vom Kantor bestellte Motetten vorgetragen werden. Auch an Kranken- und Sterbebetten vornehmer Bürger wurde gesungen, Kirchenlieder, trost- und hoffnungspendende Gesänge. Bei Trauungen konnten vor und nach der Predigt bestellte Kantaten aufgeführt werden. So war für Bachs Tätigkeit reiche Gelegenheit vorhanden. Doch ging seine Arbeit nicht ohne Kampf ab. Mit dem Tode Kuhnaus war die eigentlich zum Amt des Thomaskantors gehörige Musikdirektorstelle an der Universitätskirche von dem Organisten Joh. Gottlieb Görner verwaltet. Bach wollte sich diese Trennung des Amtes nicht bieten lassen. Er verlangte das Gehalt, das ihm als Leiter des »alten« Gottesdienstes zustand. Erst lehnte die Universität Bachs Forderung ab. Schließlich überließ man ihm die Leitung des Gottesdienstes, gab aber die zwölf Gulden Gehalt dem Organisten Görner. Als Bach zwei Jahre vergeblich sein Recht gefordert hatte, wandte er sich 1725 mit einem scharfsinnigen Schreiben an den Kurfürsten um Entscheidung, die nicht gefällt wurde. Bach hat die Leitung des Sonntagsdienstes nicht in die Hand bekommen. Als 1727 eine Trauerfeier für die verstorbene Kurfürstin gehalten werden sollte, kam es wieder zu Strei42

tigkeiten. Ein junger adliger Student, von Kirchbach, hatte auf eigene Verantwortung eine Trauerfeier geplant und auch die Erlaubnis zu einer solchen vom Kurfürsten erwirkt. Gottsched wurde mit der Dichtung, Bach mit der Komposition beauftragt, dadurch fühlte sich Görner wieder in seinen Rechten verletzt, und die Universität stellte sich auf seine Seite. Nun drohte Kirchbach, die Feier einfach abzusagen. Er ließ sich bewegen, mit Görner zu verhandeln, weigerte sich aber, mit Bach zu brechen. Görner wurde mit 12 Talern entschädigt, worauf er noch vergeblich versuchte, von Bach die Unterschrift unter eine Erklärung zu bekommen, in der sich Bach verpflichten sollte, nie mehr in Görners Befugnisse einzugreifen. Die Musik beim Gottesdienst in der Universitätskirche wurde seit dem ersten Gottesdienst, den der Schüler Kuhnaus, Joh. Friedrich Fasch, Weihnachten 1710 ausführte, nur von Studenten musikalisch gestaltet. Der Rat hat 1711 Kuhnau die Heranziehung der Thomaner untersagt. Die wenigen Male, die Bach in der Paulinerkirche feierliche Musik machte, hatte Bach auch nur Studenten als Sänger, und zwar Soprane und Alte als Falsettisten oder Fistulanten, und Spieler. Die für die Paulinerkirche geschriebenen Kantaten sind in Form und Mitteln bescheiden, wie Nr. 59 »Wer nicht liebet« und 172 »Erschallet ihr Lieder«. Im ganzen hat Bach elf Werke zur Aufführung gebracht, von Pfingsten ) 723 bis Weihnachten 1725. Weil er das angemessene Gehalt nicht erhielt, stellte er dort seine Tätigkeit ein. Neben dem C o l l e g i u m m u s i c u m , das in der Universitätskirche unter Görner spielte und das 1708 von Joh. Fr. Fasch gegründet und nun unter Görner auch sonst musizierte, gab es ein zweites, 1702 von Telemann gegründetes Collegium musicum, das unter der Leitung des Nikolaiorganisten Georg Balthasar Schott stand. Dieses Collegium musicum leitete Bach von 1729 bis 1740. Beide Collegia musica spielten ein- bis zweimal wöchentlich nachmittags in Leipziger Kaffeehäusern, Bachs Collegium im Zimmermannschen Kaffeehaus in der Katharinenstraße. Das war für den Wirt von Vorteil, aber auch für die Studenten bedeutete es einen bescheidenen, aber meist sehr nötigen Nebenerwerb. 43

Sicherlich sind beide Leiter von den Wirten für ihre Musik durch Geld und Naturalien entschädigt worden. Fremde Solisten konnten sich hier hören lassen. Badi, ebenso Görner haben es sidierlich oft selbst getan, Badi auf dem Flügel, aber audi auf der Violine, die er nach Ph. Emanuel »bis zum ziemlidi herannahenden Alter rein und durchdringend« spielte. Er »hielt dadurch das Ordiester in einer größeren Ordnung, als er mit dem Flügel hätte ausrichten können«. Welch eine Musik konnte man hier zu einem Täßdhen Kaffee und einer schmaudienden Pfeife hören? Die neuesten Werke von Badi, Konzerte, Sonaten mögen hier erklungen sein, gespielt von ihm selbst und den heranwachsenden Sdiülern und Söhnen, dazu die zeitgenössischen italienischen Werke, die er selbst abgesdirieben hat, ein schönes Weihnaditskonzert in f von Pietro Locatelli, aber auch Solokantaten von Antonio Lotti, der 1717 in Dresden tätig war. Von ihm hat Badi eine Messe in g-moll kopiert, und sein Stil klingt in drei eigenen italienischen Kantaten, vor allen »Amore traditore«, nach. Natürlich hat Bach auch Musik von Hasse, der seit 1731 in Dresden weilte und mit seiner Frau Faustina Bordoni in späteren Jahren auch Badi Gegenbesuche gemadit hat, von Krieger, Graun, Telemann usf. aufgeführt. Die Sopran- und Altsoli wurden dabei von Falsettisten vorgetragen. Für dieses Zimmermannsche Kaffeehaus hat Bach wohl seine Kaffeehauskantate 1732 komponiert. Der Textdichter Picander bringt darin eine Satire auf den Kaffeegenuß, dem in Leipzig in adit privilegierten Häusern gefröhnt wurde. Audi die weltliche Kantate »Phoebus und Pan« mag 1731 hier aufgeführt worden sein, komponiert vielleicht im Auftrage des Wirtes. Bei feierlidieren Gelegenheiten, wie den Geburtstagen und Namenstagen des Königs und Kurfürsten, wie Geburtstagen und Ehrentagen von Professoren, wurden Kantaten im Kaffeehaus aufgeführt, die auf den sdiön gedruckten Programmheften altertümlidierweise als »Dramma per musica« bezeichnet sind. Natürlidi wurden auch an feierlidieren Orten Kantaten dargeboten, wenn es galt, dem König Huldigungen darzubringen wie 1727 in der Ostermesse, wo man zuerst Kirdienfeiefn abhielt, abends aber Bach vor der Wohnung des Königs selbst eine H u 144

d i g u n g s k a n t a t e dirigierte, deren Musik wie manche ähnliche verloren ist. Soldie Kantaten wurden öfters als Ständchen und Huldigungen dargebracht, besonders feierlich bei der Wahl August des Starken zum polnischen König 1734, wo nadi pompösem Fackelzug Bach auf dem Markt seine Kantate »Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen« vortrug. Bis zum Jahre 1739 hat Badi mit dem Collegium musicum solche Huldigungskantaten aufgeführt. Bach gab die Leitung des Collegium 1740 an den Nikolaiorganisten Gerlach ab, von 1750 leitete es der Bachschüler Trier. Der Kaffeewirt Richter führte dann das Unternehmen rein geschäftlich aufgezogen weiter. Neben den studentischen Helfern waren es die S t a d t p f e i f e r , die Bach bei seinen kirchlichen und weltlichen Aufführungen beistehen mußten. Ihre Leistung hat Bach in jenem Bericht 1730 recht gering veranschlagt; teils seien sie ausgedient, teils Lehrlinge. Es waren eher biedere Handwerker als Künstler, die täglich vom Rathaus mehrstimmige Sätze abblasen mußten. Einer von ihnen, Joh. Gottfried Reiche, aber war ein Bläser allerersten Ranges, für den Bach die schwersten im »Clarinblasen« zu bewältigenden Partien schreiben konnte. Reiche (1667—1734) hatte solche 24 Quatrocinien für Turmbläser 1696 veröffentlicht. In seinem Bericht 1730 äußerte Bach, es sei eine Ungerechtigkeit von diesen »teutschen Musicis« dasselbe ex tempore zu verlangen wie von den Virtuosen, für die es geschrieben, nämlich italienische, französische, englische oder polnische Musik. Die deutschen Musici hätten schwerste Sorgen der Nahrung und könnten nicht daran denken, sich zu perfektionieren. Man solle nur nadi Dresden gehen und sehen, »wie daselbst von Königlicher Majestät die Musici salarii°et werden«. Dort wurden sie in der Tat königlich honoriert. Vor allem die fremden Gäste. A n t o n i o L o t t i , allerdings ein sehr ernster und bedeutender Meister, erhielt im Jahre 1717 mit seiner Frau, der berühmten Sängerin Santa Stella, 10 500 Taler, der erste Kastrat 7000, die zweite Sängerin 4000, der Tenor 4000, die beiden Soufleure 400 Taler. Bach hatte als Thomaskantor ein Gehalt von 45

87 Talern und 13 Talern Lichtgeld. Dazu kamen noch Naturalien, Korn, Holz und Wein, Einnahmen aus Stiftungen und die Hauptsache, die Einnahmen aus Hochzeiten, Leichenbegängnissen und Festen. Er stünde sich auf 700 Taler, schreibt er nach Danzig an seinen Jugendfreund Erdmann. Daß für ein ganz in seiner Musik aufgehendes Genie wie Bach der Schulunterricht eine Belastung war, ist nur zu verständlich. Nach, Bachs Tode wurde im Leipziger Rat erklärt, »Herr Bach wäre wohl ein großer Musicus, aber kein Schulmann gewesen«. Es ist dies sicher nicht ohne Grund gesagt. Aber auch der Chor machte Bach wenig Freude. 1729 starb der alte Rektor Ernesti. Sein Nachfolger, J o h a n n M a t h i a s G e s n e r (1691 —1761), der vierzehn Jahre Konrektor in Weimar gewesen, war schon von dort her mit Bach befreundet. Gesner ist in die Geschichte der Pädagogik eingegangen als einer der Väter des N e u h u m a n i s m u s , der seine in Weimar und vier Jahre als Thomasrektor gesammelten Erfahrungen vor allem in Göttingen nutzbar machte. Er wollte nicht nur die Art des Lateinlernens verbessert wissen, sondern auch, ein Ziel dafür haben; wer die klassischen Autoren lese und verstehe, »der genießt des Umgangs mit den größten Leuten und edelsten Seelen«. Außerdem hatte Gessner auch Sinn für die Forderungen, welche das Leben an die Schüler stellen sollte, wenn er äußert: »Als großer Verehrer des Altertums bin ich doch der Ansicht, daß mein einziger Bach und wer ihm ähnlidi sein sollte, Orpheus und zwanzig Arion aufwiegt.« Dieser feine und aufgeklärte Geist hat den veralteten und vernachlässigten Schulbetrieb in der Thomasschule sicher bitter empfunden. Er hat Bachs Größe voll erkannt, und er hat sich bemüht, zwischen Rat und Kantor zu vermitteln. Bach hatte sich im wissenschaftlichen Unterricht soviel als möglich vertreten lassen. Dies hatte den Rat erbost, der Bach auch weitere Eigenmächtigkeiten nachtrug. Als Gesner 1734 nach Göttingen ging, wurde J o h a n n A u g u s t E r n e s t i (1707—1781), der Sohn des alten Rektors, seit 1732 Konrektor, sein Nachfolger. Auch Ernesti ist einer der Führer der neuhumanistischen Bewegung geworden, der vor allem den Inhalt der Lektüre der alten Autoren bewertet und dem der ver46

altete Lehrbetrieb doppelt zuwider sein mußte. Er sah die Aufgabe der Schule darin, die Jugend durch die klassische Lektüre zu bilden. Ernesti hat später 1773 in der kursädisischen Schulordnung sogar den Wert der Muttersprache für die Bildung hervorgehoben. In der Thomasschule sah Ernesti noch den aus der Reformation stammenden Typ einer Schule, die weniger für die Bildung der Sdiüler, als für die Besdiaffung von Kirchenmusik da war. Die Bevorzugung der Musik war ihm ärgerlich und er pflegte übende Alumnen zu fragen: »Wollt ihr auch ein Bierfiedler werden?« Freilich hat Ernesti Bachs Größe nicht erkannt. Aber bei seiner Abneigung gegen den Musikbetrieb der Schule wurde er von hohen pädagogischen Idealen geleitet. In Rektor und Kantor standen sich hier wie anderenorts gewissermaßen zwei geschichtliche pädagogische Auf fasungen entgegen. Bach hatte einen älteren Schüler zum ersten Präfekten ernannt. Dieser wurde mit den sidi schlecht betragenden Schülern nicht fertig, so daß er sie schließlich schlug. Einer der Buben behauptete sogar, am Rücken blutig geschlagen worden zu sein. Ernesti war wütend und befahl, den schon zweiundzwanzigjährigen jungen Mann seinerseits vor der ganzen Schule prügeln zu lassen. Als dieser junge Mensch durdi Bitten nichts erreichte, auch nicht die Erlaubnis erhielt, die Schule zu verlassen, entwich er heimlidi. Der Rektor behielt seinen wenigen Hausrat und seinen Geldanteil zurück, mußte beides aber herausrücken, als der Rat zur Entscheidung angerufen wurde. Der Rektor ernannte seinerseits einen Präfekten, den Bach aber ablehnte und dem er einen anderen vorsetzte. Ernesti verbot nun seinen Schülern, den Veranstaltungen des Präfekten Folge zu leisten. Bach beschwerte sich, erst beim Konsistorium und, als das nichts half, beim König. Dieser wies das Konsistorium an, Genugtuung zu geben. Ob das in aller Form geschehen, ist nicht bekannt. Doch hat offenbar die königliche Huld, die Bach erlangte, als er beim Besuch der königlichen Familie 1738 anläßlich der Hochzeit der Prinzessin Amalie mit Karl V., König von Sizilien, trotz Beschwerde Görners die Abendmusik komponierte und leitete, den Fall stillschweigend zugunsten Bachs entschieden. Alle diese Tatsachen kennzeichnen die Schwierigkeiten, die Bach in der 47

Ausübung seines äußeren Berufes hatte, die ihm im Jahre 1730 so groß erschienen, daß er seinen Schulfreund Erdmann aus Lüneburg bittet, sich in Danzig für ihn zu verwenden. Der Dienst in Leipzig sei nicht so erklecklich, als man ihn ihm besdiriebeii, viele Accidentia seien diesem Posten entgangen, Leipzig sei sehr teuer, die Obrigkeit wunderlich und der Musik wenig ergeben, so daß er in stetem Verdruß, Neid und Verfolgung leben müsse. Bach scheint aber auch seinerseits ein sehr schwieriger Kantor für Schule und Behörde gewesen zu sein. Haben diese Dinge Bach bei der Ausübung seines inneren Berufes hindern können? Nein. Sein Schaffen in den Jahren nach 1730 war unerschöpflich. Neben seinen Passionen, Oratorien, Motetten und weltlichen Kompositionen soll Bach f ü n f v o l l s t ä n d i g e J a h r g ä n g e K a n t a t e n komponiert, er muß demnach 295 Kantaten geschrieben haben. Das ist eine gewaltige Zahl, und doch in dieser Zeit nidit ohne Beispiel. Andere Kantoren waren ebenso fleißig, T e l e m a n n und F a s di haben nodi mehr komponiert. Nach 1744 schrieb Bach jedoch keine Kantaten mehr. Dreißig Kantaten etwa bradite Bach nach Leipzig mit. Er hat demnach in einundzwanzig Jahren 265 Kantaten komponiert, etwa 12 im Jahr. Sdion die ersten beiden Leipziger Jahre waren unerhört reich an Schaffensertrag. Bereits 1723 war in der Thomaskirche die eilig komponierte J o h a n n i s p a s s i o n zur Aufführung gebracht worden. In den Arien hat Badi Texte aus Brockes Passion verwertet, der Schlußgesang ist zur Hälfte von Bach, das übrige umgearbeitet, aber auch nidit der Vorlage entstammende Madrigaltexte sind verwandt. Bach hat die Johannispassion 1721, 1738 und 1742 aufgeführt und umgearbeitet. 1724 wurde das Werk in der Nikolaikirdie zur Aufführung gebracht, die ungeeignete Chorgalerie dafür umgebaut, audi das Klavier instand gesetzt. Allerdings waren in der Nikolai- wie der Thomaskirche die beiden alten Cembali nicht benützbar. Ob Bach die verlorengegangene Musik zu Picanders »Erbauliche Gedanken auf den Grünen Donnerstag und Karfreitag über den leidenden Jesum« geschrieben hat, ist sehr zweifelhaft. Der Text ist im Stile von Brockes Passion, deren 48

Vertonung durch Händel Badi liebte. Den »Chor der gläubigen Seelen« hat Picander später in die Matthäuspassion übernommen. C h r i s t i a n F r i e d r i c h H e n r i c i , mit seinem Diditernamen P i c a n d e r , ist 1700 geboren, 1723 wurde er Postbeamter, 1743 Steuereinnehmer, als weldier er 1764 gestorben ist. ' E r begann 1722 als Satiriker, warf sich aber 1724 auf die geistliche Dichtung. Picander war ein dürftiges Talent, der 1726 noch platte Possen veröffentlicht hat. Nur durch die Verbindung mit Bach ist sein Name der Nachwelt erhalten worden, obwohl damals seine Gedichte in Leipzig beliebt waren. 1728 veröffentlicht Picander eine Sammlung Kantaten, die im Stile Neumeisters gedichtet sind. Sie waren laut Vorwort für Bach bestimmt. Bei der Dichtung des Textes zur M a t t h ä u s p a s s i o n 1729 behielt Picander das unveränderte Bibelwort bei. Picander hat ferner Frandcsche Poesie verwertet. Die Zahl der madrigalischen Texte beträgt 28. 15 der Handlung entsprechende Choräle sind zwischen die Chöre und Arien gelegt. Die Leipziger Gemeinde konnte die Choräle der Kantaten und Passionen mitsingen. So sind diese Werke, so ist das größte und tiefste Werk evangelischer Kirchenmusik keine Musik zum Hören, sondern Liturgie gewesen, an der die evangelische Gemeinde singend Anteil nahm. Die Matthäuspassion erfordert mit Doppelchor und Doppelorchester ungewöhnliche Mittel. Wie schwer es für Bach war, diese Mittel zusammenzubringen, zeigte der mitgeteilte Bericht von 1736. Ob die Passion wieder aufgeführt wurde, ist deshalb fraglich. Erst hundert Jahre später ist sie wieder erweckt worden. Es ist dann zu einer feststehenden Gewohnheit geworden, diese ergreifende Passionsmusik am Karfreitag aufzuführen, in neuester Zeit nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz, Frankreich und in vielen Rundfunksendern Eüropas. Nach Mizlers Nekrolog hat. Bach fünf Passionen hinterlassen. Zwei, die Matthäus- und Johannispassion, erbte C. Ph. E. Bach, die drei anderen W. Friedemann. Dieser älteste Sohn Badis soll in der Not die väterlichen Manuskripte verkauft oder sie verschleudert haben. Die Lukaspassion, die angeblich von Badi stammen soll, ist nachweislich unecht. Die M a r k u s p a s s i o n ist verEngel, Joh. seb. Bach 4

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schollen. Badi ließ dazu Picander die Diditung Gottscheds bearbeiten, welche er als T r a u e r m u s i k für die Königin Ebeihardine vertont hatte. Fünf der sdiönsten Stücke dieser Ode hat Picander in die Passionsdiditung übernommen. Ein sechstes Stüde ist in das Weihnaditsoratorium übergegangen, die Arie »Falsche Welt« ist in dem Anfange der Kantate »Widerstehe doch der Sünde« erhalten, ein anderes Stüde im Weihnaditsoratorium. Vielleicht hat Bach die vor der Matthäuspassion geschaffene Markuspassion aufgegeben, als auch Picanders madrigalische Dichtungen zum neuen Werk schöner wurden, als die des alten waren. Die Erzählung der Evangelisten gleicht sich textlidi in beiden Passionen. Vielleicht hat Bach die Markuspassion, die somit als Komposition in das größere Werk aufgegangen ist, vernichtet. Vielleicht, denn ganz befriedigt diese von Schering stammende Annahme nicht! Als Bach 1728 an der Matthäuspassion arbeitete, starb sein hoher Freund und Gönner, Fürst Leopold, in Kothen am 19. November. Die T r a u e r m u s i k , die aus elf Nummern bestand, hat Bach mit dem Thomanerchor und Frau und Sohn in Kothen zur Aufführung gebracht. Neun Nummern sind in der Matthäuspassion erhalten, die Bach gleichzeitig oder bald danach vertonte. Der Eingangsdior war derselbe wie derjenige der Trauermusik für die Kurfürstin. Badi hat im ganzen 26 Passionen leiten müssen, von 1723 bis 1750. 1733 fiel die Passion wegen Landestrauer aus, 1750 war der Meister bereits leidend. Außer seinen eigenen Passionen hat Bach fremde Werke aufgeführt. Eine sogenannte »fünfte« Passion muß Mitte der zwanziger Jahre entstanden sein. Sie war eine Art zweiteilige Kantate und hatte aus der Johannispassion entlehnte Chöre und Arien. Das Weihnachtsoratorium entstand 1734. Es setzt sich aus sechs Kantaten, für die drei Christtage, Neujahr, Sonntag nach Neujahr und Epiphanie, zusammen, welche Feste die Kirche als eine Periode zusammenfaßte. Bach hat in diesem Werk wie öfters andere eigene Arbeiten verwendet*). Der Dichter Picander hat die Texte der übernommenen Sätze geschickt umgedichtet, Bach hat durch kleine Aenderungen den Charakter sinn*) Ausführliches darüber im zweiten Teil, der die Werke behandelt.

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gemäß hergestellt. Audi die übrigen sechs Stücke scheinen Umarbeitungen zu sein, die Markuspassion hat einen kurzen Satz hergeben müssen. Im Anschluß an alte volkstümlidie Bräuche, wie das »Kindelwiegen«, die in Leipzig noch zu Bachs Zeiten bestanden, hat Bach die von Kuhnau zu einer Weihnachtskantate zusammengefügten Texte komponiert, welche den damals noch bestehenden Brauch, die Botschaft der Engel und die Anbetung der Hirten dramatisch aufzuführen, in poetischer Weise widerspiegeln. Das M a g n i f i c a t , wie wir es heute besitzen, das große, denn ein kleines ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts verschollen, ist eine zweite, 1730 reidier instrumentierte und nach D von Es transponierte Fassung des 1723 entstandenen Werkes. Wurde dieses gewaltige Werk zu Weihnachten aufgeführt, so wurden noch zwei deutsche Weihnachtslieder und zwei lateinische Sätze von der kleinen Orgel der Thomaskirche hoch über der Altarwand herabgesungen. Besonders die Chöre »omnes generationes«, mit der Vorstellung aller Völkerscharen der Christenheit, und das Gloria zum Schluß sind von überwältigender Größe. Zum Soloterzett »Suscepit Israel« erklingt in den Oboen die alte kirchliche Weise des »Magnificat«. Nicht lange nach der Matthäuspassion komponierte Bach seine große M e s s e in h. Warum der Protestant Bach eine lateinische Messe komponiert hat, das erscheint zunächst verwunderlich. In der protestantischen Kirche dieser Zeit und in Leipzig waren lateinische Stücke aus der Messe, nämlich Kyrie und Gloria, im Gebrauch. Das Agnus Dei wurde bei der Konsekration stets durch ein deutsches Lied ersetzt; mit dieser Ausnahme konnte der ganze Messetext lateinisdi choraliter gesungen werden, meist in Abwechslung mit deutschen Kyrie-, Gloria- und Credoliedern. Kyrie, Gloria und Credo wurden sowohl choraliter vorgetragen als auch an hohen Festtagen in feierlicher Figuralmusik, das Credo dann allerdings als deutsches, jedermann verständliches Bekenntnislied. Als sogenannte Kurzmesse wurden Kyrie und Gloria von Bachs Vorgängern in St. Thomae, Knüpfer, Schelle, Kuhnau u. a., oft vertont. Bach hat für sich Messen von Palestrina, Lotti, Wilderer, Nikolas Bach und Anonymi zum praktischen Gebrauch kopiert und auch eine Messe von Palestrina instrumentiert. •4

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Von Caldara hat er ein Magnificat abgeschrieben, Friedemann ein solches von Zelenka. Für entsprechende Kompositionen von Caldara, Hasse, Zelenka, Fux hatte Bach Interesse. Die v i e r k u r z e n M e s s e n in F, A, g und G, die Bach wohl in den Jahren 1735 bis 1737 komponiert hat, sind wahrscheinlich in allen Teilen Umarbeitungen von eigenen deutschen Kompositionen. Bei 20 von 25 Sätzen kennt man diese deutschen Originale. Seine große Messe hat Bach mit einem Widmungsschreiben vom 27. Juli 1733 in Dresden dem neuen Kurfürsten August II. gewidmet. August I. war am 1. Februar 1733 gestorben. In seinem Schreiben bittet Bach um die Verleihung eines »Praedikates von Dero Hofkapelle«. Er hofft, daß dadurch die unverschuldeten Kränkungen und Verminderung der Accidentien, die er als Direktor der Musik bei beiden Hauptkirchen in Leipzig erlitten, aufhören würden. Es waren zwei Sätze, die Bach überreichte, Kyrie in h und Gloria in D. Es ist möglich, daß Bach beide Sätze für den Huldigungsgottesdienst komponiert hat, der bei Abwesenheit des Kurfürsten auf einer Reise durch die Lande in Leipzig am 21. April 1733 in St. Nikolai stattfand. Die beiden Sätze wären dann eine auch im protestantischen Gottesdienst übliche Kurzmesse gewesen. Daß allerdings das Kyrie in h von Bach als Requiem für den verstorbenen König vor der Predigt, das leuchtende Gloria als jubelnde Huldigung für den neuen König nach der Predigt ausgestaltet worden sei, ist eine Annahme, die nicht zu halten ist, auch wenn das Kyrie Aehnlichkeit mit dem Eingangsdior zur Trauermusik für die 1727 verstorbene Kurfürstin aufweist. Die Krönung August II. zum polnischen König fand am 17. Januar 1734 in Krakau statt. Bach hat den Auftrag zur Komposition der Festmesse nicht erhalten, auf den er vielleicht hoffte. Wahrscheinlich sind auch die weiteren Teile der Messe nicht in einem Zuge hintereinander geschaffen worden. Bach ließ wieder eine Pause in der Komposition eintreten, bevor er Osanna und Agnus Dei schrieb. Acht, vielleicht neun Sätze sind Parodien anderer Kompositionen Bachs. Trotzdem Bach in der Messe so zahlreiche Sätze aus anderen Kompositionen verwendet hat, ist es ihm ge52

lungen, ein g e s c h l o s s e n e s W e r k von einzigartiger Größe zu schaffen. Solche U m g e s t a l t u n g e n sind auch in den Kantaten zu finden. Der Reichtum der Musik und der musikalischen Formen dieser kirchlichen Kantaten ist fast unerschöpflich. Die Texte dieser Kantaten forderten oft zu einer machtvollen, an Bilderreiditum und Symbolik überreichen Musik heraus, wie sie Bach in einer nie mehr erreichten Kraft zu Gebote stand. In acht Kantaten hat Bach die Orgel obligat verwendet, vielleicht für die Paulinerkirche. Die deutsche M o t e t t e war damals hauptsächlich für Trauerfeiern bestimmt. Lateinische Motetten wurden nach dem Orgelspiel im Früh- oder Vesperdienst gesungen. Bach hat solche Motetten komponiert, die sich nicht erhalten haben. Gewöhnlich sangen aber die Thomaner unter Leitung des Präfekten ihre Motetten aus Bodenschatz' Florilegium portense, das Bach schon als Schüler in Lüneburg kennengelernt hatte. Von den erhaltenen sieben Motetten Bachs, denn zu den sechs heute als Motetten bezeichneten Kompositionen kommt noch die Kantate 118 »O Jesu Christ«, die eine Sterbemotette mit Bläserbegleitung darstellt, ist die vierstimmige Motette »Lobet den Herrn, alle Heiden« ein aus früher Zeit stammendes Lob- und Preislied. Die fünfstimmige Motette »Jesu meine Freude« ist für die Trauerfeier einer Frau Reese am 18. Juli 1723, die doppelchörige Motette »Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf« zur Trauerfeier für den Rektor Ernesti am 24. Oktober 1729, »Fürchte dich nicht« zur Gedächtnisfeier für die Frau des Stadthauptmanns Winkler im Januar 1726, die Motette »Komm, Jesu komm« für die Trauerfeier eines Unbekannten komponiert. »Singet dem Herrn ein neues Lied« ist von Schering sinnvoll als Musik für den Dankgottesdienst zur Friedensfeier am 9. Januar 1746 gedeutet worden. Zwischen 1727 und 1739 müssen 1 5 G r a t u l a t i o n s k a n t a t e n entstanden sein, von denen zu 11 die Musik ganz oder teilweise erhalten ist. Von den N a c h t m u s i k e n , die Bach im Auftrag der Studenten für Ständchen oder Huldigungen an beliebte Professoren geschrieben hat, sind zwei besonders bemerkenswert. Die eine, »Der zufriedengestellte Aeolus«, zum

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Namenstag des Philosophieprofessors August Friedrich Müller am 3. August 1725 aufgeführt, hat reizende Naturschilderungen, die andere, »Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten«, für den Amtsantritt des Professors Juris Gottlieb Körte am 11. Dezember 1726, steht ihr an Humor nicht nach. Zur Geburtstagsgratulation für Professor Florenz Rivinus am 28. Juli 1733 verwandte Bach die Köthener Geburtstagskantate »Steigt freudig in die Luft« mit neuem Text. Zum viertenmale benützte er die Musik dieser Kantate. Aus der Aeoluskantate machte er 1734 zur Krönung August II. zum König von Polen eine neue Kantate »Blast Lärmen, ihr Feinde«, ebenso aus der nächstgenannten eine Königsgeburtstagskantate 1737 »Auf schmetternde Töne«. Außer Picander ist. an Textdichtern Marianne von Ziegler zu nennen, Tochter des unglücklichen Bürgermeisters Romanus, die wie die »Gottschedin« als weibliches Weltwunder bestaunt wurde. Acht Kantatendichtungen hat Bach von ihr vertont. Mit dem gefeierten Dichter Leipzigs, Gottsched, hat Bach nur einmal zusammengearbeitet, in der Trauerkantate für die Kurfürstin. An w e l t l i c h e n G e l e g e n h e i t s k a n t a t e n hat Bach nach der Jagdkantate 16 erhaltene und mindestens 12 verlorene Werke geschaffen, zu denen noch 14 Umarbeitungen kommenIm Osteroratorium haben wir eine Weißenfelser Kantate von 1725 erhalten, in der fragmentarischen Kantate »Ihr Tore Zions« eine Kantate für den Namenstag der Königin 1727. Vermutlich sind noch mehr Werke als geistliche Kantaten umgearbeitet überliefert. Von den Trauungskantaten haben wir fünf, darunter ein frühes Werk, erhalten. Die Besteller, offenbar vermögende Bürger, die außer den Kosten auch die Bitte an den Kurfürsten um Erlaubnis zur Benützung von Trompeten und Pauken nicht zu scheuen brauchten, kennen wir nicht. Zu den weltlichen Werken gehört auch die schon erwähnte Weißenfelser Jagdkantate des Jahres 1716, die Bach wahrscheinlich 1725 und 1729 wieder in Weißenfels aufführte. Bach war seit 1723 »Kapellmeister von Haus aus« des Herzogs von SachsenWeißenfels wie von Kothen. Es ist das ein Titel, der erlosch, als der Herzog 1736 das Zeitliche segnete. Am 11. November die54

scs Jahres wurde Bach der Titel verliehen, um den er sdion 1733 nadigesudit hatte: Hofcompositeur. Er erhielt das Dekret durdi den Grafen Carl von Kayserling in Dresden ausgehändigt. Als einen begeisterten Musikfreund schildert uns Joh. Friedrich Reichardt den Grafen noch als Greis nach Jugenderinnerungen in Königsberg. Am 1. Dezember ließ sich Bach in der Frauenkirche auf der neuen Silbermannschen Orgel hören. Neben der Fülle der großen Chorwerke und Kantaten hat Bach noch reichlich I n s t r u m e n t a l m u s i k geschaffen. Seit 1726 hatte er jährlich eine P a r t i t e oder Partie, wie er in Anlehnung an Kuhnau die Suiten benannte, in Kupfer gestodien herausgehen lassen. 1731 gab er die sechs Partiten heraus als op. 1 unter dem Titel » C i a v i e r U e b u n g bestehend in Präludien, Allemanden, Couranten, Sarabanden, Giguen, Menuetten und anderen Galanterien, Denen Liebhabern zur Gemüts-Ergoezung verfertiget . . . Opus I. In Verlegung des Autoris. 1731«. Ostern 1735 veröffentlichte Bach den zweiten Teil der »Ciavier Uebung bestehend in einem Concerto nach italiänisdiem Gusto und einer Ouvertüre nadi Französischer Art«. Den Stich des ersten und dritten Teiles hat Bach selbst überwacht. 1736 erscheint das »M u s i c a l i s d i e G e s a n g - B u ch«, herausgegeben von G. Chr. S di e m e 11 i , Schloßkantor in Zeitz. Im Vorwort wird gesagt, daß die Melodien von Badi »teils ganz neu komponiert, teils auch von ihm im General-Baß verbessert« seien. Die Ansichten über die Zahl der Bach zuzuschreibenden Gesänge sind verschieden. Von 47 ist man letzthin auf 3 zurückgegangen. Schemellis Sohn war 1731.—1734 Thomasschüler, er wird die Verbindung Badis zum Kantor Sdiemelli hergestellt haben. Audi die »e n g t i s c h e n S u i t e n«, angeblich für einen reidien Engländer komponiert, sind vielleicht in Leipzig, vielleicht aber auch noch vor den » f r a n z ö s i s c h e n S u i t e n « in Kothen entstanden. Dafür würde die Form des Konzertes sprechen, welche die Präludien der 2. und 3. englischen Suite zeigen. W o die K o n z e r t e für Violine und Klavier entstanden sein mögen, in Kothen oder Leipzig, ist ungewiß. Jedenfalls sind manche Fassungen, die Bearbeitungen der verlorenen originalen

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Fassungen für Violine und Klavier, wohl für das genannte Leipziger C o l l e g i u m m u s i c u m vorgenommen worden, in welchem sie die inzwischen herangereiften beiden ältesten Söhne neben Bach spielen konnten. Von den großen Einzel werken für Klavier ist die kühne und Bachs Improvisation wohl am besten wiedergebende » C h r o m a t i s c h e F a n t a s i e u n d F u g e « vielleicht schon 1730 entstanden. Die F a n t a s i e u n d D o p p e l f u g e in a wie die Fantasie in c mit Fragment einer Fuge gehört ebenfalls in diese Zeit. An O r g e l w e r k e n hat Bach der Zahl nach in diesen Jahren weniger geschaffen. Präludium und Fuge in G (2. 2) brachte Bach um 1725, Präludium und Fuge in C (2. 1) um 1730 zum Abschluß. Vier große Präludien und Fugen in C, h, c, Es (2. 7; 10. 1; 3. 1) sind nach Form und Ausdehnung die größten Kompositionen dieser Art, wahre sinfonische Werke. Die riesige F-Tokkata (3. 2) mit ihren 438 Takten hat bei aller spielerischen Bewegtheit einen den großen Baumeister kündenden Bauplan. Die sechs herrlichen Orgelsonaten, um 1727 vollendet, sind echte Triosonaten mit drei obligaten Stimmen, hier als Orgeltrio zu spielen, aber auch als Triosonaten besetzt denkbar. Bachs Ruhm als O r g e l s p i e l e r , Orgelkenner und Klaviervirtuose hat ihm manche Einladung nach außerhalb eingetragen. 1723 war er bei der Orgelweihe in Störmthal, 1724 zu gleichem Zwedc in Gera. Nach Kothen und Weißenfels führten ihn alte Beziehungen. 1726 bringt er in Kothen seine Kantate »Steigt freudig in die Luft« zur Aufführung, eine Huldigung für den am 12. September dieses Jahres geborenen Erbprinzen Emanuel Ludwig, der allerdings nach zwei Jahren starb. Bach hat sein »Opus I«, den ersten Teil der »Clavier-Uebung«, dem fürstlichen Säugling gewidmet, mit einem eigenen Gedicht, das in der zeitüblichen Weise ungeheuer liebedienerisch beginnt: »Durchlauchtig Zarter Prinz, den zwar die Windeln decken, Doch den sein Fürsten-Blick mehr als erwachsen z e i g t . . . « , im Verlauf aber hübschere Gedanken bringt. Nach Kothen führte Badi 1729 die Beisetzungsfeier, in der Fürst Leopolds Sarg in der Fürstengruft beigesetzt wurde, nach Weißenfels 1729 ein fröhlicherer Anlaß, der Geburtstag Herzog Christians. 1731 war Bach in Dresden. Am 31. Septem-

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ber fand die Erstaufführung von H a s s e s Oper Cleofide statt, der Bad) wohl auf Einladung des Komponisten beiwohnte. Hasse und seine Frau, die berühmte Sängerin Faustina Bordoni, besuchten auch Bach in Leipzig. 1732 ist Bach zur Orgelprüfung in Stöntzsdi, südlich von Leipzig, im September dieses Jahres in Kassel, wo er wieder die große Orgel in der St. Martinskirche prüfen sollte. Bach weihte die Orgel am 28. September in einem öffentlich als großes und erfreuliches Ereignis angezeigten Konzert ein. Nach Dresden ist Bach öfters gekommen. Schon 1717 ist Bach in D r e s d e n gewesen, als dort die Oper unter Antonio Lotti ihre Glanzzeit erlebte. Forkel berichtet, daß er später seinen Sohn Friedemann öfters frug: »Friedemann, wollen wir nicht die schönen Dresdner Liederdien einmal wieder hören?« Dieser Friedemann war inzwisdien ein hervorragender Musiker geworden. 1730 schreibt Bach von seinen Kindern — es waren aus erster Ehe drei Söhne, deren ältester studiosus juris war, während die beiden anderen noch in Prima und Sekunda gingen, sowie eine Tochter, die noch unverheiratet war; aus zweiter Ehe kamen noch ein sechs Jahre alter Sohn und zwei Töchter dazu: »Insgesamt aber sind sie geborene Musici und kann versichern, daß schon ein Concert vocaliter und instrumentaliter mit meiner Familie formieren kann, zumahle da meine itzige Frau gar einen sauberen Soprano singet, und auch meine älteste Tochter nidit schlimm einschlaget.« Welch ein anziehendes Bild: Hausmusik bei Johann Sebastian Bach! Damals war F r i e d e m a n n 20 Jahre alt. 1733 bewarb sich Friedemann als Organist um die vakante Stelle der Sophienkirdie in Dresden. Am 22. Juni legte er die Probe mit glänzendem Erfolg ab. 14 Jahre hat er dies Amt verwaltet, als weit berühmter Künstler geachtet. Bach war damals bei seinem Sohne in Dresden. Bachs zweite Gattin Anna Magdalena hat Bad) zwölf Kinder geboren. Die älteste Tochter, geboren 1723, das dritte Kind, ein Sohn, geboren 1725, lebten nur drei Jahre. Das zweite, ein Sohn, Gottfried Heinrich (1724—1763), war geistesschwach. Das vierte war eine Tochter, Elisabeth Juliane Friederica (1726—1781), die sich mit Bachs Schüler Altnikol, Organist in Naumburg, 1749 vermählte. Fünf weitere Kinder starben bis auf ein fünfjährig 57

gewordenes mit oder unter einem Jahr. 1732 wurde der spätere Büdceburger Badi, genannt J o h a n n C h r i s t o p h F r i e d r i di, geboren; Friedemann war im Begriff, sein Vaterhaus zu verlassen. J o h a n n C h r i s t i a n folgte 1735. Er, der Londoner Bach, ist nach den beiden ältesten der bedeutendste der Söhne. Zwei Mädchen folgten 1737 und 1742. Die letzte, Regine Susanne, starb erst 1809. Für sie sammelte 1800 Friedrich Rodilitz durch Aufruf in der »Allgemeinen Musikalischen Zeitung«, und Beethoven hat 1805 noch ihr einen Betrag bestimmt. Von seinen lebenden Kindern bereitete Badi nur Joh. Bernhard Gottfried Sorge. Dieser, 1715 geboren, wurde auf des Vaters Betreiben 1735 Organist an der Marienkirche in Mühlhausen. Im Juni hat er, begleitet vom Vater, die Probe bestanden. Hier wie 1738 in Sangershausen führte Bernhard einen unordentlichen Lebenswandel, machte Schulden und verschwand dann. Er war nach Jena gegangen und hatte dort angefangen Jus zu studieren, aber schon am 27. Mai 1738 starb er an einem Fieber. So waren die großen Kinder aus dem Hause gegangen, auch C. Ph. E m a n u e l , der sidi 1734 studienhalber nach Frankfurt a. O. begeben hatte. Der Kreis der Sdiüler Bachs war inzwischen ein großer geworden. Joh. Ludwig Krebs, den sein Vater Tobias Krebs, einst Sdiüler Bachs, mit zwei Brüdern auf die Thomasschule schickte, war 1725—1726 Bachs Sdiüler wie Heinrich Nikolaus Gerber, Vater des Lexikographen, 1724—1727, Joh. Fr. Agricola, Joh. Fr. Doles, Gott. Aug. Homilius, Joh. Ph. Kirnberger, Kittel, Nickelmann, Joh. Ph. Kellner, und als letzter 1750 Joh. Gottfried Müthel. Einer der jungen Leute aus Bachs Schülerkreis, wenn auch nicht direkter Schüler Bachs, hat Bach noch schweren Aerger bereitet. J o h a n n A d o l p h S c h e i b e , getauft am 8. Mai 1708, war Sohn des Badi wohlbekannten Leipziger Orgelbauers. Er hat als Musikstudent Bachs Sdiüler Gerlach in der Neuen Kirdie als Organist vertreten, und audi Bach selbst hat ihm bei seiner Bewerbung nach Freiburg ein freundlidies Attest mitgegeben. In Hamburg gab Scheibe 1737 eine Zeitschrift »Der kritische Musicus« heraus, zu der er sich durch Gottsdieds »kritische Dichtkunst« 1730 58

angeregt fühlte. Ohne Bachs Namen zu nennen, aber doch eindeutig, lobt er Bach als Virtuosen, um dann fortzufahren: »Dieser große Mann würde die Bewunderung ganzer Nationen sein, wenn er mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwulstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge und ihre Sdiönheit durch allzugroße Kunst v e r d u n k e l t e . . . Kurz: er ist in der Musik dasjenige, was ehemals der Herr von Lohenstein in der Poesie war.« An Stelle Bachs antwortete ein Freund, der Magister und Dozent der Rhetorik an der Universität, Joh. Abraham Birnbaum, mit einer Broschüre von 24 Seiten, die unverkürzt in Mizlers »Musikalischer Bibliothek« 1738 aufgenommen wurde. Noch zweimal gingen Antworten hin und her. Gelegentlich lobte Scheibe Werke Bachs und ihn selbst, auch gestand er 1745 ein, zu weit gegangen zu sein. Bachs Kantate »Phoebus und Pan«, die schon 1731 aufgeführt war, war aber nicht auf Scheibe gemünzt. Der genannte L o r e n z C h r i s t o p h M i z l e r hat 1737 an der Universität Leipzig eine Vorlesung über Musikgeschichte und eine über Matthesons »Neueröffnetes Orchester« gehalten. 1738 unternahm er es, eine »Societät der musikalischen Wissenschaften« ins Leben zu rufen. Seit 1736 erschien Mizlers »Neueröffnete Musikalische Bibliothek« als Organ der Gesellschaft. Mizlers Versuch, in Leipzig ein Zentrum der Musikwissenschaft zu gründen, gegenüber Hamburg, wo Mattheson und Scheibe ähnliches unternahmen, sowie seine wissenschaftlichen Bestrebungen selber sind trotz Wunderlichkeiten sehr bemerkenswert. Ein begabter Musikdilettant, Graf Lucchesini, hat ihm vermutlich finanzielle Hilfe gewährt. Bümler, Telemann, Stötzel, 1745 Händel, 1746 C. H. Graun, der Nordhauser Organist Schröter u. a. wurden zu Mitgliedern gewählt. 1747, als Mizler seit 1746 schon Leipzig verlassen hatte, trat Bach ein und brachte einen statutengemäßen Beweis seiner theoretischen Geschicklichkeit, einen dreifachen sedisstimmigen Kanon und die kanonischen Veränderungen über »Vom Himmel hoch«. Das neue Mitglied Bach mußte sich malen lassen. Das entstandene Bild ist das bekannteste Porträt Bachs, geschaffen vom Dresdner Hofmaler E. G. Haußmann; in der rechten Hand hält Bach seinen gelehrtenTripelkanon. Die etwas wunderliche und 59

nicht sehr bedeutende Gesellschaft ging 1754 ein. Bemerkenswert ist die Gesellschaft vor allem dadurch, daß Bach für sie zwei Beiträge lieferte. Diese Beiträge sind an sich ebenfalls etwas seltsam, entsprechen aber den wissenschaftlichen Zielen der Gesellschaft. Durch rein rationalistische Erwägungen hatte Schröder die Phantasie vom Throne der Komposition absetzen und an ihre Stelle den Verstand setzen wollen! Mizler selbst hatte eine Maschine zum Erlernen der Theorie erfunden, eine Art harmonischen Rechenschiebers. Ein naher Verwandter, der Enkel von Bachs Onkel Georg Christoph in Schweinfurt, J o h a n n E l i a s B a c h , war 1738—1742 als Helfer und Erzieher der drei Söhne, des vierzehnjährigen Gottfried Heinrich (t 1746), des sechsjährigen Johann Christoph Friedrich (des später »Bückeburger« genannten) und des dreijährigen Johann Christian, neben den zwei Töchtern auch aus zweiter Ehe, im Hause Bachs. Auch andere Bache kamen nach Leipzig, so J o h a n n E r n s t (1722—1777), der Sohn des Eisenadier Johann Bernhard Bach, als Thomaner und als Studiosus der Sohn des Meininger Hofkapellmeisters Johann Ludwig Bach. »Es reisete nicht leicht ein Meister der Musik durch diesen Ort«, berichtet C. Ph. Emanuel, »ohne meinen Vater kennen zu lernen und sich vor ihm hören zu lassen.« Der ungarische Organist Francisci war 1725, der Gambist Hertel aus Eisenach 1726, der schlesisdie Organist Reimann 1730, der Berliner Violinist Franz Benda 1734 bei Bach, 1739 die beiden berühmten Lautenisten Leopold Sylvius Weiß und Johann Kropfgans, die Friedemann mitbrachte. Bach hat für sie vielleicht seine Lautenkompositionen geschrieben. Durch diese Lautenkompositionen angeregt, hat er vielleicht sein Lautenclavizymbel konstruieren lassen. Auch ein anderes Instrument hat er erfunden, die Viola pomposa, ein kleines Violoncello. Alle Besucher waren von B a c h s . S p i e l hingerissen. Marpury schreibt 1752: »Es schwebt noch allen, die das Glück gehabt, ihn zu hören, seine erstaunliche Fertigkeit im Empfinden und Extemporieren im Gedächtnis, und sein in allen Tonarten ähnlicher glücklicher Vortrag in den schwersten Gängen und Wendungen 60

ist allezeit von den größten Meistern des Griffbretts beneidet worden.« 1740 zieht sidi Bach vom Collegium musicum zurück; an dein in der folgenden Epodve wichtigen »großen Konzert« von 1743 ist er nicht beteiligt, und auch Kantaten hat er nachweislich nur wenige geschrieben. Die 35 Kantaten der Spätzeit seit 1735 sind durchweg C h o r a l k a n t a t e n . Choräle, und zwar lutherische und solche des 16. und 17. Jahrhunderts, bilden den in kontrapunktischer Vielfalt behandelten musikalischen Stoff, der in der ersten und letzten Strophe für den Chor wörtlich zitiert, für die durch die Choräle umrahmenden Soli dichterisch umgestaltet wird. 1745 erlebt Leipzig eine schwere Zeit. Im zweiten Schlesischen Krieg wird Leipzig von den Preußen besetzt und muß ungeheuerliche Kontributionen zahlen. Vielleicht hat Bach in dieser Zeit die Kantate »Du Friedefürst, Herr Jesu Christ« vertont, deren Text auf grausame Kriegswirren Bezug nimmt. Am 9. Januar 1746 wurde der Frieden gefeiert. Zum Neujahrstag schon hat der Meister vielleicht das großartige Freudenlied »Singet dem Herrn ein neues Lied« als doppelchörige Motette komponiert, zum Fest selbst die Kantate »Nun danket alle Gott«. Sonst war Bach in den letzten zehn Jahren nicht darauf bedacht, seine Klavier- und Orgelmusik zum Druck zu bringen. 1739 veröffentlichte er den dritten Teil der » C i a v i e r U e b u n g , bestehend in verschiedenen Vorspielen über die Catechismus- und andere Gesänge vor die Orgel«. Es sind die großartigsten Choralbearbeitungen der späteren Zeit, die man als instrumentale e v a n g e l i s c h e M e s s e aufgefaßt hat, da sie einen Kyrie-, einen Gloriachoral, zwölf Katechismuslieder und ein Kommunionlied umfaßt. Das große Präludium in Es geht voran, dessen sogenannte Tripelfuge zum Schluß folgt. Die vier Duette für Orgelmanual oder Klavier stehen vor dieser. 1742 erscheint der vierte Teil, »bestehend aus einer Aria mit verschiedenen Veränderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen«. Es sind dies die 31 Variationen über eine Aria, bekannt als » G o l db e r g - V a r i a t i o n e n « , weil sie für den jungen Cembalisten Johann Gottlieb Goldberg (1727—1756) geschrieben sind im Auftrage von dessen Herrn, dem schon genannten Gönner Bachs, 61

dem russischen Gesandten in Dresden, Graf Carl von Kayserling. Diese Variationen, die ein Wunder kontrapunktischer Kunst sind, haben als Schluß ein Quodlibet, in dem zwei V o l k s l i e d e r »Ich bin so lange nicht bei dir gewest« und »Kraut und Rüben haben mich vertrieben«, miteinander verbunden werden. Das Werk war angeblich bestimmt, die schlaflosen Nächte des Grafen zu erheitern, der an einem Steinleiden litt. Bach hat in diesen Jahren auch in anderen Werken Volkslieder oder volksliedähnliches geschaffen: einmal in der » C a n t a t e e n b u r l e s q u e « »Mer han ne neue Oberkeet«, von Picander für eine ländliche Huldigung für den Kammerherrn von Dieskau auf Kleinzschocher gedichtet. In dorfmusikantischer Besetzung, Violine, Viola und Baß, in einem Satz mit Horn, hat Bach die Nummern in Form von Tanzsätzchen volksliedmäßig gestaltet. Solche halb modentänzerische, halb volkstümliche Melodik war damals durch die Sammlung »Singende Muse an der Pleiße« des Dichters S p e r o n t e s oder wie er mit bürgerlichem Namen hieß, Johann Sigismund Scholze, beliebt, die 1736 bis 1746 erschienen. Bach hat mitgearbeitet, wenn auch nur ein Liedchen, »Ich bin nun, wie ich bin« (I, 54), als sicher von Bach stammend nachzuweisen ist. 1747 dürften die » S e c h s C h o r ä l e von verschiedener Art auf einer Orgel mit zwei Ciavieren und Pedal vorzuspielen« erschienen sein, Ueberarbeitungen von Choralarien aus Leipziger Kantaten der Jahre nach 1730 in Triobesetzung. Im Sommer 1741 war Bach in B e r l i n , wo Carl Philipp Emanuel seit kurzer Zeit »Accompagnist« bei Friedrich dem Großen, dem jungen flötenblasenden König, war. Im Hause des königlichen Leibarztes Dr. Georg Ernst Stahl hat Bach gewohnt. 1746 war Bach wieder zu einer Orgelprüfung nach Zschortau, einen Monat darauf zu gleichem Zwecke in Naumburg, wo zwei Jahre später sein Schwiegersohn Altnikol auf seine Empfehlung hin Organist wurde. 1747 reiste Bach wieder nach Berlin zu Besuch zu seinem Sohne Carl Philipp Emanuel, der drei Jahre zuvor als erster Sohn Bachs geheiratet hatte, und zwar die Tochter eines Berliner Weinhändlers. In Halle schloß sich Friedemann dem Vater an. In Berlin wurde Bach hohe Ehre zuteil. Wahrschein62

lieh von C. Ph. Emanuel über Badi-Vaters Anwesenheit unterrichtet, lud F r i e d r i c h d e r G r o ß e ihn nach Potsdam ein Am Sonntag, dem 7. Mai 1747, kam Bach in P o t s d a m an, als gerade vor dem königlichen Abendessen ein Konzert vor dem König stattfand. Der König brach das Konzert auf die Namensmeldung hin sofort ab: »Meine Herren, der alte Bach ist angekommen.« Der König führte Bach zu den neuen Silbermannschen Flügeln, die im Sdilosse standen. Bach probierte sie, vom König von einem Raum in den anderen geleitet, wobei er den König und seine Musiker in Erstaunen versetzte, besonders als er ein vom König gegebenes Thema in figurierter Form entwickelte. Den folgenden Tag gab Bach ein Orgelkonzert in der Garnisonkirche, am Abend war er wieder aufs Schloß befohlen, wo er auf Wunsch des Königs eine sechsstimmige Fuge improvisierte. Im Berliner Opernhaus, das 1742 eröffnet worden war, in dem aber nur von November bis März gespielt wurde, entdeckte er im Speisesaal sofort eine akustische Merkwürdigkeit, nämlich daß ein geflüstertes Wort in der entgegengesetzten Ecke, sonst aber nirgends im Saale a zu hören war. Nach Hause zurückgekommen, machte sich Bach daran, das königliche Thema auszuarbeiten. Mit einem Widmungsbrief übersandte Bach am 7. Juli 1747 das » M u s i k a l i s c h e O p f e r , Sr. Königlichen Majestät in Preußen etc. alleruntertänigst gewidmet« dem König. Er habe »dieses recht Königliche Thema vollkommener auszuarbeiten« unternommen. Bach überreichte den ersten im Drude fertiggestellten Teil, ein dreistimmiges Ricercar, eine Reihe Kanons und die »Fuga canonica«, die etwa ein Drittel des späteren Werkes enthalten. Die übrigen Sätze, das sechsstimmige Ricercar und das Trio, sind später komponiert und ohne Förmlichkeit dem Könige, wohl durch Emanuel, übergeben worden. Der erste Teil, von Bach brieflich als »preußische Fuge« bezeichnet, ist in nur 100 Exemplaren gedruckt worden, die Badi an befreundete Musiker verteilte. Bald nach diesem Werk ließ Bach das zur Aufnahme in die »musikalische Sozietät« komponierte Werk »Einige canonische Veränderungen über das Weynadit-Lied: Vom Himmel hoch da komm idi her« im Drude erscheinen. 63

Die kontrapunktisdien Arbeiten dieser Jahre, vor allem »das Musikalische Opfer«, sind indes nur Auftakt zu dem größten kontrapunktisdien Werk der letzten drei Jahrhunderte: » d e r K u n s t d e r F u g e « . Bis in die allerletzte Zeit hat Bach an dieser Komposition gearbeitet. Die letzte Fuge, in der das Thema seines Namens B-a-c-h eingeführt wird, ist nicht vollendet. 17 Fugen aller Gattungen und vier Kanons stellen diese Gipfelleistung der Fugenkunst dar, die aber mehr als bloße Technik ist. Bach hat drei Seiten selbst in Kupfer gestochen, ebenso wie das Präludium im dritten Teil der Klavierübung. In die letzte Zeit seines Lebens fällt wieder ein musikalischer Streit gegen einen unmusikalischen Midas, diesmal von einem Schüler ausgefochten. Bachs Schüler Johann Friedrich Doles, der 1756 Thomaskantor werden sollte, hatte am Freiberger Gymnasium zur Jahrhundertfeier des westfälischen Friedens 1748 ein Singspiel mit Erfolg aufgeführt. Der Rektor B i e d e r m a n n ärgerte sidi darüber und behauptete im Schulprogramm von 1749, die Musik verderbe den Charakter. Der Nordhausener Organist Schröter verfaßte für das Organ der »Musikalischen Sozietät«, aufgefordert durch Bach, eine Rezension, um die Musik zu verteidigen. Die Rezension wurde veröffentlicht mit gewissen Abänderungen im Titel und Wortlaut. Der Autor .machte Bach verantwortlich, aber Bach erklärte in einem Brief vom 26. Mai 1750, wohl seinem letzten, nicht er habe Schuld an. der Aenderung, sondern derjenige, der den Druck besorgt habe. Er hatte die Rezension begrüßt und hoffte, daß durch solche Zurechtsetzungen »des Auctoris Dredcohr gereinigt, und zur Anhörung der Music geschickter machen werden«. Bach war alt und krank geworden, seine Augeri litten. Ein berühmter englischer Augenarzt, Taylor, hat 1749 an ihm eine Staroperation vorgenommen, eine rechte Pfuscherarbeit. Bachs Auge war durch einen Schlaganfall zerstört. Durch »schädliche Medicamente und Nebendinge« wurde Bach noch kränker. Man hielt ihn wohl schon als für dem Tode verfallen. So verlangte der allmächtige Minister Graf Brühl vom Bürgermeister, daß sein Kapellmeister und Schützling J. G. Harrer Nachfolger Bachs 64

werden sollte. Am 8. Juni 1749 legte Harrer im Gasthaus DreiSchwanen, wo audi seit 1743 das öffentliche Konzert abgehalten wurde, vor versammelten Ratsherrn öffentlich eine Probe ab »zum künftigen Cantorat zu St. Thomae, wenn der Kapellmeister und Kantor Herr Sebastian Badi versterben sollte«. Das Probestück war eine eigens komponierte Kirchenkantate, die hier vor einem Konzerthaus-Publikum ganz ungewöhnlicher- und ungebührlicherweise aufgeführt wurde. Aber Bach lebte noch über ein Jahr. Um Bach war im letzten Jahr ein Schüler, J o h . G o t t f r i e d M ü t h e l . Bachs jüngster Sohn, der 18jährige Johann Christoph Friedrich, war 1750 in den Dienst des Grafen von Schaumburg-Lippe in Bückeburg getreten. Dem todkranken Meister stand sein Schwiegersohn A11 n i k o 1 zur Seite und schrieb nach seinem Diktat. Bach stellte »Achtzehn Choräle von verschiedener Art« zusammen. Als letztes Stüde diktierte er den Choral »Wenn wir in höchsten Nöten sein«, dem er aber die Verse eines anderen Chorales voraussetzen ließ, der auf dieselbe Weise gesungen wird: Vor deinen Thron tret ich hiemit O Gott, und dich demütig bitt: Wend dein gnädig Angesicht Von mir blutarmen Sünder nicht! Ein selig Ende mir bescher, Am Jüngsten Tag erweck mich, Herr, Daß ich dich schaue ewiglich! Amen, Amen, erhöre mich! Im 26. Takt bricht die Musik ab. C. Ph. Emanuel hat den Choral an den Schluß der von ihm mit Vorwort versehenen Ausgabe der »Kunst der Fuge« gesetzt. Am 18. Juli besserte sich Badis Zustand scheinbar. Zehn Tage lang lag er dann in hohem Fieber. Am Dienstag, dem 28. Juli 1750, abends ein Viertel vor neun Uhr, ist dieser große Meister, einer der größten aller Zeiten, verschieden. Um seine Nachfolge hatten sich zum Tage nach dem Todestag sechs Bewerber gemeldet, unter ihnen Bachs Sohn Emanuel, seine Schüler Joh. Trier und der Zeitzer Schloßorganist Joh. Ludwig Engel, Joh. Seb. Bach 5

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Krebs und Harrer. Harrer wurde gewählt. Er hat nur fünf Jahre amtiert, brav und gewissenhaft, dann ist er verstorben. Harrers Nachfolger wurde Bachs Schüler Johann Friedrich Doles. Audi Emanuel hatte sich wieder gemeldet, empfohlen von Telemann. Er wollte aber keinen Schuldienst tun. Doles starb 1797. Er vertritt eine schwächlichere Zeit und einen schwächlicheren Geschmadc in der Kirchenmusik als Bach, demgegenüber er ein bloß freundliches Talent war. Bachs Witwe, Anna Magdalena, ist 1760 als »Almosenfrau« gestorben. Ihre Kinder waren 1750 noch unmündig, so daß ein Vormund bestellt wurde. Sie konnten die Mutter nicht unterstützen/ihre Stiefsöhne taten es nicht. Bach war vergessen, kein Grabstein schmückte sein Grab. Erst 1894 wurde Bachs Sarg aufgefunden und ein schlichter Sarkophag mit Bachs sterblichen Ueberresten wurde unter dem Altar der Thomaskirche aufgestellt.

BACHS UM- UND NACHWELT D ie schaffenden Meister werden nicht im Abstand einer Generation, eines Menschenalters, d. h. von 25 Jahren, geboren, sondern ununterbrochen fließt der Strom großer und kleiner Talente, so daß die Werke von Komponisten verschiedenster Altersstufen gleichzeitig erscheinen. Unmerklich und allmählich bereitet geht der Wandel des Stiles vor sich, unaufhaltsam. Gewahr werden wir ihn rückwärtsblickend in der Geschichte meist erst durch große bedeutende Werke, in denen das jeweils Neue epochemachend zusammengefaßt und geformt ist. Wenn der große Meister zu altern beginnt, so sind schon ganz andere Stilrichtungen stark geworden, als die Strömungen, die seinen eigenen J u g e n d s t i l getragen haben. Mit dreißig ist der Meister auf der Höhe seiner Kunst angelangt. Er hat sich auf derGrundlage seiner Erziehung und der Eindrücke von anderen Meisterwerken seinen M e i s t e r s t i l 66

geformt, mit dem er meist nun seinerseits auf die jüngeren Zeitgenossen und Schüler einwirkt. Gegen äußere Einflüsse wird er unempfindlicher. Allmählich, wenn er älter wird, berührt ihn das Neue nicht mehr, er baut an seinem eigenen Werk weiter, das wohl, wenn er fünfzig, sechzig und älter wird, allmählich nicht mehr dem Stilempfinden der Jungen entspricht. Zwar bleibt das Werk des Meisters groß, denn nur die kleine Modeleistung veraltert sofort, es flößt den Nachwachsenden Respekt ein, sie lieben es vielleicht, sie gehen aber längst eigene Wege. Die A l t e r s l e i s t u n g e n der Meister stehen oft fremdartig in ihrer Umgebung, auch wenn sie diese wie Dome überragen. Aber die Musik besteht nicht aus Stein wie das Bauwerk, das man auch dann noch stehen läßt, wenn man auch vielleicht daran herumändert, neue Kapellen im neuen Stil dem Dom anbaut. Musik muß gespielt werden, und wenn die junge Generation sie dann nicht mehr spielt, so bleiben die Notenblätter in den Schränken und Regalen der Bibliotheken liegen. Sie verstauben und vergilben, kaum daß ein Kunstjünger das' Werk des Meisters zum Studium in Ehrfurcht und Staunen darüber, was die Alten gekonnt, hervorholt. So kann es sein, daß die größten Meisterwerke der Musik in Vergessenheit geraten, anders als die steinernen Dome, die stehen bleiben, so daß die Nachfolger sie sehen m ü s s e n . Dieses tragische Schicksal hat auch der größte Teil der Werke von Joh. Seb. Bach erlebt. Er wurde vergessen, vergessen in einem Maße, wie es nur Meistern vor ihm, wie Schütz, nicht aber nach ihm, keinem Haydn, Mozart, Beethoven, vielleicht nur in geringerem Maße Schubert ergangen ist. Audi nicht seinem Zeitgenossen H ä n d e l . Nichts ist geeigneter, die verschiedenartige Stellung der Meister zur Um- und Nachwelt zu beleuchten, als ein Vergleich der Lebensläufe beider Meister: B a d i u n d H ä n d e l . Beide entstammen demselben deutschen Stamm, dem saxothüringischen, der so viele große Männer erster Ordnung hervorgebracht hat. Im selben Jahre geboren, sind sie Zeitgenossen im strengsten Sinne des Wortes. Badis Leben spielt sich ab in thüringischen Kleinstädten, an thüringischen Kleinhöfen und zuletzt zwar in einer geistig regen Stadt, dafür aber in der Enge eines 5

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Kantorenberufes, der immer etwas Schulmeisterliches behielt, auch wenn der Thomaskantor ein Genie von höchster Begnadung war. Was große Welt in der Musik bedeutet, das zeigt die Residenz des Kurfürsten und Königs in Dresden, wo unter enormem Kostenaufwand herrliche Musikpflege getrieben wurde, wo große Meister wie Lotti Gehälter erhielten, welche das zehnfache dessen waren, was der Thomaskantor mit Gehalt und vielerlei kleinlichen Nebeneinkünften zusammenkratzen konnte. Hier waren erste Sänger und Sängerinnen, erste Virtuosen, erste Kapellmeister und Komponisten nicht in der Stille deutscher Tradition erwachsen, sondern im Strome der Welt zu musikalischen. Charakteren gebildet. Hier lockte eine neue Kunst Ohr und Auge mit angenehmsten Mitteln und großartigen Eindrücken. Diese Welt, die Welt der italienischen internationalen Oper, war die Welt Händeis, der in ihr schon als junger Mann heimisch und berühmt geworden war, in Italien gleichermaßen zu Hause wie in dem kunstbegeisterten England. Als Komponist italienischer Opern spätvenezianisch-neapolitanischer Richtung und als Unternehmer von Opernaufführungen ist Händel in eine buntere, bewegtere, reichere Umgebung hineingewachsen als Bach und mit Menschen vieler Nationalitäten, Berufe, Ansichten, Horizonte zusammengekommen. Während Bach, von manchem Aerger mit dem Rat abgesehen, in einer ruhigen, behaglichen Atmosphäre des behäbigen Bürgertums und eines gesegneten Familienlebens schaffen konnte, war Händel in schwerstem Kampf gegen starke, mächtige und intrigante Gegner, die Adelspartei und italienische Konkurrenzunternehmungen, in einem Kampf, der sogar zum gänzlichen körperlichen Zusammenbruch führte, den Händel durch eine wahre Roßkur wieder überwand, um dann den Kampf mit verdoppelter Kraft wieder aufzunehmen. Diese Opernunternehmungen Händeis stellen einen Kräfteverbrauch dar, der uns ähnlich bedauerlich und für den Komponisten Händel abträglich erscheint wie Bachs Kantorenarbeit. Die wundervollen musikalischen Werte, die in Händeis Opern stecken, sind uns so gut. wie ganz verloren, da die Opern im heutigen Musikleben nur ganz ausnahmsweise wieder erweckt werden. Reiner und größer kommt Händeis 68

Genie in seinen Oratorien zur Entfaltung. Händeis Opern wurden vergessen, Händeis Oratorien lebten weiter, nidit nur in England, auch in Deutschland, wo in Hamburg 1772 und 1775 der Messias, 1775 durch C. Ph. E. Bach, 1777 in Mannheim teilweise aufgeführt wurde. Die fälsdilich auf das Jahr 1784 statt 1785 angesetzten Hundertjahrfeiern für Händeis Geburtstag brachten nidit nur in England Massenaufführungen, sondern auch in Deutschland, wo Joh. Ad. Hiller eine große Aufführung des Messias in Leipzig veranstaltete. So blieben Händeis große Werke im Gegensatz zu denen Bachs lebendig. Aber nicht nur die Nachwelt, auch die Zeitgenossen haben in Händel einen der größten Meister des Jahrhunderts gesehen, während Bach vornehmlich in Leipzig und seiner sächsisch-thüringischen Heimat, im Kreise seiner Schüler und engeren Berufsgenossen, Organisten und Kantoren, als Berühmtheit galt. Für die Zeitgenossen, die nicht mit Bach in unmittelbare Berührung gekommen waren, galt Bach als einer von den vielen Meistern seiner Zeit, die allenthalben rüstig schufen. Da waren in Bachs unmittelbarer Nähe und in persönlicher Beziehung zu ihm sein Vorgänger in Leipizg, Johann K u h n a u (1666—1722), der als Klavierkomponist mit der »Neuen Ciavierübung« in zwei Heften zu je 7 Suiten 1689 und 1692, aufgelegt bis 1726, mit seinen programmatischen Klaviersonaten »Musikalische Vorstellungen einiger biblischer Historien« 1700, mit seiner Leipziger Kirchenkantate auf Bach eingewirkt hat, da waren seine Mitbewerber um das Thomaskantorat, Johann Friedrich F a s di (1688—1758), seit 1722 in Zerbst, ein bedeutender und fleißiger Komponist von fünf Jahrgängen Kantaten und schönen Ouvertürensuiten, ein von Bach hochgeschätzter Meister. Etwas entfernt, in Darmstadt, wirkte Christoph G r a u p n e r (1683—1760), der prachtvolle Kantaten, Sinfonien, Konzerte, Kammermusik und auch Opern geschrieben hat, der im Stile mit glänzender kontrapunktischer Sicherheit Bach nahekommt. Georg Philipp T e l e m a n n (1681—1767) hat Bach ebenfalls nahegestanden. Die Zahl seiner Werke ist ungeheuer, 12 Jahrgänge Kirdienkantaten, mehr als die doppelte Zahl wie Bach, angeblich 44 Passionen, 25 Opern, Kirchen- und

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Kammermusik aller Art hat Telemann geschrieben. Fast jede Neuausgabe Telemannsdier Werke bestätigt seine Bedeutung. An Tiefe und Kraft kann er sich mit Bach nicht messen, aber die Leichtigkeit, der natürliche Fluß seiner Musik ist erstaunlich. Telemann war berühmter als seine Zeitgenossen Bach und vielleicht selbst Händel, so daß man, wie gesagt wurde, eher von einer Epoche Telemann, als einer Epoche Bach—Händel reden könnte. In Rudolstadt wirkte seit 1681 Philipp Heinrich E r 1 e b a eh (1657—1714), in Gotha Gottfried Heinrich S t ö l z e l , der neben Opern prächtige Kantaten und Konzerte komponiert hat. In Halle lebte bis 1712 der alte Lehrer Händeis, Fr. W. Z a c h o w , der treffliche, lebendige Kantaten und Orgelwerke geschrieben hat. In Weißenfels, wohin Bach öfters kam, und Halle schuf Joh. Philipp K r i e g e r (1649—1725) unermüdlich; Kantaten, aus denen er 1690/92 an 200 Arien drucken ließ, 50 Opern, Kammermusikwerke, von denen Badi sicher vieles gehört und gekannt hat. Sein Bruder Johann K r i e g e r in Zittau (1651—1735) hat bedeutende Klaviermusik und Vokalwerke geschrieben. All diese Meister schufen in unmittelbarer Nähe Bachs in einem dem Badischen ähnlichen Stil, in ähnlichem Geist. Der älteren Meister im Norden, B u x t e h u d e s in Lübeck (t 1707), R e i n k e n s in Hamburg ( t 1722), im Süden P a c h e l b e l s in Nürnberg (t 1706) wurde schon gedacht. Ihre Kunst hat auf Bach stark nachgewirkt. Audi wurde schon erwähnt, wie Bach die Kunst der Franzosen, eines François C o u p e r i n , Charles Dieupart, Nicolas de Grigny, Louis Marchand, André Raison, Gaspard le Roux und anderer seit früher Jugend studierte, wie er dann in Weimar die neue Konzertmusik der Italiener, Arcangelo Corellis, vor allem aber Antonio V i v a l d i s (1680—1743), Tommaso A l b i n o n i s (1674—1745) u.a. in sich aufnahm. Diese Meister sind Altersgenossen und Vertreter des spätvenezianischen, oberitalienischen Stiles. Aber auch mit der neuen Kunst der Neapolitaner ist Bach in Berührung gekommen. Er hat freundschaftlich mit einem der Großen der neapolitanischen Oper verkehrt, dem aus Bergedorf stammenden Johann Adolf H a s s e (1699—1783), der 1722 in Neapel bei Porpora und Alessandro 70

Scarlatti studiert hatte und einer der wichtigsten und bedeutendsten Vertreter der neapolitanischen Oper geworden ist. 1731 war Bach in Dresden bei der Aufführung von Hasses Oper Cleofide, und die folgenden Jahre wird er immer wieder in Berührung mit dieser jüngsten Stilrichtung gekommen sein. Sie unterscheidet sich wesentlich von der Bachs. Bach ist ein Zug von E m p f i n d s a m k e i t nicht fremd, aber sein Stil bleibt immer ernst, streng, auf das Große, Würdige, Erhabene gerichtet. Der neue Stil wurzelt in ganz anderem Erdreich. Die n e a p o l i t a n i s c h e O p e r ist besonders gekennzeidinet durch die komische Oper (Opera buffa), die ihre Stoffe aus dem lebendigen Menschenleben um sich herum griff, statt wie die Opera seria aus antiker Historie und Mythologie, und audi in ihrer Musik volkstümliche Elemente mitbringt. Das R ü h r e n d e , I n n i g e , H e i t e t e , das Gefällige, Schlichte gibt ihr das Gepräge. Der sdiwere Apparat barokken Kontrapunktes wird fallengelassen, tändelnd und hüpfend, graziös und melodisch kommt diese neue Kunst in der Instrumentalmusik daher, für weldie sie sich aus der Sonate eine neue cantable, singhafte Art gestaltet, in einer Form, die sich wesentlich von der barocken unterscheidet. Der S o n a t e n s a t z prägt zwei Themen aus, zunächst ein einfaches Kontrastthema, das allmählich Träger einer neuen Empfindung, des rührenden, weiblichen Empfindens wird. Daneben verniedlichen und verzärteln die Formen, der Satz wird weniger kontrapunktisch-dicht als melodisch. Diese Entwicklung kann auch bis zum Verfall gehen, bis zu einem nur noch galanten Unterhaltungston. Der U n t e r s ch i e d zwischen einer Klaviersonate oder einem Klavierkonzert Hasses und entsprechenden Klavierwerken Joh. Seb. Bachs ist gewaltig. Opern hat Bach keine geschrieben, wenn auch seine weltlichen Kantaten Zeugnis von einer Begabung für das »Burleske« ablegen, wohl aber Hasse Kirchenmusik und Oratorien, von denen in Dresden acht aufgeführt wurden. Sicher hat Bach Stücke aus ihnen gehört, vielleicht die Sa. Elena al Calvario 1746, die später von Joh. Adam Hiller ins Deutsche übersetzt und mit Begeisterung in Leipzig aufgeführt wurde, als die Matthäuspassion längst vergessen war. Zartes, Feines, selbst an Bach Gemahnendes findet sich in diesem 71

Werk. Der Geist ist ein anderer. In sanften Melodien, in klarer Form, in ausdrucksreichen Schilderungen der Seelenzustände der Personen fließt das Oratorium dahin. Ein sanfteres, melodieliebendes Geschlecht fand diese Musik schön. Ihm mußte Bach herb, gelehrt, überladen erscheinen. Hasse verwandt ist in Berlin Karl Heinrich G r a u n (1703—1759, dort seit 1735 bzw. 1740). Neben Hasse war er Lieblingskomponist Friedrichs des Großen. SeineOpern in ernstem neapolitanischem Stil haben sich weniger gehalten als sein fünf Jahre nach Bachs Tod komponiertes Oratorium »Der Tod Jesu«, welches in seinem empfindsamen Stil und bequemer Technik den denkbar größten Gegensatz zu Bachs Kirchenmusik bildet. Da standen Badi die Wiener Meister näher, welche den barocken Stil großartig gepflegt hatten, ein Kontrapunktlehrmeister Joh. Jos. F u x (1660—1741) und der Italiener Antonio C a l d a r a (1670—1736), bei dem neapolitanische Stilelemente hinzutreten. Bach hat beide Meister geschätzt. Kaum dürfte er Werke der beiden Reutter, Vater und Sohn (Georg 1656—1738, Johann Georg (1708—1772), gekannt haben, wohl aber die »Componimenti musicali per il cembalo« des Wiener Hoforganisten Johann Gottlieb Muffat (1739), der französischen, italienischen und deutschen Stil zu vereinen wußte. Die älteren Italiener wie Feiice Evaristo d a l l ' A b a c o (1675—1742) und den großen Opernkomponisten Agostino S t e f f a n i (1654—1728), der auf Händel einwirkte, mag Bach aus Proben gekannt haben. Obwohl Bach eine Wendung zum N e a p o l i t a n e r t u m nicht mitgemacht hat, hat er dodi ihre Formenwelt nicht unbeachtet gelassen. Wie er die französische Suite und Ouvertürensuite aufgreift und in Instrumental- und Vokalmusik als Form verwertet, wie er die oberitalienische Konzertform vor und nach 1700 großartig umgestaltend nicht nur in Instrumentalkonzerten, sondern in Suiten und Vokalwerken verarbeitet, so hat er auch die Form des Sonatensatzes nicht nur in der zweiteiligen Vorform der Zeit verwendet, sondern höchst bedeutsam die dreiteilige Anlage mit Reprise (Invention VI, E) ausgebaut. Allerdings hat er alle diese Anregungen in seiner Art kontrapunktisch aufgegriffen. Auch seine von jüngeren Formtendenzen berührten Werke gehören doch nicht 72

der neuen Zeit an, sie sind, verglichen mit dem, was die neuen Männer, etwa Domenico S c a r l a t t i (1685—1732) oder Giov. P e r g o l e s i (1710—1736), dieser in seinen Triosonaten von 1732, bringen, letzte Steigerung hochbarocker Stileigentümlichkeiten. Bachs beide letzten Werke, das »Musikalische Opfer« und vor allem »Die Kunst der Fuge« sind in ihrer Zeit völlig fremd. Jahrhundertealtes gotisches Erbe scheint in ihnen wieder lebendig zu werden. Diese grandioseste Verschmelzung musikalischer Arithmetik und religiöser Versenkung hat mit ihrer Zeit keinerlei Bindungen mehr. Händeis Spätstil ist weit zeitoffener und ragt in manchem hinein in die folgende Zeit. In der Entstehungszeit von Bachs Spätwerken war mit Johann S t a m i t z (1717—1757) schon eine zweite neue Generation am Werk. Seit 1745 in Mannheim angestellt, bildete er hier das Haupt der Mannheimer Schule, deren Sinfonien nicht nur gegenüber den barocken Orchestersuiten, sondern ebenso gegenüber den gelockerten und galant gewordenen Sinfonien, Triosonaten und Klavierwerken der älteren Neapolitaner durch ein zupadeendes, volkstümlich aufquellendes Wesen einen starken Gegensatz bilden. Aehnlich beginnen die Wiener Meister, denen schon im Jahrzehnt nach Bachs Tod Joseph Haydn mit immer persönlicher werdenden Sinfonien folgt. Bedenkt man, daß Christoph Willibald G l u c k (1714—1787) um das Jahr 1746 seine sechs Triosonaten veröffentlichte, die zwar der neapolitanischen Form folgen, aber doch einen ganz neuen lebendig-dramatischen Geist zeigen, so hat man die Fülle der neuen, für die Folgezeit bedeutsamen Stile und Entwiddungsrichtungen beisammen. Da mußte ein überzeitlich-zeitloses Gipfelwerk wie die »Kunst der Fuge« unbeachtet bleiben. Wie hätte es anders sein können! Die Musiker, Schüler und Söhne, die Bach noch zu Lebzeiten hatten spielen hören, hatten noch einen lebendigen Eindruck von seiner Musik. Die S ö h n e aber huldigten schon einem völlig anderen Geschmack. W i l h e l m F r i e d e m a n n , der älteste (1710 bis 1784), dem der Vater noch zu seinem Amt verholfen hatte, war in Dresden von 1733—1746 Sophienorganist, um dann in Halle bis 1764 ein noch größeres Kirchenamt zu verwalten. Erst dann, mit vierundfünfzig Jahren, wird er Sonderling, haltlos hin- und her73

geschleudert. Sein Stil ist schon in den Werken von 1733 von ganz anderem Geist erfüllt, Klaviersonaten, Konzerte, Kantaten, sie setzen nicht die Tradition des Vaters fort. Trotz mancher genialer Ausdruckstiefen ist sein Stil elegant, leicht, stellenweise von einem Hauch von Frühromantik durchweht, manchmal leise Mozart vorausnehmend. Carl P h i l i p p E m a n u e l B a c h (1714—1788) hat schon 1742 und 1744 in seinen beiden Sonatensammlungen, den Friedrich dem Großen gewidmeten »preußischen« und den »württembergischen« für Herzog Karl Eugen, nicht nur die neue Gattung entscheidend geformt, sondern jetzt schon einem neuen Stil gehuldigt. 1740—1767 war er Kammercembalist des großen Königs. Dort in Potsdam, wo der Vater ihn 1747 besuchte, war er zwangsweise Haupt der »norddeutschen Schule«, er mußte an deren stilistischen Grundsätzen festhalten, da der alternde König immer tyrannischer im Geschmack seiner reifen Jahre verharrte und von den neuen Sternen, von Gluck, Haydn, den Mannheimern, nichts wissen wollte. Trotz dieses Zwanges ist Bach ein Eigener, voll überschäumender Kraft, voll Empfindsamkeit, voll Witz mit Geist. Noch schärfer wird die Wendung zu einer rationalistisch-witzigen, bürgerlich-empfindsamen Musik, als er Nachfolger seines Paten Telemann 1767 in Hamburg wird. Die Kunst des Vaters war Bach Respekts-, keine Herzenssache, und er wird sich nicht gewundert haben, daß die »Kunst der Fuge« weder in der ersten Ausgabe von 1750 noch in der zweiten von 1752 genügend Käufer fand. Schließlich hat er 1756 die Kupferstichplatten öffentlich zum Verkauf ausgeschrieben. Aber niemand kaufte sie, und so werden die Platten als Altmetall in eine Metallschmelze gewandert sein! 1765 und 1769 erschienen »Johann Sebastian Bachs vierstimmige Choralgesänge, gesammelt von Carl Philipp Emanuel Bach« mit je hundert Chorälen. In Wirklichkeit hatten Friedrich Wilhelm M a r p u r g (1718—1795) und Joh. Friedrich A g r i c o l a (1720—1774), der Schüler Bachs, die Ausgabe besorgt, gegen deren zweiten Teil Emanuel protestierte wegen der vielen Fehler. Die Ausgabe aller 400 BachChoräle war ein Herzenswunsch von Joh. Philipp K i r n b e r g e r (1721—1783), dem Schüler Bachs. Doch sollte er die Er74

füllung dieses Wunsches nicht mehr erleben. Emanuel gab 1784 bis 1787 statt Kirnberger die 400 Choräle heraus. Es war das einzige Werk aus dem Nachlaß Johann Sebastians, das auf längere Zeit gedruckt wurde. Noch viel weniger hatte J o h a n n C h r i s t i a n B a c h , der jüngste Sohn (1735—1782), Beziehung zur Kunst seines Vaters. Er war beim Tode des Vaters von Emanuel mit nach Berlin genommen worden. Schon 1754 geht er nach. Italien, wo er in der Folge nicht nur katholisch wird, sondern auch als Komponist ganz und gar Italiener. In London hat Bach, verheiratet mit einer Italienerin, seit 1762 den neuneapolitanischen Stil in der Oper mit größtem Erfolge vertreten, ebenso als katholischer Kirchenmusiker, als Klavier-, Kammer- und Sinfoniekomponist ist er der Komponist, der das neapolitanische »singende« Allegro mit der Natürlichkeit der Erfindung durchpulst, welche für sein Geschlecht in jeder Stilart Kennzeichen war. Mit ihrer Empfindbarkeit, Tändelei, Grazie und frühromantischen ernsteren Zügen schwebt diese Musik lieblich und sanft dahin. Der Knabe Mozart hat von ihr seine stärksten Eindrücke. Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen Christian und Sebastian Bach. Den jüngsten Bach bindet nichts mehr an den Vater, den er gelegentlich eine alte Perücke genannt haben soll. So war die Bachpflege auf den einstigen Schülerkreis Sebastians beschränkt. 1801 berichtet Forkel, daß in Thüringen bei jedem Kantor, Organist oder Musikdirektor irgendein Stüde von Bach sich finde. In der Thomaskirdie erklangen Bachsche Kompositionen weiter. Unter Joh. Friedrich D o l e s (1715—1797), einst Schüler Bachs, selbst einem eifrigen Käntatenkomponisten, der doch nicht völlig sich dem neuen Stil der Aufklärung verschrieben hatte, seit 1756 nach Harrer Thomaskantor, hörte 1784 M o z a r t Bachs Motette »Singet dem Herrn ein neues Lied«. Sie begeisterte Mozart. »Das ist doch einmal etwas, woran sich lernen läßt.« Er breitete, in Ermangelung einer Partitur, die Stimmen um sidi herum, um sie zu studieren. Im 18. Jahrhundert erschienen noch einzelne Badische Kompositiopen im Druck, zwei Sätze aus dem Wohltemperierten Klavier in Kirnbergers »wahren Grund75

sätzen zum Gebrauch der Harmonie« 1773, ein Messesatz in dessen »Kunst des reinen Satzes« 1779, Beispiele in Hawkins Musikgeschichte »A general history of Music« 1776 und A. F. C. Kollmanns »Essay on practical musical Composition« 1799, in England, wo der Organist Samuel Wesley (1766—1837) für Bach warb, in Friedrich Reichhardts Musikalischem Kunstmagazin 1782 die f-Fuge aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers und in einer »Sammlung von Präludien, F u g e n . . . für Orgel« 1795 ein Choralvorspiel. Trotzdem scheinen Abschriften des Wohltemperierten Klaviers verbreitet gewesen zu sein. In Cramers Magazin 1783 wird von dem begabten Knaben Ludwig van B e e t h o v e n , angeblich 11-, in Wirklichkeit 13jährig, berichtet: »Er spielt größtenteils das Wohltemperierte Ciavier von Sebastian Bach, welches ihm Herr Neefe unter die Hand gegeben. Wer diese Sammlung von Präludien und Fugen durch alle Töne kennt (welche man fast das non plus ultra nennen könnte), wird wissen, was das bedeutet.« Erst kurz nach 1800 erschien »Das Wohltemperierte Klavier« im Druck, und zwar gleich von drei Verlegern herausgegeben, in Bonn bei N. Simrock, in Leipzig und Wien bei Hoffmeister & Kühnel, in Zürich bei H. G. Nägeli. Hoffmeister & Kühnel, seit 1814 C. F. Peters, brachte unter Beihilfe von Joh. Nikolaus Forkel, dem ersten Bachbiographen, 1801—1803 Klavierwerke Bachs. Mozart erlebte verhältnismäßig spät den Einfluß Bachs, seit 1782. Fugen für Klavier, fugierte Sätze, kontrapunktische Arbeit folgen. Mozart hat Fugen aus dem »Wohltemperierten Klavier« für Streicher bearbeitet und Einleitungen dazu komponiert. Beethoven ist mit dem »Wohltemperierten Klavier« aufgewachsen. 1825 äußerte er gegenüber dem Organisten Freudenberg: »Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen, wegen seines unendlichen, unaussdiöpfbaren Reichtums von Tonkombinationen und Harmonien.« 1822 skizzierte Beethoven eine Ouvertüre über den Namen B - a - c - h. Beethoven schrieb damals an Hoffmeister: »Daß Sie Seb. Bachs Werke herausgeben wollen, i?t etwas, was meinem Herzen, das ganz für die hohe Kunst dieses Urvaters der Harmonie schlägt, 76

recht wohltut.« 1803 verlegte Breitkopf & Härtel die Motetten, 1811 erschien bei Simrock das Magnificat, das Verwunderung erregte. 1818 bringt Simrodc die Messe in A, die h-Messe wird 1818 von ihm und auch von Nägeli angekündigt, erscheint aber nicht. In diese Zeit fallen zahlreiche Bach-Ausgaben in Paris. In der allgemeinen Musikalischen Zeitung wird 1818 berichtet, daß Bach in England und Frankreich viel gespielt wurde, »sogar von Damen«. Ein Zentrum der Bachpflege war die B e r l i n e r S i n g a k a d e m i e , gegründet 1790 von Karl F a s d i , dem Sohn des Zerbster Hofkapellmeisters Joh. Friedrich Fasch. 1794 begann man mit dem Studium Badischer Motetten. K a r l F r i e d r i c h Z e l t e r (1758—1832), der Goethefreund, setzte diese Bachpflege fort. 1804 werden Motetten, 1811 das Kyrie der h-Messe, 1812 die A-Messe und Konzerte gedruckt, weitere Werke folgten, 1815 die Johannispassion und Teile der Matthäuspassion. An Goethe schrieb Zelter 1820 das schöne Wort: »Bach ist wie der Aether, allgegenwärtig und unbegreiflich. Eine Erscheinung Gottes, klar, doch unerklärbar.« Trotzdem glaubte Zelter, die Werke Bachs weitgehend durch Aenderungen, vor allem in den Rezitativen, dem Gesdimacke der Zeit anpassen zu müssen. 1820 traten die beiden Kinder des jüdischen Bankiers Mendelssohn, Fanny und Felix, in die Singakademie ein. Seit 1824 sang Mendelssohn mit, erst im Alt, dann im Tenor. Er wünschte sich die Matthäuspassion, die er 1823 zu Weihnachten in einer Abschrift von Eduard Rietz (1802—1832) geschenkt bekam. Am 11. März 1829 und wiederholt am 21. März, dem Geburtstage Bachs, wurde unter Mendelssohn in der Singakademie die Matthäuspassion aufgeführt. Das Werk fand keineswegs ungeteilten Beifall. Der berühmte Philosoph Hegel äußerte, das sei keine rechte Musik, man sei jetzt weitergekommen, wie wohl noch lange nicht auf das Rechte. Zelter hatte seinem reichen und begabten Schüler den Taktstock überlassen, ihm aber Anweisung für die Direktion schriftlich gegeben und auch die dritte Aufführung am 13. April wieder selbst übernommen. Noch vor dieser, auf die Anregung Zelters zurückgehenden Aufführung der Matthäuspassion hat Joh. Nepomuk Schelble, 77

der Begründer des Frankfurter Cäcilienvereins, 1828 die h-Messe aufgeführt. Die Matthäuspassion folgte in Frankfurt und Stettin, hier unter dem Balladenkomponisten Carl Loewe 1831. Es ist für die Schwierigkeit, die sich dem Verständnis entgegenstellte, kennzeichnend, daß bei einer der ersten Aufführungen der Passion, 1832 in Königsberg, bei welcher etwa nur die Hälfte des Werkes gegeben wurde, was der Rezensent nicht tadelt: » W a r es doch vielen an dem Gegebenen zu viel!« »die ausgesprochenen Urteile über dieses W e r k sehr verschieden waren.« »Viele Musiker von Profession, die nur das Neue zu kennen Gelegenheit haben, nannten das ganze W e r k veralteten Trödel, der in die Rumpelkammer gehöre und auch bald dahin zurückkehren werde. Ein Teil der Zuhörer lief schon in der ersten Hälfte zur Kirche hinaus.« Der Rezensent meint: »Die Recitative haben wenig Modulation und ermüden. Die Ritornelle zu Nr. 1 und 35 scheinen S. Bachs hoher Kunst nicht unwürdig.« In der Folge begann auch die Ausgabe der großen Werke. Schlesinger gab 1830 die von A . B . M a r x willkürlich bearbeitete Partitur der Matthäuspassion heraus, ohne Bezifferung des Basses, im selben J a h r e Simrock 6 Kantaten, 1831 Trautwein die Johannispassion. Andere W e r k e folgten. Aus dem Kreise der Anhänger erwuchs der Gedanke an eine Bachgesellschaft. S ch e 1 b 1 e hat in einem Brief an den Direktor des Münchener Konservatoriums, Franz Hauser, die Anregung gegeben. Im J a h r e der hundertsten Wiederkehr des Todestages Bachs wurde in Leipzig die Bachgesellschaft gegründet. O t t o J a h n , der berühmte Archäologe, Altphilologe und Kunstkritiker (1813—1869), der die erste große wissenschaftliche Musikerbiographie, die Biographie Mozarts (1856—1859) geschrieben hat, der ebenso später von Thayer verarbeitetes Material zu einer Biographie Beethovens, aber auch Haydns gesammelt hatte, hat ein Hauptverdienst daran. Er verfaßte das vertrauliche Rundschreiben, unterzeichnet von C. F. Becker, Breitkopf & Härtel, Moritz Hauptmann, Otto J a h n und Robert Schumann, das, als öffentliche Aufforderung gedruckt, noch weitere berühmte Namen trug: Ferdinand David, Franz Liszt, A. B. M a r x , Ignaz Moscheies, J. Th. Mosewius, Julius Rietz, 78

Louis Spohr, Freiherr von Tucher, C. v. Winterfeld. Absicht war, »alle Werke Joh. Seb. Bachs, welche durch sichere Ueberlieferung und kritische Untersuchung als von ihm herrührend nachgewiesen sind, in einer gemeinsamen Ausgabe zu veröffentlichen«. 1852 kam der erste Jahrgang der G e s a m t a u s g a b e heraus. Die Ausgabe ist von 1852 bis 1900 in 47 Jahrgängen und 61 Bänden, zu einem großen Teil unter Redaktion von Wilhelm Rust (1860—1881), herausgegeben worden. Diese Ausgabe ist keineswegs ohne Schwierigkeiten durchgeführt worden. In dem ersten Jahrzehnt wurden immer wieder Zweifel an dem Werte dieser Musik laut. Die Zahl der Einzelausgaben ist daneben ins Ungeheure gewachsen. 1900 wurde in Leipzig unter Vorsitz Hermann Kretschmars die »Neue Bachgescllschaft« gegründet, welche Bachfeste veranstaltete, Bachs Werke in praktischen Neuausgaben und seit 1904 Bach-Jahrbücher herausgab. Die B a ch f o r s di'u n g beginnt mit Joh. Nikolaus F o r k e 1 s Buch »Ueber Joh. Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke«, 1802. Forkel, Universitätsmusikdirektor in Göttingen, wo er als Studiosus iuris in der Musik als Autodidakt begonnen hatte, bezeichnet die Werke Bachs als unschätzbares National-Erbgut. Die Erhaltung des Andenkens an diesen großen Mann sei nicht bloß Kunstangelegenheit, sie sei Nationalangelegenheit. Forkel stützt sich meist auf den in Mitzlers Musikalischer Bibliothek 1754 veröffentlichten, von Agrícola und K. Ph. E. Bach verfaßten Nekrolog. Das Hauptwerk der Bachbiographie sollte 1873 bis 1880 entstehen in Philipp Spittas Werk: Johann Sebastian Bach, einer Musterleistung, was die Sammlung des biographischen Materials angeht. Spitta hat nicht nur Bachs Leben, sondern auch Bachs Werke untersucht, dabei die historische Umwelt, was mangels Vorarbeiten eine außerordentliche Leistung darstellt. Neue Züge im Werke Bachs hat dann die Arbeit von André P i r r o »L'esthétique de Jean S. Badi«, 1907, gebracht, dem Albert S c h w e i t z e r in seinem populär gewordenen und seit 1908 oft aufgelegten Buch »Joh. Seb. Bach« folgte. 1929 brachte der schottische Historiker Charles Sanford Terry in seiner Biographie einiges neue Material. Vor allem hat sich A r n o 1 d S di e r i n g (1877—1941), 79

der Herausgeber der Bach-Jahrbücher, um die Erforschung der Leipziger Jahre Bachs verdient gemacht in seiner Musikgeschichte Leipzigs, 3. Bd., Johann Sebastian Bach und das Musikleben Leipzigs im 18. Jh., 1941. Grundlegend sind Scherings Forschungen über die Symbolik Bachs. (Weitere Literatur am Schluß.) Der E i n f l u ß , den Bach im 19. Jahrhundert, hundert Jahre nadi seinem Tode, auszuüben begann, war außerordentlich. Noch niemals ist dieser Fall in der Musikgeschichte dagewesen, daß ein Musiker nach seinem Tode fast ganz vergessen wurde, um dann nach einem Jahrhundert Auferstehung zu feiern und mit seinem Werk ein neues Leben zu beginnen. Zu Lebzeiten war von Bach wenig gedruckt, die Ratswahlkantate (in Stimmen), die vier Hefte der Klavierübung, die Choräle in Sdiemellis Gesangbuch, die 6 Choräle, die kanonischen Veränderungen, das musikalische Opfer, und kurz nach seinem Tode die Kunst der Fuge. Nach 1850 steigert sich die Zahl der Drucke Badischer Werke, die nun leicht zugänglich und weit verbreitet wurden. Die Matthäuspassion wurde nadi 1829 ungezählte Male aufgeführt. Bachs Werke nehmen einen beachtlichen Teil aller Choraufführungen, nicht nur in der protestantischen Kirche ein, aller Klavierabende, noch mehr aller Orgelkonzerte. Wie schon Beethoven unter Leitung Neefes, so wachsen alle jungen Musiker mit dem Wohltemperierten Klavier auf, und Organisten spielen in erster Linie Bach. Der E i n f l u ß a u f d i e K o m p o n i s t e n d e s 19. J a h r h u n d e r t s ist ungeheuer. Er läßt sich hier nur in Umrissen angeben. Die Bekanntschaft der heranwachsenden Musiker mit Bach seit etwa 1830 hat eine Hinwendung zur Polyphonie zur Folge. Alle Fugenkomposition gründet sich auf das Studium Bachs, ob bei S c h u m a n n , B r a h m s , K i e l , R e g e r oder wem auch immer. Auch fast jede kontrapunktische Belebung und Vertiefung des Satzes, ob des Klaviersatzes bei Schumann oder Reger oder des Orchestersatzes in Wagners Meistersingern oder der kontrapunktischen Formen wie in der Chaconne der 4. Symphonie von B r a h m s , geht auf Bachs Einwirkung zurück. 80

Schumann schrieb am 31. 1. 1840 an Keferstein: »Mozart und Haydn kannten Bach nur Seiten- und stellenweise, und es ist gar nidit abzusehen, wie Bach, wenn sie ihn in seiner Größe gekannt hätten, auf ihre Produktivität gewirkt haben würde. Das Tiefkombinatorische, Poetische und Humoristische der neueren Musik hat seinen Ursprung aber zumeist in Badi: Mendelssohn, Bennet, Chopin, Hiller; die gesamten sogenannten Romantiker (die deutschen meine ich immer) stehen in ihrer Musik Bach weit näher als Mozart, wie diese dann sämtlich auch Bach auf das gründlichste kennen, wie ich selbst im Grunde tagtäglich vor diesem Hohen beichte, mich durch ihn zu reinigen und zu stärken traute . . . Bach'en ist nach meiner Ueberzeugung überhaupt nidit beizukommen; er ist inkommensurabel...« Schumann hat denn auch 1846 6 Fugen über Bachs Namen geschrieben, wie später Liszt, Reger u. v. a., wie schon Beethoven eine Ouvertüre über B-a-c-h geplant hat. Was Schumann von Mozart und Haydn sagt, gilt auch von Beethoven. Daß er Händel für den größten hält, unter dem Eindruck der großen Werke, und nicht Badi, kommt wohl lediglich daher, daß er nur das Wohltemperierte Klavier u. a. gekannt hat, nicht aber Kantaten, Passionen, Messe! Der Komponist, der sich am stärksten auf Bach stützt, ist Max R e g e r (1873—1916). Wiewohl Romantiker, der von Brahms stark beeindruckt war, ist Reger als Fugen- und Kontrapunktmeister ganz Schüler Bachs. In seinen V a r i a t i o n e n und Fugen über ein Thema von Bach, op. 81, das Oboenthema der Einleitung zum Duett »Seine Allmacht zu ergünden« aus der Kantate 4 »Auf Christi Himmelfahrt allein«, hat Reger nidit nur das b e d e u t e n d s t e K l a v i e r w e r k nadi 1900 überhaupt der Welt geschenkt, sondern eine tiefsinnige, tiefgründige Auslegung der im bachsdien Thema liegenden Gedanken- und Gefühlswelt. Aber auch die sog. »Neue Musik« in ihrem gesünderen Teil baut auf Bachs Kontrapunktik und sogar Formen wie dem Konzert auf. P a u l H i n d e m i t h (* 1895) ist von Badi nicht unbeeinflußt, und die Abwendung von romantischer Empfindungswelt und Akkordik führte diese Jungen nach 1920 zu Bach und zur Barockmusik. Hindemith hat sich sogar in seiEngel, Joh. seb. Bach 6

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nem »Ludus tonalis«, einem Präludium, Postludien, Interludien und 12 Fugen durch die Tonarten umfassenden Werk, komponiert 1943, formal und inhaltlich nachdrücklich zu Bach bekannt. Ernst Pepping (* 1901) schrieb 1947 vier Fugen auf den Namen B-A-C-H. B e l a B a r t ö k (1881—1945) und I g o r S t r a w i n s k y (* 1882) zeigen deutliche Anlehnung an Bach, letzterer schon in seiner Klaviersonate (1922), stärker noch im Violinkonzert (1931) und in dem Konzert für Bläser, 1937). Strawinsky übernimmt hier Formen, melodische Wendungen und Elemente der Technik Bachs. Wenn man dieser äußerlichen Anwendung Badischer Elemente auf geistig ganz entgegengesetzte Schöpfungen nicht froh werden kann, so sei diese Erscheinung doch festgestellt. Im Ausland ist der Einfluß Bachs ebenfalls groß, besonders in Frankreich, wo in C e s a r F r a n c k (deutscher Abstammung, 1822 bis 1890) ein Fugenmeister erstand, der romantisch wagnerische Harmonik und Ausdruckstendenz nicht widerspruchslos mit von Bach gelernter Polyphonie verband. Seine Schüler V i n c e n t d ' I n d y und sein Nachfolger C h a r l e s - M a r i a W i d o r haben auf die gegenwärtigen Musiker durch mancherlei Hinweise auf Bach gewirkt. Albert S c h w e i t z e r ist ebenfalls Schüler Widors. Der Führer des französischen Impressionismus, Claude Debussy (1862 bis 1918), war von tiefer Bewunderung insbesondere für Bachs Orgelwerke erfüllt. Aber auch wo die Einflüsse nicht so unmittelbar zu erkennen sind wie bei den genannten Meistern, ist der Einfluß Bachscher Musik doch oft noch in feinerer Auswirkimg vorhanden. Die Art der Satztechnik, die Gattungen Konzert, Suite, Motette, Variationsformen, Besetzungsarten, z. B. in zyklischen Werken f ü r ein Steichinstrument allein, verraten häufig Vorbild und Studium Bachs. Bachs Haltung und Bachs kontrapunktischer Stil haben im Jahrhundert des Subjektivismus eine heilsame Rolle gespielt als Gegenwirkung gegen ein Sichverlieren in Farben und Klängen, in dem Rausch der Harmonie und romanischer Melodik. B a ch warundbleibtfürdendeutschenMusikerzumal d e r g r o ß e E r z i e h e r z u r V e r i n n e r 1 i ch u n g , z u r inneren Einkehr. 82

In E n g 1 a n d , wo die Bachtradition alt ist, ist die Pflege Bachs lebendig neben der Händeis, und in C h a r l e s Sanfort T e r r y ist audi die Badiforsdiung in neuerer Zeit würdig vertreten. In I t a l i e n , das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Tiefstand der Musikkultur erlebte, ist Bach für die Wendung zur ernsten, zur sinfonischen, zur nicht nur homophonen Musik neben den deutschen Klassikern von Bedeutung geworden. Der Opernkomponist V e r d i , der in seiner letzten, mit 79 Jahren geschriebenen Oper Falstaff einen Stilwechsel vollzieht und das geniale Werk mit einer Fuge endet, hat Bach studiert. Eine Besucherin fand 1871 auf dem Lesepult Verdis Bachs Wohltemperiertes Klavier zum Studium aufgeschlagen. Italiens musikalische Jugend erarbeitet sich heute Bachs Werk in der fleißigen Ausgabe B r u n o M u g g e l i n i s (1871—1912), der sich die Ausgaben des größten Pianisten seiner Epoche, des Halbitalieners Ferrucio Busoni (1866—1924), und dessen Schülers Egon Petri anschließen.

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DIE WERKE

S T I L UND G E I S T D i e V o k a l w e r k e nehmen in Bachs Gesamtwerk den größeren Raum ein. Die großen Vokalwerke sind auch dem Umfange nach gewaltiger als die aus Einzelstücken oder aus Folgen von meist kurzen Sätzen bestehenden Instrumentalwerke. Bei den Vokalwerken gibt es durch die B i n d u n g a n d a s W o r t keinen Zweifel über den geistigen Hintergrund dieser Musik. Hier wird offenbar, wie vollständig Bach in der Macht des Glaubens wurzelt, wie der christliche Glauben sein Lebenselement ist. Die Vokalmusik Bachs ist eine Welt, die man nicht vom nur musikalischen Standpunkt aus genießen oder erleben kann. Man muß die geistigen Voraussetzungen dieser Werke kennen, um diese Kunst in ihrer Tiefe und Bedeutung zu verstehen. Bachs K a n t a t e n stellen einen überaus reichen und wertvollen Schatz religiöser Musik dar. In freier D i ch t u n g, die von Poeten sehr unterschiedlicher Begabung geschaffen wurde, von Neumeister, Franck, Picander, Marianne von Ziegler, Christian Weiß und vielen Unbekannten, oder bei den Choralkantaten vorzugsweise der späteren Zeit im Kirchenlied, in den Versen selbst oder in Paraphrasen, wird auf den Text oder die Bedeutung des K i r c h e n t a g e s Bezug genommen. Unter den Dichtungen erscheint uns heute manches nur schwer erträglich und verständlich, vieles geschmacklos, wie die Kantate mit kaufmännischem Text (»Tu Rechnung, Donnerwort«), manches trocken, sentimental oder schwülstig. Man muß sich in den Geschmack der Barockdichtung überhaupt einleben, um sie zu verstehen. Dann aber finden wir doch in den Texten Verse von feinstem, ernstem Empfinden, von schöner, oft eleganter Ausdrucksweise und Wahl der Bilder. Be85

sonders auffallend für unser heutiges Empfinden ist die tiefe, fast leidenschaftliche Sehnsucht nach dem Tode, die bei Bach so stark und immer wieder zum Ausdruck kommt. Diese Mystik des Todes ist ein Kennzeichen der Bachschen Religiosität. Hier zeigt sich eine unerschütterliche Macht und Gewißheit des Glaubens. Für unseren Geschmack ungewohnt ist besonders die Mystik der Jesusliebe, die Jesus als den Bräutigam der Seele schildert. Der Pietismus hat bei Bach nicht nur auf die Wahl der Stoffe, sondern auch auf die Sprache der nicht im Lager des Pietismus stehenden Dichter eingewirkt. Die Kantaten Bachs dienten nicht als Schmuck des Gottesdienstes, sondern waren Teil der Liturgie. Die Predigt stand meist in der Mitte, oft setzt der Arientext den Gedankengang des Predigttextes fort oder leitet ihn ein. Der Schlußchoral wurde von der Gemeinde gesungen. Die Arientexte und Rezitative bringen nicht nur Bilder und Empfindungen, sondern sind z. T . rein »vernünftig« oder gar selbst ähnlich einer Predigt. Die R h e t o r i k war damals auch für die Musiker eine wichtige Lehre. Die Verständlichkeit des Textes wurde auch vom Komponisten gefördert durch Beachtung der grammatikalischen Figuren, Kolon, Punkt, Ausruf, Imperativ, Verschweigung, Einschaltung, Unterbrechung usw., welche Bachs Rezitativen eine unerhörte Plastik gibt, wie durch Beachtung der Sinnfiguren, Wiederholung, Verstärkung, Steigerung, Gegensatz, Nachdruck, Versetzung, Wiederkehr, welche der Musiker mit den Mitteln seiner Kunst aufgreift. Als eindringlicher, oft gewaltiger Rhetor zeigt sich Bach vor allem in den Rezitativen. Wichtiger noch als die Rhetorik aber war die L e h r e v o n d e n A f f e k t e n . »Der Musik Endzweck ist, alle Affekte durch die bloßen Töne und durch Rhythmen, trotz des besten Redners, rege zu machen.« Das Barockzeitalter sieht geradezu den Sinn der Musik in der Darstellung dieser menschlichen Affekte. »Kein Mensch kann sich von Affekten frei machen, und ein jeder empfindet verschiedene heftige Veränderungen im Geblüte und den Lebensgeistern, welche den Leib und die äußeren Glieder in eine heftige Bewegung setzen, wenn er in einen starken Affekt gerät. Diese Gemütsbewegungen wechseln bei verschiedenen

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Menschen in verschiedenen Stufen ab und sind nicht einerlei. Die Leidenschaften sind dreierlei, angenehme..., unangenehme . . . , vermischte. Angenehme Affekte sind Liebe, Freude, Fröhlichkeit, Zufriedenheit, Hoffnung usf., unangenehme Zorn, Furcht, Traurigkeit, Schrecken, Verzweiflung, Neid, Mißgunst, Reue, Scham etc. Vermischte Haß, Eifersucht, Mitleiden, Wankelmütigkeit etc.« So äußert sich der schon genannte Mizler. »Die Natur-Kündiger wissen zu sagen, wie es mit unseren Gemüts-Bewegungen eigentlich, und so zu reden körperlich zugehe, und es ist einem Komponisten ein großer Vorteil, wenn er auch darin nicht unerfahren ist. Da z. B. die Freude durch Austreibung unserer Lebens-Gemüter empfunden wird, so folgt ververnünftiger- und natürlicherweise, daß ich diesen Affekt am besten durch weite und erweiterte Intervalle ausdrücken könne. Weiß man hingegen, daß die Traurigkeit eine Zusammenziehung solcher Teile unseres Leibes ist, so stehet zu ermessen, daß sich zu dieser Leidenschaft die engen und engesten Klang-Stufen am füglidisten schicken.«

Die Mittel, diese Affekte auszudrücken, sind im letzten Beispiel schon gegeben: es sind die Intervallschritte der Melodie, die rhythmischen Figuren, das Tempo, die Lage des Klanges, des Instrumentes oder der Stimme, die Klangfarbe und die Wahl der Instrumente. Einzelne Instrumente haben durch die Art und die Gelegenheit ihrer Verwendung bestimmte Bedeutung erlangt. Trompeten und Pauken sind die Instrumente der Ritter, Fürsten, der Schlachten, der vornehmen Stände, die sie allein z. B. bei Hochzeiten oder Doktorpromotionen usw. braudien können. Dur und Moll hat heute die landläufige Bedeutung von Freude und Trauer, Lust und Schmerz. Bei Bach .ist Moll nodi nidit dieses Ausdrucksmittel, da in den Kirchentonarten das Dorische als Stammtonart des Moll keineswegs Trauer bedeutet. Viele Tänze stehen in solchem »Moll«. Die T o n a r t e n erhalten ihre C h a r a k t e r i s t i k , die ebenfalls keineswegs zu allen Zeiten dieselbe war. Bach hat seine eigene Tonartenästhetik, die mit der in Matthesons Neu-Eröffnetem Orchester 1713 III. 3, mitgeteilten, mehr für die Oper geltenden, nicht durchweg zusammengeht. Die Instrumentation prägt die Charaksteristik mit aus. Festliche Trompeten stehen in D, weniger in C, auch in B, was auf die Tonarten selbst einwirkt. Badis Tonarten sind ungemein scharf charakterisiert, immer wieder kehren in denselben Tonarten ähnliche Themen und Motive, ähnliche Affekte 87

und Stimmungen wieder. So ist C festlich, majestätisch, würdig, unpersönlich, G heiter, lieblich, unkompliziert, manchmal pastoralen Charakters, B brillant, sdierzohaft, D festlich, virtuos, E feierlich ernst, aber audi lieblich, graziös, f melancholisch, voll herber Passionstimmung, fis ernst, mandimal wie auch h schmerzlich, es schirierzlich, sehr ernst, b ernst, großzügig. Doch ist der Charakter auch an das Tempo, die Bewegung gebunden. Ueber vier Vorzeichen geht Bach aber nur im Wohltemperierten Klavier hinaus. Der Dichter schreibt dem Komponisten den Affekt vor. Der Komponist kann aber noch mehr darstellen als nur den Gefühlszustand eines Menschen. In diesen weiteren Fragen besonders hat die Musikästhetik der verschiedenen Epochen sehr verschieden gedacht, und manches, was andern Epochen selbstverständlich war, erscheint uns heute merkwürdig. T o n m a l e r e i hat es immer gegeben, und die französischen Aesthetiker der Zeit haben den Sinn der Musik in der Nachahmung der Natur gesehen, wobei die Nachahmung der Natur eine feinere, psychologische sein kann als die Nachahmung der Affekte, oder eine äußerlichere als die Nachahmung von Tönen und Geräuschen der Natur, die nicht so hoch geschätzt wird. Die Natur verursacht Geräusche, Donner, Gewitter, Sturm, Wasserrauschen, sie musiziert auch im Gesang der Vögel, im Säuseln des Zephirs. Alle diese Geräusche und Töne sind, wie zu allen Zeiten, so auch in der Musik des Bach-Zeitalters, musikalisch wiedergegeben worden. Bei Bach gibt es großartige Gewitter, Stürme, Wasserfluten. Daneben stehen in der Tonmalerei Licht und Dunkel, die entsprechend dem Hörereindrude wiedergegeben werden. Die Bewegungen haben einen dem Affekt des sich bewegenden Menschen entsprechenden Charakter, doch lassen sich Bewegungen auch als solche ohne Affektbindung tonmalerisch durch entsprechende Figuren wiedergeben, auf Worte wie schnell und langsam, eilen und ruhen. Ebenso wird der Raum tonsymbolisch geschildert, wobei tonliche Höhe der räumlichen entspricht, tiefe Töne die Tiefe kennzeichnen. Worte und Raumvorstellung, wie hoch und tief, Himmel und Hölle, oder Erde, hinauf und hinab, Auf88

erstehung und Himmelfahrt, »Vom Himmel hoch«, Adams Fall, der Sturz in die Hölle werden allemal durch entsprechende Tonhöhen und -tiefen oder Bewegungsfiguren symbolisiert. Solche Bewegungs- und Raumsymbolik ist seit dem 15. Jahrhundert Tradition. Man kann diese Malerei zur Schilderung einer Bewegung, z. B. eines Eilenden, einer schaukelnden Woge anwenden. Man kann aber auch das vorkommende Wort allein durch eine Figur »kolorieren«. Es lassen sich demnach folgende Arten der Tonmalerei abgrenzen: Beziehung zwisdien Affekt und musikalischen Mitteln — dem Temperament entsprechend wird der melancholicus, der sanguinicus und cholericus schnelle, langsame Bewegung, hellen, dunklen Klang bevorzugen, ebenso entsprechende Einzelrhythmen. Das Gefühl wird umgekehrt direkt angesprochen. Doch kann es sich auch nur um Schilderung handeln, so daß der Verstand eingeschaltet wird. Die Musik gebraucht dann musikalische Bilder. Sie kann aber auch unmittelbar malen wollen; dies ist die dritte Art von Tonmalerei, die äußerlichste. Das Kunstwerk selbst kann aber ganz oder mit Teilen symbolisch wirksam sein, anspielen auf geistige Dinge, Begriffe. Diese vierte Art wäre echte Symbolik. Eine weitere Art Tonmalerei, eine Art philologische, wäre die Malerei des Wortes, das ausgedeutet wird, für sich, ohne Zusammenhang. Sie ist uns die fremdeste Art der Tonmalerei. Das 16. Jahrhundert kannte noch eine Art von Malerei, die nicht mit Tönen, sondern mit dem Notenbild wirkte, wobei schwarz, Nacht, dunkel mit schwarzen Noten ausgedrückt wurden, und auch die Notenfiguren zur Malerei, zur N o t e n b i l d m a l e r e i , dienten, wie z. B. die leere halbe Note als Abbild der Sonne. Auch von dieser Notenbildmalerei finden sich bei Bach noch Reste, wenn Bach das Kreuz in Notenköpfen ausdrückt: wobei man Linien zwischen den Köpfen ziehen müßte, um das Kreuz zu s e h e n . Dann erst wäre ein echtes »Symbol« gegeben.

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Eine Sonderbarkeit, die sidi noch bei Bach findet, ist die Z a h I e nS y m b o l i k . Das Madrigal und die Motette des 16. Jahrhunderts liebten es, vorkommende Zahlenworte wie zwei, drei durch Anwendung zweier oder dreier Stimmen zu malen. Die Zahl spielt bei Bach eine große Rolle. Er pflegt häufig die Zahl der sprechenden Personen genau wiederzugeben. Nur elf Jünger fragen in der Matthäuspassion: Herr, bin ichs? denn Judas, der zwölfte, schweigt. Es ist oft bemerkt worden, daß nur zwei von den Judasgrosdien sagen: »Es tauget nicht, daß wir sie in den Gotteskasten legen«, während vorher und nachher die Juden in Chören dargestellt werden. Bach wußte als Bibelkenner, daß nur zwei Hohepriester nach Lukas 3, 2 amtierten. Merkwürdiger scheinen schon Zahlenangaben in Notenköpfen; Continuo- und Rezitativnoten bei der Stelle »gingen sie hinaus an den Oelberg« ergeben die Zahl 13, nämlich Jesus, und entsprechend den 13 Personen, 12 Jüngern! Noch fremder mutet uns Bezugnahme auf Zahlen an, wenn Bach in seinen Vorführungen des Lutherischen Chorales »Dies sind die heiligen zehn Gebote« stets die Zahl 10 erkennen läßt; zehn Einsätze bläst z. B. die Trompete dabei in K. 77. Zehnmal tritt das Thema »Wir haben ein Gesetz« im Judenchor der Johannispassion auf. Daß, wie behauptet wurde, die Summe der Continuotöne der Einsetzungsworte »Idi werde von nun an . . . « die Zahl 43, als Zahl der Tage vom Gründonnerstag bis Himmelfahrt u. a. ergeben soll, sagt uns gar nichts. Auch eine Symbolik, bei welcher die im Text vorkommende Zahl durch die Zahl der verwendeten Stimmen ausgedrückt wird, erschließt sich nicht dem Hören, etwa an der Stelle »wie ein Tod den anderen fraß«, an welcher die drei Stimmen nacheinander aufhören, sich fressen (K. 4). Dem L e s e r vermag die Erkenntnis solcher Symbolik einen mystischen Schauder zu erwecken über die Größe solcher hier zugrunde liegender Visionen. Auch die Satztechnik wird von. Bach zur Symbolisierung und zur konkreten Malerei verwendet. Das Wort »folgen« ist häufig durch eine Imitation, durch einen K a n o n symbolisiert, so in der Matthäuspassion die Stelle »Ich folge dir gleichfalls«, in der Herkuleskantate »Folge der Lockung«, in der Kantate 12 »Ich folge Christo nach«. Das mystische Einssein »Et in unum« in der

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h-moll-Messe wird durch einen Kanon im engen Abstand gemalt. Auch das Ringen »Da Tod und Leben rangen« (K. 4) wird durch einen Kanon symbolisiert. Eine weitere Möglichkeit einer symbolischen Erweiterung der Textkomposition besteht im Z i t i e r e n von Melodien. Eine Melodie, die sonst stets mit einem jedermann bekannten Text verbunden ist, kann an Stelle des Textes zitiert werden, der Text wird dann auch ohne Worte verstanden. In dieser Weise wirkt z. B. auch das Wagnersdie Leitmotiv. Dieses Verfahren ist sdion sehr alt. Wenn in einer Messe des 15. oder 16. Jahrhunderts für einen bestimmten Festtag die liturgische (gregorianische) Melodie dieses Tages verwendet wird, so ist dies eine solche Anspielung auf den Text der Festtagsmelodie, der in Worten nicht gebracht wird. Bach läßt z. B. im Kyrie der F-Messe den Choral »Christ du Lamm Gottes« oder in der Kantate 12 in der Tenorarie »Sei getreu« den Choral »Jesu meine Freude« von der Trompete, in der Kantate 170 »Wachet, betet« zum Baßrezitativ »Adi, soll nicht dieser große Tag des jüngsten Gerichts« den Choral »Es ist gewißlich an der Zeit«, in der Kantate 172 »Erschallet ihr Lieder« den Choral »Komm, heiliger Geist« von der Violine spielen, wobei noch das ostinate Motiv des Basses von der Choralmelodie abgeleitet ist. Bach hat auch zu Arien Choralmelodien gleichzeitig ertönen lassen, gesungen durch eine zweite Stimme, so in der Kantate 159 im Duett »Ich folge dir nadi« zu diesen Worten des Altes durch den Sopran die Choralzeile »Ich will hier bei dir stehen«, was wieder symbolisch gemeint ist. Aber nicht nur ganze C h o r ä l e können instrumentiert zitiert oder durch eine zweite Stimme zur Arie gebracht werden, wozu auch der Choral als Cantus firmus über einem größeren Chorsatz gehört, wie im Eingangschor der Matthäuspassion der Choral »O Lamm Gottes« im Soprano di Ripieno, sondern auch Wendungen, Melodiezeilen aus Chorälen, Anklänge können bedeutungsvoll, symbolisch gebraucht werden. In der Kantate 2 »Weinen, Klagen« singt der Baß »Ich folge Christo nach'« auf ein aufsteigendes Motiv, das dem Schlußdioral »Was Gott tut, das ist wohlgetan« entlehnt ist, eine zweite Symbolik, die zur Sym91

bolik des Kanons tritt. Violine 1, 2 und der Baß setzen mit demselben Motiv nadiahmend ein, sie »folgen« bildlich, »nach«. Daß der C h o r a l in Badis Kantaten eine sehr große Rolle spielt, ist selbstverständlich. Von den erhaltenen etwa 200 Kantaten sind nur 19, einschließlich des Osteroratoriums, ohne Choral, 63 Kantaten bringen den Choral in schlichtem vierstimmigem Satz, meist am Schluß der Kantate. Rund 120 Kantaten, zwei Drittd der erhaltenen, bringen Chorsätze aller Art; allerdings sind in den Kantaten mehr Sätze ohne Beziehung zu Chorälen. In einer Gruppe von Kantaten aus der Spätzeit, deren letzte, »Du Friedensfürst«, 1744 entstanden ist, durchzieht der Choral jeweils die ganze Kantate. Es sind 35 Kantaten, in denen Bach die schönsten und bekanntesten Choräle des 16. und 17. Jahrhunderts in ihrer Gänze der Komposition zugrunde legt. Melodie und Text der Choräle werden nur in der ersten und letzten Strople zusammengebracht, die anderen Textverse werden frei dichterisch nach Madrigalart umschrieben, paraphrasiert, aber dann häufig Textstellen aus dem Choral mit der entsprechenden Melodiezeile vertont. W o Bach den originalen Text der Kirchenlieder ganz, auch für Rezitativ und Arien beibehält, wie in neun Kartaten, da taudien innerhalb freier Kompositionen doch Anspielungen an den Choral auf. Oft ist die Beziehung zum Choral versteckt, verschleiert, geheimnisvoll, und schwer nur, für Eingeweihte gewissermaßen, zu finden. Auch diese Choralanspielungen sind voll seltsamer Mystik und Symbolik. Alle diese bisher gemachten Bemerkungen ergeben ein nur unvollkommenes Bild von der Fülle der Tonmalerei und der symbolischen Beziehungen, wie se uns in jeder Zeile Bachscher Textvertonung entgegentreten. Die t o n m a l e r i s c h e K r a f t der Badisdien Musik richtig aufgezeigt zu haben, ist das Verdienst A l b e r t S c h w e i t z e r s . Schon S p i 11 a hat die Tonmalerei Bachs gelegentlich festgestellt, ist aber doch davor zurückgeschreckt, die ganze Füle der Badischen Tonmalerei und musikalischer Bildsprache aufzudecken. Sicherlich hängt dies mit dem Kampf zwischen der malersdien, musikdramatischen Neuromantik und den konservativen Nurmusikern, zwischen Wagner, Liszt und Brahms, zusammen, in 92

deren Zeit Spitta lebte und forschte. Spitta wollte Bach nicht als Programmusiker gelten lassen, denn er stand ganz auf Seiten der absoluten Musik. Schweitzer dagegen hat in Bachs Tonmalerei ein Prinzip gesehen. Er hat häufig w i e d e r k e h r e n d e F i g u r e n , die ein bestimmtes S y m b o l darstellen, zusammengestellt: Schrittmotive mit auf- und absteigenden Bewegungen, Tumultmotive, Motive der Mattigkeit, Seligkeitsrhythmen, Motive des Erschreckens, des Schmerzes usw., Bewegungsmotive, wie das Wallen, Strömen, Schaukeln des Wassers, das Niederrinnen der Tränen u. a. Dabei erinnert Schweitzer an neuere Kompositionen, die Tonmalerei gebraucht haben, wie Schubert, Berlioz usw. Hier muß aber der Unterschied zwischen der Tonmalerei Bachs und derjenigen der Romantik und Spätromantik betont werden. Beethoven entwirft in seiner Pastorale ein liebliches Bild eines Tages auf dem Lande. Er malt ein Naturbild, mit der Freude an der Natur und ihrer eigenen gewaltigen Musik im Gewitter, ihrer lieblichen im Rauschen des Baches, das den Gesang, d. h. das Empfinden des Menschen begleitet, und im Gesang der Vögel. Wenn Bach Gewitter, Donner, Stürme schildert, so tut er das niemals als Selbstzweck, und indem er sich in die Schönheit der Landschaft versenkt. Solche Naturbewunderung ist dem Barockzeitalter überhaupt noch gänzlich fremd. Meist sind solche Naturschilderungen auch im Text nur bildhaft, metaphorisch gebraucht, z. B. in der Matthäuspassion, wo nicht das Gewitter als solches geschildert werden soll, denn die Frage lautet: »Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?« Die Blitze und Donner sind also g a r n i ch t in Tätigkeit; der Betrachter, der gläubige Christ, wünscht sie sich herbei,, wie er die Hölle ruft: »Eröffne den feurigen Abgrund, o Hölle, zertrümmere, verschlinge mit plötzlicher Wut den falschen Verräter, das mördrisdie Blut«. Die Hölle öffnet sich hier nicht wirklich. Beides, Blitze, Donner und Hölle werden tonmalerisch geschildert, obwohl sie gar nicht tätig sind oder gesehen werden, sondern nur apostrophiert: Bach illustriert das Wort, er »malt« kein Bild aus der Natur. Wo diese Wortmalerei gleichzeitig dem Sinn des Satzes, des Gedankens entspricht, werden wir uns willig dem Eindruck des Bildes hingeben. Anders 93

ist es, wenn Bach das Wort auch dann durch eine musikalische Figur oder Koloratur ausdeutet, wenn das Wort nur vorübergehend gebraucht wird, ohne dem Ganzen einen bedeutungsvollen Sinn zu verleihen. Hier zeigt sich Bach als Erbe der Worttonmalerei des 16. Jahrhunderts, wie sie vor allem im Madrigal gepflegt worden ist. Den deutschen Zeitgenossen Bachs und seinen Vorgängern von Schütz bis Knüpfer, Schelle, Buxtehude, Kuhn, Joh. Phil. Krieger, Telemann u. a. ist diese Symbolik nicht unbekannt. Telemann wendet sie weit äußerlicher als Bach an. Die italienischen Vorgänger und Zeitgenossen, Carissimi, Stradella, Marcello u. a. haben sie gepflegt, Bach aber hat sie geradezu zu einer mystischen Geheimkunst ausgebildet. Für uns ist diese Art der Tonmalerei freilich oft nichtssagend, ihre symbolische Kraft geschwunden. Hierher gehören z. B. die langen Noten, mit denen Wörter wie »Ewigkeit« (K. 76), »Ruh« (K. 170, 72), lange (K. 103), liegt (K. 109, 81, 252), Stein (K. 152) gemalt werden. Sogar die V e r w e n d u n g s c h w a r z e r N o t e n zur Wiedergabe des Wortes »Todesnacht« (K. 15) findet sich. Bachs Symbol für das Kreuz bei der Nennung des Namens Jesu, bei Wörtern wie »Kreuzige« oder noch weitergehend bei »Mittler« (K. 79), ist nicht dem Ohr, sondern nur dem Auge verständlich. Auch bei realistischeren Bewegungsabbildern, die man vielleicht noch gar nicht Symbol nennen kann, ist es zweifelhaft, ob sie beim bloßen Hören erfaßt werden können oder konnten. Diese S y m b o l i k B a c h s in ihrer Bedeutung erkannt zu haben, ist das Verdienst A r n o l d S c h e r i n g s . Schering ist dabei über Schweitzer und seine mehr romantische Deutung der Tonmalerei bei Bach hinausgekommen und hat die weitergehenden geistigen Bindungen Bachs erkannt. Allerdings gehen Schering selbst und seine Schüler vor allem in ihren Deutungen auf der Suche nach symbolischen Erklärungen gelegentlich zu weit, sie verlieren sich in Deutelei. Bachs T o n s y m b o l i k ist außerordentlich reich, mannigfaltig, in einem Ausmaß anzutreffen wie bei keinem anderen Komponisten. In der modernen Musik finden sich Bildmalereien nur sehr selten, wie in Wagners Ringmotiv oder in Pfitzners Lied »Ich und du«, in welchem die »zwei Tropfen in eins« zerrinnen, mit Symbolik 94

der Stimmzahl. Zu diesen Augenmalereien gehören die Ketten, Binden, das Wort verbinden, welche durch übergebundene Noten symbolisiert werden, nicht hör-, sondern nur sehbar: fr^tWP^W^,,

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Mehr psychologisches Bewegungsabbild, A f f e k t m a l e r e i sind die (schon vor Bach traditionellen) Koloraturen auf freuen, Freude (mit 12 mal 4 16tel K. 159), eilen, die chromatischen absteigenden Motive, häufig Quarten im Passacagliobaß, das Tremolo auf Furcht und Schrecken, die damals schon echte traditionelle Symbole waren. Da sind die Bewegungen, das »Treten«:

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die Angst, die mit Triller (K. 116), mit Chromatik ganz psychologisch-realistisch in höchster Lage des Tenors wiedergegeben wird (K. 55) 96

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Symbol des Schmerzes ist die chromatisch absteigende Quart, im Crucifixus der h-moll-Messe, vorher in »Weinen und Klagen« (K. 12) verwendet. Das irdische »Jammertal« wird mit jammernder Chromatik (K. 91) wiedergegeben: Str.

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die Schmerzen mit ausdrucksvoller Figur gemalt, wie in realistischgrausigen Barodcplastiken (K. 103).

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Das Lachen wird auf vielfältige Art, psychologisch abgestuft, gebracht, bis zum grellen Lachen des Chors, auch mit Triller (K. 170), das Seufzen durch realistische Unterbrechungen, die beim »suspirium«, Name der Viertelpause, auf »sospiro« u. ähnl. schon im Madrigal üblich (K. 135) waren. Erdbeben und Donner werden mit repetierten Sechszehnteln, Tremolo (— Beben), wiedergegeben, stürzende Berge mit Passagen im Baß (K. 147) oder Sethszehnteln in Rezitativ (K. 147), so auch bei der Stelle »erzittern selbst die Höllenpforten«. Die Musikinstrumente haben ihre Symbolik durch die Verwendung im Leben erhalten, Pauken und Trompeten, die fürstlichen Instrumente, dürfen bei feierlichen Anlässen im festlichen Apparat nicht fehlen, bei Ratswahlkantaten, bei Neujahrsfesten (3 Corni d acaccia K. 143), aber symbolisch auch zur Schilderung himmlischer Majestät. Bei Kampfszenen,der grandiosen Michaelskantate (K. 19), sind die kriegerischen Instrumente am Platz. Eine Trompete vertritt die Posaune des Jüngsten Gerichts (K. 46). Glocken ertönen oft bei Bach als Sterbeglocken (K. 95. 161) durch pizzicato, das hohe Sterbeglöckchen gesellt sich zum vollen Glockenchor durch die wimmernd repetierten Noten der Flöte (K. 8). Die Musik selbst wird nach Aufforderungen wie »laßt musicam hören« (K. 137), oder »Erschallet ihr Lieder« (K. 172), aber auch als festliches Lob (K. 137) »Lobe den Herrn« oder bedeutungsvoll in der Motette »Singet dem Herrn ein neues Lied«, instrumental und gesanglich besonders prunkvoll symbolisiert. Zu den oben erwähnten häufigen B e w e g u n g s a b b i l d e r n gehören die Wasser-, Flut-, Wellenschilderungen, die nicht nur in den vielen Wellen, wie in der Kreuzstabkantate (56), wo im Rezi98

tativ die Wellen aufhören, wenn der Christ das Land betritt, sondern audi zur Zeidinung im kleinen (K. 135)

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Die Natur selbst ist eine gewaltige Musikerin, wenn sie die Lüfte bewegt, im zarten Säuseln oder im volltönenden Sturm. Bei Badi kehrt auch diese Naturmusik in allen Graden wieder, am vielfältigsten in der Aeoluskantate. Merkwürdigerweise fehlen in Badis Naturmusik ganz die gefiederten Sänger, die z. B. bei Händel so vielfältig musizieren. Zu den Mitteln der Charakterisierung gehört nicht nur die Motivspradie, sondern vor allem auch die H a r m o n i k . Badi ist ein überaus interessanter Harmoniker. Die Harmonie steht bei ihm ganz im Dienste des Ausdrucks und der Symbolik. Die Harmonik Bachs ist nicht nur in der einzelnen Wendung, vor allem in den Chorälen und in den Rezitativen, sondern auch im Verlauf ganzer Sätze von schärfster Charakteristik; Bach geht im Ausdruck des Schmerzes mit harmonischen Härten und Rei7*

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bungen sehr weit, z. B. in der Trauerode. Der Dominantseptakkord über dem Tonikabaß in der K. 54 »Widerstehe doch der Sünde« diente einst in der Urfassung der Markuspassion der Charakteristik der »falschen Welt«. Kühne Schmerzensharmonien bringt z. B. auch der Crucifixus-Passacaglio der h-Messe. Die Tonmalerei und die Symbolik — beides nicht dasselbe, denn unter Tonmalerei verstehen wir mehr die Naturgeräusdie und Bewegungen unmittelbar nachahmende Kunst, unter Symbolik T o n oder Notcnabbilder abstrakter Begriffe — haben für uns nur Wert, wo sie den Affekt, die Stimmung, das Seelische ausdrücken helfen. Es kann nicht geleugnet werden, daß Bach auch weit weniger realistischer als wir und mehr im Geiste mittelalterlicher Wortbewertung das W o r t musikalisch ausmalt, daß Bach z. B. auch dort musikalisdie Bilder entwirft, wo das W o r t mit einer N e g a t i o n verbunden ist oder nur als sprachliches Bild ohne Bedeutung im Sinne des Satzes gebraucht wird. Bach geht sogar so weit, ein mit der Verneinungssilbe »un-«verbundenes W o r t zu illustrieren, wie »unerschrocken«, wobei auf »-erschrocken« die auch sonst bei ihm gebräuchliche Wendung des Erschreckens (K. 102) verwendet wird (K. 107), wobei hier allerdings die Aufwärtsbewegung auch nodi den Mut symbolisiert.

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W e n n Bach das W o r t »bekehren« mit einer »kehrenden« Wendung malt (K. 102), so zeigt er sich in dieser Wortmalerei als geschulter 100

Philologe, der das compositum auf dife Bedeutung des verbum Simplex zurückführt. (Allerdings tritt an dieser Stelle eine zweite Symbolik hinzu, das Ansteigen aus Unsicherheit zur Gewißheit!) Dieses Verfahren der Wortmalerei hat für uns keinen künstlerischen Wert. Die Bewunderung der Geschicklichkeit, mit der Bach solche Worte untermalt, ist eine rein äußerliche, historische, technische. Eine andere Frage ist, wie oft Bach das Wort untermalt, und wie oft er es nicht untermalt. Wohl häufiger als Bach das Wort untermalt, unterläßt er solche musikalische Wortillustration. Worter, die sonst meist illustriert werden, bleiben auch wieder unbeachtet. Ebenso kehren dieselben Figuren, die ein Wort malen sollen, auf das zu diesem Wort passende Reimwort wieder, wo sie symbolisch nichts bedeuten, wegen der Symmetrie des musikalischen Satzes, z. B. kehrt auf »siegt« der lange Halteton wieder, der symbolisch das Reimwort »liegt« ausdeutet (K. 109). Beide Beobachtungen zeigen die Grenze dieser durch das Wort bedingten Erfindung. Die kurzen, kleinen Worttonmalereien sind zwar für Bach charakteristisch, sind aber für den Gehalt seiner Musik nicht bestimmend. Wichtig für das Studium des Verfahrens bei Bach ist hier insbesondere die Tatsache, daß Bach oft unter malende Figuren im Parodie verfahren mit dem neuen Text Wörter unterlegt, für welche nun die Figur sinnlos geworden ist. Bach hat viele eigene oder weltliche Werke geistlich umtextiert, so im Weihnaditsoratorium, in der h-Messe. Freilich hat Bach hier oft mit geringfügigen Aenderungen die Stelle dem neuen Text angepaßt*). Aber das Verfahren der Parodie zeigt doch die Grenzen symbolischer Textauslegung und absoluter musikalischer Erfindung. Im Gegensatz zur Wortmalerei, zur Ausdeutung eines einzelnen Wortes durch eine musikalische Wendung, die für uns mehr eine historische Kuriosität als künstlerisch eindrucksvoll ist, steht die Tonmalerei, die in Anlehnung an ein situationsschilderndes Wort den S t i m m u n g s g e h a l t erfaßt. Bach ist in dieser uns weit natürlicher und künstlerischer dünkenden Art Meister. In der Wiedergabe des psychischen Zustandes und nicht in der Worttonmalerei liegt die Größe der Bachschen Musik. 101

Auch die Behandlung der Form durch Bach ist in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll. Es ist ein Verkennen der Bachschen Stilistik, wenn das Dacapo im Eingangschor der Michaelskantate (19) als ein Widerspruch zur Schilderung des Kampfes und des endgültigen Sieges des Himmels empfunden wird, da das Dacapo von neuem das Kampfgetobe wiederkehren lasse. Bachs Tonmalerei stand solch romantischer Realistik fern, die Form ist bei ihm nicht durch die Malerei gesprengt. Daß auch Formen, Satztypen, Tänze symbolische Bedeutung haben können, z. B. in der Kantate »Höchst erwünschtes Freudenfest«, oder die Gigue in K. 94 zur Schilderung der »Lust und Freude«, des Blendwerkes der Eitelkeit der Welt, verwendet wird, sei angemerkt. Selbst die Großform dient der Symbolik, z. B. in der symmetrischen Anordnung der Sätze, in den Passionen, der h-Messe. Bei der Besprechung der Werke wird noch vielfach auf diesen R e i c h t u m B a c h s c h e r F o r m e n zurückzukommen sein. In den Kantaten findet er sich gleichermaßen. Die Arienform, vor allem die dreiteilige Dacapoarienform, wird konzertmäßig erweitert. Bachs Musik ist nicht auf eine klare Trennung der Teile, eine Betonung der Schnittflächen hin angelegt, sondern Bach sucht im Gegenteil die Teile durch motivisch-kontrapunktische Arbeit organisch zu verbinden, und dabei verschleiert er häufig die Abgrenzungen, z. B. das Dacapo oder die Reprise bei der Sonatenform. Die großen Teile und Abschnitte großer Werke werden nicht folgenhaft bloß nacheinander gesetzt, sondern in innere Beziehung gebracht, um auch hier den geistigen Inhalt zu kennzeichnen, wie z. B. die Form der Passionen ergibt. Im einzelnen kommt Bach zu ganz eigenartigen Formungen, die besonders auch das Rezitativ erfassen. Charakteristisch für Bach ist der häufige Uebergang vom Rezitativ ins Arioso. Bachs Rezitativ ist von geradezu schlagender Plastik. Mehrfach wird noch die Rede davon sein. Begleitete Rezitative sind besonders in späteren Kantaten häufig. In der freiesten Weise werden in den Choralkantaten der späteren Zeit die Rezitative gestaltet. Rezitativ und Choral werden eigentümlich zeilenweise abgewechselt, etwa im ersten Rezitativ des Basses K. 91 »Gelobet seist du«, Rezitativ 102

und Arioso werden abgewechselt in Form eines Konzertsatzes in K. 94 »Was frag idi nach der Welt«, wo fünf Ariosoteile in G, D (D), h (F), D (D), G, begleitet von 2 Oboen, vier Rezitativteile umfassen. Es kommen zweistimmige unbegleitete Rezitative vor (K. 62), solche, in die andere Stimmen einfallen, z. B. in K. 60 »O Ewigkeit«, wo die »Furcht« dreimal durch die Stimme des Heiligen Geistes unterbrochen wird, solche, zu denen drei Soli hinzukommen, in K. 41, zur Textstelle »Den Satan unter unsere Füße treten«. Besonders feierlich sind Chöre, die durch Rezitative aller vier Stimmen unterbrochen werden, in K. 92 »Ich hab in Gottes Herz«, oder auch das wundervolle Rezitativ mit Chor vor dem Schlußchor der Matthäuspassion »Nun ist der Herr zur Ruh' gebracht«. Der K o n z e r t s t i l durchdringt bei Bach alle Formen, sogar das Rezitativ, wie wir sahen. Die Arien haben fast immer ein oder zwei konzertierende Instrumente, die mit der Solostimme über dem Basso continuo »streiten, wer es unter ihnen zum besten machen könne«, wie der alte Prätorius 1619 das Konzertprinzip erklärt. Bei Bach ist nicht nur die Motivik, sondern auch das Instrument aus tonpoetischen Gründen gewählt. Konzerte, auch häufig »Concerti« betitelt, sind die großen Einleitungschöre, in denen Chor und Orchester, Chor und Soli, Chor und Choral zusammenwirken, dieser oft durch ein Instrument, Horn (K. 94) oder Trompete (K. 147) verstärkt. Sicherlich ist innerhalb der Chöre selbst das Konzertprinzip in der Praxis durch den nicht eigens notierten Wechsel von Groß- und Kleinchor, Soli- und Ripiensänger zur Anwendung gekommen. Die häufigste der Großformen ist die konzertmäßige Vierteiligkeit mit den Tonalitätsstufen T , D, P, T von fünf quasi-Tutti umfaßt, die Form, in der auch Arie und Sonate abgewandelt werden. Ostinatoformen finden sich, eine »Ciaconna« in K. 150 »Nach dir, Herr, verlanget mich« als Schlußchor, während hier schon der Einleitungschor mit seinem affektbedingten Wechsel von Teilen, dem chromatischen »Nach dir, Herr, verlanget mich« und dem freudigen »Ich hoffe«, durch genaue Tempo Vorschriften bezeichnet, 103

höchst interessant ist. Eine Ciaconna ist der spätere Kruzifixussatz der h-Messe in K. 12. Das B a d i s d i e O r c h e s t e r ist von großer Wandlungsfähigkeit. Bei festlichen Kantaten, wie den Ratswahl- und Neujahrskantaten ist die Besetzung reicher. Als Einleitungssätze werden öfters Konzertsätze verwendet, so ein Violinkonzert in K. 116, ein Oboekonzert in K. 21. Echte, volle Instrumentalkonzerte stehen in den Kantaten. Den Eingangssatz des dritten Brandenburgischen Konzerts bringt Bach, durch Bläser bereichert, in Kantate 174, den Anfangssatz des ersten Konzertes, als Sinfonie in Kantate 52. Zur Weihnachtskantate 110 benutzte Bach die Ouvertürensuite D-dur. in deren Eingangssatz er den Chor hineinstellt. Audi Solokonzertsätze hat Bach in Kantaten verwendet, das Konzert in d-moll in K. 188, die beiden ersten Sätze des Violinkonzertes in E-dur in K. 169, den letzten in K. 49. Ein Klavierkonzert liegt vor in den Einleitungssätzen zu den Teilen der Kantate 35. In den Kantaten finden sidi selbständige Vorspiele von wundervollstem Stimmungsgehalt, so in K. 42 »Am Abend desselbigen Sabbaths« oder in K. 152 »Tritt auf die Glaubensbahn«. Acht Kantaten rechnen mit obligater Orgel, darunter die genannten Werke mit den Konzertsätzen 188 und 35. Echt konzertant sind auch die Arien mit Chor, wie sie so zahlreich in der Matthäuspassion stehen. Auch eine Arie mit Terzett ist zu nennen (K. 67). Den Gipfel des Konzertierens stellt die mehrchörige Anlage dar, die Bach in der Matthäuspassion und in den Motetten anwendet, eine Formung, in denen Bach Erbe der von seinen Vorfahren gepflegten venezianischen Tradition ist. Zum Streichquintett mit B. c. und Oboen, den oft mit diesen abwechselnden Flöten, die aber bei feierlichen Gelegenheiten durchgehends mitwirken, gesellt sich das Fagott hinzu. Wie in der Barockmusik überhaupt, so müssen wir es besonders bei Bach nach Ausweis der Stimmen dem Baß verstärkend beifügen, auch wenn es in der Partitur fehlt. In den Festkantaten, besonders zu Ratswahlen oder zum Neujahrstag, treten noch Pauken und Trompeten, oder »Corni da caccia« hinzu als Herolde der irdischen oder symbolisch auch der himmlischen Majestät. Der B a s s o c o n t i n u o konnte in Kantaten und Pas104

sionen nur mit der Orgel, in der Matthäuspassion mit zwei Orgeln ausgeführt werden, da in der Thomas- und Nikolaikirdie die Cembali altersschwach waren und lediglich zur Tonstütze beim Motettengesang dienten, und nur in der Paulinerkirche das Cembalo zur Kantatenbegleitung herangezogen wurde. Innerhalb dieses Orchesters gruppiert Bach die Instrumente abwechslungsreich. Die Wahl der Instrumente entspricht bei Bach selbstredend immer tonpoetischen Absichten. Motivik, Figuration und Klang gehen dabei zusammen. Die Majestät Gottes wird in der Arie »Der Herr ist König«, der Neujahrskantate 143 mit kriegerischen Fanfaren dreier Corni da caccia geschildert, die Schafe in der Choralphantasie »Jesus, Retter deiner Herde« daselbst durch ein ängstlich blökendes Fagottsolo, das außerdem im Kanon dem Hirten, dem Generalbaß, eng angeschmiegt folgt. In K. 96 hat das Orchester der einleitenden Choralphantasie als Solo einen Flauto piccolo: das Wort »Morgenstern« weckt die Klangvisionen der Hirtenflöten; Hirten suchen den Stern, den sie sehen. Die S o l o i n s t r u m e n t e als Begleitinstrumente der Arien sind ganz durch ihre s y m b o l i s c h e K l a n g f a r b e bestimmt, Gamben gehen im actus tragicus und der Trauerode, hier mit Lauten gemischt, wie in der Johannispassion im Arioso »Betrachte meine Seele« als Begleitung von zwei mystischen Violes d'amour. Oboen, Oboi da caccia, oboi d'amore mit ihrem seltsamen weich näselnden Klang werden ebenfalls, in den Arien stets tonpoetisch, affektgemäß verwendet. Wunderbare K l a n g m i s c h u n g e n entstehen, wenn Oboe, Viola d'amore, Gambe, Flöte miteinander konzertieren im Konzert der K. 152. Eine Oboe d'amore pizzicato begleitet, schildert den treuen Hirten in der Arie »Meinem Hirten bleibe ich treu« (K. 92). Die Streicher werden ebenso charakteristisch verwandt, auch mit Dämpfer und pizzicato, in langgehaltenen Akkorden und geigerischen Figuren, als Soloinstrument ist die Besetzung reicher affektgemäß,,schluchzend die Violine in der Arie »Erbarme dich« der Matthäuspassion. Die Gambenfiguration in der Arie dieser Passion »Komm süßes Kreuz« mag in ihren Zadcenrhythmen den Weg des Kreuzes schildern. Die Arie war andererseits vielleicht auch in der Absicht komponiert, dem 105

Virtuosen, dem Gambisten Abel, Gelegenheit zu geben, seinem verstorbenen Fürsten Leopold von Kothen in der Trauermusik, denn in dieser stand die Arie zunächst, zum Abschied noch einmal mit einer besonderen Leistung zu huldigen. Die Violinen als Baß verwendet Bach im Duett mit Chor in der Matthäuspassion, das »Herzstück« dort, »Aus Liebe will mein Heiland sterben«, hat nur drei Bläser, eine zärtlich rankende Flöte und zwei begleitende Oboi da caccia, keine Streicher, keinen B. c., ein Terzett von mystischschmerzlichem, visionärem Klang. So ist Bachs Orchester — nach heutigen Begriffen selbst in seiner Festbesetzung eigentliche K a m m e r m u s i k — von einem Klangreichtum, einer differenzierten Schilderungkunst ohnegleichen.

1. G E I S T L I C H E K A N T A T E N D a s K a n t a t e n s c h a f f e n Bachs umfaßt mehrere unterschiedliche Perioden. Eine Chronologie aller Kantaten läßt sich allerdings nicht geben. Die erste Gruppe enthält die Kantaten der A r n s t ä d t e r , M ü h l h a u s e n e r und ersten W e i m a r e r Zeit. In Arnstadt dürften nur zwei Kantaten entstanden sein, die Osterkantate »Denn du wirst meine Seele nicht aus der Hölle lassen« (15) und »Aus der Tiefe rufe ich, Herr zu dir« (131). In Mühlhausen schrieb Bach dann die Ratswechsel-Kantate 71 und den actus tragicus »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« (106). Die bis 1712 geschaffenen Kantaten, die Bach übrigens »Concerto« oder »Motetto« nennt, während nur die für häusliche Erbauung bestimmten Werke als Kantaten bezeichnet werden, gehören dem Typus der älteren, von Mittel- und besonders Norddeutschen gepflegten Kantate an, deren Text aus Bibelwort und Choral besteht und deren Musik nodi nicht die modischen neapolitanischen Opernformen Rezitativ und (Dacapo-) Arie auf106

weist. Gegenüber den Kantaten der mittleren und reifen Zeit ist der Stil noch etwas schwerflüssig, wenn audi kontrapunktisch sicher. Die Aneinanderreihung kurzer Abschnitte wirkt altertümlich. Sehen wir uns die Osterkantate von 1704 (K. 15) an: Sie besteht aus zwei Teilen von fünf und sechs Abschnitten. Der 1. Baß-Arie geht eine Sinfonia von wenigen Takten voraus, die vor Nr. 9 wieder aufgegriffen wird. Das zweite Stüde für Sopran (»Rezitativ«) ist zweiteilig, sein zweiter Teil mehr rezitativisch. Die Wortmalerei ist reich, auf »lebet« steht eine lange Koloratur, »Ewigkeit« wird mit Halbtönen und Melisma, »Auferstehen« mit einer Akkordfigur, »Grab« mit einem tiefen Ton symbolisiert. Die Mystik der Einswerdung mit Jesus ist durch sonderbare (besonders für ihre Zeit ungewohnte) Modulation aus der Grundtonart C über fis nach e geschildert. Nr. 3 ist ein Duett in Dacapoform. Die »schwarze Todesnacht« wird hier in Notenbildmalerei mit gehäuften schwarzen Noten augenfällig gemacht. Nr. 3 und 4 sind kurze DacapoArien für Tenor und für Sopran in prägnanten, der älteren Kantate eigenem 6/4 Taktmotiv, in denen »auferstanden« mit auf-, »der Satan erliegt« mit absteigender Dreiklangfigur wiedergegeben werden. Der zweite Teil beginnt mit einem dreiteiligen Stüde, indem Alt, Baß und Alt, Baß von Duettstellen mit Tenor gefolgt werden. Die Wortmalerei ist stark ausgeprägt: »Rasen«, »reißender« Schlund, »würge«, »eilt« werden durch Bewegungsfiguren symbolisiert. Es folgt ein Duett in Dacapo-Form, das in beiden Stimmen die gegensätzlichen Affekte abwechselnd in doppeltem Kontrapunkt vertauscht, wobei die Seufzerfigur in dem typischen Quartabstieg verläuft.

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Im Mittelteil wird das Lachen nochmals anders gemalt. Es folgt die wiederholte Anfangssymphonia, weiter ein Rezitativ des Tenores und Basses, dann ein Quartett über sehr schlichtes und zum älteren Stil gehöriges thematisches Material. Es folgt weiter ein Choral mit taktweisen Zwischenspielen des Trompetenchores und 6 Takten Nachsatz im Chor, welcher das Wort »Freuden« illustriert. Das Werk des Neunzehnjährigen ist noch etwas unpersönlich in der thematischen Erfindung, zeigt dagegen schon den bis Bach stets zu treffenden Gesamtplan des Aufbaues, mit tonartlicher, klanglicher und bewegungsmäßiger Gliederung: Tonart: T

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108

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G C

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1. (Sonate) Adag. All (Arioso) Baß 2. Rezit. Sopran 3. Duett Sopran, Alt (Andante) . . 4. Aria Tenor Allegro 5. Aria Sopran All. ma non presto 6. (Arioso) Alt Duett Alt, Tenor . Baß Duett Alt, Tenor . Baß Duett Alt, Tenor . 7. Duett Sopran, Alt (Andante) 8. = 1. Sonata. Ad. All 9. Rezit. Tenor, Baß 10. Chor (All.) 11. Choral Adagio

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n

Ein sehr viel reiferes, ausgewogeneres Werk folgte schon bald, der «actus tragicus«, Kantate 106, »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit«, das folgende Form entwickelte: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Molto Adagio (Adagio) Lento Vivace Andante (Andante)

Es Sinfonia Vi Vi All. 3/B Ad. Vi Es Chor Vi c Tenor Vi c-f Baß V« f Chor (Choral instr.) Alt Vi b

Aber auch der thematische Inhalt ist ein weit reicherer, reiferer. Der seelische und der Stimmungsgehalt des aus Bibelstellen mit Angabe der Fundorte zusammengestellten Textes wird erschöpfend, ergreifend wiedergegeben. Eine zarte, sanfte Stimmung, gepart mit innerlichem, gläubigem Ernst, liegt über dem Werk. Die Instrumentation, mit zwei Flöten und zwei Gamben über der Orgel, gibt einen stillen, feinen, mystisch-tröstlichen Klang. Seit etwa 1712 wendet sich Bach der neuen Kantatenform zu, die formal mit ihrer Abwechslung von Rezitativ und Arie eine gewisse Verarmung und Typisierung bedeutet. Das Bibelwort war großartiger, herber, ernster als die Dichtungen Erdmann Neumeisters und Salomon Francks. Trotzdem darf die Anregung durch die madrigalische Dichtung dieser beiden nicht unterschätzt werden. Bach hat übrigens Frandcsche Texte gelegentlich verbessert (K 152). Die Chöre treten in der P e r i o d e v o n 17 12 b i s 17 1 7 zurück, die Dacapo-Arie gewinnt an Bedeutung. Auf einen Text Neumeisters ist die Kantate »Nun komm', der Heiden Heiland« (61) komponiert; Bach verwendet hier die melodische weltliche Form der französischen Ouvertüre mit feierlichem Grave, in dem die Stimmen nacheinander bitten: »Nun komm', der Heiden Heiland«, während das folgende Allegro, mit »Gai« überschrieben, die Worte »Des wundert sich alle Welt« und das wiederholte Grave »Gott solch Geburt ihm bestellt« vertont. Bach versucht also eine psychologisch begründete Anwendung der Ouvertürenform. Zu dem Dutzend Kantaten mit Frandcschen Texten gehört die wundervolle Kantate 161 »Komm, süße Todesstunde«. Sie wird 109

eingeleitet von einer Alt-Arie, begleitet von zwei zarten Flöten. Das Thema des Ritornells und der Singstimme, wie das der Tenorarie

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ist aus dem Choral »Herrlidi tut midi verlangen« gebildet, der nadi 12 Takten von der Orgel vorgetragen wird. Die Besetzung dieser Kantaten wediselt stark. Bach hat nur ganz wenige Solokantaten auch ohne Sdilußdioral geschrieben, zwei oder drei (denn bei der Kantate 132 ist der Sdilußdioral wohl verloren). In einer von diesen, der Kantate 132 für vier Solostimmen, weldie die Tonartfolge A-dur, E-dur, h-moll bringt, ist deutlich der Affekt der Texte zu erkennen: »Bereite die Wege Christus«, die eindringliche Gewissensforschung » W e r bist du?« und die Leiden Christi »Christi Glieder bedenket«, wobei überall viel Tonmalerisches zu finden ist und im Baßrezitativ das »Wälzen« des Steines, in der Arie die »Netze« Satans gemalt werden. Reiches, festliches Orchester fordert Badi zur Osterkantate 31 »Der Himmel lacht«: drei Trompeten und Pauken, drei Oboen außer den Streichern. Mit diesem Orchester entfaltet Bach in Einleitung und Chor eine gigantische Jubelmusik. Die Konzertform dringt nicht nur in die Arien ein (Baßarie, 185), sondern auch die französische Ouvertüre dient als Vorspiel in der einzigartigen Kantate 152. (Das Thema der Ouvertüre kehrt in einer Orgelfuge wieder.) Dieses Werk ist auf das zarteste instrumentiert, die Sopranarie mit Flöte und Viola d'amore. Eine Gigue beschließt diese Ouvertürenkantate, welche etwas allzu modisch ein zärtliches Duett zwischen der Seele und Jesus anstimmt. Durch seine dienstliche Tätigkeit war Bach in den Jahren bis 1717 zu reicherem Kantatenschaffen angeregt. In den Köthener Jahren 1717—1723 tritt die Kantate zurück. Gegenüber den 20 Weimarer 110

Kantaten sind in Kothen mindestens neun Werke, darunter drei geistliche, entstanden.*) Von diesen ist die Kantate 47 »Wer sidi selbst erhöht« nach Spitta für Hamburg 1720 komponiert. Sie ist aber so gewaltig und reif in der Gestaltung, daß sie vielleidit in einer späteren Zeit entstanden ist. Schon der Einleitungschor ist eine großartige Verschmelzung von Konzert, Sonate oder dreiteiliger Dacapo-Form und Fuge. Eine Instrumentaleinleitung bringt das erste Hauptthema, der Chor setzt mit dem zweiten, wieder so tonmalerischen Anfang

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ein, bei weldiem das erste Thema vom Orchester als Gegenthema gebracht wird, während im Schlußteil, dem Dacapo des ersten, dieses erste Thema auch vom Chor übernommen wird. Zwei praditvolle Arien, die erste für Sopran, von der konzertierenden Orgel begleitet, mit Rezitativ und Sdilußdioral, folgen. Die Mehrzahl seiner Kantaten hat Bach als Thomaskantor in L e i p z i g geschaffen, und zwar von den erhaltenen rund 200 Kantaten etwa 175. Komponiert hat Bach angeblich gegen 300. In *) Vgl. Anhang.

111

27 Jahren macht das jährlich etwas über 10. Doch hat Bach von 1734—1745 gegen 70, seit 1745 aber keine Kantaten mehr komponiert. Nach 1730 nehmen die Choralkantaten zu, deren Bach 57 von insgesamt 61 nach 1730 vertont hat. An 100 Kantaten mögen im ersten Jahrzehnt des Leipziger Kantorates entstanden sein. Der Reichtum der Formen, Gestalten und Stimmungsinhalte der Kantaten der ersten Leipziger Zeit ist außerordentlich. Neben der ausgedehnten Dacapo-Arie verwendet Bach die Konzertform, so in der Baßarie der Kantate 13 »Meine Seufzer, meine Tränen«, deren Thema durch Chromatik plastisch ausgedrückt ist

Adi « zen und er - bärm - lidi wei - nen Auch ganze Kantaten werden in Konzertform gestaltet, wie Kantate 83 für drei Soli »Erfreute Zeit«, in welcher die konzertmäßigen Abwechslungen dynamisch sorgfältig bezeichnet sind, während sonst meist Vortragszeichen fehlen. Ebenso wird die Ouvertürenform frei und reich angewendet. Eine vollständige Suite als Kantate liegt in der Kantate zur Orgelweihe in Störmthal bei Leipzig am 2. November 1723 »Hödist erwünschtes Freudenfest« vor, später für Trinitatis bestimmt. Sie beginnt mit einer französischen Ouvertüre, deren fugiertes Allegro der Chor ausfüllt. Die erste Arie ist rondoartig, die zweite eine Gavotte, die dritte giguenartig, das Duett ein Menuett. In der pompös mit Trompeten besetzten Ratswahlkantate von 1723 »Preise Jerusalem«, wird das einleitende und abschließende Grave dem Instrumentchor, das Allegro dem Vokalchor anvertraut. Die Verwendung der prunkhaften O u v e r t ü r e n f o r m ist durch die feierliche Gelegenheit psychologisch gerechtfertigt. In Kantate 20 ist die Ouvertürenform mit dem Choral »O Ewigkeit, du Donnerwort« verbunden. In kammermusikalischer Besetzung ist diese Form verwendet in der Sinfonia zum 2. Teil der Kantate 76, wie in der K. 53. Der Choral erhält eine erhöhte Bedeutung. In Kantate 23 »Du wahrer Gott und Davidssohn«, einem der beiden Leip112

ziger Probestücke, erscheint der Choral »Christe, du Lamm Gottes« erst im Rezitativ, danach in kunstvoller Choralphantasie. Die Leipziger Kantaten sind häufig zweiteilig angelegt. Zu den fesselndsten Kantaten gehört die Kantate 46 »Schauet und sehet«. Den Chorsatz zum Eingang dieses Werkes hat Bach 10 Jahre später in der h-moll-Messe wiederum verwendet, nach h-moll transponiert. Ergreifend ist dieser Klagegesang, der durch die Instrumentation, 2 Flöten, Trompete und 2 Oboen da caccia, in der kontrapunktischen Begleitung noch wirksamer wird. Beim Einsatz der Fuge ist der Ausdruck des Schmerzes überwältigend. Das Wort »Jammer« durch verminderte Intervallsprünge und dissonante Vorhalte charakterisiert, erhält in dem den »Zorn« Gottes darstellenden Motiv ein Gegenthema. Mit unerhörter Gewalt wird >>der Tag des grimmigen Zornes« geschildert. Die Baßarie malt das Gewitter des Zornes in zuckenden Rhythmen der ,Streicher Und Tremolo und schreckenerregenden hohen Trompetentönen. Zu den ergreifendsten Kantaten gehört K. 161 »Komm süße Todesstunde« auf eine Dichtung Frandcs. In der mit süßester Todesmystik erfüllten ersten Altarie mit Begleitung von zwei zarten Flöten läßt die obligate Orgel den Sterbechoral »Herzlich tut midi verlangen« erklingen*"), der auch in der nächsten Tenorarie verschleiert angespielt wird. Ausdrucksvoll, in barocker Gestik deklamiert ist das vorhergehende Rezitativ, wie das folgende Altrezitativ, an dessen Schluß das Sterbeglöckchen ertönt. Der innige Wunsch, heute noch die Unsterblichkeit und Himmelsfreuden zu genießen, erfüllt den folgenden Satz im schwebend bewegten '/e-Takt in C-dur, wobei zwei duftige Flöten, die entschwebenden Lebensgeister symbolisierend, Soli und Streicher umspielen. Der Choral, in der vierten Strophe von den Flöten wundersam umwoben im Anschluß an den vorhergehenden tonpoetischen Gedanken, läßt die Kantate mit der Frage nach dem Letzten ausklingen. In der Kantate 65 (1724) »Sie werden alle aus Saba kommen« wird ein großartiges Gemälde der auf dem Marsch befindlichen Völkerscharen entworfen. Aehnlidi grandios ist die Michaelskantate (Nr. 19, 1726), in welcher der Chor sofort an * Siehe Seite 110 und die Beispiele dort. Engel, Joh. Seb. Bach e

113

der Schilderung des Aufruhres teilnimmt, dem in der letzten Arie des Tenors mit liditem schwebendem Giguenrhythmus der Gesang der Engel im Himmel entgegenklingt. Die Ratswahlkantaten entfalten wieder musikalischen Prunk, unter ihnen die mächtige Choralkantate »Lobe den Herrn« 137, oder die wahrscheinlich zur Jubelfeier der Reformation 1730 aufgeführte Kantate »Ein" feste Burg« 80, zu der Badi Teile einer älteren Weimarer Kantate verwendet hat. Der erste Chor gehört zu den am meisten hinreißenden und überwältigenden, großen kontrapunktischen Sätzen, die Bach geschaffen hat. Zu den mächtigsten Chören gehört auch der Chor »Nun ist das Heil«, dem instrumentales Vor- und Nachspiel fehlt. Von dieser Kantate (50) ist nur dieser eine Chor erhalten. Die Chorfugen der genannten Kantaten sind in großartiger Architektonik im Grund höchst einfach aufgebaut, nämlich als »Permutationsfugen«, bei denen die einander folgenden Teile in den Stimmen wiederkehren, z. B. in dem 1. Chor der Kantate, nach konzertierendem Einleitungssatz (Bd. 19, S. 25) in der 1. Durchführung: Orchcstcr

Chor

Flöte Violine Viola I Viola II Violoncello S A T B

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Später kommt Bach zu einer großzügigen Kombination von Teilen der Sätze, so in der herrlichen Kantate 104 »Der Hirte Israels höre«, deren Eröffnungschor sich zusammensetzt aus: Sinfonia — Chor 1 — Fuge 1 — Chor 2 — Fuge 2 — Chor 3 1

114

25

55

72

88

104

Dabei sind aus der Sinfonia Abschnitte ständig wiederholt Gleiche Perioden stehen untereinander, ungleiche in Klammern. Zahlen sind die Takte. Tonart Sinfonia: 1—7, 8, 9, 10, 11—16, 17, 18, 19—22, 23, 24, 1. Chor (25—28) 29—35 (36—38) 39—44 45—51 D 1. Fuge (52—64) 2. Chor (69—75) 76—82 83—87) T 2. Fuge (88—100) 101—104 D 2. Chor (105) 106 113 (114—120) T

Schon in den ersten Leipziger Jahren schrieb Bach eine gewaltige Choralkantate »Christ lag in Todesbanden« (Nr. 4), wohl 1724, nach Schering früher komponiert. Bach hat sich hier durch eine Kantate Kuhnaus über den gleichen Choral von 1693 anregen lassen. Alle sieben Verse des Kirchenliedes werden vertont, der erste als Choralphantasie, in welcher zur Melodie im übrigen Stimmen kontrapunktisch aus Motiven des Chorals gebildet werden. Schon in der Sinfonie tritt der Halbtonschritt h-ais, der in der zweiten Strophe die Worte: der T o d untermalt, bedeutungsvoll, devisenartig hervor. Das »Kreuz«, das »Zeichen an der Tür«, der »Tod«, dieser durch das tiefe Eis, der »Würger« werden symbolisiert. Vers 6 ist als Quintkanon zweier Stimmen, Vers 7 als schlichter Schlußchoral vertont. Tiefstes Erleben spiegelt dieses Werk, das klarste Formgebung auszeichnet, wider, auch in seiner Satzfolge. Zu den ganz reifen Choralkantaten der Spätzeit gehört die Kantate 92 »Ich hab in Gottes Herz und Sinn«. Sie ist auf das von Paul Gerhardt stammende Kirchenlied komponiert, das indessen von einem unbekannten Dichter paraphrasiert, d. h. erweitert worden war. Schon die das Werk eröffnende Choralphantasie ist von höchster Meisterschaft. Aus dem Anfangsmotiv der zweiten Zeile wird das Material für die Orchestereinleitung und die in rascher kontrapunktischer Bewegung zur Melodie geführten Chorstimmen gewonnen. Dabei haben die zwei Oboi da caccia konzertierenden Charakter. Das folgende Baßrezitativ ist eine seltsame Mischung von Choralieilen und Rezitativ. Es ist dazu höchst malerisch in der Schilderung des Fallens der Hügel, der Wellen, in Wortma8*

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lerei und Ausdrude der Sprache. Die Schilderung des Brechens, Reißens und Fallens gibt das Schleifermotiv der Begleitung der folgenden Tenorarie. Höchst eindringlich wird das Wüten, Toben, Krachen des Satans geschildert. Immer wieder wird man an die üppige Plastik von barocken figürlichen Darstellungen solcher Szenen erinnert. Die beiden Oboen spinnen ein sanftes Duett zum Choral des Altes im folgenden Satz. Eindringlich ist auch die folgende Mahnung des Tenors, in langen Koloraturen malt der Baß in der anschließenden Arie das Bild von den brausenden Winden. Eigentümlich erläutern nacheinander die vier Stimmen im folgenden Choral jeweils einen Vers. Eine holde Schilderung des Beglücktseins gibt die nächste Arie des Soprans, die von der Treue zum Hirten singt. Eine Oboe d'amore wetteifert in der lieblichen Melodie mit dem Gesang, vom Geigenpizzicato ständchenhaft begleitet. Eine Folge von sechs Kantaten für die Weihnachtszeit stellt das W e i h n a c h t s o r a t o r i u m dar, nach einer Notiz des Sohnes C. Ph. Emanuel auf dem Umschlag der Handschrift 1734 komponiert. Die Kantaten beziehen sich auf die ersten drei Weihnachtstage. Neujahr, Sonntag nach Neujahr und das Fest der Erscheinung Christi, welche Tage die Kirche als eine Festperiode zusammenfaßt. Bach hat in diesen sechs Kantaten eine Reihe von Sätzen gebracht, die in anderen weltlichen Kompositionen Bachs vorkamen, nämlich 6 Stücke aus der Kantate »die Wahl des,Herkules«, 4 aus dem »Dramma per musica der Königin zu Ehren«, beide aus dem Jahre 1733, und eine Arie aus der Gratulationskantate 1734 »Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen«. Bei weiteren Stücken der letzten Kantate (51,62) ist die Entlehnung aus weltlichen Werken anzunehmen. Der Eingangschor des 3. Teiles (Nr. 54) ist wahrscheinlich einer Kantate zum Geburtstag des Grafen Flemming vom 25. August 1731 »So kämpfet nun ihr muntern Töne« entnommen. Das ist eine immerhin beträchtliche Zahl von entlehnten Stücken, 11 oder sogar 14. Bach ist, als auch bei anderen Entlehnungen, vor allem in der h-Messe, trotzdem die völlige Einheitlichkeit des Werkes gelungen. Die Musik zum Weihnachtsoratorium erklingt und erfüllt oft die Herzen ihrer Hörer, während 116

die ursprünglichen Fassungen nur wenigen Kundigen bekannt sind. Die Tatsache, daß Bach solche Entlehnungen vornimmt, erscheint uns Heutigen zunächst befremdlich, noch befremdlicher aber wird sie, wenn wir sehen, welche nach Gedanken und Inhalt, nach Sprache und Bildern gegensätzlichen Texte jeweils demselben Musikstück unterlegt werden. Bei einem anderen Komponisten wäre diese Unterlegung geistlicher Texte unter weltliche Kompositionen weniger verwunderlich, als gerade bei Bach, der, wie bei der Betrachtung der Kantaten ausgeführt, wie kein anderer musikalisch das Wort illustriert. Wenn Bach trotzdem andere Worte, als die ursprünglich ausgedeuteten unter den musikalischen symbolischen Figuren gelten läßt, so zeigt dies die Grenzen der Bachschen Symbolik. Die Musik muß demnach außer ihrer symbolischen Beziehung zum Text noch einen eigenen Wert haben, der auf die symbolische Deutung verzichten kann. Des weiteren zeigt sich aber an diesen Sätzen, daß Bach durch leichte Aenderungen wiederum zum neuen Text, von der rhythmischen Anpassung an die neuen Worte abgesehen, Bindungen herzustellen weiß. Daß die weltlichen Stücke zuerst geschaffen waren, darüber kann, trotzdem Terry neuerdings Einwände machte, kein Zweifel herrschen. Da ist zunächst der Eingangschor aus der Königinkantate, dessen Chorbeginn die Instrumente nachahmende Motive bringt: Schon das Instrumentalvorspiel nimmt auf die Worte'»Tönet, ihr Pauken, erschallet Trompeten!« bezug, denn die Pauken beginnen soli (Takt 1—2), die Trompete folgt (Takt 5—6):

ff" s T o - net,

Iii ihr

Pau'ken!

Er - schal - let

Trom

»

pe-ten

Die Musik des Chores paßt aber zum neuen Text und dem Zweck der Einleitung vortrefflich, sie ist freudig, hinreißend, prächtig. Nach dem ersten Rezitativ des Evangelisten, der nach dem Evangelisten Lukas (später Matthäus) die Geschichte von Christi Geburt berichtet und einem ariosen Rezitativ, in welchem der Alt in zwei 117

Vierzeilern Geburt und Glück preist, folgt eine Altarie »Bereite dich, Zion«. Sie entstammt der Wahl des Herkules und dient dort einem in der Tat gänzlich entgegengesetzten Text. Die Verse dort lauten: Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen Verworfene Wollust, ich kenne dich nidit, Denn die Schlangen, so mich wollten wiegend umfangen, Hab ich schon lange zermalmet, zerrissen. Die bewegten Figuren der Oboe d'amore sollen wie die laufenden Baßfiguren die Schlangen malen, wie ähnliche Figuren in K. 40 den Teufel als Schlange. Wie Bach durch kleine Aenderungen die deklamatorischen Forderungen erfüllt, wie er in der ersten Fassung die Singstimmen und die Oboe tonmalerisch, wortplastisch gestaltet, sei gezeigt:

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eo a oc c 9 — Ol.3- rt - •13 a Thema:

(a')a b Exposition

b

D D

a b

b

b

b

Hauptteil 1

Tonart: T

a

b

Coda II

d Tp

b a

III a Dp

IV

c—g

Das Hauptthema kehrt dreimal wieder in d (T. 221—238), a 270 bis 280), und c-g (T. 320—352), außerdem kurz in der Coda (433—438). Die sog. d o r i s c h e T o k k a t a ist eigentlich dem Charakter nach ein Präludium, denn die freie Abwechslung gegensätzlicher figurativer und harmonischer Abschnitte der Tokkata findet sich nicht, statt dessen aber eine Verarbeitung eines Figurationsmotives, das abgewandelt als zweites Motiv erscheint. Wieder ist ein großformaler Plan durch Wiederholung und Entsprechung vorhanden (A. Thema 1, A (D) T . 25—43. B. 43—53Vi (F Tp) A, 63—73V2, B 73Vi—81V«, A' 84—Schluß). Durch originale Registriervorschriften werden die konzerthaften Wirkungen unterstützt. 187

Die grandiose Fuge über das synkopische Thema ist in große Tonalitätsflädien gegliedert. Die Fuge zeigt einen rhythmisdh belebten Canzonentyp. Das kurze Präludium in c (3. 10.) stellt eine gedrängte Uebergangsform vom Tokkatenstil zum motivischen Präludium dar; ebenso knapp ist die Fuge gefaßt. Diese letzten großen Werke mögen schon in Leipzig entstanden sein. Die große F a n t a s i e u n d F u g e i n g (2. 4.) scheint Bach indes schon 1720 nach Hamburg mitgebracht zu haben. 1725 notiert Mattheson das vereinfachte Thema als bei einer Organistenprobe gestellt. Das Thema geht auf ein niederländisches Volkslied zurück und wird auch bei Reinken und Zachow ähnlich gebracht. Die Fuge stellt hohe Anforderungen an die Technik auch des Pedalspieles und ist durch zweistimmige Zwischenspiele gegliedert. Bemerkenswert ist der knappe, mit dem Thema im Pedal epigrammatisch einsetzende Schluß. Das Präludium verbindet die fantastische Figuration der Tokkata mit streng gegliedertem Aufbau. Aehnlich wie in der chromatischen Fantasie werden kurze Teile rezitativisch auf das Dramatischste gestaltet. Die Harmonik überbietet alles im 12. Jh. geschaffene. Es ist eine Musik von einer wildschaurigen und in der Tiefe ergreifenden Gewalt, ein Expressionismus im Barock, der einem folgenden geglätteten Zeitalter völlig unverständlich bleiben mußte und auch selbst heute noch überraschend wirkt. Zu den größten Präludien und Fugen, die wohl erst in späterer Zeit, wie Keller meint zwischen 1730 und 40 in Leipzig geschaffen wurden, gehören P r ä l u d i u m u n d F u g e i n h (2. 10), beides Sätze von gewaltigem Ausmaß, das Präludium ergreifend, schmerzlich im Sizilianorhythmus, diesen öfters bearbeiteten Typus ins Symphonische steigern, die Fuge fesselnd in ihrer ruhigen Geschlossenheit und mitreißenden Entwicklung. Das P r ä l u d i u m c (2. 6) ist wohl einer der packendsten Sätze, die Bach geschrieben bat, im c-moll-Charakter der Schlußsätze der beiden Passionen, aber auch an die Einleitung der c-Partita erinnernd, Passionsstimmung, Leiden und Trost kündend auch im Tränenmotiv (Takt 6—8). Der Satz ist konzerthaft und fugiert, mit Dakapo, durchgeführt. 188

Das P r ä l u d i u m C ( 2 . 7.) hat charakterlich und thematisch Beziehung zum Einleitungschor der Kantate »Sie werden alle aus Saba kommen« (65). Freudige Skalenmotive der imitatorisch geführten Oberstimmen im beschwingten % Takt geben das Material zu einem glänzend ausgeführten festlichen Präludium. Die Fuge bringt die ersten Einsätze gedrängt, im Pedal erst die Vergrößerung. Vor dem Schlußorgelpunkt kommt es zu dramatisch-pathetischer mächtiger Akkordballung in Folgen verminderter Septakkorde. Das Präludium und die Fuge in e (2.—9.) überbieten noch die bisherige Großartigkeit. Mächtige Orgelpunkte, zu Anfang nur auf den Taktanfängen angedeutet, gliedern den motivisch und imitatorisch reichen Satz. Die Fuge ist insofern ein Unikum als nach der zweiten Durchführung ein 113 Takte langer figurativer Tokkatenteil eingeschoben wird, dem eine notengetreue Wiederholung des ersten Fugenteiles folgt. Auch die Fuge ist, wie das Präludium, der Konzertform angenähert. Den Höhepunkt dieser symphonischen Präludien und Fugen bildet die »Trinitätsfuge« mit P r ä l u d i u m i n E s (3. 1. 1739). Dies Präludium ist das größte, das Bach geschrieben hat. Drei Themen, deren erstes im Charakter französischer Ouvertürengraves im zweiten graziös umgebildet wird,

W J 3 t i fo?J-J i » fo. j>n i J j r-i 3 deren drittes aus Lauf mit Gegenstimme besteht, werden zweimal hintereinander durchgeführt, und durch das Dakapo des ersten Themas geschlossen. Der Satz ist in der Form eines Konzertsatzes aufgebaut, wie aus dem folgenden Schema ersichtlich ist: 189

Gruppe l . Tuttl 1. Solo 2. Tuttl 2. Solo 3. Tuttl 3. Solo 4. Solo 4. Tuttl

A B A Durchführung C A B C A Reprise

Themen

Takt

Tonart

Hauptthema 1. Seltenthema Hauptthema 2. Seltenthema

T 1—32 32—50 50—70 71—98 99—111 112—129 130-174 175—200

T D D

Hauptthema 1. Seltenthema 2. Seltenthema Dacapo

TP Dp und S T - T p (Tp)-T

Die Sonatenform wirkt auf die Gestaltung der drei Hauptteile ein. Beide Sätze sollen innerhalb des dritten Teiles der Klavierübung einen Abschnitt einer Orgelmesse bilden. Die Fuge und auch das Präludium sollen angeblich die Dreieinigkeit (Trinität) darstellen. Doch scheinen uns die Ausdeutung der Themen als Symbol von Gott-Vater, Sohn und Heiliger Geist reichlich überspannt zu sein! Diese Fuge ist keine eigentliche »Tripelfuge«! Sie ist vielmehr eine baulich großartige und einzig dastehende Weiterführung und Steigerung des Frescobaldischen Variationsricercares, das in neuen Abschnitten das Thema variiert bringt, und des Sweelindcschen Ricercartypus, in welchem dem gleichbleibenden Thema absdmittsweise neue Kontrapunkte entgegengestellt werden. In den drei Abschnitten wird zunächst das Thema fugiert im C-Takt durchgeführt, im zweiten Abschnitt das ursprüngliche Thema einem neuen Thema in 6/< Takt und Achtelbewegung, das auch in der Umkehrung auftritt, als Gegenthema entgegengestellt, und zwar vollständig in der zweiten Hälfte dieses Abschnittes, im dritten Abschnitt zu einem dritten Thema im "/s-Takt gebracht. (Schema: I. *U Thema A. II. 8/8 B + A. III. 12/8 G + A). Die fünf O r g e l k o n z e r t e , von denen vier (8. 1—4) unter Bachs Namen, das fünfte unter W. Fr. Bachs Namen liefen, sind keine Originalkompositionen Bachs, sondern Uebertragungen, Auszüge aus Orchesterkonzerten Vivaldis (8. 2. = op. 3, 8, 8. 3. = op. 7, 2). Das fünfte (Vivaldis op. 3, 11) hat W . Friedemann 190