Avantgarde - Medien - Performativität: Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts [1. Aufl.] 9783839401828

Im Zentrum der Aufsatzsammlung »Avantgarde - Medien - Performativität« stehen die von den klassischen Avantgarden einges

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German Pages 366 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Vorwort
Paradigma Performativität?
‚I promise it’s performative‘. Zum Verhältnis von Performativität und zeitgenössischer Kunst
Synästhesie. Von den literarischen Avantgarden zum Tonfilm
Organische Architektur als Kino: Zur Medialität des Fensters im Futurismus
Von der Kinematik der Körper zur Performativität der Objekte: Charlot und die Moderne
FANTÔMAS – eine Ikone der Performance?
„Réflexion sur les bords d’une mer intérieure“: The fictional genesis of Les feluettes by Michel Marc Bouchard
Tanz in zwei Dimensionen: Das Konzept des performativen Körpertableaus in Nijinskys L’Apres-midi d’un faune
Oppenheims Déjeuner en fourrure: die Inszenierung einer Pelztasse
Zwischen Übernahme und Neukonstruktion: Die Haussprüche Hannah Höchs
Futurismus beim frühen Marinetti und Hermetismus beim frühen Ungaretti – eine Gegenüberstellung poetischer Konzepte
„un po’ carnevale“ – Zum performativen Potential der futuristischen serate
Ich mal’ etwas was du nicht siehst – Der italienische Futurismus und das Vibrieren der Grenzen
Die futuristischen Manifeste der Valentine de Saint Point – zur Performativität von gender in der medialen Vermittlung
„L’animazione dell’imagine“: Überlegungen zur Performativität der Pathosformel bei Gabriele d’Annunzio
Dandy, Dichter, Demagoge – Männlichkeitsentwürfe der Belle Epoque
Autorenverzeichnis
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Avantgarde - Medien - Performativität: Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts [1. Aufl.]
 9783839401828

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Marijana Erstic´, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hrsg.) Avantgarde – Medien – Performativität

Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Ralf Schnell.

Marijana Erstic´, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hrsg.)

Avantgarde – Medien – Performativität Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Medienumbrüche | Band 7

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Susanne Pütz, Siegen; Kordula Röckenhaus, Bielefeld; Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-182-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Vorwort......................................................................................................7 Walburga Hülk

Paradigma Performativität? .......................................................................9 Dorothea von Hantelmann

‚I promise it’s performative‘. Zum Verhältnis von Performativität und zeitgenössischer Kunst...........27 Michael Lommel

Synästhesie. Von den literarischen Avantgarden zum Tonfilm ...................................37 Annette Geiger

Organische Architektur als Kino: Zur Medialität des Fensters im Futurismus .............................................51 Kirsten von Hagen

Von der Kinematik der Körper zur Performativität der Objekte: Charlot und die Moderne.........................................................................79 Isabel Maurer Queipo

FANTÔMAS – eine Ikone der Performance? .............................................99 Noelle Aplevich

„Réflexion sur les bords d’une mer intérieure“: The fictional genesis of Les feluettes by Michel Marc Bouchard .........117 Melanie Schmidt

Tanz in zwei Dimensionen: Das Konzept des performativen Körpertableaus in Nijinskys L’Apres-midi d’un faune........................................................................141 Nanette Rißler-Pipka

Oppenheims Déjeuner en fourrure: die Inszenierung einer Pelztasse............................................................165 Silke Wagener

Zwischen Übernahme und Neukonstruktion: Die Haussprüche Hannah Höchs...........................................................187

Grazia Dolores Folliero-Metz

Futurismus beim frühen Marinetti und Hermetismus beim frühen Ungaretti – eine Gegenüberstellung poetischer Konzepte ....................203 Sabine Schrader

„un po’ carnevale“ – Zum performativen Potential der futuristischen serate .........................229 Christian Imminger

Ich mal’ etwas was du nicht siehst – Der italienische Futurismus und das Vibrieren der Grenzen ................247 Tanja Schwan

Die futuristischen Manifeste der Valentine de Saint Point – zur Performativität von gender in der medialen Vermittlung ...............259 Marijana Erstiü

„L’animazione dell’imagine“: Überlegungen zur Performativität der Pathosformel bei Gabriele d’Annunzio...........................................299 Gregor Schuhen

Dandy, Dichter, Demagoge – Männlichkeitsentwürfe der Belle Epoque .............................................321 Autorenverzeichnis................................................................................361

VORWORT Die Publikation Avantgarde – Medien – Performativität fragt nach der Medialität der Avantgarden im Kontext des performative turn. Im Vordergrund steht dabei der Medienumbruch 1900 als Referenzpunkt eines Großteils der hier versammelten Untersuchungen am Einzelfall. Wie neuere Veröffentlichungen bezeugen, ist neben dem Thema ‚Medien‘ jüngst auch die Performativität zu einem der fruchtbarsten Forschungsgegenstände der Cultural and Media Studies avanciert. Diese Entwicklung ist vor allem einer sukzessiven Verlagerung des Begriffs aus dem Bereich der Linguistik in den der Kulturwissenschaften zu verdanken. Gegenwärtig kursierende Termini wie ‚performativer Akt‘, ‚Performanz‘ oder ‚Performativität‘ umreißen zunächst einmal eine Ausweitung des Gegenstandes vom linguistischen, teils ad acta gelegten Problem der performance institutionalisierter sprachlicher Äußerungen zur literaturwissenschaftlichen Frage nach der Performativität als (Selbst-)Referentialität, die vom Poststrukturalismus bejaht, von Rezeptionstheorie und Dekonstruktivismus dagegen zumeist verneint worden ist. Aktuell jedoch sind vorrangig kulturwissenschaftliche Performativitäts-Debatten innerhalb der Soziologie, Theaterforschung, Gender Studies etc. von Belang, die – abweichend von der ursprünglichen Problematik des funktionalen Gelingens einer sprachlichen Äußerung, aber auch eines ‚Werkes‘ – neuerdings die Thematik der phänomenalen Verkörperung und ihrer Mediatisierung erörtern. Die klassische Avantgardeforschung ist von der Welle dieses performative turn nur vereinzelt und exemplarisch berührt worden. Dabei beabsichtigten gerade die historischen Avantgarden – wie Futurismus, Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus –, die Kunst in die Wirklichkeit zu überführen und an die Stelle des autonomen ‚Kunst-Werks‘ oftmals bewusst in die „Dispositive der Macht“ (Foucault) eingebettete Objekte zu setzen. Diese Objekte speisen ihre Kraft aus einem mitunter skandalösen Zitat-Charakter – jener Eigenschaft, die von den gängigen Performativitäts-Theorien als einer der Gründe des funktionalen wie phänomenalen Gelingens oder auch der Subversion performativer Äußerungen und Akte benannt wird. Eine tragende Rolle im performativen Prozess spielen jedoch vor allem die Mittler der Botschaften, d.h. die Medien. Wenngleich diese seit jeher künstlerische Inhalte transportieren, nutzten die historischen Avantgarden dezidiert auch die Macht insbesondere technischer Medien (Tagespresse, Kinofilm, Radio, Photographie

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VORWORT

etc.), um ihre Manifestationen und Manifeste performativ umzusetzen und die ‚Massen‘ zu mobilisieren. Die Anordnung der Beiträge im Sammelband folgt grob einer umgekehrten Chronologie und orientiert sich, soweit möglich, an thematischen Gruppierungen. Das Spektrum reicht von Aufsätzen mit vorwiegend theoretischer Ausrichtung, die Ausblicke eröffnen auf den Medienumbruch 2000 – zum „Paradigma Performativität“ (Hülk), zur zeitgenössischen Kunst (von Hantelmann), zur Synästhesie (Lommel) – über solche zu einzelnen Medien wie Architektur (Geiger), Film (von Hagen zu Charlie Chaplin; Maurer Queipo zu FANTÔMAS), Theater (Aplevich), Tanz (Schmidt); zu Künstlerinnen der historischen Avantgarden wie Meret Oppenheim (Rißler-Pipka) oder Hannah Höch (Wagener) und zum Futurismus als der zeitlich ersten historischen Avantgarde (Metz zu Marinetti und Ungaretti; Schrader zu den futuristischen serate; Imminger zur bildenden Kunst; Schwan zu den Manifesten) zurück zur Jahrhundertwende 1900 (Erstiü zu D’Annunzio; Schuhen zur Figur des Dandy). Durchweg werden dabei auch intermediale Bezüge sowie aktuelle medien-, performanz- und/oder gender-theoretische Fragestellungen reflektiert, so dass vielfältige „Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster“ der Moderne, gelegentlich auch der Postmoderne, in den Blick geraten. Der vorliegende Band ist im Rahmen des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs 615 Medienumbrüche der Siegener Universität entstanden. Die Herausgeber danken den Beiträgern sowie Christian Imminger, Silvia Holzklau, Isabelle Neuhäuser und Tiziana Dello Buono für die Mitarbeit bei der redaktionellen Vorbereitung. Unser ausdrücklicher Dank gilt Walburga Hülk für ihre konzeptionelle Beratung und ihre freundschaftliche Unterstützung. Marijana Erstiü

Gregor Schuhen

Tanja Schwan

WALBURGA HÜLK

PARADIGMA PERFORMATIVITÄT? „‚Es ist durchaus verzeihlich, nicht zu wissen, was das Wort performativ bedeutet‘“, schreibt John Austin 1961 in seinem Text „Performative Äußerungen“, mit dem er dieses Wort buchstäblich einführt in den wissenschaftlichen Diskurs. „‚Es ist‘“, so fährt er fort, „‚ein neues Wort und ein garstiges Wort, und vielleicht hat es auch keine sonderlich großartige Bedeutung. Eines spricht jedenfalls für dieses Wort, nämlich daß es nicht tief klingt.‘“1 Selbst wenn das Wort performativ also „keine […] großartige Bedeutung“ haben mag, so hat es gleichwohl eine beachtliche 40jährige Wortgeschichte hinter sich gebracht, die heute nachgerade dazu einlädt, eben dieses Wort noch einmal in Augenschein zu nehmen und das „Paradigma Performativität“, das sich mit ihm etabliert hat, zu befragen im Hinblick auf seine methodologische Schärfe und Sensibilität. Dass, wie Austin sagt, das Wort „nicht tief“ klinge, mithin wohl keine ‚tiefere Bedeutung‘ suggeriert, spricht nicht gegen diese Befragung; vielmehr weist der Mangel an (bedeutsamer) Tiefe selbst auf jenen seinerseits fundamentalen, wenngleich antihermeneutischen Gestus, den genau es zu untersuchen gilt. Indem ich mich hier in die Quisquilien der Wortsemantik begebe, bin ich bereits in dem Bereich (der nicht mein eigener ist) angekommen, der dieses Wort aus sich hervorgetrieben hat, dem der Sprachphilosophie und Linguistik, der, als durchaus dominanter Diskurs innerhalb der Wissenschaftssprachen und Methodologien der 60er Jahre, das Wort performativ bereitgestellt hat für eine Karriere in Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte, Medienästhetik, Geschichts- und Literaturwissenschaft, Ethnologie, Gender Studies – also all die Bereiche, die uns heute in diesem Rahmen vielleicht viel mehr interessieren als die Linguistik selbst. ‚Performativität‘ mag, lässt man all diese Szenen des Wissenschaftstheaters 1 Austin, John L.: „Performative Äußerungen“ (1961), in: ders.: Gesammelte philosophische Aufsätze. Joachim Schulte (Hrsg.), Stuttgart 1986, S. 305; zitiert nach Uwe Wirth: „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: ders. (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 9-60; Zitate S. 9 (kursiv im Original).

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Revue passieren, erscheinen wie ein allumfassender, transversaler „umbrella term“2 kultureller Konversation, hat doch inzwischen jede einzelne Disziplin, jeder öffentliche Diskurs eine je eigene und gleichwohl interdisziplinär ausgerichtete ‚Performativität‘ geltend gemacht – in der Akzentuierung des Aufführungscharakters der Sprechakte einerseits, sodann der Aufmerksamkeit gegenüber den Inszenierungen im Bereich theatraler und ritueller Handlungen, sportlicher und popkultureller und Lifestyle‚Events‘, der Symboliken und Spielregeln innerhalb der historischen und politischen Praxis, der Diskursivität und Pragmatik von race, class und gender, der Materialität „von Botschaften im ‚Akt des Schreibens‘“ sowie der Einladung in Spielräume der Imagination „im ‚Akt des Lesens‘“,3 zuletzt der Fokussierung auf die Rahmungen und „Räume der Kommunikation“, die „Performativen Installationen“, die uns Anlass geben, über ‚Performativität‘ nachzudenken. Ich möchte Ihnen im Folgenden kurz die Erfolgsgeschichte der ‚Performativität‘ nachzeichnen, die seit den 90er Jahren mit dem so genannten performative turn gleichsam kanonisiert ist, und ich will vor allem für den Bereich der Literaturwissenschaft aufzeigen, dass es – wie für alle methodologischen Paradigmen – privilegierte Gegenstandsbereiche zu geben scheint, und auch solche, die sich mit dem Attribut ‚performativ‘ weniger beschreiben und die sich vielleicht doch eher „tief“ oder flächig, d.h. in der Spannung von hermeneutischer und dekonstruktivistischer Annäherung, erschließen lassen. Es war, wie gesagt, der Oxforder Linguist John Austin, der 1955 an der Harvard University mit seinen Vorlesungen How to Do Things with Words / Zur Theorie der Sprechakte (veröffentlicht 1961/62) das „Paradigma Performativität“ eröffnete. Er führte nämlich in das Feld sprachlicher Äußerungen jenen Begriff des ‚performativen Sprechaktes‘ ein, mit dem er jene Sprechakte kennzeichnete, mittels derer durch bestimmte, teilweise formelhafte Verben Handlungen, „conventional procedures“,4 vollzogen werden: so beim Taufakt, „Ich taufe dich auf den Namen Maria, oder auch Coca Cola“ – was es geben soll –, oder bei der Eheschlie2 Wirth 2002 (wie Anm. 1), S. 10 (kursiv im Original). Zum Gesamtzusammenhang des Performativen siehe zuletzt das Buch von Erika Fischer-Lichte, die die Forschungen hierzu mitinitiiert hat: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004; siehe wesentliche Aspekte auch in Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a.M. 2001. 3 Wirth 2002 (wie Anm. 1), S. 9. Vgl. auch Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, München 1984. 4 Vgl. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte [How to Do Things with Words], Stuttgart 1979, S. 35 u. 45f.

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ßung mit dem ‚Jawort‘ des Brautpaares sowie den staatlichen und kirchlichen Vollzugsformeln. Die sprachphilosophische Prägnanz und Provokation dieser Sprechakte besteht darin, dass ihre Bedeutung sich nicht hinterfragen lässt vermittels einer logisch-semantischen Wahrheitsprobe, wie z.B. bei der Frage, ob die Braut ein weißes Hochzeitskleid trage, was ja gemeinhin mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ beantwortet werden kann, sondern nur im Hinblick auf das Gelingen der mit dem Sprechakt geschaffenen sozialen Bedingungen, die erst durch neue performative Akte – wie im Fall des Widerrufs einer Taufe, der Änderung des Taufnamens oder des Scheiterns einer Ehe – aufgelöst werden können. Die in diesem Sinne performativen Äußerungen sind hierbei in zweifacher Hinsicht selbstreferentiell. Zum einen nämlich liefert das performative Verb eine Selbstbeschreibung dessen, was es tut; zum anderen ist der Akt des Äußerns dieses Verbs bereits wesentlicher Teil der Handlung, die durch das performative Verb bezeichnet wird. Da es sich hierbei um kulturell codierte oder sogar kodifizierte Handlungen handelt („Ich taufe dich“... „ich erkläre euch zu Mann und Frau“... „ich grüße dich“ u.a.), kann das wechselseitige Wissen der Handlungspartner um den Verpflichtungscharakter des performativen Sprechens und der sozialen Rahmenbedingungen, die dadurch aktualisiert werden, vorausgesetzt werden, kann die performative Kommunikation oder, im Sinne Wittgensteins, das „Sprachspiel“ glücken (zumindest innerhalb einer wie auch immer begrenzten Kulturoder Sprachgruppe). Das solcherart formulierte pragmatische Sprachspiel ist in der Sprachphilosophie, also seinem eigenen Feld, nicht unwidersprochen geblieben, und es hat zugleich eine radikale Erweiterung erfahren, welche die Kulturwissenschaft und die gender-Diskurse prägt. Es war der französische Philosoph Jacques Derrida, der vor allem an der folgenden Passage des Austin-Textes Anstoß nahm, der eine Unterscheidung machte zwischen der ganz ernsthaften Performativität und der unernsten performance, einer Passage, die dann in der Tat auch reflektiert werden musste von Literaturtheorie und Theaterwissenschaft. Ich zitiere Austin: ‚In einer ganz besonderen Weise sind performative Äußerungen unernst oder nichtig, wenn ein Schauspieler sie auf der Bühne tut oder wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder wenn jemand sie zu sich selber sagt. Jede Äußerung kann diesen Szenenwechsel […] in gleicher Weise erleben. Unter solchen Umständen wird die Sprache auf ganz bestimmte, dabei verständliche und durchschaubare Weise unernst (‚not seriously‘) gebraucht, und zwar wird der

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WALBURGA HÜLK gewöhnliche Gebrauch (‚normal use‘) parasitär ausgenutzt. […] 5 All das schließen wir aus unserer Theorie aus.‘

Der Szenenwechsel von der Performativität zur Performanz, den Austin hier, möglicherweise in der Reflexion auf die eigene Rahmung, vollzieht, wird von dem französischen Philosophen Jacques Derrida durchaus verstanden als eine Kapitulation vor der Grundsätzlichkeit des Spielcharakters der Sprache überhaupt. Derrida, der freilich immer die Spur der Sprache in der Schrift, und damit ohnehin ihre unhintergehbare Nachträglichkeit im Blick hat, betont in „Signatur. Ereignis. Kontext“, dass es möglich sei, ‚ein schriftliches Syntagma immer aus der Verkettung, in der es gefaßt oder gegeben ist, herauszunehmen, ohne daß es dabei alle Möglichkeiten des Funktionierens und genaugenommen alle Möglichkeiten der ‚Kommunikation‘ verliert. Man kann ihm eventuell andere zuerkennen, indem man es in andere Ketten einschreibt oder es ihnen aufpfropft. Kein Kontext kann es abschließen. Noch ir6 gendein Code [...].‘

Derrida, der übrigens hier die schöne, schon im Mittelalter für die Autoreflexivität der literarischen Sprache gebräuchliche Metapher des – botanischen – ‚Aufpfropfens‘ benutzt, unterläuft, dekonstruiert mit eben dieser Metapher die buchstäbliche Legitimität und konventionelle Kodifizierung des performativen Sprechaktes und hält dagegen, dass jedes sprachliche wie schriftliche Zeichen aus seinem Kontext herausgenommen, wiederholt und zitiert, eben einem anderen Kontext ‚aufgepfropft‘ wird, den es wohl weniger schwächt als veredelt. Mithin kann jedes Zeichen inszeniert werden, ist ohnehin ein Zeichen nie erstes Zeichen, sondern immer schon „Parasit“ eines anderen Zeichens, das seinerseits nicht das erste ist. Austin freilich, so will es scheinen, und die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Shoshana Felman hat es als Erste angemerkt,7 war so beschränkt (oder sprachgläubig) nicht, wie Derrida annahm, spielte er doch selbst mit der Ordnung seines performativen Sprechaktes, wenn er allen Ernstes die Folgen ausmalte, die resultieren aus der Taufe von Pinguinen oder der Trauung mit einem Esel. Indem Austin so die Bürgschaft 5 Ebd., S. 43f.; zitiert nach Wirth 2002 (wie Anm. 1), S. 18 (kursiv im Original). 6 Derrida, Jacques: „Signatur, Ereignis, Kontext“ (1976), in: ders.: Limited Inc., Wien 2001, S. 38f.; zitiert nach Wirth 2002 (wie Anm. 1), S. 19 (kursiv im Original). 7 Vgl. Felman, Shoshana: The Literary Speech Akt. Don Juan with J.L. Austin, or Seduction in two languages, Ithaca 1983, S. 73.

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seiner performativen Sprechakte ironisiert, stellt er ihre Doppelbödigkeit aus und inszeniert selbst eine Pragmatik, die so wenig dingfest zu machen ist wie die Ironie selbst. „‚Ich habe‘“, so schließt er seine Vorlesungen zur Performativität ab, ‚in diesen Vorlesungen zweierlei getan, was ich nicht unbedingt gern tue, nämlich: (1) Ein Programm verkünden; d.h. sagen, was 8 man tun muß, statt etwas zu tun; (2) Vorlesungen halten.‘

Judith Butler, die Sprachphilosophin, die bislang lehrte an der John Hopkins University in Baltimore und der University of California at Berkeley, ist Derridas Weg der Rezeption Austins mitgegangen und hat ihn weitergeführt in das Feld der Gender Studies, der Analyse und Kritik der Geschlechterdiskurse und der durch sie praktizierten Machtverhältnisse – ein Forschungsbereich, der sich überschneidet mit der Diskurskritik Michel Foucaults, der die Etablierung des performative turn nicht mehr erlebt hat. Gerade das Gelingen eines performativen Sprechaktes gilt Butler als Zeichen der Herrschaft, die sich als performatives Gesetz noch dort in den Körper einschreibt, wo ein Sprechakt erscheint als eine eher unschuldige, konstative Äußerung. In ihrem Buch von 1993, Bodies that Matter / Körper von Gewicht, erläutert sie den Geschlechter-Imperativ am Beispiel einer Geburtsszene: Indem die Hebamme aussagt „‚Es ist ein Mädchen‘“, wird nicht nur eine Feststellung getroffen; vielmehr wird, so Butler, ein performativer Akt vollzogen, „mit dem ein bestimmtes ‚ZumMädchen-Werden‘ erzwungen wird“9 und mit dem zugleich die unhinterfragte Anweisung ergeht zu einer Performance, einer Selbstinszenierung, einem immer wiederholten Zitat der Norm des Mädchen-Seins. Butler nimmt hier eine durchaus radikale Erweiterung des Performativitäts-Begriffs vor und koppelt ihn an das Konzept einer Performanz als Inszenierung, mittels derer Performativität nicht nur wiederholt und zitiert, sondern auch verkörpert wird. Der solcherart performativ umgedeutete konstative Satz „It’s a girl“ gibt damit genau jene Tendenz zur Theatralisierung und Materialiserung von Performativität/Performanz vor, die innerhalb der Theaterwissenschaften, aber auch der Kultur- und Medienwisssenschaften allgemein aufgegriffen worden ist. Der Leitbegriff ‚Inszenierung‘ wird hier freilich zugleich aufgefasst als ein doppelbödiger, dynamischer Begriff – englisch: staging, französisch: mise en scène – in der Spannung und Passage von performativer Performance, von Ausfüh8 Austin 1979, S. 183; zitiert nach Wirth (wie Anm. 1), S. 25. 9 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1997, S. 318.

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rung und Aufführung, von Repetition und Dekonstruktion, Maskerade und Entlarvung, und so fällt der Blick im besten Fall auf ein schwindelerregendes Spiel mit den gender-Imperativen und Imperativen überhaupt, mit Normen und Semantiken, Tiefe und Oberfläche – wie es vielleicht am augenfälligsten verkörpert und entkörpert wird in Madonnas Videoclips und Medienspektakeln. Gerade das von ihr ausgeführte und aufgeführte, zugleich unernste und ernste Spiel, dieses Pop- und politische Theater kann, so will es scheinen, jene performativen Gesetze aushebeln, die sich, so Judith Butler, so imperativ bereits an den Anfang des menschlichen Lebens stellen. Die subversive performative Performance, zu der Madonna – durchaus mit Butler10 – einlädt und verführt, kann zuerst und vor allem nur dann gelingen, wenn sie sich ständig revidiert und dadurch einer Kodifikation der Diskurse entzieht. Damit freilich ändert sich auch das wissenschaftliche Paradigma, welches sich dem Performativen und der Performance widmet, sei es beispielsweise dem Aufführungscharakter der mittelalterlichen Lyrik, der Tendenz zur autonomen Performativität der Oper11 oder den musikalischen oder künstlerischen ‚Events‘, die, wie jene von John Cage oder, sagen wir Jochen Gerz, ihre eigene Zeit und ihren eigenen Raum erst schaffen und dann wieder auflösen. Denn da hier, im Nachzeichnen performativer Spuren und Schübe, der Akzent gelegt wird auf den je neu aktualisierten Akt des Sprechens und Tuns, die Prozesshaftigkeit, die Körperlichkeit sowie die Präsenz und Intensität der (kulturellen, künstlerischen, theatralen, rituellen) Handlungen, entziehen sich die Gegenstände hartnäckig der systematischen Analyse, der Überprüfbarkeit und Konstanz. Die „Kulturen des Performativen“12 kollidieren so einerseits vor allem mit der klassischen Kategorie des Textes und seiner Überlieferung – und damit derjenigen des Werkes, der Originalität, des Autors, der Repräsentation –, welche unsere Kultur, und namentlich die Theater- und Literaturtradition, geprägt hat. Und sie beanspruchen andererseits die Hoheit über Konzepte, die vor dem performative turn eher als

10 Vgl. dazu demnächst Schuhen, Gregor: „Hybride Pop-Welten. Madonna und die Avantgarden“, in: Vf.in/ders./Schwan, Tanja (Hrsg.): (Post-)Gender. Choreographien / Schnitte, Bielefeld [2005]. 11 Vgl. in diesem Zusammenhang grundlegend Pfeiffer, Karl Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre, Frankfurt a.M. 1999, bes. S. 371-436. 12 Vgl. Sonderforschungsbereich 1717 „Kulturen des Performativen. ‚Performative Turns‘ im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit und in der Moderne“ an der FU Berlin.

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Einsätze im semiotischen Spielfeld einer ‚Kultur als Text‘ betrachtet wurden. Es waren Roland Barthes und Umberto Eco, die auf der Höhe des linguistic turn der 60er und 70er Jahre vom „Tod des Autors“ und vom „offenen Kunstwerk“ sprachen. In seinem kleinen Buch Le Plaisir du texte / Die Lust am Text entwarf der Semiotiker, Kultur- und Medienkritiker und Dichter Barthes 1973 den folgenden, für die zeitgenössische Literaturtheorie zentralen Textbegriff, ich zitiere: Text heißt Gewebe, aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich 13 selbst bearbeitet.

Roland Barthes geht hier aus von einem Text, einer Literatur, die gleichsam niemals fertig ist, einem Flechtwerk, das nicht das abgeschlossene Werk eines Autors ist, der den verschlüsselten Sinn festgeschrieben hätte, sondern der vielmehr ein „offenes Werk“ ist, das sich von seinem Autor ablöst, das sich durch jede neue Lektüre verändert, gleichsam fortschreibt, stets neuen Sinn oder Unsinn anbietet, immer neue Texte herausfordert und so zu einem immer größeren Speicher des kulturellen Gedächtnisses wird, seiner Buchstaben, seiner Reden, seiner fast unendlichen Sprachspiele, Energien und Bedeutungen, die buchstäblich ‚zusammenwirken‘. Den Ausdruck ‚performativ‘ benutzt und benötigt Barthes meines Wissens an nur einer Stelle: Es gibt nur die Zeit der Äußerung, und jeder Text ist immer hier und jetzt geschrieben. Und zwar deshalb, weil […] Schreiben nicht mehr länger eine Tätigkeit des Registrierens, des Konstatierens, des Repräsentierens […] bezeichnen kann, sondern vielmehr das, was die Linguisten im Anschluß an die Oxford-Philosophie ein Performativ nennen, eine seltene Verbalform, die auf die erste Person und das Präsens beschränkt ist und in der die Äußerung keinen anderen Inhalt […] hat als eben den Akt, durch den sie sich hervorbringt 14 […].

13 Barthes, Roland: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 81996, S. 94 [im Original: Le Plaisir du texte, Paris 1973, vgl. S. 100f.]. 14 Ders.: „Der Tod des Autors“ (1968), in: Wirth 2002 (wie Anm. 1), S. 104110; Zitat S. 107 (kursiv im Original).

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Umberto Eco fällt der Begriff des Performativen in seinem Buch L’opera aperta / Das offene Kunstwerk (1962; dt. 1973)15 gar nicht ein. Beider Text- und Werkbegriff freilich nehmen wesentliche Aspekte vorweg, die mit dem performative turn aktualisiert werden: Die Unabgeschlossenenheit der ästhetischen Produktion statt der Abgeschlossenheit des Werkes, der Aufforderungscharakter des Flechtwerks, die Fäden des Gewebes weiterzuspinnen, die Energie und Selbstreflexivität des Textes als Intensität einer unendlichen Semiose – das ist das, was der Semiotiker und Schriftsteller, Medienkritiker und Medienstar Umberto Eco als ‚Offenheit‘ des Kunstwerkes bezeichnet und Roland Barthes bereits 1968 mit seinem vielzitierten „Tod des Autors“ benannte als einen „vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [‚écritures‘], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text“, so fährt er fort, „ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.“16 Es sind vor allem diese Raummetaphern, welche vorausdeuten auf die vieldimensionale Szene der Performanzen, und der Text öffnet sich so von der Geradlinigkeit des Syntagmas hin auf ein vielschichtig ineinander verwobenes Netz von Beziehungen, Verwandtschaften, Konflikten, Mustern, Spielformen. Der italienische Schriftsteller Italo Calvino hat dieses Spiel verglichen mit einem Kaleidoskop, das aus bunten Splittern immer neue Muster entfaltet, und er hat diese Metapher eingebettet in seinen Roman von 1979 Se una notte d’inverno / Wenn ein Reisender in einer Winternacht,17 dessen elliptischer Titel einlädt in die Tiefe ineinander geschachtelter Text-Räume, in denen der Leser des Textes und die Leser im Text einander begegnen. Es ist ein Roman, der sicherlich direkt Bezug nimmt auf die Konzepte Barthes’ und Ecos, und die Wechselbezüglichkeit von Literatur und Literatur-/Kulturtheorie ist hier, wie übrigens auch im Fall der Performativität, besonders deutlich. Aber es ist auch ein Modell, das durchaus schon früher in der Literatur vorgedacht wurde, so beispielsweise in der Erzählung „The Figure in the Carpet“ des amerikanischen Schriftstellers Henry James.18 Sie gehört zu einer Gruppe von Geschichten, die, verfasst zwischen 1887 und 1897, 15 Eco, Umberto: L’opera aperta: forma e indeterminazione nelle poetiche contemporanee, Mailand 1962. Dt.: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M. 1973. 16 Barthes 2002, S. 108. 17 Calvino, Italo: Se una notte d’inverno un viaggatore, Turin 1979. Dt.: Wenn ein Reisender in einer Winternacht, München/Wien 1983. 18 James, Henry: The Novels and Stories. New and Complete Edition; Bd. XX: The Lesson of the Master. The Death of the Lion. The Next Time. The Figure in the Carpet. The Coxon Fund, Harmondsworth 1921-23 bzw. The Figure in the Carpet and Other Stories, Harmondsworth 1986.

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von der Literatur selbst, ihren Autoren und Lesern, vom literarischen Text und literarischen Feld handeln und mit Semiose und Performativität spielen. „The Figure in the Carpet“ nun ist die Ich-Erzählung eines jungen, ehrgeizigen Literaturkritikers, der einem berühmten Schriftsteller begegnet, dessen jüngstes Werk er gerade rezensiert hat. Dieser von allen umworbene Autor steigert die Faszinationskraft seiner Person und seiner Texte auf raffinierte Weise dadurch, dass er sein Lesepublikum und seine Kritiker wissen lässt, niemand habe bisher sein Geheimnis entschlüsseln können, das er, wie eine „figure in the carpet“ eben, in all seinen Werken, seinen Textgeweben verborgen habe. Um dieses Geheimnis nun ranken sich alle Gespräche über seine Bücher, alle Interpretationen seiner Texte, alle Verbindungen zwischen Männern und Frauen, Kritikern und Lesern, die in wechselseitigen Konstellationen rund um den Schriftsteller und seine Bücher eingegangen werden, bis dass der Autor am Ende, wie seine Vertrauten, das Muster im Gewebe mit ins Grab nimmt. Ob es diesen „buried treasure“ überhaupt gibt, ist am Ende das Rätsel dieses Textes von Henry James, den es freilich ohne das Geheimnis seines Prätextes gar nicht gegeben hätte. Dieses Spiel, das mit den textimmanenten Lesern und uns – als Lesern – getrieben wird, findet sich, noch einmal gesteigert, wieder in einer anderen Erzählung von Henry James, „The Aspern Papers“19 („Die Aspernpapiere“). Dort ist ein Literaturkritiker auf der Jagd nach den Liebesbriefen eines berühmten romantischen, lange verstorbenen Schriftstellers, die, so nimmt er an, behütet werden von seiner nun hoch betagten Geliebten, die völlig zurückgezogen, zusammen mit einer Nichte, in einem Palazzo in Venedig lebt. Diese Nichte verspricht dem Kritiker, ihm die Briefe zu geben, wenn er sie heiratet. Er verweigert dieses und erfährt, dass die Briefe verbrannt worden sind – ob es freilich diese phantomatischen Briefe je gab, derentwegen die Geschichte „The Aspern Papers“ überhaupt nur exisitiert und die gleichsam als Gerücht durch den supplementären Text geistern, daran kann mit Fug und Recht gezweifelt werden. Mit den Literaturkritikern aber, die in diesen Erzählungen als Protagonisten fungieren und die auf der Jagd nach Texten sind und deren Geheimnisse entdecken wollen, inszeniert James gleichsam ein Detektivspiel, ein literarisches Sprachspiel als kriminalistisches Rätsel, das freilich, und das ist der Clou, keiner Lösung, zumindest keiner eindeutigen, zugeführt wird. Der italienische Historiker und Kulturkritiker Carlo Ginzburg hat dann übrigens in einem interessanten Aufsatz von 1979, „Spie. Radici di un paradigma indizario“ / „Spione. Wur-

19 Ders.: The Aspern Papers, New York 1936.

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zeln eines Indizienparadigmas“,20 den Detektiv, den Kunst- und Literaturkritiker sowie den Psychoanalytiker miteinander verglichen, da sie alle auf der Suche seien, um Indizien, Texte, Symptome – also Zeichen – zu entschlüsseln, die aber gleichzeitig bei dieser Suche, aus den Zeichen und in den Zwischenräumen der Zeichen, neue Zeichenräume konstruieren mittels der Energien ihrer Vorstellungskraft. Diese hat dann wiederum Umberto Eco in seinem Mittelalterkrimi Il nome della rosa / Der Name der Rose21 1980 ausgeleuchtet, und auch hier, man erinnert sich, ohne an die mit krimineller Energie gehütete Originalschrift über das Lachen – das zweite Buch der aristotelischen Poetik zur Komödie – heranzukommen. Mit der modernen Literatur, so will es scheinen, wird ein Semioseschub in Gang gesetzt, der zugleich in der Literatur und dann in der Literaturkritik umspielt wird und, wenn man will, aufruft zu und abgerufen wird von dem, was dann Performance heißt. Die erwähnten Texte nämlich von Henry James, Italo Calvino, Umberto Eco – und man kann ihnen viele andere an die Seite stellen, beginnend mit Mallarmé über die Surrealisten bis hin zur Netzliteratur – initiieren Räume der Vorstellungskraft, in denen neue Texte, Paratexte über und um Texte herum, Bilder und Szenen entstehen, die das Material weiterflechten, Medienwechsel vollziehen, manchmal den Autor des Prätextes vergessen machen und damit die Flüchtigkeit und die Beharrlichkeit prozessualer Mythen wiederholen. Ich denke, ein eklatantes Beispiel hierfür ist die von Bob Wilson für die Ruhrtriennale 2003 konzipierte multimediale Inszenierung La Tentation de St. Antoine / Die Versuchung des heiligen Antonius, die Gustave Flauberts Text La Tentation de St. Antoine hinter sich lässt, eben weil sie – und das muss ich zugestehen, obwohl mir gerade Flauberts Buchstäblichkeit heilig ist – das performative Potential dieses zugleich poetologischen, kunstsakralen und theatralen Romans erkannt und es in reine Bewegung, Körperbewegung, Choreographie, in entsemantisierte Klänge, Stimmen und Intensitäten transformiert hat, die sich vielleicht der utopischen Symbiose von Wort und Ding annähern. Hier, so denke ich, tritt in der Tat das Semiosemodell zurück hinter jenes der Performanz, so wie dieses wohl umgekehrt dort überflüssigerweise ‚aufgepfropft‘ wird, wo es die Subtilität und Buchstäblichkeit eines unendlichen, wohl dekon20 Ginzburg, Carlo: „Spie. Radici di un paradigma indizario“, in: ders.: Miti. Emblemi. Spie. Morfologia e storia, Turin 1986. Dt.: Spione. Wurzeln eines Indizienparadigmas, Berlin 1979. 21 Eco, Umberto: Il nome della rosa, Mailand 1980. Dt.: Der Name der Rose, München/Wien 31982.

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struierten, nicht aber desemantisierten Zeichenspiels eher schwächt als veredelt. Wenn in der modernen Literatur seit dem 19. Jahrhundert unbestritten ein Semioseschub zu beobachten ist, welcher die Aufmerksamkeit des Lesers lenkt auf Texte, in denen alle Zeichen- und Spielräume der Imagination und Intermedialität möglich und kommunikabel sind, ohne dass, so denke ich, das Performanz-Modell bemüht werden muss, so ist auf der anderen Seite ein Performativitäts- und Performanzschub dort zu beobachten, wo der interaktive Charakter „offener Werke“ nicht unendlich autoreflexiv in sich zirkuliert, sondern ‚überführt‘ wird in „Lebenspraxis“, wie es seit Peter Bürgers initiatorischer Theorie der Avantgarde von 1974 heißt. Dieses mittlerweile schlagwortartig abrufbare Phänomen ist gleichwohl buchstäblich manifest als ästhetisches und politisches Programm der so genannten ‚historischen Avantgarden‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deren Kunstmilitanz‘ (wie Hanno Ehrlicher 2001 in seinem eindrucksvollen Buch Die Kunst der Zerstörung bemerkte)22 die Ausdifferenzierung der Künste widerruft zugunsten eines flächendeckenden, massenmedialen ‚Manifestantismus‘ und eines schockartigen, expansiven Aktivismus. In der Tat forderten die ersten Avantgardisten in über 300 futuristischen Manifesten die Aktivität der Leser und Zuschauer nicht nur heraus, um Literatur weiterzuschreiben oder Theaterstücke zu Ende zu bringen. Beginnend mit Filippo Tommaso Marinettis erstem furistischen Manifest – veröffentlicht am 20. Februar 1909 auf der Titelseite des Pariser Figaro23 – riefen sie vielmehr, im Kampf gegen den „Passatismus“ – worunter sie alle rückwärtsgewandten Werte verstanden –, und im Dienste einer energetischen und technischen Zukunft auf zu einem Einsatz von Körper und Leben, so wie es sich aus dem Wort ‚Avantgarde‘, militärische Vorhut, ableiten ließ. Folgend auf die narrativen und oratorischen Passagen des ersten Manifests, in denen die (mythische und rituelle) Urszene des Futurismus erzählt und gefeiert wird, finden sich elf Programmpunkte, die das Manifest einsetzt und an die Freunde richtet – „Los, [...], los, Freunde! Gehen wir!“24 Ich zitiere daraus.

22 Ehrlicher, Hanno: Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001. 23 Dt.: Marinetti, F.T.: „Gründung und Manifest des Futurismus“ (1909), in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart/Weimar 1995, S. 3-7. 24 Ebd., S. 3.

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WALBURGA HÜLK 1. Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit. […] 7. Schönheit gibt es nur noch im Kampf. […] 9. Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt […]. Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt, mit 25 dem wir heute den „Futurismus“ gründen […].

Ich kann hier nicht auf die einzelnen Argumente der provokant gewalttätigen Programmatik eingehen, deren „Vitalitätscodierung“26 keinen Zweifel aufkommen lässt im Hinblick auf Härte und Effektivität des Aufmarsches. Wichtig in unserem Zusammenhang erscheint mir vielmehr, dass Performativität der durchgängige Gestus dieses ersten avantgardistischen Textes ist, der alle gültigen kulturellen Codes und Kontexte zerstört und eben dadurch Avantgarde konstituiert. Performativität ereignet sich erstens im Gründungsakt der Bewegung als einem Sprechakt, der mit mehrfach skandierten, militanten Einsetzungsworten Avantgarde intoniert, exponiert und vollzieht – „Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu!“27 – und zweitens mit einem Sprechakt, der als massenmediale und terroristische Waffe eingesetzt wird gegen die Bürgen des Passatismus, das „Krebsgeschwür der Professoren, Archaölogen, Fremdenführer und Antiquare“ und gegen die geschlossenen Räume der Bildung, „Museen: absurde Schlachthöfe der Maler und Bildhauer, die sich gegenseitig, wild mit Farben und Linien entlang der umkämpften Ausstellungswände abschlachten!“28 Das Manifest, so will mir scheinen, vereinigt auf diese Weise eine interne und externe Peformativität und Performanz, indem es nämlich die Materialität des Textes propagandistisch koppelt an den Körpereinsatz des Rezipienten, beide gerichtet gegen die autonomen Kunstformen, Kunsträume und Kunstinstitutionen, und hier geschieht also doch vielleicht mehr, als die Selbstironie John Austins – „Ein Programm verkünden; d.h. zu sagen, was man tun muß, statt etwas zu tun“29 – vermuten ließ. Der ‚Manifestantismus‘ nämlich ist eine ebenso selbstreflexive wie inszenatorische Aktionskunst, ist selbst Waffe in einer ästhetischen querelle, welche Materialität (Typographie, Format, Trägermedium), Oralität (Appelle, Befehle, Deklamationen) und Theatralität (Selbstinszenierung) ereignishaft einsetzt. Er ist der Auftakt der heute le-

25 26 27 28 29

Ebd., S. 4f. (kursiv im Original). Pfeiffer 1999, S. 521. Marinetti 1909 (wie Anm. 23), S. 7. Ebd., S. 5. Vgl. oben Anm. 8.

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gendären serate,30 einer spektakulären, situativen Kunst- und Theaterszene, innerhalb derer künstlerische Artefakte minimisiert wurden – „DESHALB 1. IST ES DUMM, HUNDERT SEITEN ZU SCHREIBEN, WO EINE GENÜGEN WÜRDE“31 –, das Publikum körperlich provoziert wurde – „DAS FUTURISTISCHE THEATER wird jeden Abend eine Gymnastik sein“ – und eine ‚Kunst ohne Werk und Autor‘ entstand als ‚Event‘: DIE FREIE REDE, DIE SIMULTANEITÄT, DIE VERKÜRZUNG, DAS KLEINE GESPIELTE GEDICHT, DIE DRAMATISIERTE EMPFINDUNG, DE[R] HEITERE[…] DIALOG, DE[R] NEGATIVE[…] AKT, DIE SCHLAGFERTIGKEIT, DIE AUSSERLOGISCHE DISKUSSION, DIE SYNTHETISCHE DEFORMATION, DE[R] WISSENSCHAFTLICHE[…] RISS, DIE 32 KOINZIDENZ, DAS SCHAUFENSTER…

und das alles zusammen „mit obszönen Gesten, Kneifen der Damen oder anderem Unfug […]. Die Sessel werden mit Juck-, Niespulver usw. bestreut.“33 Was hier passierte, konnte wohl von keiner nachfolgenden Avantgarde, keinem Medium und keiner Performanz überboten werden. Aber es ist auch ein Ereignis, welches putschistisch jene Liaison von Textualität und Performativität sprengt, die ansonsten bis in die Ausstellung „Räume der Kommunikation / Performative Installation“34 als Spannung ausgehalten wird, weil nur über sie immer wieder die Frage gestellt werden kann, was denn Kunst sei. Insofern sind vielleicht, alles in allem, jene Beispiele avantgardistischer Künste interessanter, die ihrerseits diese Spannung und Dynamik von Textualität und Performativität, Artefakt und Ereignis, Künstler und Rezipient reflektieren und inszenieren. Als ein solches Beispiel gelten kann vielleicht ein Bild wie Abbildung 1, der Versuch, eine sequentielle Körperbewegung im Bild und als Option einer Überschreitung seines Rahmens sichtbar zu machen; es erscheint sodann als Versuch, den avantgardistisichen Versuch, „den Betrachter mitten ins 30 Vgl. dazu ausführlich auch den Beitrag von Sabine Schrader in diesem Band. 31 So Marinetti, Settimelli und Corra im Manifest „Das futuristische synthetische Theater“ von 1915, dt. in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 23), S. 9295; Zitat S. 93 (Großschreibung im Original). 32 Ebd., S. 94 (Großschreibung im Original). 33 Marinetti, F.T.: „Das Variété“ (1913), in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 23), S. 60-63; Zitat S. 63. 34 Performative Installation (Ausstellungskatalog Siemens Art Program). Angelika Nollert (Hrsg.), Köln 2003.

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Bild“ zu holen,35 im Medium der Malerei zu reflektieren durch die intermediale Suggestion eines optisch-akustischen Environments (vgl. Abb. 2), und es zeigt sich schließlich in den ‚photodynamischen‘ Experimenten, mittels derer, in Reflexion auf die physikalischen Theoreme der Zeit, die Relation und kommunikative Dynamik von Subjekt und Objekt aktualisiert werden sollte als Intensität und Passage eines Augenblicks (vgl. Abb. 3). Mehr noch aber, so will mir scheinen, lassen sich diese Spannung und Dynamik veranschaulichen an der Neukonzeption des Museumsraums, die der russische Konstruktivist El Lissitzky 1926 erfand. Abbildung 4 zeigt seinen Dresdener „Demonstrationsraum“, den „Raum für konstruktive Kunst“ (danach Hannover 1927/28), einen Museumsraum, der gerahmte Bilder (u.a. von Piet Mondrian) ausstellt und verbirgt durch eine bewegliche, perforierte Metallplatte, die der Besucher vor der Wand hin- und herschieben kann, um so das eine oder andere Bild palimpsestartig zu verbergen oder zu entbergen. Wozu El Lissitzky hier verführt, ist ein frühes interaktives Spiel mit den „umkämpften Ausstellungswände[n]“, von denen Marinetti sprach,36 ist „die Zerstörung der Museumswand als einem festen Ort für Bilder“37 und die Etablierung der Wand als Element eines optischen Environment, das eine dynamische, synkopische, differentielle Wahrnehmung herausfordert.38 „Wenn er [der Besucher; W.H.]“, so El Lissitzky, sonst durch das Vorbeiziehen an den Bilderwänden in eine bestimmte Passivität eingehüllt wurde, so soll unsere Gestaltung den Mann aktiv machen. Dies soll der Zweck des Raumes sein. [...] Bei jeder Bewegung des Beschauers im Raume ändert sich die Wirkung der Wände, was weiß war, wird schwarz und umgekehrt. So entsteht als Folge des menschlichen Schreitens eine optische Dynamik. Dies Spiel macht den Betrachtenden aktiv. [...] Er ist phy-

35 Boccioni, Umberto: Futuristische Malerei und Plastik (Bildnerischer Dynamismus) (1914). Astrit Schmidt-Burkhardt (Hrsg.), Dresden 2002, S. 110 (kursiv im Original). 36 Vgl. oben Anm. 28. 37 Spieker, Sven: „El Lissitzky zwischen Film und Büro: Das Kabinett des Abstrakten“. Vortrag beim Workshop „Bild und Schrift im literalen und medialen Wandel“ im Rahmen des Forschungsprojekts „Archäologie der Moderne. Eine neue Sinneskultur im frühen 20. Jahrhundert“ (Justus Fetscher/Inge Münz-Koenen) am Zentrum für Literaturforschung, Berlin, 14. u. 15.11.2003. 38 Vgl. ebd.

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sisch gezwungen, sich mit den ausgestellten Gegenständen ausein39 anderzusetzen […].

Hier wird also ein neuer ‚offener‘ Museumsraum, eine neue Szene des ‚Spiels‘ geschaffen – direkt neben einem tradiitonellen Museumsraum, der, wie im Theater, durch einen halb offenen Vorhang betreten werden kann und vielleicht eine Reaktion hervorruft wie diese: ‚Aha, hier hängen die Bilder!‘40 Es ist ein „Raum der Kommunikation“, der, so denke ich, bis heute nichts eingebüßt hat von seiner Interessantheit und der in seiner gleichsam kontingenten Nachhaltigkeit die Spannung der „performativen Installation“ vorwegnimmt. Abbildung 1: Giacomo Balla: Bambina che corre sul balcone (1912)

39 Lissitzky, El: Maler, Architekt, Typograf, Fotograf. Erinnerungen, Briefe, Schriften. Sophie Lissitzky-Küppers (Hrsg.), Dresden 41992, S. 366f. 40 Dazu Bianchi, Paolo: „Kunst ohne Werk – aber mit Wirkung. Was ist die Kunst an der Kunst?“, in: Kunstforum International, Jg. 67, Nr. 152 (Oktober-Dezember 2000): Kunst ohne Werk, Ästhetik ohne Absicht, S. 66-81.

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Abbildung 2: Umberto Boccioni: La strada entra nella casa (1911)

Abbildung 3: Anton Giulio Bragaglia: Autoportrait (1913)

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Abbildung 4: El Lissitzky: „Raum für konstruktive Kunst“ (1926)

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‚I PROMISE IT’S PERFORMATIVE‘. ZUM VERHÄLTNIS VON PERFORMATIVITÄT UND ZEITGENÖSSISCHER KUNST1 Was kann Performativität in Bezug auf heutige Formen der bildenden Kunst bedeuten? Es gibt verschiedene Perspektiven, aus denen man diese Frage beantworten könnte. Eine davon setzt bei der ‚Performance‘ an, als einer historischen Kunstform, die sich in Abgrenzung zu den materiellen und symbolischen Konventionen der bildenden Kunst entwickelte. Entsprechend richtet sich eine so verstandene ‚Ästhetik des Performativen‘ auf das singuläre ästhetische Ereignis, das, jenseits des Museums, gegenüber dem Werk- und Zeichencharakter des bildenden Kunstwerks den „Umsprung in ihr Anderes“2 markiert, wie es Dieter Mersch im Hinblick auf Performances und Happenings von Beuys, Kaprow und anderen formuliert hat. Diese Perspektive artikuliert sich unter Bezug auf ein Selbstverständnis bestimmter Kunstformen der 60er und 70er Jahre, die sich explizit außerhalb der Konventionen der bildenden Kunst bewegten. Spätestens mit dem Ende der 70er Jahre jedoch, als diese Kunstformen mit ihrer eigenen Historisierung konfrontiert wurden, mit ihrer Integration in das Museum und damit in genau die materiellen und symbolischen Konventionen des Bedeutens, aus denen sie heraustreten wollten, wurde dieser Anspruch eines Außerhalb fragwürdig, um nicht zu sagen obsolet. Damit stellte sich die Frage nach dem Performativen der Kunst noch einmal neu: nicht als ihr „Anderes“, sondern als eine Dimension innerhalb der bildenden Kunst; als etwas, das dem Kunstwerk – und zwar im Prinzip jedem Kunstwerk – inhärent ist. Heute sind Kunstwerk und Ereignis kein Widerspruch mehr, weil sich die Auffassung des Werkbegriffs so verändert hat, dass er eben auch die performativen, sprich wir1 Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Version eines Vortrags, den ich im Rahmen des Kolloquiums „Performative Installation“ im November 2003 im Siegener Museum für Gegenwartskunst gehalten habe. 2 Mersch, Dieter: „Ereignis und Aura. Radikale Transformation der Kunst vom Werkhaften zum Performativen“, in: Kunstforum International, Nr. 152 (Okt.-Dez. 2000), S. 94-103; Zitat S. 98.

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kungs- und erfahrungsbezogenen Dimensionen mit einschließt, die ein modernistischer Werkbegriff ausgeschlossen hatte. Aber wie lassen sich diese Dimensionen in der zeitgenössischen Kunst beschreiben? Worin liegt die jeweils spezifische Wirkungsmacht – die Performanz – eines Kunstwerks, wie ist sie gestaltet, wie wird sie erfahrbar – und was bedeutet sie? Mein Vorschlag, sich diesen Fragen zu nähern, bringt John L. Austin ins Spiel, der sich auf eine ziemlich raffinierte Art und Weise mit dem Verhältnis von Sagen‘ und Tun‘ in der Sprache beschäftigt hat. Ich glaube, dass Austin zumindest erhellend sein könnte, um dem reflexiven Verhältnis zwischen Gehalt und Inszenierung, zwischen Aussage und Aufführung, zwischen dem Sagen‘ und dem Tun‘ eines Kunstwerks auf die Spur zu kommen. Dabei stütze ich mich auf eine besondere Lesart Austins, wie sie vor allem Shoshana Felman und zuletzt Sybille Krämer artikuliert haben. Diese sei im Folgenden kurz skizziert. Sowohl Felman als auch Krämer schlagen, mit unterschiedlichen Ausrichtungen, eine performative‘ Lesart Austins vor, die von der hegemonialen‘ Interpretation seiner Texte insofern abweicht, als sie seinen Text nicht nur als Aussage, sondern als Inszenierung versteht3 – nicht nur als ein Sprechen über das Tun mit Wörtern, sondern als ein Sprechen, das selbst etwas tut. „Austin zu verstehen“, so formuliert es Sybille Krämer, „heißt nicht nur auf das zu hören, was er sagt, sondern auch auf das zu schauen, was er, indem er etwas sagt, zugleich auch tut.“4 Was aber tut Austin? Er beginnt seine Vorlesungen mit dem Anspruch, eine Theorie zu errichten, die auf der Unterscheidung ‚performativ‘ vs. ‚konstativ‘ basiert. Nachdem sich diese Unterscheidung als unhaltbar erwiesen hat, beschließt er, die Frage, wann ‚etwas sagen‘ ‚etwas tun‘ bedeuten kann, „ganz neu“ anzugehen.5 Was nun folgt, sind fortlaufend neue Kriterien und Regelaufstellungen, mit denen Austin immer wieder Erwartungen an eine theoretische Systematisierung weckt. Aber jede aufgestellte Regel wird so lange verkompliziert, bis man als Leserin beinahe selbst den Glauben daran verloren hat. Austin erfindet eine Vielzahl an Situationen, 3 Vgl. Felman, Shoshana: The Literary Speech Act. Don Juan with J.L. Austin or Seduction in Two Languages, Ithaca, N.Y. 1983 sowie Krämer, Sybille: „Was tut Austin, indem er über das Performative spricht? Ein anderer Blick auf die Anfänge der Sprechakttheorie“, in: Jens Kertscher/Dieter Mersch (Hrsg.): Performativität und Praxis, München 2003, S. 19-33. 4 Krämer 2003, S. 19. 5 Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte [How to Do Things with Words], Stuttgart 1979, S. 110.

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die in absurder und bisweilen abgründiger Weise das Scheitern von Regelhaftigkeit vorführen. Da werden Esel getraut, Pinguine getauft, Pferde zum Konsul ernannt und versehentlich der Esel des Nachbarn erschossen. Am Ende erscheint How to Do Things with Words nicht mehr als ein zwar defizitäres, aber dennoch grundlegendes System von Aussagen über das Klassifzieren und Analysieren von Sprechhandlungen, sondern vielmehr als eine Aufführung des Scheiterns an dem Versuch, das Konstative am Performativen festzustellen. Mit Felman und Krämer gelesen, ist Austin nicht mehr der Theoretiker einer (zu verbessernden) Definition des Performativen, sondern, wie Krämer schreibt, der Skeptiker einer vollständigen „philosophischen Rationalisierbarkeit“ von Sprache.6 Er wird zum Denker, der ein neues Verhältnis zwischen Akt und Referent einführt. Wenn Austin dem ‚Performativen‘ als Wort keine „großartige Bedeutung“ zuspricht, außer dem Vorteil „nicht tief“ (not profound) zu klingen,7 mag dies als eine humorvolle Anspielung auf den Hang der Philosophie zur Tiefgründigkeit gemeint sein.8 Aber Austin auf Austin selbst anzuwenden, heißt eben auch zu sehen, was er tut, indem er dies sagt. Das Wort klingt „nicht tief“: Austin sagt uns, was das Wort zeigt, um zu zeigen, was das Wort sagt. Er konstruiert ein Modell, in dem Selbstreferentialität und Referentialität zusammenfallen, ohne dabei identisch zu sein. Ich erinnere mich, wie jemand, nachdem ich einmal über dieses Thema gesprochen hatte, sagte: ‚Wissen Sie, ich habe nicht die geringste Ahnung, was er meint, es sei denn, er meint womöglich ein9 fach was er sagt.‘ Eben, genauso meine ich es.

Austins Sprechen bekommt an dieser Stelle den Charakter eines ästhetischen Modells, eines nicht nur rhetorisch, sondern gewissermaßen dramaturgisch inszenierten, offenen Spannungsfeldes zwischen den Ebenen des Sagens und Zeigens, der Aussage und der Aufführung, in dem die Wörter zum Handeln, darüber zum Bedeuten und wiederum zum Handeln kommen. Der Grund, warum J.L. Austin in How to Do Things with Words die von ihm zuvor eingeführte Unterscheidung zwischen einer konstativen und einer performativen Verwendung von Sprache wieder verwarf, um sie 6 Krämer 2003, S. 27. 7 Austin, John L.: „Performative Äußerungen“, in: ders.: Gesammelte philosophische Aufsätze, Stuttgart 1986, S. 305. 8 Vgl. Krämer 2003, S. 31. 9 Austin 1986, S. 305.

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dann durch eine allgemeine Theorie der Illokution, der Wirkmächtigkeit, zu ersetzen, lag darin, dass sich kein Kriterium angeben ließ, mit dem performative und konstative Äußerungen eindeutig voneinander getrennt werden könnten. Denn jede sprachliche Äußerung, so musste Austin feststellen, enthält sowohl eine konstative, eine feststellende als auch eine performative, eine bewirkende, hervorbringende Dimension. Weder das eine noch das andere lässt sich aus der Sprache herauskürzen. So gesehen greift die Rede von einem ‚performativen Sprechen‘ zu kurz und ist zugleich tautologisch. Gleiches gilt, wenn auch unter anderen Vorzeichen, für das Kunstwerk. Von einem ‚performativen Kunstwerk‘ zu sprechen, ist deshalb tautologisch, weil es eben auch kein nicht-performatives Kunstwerk geben kann. So wie jede künstlerische ‚Äußerung‘ eine Form und einen Gehalt hat (auch wenn die Bedeutung im Nicht-Bedeuten liegt), hat auch jedes Kunstwerk eine performative Dimension: Es bündelt Aufmerksamkeiten, generiert Wirkungen, produziert Erfahrungen und ordnet Körper im Raum an, die diese Erfahrungen machen. Auch wenn es natürlich Kunstwerke und Kunstformen gibt, bei denen diese performative Dimension expliziter und inszenierter hervortritt als bei anderen; auch wenn sich dies bei einem Gemälde auf eine andere Weise vollzieht als bei einer Videoinstallation. Der Grund, warum heute so viele mit Bezug auf die bildende Kunst von ‚Performativität‘ sprechen können und dabei etwas jeweils anderes damit meinen, warum der Gebrauch des Begriffs oft unscharf ist, liegt nicht nur und vielleicht nicht einmal primär in einem theoretischen Defizit, das man nur zu beheben bräuchte, um klar zu sehen. Die Sache ist einfacher und zugleich komplizierter. Folgen wir Austins How to Do Things with Words, dann steht am Beginn seiner Beschäftigung mit dem Performativen nicht die Definition des Begriffs, sondern das Scheitern dieser Definition. Wenn wir dieses Scheitern ernst nehmen und als ein Scheitern mit Methode verstehen, dann muss eine adjektivische, klassifizierende Verwendung des Begriffs in Bezug auf die Kunst scheitern, wie sie auch bei Austin scheiterte, weil sie genau die Idee des Bedeutens wiederherstellt, die das Performative als theoretisches Konzept in Frage stellt. Denn von einem ‚performativen Kunstwerk‘ zu sprechen, ist nicht nur tautologisch, es ist eine Falle, weil es das Performative auf etwas Konstatives reduziert, wo aber doch der Clou bei Austin genau darin liegt, dass sein Text – als Inszenierung – die konstatierende Ebene seiner Aussage unterläuft.

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Mit Austin nach dem Performativen des Kunstwerks zu fragen, würde demnach nicht bedeuten, eine bestimmte Klasse oder Kategorie von Kunstwerken zu definieren, sondern vielmehr die spezifische Art und Weise hervorzuheben, wie das Kunstwerk Bedeutung produziert. Oder genauer: wie es über die Dimension seines Wirkens Bedeutung entstehen lässt; wie sich also Bedeutung und Wirkung, Sagen‘ und Tun‘ im Kunstwerk zueinander verhalten. Was heißt es, wenn ein Kunstwerk sagt‘, was es tut‘, oder vielleicht auch gerade nicht sagt‘, was es tut‘? Diesen Fragen möchte ich nun anhand von zwei Beispielen nachgehen. Das dänisch-norwegische Künstlerduo Michael Elmgreen und Ingar Dragset beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit den politischen und kulturellen Bedeutungen von Räumen.10 Die beiden reflektieren und produzieren Räume, die als künstlerische Inszenierung die Frage nach genau den Verhältnissen aufwerfen, die sie zugleich konstituieren: nach den körperlichen Handlungen, durch die Raum sowohl hergestellt als auch angeeignet wird, und nach den sozialen, politischen und geschlechtlichen Verhältnissen, die sich dabei materialisieren. Im Winter 2001/2002 realisierten die beiden Künstler ein Projekt in der Kunsthalle Zürich. Unter dem Titel Taking Place setzten sie den 6-wöchigen Umbau der Kunsthalle als Ausstellung in Szene (vgl. unten Abb. 1 u. 2). Sie eröffneten mit Beginn der Bauarbeiten, und als diese sechs Wochen später beendet waren, endete auch die Ausstellung. In der Zwischenzeit gerieten die Räume der Kunsthalle in verschiedener Hinsicht in Bewegung: Beständig zwischen einem tatsächlich gegebenen bzw. entstehenden Raum, der „realen“ Baustelle, und einer künstlich/künstlerisch geschaffenen Inszenierung oszillierend, produzierten die beiden Künstler eine Situation, die sich nie festschreiben ließ und die immer wieder neue Situationen hervorbrachte. Die erste Gruppe der Handwerker wurde instruiert, dafür zu sorgen, dass die Baustelle ‚gut aussehe‘, sprich auch unter ästhetischen Gesichtspunkten wahrnehmbar sei. Der Müll wurde weggeräumt, das Werkzeug hatte keine Beschriftungen, die abgerissenen Wände wurden zu Steinhaufen aufgetürmt, die den versierten Betrachter an Minimal-Installationen erinnerten. Aber so wie diese Inszenierung als künstlerische Aussage ‚gelesen‘ werden konnte, produzierte sie auch eine Realität, die diese 10 Die im Folgenden ausgeführten Arbeiten von Elmgreen und Dragset bzw. Tino Sehgal habe ich, mit unterschiedlichem Schwerpunkt, bereits in einem anderen Aufsatz thematisiert. Vgl. Vf.in: „How to Do Things with Art“, in: Erika Fischer-Lichte/Clemens Risi/Jens Roselt (Hrsg.): Kunst der Aufführung. Aufführung der Kunst, Berlin 2004, S. 63-75.

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Aussage überstieg. Denn nach einigen Wochen entwickelte das Projekt seine eigene Dynamik. Neu hinzukommende Handwerker hatten vielleicht andere Vorstellungen von Ästhetik oder kümmerten sich gar nicht um das Kunst-Projekt. Die Situation war offen, unterlag nur begrenzt einer Kontrolle durch die Künstler. Sie bewegte sich ständig zwischen zwei Realitäten, ohne dass die eine der anderen übergeordnet werden konnte. Eine Bewegung, so ließe sich mit Lawrence Weiner sagen, „in Richtung eines theatralen Engagements“;11 ein Ereignis, das, in Anlehnung an Brecht, beides enthält, sowohl die bildlich-distanzierte Darstellung als auch die gemeinsame Verwicklung in ein und dieselbe Situation. Die Bauarbeiter waren Schausteller und Regisseure – und eben Bauarbeiter. Diese Arbeit ließe sich in mehrfacher Hinsicht geradezu paradigmatisch als performativ beschreiben: Sie führt etwas auf, hat also scheinbar keinen Werk-, sondern Ereignischarakter, was sie in die Tradition der Performance stellen würde. Aus einer anderen Perspektive könnte man sagen, die Arbeit mache Performativität zum Thema; sie thematisiert Raum als eine flexible, nicht fixierbare, sprich als eine performative Konstruktion. Aber damit ist man genau in der Falle, von der ich eingangs sprach. Das Performative wird auf seine konstative Dimension reduziert. Interessant an dieser Arbeit ist jedoch, dass sie eben nicht nur die Performativität von Raum konstatiert, sondern diese Aussage selbst zur Inszenierung werden bzw. als Inszenierung erfahrbar werden lässt. Erst das Zusammenspiel dieser Ebenen lässt ‚Bedeutung‘ entstehen, die sich stets zwischen Realitäten bewegt, deren Kontrolle weder den Künstlern noch den Betrachtern oder Akteuren unterliegt. Da auch ansonsten nicht zugängliche Bereiche der Kunsthalle geöffnet wurden, wie z.B. die Büros, verkehrten sich auch in dieser Hinsicht die Verhältnisse von innen und außen, öffentlich und privat. So buchstäblich, wie hier tatsächlicher Raum gestaltet wurde, so buchstäblich erfüllten die Mitarbeiter des Museums ihre Funktion als vermittelnde Instanz zwischen den physischen und den mentalen Räumen der Kunst, wobei auch hier der gesetzte Rahmen einer Inszenierung ihr Tun zu reflektiertem Handeln, sprich zur Performance machte. Somit produziert die künstlerische Arbeit letztlich die Rahmungen, die das eigentliche Kunstprodukt hervortreten lassen: Zuschreibungen von Subjektivität und Objektivität – die sich hier in einem Beziehungsnetz zwischen handelnden und produzierenden Personen vollziehen, die sich in verschiedenen, aber eben sich ständig verändernden Subjektrollen inszenieren. Die Ar11 Vgl. Weiner, Lawrence: Towards a Theatrical Engagement. Ducks on a pond, Gent 1988.

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beit von Elmgreen und Dragset setzt Wirklichkeiten, die sie gleichzeitig als Darstellung objektiviert. Sie stellt her, worüber sie spricht, lässt stattfinden, worauf sie sich bezieht – ohne dass beide Ebenen je identisch würden; sie thematisiert und inszeniert das Verhältnis von materieller und symbolischer Produktion. Hier wird Raum produziert, buchstäblich und symbolisch. Künstlerische und gesellschaftliche Ideen von Produktion werden ausgestellt und gleichzeitig vollzogen und dabei in ein sich ständig rekonfigurierendes Verhältnis zueinander gebracht. Die Performer/Bauarbeiter verkörpern ein klassisches heterosexuell genormtes Produktionsmodell, das sie gleichzeitig objektivieren – innerhalb einer künstlerischen Inszenierung, die materiell gesehen nichts‘ produziert außer den Rahmungen, die das real‘ Produzierte ständig neu perspektivieren. Die spezifische Produktionsökonomie, die ein Kunstwerk zu einem ‚art work that matters‘ macht, ist der Ausgangspunkt der Arbeiten Tino Sehgals. Sehgal ersetzt die Produktion materieller Objekte durch die Inszenierung von Handlungen, ausgeführt durch den sich bewegenden Körper bzw. die gesprochene oder gesungene Stimme beispielsweise von Museumsaufsichten. Auch hier ließe sich das Performative zunächst auf die Dimension des Aufführens‘ reduzieren – aber wiederum greift diese Perspektive zu kurz, denn die Aufführung des Kunstwerks steht in einem spezifischen Verhältnis zu seiner Aussage. Im Frühjahr 2004 wurde im Van Abbemuseum in Eindhoven eine Ausstellung des Künstlers präsentiert, bei der u.a. die Arbeit This is good zu sehen war. Man betrat einen Ausstellungsraum, in dem Kunstwerke der Sammlung präsentiert wurden, die, wie es die Regel vorschreibt, unter der Obacht eines Museumswärters standen. Plötzlich setzte sich dieser in Bewegung, ließ die ausgestreckten Arme in gegenläufiger Bewegung vor seinem Oberkörper kreisen und sprang dabei gleichzeitig mit ebenso gestreckten Beinen von einem Bein auf das andere. Nach einigen Sekunden brach er die raumgreifende Choreographie ab, um nun in mündlicher Form die Informationen vorzutragen, die gemeinhin auf ein Label gedruckt neben dem Werk zu lesen sind: „Tino Sehgal: This is good (2001), Museum Ludwig, Köln“. Anschließend erwartete er mit einem freundlichen Lächeln die Reaktion der Besucherin, gerne bereit, auf Fragen einzugehen. Sobald jedoch ein weiterer Ausstellungsbesucher den Raum betrat, wurde das Gespräch beendet und erneut das Kunstwerk präsentiert. Dieser Vorgang wiederholte sich, mit wechselnder Besetzung, während der gesamten Öffnungszeiten, vom ersten bis zum letzten Tag der Ausstellung.

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Sehgal inszeniert die Objekt-Werdung von Handlungen (nicht von Menschen), die sich im Körper der sie ausführenden Person temporär als Kunstwerk materialisieren. Seine Arbeiten haben keinen Zeichencharakter im konventionellen Sinn. Es sind keine Zeichen, die für etwas anderes stehen; sie repräsentieren keine Bedeutung, die außerhalb ihrer selbst liegt – um eben gerade deshalb die inszenierte Handlung an sich bzw. das Handeln als Bedeutung hervortreten zu lassen. Nicht, was die Handlung bedeutet, nicht ihr repräsentationaler Zeichencharakter ist entscheidend, sondern die Tatsache, dass sie stattfindet, ihre (mit Foucault gesprochen) „enunziative Funktion“ ist bedeutsam,12 weil sie eine andere Form der Produktion vorschlägt – die Produktion von Bedeutung durch Handlungen – die sich, der Logik der Arbeit folgend, nur als Handlungen realisieren können. Nicht in Aussagen, in Meinungen oder Überzeugungen liegt die Bedeutung, sondern in dem, was diese Haltungen generieren, in den Handlungen, in denen sie sich materialisieren. Auf dieser Ebene konstruiert die Arbeit eine Analogie zwischen Handlung‘ und Aussage‘. Indem Marcel Duchamp den Alltagsgegenstand zum Kunstwerk deklarierte, führte er eine Verschiebung im Modus des Bedeutens in die Kunst ein. Das Readymade ist eine Behauptung. Die Signifikanz der künstlerischen Äußerung entsteht nicht durch die repräsentationale Funktion des Zeichens, sondern durch das Faktum seiner Setzung. Das Readymade zeigt nichts außer sich selbst und transformiert sich in dieser Setzung von einer primären Realität als Objekt in eine zweite Realität als Zeichen, die unmittelbar an den Kontext des Museums gebunden ist. Als Marcel Broodthaers 1972 eine Ausstellung mit 250 Adler-Objekten präsentierte und jedes Exponat mit einem Schild versah, auf dem in unterschiedlichen Sprachen zu lesen stand: „Dies ist kein Kunstwerk“, verband er die behauptende Geste Duchamps mit dem analytischen Gestus von Magritte – der mit Ceci n’est pas une pipe das Zeichen in seine Bestandteile, das geistige Bild und den materiellen Signifikanten, zerlegt hatte –, um innerhalb genau des Rahmens, der den Gegenstand zum Zeichen macht, die Struktur dieses Zeichens offen zu legen. Tino Sehgal 12 „Der illokutionäre Akt ist nicht das, was sich vor dem Augenblick der Aussage selbst abgewickelt hat (im Denken des Autors oder im Spiel seiner Absichten); es ist nicht das, was nach der Aussage selbst sich hat vollziehen können in der Spur, die sie hinter sich gelassen hat, und den Konsequenzen, die sie ausgelöst hat; sondern das, was sich durch die Tatsache selbst vollzogen hat, daß es eine Aussage gegeben hat – und genau diese Aussage (und keine andere) unter ganz bestimmten Umständen.“ Foucault, Michel: „Die Aussage definieren“, in: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 111120; Zitat S. 115f.

PERFORMATIVITÄT UND ZEITGENÖSSISCHE KUNST

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verschiebt den Modus des Zeichens und seiner Bedeutung aufs Neue. Es ist weder die Behauptung noch der Gestus des Analysierens oder Dekonstruierens, der seine Arbeiten ausmacht. Die Handlung bedeutet, insofern sie stattfindet, aus- und aufgeführt wird. Entscheidend ist das Faktum ihrer Setzung, der kein analytischer oder dekonstruierender, sondern ein vielmehr affirmativer Zug eigen ist. Das bringt uns zu dem vielleicht interessantesten Aspekt der Diskussion um das Performative eines Kunstwerks: der veränderten Perspektive auf Kritik, die sich nicht über Meinungen artikuliert, über das, was ein Kunstwerk aussagt‘, sondern darüber, was es tut‘, was es bewirkt und was es an Realitäten hervorbringt. In einer von Sehgals Arbeiten wird dem Besucher die Hälfte des gezahlten Eintrittsgeldes angeboten, wenn er als Gegenleistung ein Statement zur Marktwirtschaft abgibt. Bejaht man die Frage, so findet man sich in ein Gespräch über Marktwirtschaft verwickelt, das einem zu einem Passwort verhilft, mit dem wiederum man an der Kasse die Hälfte des Eintrittspreises zurückerhält. Das Kunstwerk inszeniert und reflektiert, es gestaltet seine eigene performative (und letztlich politische) Macht, das herzustellen, worüber es spricht. Mit Jeff Koons gesprochen: „I hope to be a political propagandist“ – „What do you think about the real ones?“ – „I think I am the real one“.13

13 Jeff Koons im Gespräch mit Jérôme Sans, in: KünstlerInnen. Kunsthaus Bregenz/museum in progress (Hrsg.), Bregenz 1997, S. 146-148; Zitat S. 147.

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Abbildungen 1 u. 2: Michael Elmgreen/Ingar Dragset: Taking Place (2001/2002), Zürich: Kunsthalle (Photos: Elmgreen/Dragset)

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SYNÄSTHESIE. VON DEN LITERARISCHEN AVANTGARDEN ZUM TONFILM Zwar stößt das Thema ‚Synästhesie‘ gegenwärtig wieder auf besonderes Interesse.1 Nur vereinzelt wird dabei aber auf die europäischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingegangen, die sich mit mediensynästhetischen Kombinationen und Verfahrensweisen auseinander gesetzt, Medien und Sinne spielerisch zusammengeführt haben. Ebenso wird die Fusion von audio und vision im Tonfilm – vor allem im deutschsprachigen Raum – noch zu sehr einer Filmwissenschaft untergeordnet, die sich primär als Bildwissenschaft versteht. Das hier verwendete Konzept der ‚Mediensynästhesie‘ geht von der Prämisse aus, dass Medien und Sinne nicht voneinander getrennt werden können.2 Marshall McLuhan definiert Medien als „Extensionen des Körpers“.3 So wie 1 Vgl. Adler, Hans/Zeuch, Ulrike (Hrsg.): Synästhesie: Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne, Würzburg 2002, dazu meine Rezension in: Medienwissenschaft – Rezensionen, Reviews, Jg. 4 (2002), S. 439-441; Böhme, Gernot: Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001; Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a.M. 1999; Loenhoff, Jens: Die kommunikative Funktion der Sinne. Theoretische Studien zum Verhältnis von Kommunikation, Wahrnehmung und Bewegung, Frankfurt a.M. 2001; Posner, Roland (Hrsg.): Synästhesie als Zeichenprozess. Zeitschrift für Semiotik, Jg. 1 (2002); Emrich, Hinderk M./Schneider, Udo/Zedler, Markus: Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie: das Leben mit verknüpften Sinnen, Stuttgart 2001; Reck, Hans-Ulrich (Hrsg.): Mythos Medienkunst, Köln 2002. Im Netz gibt es ein Forum zur Synästhesie mit hilfreichen Links (URL: www.synaesthesieforum.de/medien, 5.8.2003). 2 Vgl. Vf.: „Stimme und Blick: Paradoxien synästhetischer Medienrezeption“, in: Navigationen, Jg. 2 (2002), S. 7-16; Filk, Christian/ders./Sandbothe, Mike (Hrsg.): Media Synaesthetics. Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln [2004]. 3 McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle: „Understanding Media“, Düsseldorf u.a. 1992, passim. Vgl. auch Hörisch, Jochen/Wetzel, Michael (Hrsg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870-

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Wahrnehmung immer medial strukturiert ist, setzen Medien, in historisch veränderlichen Konstellationen, die Wechselwirkung und das Zusammenspiel der Sinne voraus. Sie bilden also gleichsam die „historische Grammatik des Verhältnisses von Sinn und Sinnlichem“.4

Klinische und ‚normale‘ Synästhesie Wörtlich bedeutet der aus dem Griechischen stammende Begriff ‚Synästhesie‘ ‚mitempfinden‘ bzw. ‚zusammen wahrnehmen‘. Eine sinnliche Wahrnehmung wird von der Wahrnehmung eines anderen oder mehrerer anderer Sinne begleitet. Man kann zwei Pole der aktuellen SynästhesieDiskussion unterscheiden:

1.

Genuine oder klinische Synästhesie

Synästhesie als neurophysiologisches Phänomen ist zwar statistisch gesehen relativ selten (Schätzungen liegen zwischen 1:1.000 und 1:25.000), wird aber, weil man sich Aufschlüsse über die Funktionsweise des Gehirns und seiner Wahrnehmungsverarbeitung erhofft, von Psychologen, Medizinern und Neurologen seit dem 18. Jahrhundert empirisch erforscht und seit etwa 150 Jahren systematisch zum Gegenstand wissenschaftlicher Kommentare gemacht. Neue Befunde der Hirnforschung, die in den letzten Jahren auch in den Geisteswissenschaften an Einfluss gewonnen haben, sind eher einem vorläufigen Herantasten an das Phänomen, einer Gleichung mit mehreren Unbekannten vergleichbar.5 1920, München 1990 („Armaturen der Sinne“ ist eine schöne Umschrift von McLuhans Formel „Extensionen des Körpers“). 4 Krämer, Sybille: „Sinnlichkeit, Denken, Medien: Von der ‚Sinnlichkeit als Erkenntnisform‘ zur ‚Sinnlichkeit als Performanz‘“, in: Wenzel Jacob (Hrsg.): Der Sinn der Sinne, Göttingen 1998, S. 24-39; Zitat S. 34. 5 Einen Überblick über aktuelle neurologische Hypothesen geben Posner, Roland/Schmauks, Dagmar: „Synästhesie: Physiologischer Befund, Praxis der Wahrnehmung, künstlerisches Programm“, in: ders. 2002 (wie Anm. 1), S. 3-14 sowie Kneip, Stephanie/Jewanski, Jörg: „Synästhetische Wahrnehmung aus neurologischer Sicht“, in: ebd., S. 15-30; bes. S. 21ff.; vgl. auch Emrich, Hinderk M.: „Synästhesie als ‚Hyper-Binding‘“, in: Adler/Zeuch 2002 (wie Anm. 1), S. 25-30; Baron-Cohen, Simon/Harrison, John E.: Synaesthesia: classic and contemporary readings, Cambridge 1997; Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2002, zur Substitution der Sinne und zum Fehlen eines Steuerungszentrums sinnlicher Informationen im Gehirn siehe dort, S. 30ff., 43ff. u. 87ff.

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Wenn man Synästhesie als Vermischung der Sinne, Verknüpfung von Sinneswahrnehmungen definiert, heißt das: Bei der Stimulation einer Sinnesqualität (z.B. Hören, Sehen, Riechen) werden unwillkürlich eine oder mehrere andere Sinnesqualität(en) wahrgenommen. Eine – verhältnismäßig große – Anzahl von Synästhetikern sieht beispielsweise, wenn sie Musik hört, Farben und geometrische Figuren (so genannte Chromästhesie oder audition colorée). Unwillkürlichkeit und Subjektivität synästhetischer Erfahrungen werfen für die empirische Forschung, d.h. für die klinische Psychologie und Neurologie, Validationsprobleme auf – was der geheimnisumwitterten Faszination des Phänomens nicht abträglich gewesen ist. Kevin T. Dann hat sich in einer wissenschaftshistorischen Studie dazu kritisch geäußert: Am Schnittpunkt von anthroposophischen, esoterischen, medizinischen und ästhetischen Diskursen bildet sich Anfang des 19. Jahrhunderts die utopisch-transzendente Vorstellung heraus, durch die kulturgeschichtliche Spezialisierung unserer Sinne sei ein ursprüngliches, ganzheitliches Wissen verloren gegangen.6 So kann man sich fragen, ob die Wahrnehmung in der Kindheit bzw. in archaischen Gesellschaften synästhetische Züge trägt, die später rationalisiert und separiert werden.7 In halbwissenschaftlichen Abhandlungen des 19. Jahrhunderts und noch heute in der illustren New-Age-Literatur liest man, es komme darauf an, die ursprüngliche onto- und phylogenetische Veranlagung zu restituieren oder ihr zumindest wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, um der Sinnesverstümmelung einer auf Sehen und Hören abstellenden (Medien-)Gesellschaft entgegenzuwirken. Die Abgrenzung zwischen Normalität und ‚Abweichung‘, echter und abgeleiteter Synästhesie (schon die Begriffe sind problematisch) ist aber oft schwierig, weil synästhetische Erfahrung kaum objektivierbar (nachprüfbar) ist. „So ist beispielsweise auch bei dem Komponisten Skrjabin unklar, inwieweit echte Synästhesie, Randgruppensynästhesie oder lediglich eine assoziativ-imaginative Leistung vorlag.“8 Diese Frage nach der Abgrenzung zwischen originärer und abgeleiteter Synästhesie ist einer der strittigen Punkte der Synästhesieforschung – somit auch die Frage des Übergangs: inwieweit ‚pathologische‘ Synästhesie grundsätzlich Wahrnehmungsprozesse erklären kann. Gert Mattenklott widerspricht der These, Synästhe6 Vgl. Dann, Kevin T: Bright Colors Falsely Seen: Synaesthesia and the search for transcendental knowledge, New Haven/London 1998. 7 Vgl. Behne, Klaus-Ernst: „Über die Untauglichkeit der Synästhesie als ästhetisches Paradigma“, in: Jacob 1998 (wie Anm. 4), S. 104-125; siehe S. 116. 8 Emrich, Hinderk M.: „Synästhesie, Emotion und Illusion“, in: ebd., S. 126139; Zitat S. 134.

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sie sei an sich bereits ein höherer, den Einzelsinnen übergeordneter oder überlegener Modus: Die „Spezialisierung und Steigerung des isolierten Partialsinns“, die „Abspaltung und Hypertrophie des einzelnen Sinns“, etwa des Sehsinns, sei kein „defizienter Modus eines Ganzen“, sondern eine zivilisationsgeschichtliche „Erkenntnisleistung“, die Ausschnitte „der gegenständlichen Welt“ verfügbar mache, „die ohne diese Spezialisierung unerkannt“ geblieben wären.9

2.

Metaphorische oder normale Synästhesie

Hirnforscher ziehen zwischen ‚pathologischen‘ und ‚normalen‘ Sinneskoppelungen meist eine klare Grenze und sprechen bei Nicht-Synästhetikern von „intermodaler Analogie“ bzw. „schwacher“ oder „metaphorischer Synästhesie“.10 Im Gegensatz zur genuinen oder klinischen Synästhesie beruht, nach der gängigen Definition, die normale, prinzipiell uns allen zukommende Synästhesie auf willkürlich erzeugten Analogien. Diese Definition scheint mir jedoch zu eng gefasst. In unserem Sensorium wirken willkürliche und unwillkürliche Wahrnehmungsanteile zusammen. Begleitvorstellungen, interferierende Sinnesimaginationen rufen wir nicht nur willentlich auf. Marcel Prousts mémoire involontaire ist dafür ein prägnantes Beispiel. Für einen neuen Blick auf die Avantgarden ist die so genannte metaphorische Synästhesie von besonderem Interesse, d.h. die künstlerische Analogiebildung und Sinnesfusion, die artifizielle Erzeugung synästhetischer Wahrnehmungen. Eine rein produktionsästhetische Betrachtung 9 Mattenklott, Gert: „Gehörgänge. Erkennen durch die Stimme“, in: Claudia Benthien/Christoph Wulf (Hrsg.): Körperteile: Eine kulturelle Anatomie, Reinbek 2001, S. 66-83; Zitate S. 66f. Michael Giesecke betont hingegen, mit kulturpessimistischerem Beiklang, den Verlust synästhetischer Wahrnehmung durch die Dominanz einzelner Sinne. Die typographische Massenkommunikation der Gutenberg-Galaxis habe die übrigen Sinne unterdrückt: „Mit politischer und physischer Gewalt verdrängte man individuelle synästhetische Erkenntnisformen zu Gunsten des genormten Sehens. [...] Die Geschichte der typographischen Massenkommunikation ist nicht nur eine Geschichte der Befreiung, sondern auch eine solche der Unterdrükkung, der Versklavung der Sinne, der Prämierung von Eindimensionalität“. Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt a.M. 2002, S. 160f. 10 Cytowic, Richard E.: „Wahrnehmungs-Synästhesie“, in: Adler/Zeuch 2002 (wie Anm. 1), S. 7-24; Zitate S. 7. Vgl. auch Behne, Klaus-Ernst: „Synästhesie und intermodale Analogie – Fallstudie eines Notations-Synästhetikers“, in: ebd., S. 31-41.

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wäre zu einseitig. Es muss ebenso die Seite des Rezipienten einbezogen werden, der Synästhesien nachvollzieht bzw. selbst investiert. „Um die volle Empfindung eines einzelnen Sinns zu ermöglichen“, schreibt Christoph Wulf, „wirkt in jeder spezifischen Sinneswahrnehmung die Gesamtheit der übrigen Sinne mit“.11 Macht man sich klar, dass in jede Sinneswahrnehmung, etwa die des Gehörs, andere Sinne, wie der Gesichtssinn, hineinspielen, so wird die Relevanz des Forschungsfeldes für unterschiedliche Disziplinen wie Neurologie, Philosophie, Medien-, Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaften deutlich. Inaktive Sinne werden geschärft und verstärkt durch Konzentration auf einen Sinn. Ein Beispiel ist das Radio-Hörspiel. Hier substituiert und ergänzt unser Gehirn Bildvorstellungen, die akustisch evoziert werden. Man kann es aber auch umgekehrt formulieren: Die nicht-aktivierten, latent bleibenden Sinne verstärken den aktivierten Sinn. Das Hören wird gleichsam visuell, haptisch etc. unterstützt. Die Fernsehwerbung eines Radiosenders lautet daher nicht ganz unberechtigt: „Wer hören will, muss fühlen“ – auch wenn man das Wortspiel mit der Drohung der schwarzen Pädagogik etwas aufdringlich finden mag.

Synästhesie der literarischen Avantgarden Im Surrealismus, Expressionismus und Futurismus, ebenso im Bauhaus,12 war Synästhesie als Gegenentwurf zur rationalistischen Aufspaltung der Sinnesvermögen gedacht. Die Romantiker entwarfen bereits Konzepte und Utopien der Sinnesverschmelzung und -synthese. So heißt es in Novalis’ Ofterdingen: „‚alle Sinne sind am Ende ein Sinn‘“.13 In E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Kreisleriana“, die Robert Schumann vertont hat, erlebt der Erzähler vor dem Einschlafen „‚eine Übereinkunft der

11 Wulf, Christoph: „Das gefährdete Auge – Ein Kaleidoskop der Geschichte des Sehens“, in: Dietmar Kamper/ders. (Hrsg): Das Schwinden der Sinne, Frankfurt a.M. 1984, S. 21-45; Zitat S. 21. 12 Vgl. dazu Düchting, Hajo: „Synästhetische Vorstellungen am Bauhaus“, in: Adler/Zeuch 2002 (wie Anm. 1), S. 249-258. 13 Zitiert nach Hadermann, Paul: „Synästhesie: Stand der Forschung und Begriffsbestimmung“, in: Ulrich Weisstein (Hrsg.): Literatur und bildende Kunst: Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, Berlin 1992, S. 55-72; Zitat S. 68. An der Ludwig-Maximilians-Universität München gibt es ein Projekt zur Intermedialität und Synästhesie der Romantik: Näheres (auch Texte online) findet man unter URL: www.goethezeit.org/fd/p/intermedialitaet, 5.8.2003.

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Farben, Töne und Düfte‘“.14 Kreisler komponiert nach den musikalischen Klangfarben ein Prosagedicht. Anknüpfend an Baudelaires „Correspondances“ und Rimbauds „Voyelles“ zielen Techniken und intermediale Experimente der Avantgarden – besonders durch Montage und Collage – auf synästhetische Rezeptionseffekte. Die Futuristen erproben in Musik, Malerei und Literatur Formen der synästhetischen Durchdringung – gemäß ihrer „Vorstellung einer dynamischen Einheit der Erscheinungswelt, eines universellen Dynamismus der Rhythmen, Farben, Töne, Alltagsgeräusche, Energien, Intensitäten“.15 Synästhesie bedeutet für die von der bunten und collagehaften Großstadtwahrnehmung inspirierten Autoren Marinetti und Carrà eine „‚Form des poetischen Widerstands gegen [...] funktionale Verdinglichung der Sinne, auch gegen die starre dualistische Entgegenstellung von Subjekt und Objekt im Prozess der Wahrnehmung.‘“ In einem futuristischen Manifest werden „‚alle Farben der Bewegung‘“ und des „‚phantastischen Karnevals‘“, „‚Intensitäten der Vibration‘“ propagiert, mit dem Ziel, „‚dass eine beliebige Aufeinanderfolge von Tönen, Geräuschen, Gerüchen dem Sinn eine Arabeske von Formen und Farben einprägt.‘“16 Die in der lyrischen Rede „befreiten Worte [...] sind laut gewordenes Pulsieren der Wahrnehmungsintensität aller Sinne, der Vibration“.17 Ganz ähnliche Formulierungen finden sich in Artauds Schriften zum Theater und den Texten und Programmen der Surrealisten. Futurismus und Surrealismus betreiben eine „Medialisierung“, eine „fragmentierende Entgrenzung und Beschleunigung der Sinne“: „Der Sinn der surrealistischen kombinatorischen Figuration der Sinne“, fasst Brüggemann zusammen, „ist nichts anderes als die Aufhebung des Sinns selber, der Entzug des Sinns“.18 Statt auf Analogiebildung und Illustration von Beziehungen liegt also der Akzent auf Diskordanz der Sinne, wie sie z.B. Apollinaire in seinen Formgedichten umgesetzt hat.19 Wir verwenden ständig synästhetische Metaphern, reden von ‚bitterer Kälte‘, ‚hohen‘ und ‚tiefen Tönen‘, ‚rauen Stimmen‘, ‚schreienden Farben‘, ‚klirrender Kälte‘. Über diese Alltagsmetaphorik hinausgehend, 14 Zitiert nach Hadermann 1992 (wie Anm. 13), S. 69. 15 Brüggemann, Heinz: „Diskurs des Urbanismus und literarische Figuration der Sinne in der Moderne“, in: Jacob 1998 (wie Anm. 4), S. 362-400; Zitat S. 378. 16 Carrà, Carlo zitiert nach ebd. 17 Brüggemann, ebd. 18 Ebd., S. 379f. u. 390. 19 Vgl. Schuldt: „Rhythmus : Fremdheit : Entmischung“, in: Jacob 1998 (wie Anm. 4), S. 40-50.

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stiftet die écriture automatique der Surrealisten überraschende Verbindungen zwischen den Sinnen und ihren Objekten (wie schon Bretons Vorstellung signalisiert, das Unbewusste und die Realität befänden sich durch vases communicants in stetigem Austausch) – Verbindungen, die in Anknüpfung an Baudelaire und andere Symbolisten von vertrauten „Wahrnehmungsnormen“ abweichen.20 Die Sinne und ihre Organe, die Körperteile, Auge, Ohr, Haut, Hände, Nase, Geschlechtsorgane, führen im „surrealistischen Karneval ein ‚Eigenleben‘.“ Die Einheit des Körpers wird in den „Träumen, Phantasien und Phantasmen“ „immer wieder zugunsten eines chaotischen und in seine Teile ‚zerlegten‘ oder ‚zerrissenen‘ Körpers transzendiert“.21 Diese „Heterotopie körperlicher Erfahrung“22 gehört unmittelbar zur Synästhesie selbst – wie in der berühmten Sequenz in LE CHIEN ANDALOU (1928), in der eine Rasierklinge zu einem Augapfel in Großaufnahme geführt wird. Nach einem Schnitt, der den Schock scheinbar ausspart (Wolken ziehen vor dem Mond vorbei), schneidet der Film wieder zum Auge zurück und zeigt den (Film-)Schnitt als Schockeffekt, der heute noch Unbehagen hervorruft. Verstümmelungen des Blicks und der Augen, Metamorphosen und Entgrenzungen der Sinnesorgane finden sich in vielen surrealistischen Gemälden und Photographien: In Victor Brauners Gemälde Autoportrait ist ein Auge ausgestochen; in seinem Bild Das Glühwürmchen visualisiert Brauner die Taktilität des Blicks.

Synästhesie des Tonfilms Die Übergangsphase vom Stummfilm zum Tonfilm ist für die Analyse medien- und wahrnehmungsgeschichtlicher Transformationen besonders aufschlussreich.23 Umso überraschender ist es, dass diese Phase in der Filmgeschichtsschreibung häufig nur unter technikgeschichtlichen und werkhermeneutischen Aspekten betrachtet wird. So wäre etwa die Pantomime als synästhetische Kategorie zwischen Film und Theater im Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm neu zu diskutieren. Im Folgenden möchte ich zwei Regisseure, die dem surrealistischen Film zuzuord20 Gross, Sabine: „Literatur und Synästhesie: Überlegungen zum Verhältnis von Wahrnehmung, Sprache und Poetizität“, in: Adler/Zeuch 2002 (wie Anm. 1), S. 85-87. 21 Benthien, Claudia/Wulf, Christoph: „Einleitung. Zur kulturellen Anatomie der Körperteile“, in: diess. 2001 (wie Anm. 9), S. 9-26; Zitate S. 16. 22 Ebd., S. 22. 23 Vgl. dazu Vf.: „Renoir und der Tonfilm“, in: ders./Volker Roloff (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003, S. 31-50.

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nen sind, näher untersuchen; zwischen beiden liegt eine Zeitspanne von einem halben Jahrhundert, die die Aktualität surrealistischer Verfahrensweisen im Film unterstreicht: Hans Richter und Matthew Barney. Am Ende der Stummfilmära gab es ein markantes Datum für konkrete medien(syn)ästhetische Experimente dieser Zeit: eine Berliner Matinee im Jahr 1925 mit dem Titel DER ABSOLUTE FILM. Die Regisseure René Clair, Hans Richter, Walter Ruttmann und der Maler Fernand Léger experimentierten mit bewegten Farben, Tönen und Formen, einer Verbindung von Film, Musik und Malerei – im historischen Kontext (pseudo-)wissenschaftlicher und künstlerischer Synästhesie-Projekte.24 Hans Richter stand in Kontakt mit den Pariser Dadaisten und Surrealisten. Sein 1944-47 in den USA entstandener Film DREAMS THAT MONEY CAN BUY hat die Verwirklichung von Träumen zum Thema. Verschiedene Personen – ‚Klienten‘ – begeben sich zu einer Agentur, wo eine Art Traumsekretär – ein junger Mann, der plötzlich seine Fähigkeit entdeckt, Träume herzustellen – gegen Bezahlung die Verwirklichung individueller Träume bewerkstelligt. Richter forderte befreundete surrealistische Künstler auf, Vorlagen für seinen Episodenfilm zu liefern: Eine Episode schließt an Max Ernsts Collageroman Desire an, andere Episoden des Films beruhen auf Bildern von Fernand Léger, Photos von Man Ray, Mobiles von Alexander Calder und Installationen Marcel Duchamps. Richter gestaltete aus den Vorlagen und Vorbildern ein synästhetisches Spiel zwischen Musik, Animationen und bewegten Formen und Farben. Im Soundtrack verwendet er Musik von Duke Ellington, Milhaud, Cage, David Diamond and Paul Bowles. Alexander Calders sich drehende, puppenähnliche Mobiles, um nur eine Episode herauszugreifen, bilden zusammen mit den unterschiedlichen Kameraperspektiven einen Rhythmus, eine visuelle Musik, ein synästhetisches Ballett, das durch den Rhythmus der Montage skandiert wird. Unter dem Gesichtspunkt synästhetischer Verbindungen und Wechselwirkungen ist der Tonfilm noch kaum aufgearbeitet worden. Hinweise und Vorüberlegungen bei Balász (der z.B. von ‚Tongesten‘ spricht), Morin, Arnheim, Eisenstein, Pudowkin, Deleuze u.a. könnten in diesem Sinne neu perspektiviert werden. Zudem fehlt eine allgemeine Theorie der musikalischen Wahrnehmung und der Verarbeitung klangli-

24 Vgl. Jewanski, Jörg: „Die neue Synthese des Geistes. Zur SynästhesieEuphorie der Jahre 1925-1933“, in: Adler/Zeuch 2002 (wie Anm. 1), S. 239-248; bes. S. 243f.

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cher Informationen25 – und daher auch trotz älterer Studien zur Filmmusik26 (Eisler/Adorno, de la Motte/Emons eine Theorie und Geschichte der Filmmusik. Zu Recht bemerkt Gerhard Lampe: „Desiderate der Filmtheorie liegen heute noch immer in der Analyse der Synästhesie der Töne.“27 Innerhalb der Filmgeschichte kann man zwei Tendenzen der Synästhesie des Films unterscheiden: 1. Die Kombination verschiedener Ausdruckformen des Films (Bilder, Musik, Farben, Geräusche) ist gegen die Dominanz der Sprache als rationales Gefüge, besonders gegen den Dialog gerichtet, die Form rationaler Verständigung. Ein Beispiel ist Buñuels und Dalís Versuch in L’AGE D’OR (1930), das Geplante und Rationale auszuschalten und durch freie Assoziationen und Einfälle zu ersetzen. Ein aktuelles Beispiel für die synästhetische Substitution der gesprochenen Sprache im Film ist Matthew Barneys fünfteiliger Filmzyklus THE CREMASTER CYCLE (1994-2002; Abb. 1 u. 2), der zusammen mit einer Ausstellung (Skulpturen und Photos, die Motive des Films aufnehmen und zitieren) 2002 im Kölner Museum Ludwig zu sehen war.28 Barneys Filmzyklus kann man durchaus der Sparte ‚Neosurrealismus‘ zuschlagen – verstanden als Weiterführung des intermedialen Surrealismus. Barney spielt mit surrealistischen Kombinationen, Wiederholung und Variation, Korrespondenzen, Symmetrien, geometrischen Formen, Ornamenten und „Heteroästhesien“.29 Sein CREMASTER CYCLE erweitert jene Phantasien, die Baudelaire in seinem Gedicht „Correspondances“ bereits entworfen hatte: Der Film spielt mit Korrespondenzen zwischen verschiedenen Sinnen, Bewegungsmustern, Landschaften, Architekturen, Erzählungen, Farb- und Lichtwirkungen und vor allem der Musik, zwischen Organischem und Anorganischem, Körper- und Dingwelt. Er zielt weniger auf eine folgerichtige Handlung oder Narration, sondern auf Affekt, Sensation und Intensität – das „Atmosphärische“ im Sinne von Ger25 Vgl. Klüppelholz, Werner: „Filmmusik“, in: Helmut Schanze (Hrsg.): Metzler Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2002, S. 97-99. 26 Eisler, Hanns/Adorno, Theodor W.: Composing fort he Films, New York 1947; de la Motte-Haber, Helga/Emons, Hans: Filmmusik. Eine systematische Beschreibung, München 1980. 27 Lampe, Gerhard: „Filmtheorie“, in: Schanze 2002 (wie Anm. 25), S. 110114; Zitat S. 114. 28 Vgl. den Ausstellungskatalog Matthew Barney: The Cremaster Cycle (Museum Ludwig). Nancy Spector (Hrsg.), Köln 2002; Vf.: „Matthew Barneys taktile Bilder“, in: Filk/ders./Sandbothe [2004] (wie Anm. 2). 29 Waldenfels 1999 (wie Anm. 1), S. 11.

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not Böhme.30 Die Energie, die Gefühlsintensitäten, die die Figuren in manischer Aktivität freisetzen, werden um ihrer selbst willen verschwendet und verbraucht. Barney hat sich ein paradoxes Problem gestellt: Wie kann man Taktilität im Film visualisieren? Wie kann man Körperlichkeit und Skulpturalität in Bilder überführen? Er unternimmt den Versuch, die bewegten Bilder haptisch, taktil werden zu lassen. Immer wieder verweisen die Bilder auf Materialbeschaffenheit und Veränderlichkeit der Substanzen – auf deren Transformationen und Metamorphosen. Etwa dann, wenn im Chrysler-Building die stock cars ein Geflecht aus schwarzem, abgeriebenem Gummi über den Parkettbogen ziehen. Die Bilder scheinen porös, greifbar zu werden. Wenn man Charakteristika für Barneys Film sucht, kommt man zwangsläufig auf substantivierte intermodale Sinnesadjektive: das Klebrige, Viskose, Zähflüssige, Körnige, Porige, Grobe, Weiche, Schmierige, Geschmeidige etc. Wie können, so lautet Barneys Kardinalfrage, die Nahsinne von den kulturell prämierten Fernsinnen Gesicht und Gehör aufgesogen, inhäriert werden? Dies gelingt nur durch die Ausschweifung und Verausgabung der Bewegungsenergien, die selbst absurd, sinnlos sind, nur dem einen Zweck dienen, die zweidimensionalen Bilder schmierig, körnig, klebrig, perforiert, durchlöchert, wuchernd erscheinen zu lassen.

30 Vgl. Böhme 2001, S. 59ff.

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Abbildung 1 u. 2: Matthew Barney: THE CREMASTER CYCLE

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2. ,Kontrapunktik‘, neue Komplexität von Ton, Sprache und Bild, Neuformulierung des audiovisuellen Pakts. Dies ist mutatis mutandis die These von Chion und Deleuze. Sprache, Dialoge werden nicht als – zu überwindendes – einseitiges, rationalistisches, an den alten Künsten Theater und Literatur orientiertes Konzept verstanden, sondern Sprache und Stimme gewinnen durch neue Kombinationen mit den Bildern und Tönen eine andere Funktion, indem sich Zwischenräume, Heterotopien, Disparitäten, ‚Reibungen‘ zwischen Ton und Bild ergeben. Der audiovisuelle Pakt, der an Nachvollziehbarkeit und Kohärenz orientiert ist, der sich an unsere Erfahrungswelt im Alltag rückkoppelt, wird gebrochen, dekonstruiert und neu ausgehandelt, mit neuen Freiheiten ausgestattet. Akustische und visuelle Parameter werden autonom – oder genauer: „heautonom“,31 ‚irrationale‘ Brüche zwischen Sprache und Bild sind nicht mehr verpönt. Die alten Regeln, nach denen Bild und Ton aneinander kleben, gelten nicht mehr. In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend auf eine aktuelle Diskussion hinweisen, die der synästhetischen Analyse des Films neue Impulse geben kann: die Medialität der Stimme. Ich greife dabei auf Überlegungen zurück, die kürzlich Reinhart Meyer-Kalkus und Bernhard Waldenfels präsentiert haben. In einer grundlegenden Studie widmet sich Meyer-Kalkus der Stimme und den Sprechkünsten im 20. Jahrhundert. Unsere Einbildungskraft gebe sich mit disembodied voices nicht zufrieden.32 Wir schlössen zwangsläufig auch bei körperlosen Stimmen auf Physiognomien und Körperbilder zurück. Meyer-Kalkus spricht von der „innere[n] Bühne“ des Gehirns: „Ausdruckswahrnehmung, Einbildungskraft und Erinnerung ergänzen, was dem Auge oder Ohr durch die Medien jeweils vorenthalten bzw. nur zerstückelt geboten wird.“33 Überlagerung, Übermittlung und Verstärkung der Sinneskanäle, d.h. multisensorische Erfahrung, sei nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall. Bereits der Filmvorspann als intermedialer Paratext, der Schriftbilder und Schrifttypen, typographische Dynamisierungen mit Bildern und Tönen verschweißt, ist dafür ein markantes Beispiel. Im Kinosaal setze 31 Vgl. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1991, S. 327ff. Der Begriff „Heautonomie“, in dem ‚Heteronomie‘ und ‚Autonomie‘ anklingen, bedeutet nach Deleuze: Bild und Ton sind als freier indirekter Komplex verbunden. Sie reichen jeweils an die Grenze heran, die sie voneinander trennt und sie zugleich aufgrund dieser Trennung aufeinander bezieht, indem beide Komponenten – Bild und Ton – je an ihre eigene Grenze stoßen. 32 Meyer-Kalkus, Reinhart: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 453. 33 Ebd., S. 48.

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die „Disziplinierung der Körper durch Raum und Inszenierung“ das Imaginäre frei.34 Der Film steuere unsere Aufmerksamkeit und provoziere zugleich unsere Einbildungskraft. Bei der Tonfilmrezeption fusioniere die Einbildungskraft mehrere Sinnesbereiche, fülle Leerstellen aus und konstruiere (neue) Zusammenhänge zwischen a) Bildern, b) Tönen und c) Bildern und Tönen.35 Meyer-Kalkus bezieht sich hier auf Michel Chion, dessen Publikationen zur Stimme, zum Ton im Film und zur Synästhesie der Audio-Vision36 – eine umfangreiche, grundlegende und weit greifende Pionierarbeit – im deutschen Sprachraum immer noch zu wenig beachtet werden. Klaus-Ernst Behne hat kritische Einwände gegen die These erhoben, Audio-Vision habe etwas mit Synästhesie zu tun: Die Tonfilmrezeption sei gerade nicht synästhetisch, weil bei der Synästhesie jene „erlebte Dimension des Stimulus nicht gegeben ist“, die im Medium Tonfilm mitgeliefert werde.37 Ähnlich argumentiert Hadermann, der beim Tonfilm keine „Übertragung innerhalb der Sinnesbereiche“ anerkennt, weil jeder Sinn „in der ihm gemäßen Weise“ auf den Betrachter einwirke, „ohne daß eine ‚Folgevorstellung‘ eintritt.“ Diese trete nur ein, wenn man etwa beim Tonfilm die Augen schließt.38 Der Einwand blendet jedoch aus, dass Audio-Vision die Wahrnehmung beider Parameter transformiert, des Sichtbaren wie des Hörbaren, und einen ästhetischen Zusatzwert („added value“) schafft, wie Chion erläutert: „Cinema can give us much more than Rimbaudian correspondences (,Black A, white E, red I‘); it can create a veritable intersensory reciprocity.“39 Indem der Ton auf die Gestaltung der Bilder zurückwirkt, die Bilder auf die Gestaltung des Tons, ergeben sich Synergieeffekte. Es gibt viele Beispiele für eine disjunktive oder ‚heautonome‘ Beziehung von Visuellem und Akustischem in surrealistischen Filmen und bei Regisseuren, die an surrealistische Verfahrensweisen anknüpfen – wie Buñuel, Dalí, Godard, Greenaway, Lynch, Barney u.a. Schon Renoir hat die Grundregel für die

34 Ebd., S. 52. 35 Ebd., S. 53. 36 Chion, Michel: La voix au cinéma, Paris 1993 (réédition) und ders.: L’audio-vision, Paris 1990, beide auch in englischer Übersetzung: The Voice in Cinema, New York 1999 und Audio Vision. Sound on Screen, New York 1994, sowie eine Reihe weiterer Bücher des Autors zu Ton, Geräusch und Musik im Film. 37 Behne 2002 (wie Anm. 10), S. 105. 38 Hadermann 1992, S. 71. 39 Chion 1994 (wie Anm. 36), S. 134.

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‚Heautonomie‘ von Bild und Ton formuliert: „Wenn das Bild sagt: ‚Ich liebe dich‘, so muß die Musik dazu sagen: ‚Du kannst mich mal!‘“40 Bernhard Waldenfels hat auf der Kölner Tagung „Medien/Stimmen“ (2002) in seinem Vortrag die Medialität der Stimme einer phänomenologischen Reduktion unterzogen. Der Fehler bisheriger Ansätze sei gewesen, dass diese von der Produktionsseite des Akustischen ausgingen statt vom Hören als „Auffälligwerden“. Die phoné als Stimme des logos bringe die fremde Stimme a priori zum Schweigen. Sprechen hat immer auch etwas Anarchisches, das die Fremdheit der eigenen Stimme anzeigt. Es gibt keine reine Seelenstimme. Diese Andersheit im Hören selbst bezeichnet Waldenfels – in seinem Buch Sinnesschwellen – als „Heterophonie“: Fremdheit macht sich auch im Bereich der Sinne geltend in Form von Abweichungen, Störungen, Beunruhigungen, von Gegenrhythmen, blinden Flecken, Echowirkungen, Heterophonien, Heterotopien und Gleichgewichtsstörungen, in all dem, was aus dem Rahmen fällt, den uns eine autonome Ästhetik vorgibt. [...] Die Sinne entfachen ein eigentümliches Ethos, das die klassische Unterschei41 dung von Autonomie und Heteronomie unterläuft.

Die Stimme erleide von vornherein einen Stimmbruch, im Sinne von Lévinas sei sie ‚Klang, der in seinem eigenen Echo widerklingt‘ und insofern, als Resonanzphänomen, mit dem Reflex des Spiegels vergleichbar. So wie dem Blick selbst das Auge, der Sichtpunkt schon immer entzogen bleibt, gibt es auch eine genuine Selbstdarstellung im Hören, die dem blinden Fleck des Sehens entspricht. Hören schließt Nichtgehörtes mit ein. Das Hörereignis selbst (die Vibration) entgleitet mir schon immer. Jede phoné schließe, etwa in Pausen, im Zögern, Stocken und Stottern, die Nicht-phoné mit ein.

40 Zitiert nach Meyer-Kalkus 2001, S. 58. 41 Waldenfels 1999, S. 14f.

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ORGANISCHE ARCHITEKTUR ALS KINO: ZUR MEDIALITÄT DES FENSTERS IM FUTURISMUS Von der Disziplin der Architektur ist man es gewohnt, dass allerorts in Visionen und Utopien gedacht wird. Gerd de Bruyn hat in seinem Buch Die Diktatur der Philanthropen eindrucksvoll beschrieben, wie Urbanisten und Architekten von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne an Entwürfen gearbeitet haben, die aus einer letztlich pervertierten Menschenliebe heraus der jeweiligen Gesellschaft regelrechte Diktaturen des Guten und Schönen verschreiben wollten.1 Diese Abrechnung mit der Moderne, die im Verdacht steht, vor lauter Humanismus den Menschen verloren zu haben, greift die Postmoderne seither auf, um die vielfältigsten Gegenmodelle zu entwickeln. Dabei scheint es, als habe man die Utopie durch eine anhaltende Ironie und Nostalgie ersetzen wollen. Statt die Neuformulierung der Zukunft anzugehen, beließ man es beim Zitat der Vergangenheit. Aber auch diese Alternative zur Utopie hat sich inzwischen überlebt bzw. war ästhetisch allzu rasch ausgereizt. Heute findet man daher wieder eine gezielte Hinwendung zum futuristischen Bauen – ganz so, als könne man ohne diese Perspektive nicht auskommen. Betrachten wir ein aktuelles Beispiel: Der amerikanische Architekt Daniel Libeskind, als dessen bekanntester Bau wohl das Jüdische Museum in Berlin zu nennen ist, hat in der Serie „Ich habe einen Traum“ der Wochenzeitung Die Zeit eine Vision zu seiner Architektur der Zukunft entwickelt. Ich fasse diesen Traum hier verkürzt in seinen Worten zusammen: Ich träume seit über drei Jahren von einem gigantischen Bahnhof. [...] ein fantastischer Untergrundbahnhof, halb viktorianisch, halb hässliche New Yorker Subway, ein bisschen Piranesi. [...] Er ist nie fertig, immer im Entstehen. [...] Vor allem dominiert der Horizont, eine Anmutung, die nicht gerade typisch für Bahnhöfe ist. Zudem 1 Siehe de Bruyn, Gerd: Die Diktatur der Philanthropen: Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken, Braunschweig u.a. 1996.

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ANNETTE GEIGER bleibe ich gefangen in Lichtgewölben. Alle großen Bahnhöfe haben diese Gewölbe, jenseits derer man eine andere Welt nur ahnt.

Bezug nehmend auf ein Aquarell von Albrecht Dürer „träumt“ Libeskind weiter: Man sieht, wie die Wasserströme in riesigen Säulen vertikal herunterfließen; sie sehen fast aus wie auf dem Kopf stehende Pilze. [...] Der Bahnhof ist eine Welt der Dunkelheit, wie sie Etienne Boullée [...] beschrieb. [...] Bei mir sind es die auf dem Kopf stehenden Gebäude, die eher vom Himmel herunterhängen als auf der Erde fußen. Sie berühren den Boden nicht einmal. [...] Seltsam ist, dass ich diesen Bahnhof nie von außen betreten habe, ich bin immer schon drin. Die Gewölbe ändern sich von Mal zu Mal, doch ähneln sie immer mehr dem alten Rom – daher auch die Verbindung zu Piranesi. [...] Wenn es diesen Horizont nicht gäbe, wäre das alles ein Alptraum, weil ich ein Gefangener in diesem riesigen, labyrinthischen Bahnhof bleiben würde. [...] In meinem Traum ist der Bahnhof keine Maschine, sondern so intim und fantastisch wie bei Jules Verne. Ich will den Horizont, die hängenden Gebäude, das Tageslicht in diese Konstruktion hineinbringen. Wahrscheinlich werde ich erst erfahren, was hinter dem Horizont steckt, wenn das Traumprojekt verwirklicht wird. Dann werden wir sehen, ob mein Traum tatsächlich eine prophetische 2 Bedeutung hat.

Dieses seltsame Gebäude, das sich aus Referenzen der Architektur-, Kunst-, Film- und Literatur-Geschichte zusammensetzt, schien mir beim ersten Lesen bereits seltsam vertraut. Man meint den Science-FictionFilm bereits gesehen zu haben, in dem ein solcher Bahnhof den Zuschauer in die Zukunft der Architektur entführt. Die vielfältigen Zitate helfen also, diese noch unsichtbare Architektur vorstellbar zu machen. Die Zukunft wird an die Vergangenheit gebunden, um als Fiktion rezipierbar zu sein. Die von Libeskind beschriebene Vision geht aber auch über das Vorstellbare hinaus: Sie vereint Merkmale, denen eine gebaute Architektur kaum entsprechen könnte. Der Bahnhof soll organisch, fließend und schwebend sein, eine unterirdische Höhle, zu der es kein Außen mehr gibt, die aber doch einen Horizont hat, der Licht verströmt, selbst wenn das Ganze als Ort der Dunkelheit konzipiert ist. Diese dem Baubaren eigentlich widersprechenden Charakteristika sind es wohl, die 2 Libeskind, Daniel in der Reihe „Ich habe einen Traum“, in: Die Zeit, Nr. 31 (24.7.2003), S. 58.

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uns sogleich an die fiktionalen Räume des Kinos denken lassen. Im Film konnten Architekten seit jeher Visionen visuell erlebbar machen, die der baubaren Statik und Materialität ihrer Zeit noch widersprachen. Die gefilmten Räume des Kinos waren oft utopisch, aber durch ihre visuelle Darstellung sind sie uns inzwischen vertraut. Vielleicht könnte auch der zitierte Piranesi erklären, warum man sich in dieser Architektur schon so heimisch fühlt: Seine Carceri scheinen als Ur-Szenen des Kinos eine allgegenwärtige Referenz für Filmarchitekten zu bilden. Abbildung 1: Giovanni Battista Piranesi: 7. Blatt der Carceri (1760), Radierung

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Abbildung 2: Ken Adam: Entwurf für das Setdesign zum James-BondFilm MOONRAKER (1979)

Ken Adam, der Set-Designer der ersten sieben James-Bond-Filme, beruft sich zum Beispiel auf Piranesi, was man in Anlage und Stil seiner Zeichnungen durchaus nachempfinden kann (vgl. Abb. 1 u. 2).3 Jene Orte, an denen der Agent 007 das Böse jeweils vernichtend schlägt, wie U-BootHallen am Meeresgrund, Weltraumstationen oder das Innere eines Vulkankraters, vermitteln tatsächlich etwas von dem Raumgefühl Piranesis oder eben von der Bahnhofs-Vision eines Daniel Libeskind. Auch scheint diese Referenz so alt zu sein wie das Kino selbst: Bereits Sergej Eisenstein hatte sich in seinen Überlegungen zur Filmarchitektur ausführlich mit Piranesi beschäftigt.4 Das charakteristische Merkmal dieser Art von Filmarchitektur besteht darin, imaginäre Räume zu schaffen, die keine durch den rechten Winkel dominierten Kuben mehr sind. Diese Anmutung kann man daher als organisch bezeichnen: Die Ästhetik des Organischen steht seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr für die Erfüllung körperlicher Idealform im Rahmen des mathematisch geregelten Proportionenkanons, sondern 3 Ken Adam entwarf die Filmarchitektur der James-Bond-Filme DR. NO (1962) bis MOONRAKER (1979). Zur Beschäftigung Adams mit Piranesi siehe Moonraker, Strangelove and other Celluloid Dreams: The Visionary Art of Ken Adam (Katalog zur Ausstellung in der Serpentine Gallery). David Sylvester (Hrsg.), London 1999, S. 14 u. S. 85-87. Im einführenden Text „Ken Adam, Production Designer: An Introductory Note“ (ebd., S. 1217) zieht David Sylvester zudem die Querverbindung von Adams Architekturvisionen zu Etienne Boullée und Daniel Libeskind (ebd., S. 14), ebenso wie er die Rolle des Regisseurs William Cameron Menzies in Adams Biographie hervorhebt (ebd., S. 12f. u. S. 23f.), auf den ich im Folgenden noch zurückkommen werde. 4 Siehe dazu Eisenstein, Sergej: „Piranesi oder die Fluktuation der Formen“, in: ders.: Über Kunst und Künstler, München 1977, S. 126-174.

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vielmehr für ihr Gegenteil, die Auflösung der Geometrie in unregelmäßige und fließende Formen.5

Organik und Wissen Den Archetyp des organischen Raums bildet offenbar die Höhle, jene häufig mit dem Mutterleib assoziierte Architektur. In der Kulturgeschichte kann die Höhle auch als jener Raum betrachtet werden, in dem man die ersten Bilder an die Wand malte: Dort wo es keine sichtbare Außenwelt mehr gibt, wurden also Bilder projiziert. Auch in Platons berühmtem Gleichnis bildet eine fensterlose Höhle den architektonischen Rahmen für das erste Kino: Die Höhlenbewohner sitzen mit dem Rücken zu einer Lichtquelle, in Ketten, so dass sie sich nicht zu ihr umdrehen können, und betrachten Schattenspiele, die an die gegenüberliegende Wand geworfen werden. Von diesem Setting ist auch in Libeskinds Traum noch viel zu spüren: Es gibt in seiner Architekturvision kein Außen, das man sehen könnte, sondern nur eine diffuse Lichtquelle und Projektionen im Inneren. Die Frage ist nur, welche Lichtquelle der seltsame „Horizont“ eigentlich bildet – die Leinwand oder den Höhlenausgang? Libeskind wäre vielleicht ein Höhlenbewohner, der es wagt, den Kopf herumzudrehen, um das einströmende Licht zu betrachten, aber die Höhle bzw. seinen Bahnhof trotz allem nicht verlassen kann. Aus diesen recht freien Assoziationen möchte ich zunächst den folgenden Zusammenhang konstruieren: Libeskinds Traum, zurückgeführt auf das Bild der platonischen Höhle, erfindet nichts anderes als einen Kinosaal, der uns wiederum mit jener organischen Höhlenarchitektur konfrontiert, die wir aus Filmen kennen. Die Höhle scheint hier jenen Teil unseres Körpers zu simulieren, mit dem wir Bilder aus der Außenwelt empfangen – sie bildet eine Art Sehapparat, eine Kamera bzw. dunkle Kammer, in welche die Bilder von außen eindringen, aber nicht das Außen selbst. Diese KinoMonade der Architektur bleibt also sprichwörtlich fensterlos. Das Design der Höhle als Kino bzw. Empfangsraum für projizierte Bilder kann (von Platon bis zu Libeskind) daher auch als Metapher für unser Wahrnehmen verstanden werden. Da die Basis des Gleichnisses wiederum an Architektur geknüpft ist, versteht sich der höhlenbauende Architekt darin als Entwerfer des Wahrnehmens bzw. Für-Wahr-Nehmens und damit des Wissens. Liest man Libeskinds Traum als epistemologische Metapher – 5 Siehe dazu Vf.in: „Georges Bataille und der Diskurs der organischen Form. Zur Gestaltungsphilosophie von Auge, Ei und großem Zeh“, in: Walburga Hülk/Ursula Renner (Hrsg.): Biologie und Poetologie, Würzburg [2005].

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denn er beschreibt seinen Bahnhof tatsächlich als aus „gespeichertem Wissen“ zusammengesetzt –, so bleibt seine Vision in Bezug auf mögliche „Höhlenausgänge“ (Hans Blumenberg) allerdings skeptisch. Seine Utopie verschafft dem Höhlenbewohner keinen Zugang zur Außenwelt, sondern richtet ihm die Höhle als organische Hülle oder zweite Haut nur angenehmer ein. Vor diesem Hintergrund, der zunächst betonen sollte, wie aktuell jene Metaphorik auch in der heutigen Architektur ist, möchte ich nun fragen, wie das kinematographische Dispositiv der Höhle auch schon die Architekturvisionen der klassischen Moderne zu prägen vermochte und welche mediale bzw. epistemologische Rolle das Fenster dabei gespielt hat. In diesem Rahmen scheint mir vor allem der Begriff des Futurismus relevant – allerdings nicht nur in der üblichen Epochen- bzw. Stilzuschreibung. Meine Definition würde den Beitrag des Futuristischen vielmehr verstehen als die damals visionäre Idee, das Fenster als Durchsicht zur Außenwelt aus der Architektur zu verdrängen und durch den Höhlengedanken mit einem entsprechenden Leinwand- oder BildschirmKonzept zu ersetzen. Abbildung 3: Etienne Boullée: Newton-Kenotaph (1784)

Der ebenfalls bei Libeskind erwähnte Architekt Etienne Boullée könnte mit seinem Newton-Kenotaph (Abb. 3) den Anfang dieser Geschichte des Futuristischen bilden. In diesem nicht realisierten Entwurf von 1784, der als Leergrab für Isaac Newton den gesamten Kosmos erlebbar machen sollte, blickt man nicht durch ein Fenster oder Fernrohr in das All, der Kosmos wird vielmehr durch die gebaute Architektur selbst dargestellt. Dabei werden keine zweidimensionalen Bildverfahren der Repräsentation verwendet, sondern die dreidimensionale Installation des Kugelbaus empfängt gewissermaßen die Totalprojektion des Abzubildenden. Die Sterne wurden nicht etwa auf die Innenwand der riesigen Kugel

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„gemalt“, sondern in der nächtlichen Sehsituation im Kugelinneren dringt durch unterschiedlich große Löcher, die der Größe der Sterne entsprechen, das Tageslicht von außen hinein. In diesem Sinne konnte Boullée auf die Mittel der Malerei verzichten, er „malte“ vielmehr mit dem Licht selbst. Das albertinische Fenster, das dem Tafelbild mit seiner zentralperspektivischen Konstruktion zugrunde liegt, wird hier durch neue Wahrnehmungsmodi abgelöst. In dieser Kunst aus Licht und Dunkelheit wirken also andere mediale Verfahren. Vergleicht man solche Formen der totalisierenden Darstellung und Wahrnehmung bei Boullée nun mit den Forderungen der Futuristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so erfüllte seine Revolutions-Architektur eigentlich schon mehr davon als vieles der Futuristen selbst. Ich möchte es hier einmal ganz polemisch formulieren: Umberto Boccioni, der maßgebliche Theoretiker der bildenden Kunst des italienischen Futurismus, hat sich zum Beispiel in seiner Malerei nie recht vom albertinischen Fensterbild verabschiedet. Selbst wenn Boccioni in seinem Traktat zum Dinamismo Plastico von 1914 die innere Schöpfung statt der äußeren Nachahmung verlangte, er die Dynamisierung des Bildraums hin zur allgemeinen Simultaneität statt des Einfrierens eines Netzhauteindrucks anstrebte und dabei die Kunstwerke als selbstständige und lebendige Organismen betrachten wollte, blieb er in seiner Malerei der mimetischen Darstellung, welcher die Metapher des Fensterausblicks zugrunde liegt, doch weitgehend verhaftet (vgl. Abb. 4). Abbildung 4: Umberto Boccioni: Simultane Visionen (1911)

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In seiner Theorie forderte er zwar einen „Umgebungs-Gegenstand, der als neue unteilbare Einheit verstanden wird“,6 und er merkte sogar an, dass dabei die Narration durch eine „rein architektonische und von literarischen oder sentimentalen Einflüssen befreite Koordination“7 ersetzt werden müsse. Zusammenfassend hält er fest: Der Mensch entwickelt sich zur Maschine und die Maschine zum Menschen. Und von diesem neuen Leben ausgehend, wird der mo8 derne Maler die geheimnisvolle Architektur verherrlichen!

Mir scheint aber, dass eine Malerei, die so sehr dem Tafelbild treu bleibt wie die seine, diese Gedanken kaum verwirklichen kann: Wie Boccioni ja selbst andeutet, hätte eine Architektur, die sich zudem durch Lichtspiele dynamisieren ließe, jene ästhetischen Forderungen sehr viel besser einlösen können. Medial gesehen haben die Futuristen den Schritt zu neuen Kunstformen, welche die Architektur wie auch das Kino bieten würden, jedoch nicht gewagt. Der Mediengebrauch der futuristischen Maler wie Bildhauer blieb ausgesprochen konservativ. So wurde zum Beispiel A.G. Bragalia, der einzige Künstler, der auch mit Photographie und Film experimentierte, von der Gruppe geschnitten und zeitweise sogar ausgeschlossen. Ich möchte hier nun nicht nach Erklärungen für dieses Phänomen suchen, sondern dort anknüpfen, wo sich meiner Meinung nach tatsächlich eine futuristische Architektur-Ästhetik entwickeln konnte. Im Gegensatz zu der elitären Künstlergemeinschaft von Marinetti und seinen Mitstreitern, bei denen die Auflösung der Kunst im Alltag wohl eher ein Lippenbekenntnis blieb, gelang es insbesondere Architekten und Filmemachern, also den Gestaltern der angewandten Künste, die futuristische Ästhetik in entsprechende Visionen umzusetzen. Das Kriterium der Baubarkeit sollte dabei nicht interessieren – im Gegenteil: Ob in Expressionismus, Futurismus oder auch Funktionalismus – das hier Ausschlag gebende Merkmal der Organik und Dynamik forderte eine Architektur mit utopischen Zügen, die uns direkt zum Kino zurückführt.

6 Boccioni, Umberto: Futuristische Malerei und Plastik (Bildnerischer Dynamismus) (1914). Astrit Schmidt-Burkhardt (Hrsg.), Dresden 2002, S. 75. 7 Ebd., S. 116. 8 Ebd., S. 25.

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Raumwahrnehmung im Film und filmische Wahrnehmung von Architektur Zunächst möchte ich das allgemeine Verhältnis von Architektur und Kino noch etwas näher bestimmen. Als Ausgangsthese sei festgehalten, dass der kinematographische Blick unsere Raumwahrnehmung bestimmt, so wie unsere Räume wiederum Orte der kinematographischen Projektion sind. Raumwahrnehmung und Sehgewohnheiten aus dem Kino werden also in die Architektur transportiert und umgekehrt: Die Architektur wird zum Dispositiv für quasi-filmische Wahrnehmungen. Beginnend sei hier gefragt, wie sich die Raumwahrnehmung durch den Film verändert hat. Im Gegensatz zum Gemälde oder zur Theaterbühne hat die Raumerzeugung im Kino ganz andere Möglichkeiten. Selbst wenn im frühen Kino die Filmkulissen oft noch gemalt wurden, bemühten sich die Regisseure dennoch nicht, zentralperspektivische Räume entstehen zu lassen.9 Die charakteristische Voraussetzung für die Perspektive, in der Malerei wie im Theater, war mit dem mobilen Auge der Kamera aufgehoben: Weder der Standpunkt der Kamera noch der betrachtete Bühnenraum blieben nunmehr statisch. Erwin Panofsky sprach daher von einer filmspezifschen Dynamisierung des Raumes und einer Verräumlichung der Zeit, die er wie folgt beschreibt: Beim Film ist die Situation umgekehrt [zum Theater; A.G.]. Auch hier hat der Zuschauer einen festen Platz inne, aber nur äußerlich, nicht als Subjekt ästhetischer Erfahrung. Ästhetisch ist er in ständiger Bewegung, indem sein Auge sich mit der Linse der Kamera identifiziert, die ihre Blickweite und -richtung ständig ändert. Ebenso beweglich wie der Zuschauer ist aus demselben Grund der vor ihm erscheinende Raum. Es bewegen sich nicht nur Körper im Raum, der Raum selbst bewegt sich, nähert sich, weicht zurück, 10 dreht sich, zerfließt und nimmt wieder Gestalt an.

Im Anschluss an diese Kinoerfahrung suchten Künstler und Gestalter aller Disziplinen die neuartige Raumauffassung in ihre Werke zu übernehmen: Das Forschen über pangeometrische Räume, über die vierte Dimension und entsprechende Raum-Dynamisierungen durch kinetische 9 Gerade der expressionistische Film zeigt sehr deutlich, wie sich Kulissen und Kameraführung bemühten, die traditionelle Raumerfahrung der Bühne als „Schachtel“ zu sprengen. Als wohl bekanntestes Beispiel für die gemalte und anti-perspektivische Kulisse lässt sich Robert Wienes KABINETT DES DR. CALIGARI von 1920 nennen. 10 Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film (1947), Frankfurt a.M. 1999, S. 25.

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Lichtkunst, Drehbühnen oder Spiralenarchitektur hat letztlich alle Avantgarde-Strömungen gleichermaßen interessiert. Betrachten wir nun umgekehrt die filmische Wahrnehmung von Architektur bzw. denken wir das Architektonische einmal als kinematographisches Dispositiv: Man kann den gebauten Raum, der uns umgibt, durchaus als ein Medium auffassen, also nicht nur als eine Struktur, in der wir wohnen bzw. die wir um uns herum sehen, sondern als ein Dispositiv, mit dem wir sehen. Die Architektur bildet einen Bezug zum Körper, der einem Wahrnehmungsapparat gleicht, z.B. wenn man mit Marshall McLuhan die Medien als Körperfortsätze oder Körperprothesen beschreibt, d.h. als Ausweitungen unserer Sinnesorgane. Die Architektur wird in dieser Perspektive also buchstäblich zur zweiten Haut des Menschen. In der organischen Metapher wären dann z.B. die Fenster und Türen die Augen oder der Mund, eben die Schnittstellen und Öffnungen zur Außenwelt. Allerdings – und damit kommen wir zurück zur Ausgangsthese – hatte die futuristische Architektur der Moderne offenbar kein Interesse, diese Öffnungen auch als epistemologische Höhlenausgänge anzusehen. Man sollte sich dies parallel zur Funktionsweise des Auges vorstellen: In die Innenräume fällt zwar Licht von außen hinein, aber wie bei unserem körperlichen Auge dringen die Bilder in den Hohlkörper des Auges nur ein, um sich als quasi-photographische Projektion auf der Netzhaut abzubilden. Wir sehen nicht aus dem Auge heraus (wie im projizierenden Auge der Antike oder in der Zentralperspektive angenommen), der Innenraum empfängt vielmehr als Medium bzw. als Projektionsfläche die eindringenden Bilder. Die umgekehrte Blickrichtung, der Blick aus dem Fenster, interessiert in der organisch-futuristischen Architekturauffassung schlichtweg nicht. Mit der Medialisierung der Architektur zum Kino, so meine These, schließt sich die Monade des Raumes im Futurismus zu einem fensterlosen Gebilde bzw. zu einem Leinwand-Dispositiv für Projektionen. Die Avantgarden konnten sich hierbei schon auf zahlreiche Vorläufer beziehen: Die neuartigen Architekturen des 19. Jahrhunderts, das Kaufhaus, das Museum, das Panorama und die Passage, bildeten allesamt Räume, die keine Fenster mehr haben. Im Museum wurde das Oberlicht eingeführt, damit man im rundum geschlossenen Raum die Bilder und Skulpturen betrachten kann. In der Architektur des Panoramas malte man das Bild raumfüllend direkt auf die Wand; Öffnungen hätten hier den optischen Effekt bzw. den Gesamteindruck zerstört, so dass man den Raum durch Tunnelkonstruktionen aus der Mitte heraus betreten musste. Die Passage oder das Kaufhausinnere wurden ebenfalls durch das Ober-

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licht und später durch Kunstlicht beleuchtet. Im Inneren bildeten schließlich Schaufenster die Projektionsflächen für die Produkte, die es zu bewerben galt. In diesen Höhlen der Kunst oder des Konsums hätten Fenster zur Außenwelt letztlich ebenso gestört wie in einem Gotteshaus. Nur ihre Beleuchtungsfunktion an der Decke oder im oberen Teil der Wand wollte man noch nutzen. Der Film hat die Seherfahrungen dieser fensterlosen Räume wiederum für sich nutzen können, zum einen weil sie der ebenfalls fensterlosen Kinosaal-Architektur vorgreifen und zum anderen weil sie alle Räume sind, in denen sich der Betrachter bewegt. Der Flaneur erfand den filmischen Blick gewissermaßen noch ohne Apparat. Wie von Walter Benjamin bis zu Anne Friedberg immer wieder ausgeführt, lag die historische Voraussetzung für die neue filmische Raumerfahrung in der Mobilisierung des Betrachters, er bewegte sich sehend durch diese Architekturen, so dass gewissermaßen Filme in seinem Kopf entstanden.11 Eigentlich begann dieses filmische Sehen von Räumen aber nicht erst mit dem Flaneur in der Großstadt oder gar der beschleunigten visuellen Erfahrung in Eisenbahn oder Automobil, sondern bereits in der sich wandelnden Gartenkonzeption um 1800 (also wiederum zeitgenössisch zu Etienne Boullée): Der Barockgarten, der hier für das ältere System stehen soll, war als Symmetrien-Spiel für den Blick von oben angelegt, er sollte als Idee und Konzept beim Durchwandeln als innere Landkarte erkannt werden. Der Plan musste dabei eher gewusst und nicht wirklich gesehen werden. In dieser Anlage verhält es sich nicht anders als auf der Theaterbühne: Der Platz des Betrachters ist fixiert, er hat im Grunde nur die sinnvolle Perspektive der Sicht von oben, selbst wenn er sich diese – im Garten stehend – lediglich vorstellen kann (vgl. Abb. 5). Abbildung 5: Barockgarten: Schlosspark von Versailles, Kupferstich (um 1770)

11 Siehe dazu im Überblick Friedberg, Anne: Window Shopping: Cinema and the Postmodern, Berkeley u.a. 1993.

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Abbildung 6: Englischer Garten: Park von Stowe, Buckinghamshire

Der englische Landschaftsgarten hingegen ist in diesem Sinne nicht mehr theatralisch, sondern kinematographisch: Von oben betrachtet, ergibt der Plan weder Ordnung noch Sinn; der Garten muss vielmehr visuell aus Augenhöhe erlebt werden (vgl. Abb. 6). Erst beim Durchwandern wird der Betrachter die vielfältigen Blickachsen und pittoresken Kompositionen wahrnehmen können. Dieses Körperkino fand, noch gänzlich ohne Medien, in der Natur selbst statt. Das Auge setzt sich hier in Bewegung, der Film entsteht gewissermaßen als Aneinanderreihung von photographisch gerahmten Landschaftsausschnitten. Die Dynamisierung des Sehens durch die Bewegung des Betrachters bedurfte zunächst weder der motorisierten Beschleunigung noch der urbanen Hektik der Großstadt. Sie konnte gerade beim Promenieren erlernt werden – oder sich auch nur in einem Haus oder einem Raum vollziehen. Wichtiger als die Geschwindigkeit scheint mir daher die Metapher der organischen Verschmelzung von Raum und Betrachter, von Auge und architektonischem Sehapparat.

Fensterdiskurse im Futurismus Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Architektur des Futurismus neu betrachten: Ein Bauwerk muss nun keine leblose Masse mehr sein, die jeder Dynamisierung trotzt, es kann vielmehr durch die Eigenbewegung des Betrachters belebt und sogar beschleunigt werden. Außerdem vermag es als quasi-organische Hülle die Wahrnehmungen des Bewohners zu steuern, als ein Apparat, mit dem er sieht. Betrachten wir diesen Zusammenhang von Organik und Dynamisierung an einem Beispiel: Der einzige Architekt, der dem engeren Kreis der italienischen Futuristen zugerechnet wird, war Antonio Sant’Elia, der viel zu jung im Ersten Weltkrieg starb und daher kaum Gebautes, aber doch ein umfangreiches Werk

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an mehr oder minder utopischen Architekturvisionen hinterließ. Gerade sein Werk vermag nun deutlich zu machen, wie sich das Futuristische in der Architektur umsetzen lässt. In seinen früheren Entwürfen werden zunächst die Anleihen sichtbar, die er der Wiener Schule Otto Wagners entnahm und durch Inspirationen aus den frühen Hochkulturen von Ägypten bis Angkor erweiterte.12 Vor allem das Streben nach Monumentalität leitete ihn dabei. Mit den außereuropäischen Formensprachen wendete er sich überdies gegen die traditionelle Geometrie in der Architektur: Sant’Elias Bauten nähern sich durch elliptische Verformungen, Abschrägungen, biomorphe Ornamentik und andere Facetten der Dekomposition einer dynamischen und organischen Formensprache an. Maße und Proportionen erweisen sich als ungewohnt oder regelrecht verzerrt. Statt geometrisch klare Harmonien im Gebäude zu erzeugen, konfrontiert er den Betrachter mit einer Sphinx‘-Architektur, die enigmatisch und verwunschen auf eine noch unbekannte Zukunft verweist. Selbst wenn der damals ungewohnte Abstraktionsgrad in Sant’Elias Visionen eine Dimension des Unheimlichen mitschwingen lässt, arbeitete er auch mit der Tradition bzw. dem Zitat. In jenem eigenartigen Kuppel- oder Kugelbau (Abb. 7) könnte man z.B. Boullées Newton-Kenotaph wieder erkennen. Abbildung 7: Antonio Sant’Elia: Entwurf für einen Monumentalbau (ca. 1911)

12 Ich beziehe mich im Folgenden auf DaCosta Meyer, Esther: The Work of Antonio Sant'Elia: Retreat to the Future, New Haven u.a. 1995.

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Über monolithische Monumentalbauten wie diesen schreibt Esther DaCosta Meyer in ihrer Monographie über den Architekten: „Sant’Elias zyklopische Strukturen sind praktisch fensterlos.“13 Das heißt zwar nicht, dass die Gebäude gar keine Öffnungen hätten, aber wie die Assoziation mit dem einäugigen Zyklopen deutlich macht, brechen sie – als Wahrnehmungsapparat verstanden – mit dem zentralperspektivischen Fenster. Selbst wenn noch Öffnungen vorhanden sind, scheinen sie keine Schnittstellen zur Außenwelt zu sein. Mit diesem Verzicht auf das Fenster, so die eigentlich paradoxe These, suchte die organische Architektur das Gebäude einem Wahrnehmungsapparat gleichzusetzen. Im Vergleich zum historistischen Bauen der Gründerzeit dürften Sant’Elias Entwürfe vor allem Aufsehen erregt haben, da ihnen jegliche erkennbare Repräsentationsfunktion fehlt. Das Wohnhochhaus in seiner neuen Stadt sieht genauso aus wie der Entwurf für das Elektrizitätswerk oder den Bahnhof, alles wird ein und demselben Kunstwollen untergeordnet. Diese Architektur ‚bedeutet‘ nicht mehr, ihr fehlt die ordnende Symbolik. Und um diesen Gedanken weiter zu führen: Der Bau gibt sich wie eine Art Raumschiff, er ist eine Hülle für Funktionen nach innen, nach außen hin scheint er stumm, da die Öffnungen fehlen. Das Organische bleibt als Formensprache stets abstrakt, es entzieht sich der ordnenden bzw. klassifizierenden Beschreibung und verweigert damit die Bedeutung. An dieser Stelle konnte daher die Dynamisierung der Bauten ansetzen. Abbildung 8: Antonio Sant’Elia: Città Nuova (1914)

13 Ebd., S. 60.

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Abbildung 9: Filmarchitektur in Fritz Langs METROPOLIS (1926)

Die futuristische Architekturvision, wie man sie auch quer durch die Filmgeschichte von Fritz Langs METROPOLIS bis zu Ridley Scotts BLADE RUNNER verfolgen kann, sieht vor, dass es keinen klassischen Standpunkt mehr für den Betrachter gibt: Er kann nicht einfach vor einem Gebäude stehen, da es kein Straßenniveau im eigentlichen Sinne mehr gibt. In den Entwürfen blickt man daher von oben, gewissermaßen aus einem imaginären Flugzeug auf die Szenerien. In diesen Stadtvisionen bilden Trassen, Verbindungsbrücken, Aufzüge und im besten Fall auch noch ein fliegender Nahverkehr die vertikalen wie auch horizontalen Verkehrsadern, die um das Gebäude herum pulsieren (vgl. Abb. 8 u. 9). Die Stadt, die im organischen Diskurs als ein dem Körper gleiches kommunzierendes System aufgefasst wird, kennt keine Repräsentationsfassaden mehr, die man durch ein gerahmtes, albertinisches Fensterbild von einem mehr oder minder idealen Standpunkt aus betrachten könnte. Der dynamisierte Betrachter bewegt sich vielmehr auf allen Geschosshöhen, innen wie außen, im oder um das Gebäude herum. Der Anblick von außen wird hier ebenso aufgehoben wie der Ausblick von innen. Die Gebäude selbst können zwar nicht fließen, aber der mobile Betrachter kann in seiner Bewegung um den Bau herumschweben – im obigen Sinne wird der Blick auf die Stadt damit filmisch. Dass diese Verbindung von Organik und kinematographischer Dynamisierung nicht nur von den Futuristen im engeren, d.h. stilgeschicht-

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lichen Sinne entwickelt wurde, sondern auch in der rational-funktionalistischen Architekturauffassung der Avantgarden präsent war, sei mit dem folgenden Beispiel gezeigt. Walter Gropius hatte 1913 im Jahrbuch des Deutschen Werkbundes anhand von entsprechenden Abbildungen angeführt, dass amerikanische Getreidesilos in ihrer Monumentalität und Geometrie eine Schönheit und Ästhetik ausstrahlten, an der sich das moderne Bauen orientieren solle. Sant’Elia kannte diese Bilder offenbar und natürlich auch Le Corbusier, der in seiner Schrift Vers une Architecture eine Reihe Getreidesilos als Architekturvorbilder publizierte (Abb. 10). Abbildung 10: Getreidesilos in Le Corbusiers Vers une Architecture (1923)

Man muss wohl nicht betonen, dass in diesen gebauten Huldigungen an die Geometrie (so zumindest Le Corbusiers Interpretation) erneut die Fenster fehlen! Für Le Corbusier standen diese Industriebauten als Kulturgut auf derselben Stufe wie der griechische Tempel. Im Gegensatz zu Sant’Elias Auflösung der geometrischen Formen im Organischen blieb Le Corbusier allerdings ein Verehrer humanistischen Gedankenguts und arbeitete in Anlehnung an Vitruv, Alberti und andere mit einem harmonischen Proportionenkanon, Goldenem Schnitt, menschlichen Idealmaßen usw. Den Menschen legt er dabei mit seinem Modulor als konstante, berechenbare Größe fest: Alle Menschen funktionierten gleich, hätten dieselben Bedürfnisse und seien folglich durch standardisierte Produkte zu befriedigen.14 Der Architekt als Planer von Gesellschaft habe demnach für die Befriedigung der normierten Massen zu arbeiten. Aber in der 14 Le Corbusier: Vers une Architecture (1923), Nachdruck Paris 1995, S. 108.

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Ästhetik suchte Le Corbusier nach einer ganz anderen Logik, die man eigentlich nur als darwinistisch bezeichnen kann. Dem Anspruch, einerseits für die Massen zu entwerfen, steht bei ihm andererseits die vehemente Ablehnung des Mittelmaßes entgegen: Ästhetik muss nach Le Corbusier stets nach Höherem streben. Ebenfalls in Vers une Architecture entwickelt Le Corbusier zu zahlreichen Abbildungen von Flugzeugen zum Beispiel den folgenden Gedanken: Das Flugzeug stellt in der modernen Industrie ein Produkt höchster Selektion dar. Der Krieg war der unersättliche Klient, nie zufrieden, stets besseres fordernd. Die Weisung war das Gelingen und der Tod folgte erbarmungslos jedem Fehler. Wir können also behaupten, dass das Flugzeug die Erfindung, die Intelligenz und die Kühnheit mobilisiert hat: Die Imagination und den kühlen Ver15 stand. Derselbe Geist hat den Parthenon geschaffen.

Der Krieg mit seiner Metapher des Abstürzens oder Überlebens wird hier gewissermaßen als notwendige Naturkatastrophe beschrieben, vor deren Hintergrund sich die Selektion der guten und schlechten Formen hat entwickeln können. Darwins survival of the fittest greift als Ökonomie des Todes direkt in die Ästhetik ein. Überlebenskampf, Verdrängung und Ausmusterung werden damit als Motor der Kulturentwicklung begrüßt. Diese Sublimierung des Krieges war unter den futuristischen Avantgarden vor dem Zweiten Weltkrieg bekanntlich weit verbreitet. Auch Marinetti hatte im Gründungsmanifest des Futurismus den Krieg als einzige Hygiene der Welt‘ bezeichnet. Eine derart biologisch gewendete Ästhetik geht über ihre Anleihen bei der Evolutionstheorie letztlich ebenfalls auf organische Metaphern zurück. Gerade Le Corbusier mag dafür stehen, dass Organik und Funktionalismus- bzw. Technikverherrlichung in der Moderne keinen Widerspruch bildeten. Als Vorbild für den neuen Städtebau zeigte er in seiner Schrift Urbanisme zum Beispiel die Abbildung eines Herz- und Lungensystems (Abb. 11).

15 Ebd., S. 85.

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Abbildung 11: Abbildung eines Herz- und Lungensystems in Le Corbusiers Urbanisme (1925)

Diese organisch motivierten Herleitungen und Legitimationen sind typisch für die Schriften Le Corbusiers: Der abstrahierte Körper als die Zusammenarbeit von Organen und Zellen in einer perfekt organisierten Hierarchie bildet das durchgängige Vorbild seiner Architektur. Die Organik dieses Ansatzes wäre damit grob umrissen, was bedeutet sie nun wiederum für die Medialität des Fensters? Wie Le Corbusier berichtet, habe ihm Adolf Loos einmal gesagt, dass ein kultivierter Mensch nicht durch Fenster schaue, um hinauszusehen. Er, Loos, verwende daher nur Fenster aus Milchglas, die dazu dienen, Licht zu spenden und nicht, um den Blick hindurchzulassen.16 Tatsächlich gibt es bei Loos zwar auch transparente Fenster, aber diese sind auf den zeitgenössischen Abbildungen meist durch einen Vorhang verhüllt. Le Corbusier ist Loos darin durchaus gefolgt, wenn er Fenster als „Zerstörer von Formen“ beschreibt, da sie die Wand durchlöcherten und damit die reine Geometrie des Raumes störten.17 Anders als bei Loos haben Le Corbusiers Bauten aber sehr wohl Fenster – und zwar ohne Vorhänge. Allerdings, so meine These, bilden die Fenster in seinen Bauten nichts anderes als durch Architektur gerahmte und damit medialisierte Sehapparate. Wie schon Beatriz Colomina beschrieb, sei das Haus bei Le 16 Hinweis bei Colomina, Beatriz: „The Split Wall: Domestic Voyeurism“, in: dies. (Hrsg.): Sexuality & Space, New York 1992, S. 73-128; Zitat S. 74. 17 Le Corbusier 1995, S. 27.

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Corbusier ein System, um Bilder aufzunehmen.18 Seine Vorbilder entnahm Le Corbusier wiederum dem Flugzeug, der Eisenbahn, dem Industriebau und insbesondere dem Schiff: Besonders charakteristisch für seine Architektur ist daher die horizontale Reihung zum so genannten Bandenfenster, das die gesamte Fassade durchquert. Im Innenraum eines Dampfers, so Le Corbusier, lasse die durchgängige Fensterfront einen Raum voller Helligkeit entstehen, anstatt Zimmer voller „trauriger Dunkelzonen“, die durch normale Fenster produziert würden.19 Kinematographisch gesehen hält er sich also an ein „Breitwandformat“: Die Panoramen, die in Le Corbusiers architektonischen Rahmungen entstehen, beruhen auf dem gezielten Einsatz von Pfählen, sehr dünnen Säulen oder kadrierenden Wandelementen. Die Unterteilungen schaffen jeweils Bildfelder bzw. „panneaux“, wie Le Corbusier sie nannte. Durch die architektonische Kamera blickt der Betrachter in die Landschaft, die sich mit den wechselnden Witterungs- und Lichtverhältnissen immer wieder von einer anderen Seite zeigt, so wie sich im Innenraum auch der Betrachter stets bewegt und immer neue Standpunkte und damit Ausblicke entdeckt. Die zuvor beschriebene Situation im englischen Landschaftsgarten, die einen wandelnden Betrachter erfordert, wurde von Le Corbusier gewissermaßen in das Haus hineingeholt: Das Haus rahmt und filmt die Landschaft. Dabei achtet Le Corbusier stets darauf, dass der Betrachter nicht ebenerdig mit dem Betrachteten steht, denn damit ginge der filmische Blick verloren: Der Betrachter muss sich entweder, wie in der Villa Savoy (Abb. 12), in einem schwebenden Haus auf Pfählen etwas oberhalb der Landschaft befinden oder umgekehrt, wie im Haus Cook (Abb. 13), etwas darunter – der Ausblick wird wie eine Kinoleinwand vom Boden abgehoben und disponiert zum Hochschauen. Abbildung 12: Le Corbusier: Villa Savoy (1928-30)

18 Siehe Colomina 1992, S. 112ff. 19 Le Corbusier 1995, S. 74.

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Abbildung 13: Le Corbusier: Maison Cook (1926)

Beide Verfahren lassen den Betrachter jedenfalls auf eine ästhetisierte Umwelt schauen, die durch die extreme Horizontalität des Bandenfensters nicht mehr der albertinischen Fenstertradition entspricht. Das in dieser Hinsicht wohl gewagteste Projekt Le Corbusiers finden wir auf dem Dach eines Pariser Altbaus an den Champs Elysées. Le Corbusier baute dieses Penthouse für Charles de Beistegui, der dort weniger wohnen als vor allem einen spektakulären Rahmen für seine Feste haben wollte. Neben dem offenen Blick zur Stadt gab es auch eine „chambre à ciel ouvert“ (Abb. 14), die als eine Art Schachtel ohne Dach wiederum fensterlos war. Das Stückchen Arc de Triomphe, das hier an der Oberkante angeschnitten wird, war aus Augenhöhe wohl nicht zu sehen. Den Blick auf die Stadt inszenierte Le Corbusier hingegen für den medialen Genuss aus dem Inneren des Hauses: Er ließ ein Periskop anbringen, durch das man wie aus einem U-Boot heraus einen Rundumblick über ganz Paris erhält (Abb. 15). Abbildung 14: Le Corbusier: Appartement Beistegui, Chambre à ciel ouvert (1931)

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Abbildung 15: Periskop am Appartement Beistegui

Kurzum: In der kinematographischen Architektur fliegen oder schwimmen die Bewohner in Flugzeugen, U-Booten oder auf Dampfern entweder hoch über oder tief unter dem Meeresspiegel in dynamisierten Monaden über Städte, Länder und Meere, deren Abbild wiederum durch medialisierte Wahrnehmungsapparate in das Innere ihrer Architekturen geholt wird. Platons Höhle hat sich also in der Moderne in Bewegung gesetzt, aber tatsächlich geöffnet hat sie sich nicht, trotz der vielfältigen Medialisierungen ihrer Schnittstellen zur Außenwelt. An dieser Stelle wären noch weitere Beispiele aus der Architekturgeschichte zu erwähnen, ich möchte nun aber zum Medium des Films übergehen und zwei Beispiele aus dem Kino anführen, die den futuristischen Fensterdiskurs fortsetzen.

Fensterdiskurse im Film Eine für die Verbindung von Organik und medialer Schließung des Raumes sehr bezeichnende Stelle finden wir in dem Film THINGS TO COME von William Cameron Menzies aus dem Jahr 1936. Der ScienceFiction-Autor H.G. Wells, dessen wissenschaftliche Romanzen Zeitmaschine und Der Krieg der Welten ebenfalls erfolgreich verfilmt wurden, schrieb dazu die Geschichte direkt in Form des Drehbuchs. Sie erzählt von einer unterirdischen Stadt der Zukunft aus organisch-transparenter und sogar flüssig-dynamischer Architektur, die ganz ohne Fenster auskommt und diese alle durch Bildschirme ersetzt. Wells war bei den Dreh-

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arbeiten stets dabei und nahm starken Einfluss auf die Umsetzung, so auch bei den Kostümen und der Filmarchitektur.20 Es mag wohl kein Zufall gewesen sein, dass man für die Bauten tatsächlich Le Corbusier angefragt hatte, der allerdings absagte. Der Ausstatter Vincent Korda übernahm daraufhin die Aufgabe der Set-Gestaltung. Wie er berichtet, habe ihn dabei insbesondere Le Corbusiers Schrift Vers une Architecture inspiriert.21 Die neue Stadt wird in Wells’ Vision zum Zeichen der Überwindung der Natur unterirdisch gebaut: Mit Kunstlicht und Klimaanlage lebt man völlig unabhängig von Klimazonen, Jahres- und Tageszeiten. Insektenartige Maschinen, spiralförmige Wendeltreppen, gläserne Aufzüge schwirren durch das Bild, die Menschen werden per Knopfdruck bewegt und kommunizieren über transparente Bildschirme in allen Größen (vgl. Abb. 16). Abbildung 16: Filmarchitektur aus THINGS TO COME (1936)

20 Zur Produktionsgeschichte des Films siehe Frayling, Christopher: Things to come, London 1995. 21 Hinweis bei Neumann, Dietrich (Hrsg.): Filmarchitektur von Metropolis bis Blade Runner, München 1996, S.118.

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Wells wollte mit dieser Architektur vor allem eine Antwort auf den Technikpessimismus in Fritz Langs METROPOLIS geben, dessen massive Bauten und festungsartige Türme dem Zuschauer nur Angst vor der Zukunft suggerierten. In seiner Stadt sollte hingegen die organische Anmutung für eine optimistische und zukunftsbejahende Stimmung sorgen – allerdings geht er dabei weit über das hinaus, was damals baubar war: Die Stadt sollte vollkommen transparent und lichtdurchflutet sein. Man entwarf daher eine frei schwebende Architektur, ohne Masse, ohne rechte Winkel, ohne Fenster, sondern gänzlich immateriell und sogar fließend. Das heißt, die Wände sollten nicht nur organisch gewölbt, sondern darüber hinaus durchsichtig und tatsächlich flüssig sein. Es ist offensichtlich, dass dies den Prinzipien des Bauens per se widerspricht, und so hatten die Set-Designer auch erhebliche Schwierigkeiten, diese Vorstellungen umzusetzen. Jene Filmszenen, in denen der vollautomatische Aufbau der Stadt zu entsprechend gewaltiger Hintergrundmusik dargestellt wird, wirken aus heutiger Sicht recht naiv, da die Ideen zwar erkennbar, aber nicht durchführbar waren. Bis auf ein eher oberflächlich bleibendes streamline-Styling und entsprechendes Mobiliar aus gebogenem Glas konnten die Vorstellungen von Wells kaum realisiert werden, so dass er sich letztendlich von dem Film enttäuscht zeigte. Das zentrale Motiv von Wells’ utopischer Stadtplanung bildet jedenfalls die Unterdrückung des Fensters, auf die er den Zuschauer in einer eigens zu diesem Zweck angelegten Szene aufmerksam macht: Der Betrachter wird zunächst durch Räume geführt, in denen das klassische Modell der Vier-Wände-Schachtel aufgehoben ist. Die organischen Raumstrukturen werden durch Rundungen angedeutet oder bleiben vollkommen unklar. Statt Türen oder Fenstern findet man große Öffnungen, die eine fehlende Wand suggerieren bzw., da sie nicht einmal verglast sind, die Grenze von privat und öffentlich zerfließen lassen. Die Wände selbst scheinen aus milchigem Glas hergestellt zu sein und strahlen aus sich heraus so hell, dass sie als Lichtquellen für die Beleuchtung der Räume ausreichen. Die Kamera zoomt daraufhin auf einen würdigen alten Mann, der einem kleinen Mädchen von jenen Zeiten erzählt, als es noch Fenster in den Gebäuden gab. Er zeigt ihr auf einem Bildschirm Ansichten aus dem alten New York, um ihr zu erklären, dass man früher, im Zeitalter der Fenster, das vier Jahrhunderte dauerte, Türme in die Höhe baute, die man durch Fenster beleuchten und belüften musste (vgl. Abb. 17). Das kleine Mädchen gibt sich erschüttert über diese unpraktische Welt und findet es sehr viel komfortabler im künstlichen Klima ihrer unterirdischen Wohnhöhle.

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Abbildung 17: Filmszene aus THINGS TO COME (1936)

Die Zukunftsphantasie von H.G. Wells zeigt in ihren Metaphern allzu deutlich, dass für das futuristische Denken der architektonische wie epistemologische „Höhlenausgang“ offenbar nicht im Interesse der Menschheit liegt. Diese Architektur schafft vielmehr Orte, die als organische Behausungen die körperliche Hülle des Menschen ausweiten und medial anreichern. Der Raum wird hier zu einer Wahrnehmungsprothese, da die Wände als Bildschirme und Kommunikationsmedien das Wissen der Bewohner steuern. Im Sinne von Marshall McLuhans berühmtem Diktum transportiert diese Architektur nicht nur die Information; sie ist das Medium des Wissens selbst. Während die Avantgarden der klassischen Moderne jene mediale Schließung der Höhle geradezu feierten, nahmen postmoderne Positionen in der Medienkritik wie im Spielfilm bekanntlich wieder Abstand davon. Als regelrechte Karikatur auf den futuristischen Fensterdiskurs kann man Jacques Tatis Komödie PLAYTIME von 1967 betrachten. Tatsächlich weiß Tati alle aufgezeigten Topoi über die selbstreferentielle Schließung der medialisierten Architektur virtuos zusammenzufassen und subtil zu unterwandern. Tatis Film erzählt, wie schon sein Vorgängerwerk MON ONCLE (1958), keine Geschichte im eigentlichen Sinne, er führt vielmehr durch eine Aneinanderreihung von Szenen aus dem Alltag des Monsieur Hulot eine feinsinnige Abrechnung mit den technischen und architektonischen Auswüchsen der Moderne vor, repräsentiert durch eine für die 60er Jahre futuristisch anmutende Trabanten-Stadt, ein gewissermaßen neu erschaffenes Paris. Tati hatte seine künstliche Stadt mit hohem (und letztlich ruinösem) Aufwand aus echten Glas- und Stahlfassaden bauen

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lassen, weitere Hochhäuser wurden als rollbare Attrappen hinzugestellt. Die Architektur bildet hier aber nicht nur die Kulisse des Films, sie steht vielmehr in ihrer Interaktion mit dem Menschen im Zentrum der Handlung. Monsieur Hulot, der von Tati selbst gespielt wird, bewegt sich durch diese Stadt wie ein Flaneur, der aus einem vergangenen Jahrhundert zu stammen scheint. Er beobachtet und untersucht, er versucht sich einzupassen, ist aber stets zu langsam und zu ungeschickt, so dass es immer wieder zu Kollisionen mit den Errungenschaften der Moderne kommt. In einer Szene betrachtet Hulot zum Beispiel Menschen bei der Arbeit in ihren Büros: Die Gebäude, in denen sie sitzen, sind zwar voll verglast, aber die Arbeitsplätze befinden sich trotz allem in fensterlosen Schachteln (vgl. Abb. 18). Auch hier verträgt das Werk der Menschen offenbar weder Licht noch die Öffnung zur Umwelt. Abbildung 18: Szene aus Tatis PLAYTIME (1967)

Für seine Persiflage auf den international style jener modernen Stadtplanung führt Tati des Weiteren eine amerikanische Touristengruppe ein, die ihre Paris-Reise allein in diesem neuen Teil der Stadt verbringt. Wie die Serie von exakt gleich aussehenden Plakaten in einem Reisebüro zeigt, unterscheidet sich jenes modernisierte Paris nicht mehr von dem neuen London, Berlin oder Tokio – alle Städte der Welt gleichen sich bis ins letzte architektonische Detail. Interessant ist nun die Art und Weise, wie die Touristen doch in den Genuss der individuellen Pariser Sehenswürdigkeiten kommen: Durch Spiegeleffekte auf Fenstern oder Glastüren erscheinen während des gesamten Films still und leise die eigentlichen Pariser Attraktionen vom Eiffelturm über das Sacré Cœur zum Arc de Triomphe (vgl. Abb. 19).

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Abbildung 19: Szene aus Tatis PLAYTIME (1967)

In der modernen Stadt ist von den eigentlichen Identitätszeichen nichts mehr übrig geblieben, alles wird nur noch als virtuelle Spiegelung erfahren. Das Fenster dient nicht mehr dem Durchblick in die Welt, sondern als Leinwand für Filme und Projektionen aller Art. Wie eine andere Szene zeigt, sind auch die Fenster der Privatwohnungen als Ausblick oder Aussicht nicht mehr von Interesse. Selbst wenn die Häuserfassaden der Wohnblicks gänzlich verglast sind, so dass die „Wohnschachteln“ wie Bühnen zur Straße bzw. zur Öffentlichkeit hin transparent sind, konzentrieren sich die Bewohner allein darauf, auf die Fernseher zu starren, die in die gemauerten Wände eingelassen sind. Tatis Kamera blickt also von der Straße in die bewohnten Kästen und sieht die Familien jeweils im Halbkreis vor der Wand sitzen. Dabei scheint es, als säßen die Bewohner der einen Box denen in der anderen gegenüber, aber tatsächlich sind alle nur von dem jeweiligen Bildschirm absorbiert. In dieser Vision des neuen Wohnens kann man also ebenerdig auf Straßenniveau wohnen und bei unverschlossenen Vorhängen wie auf einer Bühne leben. Die Privatsphäre scheint trotz allem nicht aufgehoben, denn die zivilisierten Bewohner dieser Architekturen schauen schließlich nicht durch Fenster!

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Wohnlichere Alternativen an neu gebauter Architektur bietet Tati in seinen Filmen nicht an. In MON ONCLE wird die klassische weiße Villa der Moderne von den allzu bürgerlichen Bewohnern durch Kitsch, Geltungsdrang und kleinliche Attitüden zugrunde gewohnt und ad absurdum geführt. Das Heim des Monsieur Hulot selbst ist eine unfunktional verschachtelte Altbaustube über den Dächern von Paris. Tati will damit wohl suggerieren, dass individuelles Wohnen nur in der Entfremdung von ehemals geplanter Architektur möglich sei. Wozu dann noch entwerfen? Dem Gestalter bleibt nach Tati nur die Resignation, kein Wunder also, dass die Architekten heute, wie bei Daniel Libeskind gesehen, lieber weiterhin vom futuristischen Bauen träumen.

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VON DER KINEMATIK DER KÖRPER ZUR PERFORMATIVITÄT DER OBJEKTE: CHARLOT UND DIE MODERNE Am 1. Juli 1936 hielt Salvador Dalí in den Londoner New Burlington Galleries anlässlich der „International Surrealist Exhibition“ einen Performance-Vortrag, in dem er versuchte, die Prinzipien der von ihm entwickelten „paranoisch-kritischen Methode“ darzulegen. Tatsächlich avancierte die performative1 Ansprache zu einer Beweisführung ganz anderer Art: der der inszenierten Tücke des Objekts. Dalí, der sich eigens für diesen Vortrag mit einem Taucheranzug ausgerüstet hatte, „um das Unterbewußtsein zu versinnbildlichen“,2 rang schon bald nach Luft. Zunächst vergeblich versuchte der Vortragende, seinen Freunden zu verstehen zu geben, dass die Lage ernst sei. In seiner Selbstdarstellung Comment on devient Dalí beschrieb der Künstler die sich daraus ergebende Situation folgendermaßen: Zwei Männer versuchten, mir den Helm abzureißen, ein dritter schlug weiter auf das Metall, daß ich fast die Besinnung verlor. Auf dem Podium herrschte nur noch ein wildes Handgemenge, aus dem ich ab und zu hervortauchte wie ein Hampelmann mit ausgerenkten Gliedern, und mein Kupferhelm tönte wie ein Gong. Da klatschte das Publikum Beifall zu diesem gelungenen Dalíschen Mimodrama, das in seinen Augen zweifellos darstellte, wie das Bewußte des Unbewußten habhaft zu werden versucht. Ich aber wäre an diesem Triumph beinahe gestorben. Als man mir den

1 Performativ wird hier in dem Sinne verwandt, dass es sich, in Abgrenzung zu einer referentiellen Funktion, auf den Vollzug von Handlungen bezieht. Akteure setzen „ihren Körper ein, um in propria persona bestimmte Handlungen zu vollziehen, bestimmte Aktionen durchführen zu können“. Fischer-Lichte, Erika: „Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Weg zu einer performativen Kultur“, in: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 277320; Zitat S. 280 (kursiv im Original). 2 Dalí, Salvador: Dalí. Übers. v. Franz Meyer, Rastatt 1988, S. 229.

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KIRSTEN VON HAGEN Helm endlich herunterriß, war ich so bleich wie Jesus, als er nach 3 vierzigtägigem Fasten aus der Wüste zurückkehrte.

Der Kampf mit den Objekten bringt nach Peter Sloterdijk genau jene Vernichtungsangst zutage, zu deren Verdrängung und Beherrschung der ästhetische Explikationsprozess erst in Gang gesetzt wird. „Die Moderne als Hintergrundexplikation bleibt somit im Zirkel einer Angstüberwindung durch Technik, die Angst erzeugt, gefangen.“4 Man könnte in diesem Kontext einen weiteren Künstler der Moderne nennen, der die Performativität insbesondere der Objekte wie kaum ein anderer in den Mittelpunkt seiner Kunst stellt: Charles Spencer Chaplin. Chaplin figuriert als Vorläufer einer Performance-Kunst und eines Begriffs des Performativen, der einsteht für „eine spezifische Art der Raumwahrnehmung, ein besonderes Körperempfinden, eine bestimmte Form von Zeiterlebnis sowie eine neue Wertigkeit von Materialien und Gegenständen.“ Damit konstituiert sich gleichzeitig „eine bestimmte Weise des leiblichen In-der-Welt-Seins“, schreibt Fischer-Lichte, „das schöpferische Prozesse der Gestaltung und Umgestaltung fokussiert, in denen es die Performanz ist, über die man zur Referenz gelangt.“5 Charlot, wie er von den Franzosen liebevoll genannt wird, hat, so auch FranzJosef Albersmeier, keinen geringen Einfluss auf die französische Moderne, insbesondere den Surrealismus ausgeübt.6 Poesie und Film waren, wie es das erste surrealistische Manifest von 1924 formulierte, dazu ausersehen, die von der Gesellschaft unterdrückten Wünsche zu artikulieren und zu verwirklichen. Charlot wurde in diesem Zusammenhang exemplarisch als eine Gestalt genannt, die „den Konflikt zwischen individueller Autonomie und gesellschaftlicher Abhängigkeit durchgestanden habe.“7 Deutlich wird nicht zuletzt auch der Einfluss, den die spezifische Performativität der Objekte bei Chaplin auf die surrealistische Poetik des Objekts etwa bei Desnos ausübte; die Premiers poèmes (1913) von Paul Eluard waren von Charlot inspiriert, und Yvan Goll widmete 1923 Chaplin sogar eine Filmdichtung mit dem Titel LA CHAPLINADE. POÈME CINÉMATOGRAPHIQUE. Eluard und Crevel sahen, wie sie in dem Aufsatz „Un film commercial“ (1931) darlegten, in René Clairs A NOUS LA 3 Ebd., S. 229f. 4 Sloterdijk, Peter: Luftbeben. An den Quellen des Terrors, Frankfurt a.M. 2002, S. 79. 5 Fischer-Lichte 2002, S. 289. 6 Albersmeier, Franz-Josef: Die Herausforderung des Films an die französische Literatur. Entwurf einer „Literaturgeschichte des Films“, Bd. 1: Die Epoche des Stummfilms (1895-1930), Heidelberg 1985, S. 101f. 7 Ebd., S. 105.

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einen bloßen „plat démarquage“ von Chaplins CITY LIGHTS (beide 1931). 1922 schrieb Breton über die Erzählungen und Gedichte des jungen surrealistischen Autors Benjamin Péret, dass in ihnen zum ersten Mal „le burlesque de la vie moderne“ deutlich werde, „dans un esprit dépourvu d’amertume“,8 wie es die amerikanischen Filmburlesken vorgemacht hätten. In seinen Schriften als surrealistischer Filmkritiker feierte Desnos die in Poesie und Traum mündende Komik (ein häufig vernachlässigtes Element der chaplinschen Formensprache ist sicher das rekurrente Motiv des Traums), die Verschmelzung von Komik, Tragik und Humor, von Burleske, Lyrik und Sensualität. Indem er Chaplin die Stummfilmkomiker Mack Sennett und Buster Keaton an die Seite stelle, entgehe er, so Albersmeier, der „nahezu irrationalen Glorifizierung Chaplins“ durch die französische Avantgarde.9 Vehement wandten sich die Surrealisten im Manifest „Hands of Love“ (September 1927) zugunsten Chaplins gegen die ‚verlogene Moral‘, die es einer Lita Grey erlaubte, gegen den amerikanischen Stummfilmkomiker einen Scheidungsprozess anzustrengen, und plädierten für die Einheit von künstlerischer und ethisch-moralischer Freiheit des ihrer Meinung nach genialen Filmregisseurs.10 Charlot schien in besonderer Weise geeignet, unbewusste, nicht reflektierte, spontane Vorgänge zu veranschaulichen – gegen den Widerstand einer zweckorientierten Gesellschaft, wie die später noch im Einzelnen zu erläuternde spezifische Performativität der Dinge bei Chaplin deutlich macht. So formulierte Chaplin seit den 20er Jahren eine Herausforderung an die Moderne. Wie kaum ein zweiter Stummfilmkomiker wurde er von Surrealisten und Neorealisten, von Künstlern der Neuen Sachlichkeit, von Philosophen, Soziologen und Literaten kommentiert und für eigene Theoreme reklamiert. Dorothee Kimmich resümiert: LIBERTÉ

An den Filmen von Chaplin wurden die großen Fragen der Philosophiegeschichte diskutiert. Es ging um das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, um die Kontinuität und Konsistenz eines ‚Ich‘, um die Frage von Gedächtnis und Utopie, das Verhältnis von Subjekt und Objekt, um Verdinglichung und Entfremdung, um Ge-

8 Breton, André: „Caractères de l’évolution moderne et ce qui en participe“, in: ders.: Les Pas perdus, Paris 1974, S. 173. 9 Albersmeier 1985, S. 125. 10 Vgl. ebd., S. 99.

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KIRSTEN VON HAGEN setz und mögliche Erlösung und um die Chancen von Kunst im 11 Zeitalter der Medien.

Bei den von ihr versammelten Aufsätzen zu Charlie Chaplin als Signatur, als „Ikone der Moderne“, wie es der surrealistische Filmkritiker, Schriftsteller und Photograph Philippe Soupault 1928 formulierte, rückt vor allem ein rekurrentes Thema in den Blick: Charlot und die Objekte. In Anlehnung an Erika Fischer-Lichte und Sybille Krämer soll hier eine Poetik der Performativität am Beispiel der Filmkunst Charlie Chaplins nachgezeichnet werden. Krämer definiert Performativität als Medialität, beschreibt Sprache als „‚verkörperte Sprache‘“.12 Ausgehend von der Überlegung, dass Chaplin als Stummfilmkomiker durch seinen Körper, seine spezifische Gestik und Mimik, aber auch durch die Performativität der Objekte zu uns spricht, sollen die folgenden Ausführungen als Versuch gelten, einige zentrale Thesen des Sprachkonzepts von Krämer auf Chaplins spezifische Stummfilm-Kunstsprache zu übertragen. Chaplin figuriert dabei als Ikone der Moderne, indem er die Alltagswelt theatralisiert und Theater im Sinne Fischer-Lichtes „als performative Kunst“13 begreift, die Dinge zum Sprechen bringt und damit gleichzeitig ein spezifisches In-der-Welt-sein reflektiert. Als Vorläufer der Avantgarde-Bewegungen transformiert er das Theater in andere Lebensbereiche. In seinem Aufsatz „Mienenspiel und Physiognomie im Film“ schreibt Béla Balázs, dass uns im Film (er meint den Stummfilm, der uns hier primär interessieren wird) Worte keinen Anhaltspunkt geben. „Wir erfahren alles aus dem Gebärdenspiel, das nun keine Begleitung und auch nicht Form und Ausdruck, sondern einziger Inhalt ist.“14 „Urstoff“, „poetische Substanz“ des Films sei die „sichtbare Gebärde“. Im Film kommen, so Balázs, die Gesten des Schauspielers „von dort, woher seine Worte kommen.“ Im Film ‚sehen‘ wir den Schauspieler sprechen:

11 Kimmich, Dorothee: „Vorwort. ‚Der Mensch ist ein Loch‘: Charlie Chaplin als Ikone der Moderne“, in: dies. (Hrsg.): Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne, Frankfurt a.M. 2003, S. 9-25; Zitat S. 10. 12 Krämer, Sybille: „Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“, in: Wirth 2002 (wie Anm. 1), S. 323-346; Zitat S. 331. 13 Fischer-Lichte 2002, S. 288. 14 Balázs, Béla: „Mienenspiel und Physiognomie im Film“ (1924), in: Helmut H. Diederichs (Hrsg.): Geschichte der Filmtheorie, Frankfurt a.M. 2004, S. 212-221; Zitat S. 213 (kursiv im Original).

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Auf dem Film aber ist das Sprechen ein Mienenspiel und unmittelbar-visueller Gesichtsausdruck. Wer das Sprechen sieht, erfährt 15 ganz andere Dinge als jener, der die Worte hört.

Und Siegfried Kracauer schreibt über Chaplins CITY LIGHTS: Chaplin beweist in ihnen von neuem, dass er die Gebärdensprache auf eine Weise zu reden versteht, die jedes gesprochene Wort zum Schädling macht. Mehr noch: er erfindet Gesten und mimische Situationen, durch die eine Haltung, die sich sprachlich nur schwer umschreiben lässt, mit einem Schlag den Kindern und Erwachse16 nen aller Völker verständlich wird.

Wir sehen Chaplin sprechen. Mit Gesten, Gebärden, Mimik – und Objekten. In den folgenden Ausführungen gilt es, in Anlehnung an die von Fischer-Lichte diskutierte Theatralisierung des Alltags und an Krämers Auffassung von Performativität als Medialität, Chaplin als AvantgardeKünstler vorzustellen, der eine spezifische Formensprache entwickelt hat. Nachgezeichnet werden soll die Performativität der Objekte bei Chaplin, unter der Prämisse, die von Krämer in Aussicht gestellte Umakzentuierung des Performativitäts-Begriffs fortzuschreiben. Denn auch bei Chaplin geht es „um den Umgang mit Bedingungen, die nicht völlig in unsere Macht gestellt sind“, gehen „Tradition und Innovation, Bestätigung und Subversion“ ein intrikates Wechselverhältnis ein.17

Chaplin und die Kinematik Auffällig ist, dass Chaplin wie kein Zweiter die Bilder in Bewegung versetzt hat, ohne dass dabei eine große Kameramobilität nötig gewesen wäre. Chaplin verschiebt Figuren und Gegenstände, sogar ganze Häuser müssen (in GOLD RUSH, 1925) den Kräften der Natur weichen, er selbst wird, wie auf einer Zeichnung von Fernand Léger zu sehen ist, zum homme-machine, zur Mensch-Maschine. Objekte gehorchen häufig einer bestimmten Choreographie, wie die Semmeln beim berühmten „Semmeltanz“ (ebenfalls in GOLD RUSH). Figuren kommen nie zur Ruhe, da die Stühle, auf die sie sich setzen möchten, bereits von anderen Objekten belegt sind: Eine Pickelhaube, ein Florentinerhut und ein Damenhut mit Dornen versetzen Charlot und andere in A WOMAN (1915) immer wieder 15 Ebd., S. 214f. (kursiv im Original). 16 Kracauer, Siegfried: „Charlie Chaplin“, in: Kimmich 2003 (wie Anm. 11), S. 119-131; Zitat S. 125f. 17 Krämer 2002, S. 345.

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in Bewegung, ebenso wie der Mechanismus einer Falltür in BEHIND THE SCREEN (1916), der Menschen einklemmt, sie verschwinden lässt, plötzlich wieder hervorbringt. Es handelt sich dabei also nicht nur um ‚das Bewegtwerden des Körpers in behaglichem Ruhestande bei wechselnder Szenerie‘, wie Thomas Mann es im Zauberberg beschrieb, vielmehr werden die Körper hier selbst den Gesetzen der Kinematik, der Lehre von der Bewegung, unterworfen. Der französische Filmphilosoph Gilles Deleuze führt diese Kunst der Bewegung auf eine Entwicklung der Moderne zurück, die auch andere Ausdrucksformen wie Malerei, Tanz, Ballett und Pantomime erfasste und die schließlich beim Film ankam: Um so mehr gaben Tanz, Ballett und Pantomime die Figuren und Posen auf, um das Nicht-Gestellte, Nicht-Gestelzte freizusetzen, das die Bewegung auf den beliebigen Moment bezieht. Dadurch wurden Tanz, Ballett und Pantomime in die Lage versetzt, auf Vorfälle im Milieu, das heißt auf die Verteilung der Punkte im Raum oder auf Momente des Ereignisses zu antworten. Das alles traf sich mit dem Film. […] bereits im Stummfilm hatte Chaplin die Pantomime der Kunst der Posen entrissen und sie zur ‚Aktionspanto18 mime‘ erhoben.

Explizit wird dies u.a. in EASY STREET (1917), in dem Chaplin eine atemberaubend anmutende Folge von bis ins Detail choreographierten Auftritten, akrobatischen Einlagen und Tänzen inszeniert. So reagieren die Bewohner (Chaplin konnte für diesen Film erstmals über eine gebaute Dekoration verfügen) wie ein corps de ballet auf jeden seiner Blicke. Hinter der ganz und gar stilisierten Welt verbirgt sich freilich auch hier die soziale Satire. Günter Giesenfeld schreibt über den Film: Zwar besteht auch Easy Street […] im wesentlichen aus kleinen Episoden, die wie Nummern einer tänzerisch-musikalischen Darbietung aufeinander folgen, aber es gibt hier schon einen richtigen Plot […]. Davon bleibt auch die Charlie-Figur nicht unberührt, seine Taten sind nicht mehr pures Spiel mit der Tücke des Objekts (als Objekte erscheinen auch die Gegner), sondern haben jetzt zusätzlich einen paradigmatischen Charakter, sind auf einen gesell19 schaftlichen Zusammenhang bezogen, in dem sie etwas bedeuten.

Chaplin, der selbst seine ersten Gehversuche auf den Brettern, die die Welt bedeuten machte – sprich in Fred Karnos Wandertheatergruppe, wo 18 Deleuze, Gilles: Das Bewegungsbild. Kino I. Übers. v. Ulrich Christians u. Ulrike Bokelmann, Frankfurt a.M. 1997, S. 20. 19 Giesenfeld, Günter: „Easy Street“, in: Thomas Koebner (Hrsg.): Filmklassiker, Bd. 1: 1913-1946, Stuttgart 2002 (zuerst erschienen 1995), S. 31-35; Zitat S. 34.

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er in die Geheimnisse der Pantomime eingeweiht und unterrichtet wurde, alles mit Gestik und Mimik zu sagen –, lernte schon früh, seinen eigenen Körper den Gesetzen der Kinetik zu unterwerfen. Seinen Pinguin-Gang, der wie sein Bärtchen, die Melone und das Stöckchen zu Markenzeichen der Figur des Tramps avancieren sollte, hat er dieser Schule zu verdanken – und, so will es die Legende, einem alten betrunkenen Kutscher aus dem Stadtteil seiner englischen Kindheit, Lambeth.20 Auch sein scheinbar regungsloses Gesicht wird, durch wenige genau einstudierte mimische Gesten bewegt, auf eine ganz spezifische Art und Weise, die den Dramatiker Bertolt Brecht begeistern sollte, durch Erregung in Bewegung versetzt: Chaplins Gesicht ist immer unbewegt, wie gewachst, eine einzige mimische Zuckung zerreißt es, ganz einfach, stark, mühevoll. Ein bleiches Clownsgesicht mit einem dicken Schnurrbart, Künstlerlocken und Clownstricks […]. Aber er ist das Erschütterndste, was es 21 gibt, es ist eine ganz reine Kunst.

Die Kunst der Pantomime, in der man den jungen Charlie seit 1906 unterwies, umfasste Akrobatik, Parodie, Sketche, Tänze, Gaukeleien, konnte von einem Moment zum anderen von Gelächter zur Melancholie übergehen. Zu seinen Typen gehörte der beschwipste Gentleman ebenso wie der ungeschickte Taschenspieler. Chaplin hat sich dieser Typen bedient wie der Sahnetortenschlachten eines Mack Sennett, sie jedoch seinen eigenen Gesetzen der Kinematik unterworfen. Seit seinem ersten Engagement bei Mack Sennett suchte er vor allem nach Regeln, wie mit den komplexen Beziehungen zwischen Schauspieler und dem auf ein Stativ montierten schwarzen Kasten zu verfahren sei. Die frühen 35 Filme, die seit 1914 von Keystone produziert wurden, basieren vor allem auf Verfolgungsjagden, die einem ganz eigenen Rhythmus gehorchen; die Storys sind im Grunde nur ein Vorwand, um diverse Verwechslungen, Schlägereien und Liebesrivalitäten ins Bild zu setzen, die Körper in Bewegung zu zeigen und sie in ein Verhältnis zu den sie umgebenden Objekten zu stellen. Jean Mitry antwortete denen, die Chaplin vorwarfen, sich des Films zu bedienen, statt ihm zu dienen, indem er ausführte, dass Chaplin der Pantomime ein neuartiges Modell gegeben habe in Abhängigkeit von Raum und Zeit: eine in jedem Augenblick konstruierte Kontinuität, die – 20 Vgl. den Hinweis bei Solet, Bertrand: Charlie Chaplin, Hamburg 1982, S. 37. 21 Brecht, Bertold: „Tagebuch, 29. Oktober 1921“, in: Kimmich 2003 (wie Anm. 11), S. 43f.

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statt sich auf zu verkörpernde vorgängige Figuren zu beziehen – sich nur noch in ihre herausragenden immanenten Elemente auflösen lässt.22 Dies gilt vor allem für die frühen Filme Chaplins, bei denen noch nicht, wie in seinen späteren Werken, die Story bewegt, sondern die Körper selbst und ihre Choreographie der Verrichtungen. Verkörperung illustriert hier – wie Krämer für den Bereich der Sprache veranschaulicht –, dass uns Geist und Ideen sowie abstrakte Gegenstände und Formen immer nur zugänglich sind in Gestalt von Inkorporationen.23 Damit verweist Chaplins Poetik in besonderer Weise auf die Kinematographie. Die neue Kunstform habe den Pantomimen Chaplin so sehr gereizt, dass er, so ist häufig zu lesen, von seinem Platz im Saal der Nickel-Odeons aus selbst an der Handlung teilgenommen habe. Die neue Technik habe ihn derart begeistert, dass er sich vorgenommen habe, sich selbst eine Kamera zu kaufen.24 Auch wenn wir es hier zugegebenermaßen mit Anekdoten zu tun haben, so weisen diese doch bereits auf die spezifische Auffassung Chaplins von Bewegung hin. Zwei Faktoren, so Günter Krenn, haben die Geschichte der Menschheit maßgeblich bestimmt: die Kinematik – strebt der Mensch doch bereits seit Beginn der Evolution danach, Beute zu machen und nicht zur Beute zu werden (sowie sich seit der Erfindung des Rades unter technischer Mithilfe fortzubewegen) – und die Graphik, bildnerische Darstellungen, die von Höhlenmalereien, Fresken und Mosaiken sowie Ölgemälden schließlich in die Photographie und den Film münden.25 In der Kinematographie fallen beide Entwicklungen zusammen, eine Tatsache, die Chaplins Kunst immer wieder versinnbildlicht. André Bazin spricht von der „Mechanisierung des Bewegungsablaufs“ bei Chaplin, die gewissermaßen „seine dauernde Versuchung“ darstelle und die einzige Möglichkeit, eine „Unabhängigkeit von Dingen und Ereignissen“ gleichsam in die Zukunft zu projizieren.26 Die späteren Filme bauen die Performativität der Objekte stärker in die Handlung, in die Story ein. Während die frühen Filme häufig von einem grausamen und sadistischen Umgang mit Dingen und Menschen bestimmt sind, treten später die tragikomischen Züge der Verrichtungen 22 23 24 25

Vgl. Mitry, Jean: Histoire du cinéma muet, Paris 1973, Bd. 3, S. 49-51. Vgl. Krämer 2002, S. 345. Vgl. Solet 1982, S. 27. Krenn, Günter: „Der bewegte Mensch – Sascha Kolowrat“, in: Francesco Bono/Paolo Caneppele/ders. (Hrsg.): Elektrische Schatten: Beiträge zur Österreichischen Stummfilmgeschichte, Wien 1999, S. 37-46; Zitat S. 37. 26 Bazin, André: „Eine Einführung in die Symbolik von Charlot“, in: Kimmich 2003 (wie Anm. 11), S. 184-194; Zitat S. 191.

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deutlicher in den Vordergrund. In Filmen wie GOLD RUSH konzentriert sich Chaplin vor allem auf die ästhetische Seite der ins Komödiantische gewendeten Poetik der Dinge, während in CITY LIGHTS die ökonomische und politische Seite häufig ironisiert wird. In der letzten Phase der späten Meisterwerke schließlich, die hier nur eine untergeordnete Rolle spielen, betritt ein invertierter Tramp-Charakter die Bühne.27

Vorder- und Hintergrund oder champ und hors champ Die chaplineske Philosophie der Komik beruht in nicht geringem Maße auf einem intrikaten Zusammenspiel von Vorder- und Hintergrund, stage- und backstage-Bereich, champ und hors champ. Ein früher Film Chaplins heißt denn auch BEHIND THE SCREEN (1916) und zeigt das Leben der Bühnenarbeiter, die die Kulisse für den Film bereiten. Im Verlauf der Handlung kommt es zu einer Tortenschlacht, die nicht nur die zwei Räume verbindet, sondern auch eine Verbindungslinie zwischen dem niederen komischen und dem höheren dramatischen Genre etabliert. Charlie, der den Mechanismus der Falltür zu bedienen hat, wenn er ein bestimmtes Geräusch hört, weiß schon bald nicht mehr, was im Vordergrund geschieht und bedient die Falltür immer im falschen Moment, befördert so Personen von oben nach unten und umgekehrt, lässt sie verschwinden, nur um sie später derangiert wieder auftauchen zu sehen. Ähnlich agiert die Schiebetür in THE ADVENTURER (1917), die Menschen ebenfalls einklemmt, sie ins Bild manövriert und wieder hinaus, und dabei wie ein Theatervorhang den Zuschauerraum vom Bühnenraum abtrennt. In dem Film PAY DAY (1922) ist es ein Aufzug, der verschiedene Objekte von einer Ebene auf die andere transportiert. Auch die Hütte in GOLD RUSH wirkt wie ein Bühnenraum mit Auf- und Abgängen. Auffällig ist jedoch, dass diese nicht willentlich herbeigeführt werden, sondern die Personen durch einen Schneesturm automatisch befördert werden. In BEHIND THE SCREEN ist Charlot in einer Music-Hall angestellt und zerreißt hinter den Kulissen immer dann ein Stück Stoff, wenn Herkules sich auf der Bühne bückt, um seine Hanteln zu stemmen. Woraufhin dieser sich jedes Mal wieder entsetzt aufrichtet, aus Angst, sein Trikot sei gerissen. In THE IDLE CLASS (1921) sind es immer neue Golfbälle, die nicht nur unterschiedliche Spieler, sondern auch verschiedene gesellschaftliche Klassen durch einen präzise gesetzten Schlag in Form 27 Vgl. Clausius, Claudia: The Gentleman is a Tramp: Charlie Chaplins Comedy, New York/Bern/Frankfurt a.M. 1989, S. 10, die Chaplins Filmwerk nach der je dominierenden Form der Komik in fünf Phasen einordnet.

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einer Kausalkette in Relation setzen. In PAY DAY sind es Ziegelsteine, die in den Bildraum fallen, in einer vertikalen Bewegung, gleichsam von unten nach oben. In THE KID (1921) findet die umgekehrte Bewegung statt: Hier wird Charlie wiederholt mit Müll konfrontiert, den man ihm aus Fenstern, die oberhalb seines Blickfelds liegen, auf den Kopf schüttet, weshalb er auch, als er das Baby findet, zunächst nach oben schaut, im Glauben, dieses sei ihm ebenfalls von oben zugefallen. In THE ADVENTURER ist es eine Kugel Eis, die sich verselbstständigt und erst in Charlots Hose verschwindet und danach ein Stockwerk tiefer ins Kleid einer Dame rutscht. Immer sind es in Bewegung versetzte Objekte, die einzelne Räume und Figuren miteinander verbinden – wie es die großen medialen Erfindungen des 19. Jahrhunderts, etwa die Telegraphie, auf andere Weise vorgemacht haben. Wie Gilles Deleuze über das Kino der Moderne schreibt, wird hier zugleich „auf eine übersichtliche mechanische Bewegung als Maximalgesetz für ein Bilder-Ensemble“ verwiesen, das Dinge und Lebewesen, Belebtes und Unbelebtes vereinheitlicht und vereint. […] Das konkrete Objekt, Objekt des Begehrens, tritt als Motor oder als Triebfeder auf, die ihre Wirkung über einen gewissen Zeitraum entfaltet, als primum movens, das eine mechanische Bewegung auslöst, an der eine immer größere Anzahl von Personen mitwirkt, die ihrerseits im Raum als Teile eines immer 28 größeren mechanisierten Ensembles erscheinen.

Die Objekte setzen die Handlung in Gang, motivieren und mobilisieren die Charaktere wie in einem automatischen Ballett, „dessen Antrieb selbst in der Bewegung zirkuliert.“ Das Mechanische und die Kinematik verbinden hier zwei Pole miteinander „in einem Prozeß innerer Resonanz und verstärkter Kommunikation.“29

Chaplin und die Technik Immer wieder ist von verschiedenen Autoren der Moderne auf die besondere Technikkritik Chaplins Bezug genommen worden. Am deutlichsten wird diese Kritik an der Industrialisierung, in der der Einzelne buchstäblich nur noch ein Rädchen im großen mechanischen Ganzen ist, sicher in dem späteren Film MODERN TIMES (1936), in dem Charlot einen Fabrikarbeiter mimt. Eine der Inspirationsquellen für den Film waren die Fließbänder in den Detroiter Autofabriken, in denen junge Farmer im 28 Deleuze 1997, S. 65f. (kursiv im Original). 29 Ebd., S. 66.

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Verlauf einiger Arbeitsjahre in „‚Menschenfetzen‘“, wie Chaplin es nannte, verwandelt wurden.30 Charlots Verrichtung steht in keinem Zusammenhang zu einem fertigen Produkt. Deutlich wird die Sinnlosigkeit seines Tuns in Szene gesetzt: Charlie muss – im von einer gigantischen Überwachungsmaschinerie à la Orwell vorgegebenen Takt der Maschine – zwei Schraubenmuttern auf einem nicht zu identifizierenden Brett anziehen. In einer Einstellung des Films ist Charlot zu sehen, wie er in der Fabrik am Fließband mit zwei Universalschlüsseln Schraubenmuttern festzieht und dabei selbst ver-rückt wird. In einer anderen werden Charlie als Hilfsmechaniker und sein Chef von den Zahnrädern einer großen Maschine, die von ihnen gewartet wird, ergriffen. Eine automatische Fütterungsmaschine für Arbeiter, die zudem von einem mechanischen Verkäufer angepriesen wurde, verselbstständigt sich, so dass dem Tramp nicht nur wiederholt der Mund gewischt wird, sondern er sogar Schraubenmuttern in selbigen geschoben bekommt. Später wird er selbst von der Idee der Mechanik so ergriffen, dass er auch im übertragenen Sinne verrückt wird. Vom Arbeitsrhythmus angesteckt, versucht er nun alles festzuschrauben, was ihm in den Weg kommt, von Knöpfen an Rock oder Bluse bis zur Nase des Vorgesetzten. Im Anschluss daran ist er bestrebt, mit der Ölkanne jeden in seiner Reichweite zu bespritzen. Sein ballet mécanique, das er aufführt, die Ess- und Zeitgewinnmaschine, die auf signifikante Weise durcheinander gerät, der winzige Hemmbolzen, der, einmal entfernt, ein riesiges Schiff auf den Grund des Meeres befördert, Charlies Rollschuhtanz am Rande des Abgrundes – all diese Situationen sind zu Bildern, zu Insignien eines vergeblichen Kampfes des Einzelnen gegen die Übermacht der Technik gedeutet worden und von der Moderne für sich reklamiert worden. Hier verbinden sich soziale Revolte und das Recht auf die eigene, irrationale Verwirklichung des poetischen Ich auf sinnfällige Weise.31 Im Gegensatz zu Chaplin, der immer wieder in die Nähe des Surrealismus gerückt wurde, weist Buster Keaton eine enge Neigung zu Maschinen auf, die er zu seinen Verbündeten macht. Chaplin hingegen weiß Werkzeuge und allgemein Gegenstände in sehr eigener Manier für seine Zwecke einzusetzen und gegebenenfalls, wie gezeigt, auch umzudeuten, während er sich gleichzeitig der Maschine widersetzt. Deleuze spricht in diesem Zusammenhang von zwei unterschiedlichen sozialistischen Visionen, die beide Komiker kennzeichneten, „um eine humanistisch-

30 Zitiert nach Solet 1982, S. 129. 31 Vgl. Albersmeier 1985, S. 106.

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kommunistische bei Chaplin und eine maschinenhaft-anarchische bei Keaton.“32 Dabei darf nicht vergessen werden, dass es Chaplin zugleich um eine Kritik an der Industrialisierung der siebten Kunst selbst ging. Über den Film als Massenware sagte er einmal: ‚Mit dem Film, der eine Kunst sein wollte, hat Hollywood nichts mehr zu tun. Die Arbeit besteht hier nurmehr darin, Filmmaterial kilometerweise zu belichten. Hollywood liefert zur Zeit seine letzte Schlacht und wird sie verlieren, zumindest dann, wenn es nicht 33 aufhört, Filme am Fließband herzustellen.‘

Der ungarische Filmkritiker Balázs attestiert Charlot einen spezifischen, unliterarischen Umgang mit der Filmsubstanz: Er dichte mit der „lebendigen Materie der Einzelwirklichkeiten“.34 Interessant ist, dass Charlot hier eine Entsprechung im französischen Film der Avantgarde hatte – auch wenn die politische Stoßrichtung bei Chaplin eine andere ist und der burleske Gestus gewahrt bleibt. Philippe Soupault schreibt über Chaplin: Charlie Chaplin hat im wahrsten Sinne des Wortes das Kino ‚entblödet‘. […] Man hat den Eindruck, dass die besten und intelligentesten Regisseure seit den ersten großen Filmen von Charlie Chaplin nicht anders konnten, als ihm zu folgen und ihn mehr oder weniger nachzuahmen. […] Die amerkanischen Regisseure und nach ihnen das Publikum haben nun das Dramatische verstanden, das sich in einem Türschloss, in einer Hand, in einem Wassertropfen verbirgt. […] Ich bin sicher, dass sich die Spuren zum Beispiel in der modernen französischen Dichtung sehr gut verfolgen las35 sen.

Wiederholt wird in MODERN TIMES das Automatenhafte, Maschinelle der Verrichtungen Charlie Chaplins ins Bild gesetzt, wird, wie Gilles Deleuze über die Burleske oder Slapstick-Komödie schreibt, gezeigt, wie eine kleine Differenz in der Handlung oder zwischen zwei Handlungen einen unendlich großen Unterschied zwischen zwei Situationen zum Vorschein bringt. Deleuze spricht in diesem Kontext von der den Werkzeugen eigenen Potentialität: 32 Deleuze 1997, S. 238. 33 Zitiert nach Solet 1982, S. 153. 34 Balázs, Béla: „Chaplin, der amerikanische Schildbürger“, in: Kimmich 2003 (wie Anm. 11), S. 73-75; Zitat S. 74. 35 Soupault, Philippe: „Charlie Chaplin“, in: Kimmich 2003 (wie Anm. 11), S. 159-183; Zitat S. 163ff.

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[…] selbst wenn Charlie mit einer Maschine zu tun hat, dann stellt er sie sich als ein überdimensioniertes Werkzeug vor, das sich automatisch in die gegenteilige Situation verkehrt. Das macht Chaplins Humanismus aus: er zeigt, dass es eines ‚Nichts‘ bedarf, damit sich die Maschine gegen den Menschen kehrt und zu einem Instrument der Gefangenschaft, der Bewegungslosigkeit, der Frustra36 tion, ja der Folter auf der Ebene elementarster Bedürfnisse wird.

Die Philosophie der Technik steht in enger Verbindung zur Tücke des Objekts, die bei Chaplin immer wieder konstatiert wurde.

Der Widerstand der Dinge Während einer mondänen Abendgesellschaft in CITY LIGHTS (1931) verschluckt Chaplin eine Trillerpfeife. Bei jedem Schluckauf trillert das Pfeifchen und unterbricht so den Auftritt des Sängers, der über ein wiederholtes Räuspern nicht hinauskommt. Stattdessen finden sich immer mehr Hunde in dem Salon ein, die den Tramp umringen. Im Restaurant verschlingt er eine Papierschlange, die er fälschlicherweise für Spaghetti hält. Beim Boxkampf wickelt sich die Schnur der Glocke um seinen Hals, am Flussufer legt sich ihm die Schlinge eines Selbstmörders wie von selbst um die Schultern. In all diesen Szenen hat es den Anschein, als ob die Subjekt-Objekt-Relation jeweils einen Moment lang außer Kraft gesetzt werde. Die Objekte gewinnen ein Eigenleben, das Subjekt verstrickt sich in eine mechanisierte Dingwelt und kämpft gegen die Gesetze der Schwerkraft. So rutscht in THE ADVENTURER ein schwerer Mann von der Bahre in eben das Meer, aus dem ihn der entflohene Sträfling Charlie zuvor mühsam an Land gezogen hat. Durch die Rettungsaktion aufgenommen in die feine Gesellschaft, wird ihm das Knallen eines Champagnerkorkens, das er fälschlicherweise als das eines Schusses deutet (worauf er automatisch die Hände hochhebt), beinahe zum Verhängnis. Häufig entgeht er aber auch mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit den Gefahren, die sich durch Öffnungen in Form von Türen oder Abgründen vor ihm auftun – z.B. in CITY LIGHTS, wo wir Charlie von innen durch die Scheibe sehen, wie er in die Auslage eines Ladens blickt, während sich hinter ihm wiederholt der Boden öffnet. Die Zuschauer werden mit Charlie in der Schwebe gehalten, immer in Erwartung, er möge jeden Moment übertreten und abstürzen. In PAY DAY besteht die Komplizenschaft für eine Weile sogar mit dem Aufzug eines Baugerüsts, der jedes Mal, wenn der Arbeiter sich hinsetzen möchte, um seine 36 Deleuze 1997, S. 229.

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Schuhe zuzubinden, ins Bild fährt, so dass dieser sich auf einem im Fahrstuhl befindlichen Fass niederlassen kann – bis ein anderer Arbeiter ein Stockwerk tiefer das Fass entzündet. Die Szene zeigt, dass im Sinne des hitchcockschen Begriffs des suspense die Bombe jederzeit detonieren kann, d.h. im Falle von Chaplin, dass die Objekte ihre Tücken entfalten und sich gegen den Benutzer richten können. Dagegen schreibt Alfred Polgar: „Es ist nicht wahr, dass an ihm [Charlie Chaplin; K.v.H.] die Tücke des Objekts sich auslebt. Sie wird reichlich paralysiert durch Tücke des Subjekts.“ Polgar attestiert Chaplin eine „strahlende Sinnlosigkeit seines Tuns“.37 Augenfällig wird dies in der Eröffnungssequenz von CITY LIGHTS: Während das Denkmal in Gestalt einer überdimensionierten Statue enthüllt wird, ist Chaplin zu sehen, der die Einbuchtung von deren Armen zum Schlafplatz umfunktioniert hat. Als er unter den empörten Blicken der Menge überstürzt sein „Bett“ verlässt, verfängt er sich im steinernen Schwert der Statue und zappelt, hilflos mit den Armen rudernd, in der Luft. In PAY DAY versucht Charlot vergeblich, in eine Straßenbahn zu steigen: Mal fährt sie ihm vor der Nase weg, mal kämpft er sich mühsam an die erste Stelle, nur um durch die Kraft des zuletzt Eingestiegenen – die durch die Menge gleichsam verstärkt wird – doch wieder nach draußen befördert zu werden. Endlich kommt die letzte Straßenbahn, die zugleich die überfüllteste ist. Mit letzter Kraft klammert Charlie sich an einen Mann und schafft es so, ein Stück mitzufahren, bis sich schließlich dessen Hemd löst und er erneut aus der Bahn fällt. In seinem trunkenen Zustand bemerkt er dies jedoch nicht und stellt sich gleich darauf in einen Würstchenverkaufsstand, wo er sich an einem der herunterhängenden Würstchen wie an einem Haltegriff der Straßenbahn festhält und dem Metzger sogar Beförderungsgeld reicht. André Bazin beschreibt das spezifische Verhältnis Charlots zu den Dingen folgendermaßen: So wie die menschliche Gesellschaft ihn niemals akzeptiert, nicht einmal provisorisch, es sei denn aus Missverständnis, so verhält Charlie sich jedes Mal, wenn er ein Ding seiner Zweckbestimmung entsprechend – das heißt innerhalb unseres gesellschaftlichen Rahmens – zu benutzen versucht, ausgesprochen ungeschickt […], oder die Dinge wehren sich gegen das Benutztwerden, fast als täten sie das mit Absicht. […] Umgekehrt aber benutzt Charlie die Dinge, die ihm ihren Dienst in der uns gewohnten Weise verweigern, zu viel besseren Zwecken, denn er passt sie den vielfältigen

37 Polgar, Alfred: „Chaplin“, in: Kimmich 2003 (wie Anm. 11), S. 33-36; Zitat S. 34.

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Notwendigkeiten an, die ihm aus der jeweiligen Situation erwach38 sen.

Meiner Ansicht nach steht vor allem die hier deutlich werdende Medialität der Dinge, Chaplins idiosynkratische Verwendung der Gegenstände, im Mittelpunkt. Dadurch, dass Chaplin die Dinge zum Sprechen bringt, zeigt er ihre Materialität auf, ihre Eigensinnigkeit und Widerständigkeit. Er illustriert dabei, dass, wie Krämer schreibt, Medien „an der Entstehung von Sinn und Bedeutung […] auf eine Weise beteiligt [sind], die von den Sprechenden weder intendiert, noch von ihnen völlig kontrollierbar ist“. Chaplin visualisiert, was Krämer für den Bereich der Sprache deutlich macht: dass Medialität „ein intentionales, intersubjektiv kontrolliertes Zeichenhandeln“ subvertiert.39

Mensch, Ding, Umwelt In besonderer Weise führt Chaplin eine Entkoppelung des Zusammenhangs zwischen Subjekt und Objekt vor, entreißt die Dinge ihrem Verweisungskontext. So ist es in EASY STREET eine Gasmaske, mit deren Hilfe der zum Polizisten mutierte Tramp einen Verbrecher chloroformiert. Mit einem Siphon, den er als Feuerspritze gebraucht, versucht Charlie in CITY LIGHTS, das Hinterteil einer Dame zu löschen, welches sich durch eine sich verselbstständigende Zigarre entzündet hat. In seiner Carmen-Parodie (CARMEN, 1916), schwingt sich Darn Hosiery, Chaplins Verkörperung des Don José, an aufgeschnürten Knoblauchknollen wie an einer Liane durch den Raum. Unvergessen bleibt die Szene in GOLD RUSH, in der Charlot an Thanksgiving nicht nur seinen eigenen Schuh kocht und wie einen Truthahn fachgerecht zerlegt, sondern die Schuhnägel auch sorgfältig wie Knochen abnagt und die Schnürsenkel wie Spaghetti auf eine Gabel dreht. Auffällig ist, dass in diesem Moment die Dinge tatsächlich ihre Signifikanz ändern: Wenn Charlie eine Kerze isst, dann verschlingt er diese nicht, als wäre sie eine Kerze, sondern verspeist sie wie ein Ei, das er mit Salz bestreut. Lehnen sich die Dinge auch häufig gegen ihn auf, wie in MODERN TIMES, wo Charlie nicht bemerkt, dass an dem Strick, den er sich als Gürtel um die weite Hose bindet, ein Hund befestigt ist, so gelingt es dem Komiker doch immer wieder, sie entgegen ihrem ursprünglichen Zweck zu verwenden. Beispielsweise fungieren in THE IMMIGRANT (1917) Salz- und Pfefferstreuer als Fernglas; in THE 38 Bazin 2003, S. 185. 39 Krämer 2002, S. 332.

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VAGABOND (1916) funktioniert Charlot ein kariertes Hemd zur Tischdecke um, wobei die Ärmel kurzerhand zu Servietten gefaltet werden. Der vermeintliche Tisch darunter entpuppt sich bei näherem Hinsehen als umgedrehter Waschbottich. Oft ist Chaplins Umwertung der Dinge durch eine Unverhältnismäßigkeit der Mittel bestimmt – so verwendet er etwa im zuletzt genannten Film einen Hammer, um ein Ei aufzuschlagen. Häufig verwandelt er sich selbst einem Gegenstand an, wie in THE ADVENTURER, wo er sich einen Lampenschirm über den Kopf hält und sich damit als Stehlampe tarnt. Soupault schreibt über diese Anverwandlung der Dinge: Chaplin ist zudem ein komischer Schauspieler, und er bestätigt ununterbrochen die Definition Bergsons: ‚Wir lachen immer, wenn uns eine Person wie eine Sache vorkommt.‘ Chaplin lässt oft an etwas Mechanisches denken und in vielen seiner Filme erleben wir, wie er sich in einen Automaten verwandelt oder in einen Gegenstand […]. In diesen schnellen Verwandlungen behält er aber sein 40 Maß und weiß menschlich zu bleiben.

Weniger ausgefallen, aber nicht minder bemerkenswert muten Umdeutungen wie die der Zeitung in GOLD RUSH an: Angesichts mangelnder festlicher Dekorationsmöglichkeiten breitet Charlie eine Zeitung auf dem Tisch aus, in die er zuvor Muster geschnitten hat, so dass sie nun entfernt an Spitze erinnert. Immer wieder wenden sich seine burlesken Einfälle auch gegen die Sinnlosigkeit des Krieges: In SHOULDER ARMS (1918) zündet er sich seine Zigarette am Feuer der Kugeln an, die über seinen Kopf pfeifen. Bei all dem ist die Haltung des Tramps gegenüber den Objekten entscheidend, sein besonderer Blick auf und seine Umgehensweise mit ihnen: Rolltreppen und Karabiner, Marschkolonnen und Fließbänder stehen für eine Normalität, gegen die nur der eine Chance hat, der sie gar nicht kennt, der in sie hineinverschlagen wird und sie mit seinem rührenden, übertriebenen Bemühen um Anpassung, Verstehen 41 und Gehorchen zur Kenntlichkeit entstellt.

Nach Gilles Deleuze ist es vor allem die durch die Gebrauchsverfremdung in den Gegenstand selbst eingeführte kleine Differenz, die „entgegensetzbare Funktionen oder entgegengesetzte Situationen“ zur Folge

40 Soupault 2003, S. 168. 41 Kimmich 2003, S. 21.

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hat.42 So werde durch die scheinbare Gleichsetzung von Billardspiel und Krieg in SHOULDER ARMS (Charlie schreibt jedes Mal, wenn er sein Ziel getroffen hat, einen Punkt für sich gut) gerade der Unterschied zwischen diesen beiden Situationen auf burleske Weise ins Bild gerückt und betont. Eine Komplizenschaft der Dinge gibt es bei Charlot nur im Kleinen – so, wenn sich in GOLD RUSH eine Wanduhr aus ihrer Halterung löst und den Gegner kampfunfähig macht, oder wenn ein unter dem Kopfkissen verborgenes Photo und eine zerdrückte Rose der Angebeteten verraten, was dieser seltsam anmutende Tramp für sie empfindet. Doch wird der Effekt sogleich wieder zunichte gemacht, die Komplizenschaft suspendiert und in ihr Gegenteil verkehrt: Als Charlie wenig später vor Freude mit den Daunenkissen ein Frau-Holle-Schneewunder in der Hütte inszeniert, kommt die Tänzerin zurück, weil sie ihre Handschuhe vergessen hat und findet ihren Bewunderer in dieser eigentümlichen Situation – die Dingwelt hat sich erneut gegen ihn verschworen. Häufig wird ein sehr fragiles Gleichgewicht zwischen Mensch, Ding, Kosmos in Szene gesetzt, so in GOLD RUSH, wenn die Hütte auf dem Abhang balanciert und schon ein verschobener Tisch, ja ein Atmen oder ein Husten das Objekt aus der Balance bringen können. Wie so oft, wendet sich auch hier der Körper gegen Chaplin, verselbstständigt sich, woraufhin Big Jim versucht, ihn mit den Worten: „You have no psychology, no control!“ zur Raison zu rufen. Am Schluss dieser prekären Situation wird Charlie von Big Jim in letzter Minute aus der in den Abgrund stürzenden Hütte gezogen. In der Nachvertonung, bei der Chaplin selbst die Geschichte des Films erzählt, wird diese Aktion von einem „Plopp“ begleitet, wie es ertönt, wenn man einen Korken aus der Flasche zieht. Gilles Deleuze zeichnet einen spezifischen Umgang Chaplins mit der ihn umgebenden Dingwelt nach, der sich deutlich von dem anderer Slapstick-Komiker unterscheide. In seinem ersten Kinoband entwickelt Deleuze fast so etwas wie eine Philosophiegeschichte des Slapstick auf zwei Seiten: Alles fing an mit einem maßlosen Überspannen der sensomotorischen Situationen, in denen sich die Verknüpfungen jeder einzelnen verstärkten, überstürzten und ins Unendliche vervielfachten, in denen sich die Überschneidungen und Zusammenstöße ihrer unabhängigen Kausalserien häuften und ein wucherndes Ganzes bildeten. Im zweiten Stadium wird dieses Element angereichert und rei42 Deleuze 1997, S. 229.

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KIRSTEN VON HAGEN ner als zuvor weiter bestehen […]. Das Charakteristische dieses zweiten Stadiums ist jedoch die Einführung eines äußerst starken emotionalen und affektiven Elements in das sensomotorische 43 Schema.

Bei Chaplin finden wir beides: Die Inszenierung sensomotorischer Situationen dominiert vor allem die erste Hälfte seiner Produktionen, während in seinen großen späteren Filmen das affektive Element vorherrscht. Das in der dritten Phase des Slapstick durch die Einführung der Rede dominierende mentale Bild erscheint als diskursives Bild in den späten Filmen Chaplins. Sprache wird hier vor allem eingesetzt, um ihre Benutzer zu entlarven, so die Würdenträger, die zu Beginn von CITY LIGHTS das Denkmal einweihen, wobei ihr Tonfall die Situation umreißt und Gesten als Signifikanten fungieren. Ein anderes Beispiel ist die von Chaplin eigens für seinen Auftritt als Sänger kreierte Kunstsprache, die verschiedene Sprachen in sich vereint. Auch hier machen erst Gestik und Mimik des Sängers den Inhalt des Chansons explizit. In Chaplins Filmen ist der Ton auch nach Einführung des Tonfilms verzichtbar. Dies zeigt sich in MODERN TIMES ein letztes Mal sehr anschaulich. Der Film verfügt zwar über einige Toneffekte, funktioniert ansonsten jedoch wie ein Stummfilm. Die originelle und radikale Einführung der Rede in seine späten Filme THE GREAT DICTATOR (1940) und MONSIEUR VERDOUX (1947) zeige, so führt Deleuze weiter aus, wie Chaplin die burleske Kleinform an eine Grenze führe, „die sie einer großen Form annähert, die des Slapsticks nicht mehr bedarf, ohne aber dessen Möglichkeiten und Zeichen aufzugeben.“ Die vierte Phase des Slapstick, die Deleuze bei dem amerikanischen Komiker Jerry Lewis ansetzt, ist dadurch gekennzeichnet, dass „die sensomotorischen Bindeglieder“ abreißen und durch rein optische und akustische Situationen ersetzt werden, die jedoch, anstatt die Handlung fortzuführen, in einen Kreislauf münden, in dem sie auf sich selbst zurückkommen.44 In MODERN TIMES bewies Chaplin zum letzten Mal seine pantomimischen Qualitäten, mit diesem Film trat der Tramp von der Bühne ab, hier zeigte er letztmalig jenes spezifische Verhältnis von Mensch, Ding und Umwelt, das Dalí im gleichen Jahr zum Gegenstand seines performativen Vortrags in den Londoner Burlington Galleries machte: Erst als er nicht länger in der Fabrik arbeitet, tritt der Tramp in Erscheinung. Sein Ort war immer schon a-sozial, außerhalb (genauer: 43 Ebd., S. 90. 44 Ebd., S. 233.

CHARLOT UND DIE MODERNE

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jenseits) gesellschaftlicher Bestimmtheit. Gerade der Film, mit dem Chaplin bis dahin am deutlichsten auch eine politische Stellung bezieht, macht die soziale Ortlosigkeit seiner Figur deutlich. Der Tramp ist ein sehr individueller Anarchist und seine Haltung gegenüber der Moderne ist weniger Protest als schlichte Unanpassbarkeit: in dieses System fügt er sich schon habituell nicht ein, und jede seiner Bemühungen zur Integration ist von vornherein zum 45 Scheitern verurteilt.

Nach Sloterdijk ist die ästhetische Moderne „ein Verfahren der Gewaltanwendung weder gegen Personen noch gegen Sachen, sondern gegen ungeklärte Kulturverhältnisse.“46 Das Werk fordert nach Sloterdijk in der Moderne die „bedingungslose Kapitulation der Betrachter-Wahrnehmung vor seiner realen Gegenwart.“47 Wir haben gesehen, wie Chaplin eine spezifische Formensprache entwickelt, eine Performativität der Objekte, die auf die Avantgarden vorausweist. Er versetzt seinen Körper und die Gegenstände in Bewegung. Dabei geht, wie gezeigt werden konnte, seine verkörperte Sprache eine unauflösliche Verbindung mit der Kinematik ein. Wie Dalí in seinem Performanz-Vortrag, bringt auch Chaplin die Gegenstände zum Sprechen und weist ihnen innerhalb seines Chaplin-Codes jeweils neue Bedeutungen zu. Er entwirft eine Theatralität des Alltags, indem er die Materialität und Widerständigkeit der Dinge in je spezifischer Weise inszeniert und sich selbst in Beziehung zu ihnen setzt, sich zu ihnen verhält, sie aber auch entgegen ihres ursprünglichen Verwendungszwecks gebraucht und so ihre Performativität als Medialität herauskehrt. Am Schluss von GOLD RUSH ist der Tramp zu plötzlichem Reichtum gelangt. Selbstbewusst posiert er in seiner alten Kleidung für ein Photo, wobei er die Schiffstreppe herunterfällt, geradewegs in eine Seilrolle hinein, der geliebten Frau zu Füßen. Der Abgrund entpuppt sich als Neuanfang: „And so it was – a happy ending.“

45 Rother, Rainer: „Modern Times“, in: Koebner 2002 (wie Anm. 19), S. 344349; Zitat S. 347. 46 Sloterdijk 2002, S. 79. 47 Ebd., S. 82.

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FANTÔMAS – EINE IKONE DER PERFORMANCE? Ainsi est née, selon l’expression de Robert Desnos, une image classique de l’onirologie parisienne [vgl. Abb. 1a; I.M.Q.]. Elle n’a cessé d’inspirer illustrateurs et peintres. L’un d’eux, Magritte, s’est borné à la reproduire en remplaçant le poignard par une rose [siehe 1 Abb. 1b].

Abbildung 1a: Plakat zu FANTÔMAS (1913); Abbildung 1b: René Magritte: Le Retour de la flemme (1943)

1 Souvestre, Pierre/Allain, Marcel: Fantômas („Le Train perdu“, „Les Amours d’un prince“, „Le Bouquet tragique“, „Le Jockey masqué“). Préface de Francis Lacassin, Paris 1987, S. 22.

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Die Genese eines Mythos Il [Fantômas; I.M.Q.] tue, torture, etc., mais s’efface pour laisser une femme passer devant lui… 2

Marcel Allain

Die von Pierre Souvestre und Marcel Allain erschaffene persona des Fantômas3 war und ist eine der bekanntesten zum Mythos gewordenen Kultfiguren des 20. Jahrhunderts, die durch zahlreiche Adaptationen in den verschiedenen Medien (Buch, Film, Radio, Comic)4 und Gattungen (Krimi, Komödie, Tragödie) zu zusätzlichem Ruhm gelangte. Bereits in der 32-bändigen Literaturvorlage und implizit dann auch in den hier analysierten fünf Stummfilmadaptationen von Louis Feuillade bedachte insbesondere Marcel Allain den Aspekt des Erfolges immer mit.5 Äußerst akkurat verdeutlicht Allain die Erfolgsstruktur von Fantômas, die raffinierten marketingstrategischen Richtlinien folgt: Chaque volume, chaque film doit donc donner au lecteur-spectateur l’impression d’une bataille grandiose et dont la fin incertaine est attendue avec angoisse. Le rebondissement de l’action est d’essence nécessaire. Fantômas attaque et comme un vol inouï (exposition), Juve arrive à la parade (nœud). Fantômas poussant le crime au dernier degré dont l’audace va-t-il s’échapper? Non, Juve le prend (rebondissement). Est-ce le triomphe définitif? Nullement. Fantômas, à la dernière seconde s’échappe (dénouement en coup de théâtre), et s’échappe par le jeu d’un truc qu’il a prévu, combiné, machiné, et que ni Juve ni le spectateur-lecteur n’ont pu deviner (ce qui évite à Juve de faire figure de maladroit). Il n’y a pas à sortir de

2 Ebd., S. 1018. 3 Souvestre/Allain 1987; diess.: Fantômas („Le cerceuil vide“, „Le faiseur de reines“, „Le cadavre géant“, „Le voleur d’or“), Paris 1988; diess.: Fantômas („La série rouge“, „L’hôtel du crime“, „La cravate de chanvre“, „La fin de Fantômas“), Paris 1989. Persona soll hier im klassischen Sinne als Theatermaske und als vom Handeln bestimmter Charakter einer Persönlichkeit verstanden werden. 4 Vgl. Deharme, Paul: „Fantômas à la radio“, in: Le Petit Journal (3.11.1933); zitiert nach Souvestre/Allain 1988, S. 1221f.; bes. S. 1221. Vgl. auch die Stummfilmserie (20 Folgen; USA), die 6 Tonfilme (Frankreich), die 4-teilige TV-Serie, die 21 Ausstrahlungen des Feuilleton radiophonique (Radio-Cité) „L’homme à la tête coupée“ (siehe Auflistung ebd., S. 1246). Vgl. des Weiteren Allain, Marcel: „Fantômas au cinéma“, in: Souvestre/ders. 1987, S. 1014-1016 sowie ders.: „Fantômas en bandes dessinées“, in: ebd., S. 1017-1022. 5 Insgesamt gibt es 44 Fantômas-Ausgaben (32 von Souvestre und Allain zusammen, 12 nach dem Tod Souvestres von Allain allein).

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là. Toute adaptation qui échappera à cette formule accréditée par 6 32 volumes ne sera pas ‚du‘ Fantômas – et semblera mauvais.

„Exposition“, „nœud“, „rebondissement“, „dénouement en coup de théâtre“ verweisen dabei im Sinne einer klaren Referenz sowohl auf die Struktur und Theorie der Novelle7 als auch auf das wahrnehmungsästhetische Potential der performativen Theatercoups. Gattungen wie Feuilleton, Serie und Episodenfilm beinhalten aufgrund ihrer Serialität gleichsam die Vorraussetzungen eines erfolgreichen Starsystems, eines Starkults per se – wenn sie sich (auch bei Adaptationen) dieser vorausgesetzten Formel nicht entziehen: „Toute adaptation qui échappera à cette formule accréditée par 32 volumes ne sera pas ,du‘ Fantômas – et semblera mauvais.“ Allain selbst, der seine Arbeit immer wieder als Kritiker und Theoretiker betrachtete, hob des Weiteren vor allem die Neugier als Movens des Feuilleton und damit der Serie an sich hervor: „,[…] envie d’aller voir ce qui se passe à la dernière [page; I.M.Q.]. C’est en somme le vrai but du feuilleton.‘“8 Die filmische Adaptation ihrerseits diente als Promotor für den weiteren Erfolg der Fantômas-Hefte, als „publicité gratuite“,9 die nach Allain dem Motto zu folgen hatte, die literarischen Vorlagen zu ,übertragen‘, nicht, sie zu ,verraten‘: „De les traduire. Pas de les trahir!“10 Aufgrund dessen unterlag auch die erste Tonfilmversion von Paul Feijoo 1932 einer scharfen Kritik seitens Allains – „critique aussi rosse que féroce“ –, da für ihn ein nicht zusammenzufassendes Thema kein Thema sei: „Un sujet qui ne se résume pas est un sujet inexistant.“11 Diese Marketingstrategien, die wenig dem Zufall überließen, sprechen gegen die von den Surrealisten betonte Spontaneität (bei Fantômas) und decken somit auch das Manipulationspotential der Medien auf: Immer wieder begeisterten die Surrealisten die augenscheinlich spontanen performativen Verfahrensweisen, die unvermittelten theatralischen Akte und Theatercoups, die an die écriture automatique erinnern, wie auch Lacassin erwähnt: 6 Souvestre/Allain 1988, S. 1209. 7 Siehe dazu Schlaffer, Hannelore: Poetik der Novelle, Stuttgart u.a. 1993 sowie Pabst, Walter: Novellentheorie und Novellendichtung, Heidelberg 1967. 8 Zitiert nach „La genèse du mythe“. Booklet der DVD-Sonderedition FANTÔMAS, produziert von der Société des Établissements Gaumont, S. 26. Remerciements: Dominique Kalifa/Marc-Georges Boulenger, Béatrice Moquart, Dirk Teuber, Marc Veruet/Valdo Kneubuhler. 9 Souvestre/Allain 1988, S. 1210. 10 Diess. 1987, S. 1014. 11 Diess. 1988, S. 1207.

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ISABEL MAURER QUEIPO Méthode proche de l’écriture automatique des surréalistes. Elle explique les répétitions et incantations, la composition invertébrée, les interjections, les pataquès, le style oral et antilittéraire, l’emphase du ton, la fièvre du récit: tous les défauts qui en font le charme à nos yeux. La suite est connue. Le premier volume, sorti le 15 février 1911, produit sur le public de la Belle Époque un véritable électrochoc. Il lui proposait toute une mythologie nouvelle, hanté par des dieux déconcertants et cruels, avides de sacrifices 12 sanglants et nombreux, érigeant en culte la poursuite et l’effroi.

Allain selbst bestätigt ein solches Verfahren, das letztlich jedoch m.E. zwischen einer an sich utopischen, passiven écriture automatique und einer bewusst strukturierten Produktionsmethode laviert, die sich vielleicht eher dem aktiven kritisch-paranoiden Modell Dalís13 annähert: Alors, espérons que ce n’est pas symptomatique, quand je me rase le matin, je reste le rasoir écarté de la joue, et il m’arrive une bonne idée; cette bonne idée c’est un sujet de roman. Ça y est, le roman est fait! Je n’ai plus qu’à me mettre devant la machine et devant mon dictaphone, cela vient naturellement; surtout quand il y a une commande, c’est assez amusant, et je fais ce roman exactement comme on se débarrasse‚ d’un pensum. On sort de soi quelque chose qui vous gêne et qu’il faut jeter sur le papier. Je le fais aussi 14 avec un grand plaisir.

Die filmischen FANTÔMAS-Versionen von Louis Feuillade Fantômas est un roman d’action. Les incidents se multiplient. Les poursuites se suivent. Cela remu! Cela – que l’on me passse l’expression – cela grouille! Marcel Allain15

12 Diess. 1987, S. 24 (Préface). 13 Siehe hierzu Dalí, Salvador: „Ein Eselskadaver“, in: Salvador Dalí Retrospektive 1920-1980. Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Objekte, Filme, Schriften (Katalog zur Ausstellung des Centre Georges Pompidou, Musée National d’Art Moderne, Paris, 18.12.1979-14.4.1980). Koordination u. Redaktion der dt. Ausgabe: Ingo F. Walther, München 1993, S. 276-278; ders.: „Mitteilung: Paranoisches Gesicht“, in: ebd., S. 279-284; ders.: „Die Metamorphose des Narziß“, in: ebd., S. 285-288. 14 Souvestre/Allain 1988, S. 11 (Kursivierungen der Vf.in). 15 Diess. 1987, S. 1015.

FANTÔMAS

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Mit den cineastischen Meisterwerken FANTÔMAS16 und dem dem phantastischen Realismus zugeordneten Zehnteiler LES VAMPIRES (1915/16) drehte Feuillade als einer der ersten Regisseure Serienfilme. Diese waren aufgrund verschiedener den Serien und Episoden inhärenter Elemente – Wiedererkennungseffekte und Identifizierungsmöglichkeiten durch gleichbleibende Hauptfiguren, Titelei, Struktur – für das damalige Publikum von besonderem Reiz. Mit dieser publikumsnahen Konzeption, mit seiner Betonung des delectare seitens der Zuschauer, setzte sich Feuillade zugleich gegen Strömungen der ästhetischen Moderne wie den Impressionismus, die l’art pour l’art-Bewegung oder den Symbolismus ab und konkurrierte mit den so genannten intellektuellen Filmen, die sich lediglich der Verfilmung literarischer Klassiker widmeten. Amüsement, Neugier und Populärkunst, gekoppelt mit gesellschaftsoppositionellen, nicht zuletzt in einer Genealogie des Bösen stehenden Elementen, reizten gleichsam auch die Vertreter der Avantgarden, vor allem die Surrealisten:17 Fantômas était destiné – et il a réussi – à faire saigner ou vibrer le ‚cœur populaire‘. Mais il a fasciné […] l’intelligence... Une composition invertébrée, des gags invraisemblables, une action obéissant à une logique non euclidienne, une imagination divagante et insolente, un style oral gouailleur et redondant (les auteurs, trop 18 pressés pour écrire, dictaient et se relisaient sur épreuves).

Ein weiterer Aspekt, der den großen Erfolg der Filme ausmachte, waren die naturalistischen Aufnahmen Louis Feuillades, des „poète de la réalité“19 (vgl. Abb. 2).

16 FANTÔMAS À L’OMBRE DE LA GUILLOTINE (1913); JUVE CONTRE FANTÔMAS (1913); LE MORT QUI TUE (1913); FANTÔMAS CONTRE FANTÔMAS (1914); LE FAUX MAGISTRAT (1914). 17 Vgl. Vf.: „Von FANTÔMAS zu KILL BILL – zwischen électrochoc und neuer Mythologie“, in: dies./Nanette Rißler-Pipka (Hrsg.): Spannungswechsel. Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000, Bielefeld [2004]. 18 Souvestre/Allain 1987, S. 9 (Préface). Vgl. auch die Ausführungen Allains in Souvestre/ders. 1988, S. 1225-1250. 19 Booklet des Films (wie Anm. 8).

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Abbildung 2: Screenshot aus FANTÔMAS CONTRE FANTÔMAS

Wie bereits in den Romanen vorgeführt, verstärkten neben den realistischen Schauplätzen auch die futuristisch anmutende Begeisterung für das Miteinbeziehen der technischen Innovationen, d.h. des Technologisierungsprozesses, des kulturellen Experimentierens, der revolutionären Proklamationen die Popularität der kulturindustriellen Errungenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zu denen der Film selbst zählt (vgl. Abb. 3a-c): Leurs romans [ceux de Souvestre/Allain; I.M.Q.] sont autant d’hymnes à la civilisation mécanique et la vitesse. Dans Fantômas, la tour Eiffel, le métro, l’avion, le sous-marin, et dans sa dernière 20 aventure: la fusée.

20 Souvestre/Allain 1987, S. 18 (Préface).

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Abbildungen 3a-c: Screenshots aus JUVE CONTRE FANTÔMAS

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Horak bemerkt dazu treffend, dass die positive Interpretation des technologischen Fortschritts als Aufstieg der modernen Avantgarde […] nicht verhehlen [soll], daß die Geschwindigkeit der neuen Massenverkehrsmittel um die Jahrhundertwende vielfach Angst geschürt hat. Wie sonst läßt sich die Beliebtheit von Aktualitäten erklären, die dem Publikum spektakuläre 21 Auto- und Eisenbahnunfälle zeigen?

Und Kirby ergänzt, dass „‚diese ‚imagination of desaster‘ ihre Ursprünge in der Wunschvorstellung [hatte], eine außer Kontrolle geratene Technologie zu sehen.‘“22 *** Bekannte Orte (Paris und Umgebung) verstärken das reizvolle und unheimliche Gefühl zwischen Verzückung und Schauder. Sich an die literarische Vorlage haltend, kombinierte Feuillade naturalistische mit phantastischen Elementen und kreierte dadurch nicht selten eine surreale Atmosphäre, für deren Visualisierung der Film das ideale Medium darstellt. Denn wie Duplessis anführt, gilt besonders den Surrealisten das Kino als perfektes Medium für ihre Darstellungen: C’est donc le cinéma qui aurait d’offrir le maximum de possibilités aux Surréalistes. D’abord parce qu’il se déroule dans le temps, reproduisant ainsi le cours de la pensée; ensuite parce qu’il est constitué de photographies objectives qui grâce au collage permettent au merveilleux de s’intégrer au réel, en lui restituant sa profon23 deur.

Traum, Illusion und Unbewusstes lassen sich im Film mit seinen traumanalogen Strukturen besonders effektiv illustrieren, wie die in diesem Zusammenhang häufig zitierten Anmerkungen bzw. Ausführungen von Jorge Luis Borges und Elisabeth Lenk des Weiteren bestätigen.24 21 Horak, Jan-Christopher: „Auto, Eisenbahn und Stadt – frühes Kino und Avantgarde“, in: KINtop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, Jg. 12 (2003): Theorien zum frühen Film, S. 95-119; Zitat S. 114. 22 Zitiert nach ebd. 23 Duplessis, Yvonne: Le Surréalisme, Paris 1978, S. 71. Vgl. auch die Studie von Kyrou, Ado: Le Surréalisme au cinéma, Paris 1963. 24 Vgl. Borges, Jorge Luis: Libro de sueños, Madrid 1976 u. ders.: Obras completas 1923-1972, Buenos Aires 1974. Es ließe sich bspw. die von Elisabeth Lenk in Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum (München 1983) aufgestellte These von der multiplen Identität eines Träumers heranziehen, die auch in FANTÔMAS die Grenzen zwischen Wachsein und Träumen fließend erscheinen lässt. Doch wie Linda Williams in ihrer Studie Figures of Desire: A

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So lässt die durch das Auslöschen der Kerze von Sepia in Blau versetzte Szene (siehe Abb. 4a u. b) rein optisch die Grenzen zwischen Traum, Tagtraum und Realität zerfließen und reflektiert dabei gleichzeitig das Medium des Films selbst. Abbildungen 4a u. b: Screenshots aus JUVE CONTRE FANTÔMAS

Die Performativität der Fantômas-Figur in den Filmen Feuillades ‚Fantômas, chef d’œuvre d’humeur noir, longue apologie du crime, insolent défi à la logique cartésienne et à la morale bourgeoise.‘ Jacques Champreux

25

Die bereits von Lenk beobachtete Analogie des Films sowohl zum Traum als auch zum Theater bzw. zum Theatralischen, die von Fantômas meisterhaft verkörperte Multiplizität der Identitäten und die damit verknüpfte Freude am Grotesken und Karnevalesken zeigen sich in den fünf feuilladschen Stummfilmen, die per se als performativ zu begreifen sind, immer wieder. Die Performativität26 der Sprache und auch des geschriebenen Textes weicht einer performativen Körperkunst und Maskerade, die vorhandene Rollenmuster gleichzeitig reproduziert und deren Stereotypien problematisiert – nicht zuletzt, wenn Fantômas Frauenparts übernimmt, dadurch gesellschaftliche Zwänge entlarvt und soziale (GeTheory and Analysis of Surrealist Film (Urbana 1984) verdeutlicht, visualisiert der Film auf effektive Weise nicht nur, wie häufiger betont wird, den Traum, sondern vor allem eben doch auch die Realität. 25 Zitiert nach dem Booklet des Films, S. 4. 26 Vgl. neuere Untersuchungen zur Performativität wie die von Krämer, Sybille: „Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Thesen über Performativität als Medialität“, in: Paragrana, Jg. 7 (1998), S. 33-57.

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schlechts-)Identitäten in Frage stellt –, obwohl Performativität hier noch nicht im radikalen Sinne Butlers als die Erzeugung von Geschlecht zu verstehen ist: Es kann auf keinen Fall der Schluß gezogen werden, daß der Teil der sozialen Geschlechtsidentität, der darstellerisch realisiert wird, deswegen die ,Wahrheit‘ der Geschlechtsidentität ist; die darstellerische Realisierung [...] als begrenzter ,Akt‘ unterscheidet sich von der Performativität insofern, als letztere in einer ständigen Wiederholung von Normen besteht, welche dem Ausführenden vorhergehen, ihn einschränken und über ihn hinausgehen, und in diesem Sinne kann sie nicht als Erfindung des ,Willens‘ oder der ,Wahl‘ des Ausführenden aufgefaßt werden; was ,darstellerisch realisiert‘ wird, wirkt sich dahingehend aus, dasjenige zu verschleiern, wenn nicht gar zu verleugnen, was opak, unbewußt, nicht ausführbar bleibt. Die Verkürzung der Performativität als darstellerische Rea27 lisierung wäre ein Fehler.

Performativität tritt als ursprünglich theatralisch, als Performanz (Vorführung, Aufführung, Handlung und Darstellung) auf – jedoch nicht mimetisch, sondern immer als etwas sich im Akt Produzierendes, als work in progress – übereinstimmend mit den ersten Filmmotiven, die „Meter irgendwelcher Bewegungsvorgänge“28 zeigen. Der Film bleibt in seinen ästhetischen und anthropologischen Dimensionen damit also auch in Feuillades meisterhaften Inszenierungen noch eng verknüpft mit dem Theater als performativer Kunst par excellence, in der die gesprochene Sprache hinter einer inszenierten Kultur der Spektakelgesellschaft zurücktritt.29 *** 27 Butler, Judith: Körper von Gewicht, Frankfurt a.M. 1995, S. 321; vgl. auch dies.: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. Untersuchungen zum Medium Film als Ort der Inszenierung, Konstruktion, Dekonstruktion und Performanz von Geschlecht könnten in diesem Sinne sicherlich interessante Beiträge zum Forschungsfeld der Gender Studies liefern. Vgl. in diesem Zusammenhang die Artikel von Hollweg, Brenda: „Performance/Performativer Akt“ und Breger, Claudia: „Performativität“, in: Renate Kroll (Hrsg.): Lexikon Gender Studies / Geschlechterforschung Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2002, S. 304f. 28 Fraenkel, Heinrich: Unsterblicher Film. Die große Chronik (2 Bd.e), Bd. 1: Von der Laterna Magica bis zum Tonfilm, München 1956, S. 58f. 29 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Theatralität und Inszenierung“, in: dies./Isabel Pflug (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen/Basel 2000, S. 1127. Vgl. auch Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1999 und Debord, Guy: La Société du Spectacle, Paris 1967.

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Was die geschriebene Sprache – in Zeitung, Depesche, Telegramm – anbetrifft, so zeigen die Untersuchungen der FANTÔMAS-Filme (im Gegensatz zu den ausschließlich von Mimik und Gestik lebenden Stummfilmen), dass die bewegten Bilder neben der musikalischen Untermalung stetig von Text begleitet und komplementiert werden, als schiene die Geste, die Körpersprache nicht ausreichend. Doch verlaufen Textimplemente und Körperperformanz, die an die Gebärdensprache erinnert, eben nicht durchgängig substitutiv, sondern oft parallel zueinander, so dass nun die Schrift überflüssig wirkt (vgl. Abb. 5a u. b). Abbildungen 5a u. b: Screenshots aus LE FAUX MAGISTRAT

Dadurch gewinnt das Körperliche eine erstaunliche Modernität und deutet in seiner Performativität bereits die neueren Aktionskünste (Performance Art, Happening und Fluxus) an; Kunstformen, die den Körper des Agierenden, seine theatralische und performative Leiblichkeit und Leibhaftigkeit selbst als Medium verstehen.30 Die Geste genügt sich selbst, inszeniert sich performativ. Neben diesen performativen Eigenschaften und der filmtechnischen Faszination spielten die abenteuerlichen Handlungen, die „Action“ des Films für den damaligen Zuschauer eine herausragende Rolle. Wie auch die Filme von Buster Keaton, Charlie Chaplin31 und Harold Lloyd, können die FANTÔMAS-Filme mit ihren spektakulären Szenen – Verfolgungsjagden, Schießszenen Slapstickeinlagen, abfallenden Armen, Bodenfallen – als Hybridprodukte zwischen Actionfilm und Komödie gesehen werden (vgl. Abb. 6a-c):

30 Vgl. hierzu Krämer 1988. 31 Vgl. den Beitrag von Kirsten von Hagen in diesem Band.

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Abbildungen 6a-c: Screenshots aus JUVE CONTRE FANTÔMAS

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Immer wieder gelingt es Fantômas, mit Hilfe seiner Kunst der Transformation und der Travestie seinen Verfolgern zu entkommen, in einem Spiel der performativen Identitäten und Maskeraden, wie Allain bestätigt: Fantômas, roi de l’art en se grimer, incarne tous les personnages qu’il lui plaît d’incarner. Il peut être par exemple ou un infâme voyou, ou un gros négociant, ou un riche banquier protestant, etc. Dans chacune de ces incarnations il doit être dessiné sans aucune hésitation sous la forme typique du personnage représenté. Il sera 32 donc un voyou type, le banquier type, le négociant type, etc.

Surrealistische Freude Neben den genannten performativen Elementen der Verwandlung, Metamorphose und Technik spielte das Anarchische, das Falsche und Diabolische für die Surrealisten eine besonders reizvolle Rolle: „Par un usage des masques et postiches, il [Fantômas; I.M.Q.] dissimule sa personnalité ténébreuse derrière un visage amical et familier à ses victimes.“33 […] aux écoutes de l’inconscient collectif, ils [Pierre Souvestre, Marcel Allain, Gaston Leroux; I.M.Q.] partagent un fantastique burlesque, absurde, surréalisant qui puise sa force non dans le surnaturel mais dans les ambiguïtés, les altérations ou perversions de 34 la réalité.

Alain Resnais betont das Ambivalente, die surrealistische Hybridisierung bei Feuillade, die Synthese von Traum und Realität, die Mischung aus der Phantastik eines Méliès und dem Realismus eines Lumière: ‚J’admire chez Feuillade, cet instinct poétique prodigieux qui lui permettait de faire du Surréalisme comme on respire. C’est à son flair dans l’agencement ‚machine à coudre et parapluie sur une table de dissection‘ que nous devons d’extraordinaires séquences. Dans Fantômas, la fusillade au milieu des tonneaux est aussi belle que la lutte avec le boa. Le jardin rempli de folles dans Tih-Minh, aussi inoubliable que le salon de la pension de famille, lorsque le Grand Vampire raconte l’histoire de son grand-père, ou que l’installation du canon par un ecclésiastique dans une chambre de hôtel; et toutes ces images de rues, de routes désertes traversées de

32 Souvestre/Allain 1987, S. 1018. 33 Ebd., S. 18 (Préface). 34 Ebd., S. S. 22f.

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ISABEL MAURER QUEIPO mystérieuses voitures, ces parcs avec leurs grilles, ces façades 35 d’hôtels particuliers...‘.

Die Eloge Resnais’ auf das feuilladsche Werk veranschaulicht einmal mehr die Begeisterung der Avantgardisten36 für die Filme Feuillades, für die Figur des Fantômas, wobei nicht selten jedoch die literarische Vorlage unterschätzt wird, übertrifft sie doch in vielen Punkten die filmische Adaptation. Ein prägnantes und gleichzeitig eines der interessantesten Beispiele dafür bietet FANTÔMAS À L’OMBRE DE LA GUILLOTINE, in dem Fantômas mit Hilfe seiner Geliebten und Komplizin Lady Beltham – symptomatischerweise eine Schauspielerin der Comédie Française – aus dem Gefängnis flüchtet und damit der Guillotine entgeht. Im dritten Teil dieser FANTÔMAS-Verfilmung, „Autour de l’échafaud“, werden zugleich Theater und Film zur Reflexions- bzw. Metaebene. Nachdem Fantômas gefasst und zu Tode verurteilt worden ist, wird der Zuschauer Zeuge eines mörderischen Fluchtplans, den Fantômas – hier alias Gurn – mit Unterstützung seiner Geliebten und eines korrupten Polizisten verwirklichen kann. Feuillade spielt in der Theatersequenz mit der Komposition der Medien, indem er auf raffinierte Weise sowohl das Theatrale als auch das Filmische performativ reflektiert: Über einen Schulterblick eröffnet sich dem Zuschauer eine Ansicht auf die Theaterbühne, auf der der Schauspieler Valgrand den Verurteilten Fantômas/Gurn imitiert. Der Zuschauer wird zum doppelten Zuschauer und entlarvt so, dass auch er mit dem Film einer Art Schauspiel beiwohnt, das zur Metapher des Lebens erhoben wird (vgl. Abb. 7).

35 Zitiert nach dem Booklet des Films, S. 5. 36 Vgl. dazu auch Booklet des Films, S. 4.

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Abbildung 7: Screenshot aus FANTÔMAS À L’OMBRE DE LA GUILLOTINE

Am Ende wird Valgrand seine perfekte Maskerade beinahe zum Verhängnis. Denn im Gegensatz zur literarischen Vorlage, in der Valgrand tatsächlich geköpft wird, entdeckt Juve die Täuschung kurz vor der Hinrichtung durch die Guillotine, die dem Zuschauer so grausam vor Augen geführt wird (vgl. Abb. 8).37 Abbildung 8: Screenshot aus FANTÔMAS À L’OMBRE DE LA GUILLOTINE

37 Vgl. auch Leblanc, Maurice: Arsène Lupin. Eine Meisterdetektivgeschichte, Zürich 1983 als weitaus harmloseren Prätext.

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Wieder einmal konnte Fantômas entkommen und wird zur traumatischen Illusion, zur Wahnvorstellung Juves, was mit kinematographischen Mitteln besonders effektiv umgesetzt werden konnte: Fantômas erscheint Juve aus dem Nichts und wirft damit die Frage nach Traum und Fiktion, nach Hirngespinst und Realität auf (vgl. Abb. 9a-c): Abbildungen 9a-c: Screenshots aus FANTÔMAS À L’OMBRE DE LA GUILLOTINE

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Abbildung 10: Juan Gris: Pipe et journal (1915)

Schließlich spiegeln zahlreiche faszinierende Werke der Avantgardisten selbst die Begeisterung auf internationaler Ebene für Fantômas wider, etwa die zahlreichen Bilder von Magritte, die später in Alain RobbeGrillets „photo-roman“ La belle captive38 wieder auftauchen, Juan Gris’ Pipe et Journal (Abb. 10), Robert Desnos’ und Pablo Nerudas Gedichte (s.u.), Julio Cortázars Fantômas contra los vampiros multinacionales39 sowie nicht zuletzt die zahllosen Verfilmungen von Feijoo bis Chabrol: ‚Les femmes Pacheco lisaient / Dans la nuit Fantômas À voix haute / Tendant l’oreille Autour du feu, dans la cuisine, / et je dormais en entendant les prouesses, / les mots du poignard, les agonies tandis que pour la première fois / le tonnerre du Pacifique 40 lançait au galop ses tonneaux / sur mon sommeil…‘

38 Robbe-Grillet, Alain (u. Magritte, René): La belle captive, Lausanne u.a. 1975. 39 Cortázar, Julio: Fantômas contra los vampiros multinacionales, Barcelona 2002. 40 Neruda, Pablo: „Memorial de l’Île Noir“, zitiert nach Souvestre/Allain 1987, S. 1009.

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ISABEL MAURER QUEIPO

Robert Desnos: „La complainte de Fantômas“ (Musik: Kurt Weill, 1933)41 3. Cent personnes il assassine Mais Juve aidé de Fandor Va lui faire subir son sort Enfin sur la guillotine... Mais un acteur très bien grimé A sa place est exécuté. […]

12. La peste en épidémie Ravage un grand paquebot Tout seul au milieu des flots. Quel spectacle de folie! Agonie et morts hélas! Qui a fait ça? Fantômas. […]

6. En consigne d’une gare Un colis ensanglanté! Un escroc est arrêté! Qu’est devenu le cadavre? Le cadavre est bien vivant C’est Fantômas, mes enfants!

18. Pour effacer sa trace Il se fit tailler des gants Dans la peau d’un trophée sanglant, Dans d’la peau de mains d’cadavre Et c’était ce mort qu’accusaient Les empreintes qu’on trouvait. […]

7. Prisonnier dans une cloche Sonnant un enterrement Ainsi mourut son lieutenant. Le sang de sa pauv’caboche Avec saphirs et diamants Pleuvait sur les assistants. […]

25. Pour ceux du peuple et du monde, J’ai écrit cette chanson Sur Fantômas, dont le nom Fait tout trembler à la ronde. Maintenant vivez longtemps Je le souhaite en partant.

Final. Allongeant son ombre immense Sur le monde et sur Paris, Quel est ce spectre aux yeux gris Qui surgit dans le silence? Fantômas, serait-ce toi Qui te dresses sur les toits?

41 Desnos, Robert: „La complainte de Fantômas“, in: ders. Fortunes (1953); zitiert nach Souvestre/Allain 1987, S. 1003-1007.

NOELLE APLEVICH

„RÉFLEXION SUR LES BORDS D’UNE MER INTÉRIEURE“: THE FICTIONAL GENESIS OF LES FELUETTES BY MICHEL MARC BOUCHARD This paper is an analysis of the play Les feluettes ou La répétition d’un drame romantique, by the Quebec playwright Michel Marc Bouchard. The play had a highly successful first run starting in 1987 under the direction of André Brassard in Ottawa, Montreal and Quebec City, bringing Bouchard to the fore as one of Quebec’s leading playwrights. National and international performances by other casts and directors followed, in a number of languages.1 The play has recently won high acclaim again on a Quebec stage under the direction of Serge Denoncourt at Espace Go in Montreal in 2003. This analysis, however, returns to the Éditions Leméac edition of the script published in 1987 during the play’s first run to focus on the particulars of its mise-en-abyme structure within a long aesthetic tradition of establishing and transgressing narrative frameworks.2 Bouchard appropriates this tradition in order to situate the play (here, the script) in the context of a homosexual culture, positing the existence of historical references which open up the possibility of a homo-erotic romance in a specific historical and regional setting. Les feluettes is the story of a homosexual romance native to, in fact, engendered by the landscape of the Lac Saint-Jean area, and the town in which it is set, Roberval, in the early 1 Bouchard, Michel Marc: Les feluettes ou La répétition d’un drame romantique, Montréal 1987. For a complete listing of the play’s translations, see the „Centre des Auteurs Dramatiques“ web site at URL: www.cead.qc.ca, accessed 30.8.2004. 2 This paper was written within the context of a colloquium on theories of aesthetic framing, using the concept of the paratext as developed by Gérard Genette and the parergon as developed by Jacques Derrida, held at the University of Siegen in Siegen, Germany in the Winter of 2003: „Literatur- und Medientheorie: Neuere (und eigene) Arbeiten“. First ideas for this paper were developed, however, in a course on Quebec Theatre at the University of Guelph in Guelph/Ontario, Canada in the Fall of 1996.

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and mid 20th century.3 Bouchard establishes a specifically gendered context in this specific geographical (and historical) location within the narrative of the play itself, but, more importantly for this analysis, in the introductory texts which shape the script for publication. In this way, beyond the script itself, he continues the movement of establishing and transgressing narrative and textual frameworks in order that it become possible to imagine a homo-erotic romance in the isolated region of Lac St.-Jean in 1912, in 1952, during Quebec’s dark period, the time periods in which the narrative is set. The (im)possibility of this romance is introduced in a text titled „Réflexion sur les bords d’une mer intérieure,“ which bears the date 1987 and is signed by Bouchard. The (im)possibility of this romance is a continual theme throughout Les feluettes. „Réflexion sur les bords d’une mer intérieure“ is a strange little text, located in the 1987 publication by Éditions Leméac between a list of stage credits („Crédits de la création“) and a list of acknowledgements poetically titled „Hommage aux chercheurs“. The script of the play itself begins ten pages later with a scene titled, significantly, „Prologue“.4 „Réflexion“ describes the genesis of the play, in which a fictional Bouchard (confusing, thanks to his signature at the bottom of the text) lived in Roberval in 1912.5 Walking through the smoke produced by the town’s saw mill, he finds himself on the terrace of the historic Roberval hotel, where he sees a tableau of what the place must have looked like in 1912: j’ai vu le tableau, encore présent, de ce qu’on pouvait voir à cette époque... une immense étendue d’eau, calme, avec un ciel d’azur, calme... Il s’agissait de peindre sur ce tableau une histoire d’amour

3 Undeniably a narrative specific to its setting in the 1987 publication, the play’s structural framework makes it possible to translate the play as a ‚homosexual‘ narrative into a language either specific to another setting, or without a specific regional reference, such as the 1991 English language translation by Linda Gaboriau. 4 In „Prologue“, the audience meets two of the characters, Simon and Bilodeau in the year 1952 and learns that what is about to be shown is a re-enactment of events that occurred when Simon and Bilodeau were boys, in Roberval of 1912. Simon has former jailmates of his stage the events that lead to his incarceration in order that Bilodeau provide him with missing information about these events. 5 One of the most pervasive narratives about the Lac Saint-Jean region, Maria Chapdelaine, was written after the author, Louis Hémon, visited the area around that time, writing the narrative in 1912-1913. Bouchard’s redefinition of the region’s landscape will be discussed below with reference to Clarence Gagnon’s illustrations to Maria Chapdelaine.

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naïve qui ne pouvait exister que dans cet isolement et ce silence. (Bouchard 1987, p. 9)

Bouchard’s metaphor for the creation of the play is that of a tableau, on which the narrative is painted, and which could only have existed in this place. He begins, therefore, with a reference that points to the central guiding aesthetic tradition that shapes Les feluettes, the Italian Renaissance painting of the martyrdom of Saint Sebastian. Les feluettes is structured as a mise-en-abyme, announced officially, as mentioned above, in „Prologue“ where we learn that we will see a play within a play: Simon’s former jailmates will be acting the parts of two young men and a number of supporting characters to reenact events that took place in Roberval in 1912. These young men themselves are staging a play, one scene from Le martyre de saint Sébastien. Un Mistère by Gabriele d’Annunzio (published and first performed in Paris in 1911). D’Annunzio’s Mistère is preceded by a foreword titled „A Maurice Barrès“ in which D’Annunzio claims that he had a depiction of the saint today attributed to both Antonio and Piero Pollaiuolo in mind while creating his own Sebastian (see figure 1, a reproduction of the Pollaiuolo painting): Mon Sébastien – que j’ai dessiné ayant sous les yeux cette plaquette d’Antonio del Pollaiuolo, où un svelte centaure domine du 6 poitrail les archers à deux pieds […].

Bouchard’s „Réflexion sur les bords d’une mer intérieure“ begins with the passage cited above that compares the landscape that yielded Les feluettes to a tableau, and ends with a reference to the martyrdom of Saint Sebastian: semblable au vieux Simon [...] semblable à ce sadomasochiste de saint Sébastien [...] j’ai tenté, moi aussi, de mourir dans les eaux de cette mer intérieure afin de croire à cette histoire d’amour (Bouchard 1987, pp. 9-10).

Scene 1 of Les feluettes (following „Prologue“) begins, therefore, with stage directions introducing Claude Debussy’s score created to accompany D’Annunzio’s play and a backdrop depicting a Roman landscape, the setting of the saint’s martyrdom: „Le décor représente un paysage romain vers la fin de l’Antiquité, peint sur une toile...“ The backdrop and the props are not elaborate: „On y distingue la façade d’un temple, quel6 D’Annunzio, Gabriele: Le Martyre de Saint Sébastien. Un Mistère, Paris 1911, p. vii.

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ques collines, des vignes. Devant la toile, un arbre chétif.“ (Bouchard 1987, p. 25) The simple backdrop for the rehearsals is misleading, as D’Annunzio’s Martyrdom is an elaborate, highly stylised text, written in an archaic, literary French. In fact, the 1911 Paris performance of D’Annunzio’s play was a five-hour extravaganza, with elaborate sets. Léon Bakst designed the sets and costumes for the 1911 Paris performance. His backdrops were anything but simple, matching if not topping the extravagance of D’Annunzio’s text. Bakst’s backdrop (see figure 2)7 features a landscape whose foreboding colouring and threatening sky have more in common with the stark, bright colours and changeable weather in Clarence Gagnon’s illustrations of the Lac Saint-Jean region (to be discussed below) than with the pastoral Roman landscape of the Pollaiuolo Sebastian. Nevertheless, in an article titled „Codici per una rilettura topografica del Martyre de Saint Sébastien“, Piero Meogrossi describes the ruins of the Palatine Hill in Rome as ‚topographic DNA‘ which Bakst, Debussy and D’Annunzio successfully decoded to ‚awaken the story of the Sebastian martyrdom from its long sleep‘.8 Bouchard does not have ruins at his disposal, and a later tradition of Italian painting that casts Sebastian as a wilting, effeminate beauty in order to link his romance with the Roberval landscape. Instead, the 1987 Leméac edition of the script is sprinkled with specific intertextual references that create an androgynous aesthetic from which he can draw. For example, after Bouchard compares the Roberval landscape to a tableau in „Réflexion sur les bords d’une mer intérieure“, he describes meeting the play’s two young lovers, Vallier and Simon. He has taken the main characters of a French serialised television romance to be his protagonists: C’est alors que j’ai rencontré Vallier et Simon... Je les avais confondus avec Angélique, marquise des Anges, et Geoffroy, personnages d’une série à l’eau de rose re-re-rediffusée à la télévision régionale. (Bouchard 1987, p. 9)

7 Source: Santoli, Carlo (ed.): L’Arte del Tragico. L’avventura scenica del Martyre de Saint Sébastien di Gabriele D’Annunzio dal 1911 ad oggi, Napoli 2000, p. 123. 8 Meogrossi, Piero: „Codici per una rilettura topografica del Martyre de Saint Sébastien“, in: Santoli 2000, pp. 35-41; quoted from p. 38. I am grateful to an acquaintance for translating Meogrossi’s article for me.

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A film poster for a movie in the ANGÉLIQUE series, INDOMPTABLE ANGÉLIQUE (see figure 3),9 shows Michèle Mercier in a pose reminiscent of the effeminate Sebastian in the tradition of the depiction of the Sebastian martyrdom in 15th century Florence, itself reminiscent of depictions of the martyrdom of Christ, typified for Bouchard and D’Annunzio by the Pollaiuolo painting. The film INDOMPTABLE ANGÉLIQUE is roughly based on the novel Indomptable Angélique by Anne and Serge Golon. The following excerpt from the novel is perhaps most relevant to the treatment of the Sebastian martyrdom in Les feluettes. It describes the reaction of Angélique’s captor to her disguise of boy’s clothing, as she reclines before an otherwise deserted temple, surrounded by the debris of overturned statues, on a Greek island (Angélique is an aristocrat during the reign of Louis XIV, and is forever in and out of danger): Elle était appuyée à cette colonne blanche dans une pose gracieuse et jeune, le profil penché sous la nappe de ses cheveux blonds, les lèvres posées sur le rameau vert, les paupières rêveusement baissées et il se dit qu’il aimait le charme ambigu que lui conférait son travesti de blé à ‚l’autre‘. Il aurait fini par la tuer. Elle eût été trop femme, trop sirène, trop désarmée aussi. Sans apprêt dans sa vieille veste de cavalier dont le col s’ouvrait sur son cou flexible, elle avait un charme équivoque en accord avec la subtile langueur de 10 ces lieux où jadis venaient s’aimer les éphèbes.

In „Homo Creation: Towards a Poetics of Gay Male Theatre“, Robert Wallace analyses the use of a „gay code of reference“ in the works of the Quebec playwrights René-Daniel Dubois, Normand Chaurette, and Michel Marc Bouchard. He sees their public affirmation of their own homosexuality, as well as intertextual citations within their plays as the means to create a gay frame of reference in which a „homo creator“ can create a narrative that does not in any way need to compare itself to mainstream cultural representations, but exists within its own realms.11 Bouchard’s insistance on androgyny in the text of Les feluettes is somewhat ambiguous. It insists on an androgyny in both sexes. Angélique is cited as the inspiration for Simon in „Réflexion“, and, before that, Bouchard opens his 9 Director: Bernard Borderie, starring Michèle Mercier and Robert Hossein. Source: Fan web site, URL: www.marquisedesanges.fr.st/, accessed 9.12. 2003. 10 Golon, Anne/Golon, Serge: Indomptable Angélique, Paris 1977, p. 151. 11 Wallace, Robert: „Homo Creation: Towards a Poetics of Gay Male Theatre“, in: Essays on Canadian Writing, no. 54 (1994), pp. 212-236; quoted from p. 221.

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list of dedications with a quotation from Claudine en ménage by Colette: „‚Le vice, c’est le mal que l’on fait sans plaisir‘“. Claudine comes up with this definition in a discussion with her husband Renaud about the theoretical possibility of her taking a (male) lover. She ends her transcription of their conversation with the comment, Tout de même, si j’avais parlé de prendre ‚une amie‘ au lieu ‚d’un amant‘, il aurait trouvé mon petit raisonnement très sortable. Pour 12 Renaud, l’adultère est une question de sexe.

Does androgyny in these female characters, Angélique and Claudine, imply a complete independence from the heterosexual realm such that Bouchard can create a frame of reference in which a „homo creator“ can function in isolation? There is a voyeuristic gaze present in these passages. Claudine’s audience is Renaud, then her reader, Angélique is being observed by her captor. Below I will refer to Karim Ressouni-Demigneux’s analysis of Renaissance depictions of the Sebastian martyrdom. Ressouni-Demigneux does seek to establish the gaze of the viewer as a homosexual gaze. These intertextual references, as Wallace describes, establish a gendered, sexualized frame of reference for the play. The examples I have selected thus far occur before the actor’s dialogue begins, in the paratext of the play. ‚Paratext‘ is a term defined by Gérard Genette in Seuils, as „ce par quoi un texte se fait livre“,13 specifying between an ‚epitext‘ which is constituted of public interviews, or a writer’s correspondence, and is located outside of the book itself, and the ‚peritext‘ which are those elements within the book itself that surround the text, establishing its context, and delineating its boundaries.14 Elements of the peritext can be the book’s title, chapter titles, the preface, illustrations, etc. Ideally, the paratext serves to present the text in a context which will ensure that it will be read and understood in the way the author intended: Cette frange, en effet, toujours porteuse d’un commentaire auctorial, ou plus ou moins légitimé par l’auteur, constitue, entre texte et hors-texte, une zone non seulement de transition, mais de transaction: lieu privilégié d’une pragmatique et d’une stratégie, d’une action sur le public au service, bien ou mal compris et accompli, d’un

12 Colette: Claudine en ménage, in: Œuvres de Colette, Paris 1960, pp. 278391; quoted from pp. 347-348. 13 Genette, Gérard: Seuils, Paris 1987, p. 7. 14 Genette 1987, see p. 10.

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meilleur accueil du texte et d’une lecture plus pertinente – plus 15 pertinente, s’entend, aux yeux de l’auteur et de ses alliés.

The first of these allies are addressed directly by Bouchard in his „Hommage aux chercheurs“, on the page following „Réflexion“: „Merci... à tous ceux qui de loin ou de près ont cru à cette histoire.“ (Bouchard 1987, p. 11) Whether or not it was intended in this manner, the author photo and author blurb located on page 7 of the Leméac edition reinforce a line of argument that suggests that not only Bouchard, but his narrative are products of the Lac Saint-Jean region. His birthplace is named before the author himself: „Natif du Lac-Saint-Jean, Michel Marc Bouchard....“ (p. 7) in a blurb set beneath a brightly lit head shot of a young Bouchard with long wavy blonde hair and an intense gaze, but gentle features. Bouchard does not sport this hairdo in the author photos accompanying the Leméac editions of La contre-nature de Chrysippe Tanguay or La poupée de Pelopia. Following Genette’s observation that the choice of author photo „ne peut manquer d’induire des effets des sens, désirés ou non“16 and that in the case of a work in which a collusion between the author and the protagonist occurs, the reader assumes a connection between the author photo and the protagonist. In Genette’s example of the 1954 Pléiade edition of Proust’s A la recherche du temps perdu he posits the establishment of a relation between the youth of Proust in the author photo and the age of the novel’s narrator: „une liaison significative s’établit irrésistiblement, non tant avec la chronologie d’écriture de l’œuvre qu’avec la chronologie interne du récit, c’est-à-dire l’âge du héros.“17 Such a collusion between author and protagonist occurs in Les feluettes at the moment of Bouchard’s self-identification with Simon and Saint-Sébastien in „Réflexion“: semblable au vieux Simon [...] semblable à ce sadomasochiste de saint Sébastien [...] j’ai tenté, moi aussi, de mourir dans les eaux de cette mer intérieure afin de croire à cette histoire d’amour (Bouchard 1987, pp. 9-10).

At this point it is difficult to resist comparing Bouchard’s author photo with the Apollonian good looks of the saint (where Apollo’s black curls have been substituted for blonde locks). One need only imagine his eyes turned piously toward heaven... And yet the question of resisting such temptation is crucial to Genette’s insistence on the text as a closed œuvre. 15 Genette 1987, p. 8. 16 Genette 1987, p. 32. 17 Genette 1987, p. 33.

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This analysis, however, posits an open-ended fluid narrative which constructs its outer limits and then breaches them repeatedly. The analysis takes place, therefore, on the edges of the text, beyond the play, in those areas which in Les feluettes refuse to remain innocent and secondary. In its repeated breaching of the paratext, Les feluettes opens spaces for slippage between traditional conceptions of masculinity in the Lac SaintJean region, and the androgynous figure of the beautiful homosexual. Saint Sebastian, as depicted by the Pollaiuolo brothers in the moment of his martyrdom, serves as Bouchard’s central reference in this respect.

The Pollaiuolo Sebastian as narrative model for Les feluettes The Pollaiuolo Sebastian depicts the principal actors at the scene of the martyrdom, the tortured saint, and his cohort of archers, against a receding pastoral landscape, with a ruined Roman archway set off to the side. In particular, the Pollaiuolo rendition of the archer still winding his bow is considered to be exceptional.18 All figures are painted in character, following the rules of narrative depiction, as described in a Treatise on Painting by Leone Battista Alberti and cited by Leopold D. Ettlinger in a monograph on the works of the Pollaiuolo brothers. Here the Pollaiuolo brothers drew on stock figures typical of the depiction of their motif: Hence Pollaiuolo makes the executioners hefty and brutal athletes, but gives to the tortured submissive Saint a fragile, almost feminine appearance. [...] It should also be remembered that the type chosen for St. Sebastian was then a stock image used to represent suffering 19 saints.

Every detail of the composition is in its proper place, and integral to the narrative. The Pollaiuolo painting has a strong symmetrical composition. The archers, one model depicted in two different poses made in shooting a bow and arrow, seen from different angles, surround the saint. The body of the saint himself is located in the upper half of the painting, attached to a post, eyes upturned, directed beyond the upper limit of the painting, an expression of physical suffering overcome in the knowledge of an imminent reunion with God. 18 Vasari’s description of this archer is considered below as one of two role models for the masculine figure available to Bouchard in his transformation of historical depictions of the muscular pioneer into a beautiful youth. And, exceptionally, as a distraction to the spectator particular to the Pollaiuolo Sebastian. 19 Ettlinger, Leopold D.: Antonio and Piero Pollaiuolo, Oxford 1978, p. 50.

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According to legend, Sebastian does not die of his arrow wounds; he dies later as the result of whipping. This fact and the two quivers full of arrows set at the bottom centre of the Pollaiuolo painting (see figure 4), cut off by the painting’s frame are significant details for the religious function of the painting. Saint Sebastian was believed by the devout to have the ability to protect them against the plague which ravished Europe beginning in the 14th century, in a seemingly random manner which was taken to be an indication of the wrath of God. In a careful and at the same time provocative analysis of Sebastian paintings in Florence in the 15th and 16th centuries, Karim Ressouni-Demigneux20 describes the manner in which the painting was meant to function in order to bring protection to the devout from this illness, within a sanctioned religious context, and extends his analysis to the painting’s function in an extra-religious context; namely, in its presentation of a particular iconography which seeks to invoke a homo-erotic gaze. As he explains, the depiction of the martyrdom of St. Sebastian and his function as protector against the plague drew on metaphoric associations of the arrow with a) the plague; b) the gaze and c) love. Ressouni-Demigneux cites a biblical reference to God’s arrows as carriers of illness, „‚Iahvé, ne me punis pas dans ton courroux,/ ne me chatie pas dans ta fureur./ C’est que tes flèches s’enfoncent en moi/ [...] Mes plaies sont fétides et purulentes,/ par suite de ma folie...‘“ (Psaume XXXVIII); Petrarch’s reference to the arrow in his metaphors of seduction, and the metaphor of arrows in an optical exchange that establishes desire in Baldassare Castiglione’s Le Livre du Courtisan as examples illustrating these semantic connections. The depiction of St. Sebastian’s martyrdom showed a body immune to the arrow as the plague, and of such beauty that the spectator’s gaze was drawn to it. The spectator’s desirous gaze unleashes arrows which pierce the saint in a sort of magic transfer of desire between loved one and lover such that the devout, in their prayers, could take on the protection of Sebastian’s body and survive the ravages of the plague.21 Ressouni-Demigneux sums up the painting in its religious function as follows: 20 Ressouni-Demigneux, Karim: La chair et la flèche. Le regard homosexuel sur saint Sébastien tel qu’il etait representé en Italie autour de 1500. Mémoire de Maîtrise en Histoire de l’Art, soutenu à l’Université de Paris 1 (Panthéon-Sorbonne) en octobre 1996. URL: www-philo.univ-paris1.fr/K/ maitkarim.html, accessed 16.10.2003. 21 Ressouni-Demigneux 1996 also refers to an affectum devotionis which, as with the image of Christ, can occur with St. Sebastian, and to Thomas Aquinus’ Commentaire des Sentences in which he posits that the image can

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NOELLE APLEVICH En définitive, l’image du martyre de saint Sébastien assigne une place et un rôle actif au dévot qui la contemple. En assignant au spectateur le rôle d’un archer dont les flèches sont décochées par le regard, les peintres déterminent un hors-champ qui entre en communication avec le lieu de la représentation, ouvrant ainsi la porte à un transfert d’émotions entre l’extérieur et l’intérieur du tableau. Le corps du saint est défini comme attractif; de par son érotisme, il fixe les regards en sa chair. Ce corps est incorruptible; sa beauté est l’image visible de sa santé. Cette beauté est l’aimant qui attire les regards et rend le spectateur amoureux. Elle est la vertu majeure de saint Sébastien, vertu que le dévot souhaite obtenir afin d’échapper à cet anéantissement du corps, à ce pourrissement de la chair que la peste provoque. Ce transfert peut s’opérer, quasi physiologiquement, au travers du coup de foudre, comme ne cessent de le répéter les théoriciens et les poètes de la fascination. L’érotisme de Sébastien est en somme ce qui permet au dévot, en tombant amoureux du 22 saint, de capter sa santé et d’échapper à la maladie.

In the case of the Pollaiuolo Sebastian, the spectator is even provided with a quiver of arrows (see figure 4 again) located at the bottom centre of the enormous (almost lifesize) painting, and assigned a position for optimal viewing, at bottom centre, looking up to a Sebastian who towers above.23 The extent of the function of this rapport between painting and devout spectator depended on the skill of the artist. The better the artist was able to represent the saint’s beauty, the closer the painting resembled a living, breathing Saint Sebastian, the better its ability to draw attention. If, however, the painter was too talented and painted too convincing a act of its own accord on the spectator, by imprinting itself on a person’s memory and illiciting a sentiment of devotion (paraphrased from p. 31 and p. 29, respectively). 22 Ressouni-Demigneux 1996, reference cited above. 23 Ressouni-Demigneux 1996 describes the painting’s numerous indications for the placement of the spectator as follows: „Dans le tableau des Pollaiolo, une foule de petits éléments tendent à attribuer au spectateur la position d’un archer. Lorsqu’on aborde l’image, le corps de Sébastien est déjà percé de flèches. Ces flèches ont été tirées par les quatre soldats qui s’apprêtent à récidiver. Les deux personnages courbés en deux au premier plan n’ont pas encore visé le saint. Ces deux hommes, dont l’un impressionna Vasari si fortement qu’il lui consacra une longue description, sont disposés de part et d’autre de la ligne verticale partageant le panneau en deux parties égales et matérialisée par le tronc. Ils encadrent donc le spectateur dont la place exacte, face à cette oeuvre très symétrique, semble indiquée par le prolongement des arbalètes qu’ajustent ces archers. A ce point, le spectateur dispose de deux carquois remplis de flèches, seules les pointes de ces dernières apparaissant dans le champ du tableau, opportunément dirigées vers Sébastien.“

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representation, the effect of the painting could result in the distraction of the viewer and the arousal of too much desire. This turned out to be the case for a now lost Sebastian painting by Fra Bartolomeo, as Vasari recounts in his Lives of the Most Excellent Painters, Sculptors and Architects in an anecdote cited by Ressouni-Demigneux: ‚Il [Fra Bartolomeo; N.A.] retourna à Florence, où on lui avait souvent reproché de ne pas savoir faire les nus. Il voulut essayer et montrer, en s’y appliquant, qu’il pouvait réussir dans ce genre aussi bien qu’un autre. Pour le prouver, il fit un Saint Sébastien nu aux couleurs semblables à celles de la chair, dont la grande douceur d’expression s’harmonise avec la beauté du corps, ce qui lui valut les louanges de tous les artistes. Lorsque le tableau fut exposé dans l’église, les frères, dit-on, s’aperçurent, en confessant leurs pénitentes, que le talent de Fra Bartolomeo, en donnant vie à la beauté lascive du modèle, portait au péché celles qui le regardaient. On l’enleva de l’église pour le mettre dans la salle du chapitre où, peu après, Giovan Battista della Palla l’acheta pour l’envoyer au roi de 24 France.‘

While this painting is reported to have seduced the women who looked upon it, Ressouni-Demigneux insists on the homo-eroticism of the Sebastian iconography. It is the use of a stock figure in the depiction of the saint25 whose physical characteristics conform to the conventions of homosexual desire (here Ressouni-Demigneux refers to fashions and hairstyles among male and female prostitutes in a 15th century Florence) which invokes a homosexual ‚archer‘ as spectator. There are three characteristics which contribute to the establishment of the stereotype of the beautiful homosexual, his fairness, his youth, and his androgyny: Les trois éléments de la blondeur, de la jeunesse et de l’androgynie permettent en quelque sorte de constituer un stéréotype de l’objet 26 du désir homosexuel à la Renaissance.

The beautiful young homosexual of the time, in the legislative vocabulary of the time which differentiated between the guilty ‚active‘ party and the corrupted ‚passive‘ party was beyond male and female, his androgyny was angelic:

24 Cited by Ressouni-Demigneux 1996 from Vasari, Giorgio: Les vies des meilleurs peintres, sculpteurs et architectes, Paris 1989, vol. 4, p. 245. 25 As indicated by Ettlinger 1978; see citation above (ftn. 19). 26 Ressouni-Demigneux 1996.

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NOELLE APLEVICH D’une part, la figure du jeune ‚passif‘ n’est pas connotée de manière négative; sa beauté est consubstantielle à son état: il n’est pas 27 encore homme, il n’est pas femme, il est comme un ange.

This dichotomous conception of the homosexual couple in Florentine legislative parlance can perhaps explain the contrast in the Pollaiuolo Sebastian between the expiring saint and the muscular archer, and provide the means with which Bouchard, in Les feluettes, can insist on the possibility of an inherent homosexuality present in conceptions of masculinity in Roberval defined in terms of the working male body. In fact, the Pollaiuolo Sebastian is particularly suited as a model for Les feluettes because it is the convincing depiction of the archer, and not the saint which has won the painting acclaim. Vasari describes this archer in detail,28 which suggests that this painting functions not only by interpellating the spectator to compromise himself in an ocular exchange through a focus on the beauty of the saint, but, in fact, on the beauty of the archer.

Sebastian in Roberval Bouchard insists in his painterly metaphor of the play’s genesis that Les feluettes is a naive love story that could only have come from the Lac St. Jean area, „Il s’agissait de peindre sur ce tableau une histoire d’amour naïve qui ne pouvait exister que dans cet isolement et ce silence.“ (Bouchard 1987, p. 9) He casts one of the many saintly icons peopling the Quebec landscape, Saint Sebastian, as his leading man.29 Rehearsing the Sebastian play allows the young Simon, a native of Roberval, to take on the role of the homosexual lover, a role with which he does not otherwise feel comfortable, and which is difficult to reconcile with conceptions of masculinity in Roberval. When Simon recites, „‚Il faut que chacun tue son amour pour qu’il revive sept fois plus ardent. Ô archers, archers, si 27 Ressouni-Demigneux 1996. 28 „One of the archers is depicted tightening his bow, bending over toward the ground and bringing the bow to his chest, displaying the exertion of his strong arm that is preparing this weapon for shooting. One can see how his delicate veins swell, how the muscles tense, and that he is holding his breath in order to gather his strength.“ Vasari, Giorgio: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister, Darmstadt 1983, vol. II.2, p. 228 (my translation). 29 Saint-Sébastien seems to belong to a large brotherhood of saints peopling the region. The boys’ school is named after Saint Sébastien, the boys’ teacher is named after Saint Michel (Père Saint-Michel), the boys enacted the martyrdom of Saint-Alphonse the year before, the lake is named for Saint-Jean.

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jamais vous m’aimâtes, que votre amour je le connaisse à mesure de fer...‘“ (Bouchard 1987, p. 28), he is reciting D’Annunzio’s formal prose, written here in the past simple tense („si jamais vous m’aimâtes“), a tense normally reserved for literary texts and rarely spoken. The difficulty of speaking homosexual love is enacted in the conflicts between the language of the region, the Québécois of Lac Saint-Jean, the French of the Français (who happen to be in Roberval thanks in part to the town’s accommodating hotel and the excellent fishing that can be done in the region, in part to Bouchard’s need for an aristocratic love interest as one of the two leading men), and the literary, archaic French of D’Annunzio’s script. At first it appears that homo-erotic desire can only be spoken in the rehearsal of D’Annunzio’s Martyrdom, that there is no space in the life and culture of Roberval for such relationships, that the language of homosexual love has to be a highly aesthetic language, the language of theatricality. It is evident in the play of the languages that the language of Roberval is resistant to any suggestion that this historical romance, this homosexuality can be expressed in the Québécois of Roberval, which would be an indication of its suitability for such exchanges, an admission that this homosexuality could in fact be a characteristic of its speakers. The Québécois spoken in Roberval, however, becomes an aesthetic language once it is put on stage in Bouchard’s script. It is a language, however, without a long literary tradition, which when spoken on stage establishes the identity of its speakers, connecting them to the region. Les feluettes insists, therefore, on being the story of a homosexual romance native to, in fact, engendered by the landscape of the Lac Saint-Jean area, and the town in which it is set, Roberval. It is only at this level, initially, that the expression of homo-erotic desire can take place. When Vallier asks Simon to translate his desire into French, into Vallier’s own cultured French from France, Simon refuses; it is also not clear if he can fully express this desire in his own language, the French of Roberval (at the other extreme of the literary-oral spectrum). This conflict can be seen in the following exchange: VALLIER [...] (Vallier se colle au corps de Simon. Délaissant le ton théâtral:) Dis-moi que tu m’aimes et je te tue! SIMON, refusant de reprendre les mots de Vallier J’suis ben avec toé. VALLIER Que tu m’aimes!!!

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NOELLE APLEVICH SIMON Tu ressembles à une fille quand tu fais ça. J’haïs ça. ‚Que je suis bien!!!‘ (Bouchard 1987, pp. 31-32)

For Simon, Vallier’s French is too effeminate. At one level, it is D’Annunzio’s prose, for Simon the language of theatre, which is the language of homo-erotic desire, followed by the somewhat more permissive French of the Parisian aristocracy, from which Vallier comes. And yet, Les feluettes insists on the indigenous nature of Simon’s homosexuality. The play’s title is a Québécois derivation of the word ‚fluet‘. It refers to a person’s exaggerated sensitivity, ‚un homme feluette‘ is delicate, graceful. At first it seems that Vallier is the homme feluette in the play, foreign, aristocratic, pale, unaccustomed to hard work. And yet as the play progresses, Vallier, as his mother remarks with dismay, has the hands of a labourer. While his mother lives in the delusion that Vallier spends his days meditating on the ‚Mediterranean‘ as she calls Lac Saint-Jean, he is secretly supporting them both by working as a fishing guide: LA COMTESSE [...] ‚vous ne soignez plus votre apparance. Vous êtes comte, Vallier. J’ai remarqué vos mains au dîner: elles commencent à ressembler à celles d’un journalier.‘ (Bouchard 1987, p. 73)

It is Simon, as a Robervalois, whose hands should be rough and callused. And yet, in an argument with his future fiancée, Lydie-Anne, in which Simon attempts to come across as a true local, his hands betray him: SIMON [...] Nous autres, on travaille, Madame. LYDIE-ANNE Sauf vous. Vous avez des mains de bourgeois. SIMON Qu’est-ce que ça veut dire? LYDIE-ANNE, lui prenant doucement les mains Qu’elles sont douces, blanches et satinées! (Bouchard 1987, p. 64)

In Les feluettes, Bouchard is playing with conventions surrounding the representation of the homosexual. In „The Politics of Gay Culture“, Derek Cohen and Richard Dyer describe the search for the expression of homosexual tendencies through history as divided along class lines: We know about the historical development of culture by what lasts, and by and large what is made to last is élite culture. Gays seeking

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their roots are bound to use élite cultures as part of their so-called heritage, and the lack of working-class culture in this heritage rein30 forces the tendency to upwards mobility among gay men.

It is this problematic that Bouchard is addressing in Les feluettes, seeking to meld D’Annunzio’s highly stylised prose and a mythology rooted in the humanist location of the origin of European culture in classical Antiquity31 with the Québécois of Roberval, the language of an isolated self-sufficient region with an economy dependent on the extraction of natural resources. In his initial foreword to the script, Bouchard sets the scene by referring first to the mill and then the hotel, which drew tourists, like the remarkable Lydie-Anne, a Parisian who arrives by dirigible: „J’ai marché dans la fumée d’une scierie au nord de la ville... pourtant, j’étais là ou se trouvait la grande terrasse de l’hôtel Roberval...“ (Bochard, p. 9). Bouchard is writing a historical romance „qu’on ne m’a jamais racontée“ (Bouchard 1987, p. 10; italics mine), creating a heritage that melds working class with élite culture, regionalism and the influence of a European heritage. While the romance is located soundly in Roberval, Bouchard addresses the complex interplay of European (French) and local (Québécois) sources for the representation of the homosexual, more broadly, of masculinity in Les feluettes. What are the local sources defining a masculine aesthetic available to Bouchard? One of the first sources available to an English Canadian is one of the most pervasive narratives of the region, the classic school text Maria Chapdelaine by Louis Hémon. Bouchard’s own fiction of the genesis of Les feluettes describes a fictional journey to Roberval in 1912. Louis Hémon, a Frenchman, visited the Lac Saint-Jean region around 30 Cohen, Derek/Dyer, Richard: „The Poetics of Gay Culture“, in: The Gay Left Collective (ed.): Homosexuality. Power and Politics, London/New York 1980, pp. 172-186; quoted from pp. 174-175. 31 References to classical topics and an explicit literary quality have served historically to gain a wider tolerance/acceptance of a homosexual narrative: Ressouni-Demigneux recalls the success of Beccadelli’s The Hermaphrodite in 15th century Florence who dedicated the work to his patron Cosmo de Medici with a reminder of the supposed tolerance of classical antiquity: „‚Éminent citoyen, de l’illustre famille des Médicis, pour que, dédaigneux du vulgaire, il lise d’une âme sereine ce volume, malgré sa lascivité, et que, comme moi, il suive en cela l’exemple des Anciens‘“. („‚Ex illustri progenie Medicorum virum clarissimum, quod spreto vulgo libellum æquo animo legat, quamvis lascivum, et secum una priscos viros imitetur‘“). Beccadelli, Antonio: L’hermaphrodite, Paris 1892, pp. 2-3; cited in RessouniDemigneux 1996.

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that time, writing the narrative in 1912-1913 for publication in Paris in 1916 as a serial in the Parisian daily Le Temps.32 In later publications in the form of a novel, Maria Chapdelaine exercised wide influence in the creation of mythic stereotypes of the region and of life in Quebec, not only for its French and international public, but for Québécois themselves. Simon’s comment, „Nous autres, on travaille, Madame“ (ref. cited above), defining the region through its work, can be read in the context of Louis Hémon’s depiction of men’s work in Maria Chapdelaine, written as what was considered to be part social commentary of life at that time.33 In the following scene, Hémon describes the ultimate work of the region, whether settler preparing a homestead to live in long term or pioneer pressing ever further into the bush as clearing the land, „faire de la terre“: Faire de la terre! C’est la forte expression du pays, qui exprime tout ce qui gît de travail terrible entre la pauvreté du bois sauvage et la fertilité finale des champs labourés et semés. Samuel Chapdelaine en parlait avec une flamme d’enthousiasme et d’entêtement dans 34 les yeux.

Maria Chapdelaine describes the last region short of Labrador in which the pioneer life can be led, a life subject to the hardships of a long winter and the excessive, but fleeting heat of the summer months. In Les feluettes, Simon himself claims to be working at the harvest, a ploy in the eyes of his fiancée Lydie-Anne to put off their marriage because of his feelings for Vallier: Et on a besoin soudain de faire les foins! Je ne savais pas que le foin repoussait si vite au Canada. D’après mes calculs, vous avez coupé trois fois les mêmes acres en un mois. (Bouchard 1987, p. 88)

32 Excerpts of Hémon’s novel were first published as a newspaper serial in the Paris daily, Le Temps, in January/February 1914, later in novel form becoming the first French bestseller. Jack Warwick suggests reading Le Mythe de Maria Chapdelaine by Nicolde Deschamps, Raymonde Héroux and Normand Villeneuve, Montréal 1980, for a thorough study of post-textual aspects of the „ideological exploitation of images and stereotypes“ derived from the novel. Warwick, Jack: „Maria Chapdelaine as a Literary Myth“, in: Maria Chapdelaine (Thom Ian M. McMichael Canadian Art Collection Exhibition Catalogue), Kleinburg, Ontario 1987, p. 44, ftn. 2. 33 See Warwick 1987, p. 36. 34 Hémon, Louis: Maria Chapdelaine. Récit du Canada Français, Paris 1979, p. 41.

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Among the paintings he executed to illustrate the 1933 Mornay edition of Maria Chapdelaine, Clarence Gagnon included depictions of harvest in the region. On page 79 of the Mornay edition two figures seen from the back are bent over lifting bales of hay to a third figure, who stands on top of a wagon. The horse hitched to the wagon, its mane blown by the wind, is grazing in the shadow cast by the load of hay on the wagon. A haphazard wooden fence marks the next field up the hill, beyond are darkened hills beneath a sky full of moving, billowing, darkened clouds. The illustration is set amidst a description of the beneficent weather that threatens to change, the hardship of the labour of haying, the insistance of the biting insects, the strength of the sun: Les mouches et les maringuouins jaillissaient par milliers du foin coupé et les harcelaient de leurs piqûres; le soleil ardent leur brûlait la nuque et les gouttes de sueur leur brûlaient les yeux; la fatigue de leurs dos toujours pliés devenait telle vers le soir qu’ils ne se redressaient qu’avec des grimaces de peine. Mais ils besognaient de l’aube à la nuit sans perdre une seconde, abrégeant les repas, heu35 reux et reconnaissants du temps favorable.

Bouchard’s backdrop on which he ‚painted‘ the story of Les feluettes differs greatly from Gagnon’s depiction of the landscape of Maria Chapdelaine.36 Bouchard’s landscape consists of „une immense étendue d’eau, calme, avec un ciel azur, calme“ (Bouchard 1987, p. 9). Gagnon himself sought to ‚catch the spirit of Canada and the French-Canadian way of life which the book [Maria Chapdelaine; N.A.] immortalizes. That book represents the struggle of a brave little minority and reveals 37 the true pioneering instinct of those early settlers.‘

Bouchard’s calm Lac Saint-Jean sounds much more like the delusion of the Comtesse de Tilly, Vallier’s mother, who believes herself to be on 35 Hémon, Louis: Maria Chapdelaine. Illustrations de Clarence Gagnon. Exemplaire no. 66, Paris 1933, p. 79. 36 Ironically, Gagnon painted the illustrations during a stay in France, and did not visit the Lac Saint-Jean region until later. His landscape is probably more accurately reminiscent of the Baie-de-Paul area, an area with which he was familiar. Nonetheless, his illustrations of Hémon’s narrative emphasise the strong presence of the land which overshadows any of the narrative’s characters who are depicted. 37 This is the Gagnon quotation chosen to grace the virtual tour of the Maria Chapdelaine collection at the McMichael Art Gallery in Kleinburg/Ontario. URL: www.mcmichael.com/exhibit-maria_chapdelaine.htm, accessed 15. 10.2003.

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the Mediterranean. His calm water and calm sky suggest nothing of Gagnon’s windswept fields, the threatening clouds and the harsh sunlight in which his harvesters work.38 Like Simon, whose body does not bear the traces of the harvest, his hands, as Lydie-Anne points out, are „douces, blanches et satinées“ (Bouchard 1987, p. 64). Bouchard’s Lac Saint-Jean does not carry the same threat of changeable weather, or dangerous depths as does Gagnon’s depiction of work on the land. Les feluettes has at its ultimate setting the stage, and its backdrop is an idealised landscape, more in the tradition of the idealism of humanism on which the Pollaiuolo brothers drew in their depiction of Sebastian’s martyrdom.

Depictions of the Sebastian martyrdom and the structure of Les feluettes In D’Annunzio’s Martyre, Sebastian is a beautiful and highly erotic androgynous figure who in his religious fervour desires painful death in order to be reunited with his God. Bouchard adopts D’Annunzio’s scene in which Sebastian insists to Sanaé, his most faithful archer, that the ultimate proof of his love and devotion is the gift of death. It is especially during this exchange that Simon and Vallier confuse their roles in the martyrdom with the development of their own personal romantic relationship: Vallier et Simon se caressent et s’embrassent. SIMON Si jamais vous m’aimâtes, que votre amour je le connaisse... (Simon a de la difficulté à dire son texte.) ...à mesure de fer. Celui qui plus profondément me blesse, plus profondément m’aime... (Bouchard 1987, p. 32).

D’Annunzio has his Sebastian implore the archers at length to shoot him, crying out ‚Encore! Encore!‘ as the arrows pierce his body; Bouchard cuts his citations short of this. In the script of Les feluettes death itself is more important than the pain of dying. Bouchard explains the significance of Sebastian’s desire for death in the narrative of this love story with a reference to the sado-masochism of D’Annunzio’s Sebastian in the conclusion of his fictional genesis of Les feluettes, „Réflexion“:

38 See also a further illustration of the harvest, done in stark oranges and blues, in the Mornay edition. Hémon 1933, p. 89.

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[...] semblable à ce sado-masochiste de saint Sébastien qui demande à mourir afin de pouvoir revivre... j’ai tenté, moi aussi, de mourir dans les eaux de cette mer intérieure afin de croire à cette histoire d’amour qu’on ne m’a jamais racontée. (Bouchard 1987, pp. 9-10)

Having seen the tableau of the narrative emerge out of the smoke of the saw mill in Roberval, having met the characters on this promenade through the painterly landscape of a Roberval in 1912, Bouchard claims to have ended his visit to the town by attempting to drown himself in Lac Saint-Jean, similar to Sebastian who wanted to die in order to live again, except more precisely for Bouchard, in order to believe in a love story that he was never told. In „Réflexion“ Bouchard sets up the motif of death as the possibility of the existence of a homo-erotic melodrama/love story between two young men at this place and time. The impossibility of the love story is enacted in Les feluettes in the form of constant and repeated interruptions to the rehearsal of the Sebastian martyrdom/love relationship between the two young men. These interruptions occur primarily, but not exclusively, as the actions of Jean Bilodeau, or Jean Bilodeau become archbishop. Bilodeau interrupts the love scenes, either by running in as a schoolboy in once instance turning on the lights to discover the lovers, „Le jeune Bilodeau rallume les lumières. Long silence.“ (Bouchard 1987, p. 33) or by interjecting from his position as spectator in 1952: MONSEIGNEUR BILODEAU, sortant de l’ombre Cette scène est indécente! Je ne saurais le supporter! (Bouchard 1987, p. 32)

While Bilodeau does not hinder, but in fact shapes the love story by conveying the sense of outrage and scandal typical of the reactions to homosexuality in Roberval,39 the love story ends badly for the two young men. 39 The outrage expressed by the mothers of Roberval, as conveyed by the young Jean Bilodeau following his turning on the lights to surprise the two young men as cited above, is not exclusive to Roberval. When Gabriele d’Annunzio’s Le Martyre de Saint Sébastien was first staged in Paris in 1911, it was considered scandalous not only in its extravagance (it was an enormous, lavish, five-hour production), but because it was written for Ida Rubinstein, who played Sebastian. In Les feluettes, one scene of D’Annunzio’s version of the Sebastian legend serves as the source for the play of Saint Sebastian, which is acted out by the two protagonists, Simon and Vallier, who confuse rehearsal and true passion by expressing their desire for one another using the lines of D’Annunzio’s play. Parisians were scandalized by D’Annunzio’s legend in its confusion of eroticism and spirituality, the representation of a religious sado-masochism, and in its in-

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A series of events leads the two of them to an impasse, in which they decide to take their lives together while reciting Sebastian’s wish for death as the greatest gift. Vallier’s mother, the Comtesse de Tilly, a seemingly deranged woman who believes herself to be on the coast of the Mediterranean rather than Lac St. Jean, living in a sumptuous villa rather than a ramshackle hut wishes to be killed in order to return to the Paris she once knew (disappointed at finding out her husband has remarried in France). She too, speaks Sebastian’s lines, and the play seems to cast death as an uninterrupted theatrical space. The Comtesse de Tilly is repeatedly said to be ‚playing‘, „Elle joue“ while expressing her delusions, and she encourages Simon and Vallier to continue their rehearsals – „Jouez, jouez“ – of passionate exchanges, and remains the only supporter of their relationship. And yet the scene of death remains somewhat ambiguous. While D’Annunzio stages an afterlife, as the final scene of his Martyre, Bouchard does not. Vallier merely alludes to having dreamed of his mother dancing happily in Paris after her death (see Bouchard 1987, p. 118), and later, the audience sees the actor who played la Comtesse when the 1954 narrative comes to an end. And Simon’s suicide attempt does not succeed. He is interrupted by Bilodeau who breaks down the door to the attic Simon and Vallier had run to and set on fire. Bilodeau saves Simon, leaving Vallier to die. Bilodeau reveals this information in the final scene of the play, titled „Épilogue“, and expresses his jealousy of Vallier and his anger that Simon had rejected him as a lover. Bilodeau confesses this information after Simon and his group of actor friends taunt him into speaking Sebastian’s lines. The play ends after Bilodeau is rejected again by Simon in 1952, who tells him, „Moi, je te déteste au point de te laisser vivre.“ Once Simon and all of the actors have left the stage, Bilodeau repeats Sebastian’s plea for death, „Tuez-moi! Tuezmoi!“40 (Bouchard 1987, p. 125) The text is ended with the direction „Musique“, then „FIN“ and dated „Montréal, 27 septembre 1987.“ sistence on the confusion of gender norms in its representation of the saint. The Robervalois are scandalized by the ‚sickness‘ (homosexuality) that their young boys are catching from the performance of such plays. 40 This line disappeared quickly, it was cut from the script in all but early performances, and yet it points beyond the narrative in an explicit reference to the Renaissance tradition of depicting Sebastian, here impersonated unsuccessfully by Bilodeau. It is a pathetic gesture, and the only one which makes Bilodeau, otherwise quite detestable, sympathetic to the audience. Bilodeau is one of the main propelling forces of the narrative, driving Simon and Vallier through his condemning, meddling interruptions of their relationship to their end. And yet Bilodeau is at the same time accomplice, believing absolutely in Simon’s sainthood, wanting to worship his beauty in

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The extended mise-en-abyme of Les feluettes, including the fiction of Bouchard’s vision on the shores of Lac Saint-Jean, and the posited realm of death as an uninterrupted theatricality can be represented by the following table, using broken lines to indicate repeated trespasses between framing and framed narratives. The outermost narrative frame is labelled with the time of writing, drawn from the date that ends the script, followed by Bouchard’s visit to the shores of Lac St. Jean, „il y a trois ans de cela.“ The outermost border of the table is also perforated to indicate the play’s gesture towards its reader, or its audience, as it is modelled after the Pollaiuolo depiction of the Sebastian martyrdom painted, as has been described above, in a tradition of representation in which the viewer is invited to participate in the role of Sebastian’s archer. In this sense, it is possible to interpret Monseigneur Bilodeau’s final plea for death as he stands alone on stage as directed beyond the realm of the 1952 narrative. His plea is spoken in the third person plural. He must therefore be addressing the actors off-stage, the audience, God? Table 1: Extended mise-en-abyme, Les feluettes 1987 Montreal 1984 „Réflexion“ 1952 „Prologue“ 1912 Roberval 700 A.D. Martyrdom Death

This analysis has been an attempt to consider Bouchard’s „Réflexion“, the second level of the table as essential to establishing a set of references that create the possibility of this romance, which did not exist as such and yet could only have existed in this setting. „Réflexion“ is a strange little text, fanciful, melodramatic, peppered with ellipses, perhaps too eau-de-rose itself, that first establishes a dramatic landscape in its fairweather idyll, and the protagonists of a larger-than-life homosexual romance, such that Roberval is no longer such an unlikely setting but rather the inevitable setting for Les feluettes to occur.

place of Vallier: „Avant que le Feluette se mette entre nous deux, on était toujours ensemble parce que je voulais être l’ami d’un saint.“ (Bouchard 1987, p. 97) He seems to be cast in part in the role of D’Annunzio’s Emperor Diocletian who offers to make Sebastian into a pagan god and worship him for his physical beauty but who condemns him to martyrdom when Sebastian refuses to give up Christianity.

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Figure 1: Antonio and Piero Pollaiolo: The Martyrdom of Saint Sebastian (finished 1475), tempera on panel, 292 x 203 cm, London: National Gallery

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Figure 2: Léon Bakst: Set design for Act IV, „Le Laurier blessé“ of D’Annunzio’s Le Martyre de Saint Sébastien

Figure 3: Movie poster, INDOMPTABLE ANGÉLIQUE (1967)

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Figure 4: Detail of Antonio and Piero Pollaiuolo: The Martyrdom of Saint Sebastian

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TANZ IN ZWEI DIMENSIONEN: DAS KONZEPT DES PERFORMATIVEN KÖRPERTABLEAUS IN NIJINSKYS L’APRES-MIDI D’UN FAUNE ‚The man that I see foremost on the stage is a contemporary man.‘ 1

Vaslav Nijinsky

L’Après-midi d’un faune – ein choreographisches Tableau Am 29. Mai 1912 wurde im Pariser Théâtre du Châtelet eine Uraufführung der Ballets russes unter der Leitung des bekannten Impressarios Sergej Diaghilev präsentiert, die nicht nur in Bezug auf die Einteilung des Bühnenraums, die Choreographie und die Aufführungsdauer gänzlich von den gewohnten Inszenierungen der Truppe abwich, sondern ebenso wenig die Paradigmen der bis dato überhaupt in Europa üblichen Ballettdarbietungen erfüllte. Auch die Bewegungsmuster des Freien Tanzes2 boten keinen Schlüssel zu diesem – im Programmheft anstatt mit ‚ballet‘ als „tableau choréographique“ angekündigten – L’Après-midi d’un faune.3 Die gespannte Erwartung des Pariser Publikums befand sich 1 Zitiert nach Cahusac, Hector, in: Le Figaro, Nr. 134 (14.5.1913). Vgl. auch Nijinska, Bronislava: Early Memoirs. Irina Nijinska (Hrsg.), New York 1981, S. 466. 2E Freier Tanz (bedeutende Vertreterinnen: Isadora Duncan, Ruth St. Denis): zusammenfassende Bezeichnung für einen Tanzstil, der sich ab ca. 1880 entwickelte und dem klassischen Bewegungs- und Kostümkodex des Balletts abschwor, wobei seine Vertreterinnen meist keine klassische Ausbildung erfahren hatten. Isadora Duncan etwa wurde lediglich in Gesellschaftstänzen unterrichtet und präsentierte selbst erdachte Tänze, erhielt jedoch nie Ballettunterricht. 3 Bibliotheque-musée de l’Opéra: Les Ballets russes à l’Opéra 1909-1929, Paris 1992, unpaginiert.

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auf dem Höhepunkt, da es sich bei dem Choreographen um den als „Sprungwunder“ gefeierten ersten Solisten der Truppe, Vaslav Nijinsky, handelte und sein Erstlingswerk als Bruch mit der fokineschen Ära4 gedeutet wurde. Mit Bühnenbild und Kostümen wurde Léon Bakst beauftragt, als Musik das gleichnamige Klanggedicht Claude Debussys ausgewählt. Während einer Spieldauer von acht Minuten sahen sich die Zuschauer des einfachen Geschehens in die Bildmotivik der Antike zurückversetzt: Ein auf einem Felsvorsprung hoch über dem Bühnenboden ruhender Faun – bald Flöte spielend, bald einige Trauben genießend – sieht auf einer nahen Wiese unter sich mehrere Nymphen. Neugierig nähert er sich. Nach seiner Betrachtung fliehen sie, kehren aber zurück und fliehen erneut bei seiner Annäherung. Eine bleibt zurück, der Faun streckt verlangend seine Arme nach ihr aus, als er sie aber umarmen will, eilt sie den anderen nach, ihren Schal in seinen Händen lassend. Er nimmt diesen mit auf seinen Felsvorsprung, liebkost ihn, legt ihn vor sich auf die Erde und beugt sich über ihn in einem symbolischen Liebesakt. Bereits die Geheimhaltung der Entstehung des Stücks, die sekundenlange Stille nach einer ersten Aufführung für die Pariser Presse sowie Diaghilevs Bitte an die Truppe, das Stück doch noch einmal – angesichts des fragenden Erstaunens und der Verständnislosigkeit in den Gesichtern der Zuschauer – zu wiederholen, deuteten darauf hin, dass hier eine nicht kategorisierbare Neuartigkeit präsentiert worden war, die nicht thematisch motiviert sein konnte. Richard Buckle, ein renommierter Biograph Nijinkys, berichtet zu diesem Ereignis, Gabriel Astruc, Agent der Truppe und Direktor des Théâtre du Châtelet, sei vor den Vorhang getreten, um zu verkünden, „etwas so Neuartiges sei nach einer einzigen Aufführung einfach nicht zu begreifen.“5 Das Außerordentliche dieser kurzen Szene bestand vielmehr in einem gänzlich neuartigen Bewegungsduktus. Auch wenn sie von ‚konventionellen‘ Balletttänzern dargeboten wurde, erinnerte kaum eine Geste an klassische Bewegungscodes: Alle Schritte wurden auf flachem Fuß ausgeführt, und die Armbewegungen zeichneten eckige geometrische Formen nach, wobei sich die Handflächen jeweils als steife Verlängerung des Arms präsentierten. Die Mehrzahl der Bewegungen wurde im Profil mit einer 90°-Torsion des Oberkörpers zum Publikum hin ausge4 Fokine, Michail, bis 1912 Stammchoreograph der Ballets russes. Er galt bereits als Modernisator der romantischen Ballette Marius Petipas (s.u. Anm. 19), da er auf ein stärker mimetisches Spiel setzte und Virtuosität um ihrer selbst willen vermied. 5 Buckle, Richard: Nijinsky, Herford 1987, S. 182.

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führt, so dass diese Haltungen sowohl menschliche Darstellungen altmykenischer Vasenmalerei als auch solche ägyptischer Pergamentzeichnungen suggerierten. Die Schrittkombinationen erfolgten ausschließlich linear in einer Parallele zur vorderen Proszeniumskante, nicht jedoch in die Tiefe des Raumes hinein. Auch wurden keine lebhaften Tanzgebärden im eigentlichen Sinne ausgeführt, sondern lediglich eine Sprungbewegung des Fauns, während ansonsten der Eindruck einer fließenden Aneinanderreihung skulpturartiger Posen entstand, die durch gleichförmige, lineare, ‚schlurfende‘ Schrittbewegungen6 mit leicht gebeugten Knien verbunden wurden. Im gesamten Verlauf des Reigens war die Mimik der Tänzer, Nijinskys Anweisungen entsprechend, von starrer Ausdruckslosigkeit gezeichnet: „‚kein Ausdruck im Gesicht – ihr müsst so sein, als ob ihr mit offenen Augen schlafen würdet – wie Statuen.‘“7 Dem Zuschauer wurde damit der Eindruck eines regelrecht ‚filmisch‘ belebten Basrelief vermittelt, eines linear geordneten Ensembles an Projektionen räumlichplastischer Körperbilder auf die Zweidimensionalität einer Fläche.8 Auf ein solches Konzept ausgerichtet, wurde der Bühnenraum durch ein extrem vorgezogenes Bühnenbild auf nur einen schmalen Streifen begrenzt. So berichtete der russische Kritiker André Levinson: „Ein Hügel, worauf der Faun ruht, verkürzt die Bühne und gewährt nur ein enges Proszenium […] Auf diesem einzigen Plan bewegt man sich, und zweidimensionales Spiel der Arabesken schmückt die Fläche.“9 Ebenso vermittelte das Bühnenbild (Abb. 4) aus einer Wand mit großflächig aufgetragenen erdfarbenen Flecken (grün, grau, braun) sowie einem schmalen schwarzen Steg bis zu einem für den Zuschauer kaum erkennbaren Felsvorsprung – den der Rezipient als solchen nur durch die Geh- und Liegebewegung des Fauns ausmachen konnte – den Eindruck, einer vertikalen Ebene als Hintergrund gegenüberzustehen. Anders als bei den gewohnten Inszenierungen, in denen sich Baksts Bühnenaufbauten aus grandiosen Stadt- und Schlosskulissen durch die Illusion einer 6 Dazu V. Nijinsky: „,Jede Zeit bringt ihr spezifisches Tanzvokabular hervor – im 18. Jahrhundert war es der Kavalier, der ein Menuett tanzte, der heutige Mensch stampft, schleift und schiebt durch Tango und ,turcky trot‘.‘“ Zitiert nach Nijinsky. Ballett von John Neumeier (Uraufführung 2.7.2000), Programmheft des Hamburg Ballett, S. 49. 7 Zitiert nach Rambert, Marie: Quicksilver. An Autobiography, London 1983, S. 62. 8 In der Partitur war vermerkt, die Figuren auch lichttechnisch so zu beleuchten, dass sie „‚plan‘“ wirkten. Zitiert nach Buckle 1987, S. 182. 9 Levinson, André: Zum Ruhme des Balletts. Léon Bakst in Wort und Bild. Eva-Elisabeth Fischer (Hrsg.), Dortmund 1983, S. 125.

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unendlichen Raumtiefe und Tiefenschärfe auszeichneten, sollte hier jeder Anschein eines klassischen en-dehors auch in raumplastischer Dimension vermieden werden. Abbildung 1: Pas-de-deux in L’Après-midi d’un faune (1912), Detail

Abbildung 2: V. Nijinsky in L’Après-midi d’un faune (1912), Detail

Welches Ausmaß an radikalen Umbruchsmomenten für das konventionelle Tanzkörperkonzept sich in den acht Minuten der Aufführung performativ präsentierte, wird bereits bei Betrachtung der Entstehungsgeschichte des Stückes, insbesondere des zeitlichen Aufwands, sowie anhand der Aussagen beteiligter Tänzerinnen deutlich: Nijinsky benötigte trotz der Mitarbeit seiner Schwester, die zugleich Tänzerin der Truppe war, ein gesamtes Jahr zur Entwicklung des völlig neuartigen Bewegungskonzepts unter exakter Festlegung jeder Kleinstbewegung (bis hin zur Fingergestik), bevor die Probenarbeit mit der Gruppe überhaupt beginnen konnte. We sometimes spend all evening long on the floor in front of the 10 mirror trying out different poses.

10 Nijinska 1981 (wie Anm. 1), S. 316.

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[…] Each position of the dance, each position of the body down to the gesture of each finger, was mounted according to a strict cho11 reographic plan. I’m alike a piece of clay that he is molding.

Es fanden anschließend insgesamt 90 Probenstunden statt, ein Zeitumfang, der üblicherweise für ein 45-Minuten-Ballett aufzuwenden war.12

Zweidimensionalität als performativ innovatorisches Motiv Hinsichtlich des Diskurses von Medialität, Performativität und Semiotizität des bewegten Körpers in Tanzdarbietungen der klassischen Avantgarden schuf Nijinsky mit L’Après-midi d’un faune eine Choreographie, die zwar vereinzelt Schnittflächen mit Paradigmen des neuen Freien Tanzes aufwies (wie der Unabhängigkeit von Körperbewegung und Musik), überwiegend jedoch solche kreierte, die diesen diametral gegenüberstanden, und auch – abgesehen von erneuter Bewegungskodifizierung – wenig Gemeinsamkeiten mit dem klassischen Ballett erkennen ließen. Aufgrund des Postulats einer zweidimensionalen Ausrichtung, einer Exaktheit der Gestik sowie des Gebots mimischer Ausdruckslosigkeit erzielte Nijinsky Eindrücke einer verstärkten Materialisierung und Fokussierung des Körpers. Als regelrechte Konvergenzfläche bewegter Körperlinien verlagerte sich die Vermittlung emotiv-narrativer Ausdruckswerte vom Antlitz auf die Körpermitte. Hierzu vermerkte Jacques Rivière, ein Kritiker der Nouvelle Revue Française: ‚Nur die unmittelbarste, radikalste und ursprünglichste Aussage soll vernommen werden. Die Bewegung wird dem Körper untergeordnet, immer wieder zum Körper zurückgeführt, an ihn gefesselt, 13 am Ausbrechen gehindert.‘

Als Folge der reduzierten Bühnentiefe ergab sich zudem ein rezeptionsästhetisch neuartiges mediales Beziehungsgefüge zwischen Zuschauern und Tänzern: Die Rezipienten waren gehalten, das Bühnengeschehen nicht mehr entsprechend dem zentralperspektivischen Prinzip der Guckkastenbühne zu verfolgen, sondern ihren Blick in Bewegung zu versetz11 Ebd., S. 427. 12 Über die Schwierigkeiten der Tänzerinnen beim Erlernen der abstrakten Gestik berichtet die ehemalige Dalcroze-Tänzerin Marie Rambert (zitiert nach ebd., S. 428): „‚There is not a single dancing pas – not a single free movement – not a single solo – no dances at all… We feel as though we are carved out of stone.‘“ 13 Zitiert nach Programmheft des Hamburg Ballett 2000 (wie Anm. 6), S. 50.

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ten und linear über seine gesamte multizentrische Breite gleiten zu lassen. Auf diese Weise erfuhr der Akt des Zuschauens selbst eine Belebung und führte zu einer eigenen leiblich-mentalen Erfahrung des Bühnengeschehens.14 Bedingt durch die Langsamkeit des ‚Skulpturenreigens‘ L’Aprèsmidi d’un faune – einem Defilee zeitentrückter warburgscher Pathosformeln15 – erfolgte mittels Konzentration von Inszenierungsdauer und -geschwindigkeit ein weiteres Moment der Neuverhandlung von Produktions- und Rezeptionsanteilen sowie der gegenseitigen Raumzuweisung: Der reale Bühnenraum nahm – entgegen den üblichen Inszenierungen der Ballets russes, bei denen er mit Seiten- und Hinterbühne zum Teil größer war als das Auditorium – wesentlich kleinere Maße als der Zuschauerraum ein, so dass sich Tänzer und Rezipienten einander näherten. Die Konzentration in der Darstellungsdauer wie im Abstraktionsgrad der bewegungsformalen Aussage forderte vom Zuschauer einen desto höheren Aufwand an assoziativ-interpretatorischem Einsatz ein. Anstatt den Prämissen der räumlichen sowie mimetischen Grenzüberschreitung des Freien und beginnenden expressionistischen Tanzes Folge zu leisten, führte Nijinsky in seine Choreographie eine Ästhetik der bewussten Grenzsetzung außer im Bühnenraum ebenso in Bezug auf die Körperlinienführung (in Form der Vielzahl an eckig-geschlossenen Haltungsvarianten) wieder ein. Über die Konfrontation von Form und Inhalt – Abstraktheit der Formen eingebettet in die emotionale Motivik antiker Provenienz – erzeugte Nijinsky ein System semiotischer Leerstellen, die der Rezipient durch Assoziationsbildung individuell zu füllen gehalten war und die damit eine Rückbindung an die Erfahrungswelt zeitgenössischer Aktualität erfuhren.

14 Vgl. Brandstetter, Gabriele: „Die Inszenierung der Fläche – Ornament und Relief im Theaterkonzept der Ballets Russes“, in: Claudia Jeschke/Ursel Berger/Birgit Zeidler (Hrsg.): Spiegelungen. Die Ballets Russes und die Künste, Berlin 1997, S. 148-163; bes. S. 149. 15 Vgl. Bakst, Léon, in: Petersburger Zeitung (21.1.1914); zitiert nach Raev, Ada: „Zum choreographischen Ansatz in den Kostümentwürfen von Léon Bakst und seinen Folgen“, in: Jeschke/Berger/Zeidler 1997 (wie Anm. 14), S. 54-81; Zitat S. 64. Wie sein Zeitgenosse Aby Warburg entdeckte Bakst das durch die Zeiten bewahrte Repertoire an Pathosformeln und arbeitete, teilweise in Kooperation mit VertreterInnen des modernen Tanzes, „,über die Rezeption von Pathosformeln der Vergangenheit an der Konstituierung einer modernen Bühnensprache. Niemand möchte im modernen Theater mehr zuhören, sondern möchte schauen.‘“

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Mediale Einflussmomente auf dem Weg zu einem flächigen Tanzkörperkonzept Angesichts der im Vergleich zu anderen Medien zeitlich verzögerten Umbruchphase in der Welt des klassischen Balletts eröffnet sich die Frage, inwiefern Nijinskys Bewegungskonzept, das archaisch-skulpturale Bildkonzeptionen zur Realisierung moderner Körperinszenierungen heranzieht, nicht nur Zeugnis eines individuell-kreativen Innovationspotentials ist, sondern darüber hinaus möglicherweise auch Impulse der damals neuen Medien Photographie und Film bzw. neue Techniken und Ausdrucksformen traditioneller Medien,16 insbesondere der Malerei, reflektiert. Nijinskys 1919 verfasste Cahiers17 liefern in diesem Zusammenhang teilweise wertvolle Hinweise auf seine choreographischen Intentionen. Von Anbeginn der Saisons russes (1909) an knüpfte Sergej Diaghilev Kontakte zur zeitgenössischen Pariser Künstlerszene – Musikern, Malern, Literaten; darunter Ravel, Debussy, Poulenc, Picasso, Vuillard, Matisse, Braque, Cocteau u.a.18 –, wobei er es verstand, die Künstler an seine Truppe zu binden und sie für sich produzieren zu lassen. Mit Michail Fokin beschäftigte er zwar bereits einen Choreographen, der sich der Moderne durch Abkehr von der petipaschen19 Virtuosität um ihrer selbst willen hin zu kurzen, mimetisch ausdrucksintensiven Handlungsballetten verpflichtet hatte. Für Diaghilevs Vorstellungen blieben diese jedoch noch zu sehr der klassischen Schule verhaftet, so dass er sich von der Beschäftigung avantgardistischer Künstler und von einem Choreographenwechsel (dem Engagement Nijinskys) eine Modernisierung der Truppe erhoffte, geleitet von dem Gedanken: „,Es wäre besser, vergangene Epochen neu zu deuten, als sie lediglich heraufzubeschwören.‘“20

16 Hierbei handelt es sich um kreative Konzepte der klassischen Avantgarden, die häufig ihrerseits wiederum auf Ausdruckswerte der neuen Medien rekurrieren. 17 In nur sechs Wochen (vom 19.1. bis zum 4.3.1919) verfasste Nijinsky vier Cahiers, bekannt als sein ‚Journal‘, in dem er neben persönlichen Beziehungen seine Bewegungs- und Theatertheorie darlegte, das jedoch auch zum Dokument seiner beginnenden Schizophrenie wurde. 18 Zu einigen der Künstler ergaben sich bereits von Russland aus Kontaktmöglichkeiten durch deren Mitarbeit an der von Diaghilev gegründeten Kunstzeitschrift Mir Iskusstwa. 19 Marius Petipa (1822-1910), renommiertester Choreograph der hochklassischen Schule und Begründer des russischen Balletts. 20 Zitiert nach Buckle 1987, S. 124.

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Die Idee, alte Mythen aus Kulturen mit ‚primitiven‘ Elementen mit Vorstellungen der Moderne zu verknüpfen, entsprach ebenso den Visionen Nijinskys: „‚I want to use the archaic Greece [...]. However, this is only to be the source of my inspiration.‘“21 Hector Cahusac (einem Redakteur des Figaro) gegenüber fügte er erklärend hinzu: „‚The man that I see foremost on the stage is a contemproray man.‘“22 Diaghilev führte seinen Zögling daher im alltäglichen Umgang mit zahlreichen Avantgarde-Künstlern zusammen, und auch wenn Nijinsky sich als des Französischen nie ganz mächtig erwies (und folglich das Gedicht Mallarmés, „L’Après-midi d’un faune“, selbst nie lesen konnte), so ist es dennoch wahrscheinlich, dass er auf visuellem Wege vielfältige Inspirationen erhielt. Bevor Nijinskys individuelle Initiative zur Herbeiführung eines Umbruchs in der Evolution des Mediums ‚klassischer Tanz‘ sowie seine Innovationsleistungen im Kontext der historisch-avantgardistischen Tanzbewegung aufgezeigt werden, sollen im Folgenden exemplarisch drei mediale Einflussfaktoren erörtert werden, die maßgeblich zur Entwicklung der Faune-Choreographie beigetragen haben: das Studium attischer Vasenkunst sowie altägyptischer Körperzeichnungen und Basreliefs im Louvre; Nijinskys Auseinandersetzung mit zweidimensionaler Formenbildung unter Aspekten, die ebenso bei der Entstehung des Kubismus in der Malerei unter dem Einfluss der Photographie relevant waren; und schließlich Konzepte der plastiques animées als Beispiele eines ‚filmischen Skulpturenreigens‘ im Sinne des Hellerauer Dozenten für Rhythmiklehre, Emile Jacques-Dalcroze. Im Anschluss an die Wahl des antiken Themas für Nijinskys Erstlingschoreographie suchte dieser auf Anregung Diaghilevs einschlägige Louvre-Abteilungen auf, um dort geeignete Vorbilder zu studieren. Die besondere Aufmerksamkeit seiner Recherchen galt jedoch weniger den stilisierten Formen griechischer Ornamentik als vielmehr Figuren, in denen sich archaische Körperbilder bewahrt hatten, wie dies eher bei assyrischen Objekten der Fall war: ‚I want to move away from the classical Greece that Fokine likes to use. Instead, I want to use the archaic Greece that is less known and, so far little used in the theatre. […] I want to render it in my own way. Any sweetly sentimental line in the form or in the

21 Nijinska 1981, S. 315. 22 Vgl. das Motto zu diesem Aufsatz (s. Anm. 1).

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movement will be excluded. More may even be borrowed from As23 syria than Greece.‘

Die anekdotische Begebenheit, nach der sich der Bühnenbildner Bakst und Nijinsky in der Abteilung für griechische Kunst verabredet hatten, Bakst den Tänzer jedoch versunken in altägyptische Druckkunst vorfand, zeigt unabhängig von Verständnisbarrieren, dass nicht die Imitation national-historischer Körperbilder in Nijinskys Interesse lag, sondern eine kulturübergreifende Präsentationsweise der Figuren, die zum einen alle einen Bewegungsduktus der Erdnähe (gebeugte Knie) aufwiesen, zum anderen eine gemeinsame Tendenz der perspektivischen Ausrichtung: Es handelte sich um Körperprojektionen auf einer zweidimensionalen Ebene, die gekennzeichnet waren durch eine klare Linienführung der Körper- und Gliedmaßenausrichtung – kurz, um Pathosformeln im warburgschen Sinne.24 Berichten Bronislava Nijinskas zufolge verinnerlichte ihr Bruder die betrachteten Konturen so intensiv, dass er sie an ihrem Körper, den er gleich einem Klumpen Ton formte, zunächst nachempfand, zum Auftakt des eigentlichen Schöpfungsprozesses dann jedoch sozusagen entlang den Sollbruchstellen des Körpers – den Gelenken – haptisch begann, mit den Ausgangspositionen zu experimentieren.25 Die ebene Ausrichtung des Körpers in gravitätischer Haltung, die zurückgeht auf archaische Darstellungsmuster, diente damit als Ausgangsmuster eines neuen Tanzkörperbildes. Weder mit dem Modell griechischer, altägyptischer oder assyrischer Abbildungen allein lassen sich die Haltungsformen in Nijinskys Körperkonzept erklären – zeigt der Faune doch weitaus stärker abstrahierte und geometrisierte Posen, als sie auf solchen Darstellungen zu finden sind. Bein-, Arm- und Handbewegungen beschreiben hier keine

23 Zitiert nach Nijinska 1981, S. 315. 24 In seiner anthropologisch-psychohistorisch angelegten Theorie geht Warburg davon aus, dass sich in bestimmten, emotional aufgeladenen Ausdrucksgebärden der Künste (Pathosformeln) ein Prozess der kulturellen Bewältigung triebhafter Handlungen manifestiere. Vgl. dazu Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1995. Über jene Pathosformeln schreibt Aby Warburg (zitiert nach Gombrich, Ernst H.: Ornament und Kunst, Stuttgart 1982, S. 331), „‚daß diese Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben und vorbildlich den Umriß bestimmen, den die Künsterhand schafft‘“. 25 So Nijinska 1981, S. 316.

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leicht gerundeten Formen wie auf einschlägigen antiken Abbildungen, sondern bilden i.d.R. gerade Linien oder eckige Winkel. Das Konzept einer bewussten Setzung von Kanten und Flächen als abstrahierendes Mittel zur Erzielung neuer Ausdruckswerte hatte sich jedoch bereits als Paradigma der Moderne vor allem im Bereich der kubistischen Malerei als fruchtbar erwiesen. Obwohl Nijinskys Cahiers keine Primärhinweise enthalten, wurde diese Vermutung einer Analogie dennoch von zahlreichen zeitgenössischen Tanzkritikern geäußert. So sah A. Levinson „neue Tendenzen, die von diesen geometrischen, geballten, rechteckigen oder gestreckten Körperbewegungen zur modernen Malerei, zu Hodler und weiter zu den Kubisten und Abstrakten führen.“26 Picasso als einer der wichtigsten Repräsentanten der kubistischen Schule stieß 1916 als Bühnen- und Kostümbildner fest zu den Ballets russes. Auch wenn sein Engagement erst nach Nijinskys Fortgang von der Truppe erfolgte, lassen sich gleichwohl stilgeschichtlich interessante Parallelen zwischen den Evolutionsstufen kubistischer Gestaltungsprinzipien in Picassos Frühwerk und solchen in der Entwicklung der Erstlingschoreographie Nijinskys aufzeigen. Im Zuge seiner Suche nach innovativen Formen der Ausdrucksintensivierung hatte sich Picasso um 1906, angeregt durch eine GauguinRetrospektive, ebenfalls mit ‚primitiver‘ Kunst – darunter insbesondere afrikanischer Holzmaskenkunst aus den Sammlungen des Pariser Völkerkundemuseums – auseinandergesetzt.27 Aus diesen Eindrücken entstand eine Vielzahl von Skizzen zu Frauenakten mit groben, maskenartigen Gesichtszügen, wobei zunächst Zeichnungen aus verschiedenen Perspektiven im Raum entstanden, anschließend die Körperpartien in geometrische Bestandteile zerlegt wurden, um zuletzt die fragmentierten Einzelflächen auf eine zweidimensionale Ansicht zu projizieren. Auf diese Weise wurde der Eindruck eines Scheinreliefs hervorgerufen, bei dem durch multiplen Bruch von Fluchtpunktlinien insgesamt ein zwei26 Levinson 1983, S. 112. Der französische Kritiker Paul Souday fand allerdings, dieses Russische Ballett sei bei weitem zu starr und geometrisch, für die Kunst der Choreographie bedeutete es aber, was der Kubismus für die Malerei sei. Vgl. dazu Niehaus, Max: Nijinski, Passau 1961, S. 47 und Programmheft des Hamburg Ballett 2000 (wie Anm. 6), S. 51. 27 Vgl. Zimmermann, Beate/Buchholz, Elke Linda: Pablo Picasso. Leben und Werk, München 1999. Wahrscheinlich ist, dass auch Nijinsky sich durch die ‚Primitiven‘-Darstellungen Gauguins inspirieren ließ. Vgl. Emboden, William A.: „The Drawings of Vaslav Nijinsky“, in: Erik Näslund (Hrsg.): Nijinsky – Legend and Modernist, Stockholm 2000, S. 125.

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dimensionaler Charakter des Gemäldes gewahrt blieb. In diesen Konstruktionen des menschlichen Körpers wurden Ausdruckswerte nicht nur über die Gesichtszüge oder die Gestik der Körperhaltungen, sondern insbesondere auch durch das innerkorporale Spiel der Linien, Umbruchkanten und Flächen induziert. Das so entstandene Werk, Les Demoiselles d’Avignon (1907; Abb. 3), gilt heute als Schlüsselwerk des Kubismus und der Moderne. Zusätzlich zum realen Modell der Masken nutzte Picasso dabei Effekte des neuen Mediums Photographie als Inspirationsquelle für Disproportionierung und Verkantung. Zeit seines Lebens experimentierte er mit der Transformation von Raum in Fläche und übertrug Beobachtungen zur verzerrten Darstellung der Objekte aufgrund von Licht-, Schatten- und Bewegungseffekten bei ihrer Projektion auf die Zweidimensionalität der Photofläche auf die Flächenstrukturierung seiner Gemälde.28 Abbildung 3: Pablo Picasso: Les Demoiselles d’Avignon (1907), Öl auf Leinwand; 243,9 x 233,7 cm (Detail)

28 Vgl. Baldassari, Anne: „Picasso, 1901–1906: Painting in the Mirror of the Photograph“, in: Dorothy Kosinski (Hrsg.): The Artist and the Camera. From Degas to Picasso, Dallas 1999, S. 286-309; bes. S. 76.

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Das Prinzip der Konfrontation verschieden perspektivierter Ansichten nicht nur des Gesamtkörpers, sondern auch der durch die Gelenke strukturierten Körpersegmente findet sich in zahlreichen Körperstellungen innerhalb der Choreographie des Faune wieder: Bereits zu Beginn des Tanzes der sechs Nymphen ist nicht nur eine Verdrehung des Oberkörpers gegenüber der Beinstellung um neunzig Grad zu beobachten, so dass eine Umbruchkante sichtbar wird, an der eine abrupte Transformation von der Profil- zur Frontalperspektive erfolgt, sondern die Aneinanderreihung perspektivisch fragmentierter Körperpartien setzt sich über die Kopfhaltung bis zu den Armen und Händen fort, welche ihrerseits Kontorsionen in gegenläufiger Richtung erkennen lassen.29 Hier findet also eine regelrechte Inszenierung der Fragmentierung des Körpers statt, die Performanz eines Systems multipler ‚gelenkter‘ Umbrüche im Rahmen einer mise en scène – angesichts des humanen Objekts und der Bewegungslosigkeit der Gesichter – menschlicher Ausdruckswerte, ähnlich wie von den Techniken des Kubismus intendiert. Während der Experimentierphase mit Bronislava Nijinska wurde, neben der Auseinandersetzung mit Spiegelbildern, ebenfalls mit photographischen Aufnahmen gearbeitet.30 Auf diese Weise optimierten die Tänzer Winkel in der Ausrichtung ihrer Gliedmaßen sowie die Kopfhaltung, um körperverzerrende Blicke in den Spiegel zu vermeiden. Auch in der späteren Probenarbeit mit der Gruppe kam es häufiger vor, dass Tänzer nach eigenem Körperempfinden eine andere Winkellage einnahmen als der Choreograph objektiv von außen sah. Das photographische Abbild initiierte ein neues Körperbewusstsein insofern, als innere und äußere Haltungsbilder miteinander abgeglichen werden konnten, wodurch sich ein völlig neues Repertoire der Ausdrucksbildung entwickelte. Welche Bedeutung Nijinsky dem neuen Medium zumaß, wird anhand einer anekdotischen Begebenheit deutlich, in der er dem ständig mittellosen Diaghilev damit gedroht haben will, in einer Aufführung nicht aufzutreten, wenn dieser nicht seinen Photoapparat aus dem Pfandleihhaus auslöse.31 Wie die Geometrisierung der Körperhaltung, so lässt sich auch ihre Skulpturalität nur zum Teil auf das Studium antiker Kunstgegenstände zurückzuführen. Vielmehr besuchte Nijinsky im Jahre 1911 zweimal Veranstaltungen des Hellerauer Rhythmik- und Eurythmielehrers Emile 29 Siehe Videonachstellung von L’Après-midi d’un faune, in: Schoonejans, Sonja: Vaslav Nijinsky (Arte/La Sept, 1991). 30 Dies berichtet Nijinska 1981, S. 316. 31 So Nijinsky, Waslaw: Nijinskys Tagebücher, Frankfurt a.M./Leipzig 1995, S. 136.

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Jacques-Dalcroze, der musikalische Rhythmen als Konstruktionen aus Taktschlag und Metrum betrachtete, die sich aus den „‚Bewegungen des Lebens‘“32 ergaben. So erarbeiteten sich seine Schüler Musikrhythmen durch skandiertes Gehen, Klatschen oder andere körperliche Aktivitäten. Die Bewegung im Raum wurde durch dessen Einteilung in imaginäre Ebenen und Linien strukturiert. Sobald die Schüler eine Bewegung automatisiert hatten, fügte Dalcroze eine andere kontrapunktisch hinzu. In seinen daraus entwickelten ‚chansons de gestes‘, zu denen optische Lichtreflexe33 hinzutraten, mündeten schließlich alle ‚Tänze‘ in so genannte plastiques animées34 auf eigens dafür errichteten Podesten auf der von Adolphe Appia entworfenen Hellerauer Schulbühne.35 Auf diese Weise inszenierte Dalcroze einen bewegten Figurenreigen im anti-bergsonschen Sinne36 als Aneinanderreihung skulpturaler Einzelbilder, bei der die Zuschauer zu einer assoziativen Füllung des Zwischenraumes aufgefordert waren. So wurde ein regelrecht filmischer Sehprozess induziert, der aufgrund der großen zeitlichen Abstände zwischen den Einzelbildern eine intensive Aktivierung der imaginativen Tätigkeit des Publikums bedeutete. Während Nijinsky wesentliche Elemente der dalcrozeschen Rhythmiklehre für seine zweite den Bühnentanz revolutionierende Choreographie Le sacre du printemps (1913) übernahm (pro Taktmetrum eine Bewegung),37 ließ er sich für den Faune zunächst von der performativen Wirkung des Körperlinienspiels der Gruppenformationen in Momenten der Reglosigkeit inspirieren (vgl. oben Abb. 1) und führte damit erstmals gezielt Augenblicke der bewegten Ruhe auch in den Bühnentanz ein.38

32 Zitiert nach Ostwald, Peter: „Ich bin Gott“. Waslaw Nijinski – Leben und Wahnsinn, Hamburg 1997, S. 96. 33 „Seine Szenenanweisungen bezogen sich auf [...] Lichteffekte – in einem Lied verlangte er z.B. acht Takte ‚Loïe Fuller-Kombinationen‘.“ Odom, Selma: „Nijinsky in Hellerau“, in: Jeschke/Berger/Zeidler 1997 (wie Anm. 14), S. 29-39; Zitat S. 32. 34 D.h. skulpturenhafte Gruppenstandbilder, „die partienweise in der Optik von Relief-Kompositionen aufgebaut sind.“ Brandstetter 1997, S. 151. 35 Vgl. Odom 1997, S. 30ff. sowie Brandstetter 1997, S. 153: „So gesehen entfaltet sich das Bild der Antike als eine Staffelung von Renaissancen, die für das Bewusstsein der Moderne charakteristisch ist“. 36 Siehe dazu Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist (1896), Hamburg 1991, S. 185ff. 37 Vgl. Ostwald 1997, S. 96. 38 Das von Nijinsky im Tanz erstmals konzeptuell eingesetzte Motiv der bewegten Ruhe wird später insbesondere in der Kontaktimprovisation nach Steve Paxton wieder aufgegriffen. Siehe hierzu Brandstetter, Gabrie-

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Nach dalcrozescher Manier wählte er für die Aufführung des Faune lediglich einen kleinen Corps de ballet aus, bestehend aus nur sechs Tänzerinnen, so dass er diese in verschiedenen Standbildern übersichtlich positionieren konnte. Anders als in den großen Handlungsballetten, wurden keinerlei préparations, chassés oder pas de bourrés als gängige Bindeschrittkombinationen zwischen End- oder intermediären Posen eingesetzt, sondern lediglich ein besonderer, von Nijinsky aus schleifenden und ‚trottenden‘ Schrittformen des zeitgenössischen Gesellschaftstanzes entworfener Flachfußgang. Auf diese Weise schien er, so schreibt R. Buckle, „seine Tänzer von einer statischen Gruppe zur nächsten zu transportieren“.39 Wie auf einer Filmrolle bzw. vormals der Rundplattform einer bewegten Laterna Magica (der Vorläuferin des Films) positioniert, ‚spulten‘ sich die Tänzer sozusagen von einer Standpose zur nächsten, um auf diese Weise den Beobachterblick von Standbild zu Standbild im Fluss zu halten, ihm im Verlauf der Faunen-Geschichte immer neue Konturen – warburgsche Engramme – menschlicher Leidenschaft entrollend. So wie sich Dalcrozes plastiques animées auf verschiedenen Ebenen des Raumes konstituierten, ließ Nijinsky die Vertikalität der Tableaus zum einen durch unterschiedliche Höhenniveaus der Körperschwerpunkt-Bewegung (des Beckens) erkennen, zum anderen im Bühnenraum durch den um ca. anderthalb Meter erhöhten Felsvorsprung. Eine Zusammenschau der erörterten Einflussmomente zeigt, dass sich der Entstehungsprozess der Faune-Choreographie einer Amalgamierung verschiedenster performativer Raum- und Körperbilder verdankt, in der die Einwirkung moderner Gestaltungskonzepte deutlicher zutage tritt als es der antike Faun-Mythos als inhaltliches Thema suggeriert. Die hybride Verbindung eines antiken Mythos mit ästhetischen Paradigmen des beginnenden 20. Jahrhunderts40 verweist auf Nijinskys Verdienst, nun auch für das Medium des Fin de Siècle, für den klassischen Bühnentanz als Kunst der Bewegung – ein Medium, das der Strenge einer Kodifizierung unterstand wie kaum ein anderes – eine Plattform für den Aufbruch in das neue Jahrhundert bereitgestellt zu haben. Nicht mehr durch das Mimenspiel sollten – angesichts des emotionalen Inhalts des Stücks – Ausdruckswerte geschaffen werden, sondern der Körper als Projektionsfläche wurde zur regelrechten Leinwand für ein expressives Spiel mit fragle/Völckers, Hortensia (Hrsg.): ReMembering the Body, Oggebbio 2000, S. 38f. 39 Buckle 1987, S. 125. 40 Zu nennen wäre hier abermals der Einbezug von Abstraktion und Fragmentierung sowie von Gestaltungsprinzipien der neuen Medien.

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mentierten Perspektiven.41 Nicht mehr der Theaterraum bestimmte den Bühnenraum, sondern der Körper des Tänzers präsentierte sich selbst als Bühne. Durch Verlagerung des mimetischen Ausdrucks auf die Linien und Flächen der Körpergestalt und ihrer Extremitäten erfolgte eine Rückführung der Bewegung auf den Körper, die völlig im Gegensatz zu den Bestrebungen der Vertreterinnen des Freien Tanzes – Isadora Duncan oder Ruth St. Denis – standen. Wie es jedoch auch dem Ansinnen der Kubisten entsprach, wurden durch eine vermeintliche Eingrenzung der Formen erweiterte Assoziations- und Interpretationsräume eröffnet. Ein performatives Selbstverständnis im Sinne eines „Jetzt-Erlebnis42 ses“, bisher maßgeblich durch expressives Mimenspiel der Tänzer im Rahmen der üblichen Handlungsballette erzeugt, wurde durch die augenscheinliche Statik der Gesten sowie Nijinskys normatives Konzept43 im Faune gänzlich in Frage gestellt. Stattdessen erfolgte eine ästhetische Verschiebung hin zur reinen Inszenierung der Linien, deren Intensität und Konzentration das ‚Erlebnis‘ dieser Performance begründeten: Dieses äußerste an Konzentration, diese skulpturale Konzentration [...] sind es, die ich in der dichterischen Arbeit von Nijinsky wiederfinde. [...] Alles auf das Wesentliche reduziert, zusammenge44 preßt mit einer unglaublichen Kraft.

Die detailgetreue Reproduktion der Gestik als einem zunächst antiperformativen Charakteristikum wurde in Nijinskys choreographischer Theorie zwar zum grundlegenden Postulat, sollte jedoch durch personenbezogene Körpermaße und folglich Proportionierung der Linienführung eine bei jeder Aufführung neuartige phänomenologische Belebung erfahren.45 41 „Aus heutiger Sicht erscheint als jenes neue Muster der Bühnendarstellung, das weitreichende Konsequenzen im 20. Jahrhundert zeitigte, die Formierung einer anderen Perspektive.“ Brandstetter 1997, S. 149. 42 Fischer-Lichte, Erika/Roselt, Jens: „Attraktion des Augenblicks – Aufführung, Performance, performativ und Performativität als theaterwissenschaftliche Begriffe“, in: dies./Christoph Wulf (Hrsg.): Theorien des Performativen, Berlin 2001, S. 237-253; Zitat S. 244. 43 Siehe dazu Nijinska 1981, S. 317. 44 Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke (10 Bd.e). Bernd Schoeller (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1979, Bd. 8: Reden und Aufsätze I, S. 509f. 45 Zum Verhältnis von Reproduktion, Verschwinden und Singularität vgl. Schumacher, Eckhard: „Performativität und Performance“, in: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 383-402; siehe S. 394.

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Das zeichnerische Werk Nijinskys als Schlüssel zur flächigen Körperkonzeption Bevor abschließend ein kurzer Überblick über die Genealogie der Choreographie in der Nachfolge Nijinskys folgen soll, möchte ich zur Illustrierung seines choreographischen Konzepts auf das kaum rezipierte zeichnerische Werk des Tänzers eingehen, das deutliche Parallelen zu seinen kinetographischen Gestaltungsprinzipien aufweist und daher wertvolle Anhaltspunkte zu einem vertieften Verständnis seiner Bewegungstheorie liefert. Gabriele Brandstetter (1997) verweist auf zwei weitere potentielle mediale Impulsvermittler für Nijinskys ‚Flächen‘-Konzept: Zum einen erörtert sie eine mögliche Verwandtschaft zur planen Ausrichtung der Motive des Schattentheaters, in dem sich die einzelnen Formen durch geradlinige Vorwärtsbewegung zu einer Art frühem Film verbinden. Da jedoch gerade die Fragmentierung einzelner Körperpartien sowie deren vertikale Projektion herausragende Merkmale der Faune-Choreographie darstellen und sich auch in den verfügbaren Aufzeichnungen dazu bisher keine konkreten Hinweise fanden, bleibt diese Einflussnahme weiter zu hinterfragen. Der Verweis auf eine Orientierung des Faune-Körperbildes an ästhetischen Gestaltungsprinzipien der ukiyo-e, des japanischen Holzschnitts – Gestaltungsmitteln, die im Zuge der allgemeinen Japanophilie des Fin de Siècle vor allem in die Zeichnungen der Nabis-Gruppe46 integriert wurden – lässt sich bisher zwar nicht eindeutig durch Primärquellen belegen, es finden sich jedoch zentrale Prinzipien dieser Holzschnitte sowohl in Baksts Bühnenbildgestaltung47 (s.u. Abb. 4) als auch im zeichnerischen Werk Nijinskys wieder. Anders als bei den vorherigen Aufführungen, die sich in der Farbund Objektgestaltung vor allem an impressionistischen Techniken orientierten, verwendete Bakst für die Rückwand in L’Après-midi d’un faune deutlich größere unifarbene Farbflächensegmente in Grün, Grau und Braun. Auch wenn die Gesamtfläche, aus der Ferne betrachtet, dennoch 46 Einige Mitglieder der der Schule Gauguins verpflichteten und der japanischen Holzschnittmalerei zugewandten Nabis-Gruppe verkehrten regelmäßig im Umfeld der Ballets russes, so Vuillard und Maillol; es muss daher auch von einer Bekanntschaft mit Nijinsky ausgegangen werden. 47 Dazu Brandstetter 1997, S. 182: „Baksts Bild [...] mit seiner tupfigen und streifigen Komposition […] [ist] in Anlehnung an die Technik der Nabis um ein Äquivalent zu Debussys Musik bemüht. Sein Dekor ähnelt mehr als seine anderen Schöpfungen einem jener Gemälde Vuillards, auf denen [die verschiedenen Objekte; M.Sch.] wie bloße Farbelemente behandelt wurden.“

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einen impressionistischen Eindruck vermittelt, fällt vordergründig die fehlende Raumtiefe des Gesamtbilds ins Auge. Zudem ähnelt die motivische Ausgestaltung – kleine Baumgruppen, die ebenfalls plan wirken, oder ein hereinhängender Ast – der Komposition eines japanischen Holzschnitts, bei dem die Kombination unterschiedlich perspektivierter Motive in einem flächigen ‚Gesamtkunstwerk‘ ein zentrales ästhetisches Prinzip darstellt.48 Abbildung 4: Bühnenbild zu L’Après-midi d’un faune (1912)

Am markantesten sticht die Veränderung der Farbflächenstruktur – weg von einer vom Exotismus geprägten feingliedrigen Ornamentik hin zur beinahe fauvistischen Großflächenform – jedoch im Bakstschen Entwurf des Faun-Kostüms hervor, einem hautengen Ganzkörper-Anzug, der, kontrastiv abgesetzt, mit großen schwarzen „Kuhflecken“ bemalt wurde (s.o. Abb. 2). Die Ästhetik des japanischen Holzschnitts bietet ferner, wie erwähnt, einen fruchtbaren Zugang zu den zeichnerischen Produktionen

48 Ähnlich wie im Kubismus ist im japanischen ukiyo-e die Montage verschiedener Blickrichtungen unter Abweichung von den Regeln der Optik entscheidend (Schema der so genannten drei Fernsichten). Siehe hierzu Perucchi-Petri, Ursula: „Die Nabis und der Japonismus“, in: dies./Claire Frèches-Thory (Hrsg.): Die Nabis. Propheten der Moderne, München 1993.

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Nijinskys,49 aus welchen sich ihrerseits fruchtbare Rückschlüsse auf sein choreographisches Konzept ziehen lassen. Unübersehbar tritt in seinen über 73 Werken, von denen hier lediglich zwei (Abb. 5 u. 6) exemplarisch gezeigt werden können, die Segmentierung der Linie und, daraus resultierend, der Fläche als zentrales Gestaltungsprinzip hervor. Abbildung 5: Vaslav Nijinsky: ohne Titel, genannt „Der tanzende Gott“ (1919)

49 Es war Léon Bakst, bei dem Nijinsky seine ersten Zeichenstunden erhielt. Vgl. Emboden 2000 (wie Anm. 27), S. 123.

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Abbildung 6: Nijinsky: Menschliche Aktstudien (1919); 31,1 x 49,5 cm (Detail)

Im Vorfeld der Arbeiten zu L’Après-midi d’un faune beschäftigte sich Nijinsky intensiv mit Leonardo da Vincis anatomischen Zeichnungen des Menschen, den er zur Bestimmung der Körperwinkel in einen Kreis einschloss. Nijinsky betrachtete die Form des Kreises als Ausdruck „‚perfekter Bewegung‘“50 und – in Anlehnung an theosophisches Gedankengut Tolstois („‚All of nature is rhythmic and geometric force.‘“)51 – des Lebenszyklus‘ schlechthin, wobei die Spiralform als dynamische Variante des Kreises die Bewegung im Raum symbolisierte und sich die Winkel in der Körperhaltung in der Summe wieder auf einen Kreis zurückführen ließen. Wie die obigen (Detail-)Abbildungen zeigen, konstituiert sich die Ästhetik der dargestellten Menschenobjekte aus einer augenfälligen Stringenz der Linienführung (die in der oberen Abbildung wie beim Holzschnitt von unterschiedlicher Stärke ist) und aus der gegenseitigen Durchdringung der Linien, wodurch eine kubistisch anmutende Struktur der Darstellung entsteht. Die Segmentierung des Raums erfolgt, insbesondere bei der oberen Zeichnung (Abb. 5), allerdings weniger durch bewusste Fragmentierung (mit nicht passgenauen Bruchkanten) als durch eine unendlich sich windende und sich selbst schneidende Linie.52 50 Nijinsky, Romola zitiert nach Programmheft des Hamburg Ballett 2000 (wie Anm. 6), S. 67. 51 Zitiert nach Emboden 2000, S. 125. 52 Diese unendliche Fortsetzung von Linien und Schleifen findet sich als Grundmotiv in den quasi-liturgischen Gedichten aus Nijinskys Tagebuch

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Grundform ist, anders als bei den Kubisten, unbestreitbar der Kreis (bzw., davon abgeleitet, die Ellipse oder Spirale), so dass sich als Gesamtaspekt ein im wörtlichen Sinne ‚abgerundetes‘, aber dynamisch-bewegtes Bild ergibt. In kubistischer Manier wird in beiden Zeichnungen zunächst durch die Linienführung der Eindruck von Raumtiefe suggeriert: Im oberen Bild (Abb. 5) scheint aufgrund verschiedener Linienstärken und perspektivisch unterschiedlich ausgerichteter Kompartimente eine dritte Dimension eröffnet zu werden. In der unteren Zeichnung (Abb. 6) entsteht aus der Fragmentierung von Körperpartien entlang der Muskellinien sowie durch deren perspektivische Alternativausrichtung im Raum der Anschein einer Vervielfältigung der Körperglieder. So lässt z.B. die linke Figur ein drittes Bein assoziieren – ein Eindruck, der darauf basiert, dass die Ausrichtung der muskulären Umrisslinie den Betrachterblick in eine andere Richtung lenkt als bei den anderen beiden. Dennoch evozieren etwa die Armhaltung auf der oberen oder die Kopfhaltungen auf der unteren Abbildung die Vision einer vertikalen Abbildungsebene. Dem ästhetischen Prinzip der Zweidimensionalität scheint somit insgesamt eine ästhetische ‚Rahmen‘-Funktion zuzukommen. Die Bewegung der Linien verliert sich letztendlich nicht in der Tiefe der Zeichnungen, sondern wird auf die Bildebene und darin auf die Personenkörper zurückgeführt. Sowohl die Größe der Köpfe als auch die Konstituierung des unpersönlichen Antlitzes aus streng symmetrisierten Formen deuten an, dass das innere Wesen der Figuren, die Bewegungen ihrer Seelen und ihres Unbewussten,53 über ein mystisch anmutendes System unendlicher Körperlinien nach außen fließen, in diesem jedoch zugleich verbleiben, um an den Schnittpunkten des Liniengeflechts neue imaginäre Sphärenräume zu eröffnen. In Nijinskys Zeichnungen findet sich damit jenes ästhetische Grundmotiv wieder – die Inszenierung von Körperlinien als performatiwieder. Vgl. Nijinski, Vaslav: Cahiers. Christian Dumais-Lvowski/Galina Podojeva (Hrsg.), Paris 2000, S. 329ff. 53 Die Skizzierung sphärenartig-beschwingter plastischer Räume lädt unter Berücksichtigung des starken theosophischen Interesses Nijinskys geradezu zum interpretatorischen Einbezug des Unbewussten ein. Hierzu Herbert Read: „‚[…] to anyone sensible to aesthetic qualities it is obvious that there exists a certain degree of similarity between all genuine works of art and all direct or automatic expression of the unconscious. […] They [die Zeichnungen; M.Sch.] are best seen as an assimilation of rational thought, mysticism, and extension of the lyricism of both choreography and danse, cosmic consciousness heightened by readings in Theosophy.‘“ Zitiert nach Emboden 2000, S. 128f.

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ves Handlungsmoment –, das auch sein choreographisches Schaffen maßgeblich prägte. Angesichts seiner Vision einer runden Theaterbühne54 als eines idealen Performanzraumes sowie der Idealvorstellung des Kreises in Nijinskys Bewegungs- und Raumtheorie stellt sich die Frage, weshalb in L’Après-midi d’un faune die Bühnenausstattung als geradliniger Fries und das Bewegungsrepertoire an eckigen Formen ausgerichtet war. Vermutlich sollte in diesem Erstlingsstück der ungeübte Zuschauerblick durch eine starke Kontrastierung der ‚runden‘, fließenden Melodie Debussys mit der kantigen Gestik der Tänzer auf die Bedeutung der Körperlinien-Thematik zunächst einmal aufmerksam gemacht werden. Debussys Komposition stellte für Nijinsky aufgrund der weichen Melodieführung nicht die Idealuntermalung des Tableaus dar, wurde jedoch, faute de mieux, wegen ihrer thematischen Geeignetheit akzeptiert.55 Zudem erschienen Nijinsky eckige Formen für den von ihm gewünschten archaischen Ausdruck des antiken Mythos passender. Auch in Le Sacre du printemps behält er diesen Stil, angepasst an die Handlungsthematik, bei, bevor er in Jeux (1913; Abb. 7) abstrakte runde Formen in Szene setzt, wobei das Motiv des Balls eine zentrale Bedeutung erhält. Abbildung 7: Nijinsky in Jeux (1913)

54 Vgl. Programmheft des Hamburg Ballett 2000 (wie Anm. 6), S. 67. 55 So Nijinska 1981, S. 144.

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In welchem Maße die ästhetisch-choreographischen Konzeptionen Nijinskys in seinem Erstlingsstück L’après-midi d’un faune sich als ‚bahnbrechend‘ für das Ballett der Moderne erwiesen, zeigt sich in der Genealogie von dessen Nachfahren. Bevor Nijinsky aufgrund seines psychischen Krankheitszustandes die Schaffung weiterer Werke verwehrt blieb, entstand zunächst das sowohl musikalisch wie in der Performanz eines neuen Bewegungsstils legendäre Le Sacre du printemps (1913) als Inszenierung dalcrozescher Bewegungsrhythmik sowie einer neuartigen Endedans-Tanztechnik. Bis heute wurde es in über 20 Neuinszenierungen solch namenhafter Choreographen wie u.a. John Neumeier, Pina Bausch oder Maurice Béjart wieder aufgenommen. Die Reflexion über die Repräsentativität der Linien entwickelten schließlich in den 80er und 90er Jahren Merce Cunningham und William Forsythe theoretisch fort. Ebenfalls 1913 enstand Jeux, eine mise en scène stark kubistischer Ausrichtung, in der erstmals das Tennisspiel als moderne Freizeittätigkeit thematisiert und authentische zeitgenössische Sportkleidung als Kostümierung präsentiert wurde. Mit dieser Choreographie eröffnete die schwedische Compagnie Rolf de Marés im Oktober 1920 ihre erste Pariser Spielzeit, eine Truppe, die später durch Aufnahme des avantgardistischen Kurzfilms ENTR’ACTE (René Clair, 1924) in ihr Pausenprogramm endgültig das Qualifikativ einer modernen Compagnie erfüllte. Nach dem mäßigen Erfolg von Till Eulenspiegel (1916), einer modernen Tanzposse als Replik auf die düstere Stimmung des Ersten Weltkriegs, kam es 1917 nach privaten Auseinandersetzungen zum Bruch mit Diaghilev und zur Verschlechterung von Nijinskys Gesundheitszustand. Dennoch knüpfte Diaghilev an die moderne Ausrichtung der NijinskyChoreographien an und band Picasso als Bühnen- und Kostümbildner stärker in die Arbeit der Truppe ein, woraus der Publikumserfolg Parade (1917) entstand, ein jedoch stärker in der Ausstattung als in der Körperkonzeption kubistisches Ballett. Die stark fragmentisierende Stilrichtung Nijinskys wurde stattdessen vielmehr durch seine Schwester Bronislava (als erste Frau zu Beginn der 20er Jahre Choreographin der Ballets russes) weiterentwickelt. Sie schuf mit der Inszenierung Les Noces (1923; Abb. 8) ein ballettgeschichtliches Schlüsselwerk zur Abgrenzung der Moderne vom erneut aufblühenden Neoklassiszismus Georges Balanchines.

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Abbildung 8: Les Noces (1923)

Bereits nach 1916 intensivierte Diaghilev, interessiert am futuristischen Gedankengut über den Maschinenmenschen als Inbegriff des Menschen der Moderne, Experimentierbestrebungen von Léonide Massine, dem Nachfolger Nijinskys, den menschlichen Körper zunehmend hinter einer mechanisch belebten Bühnenausstattung zurücktreten zu lassen. Das ‚futuristische Ballett‘ Feu d’artifice (1917), das vollständig auf Humandarsteller verzichtete und als eines der extremsten Werke moderner Bewegungsabstraktion der Tanzavantgarde vor den Inszenierungen Oskar Schlemmers galt, gelangte jedoch aufgrund persönlicher Differenzen mit dem Futuristen Giacomo Balla leider nie zur Aufführung.

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OPPENHEIMS DÉJEUNER EN FOURRURE: DIE INSZENIERUNG EINER PELZTASSE Die Rede von Oppenheims legendärer „Pelztasse“ oder im Englischen von der „fur teacup“ überschattet nicht nur ihr Gesamtwerk, sondern ist auch eine reduzierende Übersetzung dieses facettenreichen surrealistischen Kunstobjekts mit dem Titel Déjeuner en fourrure (Abb. 1). Zwar nannte Oppenheim zunächst ihr Werk schlicht und einfach Tasse, soucoupe et cuillière revêtus de fourrure, aber Bretons Namensgebung hat die Künstlerin nicht widersprochen, und so ist der neue Name Teil der ohnehin schon im Objekt angelegten Performativität des Werks geworden.1 Dazu braucht man nicht allein die Inszenierung des Déjeuner en fourrure zu seiner Zeit im Rahmen der „Exposition surréaliste d’objets“ 1936 in der Galerie Charles Ratton in Paris heranzuziehen. Sicherlich sorgte diese Ausstellung, ihre Rezeption und vor allem der unmittelbar anschließende Kauf des Werks durch das New Yorker Museum of Modern Art für die Wahrnehmung des Kunstobjekts und machte Meret Oppenheim sozusagen über Nacht zu einer Ikone des Surrealismus. Diese konkrete Performance schoss vielleicht in den Augen Oppenheims über das Ziel hinaus,2 soll hier aber zunächst nicht näher betrachtet werden. 1 Während mehrere Kritiker diese Namensgebung Bretons und die weitere zeitgenössische Rezeption des Werks als misogyn motivierte Vereinnahmung ansehen, verweist Christiane Meyer-Thoss darauf hin, dass es sich um „ein echtes Gemeinschaftswerk“ handelt. Dabei ist neben Breton angeblich auch Picasso an der Entstehung beteiligt, zumindest lautet so eine viel zitierte Anekdote Oppenheims. Meyer-Thoss, Christiane: „Leichtwerden des Inhaltlichen – Beobachtungen im Werk von Meret Oppenheim“, in: Ursula Krinzinger (Hrsg.): Meret Oppenheim. Eine Retrospektive, Wien 1997, S. 14-16; Zitat S. 15. Siehe zu anderen Positionen Helfenstein, Josef: „Against the Intolerability of Fame. Meret Oppenheim and Surrealism“, in: Jacqueline Burckhardt/Bice Curiger (Hrsg.): Meret Oppenheim. Beyond Teacup, New York 1996, S. 23-33; Spector, Nancy: „Meret Oppenheim. Performing Identities“, in: ebd., S. 35-43; Sinnreich, Ursula: „Wenn die Harpunen fliegen. Die Surrealisten in Paris“, in: du, Nr. 713 (Feb. 2001), S. 26-31. 2 Fast durchgängig wird in der Sekundärliteratur Oppenheims Schaffenskrise von ca. 1939-1959 ausschließlich dem Ruhm durch die „Pelztasse“ zuge-

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Bevor man sich den Besonderheiten der Inszenierung zuwendet, lohnt es sich, einen Blick auf die Performativität des Kunstobjekts selbst zu werfen. Abbildung 1: Meret Oppenheim: Déjeuner en fourrure (1936); Tasse, Teller, Löffel, Pelz; New York: Museum of Modern Art (Photo: Man Ray)

Die Performativität des Déjeuner en fourrure Meret Oppenheims Déjeuner en fourrure illustriert förmlich auf vielfältige Weise die Performativitätstheorie im Sinne von Derrida, Butler und anderen. Ausgangspunkt ist hier, ebenso wie auch schon bei Barthes, der Zitatcharakter des Kunstwerks.3 Insofern der performative Akt auf Rollen, Ritualen und Zeichen beruht, die man nicht nur zitieren kann, sondern muss, wenn man verstanden werden möchte, kann man aber auch, wie Derrida betont, „aufgrund seiner Zitierbarkeit ‚mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele

schrieben, hinter dem die Künstlerin unsichtbar wurde. Es handelt sich ohne Zweifel um eine unzulässige Gleichsetzung von Kunstwerk und Künstlerin, doch Oppenheims Krise hatte sicherlich vielfältigere persönliche Gründe, die mit Depressionen, finanziellen Nöten und dem Krieg zusammenhingen. 3 Zu Barthes vgl. Wirth, Uwe: „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: ders. (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9-60; siehe S. 28.

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neue Kontexte zeugen.‘“4 Das eröffnet die mit Butler in Bezug auf die Geschlechtsidentität einzig mögliche Subversion: „zu zeigen, daß das, was als Geschlechteridentität bezeichnet wird, eine performative Leistung ist, die durch gesellschaftliche Sanktionen und Tabus erzwungen wird.“5 Das Frühstück im Pelz hat auf den ersten Blick nicht diese gender-theoretische Implikation, sondern bleibt vor allem ein typisches Objekt des Surrealismus. Es eröffnet allerdings einen ganzen Apparat von Verweisungen, die zu einem großen Teil auch die Geschlechteridentität betreffen. Zunächst wird das Alltagsobjekt zitiert: eine gewöhnliche Porzellantasse aus einem Pariser Kaufhaus, demnach ein Massenprodukt, der Gebrauchsgegenstand par excellence. Damit setzt Oppenheim auf die denkbar einfachste Art und Weise das surrealistische Konzept des objet trouvé um. Es handelt sich nicht nur um ein Massenprodukt und einen Alltagsgegenstand, sondern dieser wird mit einem semantisch möglichst weit von ihm entfernt liegenden anderen Objekt kombiniert; in diesem Fall ist es der Pelz einer chinesischen Gazelle. Doch auch schon im berühmten Lautréamont-Zitat von der Nähmaschine, die einen Regenschirm auf einem Seziertisch trifft,6 kann man neben dem surrealistischen Prinzip der Zusammenführung von Disparatem auch einen genderAspekt erkennen. Die Nähmaschine gehört ebenso wie das Frühstücksgeschirr und zahlreiche andere Gebrauchsgegenstände traditionell zum Bereich des Häuslich-Weiblichen. So ist es nicht nur das Alltäglich-Profane, das durch den Fellüberzug von seinem ursprünglichen Nutzwert befreit und der Kunst zugeführt wird, sondern auch zwei Klischees des Weiblichen werden von Oppenheim zitiert und in Kunst übersetzt: die Hausfrau, die das tägliche Frühstücksgeschirr abspült und die NaturFrau, deren Geschlecht und spirituelle Erotik durch den Pelz assoziiert werden können. Zwei Frauenrollen repräsentiert das Kunstobjekt, die in ihrer Kombination zwar ungewöhnlich, jedoch nicht irritierend wären, in denen sich aber dennoch die grundlegende Dichotomie von Kultur und Natur ausdrückt, die laut McEvilley Oppenheims Gesamtwerk be-

4 Derrida, Jacques: „Signatur Ereignis Kontext“ (1976), in: ders.: Limited Inc., Wien 2001, S. 32; zitiert nach Wirth 2002, S. 19. 5 Butler, Judith: „Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie“ (1988), in: Wirth 2002 (wie Anm. 3), S. 301-320; Zitat S. 302. 6 Siehe Lautréamont, Comte de (Isidore Ducasse): Les Chants de Maldoror et autres œuvres, Paris 1995, S. 236.

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stimmt.7 Auch wenn ich McEvilley in seiner Übertragung dieser Beobachtung auf Oppenheims Gesamtwerk nicht folge, so stellt er zu Recht heraus, dass durch das Kaufhaus-Frühstücksgeschirr die Kultur und durch den Pelz die Natur im Déjeuner en fourrure zusammengebracht werden.8 Ob sich daran auch die Dichotomie von Mann vs. Frau anschließen lässt, wie McEvilley ausführt, sei dahingestellt, aber das surrealistische Prinzip des objet trouvé und der Zusammenführung des Disparaten eröffnet in diesem Fall die einzige Neudefinition des Weiblichen, die im Sinne Butlers möglich ist. Die Neubeschreibung muß die Verdinglichungen ans Licht bringen, die stillschweigend als substantielle Geschlechterkerne oder Identitäten dienen, und sie muß sowohl den Akt wie die Strategie der Verleugnung aufweisen, die die Geschlechterzugehörigkeit, 9 wie wir sie leben, zugleich konstituieren und verschleiern.

An Meret Oppenheims Déjeuner en fourrure wird noch genauer zu prüfen sein, ob diese Forderungen Butlers erfüllt werden können. Immerhin ist aber das hier in Bezug auf die Geschlechteridentitäten angesprochene Verfahren der „Neubeschreibung“ mit dem surrealistischen Prinzip einer Erweiterung der Realität verwandt. In beiden Fällen wird durch sinnfreie Kombination von bekannten Sinnzusammenhängen, Ritualen, Rollen etc. die Konstruktion von Identität und Bedeutung ebenso gezeigt wie die üblichen Strategien, diese zu verschleiern. Es ist ein ähnlicher Effekt wie ihn McEvilley für Lautréamont und Oppenheim beschreibt: Reality is for the moment made strange, made anew; the world is redefined. It is no longer a place where these three things do not belong together; it is now the place where it is in fact appropriate to see them together. The nature of a reality, or of a world, has to do with one’s sense of what is appropriate or natural within that real10 ity.

Die Dichotomien werden aufgelöst, es entsteht eine neue Vorstellungswelt, die aber gleichzeitig auf die ‚alte‘ Welt des logos verweist und die Willkürlichkeit der (Geschlechter-)Zuordnungen offen legt. Die Frage ist, ob die grenzenlose Freiheit der Phantasie, die von den Surrealisten proklamiert wird, auch eine grenzenlose Freiheit der Frauen bedeuten kann. Die konservative Haltung vor allem Bretons in Bezug auf die Ge7 Siehe zu dieser These McEvilley, Thomas: „Basic Dichotomies in Meret Oppenheim’s Work“, in: Burckhardt/Curiger 1996 (wie Anm. 1), S. 45-53. 8 Siehe ebd., S. 46. 9 Butler 2002, S. 319. 10 McEvilley 1996, S. 45.

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schlechteridentitäten und -rollen wird oft angeführt, wenn es um dieses Thema geht,11 aber nichtsdestotrotz sind die surrealistischen Verfahrensweisen dazu geeignet, diese Zuordnungen in Frage zu stellen, wie die „Pelztasse“ und viele andere Beispiele im Werk Oppenheims zeigen. Ebenso wie dem Frühstücksgeschirr durch die Kombination mit dem Pelz eine ganz neue Funktion und Bedeutung gegeben wurde, kann auch das durch Pelz und Schale (Tasse) angesprochene weibliche Geschlecht eine Neukombination altbekannter Geschlechterrollen versuchen. Dabei handelt es sich laut Butler immer um einen performativen Akt, um „eine Reinszenierung und eine neue Erfahrung von gesellschaftlich bereits eingeführten Bedeutungen“.12 Denn wenn auch die Erfindung einer ‚neuen Frau‘ nicht möglich ist, so zeigt doch das karnevaleske Spiel mit Geschlechterrollen, dass es keine ‚natürliche‘ Geschlechteridentität gibt, sondern diese immer wieder neu „performiert wird“.13 Daher läuft auch McEvilleys zunächst richtiger Ansatz in die Irre, wenn er meint, in Oppenheims Werk eine schlichte Umkehrung der Hierarchie von männlich und weiblich erkennen zu können. Die von Oppenheim häufig performierte und abgebildete Natur-Frau ist nicht ausschließlich positiv, „dynamic, creative, birth-giving“,14 sondern zerstört in Gestalt des Würgeengels (Abb. 2) ganz bewusst dieses Bild der NaturMutter.15 Weniger drastisch als in diesem Frühwerk von 1931, dafür subtiler und rätselhafter bringt Oppenheim im Déjeuner en fourrure gleich mehrere Entwürfe von Weiblichkeit zum Ausdruck, die auf der einen Seite Männerphantasien beflügeln, sich aber auf der anderen Seite 11 Siehe dazu Anm. 1 und Gauthier, Xavière: Surréalisme et sexualité, Paris 1971, S. 23-47. Vgl. auch Verena Kuni, die von Bretons „mythenkonformkonservativer Haltung“ in dieser Beziehung spricht. Dies.: „Pygmalion, entkleidet von Galathea selbst? Junggesellengeburten, mechanische Bräute und das Märchen vom Schöpfertum des Künstlers im Surrealismus“, in: Pia Müller-Tamm/Katharina Sykora (Hrsg.): Puppen, Körper, Automaten. Phantasmen der Moderne, Köln 1999, S. 176-199; Zitat S. 192. 12 Butler 2002, S. 312. 13 Vgl. im Zusammenhang ebd., S. 315: „Die Realität der Geschlechterzugehörigkeit ist performativ, was ganz einfach bedeutet, daß die Geschlechterzugehörigkeit real nur ist, insoweit sie performiert wird.“ 14 McEvilley 1996, S. 50. Vgl. auch ebd., S. 49: „she attempted to reverse the value hierarchy while maintaining the distinction.“ 15 Auch Ursula Sinnreich widerspricht der von McEvilley betonten Umkehrung der Geschlechterrollen bei Oppenheim: „Die Künstlerin lanciert hier nicht einfach nur die Umkehrung der Verhältnisse, sondern entzündet durch das Material […] gleich ein doppeltes Begehren: zu schauen, was dem Blick verborgen ist, vor allem aber zu berühren, was da ausgestellt ist.“ Dies. 2001 (wie Anm. 1), S. 29.

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diesen auch verweigern, wie Werner Hofmann in seiner Laudatio auf die Künstlerin herausstellt. Der Pelz, seit jeher dem weiblichen Geschlechtsteil assoziiert, kleidet ein Trinkgefäß aus, das fortan keines mehr ist, da es sich in ein Objekt erotischer Kontemplation verwandelt. […] Das Objekt stellt sich als intelligenter Fetisch dar, durch und durch doppelsinnig, denn es läßt sich nicht entscheiden, ob eine Schale in ein Pelzge16 bilde oder ob ein Pelz in einen Schalenmund verwandelt wurde.

Das Motiv des Verschleierns und Entschleierns ist nicht nur auf einer erotischen Ebene in Bezug auf die „Pelztasse“ von entscheidender Bedeutung. Der Pelz als Fetisch weckt das Begehren und die Phantasie, bleibt aber eine Verschleierung, die eine Erfüllung des Begehrens verweigert. Selbst die simple von Hofmann gestellte Frage, ob sich unter dem Pelz tatsächlich Tasse, Untertasse und Löffel befinden, bleibt unbeantwortet. Nur die begleitenden Kommentare zur Ausstellung, die Teil der Inszenierung sind, geben darüber Auskunft, dass es sich um gewöhnliches Kaufhausgeschirr handelt. Abbildung 2: Meret Oppenheim: Votivbild, Würgeengel (1931); Aquarell, Tusche; 34 x 17,4 cm; Basel: Privatsammlung

16 Hofmann, Werner: „Integraler Widerspruch – Laudatio auf Meret Oppenheim. Gehalten bei der Verleihung des Großen Kunstpreises Berlin 1982 in der Akademie der Bildenden Künste Berlin“, in: Krinzinger 1997 (wie Anm. 1), S. 26-27; Zitat S. 27.

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Die Verschleierung verweist aber auch auf die von Butler angesprochene Verschleierung von Geschlechteridentität als performativen Akt. Der Pelz ist ein Schleier, der zum Vorschein bringt, was sonst verschleiert wird. Die als essentiell betrachtete Zuordnung von Weiblichkeit und Natur, tierischem Instinkt etc. vs. Männlichkeit und Kultur, Geist etc. wird von Oppenheim neu inszeniert und damit als Inszenierung bloßgestellt. Mit der „Pelztasse“ als Fetisch geht Oppenheim vielleicht sogar noch einen Schritt weiter als ihre surrealistischen Kollegen. Denn hier handelt es sich nicht nur um die erotische Neudefinition eines alltäglichen Objekts, wie Breton sie in seinem Artikel „Crise de l’objet“ 1936 in den Cahiers d’Art lobt,17 sondern auch um ein Spiel mit den Geschlechterrollen, das Breton selbst durch die nachträgliche Namensgebung unterstreicht. Dabei geht es nur am Rande um den relativ banalen Verweis auf Sacher-Masochs Skandalnovelle Venus im Pelz (1870). Auch der Sadomasochismus spielt mit den Geschlechterrollen und faszinierte die Surrealisten vor allem aufgrund seiner Grenzüberschreitung, aber die als substantiell angesehene Zuordnung der Geschlechteridentität wird davon nicht angekratzt. Der weibliche Rollenwechsel zwischen Täterin und Opfer ist sehr klar dem alleinigen Zweck eines männlichen Lustgewinns zugewiesen und kann so die Ebene des sexuellen Spiels nicht überschreiten.18 Mit den komplexen, ambivalenten und verunsichernden Anspielungen auf das männliche Begehren, die im Déjeuner en fourrure enthalten sind, hat die Venus im Pelz wenig zu tun19 – zumal

17 Siehe Breton, André: „Crise de l’objet“, in: Cahiers d’Art, Nr. 1-2 (1936), S. 21-26. Breton spricht hier zwar von der Ausstellung von 1936 und eben jenem künstlerischen Konzept, das Oppenheim umgesetzt hat, erwähnt die Künstlerin jedoch nicht. 18 Gegen eine Betrachtung der „Pelztasse“ als sadomasochistisches Lustobjekt spricht sich auch Sinnreich 2001 (wie Anm. 1), S. 29 aus, indem sie betont, dass die Venus im Pelz den männlichen Wunsch illustriert, die Frau zu entschleiern, während gerade dieses Begehren von Oppenheims Déjeuner en fourrure verweigert werde. 19 Dennoch wird diese reduktionistische Deutung des Déjeuner en fourrure als sadomasochistischer Fetisch auch heute noch verfolgt, wie die Präsentation im Rahmen der Ausstellung „Phantom der Lust – Visionen des Masochismus“ (2003, Graz) belegt. Vgl. dazu Gardner, Belinda Grace: „Die ‚Pelztasse‘ war nur der Anfang. Verschmelzung von Bildern, Sprache, Gegenständen in Meret Oppenheims ‚angewandter Poesie‘“, in: Meret Oppenheim. From Breakfast in Fur and Back Again (Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle). Thomas Levy (Hrsg.), Bielefeld 2003, S. 24-41; siehe S. 29.

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Oppenheim selbst eher eine distanziert-ironische Haltung gegenüber der surrealistischen Verehrung von de Sade und Sacher-Masoch einnahm.20 Es gehörte wahrscheinlich zu Bretons Inszenierungsstrategie – auf die im Folgenden noch genauer eingegangen wird –, vor allem den Skandal der Novelle anzusprechen, um ihn für das Kunstobjekt Oppenheims auszunutzen. Denn neben diesem Skandal aus der Literaturgeschichte spricht Breton einen Skandal aus der Kunstgeschichte an, der zwar aus der gleichen Zeit stammt, ansonsten aber wenig mit Sacher-Masoch gemein hat. Manets Gemälde Le Déjeuner sur l’herbe (1863) war zu seiner Zeit zwar auch ein Tabubruch in sexueller Hinsicht, aber im Gegensatz zu Sacher-Masoch vermag das Bild ein ähnliches Unbehagen durch uneindeutige Geschlechteridentitäten auszulösen wie Oppenheims Déjeuner en fourrure.21 Auch Manets Gemälde ist Vorbild oder zumindest Gegenstand der Surrealisten, wie die Umsetzungen des gleichen Motivs durch Max Ernst (1936) oder später durch Picasso (1960) belegen. Obwohl Oppenheim eine ganz andere Form und ein anderes Medium wählt als Manet, stellen doch beide Werke eine wiedererkennbare Szene dar, nämlich die des Frühstückens oder Essens ganz allgemein. Wenngleich beide diese Szene nicht selbst aufführen, sondern nur abbilden, enttäuschen sie dennoch die Erwartungen, die ein Zuschauer an eine solche Handlung oder Szenerie hätte. Bei Oppenheim ist das Frühstücksgeschirr seiner Funktion durch den Pelzüberzug enthoben, denn auch wenn sich die Betrachter unmittelbar vorstellen, wie sie ihre Schokolade daraus trinken,22 so hat dieser Genuss nun eine sexuell konnotierte Bedeutung und nur noch wenig mit der erwarteten Frühstücksszene zu tun, weil sich diese Reaktion allein im Kopf der Betrachter abspielt. Bei 20 Vgl. Helfenstein, Josef: Meret Oppenheim und der Surrealismus, Stuttgart 1993, S. 115. Helfenstein bezieht sich auf Oppenheims Zeichnung Ruhm und Ehre dem Marquis de Sade (1977), die er als „ironisch vorgebrachte Distanz“ wertet. 21 Vgl. zur Frage der Geschlechteridentität in Manets Le Déjeuner sur l’herbe z.B. Borel, France: The Seduction of Venus. Artists and Models, Genf 1990, S. 114f.; Manet (Ausstellungskatalog 1983, Paris). Françoise Cachin u.a. (Hrsg.), Berlin 1984, S. 166ff.; Vf.in: Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion. Beispiele intermedialer Vernetzung von Literatur, Malerei und Film, Diss. Universität Siegen 2003 (noch unveröffentlichtes Manuskript), Kap. 3.1.2.2. 22 Dies meint zumindest einer der ersten Kritiker des Werkes, Marcel Jean, als er Jahre später anlässlich einer Ausstellung 1979 den Erfolg des Werkes erklären soll: „‚The visitors immediately imagined themselves drinking their chocolate from this vessel.‘“ Zitiert nach Helfenstein 1996 (wie Anm. 1), S. 27.

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Manet ist das Frühstücken auf ein kleines Stilleben am linken unteren Rand des Bildes reduziert, und andere, sich aber ebenfalls widersprechende Elemente wie die nackte Frau und ihre angezogenen Begleiter dominieren das Gemälde. Auf diese Weise vollziehen beide Werke die von Butler geforderte „Neubeschreibung“ der Geschlechteridentität: Eine alltägliche Handlung (die des Frühstückens) wird mit anderen Rollen und Ritualen inszeniert, die zwar auch schon bekannt sind, in ihrer neuen Kombination aber auf die Konstruktion solcher Zuordnungen verweisen. Ganz abgesehen davon, dass es Breton war, der nachträglich den Titel für Oppenheims Kunstobjekt ersann, bleibt der damit eröffnete Kontext und das Spektrum intermedialer Verweise auf Literatur und Kunst ein unwiderruflicher Teil des Déjeuner en fourrure.

Die Inszenierung der „Pelztasse“ Die Performativität liegt also schon im Kunstwerk selbst begründet, endet dort aber nicht. Wenngleich die Avantgarde-Künstler sich einer musealen Kunst verweigern und Alltagsgegenstände zu Kunstwerken erhöhen, so sieht man doch gerade am Beispiel von Oppenheims Déjeuner en fourrure, wie viel die Inszenierung ausmacht. Die Rezeption des surrealistischen Kunstwerks, das sich nur als Phantasieanregung verstanden wissen möchte, spielt sich vor allem im Kopf der Betrachter ab. Gleichzeitig soll durch eine revolutionäre Wirkung des Werks eine möglichst breite Masse angesprochen werden, die daraufhin ihre Wahrnehmung der Realität verändert und die Sinne für die Surrealität öffnet. Die Inszenierung der Kunst ist notwendig, um die Wahrnehmung des Alltags zu verändern. Es handelt sich bei Oppenheims Déjeuner en fourrure nicht um ein Stück der Performance-Kunst oder eine Theateraufführung, und dennoch könnte man Breton als den Regisseur des Erfolgs und die Ausstellung in der Galerie Charles Rutton als Bühne bezeichnen. Breton hat mit der Auswahl und Zusammenstellung der Exponate den Begriff ‚Kunstausstellung‘ neu definiert. Bereits in der Konzeption der Ausstellung war die Mischung des Disparaten eine Maxime. So wurde das surrealistische Prinzip in zweifacher Hinsicht umgesetzt. Zum einen durch die Objekte surrealistischer Künstler selbst – wie an Oppenheims „Pelztasse“ zu sehen –, und zum anderen durch die Auswahl von Objekten, die Breton als ‚surrealistisch‘ betrachtete, wie z.B. Kristalle, fleischfressende und auf Berührung ‚schamhaft‘ reagierende Pflanzen, ein ausgestopfter Ameisenbär und Vogeleier,

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NANETTE RISSLER-PIPKA daneben auch durch natürliche Einflüsse wie Brand, Unwetter oder 23 Vulkan veränderte Gegenstände.

Abbildung 3: Saalaufnahme der „Exposition surréaliste d’objets“, Paris: Galerie Charles Rutton (1936). Die „Pelztasse“ befindet sich im unteren Vitrinenregal, Mitte.

Daher ist der Name auch treffend mit „Exposition surréaliste d’objets“ (Abb. 3) gewählt, statt eine Ausstellung surrealistischer Kunstobjekte anzukündigen, wie man es vielleicht erwarten würde. So wird der Unterschied zwischen Kunst und Gebrauchsgegenstand aufgehoben oder zumindest in Frage gestellt. Der in dieser Beziehung durch seine Readymades bekannteste Künstler Marcel Duchamp ist in der Ausstellung mit einem Flaschentrockner vertreten.24 Ansonsten fallen vor allem afrikanische Masken und Kultgegenstände aus anderen als exotisch betrachteten Ländern ins Auge, die Breton, aber auch Picasso, schon früh begeisterten.25 Auch die Unterscheidung zwischen Objekt und Skulptur spielte offenbar für diese Ausstellung keine Rolle mehr. Draht-, Eisen-, und Gipsskulpturen finden sich in der gleichen Vitrine wie die nicht-künstlerisch 23 Helfenstein 1993, S. 70. 24 Siehe Abb. 3: Im Regalfach direkt über Oppenheims „Pelztasse“ ist Duchamps Flaschentrockner zu erkennen, der zwar ein Readymade darstellt, aber im Kontext der Ausstellung und im Vergleich zu anderen Drahtskulpturen in der gleichen Vitrine ebenso auch eine solche Skulptur sein könnte. 25 Siehe Bretons Sammlung afrikanischer Kunst auf der Abbildung von dessen Atelier im Ausstellungskatalog La Révolution surréaliste. Werner Spies (Hrsg.), Paris 2002, S. 360. Vgl. auch den Einfluss afrikanischer Masken auf Picassos berühmtes Gemälde Les Demoiselles d’Avignon (1907) und dazu den Beitrag von Melanie Schmidt in diesem Band.

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bearbeiteten Objekte und diejenigen von surrealistischen Künstlern wie Meret Oppenheim. Eben diesen verwirrenden Effekt einer nicht mehr logischen Ordnungen gehorchenden Zusammenstellung kann man als Teil von Bretons Inszenierungsstrategie betrachten: „Highly confusing the antiartistic presentation of numerous and varied objects in a confined space was clearly part of Breton’s strategy.“26 Betrachtet man nun zunächst die Art und Weise der Präsentation von Oppenheims Werk innerhalb der Ausstellung, so überrascht es, dass inmitten dieses Sammelsuriums gerade die „Pelztasse“ eine solche Aufmerksamkeit erregen konnte. Relativ ungünstig im unteren Regalfach einer Glasvitrine platziert, scheint das Frühstücksgeschirr wie in seiner ursprünglichen Funktion im Kaufhaus- oder Küchenregal zu stehen, wären da nicht der Pelzüberzug und die merkwürdigen Objekte in der Nachbarschaft. So wird auch hier der ursprüngliche Gebrauchsgegenstand betont und gleichzeitig durch die Kombination mit anderen exotischen bzw. surrealistischen Objekten unterminiert. Die Glasvitrine hat aber noch eine weitere Bedeutung, die direkt mit dem Déjeuner en fourrure zusammenhängt, aber aufgrund der Verbreitung des Werks in Form der Man Ray-Photographie (Abb. 1)27 im Laufe der Rezeption untergegangen ist: Das Glas verhindert als zusätzlicher unsichtbarer Schleier die Berührung des Pelzes. Es verweigert die Erfüllung des Begehrens, das vom Objekt selbst explizit geweckt wird und auf dem die Verwandlung in einen erotischen Fetisch beruht. Unmittelbar nach der Ausstellung kaufte Alfred Barr Oppenheims „Pelztasse“ für das Museum of Modern Art in New York, wo sofort eine erneute Ausstellung unter dem Titel Fantastic Art Dada Surrealism im Winter 1936/37 veranstaltet wurde. Neben Bretons Namensgebung und Inszenierung von Oppenheims Déjeuner en fourrure sowie Dalís Weiterverbreitung der Pelzidee für eigene Objekte, sorgte verständlicherweise vor allem der Erfolg in den USA für den anschließenden Weltruhm.28 Der schnelle Verkauf des Objekts nach Amerika bedeutete aber für die europäische Rezeption, dass diejenigen, die nicht die Gelegenheit hatten, innerhalb der nur zweiwöchigen Ausstellung in Paris einen Blick auf die 26 Helfenstein 1996 (wie Anm. 1), S. 27. 27 Neben Man Ray hat auch Dora Maar die „Pelztasse“ 1936 photographiert – eine Abbildung findet sich in Levy 2003 (wie Anm. 19), S. 230 –, erhielt aber nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie das Photo des berühmten Man Ray. Zur weiteren ironischen Verarbeitung des Werks nutzt Oppenheim daher später nicht Maars Photo, sondern das von Man Ray, um es für eine Poster-Edition zu kolorieren. 28 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte des Werks v.a. Helfenstein 1996, S. 26-30.

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„Pelztasse“ zu werfen, meist mit der Photographie des Werks vorlieb nehmen mussten. Daher sind es vor allem zwei Photographien Man Rays, die lange Zeit als einziges Zeugnis mit Meret Oppenheim in Verbindung gebracht wurden: Érotique voilée (Abb. 4)29 und diejenige von der „Pelztasse“ (Abb. 1). Abbildung 4: Man Ray: Érotique voilée (1933), Photographie in Minotaure, Nr. 5 (1934)

Dem performativen Akt der von Breton inszenierten Ausstellung steht demnach die mediale Verbreitung desselben bzw. eines bestimmten Werks gegenüber, dem surrealistischen Sammelsurium in der Glasvitrine (Abb. 3) die Hervorhebung eines einzelnen Werks in der Photographie Man Rays (Abb. 1). Der surrealistische Gedanke einer Kombination des logisch Unvereinbaren bleibt in der Photographie nur durch die Zusammenführung von Pelz und Frühstücksgeschirr im Werk selbst erhalten, nicht mehr aber in der Ausstellungspräsentation. Dennoch ist auch die 29 Übrigens lässt sich auch hier ein – in diesem Fall vermutlich unbeabsichtigter – Verweis auf Manet entdecken. Oppenheim trägt auf der Photographie nur ein einziges Accessoire: das schwarze Halsband. Dieses trug ebenfalls Manets Olympia (1863), die neben dem Déjeuner sur l’herbe sein berühmtestes Skandalbild darstellt. Das Halsband evoziert in diesem Kontext wie auch bei Manet zum einen das domptierte Raubtier, zum anderen trennt es den Kopf vom Körper und fungiert somit als Katrationsmetapher.

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Verbreitung über das Massenmedium Photographie Teil der surrealistischen Idee. Auf diese Weise nämlich treten Kunstwerk und Künstlerin in den Hintergrund, während die Rezeption, die Träume und Phantasien, die durch sie ausgelöst wurden, in den Vordergrund rücken.30 Schließlich dient das Werk nur als Anstoß und öffnet gewissermaßen die Tür zur Surrealität. Die Verbreitung der „Pelztasse“ als Photographie antizipiert darüber hinaus auch die Idee der Glasvitrine. Wenn man bedenkt, dass die Sicht durch eine Glasscheibe eine ähnliche Distanz schafft wie der Anblick einer Photographie, bei deren Herstellung der Photograph zunächst ebenfalls durch eine Glaslinse schaut, dann muss man zumindest feststellen, dass die Photographie ebenso wie die Glasscheibe das Begehren, den Pelz zu berühren, effektiv und endgültig verweigert. Der Vorwurf an Breton, Man Ray und andere männliche Rezipienten, sie vereinnahmten, fetischisierten und verdinglichten sowohl Werk als auch Künstlerin im Sinne der eigenen Absichten und des eigenen Begehrens, ist so nicht haltbar. Vielmehr reizt Oppenheims Déjeuner en fourrure offenbar dazu, dem Begehren nach einem weiblichen Fetisch, einer instinktgeleiteten Natur-Frau und anderen Frauenbildern Ausdruck zu verleihen. Da aber das Werk nicht selbst diese Phantasien verkörpert, sondern sie lediglich anstößt und sie auch wieder zerstört, indem die Performativität der Geschlechterrollen deutlich wird, kann es zeigen, wie diese Frauenbilder entstehen und dass sie eben nur real sind, sobald sie performiert werden.31 Dazu passt auch ein weiteres surrealistisches Objekt Oppenheims, das ebenfalls im Rahmen der „Exposition surréaliste d’objets“ zu sehen war – wenngleich nicht in derselben Glasvitrine wie die „Pelztasse“. Ma gouvernante (Abb. 5) reflektiert auf ebenso klare und einfache Weise wie Déjeuner en fourrure die Geschlechterrollen, verweist aber zusätzlich auf die Strukturen weiblicher Sozialisation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Vorbild für die Tochter aus gutem Hause war für Oppenheim ebenso wie für ihre Zeitgenossinnen die Gouvernante. Oppenheim sieht sie als Trägerin weißer Pumps, die in der engen Zuschnürung ihrer Frauenrolle nur noch ein Hühnchen abgibt.32

30 Vgl. dazu Helfenstein 1993, Kap. „Der Künstler als Medium“, S. 153-164. 31 Vgl. oben Anm. 13. 32 Vgl. zur Kritik in Ma gouvernante Helfenstein 1993, S. 127-129.

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Abbildung 5: Meret Oppenheim: Ma gouvernante (1936); weiße Damenschuhe, Papiermanschetten auf ovaler Metallplatte; 14 x 21 x 33 cm, Stockholm: Moderna Museet

Die Inszenierung Meret Oppenheims als Ikone des Surrealismus Kaum jemand kann die „Pelztasse“ betrachten, ohne zugleich das berühmte Aktphoto der Künstlerin Érotique voilée von Man Ray (Abb. 4) vor Augen zu haben. Diese fatale Kombination der beiden Skandalwerke von Oppenheim und Man Ray hat wesentlich dazu beigetragen, nicht die Künstlerin wahrzunehmen, sondern die Muse und Ikone des Surrealismus. Daraus lässt sich ein klassischer Fall von patriarchalischer Verdinglichung der Frau ableiten.33 Doch stempelt man nicht sowohl Kunstwerk als auch Künstlerin mit einem solchen Vorwurf erneut als stummes Opfer männlicher Diskurshoheit ab? Es handelt sich ohne Zweifel um eine reduzierende Lesart, in beiden Werken nur den weiblichen Fetisch zu sehen. Statt diese Vereinfachung zu unterstützen, lohnt sich ein genauerer Blick auf die Mehrdeutigkeit und Sinnverweigerung der „Pelztasse“ und der Érotique voilée. In beiden Fällen ist die Vielfalt der surrealen Phantasien, die der jeweilige Anblick bei den Betrachtern auslösen soll, eine grundlegende Eigenschaft der Werke. Weit davon entfernt, einem männlichen Be33 Vgl. als Beispiel einer solchen Betrachtungsweise Kuni 1999 (wie Anm. 11).

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trachter Gewissheit und Kontrolle über die Frau zu geben, machen sie durch ein Übermaß an Deutungsangeboten Angst und führen zu dem von Breton geforderten Interpretationsdelirium: „Le délire d’interprétation ne commence qu’où l’homme mal préparé prend peur dans cette forêt d’indices“.34 An gleicher Stelle spricht Breton über das Konzept der trouvaille bzw. des objet trouvé, in eben dem Text, in dem kommentarlos Man Rays Érotique voilée abgebildet wird. Aus dessen Photoserie „Meret Oppenheim im Studio von Marcousis“35 wählte Breton für seinen Artikel in Minotaure lediglich dieses eine Photo aus. Außerdem wurde in der Zeitschrift nur ein Ausschnitt der Photographie abgedruckt, der die Bedeutung um einen entscheidenden Teil verkürzt, aber auch den Titel Érotique voilée unterstreicht: Verschleiert wird das Geschlecht der Abgebildeten, insofern man den unteren Teil der Photographie abschnitt und nun, da ihr Busen vom Rad der Druckpresse verdeckt wurde, nicht mehr erkennbar war, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Nancy Spector weist allerdings zu Recht darauf hin, dass in der kompletten Photographie diese Androgynität eher noch betont werde, da der Griff des Rades an entsprechender Position dem weiblichen Modell einen Phallus montiert (siehe Abb. 6).36 Abbildung 6: Man Ray: Érotique voilée (1933), Photographie (Detailvergrößerung)

34 Breton, André: „La beauté sera convulsive“, in: Minotaure, Nr. 5 (1934), S. 9-17; Zitat S. 14 (kursiv im Original). 35 Die gesamte Photoserie ist abgebildet in: Meret Oppenheim meets Man Ray (Ausstellungskatalog Kunsthalle Darmstadt). Thomas Levy (Hrsg.), Madrid 1997. 36 Vgl. Spector 1996 (wie Anm. 1), S. 40.

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Die Gewissheit darüber, welches Geschlecht das betrachtete Gegenüber hat, wird in jedem Fall in dieser Photographie ebenso wie im Déjeuner en fourrure durch eine Verschleierung verweigert. Dabei ist der Schleier gleichzeitig Vortäuschung eines fiktiven Geschlechtsmerkmals. Der Pelz dient als Fetisch oder Symbol für das ‚weibliche Geschlecht‘ der „Pelztasse“, verdeckt aber die eigentlichen Objekte Tasse, Untertasse und Löffel. Das Rad der Druckpresse verbirgt einerseits Oppenheims Geschlecht, verleiht ihr andererseits aber durch den Griff ein Phallussymbol. So ist es denn auch die Zusammenführung der Gegensätze, die Breton als Bedingung einer „beauté convulsive“ nennt, da sich nur durch diese Ungewissheit und Sinnverweigerung ein Weg in die Surrealität eröffne: „La beauté convulsive sera érotique-voilée, explosive-fixe, magique-circonstancielle ou ne sera pas.“37 Meret Oppenheim gibt diesem zentralen Konzept des Surrealismus in der Photographie Érotique voilée ein Gesicht – wenn auch kein Geschlecht. Mit der „Pelztasse“ erschafft sie außerdem einen weiteren Prototypen der bretonschen Theorie, der ebenfalls in dem Artikel „La beauté convulsive“ dargelegt wird. Es handelt sich um die trouvaille, die einen poetischen Gedanken ausdrückt, aber unter alltäglichen Objekten von größtmöglicher Einfachheit entdeckt werden kann. De même, j’ai pu désirer voir construire un objet très spécial, répondant à une fantaisie poétique quelconque. Cet objet, dans sa matière, dans sa forme, je le prévoyais, plus ou moins. Or, il m’est arrivé de le découvrir unique sans doute parmi d’autre objets fabriqués. C’était lui de toute évidence, bien qu’il différât en tout mes prévisions. […] Toujours est-il que le plaisir est ici fonction de la dissemblance même qui existe entre l’objet souhaité et la trouvaille. […] C’est en elle seule qu’il nous est donné de reconnaître le merveilleux précipité du désir. Elle seule a le pouvoir d’agrandir 38 l’univers […].

Ein Frühstücksgeschirr aus dem Kaufhaus mit Pelz zu überziehen und es zur Entschleierung von Männerphantasien zu benutzen, indem diese gleichzeitig hervorgerufen und enttäuscht werden, ist Oppenheims künstlerische Umsetzung dieses bretonschen Konzepts. Statt Oppenheim als Frauenopfer des Surrealismus zu sehen, erscheint es unter künstlerischen Gesichtspunkten sinnvoller, von einer bedingungslosen Offenheit des Werks auszugehen und einer surrealistischen Zusammenarbeit bei seiner Entstehung.39 Der Vorwurf, die Surrealisten hätten Oppenheim wie viele 37 Breton 1934, S. 17. 38 Ebd., S. 13f. (kursiv im Original). 39 Vgl. zur Kooperation bei der Werkgenese Anm. 1.

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andere Frauen in ihrem Umkreis auf die Position einer Ikone, Muse oder schlicht eines Objekts reduziert, lässt sich ohne Zweifel an zahlreichen Aussagen, am persönlichen Verhalten und vor allem an der Inszenierung in der Öffentlichkeit belegen. Auch die Verbindung von Revolution und Begehren führt beinahe unweigerlich zu einem weiblichen Kunstobjekt, an dem Grenzüberschreitungen wie etwa Körperzerstückelungen erprobt werden konnten.40 Doch die Problematik einer solchen Argumentation lässt sich an einem kleinen Beispiel verdeutlichen. Während Oppenheim Anfang der 30er Jahre, als sie nach Paris kam, das Image der femme-enfant verkörperte und nach der Figur aus Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich nur das „Meretlein“ genannt wurde,41 entsprechen weder ihre eigenen künstlerischen Arbeiten noch die Photographien Man Rays diesem Bild. Oppenheim war von Anfang an kein stummes Opfer des patriarchalisch strukturierten Surrealismus, sondern nagelt in La Fin embarrassé (1971; Abb. 7) das männliche Geschlecht buchstäblich ans Kreuz oder reflektiert auf bösartige Weise in Bon appétit Marcel! (Die weiße Königin) (1966; Abb. 8) das ‚Damenopfer‘ der schachverliebten Surrealisten:42 Der Rotwein im Glas ähnelt geronnenem Blut, und die aus Teig gebackene weiße Dame erinnert mit ihrem aufgeschlitzten Körper, der einen Blick auf ihre Wirbelsäule freigibt, an eine zum Verzehr angebotene Vagina.

40 Vgl. dazu Spector 1996 und Gardner 2003 (wie Anm. 19) sowie zur Beziehung zwischen den Surrealisten und den Frauen allgemein Gauthier 1971 (wie Anm. 11). 41 Vgl. Spector 1996, S. 36f. Vor allem Oppenheims Geliebter Max Ernst verwies auf diese Namensgebung und sah sie offenbar gern als femme-enfant, aber er sagte auch: „‚Wer überzieht die Suppenlöffel mit kostbarem Pelzwerk? Das Meretlein. Wer ist uns über den Kopf gewachsen? Das Meretlein.‘“ Zitiert nach Gardner 2003 (wie Anm. 19), S. 32. 42 „Was Meret Oppenheim am Schachspiel offensichtlich faszinierte, war die symbolische Bedeutung, gerade wenn sie die Schachfigur, die ‚Dame‘, als ‚Königin‘ im Titel, naiv-wörtlich nahm. Das Schachbrett symbolisiert das Gelände, auf dem der von Männern geführte Geschlechterkampf stattfindet, in dessen Verlauf die Braut geopfert wird.“ Helfenstein 1993, S. 116. Daher handelt es sich um eine äußerst zweifelhafte „Hommage“ an Marcel Duchamp, wie auch Helfenstein im gleichen Abschnitt betont.

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Abbildungen 7 u. 8: Meret Oppenheim: La Fin embarrassé (1971), Öl auf Leinwand, 110 x 84 cm und Bon appétit Marcel! (Die weiße Königin) (1966), verschiedene Materialien, 32 x 32 x 3 cm, San Francisco: Forster Goldstrom

Nicht erst in den 60er und 70er Jahren, nachdem sie sich von den Surrealisten emanzipiert hatte, gelingen Oppenheim derartige Werke, sondern bereits als Modell der Érotique voilée sieht Hofmann sie als ‚Königin‘, die sich nicht von der männlich markierten Druckmaschine unterwerfen lässt. Meret Oppenheim agiert hier nicht als folgsames Modell: sie betreibt Selbstdarstellung, und es gelingt ihr ein königlicher Gestus, der uns aus dem Fundus der Gebärdensprache seit der Antike vertraut ist. So etwa verweigert sich in vielen Werken der Malerei Maria der Botschaft des Engels. Doch indem sie sich verweigert 43 nimmt sie die Rolle auf sich.

Oppenheim performiert eine Rolle und gibt sie – wie auch im Falle des Déjeuner en fourrure – als Rolle, die vom männlichen Betrachter und Künstler zugewiesen und erfunden wurde, zu erkennen. Erst in der Vielfalt ihrer Selbstdarstellungen, die sie ihre gesamte Karriere über betreibt, wird jedoch die grundsätzliche Performativität der Geschlechterzuordnungen deutlich.

43 Hofmann 1997, S. 26.

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Die Selbst-Inszenierung Meret Oppenheims Die Maskerade liebte Meret Oppenheim in der Kunst genauso wie in der öffentlichen Selbstinszenierung.44 Doch in Opposition zu der von der gouvernante (Abb. 5) vorbestimmten Rolle der braven ‚Hühnchen-Frau‘, die sich auf dem Silbertablett opfert, performiert Oppenheim verschiedene, vor allem androgyne Geschlechterrollen. Sie kann sich auf diese Weise zwar nicht neu erfinden, aber gerade im Gegensatz zur gouvernante muss sie ihre Geschlechtsidentität nicht über das „‚zwangsweise Zitieren einer Norm‘“ sichern, wie Butler die gender performance beschreibt.45 Jedes Darstellen einer Geschlechteridentität bleibt zwar das Zitieren einer Rolle oder Norm, aber indem Oppenheim sich selbst und bekannte Rollenklischees zitiert, wird es als Zitat oder Rolle erkennbar und bricht im Sinne Derridas mit dem althergebrachten Kontext.46 Trotz aller Bemühungen vonseiten Meret Oppenheims und ihrer Bewunderer, die Bedeutung der „Pelztasse“ im Gesamtwerk der Künstlerin zu minimieren, reißt die Verbindung zu diesem Thema und zum Surrealismus auch in der ‚zweiten‘ Schaffensphase Oppenheims nicht ab. Vor allem die von den Surrealisten favorisierte erotische Verbindung von Frau, Essen und Natur greift Oppenheim seit dem Déjeuner en fourrure immer wieder auf. Allerdings handelt es sich wie bei der „Pelztasse“ stets um kritische Auseinandersetzungen mit dieser Fetischisierung. Durch persönliche Auftritte verstärkt die Künstlerin dabei die Performativität des Werks. So erscheint sie beispielsweise zu offiziellen Anlässen in einem selbst entworfenen Kleid, das mit Tellern und Besteck versehen ist. Damit bietet sie sich symbolisch als Nahrung an und vernichtet durch diese direkte Koppelung von Essen und Frau den erotischen Reiz, der vor allem durch den Fetisch bzw. die Ersatzhandlung des Essens entstehen würde. Hier fehlt der Zwischenschritt – die Frau wird nicht durch Pelz oder Nahrungsmittel ersetzt, sondern bietet sich unmittelbar selbst zum Verspeisen an.47 44 Vgl. hierzu die ausführlichen Beschreibungen in Gardner 2003 (wie Anm. 19), S. 32-36. 45 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1997; zitiert nach Eckhard Schumacher: „Performativität und Performance“, in: Wirth 2002 (wie Anm. 3), S. 383-402; Zitat S. 392. 46 Vgl. oben Anm. 4. 47 Auf diese ironische Weise haben die Surrealisten allerdings durchaus auch selbst jene Fetischisierung betrachtet. So bewirft Dalí eine nackte Frau mit Brot und Croissants und lässt sich dabei als Urheber dieser Verbindung photographieren. Vgl. die Photographie von Philippe Halsman: Desnudo

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Den Höhepunkt dieser Performances stellen sicherlich Oppenheims „Frühlingsfeste“ dar. Privat unter Freunden veranstaltete sie das erste im April 1959 und wiederholte dieses Happening zu einer Ausstellungseröffnung der Surrealisten – der „Exposition inteRnatiOnal du Surréalisme (EROS)“ – im Dezember des gleichen Jahres. In beiden Fällen wurde der Körper einer Frau mit Goldfarbe überzogen und mit Nahrungsmitteln dekoriert, so dass die Gäste von ihm essen konnten. Die Grenze zwischen einem kultisch zelebrierten weiblichen ‚Frühlingsopfer‘ und einer ironischen Reflexion auf die Fetischisierung des weiblichen Körpers verläuft in diesem Fall sehr eng. Daran zeigt sich auch, dass sich die Rolle der Natur-Frau nicht einfach in einem matriarchalisch-mystischen Sinne umdeuten lässt. In dem Moment, in dem die Rolle performiert wird, ohne einen eindeutigen Hinweis auf ihre Konstruktion zu geben, kann sie ebenso als traditionelle erotische Inszenierung für die Augen der Betrachter gesehen werden. Letzteres machte Xavière Gauthier Oppenheim zum Vorwurf, während Peter Gorsen allein die „matriarchal-mythologisch[e]“ Interpretation gelten lassen möchte.48 Meines Erachtens muss man eine Entscheidung hinsichtlich dieser Performance offen lassen. Wesentlich klarer wird die Ironie bezüglich sich selbst und dem männlichen Betrachter bei einem weiteren Aufsehen erregenden Auftritt Oppenheims. Anlässlich einer Retrospektive ihres Werkes 1967 in Stockholm nahm Meret Oppenheim während eines Fernsehinterviews die Pelztasse zur Hand und täuschte vor, sie trinke daraus (s.u. Abb. 9). Zum einen handelt es sich dabei um eine Profanierung des Kunstwerks, das hier seinem ursprünglichen ordinären Zweck wieder zugeführt wird.49 Zum anderen aber vollzieht die Künstlerin jenen Akt, der den Betrachtern durch die Glasscheibe verweigert wird: Sie berührt die Pelztasse fast mit dem Mund – doch wieder steht eine Glaswand vor der Erfüllung des Betrachterbegehrens, denn diese können das Objekt ihrer Begierde nur durch die Mattscheibe des Fernsehers sehen. Oppenheim nimmt mit dieser kleinen Geste die in der Rezeption des Werkes aufgebauschte erotische Bedeutung zurück, verstärkt sie gleichzeitig aber auch. Wieder sind zwei gegensätzliche Interpretationen möglich. Damit wird die Normierung und Festlegung einer Geschlechterrolle für Oppenheim obsolet: Sie con palomitas (1948) in der Fundació Gala – Salvador Dalí, Figueras. Daran ließen sich zahlreiche andere selbstironische Reflexionen des Themas anschließen. 48 Gorsen, Peter: „Meret Oppenheims Festmähler – Zur Theorie androgyner Kreativität“, in: Krinzinger 1997 (wie Anm. 1), S. 32-34; Zitat S. 32. Vgl. auch Gauthier 1971 (wie Anm. 11), S. 117. 49 Vgl. Helfenstein 1993, S. 76.

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ist Königin und Opfer der Surrealisten zugleich, Natur-Frau, Pelz-Geschlecht und Haus-Frau; sie erschafft ein geheimnisvolles, erotisch aufgeladenes Kunstobjekt und führt es wieder auf die Ebene des Profanen zurück. Abbildung 9: Meret Oppenheim 1967 im Schwedischen Fernsehen (Re-Photo: Albert Winkler)

Diese Strategie der unauflöslichen Geschlechterverwirrung bei gleichzeitiger Vermischung von Kunst und Profanem führt Meret Oppenheim auch in den folgenden Jahren weiter. Während das Eichhörnchen (1969; Abb. 10) ebenso wie das Déjeuner en fourrure einen Alltagsgegenstand zum Kunstobjekt erhöht, rechnet Oppenheim mit der „Pelztasse“ auf ironische Weise endgültig ab, indem sie von ihr eine Poster-Edition auf farbigem Hintergrund (1971) herausgibt und sie zuletzt hinter das Glas eines Kitschanhängers mit Edelweiß, Andenken an das Pelzfrühstück (1970-72), zwängt.50 Sicherlich kann man gerade die beiden letztgenannten Werke als eine Verarbeitung der Vergangenheit und als Emanzipierung von derselben verstehen. Dennoch sind beide ähnliche Anti-Kunstwerke wie ursprünglich auch das Déjeuner en fourrure und bleiben damit einer surrealistischen Tradition verhaftet. Dagegen stellt das Eichhörnchen eine größere ‚Verwirrung der Geschlechter‘ und eine ironische Replik auf die „Pelztasse“ dar. Wieder wird ein Trinkgefäß mit Pelz kombiniert, nur entsteht diesmal statt des Fetischs eines weiblichen Geschlechts ein auf den ersten Blick männlich markiertes Objekt. Der Pelz als Symbol der Weiblichkeit ist zwar noch vorhanden, bildet aber den phallisch geformten Eichhörnchenschwanz. Angebracht ist er nicht an einer Tasse 50 Abbildungen in Levy 2003 (wie Anm. 19), S. 187 bzw. ders. 1997, S. 42.

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oder Schale, die in der Rezeption der „Pelztasse“ die Assoziation des Weiblichen noch verstärkte, sondern an einem scheinbar mit Bier gefüllten Glas oder eher einem Humpen, der kulturgeschichtlich betrachtet wohl eher dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden muss. Wenn die Erotik nicht durch die Art des Objekts und die Kombination der Materialien bereits zurückgenommen worden wäre, müsste man hier von einem Fetisch des Männlichen sprechen. Oppenheim hat die Funktionalität oder die Art und Weise, wie es zur Konstruktion von Geschlechteridentität und zur Verdinglichung eines Geschlechts kommt dargestellt, indem sie die ‚Zutaten‘ vermischte und so die Abhängigkeit der einzelnen Elemente von Wirkung und Bedeutung aufzeigte. Es hängt von der Inszenierung, den bekannten und normierten Geschlechterrollen ab, dass die „Pelztasse“ eine Fetischisierung und damit Verdinglichung der Frau bedeutet, das Eichhörnchen jedoch nicht den gleichen Effekt für den Mann haben kann. Die Geschlechterrollen lassen sich nicht einfach vertauschen, wie Butler betont, sondern es bleibt lediglich ihre Konstruktion aufzuzeigen, um aus dem Zwang, diese oder jene performieren zu müssen, auszubrechen. Abbildung 10: Meret Oppenheim: Eichhörnchen (1969)

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ZWISCHEN ÜBERNAHME UND NEUKONSTRUKTION: DIE HAUSSPRÜCHE HANNAH HÖCHS Mit dem festen Vorhaben, Künstlerin zu werden, kommt Hannah Höch 1912 aus ihrem Heimatort Gotha nach Berlin und beginnt ihr Studium an der Kunstgewerbeschule in Charlottenburg. Sie wird in die Klasse für Glasgestaltung aufgenommen und lernt das Entwerfen und Zeichnen von Ornamenten sowie das Schriftzeichnen. Gemäß den Richtlinien der in der Tradition des 19. Jahrhunderts stehenden Kunstgewerbeschule wird besonderer Wert auf das Nachempfinden und Kopieren von historischen Vorlagen gelegt. Im April 1915 lernt Hannah Höch Raoul Hausmann kennen. Gleichzeitig formiert sich vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, von Zürich ausgehend, die dadaistische Bewegung in Berlin. Hannah Höch nimmt das durch den Kriegsbeginn unterbrochene Studium wieder auf und wechselt über zur Lehranstalt des Kunstgewerbemuseums, in die Fachklasse für Buchkunst und Graphik unter der Leitung von Emil Orlik. Diese Ausbildung bei dem experimentierfreudigen Künstler und Pädagogen entspricht weit mehr ihren künstlerischen Ambitionen. Sie fertigt Holzstiche nach Zeichnungen Orliks an, und aus Abfallprodukten des druckgraphischen Unterrichts bringt sie ihre ersten Klebebilder hervor, wie z.B. die Collage Weiße Wolke (1916). Ihren Lebensunterhalt verdient sich Hannah Höch mit einer Halbtagsstelle als Entwurfszeichnerin in der Handarbeitsredaktion des Ullstein-Verlags. Hier entstehen, ebenfalls aus Abfallprodukten, weitere Collagen – solche aus Spitzen und Schnittmusterbögen, die sie auch später noch, während und nach der Dada-Zeit, anfertigt. In diesem Zusammenhang wurde Hannah Höch noch bis in die 60er Jahre hinein von der Kunstkritik, insbesondere von männlichen Kritikern, als das „stille“ und „tüchtige Mädchen“ „mit Sammelalbum, Spitzen, Schnittmusterbogen und Schneider-

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schere“1 dargestellt.2 Für Hanne Bergius hingegen nehmen diese Collagen eine „ambivalente Stellung zur kunstgewerblichen Dekoration des weiblichen bürgerlichen Alltags“ ein, „den Hannah Höch im UllsteinVerlag durch Entwerfen und Zeichnen solcher Muster selbst mitgestaltete.“3 Hannah Höch selbst erklärt in einem Interview von 1975 ihr Interesse an den beiden Materialien Spitze und Schnittmusterbogen folgendermaßen: Beides ist für mich durchaus ein geeignetes Material für Neuschöpfungen gewesen. Die Zartheit der Spitze, aber mehr noch ihre, aus ihrer spezifischen Technik erwachsene Eigenart reizte mich. Ebenfalls der immer unterschiedlich unterbrochen sein müssende Strich 4 bei dem Schnittmuster.

Die Worte der Künstlerin verdeutlichen, dass jene geordneten, aber auch durchbrochenen Muster Erfinderlust und Präzision als zwei wesentliche Merkmale ihres Schaffens mitbestimmen. Darüber hinaus lässt sich hier noch vor der Konfrontation mit dadaistischen Prinzipien ein künstlerisches Interesse am Kleben als schöpferischer Strategie erkennen. Diese künstlerische Ambition und Neugier, die sich an modernen Kunstprozessen orientiert, sowie die Aufmerksamkeit gegenüber den herrschenden politischen Verhältnissen bilden die Grundlage für eine intensive Auseinandersetzung mit jener aus dem Schock des Krieges entstandenen Dada-Bewegung, zu der sich Hannah Höch auch durch ihre Beziehung zu Raoul Hausmann angeregt sah. Mit der Collage Meine Haussprüche (Abb. 1) von 1922 bilanziert die Künstlerin diese Zeit, indem sie sowohl ihre Zugehörigkeit zu und Verbundenheit mit den Berliner Dadaisten andeutet als auch ihre Abwendung von jener individual-anarchistischen Gruppe.

1 Thomas, Karin: „Hannah Höch, das ,tüchtige Mädchen‘ – mit einem feministischen Fragezeichen“, in: Götz Adriani (Hrsg.): Hannah Höch – Fotomontagen, Gemälde, Aquarelle, Köln 1980, S. 67-78; Zitate S. 67. 2 Etwa bei Richter, Hans: Dada-Kunst und Antikunst. Der Beitrag Dadas zur Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 1964, S. 136: „Aber wie kam Hannah Hoech, die Stille aus dem Städtchen Gotha, die brave Orlik-Schülerin, zu der ganz unstillen Berliner Dada-Bewegung? [...] Ein tüchtiges Mädchen!“ 3 Bergius, Hanne: „Hannah Höch – Künstlerin im Berliner Dadaismus“, in: Hannah Höch – Collagen, Gemälde, Aquarelle, Gouachen, Zeichnungen. Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris und Nationalgalerie Berlin (Hrsg.), Paris/Berlin 1976, S. 33-38; Zitat S. 36. 4 Im Interview mit Susanne Pagé (1975), in: Elmar Faber/Hans Marquardt, (Hrsg.): Hannah Höch – ... fange die blauen Bälle meines Daseins, Berlin/Leipzig 1994, S. 18-25; Zitat S. 22.

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Abbildung 1: Hannah Höch: Meine Haussprüche (1922)

Die meist Bibelsprüchen und Sprichwörtern nachgebildeten traditionellen Haussprüche, an Türen, Wänden und Balken, aber auch auf Küchenutensilien und -möbeln angebracht, beinhalten in der Regel lehrhafte, lebenspraktische und christlich-moralische Sentenzen. Die Haussprüche Hannah Höchs, schon im Titel durch den subjektiven und persönlichen Bezug des Possessivpronomens gefärbt, lassen sich diesen Konventionen nicht unterordnen. Die ausgewählten Aphorismen sind poetisch und geistreich und balancieren zwischen Unsinn und Tiefsinn, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Sie sind reflexiv und verweigern sich zum größten Teil der Eindeutigkeit. Mit dieser Auswahl legt die Künstlerin ihre Lebensmaximen und ihren Blickwinkel auf die geistigen Strömungen der damaligen Zeit offen. Während Heinz Ohff die Gesamtheit der Zitate auf die „Kernsätze der dadaistischen Freunde“5 reduziert und Wolfgang Faust von einer „Dokumentation des Privaten“6 spricht, hebt Armin Schulz die vielen verschiedenen Ausdrucksintentionen von Hannah Höch hervor und betont in Verbindung mit den Bildelementen ihren Manifestcharakter. Hinter dem Anschein des Privaten verbirgt sich ein Manifest historischer und moralischer Reflexionen, biografischer und ästhetischer Selbstreflexion im Übergang von der dadaistischen zur post-dadai5 Ohff, Heinz: Hannah Höch, Berlin 1968, S. 32. 6 Faust, Wolfgang: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart, Köln 1987, S. 174.

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SILKE WAGENER stischen Phase Hannah Höchs. Aus den Referenzen zwischen Textund Bildebene ergibt sich ein komplexes Argumentationsgefüge, 7 das den Manifestcharakter begründet.

Doch waren die Manifeste der Dadaisten darauf ausgerichtet, den Leser bzw. Hörer zu schockieren, so spricht die Programmatik Hannah Höchs, die in der Collage zum Ausdruck kommt, eine subtilere Sprache. Aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und in parodistischer Konfrontation angeordnet, erhalten die Zitate eine neue, subjektive Bedeutung. Doppelbödig sind sie, mit vielen versteckten Hinweisen auf die Künstlerin selbst. Hatte sie in früheren dadaistischen Collagen Schriftzüge ausschließlich montiert, so benutzt sie hier Füllfederhalter und Tinte und schreibt die Textauszüge eigenhändig auf die Bildebene. Dieses Verfahren verweist auf den Begriff des Palimpsests, mit dem Sandra Gilbert und Susan Gubar in ihrem Buch The Madwoman in the Attic (1979) operieren, um die Duplizität literarischer Texte von englischen und amerikanischen Autorinnen des 19. Jahrhunderts zu charakterisieren. Demnach verbirgt sich unter einer Textoberfläche der Bestätigung von konventionellen literarischen Themen und Formen ein Subtext mit subversiver Bedeutung, der die ‚männlichen‘ Bilder in verschlüsselte Zeichen weiblicher Perspektive und Erfahrung umdeutet.8 Der weibliche Diskurs wird somit als double-voiced discourse9 bestimmt, der immer zwei Traditionen gleichzeitig angehört, einer männlichen und einer weiblichen Traditionslinie. Künstlerinnen sind in der patriarchalen Ordnung also zugleich ausgegrenzt und beteiligt. Sie führen eine quasi ‚verborgene‘ Existenz.10 Dies gilt auch für die Frauen in den verschiedenen europäischen Avantgarde-Bewegungen, insbesondere für Hannah Höch. Als einzige künstlerisch produzierende Frau im Berliner Dadaismus steht sie am Rande dieses exklusiven Männerbundes und ist nicht wirklich gleichberechtigtes Mitglied, obwohl doch der Angriff besonders der Dadaisten und Surrea7 Schulz, Armin: „Bild- und Vokabelmischungen sind Weltanschauungen. Zu Hannah Höchs Collage ,Meine Haussprüche‘“, in: Hannah Höch 18891978. Ihr Werk, ihr Leben, ihre Freunde. Berlinische Galerie (Hrsg.), Berlin 1989, S. 133-145; Zitat S. 133. 8 Zur Definition des Palimpsests siehe Gilbert, Sandra M./Gubar, Susan L.: The Madwoman in the Attic. The Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination, New Haven/London 1979, S. 73. 9 Begriff nach Showalter, Elaine: „Feminist Criticism in the Wilderness“, in: Critical Inquiry, Jg. 8 (1981), S. 179-205. 10 So Stephan, Inge/Weigel Sigrid: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft, Berlin 1983.

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listen auf die Institutionen Kunst und Literatur, ihr Projekt einer Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis,11 den Blick hätte öffnen können für eine Kunstproduktion von Frauen, die sich den traditionellen Vorstellungen eines Werks widersetzt. So kritisch, antibürgerlich und progressiv sowohl Kunstauffassung als auch Subjektentwurf der Avantgardisten erscheinen mögen – auf die Position der Frau hin überprüft, treten schnell Widersprüche und Grenzen zutage. Ein weiblicher Subjektentwurf wird ausgeklammert, der „neue Mensch“ als „ehrlich und wahrhaft, ganz männlich“12 skizziert. Seine Zeit verlange von ihm das Männliche und Tüchtige. Der neue Mensch findet sich selbst in ekstatischer Erlösung, er betet sich selbst an, [...] er ist der Gott des Augenblicks, die Größe der seligen Affekte, der Phoenix aus dem guten Widerspruch, und er ist immer neu, der homo novus eigenen Adels, weil sein Herz ihm in jeder Minute die Alternative bereit 13 hält: Mensch oder Unmensch.

Hier gewinnen männliche Erhöhung und Selbstüberschätzung Raum, während die Frauen als „reizende, begabte Amateure“14 ins Abseits verwiesen oder in „zarte Stimmchen“15 verwandelt werden. Für diese beginnt ein Kampf zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe: Sucht die Frau als Künstlerin Anerkennung bei ihren Kollegen, so muss sie sich den männlichen Vorstellungen anpassen. Wagt sie sich jedoch aus den herrschenden Spielregeln hinaus, so wird ihr die Anerkennung entzogen und ihr künstlerisches Schaffen als minderwertige Bastelei abgestempelt. Hannah Höchs Zeitgenossen bildeten keine Ausnahme von der allgemeinen Tendenz zur Ausgrenzung von Frauen aus dem intellektuellen und künstlerischen Diskurs der Männer. Dennoch bot der avantgardistische Aufbruch für Künstlerinnen einen gewissen Rahmen, ihre eigene künstlerische Identität zu formulieren und eine Verknüpfung zwischen Kunst und Lebenserfahrung herzustellen. Dies möchte ich im Folgenden am Beispiel der Bild- und Textcollage Meine Haussprüche (s.o. Abb. 1) genauer analysieren. Die Bildebene der Collage besteht aus zusammengesetzten heterogenen Elementen wie Photos, Illustrationen, Zeichnungen, Papier und Stoff. Die fragmentierte Textebene setzt sich aus Zitaten von Personen 11 Vgl. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, S. 69. 12 Hülsenbeck, Richard: „Der neue Mensch.“, in: ders.: Dada. Eine literarische Dokumentation, Hamburg 1987, S. 64-66; Zitat S. 64. 13 Ebd., S. 66. 14 Hannah Höch im Gespräch mit Roditi, Edouard, in: ders. (Hrsg.): Dialoge über die Kunst, Wiesbaden 1960, S. 54-72; Zitat S. 71. 15 Richter 1964, S. 136.

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aus dem Umfeld Hannah Höchs zusammen, die sie auf die montierte Bildebene geschrieben hat. Durch die Konfrontation der beiden Ebenen entstehen sowohl formale als auch inhaltliche Vermischungen zwischen den bildlichen und den sprachlichen Elementen. Während die ausgeschnittenen Bildelemente in scharfen rechtwinkligen Konturen aneinander stoßen – Hannah Höch hat die Kanten nicht kaschiert und setzt dies bewusst als Stilelement ein –, erscheinen die Zitate auf dieser Bildebene zunächst willkürlich angeordnet. Doch verweist die Stickanleitung in der Mitte des Bildes, die einen Kreuzstich mit einem auslaufenden Faden und einer linear gesteckten Nadel darstellt, auf die entsprechende Anordnung der Zitate. Gemäß dem geometrischen Stickmuster lassen sich vier unterschiedliche Bedeutungsebenen herausstellen, von denen ich die ersten drei im Anschluss einer ausführlicheren Betrachtung unterziehen möchte: 1. Dada (die Diagonale von rechts oben nach links unten mit den drei Zitaten von Hülsenbeck), 2. Kunstproduktion und -rezeption (der Kreis mit den Zitaten von Schwitters, Nietzsche, Serner, Hausmann und Baader), 3. Lebenspraxis und Moral (die Diagonale von links oben nach rechts unten mit den Zitaten von Friedländer, Hülsenbeck und Goethe), 4. Zeit (die Horizontale mit den Zitaten von Arp und Gertrud).16

1.

Dada Dada ist die Polizei der Polizei./Hülsenbeck. Der Tod ist eine durchaus dadaistische Angelegenheit./R. Hülsenbeck Dada ist die Polizei der Polizei.

Durch die Anordnung der Zitate in Form einer Diagonalen, die sich von rechts oben nach links unten durch das Bild zieht, verweist Hannah Höch auf die „Elastizität“ der dadaistischen Bewegung als ein ihr wesentliches Charakteristikum. Dada wurde aber die große Elastizität der Zeit, die ihren Maßstab am Bürger fand: je seniler und steifer dieser wurde, um so bewegli-

16 Ich beziehe mich hier auf die von Schulz 1989, S. 133 vorgenommene Einteilung.

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cher wurde Dada, das heute über den ganzen Erdball verbreitet 17 ist.

‚Elastizität‘ meint hier jedoch nicht nur die „Internationalität der Bewegung“, sondern auch „eine Form der inneren Beweglichkeit“, einen „Lebenszustand“ statt einer „Kunstrichtung“.18 Indem Hannah Höch in ihrer Collage ähnlich dem Gestaltungsprinzip der Simultaneität (in Montage und Lautgedicht) die unterschiedlichsten Zitate von verschiedenen Menschen verstreut, wird räumlich und inhaltlich Getrenntes und Entferntes zusammengebracht, so dass neue Perspektiven und Anschauungen entstehen. Sie hinterfragt damit die Grenzen zwischen Kunst und Leben und macht sie gleichzeitig elastischer und durchlässiger.19 Das Zitat, das Dada als „die Polizei der Polizei“ kennzeichnet, deutet auf die Intention der Dadaisten hin, eine falsche bzw. repressive Ordnung durch die wahre, nämlich Dada – die polizeiliche Aufhebung der Polizei – zu überwinden. Das heißt, Dada ist die Ordnung der Ordnung im Sinne einer Aufhebung falscher Ordnung durch Un-Ordnung oder Nicht-Ordnung.20 Im Hinblick auf die periphere Position Hannah Höchs in der Berliner Dada-Bewegung bzw. auf die erneute Marginalisierung von Frauen in den Avantgarden insgesamt lässt das gleich doppelt verwendete Hülsenbeck-Zitat jedoch noch eine andere mögliche Lesart zu, die sich auf den Aufstand der Söhne gegen die väterliche Ordnung bezieht: Den Avantgardisten ging es auf allen Ebenen um den Kampf mit der Tradition und gegen eine ästhetische und autoritäre Ordnung, die das Gesetz des Vaters repräsentiert. Durch die Pose des aggressiven, exzentrischen und aktionistischen Sohnes, der das neue Menschsein ankündigt, werden zwar einerseits traditionelle Männlichkeitsbilder in Frage gestellt, gleichzeitig wird jedoch auch weiterhin eine starke und martialische Form von Männlichkeit gepflegt. Hannah Höch stand diesen Revirilisierungstendenzen skeptisch gegenüber. Sie führte ihre Rebellion aus der Distanz und trat dem egozentrischen Treiben ihrer Dada-Gefährten mit humorvoller und hintergründiger Ironie entgegen. In diesem Sinne verweist das Hülsenbeck-Zitat im Zentrum der Collage sowohl auf das allgemeine Ende der Berliner Dada-Bewegung 17 Hausmann, Raoul: „Was will der Dadaismus in Europa?“, in: ders.: Bilanz der Feierlichkeit. Texte bis 1933. Michael Erlhoff (Hrsg.), München 1982, Bd. 1, S. 94-100; Zitat S. 94. 18 Ebd. 19 Vgl. Schulz 1989, S. 143. 20 Vgl. ebd.

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als auch auf die spezielle Abwendung Hannah Höchs von den Dadaisten, nicht aber von dadaistischen Impulsen und Praktiken, die sie zu einem ästhetischen Konzept weiterentwickelte, dem ein „‚inbrünstiger Glaube an die Aufgabe der Kunst im ethischen Bereich des Menschen‘“21 (Höch) zugrunde lag. Untermauert werden der angekündigte Tod und die Wiederauferstehung Dadas bei Hülsenbeck durch das Bild des Kruzifixes. Dada sieht sein Ende voraus und lacht darüber. Der Tod ist eine durchaus dadaistische Angelegenheit, indem er nicht das Geringste besagt. Dada hat das Recht, sich selbst aufzuheben und wird davon Gebrauch machen, wenn die Zeit gekommen ist... Die Zeit ist nicht mehr allzufern... Dada aber wird, wenn es hier stirbt, eines Tages auf einem anderen Planeten mit Rasseln und Kesselpauken, Topfdeckeln und Simultangedichten den alten Gott daran erinnern, daß es noch Leute gibt, die den vollkommenen Blödsinn der Welt sehr 22 wohl eingesehen haben.

2.

Kunstproduktion und -rezeption Sachliches in die Rippen!/Serner. Gefährlich ist nur eine unentschiedene Mischung/Hausmann. Ohne dieses Lesepult kann überhaupt keine Literatur verstanden werden./Baader. Lass sie sagen, sie wissen nicht wie der Kirchturm steht./Kurt Schwitters. Akustische Täuschung, dass, wo Nichts gehört wird, auch Nichts da ist.../Ecce homo.

In ihrer Gesamtheit bilden die Zitate von Hausmann, Serner, Baader, Schwitters und Nietzsche einen logischen Zusammenhang. Sie beinhalten Hannah Höchs Auffassung von Kunst und Künstler bzw. Künstlerin und spiegeln ihre ästhetischen Selbstreflexionen wider. Während mit den Zitaten von Hausmann und Serner die Produktionsseite der Kunst dargestellt wird, beziehen sich die Zitate von Baader, Schwitters und Nietzsche auf die Rezeptionsseite der Kunst. Die beiden Zitate von Hausmann und Serner wenden sich gegen eine Ideologisierung von Kunst im Allgemeinen und gegen den expres21 Zitiert nach Bergius, Hanne: „Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch“, in: dies.: Das Lachen Dadas, Gießen 1993, S. 130-143; Zitat S. 138. 22 Hülsenbeck, Richard: En avant dada. Die Geschichte des Dadaismus (1920), Reprint Hamburg 1978, S. 48.

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sionistischen Werk- und Wirklichkeitsbegriff im Besonderen. Hausmanns Gedanke einer gefährlichen unentschiedenen Mischung bezieht sich auf den Expressionismus, in dem „alles Unklare, Unfaßbare des deutschen Gemüts friedlich und versöhnt umherschwamm – wie eben Klöße in der Brühe.“23 Das Zitat stammt aus seinem Pamphlet „Rückkehr zur Gegenständlichkeit in der Kunst“ (1920), in dem er die einzelnen Kunstrichtungen mit europäischen Nationalgerichten vergleicht und ihnen darüber bestimmte Merkmale zuweist. Der praktische Sinn der Nahrung ist zwar das Weiterleben, aber über das Leben kann keine Auskunft gegeben werden. Da nun der sinnfällige Unsinn in Italien zu Frittura, in Böhmen zu Schinken, in England zu Beefsteaks, in Frankreich zu Chateaubriand, in Rußland zu Schtschi und in Deutschland zu Schmorbraten verarbeitet wird, so sind die Anschauungen über den Wert der Gegenständlichkeit auf dem Gebiet, das man Kunst nennnt, national verschie24 den [...].

Das Serner-Zitat ist bereits die dadaistische Antwort auf den expressionistischen Wirklichkeitsbegriff, der „an der Welt vorüberstarrt und sie damit zu überwinden meint.“25 Die Dadaisten Hausmann und Serner wenden sich gegen die Realitätsflucht und den Innerlichkeitskult des Expressionismus. Während die Expressionisten auf den Krieg und Weimar reagieren, als wäre das Zeitalter des Weltfriedens und des allgemeinen Wohlstands angebrochen, haben die Dadaisten keine solchen Illusionen. Verstehen sich die Expressionisten als Reaktion auf die Zeit, so sind die Dadaisten Ausdruck der Zeit. Nach ihrer Überzeugung offenbart sich das wahre Wesen der Seele erst in der Aktion. Ihr aktiver und provokativer Realismus bildet die Basis und den Anreiz, traditionelle Vorstellungen von ideologischer Kunst in einer illusionistischen Gesellschaft zu zerstören. ‚Sachliches‘ meint in Verbindung mit der Motorik und den Impulsen der Maschine einen dynamischen Wirklichkeitsbegriff. Hannah Höch stellt diese Verbindung über die Bildebene her, indem sie das Zitat Serners mit der Abbildung eines Kugellagers unterlegt. ‚Sachlichkeit‘ oder die „Sauberkeit in der Wiedergabe des Vorstellungswesens“,26 wie es bei Raoul Hausmann heißt, meint auch die Authentizität dadaistischer Kunst, die sich vor allem in dem Verfahren der Photomontage widerspiegelt. 23 Hausmann, Raoul: „Rückkehr zur Gegenständlichkeit in der Kunst“, in: ders. 1982 (wie Anm. 17), S. 114-117; Zitat S. 114. 24 Ebd., S. 115. 25 Ebd. 26 Ebd.

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Durch die Integration heterogener Realitätsfragmente und deren simultane Anordnung im Bild wird sowohl (authentische) Wirklichkeit bruchstückhaft in das Bild einbezogen als auch dem Zerfall eines einheitlichen Weltbildes entsprochen. Hannah Höch konzentrierte sich allein auf die künstlerischen Möglichkeiten dieses neuen phototechnischen Mediums, was ihrem Anspruch entsprach, ihre „Aussagen, auch die Kritik, über die Mittel der Kunst zu machen.“27 In ihrem Werk lassen sich Verbindungen nicht nur zum Dadaismus, sondern auch zum Surrealismus, Konstruktivismus und Expressionismus finden, doch hat sie sich nie auf eine einzelne dieser Richtungen festgelegt. Diese stilistische Heterogenität ihres Werkes konstituiert sich nicht nur im Nacheinander verschiedener Schaffensperioden, sondern auch in der Gleichzeitigkeit und im Nebeneinander, was dem Prinzip der Photomontage entspricht und dem Zitat Hausmanns (von einer gefährlichen unentschiedenen Mischung) auf andere Weise Rechnung trägt. Hannah Höch hat ihre künstlerischen Prinzipien nicht zugunsten eines einheitlichen Stils geopfert: ‚Es ist mir zwar oft so vorgekommen, als ob die Konzentration eines Künstlers auf sich selbst und einen besonderen, nur ihm zuge hörigen Stil wohl leichter zu Erfolg und Popularität führt. Aber mir liegt mehr daran, meine Lebens- und Arbeitsform immer weiter zu entfalten, zu verändern und zu bereichern, wenn mir auch diese nie endende Entwicklung manch leicht zu erringenden Erfolg unmög28 lich machte.‘

Diese programmatische Äußerung Hannah Höchs macht den Stilpluralismus als eine ästhetische Strategie erkennbar, die zu mangelnder Anerkennung im gesellschaftlichen Kunstbetrieb führte – eine Konsequenz, derer sich die Künstlerin durchaus bewusst war.29 Während in den Haussprüchen die Zitate von Hausmann und Serner die Authentizität dadaistischer Kunst thematisieren, bringt Hannah Höch mit denjenigen von Baader, Schwitters und Nietzsche ihr Verständnis einer Autonomie derselben zur Sprache. Das Zitat Baaders, das den Weltliteraten Goethe zu einem Reklametexter und dessen Größe auf das Requisit eines Lesepults herabsetzt, beschreibt „den Verfallsprozeß künstlerischer Autonomie gegenüber der 27 Interview mit Susanne Pagé (wie Anm. 4), S. 20. 28 Zitiert nach Remmert, Herbert/Barth, Peter: Hannah Höch – Werke und Worte, Berlin 1982, S. 84. 29 Vgl. hierzu auch Maurer, Ellen: Hannah Höch. Jenseits fester Grenzen. Das malerische Werk bis 1945, Berlin 1995, insbes. das Kapitel „Stilpluralismus und künstlerische Identität“, S. 65ff.

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Sphäre der Zweckrationalität“, den die Dadaisten nicht nur negieren, sondern „aus Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit aggressiv und zynisch zu beschleunigen suchen; denn der Dadaist ,sieht instinktmäßig seinen Beruf darin, den Deutschen ihre Kulturideologie zusammenzuschlagen‘.“30 Diese Haltung entspricht weniger der Künstlerin und Dadaistin Hannah Höch. Obwohl auch sie den traditionellen ideologischen Sichtweisen von Kunst und Gesellschaft kritisch gegenübersteht, ist ihre Reaktion auf einen allgemeinen Verfall künstlerischer Autonomie in weit geringerem Maße exzentrisch und zerstörerisch. Dies verdeutlicht die Künstlerin zunächst durch die Worte Schwitters‘, die sie dessen Anna Blume-Gedicht entnommen hat. Dieses Gedicht ist reines Spiel mit Worten und Lauten, Assoziationen, Grammatik, Redensarten und lyrischen Konventionen. „Lass sie sagen, sie wissen nicht wie der Kirchturm steht“ lässt die Leser Redensarten wie ‚nicht wissen, was die Stunde geschlagen hat‘ oder ‚nicht wissen, woher der Wind weht‘ assoziieren. Indem Schwitters das Merz-Prinzip, „das Prinzip nach dem nichts erfunden, sondern Gefundenes verwertet wird“,31 auf die Literatur überträgt, wertet er das Material der Alltagssprache auf und formuliert im Gegensatz zu Baader den Autonomieanspruch der Kunst neu.32 Mit seiner Kunst kehrt er die gesellschaftlichen Entwicklungen und technischen Fortschritte um, d.h. er wertet den Anspruch einer ideologischen Kunst und Gesellschaft, ernst genommen zu werden, ab, ihre Abfälle als Material im Kunstwerk hingegen auf. Waren die Dadaisten gegen Kunst im Sinne einer Propagierung von Anti-Kunst, so war Schwitters „absolut und uneingeschränkt und vierundzwanzig Stunden am Tag FÜR Kunst.“33 Der ästhetisch-autonome Kunstbegriff Schwitters‘ beinhaltet jedoch eine Entfremdung des Künstlers von seinen Rezipienten und somit auch die Unveränderbarkeit der Wirklichkeit durch Kunst.34 Auffällig erscheint mir in diesem Zusammenhang die Aufwertung der traditionellen Form der Haussprüche bei Hannah Höch. Indem sie diese auf ein biographisches, historisches und ästhetisches Reflexionsni30 Schulz 1989, S. 141. 31 Nündel, Ernst: Kurt Schwitters-Monographie, Hamburg 1981, S. 40; vgl. auch S. 20: „Merz meint nicht eine Kunstart oder Kunstgattung, sondern ein künstlerisches Weltverhalten, das keine Grenze zwischen den Kunstdisziplinen, auch nicht zwischen den Kunstwerten, zwischen Kunst und Kitsch, zwischen Bedeutendem und Banalem, zwischen Sinn und Unsinn, vor allem aber auch nicht zwischen Kunst und Leben, Kunstwerk und Welt kennt.“ 32 Vgl. Schulz 1989, S. 142. 33 Richter 1964, S. 73 (Großschreibung im Original). 34 Vgl. Schulz 1989, S. 142.

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veau hebt, betont sie die Autonomie ihrer künstlerischen Produktivität. Das Nietzsche-Zitat drückt demgemäß ihr künstlerisches Selbstbewusstsein gegenüber einem ignoranten Publikum aus, das sich mit illusionistischen Abbildern der Wirklichkeit zufrieden gibt, ganz nach dem Motto, „dass, wo Nichts gehört wird, auch Nichts da ist...“. Darüber hinaus beinhaltet es Hannah Höchs Einstellung gegenüber ihren lautstark proklamierenden Kollegen, die sie nicht als eigenständige Künstlerpersönlichkeit anerkannten und entgegen allen Ansprüchen sowie Forderungen nach einer Abschaffung der patriarchalischen Gesellschaft und der Emanzipation der Frau ihre weibliche Stimme ignorierten. An dieser Stelle zeigt sich noch einmal besonders deutlich die subversive Bedeutung der einzelnen Zitate, die als verschlüsselte Codes spezifisch weibliche Botschaften transportieren, welche in offener und expliziter Form nicht anerkannt wurden. Sie drücken das Begehren einer Künstlerin aus, den patriarchalischen Mustern – künstlerischen wie sozialen – zu entkommen und zu einer authentischen Souveränität zu finden. Dieser Gedanke wird durch die Nähe des Nietzsche-Zitats zu Hannah Höchs Selbstporträt innerhalb der Collage, auf das ich weiter unten noch eingehen werde, verstärkt. Die palimpsestische Doppelstruktur, die sich auf der Textebene der Zitate zeigt, ermöglicht es Hannah Höch, künstlerische Standards zu bedienen und sie gleichzeitig zu unterlaufen.

3.

Lebenspraxis und Moral Wird Person den sternartigen Zustand auch in ihre Moralität bringen?/Friedlaender. Der Tod ist eine durchaus dadaistische Angelegenheit./R. Hülsenbeck. Wer sich nähert, den stosst nicht zurück; und wer sich entfernt, den haltet nicht zurück; und wer wiederkommt, den nehmet auf, als ob er nicht weggewesen wäre./Goethe.

Die drei Zitate von Friedländer, Hülsenbeck und Goethe stellen in ihrer Gesamtheit einen Zusammenhang zwischen Moral und Lebenspraxis her. Das Friedländer-Zitat, das als Motto am Ende seiner Nietzsche-Biographie steht, bezieht sich auf den zweiten Teil (Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft) von Kants Kritik der praktischen Vernunft. Dort heißt es: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das

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Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und 35 das moralische Gesetz in mir.

Mit diesem Postulat Kants stellen Friedländer bzw. Hannah Höch die Frage, ob Geist und Moral sich gleichermaßen ergänzen. Die Dadaisten hatten darauf eine eindeutige Antwort: „Dada ist der tänzerische Geist über den Moralen der Erde“,36 heißt es bei Hülsenbeck. Hannah Höch hingegen scheint sich auch von dieser Haltung zu distanzieren, indem sie dem Zitat Friedländers das Goethe-Zitat entgegensetzt, das weniger als moralisches Gesetz im Sinne Kants zu verstehen ist, sondern als subjektive Maxime, als individuelles moralisches Gesetz. Während der Dadaismus alles Moralische, „alles Ethos als romantisch, nicht als Leben, sondern als Flucht aus dem Leben“37 negiert, lässt sich bei Hannah Höch ein Festhalten am romantischen Humanismus erkennen. Durch die Illustration der astronomischen Karte, die das in den Sternbildern festgeschriebene Schicksal verkörpert, sowie durch das Kinderphoto Armins betont sie die Bestimmtheit des differenzierten, relativen und endlichen Menschen – im Gegensatz zu Friedländer, bei dem das Bewusstsein einer „Vernichtung der relativen, der menschlichen Person“,38 die gelernt hat, sich in der Unendlichkeit des Kosmos zu finden, als „sternartige[r] Zustand“ vorausgesetzt wird. Die Polarität, die in dem Goethe-Zitat zum Ausdruck kommt (nähern vs. zurückstoßen, entfernen vs. zurückhalten, wiederkommen vs. weg sein), erinnert an die sieben aufreibenden Jahre der Beziehung zwischen Hannah Höch und Raoul Hausmann, an den Konflikt zwischen der Selbstbehauptung des Ich einerseits und der Annäherung und Bindung im Wir andererseits, wie Hausmann sie in seiner Theorie eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft fordert. Auf der Bildebene von Hannah Höchs Collage wird dieser Widerstreit zwischen dem „Eigenen und Fremden“ in der Figur des Gekreuzigten angedeutet. In einem Brief vom 14.11.1917 an Hannah Höch schreibt Hausmann: Christus ist die Auflösung des Ich in Gemeinsamkeit; einer gleich allen: höchste Kraft des geeinigten Innern, Demut. Der einzige Weg aus der Pseudologie, Setzung des Anscheins anstelle des wah35 Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Stuttgart 1989, S. 253. 36 Hülsenbeck, Richard: Dada Almanach (1920), Reprint Hamburg 1980, S. 3. 37 Hausmann, Raoul: „Golgatha“, Typoskript (18.4.1918), in: Hannah Höch. Eine Lebenscollage. Berlinische Galerie (Hrsg.), Bd. 1, I. Abteilung: 18891918, Berlin 1989, S. 368f.; Zitat S. 369. 38 Friedländer, Salomo: „Der Waghalter der Welt“, in: Die weißen Blätter, Jg. 2, Nr. 7 (Leipzig 1915), S. 878.

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SILKE WAGENER ren Seins – diese Erkenntnis erlöst das eigene Ich, den Protest, aus der Isolation, der Verzweiflung des Hochmuts. – Die Auflösung des persönlichen Machtwillens in Übereinklang, Balance wird Dir so lange nicht gelingen, als Du nicht die Widersprüche Deines Eigenen und Fremden klar erkennst. Diese Erkenntnis wird schmerz39 haft sein [...].

Mit der Formulierung des „Eigenen und Fremden“ bezieht sich Raoul Hausmann auf die Schriften des österreichischen Psychiaters und Psychoanalytikers Otto Gross, der von 1915 bis 1918 zu den Mitherausgebern der von Franz Jung edierten Zeitschrift Die freie Straße (1.-6. Folge) gehörte. Im Zentrum seiner Theorie steht der Widerstreit des Eigenen und des Fremden. Nach Gross steht der Mensch in einem Konflikt zwischen dem Trieb zur Erhaltung seiner Individualität einerseits, nämlich dem Eigenen, und dem Wunsch nach Kontakt zu seinen Mitmenschen, insbesondere zu seiner Familie, andererseits. Die Familie, für Gross der „Herd aller Autorität“,40 zwingt jedoch den Einzelnen, den Eigenwert seiner Individualität aufzugeben und sich ihren übergeordneten Strukturen und Gesetzmäßigkeiten anzupassen oder gar zu unterwerfen. Dieser Zwang wird von Gross als das Fremde bezeichnet. Er sieht die Aufgabe der Psychoanalyse in der Befreiung des Eigenen als erotisch-soziale revolutionäre Kraft, um die gesellschaftlichen Konventionen zu sprengen und ein gewaltfreies Zusammenleben sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter möglich zu machen. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Sigmund Freud sah er die Psychoanalyse nicht als Methode von ausschließlich medizinisch-therapeutischem Wert zur Behandlung individueller Neurosen, sondern war der Auffassung, dass deren Ursachen in erster Linie in den patriarchalisch-autoritären Strukturen der Gesellschaft zu suchen seien und erst dann in den Traumata der Menschen, die an diesen gescheitert sind.41 Die Avantgarden der deutschsprachigen Länder Europas erblickten hierin eine Möglichkeit, ihre Ansprüche theoretisch zu untermauern. Insbesondere Raoul Hausmann formulierte in Briefen und Aufsätzen seine Vorstellung von einer Revolution, die alle Kultur- und Lebensbereiche durchdringen sollte, um von innen heraus das herrschende gesellschaftliche System zu verändern. Christus wird dabei zum Leitbild seiner Theorie, zur Projektionsfigur, in der die Überhöhung in39 Hausmann 1989 (wie Anm. 37), S. 319. 40 Gross, Otto: „Zur Überwindung der kulturellen Krise“, in: Raimund Dehmlow (Hrsg.): Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe, Hamburg 2000, S. 59-62; Zitat S. 61. 41 Vgl. Roters, Eberhard: „Vorwort“, in: Berlinische Galerie 1989 (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 11-44; Zitat S. 29.

DIE HAUSSPRÜCHE HANNAH HÖCHS

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dividuellen Leids stellvertretend für das Leiden und die Erlösung der Menschheit steht. Auffällig erscheinen in diesem Zusammenhang die Stickanleitungen über dem Goethe-Zitat in Meine Haussprüche. Hannah Höch hat sie nachträglich mit Pfeilen versehen; ein Pfeil zeigt eindeutig auf den Kopf der Künstlerin, ein anderer auf den des Gekreuzigten. Die Identifikation Hannah Höchs mit dem Gekreuzigten ist bereits Thema eines Briefes von 1920, den sie aus Rom, wohin sie vor Hausmann geflohen war, an ihre Schwester schrieb. ‚Ich gehe also wie Christus auf die Frage: Herr wohin gehst Du, antwortete: ich gehe, um mich noch einmal kreuzigen zu lassen. – Denke nun nicht, daß dies heißt, daß ich jetzt nach Berlin gehe um mich wieder in seine Arme zu stürzen – es wird ihn noch einen harten Kampf kosten – aber im Vertrauen sage ich Dir – ich bin mit Raoul Hausmann nicht fertig – wir haben noch mehr miteinander 42 zu tun.‘

Im Vorgriff auf eine Wiederbegegnung mit Hausmann identifiziert sich Hannah Höch mit dem Gekreuzigten, und es folgten zwei weitere Jahre, in denen sie dazu Gelegenheit haben sollte. In Anlehnung an Otto Gross entwarf Hausmann radikale Theorien über die Zerstörung patriarchalischer Familien- und Gesellschaftstrukturen sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter. Vor allem die Frau, die sich seiner Meinung nach noch in tiefer Unklarheit über ihr eigenes Wesen befand, sollte aus den patriarchalischen Suggestionen befreit werden, um einer gesellschaftlichen Veränderung den Weg bahnen zu können. Hannah Höch war die Erwählte, die für die Umsetzung seiner Theorien in die Praxis einstehen sollte. Seine Briefe an sie lesen sich zum Teil wie eine Gebrauchsanweisung, sie machen deutlich, dass die Beziehung vor allem von der bevormundenden und bedrängenden Einflussnahme Raoul Hausmanns auf die Kunst und Lebensart Hannah Höchs gekennzeichnet war. So steht nicht die gemeinsame künstlerische Arbeit im Mittelpunkt, sondern diesen bilden vielmehr die psychoanalytischen Theorien, die Raoul Hausmann als Machtinstrument einsetzt. In der hier vorliegenden Collage aus dem Jahre 1922 ist die emotionale Gleichsetzung Hannah Höchs mit dem Gekreuzigten zwar noch vorhanden, doch wird sie mit dem Goethe-Zitat gleichsam konterkariert. Das Gleichgewicht zwischen dem Ich‘ und dem Wir‘, die Balance zwischen Selbstsicherheit und Gemeinschaft, die darin zum Ausdruck 42 Zitiert nach Berlinische Galerie 1989 (wie Anm. 37), Bd. 2, II. Abteilung: 1919-1920, S. 724 (kursiv im Original).

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SILKE WAGENER

kommt, ist das Gegenmodell zur Vernichtung der Persönlichkeit sowohl bei Hausmann als auch bei Friedländer. Das Hülsenbeck-Zitat wiederum, das Hannah Höch über den Kopf des Gekreuzigten geschrieben hat, trägt dieser von Hausmann und Friedländer geforderten Zerstörung der Persönlichkeit um der Gemeinschaft und der unendlichen Person willen auf sarkastische Weise Rechnung. Zudem deutet es nicht nur die bereits erwähnte Ablösung Hannah Höchs von der Berliner Dada-Bewegung an, sondern auch die Trennung von Raoul Hausmann.

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FUTURISMUS BEIM FRÜHEN MARINETTI UND HERMETISMUS BEIM FRÜHEN UNGARETTI – EINE GEGENÜBERSTELLUNG POETISCHER KONZEPTE Als Einführung zu unserem Thema soll ein Bild dienen: Es handelt sich um ein authentisches Bild, das den Biographien Marinettis und Ungarettis entnommen ist und metaphorisch interpretiert werden soll. Beide sind nämlich im ägyptischen Alexandria geboren, d.h. in einer Landschaft, die von der Wüste geprägt ist. Und welche Metapher könnte, um die tabula rasa der neuen italienischen Dichtung des Novecento zu charakterisieren, geeigneter sein als die Gegend, die par excellence kein Leben kennt, d.h. als die Wüste? Aber, und dies ist der paradoxe Charakter der Wüste, an den ich hier erinnern möchte: Die Gegend, die, wie gemeinhin angenommen, Tod in sich birgt, weil sie kein Leben enthält, ist in Wahrheit voller Leben. Ganz analog dazu wimmelt der Novecento seit der Zeit des Futurismus von neuem Leben – und dies, obwohl der Futurismus die klassische literarische Tradition Italiens zur Wüste gemacht hat. Angesichts dessen, dass ich im Folgenden den Futurismus und den Hermetismus als zwei entgegengesetzte Pole behandeln werde, möchte ich kurz den Grund dieser meiner Gegenüberstellung angeben. Man kann, didaktisch vereinfacht, von drei ‚Hauptwegen‘ der italienischen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sprechen, d.h. vom Realismus – sowie von dessen Sprössling, dem Neorealismus –, vom Futurismus und vom Hermetismus. Deren Analysen der Wirklichkeit ergeben sich aus grundlegend verschiedenen Prinzipien, fokussieren jeweils andere Lebenserscheinungen und kommen schließlich zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Der Realismus eines Verga (Verga stirbt als Senatore del Regno d’Italia im Jahre 1922) möchte das Leben darstellen, wie es ist und damit denjenigen ein Denkmal errichten, die kein Denkmal haben. Auch ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, schreibt Verga, animiert durch die Di-

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gnität jedes einzelnen Lebens und durch Mitleid für die große Masse der Besiegten: Solo l’osservatore, travolto anch’esso dalla fiumana, guardandosi attorno, ha il diritto di interessarsi ai deboli che restano per via, ai fiacchi che si lasciano sorpassare dall’onda per finire più presto, ai vinti che levano le braccia disperate e piegano il capo sotto il piede brutale dei sopravvegnenti, i vincitori d’oggi, affrettati anch’essi, avidi anch’essi d’arrivare, e che saranno sorpassati domani. Nur der Beobachter, der vom Fluss [der Ereignisse; G.F.-M.] auch mitgerissen wird, hat, wenn er um sich schaut, das Recht, sich für die Schwachen, die auf der Strecke bleiben, zu interessieren, für die Trägen, die sich von der Welle überholen lassen, um schneller zu sterben, für die Verlierer, die verzweifelt die Arme erheben und gleichzeitig den Kopf unter den brutalen Fuß der Überwinder legen, denn diese sind die Sieger von heute, die sich beeilen, die gie1 rig sind anzukommen und die morgen überholt sein werden.

Marinetti schlug eine völlig andere Richtung ein als Verga, seine Generation suchte sowohl in Literatur als auch bildender Kunst einen Ausweg aus den Hauptströmungen ihrer Zeit, namentlich dem Realismus und dem Dekadentismus.2 Für jene jungen Schriftsteller und Künstler war der Gedanke unerträglich, noch zwanzig Jahre lang die leidenden Frauen D’Annunzios, die Helden des art pompier oder gar die Plumpheit der Natur nachzuahmen. Bereits 1890 hatte der Künstler Albert Aurier „das Recht von Dichtern und Künstlern auf den Traum, auf himmlische Prärien“ geltend gemacht: ‚la copie myope des anecdotes sociales, l’imitation imbécile des verrues de la nature, la plate observation, le trompe-l’œil, la gloire d’être, aussi fidèlement, aussi banalement exacte que le daguerréotype ne contente plus aucun peintre, aucun sculpteur digne de ce 3 nom‘.

Die junge Generation nach der Jahrhundertwende ist also auf der Suche nach einem radikal neuen, eigenen Stil. Marinettis Poetik des Futurismus wird den erwünschten totalen Bruch mit der Vergangenheit vollziehen. 1 Verga, Giovanni: „Prefazione a ‚I Malavoglia‘“, in: ders.: Opere. Luigi Russo (Hrsg.), Mailand/Neapel 1968, S. 177-179; Zitat S. 178 (eigene Übs.). 2 Siehe zu den beiden genannten Richtungen Huyghe, René: La Relève de l’Imaginaire. Romantisme, Réalisme, Paris 1976. 3 Zitiert nach Salvini, Roberto: Guida all’Arte Moderna, Mailand ³1956, S. 94.

FUTURISMUS UND HERMETISMUS

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Seine Vorliebe gilt der Welt von heute und von morgen, wie sie aus der Technik entstanden ist – eine Welt, die von ihm gänzlich bejaht wird. Genau diese Welt, die vom Menschen geschaffen ist und nicht von der Natur, möchte Marinetti zum Zentrum der eigenen Kunst erheben, für sie möchte er eine neue, ihr angemessene Kultur schaffen – im Gegensatz zur Kultur der Vergangenheit, die einer veralteten Auffassung der Natur und des Menschen entsprach. Zu den Eckdaten der Reform Marinettis werden daher die radikale Zerstörung der Kultur der alten Welt und die Erschaffung einer neuen Kultur für die neue Welt, d.h. eine neue Grammatik, eine neue Ästhetik, ein neuer Kult der Materie, ein neuer, künstlicher Mensch. Allerdings wird das konstruktive Moment Marinettis – sein Traum eines totalitären Technizismus, der auf einen absoluten Willen gegründet sein sollte – bald vom Faschismus beschlagnahmt, um diesem als Begründung für den eigenen Bellizismus zu dienen. Man braucht nur an die Wirkung von Sprüchen wie „Krieg, einzige Hygiene der Welt“ (u.a. schon im ersten futuristischen Manifest) zu denken. Der so gennante dritte Weg der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der Hermetismus, wird nach der Sprachreform des Futurismus geboren und kann ohne dessen Pionierleistung nicht gedacht werden. Gleichzeitig entfernt sich der Hermetismus Ungarettis vom Futurismus, indem er wieder einführt, was für diesen als überwunden galt: den Menschen als geistiges Wesen. In diesem Beitrag werde ich mich darauf beschränken, den Futurismus des frühen Marinetti in seiner Gegenüberstellung zum Hermetismus des frühen Ungaretti zu skizzieren. In einem ersten Schritt werde ich die Grundzüge der Poetik Marinettis sowie einige Beispiele ihrer konkreten literarischen und künstlerischen Anwendung darstellen. In einem zweiten Schritt werde ich mich kurz der dichterischen Produktion des frühen Ungaretti zuwenden. Schließlich werde ich ein knappes Resümee ziehen. Dort, wo es von Belang ist, werde ich von den literarischen Texten Marinettis zu Texten und Werken der bildenden Künstler unvermittelt übergehen. Dieser Quellenwechsel ist durch die gemeinsame Zugehörigkeit von Literaten und Künstlern zur futuristischen Bewegung sowie durch beider Beteiligung am Genre des Manifests motiviert; darüber hinaus ermöglicht er die konkrete Exemplifizierung allgemeiner theoretischer Aussagen.4 4 Für eine theoretische Begründung dieses Verfahrens der gegenseitigen Erhellung der Künste‘ vgl. Drost, Wolfgang: Strukturen des Manierismus in Literatur und Bildender Kunst. Eine Studie zu den Trauerspielen Vincenzo

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1.

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Die Poetik des frühen Marinetti5 (1909-1912)

Die Texte, die im Folgenden behandelt werden, sind alle vor dem Ersten Weltkrieg entstanden: Am 20. Februar 1909 erschien in der Pariser Zeitung Le Figaro das Manifest „Le Futurisme“; im April gleichen Jahres folgte ein fast surrealistischer Text Marinettis, der den Titel trug „Uccidiamo il chiaro di Luna!“ / „Tod dem Mondschein!“ Am 11. Februar 1910 erschien bereits das „Manifest der futuristischen Maler“ und genau zwei Monate später, am 11. April, ihr „Manifesto tecnico, La pittura futurista“ / „Die futuristische Malerei, technisches Manifest“. Bemerkenswert sind ferner die „Prefazione al Catalogo delle Esposizioni di Parigi, Londra, Berlino, Bruxelles, Monaco, Amburgo, Vienna“ / „Vorwort zum Katalog der Ausstellungen in Paris, London, Berlin u.a.“ (Februar 1912, von der Hand Boccionis, Carràs, Russolos, Ballas, Severinis) und Marinettis „Manifesto tecnico della letteratura futurista“ / „Technisches Manifest der futuristischen Literatur“ vom 11. Mai 1912. Der Erste Weltkrieg rief mehrere Futuristen an die Front, wo einige von ihnen gefallen sind, z.B. der viel versprechende Architekt Antonio Sant’Elia, in dessen Skizzen die weitere Entwicklung der Weltarchitektur des 20. Jahrhunderts im Keim bereits vorweggenommen ist,6 und Umberto Boccioni, einer der genialsten unter den bildenden Künstlern des Futurismus (vgl. unten Abb. 1-4). Doch ähnlich wie es im frühen Quattrocento bei Masaccio der Fall war, konnte der Tod wohl eine künstlerische Entwicklung zum Halten bringen, das Geschehene aber nicht ungeschehen machen. Innerhalb kürzester Zeit nämlich sollte der Futurismus sich über ganz Europa verbreiten und damit die Einschätzung Gottfried Benns bestätigen, der ihn als das „‚Grundereignis der Modernen Kunst in Europa‘“ bezeichnete.7 Giustis, Heidelberg 1967; Zima, Peter V. (Hrsg.): Literatur Intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt 1995 sowie Holländer, Hans: „Literatur, Malerei und Graphik. Wechselwirkungen, Funktionen und Konkurrenzen“, in: ebd., S. 129-170. 5 Lebensdaten: 22.12.1876 (Alexandria, Ägypten) – 2.12.1944 (Bellagio). Zu Person und Werk Marinettis im Allgemeinen siehe Salaris, Claudia: Filippo Tommaso Marinetti, Florenz 1988; zur Frühphase des Futurismus Martin, Marianne W.: Futurist Art and Theory 1909-1915, New York 1978. 6 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Annette Geiger in diesem Band. 7 Zitiert nach Der Lärm der Straße. Italienischer Futurismus 1909-1918 (Ausstellungskatalog). Norbert Nobis (Hrsg.), Mailand 2001, S. 261. Die Hannoveraner Ausstellung wurde fortgesetzt in Dortmund; siehe hierzu „… auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert!“ Die zweite Phase des italienischen Futurismus 1915-1945 (Austellungskatalog). Ingo Bartsch/ Maurizio Scudiero (Hrsg):, Bielefeld 2002.

FUTURISMUS UND HERMETISMUS

1.1

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Ein neues Thema für die Kunst

Ich beginne mit einer programmatischen Definition Marinettis, die das Thema seiner Kunst umreißt. Wenn Charlie Chaplin in seinem Film MODERN TIMES die Welt der Technik auslachte, so steht im Gegensatz dazu diese Welt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Marinettis, als das Objekt der neuen Kunst schechthin (vgl. den 11. Punkt seines „Manifesto del Futurismo“): Noi canteremo le grandi folle agitate dal lavoro, dal piacere o dalla sommossa: canteremo le maree multicolori o polifoniche delle rivoluzioni nelle capitali moderne; canteremo il fervore notturno degli arsenali e dei cantieri incendiati da violente lune elettriche; le stazioni ingorde, divoratrici di serpi che fumano; le officine appese alle nuvole pei contorti fili dei loro fumi; i ponti simili a ginnasti giganti che scavalcano i fiumi, balenanti al sole con un lucicchio di coltelli; i piroscafi avventurosi che fiutano l’orizzonte, le locomotive dall’ampio petto, che scalpitano sulle rotaie, come enormi cavalli d’acciaio imbrigliati di tubi, e il volo scivolante degli aeroplani, la cui elica garrisce al vento come una bandiera e sembra applaudire come una folla entusiasta. Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige vielstimmige Flut der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begei8 sterte Menge.

Die Aussage, dass man die eigene Zeit darstellen möchte, könnte den Verdacht erwecken, es handele sich hier um den alten Realismus, der in neuem Gewand wieder salonfähig gemacht worden wäre. Aber der Stil 8 Marinetti, F[ilippo] T[ommaso]: „Manifesto del Futurismo“ (1909), in: Luciano De Maria: Marinetti e il Futurismo, Mailand 1973, S. 3-9; Zitat S. 6f. Dt.: „Manifest des Futurismus“, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart/Weimar 1995, S. 4-7; Zitat S. 5.

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Marinettis, Lichtjahre entfernt von dem eines Balzac oder Flaubert, zeigt deutlich, dass dies nicht der Fall ist, denn Marinettis Sätze zeugen von einer äußerst lebendigen Einbildungskraft, die in anderen Schriften fast surrealistisch wirken wird. Diese stets aktive Einbildungskraft könnte ihn, so ein weiterer Verdacht, doch den Schriftstellern des Dekadentismus annähern – allerdings werden die Schriften, die hier betrachtet werden sollen, auch dieses letzte Missverständnis ausräumen. Zum Ton Marinettis sei bemerkt: Seine bisher zitierten Sätze vermitteln nicht den Eindruck eines an der industrialisierten Welt leidenden, durch sie veräußerlichten Menschen, sondern den eines Herolds einer besseren Welt. Der Einstellung Marinettis vergleichbar ist die der futuristischen Maler, die ebenfalls Kunstwerke schaffen möchten, welche die eigene Zeit zum Gegenstand der Darstellung machen (s.u. Abb. 1 u. 2): È vitale soltanto quell’arte che trova i propri elementi nell’ambiente che la circonda. Come i nostri antenati trassero materia d’arte dall’atmosfera religiosa che incombeva sulle anime loro, così noi dobbiamo ispirarci ai tangibili miracoli della vita contemporanea, alla ferrea rete di velocità che avvolge la Terra, ai transatlantici, alle ‚Dreadnought‘, ai voli meravigliosi che solcano i cieli, alle audacie tenebrose dei naviganti subacquei, alla lotta spasmodica per la conquista dell’ignoto. E noi possiamo rimanere insensibili alla frenetica attività delle grandi capitali, alla psicologia nuovissima del nottambulismo, alle figure febbrili del ‚viveur‘, della ‚cocotte‘, dell’‚apache‘ e dell’alcolizzato? Nur die Kunst ist lebensfähig, die ihre eigenen Elemente in der sie umgebenden Umwelt findet. Wie unsere Vorfahren Stoff für ihre Kunst aus der religiösen Atmosphäre zogen, die auf ihre Seelen drückte, so müssen wir uns an den greifbaren Wundern des zeitgenössischen Lebens inspirieren, an dem eisernen Netz der Geschwindigkeit, das die Erde umspannt, an den Überseedampfern, den Dreadnoughts, den wunderbaren Flügeln, die die Lüfte durchziehen, den von Finsternis umgebenen Unterseebootfahrern und dem angespannten Kampf um die Eroberung des Unbekannten. Und können wir unempfindlich bleiben bei der frenetischen Aktivität der großen Städte, der völlig neuen Psychologie des Nachtlebens, der fiebernden Gestalten des Viveur, der Kokotte, des Apa9 chen und des Trunkenboldes?

9 Boccioni, Umberto u.a.: „Manifesto dei pittori futuristi“ (1910), in: De Maria 1973 (wie Anm. 8), S. 20-22; Zitat S. 21f. Dt.: „Manifest der futuristischen Maler“, in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 8), S. 11-13; Zitat S. 12.

FUTURISMUS UND HERMETISMUS

Abbildung 1: Umberto Boccioni: La risata (1911)

Abbildung 2: Fortunato Depero: Costruzione di donna (1917)

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210

1.2

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Die radikale Verneinung der Vergangenheit

Nachdem das Objekt der eigenen Kunst einmal gewählt war, konnte das damit verbundene Programm nur durch Destruktion in die Tat umgesetzt werden, d.h. durch konsequente Verneinung der Kultur der Vergangenheit. Wenn man Marinettis Texte heute liest, staunt man über die Energie, ja fast Grausamkeit, mit der er jene zur tabula rasa macht. Eine solche Radikalität erscheint uns heute in ihrer Maßlosigkeit übertrieben, doch hatte sie ihren Grund in der anhaltenden Kraft der Kultur der alten Generation um die Jahrhundertwende 1900: Da diese in Italien tief verwurzelt war, bedurfte es eines entsprechend großen Energieaufwandes, um sie zu stürzen. Man kann diesen kulturellen Paradigmenwechsel von der Generation D’Annunzios zu der Marinettis mit dem Übergang vom späten Mittelalter zur Renaissance vergleichen: Zweifellos ist die Kritik Vasaris, des ersten Kunsthistorikers der Renaissance, an der gotischen Kunst ungerecht (er spricht von ihr als einem Fluch, der über Italien verbreitet war), dennoch erscheint sie gerechtfertigt angesichts der Notwendigkeit einer radikalen Abgrenzung des Neuen vom Alten, die es dem Neuen erst ermöglicht, sich zu profilieren und sodann zu expandieren. Aus dieser Perspektive lassen sich auch Aussagen Marinettis wie die folgende erklären: È dall’Italia, che noi lanciamo pel mondo questo nostro manifesto di violenza travolgente ed incendiaria, col quale fondiamo oggi il Futurismo, perché vogliamo liberare questo paese dalla sua fetida cancrena di professori, d’archeologhi, di ciceroni e d’antiquarii. Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt, mit dem wir heute den ‚Futurismus‘ gründen, denn wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Anti10 quare befreien.

Die Vorgehensweise Marinettis lässt sich noch klarer anhand zweier Pamphlete beobachten, die gegen die spätromantische Vorliebe für den feinen Schein des Mondlichts und die sterbende Stadt par excellence – Venedig – gerichtet sind. Man denke nur an den Roman D’Annunzios Il fuoco (1900), der dort spielt, oder an den späteren, der so genannten De-

10 Marinetti 1909, S. 7; in der dt. Übs. S. 5 (kursiv im Original). Im Namen der Technik wird der Erinnerung an die Vergangenheit der Krieg erklärt, auch wenn die Geschichte unter den Begriffen der „Italianität“, „Romanität“ und „Latinität“ in ideologisierter Funktion wieder auftauchen wird.

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kadenz zugerechneten Roman von Thomas Mann, Tod in Venedig (1912). Noi ripudiamo l’antica Venezia estenuata e sfatta da voluttà secolari [...]. Ripudiamo la Venezia dei forestieri, mercato di antiquari falsificatori, calamita dello snobismo e dell’imbecillità universali, letto sfondato da carovane di amanti, semicupio ingemmato per cortigiane cosmopolite, cloaca massima del passatismo. Wir lehnen das alte, von jahrhundertelanger Wollust erschöpfte und verblühte Venedig ab […]. Wir lehnen das Venedig der Fremden ab, den Markt von Antiquitätenfälschern, den Magnet des universellen Snobismus und der universellen Blödheit, das von Karawanen von Liebenden durchgelegene Bett, die, [sic] mit Edelsteinen besetzte Sitzwanne für kosmopolitische Kurtisanen, die größte 11 Kloake des Passatismus.

Wieder einmal teilen der Literat Marinetti und die futuristischen bildenden Künstler die gleiche Auffassung: Noi vogliamo combattere accanitamente la religione fanatica, incosciente e snobistica del passato, alimentata dall’esistenza nefasta dei musei. Ci ribelliamo alla supina ammirazione delle vecchie tele, delle vecchie statue, degli oggetti vecchi e all’entusiasmo per tutto ciò che è tarlato, sudicio, corroso dal tempo, e giudichiamo ingiusto, delittuoso, l’abituale disdegno per tutto ciò che è giovane, nuovo e palpitante di vita. [...] Ed ecco le nostre conclusioni recise: Con questa entusiastica adesione al futurismo, noi vogliamo: 1. Distruggere il culto del passato, l’ossessione dell’antico, il pedanti[12] 2. Disprezzare profondamente smo e il formalismo accademico. ogni forma di imitazione. 3. Esaltare ogni forma di originalità, an[13] 8. Rendere e magnifiche se temeraria, anche se violentissima. care la vita odierna, incessantemente e tumultuosamente trasfor[14] mata dalla scienza vittoriosa. Wir wollen unerbittlich gegen den fanatischen, unverantwortlichen und snobistischen Kult der Vergangenheit kämpfen, der sich aus der unheilvollen Existenz der Museen nährt. Wir lehnen uns gegen die blinde Bewunderung alter Bilder, alter Statuen und aller alten Gegenstände auf und gegen die Begeisterung für alles, was wurm11 Altomare, L[ibero] u.a.: „Contro Venezia passatista“ (27.4.1910), in: De Maria 1973 (wie Anm. 8), S. 26-30; Zitat S. 26f. Dt.: „Manifest gegen das passtistische Venedig“, in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 8), S. 16. 12 Nicht die Vergangenheit als solche wird hier abgeschnitten, sondern der Kult derselben, der die Gegenwart verdrängt. 13 Das bedeutet, dass der Spontaneität des Künstlers der Vorzug gegeben wird. 14 Demnach ist das zeitgenössische Leben Quelle und Gegenstand der neuen Kunst.

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GRAZIA DOLORES FOLLIERO-METZ stichig, schmutzig und von der Zeit zerfressen ist; und wir halten die übliche Verachtung für alles, was jung, neu und voller Leben ist, für ungerecht und verbrecherisch. [...] Und dies sind unsere kurzen und bündigen Schlußfolgerungen. Mit dieser enthusiastischen Zustimmung zum Futurismus wollen wir: 1. den Kult der Vergangenheit, die Besessenheit für das Alte, die Pedanterie und den akademischen Formalismus zerstören; 2. zutiefst jede Form der Nachahmung verachten; 3. jede Form von Originalität, sei sie auch noch so verwegen oder heftig, preisen; [...] 8. das heutige Leben, das die siegreiche Naturwissenschaft unaufhörlich und stürmisch 15 verwandelt, wiedergeben und verherrlichen.

1.3

Eine Technik für die neue Kunst

Aber wenn man eine neue Kunst schaffen will, ist es mit blinder Zerstörungswut auf alles Alte sowie mit programmatischen Erklärungen nicht getan. Der Futurismus destruiert nicht nur, er konstruiert auch etwas – nämlich eine Technik, die der entstehenden neuen Kunst entspricht. Obwohl Marinettis „Technisches Manifest der futuristischen Literatur“ (aus dem Jahre 1912) später erschienen ist als die beiden wichtigen Schriften der futuristischen bildenden Künstler von 1910, ist es doch von zentraler Bedeutung für die Literatur. Die kurze Programmschrift, die die nachfolgende literarische Praxis in Europa sehr beeinflusst hat, ist zu einer einheitlichen Sicht der Wirklichkeit vorgedrungen, namentlich einem radikalen materialistisch-technizistischen Monismus. Eckstein des „Technischen Manifests“ ist m.E. Punkt 11, worin die Zerstörung des Ich als menschliches Subjekt vorausgesagt und empfohlen wird. Diese Absage an das Ich wird notwendig auf der Basis eben jenes o.g. materialistischen Monismus: Distruggere nella letteratura l’io, cioè tutta la psicologia. L’uomo, completamente avariato dalla biblioteca e dal museo, sottoposto a una logica e ad una saggezza spaventose, non offre assolutamente più interesse alcuno. Dunque, dobbiamo abolirlo nella letteratura, e sostituirlo finalmente colla materia, di cui si deve afferrare l’essenza a colpi d’intuizione, la qual cosa non potranno mai fare i fisici, né i chimici. Sorprendere attraverso gli oggetti in libertà e i motori capricciosi, la respirazione, la sensibilità e gli istinti dei metalli, delle pietre, del legno, ecc. Sostituire la psicologia dell’uomo, ormai esaurita, con l’ossessione lirica della materia. [...] La materia fu sempre contemplata da un ,io‘ distratto, freddo, troppo preoccupato di sé stesso, pieno di pregiudizi di saggezza e di ossessioni umane. [...] Solo il poeta asintattico e dalle parole sle15 Boccioni u.a. 1910, S. 20ff.; in der dt. Übs. S. 11 u. 13.

FUTURISMUS UND HERMETISMUS

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gate potrà penetrare l’essenza della materia e distruggere la sorda ostilità che la separa da noi. [...] Dopo il regno animale, ecco iniziarsi il regno meccanico. Con la conoscenza e l’amicizia della materia, della quale gli scienziati non possono conoscere che le reazioni fisico-chimiche, noi prepariamo la creazione dell’uomo meccanico dalle parti cambiabili. Noi lo libereremo dall’idea della morte, e quindi dalla morte stessa, suprema definizione dell’intelligenza logica. MAN MUSS DAS ‚ICH‘ IN DER LITERATUR ZERSTÖREN, das heißt die ganze Psychologie. Der durch die Bibliotheken und Museen vollkommen verdorbene, einer entsetzlichen Logik und Weisheit unterworfene Mensch ist ganz und gar ohne Interesse. Wir müssen ihn also in der Literatur abschaffen. An seine Stelle muß endlich die Materie treten, deren Wesen schlagartig durch Intuition erfaßt werden muß, was Physiker und Chemiker niemals erreichen werden. Über die befreiten Gegenstände und die launischen Motoren müssen die Atmung, die Sensibilität und die Instinkte der Metalle, der Steine, des Holzes usw. erfaßt werden. An die Stelle der längst erschöpften Psychologie des Menschen muß DIE LYRISCHE BESESSENHEIT DER MATERIE treten. [...] [Die Materie ist immer von einem abwesenden, kalten Ich betrachtet worden, das zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, voll von den Vorurteilen der Weisheit und menschlichen Obsessionen. (...) Nur der asyntaktische Dichter, der Dichter der unverbundenen Worte wird das Wesen der Materie durchdringen können und die dumpfe Feindseligkeit, die sie von uns trennt, zerstören.] [...] Nach dem Reich der Lebewesen beginnt das Reich der Maschinen. Durch Kenntnis und Freundschaft der Materie, von der die Naturwissenschaftler nur die physikalisch-chemischen Reaktionen kennen können, bereiten wir die Schöpfung des MECHANISCHEN MENSCHEN MIT ERSATZEILEN vor. Wir werden ihn vom Todesgedanken befreien und folglich auch vom Tode, dieser höchsten De16 finition logischer Intelligenz.

Der Kern der Aussage liegt in dieser monistischen Anschauung des materiellen Ganzen und in seiner technizistischen Anwendung; alles Übrige ist eine Konsequenz davon. Wenn das Wirkliche ein immer breiterer Strom aus physikalischen und chemischen Lebensformen ist, so erklärt dies auch, dass es keinen Grund mehr gibt, einen Primat des menschlichen Subjekts aufrechtzuerhalten. Weder eine Literatur, die dem menschlichen Leben und seinen gesellschaftlichen Gegebenheiten verbunden 16 Marinetti, F.T.: „Manifesto tecnico della letteratura futurista“ (1912), in: De Maria 1973 (wie Anm. 8), S. 77-91; Zitate S. 81f. u. 84 (Kursiva im Original fett). Dt.: „Technisches Manifest der futuristischen Literatur“, in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 8), S. 24-27; Zitate S. 26 u. 27 (Großschreibung im Original). Der Einschub in eckigen Klammern fehlt in dieser Ausgabe und geht auf eine Übersetzung der Vf.in zurück.

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war wie der Realismus, noch eine, die sich der Beschreibung seelischer Zustände widmete, wie der Naturalismus oder der Dekadentismus, vermag den veränderten Anforderungen gerecht zu werden. Hier wird eine neue Literatur geboren, die andere Sinne und Gesichtspunkte privilegiert: Bisogna introdurre nella letteratura tre elementi che furono finora trascurati: 1. Il rumore (manifestazione del dinamismo degli oggetti); 2. Il peso (facoltà di volo degli oggetti); 3. L’odore (facoltà di sparpagliamento degli oggetti). Außerdem müssen drei Elemente in die Literatur eingeführt werden, die bisher vernachlässigt wurden: 1. DER LÄRM (Manifestation des Dynamismus der Gegenstände); 2. DAS GEWICHT (Flugvermögen der Gegenstände); 3. DER GERUCH (Streuvermögen 17 der Gegenstände).

Marinettis genaues Verständnis der bisherigen grammatikalischen Strukturen versetzt uns heute in Erstaunen. Die Renaissance hatte ausgiebigen Gebrauch vom Bild des menschlichen Körpers gemacht, der als Maß aller Dinge galt, und es auch konkret angewendet, z.B. in den Lehren der Perspektive und der Architektur bei Alberti, Leonardo und Vasari. Dieses Paradigma des menschlichen Körpers ist es, zu dem Marinetti zurückkehrt – allerdings, um sich davon loszusagen: Bisogno furioso di liberare le parole, [vgl. Abb. 3; G.F.-M.] traendole fuori dalla prigione del periodo latino! Questo ha naturalmente, come ogni imbecille, una testa previdente, un ventre, due gambe e due piedi piatti, ma non avrà mai due ali. Stürmisches Bedürfnis, die Worte zu befreien, sie aus dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus zu ziehen! Dieser hat natürlich, wie alle Dummköpfe, einen vorausschauenden Kopf, einen Bauch, zwei Beine und zwei Plattfüße, aber er wird niemals zwei Flügel 18 haben.

17 Marinetti 1912, S. 82 (Kursiv im Original fett); in der dt. Übs. S. 26 (Großschreibung im Original). 18 Marinetti 1912, S. 77; in der dt. Übs. S. 24.

FUTURISMUS UND HERMETISMUS

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Abbildung 3: F.T. Marinetti: Parole in libertà – Irredentismo (1914)

Der Satzbau der klassischen Sprachen ist in der Tat in seiner Konstruktion dem menschlichen Körper, der von einem Haupt gekrönt ist, vergleichbar; dieses ist das Subjekt, von dem alles andere abhängt. Aber in einer homogenen materiellen Sicht des Ganzen wird ein menschliches Haupt als dessen Krone sinnlos. Daher muss Marinetti, nachdem er die Zerstörung der Psychologie befürwortet hat, weil diese die menschliche Seele beschreibt, folglich auch die Destruktion der Grammatik und der Syntax verkünden, denn diese sind nach dem Maß des Menschen gebildet. 1. Bisogna distruggere la sintassi [...]. 2. Si deve usare il verbo all’infinito [...]. Il verbo all’infinito può, solo, dare il senso della continuità della vita e l’elasticità dell’intuizione che la percepisce. 3. Si deve abolire l’aggettivo [...]. 4. Si deve abolire l’avverbio [...]. 5. Ogni sostantivo deve avere il suo doppio, cioè il sostantivo deve essere seguito, senza congiunzione, dal sostantivo a cui è legato per analogia. Esempio: uomo-torpediniere, donna-golfo, folla-risacca, [19] […] 6. Abolire anche la puntegpiazza-imbuto, porta-rubinetto. giatura. [...] 8. Non vi sono categorie d’immagini, nobili o grossolane o volgari, eccentriche o naturali. L’intuizione che le percepisce non ha né preferenze né partiti-presi. Lo stile analogico è dunque padrone assoluto di tutta la materia e della sua intensa vita. MAN MUSS DIE SYNTAX […] ZERSTÖREN [...]. 2. MAN MUSS DAS VERB IM INFINITIV GEBRAUCHEN [...]. Nur das 19 Die Analogien bestätigen die Einheit, ohne Hierarchien und ohne Distinktionen, der gesamten lebendigen – nicht geschaffenen, sondern bloß existierenden – Welt.

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GRAZIA DOLORES FOLLIERO-METZ Verb im Infinitiv kann das Gefühl für die Fortdauer des Lebens und die Elastizität der Intuition, durch die sie wahrgenommen wird, vermitteln. 3. MAN MUSS DAS ADJEKTIV ABSCHAFFEN [...]. 4. MAN MUSS DAS ADVERB ABSCHAFFEN [...]. 5. JEDES SUBSTANTIV MUSS SEIN DOPPEL HABEN, d.h. jedem Substantiv muß ohne Bindewort das Substantiv folgen, dem es durch Analogie verbunden ist. Beispiel: Mann-Torpedoboot, Frau-Meerbusen, Menge-Brandung, Platz-Trichter, Tür-Wasserhahn. […] 6. AUCH DIE ZEICHENSETZUNG MUSS ABGESCHAFFT WERDEN. […] 8. ES GIBT KEINE BILDKATEGORIEN, die vornehm, grob oder vulgär, übertrieben oder natürlich sind. Die Intuition, die sie wahrnimmt, kennt weder Vorliebe noch Voreingenommenheit. Der Analogie-Stil ist folglich unumschränkter Herr 20 der ganzen Materie und ihres intensiven Lebens.

Sobald die hierarchische Ordnung der Natur wie auch der Kultur aufgehoben ist, und mit ihr deren Spiegel, die hierarchisch geordnete Welt der alten Syntax, tritt an die Stelle der Ersteren der Fluss des Lebens – vom Anorganischen bis hin zum Technischen – und an die Stelle der Letzteren ein verstärkter Gebrauch sprachlicher Analogien: 7. [...] V’è in ciò una gradazione di analogie sempre più vaste, vi sono dei rapporti sempre più profondi e solidi, quantunque lontanissimi. L’analogia non è altro che l’amore profondo che collega le cose distanti, apparentemente diverse ed ostili. Solo per mezzo di analogie vastissime uno stile orchestrale, ad un tempo policromo, polifonico, e polimorfo, può abbracciare la vita e la materia. 7. […] Es ist dies eine ABSTUFUNG VON IMMER AUSGEDEHNTEREN ANALOGIEN, und es bestehen immer tiefere und festere, wenn auch sehr fernliegende Beziehungen. […] Analogie ist nur die tiefe Liebe, die fernstehende, scheinbar verschiedene und feindliche Dinge verbindet. Nur durch sehr ausgedehnte Analogien kann ein orchestraler Stil, der gleichzeitig polychrom, poly21 phon und polymorph ist, das Leben der Materie umfassen.

Die einzige Möglichkeit, eine solche Masse an Materie zu beherrschen, bietet die Intuition, und auch hier scheint, was Marinetti sagt, in sich schlüssig. Noch einige weitere seiner Thesen seien an dieser Stelle erwähnt: Wenn alles Teil der Materie ist, wird es auf dem Gebiet der Ästhetik keine Hierarchien mehr geben, keinen Unterschied zwischen Schönheit und Hässlichkeit nach geistigen Kriterien, vielmehr wird alles neutral und gleichermaßen darstellungswürdig sein. Wenn alles homo20 Marinetti 1912, S. 77ff. (Kursiva im Original fett); in der dt. Übs. S. 24f. (Großschreibung im Original). 21 Marinetti 1912, S. 79 (Kursiva im Original fett); in der dt. Übs. S. 25 (Großschreibung im Original).

FUTURISMUS UND HERMETISMUS

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gene Materie ist, wird es keine Herrschaft der Rationalität über das Reich des Irrationalen mehr geben, sondern nur die Möglichkeit einer Überbrückung, dank der Intuition, zwischen verschiedenen Domänen des Seienden. Schließlich wird es, ausgehend von eben dieser Prämisse der Einheitlichkeit alles Lebendigen, keinen Bruch zwischen unterschiedlichen Daseinskategorien mehr geben, sondern eine umfassende Kontinuität von Materie und mechanischem Leben: 10. Siccome ogni specie di ordine è fatalmente un prodotto dell’intelligenza cauta e guardinga bisogna orchestrare le immagini [22] [...] Noi disponendole secondo un maximum di disordine. inventeremo insieme ciò che io chiamo l’immaginazione senza fili. [...] Facciamo coraggiosamente il brutto in letteratura, e uccidiamo dovunque la solennità. [...] Poeti futuristi! Io vi ho insegnato a odiare le biblioteche e i musei, per prepararvi a odiare l’intelligenza, ridestando in voi la divina intuizione [...]. Mediante l’intuizione, vinceremo l’ostilità apparentemente irriducibile che separa la nostra carne umana dal metallo dei motori. 10. Da jede Art von Ordnung notwendig das Produkt eines vorsichtigen und behutsamen Verstandes ist, muß man die Bilder orchestrieren und sie nach der GRÖSSTMÖGLICHEN UNORDNUNG verteilen. [...] Zusammen werden wir erfinden, was sich [sic!] DRAHTLOSE PHANTASIE nenne. [...] FÜHREN WIR MUTIG DAS ‚HÄSSLICHE‘ IN DIE LITERATUR EIN, UND TÖTEN WIR DIE FEIERLICHKEIT, WO IMMER WIR SIE FINDEN. [...] Futuristische Dichter! Ich habe euch gelehrt, Bibliotheken und Museen zu hassen, um euch darauf vorzubereiten, DIE INTELLIGENZ ZU HASSEN, und ich habe in euch die göttliche Intuition wieder erweckt [...]. Mit Hilfe der Intuition werden wir die scheinbar unbeugsame Feindschaft besiegen, die unser 23 menschliches Fleisch vom Metall der Motoren trennt.

Eine weitere Bemerkung Marinettis lautet folgendermaßen: Giungeremo un giorno ad un’arte ancor più essenziale, quando oseremo sopprimere tutti i primi termini delle nostre analogie per non dare più altro che il seguito ininterrotto dei secondi termini. Bisognerà, per questo, rinunciare ad essere compresi. Esser compresi, non è necessario. Eines Tages werden wir zu einer noch essentielleren Kunst gelangen, wenn wir erst die ersten Glieder unserer Analogien zu unterdrücken wagen und nur noch die ununterbrochene Folge der zwei22 Diese Aussage, zusammen mit der zuvor zitierten (s.o. unter Punkt 7), begründet m.E. den Surrealismus. 23 Marinetti 1912, S. 81 u. 84 (Kursiva im Original fett); in der dt. Übs. S. 26 u. 27 (Großschreibung im Original).

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GRAZIA DOLORES FOLLIERO-METZ ten Glieder geben. Wir müssen zu diesem Zweck darauf verzich24 ten, verstanden zu werden. Verstanden zu werden ist unnötig.

Damit hatte Marinetti den Weg für den nachfolgenden italienischen Hermetismus bereitet.

1.4

Marinettis Übergang zur privaten Dichtung

Dass Marinetti vielleicht fühlte, der Komplexität des Existierenden nicht ganz gerecht geworden zu sein, bezeugen seine ‚privaten‘ Dichtungen in französischer Sprache an seine Frau Benedetta. In einigen dieser Gedichte räumt er den vom offiziellen Futurismus verneinten Rechten des Herzens und der Menschlichkeit Platz ein. Das folgende Beispiel lässt auf elegante Weise auch einen Hauch Selbstironie erahnen: Ballade à Beny Passer languissamment de l’acier à la rose Puiser un peu d’aurore au cœur même du soir Sourire à l’Infini qui nous cache l’espoir Laisser notre avenir tomber comme une poire Un doux laisser-aller est une bonne chose. [...] Envoi: Je te dédie ces quinze vers alexandrins Tous domptés par la loi et soumis au destin Tu préfères un vers libre aime-les néanmoins Et n’oublie pas que ce vieux mot Fidelité 25 Est le plus neuf de tous les mots en liberté.

Marinetti deutet also selbst den Übergang zum ‚dritten Weg‘ der italienischen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit zur Wiederentdeckung des Menschen im modernen Zeitalter an.

24 Marinetti 1912, S. 83; in der dt. Übs. S. 26f. 25 Marinetti, Filippo Tommaso: Poésie à Beny, Turin 1971, S. 23 (frz. Rechtschreibung folgt der zitierten Ausgabe).

FUTURISMUS UND HERMETISMUS

2.

219

Giuseppe Ungaretti26 – Das Leben eines Menschen

Wenn die Eingangsmetapher der Wüste sich sowohl auf den ersten Roman Marinettis, Mafarka der Futurist (1910), berufen hat, der in der Wüste spielt, als auch auf seine Reduktion der vorherigen Kultur auf eine tabula rasa, so behält diese Metapher ihre Gültigkeit auch in Bezug auf Ungaretti, obgleich in ganz anderer Bedeutung. Ungaretti nennt eines seiner Gedichte „Canto beduino“, zu Deutsch das Lied eines Nomaden oder Wüstensohnes.27 Eine andere Dichtung heißt bezeichnenderweise „Girovago“ („Landstreicher“).28 Im Falle Ungarettis geht es nicht um eine selbst geschaffene, sondern um eine vorgefundene, nicht gewollte Wüste, mit der er sich arrangieren musste. Während die Sekundärliteratur über Marinetti dröhnende Titel trägt, wie z.B. „Das Koffein Europas“29 oder Der Lärm der Straße,30 wählte Ungaretti für seine gesammelte dichterische Produktion einen viel schlichteren Titel: Vita d’un uomo. Der zweite Teil dieses Beitrags wird daher zu klären versuchen, um was für einen Menschen und um welche existentielle bzw. literarische Wüste es sich bei Ungaretti handelt, der ebenso wie Marinetti ganz ein Mensch und Autor des 20. Jahrhunderts ist.

2.1

Formale Neuerungen

Die Gedichte Ungarettis, vor allem diejenigen, die im Folgenden besprochen werden sollen, sind mit Farbflecken verglichen worden, die ein weißes Blatt unterbrechen (Glauco Cambon). Dieser Vergleich ist möglich, da Ungaretti dort anfängt, wo Marinetti aufgehört hat: Er verwendet „Worte in Freiheit“, eine karge Syntax, keine Interpunktion, freie Verse. 26 Lebensdaten: 10.2.1888 (Alexandria, Ägypten) – 1.6.1970 (Mailand). Zu Ungaretti siehe auch Ferrata, Giansiro (Hrsg.): La Voce, 1908-1916, Rom 1961; Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik (1956), Hamburg 1962; Cambon, Glauco: La poesia di Ungaretti, Turin 1976; Görner, Elisabeth: Ungarettis frühe Schriften zur Literatur, Tübingen 1996 sowie Baader, Angelika: Unschuld und Gedächtnis, München 1997. 27 „Canto beduino“ (1932), siehe in: Ungaretti, Giuseppe: Vita d’un uomo. Tutte le poesie. Leone Piccioni (Hrsg.), Mailand 1969, S. 189. Dt.: „Beduinenlied“, in: ders.: Gedichte. Übertragung u. Nachwort v. Ingeborg Bachmann, Frankfurt a.M. 1961, S. 117. 28 „Girovago“ (Mai 1918), siehe in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 85. Dt.: „Landstreicher“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 87. 29 Lemaire, Gérard-Georges: „La Caféine d’Europe“ (Préface), in: F.T. Marinetti: Mafarka le futuriste, Paris 1984, S. 7-14; Echaurren, Pablo: Caffeina d’Europa. Vita di F.T. Marinetti, Siena 1988. 30 Nobis 2001 (wie Anm. 7).

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Mit einem Wort kann man von dem notwendigen ‚Fragmentarismus‘ seines Stils (Natalino Sapegno) sprechen – einem notwendigen, weil seine Dichtung einer intensiven, aber flüchtigen und blitzartigen Inspiration entspringt. Noch 1937 schrieb Ungaretti dazu: voglio richiamare la vostra attenzione su questo punto: la poesia è un linguaggio estremamente, supremamente sintetico: il poeta, lo scrittore a mezzo della sua sensibilità, del suo sentimento, della sua mente raccoglie tante cose che sono nell’aria, intorno a sé, ed egli per intuizione troverà l’immagine, nella quale tutto quel mondo si vedrà assonnato ed espresso. Il poeta opera dunque per fantasia – non dico per magia o per incantamenti, come s’è potuto credere – e il suo linguaggio sarà necessariamente, in un certo senso, più o meno, ermetico. Ich möchte eure Aufmerksamkeit auf diesen Punkt lenken: Die Dichtung ist eine extrem synthetische Sprache. Der Dichter, der Schriftsteller pflückt – mittels seiner Empfindsamkeit, seines Gefühls, seines Geistes – sehr viele Dinge, die in der Luft liegen, ihn umgeben. Und er wird durch Intuition [wie Marinetti; G.F.-M.] jenes Bild finden, in dem die ganze Welt sich ausgedrückt sehen wird. Der Dichter wirkt daher durch seine Einbildungskraft – ich sage nicht durch Magie oder Zauberei, wie man hätte glauben können –, und seine Sprache wird notwendigerweise mehr oder weni31 ger hermetisch sein.

Jedoch ist Ungaretti nicht etwa, wie man seinen bis hierher zitierten Äußerungen entnehmen könnte, ein treuer Marinetti-Schüler, denn obwohl er sich dessen Sprachreform bedient, entfernt er sich von ihm, was den Inhalt seiner Dichtung anbelangt. Gegenstand seiner Lyrik ist die zentrale Erfahrung der conditio humana – das Leiden und sein paradoxer Kontrapunkt, das Hoffen: […] Ungaretti / uomo di pena / ti basta un’illusione / per farti coraggio […] […] Ungaretti / Dulder / dir genügt eine Illusion / um dir Mut zu 32 machen […] E subito riprende / il viaggio / come / dopo il naufragio / un superstite / lupo di mare

31 Ungaretti, Giuseppe: Invenzione della Poesia Moderna, Lezioni brasiliane di letteratura (1937-1942). Paola Montefoschi (Hrsg.), Neapel 1984, S. 140 (Übersetzung und Kursivierungen der Vf.in). 32 „Pellegrinaggio“ (16.8.1916), in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 46. Dt.: „Wallfahrt“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 51.

FUTURISMUS UND HERMETISMUS

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Und plötzlich nimmst du / die Fahrt wieder auf / wie / nach dem 33 Schiffbruch / ein überlebender / Seebär

Die beiden Elemente Leiden und Hoffen, die Ungarettis Weg als Dichter wie als Mensch begleiten werden, verraten also eine völlig andere Sicht der Dinge als wir sie von Marinetti kennen. Die Universalgeschichte zeigt sich dem Einzelnen in ihrer ganzen Macht und führt ihm seine eigene Ohnmacht vor Augen (wichtige Gedichtsammlungen Ungarettis sind während des Ersten und Zweiten Weltkriegs entstanden), und doch ist der Einzelne nicht allein, er kann sich mitteilen, am ehesten, wenn er ein Dichter ist. Die Gabe der Dichtung, die Ungaretti besaß und die er zu besitzen wusste, bot ihm vor allem die Möglichkeit, anderen seine Erfahrungen zu schildern. Das Gedicht in memoriam seines verstorbenen Jugendfreundes Mohammed Sheab beispielsweise beendet er mit den Worten: […] E forse io solo / so ancora / che visse […] Und ich allein / weiß vielleicht noch / daß er lebte34

2.2

Die Metapher des „versunkenen Hafens“

Leone Piccioni, der offizielle Biograph und vielleicht beste Kenner Ungarettis, setzt, in harter Polemik gegen den Futurismus, das Jahr 1916, in dem der Lyriker sich von seinen frühen futuristischen Experimenten verabschiedet und die Anthologie Il porto sepolto (Der versunkene Hafen) veröffentlicht, als Geburtsstunde der neuen italienischen Dichtung des Novecento an.35 Was den geistigen Standpunkt betrifft, markiert dieses dichterische Werk einen tiefen Bruch Ungarettis mit den Futuristen. Wie jene war auch er von dem Wunsch getrieben, die modernen Zeiten künstlerisch zu erfassen. Am 15. April 1916, während der Arbeit am Porto, schreibt Ungaretti an Carrà: ,Sono tormentato da un problema che giudico il problema dei problemi, che credo anche il tuo, cosa di passione. [...] Vorrei arrivare a realizzazioni assolute; a una unificazione dove fosse dato risalto 33 „Allegria di naufragi“ (14.2.1917), in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 61. Dt.: „Freude der Schiffbrüche“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 67. 34 „In memoria“ (30.9.1916), in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 21f.; Zitat S. 22. Dt.: „In Memoriam“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 21-23; Zitat S. 23. 35 Siehe Piccioni, Leone (Hrsg.): Ungarettiana. Lettura della poesia, aneddoti, epistolari inediti, Florenz 1980, S. 17.

222

GRAZIA DOLORES FOLLIERO-METZ [...] alla gravità e insieme alle vibrazioni, fino alle sfumature infinitesimali di questa nostra vita moderna.‘ Ich werde von einem Problem gequält, das ich für das Problem der Probleme halte, wahrscheinlich ist es auch Dein Problem, es ist eine Sache der Leidenschaft. [...] Ich möchte zu absoluten Realisierungen gelangen; ich möchte eine Vereinigung erreichen, in der sowohl der Ernst als auch alle Schwingungen, die infinitesimalen Schattierungen dieses unseres modernen Lebens hervorgehoben 36 würden.

Dringend erklärungsbedürftig ist hier die Metapher des „versunkenen Hafens“, macht sie doch den Wert des dichterischen Wortes bei Ungaretti deutlich. Ein im Wasser versunkener Hafen aus der Zeit der Pharaonen war während seiner Jugend im alten römischen Hafen Alexandrias entdeckt worden. Diese konkrete Begebenheit deutete Ungaretti metaphorisch wie folgt: Der Dichter ist ein Unterwasser-Archäologe, der in die Tiefe eintaucht, um einen verborgenen Schatz zu enthüllen; was er dort vorfindet, wird er an die Oberfläche heben und der Welt in seinen Liedern kundtun, sich dessen wohl bewusst, dass er nur Bruchstücke gesehen hat und das Meiste im Verborgenen zurückbleiben wird. Vi arriva il poeta / e poi torna alla luce con i suoi canti / e li disperde // Di questa poesia / mi resta / quel nulla / d’inesauribile segreto Dort kommt der Dichter an / und wendet sich dann zum Licht mit seinen Gesängen / und er verstreut sie // Von diesem Gedicht / 37 bleibt mir / jenes Nichts / von unerschöpflichem Geheimnis

Während Marinetti Altertümer und Altertumsforscher verachtet hatte, nimmt Ungaretti dem dichterischen Wort gegenüber eine doppelte Position ein: Das moderne dichterische Wort zu finden, ist Entdeckung, das alte dichterische Wort zu finden eine Wiederentdeckung. Die alte Literatur behält damit einen bleibenden Wert. Als er die Gedichtsammlung rund um den „versunkenen Hafen“ beendete, hielt Ungaretti bezüglich des dichterischen Worts fest: […] poesia / è il mondo l’umanità / la propria vita / fioriti dalla parola / la limpida meraviglia / di un delirante fermento // Quando trovo / in questo mio silenzio / una parola / scavata è nella mia vita come un abisso 36 Zitiert nach ebd., S. 18 (eigene Übs.). 37 „Il porto sepolto“ (29.6.1916), in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 23. Dt.: „Der begrabene Hafen“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 25.

FUTURISMUS UND HERMETISMUS

223

[…] Poesie / ist die Welt die Menschheit / das eigene Leben / blühen gemacht vom Wort / das klare Wunder / eines fiebernenden Ferments // Wenn ich in diesem / meinem Schweigen / ein Wort 38 finde / ist es in mein Leben gegraben / wie ein Abgrund

In Bezug auf die Wiederentdeckung des schon gesprochenen dichterischen Wortes hat Ungaretti keine Hemmungen, die Literaturgeschichte als eine Geschichte des Geistes zu bezeichnen, als eine Antwort auf die wiederkehrenden Grundsituationen menschlichen Leidens und Hoffens. Aus diesem Grunde verfolgt er das italienische Wort quer durch die Jahrhunderte und ziert sich auch nicht, im reiferen Alter scheinbar weit entfernte Autoren wie die barocken Schriftsteller Góngora, Shakespeare oder Racine ins Italienische zu übersetzen: Ora, noi che usiamo, per esempio, l’italiano che oggi si parla, non avremo piena coscienza di quell’eredità di sapere che racchiudono le nostre parole, se non avremo seguito, attraverso i secoli, il variare dello spirito che ha animato questa lingua, trasformandola, portandola ad assumere anche, non di rado, nel particolare significato d’un vocabolo, un viso costantemente nuovo. Questa è la storia d’una letteratura, cioè storia d’un muoversi, d’un andare senza soste dello spirito umano. Wir, die wir z.B. das heute gesprochene Italienisch benutzen, hätten kein volles Bewusstsein von jenem Erbe des Wissens, das unsere Worte in sich bergen, wenn wir dem Wandel des Geistes, der diese Sprache beseelt und verändert hat, nicht über Jahrhunderte gefolgt wären. Diese geistigen Veränderungen brachten nicht selten die Sprache dazu, in der besonderen Bedeutung eines Wortes stets neue Aspekte sichtbar werden zu lassen. Dies ist die Geschichte einer Literatur, d.h. die Geschichte eines sich Bewegens, eines pau39 senlosen Gangs des menschlichen Geistes.

Abschließend soll ein Einblick in die Art und Weise gegeben werden, wie Ungaretti in der Anthologie Allegria di naufragi einige zentrale Erfahrungen seines nomadischen Lebens beschreibt. Während des Ersten Weltkriegs war er einfacher Soldat im harten Schützenkrieg an der Front. Mit Hilfe einer schlichten Sprache, ohne Interpunktion, ohne bombastische Töne entdeckt Ungaretti in jenem von Marinetti so gepriesenen Krieg den Menschen, sein Leiden, seine Tragödie, aber auch jenen einzigartigen Reichtum, der ihm aus seiner Innerlichkeit zufällt. Der Bewegtheit Marinettis steht als Kontrapunkt die Unbeweglichkeit der Lyrik 38 „Commiato“ (2.10.1916), in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 58. Dt.: „Abschied“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 65. 39 Ungaretti 1984, S. 139f. (eigene Übs.).

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Ungarettis gegenüber; das Gegenstück zur Faszination der Technik (für Flugzeuge, gepanzerte Schiffe, U-Boote) bilden noch einmal Lebewesen und Dinge der Natur bzw. einfache Errungenschaften der Kultur (wie Wolf, Schaf, Boot, Ozean, Sterne), die Ahistorizität und der Hass auf die Museen kontrastieren mit der durch das dichterische Wort wieder entdeckten Historizität (ein weiteres Mal sei hier an die Metapher des versunkenen Hafens erinnert).

2.3

Die condition humaine

Das dem Menschen Eigentümliche wird in den frühesten Gedichtsammlungen Ungarettis aus unterschiedlichen Perspektiven und in den verschiedensten Elementen immer wieder entdeckt. An vorderster Stelle muss die Nacktheit und Härte des Lebens erwähnt werden, wie der Soldat Ungaretti sie erfährt: Come questa pietra / del S. Michele / così fredda / così dura / così prosciugata / così refrattaria / così totalmente disanimata // Come questa pietra / è il mio pianto / che non si vede // La morte / si sconta / vivendo Wie dieser Stein / des Hl. Michael / so kalt / so hart / so ausgetrocknet / so widerständig / unbeseelt / so ganz und gar // Wie dieser Stein / ist mein Weinen / man sieht es nicht // Den Tod / 40 büßt man / lebend ab

Auf die Erwähnung der Armut des Menschen folgt die Erinnerung an seine Gabe, Mitmenschen nach deren Tod nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und ihrer zu gedenken. Di queste case / non è rimasto / che qualche / brandello di muro // Di tanti che mi corrispondevano / non è rimasto neppure tanto // Ma nel cuore / nessuna croce manca // È il mio cuore / il paese più straziato Von diesen Häusern / ist nichts geblieben / als ein paar / Fetzen Mauer // Von so vielen / die mit mir waren / ist nicht einmal / soviel geblieben // Aber im Herzen / fehlt kein Kreuz // Es ist mein 41 Herz / das zerstörteste Land

40 „Sono una creatura“ (5.8.1916), in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 41. Dt.: „Ich bin eine Kreatur“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 43. 41 „San Martino del Carso“ (27.8.1916), in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 51. Dt.: „St. Martin vom Karst“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 55.

FUTURISMUS UND HERMETISMUS

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Das Gedächtnis setzt eine geistige oder physische Verwurzelung voraus, die der moderne Mensch trotz seines nomadischen Lebens erlangen kann. […] Ho ripassato / le epoche / della mia vita // Questi sono / i miei fiumi // [...] Questa è la mia nostalgia / che in ognuno / mi traspare / ora ch’è notte / che la mia vita mi pare / una corolla / di tenebre […] Wieder bin ich durch die Zeiten / meines Lebens / gegangen // Dies sind / meine Flüsse // [...] Dies ist meine Sehnsucht / die in jedem Fluß / mir durchscheint / nun da es Nacht ist / da mir mein 42 Leben erscheint / wie eine Blütenkrone / von Finsternissen

Die Seele des Menschen der Moderne ist ebenso nackt und illusionslos wie sein Los. […] Ma ben sola e ben nuda / senza miraggio / porto la mia anima […] Aber recht allein und recht nackt / ohne Blendung / trage ich 43 meine Seele einher

Trotzdem erklingt in der Dunkelheit der Nacht ein brüderliches Wort. Dieses Wort des einsamen Dichters steht im Gegensatz zur Kriegsbejahung der Futuristen. Di che reggimento siete / fratelli? // Parola tremante / nella notte // Foglia appena nata // Nell’aria spasimante / involontaria rivolta / dell’uomo presente alla sua / fragilità // Fratelli Von welchem Regiment seid ihr, / Brüder? // Zitternd das Wort / in der Nacht // Das kaum geborene Blatt // In der erregenden Luft / das ungewollte Aufbegehren / des Mannes / der seine Schwäche / weiß // Brüder44

Wie bereits erwähnt, bildet die Hoffnung den Kontrapunkt zum Leiden, auch wenn diese Hoffnung nur das Gewicht eines Blattes hat:

42 „I fiumi“ (16.8.1916), in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 43-45; Zitat S. 44f. Dt.: „Die Flüsse“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 45, 47 u. 49; Zitat S. 47 u. 49. 43 „Peso“ (29.6.1916), in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 34. Dt.: „Gewicht“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 37. 44 „Fratelli“ (15.6.1916), in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 39. Dt.: „Brüder“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 41.

226

GRAZIA DOLORES FOLLIERO-METZ M’illumino d’immenso 45

Ich erleuchte mich / durch Unermeßliches

Eine letzte Bemerkung sei angefügt: Im Alter kehrte Ungaretti noch einmal nach Brasilien zurück und beschrieb dort, anlässlich einer feierlichen Tagung zu seinen Ehren, rückblickend sein nomadisches Dasein und seine wieder gefundene Heimat folgendermaßen: L’Egitto è la mia Patria natia. [...] [La Francia è] la mia Patria formativa. [...] L’Italia è la mia naturale patria [...] Il Brasile è la mia Patria umana […] Ecco perché chiamo il Brasile la mia Patria umana: mi ha dato, per l’esperienza che vi ho potuto fare, la misura dell’uomo: smisurata di dignità, di potenza, e insieme d’un essere che è nulla. Ägypten ist die Heimat, in der ich geboren bin. Frankreich ist die Heimat, in der ich meine Bildung erhalten habe. Italien ist meine natürliche Heimat. Brasilien ist meine menschliche Heimat. Aus diesem Grunde nenne ich Brasilien meine menschliche Heimat: Die Erfahrung, die ich hier machen konnte, hat mich das menschliche Maß gelehrt: [Der Mensch ist] unendlich an Würde und Macht 46 und zugleich von einem nichtigen Wesen.

Auf der tabula rasa, der Wüste der modernen Literatur war der Mensch der Moderne wie eine karge Knospe wieder erblüht.47

45 „Mattina“ (26.1.1917), in: Ungaretti 1969 (wie Anm. 27), S. 65. Dt.: „Morgen“, in: ders. 1961 (wie Anm. 27), S. 7. 46 Ungaretti 1984, S. 251ff. (eigene Übs.). 47 Giorgio Morandi, der Maler des „stillen Lebens“, der kleinen Dinge, wurde 1952 aufgefordert, eine Gedichtsammlung Ungarettis (Un Grido e Paesaggi) zu illustrieren. Auch die „metaphysische Malerei“ des De Chirico scheint mir, wie ihr Name bereits andeutet, hinter die Erscheinungen blicken zu wollen, um deren Wesen, d.h. ihre verborgenen Bedeutungen zu erfassen. So malt De Chirico statische, ruhige Landschaften, in denen es nicht einmal den kleinen Zügen am Horizont gelingt, Lärm ins Spiel zu bringen (vgl. Abb. 4), oder aber stille Statuen und Gestalten inmitten ruhiger Plätze (siehe Abb. 5). Was diese Bilder ausdrücken möchten, ist die unendliche Ausdehnung der modernen Welt, in der der einzelne Mensch sich verliert und nur als mechanisiertes Wesen wieder zu finden ist. Siehe auch Bruni, Claudio (Hrsg.): Catalogo generale Giorgio De Chirico, Bd. I: Opere dal 1908 al 1930, Venedig o.J.

FUTURISMUS UND HERMETISMUS

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Abbildung 4: Giorgio de Chirico: Le delizie del poeta (1913)

Abbildung 5: Giorgio de Chirico: La ricompensa dell’indovino (1913)

228

3.

GRAZIA DOLORES FOLLIERO-METZ

Schlussfolgerungen

Als Schlussfolgerung soll ein Vergleich dienen. Man hat die Renaissance mitunter als eine nicht kohärente Kunstbewegung definiert, als ein Aggregat aus sich bildenden Monologen. Eine solche fragmentarische Sicht der Renaissance ist wohl möglich, allerdings unter der Prämisse, dass man an einer einheitlichen Bedingung der Möglichkeit aller künstlerischen Monologe festhält, der unverzichtbaren Erfindung der Zentralperspektive. In Analogie dazu kann man den italienischen Novecento als ein Aggregat der verschiedensten künstlerischen und literarischen Monologe sehen, jedoch unter Beibehaltung jener notwendigen Erfahrung der literarischen Wüste, die Marinetti hinterließ. Nach Marinetti ist die italienische Literatur nicht mehr dieselbe geblieben: Eine unmittelbare Beziehung zur klassischen und zur späteren Dichtung hat sich als unmöglich erwiesen. Aber wie bei Ungaretti gesehen, birgt die Wüste in sich neues Leben.

SABINE SCHRADER

„UN PO’ CARNEVALE“ – ZUM PERFORMATIVEN POTENTIAL DER FUTURISTISCHEN SERATE 1.

Die serate als Vorläufer der postmodernen Performances

Spätestens seit Michael Kirbys Futurist Performance (1971) lässt man die Geschichte der Performances in der Regel mit dem Futurismus beginnen,1 konkreter mit den futuristischen serate und Theaterabenden. Im Folgenden soll das performative Potential der serate und der futuristischen Theatermanifeste kritisch hinterfragt werden. Vorab einige Überlegungen zum Begriff der ‚Performanz‘, der seit der Sprechakttheorie von Austin den Handlungscharakter verbaler Äußerungen betont. Bedeutung entsteht erst im Augenblick des Äußerns, „wenn ein Wort nicht nur etwas benennt, sondern etwas performativ herbeiführt und zwar genau das, was es benennt“.2 Theater wiederum ist immer Aufführung und aufgrund seines Ereignischarakters und der physischen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern letztlich „die performative Kunst par excellence.“3 Theaterformen seit den 60er Jahren wie Happenings, Fluxus, die Situationisten, environmental theater, Wiener Aktionismus u.a. radikalisieren sowohl diesen Ereignischarakter als auch die Bedeutung des Zuschauers. Seit den 70er Jahren kommt es durch die Videokunst zu einer Erweiterung, aber auch Ersetzung. In den Theaterwis1 Vgl. Kirby, Michael: Futurist Performance, New York 1971; Goldberg, Roselee: Performance Art: From Futurism to the Present, New York 1979. Aber auch die Forschung zum Futurismus sieht diesen z.T. als Vorläufer der Performance Art; vgl. hierzu Berghaus, Günter: Italian Futurist Theatre 1909-1944, Oxford 1998, S. 59ff. 2 Butler, Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 67. 3 Fischer-Lichte, Erika: „Attraktion des Augenblicks – Aufführung, Performance, performativ und Performativität als theaterwissenschaftliche Begriffe“, in: dies./Christoph Wulf (Hrsg.): Theorien des Performativen. Paragrana, Jg. 10, Nr. 1 (2001), S. 237-254; Zitat S. 241.

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SABINE SCHRADER

senschaften werden die Inszenierungen als Performances bezeichnet, eben weil es vorangig um den Prozess der Herstellung, des Machens von Kunst und der Interaktion geht. Später als in den Künsten kommt es in den Wissenschaften zu einem Perspektivenwechsel. Seit Anfang der 90er Jahre richtet sich der Blick nicht mehr auf das Kunstwerk und seine Referentialität, sondern vielmehr auf „die dynamischen Prozesse (sowohl zwischen den Menschen als auch zwischen den Menschen und ihrer Umgebung), in denen sie hergestellt und verwendet werden.“4 Damit rückt zwangsläufig die Wahrnehmung, die stetigen Veränderungen unterworfen ist, und somit der Zuschauer des Performativen in den Fokus. Im Mittelpunkt meines Interesses steht die erste Phase des Futurismus, in der die Grundlagen für dessen späteres Theater gelegt werden. Als ein Wendepunkt des futuristischen Theaterschaffens kann das Jahr 1915 bezeichnet werden. Mit Entwürfen eines synthetischen Theaters, das die Futuristen auch schon in dem Manifest „Il teatro di varietà“ (Oktober 1913) skizzierten, gehen sie von den radikalen Negationen der Anfangsjahre zu einer konkreten, aktiven Phase über, die sich in zahlreiche Facetten (grotesk, magisch, absurd, exzentrisch etc.) auffächert.5 Einen besonderen Schwerpunkt aller futuristischen Inszenierungen stellt die Interaktion zwischen den Produzenten und den Rezipienten während der Veranstaltungen dar. Nicht zufällig wird im Manifest „Il teatro futurista sintetico“ (1915) proklamiert, dass die szenische Aktion „invaderà platea e spettatori“,6 d.h. Parkett und Zuschauer erobern soll. Zum einen übernimmt das Spektakel die Funktion des ‚Bürgerschreck‘, zum anderen aber möchte es, wie zuerst im Manifest „Il teatro di varietà“ (21.11.1913) dargelegt, zur Mitarbeit anregen.7

4 Gesamtkonzept des Sfb „Kulturen des Performativen“ der Freien Universität Berlin. URL: www.sfb-performativ.de/seiten/frame_gesa.html, 19.2.2004. 5 Vgl. Verdone, Mario: Teatro del tempo futurista (1969), Rom 1988, S. 83106. 6 Marinetti, [Filippo Tommaso]/Settimelli, [Emilio]/Corra, [Bruno]: „Il teatro futurista sintetico“ (11.1.1915-18.2.1915), in: Paolo Fossati: La realtà attrezzata. Scena e spettacolo dei futuristi, Turin 1977, S. 212-218; Zitat S. 217. Dt.: „Das futuristische synthetische Theater“, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart/Weimar 1995, S. 92-95; Zitat siehe S. 94. 7 Vgl. Marinetti, F.T.: „Il teatro di varietà“ (1913), in: Fossati 1977 (wie Anm. 6), S. 204-211. Dt.: „Das Varieté“, in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 6), S. 60-63.

DIE FUTURISTISCHEN SERATE

2.

„un mostro nuovo“ (Boccioni)

2.1

Das Publikum

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In unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum treten die Futuristen gattungsgemäß im Theater. Entscheidend für Marinettis Schritt auf die Bühne ist sicherlich seine Überlegung, dass er dort am ehesten die Italiener erreichen könne: 90 Prozent aller Italiener gingen seiner Meinung nach ins Theater, doch nur 10 Prozent würden Bücher oder Zeitschriften lesen.8 Es ist aber nicht nur die Rezeption, die das Theater für Marinetti attraktiv macht, sondern auch die Unmittelbarkeit der Inszenierung: Fra tutte le forme letterarie, quella che può avere una portata futurista piú immediata è certamente l’opera teatrale. Unter allen literarischen Formen ist es zweifellos das Theater, das die unmittelbarste futuristische Wirkung erzielen kann.9

Schon in Paris lernt Marinetti zum einen die literarischen Cafés kennen, in denen Manuskripte diskutiert werden, und zum anderen die Deklamationsabende. 1899 reist er selbst durch Frankreich, um sein Vortragstalent unter Beweis zu stellen. Seine Tournee setzt er anschließend durch die italienischen Städte fort. 1905 verfasst Marinetti sein erstes Theaterstück Le roi Bombance, am 15. Januar 1909 lässt er sein Roboterdrama La donna è mobile in einem traditionellen Turiner Theater aufführen und bedankt sich schon vor dem letzten Akt bei denjenigen, die die Ehre hatten, das Pfeifkonzert zu organisieren, das das Stück ausgelöst hat. Das Publikum, das sich in seinem Protest nicht ernst genommen fühlt, kommentiert daraufhin lauthals den letzten Akt: E così per tutto l’atto si andò alla caccia di ogni frase, di ogni parola, si pronunciarono parole, interruzioni, commenti, sarcasmi continui, rendendo così impossibile l’audizione dell’atto. Und so jagte man während des gesamten Aktes nach jedem Satz, nach jedem Wort; Worte erklangen, Unterbrechungen, Kommen-

8 Marinetti/Settimelli/Corra 1915 (wie Anm. 6), S. 212; in der dt. Übs. S. 92. 9 Marinetti, F.T.: „Manifesto dei drammaturghi futuristi“ (11.1.1911), in: Fossati 1977 (wie Anm. 6), S. 201-203; Zitat S. 201. Dt.: „Manifest der futuristischen Bühnendichter“, in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 6), S. 19f.; Zitat dort ausgelassen, daher eigene Übs.

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SABINE SCHRADER tare, fortwährende sarkastische Bemerkungen machten es unmög10 lich, dem Akt zuzuhören.

Spätestens hier wird der Skandal zum konstitutiven Element des Futurismus. Darüber hinaus zeichnet sich nicht nur die frühe enge Verbindung zwischen Marinetti und der Bühne ab, sondern parallel dazu auch sein Versuch, sich im Leben zu inszenieren, um bekannter zu werden.11 Am Anfang des Futurismus stehen damit der Inszenierungswille seiner Akteure und die „Aufhebung der Kunst in der Lebenspraxis.“12 Nachdem laut Marinetti das Gründungsmanifest nicht genügend Echo findet, beschließt er, seine Deklamationsabende in die als serate futuriste bekannt gewordenen Veranstaltungen zu überführen. Am ersten futuristischen Abend im ausverkauften Triester Teatro Rossetti (12. Januar 1910) nehmen Marinetti, Aldo Palazzeschi und Armando Mazza teil, 1915 finden die serate ihr Ende. Marinetti eröffnet den Abend in Triest mit einer Ansprache und verkündet das erste Manifest, es folgen Deklamationen von weiteren futuristischen Texten. Angesichts des nahenden Ersten Weltkriegs erhalten im Laufe der Jahre die serate aufgrund ihrer Kriegsverherrlichung eine immer politschere Ausrichtung. In Anlehnung an die Theateraufführung von La donna è mobile (1909) fordert Marinetti das Triester Publikum regelrecht zum Pfeifkonzert auf – auch wenn es zum Teil sehr wohlwollend reagiert hat.13 Zwei Jahre später kodifiziert er den „DISPREZZO DEL PUBBLICO“, „die VERACHTUNG DES PUBLIKUMS“, und die „VOLUTTÀ DI ESSERE FISCHIATI“, „die LUST, AUSGEPFIFFEN zu werden“, als Konstituenten der futuristischen Spektakel.14 Auf diesem Wege etabliert sich erstmals eine Anti-Kunst, die im Ruf nach Zerstörung der Traditionen neue Ausdrucksformen sucht.15

10 Berta, E.A. [sic]: „Teatro Alfieri di Torino“, in: Giovanni Antonucci: Cronache del teatro futurista, Rom 1975, S. 37f.; Zitat S. 37 (eigene Übs.). 11 Vgl. De Ponte, Susanne: Aktion im Futurismus, Baden-Baden 1999, S. 18. Es erfolgt hier eine detaillierte chronologische Auflistung der futuristischen Aktionen (S. 17-90); eine ähnliche, aber mehr auf die politische Intention abhebende Darstellung der serate findet sich bei Berghaus 1998 (wie Anm. 1), S. 85-150. 12 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, S. 69. 13 Vgl. Baumgarth, Christa: Futurismus, Reinbek 1966, S. 39. 14 Marinetti 1911 (wie Anm. 9), S. 201 u. 203 (Großschreibung im Original); in der dt. Übs. S. 19 u. 20 (Großschreibung im Original). 15 Vgl. Stahl, Enno: Anti-Kunst und Abstraktion in der literarischen Moderne (1909-1933): vom italienischen Futurismus bis zum französischen Surrealismus, Frankfurt a.M. 1997, S. 14.

DIE FUTURISTISCHEN SERATE

233

Die futuristischen serate beziehen also die Zuschauer in den Aktionsraum der Bühne mit ein. Genau dies ist auch Konstituens der Performances seit den 60er Jahren.16 Doch die Partizipationsmöglichkeiten des Publikums sind bei den Futuristen streng reglementiert. Es handelt sich nicht um eine reale Partizipation, sprich um eine Form des Mitmachtheaters, sondern die Zuschauer werden von den Futuristen als Gegner und somit als eine Negativfolie für die Akteure benötigt. Der übliche Applaus wird durch die Pfeifkonzerte ersetzt; je lauter die Proteste, je mehr Handgreiflichkeiten oder Polizeieinsätze, umso gelungener der Abend. Mit dieser aktiven – wenn auch negativen – Beteiligung wird dennoch die einseitige Handlungsaktivität im Theater aufgelöst, der Skandal tritt an die Stelle der dramatischen Aufführung.17 Das Publikum übernimmt sozusagen die Rolle des Sündenbocks, wie es Sontag übrigens auch für die Happenings der 60er Jahre beschrieben hat: Während es im traditionellen Theater oft eines Sündenbocks auf der Bühne bedarf, der bestraft und aus der im Stück nachgeahmten sozialen Ordnung ausgeschlossen wird, reißen die Künstler der Performances und zu Beginn des Novecento die der serate die „vierte Wand“ nieder und bestrafen das Publikum.18 Damit werden Futurismus und Passatismus personifiziert, und das Gefecht um die Traditionen wird im Theater (Bühne vs. Zuschauer) ausgetragen. Als „BATTAGLIA“ („Schlacht“) werden dementsprechend auch die futuristischen serate auf der Titelseite der Zeitschrift Lacerba vom 15.12.1913 (Abb. 1) bezeichnet.19 Zu den Waffen der Futuristen und ihrer Verbündeten zählen der Mut, die neuen Ideen und die Beschimpfungen, auf der anderen Seite stehen die Feinde, die auf 5000 Leute geschätzt werden, mit Wurfgeschossen wie Obst, Gemüse und Haushaltsartikeln (Glühbirnen) ausgerüstet.

16 Siehe hierzu Dreher, Thomas: Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia, München 2001, S. 163-216. Dreher nennt als Beispiele für unterschiedliche Ausprägungen der Partizipation die Situationisten und Nitschs „Orgien Mysterien Theater“. 17 Vgl. zur Tradition des Theaterskandals De Ponte 1999 (wie Anm. 11), S. 115ff. 18 Sontag, Susan: „Happenings. Die Kunst des radikalen Miteinander“ (1961), in: dies.: Kunst und Antikunst, München 2003, S. 309-321; Zitat S. 321. 19 „Grande Serata Futurista“, in: Lacerba, Jg. I, Nr. 24 (15.12.1913), S. 1 (Großschreibung im Original). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Biblioteca Nazionale di Firenze.

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SABINE SCHRADER

Abbildung 1: „Grande Serata Futurista“, Titelseite von Lacerba (Ausgabe vom 15.12.1913)

Auch wenn die Gestaltungsmöglichkeiten des Zuschauers gering sind, ist doch ganz grundsätzlich seine Einbeziehung eine Neuheit. Indem sie den Fokus auf die Rezipienten richten, reflektieren die Futuristen die moderne Gesellschaft, in der der Erfolg von Kunst weniger vom Auftrag als von der Nachfrage abhängt. Das Publikum ist für Boccioni nichts weniger als „un mostro nuovo“, „ein neues Monster“,20 Sklave seiner Gewohnheiten und damit veralteter Künste. Es hänge dem typischen tragischen Schauspiel an, dem typisch feierlichen und dekorativen Bild, der typischen heroischen Statue. Dazu bemerkt Boccioni in futuristischer Manier: „Beethoven, Michelangelo, Dante, ci rivoltano le stomache“ – „Bei Beethoven, Michelangelo und Dante dreht sich uns der Magen um.“21 Dieser Hohngesang auf das Publikum ist auch in Italien längst nicht so neu wie die Futuristen glauben. Die von ihnen thematisierte Tyrannei des Massengeschmacks, der ausschließlich an den traditionellen, ‚passatistischen‘ Künsten Gefallen findet, prangerten schon die von Boccioni 20 Boccioni [Umberto] futurista: „Pubblico moderno nella vita, passatista in arte“, in: ders: Pittura Scultura futuriste (dinamismo plastico), Mailand 1914, S. 53-64; Zitat S. 58. Dt.: „Das Publikum: modern im Leben, passatistisch in der Kunst“, in: ders.: Futuristische Malerei und Plastik (Bildnerischer Dynamismus). Astrit Schmidt-Burkhardt (Hrsg.), Dresden 2002, S. 41-48; Zitat S. 44. 21 Boccioni: „Pubblico“ (wie Anm. 20), S. 55; in der dt. Übs. S. 42f.

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lächerlich gemachten scapigliati22 an. Der Dichter und Kritiker Giovanni Camerana (1845-1905) vermerkte z.B. mit Blick auf die „Pubbliche Esposizioni di belle arti“ (1869) in Turin, das Publikum möge heutzutage nur die alten Autoren wie Metastasio, es verehre Thirsys oder Dido, verachte aber die zeitgenössischen Künstler. Diese forderte er zum Durchhalten auf: Sie sollten dem Publikum die Stirn bieten, seinen Geschmack pervertieren, es demoralisieren und bestechen. Der Künstler von heute müsse gegen das verfluchte Gedächtnis rebellieren.23 Wenn die scapigliati auch als Mythenstürzer bezeichnet werden können, machen sie die Rebellion selbst noch nicht zum künstlerischen Akt. Dies geschieht erst mit den Futuristen. Die Auseinandersetzung mit dem Publikum wird Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in Theaterkreisen virulent – schließlich gehört seine physische Präsenz zu den konstituierenden Merkmalen des Theaters. Obwohl es große Unterschiede zwischen den einzelnen Theateravantgarden in Deutschland, Frankreich, Russland und Italien gibt, sehen sie alle in der Partizipation des Publikums eine Möglichkeit für das Theater, seine gesellschaftliche und kulturelle Funktion zurückzugewinnen, die es durch das bürgerliche Theater verloren hat. Gerade die Passivität der Zuschauer habe zur Theaterkrise entscheidend beigetragen, die ganz allgemein zum Anzeichen einer Krise der zeitgenössischen Kultur geworden sei.24 Die Futuristen wirken prominent an einer „Dominantenverschiebung von der internen zur externen theatralen Kommunikation“ mit.25 Im Manifest „Il teatro di varietà“ (1913) wird dem Zuschauer ein erweiterter Spielraum eingeräumt. Marinetti feiert das Varieté, weil es die einzige Kunstform sei, die utilizzi la collaborazione del pubblico. Questo non vi rimane statico come uno stupido voyeur, ma participa rumorosamente all’azione, cantando anch’esso [...].

22 Boccioni futurista: „Perchè siamo futuristi“, in: ders. 1914 (wie Anm. 20), S. 3-15; Zitat siehe S. 4. Dt.: „Warum wir Futuristen sind“, in: ders. 2002 (wie Anm. 20), S. 13-21; Zitat siehe S. 13. 23 Camerana, Giovanni: „Pubbliche Esposizioni di belle arti. Società promotrice in Torino“, in: Arte in Italia, Jg. 1 (1869), S. 77f., S. 95-97 u. S. 129131; Zitate siehe S. 130. 24 So Fischer-Lichte, Erika: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen/Basel 1997, S. 12f. 25 Ebd., S. 12.

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SABINE SCHRADER sich die Mitarbeit des Publikums zunutze macht. Dieses bleibt nicht unbeweglich wie ein dummer Gaffer, sondern nimmt lärmend an der Handlung teil, singt mit […].26

Auffällig ist im Manifest die Betonung der körperlichen Wirkung der Inszenierung, denn anders als in den übrigen Theatermanifesten soll hier nicht nur ein intellektueller Rausch beim Zuschauer bewirkt werden.27 Durch Improvisationen und Überraschungen auf der Bühne könne eine „fusione ribollente di tutte le risate“, ein ‚brodelndes Zusammenspiel sämtlicher Gelächter‘28 inszeniert werden, d.h. eine Aufführung, die das Publikum auch physisch ins Schauspiel zieht. Dem Varieté kommt so eine fast karthartische Funktion zu, denn mit seiner Hilfe soll das Publikum von seinen konventionellen Wahrnehmungsformen wie Perspektive, Proportionalität, Raum und Zeit gereinigt werden. Erst auf der Basis einer tabula rasa können alte Mythen dekonstruiert und neue geschaffen werden. Ziel ist die Vorbereitung des Zuschauers auf das moderne Leben. Die Groteske soll sich aber nicht nur von der Bühne auf die Zuschauer übertragen, sondern die Zuschauer werden aktiv intergriert – auch wenn sie Zuschauer bleiben: Introdurre la sorpresa e la necessità d’agire fra gli spettatori della platea, dei palchi e della galleria. Qualche proposta a caso: mettere della colla forte su alcune poltrone, perché lo spettatore, uomo o donna, che rimane incollato, susciti l’ilarità generale. [...] Vendere lo stesso posto a 10 persone [...]. Offrire posti gratuiti a signori e signore notoriamente pazzoidi, irritabili o eccentrici, che abbiano a provocare chiassate con gesti osceni, pizzicotti alle donne e altre bizzarrie. Cospargere le poltrone di polveri che provochino il prurito, lo sternuto, ecc. [...] Prostituire sistematicamente tutta l’arte classica sulla scena, rappresentando p.es. in una sola serata tutte le tragedie greche, francesi, italiane, condensate e comicamente mescolate. [...] Eseguire una sinfonia di Beethoven a rovescio, cominciando dall’ultima nota. [...] Insaponare le assi del palcoscenico, per provocare divertenti capitomboli nel momento più tragico. Man muß die Überraschung und die Notwendigkeit zu handeln unter die Zuschauer des Parketts, der Logen und der Galerie tragen. Hier nur ein paar Vorschläge: auf ein paar Sessel wird Leim geschmiert, damit die Zuschauer – Herr oder Dame – kleben bleiben und so die allgemeine Heiterkeit erregen […]. – Ein und derselbe Platz wird an zehn Personen verkauft […]. – Herren und Damen, 26 Marinetti 1913 (wie Anm. 7), S. 206 (kursiv im Original); in der dt. Übs. S. 61. 27 Vgl. Marinetti 1911, S. 202; in der dt. Übs. siehe S. 19. 28 Ders. 1913, S. 209; Passage in der dt. Ausgabe nicht enthalten, daher eigene Übs.

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von denen man weiß, daß sie leicht verrückt, reizbar oder exzentrisch sind, erhalten kostenlose Plätze, damit sie mit obszönen Gesten, Kneifen der Damen oder anderem Unfug Durcheinander verursachen. – Die Sessel werden mit Juck-, Niespulver usw. bestreut. […] Man muß auf der Bühne systematisch die gesamte klassische Kunst prostituieren, indem man zum Beispiel an einem einzigen Abend sämtliche griechischen, französischen und italienischen Tragödien in Kurzform oder in einer komischen Mischung aufführt. […] – Eine Symphonie von Beethoven wird rückwärts, mit der letzten Note beginnend, gespielt. – […] die Bretter der Bühne werden eingeseift, um im tragischsten Augenblick vergnügliche 29 Purzelbäume zu provozieren.

Im Anschluss an Dreher könnte man hier von einer ‚möglichen Partizipation‘ sprechen, da eine Möglichkeitsdimension vorhanden ist. In dieser möglichen Partizipation kann der Zuschauer ein Modell für eine kunstexterne Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Geschehen erkennen, da er – von der passatistischen Kunst und Erwartungshaltung gereinigt – bereit ist für die futuristische Sensibilität. „‚Die Futuristen luden das Publikum nicht ein, Kunst zu machen, sondern sie provozierten es, damit die Theatralisierung des Lebens erreicht werden konnte.‘“30 Denn, so formulieren sie in ihrem Manifest: È stupido non ribellarsi al pregiudizio della teatralità quando la vita stessa (è costituita da azioni inifinitamente piú impacciate, piú regolate e piú prevedibile, di quelle che si svolgono nel campo di arte) è in massima parte antiteatrale e offre anche in questa sua parte innumerevoli possibilità sceniche. ES [IST] DUMM, nicht gegen dieses Vorurteil des Theatralischen anzugehen, wenn das Leben selbst (das sich aus unendlich viel plumperen Ereignissen zusammensetzt, die geordneter und vorhersehbarer sind als die, die in der Kunst entwickelt werden) untheatralisch ist, aber selbst darin unzählige szenische Möglichkeiten 31 bietet.

29 Ebd.; in der dt. Übs. S. 63. 30 Lista, Giovanni: „Die Bühnenexperimente der futuristischen Maler oder Die Konzeption des Theaters als ‚Imago Urbis‘“, in: Die Maler und das Theater im 20. Jahrhundert (Ausstellungskatalog Schirn Kunsthalle), Frankfurt a.M. 1986, S. 52; zitiert nach Uwe M. Schneede: Umberto Boccioni, Stuttgart 1994, S. 51. 31 Marinetti/Settimelli/Corra 1915, S. 214 (kursiv im Original); in der dt. Übs. S. 93 (div. Hevorhebungen im Original).

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2.2

SABINE SCHRADER

Der Schock als Verfahren

Das passatistische Publikum soll, wie es im Manifest „Il teatro di varietà“ immer wieder thematisiert wird, durch den Schock aus seiner Lethargie gerissen werden. Auch Walter Benjamin hat auf die Bedeutung des Schocks für die Moderne hingewiesen. „Je größer der Anteil des Chockmoments an den einzelnen Eindrücken ist“, schreibt er, „je unablässiger das Bewußtsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muß, je größer der Erfolg ist, mit dem es operiert, desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnis.“32 Die in der Zeit verlaufende Erfahrung wird demnach durch ein an die Gegenwart gekoppeltes Erleben abgelöst. Es ist das, was Virginia Woolf als nicht erklärbare moments of being bezeichnete – Momente, die eine extreme psychische Wirkung auslösen und zu einer Grunderfahrung der europäischen Moderne avanciert sind.33 Diese Ereignishaftigkeit, die Kirby schon allein als Performance begreift, ist für den Futurismus zentral.34 Doch während bei Benjamin der z.B. von Baudelaire ästhetisierte Schock noch den Augenblick in die Ewigkeit überführen soll, verliert er für die Futuristen jegliche erhabene Bedeutung und soll nur noch zerstreuen und unterhalten. Von 1910 bis 1915 können knapp 70 serate futuriste verzeichnet werden, die alle nach einem ähnlichen Muster ablaufen. Der Schock ist zu einer Alltagserfahrung geworden, die die Kunst nicht mehr sublimieren, sondern fast genauso alltäglich nachahmen soll. Mit anderen Worten: Der ‚Schock‘ wird seriell produziert, womit er meines Erachtens seinen uneingeschränkten Ereignischarakter und seine Dynamik verliert. Das Publikum bereitet sich entsprechend auf das Spektakel vor, es weiß, was es erwartet und bringt z.B. altes Obst und Gemüse zum Werfen auf die Bühne mit. Mit dem Verlust der Schockwirkung erhalten die Veranstaltungen vielmehr einen rituellen Festcharakter, d.h. der Abend ist strengen Regeln unterworfen, die genau befolgt werden müssen, damit er zum Erfolg wird. Dies wird auch 1914 im Corriere della sera notiert: I manifesti annunziavano un programma abbastanza vario: ma l’unico programma svolto ieri fu l’urlo, fu il fischio, fu l’ingiuria, fu il gruignoto, il cocodé. E che agì non furono i futuristi, ma il pubblico, specialmente quello delle galerie. Gli strepiti ostili cominciavano a sipario ancora calato, nel tramestio della folla che 32 Benjamin, Walter: Charles Baudelaire (1955), Frankfurt a.M. 1974, S. 111. 33 Vgl. hierzu Bohrer, Karl Heinz: Das absolute Präsens, Frankfurt a.M. 1994, S. 161. 34 Vgl. Kirby 1971 (wie Anm. 1), S. 19-27.

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andava a mettersi a posto [...]. Era una folla allegra a priori di sé, delle proprie intenzioni. Non veniva né ad assistere né a giudicare. Veniva a fare un po’ carnevale. Aveva voglia di pazzie. Non ne aspettava neppure il pretesto. Lo inventava. Die Manifeste kündigten ein ziemlich abwechslungsreiches Programm an: Aber das einzige Programm, das gestern Abend stattgefunden hat, war das Gebrüll, das Pfeifkonzert, die Beleidigung, war das Gebrumm, die Gackerei. Und wer agierte, das waren nicht die Futuristen, sondern das Publikum, insbesondere das auf den Rängen. Das feindliche Geschrei begann bei noch heruntergelassenem Vorhang, in dem Durcheinander der Menge, die auf ihre Plätze ging. Die Menge war von sich aus fröhlich, aus eigener Absicht. Sie war weder gekommen, um dabei zu sein noch um zu richten. Sie kam, um ein wenig Karneval zu feiern. Sie hatte Lust auf Verrücktheiten. Sie wartete noch nicht einmal auf einen Vorwand. Sie 35 erfand ihn.

Die Anspielung auf den Karneval ist sehr bedeutsam. Im Bachtin’schen Sinne dient der Karneval aufgrund seiner Performativität den Menschen dazu, sich während einer begrenzten Zeit von Autorität und Hierarchie zu befreien. Allerdings kann der Aktionsraum im Karneval freier gestaltet werden als während der serate. Der sich im Ritus wiederholende karnevalske Akt, der die Heterogenität, das Kollektive und das dem Konventionellen Zuwiderlaufende zelebriert, führt aber letztlich nicht über den Zeitrahmen der Veranstaltung hinaus. Er übernimmt vielmehr eine Ventilfunktion, denn mindestens genauso entscheidend für den Karneval wie seine Performativität ist das Zurücksetzen seiner Akteure in die alte Ordnung. Der Karneval erhält also eine vordringlich sanktionierende Funktion. Aus diesem Grunde wird m.E. auch bei den futuristischen serate die Möglichkeitsfunktion der Zuschauer stark eingeschränkt, die vermeintliche Theatralisierung des Lebens meint das Spielen des immer gleichen Spiels, dessen dualistisch konzipierte Rollen vorgegeben sind. Das Karnevaleske der serate relativiert darüber hinaus auch die dem Publikum zugewiesene Funktion als Negativfolie. Es ist weniger das passatistische Publikum, vor dem hier rebelliert wird, nicht die Väter sitzen im Parkett, sondern die Geschwister, die genauso reagieren, wie die Futuristen es wünschen.36 Ein Theaterskandal wie der um Victor Hugos Hernani, kon35 Anonym: „Teatro dal verme di Milano“ (Corriere della sera vom 17.1.1914), in: Antonucci 1975 (wie Anm. 10), S. 53-57 (kursiv im Original); Zitat S. 53f. (eigene Übs.). 36 Rassù weist darauf hin, dass Marinetti z.B. in Turin 1910 einen großen Teil der Karten verschenkt hat, viele an Studenten. Siehe Rassù, Sebastiano: „Il futurismo a Torino. Teoria e avanguardia storica“, in: Linea teatrale, Jg. 1 (1985); zitiert nach De Ponte 1999, S. 28.

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statiert der Corriere della sera, findet trotz des Tumults nicht wirklich statt, „la platea è bonaria, gaiamente simpatizzante. [...] Non fu una serata di battaglia: fu uno sconcerto di sirene.“ (‚Das Parkett war gutmütig, föhlich und sympathisierend. Der Abend war keine Schlacht: Es war ein Konzert der Sirenen.‘)37 Offensichtlich wird, dass es sich hier um mehrere sich scheinbar überlagernde Strategien der Inszenierung handelt. Der Verstoß der serate gegen das traditionelle Theater kann schon allein als Ereignis bezeichnet werden, da es den Zuschauer durch seine Beteiligung am Kampf‘ gegen die Hochkultur ins Geschehen zieht. Doch kann die Schockwirkung nur bei der ersten Aufführung eintreten, danach hat sich die Rezeptionshaltung des Publikums verändert, es erwartet genau das Programm der serate, das es aus den Zeitungen kennt und verhält sich entsprechend. Dennoch war es eben dieser Schock, der immer wieder für den Skandal sorgte und sich an die Stelle des eigentlichen Schocks setzte. Die Grenze zwischen dem performativen Akt, der zum Skandalon wird, und dem Skandal als einer gleichzeitig für den Kunstbetrieb der Moderne sehr wirksamen Werbestrategie ist nicht leicht zu ziehen. Grund für letzteren mag, wie Thomas Steinfeld zur zeitgenössischen Literatur im deutschen Feuilleton treffend anmerkt, das Versprechen sein, dass der Skandal einen „sicheren Schutz vor dem lautlosen Verschwinden bietet.“38 In diesem Sinne verliert der Schock jegliche ästhetischen Implikationen. Im Manifest „Il teatro di varietà“ entwirft Marinetti nicht mehr nur die Gesamtveranstaltung als schockierendes Ereignis, sondern er entwickelt ein Programm für die Bühne, das durch Überraschungen bzw. Schocks strukturiert wird, die sich bis in die Zuschauerränge auszubreiten vermögen. Ein Grundprinzip des Programms ist die simultaneità.

3.

simultaneità der Inszenierungen

Die Boccioni zugeschriebene Zeichnung Serata futurista aus dem Jahre 1911 (Abb. 2)39 soll hier als Idealvorstellung einer serata futurista interpretiert werden. Dabei wird zunächst versucht, die Interaktion zwischen Bühne und Publikum darzustellen. Während der Betrachter des Bildes 37 Anonym 1914 (wie Anm. 35), S. 57 (eigene Übs.). 38 Steinfeld, Thomas: „Skandal. Alle zwei Wochen neu: das obszöne Buch und sein Verlag“, in: Süddeutsche Zeitung (4.2.2004), S. 11. 39 Entnommen aus Schneede 1994 (wie Anm. 30), S. 51. Der Verlag wurde über die Verwendung des Bildes in Kenntnis gesetzt. Es zeigt (von links nach rechts): Boccioni, Pratella, Marinetti, Carrà, Russolo; im Hintergrund sind Gemälde von Boccioni, Carrà und Russolo zu sehen.

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seine Beobachterposition behalten kann – er schaut von oben auf das Geschehen –, sind die Zuschauer auf gleicher Höhe mit den futuristischen Akteuren abgebildet und beteiligen sich an der allgemeinen Geräuschkulisse und dem wilden Gestikulieren. Die Futuristen Boccioni, Pratella, Marinetti, Carrà und Russolo deklamieren und agieren gleichzeitig auf der Bühne. Vor der Bühne musiziert ein Orchester. Diese hier dargestellte Gleichzeitigkeit ist nach Boccioni die Bedingung für alle weiteren futuristischen Forderungen wie die nach dinamismo, velocità (zu Deutsch: Dynamismus, Geschwindigkeit) etc.40 Neben der Simultaneität der Aktionen wird auch das Ansprechen einer Vielzahl von Sinnen gefordert. Sowohl für die Produzenten als auch die Rezipienten wird eine „fisicofollia“ („PSYCHOTOLLHEIT“) evoziert, wie sie im Manifest „Il teatro di varietà“ beschrieben ist.41 Abbildung 2: Umberto Boccioni (?): Serata futurista in Mailand (1911), Privatsammlung

Als Bühnenbilder dienen Gemälde von Boccioni, Carrà und Russolo. Auch während der serate ist die Malerei auf der Bühne präsent – entweder es werden fertige Gemälde gezeigt oder neue vor dem Publikum gemalt. Auf der Zeichnung Boccionis fungieren sie auch durch die in ihnen dargestellte Bewegung und Simultaneität als mise en abîme. Gleichzeitig deuten die Bilder eine Gattungsüberschreitung an: Die Malerei wird zum Bestandteil der Bühneninszenierung, wenn auch nicht so weitgehend wie in den von Sontag als „Theater der Maler“42 beschriebenen Happenings, 40 Siehe Boccioni futurista: „Simultaneità“, in: ders. 1914 (wie Anm. 20), S. 261-280, bes. S. 264ff. Dt.: „Simultaneität“, in: ders. 2002 (wie Anm. 20), S. 157-169; bes. S. 158ff. 41 Siehe Marinetti 1913, S. 208f. (kursiv im Original); in der dt. Übs. S. 62f. (Großschreibung im Original). 42 Sontag 2003 (wie Anm. 18), S. 214.

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bei denen die Malerei im Vordergrund steht. Intermedia43 ist als Medienkombination schon hier, genau wie seit den 60er Jahren, ein Kennzeichen der Performances. Interessant ist zudem die doppelte Gattungsüberschreitung: die Gemälde als Bühnenbild im Theater, das Ganze wiederum auf einem Gemälde dargestellt. Was von Boccioni 1911 programmatisch gemalt und wohl zum Teil schon während der serate eingelöst wird, konkretisiert sich 1913 im Manifest „Il teatro di varietà“. Das Varieté ist für Marinetti deckungsgleich mit dem Futurismus. Beide scheinen ohne Wurzeln, sprich ohne Traditionen, Idole oder Dogmen zu sein. Sie speisen sich ausschließlich aus der Aktualität. ‚Neu‘ wird hier zum Schlüsselbegriff und zugleich Programm, jede Form der Wiederholung käme einer Statik gleich und könnte zur Bildung von Traditionen führen. Dieser der ‚futuristischen Sensibilität‘ inhärente Vitalitätsgedanke schlägt sich auch in der Bestimmung des Varietés nieder. Es wird in einem „dinamismo di forma e colore“ – einem „Dynamismus von Form und Farbe“ – als simultane Bewegung konstituiert.44 Schnelligkeit und Rekorde finden sich im Varieté ebenso wieder wie die zu bestehende Gefahr und der Heroismus. Das Varieté gleicht einer „vetrina rimuneratrice d’innumerevoli sforzi inventivi“, einem „lohnende[n] Schaufenster für unzählige Erfindungen“,45 oder auch einem Kaleidoskop aus „innumerevoli situazioni, sensibilità, idee, sensazioni, fatti e simboli“, d.h. „unzählige[n] Situationen, Empfindungen, Ideen, Gefühle[n], Fakten und Symbole[n].“46 Das Dargebotene wird fragmentarisiert, die Logik aufgehoben, die Kontraste werden vervielfältigt und ins Absurde verzerrt. Für die Futuristen bedeutet dies nichts anderes als ein synthetisches Theater, d.h. die Aufführung muss „äußerst kurz“ sein, sich auf das Wesentliche beschränken, um „in […] wenigen Worten und […] Gesten“ die unzähligen Situationen des Lebens darzustellen.47 Simultaneità ist der entscheidende Begriff „per definire la nuova condizione di vita“, „um die neue Lebensbedingung zu definieren“.48 Der Aufhebung von Logik und Linearität liegt ein mimetisches Kunstverständnis zugrunde:

43 Vgl. Higgins, Dick: Horizons. The Poetics and Theory of the Intermedia, Carbondale/Edwardsville 1984. 44 Marinetti 1913, S. 205; in der dt. Übs. S. 60. 45 Ebd., S. 213; in der dt. Übs. S. 60. 46 Marinetti/Settimelli/Corra 1915, S. 213; in der dt. Übs. S. 93. 47 Ebd. 48 Boccioni: „Simultaneità“ (wie Anm. 40), S. 261 (kursiv im Original); in der dt. Übs. S. 157 (kursiv im Original).

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Quando anche nella vita non ci accade mai di afferare un avvenimento interamente, con tutte le sue cause e consequenze, perchè la realtà ci vibra attorna assalendoci con raffiche di frammenti di fatti combinati tra loro, incastrati gli uni e gli altri, confusi, aggrovigiali, caotizzati. Auch im Leben zeigt sich kein Ereignis ganz, mit all seinen Ursachen und Konsequenzen. Die Ereignisse in der Wirklichkeit passieren überfallartig, schubweise in lose miteinander verbundenen Bruchstücken, unzusammenhängend, konfus, verwirrend und chao49 tisch.

Es zeigt sich, dass dank des neuen Wirklichkeitsbegriffs das traditionelle Theater mit seiner theatralen Linearität und dramatischen Narration gesprengt wird. Verstärkt wird dies durch die Wortgefechte der Akteure und ihre Antworten auf die Reaktionen des Publikums. Die Grenze zwischen einem verschriftlichten und eingeübten Theaterstück und der Aufführung desselben wird überschritten. Es gibt keine fertige und abgeschlossene Aufführung mehr wie im traditionellen Theater. Hier kann eine weitere Parallele zu den Performances gezogen werden. Deren Aktionsformen kennen ebenfalls zwar einen Handlungsablauf des Abends, aber kein schriftlich durchkomponiertes Programm.50 Die Gleichzeitigkeit des Deklamierens, die Kommentare und Wurfgeschosse vonseiten des Publikums lassen darüber hinaus den Text in den Hintergrund treten, es bleibt das sinnliche Erleben des Spektakels. Damit wird eine Forderung des futuristischen Theatermanifests eingelöst: Zwischen der Bühne und dem Zuschauer soll „EINE KONTINUIERLICHE VERBINDUNG“ und „RESPEKTLOSES VERTRAUEN“ entstehen.51 Boccionis Bild macht aber auch deutlich, wie sich die historischen Avantgarden von der Postmoderne unterscheiden. Sie bleiben in der Regel am traditionellen Ort des Theaters und greifen auf ausgebildete Schauspieler zurück.52 Es sind also nicht die neuen technischen Medien, von denen man sich in der Frühphase eine massenmediale Wirkung erhofft. Im Gegenteil: Mit der Revolutionierung des Theaters hoffte man

49 Marinetti/Settimelli/Corra 1915, S. 215; in der dt. Übs. S. 93 (kursiv im Original). 50 Vgl. Dreher 2001 (wie Anm. 16), S. 10. 51 Marinetti/Settimelli/Corra 1915, siehe S. 218; in der dt. Übs. S. 94 (Großschreibung im Original). 52 Vgl. Brandt, Sylvia: Bravo! & BUM BUM! Neue Produktions- und Rezeptionsformen im Theater der historischen Avantgarde: Futurismus, Dada und Surrealismus. Eine vergleichende Untersuchung, Frankfurt a.M. u.a. 1995, S. 27.

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vielmehr, den Konkurrenzkampf gegen das Kino gewinnen zu können.53 Das Varieté sollte sich zwar u.a. das Kino als integrativen Bestandteil zunutze machen, allerdings aus rein praktischen Erwägungen, denn so könnte auf der Bühne nicht Darstellbares gezeigt werden. Auch wenn die Futuristen dies wahrscheinlich nicht intendierten, kann aus der heutigen Perspektive notiert werden, dass die Integration von neuen Medien in die alten Künste den Kunstbegriff langfristig erweiterte.54 Mit den diversen hier skizzierten Grenzüberschreitungen (das traditionelle Theater als Spektakel, die Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern, die Intermedialität) werden die klassischen Institutionen der Kunst, die die Wahrnehmung leiten, zerstört. Die Ähnlichkeiten zwischen den Aktionen der Futuristen und der performativen Kultur seit den 60er Jahren beschränken sich aber nicht auf die Performativität des Ereignisses und die Partizipation des Publikums. Die Simultaneität auf der Bühne soll die Wahrnehmung des Publikums verändern. Es ist kein statisches, distanziertes Sehen mehr möglich, sondern das Sehen selbst wird zum Prozess und damit zu einem performativen Akt.

4.

Zum performativen Potential

An dieser Stelle kann ein wesentlicher Unterschied zu den Künsten der Nachkriegszeit ausgemacht werden. Wird aus dem Sehen ein performativer Akt, so heißt das in letzter Konsequenz, dass kein statischer und idealer Blick existiert, da die Möglichkeit, alles zu erfassen, nicht mehr gegeben ist. Daraus resultiert ein „polykontextuelles (Kunst-)Modell von Weltbeobachtung“,55 mit anderen Worten: Der Blick ist abhängig vom Standort des Zuschauers. Die Performances im heutigen Verständnis dienen nicht der Übermittlung von intendierten Bedeutungen. Es entsteht vielmehr ein liminales Feld [...] als Frei- und Spielraum, welchen die künstlerische Performance allen Beteiligten – Performern und Zuschauern – eröffnet, um alles mit allem in Beziehung zu setzen, mit allen

53 Siehe Marinetti/Settimelli/Corra 1915, S. 213. 54 Vgl. Segeberg, Harro: „Literarische Kino-Ästhetik“, in: ders. (Hrsg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. Mediengeschichte des Films, München 1996, Bd. 2, S. 193-219; bes. S. 195. 55 Dreher 2001, S. 10.

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möglichen Relationen und Bedeutungen experimentieren sowie mit 56 allen möglichen Selbstentwürfen spielen zu können.

Dieses Postulat der künstlerischen Performances steht im Widerspruch zur futuristischen Kunst, die streng mimetisch ist. Die geforderte simultaneità ist nicht Ausdruck eines relationalen Weltbildes, sondern versucht die moderne Realität nachzuahmen, die die alten Künste nicht mehr einzufangen vermochten. Um dem Publikum zu gefallen, sei die Kunst bislang nichts anderes gewesen als „tutto cio uniformato con plagio più o meno evidente ai capolavori celebri del passato“, „[a]ll das [was; S.Sch.] durch mehr oder weniger offensichtliches Plagieren berühmter Meisterwerke der Vergangenheit vereinheitlicht“ worden sei, so Boccioni.57 Boccioni und Marinetti verstehen ihr Mimesiskonzept als Reaktion auf eine traditionelle Form der Kunst, die auf Intertextualität – „zibaldone o plagio“, „Sammelsurium oder Plagiat“58 – statt auf der Nachahmung der Realität beruhe. Fragt man nach der Performativität der Aktionen, so kann man auf den ersten Blick von einem dreistufigen Modell sprechen, das sich zusammensetzt aus der Mündlichkeit der Manifeste, gestützt durch die körperliche Präsenz der Akteure während der serate,59 dem im Text geforderten Kampf mit dem Publikum, der symbolisch auf dem Theater durchgespielt wird sowie, auf einer letzten Ebene, aus der Inszenierung des Spektakels als „Schlacht“ in Lacerba. Dennoch steht hinter dem performativen Potential der serate und der frühen Theatermanifeste eine eindeutige Realität, die nicht individuell rezipiert werden soll, denn den Futuristen geht es allein um die Botschaft einer Futuristisierung der Welt. Hier liegt ein gravierender Unterschied zu den künstlerischen Performances seit den 60er Jahren. Bei diesen sollen Produktion und Rezeption nicht mehr deckungsgleich sein, sondern der Zuschauer soll gerade die Unmöglichkeit einer Eindeutigkeit erfahren.60 Die performativen Züge der serate stehen damit nicht für eine 56 Fischer-Lichte, Erika: „Auf dem Wege zu einer performativen Kultur“, in: dies./Doris Kolesch (Hrsg.): Kulturen des Performativen. Paragrana, Jg. 7 Nr. 1 (1998), S. 13-29; Zitat S. 27. 57 Boccioni: „Pubblico“, S. 60 (kursiv im Original); in der dt. Übs. S. 45 (kursiv im Original). 58 Marinetti 1913, S. 204; in der dt. Übs. S. 60. 59 Vgl. hierzu Wagner, Birgit: „Auslöschen, vernichten, gründen, schaffen: zu der performativen Funktion der Manifeste“, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): „Die ganze Welt ist eine Manifestation“: Die europäischen Avantgarden und ihre Manifeste, Darmstadt 1997, S. 39-57. 60 Vgl. Fischer-Lichte 1997 (wie Anm. 24), S. 35.

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„Ver- und Zerstörung alltäglicher Wahrnehmung und alltäglichen Verhaltens“, also für eine „referenzlose[…] Kunst“.61 Mit ihrer Hilfe versuchen die Futuristen vielmehr, die moderne Lebenswirklichkeit und ihre Wahrnehmungsformen in der Kunst nachzuahmen.

61 Fiebach, Joachim: „Performance“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2002, Bd. 4, S. 740-758; Zitate S. 745.

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ICH MAL’ ETWAS WAS DU NICHT SIEHST – DER ITALIENISCHE FUTURISMUS UND DAS VIBRIEREN DER GRENZEN Die Wahrnehmung beherrscht den Raum genau in dem Verhältnis, in dem die Tat die Zeit beherrscht. Henri Bergson

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So kann man mit vielen Unterscheidungen verfahren. Niklas Luhmann

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Kaum einer Ausprägung bildender Kunst des 20. Jahrhunderts kann wohl nachgesagt werden, dass Form und Inhalt so auseinander klaffen wie dies auf den ersten Blick beim italienischen Futurismus der Fall ist: Immerhin und bekanntlich wird nicht wenig lautstark ein technischer Fortschritt gefeiert, der allerdings lediglich auf der Ebene des Dargestellten, weniger in der künstlerischen Anwendung progressiver technischer Mittel zur Geltung kommt. Diese Differenz zwischen programmatischem Anspruch und dessen Umsetzung wird um so deutlicher, als selbst die Photographie, damals bereits weithin etabliert, ausgerechnet als „mechanische Geste“(!)3 abgelehnt wird. Und auch dem Film ergeht es nicht viel besser, trotzdem dieser nur wenig später als neues Medium für die Kunst und umgekehrt, die Kunst für diesen eine wichtige Rolle zu spielen vermag, kurzum: Filmkunst und Kunstfilm4 zu einem ersten Höhepunkt 1 Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist (1896), Jena 1919, S. 17. 2 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 487. 3 Lista, Giovanni: „Futuristischer Film und Futuristische Fotografie“, in: Der Lärm der Straße. Italienischer Futurismus 1909-1918 (Ausstellungskatalog). Norbert Nobis (Hrsg.), Mailand 2001, S. 294-317; Zitat S. 299. 4 Boccioni als Chefideologe der futuristischen Maler wird denn auch bei seiner Ablehnung von Photographie und Film bleiben, während Marinetti Letzteren schließlich doch als Kunstform anerkannte und beispielsweise an VITA FUTURISTA (1916; verschollen) sogar mitarbeitete. Das Gros – wenn

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finden (und einige mögen vielleicht behaupten, es sei der einzige gewesen). Jedenfalls fällt es alleine schon ungleich schwerer, von einem futuristischen Film zu sprechen als etwa von einem expressionistischen – zu überschaubar ist das entsprechende Angebot und zu heterogen zugleich, und so muss Giovanni Lista denn auch konstatieren, dass „die von der futuristischen Kunst propagierten formalen Methoden und ästhetischen Werte [...] im Film und in der Fotografie von den anderen Avantgarde-Bewegungen [...] weiterentwickelt [wurden]“.5 Doch was ist es nun, das die Futuristen der ersten Stunde Abstand halten lässt von den Errungenschaften moderner Medientechnik, und das bei allem Bemühen, „ihre Formen der Auseinandersetzung mit der Welt von den zivilisatorisch-technischen Novitäten [...] des gerade angebrochenen zwanzigsten Jahrhunderts herzuleiten“, wie ihnen gerne und in diesem Fall von Dietrich Mathy attestiert wird?6 Was hält diese davon ab, etwa die „Fetischierung der Geschwindigkeit“7 als einen der zentralen Gesichtspunkte futuristischen Schaffens mittels bewegter Bilder oder die stetig propagierte „Simultaneität der Wahrnehmung“8 mittels Langzeit- bzw. Mehrfachbelichtungen zu thematisieren, wie es im letzteren Fall etwa die darob oft geschmähten Gebrüder Bragaglia vorexerzierten?9 Natürlich, das Programm. Neben der in unzähligen Manifesten verbreiteten ungebremsten Euphorie bezüglich allem, was nur neu, schnell und laut genug war, wurden auch mehr oder minder theoretische Schriften10 zur Kunst verfasst,

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man so will – futuristischer Filme‘ entstand allerdings erst Ende der 20er Jahre. Vgl. Lista 2001, S. 301f. Ebd., S. 306. Mathy, Dietrich: „Europäischer Futurismus oder: Die beschleunigte Schönheit“, in: Hans Joachim Piechotta u.a. (Hrsg.): Die literarische Moderne in Europa, Bd. 2: Formationen der Avantgarde, Opladen 1994, S. 89-101; Zitat S. 89. Ebd. Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek 1993, S. 15. Vgl. hierzu Nobis 2001 (wie Anm. 3), S. 312ff. Wobei die futuristischen Manifeste als eigenständige (Kunst-)Gattung natürlich besondere Beachtung verdienen, darüber hinaus teilweise auch theoretisierenden Inhalts sind und deswegen auch unter dem Aspekt des Adressatenkreises einer genaueren Untersuchung bedürften. Mit theoretischen Schriften‘ sind hier allerdings erst einmal solche Ausführungen gemeint, die grob gesprochen zuvorderst Theorie zur Kunst, nicht etwa Theorie als Kunst zu liefern gedenken (ohne dass bisweilen Letztere den Manifesten an Polemik besonders nachstehen).

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hervorzuheben darunter Umberto Boccionis Futuristische Malerei und Plastik (Bildnerischer Dynamismus). Dort beschreibt der Maler und Bildhauer dezidiert, was er sich unter dem „konstruktiven bildnerischen Idealismus“ der Futuristen vorstellt und erteilt jedweder „infantilen optischen Täuschung“ eine harsche Absage.11 Demgegenüber wird die „ultrasensible Intuition“ propagiert, eine Intuition, welche – wie schon im „Technischen Manifest“ (1910) verkündet – die Geste als „angehaltenen Augenblick“ eliminiert und stattdessen in „die verewigte dynamische Empfindung“ transformiert.12 Konkret: Wenn wir von Bewegung sprechen, ist das kein kinematographisches Bemühen, ist das kein blödsinniges Wettrennen mit dem Augenblicklichen und auch keine infantile Neugier, die Bahn eines sich von A nach B bewegenden Gegenstandes zu beobachten und festzuhalten. Wir wollen uns, ganz im Gegenteil, der reinen Empfindung nähern, d.h. wir wollen die Form in der bildnerischen Intuition erschaffen, die zeitliche Dauer der Erscheinung schaffen, 13 d.h. den Gegenstand in seinem Inerscheinungtreten leben.

Es wird klar, was Boccioni von photographischen Experimenten etwa Muybridges oder Mareys hält, nämlich reichlich wenig, und ebenso, weswegen nicht selten Bergson als so etwas wie ein philosophischer Übervater der Futuristen herangezogen wird, geht es diesem bekanntlich doch genau um jene Art der Wahrnehmung, die dem „kinematographischen Wesen unseres gewöhnlichen Denkens“ entgegengesetzt ist: „Denn um im Schritt der bewegten Wirklichkeit vorzurücken, müsste man in sie eingehen.“14 Diesen Schritt aber zu tun, sind Künstler laut Bergson – und kein Futurist hätte ihm wohl widersprochen – vermittels Intuition insbesondere in der Lage.15 Und in der Tat lässt sich nun gerade bei Werken Boccionis – etwa der Mini-Serie Stati d’animo / Zustände der Seele (Abb. 1 u. 2) – jenes Verfahren ersehen, mit Hilfe dessen Bergsons Diktum letztlich auf der Leinwand umgesetzt werden soll: zum einen eine Art gleichzeitig abgebildeter Phasenverschiebung, welche einer in solcher Lesart adäquaten Darstellung der Zeit, zum anderen eine Auflösung des Gegenstands, welche der Darstellung des Raums bzw. des Objekts in selbigem geschuldet 11 Boccioni, Umberto: Futuristische Malerei und Plastik (Bildnerischer Dynamismus) (1914). Astrit Schmidt-Burkhardt (Hrsg.), Dresden 2002, S. 104. 12 Ebd., S. 113. 13 Ebd. (kursiv im Original). 14 Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung (1907), Zürich 1967, S. 304f. 15 Hierzu Talpo, Francesca: „Der Futurismus und Henri Bergsons Philosophie der Intuition“, in: Nobis 2001 (wie Anm. 3), S. 59-71; vgl. S. 65ff.

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ist. Denn die „Trennung zwischen dem Ding und seiner Umgebung kann nicht absolut klar und scharf sein“, so Bergson,16 und mit Boccioni kann man ergänzen: „die Abstände zwischen den Gegenständen sind keine leeren Räume, sondern das Übergehen der Materie in eine andere Instensität‘“.17 Geht nun schon alleine dieses Konzept des Objekts im Raum über das analytischere etwa der Kubisten – gegen die sich Boccioni denn auch in aller Deutlichkeit ausspricht18 –, wenn man so will, hinaus, so fügen die Futuristen mit der Veränderung des Gegenstandes in der Zeit noch eine weitere Dimension bildnerischen Arbeitens hinzu: „Wir wollen die simultane Form“.19 Abbildungen 1 u. 2: U. Boccioni: Stati d’animo – Gli addii; Stati d’animo – Quelli che vanno (beide 1911)

Neben den genannten Arbeiten Boccionis kann man vor allem auch in einigen Werken Giacomo Ballas (etwa in Automobile in corsa oder Automobile + velocità + luce; Abb. 3 u. 4) geradezu exemplarisch jene Phasenverschiebung der Objekte erkennen, welche der jeweiligen Auflösung des Gegenstands im Raum und zugleich der Aktualisierung dessen in der Zeit gerecht zu werden versucht, ganz so, als ginge es eben um jene „Permanenz einer Sinnesqualität“, die laut Bergson „in dieser Wiederholung von Bewegungen“20 besteht: Denn „[r]eal ist einzig die kontinuierliche Formveränderung; Form ist nur eine von einem Sich-Wandeln 16 Bergson 1919, S. 208. 17 Boccioni zitiert nach Talpo 2001, S. 69. Deutlich ist hier sowohl die Tradition, in der man sich sieht, nämlich die der Impressionisten, als auch die Anlehnung an naturwissenschaftliche Erkenntnisse der Zeit, etwa Ernst Machs, abzulesen (dessen „Antimetaphysische Vorbemerkungen“ sich ohnehin wie ein impressionistisches Manifest rezipieren lassen). Vgl. Mach, Ernst: „Antimetaphysische Vorbemerkungen“, in: Gotthart Wunberg (Hrsg.): Die Wiener Moderne, Stuttgart 1981, S. 137-145. 18 Vgl. Boccioni 2002, S. 108. 19 Ebd., S. 113. 20 Bergson 1967, S. 299.

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genommene Momentaufnahme.“21 Oder, wir springen ein wenig vorwärts und formulieren’s mit Luhmann: Es geht um die Unterscheidung von Aktualität und Potentialität.22 Abbildung 3: G. Balla: Automobile + velocità + luce (1913)

Abbildung 4: G. Balla: Automobile in corsa (1913)

21 Ebd., S. 300 (kursiv im Original). 22 Vgl. Luhmann 1997, S. 174.

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Ohne das Tafelbild zu verlassen, wird also versucht, diese Momentaufnahmen, diesen Prozess des permanenten Wandels entgegen seiner ureigensten ephemeren Natur synthetisch darzustellen – sozusagen eine Art doppeltes re-entry: In die Unterscheidung werden weitere kopiert, und in der Tat könnte man den Eindruck gewinnen, dass trotz der Beschränkungen des Mediums oder eben gerade wegen dieser die Grenzen der Leinwand zwar nicht überschritten oder eingerissen, so doch aber ins Vibrieren gebracht werden.23 Bleibt nur die Frage, ob mit diesen Grenzen des Kunstwerks auch die der Kunst, ob mit denen des Tafelbildes auch die des Systems ins Schwingen versetzt werden, geht es den Futuristen wie bekanntlich allen darauf folgenden Avantgarde-Bewegungen doch schließlich zuvorderst auch darum, „um jeden Preis in das Leben zurück[zu]kehren.‘“24 So will man denn auch den Betrachter „mitten ins Bild setzen“,25 um ihn auf diese Weise teilhaben zu lassen an jener Intuition oder eben „dynamischen Empfindung“, und das Vermittlungsproblem liegt auf der Hand: Ein unmittelbares Eintauchen in den zuvor vom Künstler erspürten und dargestellten „Fluss des Lebens“26 ist nicht möglich bzw. lediglich über den Umweg des Bildes, das kein Abbild sein will, zu haben. Damit aber ist der Betrachter wiederum jener Unbill kinematographisch-sezierender Wahrnehmung ausgesetzt, über die die Futuristen sich mit Bergson schließlich hinwegsetzen wollen – es bleibt das Bild, das ein einzelnes ist. Und angesichts dessen allein die Möglichkeit, qua Kontemplation oder intellektuell nachzuvollziehen, was zuvor beobachtet wurde. Bergson glaubt zwar, wie bereits erwähnt, daran, dass es prinzipiell möglich sei, an dieser „metaphysischen Erfahrung teilzuhaben“ und dass insbesondere der Künstler „uns eine Offenbarung der Natur‘ vermitteln“ kann,27 doch selbst wenn dies gelänge, so eben nur um den Preis, Künstler zu sein. Mit anderen Worten: im Leben nicht. Jedenfalls fällt es schwer, angesichts der Bilder Ballas oder Boccionis von einer „Zertrümmerung der Aura“ zu sprechen, welche den Avantgarden allgemein oft unterstellt und von Schmidt-Bergmann spezi-

23 So gesehen wäre das bei den Futuristen so beliebte Sujet der Geschwindigkeit dabei eigentlich gar nicht vonnöten bzw. programmatisches Beiwerk, ist doch schließlich jeder Gegenstand an sich bewegt. 24 Boccioni, Umberto u.a.: „Die futuristische Malerei. Technisches Manifest“ (1910); zitiert nach Talpo 2001, S. 65. 25 Boccioni 2002, S. 110. 26 Talpo 2001, S. 64. 27 Ebd.

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ell auch den Futuristen zugesprochen wird.28 Das Werk-Ganze bleibt in weiten Teilen bestehen (oder gerät ins Wackeln‘ wie oben beschrieben eben lediglich als Ganzes), und auch der futuristische Künstler bleibt in dieser Anschauung Schöpfer in einem klassischen Sinne (und als solcher noch weit hinter den freilich stets nur einmal funktionierenden Provokationen etwa eines Duchamp zurück29). Fraglich allerdings nun, ob sich diese Position überhaupt hintergehen lässt. So liegt es wohl in der Logik des Begriffs, dass jegliche AbsetzBewegung einer wie auch immer gearteten Avantgarde des Ausgangspunkts bedarf, und der martialische Duktus gerade der ersten Manifeste mit seiner radikalen Ablehnung alles Passatistischen‘ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ohne eine Bezugnahme auf das, was war, der Neuigkeitswert dessen, was ist, kaum kenntlich zu machen sein dürfte – auch „[d]ie futuristische Neukonstruktion des Universums“30 benötigt eben ein Universum (oder besser: die Vorstellung eines solchen). So werden in früheren Werken wie beispielsweise Ballas Bambina che corre sul balcone31 Anknüpfungspunkte etwa zum französischen Impressionismus bzw. Postimpressionismus deutlich, wobei auf diese von Boccioni darüber hinaus dezidiert hingewiesen wurde: Es gehe den futuristischen Künstlern nicht zuletzt auch um die „Ausdehnung der Körper im Raum als Verfestigung des Impressionismus“,32 wenngleich man natürlich beabsichtigte, über diesen „fortzuschreiten“.33 Auch bei der ersten Avantgarde-Bewegung des Kontinents deutet also einiges darauf hin, dass die Negation keine totale sein kann, die Differenz mithin differenzierter, in diesem Fall innerhalb der Bildebene zum Ausdruck kommt und sich schier zwangsläufig mit deren Beschränkungen bzw. Gesetzmäßigkeiten auseinander setzen muss. Und eben mit dem, was vorher in dieser Auseinandersetzung bereits geleistet wurde. Anders ausgedrückt: „Nichts ist weiter von der authentischen Kunst […] entfernt als die Idee des Bruchs mit der Kontinuität. Kunst ist […] Kon28 Schmidt-Bergmann 1993, S. 20f. 29 Vgl. hierzu Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, S. 70. 30 So der Titel eines Manifests von Giacomo Balla und Fortunato Depero aus dem Jahre 1915. Schmidt-Bergmann 1993, S. 241. 31 Abgebildet im Anhang zum Beitrag von Walburga Hülk in diesem Band. 32 Boccioni 2002, S. 108. Heute würde man vielleicht sagen: Man wolle nicht alles anders, aber vieles besser machen. Vgl. o. Anm. 17. 33 Vgl. „Die Aussteller an das Publikum“ (1912), in: Nobis 2001 (wie Anm. 3), S. 377-380; Zitat S. 378, worin noch von einer „Verschmähung“ des Impressionismus die Rede ist.

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tinuität, und ohne diese wäre sie undenkbar.“34 Man könnte auch sagen: ohne Elemente der Wiederholung nicht erkennbar. Auch wenn – zumal in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts – zutreffen mag, dass der „künstlerische Wert […] wahrscheinlich eher in der Verschiedenheit als in der Ähnlichkeit [liegt]“,35 so erklärt dies allenfalls eine Dynamisierung der Ausdifferenzierung, Kunst ist ohne beides nicht zu haben, Verschiedenheit alleine bringt – das bekannte Problem der Autonomie36 –, wenn nicht gar den sicheren Tod, so doch Ignoranz, die um sich selbst nicht einmal im Entferntesten zu wissen in der Lage wäre. Selbst nun weit davon entfernt, einem allzu strengen Determinismus, fast schon im Sinne einer Prädestination, einer Art vorgegebener Heilsgeschichte‘ der Kunst (die es, man hatte es schon geahnt, kaum geben wird), das Wort zu reden, bleiben doch Grundzüge einer Art Entwicklungslogik als „Prozeß, bei dem – genau wie bei der Entstehung eines einzelnen Werkes – auf jeder Stufe des Erreichten immer wieder neu zu beurteilen ist, was weiterhin geschehen kann und geschehen soll.“37 Die Ausdrucksmöglichkeiten eines Mediums werden in einem solcherart unterstellten Prozess nach den Gesetzmäßigkeiten ebendieses und in einer Art kontinuierlicher Auseinandersetzung zwischen Redundanz und Varietät ausdifferenziert – und letztlich immer wieder als Momente von Einheit im Werk präsentiert.38 Tradition wird in dieser Identität ebenso aufgehoben wie die Zukunft, und bestünde bzw. besteht diese auch in der Auflösung eben jener Einheit, in welche dieses sich selbst Überbieten schließlich erst einmal münden muss.39 Letzten Endes bleibt die weiße Leinwand, beziehungsweise im Nachhinein dann die Möglichkeit, ausgelassene Intervalle innerhalb dieses Prozesses zu füllen, diesen mithin noch einmal zu reflektieren. Oder eben der Medienwechsel. 34 Greenberg, Clement: „Modernistische Malerei“ (1960), in: ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken. Karlheinz Lüdeking (Hrsg.), Amsterdam/Dresden 1997, S. 265-278; Zitat S. 278 (kursiv im Original). 35 Hofmann, Hans: „Über die Ziele der Kunst“, in: Charles Harrison/Paul Wood (Hrsg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Ostfildern-Ruit 2003, S. 443-446; Zitat S. 444. 36 Vgl. etwa Bürger 1974, S. 69, oder, einen anderen Aspekt betonend, Lüdeking in Greenberg 1997 (wie Anm. 34), S. 12. 37 Lüdeking in Greenberg 1997 (wie Anm. 34), S. 17. 38 Vgl. hierzu Luhmann 1997, S. 228. 39 Wobei selbst das Fragment bekanntlich u.U. noch als Teil einer Werktotalität gelesen werden kann, den unliebsamen Rest denken wir uns.

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Die Futuristen nun aber, welche auf der Mikroebene des Werkes eben jenes Kunststück vollbrachten, den Bedingungen des Wahrnehmens im Sinne der beschriebenen permanenten Aktualisierung des Moments sozusagen doppelt Form zu geben, stehen nicht zuletzt deswegen auf einer Grenzscheide zweier Welten: Gleichsam zwischen finestra und opera aperta seltsam oszillierend, loten sie zwar auf eine damals noch nicht bekannte Art und Weise die Möglichkeiten des Mediums aus und leisten damit einen kaum zu unterschätzenden Beitrag auch auf der Ebene des gesamten Systems, sind aber erst einmal nicht in der Lage, dessen weitere Entwicklung nachzuvollziehen. Jeder Schritt in Richtung zu noch mehr Reduktion, wenn man so will hin in Richtung Selbstreferenz und der bloßen Bedingungen der Leinwand, muss von ihnen angesichts der gewählten programmatischen Aufgabenstellung, wenn schon nicht als einer zurück, so doch als inadäquat empfunden werden. Wie gesagt: Äußerst kunstvoll wurde zwar der starre Gegenstand ins Schwingen gebracht und gerade trotz bzw. in der zeitlichen und räumlichen Beschränkung des Bildes aus seiner zeitlichen und räumlichen Beschränkung zu befreien gesucht, auch die Tendenz zur Serie bei den genannten Beispielen (vgl. Abb. 1-4) verdient besonderes Augenmerk,40 wird doch hier so etwas wie der Anlauf unternommen, ebenfalls den als unmarkiert markierten Bereich zwischen den Bildern zu erobern (und vielleicht geschieht dies ja auch bereits aus dem Unbehagen heraus, dass eben genau dieses Not tue). Aber dabei bleibt es denn auch erstmal – egal: Man wähnt sich ohnehin bereits „auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte“, und weiter: „Wir leben schon im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Schnelligkeit geschaffen“.41 Mit der Folge, dass die Kunst sich alsbald ein anderes Programm zu suchen hatte. Jedenfalls wird die Geschichte der Avantgarde nach den Anfangsjahren des Futurismus, der spätestens mit Ende des Ersten Weltkriegs seine Blütezeit bereits hinter sich hatte,42 bekanntlich woanders weiter 40 Und ohne dass sie als solche dezidiert ausgewiesen wären, kann man die automobile- bzw. velocità-Werke wahrscheinlich als eine Art Serie bezeichnen. Vgl. hierzu auch die Abbildungen in Nobis 2001 (wie Anm. 3), S. 92-97. 41 Marinetti, F.T.: „Gründungsmanifest des Futurismus“ (1909), in: Nobis 2001 (wie Anm. 3), S. 366-368; Zitat S. 367. 42 So treten in den 20er Jahren Seperationstendenzen, beispielsweise bei einigen Malern Hinwendungen etwa zum novecento italiano auf. Vgl. hierzu Carrà, Massimo: „Die Krise des Futurismus“, in: Nobis 2001 (wie Anm. 3), S. 72-78 oder etwa Crispolti, Enrico: „Der Futurismus und die europäischen Avantgardebewegungen in Europa zwischen 1910 und 1920“, in: ebd., S.

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geschrieben, und nicht von ungefähr treten in der Folgezeit, sozusagen als Indikatoren des Leerlaufs, Formen der Selbstbrechung auf. So zum Beispiel Marinettis berühmte und in gewohnt kämpferischer Manier vorgetragene Ablehnung der italienischen Pasta als Ausdruck des zu überwindenden Passatismus – es bleibt, so scheint es, nur noch die ironische Kopie.43 Oder aber, weit weniger amüsant, die Anlehnung an die Politik, in diesem Fall den italienischen Faschismus, welche lange Zeit zur Folge hatte, „dass er [der Futurismus; Ch.I.] aus dem Diskurs der historischen Avantgarde ausgegrenzt wurde“44 – ungeachtet der Tatsache, dass dieser im faschistischen Italien als eigenständige Bewegung kaum mehr die vorherige Rolle zu spielen in der Lage war. Denn die Politik ihrerseits kann lediglich an der Wirkung von, nicht aber an einer vitalen Kunst in ihrer Prozesshaftigkeit als Ursache selbiger Interesse haben45 – insofern mag man daher im Italien nach dem Weltkrieg vielleicht von einem geradezu idealtypischen Zusammentreffen sprechen. Nicht der im Zusammenhang mit den Futuristen stets betonte Vitalismus bereitet also hier den Boden, sondern, nur auf den ersten Blick ein Paradoxon, dessen Erlöschen. Und so scheint zumindest überlegenswert, ob es nicht auch das ist, was die Offenheit futuristischer Kunst für die faschistische Politik – und ebenso umgekehrt: die Aufnahmebereitschaft faschistischer Politik futuristischer Ästhetik gegenüber – neben all den bekannten Kongruenzen auf einer bloß ideologischen Ebene46 – ausmacht: der kalte Glanz vibrierender Energie, wie sie sozusagen gebändigt und innerhalb der einzelnen Werke zum Ausdruck kommt, ein Künstler als nach wie vor genialer Schöpfer und (um in der Terminologie der Futuristen zu bleiben) eine Art ,Feldherr der Intuition‘, dem der einfache Betrachter ausgeliefert ist, um an dessen „metaphysischen Erfahrungen“47 teilhaben zu können, und

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17-58; bes. S. 18f., der einen anderen Standpunkt vertritt und den Futurismus als über drei Jahrzehnte währende Bewegung innerhalb der italienischen Kunst ansieht – freilich um den Preis eines heterogeneren Erscheinungsbildes desselben. Vgl. hierzu Schmidt-Bergmann 1993, S. 14. Ebd., S. 22. Greenberg, Clement: „Avantgarde und Kitsch“ (1939), in: ders. 1997 (wie Anm. 34), S. 29-55; vgl. S. 46f. Auf die markigen Ausrufe v.a. Marinettis, der den Nationalismus und die Verherrlichung des Krieges als einzige Hygiene der Welt‘ propagiert, wird immer wieder hingewiesen. Vgl. etwa Schmidt-Bergmann 1993, S. 20 u. 52ff. Talpo 2001, S. 64.

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nicht zuletzt ein gestalterisches Programm, dessen eigene Grundlage überholt und deswegen nicht mehr in der Lage ist, sich Macht zu entziehen – und somit offen für eine Aneignung von außen.

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DIE FUTURISTISCHEN MANIFESTE DER VALENTINE DE SAINT-POINT – ZUR PERFORMATIVITÄT VON GENDER IN DER MEDIALEN VERMITTLUNG Abbildung 1: Valentine de Saint-Point (1875–1953)

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Im Mittelpunkt meiner Ausführungen zu den beiden futuristischen Manifesten der Valentine de Saint-Point soll der Aspekt der Performativität stehen – und zwar sowohl hinsichtlich des gewählten „Medium[s] Manifest“, wie es jüngst dezidiert vor allem von Hanno Ehrlicher in seiner 2001 erschienenen Dissertation pointiert worden ist,1 als auch im Hinblick auf die von der Autorin performativ gesetzten Modellierungen der Kategorie gender, wobei ich mich auf die Arbeiten von Judith Butler2 stützen möchte. Butler begreift Performativität als die habitualisierte und im Zitieren vorgängiger Normen beständig aktualisierte diskursive Praxis der Herstellung und Zuschreibung des Geschlechts, wodurch dieses naturalisiert wird. Im Manifest wird solches Sprach-Handeln mit autoritativer Geste unmittelbar vollzogen; es generiert voluntaristisch Wirklichkeit, eliminiert alte und produziert dafür neue Bedeutungen – beides mit Hilfe des Gebrauchs performativer Verben.3 Insofern als kulturelle Codierungen von gender immer schon unhintergehbar medial verfasst sind,4 erweist sich das Medium Manifest als ein bevorzugter Ort ihrer Artikulation. Meine These in Bezug auf die Manifeste Valentine de Saint-Points lautet nun, dass sie, sowohl was die Performativität des gender als auch des Mediums betrifft, auf bereits eingeführte Muster rekurrieren und diese, wenngleich unter veränderten Prämissen, lediglich fortschreiben, was ich im Folgenden konkret aufzeigen möchte – heuristisch getrennt zunächst am Beispiel der medialen Inszenierungspraktiken, sodann dem des Performierens von Geschlechter-Imperativen qua Manifest. 1 Ehrlicher, Hanno: Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001, S. 34. 2 Inbesondere Butler, Judith: „Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie“ (1988), in: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 301-320; dies.: Das Unbehagen der Geschlechter (1990), Frankfurt a.M. 1991; dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (1993), Frankfurt a.M. 1997 und dies.: Hass spricht. Zur Politik des Performativen (1997), Berlin 1998. 3 Fähnders, Walter: „Projekt Avantgarde und avantgardistischer Manifestantismus“, in: Wolfgang Asholt/ders. (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/Atlanta, GA 2000, S. 69-95; vgl. S. 87f. sowie Wagner, Birgit: „Auslöschen, vernichten, gründen, schaffen: zu den performativen Funktionen der Manifeste“, in: Asholt/Fähnders (Hrsg.): „Die ganze Welt ist eine Manifestation“. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste, Darmstadt 1997, S. 39-57. 4 Braun, Christina von: „Medienwissenschaft“, in: dies./Inge Stephan (Hrsg.): Gender Studien. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2000, S. 300-312; vgl. S. 302.

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Mediale Performanz der Manifeste ‚[…] 1908 […] bemerkte ich plötzlich, daß Artikel, Gedichte und Polemiken nicht mehr ausreichten. Man mußte unbedingt die Methode wechseln und auf die Straße gehen, die Theater angreifen und den Fausthieb in den künstlerischen Kampf einführen.‘ 5

F.T. Marinetti

Am 25. März 1912 erscheint, parallel in französischer und italienischer Sprache, die Flugblattversion eines Textes, der sich im Untertitel als „Antwort an F.T. Marinetti“ ausgibt und als Motto Artikel 9 aus dessen erstem „Manifest des Futurismus“ aus dem Jahre 1909 zitiert,6 in dem, kontrapunktisch zu einer Glorifizierung des Krieges, „die Verachtung des Weibes“ verlautbart worden war.7 Es handelt sich um das „Manifeste de la Femme futuriste“ / „Manifesto della Donna futurista“ (Abb. 2), das in deutscher Übersetzung alsbald auch im expressionistischen Sturm abgedruckt wurde,8 unterzeichnet von einer gewissen Valentine de SaintPoint (Abb. 1), einer Großnichte Lamartines, die im Paris des frühen 20. Jahrhunderts als schillernde Figur Furore machte. Ab 1905 war sie als Autorin von Gedichten, Romanen und Dramen hervorgetreten, später auch als bildende Künstlerin, Tänzerin und Choreographin.

5 Marinetti, F[ilippo] T[ommaso]: „Guerra sola igiene del mondo“ (1915), in: ders.: Theoria e invenzione futurista. Luciano De Maria (Hrsg.), Mailand 2 1983, S. 235; zitiert in der dt. Übs. nach Manfred Hinz: „Die Manifeste des Primo Futurismo Italiano“, in: Asholt/Fähnders 1997 (wie Anm. 3), S. 109131; Zitat S. 109f. 6 Saint-Point, Valentine de: „Manifest der futuristischen Frau. Antwort an F.T. Marinetti“ (1912), Auszüge in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart/Weimar 1995, S. 21-23; Zitat S. 21. 7 Marinetti, F.T.: „Gründung und Manifest des Futurismus“ (1909), in: ebd., S. 3-7; Zitat S. 5. 8 Zielke, Sigrid Sonja: „Der italienische Futurismus – ein erstes totales Medienevent in der Avantgarde“, in: Ingo Bartsch/Maurizio Scudiero (Hrsg.): „… auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert!…“ Die zweite Phase des italienischen Futurismus 1915-1945, Bielefeld 2002, S. 57-66; vgl. den Hinweis auf S. 60f.

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Abbildung 2: V. de Saint-Point: „Manifesto della Donna futurista“ (1912), Faksimile des Titelblattes

Mögen die paratextuellen Rahmungen des Manifests auf den ersten Blick den Anschein einer unmotivierten Replik einer Frau auf die misogynen Thesen Marinettis erwecken, so gibt es sich bei näherem Hinsehen als geschickt lancierter Coup zu erkennen, der in Absprache mit dem Wortführer und genialen Strategen der futuristischen Bewegung erfolgt sein dürfte. Nicht allein, dass diese „Antwort“ reichlich verspätet ans Licht der Öffentlichkeit gerückt wurde – lagen zwischen der exponierten Platzierung von Marinettis Referenztext an prominenter Stelle auf der Titelseite des Figaro und dem Auftauchen des „Manifests der futuristischen Frau“ doch immerhin drei Jahre –, auch die beiden Akteure der Inszenierung waren seit langem miteinander bekannt: 1908 waren sie einander in Paris begegnet, Marinetti hatte der Französin in seiner Zeitschrift Poesia ein Forum zur Publikation ihrer literarischen Werke geboten und anlässlich einer von ihr veranstalteten Salonsoirée ihre Verse rezitiert. All dies lässt darauf schließen, dass die Provokation, die vom Manifest de SaintPoints ausgehen sollte, durchaus kalkuliert war und erinnert in aller Deutlichkeit an Marinettis eigenes taktisches Vorgehen bei der Veröffentlichung seines ersten futuristischen Manifests, das seinerzeit Geburtsstunde und Gründungsakt der historischen Avantgarden in Europa ausgerufen hatte, in seinem „‚Sofortismus‘“9 mithin gleichsam ad hoc

9 Fähnders 2000, S. 88.

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eine neue Ära eingeläutet wissen wollte, deren „Startschuß“10 es mit Pauken und Trompeten unüberhörbar abgab. ‚Ein halbes Jahrhundert vor Marshall McLuhan hatte Marinetti erkannt, dass ‚das Medium die Botschaft‘ ist. Man braucht sich nur anzusehen, wie er das erste Manifest lancierte, um zu begreifen, wie wagemutig und gekonnt er public relations handhabte. Durch die wirkungsvolle Publikation eines Pseudo-Ereignisses (der Erschaffung des Futurismus) in den Massenmedien wurde die Infor11 mation Wirklichkeit.‘

Einmal mehr findet sich mit dem multimedial in Szene gesetzten „Manifest der futuristischen Frau“ bestätigt, was Dieter Mersch als ausschlaggebendes Charakteristikum des Performativen reklamiert, denn dieses „betont insonderheit das Moment seiner Realisation, das Faktum, dass eine Handlung instantiiert werden muss, dass sie als Akt in eine Welt eingreift.“12 Zu diesem Eindruck fügt sich die Etymologie, bedeutet das lateinische manifestus doch ganz im Wortsinn „handgreiflich“; das Verb manifestare macht etwas „sichtbar“.13 Ähnliche Konnotationen schwingen im Begriff des ‚Ereignisses‘ mit, der seiner Herkunft aus dem ahd. araucnissa, arougnessi nach ein ‚Sichzeigen‘ meint; das zugehörige Verb irougen, mhd. eroüg(n)en (abgeleitet von ahd. ouga, ‚Auge‘) bedeutet wörtlich ‚vor Augen halten‘. Julia Encke und Claudia Öhlschläger weisen zudem auf eine geläufige Volksetymologie hin, die das Eräugnis fälschlich mit dem ‚Eigenen‘ (im Sinne von ‚sich aneignen‘) identifizierte. Beide Wortbedeutungen verlinkt das nhd. ‚Ereignis‘.14 Bei de Saint-Point nicht anders als zuvor im Falle Marinettis wird somit eine Plötzlichkeit des Erscheinens auf den wechselnden Bühnen der großen europäischen Metropolen suggeriert, eine „Attraktion des Augen-

10 Ebd., S. 73. 11 Hulten, Pontus (Hrsg.): Futurismo & Futurismi, Mailand 1986; zitiert in der dt. Übs. nach Eva Hesse: Die Achse Avantgarde – Faschismus. Reflexionen über Filippo Tommaso Marinetti und Ezra Pound, Zürich o.J. (d.i. 1991), S. 53 (kursiv im Orginal). 12 Mersch, Dieter: „Ereignis und Respons. Elemente einer Theorie des Performativen“, in: Jens Kertscher/ders. (Hrsg.): Performativität und Praxis, München 2003, S. 69-94; Zitat S. 70 (kursiv im Original). 13 Mackensen, Lutz: Ursprung der Wörter. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, München 1985, S. 120. 14 Encke, Julia/Öhlschläger, Claudia: „Arbeit am Unverfügbaren. Ernst Jünger und die Szene des Ereignisses“, in: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hrsg.): Performativität und Ereignis, Tübingen/Basel 2003, S. 135-148; siehe S. 138.

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blicks“,15 die – selbst Teil der inszenatorischen Übereinkunft – verdeckt, dass die Publikation der Manifeste hinter den Kulissen nachgerade generalstabsmäßig von langer Hand vorbereitet worden war, ehe diese schlussendlich Rampenlicht erblicken durften. Eine minutiöse Rekonstruktion des „Probelauf[s]“, auf den Marinetti sein Manifest schickte, bevor es auf allerlei Umwegen sein Ziel erreichte, lässt sich bei Walter Fähnders nachlesen.16 Im Zuge der von ihm anvisierten futuristischen Mobilisierung und wahrhaft enzyklopädischen Durchdringung aller Lebensbereiche im konjunkturellen Gestus des Manifestierens17 fand Marinetti in Valentine de Saint-Point, die sich seit 1910 in Vorträgen und Schriften über die Themen Frauen und Literatur in für den Futurismus verwertbarem Sinne geäußert hatte, ein geeignetes Sprachrohr, um seine Ideen aus Sicht einer Frau propagieren zu lassen. So hieß es beispielsweise in Une femme et le désir: ‚L’âme féminine – je dis âme parce que beaucoup d’hommes sont femmes – est pétrie pour l’adoration, c’est-à-dire pour s’accrocher aux forts et les retenir à son niveau. L’ambition de la femme est de jouer un rôle dans la vie de l’homme qui l’approche. La femme vraiment est le contre-poids du sublime‘. Die weibliche Seele – ich sage Seele, weil viele Männer Frauen sind – ist dazu da, zu bewundern, d.h. sich an die Starken zu hängen und sie auf ihrem [eigenen; T.Sch.] Niveau zu halten. Der Ehrgeiz der Frau ist es, eine Rolle im Leben des Mannes zu spielen, der sich ihr nähert. Die Frau ist in der Tat das Gegengewicht zum 18 Erhabenen.

15 Fischer-Lichte, Erika/Roselt, Jens: „Attraktion des Augenblicks – Aufführung, Performance, performativ und Performativität als theaterwissenschaftliche Begriffe“, in: dies./Christoph Wulf (Hrsg.): Theorien des Performativen. Paragrana, Jg. 10, Nr. 1 (2001), S. 237-253. 16 Fähnders, Walter: „‚Vielleicht ein Manifest‘. Zur Entwicklung des avantgardistischen Manifestes“, in: Asholt/ders. 1997 (wie Anm. 3), S. 18-38; siehe S. 22ff. 17 „Mittlerweile besteht Übereinstimmung darin, daß das Manifest die avantgardistische Gattung […] par excellence ist: Die Avantgarde hat die Welt mit einem Netz von Manifesten, Proklamationen, Programmatiken, Erklärungen überzogen, die keinen Themen- und Lebensbereich auslassen“. Fähnders 2000, S. 73 (kursiv im Original). 18 Saint-Point, Valentine de: Une femme et le désir, Paris 1910; zitiert nach Giovanni Lista: Futurisme. Manifestes – proclamations – documents, Lausanne 1973, S. 52 (eigene Übs.).

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Mit der Proklamation ihrer Manifeste wurde de Saint-Point der interessierten Öffentlichkeit werbestrategisch als offizielle Repräsentantin einer ‚futuristischen Frauensektion‘ präsentiert, die zu diesem Zeitpunkt bestenfalls als im Entstehen begriffen gewertet werden kann. Dennoch weist die Rückseite ihres zweiten Manifests (Abb. 4) sie bereits als Funktionsträgerin der „DIREZIONE del MOVIMENTO FUTURISTA“ aus, zuständig für die „AZIONE FEMMINILE“.19 Abbildungen 3 u. 4: V. de Saint-Point: „Manifesto futurista della Lussuria“ (1913), Faksimiles von Vorder- und Rückseite

Unter publicityträchtigem Einsatz unterschiedlichster Medien wurde das „Manifeste de la Femme futuriste“ im Juni 1912 in Brüssel anlässlich der dortigen Ausstellung futuristischer Malerei in der Galerie Giroux verlesen; wegen seines durchschlagenden Erfolges wiederholte man dieses öffentlichkeitswirksam inszenierte Medienevent20 der besonderen Art drei Wochen darauf im Rahmen einer so genannten „Soirée Apollonienne“ in der Pariser Salle Gaveau, wo de Saint-Point wiederum gemeinsam mit Marinetti auftrat, der persönlich die an die Lesung sich anschließende, Zeitungsberichten zufolge heftige und kontroverse Diskussion leitete, indem er die Stimmung im Saal kräftig anheizte. Der Abend endete, wie nicht anders zu erwarten war, im Tumult. Das polemische Presseecho 19 Dies.: „Manifesto futurista della Lussuria“ (1913), in: Manifesti, proclami, interventi e documenti teorici del futurismo 1909-1944 (4 Bd.e). Luciano Caruso (Hrsg.), Florenz 1980, Bd. I, Nr. 29, ohne Paginierung (Großschreibung im Original). 20 Zielke 2002 (s.o. Anm. 8).

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seinerseits veranlasste Valentine de Saint-Point, in einem weiteren Manifest, dem „Manifeste futuriste de la Luxure“ / „Manifesto futurista della Lussuria“ (Abb. 3) vom 11. Januar 1913, auf die erhobenen Vorwürfe zu reagieren und ihre Position erneut zu bekräftigen. Das von den Futuristen betriebene hybride Medienspektakel rund um die Manifeste, ihre Diffusion im internationalen Maßstab über die verschiedensten Kanäle (in Flugblättern wie Tagespresse, plakatiert an Litfass-Säulen, als Wurfsendungen aus fahrenden Autos, durch simultane Veröffentlichung in mehreren Sprachen etc.), ihre veritable ‚Aufführung‘, Einbettung in theatrale Kontexte bei Deklamationsabenden,21 kurz: ihre Omnipräsenz und Sogwirkung, der sich kaum jemand entziehen konnte – dies alles zusammengenommen rechtfertigt es, in der Ausweitung der literarischen Textform Manifest zum Bestandteil einer die Kunstgattungen und ihre spezifische Medien übergreifenden Manifestationspraxis […] die spezifische historische Innovati22 onsleistung des Futurismus

zu lokalisieren. Das Manifest ist in seinem Drängen auf umstandslose „Erfüllung jetzt“23 nicht länger nur „Parade-Gattung der Avantgarde“,24 sondern Gegenstand eines geradezu totalitären „Manifestantismus“,25 dem „ein radikal performativer Grundzug“26 eignet: „Als bewußt performativ gedachte Texte bilden die Manifeste einen ausgezeichneten Kronzeugen für die Absichten der Avantgarde.“27 Darüber hinaus erfüllen die genannten Punkte sämtliche Kriterien für das Phänomen der Theatralität im Sinne Fischer-Lichtes, das nach deren eigener Aussage dem Performativen nahezu gleichkommt – namentlich Inszenierung („als spezifischer Modus der Zeichenverwendung in der Produktion“), Korporalität (d.h. leibliche Präsenz und ebensolcher Ausdruck), Wahrnehmung (bezogen „auf den Zuschauer, seine Beobachtungsfunktion und -perspektive“) sowie Aufführung/Performance („als Vorgang 21 „Zum performativen Potential der futuristischen serate“ siehe den gleich lautenden Beitrag von Sabine Schrader in diesem Band. 22 Ehrlicher 2001, S. 33. 23 Fähnders 2000, S. 88. 24 Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter: „‚Projekt Avantgarde‘ – Vorwort“, in: diess. 1997 (wie Anm. 3), S. 1-17; Zitat S. 4. 25 Fähnders 2000 (s.o. Anm. 3). Dem Autor zufolge handelt es sich bei dem Terminus um einen „Neologismus der deutschen Avantgarde“, entlehnt von Franz Pfemfert, der ihn 1913 prägte. Ebd., S. 75. 26 Asholt/Fähnders 1997 (wie Anm. 24), S. 15. 27 Diess.: „Einleitung“, in: diess. 1995 (wie Anm. 6), S. XV-XXX; Zitat S. XXV.

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einer Darstellung durch Körper und Stimme vor körperlich anwesenden Zuschauern“, der „das ambivalente Zusammenspiel aller beteiligten Faktoren beinhaltet“).28 Sigrid Sonja Zielke ist darum zuzustimmen, wenn sie schreibt: Tanz, Theater und Varietee entprachen wohl am ehesten der futuristischen Vorstellung von Aktion, von inszenierter Darstellung und vermitteln den Ausdruck ihrer Idee unmittelbar über das Medium, das Ausgangspunkt und Zielpunkt der futuristischen Bewegung 29 schlechthin ist: der Mensch.

Wenn im Weiteren der Fokus des Interesses auf die Inhaltsebene der Manifeste verlagert werden soll, so gilt es freilich zu bedenken, dass die ephemere, weil je singuläre Gegenwärtigkeit ihrer Aufführung und Wirkung, ihre überschießende Ereignishaftigkeit gleichsam, angewiesen bleibt auf ein wie auch immer flüchtiges Hier und Jetzt, das in der ein für alle Mal fixierten Schriftlichkeit – ungeachtet einer mehr oder minder signifikanten textuellen bzw. typographischen Varianz von Fassung zu Fassung – schlechterdings nicht eingeholt, vielmehr bloß re-präsentiert werden kann, als Mimesis von Praxis, „Realität zweiten Grades“30 sozusagen, als „Gedächtnisspur einer performativen Äußerung“,31 „Palaver, Wortzauber, rhetorische Feuerwerke, deren Licht umso schneller erlischt, je greller es den jeweiligen Moment erhellte“.32 „Es [das Ereignis; T.Sch.] erschöpft sich in seinem Vollzug“,33 einer Präsenz, die dem Rezipienten live, im Augenblick noch ihres Verschwindens „blitzartig widerfährt“34 und schwerlich auf Dauer gestellt werden kann – so „leuchtet unmittelbar ein, daß es nicht zwei Aufführungen derselben Inszenierung geben kann, die einander gleichen.“35 Um wieviel weniger vermögen erst sprachliche Zeichen das allemal schon Vergangene der körpergebundenen Inszenierung unentstellt zu vergegenwärtigen! Das nicht mehr Greifbare kann nicht eher als nachträglich und auch dann nur ‚in Abwesen28 Fischer-Lichte, Erika: „Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur“ (1998), in: Wirth 2002 (wie Anm. 2), S. 277300; Zitate S. 299 wie auch dies.: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen/Basel 2001, S. 297. 29 Zielke 2002, S. 62 (kursiv im Original). 30 Wagner 1997 (wie Anm. 3), S. 40. 31 Ebd., S. 49. 32 Ebd., S. 47. 33 Fischer-Lichte, Erika: „Einleitung: Performativität und Ereignis“, in: dies. u.a. 2003 (wie Anm. 14), S. 11-37; Zitat S. 17. 34 Ebd., S. 31. 35 Ebd., S. 25.

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heit‘ erfasst werden. Leibhaftiges Da-Sein und Agieren liegt somit im Grunde außerhalb jeglichen diskursiven Zugriffs. Jeder Versuch seiner Aufzeichnung oder Archivierung erfordert das Überspringen eines zeitlichen Abgrundes – etwas in die Diskursivierung zu ‚retten‘ heißt, es für Wiederholungen zu öffnen, die bereits eine Differenz aufmachen zum ‚eigentlichen‘ körperlichen Akt in seiner schieren Unverfügbarkeit.36 Auf den eigentümlichen Zwitterstatus der Manifeste als Umschlagplätzen von Aktion zu Dokumentation, Oralität zu Literalität hat bereits Birgit Wagner hingewiesen,37 und auch Asholt/Fähnders betonen, dass „gerade die Manifeste die Grenze […] zwischen autoreferentiellem und performativem Charakter von Texten in Frage“ stellten.38 Da das Performative, bedingt durch den Medienwechsel vom mündlichen Vortrag zum geschriebenen Text, sich weniger in der situationsspezifischen äußeren Ausgestaltung des Manifests erhält, muss es stattdessen in seinem kodifizierten Gehalt, im Thematischwerden also von gender-Performanzen aufgesucht werden.

36 Siehe hier weiterführend die methodischen Überlegungen von Sybille Krämer zum „Suchbegriff“ einer „vorprädikativen“, „‚verkörperte[n] Sprache‘“, die den hermeneutischen Trugschluss einer „virtualisierten Sprache“, eines in den Buchstaben waltenden Geistes hinter sich ließe. Krämer, Sybille: „Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“, in: Wirth 2002 (wie Anm. 2), S. 323-346; Zitate S. 332, 325 u. 329. 37 Vgl. Wagner 1997. 38 Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 27), S. XVII.

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Performativität des gender im Manifest ‚Die Kunst scheint das Gebären des Mannes zu sein […]. Das Weib gebiert Menschen, der Mann das Kunstwerk. […] Menschheit und Kunst sind zwei Geschlechter.‘ ‚Bei der Zeugung – Kraft der Phantasie. Nichts als bloßes Gebilde des andern. […] Denn beide geben, keines eigentlich empfängt. Die Gestalt des Mannes muß ideell wirken, denn sie ruft dem Weibe die Materie hervor, die Gestalt der Frau materiell, denn sie ruft den Geist, die Idee hervor. […] Der Mann ist der Frau ein Gott, die Frau dem Manne eine Natur.‘ Johann Wilhelm Ritter

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Damit komme ich auf die performative Setzung von gender-Normen zu sprechen, wie das „Manifest der futuristischen Frau“ sie unter Ausnutzung der Möglichkeiten, die das Medium bietet, vornimmt. Inhaltlich lässt sich seine Argumentationskette wie folgt wiedergeben: Ebenso wie Marinetti in Artikel 10 seines „Manifest[s] des Futurismus“, spricht sich Valentine de Saint-Point vehement gegen den Feminismus aus, den sie als „politische[n] Irrtum“, mehr noch: als „Gehirnfehler der Frau“40 disqualifiziert. In einem kleinen Schlenker sei an dieser Stelle, ohne lange abschweifen zu wollen, das Kuriosum vermerkt, dass auch Derrida den

39 Ritter, Johann Wilhelm: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur (1810). Steffen u. Birgit Dietzsch (Hrsg.), Hanau 1984, Fragmente 495 u. 504; zitiert nach David E. Wellbery: „Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur“, in: Christian Begemann/ders. (Hrsg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg i.Br. 2002, S. 9-36; Zitate S. 17 u. 18 (kursiv im Original). Die beiden Motti ließen sich auch auf den Nenner bringen: „Zugespitzt formuliert: die Gebärmutter, in der eine Art von sexueller Ideation stattfindet, ist das sexuale Gehirn der Frau; umgekehrt ist das Gehirn die intellektuale Gebärmutter des Mannes.“ Koschorke, Albrecht: „Inseminationen. Empfängnislehre, Rhetorik und christliche Verkündigung“, in: ebd., S. 89110; Zitat S. 93. 40 Saint-Point, Valentine de: „Manifest der futuristischen Frau“, vollständig übersetzt in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek 1993, S. 91-95; Zitat S. 93.

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Feminismus als männlichen Irrweg der Frauen unter Ideologieverdacht stellt: ‚Et en vérité les femmes féministes […], ce sont les hommes. Le féminisme, c’est l’opération par laquelle la femme veut ressembler à l’homme, au philosophe dogmatique, revendiquant la vérité, la science, l’objectivité, c’est-à-dire avec toute l’illusion virile, l’effet de castration qui s’y attache. Le féminisme veut la castration – aussi de la femme.‘ ‚Und wirklich sind die Frauenrechtlerinnen […] die Männer. Die Frauenbewegung ist das Verfahren, durch das die Frau dem Mann, dem dogmatischen Philosophen ähneln will, indem sie die Wahrheit, die Wissenschaft, die Objektivität fordert, das heißt zusammen mit der gesamten männlichen Illusion, auch den Kastrationseffekt, der ihr anhaftet. Die Frauenbewegung will die Kastration – 41 auch der Frau.‘

Doch zurück zu unserem Manifest. Zwar geht de Saint-Point von einer prinzipiellen Gleichheit der Geschlechter aus, was die Kategorie sex betrifft – so sei es, schreibt sie, „absurd, die Menschheit in Frauen und Männer einzuteilen“ –, macht die Geschlechterdifferenz allerdings symbolisch am unterschiedlichen ‚Geschlechtscharakter‘ bzw. gender fest, wenn sie fortfährt: „Sie [die Menschheit; T.Sch.] besteht nur aus Weibheit und Mannheit“42 – wobei wie üblich Männlichkeit positiv und Weiblichkeit negativ konnotiert wird. Die gewählte Formulierung lässt Otto Weiningers Feststellung anklingen, wonach „[e]s […] in der Erfahrung nicht Mann noch Weib [gibt] […], sondern nur männlich und weiblich.“43 Mit Weininger argumentiert de Saint-Point weiter, dass die postulierte gender-Differenz allein in einer Kombination ‚männlicher‘ und ‚weiblicher‘ Eigenschaftsprofile, durch Hybridisierung also, aufgehoben werden könne; das Heroen- oder „‚Künstlergeschlecht par excellence‘“44

41 Derrida, Jacques: Éperons. Les styles de Nietzsche (viersprachige Ausgabe), Venedig 1976, S. 52f.; zitiert nach Ursula Link-Heer: „Das Zauberwort ‚Differenz‘ – Dekonstruktion und Feminismus“, in: Hannelore Bublitz (Hrsg.): Das Geschlecht der Moderne. Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz, Frankfurt a.M./New York 1998, S. 49-70; Zitat S. 64. 42 Saint-Point 1993, S. 92 (kursiv im Original). 43 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (1903), München 1980, S. 10. 44 „Épilogue“, in: Leonardo da Vinci: Conferenze fiorentine, Mailand 1910, S. 308; zitiert nach Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik (1930), München 21981, S. 282 (kursiv im Original).

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siedelt sie folgerichtig an der Nahtstelle zwischen oder jenseits von Maskulinität und Feminität an: Jeder Übermensch, jeder Held, […] jedes Genie […] [besteht] aus weiblichen und männlichen Elementen […], aus Weibheit und 45 Mannheit: weil es ein vollkommenes Wesen ist.

Bis hierher mag man noch der Argumentation Lucia Res folgen, die in Valentine de Saint-Point eine Vorläuferin postfeministischer Theoriebildung erkennt: Anticipating an argument which was later to gain wide currency in contemporary feminist theory, Valentine argues […] claiming that to divide humanity along gender lines on the basis of sexual difference is absurd inasmuch as it is neither an absolute nor a valid basis for differentiating among human beings. Not only do men and women alike partake of the masculine and the feminine in varying degrees across a spectrum of sexual […] attitudes but, according to Valentine, the feminine and the masculine themselves are relative categories, culturally and historically variable and subject to 46 change […].

Die Kehrseite des von ihr idealisierten gender-Hybriden, so de SaintPoint, bilde eine Überbetonung des Maskulinen oder Femininen in der einzelnen Persönlichkeit: „Ein nur-männliches Individuum ist ein Vieh; ein nur weibliches Individuum das Weibchen.“47 Um die ‚verweiblichte‘ Décadence zu überwinden, müsse vorübergehend jedoch das Animalische privilegiert werden: Was den Frauen ebenso wie den Männern am meisten fehlt, ist Mannheit. […] Um unseren in der Weibheit erstarrten Rassen Mannheit wiederzugewinnen, muß man sie bis zur Brutalität heraufreißen. […] [I]n der Zeit des Weibischen, in der wir leben, ist nur die gegenteilige Übertreibung heilsam: Die Bestie soll man als Beispiel 48 wählen.

Ganz oben auf der Agenda, die Valentine de Saint-Point an die Adresse der ‚futuristischen Frau‘ – wer immer sich von dieser Programmatik angesprochen fühlen mochte – erlässt, steht demnach die Kultivierung ihrer kriegerischen Instinkte. An dieser Stelle offenbart sich die Problematik

45 Saint-Point 1993, S. 92. 46 Re, Lucia: „Futurism and Feminism“, in: Annali d’Italianistica, Jg. 7 (1989), S. 253-272; Zitat S. 259. 47 Saint-Point 1993, S. 92. 48 Ebd. (kursiv im Original).

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des hier durchexerzierten Geschlechterdiskurses erstmals in voller Tragweite. Whereas on the one hand such a discourse begins to glimpse, however obscurely, what we would now call the social construction of gender, on the other it also produces an argument for a very prob49 lematic kind of bellicose androgyny.

Der Konstruktcharakter des saint-pointschen Geschlechterentwurfs verrät sich mitunter zwar – wohl unfreiwillig – in Soll-Vorschriften vom Stil: „Frauen, werdet […] wie die Natur“,50 doch vermag man nicht recht nachzuvollziehen, dass Re aus ihrer eher abenteuerlich anmutenden doppelgeschlechtlichen Konfiguration den Schluss zieht: „the futurist hero(ine) is neither a man nor a woman but an altogether new being who defies our understanding of what is a man and what is a woman.“51 Als entfesselte Natur nämlich gleicht der vermeintliche Zukunftsentwurf dem sattsam bekannten Repertoire entnommenen Verkörperungen einer ‚imaginierten Weiblichkeit‘ vom Typus der femme fatale52 wie den Erinnyen, den Amazonen, Semiramis, Jeanne d’Arc, Judith oder Kleopatra – die Sinne betörenden und Unheil prophezeienden Geschöpfen, Quellen und Katalysatoren einer Angstlust, an denen der futuristisch gestählte Mann sich zu bewähren hat. Es ist ‚die perverse und sensuelle Frau, die mit der Funktion eines zu beseitigenden Hindernisses, einer niederzureißenden Barriere übernommen wird, die sich rechtfertigt aus dem Antagonismus, den sie entfesseln kann und an dem sich die männliche Aggressivität und 53 Vorherrschaft mißt.‘

49 Spackman, Barbara: „Fascist Women and the Rhetoric of Virility“, in: Robin Pickering-Iazzi (Hrsg.): Mothers of Invention. Women, Italian Fascism, and Culture, Minneapolis/London 1995, S. 100-120; Zitat S. 104. 50 Saint-Point 1993, S. 94 (Kursivierung der Vf.in). 51 Re 1989, S. 260. 52 Vgl. hierzu auch Mondini, Daniela: „Tod und Auferstehung der Femme fatale im italienischen Futurismus (1909-1914)“, in: Frauen Kunst Wissenschaft, Jg. 19 (1995), S. 51-57. 53 Guerricchio, Rita: „Il modello di donna futurista“, in: Donne e politica, Nr. IV (Aug.-Okt. 1976), S. 35-37; Zitat S. 36; zitiert in der dt. Übs. nach Anna Nozzoli: „‚Die Frauen von übermorgen‘: Schriftstellerinnen und Avantgarde“ (1978), in: Manfred Hardt (Hrsg.): Literarische Avantgarden, Darmstadt 1989, S. 240-250; Zitat S. 246.

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Abbildung 5: U. Boccioni: Idolo moderno (1911), Öl auf Holz; 59,7 x 58,4 cm; London: Estorick Collection of Modern Italian Art

Im ikonographischen Bereich korrespondiert dem die beklemmende Darstellung eines Vamp im Gemälde Modernes Idol (1911) von Umberto Boccioni (Abb. 5), das den konsumierbaren Bildstatus des Weiblichen in zeitgenössischen Modephotographien aus Presse und Werbung persifliert und den in der Grundsatzerklärung der futuristischen Maler angemeldeten Anspruch einlöst, „‚den Betrachter mitten ins Bild‘“54 zu ziehen. Das im „befremdend frontalen“ Blick des ‚Idols‘ sich ausdrückende aggressive weibliche Begehren, unterstrichen noch durch die grelle Farbgebung, irritiert, ver-rückt die installierte Sehordnung und konfrontiert, als Reminiszenz an ein Medusenhaupt, den Betrachter mit Kastrationsängsten.55 Indem der Furcht einflößende An-Blick der Frau in ihrer ganzen Monstrosität als bedrohlicher „Angriff auf das […] Betrachtersubjekt des Gemäldes eingesetzt wird“,56 demonstriert es augenfällig die Gefahren der zu verabschiedenden bürgerlichen Geschlechterordnung. Diagnosti54 Boccioni, Umberto: Futuristische Malerei und Plastik (Bildnerischer Dynamismus) (1914). Astrit Schmidt-Burkhardt (Hrsg.), Dresden 2002, S. 110 (kursiv im Original). 55 Vgl. dazu die Skizze von Freud, Sigm[und]: „Das Medusenhaupt“ (1922), in: ders.: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet. Anna Freud (Hrsg.), London/Frankfurt a.M. 1941, Bd. 17: Schriften aus dem Nachlass 18921938, S. 45-48. 56 Valerio, William R.: „Frauenfeindliche Tendenzen im italienischen Futurismus – Der Mann als Betrachter im Bild“, in: Susanne Deicher (Hrsg.): Die weibliche und die männliche Linie. Das imaginäre Geschlecht der modernen Kunst von Klimt bis Mondrian, Berlin 1993, S. 183-199; Zitate S. 191.

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ziert wird so eine „Krise der männlichen Subjektivität“,57 die der Frivolität bourgeoisen Lebenswandels geschuldet ist – eine Konsequenz aus den Feminisierungstendenzen der Dekadenz, haben doch, „‚[…] seitdem Künstler, die von den Körpern ihrer Geliebten besessen waren, die Salons in Schauplätze verderbten Fleisches verwandelt haben‘“,58 die Lebensenergien des Mannes eine empfindliche Schwächung hinnehmen müssen, gegen die jetzt die futuristische Frauenverachtung als Waffe in Anschlag gebracht werden soll. Einher geht jene, wir erinnern uns, mit einer begeisterten Akklamation des Krieges als den „‚roten Ferien des Genies‘ (Marinetti)“,59 die symptomatisch auch „die Auflösung der klassischen Autorfunktion“60 nach Foucault61 indiziert. In der leeren Geste endlos repetierter Beschwörungsformeln verheißt der Krieg den Einbruch einer neuen Ordnung, in der das Ich des Künstlers/Kriegers sich nicht länger als seiner selbst entfremdet wahrzunehmen hofft. Da das verdrängte Andere in ihm sich aber jeweils bloß vorübergehend bannen lässt und ihn, beständig wiederkehrend, heimsucht, vermag der Autor, als gewissermaßen letztgültige Beglaubigung seines phantasmagorischen Status, „sich nurmehr auf der Schwelle eines perpetuierten Ausnahmezustands [zu] konstituieren […], an der seine Selbstbehauptung als totalitäre Herrschaftsphantasie sowie deren notwendiges Scheitern zutage treten.“62 Die mittels der lautstark artikulierten männerbündischen Kriegsrhetorik übertönte „unheimliche Differenz des Mannes zu sich selbst“,63 die er auf das Weibliche proji57 Ebd.; zu den Blick- und v.a. „Subjektpositionen im avantgardistischen Diskurs“ siehe den Beitrag gleichen Titels von Birgit Wagner, in: Asholt/Fähnders 2000 (wie Anm. 3), S. 163-182. 58 Boccioni, Umberto/Carrà, Carlo D./Russolo, Luigi/Balla, Giacomo/Severini, Gino: „La pittura futurista. Manifesto tecnico“ (1910), in: Maria Drudi Gambillo/Teresa Fiori (Hrsg.): Archivi del Futurismo, Rom 1958, S. 65f.; zitiert in der dt. Übs. nach Valerio 1993, S. 184. 59 Ohne Quellenangabe zitiert nach Hinz, Manfred: „Die Manifeste des Secondo Futurismo Italiano“, in: Asholt/Fähnders 1997 (wie Anm. 3), S. 132160; Zitat S. 132. 60 Bischoff, Doerte: „‚Dieses auf die Spitze getriebene Mannestum‘. Kriegsrhetorik und Autorschaft um 1914“, in: Kathrin Hoffmann-Curtius/Silke Wenk (Hrsg.): Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997, S. 60-72; Zitat S. 62f. 61 Siehe dazu Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?“ (1969), in: Fotis Jannidis u.a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 198229. 62 Bischoff 1997, S. 64. 63 Menke, Bettine: „Verstellt – der Ort der Frau und die Stimme des Textes“, in: Nathalie Amstutz/Martina Kuoni (Hrsg.): Theorie – Geschlecht – Fiktion, Basel 1994, S. 185-204; Zitat S. 196.

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ziert, holt ihn immer wieder ein. Es offenbart sich „eine unübersehbare Funktionsäquivalenz zwischen ästhetischer und militärischer Destruktion, Weltkrieg und Avantgarde.“64 Der Krieg, neuerdings ausgestattet mit einer ihm eigenen Ästhetik, erscheint unter dieser Perspektive als Entscheidungskampf zwischen dem Ewiggestrigen (‚Passatistischen‘65) und einem zu gewinnenden Morgen sowie zwischen Frau und Mann – wenn man die epistemologische „Krise der Unterscheidungen“66 an der epochalen Zeitenwende zur Moderne geschlechteranthropologisch verbildlichen möchte und das ‚Weibliche‘, ihr neuralgisches Zentrum, als „figuratives Substitut“,67 allegorische „Chiffre für Entdifferenzierung“68 begreift. Als eine vom Mann definierte gibt die konventionelle Polarität des Maskulinen und des Femininen der Frau einen Namen als Metapher des Mannes. […] Die rhetorische Hierarchisierung der Opposition zwischen den Geschlechtern führt dazu, daß die Differenz der Frau unterdrückt wird, indem sie durch die Referenz des Weibli69 chen auf die männliche Identität vollständig subsumiert wird.

Dass die geschlechtsspezifische Besetzung dieses Antagonismus schon unter Zeitgenossen des Krieges gängige Praxis war, belegen Aussagen wie die eines Wilhelm Worringer;70 die „These der Vergeschlechtlichung der Moderne […], die unter der Hand ihren Geschlechtscharakter offenbart“ „in der Diskursfigur einer drohenden Verweiblichung […] der Kultur“, welche „phantasmatisches Leitmotiv der Debatte über die Kulturkrise“ wird, verdanken wir Hannelore Bublitz.71 Vornehmste Aufgabe der futuristischen Frau im Dienste vitalistischer Regenerations-, d.h. Revirilisierungbemühungen ist es, dem Va64 Koschorke, Albrecht: „Die Männer und die Moderne“, in: Asholt/Fähnders 2000 (wie Anm. 3), 141-162; Zitat S. 146. 65 So die Kampfterminologie, mit der die Futuristen gegen alles zu Überwindende zu Felde zu ziehen pflegten. 66 Koschorke 2000, S. 150 (kursiv im Original). 67 Felman, Shoshana: „Weiblichkeit wiederlesen“ (1981), in: Barbara Vinken (Hrsg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt a.M. 1992, S. 33-61; Zitat S. 39. 68 Koschorke 2000, S. 152. 69 Felman 1992, S. 39 (kursiv im Original). 70 In: Zeit-Echo. Ein Kriegstagebuch für Künstler, Nr. 2 (1914/15), S. 20-22; siehe S. 20; zitiert bei Claudia Öhlschläger: „‚Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung‘. Ernst Jünger und das ‚radikale Geschlecht‘ des Kriegers“, in: Begemann/Wellbery 2002 (wie Anm. 39), S. 325-352; vgl. S. 329f. 71 Vgl. insgesamt den Band von Bublitz 1998 (wie Anm. 41), besonders die „Einleitung“ der Herausgeberin, S. 9-25; Zitate S. 19 u. 22.

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terland Söhne zu schenken, die dareinst, so die Hoffnung, als Soldaten ihren Beitrag zur allgemeinen kulturellen Gesundung leisten werden, indem sie sich zu heroischen Taten ermannen. Valentine de Saint-Points Manifest jedenfalls kulminiert in folgender Handlungsanweisung an ihre Geschlechtsgenossinnen: „Ihr schuldet der Menschheit Helden. Gebt sie ihr!“72 Der Ansicht Sartini Blums, wonach „de Saint-Point rejected the reactionary notion that nonprocreative sex degrades woman“,73 kann somit nicht beigepflichtet werden – der traditionelle Geschlechterdualismus wird vielmehr beibehalten, und mit ihm die Aufspaltung des Frauenbildes in die komplementären Stereotype von Heiliger oder Hure, Mutter oder Geliebter. De Saint-Points Vorstellungen von Weiblichkeit treffen sich in diesem Punkt mit psychologisch aufgeladenen Männerphantasien bzw. -phobien, wie sie recht ähnlich in Romanen prämiert (bzw. dort, dies im Unterschied zum Manifest der Futuristin, auch diffamiert) werden sollten, die rund zwanzig Jahre danach im faschistischen Kontext des Spanischen Bürgerkriegs entstehen würden.74 Und auch vom Faschismus einer Maria Goretti mit seiner Eloge auf die „madri degli eroi della razza“75 sind sie längst nicht so weit entfernt, wie diese in ihrer Rezeption der Anfänge futuristischer Konzepte für die Frau später glauben machen möchte: ‚La donna italiana non è, non sarà mai una concorrente dell’uomo; ella è troppo essenzialmente madre… . Il Fascismo ha voluto e vuole il figlio, il Fascismo cura e protegge la madre, il Fascismo costituisce la Famiglia‘. Die italienische Frau ist keine [und] wird niemals eine Konkurrentin des Mannes sein; sie ist ihrem Wesen nach zu sehr Mutter. Der Faschismus hat [immer] den Sohn gewollt und will ihn [noch], der Faschismus umhegt und beschützt die Mutter, der Faschismus be76 gründet die Familie.

Die Frau jenseits derartiger Imagines rechtlich und politisch dem Manne gleichzustellen, hieße, das unvollendete, von der Geschichte noch nicht 72 Saint-Point 1993, S. 95. 73 Blum, Cinzia Sartini: The Other Modernism. F.T. Marinetti’s Futurist Fiction of Power, Berkeley/Los Angeles/London 1996, S. 105. 74 Dazu Albert, Mechthild: „Die Bestie und der Engel. Frauenbilder im Bürgerkriegsroman der Falange“, in: Forschung frankfurt. wissenschaftsmagazin der johann wolfgang goethe-universität frankfurt, Jg. 9, Nr. 3 (1991), S. 3-13. 75 Re 1989, S. 271 (kursiv im Original). 76 Goretti, Maria: La donna e il futurismo, Verona 1941, S. 100; zitiert nach Re 1989, S. 271 (eigene Übs.).

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abgegoltene Projekt der Aufklärung zu Ende zu führen, gegen dessen Vernunftideal der Futurismus sich wendet. Mit dem Verzicht darauf wird im Manifest jedwede historische Ebene der Argumentation ausgeblendet. Nicht die Verachtung der Frau ist es, die Valentine de Saint-Point empfiehlt, sondern die bestmögliche Nutzung ihres sowohl reproduktiven als auch destruktiven Potentials zum Zwecke der Durchsetzung futuristischer Interessen. Schon Marinetti selbst hatte in seiner Vorrede zum Roman Mafarka le futuriste (1910) richtig gestellt, er „‚bezweifle […] überhaupt nicht den animalischen Wert der Frau, sondern nur die ihr zugeschriebene Bedeutung der Gefühle‘“77 im von ihm attackierten Symbolismus. Es ist folglich in erster Linie der in Literatur und Kunst kultivierte Mythos Frau mit seinen ihm anhaftenden „klassischen Zügen des dannunzianischen Vamps“,78 dem seine dem brüskierten Auditorium per Manifest entgegengeschleuderte Kampfansage galt – der Frau also in ihrer Funktion als kulturelle Ikone der dekadentischen letteratura rosa. In Analogie dazu heißt es an anderer Stelle bei Marinetti: ‚Wir verachten die Frau, aufgefaßt als einziges Ideal, als göttliches Liebesgefäß, die Frau als Gift, die Frau als zerbrechliches Spiel79 zeug, bedrängend und fatal […].‘

Valentine de Saint-Point trat indes an, eben diese geschmähten Imaginationen von Weiblichkeit zu rehabilitieren und sie den Frauen künftig zur Nachahmung zu verordnen. Im Gegensatz zu Marinetti, der im Rahmen seines futuristischen „Technikfetischismus“80 das erotische Begehren des Mannes auf das Automobil als mechanische Braut umlenkt, begrüßt sie in ihrem zweiten Manifest die Wollust als ein Energiereservoir, das Triebkräfte freisetze und zu immer neuen Eroberungen aufrühre, deren letzte und höchste die Erbeutung der Frau als Kriegstrophäe sei. Im Interesse darwinistischer Selektionierung oder „Zuchtwahl“81 schreckt sie dabei nicht einmal davor zurück, brutale Massenvergewaltigungen der Frauen eines unterworfenen Volkes durch siegreiche Kämpfer von 77 Marinetti, F.T.: Mafarka il futurista, Mailand 1910, Vorrede S. 9-13; zitiert in der dt. Übs. nach Schmidt-Bergmann 1993 (wie Anm. 40), S. 116. 78 Nozzoli 1989 (wie Anm. 53), S. 246. Vgl. hier auch einen Marinetti zugeschriebenen Text in Poesia, Jg. V, Nr. 7-8-9 (Aug.-Sept. 1909) unter dem Titel „D’Annunzio futuriste et le mépris de la femme“, auf den Re 1989, S. 253 verweist. 79 Marinetti, F.T.: „Contro l’amore e il parlamentarismo“ (1915), in: ders.: Teoria e invenzione futurista. Luciano De Maria (Hrsg.), Mailand 1968, S. 250-254; Zitat S. 250; zitiert in der dt. Übs. nach Mondini 1995, S. 52. 80 Ehrlicher 2001, S. 75. 81 Saint-Point 1993, S. 93.

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„starke[r] Rasse“ gutzuheißen – schließlich müsse diesen der verdiente Tribut gezollt werden, den die Natur nun einmal fordere, damit das wertvolle Erbgut derer aus den Reihen der Sieger nicht verloren gehe und möglichst breit gestreut werden könne.82 Auf die (nicht nur für die gender-Forschung) alarmierende Wiederkehr solchen Gedankenguts in Gestalt der zeitgenössischen Soziobiologie bzw. Evolutionspsychologie, die so genannte anthropologische Konstanten wie etwa das prinzipielle Vorhandensein eines ‚Vergewaltigungs-Gens‘ bei Männern zementiert, hat Joan W. Scott aufmerksam gemacht.83 Eine Besorgnis erregende Neuauflage des schon von de Saint-Point fraglos legitimierten „Survival of the Rapist“84 birgt das umstrittene Buch von Randy Thornhill und Craig Palmer, A Natural History of Rape.85 Dessen haarsträubende Thesen, die sich in der Anmaßung wissenschaftlicher Objektivität (was immer das sei) sowie ultimativer Beweiskraft gefallen und von einem geradezu messianischen Sendungsbewusstsein ihrer beiden Urheber getragen sind, lesen sich – um hier nur eine ‚Kostprobe‘ der dort verbreiteten Geschmacklosigkeiten zu geben – wie folgt: im Krieg […] [sind] die evolutionshistorischen Vorteile einer Vergewaltigung hoch und die dafür zu erwartenden Kosten für gewöhnlich belanglos […]. Ob Vergewaltigung heute angepasst ist oder nicht, hängt davon ab, ob sie trotz ihrer Kosten einen Netto-

82 Dies.: „Futuristisches Manifest der Wollust“ (1913), auf Dt. teilweise in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 6), S. 29f.; Zitat S. 29. Die Auslassungen der Übersetzung vgl. in Fettdruck auf dem Frontispiz des italienischen Originals (s.o. Anm. 19 Manifestkonvolut von Caruso 1980; daraus entnommen Abb. 3). „Der Mann, der sät, hält nicht bei der ersten Furche, die er düngt“, hieß es blumig schon im „Manifest der futuristischen Frau“. Dies. 1993, S. 94. 83 Scott, Joan W.: „Die Zukunft von gender. Fantasien zur Jahrtausendwende“, in: Claudia Honegger/Caroline Arni (Hrsg.): Gender – die Tücken einer Kategorie. Joan W. Scott, Geschichte und Politik, Zürich 2001, S. 3963; siehe S. 40ff. Der historischen Forschung wächst mit dem Siegeszug der Biohistory eine vermeintlich exakter arbeitende Konkurrenz heran, die in der „‚Darwinisierung der Geschichtswissenschaft […] ein[en] Paradigmenwechsel kopernikanischen Ausmasses‘“ erkennen möchte. Dawson, Doyne: „Evolutionary Theory and Group Selection: The Question of Warfare“, in: History and Theory, Jg. 38, Nr. 4 (1999): The Return of Science: Evolutionary Ideas and History, S. 79-100; Zitat S. 100; zitiert nach Scott 2001, S. 41. 84 So der Titel einer im New York Times Book Review vom 2.4.2000, S. 1f. erschienenen Rezension von Frans B.M. de Waal. 85 Thornhill, Randy/Palmer, Craig T.: A Natural History of Rape: Biological Bases of Sexual Coercion, Cambridge, Mass. 2000.

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fortpflanzungsgewinn abwirft. […] In Kriegszeiten liegt die Rate 86 der Vergewaltigungsschwangerschaften deutlich höher […].

Das Szenario einer entsprechenden Gewaltorgie findet sich im Übrigen in der Eingangssequenz von Mafarka, wiewohl vom Protagonisten gleichen Namens als verabscheuenswürdige Selbstverausgabung seiner Kampfeskumpanen auf dem Schlachtfeld der Liebe denunziert, so doch voyeuristisch weidlich ausgeschlachtet.87 Es sei, so Marinetti, vonnöten, daß die heutigen jungen Männer sich endlich vor den erotischen Büchern und der zweifachen Droge Gefühl und Wollust ekeln, daß sie […] methodisch lernen, […] ihr Geschlecht mit ebenso kurzen wie souveränen Kontakten zu Frauen unendlich zu 88 amüsieren.

„Die Wollust ist die fortwährende, nie gewonnene Schlacht“,89 schreibt dagegen de Saint-Point, und als solche „Motor“90 eines unausgesetzten „orgiastischen“91 Rausches, der auf Triumph aus sei, ohne ihn je dauerhaft erringen zu können; sie ist nackte Lust, exaltierte sexuelle Gier bar „aller sentimentalen Schleier […], die sie deformieren.“92 Die Wollust ist das für den Körper, was das ideale Ziel für den Geist ist: die wunderbare, unablässig umarmte und nie gefangene

86 Diess.: „Die Evolutionsbiologie der Vergewaltigung“. Vortrag bei der internationalen Messe Ars Electronica 2000 in Linz, S. 1-8; Zitat S. 5. URL: www.aec.at/festival2000/texte/randy_thornhill_d.htm, 29.10.2004. Die vorgeblich wertfreie und „rationale[…] Sicht“ der Verfasser auf Vergewaltigung ‚entlarvt‘ diese wie ehedem als Triebmechanismus und zielt in erster Linie darauf, „sie als Hauptsymbol feministischer Ideologie zu entpolitisieren“. Ebd., S. 7. 87 Vgl. ausführlicher dazu demnächst Vf.in: „Pornographische Szenarien in Jarrys Surmâle und Marinettis Mafarka“, in: Walburga Hülk/Gregor Schuhen/dies. (Hrsg.): (Post-)Gender. Choreographien / Schnitte, Bielefeld [2005] (als Vortrag gehalten bei der gleichnamigen Tagung des Teilprojekts „Macht- und Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur 1900 – 2000“ im Rahmen des Forschungskollegs Medienumbrüche an der Universtät Siegen, 8.-9.12.2003). 88 Marinetti, F.T.: „Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine“ (1914), in: Schmidt-Bergmann 1993 (wie Anm. 40), S. 107-110; Zitat S. 109f. 89 Saint-Point 1995, S. 30. 90 Ebd., S. 29. 91 Ebd., S. 30. 92 Ebd., S. 29 (kursiv im Original).

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Die aufschlussreichen Differenzen gegenüber Marinetti im „Futuristischen Manifest der Wollust“ deuten bereits an, dass das ursprüngliche Einvernehmen mit der charismatischen Gründerfigur der Bewegung zu kippen beginnt. So vollzieht Valentine de Saint-Point die Technikfaszination des Futurismus, die mit Schmidt-Bergmann als dessen primäre und originäre Innovationsleistung für die Wegbereitung der historischen Avantgarden betrachtet werden kann,94 nicht mehr mit. Vielmehr fällt sie in ihrer Argumentation zurück in hinlänglich bekannte Opfermythen, die das Weibliche, hierin konform mit dem Futurismus, zur Materie degradieren, zum formlosen Klumpen Fleisch, mit einem Wort: es „zu Matsch“95 zermalmen. Um der futuristischen Frau überhaupt eine Funktion sichern zu können, muss de Saint-Point beim vom Futurismus im Grunde Verworfenen – den ästhetizistischen Geschlechterkonstruktionen der Décadence – neu ansetzen, freilich in etwas modifizierter Akzentuierung: Das Geschlechtergrenzen aufhebende Ideal verkörpert bei ihr anstelle des effeminierten Dandy,96 den das Fin de Siècle als sozusagen ‚bessere Frau‘ inthronisiert hatte, das triebgesteuerte Mannweib, das gleichwohl nicht zu eigenem Heldentum ermutigt werden, sondern als Heldenbraut lediglich Mann und Söhne zum Kampf anstacheln soll. Daneben bleibt ihr nur die Alternative, wie eine Löwin mit Zähnen und Klauen ihre Brut zu verteidigen. Dieses Bedienen plattester Klischees kristallisiert sich als die einzige Nische heraus, die die futuristische Frau noch besetzen konnte, nachdem in Marinettis Mafarka, dem, wie Götz Müller sagt, „sicherlich

93 Ebd., S. 30. 94 „[Die] Apotheose der Technologien und der Maschinenwelt ist der originäre Beitrag des italienischen Futurismus zur Ausformung der internationalen Avantgarden am Beginn unseres Jahrhunderts.“ Schmidt-Bergmann 1993 (wie Anm. 40), S. 21. Abweichend davon Lista 1973 (wie Anm. 18), S. 55: „Le futurisme de la petite-nièce de Lamartine démontre mieux que tout autre à quel point est fausse l’équation entre futurisme et machinisme qui a servi de base pendant des années à tout jugement critique sur le mouvement marinettien.“ 95 Vinken, Barbara: „Make War not Love: Pulp Fiction oder Marinettis Mafarka“, in: Asholt/Fähnders 2000 (wie Anm. 3), S. 183-204; Zitat S. 198. 96 Zum Dandy als Männlichkeitsentwurf der Belle Epoque vgl. den Beitrag von Gregor Schuhen in diesem Band.

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[…] entschiedenste[n] Werk des europäischen Machismo“,97 die Junggesellengeburt des Maschinenmenschen der Zukunft scheinbar ohne jedes weibliche Zutun erfolgreich vollzogen worden war. Kraft Worten zu schaffen, ist ein genuin performativer Vorgang; die Ersetzung der natürlichen Prokreation durch eine buchstäblich ‚sich behauptende‘ künstl(er)i(s)che Insemination scheint die Frau als Vehikel derselben entbehrlich zu machen.98 Da nun aber mit dem Etikett ‚weiblich‘ undifferenziert „aller Gegensatz zum Futurismus und sein abgeschiedenes sentimentales und passatistisches Anderes schlechthin“99 belegt wird und „die Insistenz auf die eindeutige Form des Männlichen notwendig ihre Gegenkategorie mitproduzieren muß, um sie stets auf das Neue abzuweisen“,100 kommt auch Marinettis ins Extrem übersteigerter Maskulinismus weder ohne Anleihen beim Symbolismus und seinem Sprachduktus noch ohne die Frau als Negativfolie in antithetischer Verwendung aus:101 Als „‚Merkzeichen‘ der Verdrängung“102 scheinen beide allenthalben auf, „immer schon […] schwach, kränklich, eigentlich […] schon geschlagen“.103 Sexual difference shapes virtually all aspects of the imaginary relationship between the futurist (male) subject and the (feminine) world of objects. The polarized, asymmetrical configuration of masculine totality and feminine lack provides a bedrock and a blueprint for the futurist destruction and reconstruction of the uni104 verse.

Gegen das antinaturalistische Modell ungeschlechtlicher Fortpflanzung, wie Marinettis geistgeborene ‚Junggesellenmaschine‘ es jahrhundertealten Schöpfungsträumen gemäß imaginär zu verwirklichen sucht, bietet Valentine de Saint-Point noch einmal die Geschütze eines Biologismus auf, der die Wollust als kreative Potenz zelebriert, als „Geste des Schaffens“, ja als „die Schöpfung“ per se. Indem sie die Parole ausgibt, ausgerechnet „aus der Wollust ein Kunstwerk machen“ zu wollen, formuliert 97 Müller, Götz: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur, Stuttgart 1989, Kap. „Der Umbau des Menschen: Marinettis Mafarka le Futuriste‘“, S. 196-199; Zitat S. 197. 98 Diese Gedanken sind angeregt von Vinken 2000, bes. S. 185. 99 Ehrlicher 2001, S. 131. 100 Ebd., S. 110. 101 Zu diesem allerorten zu beobachtenden Recycling der futuristischen Verwerfungen vgl. Vinken 2000. 102 Ehrlicher 2001, S. 19. 103 Hinz: „Primo Futurismo“ 1997 (wie Anm. 5), S. 116. 104 Blum 1996, S. viii.

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sie in nuce ein konkurrierendes ästhetisches Programm, das dem Körper im Schöpfungsakt erneut zu seinem Recht verhelfen und von den ihr nachfolgenden Generationen späterer Futuristinnen in der einen oder anderen Form aufgegriffen werden sollte: Die Wollust ist die fleischliche Suche des Unbekannten, so wie die Vergeistigung dessen spirituelle Suche bildet. […] Man muß das 105 Fleisch ebenso bewußt wie alles andere auch wollen.

Unter der Perspektive einer spezifischen ästhetischen Schöpferkraft der donna creatrice untersucht Silke Segler-Meßner Texte von Maria Ginanni über Enif Robert bis hin zu Benedetta (Cappa Marinetti), wo sie – im Roman Le forze umane (1924)106 – eine „Fusion der [Geschlechter-] Oppositionen“107 sowie obendrein eine Selbstzeugung des allegorischen Werks Viaggio di Gararà (1931)108 beobachtet. Rosa Rosàs Protagonistin Giorgina Rossi, zu Beginn des Romans noch ein unscheinbarer angelo del focolare, der bei der Verrichtung monotoner hausfraulicher Tätigkeiten in Phantasiewelten abdriftet und am Ende nach ihrer Rückverwandlung „‚bald wieder ganz die Alte‘“,109 durchläuft in Una donna con tre anime (Erstausgabe 1918)110 zunächst die Stationen der femme fatale und der maskulinisierten Intellektuellen, bevor sie zur Dichterin werden kann, dem wegweisenden Modell für die Zukunft der Frau. Dessen grundlegendes Manko besteht jedoch zumindest bei de Saint-Point nach wie vor darin, dass es traditionell weiblichen Qualitäten – und das heißt vor allem Verzichtsidealen – aufruht. Mais par […] l’intuition, et par d’autres vertus qui lui sont propres, telles que : […] l’abnégation pour l’amant et l’enfant, l’héroïsme modeste dans la douleur physique et morale, tout ce qui constitue la 105 Saint-Point 1995, S. 29 (kursiv im Original). 106 Benedetta: Le forze umane. Romanzo astratto con sintesi grafiche, Foligno 1924. 107 Segler-Meßner, Silke: „Die Stimmen der Frauen in der Avantgarde – die Futuristinnen“, in: Katharina Hanau u.a. (Hrsg.): Geschlechterdifferenzen. Beiträge zum 14. Nachwuchskolloquium der Romanistik (Greifswald, 4.6. Juni 1998), Bonn 1999, S. 111-120; Zitat S. 118. 108 Benedetta: Viaggio di Gararà. Romanzo cosmico per Teatro, Mailand 1931. 109 Peters, Sabine A.: „‚Il futuro é donna‘ – Geschlechtsidentifikation zwischen Okkultismus und Futurismus im Werk von Rosa Rosà“, in: Claudia Gronemann u.a. (Hrsg.): Körper und Schrift. Beiträge zum 16. Nachwuchskolloquium der Romanistik (Leipzig, 14.-17.6.2000), Bonn 2001, S. 227-239; Zitat S. 236. 110 Rosà, Rosa: „Non c’e che te!“ Una donna con tre anime e altre novelle, Mailand 1919.

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maternité, qui va de l’enfant à l’homme – car celui-ci demeure toute sa vie l’enfant de la femme, et dans tout amour de femme il y a de la maternité – la femme fut et demeura celle qui crée […]. Elle […] s’élève dans son rôle de créatrice des corps jusqu’à savoir produire des âmes. Aber wegen ihrer Intuition und anderer ihr eigenen Tugenden, als da sind: Verzicht zugunsten von Liebhaber und Kind, bescheidener Heldenmut im Ertragen körperlicher und seelischer Schmerzen, in allem [also], was Mutterschaft ausmacht, was vom Kinde auf den Mann übergeht – denn der bleibt sein Leben lang das Kind der Frau, und in jeder Form weiblicher Liebe ist Mütterlichkeit enthalten –, war und bleibt die Frau diejenige, die schafft. Sie erhebt sich über ihre Rolle als Schöpferin der Leiber hinaus bis zu dem Ver111 mögen, Seelen hervorzubringen.

Mit diesen Worten nähert sich de Saint-Point wieder Marinetti an, der künstlerische Neigungen einzig auf Seiten des Mannes bzw. des Männlichen veranschlagt, spricht er doch von einem „instinct artistique du mâle“, der für den Pariser Chic kopierenden modischen Putz auch der italienischen Frauen nichts als Verachtung übrig habe. Die angestammte und wünschenswerte Rolle einer schönen Frau vielmehr sei es – und das nun Folgende liest sich fast wie eine Parodie auf de Saint-Points frühere Ausführungen zur Schöpfungsmacht des wollüstigen Leibes –, aus ihrem weitgehend naturbelassenen Körper ein einzigartiges ‚lebendiges Gedicht‘ zu kreieren („faire de son corps […] un poème vivant absolument original“). Nous parlons au nom de la race qui exige des mâles puissants et des femmes fécondées. La fécondité, pour une race comme la nôtre, est en cas de guerre sa défense indispensable, en temps de paix sa richesse de bras travailleurs et de cerveaux créateurs. Wir sprechen im Namen der Rasse, die potente Männer und befruchtete Frauen verlangt. Die Fruchtbarkeit ist für eine Rasse wie die unsere im Kriegsfall ihre unentbehrliche Verteidigung, in Frie-

111 Saint-Point, Valentine de: „Le Théâtre de la Femme“ (1915), Auszüge in: Lista 1973 (wie Anm. 18), S. 263-266; Zitat S. 264 (eigene Übs.). Da die Autorin die ‚wahre Natur‘ der Frau im zeitgenössischen Theater nur unzureichend verwirklicht sah, plante sie eine Dramen-Trilogie unter dem gleichen Titel, die allerdings unvollendet blieb, nachdem die auf eigene Kosten finanzierte Uraufführung des ersten Teils „Le Déchu“ 1909 beim Premierenpublikum durchfiel und publizistisch nirgends besprochen wurde.

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TANJA SCHWAN denszeiten ihr Reichtum an Arbeitskräften und an schöpferischen 112 Geistern.

Hiermit ist die Ordnung der Geschlechter wiederhergestellt, mochte sie sich durch Valentine de Saint-Points Konzept einer neben der Zeugung leiblicher Nachkommen auch Kunst schaffenden Wollust kurzzeitig bedroht gesehen haben. „Sterilität“ paart sich bei beiden Autoren mit „Dekadenz“,113 und nicht zufällig stellt auch Harald Szeemann einen Link her zwischen der femme fatale als symbolistischer ‚Junggesellin‘ und ihrer Fortsetzung unter umgekehrtem Vorzeichen im zölibatären Kult um die Jungesellenmaschinen der Bohémiens, die eine wie die andere „autistische Sexualphantasie[n]“114 repräsentierten und den auf herkömmlichem Wege Leben spendenden genitalen Zeugungsakt verweigerten, um ihrem mutmaßlichen anatomischen Schicksal zu entgehen. Das Problem habe Edvard Munch mit seiner Lithographie einer sterilen Madonna (1895; Abb. 6), die eine femme fatale „im Rahmen aus Spermien“ und einen „in die untere Ecke relegierten Foetus“ zeigt, „gültig dargestellt“, schreibt Szeemann in der Bildunterschrift zum Abdruck der Zeichnung im Ausstellungskatalog Junggesellenmaschinen.115

112 Marinetti, F.T.: „Contre le luxe féminin“ (11.3.1920), in: Lista 1973 (wie Anm. 18), S. 335f.; Zitate S. 336 (eigene Übs.). 113 Saint-Point 1995, S. 29. 114 Szeemann, Harald: „Die Junggesellenmaschine oder wie heute eine Zusammenarbeit zwischen Ausstellungsorganisatoren und Wissenschaftlern aussehen könnte“ sowie ders.: „Junggesellenmaschinen“ (1975), in: Hans Ulrich Reck /ders. (Hrsg.): Junggesellenmaschinen. Erweiterte Neuausgabe, Wien/New York 1999, S. 3-11 u. S. 57-67; Zitat S. 10. Vgl. auch ebd., S. 5 u. S. 59f. 115 Ebd., S. 60.

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Abbildung 6: E. Munch: Madonna (1895), Lithographie; 60,5 x 44,2 cm

So kann eine ‚widernatürliche‘ Disposition zur Infertilität, die das Aussteigen aus dem naturgesetzlich verankerten ‚Gattungszweck‘ bewirkt, im Rahmen einer „Zeitdiagnose“ „als Pathologie der Moderne um 1900“116 aufgefasst werden: „Die ihre ‚Natürlichkeit‘ negierende Frau repräsentiert die Verfallenheit der Epoche“117 – übrigens auch in der Optik Marinettis: Au nom du grand avenir viril, fécond et novateur de l’Italie, nous autres futuristes nous condamnons le débordant crétinisme des femmes et l’imbécillité dévouée des mâles, qui collaborent ensemble au développement du luxe féminin, de la prostitution, de la pédérastie et de la stérilité de la race. Im Namen der großen, mannhaften, reichen und Neuerungen anstoßenden Zukunft Italiens verdammen wir, die Futuristen, den überbordenden Schwachsinn der Frauen und die ergebene Dummheit der Männchen, die gemeinsam zur Entfaltung des weiblichen Prunks beitragen, der Prostitution, der Päderastie und der Un118 fruchtbarkeit der Rasse.

116 Helduser, Urte: „‚Hoffnungslose Geschlechter‘. ‚Unfruchtbarkeit‘ als Pathologie der Moderne um 1900“, in: Ursula Pasero/Anja Gottburgsen (Hrsg.): Wie natürlich ist Geschlecht? Gender und die Konstruktion von Natur und Technik, Wiesbaden 2002, S. 319-333; Zitat S. 324. 117 Ebd., S. 325. 118 Marinetti 1973 (wie Anm. 112), S. 336 (eigene Übs.). Man beachte die zoologische Bezeichnung der ‚mâles‘ im Gegensatz zu den ‚femmes‘, die neben der hier zweifellos auch pejorativen Konnotation verblendeter, weil

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Erörterungen wie diese legen den Schluss nahe, dass beide Manifeste de Saint-Points, das der futuristischen Frau nicht minder als das der Wollust, einesteils zwar die logischen Konsequenzen aus den Geschlechterarrangements der Futuristen ziehen, von denen sie durchweg imprägniert sind, andernteils jedoch bei einer bloßen Umwertung der Werte stehen bleiben. Die Einschreibefläche ‚Frau‘ ins (aus futuristischer Sicht) ‚Positive‘ gewendet zu haben, erweist sich somit als das – wenn auch einzige – Verdienst Valentine de Saint-Points. Den Futurismus endgültig gegen sich selbst zu führen, blieb indes der Attentäterin Andy Warhols, Valerie Solanas vorbehalten, die ihren Schuss auf den Popart-Künstler in bester futuristischer Manier als eine Art Werbegag für ihr unsägliches S.C.U.M.-Manifest (1968) mit seinem verabsolutierten Biologismus zu vermarkten suchte, das die Eliminierung der ‚Krankheit Mann‘, eines Wesens mit Gendefdekt von Geburt ebenso ernsthaft in Erwägung zog wie es die technisch ermöglichte sexlose Reproduktion im Labor vorschlug – freilich ausschließlich von Frauen,119 die die „einsame, unkreative Erfahrung“120 des Sex hinter sich gelassen haben und fortan, ganz wie schon Marinetti empfahl, „das Ficken aufs Ficken reduzieren“.121 Anders als etwa im Falle einer Rachilde, deren Werk kürzlich in einer Siegener Dissertation der „feministischen Lektüre einer Antifeministin“ unterzogen wurde,122 lässt sich de Saint-Points deklarierter Antifeminismus allerdings nicht dekonstruktiv in einen ‚Feminismus wider Willen‘ umdeuten – so bestätigt denn auch Barbara Spackman, dass eine gutwillige Lesart („reading in bono“) Letzterer die vergleichsweise schwierigere Übung („lectio difficilior“) darstelle.123 Beide Autorinnen verkehrten in den Pariser Literatenzirkeln der Belle Epoque und kannten

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dienstfertiger Männlichkeit und über sie hinaus an der kategoriellen Unterscheidung zwischen einer ‚angeborenen‘ Schwachsinnigkeit der Frauen als Gattung oder Geschlecht (sex) und einer bloß akzidentiellen, den Umständen geschuldeten, d.h. auf eine vorübergehende Verhaltensstörung zurückzuführenden Ver-Blödung der (von ihrem gender her) männlichen Wesen festzuhalten scheint. Vgl. Solanas, Valerie: Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer. S.C.U.M. (1968), Berlin/Schlechtenwegen 51982, S. 25f. u. 75f. Ebd., S. 63. Ebd., S. 65. Korte-Klimach, Iris Ulrike: Rachilde: Femme de lettres – Homme de lettres. Weibliche Autorschaft im Fin de siècle, Marburg 2002, S. 89f. Spackman 1995, S. 115 (kursiv im Original). Re 1989 unternimmt einen wohlmeinenden Versuch in diese Richtung (siehe ebd., S. 259-261), kann damit m.E. jedoch nicht überzeugen, da ihre mit schulmeisterlichem Eifer durchgeführte Lektüre gegen den Strich zu viele ‚Störfaktoren‘ innerhalb der Manifeste unterschlagen muss, um nicht aufgepfropft zu wirken.

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einander daher persönlich: Die Futuristin veröffentlichte im von Rachilde gemeinsam mit ihrem Mann geführten Mercure de France, während umgekehrt ein Stück aus der Feder Rachildes im Salon der de Saint-Point aufgeführt wurde. Eine gerne zitierte Anekdote will es – jedenfalls kolportiert dies Marinetti –, dass Rachilde, die bei der öffentlichen Verlesung des „Manifests der futuristischen Frau“ im Juni 1912 in Paris zugegen war, darauf mit dem Ausruf reagiert haben soll: „‚Votre futurisme est très bien, Madame, mais dites-nous ce que vous pensez de la syphilis‘.“124 Diese durchaus erhellende Szene darf hier nicht unkommentiert bleiben und verdient in der Tat Beachtung, impliziert sie doch mehr und Gewichtigeres als die darin mit humoristischem Beiklang zum Ausdruck gebrachte Meinungsverschiedenheit. Was man voreilig als bissige Bemerkung abtun könnte nämlich zielt mitten ins Herz der latent schwelenden Kontroverse zwischen Marinetti und Valentine de Saint-Point um den Stellenwert der Wollust im Prozess künstlerischer Kreation. Mit ihrem Verweis auf die Lustseuche hat Rachilde einen Nerv getroffen, der im Zusammenhang einer „modernen Literaturgeschichte der Syphillis“ zu lesen ist, wie Dietmar Schmidt sie zu schreiben anhebt.125 In der „kritischen Konstitution“ des Syphillisinfizierten lassen „das Eindringen und die subversiven Umtriebe fremder Erreger die Einheit der organischen Zellgemeinschaft“ an der äußeren Hülle porös werden und ausfransen.126 Dieses ‚Stückwerk‘, in das der von syphillitischen Geschwüren befallene Körper sich von innen her zersetzt, steht paradigmatisch für eine Fragmentierung des Selbst, die der Auto(e)r(otiker) an sein weibliches Gegenüber delegieren möchte, um sie sich sprichwörtlich vom Leib zu halten. Er imaginiert eine von den Zwängen der Fortpflanzung und dem Körperkontakt mit dem anderen Geschlecht abgekoppelte Sexualität, einen artifiziellen Zeugungsvorgang, bei dem „die Notwendigkeit zweier Geschlechter [entfällt]; was dabei entsteht, ist ein neues Geschlecht“127 oder – wenn man so will – keines mehr: Die Geschlechtlichkeit scheint an ihr unnatürliches Ende gekommen. „Offensichtlich kann in der Moderne von einem Geschlecht, das durch den Körper, seine Anatomie und sein Begehren, eindeutig verbürgt ist, nicht mehr die Rede sein.“ Diese „Auflösung des Körpers als Gegenständlichkeit des Ge124 Zitiert nach Lista 1973 (wie Anm. 18), S. 55 (kursiv im Original). 125 Schmidt, Dietmar: „‚Menschenoberfläche, durchlöchert‘: Zur modernen Literaturgeschichte der Syphillis“, in: Annette Keck/ders. (Hrsg.): Auto(r)erotik. Gegenstandslose Liebe als literarisches Projekt, Berlin 1994, S. 38-56. 126 Ebd., S. 42. 127 Ebd., S. 50.

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schlechts“128 verleugnet jedoch ihren „narzißtischen Triebgrund“,129 in dem sie wie in einem Zirkel befangen bleibt. Die vermeintlich selbstgenügsame Objektlosigkeit „bricht mit der Repräsentations- und Abbildfunktion des weiblichen Körpers […]. Was übrig bleibt, sind allenfalls zerschlagene Spiegel, […] die zerstückelte weibliche Leiche“,130 anhand derer das krisengebeutelte männliche Subjekt sich letztmalig seiner selbst zu versichern sucht – so gesehen in Marinettis Mafarka. De Saint-Points Modell ästhetischer Produktivität ist ein anderes; es setzt auf die impulsgebende Kraft der Wollust und somit unzweifelhaft auf die althergebrachte Geschlechterbinarität. In diese Linie schreibt sich auch Italo Tavolato ein, der in Lacerba das „Futuristische Manifest der Wollust“ zustimmend rezipierte.131 Die Prostitution gilt ihm in seinen blasphemischen Assoziationen als „impulso naturale“ der Frau; an der Figur der Postituierten scheiden sich große Geister von mediokren: la puttana è eterna. […] Vivono i ritmi del loro sangue, le puttane […]. Materia, negazione, caos, mondo avanti la creazione, aspettano il loro formatore. […] L’uomo che sente e che pensa si specchia nella puttana ; in tutta l’enorme sua estensione psichica ; e riconosce in sè il superuomo e l’inferuomo. Puttana. Per il poveretto sei inferno o paradiso. Cioè : la perdizione. Per la mente forte : un orizzonte su cui fiammeggiano immagine e concetto. Puttana sacrata alla notte, notte tu stessa ; in te il creatore risplende di luce propria. Puttana, sei la salvezza. Die Hure ist ewig. Sie leben die Rhythmen ihres Blutes, die Huren. Materie, Negation, Chaos, Welt vor der Schöpfung, erwarten sie ihren Bildner. Der Mann, der fühlt und der denkt spiegelt sich in der Hure; in all seiner immensen psychischen Ausdehnung; und er erkennt in sich den Übermenschen und den Untermenschen. Hure. Für den kleinen Armseligen bist du Hölle oder Paradies. Das heißt: das Verderben. Für den starken Geist: ein Horizont, vor dem Bild und Begriff aufflammen. Der Nacht geweihte Hure, [du bist] selbst Nacht; in dir erstrahlt der Schöpfer aus eigenem Licht. Hure, du 132 bist das Heil.

128 Keck, Annette/Schmidt, Dietmar: „Vorwort“, in: ebd., S. 9-12; Zitate S. 10. 129 Ebd., S. 9. 130 Ebd., S. 11. 131 Vgl. Tavolato: „Glossa sopra il manifesto futurista della Lussuria.“ (15.3.1913), Wiederabdruck in: Caruso 1980 (wie Anm. 19) als Manifest Nr. 34. Der Autor hatte zuvor bereits ein Manifest „Contro la morale sessuale.“ verfasst (datiert 1.2.1913); siehe ebd., Nr. 30. 132 Tavolato: „Elogio della prostituzione.“ (1.5.1913), Wiederabdruck in: Caruso 1980 unter der lfd. Nr. 35 (eigene Übs.).

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Wieder anders geht die vorlaute Zwischenruferin aus dem Publikum, die mit ihrem Einwurf den weitreichenden Bedeutungshorizont der Syphillis aufgerufen hatte, mit den Geschlechterzuweisungen um: Ihre – z.B. in „Questions brûlantes“ (1886) oder Pourquoi je ne suis pas féministe (1928)133 – erklärte Gegenposition zum zeitgenössischen Feminismus der femmes nouvelles unterwandernd spielt Marguerite Eymery alias „‚Rachilde. Homme de lettres‘“134 – sei es in ihrer Auto(r)inszenierung oder in ihrem literarischen Werk – virtuos mit den Geschlechtergrenzen.135 Via Maskeraden und Posen, unter mit changierenden vestimentären Codes wechselnden Identitäten gelingt ihr wie auch ihren Protagonistinnen eine Positionierung als weibliche Dandys und damit ein Verschieben jener Diskurse, die das Weibliche je nach Gusto bald als éternel féminin dem Natürlichen, bald als ‚entartet‘ dem Dekadenten zuordneten, stets jedoch in starrer Entgegen-Setzung zum Männlichen. Was im dekadenten Ambiente des l’art pour l’art am Fin de Siècle glückte, musste unter den veränderten Rahmenbedingungen des Futurismus beinahe zwangsläufig fehlgehen. Frauenverachtende Diskurse werden durch die Intervention Valentine de Saint-Points nur mehr affirmiert, nicht zugleich auch subvertiert – mag immerhin, soviel sei konzediert, „in der Tiefenstruktur der Texte ein grundlegender Mißmut über die patriarchalen Verhältnisse auf[tauchen], der sich in einem symbolischen Aufruf zum Ungehorsam entlädt.“136 In ihren Manifesten versuchte de Saint-Point dem Dilemma zu begegnen, als Frau im Namen des Futurismus, jener „misogynste[n] aller Avantgarden“,137 zu sprechen. Ihr Konfliktlösungsangebot für diesen „zentralen Knoten der futuristischen Kultur“138 bleibt unbefriedigend, verlässt es doch das Terrain der ästhetischen Transgression und mündet in die Sackgasse der politischen Reaktion.139 Zu diesem Schluss kommt auch Spackman: „With its contradic133 Rachilde: „Questions brûlantes“, in: La Revue Blanche (1.9.1896), S. 193200; dies.: Pourquoi je ne suis pas féministe, Paris 1928. 134 Diese „nominale Verkleidung“ zierte die Visitenkarte der reine des décadents. Korte-Klimach, S. 30 u. passim. 135 Dies lässt sich unschwer schon an sprechenden Romantiteln ablesen wie Monsieur Vénus (1884), Paris 1977; La Marquise de Sade (1887), Paris 1996; Madame Adonis, Paris 1888 oder L’animale (1893), Paris 1993. 136 So Segler-Meßner 1999, S. 113. 137 Ehrlicher 2001, S. 142. 138 Nozzoli 1989 (wie Anm. 53), S. 240. 139 Hierzu Macedo, Ana Gabriela: „Futurism/Vorticism: The Poetics of Language and the Politics of Women“, in: Earl Minor u.a. (Hrsg.): The Force of Vision, Bd. III: Powers of Narration, Tokio 1995, S. 276-283; vgl. S. 282.

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tory strategies, de Saint-Point’s manifesto already participates in the Fascist matrix.“140 Im Diskurs der „pre-Fascist futurist Valentine de SaintPoint“,141 „the dominant Fascist tone […] drowns out the dissonant note“.142 Über den dunklen Zusammenhang der Verstrickung von Avantgarde und Faschismus, wie er von Mechthild Albert für die spanische Erzählprosa aufgearbeitet worden ist,143 böte sich an dieser Stelle ein Brückenschlag an. In seiner medialen Zwischenposition, so bleibt einstweilen festzuhalten, oszilliert das Manifest als performatives Konstrukt im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik. Das Manifest wirkte […] als Medium der Avantgarden, insofern es genau den Übergangsbereich zwischen ästhetischer Imagination und dem Bereich sozialen Handelns markiert; es fungierte als der ‚in der Mitte befindliche‘ Ort […], an dem die kulturell erzeugte Grenze von Kunst und Nichtkunst ständig neu […] verhandelt 144 wurde. Die Manifeste siedeln an jenem Übergang zwischen ‚Kunst‘ und ‚politischer Praxis‘, an dem Absichtserklärungen den Charakter literarischer Unverbindlichkeit verlieren, ohne die Autorität machtpolitischen Handelns zu gewinnen – an einem Übergang, der wie 145 jeder Durchgangsort zugleich ein Freiraum ist […].

Erweiterte Spielräume für gender-Performanzen ergaben sich daraus, wie wir gesehen haben, vorerst nicht – im Gegenteil. Registrieren lässt sich vor allem eines: ein regelrechtes ‚Manifest‘-Werden des Scheiterns. Das Aktivieren diskursiver Bestände im performativen Akt vermag, erschöpft es sich wie hier im Nachsprechen von Gemeinplätzen, keine Diskursverschiebungen zu initiieren. Zur Ehrenrettung der Valentine de Saint-Point kann mit einigem Wohlwollen angeführt werden, dass sie inmitten des inzwischen konsensuell als homosozial strukturierte Männergemeinschaft aufgefassten Unternehmens, das die Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts darstellten, eine höchstens zeitweilig geduldete Außenseiterin blieb, deren Worte nur allzu rasch und nahezu ungehört verhallten. Um ihren Äußerungen Nachdruck zu verleihen, gebricht es de SaintPoint an gruppengestützter diskursiver Autorität, ist sie als Frau doch 140 141 142 143

Spackman 1995, S. 107. Ebd., S. 103. Ebd., S. 114. Albert, Mechthild: Avantgarde und Faschismus. Spanische Erzählprosa 1925-1940, Tübingen 1996. Zur Achse Avantgarde – Faschismus vgl. auch die so betitelte Monographie von Hesse 1991 (s.o. Anm. 11). 144 Ehrlicher 2001, S. 34. 145 Wagner 1997, S. 52.

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zum institutionellen Sprechen nicht zugelassen, da ihr der Subjektstatus abgeht146 – jene „Phantasie der Autogenese, immer schon männlich“,147 in deren Rahmen das autonome Subjekt die Illusion seiner Autonomie nur insofern aufrechterhalten kann, als es den Bruch, aus dem es sich konstituiert, verdeckt. […] Vielmehr bildet sich das Subjekt durch Differenzierungsakte, die das Subjekt von seinem konstitutiven Außen scheiden, einem Gebiet verworfener Andersheit, das gewöhnlich 148 […] mit dem Weiblichen verbunden wird.

Diese Vorhöfe der Subjektivität bewohnt die Frau als Spektakel, als zu sehen Gegebenes, zur Schau gestellter Körper – „Théâtre de la Femme“149 gleichsam, wie die ‚Performance‘-Künstlerin avant la lettre und Theoretikerin des Tanzes150 de Saint-Point, daneben auch Aktmodell für einige Skulpturen Rodins, es formulierte. Im Kontext der Avantgarden nimmt die Frau weit seltener die Position einer Sprecherin von eigenem Recht ein als vielmehr den „Ort […], von dem aus sich das Sprechen im Manifest symbolisch konstituiert.“ Als Platzhalterin gewissermaßen für die Produktion von Bedeutungen ist sie das „Konstituens der Differenz, die die Energie der avantgardistischen Revolte speist“151 und in dieser Eigenschaft Garantin für deren Fortbestand, ohne selbst in den Prozess der Signifikation eingreifen zu können. ‚Sprechend‘ also ist in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle nicht sie selbst, sondern einzig ihr Schweigen. Möglichkeiten und Grenzen der Geschlechterperformance sind also – bei Androhung von Sanktionen – über machtbegabte Instanzen diskursiv reguliert, wobei die Macht der Benennung „dem einzelnen voraus[geht], der mit dieser Macht spricht und sie scheinbar selbst besitzt.“ 146 Vgl. zum Vorstehenden auch dies. 2000 (wie Anm. 57), S. 170ff. 147 Butler, Judith: „Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der ‚Postmoderne‘“, in: Seyla Benhabib/dies./Drucilla Cornell/Nancy Fraser: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt a.M., S. 31-58; Zitat S. 41. 148 Ebd., S. 44. 149 Saint-Point 1973 (s.o. Anm. 111). 150 Zu der von ihr erfundenen und praktizierten danse idéiste siehe das Kapitel „Tanz-Text. Transformationen der Choreographie“ (hier insbesondere den Abschnitt „Valentine de Saint-Points ‚Métachorie‘“) in Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1995, S. 366-385; bes. S. 370-378. 151 Febel, Gisela: „‚Poesie-Erreger‘ oder von der signifikanten Abwesenheit der Frau in den Manifesten der Avantgarde“, in: Asholt/Fähnders 1997 (wie Anm. 3), S. 81-108; Zitate S. 100. Vgl. auch Koschorke 2000, S. 152.

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Geschlecht existiert, d.h. materialisiert sich, weil und insofern es, vom Augenblick der Geburt eines Menschen an, förmlich ‚ins Leben gerufen‘ und als Zitat dieses ersten Hervor-Rufens stets auf das Neue performiert wird. Jemand, der performative Äußerungen wirkungsvoll einsetzt, spricht mit unbestrittener Macht. Der Arzt, der das Kind in Händen hält und sagt: ‚Es ist ein Mädchen‘, steht am Beginn einer langen Kette von Anrufungen, durch die das Mädchen transitiv seine Geschlechtsidentität zugewiesen bekommt. Geschlechtsidentität ist das Ergebnis einer rituellen Wiederholung, die sowohl das Risiko des Scheiterns birgt als auch sich langsam sedimentieren und festi152 gen kann.

Ausblicke Nach der anfänglichen völligen Absenz von Frauen im Futurismus und dem kurzen Intermezzo der Einzelerscheinung Valentine de Saint-Point, die sich bald darauf aus der für sie wohl unattraktiv gewordenen Bewegung zurückzog, formierte sich eine erste konsistentere futuristische Frauengruppe in den Jahren 1916 bis 1918 im Umkreis der Florentiner Zeitschrift L’Italia futurista. Hier wie auch 1918–1920 im Nachfolgeorgan Roma futurista entspann sich auf Anregung Marinettis unter der Rubrik „Donna + amore + bellezza“ eine lebhafte Diskussion um die Stellung der Frauen im und zum Futurismus – eine ‚querelle des femmes‘ gleichsam, die ihren Protagonistinnen eine journalistische Profilierung gestattete. Nachdem sich die Beschäftigung mit den Manifesten der futuristischen Frau und der Wollust aus den genannten Gründen als weitgehend unergiebig erwiesen hat, liegt in der Sichtung und Auswertung dieses bislang so gut wie unbearbeiteten Materials153 eine Aufgabe, die zur Erledigung noch aussteht, um Aufschluss über die (Selbst-)Verortung von Frauen innerhalb des Futurismus zu gewinnen. Eine faschistisch gefärbte Bilanz – „the symbolic epitaph of feminist futurism at the moment of its final dissolution and reabsorption into fascist ideology“154 – zog 152 Butler 1998 (wie Anm. 2), S. 74. Gegen ein Leibapriori vgl. auch dies. 1991 (wie Anm. 2), S. 26 (kursiv im Original): „Man kann nämlich den Körpern keine Existenz zusprechen, die der Markierung ihres Geschlechts vorherginge. So stellt sich die Frage, inwiefern der Körper erst in und durch die Markierung(en) der Geschlechtsidentität ins Leben gerufen wird.“ 153 Textcorpus bereitgestellt bei Salaris, Claudia: Le Futuriste. Donne e letteratura d’avanguardia in Italia (1909/1944), Mailand 1982. 154 Re 1989, S. 271.

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während des Zweiten Weltkrieges Maria Goretti, die bereits – allerdings allein aus Gründen der Abgrenzung von der futuristischen Frühphase – ein Versagen de Saint-Points konstatierte, die Frauenfrage theoretisch zu lösen.155 Neuere und unverdächtige Ansätze – die im Übrigen die schon für Valentine de Saint-Point konstatierte Tendenz zur Wiedereinsetzung der ‚Frauen(bilder) von vorgestern‘ erneut vorbehaltlos zu bestätigen scheinen – liegen vor bei Anna Nozzoli; wenigstens teilweise revidiert wird diese Vermutung durch Clara Orban oder auch Lucia Re, die bei Benedetta unterschwellig gar „Countertechnologies of Gender“ am Werke sieht.156 Einigkeit scheint im Allgemeinen darüber zu bestehen, dass Rosa Rosà als nicht-linientreue feministische „Bilderbuchfuturistin“157 zwischen dem „elitären Überfrauentum nietzschianischer Art“158 der Saint-Point-Manifeste und dem maternalismo Benedettas zu gelten hat, der das Weibliche als Lebensquell apostrophiert. Eine Fortführung dieser Arbeiten sollte eingedenk nicht zuletzt der Tatsache geschehen, dass Marinetti, dessen „Vorarbeiten und Anstöße als hauptsächliche Inkunabeln […] der futuristischen Frauengestalt zu betrachten sind“,159 immer wieder eine willkürliche Instrumentalisierung feministischer Positionen gelang, die er für sich zu operationalisieren wusste, insoweit sie der futuristischen Sache zuträglich waren und er sich von ihrer Indienstnahme für Agitation und Propaganda Vorteile versprach. So nahm er 1912 in London zusammen mit Boccioni an einer Schaufensteraktion der dortigen Suffragetten teil, die ihm einen willkommenen Anlass und eine wohlfeile Plattform bot, sozusagen en passant auf die zeitgleich in der Stadt stattfindende Ausstellung futuristischer Malerei aufmerksam zu machen. Noch in seinen Lebenserinnerungen rühmt Marinetti sich dessen, dass er „‚[e]intausend Suffragetten […] zum Futurismus bekehrt‘“ haben will „‚durch unsere aggressive, männlich-italienische Ausstrahlung‘“.160 Für das Frauenwahlrecht sprach er sich aus, weil er hoffte, durch dessen Gewährung den ihm verhassten 155 Vgl. Goretti 1941 (s.o. Anm. 76), S. 84 u. 102. 156 Siehe (samt wenigen weiteren Literaturhinweisen) Nozzoli 1989 (wie Anm. 53); Orban, Clara: „Women, Futurism, and Fascism“, in: PickeringIazzi 1995 (wie Anm. 49), S. 52-75; bes. S. 66ff. sowie Re, Lucia: „Fascist Theories of ‚Woman‘ and the Construction of Gender“, in: ebd., S. 76-99; vgl. S. 89ff. Zu einer gleichfalls ambivalenten Einschätzung gelangt Blum 1996, Kap. V, S. 105-124. 157 Peters 2001, S. 236. Vgl. auch Re 1989, S. 263ff. 158 Peters 2001, S. 231. 159 Nozzoli 1989, S. 242. 160 Marinetti, F.T.: Una sensibilità italiana nata in Egitto (1943); zitiert in der dt. Übs. nach Hesse 1991 (wie Anm. 11), S. 207.

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Parlamentarismus infiltrieren zu können. Ein in strategischer Absicht mit dem Feminismus geschlossener Pakt bot sich schließlich auch insofern an, als beide, Feminismus und Futurismus, die herkömmlichen Familienstrukturen aufzubrechen und die Frau aus den Fängen ihrer sentimentalistischen Versklavung zu lösen, das Private also zu politisieren suchten.161 Bei seiner erfolglosen Kandidatur als Delegierter der faschistischen Partei für die Parlamentschaftswahlen 1919 in Italien soll Marinetti mit einem Programm angetreten sein, das freie Liebe, das Recht auf Scheidung sowie eine staatlich organisierte Kinderbetreuung vorsah.162 Den Gipfel des Zynismus aber bildet der 1916 lancierte patriotische Appell an die Heimatfront „Donne, dovete preferire i gloriosi mutilati“,163 worin die im Krieg Verstümmelten der Gunst der Italienerinnen wärmstens angepriesen werden – offenbar mit gewissem Erfolg, scheint doch die Futuristin Shara Marini direkt auf diesen Aufruf zu antworten, wenn sie die Frauen der Kriegsversehrten als glorreiche Beispiele für die vaterländische Gesinnung der italienischen Frau hervorhebt.164 Allerdings versucht Marinetti keineswegs, wie man vielleicht annehmen könnte, die Invaliden als Krüppel an die Frau zu bringen, denen „der ‚Körperpanzer‘ gebrochen wurde“,165 sondern, weit gefehlt, als die ersehnten Teileinlösungen der futuristischen Utopie eines technisch hochgerüsteten Prothesenkörpers. Die als solche gefeierten Vorboten eines anbrechenden posthumanen „Reich[s] der Maschinen“166 wurden „in der Schmiede des Krieges erzeugt, im technischen Sinne hergestellt“167 – in der Tat hatten die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs längst ganze Arbeit geleistet, um den Mann von der überkommenen Last seiner Natur nachhaltig zu befreien und den Traum von einer desto gründlicheren Panzerung „des MECHANISCHEN MENSCHEN MIT ERSATZTEILEN“168 endlich Wirklichkeit werden zu lassen, jene „Synchronisation des Organismus mit der Gerätewelt […] in der Verschalung von Ma161 Siehe Marinetti 1968 (wie Anm. 79), S. 251ff. 162 Nach Angaben von Re 1989, S. 261. 163 Marinetti, F.T.: „Donne, dovete preferire i gloriosi mutilati“, in: L’Italia futurista, Jg. 1, Nr. 2 (15.6.1916). 164 Marini, Shara: „Rivendicazione“ (1.7.1917), in: Salaris 1982, S. 117-119; siehe S. 118. 165 Öhlschläger 2002 (wie Anm. 70), S. 327. 166 Marinetti, F.T.: „Technisches Manifest der futuristischen Literatur“ (11.5. 1912), in: Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 6), S. 24-27; Zitat S. 27. Vgl. hier erneut auch das Manifest „Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine“ (s.o. Anm. 88). 167 Öhlschläger 2002, S. 333 (kursiv im Original). 168 Marinetti: „Technisches Manifest“ 1995 (Großschreibung im Original).

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schine und Körper“.169 Neu ist in Marinettis engagierter Bewerbung dieser frühen Cyborgs die direkte Ansprache an ein weibliches Publikum, das nicht länger lediglich Gegenstand der Verachtung zu sein scheint. Das Pamphlet „Contre le luxe féminin“ (1920) kritisiert denn auch den jedermann frei zugänglichen Warencharakter des weiblichen Körpers, der sich maskiert zu Markte trage und dadurch seinen Status als exklusives Objekt der Anbetung aufgegeben habe.170 Einen Roman aus dem Jahre 1917 – „una specie di manuale sulla arte d’amare secondo la maniera futurista“,171 eine Art Handbuch also futuristischer Liebeskunst – widmet Marinetti gar der sentimentalen Frage Come si seducono le donne.172 Nach den rabiaten Schlag-Worten der früheren Kampfschriften werden nun offenkundig versöhnlichere Töne angestimmt, um vermehrt Frauen anzuwerben – hatte doch schon de Saint-Point deren Rekrutierung als Strategie empfohlen, „die die Anhänger vervielfacht.“173 Die Taktik der Abstoßung des Weiblichen ist mit den Jahren einer groß angelegten Offensive zu seiner Vereinnahmung durch Verführung gewichen.174 Man kann sich mit Lucia Re also zu Recht fragen, ob das viel gescholtene böse Wort Marinettis vom disprezzo della donna tatsächlich so übel gemeint war wie es, lakonisch hingeworfen im ersten Manifest, scheinen musste. Re schiebt eine Antwort auf die von ihr aufgeworfene Frage gleich hinterher: „The answer is, both yes and no.“175 Ob man so weit gehen sollte, die radikale futuristische Herausforderung, die sich gleichzeitig jedoch immer wieder in ihren eigenen Aporien verfing, als fundamentalen Angriff auf die essentialistische Bestimmung der Ge-

169 So Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994, S. 202 mit Bezug auf Ernst Jünger. 170 Marinetti 1973 (wie Anm. 112), S. 335f.; siehe S. 335. Auch Jünger spricht in Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1941, S. 171 von einem Schutzmechanismus der „‚Maskenhaftigkeit‘, die bei ‚Männern einen metallischen, bei Frauen einen kosmetischen Eindruck erweckt‘.“ Zitiert nach Lethen 1994, S. 203. 171 Mitrano, Ida: „Il futurismo al femminile (3). Il ruolo della donna nella ricostruzione dell’universo futurista“, in: Terzoocchio. Trimestrale d’arte contemporanea, Jg. XIV, Nr. 4/49 (Dez. 1988), S. 39-41; Zitat S. 40. 172 Marinetti, F.T.: Come si seducono le donne, Florenz 1917; dazu existiert die Parodie Come si seducono gli uomini einer Mari Annetta, Comtesse du Aubrun (1918). Siehe den Hinweis bei Salaris, Claudia: Storia del futurismo. Libri giornali manifesti, Rom 1985, S. 98. 173 Saint-Point 1993, S. 93. 174 Vgl. Ehrlicher 2001, S. 140ff. 175 Re 1989, S. 253.

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schlechterdifferenz zu werten,176 sei indes dahingestellt – scheint Marinettis gelegentliche Anwaltschaft für die Frauenbefreiung doch eher opportunistisch und bestenfalls Teil seines übergeordneten Anliegens, den Menschen (uomo, sprich: den Mann) mitsamt seinem Gebundsein an das Sexuelle als solches zu transzendieren: L’uomo senza sesso im Rahmen einer „Lussuria radioelletrica“ impliziert demnach unweigerlich La morte della donna.177 *** Das Pathos der Aktion, das die performativen Äußerungen der Manifeste umhüllte, ist der Postmoderne allenfalls als ironisches Zitat verfügbar. In einer Zeit, der die Referentialität von Zeichen frag178 würdig wird, liegt es fern, ‚Dinge‘ mit ‚Wörtern‘ tun zu wollen.

Das maskulinistisch fundierte Künstlersubjekt der Moderne, das vermittels selbstermächtigender Sprech-Akte scheinbar autonom Welten zu (er)zeugen vermochte, hat heute ausgedient. Längst ist offenbar geworden, dass das sprechende Subjekt lediglich fingierter Ursprung seiner Äußerungen sein kann, da es im Akt des Aussagens allererst hergestellt wird als sekundärer „Subjekt-Effekt“,179 der eben jene Genealogie verbirgt, aus der er ‚schöpft‘ – „offenkundig eine theologische Konstruktion“, denn „[f]ür dieses mit göttlicher Macht ausgestattete Subjekt ist die Benennung selbst schöpferisch“; es kommt also zu einer „Erzeugung des Subjekts als Urheber von Effekten“.180 An seiner statt existieren gegenwärtig historisierende Versuche, etwa das postfeministische Cyborg-Manifest Donna Haraways (zuerst 1985)181 als performatives „Statement in der Traditionslinie der klassischen Avantgarden“182 zu le176 Vgl. ebd., S. 258. 177 Dies die bezeichnenden Titel dreier Texte des Futuristen Luigi Colombo alias Fillia. Die Novelle La morte della donna (1925) sowie der Roman L’uomo senza sesso (1927) liegen in einer Neuausgabe unter dem Gesamttitel Bolidi e tango: La morte della donna; L’ultimo sentimentale; L’uomo senza sesso, Turin 2002 vor. Bei „Lussuria radioelletrica“ handelt es sich um Gedichte, die Fillia zu einer Anthologie F.T. Marinetti presenta i nuovi poeti futuristi, Rom 1925 beitrug, mit der er als Futurist eingeführt wurde. 178 Wagner 1997, S. 55. 179 Butler 1998, S. 75. 180 Ebd., S. 77f. 181 Haraway, Donna: „Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften“ (1985), in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 33-72. 182 Abstract zum Vortrag von Karin Harrasser: „Von der Cyborg zur Hystorie. Metapher, Narration, Politik“ im Rahmen der Sektion 4: Hype(r)identität

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sen, das sich ironisch auf diese rückbezieht, war doch deren „ureigenes Medium“183 bekanntlich das Manifest, damals betrachtet als „Wegweiser“184 eines Aufbruchs in die Moderne. Anders als noch das „Manifest der futuristischen Frau“ oder das „Futuristische Manifest der Wollust“, versucht dieses Stück ‚Science Fiction‘ im wahrsten Sinne des Wortes programmatisch, Technikpotentiale für den Feminismus bzw. eine Grenzverflüssigung des Geschlechtlichen überhaupt „in einer Post-Gender-Welt“185 produktiv werden zu lassen, indem es verfestigte Dichotomien erodiert in einer „Gratwanderung zwischen Akzeptieren und Kritisieren“ der Technoscience.186 Konkret geschieht dies über den Entwurf eines reflektierten politischen Mythos, der sich im Zwitterwesen des/der Cyborg verdichtet, das ‚weder der Eine noch die Andere‘ ist, sondern hybride Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, frei von Genesis und sexueller Reproduktion und zumal dadurch – angeblich – imstande, abendländische Vorstellungen der Formation von Subjekten auszuhebeln bzw. deren Identitätsmargen zu überschreiten. So lautet beispielsweise der Auftrag des Titelhelden im Film TERMINATOR James Camerons (Tl. 1; 1984), reduziert auf seinen Kern, „die Tatsache von Zeugung und Geburt aus der Welt [zu] schaffen und damit zugleich alle Konflikte, die mit der Geschlechterspannung, der Generativität und dem Konflikt der Generationen zusammenhängen.“187 Nach wie vor jedoch „steht zur Disposition, ob das techno-mediale Wesen aus den herkömmlichen sexuellen Normvorgaben entlassen ist“.188

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lt. Programmheft der 7. Kunsthistorikerinnen-Tagung unter dem Rahmenthema „[Neue] Medien: Medialität – kultureller Transfer – Geschlecht“ an der Humboldt-Universität zu Berlin (26-29.9.2002), S. 12. Der Tagungsband ist für November diesen Jahres angekündigt. Falkenhausen, Susanne von (Hrsg.): Medien der Kunst: Geschlecht, Metapher, Code. Beiträge zur 7. Kunsthistorikerinnen-Tagung in Berlin 2002, Marburg [2004]. Asholt/Fähnders 1995 (wie Anm. 27), S. XV. Ebd., S. XXV. Haraway 1995, S. 35. Vgl. in Kürze die Kolloquiumsakten von Hülk/ Schuhen/Schwan [2005] (wie Anm. 87). Bauer, Yvonne: Sexualität – Körper – Geschlecht. Befreiungsdiskurse und neue Technologien, Opladen 2003, S. 240. Brunotte, Ulrike: „Helden, Cyborgs und Rituale: Inszenierungen der Männlichkeit jenseits der Geschlechterspannung“, in: Erika FischerLichte/Doris Kolesch: Kulturen des Performativen. Paragrana, Jg. 7, Nr. 1 (1998), S. 197-214; Zitat S. 206. Lehmann, Annette Jael/Mattenklott, Gert/Woltersdorf, Volker: „CrossOvers – Performativität im Kontext genderspezifischer und medientheoretischer Fragestellungen“, in: Fischer-Lichte/Wulf 2001 (wie Anm. 15), S. 137-154; Zitat S. 151.

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Was also kann die fiktive Befragung der Realität durch die hier zugrunde gelegte utopische Denkfigur einer virtuell unendlichen Vervielfältigung massenhaft fabrizierter und replizierbarer Subjektivitäten tatsächlich leisten? Damit wäre eine Perspektive angerissen, die es im Rahmen des Projekts einer Implementierung von Aspekten der Medialität in die gender-Forschung mit Blick auf den Medienumbruch 2000 als das Zeitalter einer technischen Reproduzierbarkeit des Menschen zwischen ungebremst fortschrittsgläubiger Euphorie für das technisch Machbare und eher düsteren, bisweilen in apokalyptischen Abgesängen gipfelnden Prognosen vom ‚Verschwinden des Körpers‘ weiterzuverfolgen gälte.

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„L’ANIMAZIONE DELL’IMAGINE“: ÜBERLEGUNGEN ZUR PERFORMATIVITÄT DER PATHOSFORMEL BEI GABRIELE D’ANNUNZIO DER DUCE Die Menge muß mir antworten mit einem Schrei der Zustimmung! Ihr habt mich verstanden! Unsere Gedanken sind Taten. DANNUNZIO Hörst du den Sturm? Ich habe die Elemente geweckt! Ich! Sie sitzen vorgebeugt und lauschen angestrengt. DANNUNZIO In das Tosen der Wellen und des Sturms mischt sich der Schrei der Hunderttausenden: Eia, eia alalà! 1

Tankred Dorst

In seinen Fragmenten über D’Annunzio (1983) thematisiert Tankred Dorst ein grundlegendes Missverständnis der italienischen Medienkultur der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Inszeniert unter Einsatz der historischen Figuren – im Einakter Das Schiff handelt es sich um den italienischen Dichter-Kommandanten Gabriele d’Annunzio und den „Duce“ –, erschöpft sich die Beschreibung dieses Missverständnisses keineswegs nur in der Dichotomisierung einer autonom sich verstehenden Kunst und der instrumentalisierenden politischen Demagogie. Die Figur D’Annunzios, die sich im Stück selbst als einen Stürme- und Massen-Erwecker bezeichnet und die „Hunderttausenden“ zu einem onomatopäischen Schrei animiert, ist hier einer ‚Entwicklung‘ unterzogen, die mit der (ästhetischen) Formung und Bezwingung der ‚Natur‘ beginnt und bei der 1 Dorst, Tankred: Der verbotene Garten. Fragmente über D’Annunzio, München 1983, S. 43.

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‚Masse‘ „der Hunderttausenden“ endet.2 So lässt diese literarische Interpretation in Gestalt weniger eines Dramas als vielmehr einzelner dramatischer Fragmente den Ausgangspunkt des hier fiktional ausgetragenen Widerspruchs in dem „politisierten Ästhetizismus“3 d’annunzianischer Prägung erkennen. Die innerhalb der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts propagierte Doktrin einer Autonomie der Kunst, jene vermeintliche, auch als ‚Theologie der Kunst‘4 bezeichnete Befreiung des Ästhetischen von der Zweckmäßigkeit war nicht nur elitär, hermetisch und im höchsten Maße autoreferentiell. Immer wieder bemühten sich ihre Vertreter, wie Charles Baudelaire und Oscar Wilde, um eine möglichst amoralische Attitüde ihrer Sujets, Werke, aber auch ihrer Selbstinszenierungen.5 Und bekanntlich barg diese programmatische Festlegung gerade in ihrem Jenseits von Gut und Böse6 liegenden Kern die Idee einer neuen Ästhetik, die sich dem ‚Schönen‘, jedoch nicht dem ‚Wahren‘ und ‚Guten‘ verpflichtet sah. Implizit zielte die außerhalb der 2 Dazu Georg Hensel in der FAZ vom 13.2.1988: „‚Tankred Dorst hat ein zum Überdenken verführendes, essayistisches Stück geschrieben. In seinen D’Annunzio-Variationen tritt in sprechenden Bildern die Kunst gegen die Natur an, die Statue gegen den Menschen, die Poesie gegen das Leben, die Literatur gegen das Fleisch […]. Dinge und Menschen sind nur Material für den Künstler, und auch der Weltuntergang wäre nur interessant für ein Gedicht. Das Leben ist – mit Nietzsche – allein ästhetisch zu rechtfertigen: es ist nichts, die Kunst ist alles.‘“ Zitiert nach Günther Erken (Hrsg.): Tankred Dorst, Frankfurt a.M. 1989, S. 194. 3 Thomas Mann in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1915-1918; 1 1918): „Ästhetizismus, der sich politisiert, wird immer radikalistisch sein, und zwar aus bellezza.“ In: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. XII: Reden und Aufsätze IV, Frankfurt a.M. 1960, S. 549 u. S. 545. 4 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie (1935; frz. 11936; dt. 11963), Frankfurt a.M. 2003, S. 7-44; insbes. S. 42-44. Die kritische Position Benjamins wird insbesondere in den Schlusssätzen deutlich: „‚Fiat ars – pereat mundus‘ sagt der Faschismus und erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege: das ist offenbar die Vollendung der l’art pour l’art. Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden.“ Ebd., S. 44. 5 Zu der Figur des Dandy siehe den Aufsatz von Gregor Schuhen im vorliegenden Band „Dandy, Dichter, Demagoge – Männlichkeitsentwürfe der Belle Epoque“. 6 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Karl Schlechta (Hrsg.), Darmstadt 1997, insbes. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie (1869-1871; 1 1872), S. 7-13 sowie Bd. 2: Also sprach Zarathustra (1883-1885; 11887), S. 7-274.

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ethischen und religiösen Kategorien sich bewegende Poetik des Ästhetizismus auf die Vorstellung eines reizbaren und elitären, das ‚Schöne‘ erschaffenden, vor allem aber genießenden Menschen ab, der, Friedrich Nietzsche und seinen diversen Interpreten zufolge, als Gründer einer neuen Gesellschaft fungieren sollte. Der durch Huysmans, George, den jungen Hofmannsthal vertretene radikale Ästhetizismus, die wohl kategorischste Ausformung der l’artpour-l’art-Bewegungen, propagierte zwar den hermetischen Rückzug von der immer stärker industrialisierten und von der Kategorie der ‚Massen‘ gekennzeichneten Welt in einen symbolischen Elfenbeinturm der Kunstkostbarkeiten. Gabriele d’Annunzio jedoch, der Weltentrücktheit, geschickte Medienausnutzung und politische Demagogie eindrucksvoll miteinander zu verschränken wusste, scheint sich nicht nur dieser ästhetizistischen Prämisse zu entziehen, sondern auch jene bekannte Feststellung Walter Benjamins zu bestätigen, die besagt, dass vor allem die technischen Reproduktionsmedien, die Tageszeitungen, die Photographie, der Film, die als Folgen wie auch als Voraussetzungen der Industrialisierung angesehen werden, die Dekadenzkultur mitinitiiert, gleichsam auch obsolet und empfänglich für den politischen Missbrauch gemacht haben.7 Doch welche Rolle spielen bei der Entwicklung dieser d’annunzianischen Variation des Ästhetizismus die Medien, welche die Performanzen? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.

1.

„Andrò ad bestias; e andrò inerme“: Die Rednerfigur in Il fuoco

Antonio Rapagnetta alias Gabriele d’Annunzio, dieser als Diva,8 als divo9 wie als Star10 bezeichnete poeta italiano bemühte zwecks Steigerung der eigenen Popularität zeit seines Lebens unterschiedlichste Medien. Bereits im Alter von 16 Jahren brachte D’Annunzio eine erste, noch veristisch angehauchte Lyriksammlung unter dem Titel Primo vere (1879) auf den Markt. Der zweiten, bereits ein Jahr später folgenden 7 Vgl. Benjamin 2003, S. 42-44. Siehe auch Anm. 2. 8 Vgl. Schuhen: „Dandy, Dichter, Demagoge“, in diesem Band, und Bronfen, Elisabeth/Straumann, Barbara: Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002. 9 Leeden, Michael A.: „Il divo“, in: ders.: D’Annunzio e la poesia di massa. Guida storica e critica. Nicola Merla (Hrsg.), Rom/Bari 1979, S. 75-99. 10 Vgl. Abruzzese, Alberto: „Diven, Stars und Helden. Überlegungen zu einer Theorie des Divismo“, in: Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart, Nr. 28 (1999), S. 7-21; bes. S. 11.

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Auflage des Buches ging eine Anzeige in der florentinischen Zeitung Gazzetta della Domenica voraus, abgedruckt am 14. November 1880. Hier wird einerseits der unglückliche Tod des „giovane poeta […] sulla strada di Francavilla, cadendo da cavallo“ vorgetäuscht, andererseits auch, nach einem Zeilenumbruch und mit einem Ausrufezeichen versehen, „la nuova edizione“ seines Erstlingswerks angekündigt. Marktstrategisch äußerst geschickt lanciert, entpuppt sich diese Annonce als performativer Akt par excellence, um jenen, so Walburga Hülk, „allumfassende[n], transversale[n] ‚umbrella term‘ kultureller Konversation“11 zu benutzen, der sich längst aus dem Umkreis der Linguistik und der Sprechakte abgelöst hat.12 Denn D’Annunzio inszenierte und instrumentalisierte an dieser Stelle die Materialität der Botschaften im Schreibakt oder die Einladung zur Imagination im Leseakt, mit einem latent appellativen Charakter. Der Sinn der Annonce, potenziert auf der Ebene der Interpunktion in Gestalt des Ausrufezeichens, ist letztlich die Subversion des fiktionalen Charakters der Anzeige, soll doch schließlich nicht der Glaube an den Tod des „giovane poeta“ erweckt werden, sondern, ganz im Gegenteil, die Aufmerksamkeit ihm und seinem Primo vere gegenüber. Durch das Ineinander-Verschränken des Zitatcharakters und der Parodie ist D’Annunzio den futuristischen Manifesten gleichsam zeitlich wie auch, dank der Ambivalenz, phänomenal überlegen. Schließlich zeitigte die fingierte Todesanzeige, die prophetisch wie orakelhaft den Tod des Vorzeigefuturisten Umberto Boccioni vorwegzunehmen scheint, auch finanzielle Früchte, denn das Buch soll, wie es die Biographen zu berichten wissen, binnen kürzester Zeit ausverkauft gewesen sein.13 So wie in der Anzeige Vitalität und Tod aufeinanderprallen, oder auch während des späteren Schaffens Technikbegeisterung und Verachtung des Kinos gegeneinander ausgespielt und produktiv eingesetzt wer11 Hülk, Walburga: „Paradigma Performativität?“, in diesem Band (kursiv im Original). 12 Vgl. Austin, John L.: „Zur Theorie der Sprechakte, Zweite Vorlesung“ (1962), in: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M., 2002, S. 63-71; ders.: „Zur Theorie der Sprechakte, Elfte Vorlesung“ (1962), in: ebd, S. 72-82 und Searle, John R.: „Was ist ein Sprechakt?“ (1965), in: ebd., S. 83-103. Zum iterierbaren Muster performativer Äußerungen und zu Derridas Reformulierung der Sprechakttheorie Austins vgl. Derrida, Jacques: „Signatur, Ereignis, Kontext“ (1988), in: ders.: Limited Inc., Wien 2001, S. 15-45 sowie Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (1993), Frankfurt a.M. 1997, S. 309ff. 13 Vgl. Andreoli, Annamaria: Il vivere inimitabile. La vita di Gabriele d’Annunzio, Mailand 2000, S. 60.

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den,14 so scheint das gesamte d’annunzianische Œuvre von Gegensätzen – zunächst von der Eros-Thanatos- bzw. der Technizismus-VitalismusDichotomie – beherrscht zu sein. Von solcherart nietzscheanischen Widersprüchen durchtränkt ist auch die im pünktlich zur Jahrhundertwende 1900 erschienenen Roman Il fuoco vollends zum Ausdruck kommende, durch Wollust und Kampf geprägte Figur des superuomo, einer Art amoralischen, kunstliebenden und vitalen Übermenschen von hemmungsloser Sexualität und ausgeprägtem Narzissmus. Der Roman Il fuoco – der erste Teil der nie beendeten Trilogie Romanzi del melagarno – ist auf mehreren Ebenen ein Zeugnis der gegenseitigen Beeinflussung von Literatur und Leben, der man mit einer strikten, Foucaults Fragestellung oftmals zu apodiktisch nehmenden Trennung zwischen Werk und Autor15 keineswegs gerecht werden kann. Das Werk strotzt nicht nur von Selbstplagiaten und mise-en-abyme-artigen Selbstverweisen, D’Annunzio instrumentalisiert hier auch seine ‚unerhörte‘ Beziehung zu der Belle-EpoqueTheatergöttin Eleonora Duse als Handlungs-Vorlage, wohlgemerkt für einen Roman, der ihn nicht zuletzt wegen seines Skandalcharakters vor einem drohenden finanziellen Ruin retten sollte. Der Roman, literarische Neuinszenierung und Umcodierung antiker Mythen (Persephone, Ariadne etc.), bereichert um Wagnerverehrung und die Sublimierung des Helden, ist inszeniert vor einer verfallenden und in der weiblichen Hauptfigur „Perdita“ personifizierten Kulisse der Stadt Venedig. Aus beiden, der Stadt und der Frau, scheint der superuomo, der Dichter Stelio Effrena, in unübersehbarer Dichotomie zur toten Stadt und der von Anfang an buchstäblich ‚verlorenen‘ Frau seine Lebenssäfte zu schöpfen. Die Rolle dieser nicht mehr jungen Schauspielerin wird bereits auf der ersten Seite des Romans präzisiert als jene tragische der Ariadne, die hier den jugendlichen Stelio nicht mit dem Faden, sondern mit Heilsversprechungen wört-lich aus dem „torre d’avorio“ bittet: Non era possibile immaginare una festa più magnifica e più insolita per trarre fuori della torre d’avorio un poeta disdegnoso quale voi siete, 14 Vgl. Gethmann, Daniel: „Daten und Fahrten. Die Geschichte der Kamerafahrt, ‚Cabiria‘ und Gabriele D’Annunzios Bilderstrategie“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Kittler, Friedrich/Siegert, Bernhard (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996, S. 147-174; Ciani, Ivanos: Fotogrammi D’Annunziani. Materiali per la storia del rapporto D’Annunzio-Cinema, Pescara ²1999; Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt a.M., 1997, S. 292. 15 Vgl. Foucault, Michel: „Was ist ein Autor? (1969)“, in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. u.a. 1979, S. 7-31.

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MARIJANA ERSTIû man konnte kein prächtigeres Fest ersinnen, einen für alles Schöne offenen Dichter, wie Sie, aus dem Elfenbeinturm zu locken,

sagt Perdita in den ersten Zeilen des Romans und setzt fort mit nicht weniger heilsversprechenden Schmeicheleien: A voi solo era riserbata questa gioia: di poter comunicare per la prima volta con la moltitudine in un luogo sovrano com’è la Sala del Maggior Consiglio, dal polco dove un tempo il Doge parlava all’adunanza dei patrizi… Ihnen allein war die Freude vorbehalten, zum ersten Mal zu einer Menge zu sprechen an einem so erhabenen Ort, im Saal des großen Rates, auf der Tribüne, von der einst der Doge zu der Versamm16 lung der Patrizier sprach.

Als ein Heraustreten aus dem Elfenbeinturm mutet der Vortrag gleichwohl kaum an, ist es doch eine Rede über die Kunst, die Stelio Effrena in der wohl künstlichsten der Städte halten sollte und die den zentralen Ort des Romans, seine eigentliche „Epiphanie des Feuers“ markiert. Die anfängliche Angst Stelios vor „quella meschina gente intrusa“,17 vor der als ein Monster mit zahllosen Gesichtern beschriebenen Menschenmasse, wandelt sich jedoch bald zu einer künstlerischen Geste des Trotzes. So impliziert auch seine kurz vor der Rede benannte Formel „Andrò ad bestias; e andrò inerme“ keine christologische Aufopferung gegenüber den „volti umani“,18 sondern viel eher eine auf den alttestamentarischen Dichter und König David rekurrierende Helden- und Prophetenfigur, die in die Grube der Löwen heruntersteigt, um diese zu bezähmen. Es gilt in Il fuoco nicht lediglich die Schönheit zu erschaffen, vielmehr, die Masse zu erwecken, sie dem Rhythmus der Stimme wie dem Duktus der Worte anzupassen. Zwar ist Stelio zufolge „la parola scritta […] adoperata a creare una pura forma di bellezza“, die Schriftsprache dazu bestimmt, eine Form der Schönheit zu kreieren. Die gesprochene Sprache indes, „la parola orale“, bereichert durch die Kraft der Stimme und die Energie der Gestik, solle keine andere Funktion haben als die Initiierung einer Tat, sei es auch eine Gewalttat.19 Diese von Stelio intonierte Kraft der Stimme und der gestischen Pathosformel, gedacht als eine Differenzfigur zur Schriftlichkeit, verweist nicht nur auf den Amoralismus eines Deka16 D’Annunzio, Gabriele: Il fuoco (1900), Mailand 1996, S. 3f. Dt.: ders.: Das Feuer. Roman. Hrsg. u. eingel. v. Vicenzo Orlando. Aus dem Italienischen v. Maria Gagliardi u. Gianni Selvani, Berlin 1999, S. 59f. 17 Ders. 1996, S. 29. 18 Ebd., S. 20f. (kursiv im Original). 19 Vgl. ebd., S. 29.

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denzdichters, sondern auch auf eine Weiterführung des anfänglichen Gedankens vom Verlassen des Elfenbeinturmes, auf seinen Höhepunkt und seine aktionistische Überhöhung. Die Aktion hat durch die Kombination der ‚Geste‘ mit der zu einem Ruf erhobenen Stimme zu erfolgen, durch synästhetisch eingesetzte Medien des fiktionalen Redners, ganz so, als bedingten sich Aktionismus und Ästhetizismus gegenseitig. Knapp zwanzig Jahre später wird Gabriele d’Annunzio, wie wir sehen werden, diese Erregungsbilder der Gebärdensprache in einer ganzen Palette an Selbstinszenierungsmustern erproben. In Il fuoco erstmals inszeniert, bleibt die Pathosformel der Herrscher(innen)-Apotheose ein Leitmotiv d’annunzianischen Schaffens. Weiteren Konnotationen seiner Erregungsbilder gehen einleitende Erklärungen zum Phänomen der Pathosformel voraus.

2.

Zur Performativität der Pathosformel‘

Den Terminus der ‚Pathosformel‘, der ähnlich wie die Begriffe ‚Performanz‘ und ‚Performativität‘ im Augenblick eine Hochkonjunktur erlebt,20 prägte bereits zeitgleich zum Wirken D’Annunzios der deutsche Kunsthistoriker Aby Warburg. Er beschäftigte sich mit dem Thema und dem Phänomen der Pathosformel primär in dem Bilderatlas Mnemosyne,21 einer Ansammlung von heterogenem photographischen Material, in welcher Gemäldereproduktionen, Passphotos, Zeitungsausschnitte, Briefmarken etc. reproduziert, katalogisiert, systematisiert wurden. In seiner Heterogenität kann der Bilderatlas als ein Ausdruck der Lust an avantgardistischer ars combinatoria angesehen werden, wurden doch die einzelnen Photographien von Aby Warburg selbst immer wieder kaleidoskopartig permutiert und neuen Zusammenhängen zugeordnet, die das Phänomen einer „Bildersprache der Gebärde“22 entschlüsseln sollten.

20 Ein erweiterter Pathosformel-Begriff ist zu finden bei Weigel, Sigrid: „Die geraubte Stimme und die Wiederkehr der Geister und Phantome. Film- und Theoriegeschichtliches zur Stimme als Pathosformel“, in: Inge Münz-Koenen/Wolfgang Schäffner (Hrsg.): Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000, Berlin 2002, S. 155-169. 21 Warburg, Aby: Gesammelte Schriften. Studienausgabe. Horst Bredekamp u.a. (Hrsg.), Bd. II.1: Der Bilderatlas Mnemosyne. Martin Warnke (Hrsg.), Berlin 2000. Vgl. auch Didi-Huberman, Georges: L’image survivante. Histoire de l’art et temps des fantomes selon Aby Warburg, Paris 2002; Michaud, Philippe-Alain: Aby Warburg et l’image en mouvement, Paris 1998. 22 Alle Zitate aus Warburg 2000, S. 4.

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Das kryptisch anmutende Phänomen der Pathosformel ist getragen von der Vorstellung, dass bestimmte Motive und Gesten der mimetischen Kunst kraft ihres energetischen Potentials dermaßen nachhaltig in die kollektive Erinnerung eingeprägt worden sind, dass sie in bestimmten Epochen auch ohne einen sichtbaren Auslöser an die Oberfläche aufsteigen. Die Kraft, die einer visuellen Gebärdensprache zu fortwährenden Neuinszenierungen verhilft, ist, Warburg zufolge, dem binären, zwischen Ruhe und Pathos kreisenden Charakter der in ein ‚Bild‘ gebannten „herandrängenden Eindrucksmasse“ zuzuschreiben. So sollte auch die willkürlich erscheinende Ansammlung der Objekte, die in den warburgschen Atlas Eingang gefunden haben, eine kosmologische Einheit darstellen und als Verdeutlichung der von Polaritäten zwischen dem Dyonisischen und Apollinischen oder zwischen Bewegung und Erstarrung charakterisierten energetischen Topoi fungieren. Diese Polaritäten lösen, so Warburg, die Zirkulation sozialer Energien aus, und der Terminus ‚Pathosformel‘ umschreibt sodann nicht nur die zwischen Bewegung und Starre kreisenden figuralen Elemente, sondern auch das reziproke Verhältnis zwischen den mentalen Inhalten und dem konkret Sichtbaren, ein Energiereservoir, das sich engrammartig in die Erinnerung einprägt, im Gedächtnis eine Art Screenshot des „bewegten Lebens“ hinterlässt und dasselbe ‚Erregungszeichen‘ immer wieder reaktiviert.23 Wenngleich das warburgsche Gedächtniskonzept als Motor für die Einprägung und Reinszenierung antiker Götterdarstellungen fungiert,24 markiert es – als

23 Warburg folgt vor allem der Theorie Richard Semons. Die momentane Reaktion ist, Semon zufolge, immer eine, die auf frühere Reize reagiert, denn jeder Reiz hinterlässt eine Spur, eine Art reaktivierbares Engramm der Erinnerung. Das bewusst Wahrgenommene ist sodann nicht bloß vom ‚Leib‘ abhängig, sondern auch von den Wirkungen, die auf diesen ausgeübt worden sind. Vgl. Semon, Richard: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens (1904), Leipzig 31911. Vgl. hierzu Schrödinger, Erwin: Geist und Materie (1959), Zürich 1989; Cassirer, Ernst: „Die Zeitanschauung“, in: ders.: Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929), dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1987, S. 189-122, insb. S. 203ff., im Netz unter Hans-Joachim Lenger (Hrsg.): Texte zur Philosophie der Zeit, S. 61-87; inbes. S. 72f. Der Reader ist frei zugänglich im Netz unter der URL: www.hjlenger.de, 1.10.2004. 24 Zum Thema des Mythen-Gedächtnisses bei Warburg vgl. Vf.in: „Pathosformel ‚Venus‘“. Vortrag innerhalb des Kolloquiums „Alte Mythen – neue Medien“ (Siegen, 2.-3.2.2004); erscheint voraussichtlich in: Yasmin Hoffmann/Walburga Hülk/Volker Roloff (Hrsg.): Alte Mythen – neue Medien, Heidelberg [2005].

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eine in die Zukunft gerichtete Energie und als reaktivierbarer Impuls25 durchaus mit der Theorie Henri Bergsons kompatibel26 – ein keineswegs nur historisch gedachtes Moment der Betrachtermobilisierung. Es gilt, so Warburg in den Notizen zu dem Dissertationsvorhaben, das bereits im Jahre 1893 beendet wurde, nicht nur ein „‚historisches Bild‘“ „‚von den mimetisch dargebotenen Motiven‘“ der Bewegung zu „‚erfassen‘“, sondern „‚künstlerische Produkte als Teilerscheinungen im derzeitigen Leben‘“.27 Einer der von Warburg ins Visier genommenen Topoi – die (Selbst-)Darstellung der Macht und der Renaissance des Paganismus sowie paganischer Riten im Faschismus, die auf der Tafel „Kirchliche Macht unter Verzicht auf die weltliche“ (Abb.1) festgehalten wurde – illustriert diesen Aktualitätsanspruch besonders eindringlich. Auch hier fällt die Heterogenität des Materials auf, denn auf der Tafel sind die gegenreformatorische Architektur (Petrusdom), Menschenansammlungen und die kirchlichen und weltlichen Größen (Mussolini und Papst Pius XI.) zu finden. Das dargestellte Ereignis ist die Unterzeichnung der Lateranverträge am 11.2.1929 in Rom, mit denen dem Vatikan Eigenständigkeit zugesprochen wurde. Arnaldo Momigliano zufolge befand sich Aby Warburg zur Zeit der Vertragsunterzeichnung in Rom: Bing [gemeint ist Aby Warburgs Mitarbeiterin Gertrud Bing; M.E.] se trouvait à Rome avec Warburg le 11 février 1929, je jour où Mussolini et le pape proclamèrent la réconciliation de l’Italie et de l’Église catholique et signèrent le concordat, le premier accord passé entre l’Italie de l’après-Rissorgimento et l’Église de Rome. Il y eut dans la ville des manifestations populaires gigantesque, spontanées ou orchestrées d’en-haut. Mussolini devint de jour au lendemain ‚l’homme providentiel‘ et conserva, pendant bien des années, ce statut menaçant. La circulation dans les rues de Rome n’était pas très facile ce jour-là et il advint que Warburg échappa à l’attention de ses compagnons. […] Ce n’est qu’un peu avant minuit que Warburg réapparut à l’hôtel, et lorsqu’on lui fit des remar25 Vgl. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist (1896), Hamburg 1991; ders.: L’évolution créatrice (1907), Paris 121931 (dt.: Schöpferische Entwicklung, Zürich 1967). 26 Vgl. Hülk, Walburga: „Mémoire 1900. Umbruch eines Psychems als Signatur eines kulturellen und medialen Umbruchs“. Vortrag an der Universität Freiburg, September 2004. 27 Zitiert nach Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a.M. 1981, S. 68. Vgl. auch Warburg, Aby: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Bd. I. 1,2: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Horst Bredekamp/Michael Diers (Hrsg.), Berlin 1998.

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MARIJANA ERSTIû ques, il répliqua sobrement quelque chose de ce genre dans son allemand pittoresque: ‚Vous savez que tout au long de mon existence je me suis intéressé à la renaissance du paganisme et aux fêtes païennes. Aujourd’hui j’ai eu la chance unique d’assister à la repa28 ganisation de Rome et vous me le reprochez‘.

Was Warburg hier laut seines Mitarbeiter als Repaganisierung bezeichnet hatte, war in Wirklichkeit eine Neuformung der Macht im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, waren es doch die technischen Medien, hier insbesondere die Photographie, die die Gestalt Mussolinis und des Papstes auch weiteren Massen als nur jenen vor dem Petrusdom Stehenden nahezu augenblicklich zugänglich machten. Diese sind es, die als Zeugen der Unterzeichnung einberufen wurden. Die festgehaltenen Erregungsbilder speisen ihre Kraft aus der Präsenz des Papstes und Mussolinis und aus dem Zitat-Charakter dieser Präsenz,29 und die technischen Medien wie die Photographie generieren beinahe unausweichlich den appellativen Charakter des Ereignisses. Was im Vatikan inszeniert und bei Warburg als ritualisierte politische Ikonographie entlarvt wird, sind Symbole der Macht, die sich im Gewand des Papstes und in der Uniform Mussolinis, im Römer-Gruß als einer Art Herrschaftsbestätigung und in den Oratorposen der beiden Führer-Figuren gleichermaßen wie in der Verführung der Masse oder in der politischen Ikonographie der Architektur – in den Balkonen, den Vatikansälen, den kraftvollen Säulen und Pfeilern des Petrusdomes – niederschlägt. Wie im Falle der sonstigen Pathosformeln wird auch hier, wie Martin Warnke erklärt, der ästhetischen „Form jene soziale Funktion zugeschrieben [wird; M.E.], die heute wohl eher dem rationalen Diskurs, der erschöpfenden aber auch ritualisierten Mitteilungsfähigkeit der Sprache zugewiesen wird“.30 Andererseits kann in Bezug auf diese Tafel auch von einer Überführung des po28 Zitiert nach Michaud 1998 (wie Anm. 21), S. 138. Eine gelungene Weiterführung des von Warburg intendierten Bildgedächtnisses europäischer Kultur in Gestalt „eine[s] Überblick[s] über die Fülle von Erscheinungsformen, in welcher sich politische Begriffe, Prozesse oder Ansprüche abbilden“, bietet auch der so genannte P1-Index („Blindindex zur politischen Ikonographie“) des Hamburger Warburg-Hauses, der als Resultat der Zusammenarbeit zwischen dem Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg und dem Arbeitsbereich Softwaresysteme der TU HamburgHarburg entstanden ist. URL: www.warburg-haus.de, 1.10.2004 (Zugriff nur nach schriftlicher Anmeldung). 29 Vgl. hierzu Gumbrecht, Hans-Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004. 30 Warnke, Martin: „Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitz“, in: Werner Hofmann/Georg Syamken/ders.: Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt a.M. 1980, S. 114-164; Zitat S. 141.

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litischen Diskurses in einen der Riten und einer weit gefassten Ästhetik die Rede sein. Sodann widersprechen die Unterschrift der Aby-Warburg-Tafel „Kirchliche Macht unter Verzicht auf die weltliche“ und ihr Inhalt nur scheinbar der zuvor genannten These, die Figur Stelios modifiziere eine vergleichbare Pathosformel der Macht. Die Insignien, mit denen operiert wird, sind durchaus vergleichbar: hier wie dort die Masse, die opulente, bewegte Architektur des Manierismus und des Barock, vor allem aber die Personifizierungen der Macht. Nicht zuletzt durch eine Vorführung der ‚Theologie der Kunst‘ wird in Il fuoco eine analoge Epiphanie der Führer-Figur in der Sala del Maggior Consiglio des Dogenpalastes inszeniert, vor der Kulisse des Paradiso des Tintoretto (Abb. 3) und mit dem symbolisch geöffneten Himmel des Deckenfreskos Veroneses, Apotheose Venedigs (Abb. 2), über dem Haupt des Dichters. Die manieristische Üppigkeit der Kulisse, vor der das Schauspiel stattfindet, die beiden den Saal dominierenden Gemälde, die den Raum öffnen und eine Durchdringung des Menschlichen mit dem Göttlichen assoziieren sollen, scheinen die Rede Stelios zu inspirieren – der poeta, angeregt vom Moment wie auch von der Atmosphäre des Saales und seiner Geschichte, improvisiert seine Rede aus dem Stegreif. Dabei wird keine deutliche und nachvollziehbare Topographie entwickelt – eine derart große Masse an Zuschauern, wie im Roman beschrieben, kann im Saal unmöglich Platz finden, ja der Ort des Saales scheint sich verlagert zu haben. Die Frage nach dem Standort bleibt indes offen, bilden doch den eigentlichen Ort der Rede der Klang und das Echo des gesprochenen Wortes. Die Heterotopie31 des Saales, die zwischen den Kulissen der Gemälde und der Akustik changiert, mündet somit endlich in einer momentanen Offenbarung, der Epiphanie, die nicht das Göttliche säkularisiert, sondern das Menschliche in einer der Religion analogen Manier überhöht, wie durch die Apotheose Venedigs, eine bereits säkularisierte Himmelfahrt Mariä, vorweggenommen. Die ‚chandossche Krise‘32 Stelios vom Anfang des Romans, das Fehlen einer wahrnehmbaren Vermittlung zwischen der eigenen Sensibi31 Vgl. Foucault, Michel: „Andere Räume“ (1967; frz. 11984), in: Karl-Heinz Barck u.a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Lepizig ²1991, S. 34-46. 32 Vgl. Hofmannsthal, Hugo von: „Ein Brief“ (1902), in: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Bernd Schoeller (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1979, Bd. VII: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, S. 461472.

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lität und der Außenwelt, entpuppt sich sodann als eine geradezu greifbare Furcht vor der eigenen rhetorischen Kraft, eine durchweg produktive „Frömmigkeit gegen sich selbst“.33 Weder in der revolutionären Aktion noch in der Revolte ist das Ziel der Rede zu finden. Ihr Sinn liegt vielmehr in einem „absichtsvoll eingeleitete[n] oder ausgeführte[n] sinnliche[n] Prozess“34 – einer Inszenierung nicht der Masse, sondern des Jahrhundertwende-Rhetors, einer vor allem mit Hilfe der Handlungskulisse, der Pathosformel der Gebärde und der Stimme erreichten Sublimierung, die gleichsam durch Mobilisierung der Masse zum phänomenalen Gelingen des Aktes führt. Der Himmel indes, den Stelio erreicht, ist nicht jener über der Stadt, sondern jener Veroneses und der Kunst. Mithin ist die Allegorie Venedigs auch seine eigene, das vitalistisch-energetische, gleichwohl auch dekadente Potential seiner selbst.

3.

L’IMPRESA DI FIUME

Wenngleich auch zum Schluss in einer endgültigen Sublimierung durch die Mortifikation endend, offenbart sich dieser auch autobiographische Roman35 nicht nur als ein fiktionaler Vorbote von D’Annunzios militärischer Selbstinszenierung und Massen-Mobilisierung, sondern als eine programmatische Schrift. Dafür spricht, dass die „Epifania del fuoco“, dasjenige Kapitel des Romans, das im Wesentlichen aus der Rede Stelios besteht, auf eine im venezianischen Theater La Fenice gehaltene Rede D’Annunzios36 zurückgeht, die der Figur Stelio Effrena mittels Montage33 „Der Anfang der Kunst ist Frömmigkeit: Frömmigkeit gegen sich selbst, gegen jedes Erleben, gegen alle Dinge, gegen ein großes Vorbild und die eigene ungeprobte Kraft“. Rilke, Rainer Maria: „Aufsätze, Anzeigen, Betrachtungen aus den Jahren 1893-1905“, in: ders.: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Rilke-Archiv (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1955, Bd. X, S. 335. 34 Seel, Martin: „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a.M. 2001, S. 48-62; Zitat S. 49. 35 Vgl. Hülk, Walburga/Vf.in/Schwan, Tanja: „Macht- und Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur“, in: SPIEL – Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft, Jg. 20, Nr. 2 (2001), S. 259-270. 36 D’Annunzio, Gabriele: „L’allegoria dell’autunno. Frammento d’un poema obliato“ (1887), in: ders.: Tutte le opere. Egdio Bianchetti (Hrsg.), Mailand 1950, Bd. III: Prose di ricerca, S. 287-290. Hugo von Hofmannsthal, einer der ersten Verehrer D’Annunzios, übertrug die Rede auch ins Deutsche. Vgl. „Die Rede Gabriele D’Annunzios. Notizen von einer Reise im oberen Italien“ (1897), in: Hofmannsthal 1979, Bd. I: Reden und Aufsätze, S. 591-

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technik in den Mund gelegt worden ist. Dafür spricht auch, dass 1900, im Erscheinungsjahr des Romans, D’Annunzio selbst bereits einige seiner Reden an die so genannten „feurigen“ Arditi hielt,37 jene Elitetruppen und „Produkte der andauernden Krise im Denken des fin-de-siècle“,38 die in der Idee des Übermenschen ihren äußerst missverständlichen Höhepunkt fand.39 In der epithetenreichen Glorifizierung des militärischen Daseins wollen diese Reden von einer Zwangsvergemeinschaftung und Ausradierung der Individualität nichts wissen. Der Duktus einer Theologie der Kunst ist hier von einer Theologie des Militärs abgelöst, die Attitüde des Dichters von einer der auf lange Zeit hin bedeutendsten Maskeraden der Männlichkeit – dem Habitus des Militärs.40 D’Annunzios Militär- und Technikbegeisterung41 ist ihrem eruptiven Charakter zum Trotz keine vorübergehende Passion, sondern vielmehr das Leben einer kulturellen Symptomatik, die mit dem Roman programmatisch festgelegt worden zu sein scheint. Durch zahlreiche Aktionen, die, wie bereits Bertolt Brecht unterstrich, mit Opusnummern versehen herausgegeben werden könnten,42 immer wieder erneuert, kulminiert D’Annunzios militärische Leidenschaft in der Okkupation der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Jugoslawien zugesprochenen Stadt Fiume, die er und seine Arditi zwischen dem 12. September 1919 und Januar 1921 unter Kontrolle halten werden. Diese Fiume-Eroberung war bekanntlich nicht nur die Antwort auf die politische Neuordnung Europas nach dem Versailler Vertrag, vielmehr repräsentiert sie einen Mikrokosmos der politischen Welt vom Anfang des 20. Jahrhunderts, in dem die

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601. Vgl. auch den ersten, aus dem Jahr 1894 stammenden euphorischen Essay Hofmannsthals über den poeta italiano: „Gabriele D’Annunzio“, in: ebd, S. 174-184. Ballinger, Pamela: „Blutopfer und Feuertaufe. Der Kriegerritus der Arditi“, in: Gumbrecht/Kittler/Siegert 1996 (wie Anm. 14), S. 175-202; Zitat S. 175. Ebd, S. 176 (kursiv im Original). Vgl. ebd., S. 175. Vgl. Frevert, Ute: „Männer in Uniform. Habitus und Signalzeichen im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Claudia Benthien/Inge Stephan (Hrsg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 277-295. Im Hinblick auf die Technikbegeisterung D’Annunzios vgl. Demetz, Peter: Die Flugschau von Brescia. Kafka, D’Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen, Wien 2002; im Hinblick auf jene in die Poesie überführte für das Militär Rieger, Dietmar: „Gabriele D’Annunzio ‚O Giovinezza!‘ – Ästhetizismus und Brüderlichkeit“, in: Italienisch. Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur, Nr. 37 (Mai 1997), S. 72-74. Vgl. Brecht, Bertolt: „Arbeitsjournal (1938-1942)“, in: ders.: Werkausgabe. Werner Hecht (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1973, Bd. I, S. 326f.

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Massenchoreographien des Faschismus antizipiert und die technischen Medien für Propagandazwecke, wie bereits im Ersten Weltkrieg angedeutet, ausgenutzt wurden. Mannigfach stützte sich die Stadtregierung zur Zeit der Fiume-Besatzung in den alltäglichen Kundgebungen auf die Choreographie der Massen, aber auch auf die performative Macht der Zeitungs- und Radioproklamationen. Vor allem aber wurde der Macht der bewegten Bilder Vertrauen geschenkt, und die ‚Dokumentarfilmer‘, eigentlich propagandistische Kinoberichterstatter, wurden mehr als willkommen geheißen.43 Daniel Gethman bemerkt in seiner Untersuchung zu D’Annunzio, der Film sei für einen zwingend auf Repräsentation angewiesenen Machthaber wie D’Annunzio wie geschaffen, und dennoch deute sein intensives Interesse an einer eigenen Mitwirkung am Film allein in der Fiume-Zeit darauf hin, dass es ihm weniger um die Repräsentation seiner Herrschaft gegangen sei als vielmehr um die Ermächtigung zu ihrer Erweiterung. Es scheine, so Gethmann, als wäre D’Annunzio der Theaterraum seiner Proklamationen, der Platz vor dem Gouverneurspalast, von dessen Balkon er Reden an die Fiumaner hielt, zu eng und klein für die Macht geworden, als deren Darsteller und Inhaber er fungiert habe. Also verlagere D’Annunzio seinen Ort von diesem Theaterraum ins Kino. In dem Maße, in dem D’Annunzio das Kino zum Medium und zum Gegenstand der Ermächtigung mache, insofern er nichts anderes vorführe als seine Macht, Bilder zu beleben, werde die traditionelle Funktion des Herrscherbildes überführt in die Funktion der Bildherrschaft, so Gethmann abschließend.44 Wie bereits zu Anfang seiner Karriere die Zeitung, die den Dichter an die Masse herantragen sollte, fungiert auch der propagandistische Film zur Zeit Fiumes als ein appellativer Mittler zwischen dem (Dichter-)Kommandanten und dem (Massen-)Publikum. Erhalten geblieben ist von den Zeugnissen dieser demagogischen Bildherrschaft das, was in die Wochenschau-Beiträge des Istituto Luce Eingang fand, jenem Organ faschistischer Dokumentarpropaganda, das im Jahr 1924 gegründet wurde und ab 1925 als ente morale autonomo für die Verbreitung und Aufbewahrung des Dokumentarfilmmaterials in der Ära des Faschismus zuständig war.45 Gerade diese posthum entstandenen 43 Vgl. hierzu Martinelli, Vittorio: La guerra di D’Annunzio. Da poeta e dandy a eroe di guerra e „commandante“, Udine 2001; Ledda, Elena: Fiume e D’Annunzio. Pagine di storia, Chieti 1988. 44 Vgl. Gethmann 1996, S. 167. 45 Zur Geschichte und Funktion des Istituto Luce vgl. Brunetta, Gian Piero: Cent’anni di cinema italiano, Bd. 1: Dalle origini alla seconda guerra mondiale, Rom/Bari 1993, S. 179ff. Einzelne Filme des Instituts sind heute über

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propagandistischen Montagen des in Fiume gedrehten Dokumentarfilmmaterials, die mit einer neuen musikalischen Untermalung, der OffStimme des Kommentators und den einmontierten „Eia, eia ailalà“Kampfrufen D’Annunzios arbeiten (vor allem der Film L’IMPRESA DI FIUME)46 können Einblicke sowohl in die mediale Praxis des DichterKommandanten als auch in die Instrumentalisierung derselben seitens des Faschismus liefern. Der Film ist die Überarbeitung des für die Dokumentation IL PARADISO NELL’OMBRA DELLE SPADE in Fiume zwischen 1919 und 1921 von Luca Comerino, dem persönlichen Photographen Vittorio Emanuele III. gedrehten Materials, das von der Produktionsgesellschaft Monopolio Internazionale di Roma vorgeführt wurde.47 Wie in IL PARADISO NELL’OMBRA DELLE SPADE, zu dem D’Annunzio selbst die Zwischentitel lieferte, so stehen auch in L’IMPRESA DI FIUME (o.J.) vor allem die Soldatenströme im visuellen Mittelpunkt, die vor einer jubelnden Zuschauermasse – der Film suggeriert, dass es sich um die Bewohner Fiumes handelt – vorbeimarschieren. Gerade diese Einstellungen lassen jenes „Ornament der Masse“48 erkennen, das als eine Gegenfigur zur bürgerlichen Individualität begriffen wurde und das Gefühl des Auserwähltseins im Faschismus und Nationalsozialismus antizipierte. D’Annunzio in persona dagegen ist nur in wenigen Einstellungen, nie in der Nahaufnahme, sondern immer in der Halbtotalen oder Totalen – und auch dies nur ungefähr vierzig Sekunden von insgesamt acht Minuten – zu sehen: in einer Einstellung vom Balkon des Rathauses aus zur Masse sprechend, in zwei weiteren den Soldaten Befehle erteilend (siehe Abb. 4ff.).49

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das Internet nach Anmeldung frei zugänglich unter der URL: www.istitutoluce.it, 1.10.2004. Der Film ist frei zugänglich nach namentlicher Anmeldung über die Internetseiten des Istituto Luce. URL: www.archivioluce.it, 1.10.2004. Vgl. Gethmann 1996, S. 165f. Kracauer, Siegfried: „Das Ornament der Masse“ (1921-1931; 11963), in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte, Frankfurt a.M. 1977, S. 50-63. Vgl. hierzu neben Frevert 2003 auch Theweleit, Klaus: Männerphantasien (2 Bd.e), Frankfurt a.M. 1977. Theweleit wendet sich in seiner Untersuchung gegen die These Kracauers von einer Anonymisierung in den Massen. Vgl. Bd. I, S. 548-556; insbes. S. 552f. Vgl. auch Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus. NGBK (Hrsg.), Berlin 1988. Die Abbildungen sind dem vom Istituto Luce herausgegebenen und im Handel erhältlichen Filmmaterial entnommen worden. Vgl. Veroli, Patrizia (Hrsg.): D’Annunzio, Rom 2003. Ein Großteil des Filmmaterials, das im Anhang zum vorliegenden Aufsatz abgebildet ist, ist mit demjenigen, das in den Filmen L’IMPRESA DI FIUME und CON GABRELE D’ANNUNZIO A FIUME

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Die Gründe für eine derartige Zurückhaltung werden deutlich, zieht man zum Vergleich einen weiteren Film mit dem Fiume-Material heran, der unter dem Titel CON GABRIELE D’ANNUNZIO A FIUME50 (1919) im Istituto Luce aufbewahrt wird. Das Material, aus dem der Film montiert wurde, ist zwar mit demjenigen aus L’IMPRESA DI FIUME größtenteils identisch, die Aussage jedoch ist eine vollkommen andere. Im Gegensatz zu L’IMPRESA DI FIUME wird hier ein ständig im Mittelpunkt stehender D’Annunzio in Szene gesetzt, auf dessen Schreie und Kampfrufe die ‚Feuerigen‘ stets willig antworten. Doch scheint gerade dies die Pose des poeta soldato vollkommen zu dekonstruieren: In einer der Szenen, in der ein in Uniform gekleideter D’Annunzio, der unbewegten Kamera frontal zugewandt, eine Schar Soldaten anführt, rückt sein Gesicht immer stärker in den Vordergrund. Nicht ein sublimes ‚Fenster der Seele‘ schreitet hier dem Zuschauer entgegen, sondern ein vollkommen zahnloses Gesicht, und die Militär-Maskerade versucht vergeblich, eine grotesk-dekadente Mimik zu verbergen. Der Film L’IMPRESA DI FIUME wiederum verzichtet vollends auf Nahaufnahmen. Die Wirkung der Totalen und Halbtotalen ist fulminant, denn geradezu ikonoklastisch scheint D’Annunzio dem Auge der Kamera entzogen zu sein, wie ein Gott, der über dem Massenkörper herrscht, selbst jedoch nicht abgebildet, den Augen nicht gänzlich zugänglich gemacht werden soll. Die Divinisierung D’Annunzios kommt dann auch in den Halbtotalen zum Tragen, namentlich beim Hissen der Fahne auf einem lokalen Regierungspalast. Zwar ist D’Annunzio zunächst kaum zu erkennen, hebt sich nach einigen Sekunden aber durch die kämpferisch erhobene Hand und den Ruf „eia, eia alalà“ von den übrigen Personen ab,

verwendet wurde, identisch. In allen benannten Fällen entstammen die einzelnen Einstellungen dem von D’Annunzio selbst geplanten Film IL PARADISO NELL’OBRA DELLE SPADE. Die unterschiedlichen Aussagen der Filme vermitteln ein äußerst einleuchtendes Beispiel für die Montage als Bedeutung gebendes Element im Film, insbesondere in jenem mit vorwiegend dokumentarischem Charakter. 50 Dieser Film ist bis zur Zeit der Abschlussarbeiten am Text über die Internetseiten des Istituto Luce noch nicht freigeschaltet worden (s.o. Anm. 45). Da es mir bis zum Abschluss der Arbeiten am Aufsatz nicht gelungen ist, eine Videokopie des Films zu erhalten, stützen sich die folgenden Ausführungen auf eine einmalige Vorführung, der ich im Rahmen eines Forschungsaufenthalts im Dezember 2003 im Istituto Luce beigewohnt habe, sowie auf den knappen Filmkommentar, den der Filmlink auf den Seiten des Istituto Luce enthält. URL: www.archivioluce.it, 1.10.2004.

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in dieser „animazione dell’imagine“51 jene in Il fuoco in die Literatur transponierte Idee der Pathosformel der Macht zitierend und in der Bewegung des filmischen Bildes aufhebend. Aufgrund dieser Zurückhaltung wird D’Annunzio erst recht als ein Erregungsbild stilisiert, als eine unsichtbare Hand, die das nationale Projekt erfolgreich leitet und für den Faschismus eine Avantgardeleistung erbringt.52 Jedoch vermag es D’Annunzio, gerade dann die Masse zu mobilisieren, wenn nicht Bilder seiner selbst in den Mittelpunkt gestellt werden, sondern wenn mit dem Dekor, den Elementen einer politischen Ikonographie gearbeitet wird. Dass auch in den Filmbildern des Redner-Kommandanten D’Annunzio vor allem auf die Dichterfigur angespielt wurde, verdeutlicht der sich montagetechnisch niederschlagende symbolisch-propagandistische Gestus des Films. So wird in die Überblendungen beim Wechsel der Einstellungen und Sequenzen an mehreren Stellen das Bild des lodernden Feuers einmontiert. Es liegt nahe, dass es sich vordergründig um das symbolische Feuer der Arditi handelt; die Attraktionsmontage jedoch fungiert als revolutionäre Metaphorik und als eine regelrechte „Epifania del fuoco“,53 als ein dem italienischen Zuschauer bekannter Verweis auf den Roman D’Annunzios. Durch die Wochenschaubilder wird dem Ro-

51 D’Annunzio, Gabriele: „L’uomo che robò la Gioconda“ (1920), in: ders. 1950 (wie Anm. 36), Bd. II: Tragedie, sogni e misteri, S. 1171-1199; Zitat S. 1194. 52 Wie die Verwendung desselben Filmmaterials für den faschistischen Film DA QUARTO A FIUME ITALIANA: L’EPOPEA D’ANNUNZIANA beweist, der, so Gethmann 1996, S. 166, Anm. 62, „‚numero unico‘ des Istituto Luce, der mit offensichtlich propagandistischem Hintergrund für die Republik von Salò herauskam“. 53 So der Titel des ersten Kapitels des Romans Il fuoco. Die Feuersymbolik wird auch in dem ersten Film, für den D’Annunzio Pate stand, verwendet, in dem 1914 von Giovanni Pastrone verfilmten Monumentalfilm CABIRIA. Die dort inszenierte „Epifania del fuoco“, eine Art ‚Filmakt‘, spielt in der Grube des Moloch, in die die entführte römische Patriziertochter Cabiria verschleppt wurde, um geopfert zu werden. Das Feuer ist hier das Symbol des Priesters, der Gefahr, aber auch der Verführung der Masse der Gläubigen, die der Opferung beiwohnt. Vgl. D’Annunzio, Gabriele: „Cabiria. Visione storica di terzo secolo“ (1914), in: ders. 1950 (wie Anm. 36), Bd. II, S. 1927-1142. Zur Entstehung des Films CABIRIA und den Konkordanzen zwischen D’Annunzio und dem Regisseur Giovanni Pastrone vgl. neben Gethmann 1996 auch die zwar narrative, aber materialreiche Arbeit von Chimirri, Giovanna: D’Annunzio e il cinema. Cabiria, Catania 1986 sowie Cerchi Usai, Paolo: Giovanni Pastrone, Fiorenze 1986 und Campani, Linda: „Cabiria. Early Italian Cinema Between Attraction and Narrative“, in: BLIMP. Film magazine, Nr. 37 (1997), S. 61-66.

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man eine annunziatorische, politisch-programmatische Größe zugesprochen.54 Gleichwohl: Während sich der fuoco literarisch auf das Feuer des ästhetischen Ausdrucks und der Erkenntnis aus dem ästhetischen Genuss bezieht, auf das der Leidenschaft, der Farben des Herbstes, der roten Farbe der hauptsächlich koloristisch argumentierenden venezianischen Malerei, ist das Feuer in L’IMPRESA DI FIUME eingeengt auf dasjenige der ausschließlich politischen und militärischen passione eines „kriegerisch geschminkte[n] Casanova“.55 Der genau in der Mitte von D’Annunzios Leben entstandene Roman Il fuoco erweist sich so als (negativ) annunziatorisch und prophetisch in mehrfacher Hinsicht. Er deutet auf die demagogische Praxis des zum commandante mutierenden Schriftstellers gleichermaßen hin wie auf das Ende einer ästhetizistischen Auffassung der Welt durch ihre Zuspitzung auf die politische Praxis. Stilistisch dem Ästhetizismus verpflichtet – jener Literaturströmung, der zufolge die Wirklichkeit die Kunst nachahme56 –, steht Gabriele d’Annunzio symptomatischer als die meisten anderen Schriftsteller der Jahrhundertwende für eine über jeglichen Ästhetizismus hinausragende, avantgardistische Überführung des Fiktionalen in die Realität. Das umgekehrte MimesisKonzept des Fin de Siècle, die Nachahmung der Kunst durch die Wirklichkeit, scheint D’Annunzio nicht nur poetologisch gestaltet, sondern auch praktiziert zu haben. Die beiden Ebenen, diejenige des Lebens wie auch die der Kunst, sind somit in einem ständigen Sich-Ergänzen begriffen und scheinen dazu zu tendieren, aktionistisch und mit dem Tod kokettierend ins Leben überführt zu werden.57 So werden Dichtung und Wahrheit weniger zu einem literaturintern behandelten SelbsterfahrungsProblem des neuzeitlichen Individuums, die Kunst und das Künstliche 54 Vgl. Canetti, Elias: Masse und Macht (1960), München ²1976, Bd. I, S. 83f. 55 Hofmannsthal, Hugo von: „Antwort auf die ‚neunte Canzone‘ Gabriele D’Annunzios“ (1912), in: ders. 1979, Bd. I, S. 625-629; Zitat S. 628. 56 Vgl. Žmegaþ, Viktor: „Die Realität ahmt die Kunst nach. Zu einer Denkfigur der Jahrhundertwende“, in: ders.: Tradition und Innovation. Studien zur deutschsprachigen Literatur seit der Jahrhundertwende, Wien/Köln/Weimar 1993, S. 45-57. 57 Ohne eine Hinterfragung dieser Thematik kommt kaum eine der D’Annunzio-Abhandlungen aus. Zu dem Vergleich zwischen dem Dandy und Kunstliebhaber Stelio Effrena und seiner Überwindung in der Person D’Annunzios siehe Hausmann, Frank-Rutger: „Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende – Gabriele D’Annunzio und die bildende Kunst“, in: Volker Kapp/Helmuth Kiesel/Klaus Lubbers (Hrsg.): Bilderwelten als Vergegenwärtigung und Verrätselung der Welt: Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende, Berlin 1997, S. 91-107.

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nicht lediglich als eine Doktrin und eine Ästhetik extremer Natur- und Realitätsferne aufgefasst, sondern als die schlechthinnige Realität. Die Beständigkeit der Versuche Gabriele d’Annunzios, die Kunst mit dem Leben zu verknüpfen, macht die absurde Tragikomik seines Daseins aus: Die Symbiose von Kunst und Leben in einer unsterblichen Mythologie kann Stelio noch gelingen, ob D’Annunzio selbst durch die zu Taten gewordenen Gedanken und Militärphantasien eine ähnliche Sublimierung jemals hat erfahren können, mag dahingestellt sein. Abbildung 1: Aby Warburg: Tafel „Kirchliche Macht unter Verzicht auf die weltliche“ (Mnemosyne-Atlas)

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Abbildung 2: Paolo Veronese: Apotheose der Venezia (1575-1577), Deckenfresko in der Sala del Maggior Consiglio des Dogenpalastes

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Abbildung 3: Blick auf die Sala del Maggior Consiglio. Im Hintergrund: Jacopo da Tintoretto: Il paradiso (1588-1592).

Abbildungen 4-12: Screenshots aus der Dokumentation L’IMPRESA DI FIUME (gefilmtes Material: 1919-1921)

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DANDY, DICHTER, DEMAGOGE – MÄNNLICHKEITSENTWÜRFE DER BELLE EPOQUE Dem 19. Jahrhundert bleibt nach dem Copieren religiöser Formen nur noch das Copieren als solches. Das Absolute wird zur Geste. Das Unerreichbare wird als Dandy, als Clown, als Straßenjunge symbolisiert. Niklas Luhmann

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Tout ce qui est beau et tout ce qui est bon n’est il pas éphémère? 2

Marcel Proust

Wie würde man einen jungen, elegant gekleideten Mann kategorisieren, der ein Hamburger Restaurant betritt und ein Hausschwein an der Hundeleine führt? So geschehen an einem Sonntagvormittag im November letzten Jahres. Der geschulte Blick des Literaturwissenschaftlers assoziiert derlei skurrile Formen des großstädtischen Alltagstheaters womöglich mit biographischen Anekdoten aus dem Leben des französischen Autors Charles Baudelaire, der bekanntermaßen bei seinen Promenaden auf den Pariser Boulevards eine Schildkröte an der Leine führte, um nach außen hin zu demonstrieren, dass er sich keineswegs dem zunehmend schneller und flüchtiger werdenden Großstadtleben anpasste, sondern als ‚Maler des modernen Lebens‘ über ausreichend Zeit verfügte. Zweifelsohne führen uns derartige Assoziationen ein Inszenierungsmodell vor Augen, dessen Ursprung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in England zu suchen ist – die Rede ist freilich vom Persönlichkeitsbild des Dandys und dessen extravaganter Erscheinung. Jenes schillernde In1 Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1982, S. 218. 2 Proust, Marcel: Contre Sainte-Beuve précédé de Pastiches et mélanges et suivi de Essais et articles, Paris 1971, S. 360.

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szenierungsmuster männlicher Individualität, als dessen Ur-Bild der Engländer George Brummell gilt,3 trat im Laufe des vorletzten Jahrhunderts seinen Siegeszug von England über den Channel bis in die etablierten Salons des Pariser Hochadels im Faubourg Saint-Germain an. Die Belle Epoque besiegelt gleichzeitig den Höhepunkt des Dandytums wie auch sein abruptes Ende durch den Beginn des Ersten Weltkrieges. Zwischen diesen Eckpunkten betritt jedoch ein illustrer Reigen schillernder Figuren die europäischen Bühnen des beau monde. Neben den bereits Genannten gehören u.a. Balzac, Oscar Wilde, Robert de Montesquiou und auch Gabriele d’Annunzio zu den wichtigsten Repräsentanten des europäischen Dandykults. Hierbei fällt unmittelbar auf, dass es eine offenkundige Verbindung zu geben scheint zwischen Gesellschaft und Literatur, ist es doch so, dass die Schriftsteller nicht nur sich selbst in dieser extravaganten Maskerade präsentierten, sondern gleichsam in ihren Texten Figuren schufen, die gewissermaßen den schriftlich fixierten Regelkatalog des europäischen Dandys verkörperten. Zu nennen wären hier Huysmans’ Anti-Held Des Esseintes, Prousts Baron de Charlus4 sowie diverse Protagonisten aus den Schlüsseltexten von Balzac, Wilde und D’Annunzio. Doch nicht nur das Medium der Literatur dient der massenwirksamen Verbreitung des Dandytums. Insbesondere die Dandys der vorletzten Jahrhundertwende bedienen sich ad hoc der neuen Medien Photographie und Tagespresse, um ihren autopoetischen Narzissmus öffentlich zur Schau zu stellen. Bereits an dieser frühen Stelle lässt sich zu Recht konstatieren, dass es sich beim Dandy der Belle Epoque um eine frühe Form des massenmedial generierten Stars handelt, wie wir ihn heute kennen. Dieser Glanz der Oberfläche, der in gleichem Maße den Dandy, die Diva und das Starlett kennzeichnet, scheint sich erst im Zeitalter der neuen Medien in toto zu entfalten. Wie Barbara Straumann kürzlich darlegte, scheint es ohnehin eine enge Wahlverwandtschaft zwischen dem zunächst männlich codierten Selbstentwurf des Dandy und der exklusiven Inszenierung der vornehmlich weiblichen Diva zu geben: Da sich das Begehren des Dandy auf die Inszenierung eines exklusiven Selbstbilds richtet, das sich von der konformistischen Gesell-

3 Vgl. Erbe, Günter: Dandys. Virtuosen der Lebenskunst. Eine Geschichte des mondänen Lebens, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 25ff. 4 Vgl. hierzu Vf.: „A Star is born. Charlus als Kunstfigur bei Proust, Schlöndorff und Ruiz“, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hrsg.): Proust und die Medien, München [2004].

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schaft abhebt, ist der Dandy klassischerweise ein Bewunderer der 5 einsamen, unnahbaren Diva.

Signifikanterweise unterscheidet Straumann beide Inszenierungsmodelle nach den Maßgaben des klassisch-binären Geschlechterparadigmas, obschon gerade der Dandy die tradierte Differenz von männlich und weiblich oftmals zu unterlaufen scheint. Dessen ungeachtet beschreibt Straumann das Medium der Photographie, das sowohl Dandy als auch Diva einsetzen, als idealen „medialen Nährboden“6 ihrer jeweiligen Selbstinszenierungen. Im Folgenden sollen genau jene (inter-)medialen sowie genderspezifischen Insignien des Dandytums näher herausgearbeitet werden. Hierbei spielen nicht nur die bereits skizzierten Medien Literatur, Photographie und Tagespresse zentrale Rollen. Darüber hinaus muss die Bühnenkunst als nahezu übergeordnetes Leitmedium mit in die Analyse aufgenommen werden, um der unbestrittenen Theatralität des Dandykonzepts ausreichend Rechnung zu tragen.

„épater le bourgeois“ – Eine kleine Kulturgeschichte des Dandy Die immer stärker werdende Macht des Bürgertums sowie die damit einhergehende Nivellierung der sozialen Hierarchien waren sicherlich die Grundvoraussetzungen für die Geburt des Dandys zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die ‚Erfindung des Dandy‘ muss als unmittelbare Reaktion auf die zunehmend gleichförmiger werdende Massenkultur des Bürgertums verstanden werden. Streng nach dem Motto épater le bourgeois will sich der Dandy zunächst von der uniformen Masse der Bourgeoisie abgrenzen, ohne jedoch zwangsläufig eine adelige Herkunft vorweisen zu können. Straumann spricht in diesem Zusammenhang von der „Aristokratie des Geistes“,7 die das Erscheinungsbild des Dandy nachhaltig prägt. Der Begriff des ‚Dandy‘ hat sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England durchgesetzt und bezeichnet zunächst Männer, die einen erhöhten Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild legten, eine möglichst elegante Lebensführung anstrebten und einen geistreich-zynischen 5 Straumann, Barbara: „Queen, Dandy, Diva – Eine Geschichte der theatralischen Selbstentwürfe vom höfischen Schauspiel zur Photographie“, in: Bronfen, Elisabeth/dies.: DIVA. Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002, S. 69-87; Zitat S. 79. 6 Ebd., S. 70. 7 Ebd., S. 78.

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Konversationston für sich beanspruchten. Der Begriff ‚Dandy‘ gruppiert sich in eine bereits existierende semantische Reihe ein, die Wörter wie ‚Beau‘, ‚Exquisite‘, ‚Geck‘, ‚Stutzer‘ oder ‚Buck‘ in sich vereint. Es wäre freilich zu pauschalisierend, von dem Dandy schlechthin zu reden, da es zu keiner Zeit ein verbindliches Grundmuster mit bestimmten Verhaltens- oder Inszenierungsanweisungen gab – es wäre ohnehin ein Widerspruch in sich selbst, eine fest umrissene und normierte Gruppierung ‚der Dandys‘ verorten zu wollen, da sich die prominenten Vertreter bekanntlich vor allem durch einen übersteigerten Hang zum Individualismus auszeichneten. Es gibt dessen ungeachtet eine Reihe grundsätzlicher Gemeinsamkeiten, die es dennoch rechtfertigen, von einem allgemeinen, personenübergreifenden Persönlichkeitsbild zu sprechen. Im Vordergrund steht zunächst der Oberflächenkult seiner selbst und des eigenen Lebensumfelds, d.h. eine möglichst untadelige Eleganz in der Kleidung und in der Inneneinrichtung. Den Maßstab hierfür legte der arrivierte und somit akzeptierte Dandy häufig selbst fest in seiner Rolle als Modediktator bzw. als arbiter elegantiarum.8 Es fällt aus heutiger Sicht schwer, exakt nachzuzeichnen, worin genau die ausgemachte Eleganz in der Kleidung des Dandys nun eigentlich bestand. Zuallererst scheint – entgegen allen Erwartungen – ein wesentliches Merkmal die augenscheinliche Schlichtheit der Toilette maßgeblich gewesen zu sein. Schlichtheit, Sauberkeit und Korrektheit waren die vordergründigen Elemente, was Kleidung anbelangte. Somit schien der Dandy auf den ersten Blick genau das zu verkörpern, wovon er sich sehnlichst abzugrenzen suchte, nämlich eine gewisse Uniformität. Balzac bringt jene Form der schlichten Eleganz auf folgende prägnante Formel: „Die wesentlichste Wirkung der Eleganz ist: den Aufwand, den sie erfordert, zu verbergen.“9 Dennoch trug der king of fashion Zeichen der Originalität zur Schau, die vermutlich über fashionable und non-fashionable zu entscheiden vermochten: Die Rolle der Accessoires, wie Halsband, Spazierstock oder Schnupftabakdose war von enormer Wichtigkeit. Der rein äußerliche Rang des Dandys bemaß sich also letztlich auf der Ebene der Details, was Günter Erbe folgendermaßen resümiert: Seine Kleidung war sowohl demokratisch als auch elitär: das eine wegen ihres praktischen Ursprungs und der Einfachheit der Form,

8 Diesen Begriff verdanke ich Günter Erbe 2002, S. 10. 9 Balzac, Honoré de: Physiologie des eleganten Lebens (1830), München o.J., S. 83.

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das andere wegen des Aufwands an hoher Anziehkunst und der 10 Bedeutung der Accessoires, vor allem der Krawatte.

Diese vermeintliche Einfachheit und Harmonie im äußerlichen Gesamtbild wurde jedoch durch die Auffälligkeit im Benehmen des Dandys konterkariert. Zu den Grundpfeilern der öffentlichen Auftritte zählen neben einem scheinbar teilnahmslosen Gesichtsausdruck und einem spontanen Hang zu verbaler Impertinenz vor allem die absolute Kontrolle der Affekte sowie das Talent des Smalltalks voller Esprit und Nonchalance. Somit unterliegt die öffentliche Inszenierung des Dandys in demselben Maße dem unsichtbaren Regelkatalog eines gesellschaftlichen Rollenbilds wie seine Kleidung, die freilich ebenso als Bestandteil des inszenatorischen Gesamtbildes fungiert. Was die Konversation des Dandys angeht, so fällt allerdings – ähnlich dem honnête homme oder dem cortegiano – die Form stärker ins Gewicht als der eigentliche Inhalt. Es geht also einzig um die „aufdringliche Performanz dieses für nichts als ein chatting gehaltenen Kommunikationscodes“,11 welche die Gesprächskunst des Dandykults zelebriert: Seine Bonmots verdankten sich dem Umstand, daß er die größten Nichtigkeiten zu Sachen von Bedeutung aufblähe und alles andere mit der größten Nonchalance und Gleichgültigkeit behandle, so daß 12 jeder, der es anders sehe, wie ein Langweiler dastehe.

Schon jetzt kann demnach festgehalten werden, dass es sich beim Modell des Dandys um nichts anderes als ein höchst artifizielles wie performatives Konstrukt handelt, dessen wesentliche Grundeigenschaften (Maskerade, Affektkontrolle, Kostümierung, Redegewandtheit, Verstellungskunst) streng genommen im Bereich der Bühnenkunst zu suchen sind – mit Anleihen bei Machiavelli und Baldassare Castiglione. Ur-Bild des Dandys war, wie bereits gesagt, der Engländer George „Beau“ Brummel (1778-1840). Aus diesem Grund soll auf seine Biographie nun ausführlicher eingegangen werden, obwohl seine Lebensdaten im Grunde hundert Jahre vor der Belle Epoque anzusiedeln sind. Mit Brummel nahm also diese spezielle Geschichte des mondänen Lebens ihren Ausgang, einem streng genommen bürgerlichen Parvenü, der es als Sohn eines Privatsekretärs und Enkel eines Dienstboten bis hin zum Be10 Erbe 2002, S. 35. 11 Link-Heer, Ursula: „Chi sprezza, ama. Prousts Ars Erotica der Verstellung und Nonchalance“, in: Friedrich Balke/Volker Roloff (Hrsg.): Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust, München 2002, S. 211-227; Zitat S. 212 (kursiv im Original). 12 Erbe 2002, S. 40.

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rater in Mode- und Stilfragen des Prince of Wales brachte. Brummel verkörperte zeitlebens die Rolle des arbiter elegantiarum, des Schiedsrichters der Eleganz, weshalb Virginia Woolf ihn gar als „Symbolfigur“13 des mondänen Lebens der Regency-Zeit verstanden haben will. Die Biographie Brummels liest sich wie ein Roman aus der Feder Stendhals oder Balzacs und enthält alle Höhen und Tiefen aus der Vita eines gesellschaftlichen Emporkömmlings par excellence, dessen Verschwendungssucht und scharfe Zunge ihn zunächst ins Exil jenseits des Channels treiben, bevor er völlig verarmt und in geistiger Umnachtung in Frankreich stirbt. Virginia Woolf schafft es in ihrer Eigenschaft als brillante Essayistin, die wesentlichen Ingredienzen aus Brummels unbestritten eindrucksvoller Laufbahn auf gut acht Seiten zusammenzufassen. Alles, was man über jenen ‚Virtuosen der Lebens-Kunst‘ wissen muss, um seinen Lebensweg adäquat nachzeichnen zu wollen, resümiert Woolf mit gleichzeitig scharfer wie sanfter Ironie in ihrem Essay „Beau Brummel.“ Sie schildert ihn als das „Haupt der eifersüchtigsten und exklusivsten Gesellschaft seiner Zeit [...], dessen Kleider den Neid von Königen erregt hatten.“14 Sämtliche Dandy-Eigenschaften finden sich bereits durch Brummel verkörpert in einer „merkwürdigen Kombination von Geist, Geschmack, Unverschämtheit und Unabhängigkeit“ sowie einer „Geschicklichkeit der Hand und Schärfe des Urteils.“15 Als besonderes äußeres Markenzeichen und modische Innovation in Brummels Äußerem galt das sorgfältig gestärkte sowie gefaltete Halstuch, was den Beau oftmals mehrere Stunden kostete, bevor das Ergebnis zu befriedigen vermochte. Hierzu merkt Woolf augenzwinkernd an: „Reiche waren entstanden und wieder zerfallen, während er mit der Falte seines Halstuchs experimentierte und den Schnitt seines Rockes kritisierte.“16 In diesem Statement stecken zwei weitere, zusätzliche Grundeigenschaften bzw. Tätigkeiten, die das Gros der historischen Dandy-Repräsentanten für sich beanspruchte: zum einen das Unpolitische ihres Erscheinungsbildes und zum anderen das ostentative Demonstrieren des Müßigganges. Ein Dandy verfügte gezwungenermaßen über ausreichend Zeit, um mindestens dreimal am Tag seine Toilette zu wechseln, Stunden mit dem Binden des Halstuchs zu verbringen oder sich in Klubs oder Salons dem geistvollen Smalltalk hinzugeben. Brummel war zwar lange Zeit ein enger Vertrau13 Woolf, Virginia: „Beau Brummel“ (1932), in: dies.: Der gewöhnliche Leser. Essays. Klaus Reichert (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1997, Bd. 2, S. 174-181; Zitat S. 175. 14 Ebd., S. 174f. 15 Ebd., S. 175. 16 Ebd., S. 177.

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ter des Prince of Wales, doch speiste sich diese Verbindung keineswegs aus politischen Motiven; vielmehr, darauf wurde bereits hingewiesen, war Brummel der Modeberater des Prinzen. Der vermeintlich engen Beziehung wurde durch Brummels sowohl gefürchteten als auch berüchtigten Hang zum Austeilen mit spitzer Zunge ein jähes Ende bereitet, als Brummel auf einem Ball einen befreundeten Lord lauthals fragte: „Wer ist eigentlich Ihr dicker Freund?“17 Dieser war niemand als der Prince of Wales und das vertraute Verhältnis zwischen den beiden Lebemännern ad hoc aufgelöst. Wenige Zeit später flüchtete der inzwischen hoch verschuldete Brummel in einer buchstäblichen Nacht- und Nebelaktion vor seinen Gläubigern nach Calais. Ab diesem Zeitpunkt verblasste sein ehemals strahlender Stern zusehends. Er setzte seinen verschwenderischen Lebensstil trotz horrender Schulden fort, landete schließlich im Gefängnis und starb im Jahre 1840 in Caen. Trotz aller staatspolitischen Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich standen doch die höheren Kreise der beiden Hauptstädte Paris und London stets in wechselseitigem Austausch. Der Weg über den Channel stellte weder für den Franzosen noch für den Engländer ein allzu großes Hindernis dar. Und so trat auch der Dandykult rasch seinen Siegeszug von der Insel auf den Kontinent an. Es wäre indes vorschnell zu urteilen, beim Modell des Dandys handele es sich um ein reines englisches Importprodukt. Es gab freilich im Paris des beginnenden 19. Jahrhunderts verschiedene Nuancierungen eines Männerbilds, das dem des Dandys verwandt scheint. Allerdings herrscht im nachrevolutionären Paris immer noch eine stark ausgeprägte soziale Segregation, d.h. der beau monde des Faubourg St. Germain schottet sich zunächst noch stark gegen Parvenüs aus dem Bürgertum ab. Die Aristokratie des Blutes wiegt demnach ungleich schwerer als diejenige des Geistes, die eine Vielzahl der frühen englischen Dandytypen kennzeichnete. Außerdem spielen Auftritte in der breiten Öffentlichkeit noch keine große Rolle im Leben des Pariser High Life, die insbesondere für den Dandy so wichtig werden sollten. Dessen ungeachtet herrschte in den gefeierten Pariser Salons und Klubs eine veritable Anglomanie, die sich vor allem in Fragen der Mode und des Lebensstils bemerkbar machte: „Die elegante Männerwelt aß, trank, kleidete und amüsierte sich auf englische Art, um sich von der Masse zu unterscheiden.“18

17 Nachzulesen ist diese Anekdote sowohl bei Erbe 2002, S. 41f. als auch bei Woolf 1997, S. 176f. 18 Erbe 2002, S. 111.

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Unter der Regentschaft des Bürgerkönigs Louis-Philippe und mit dem Zusammenbruch der monarchistischen Partei setzt jedoch sukzessive ein Prozess ein, den ich als Demokratisierung der mondänen Welt bezeichnen würde. Allmählich begannen die bis dato streng elitären Salons ihre Pforten zu öffnen, wenn auch nicht für jedermann. Vornehmlich Dichter und Künstler sowie Mitglieder des so genannten demi-monde wurden zunächst in der adeligen Welt geduldet und leisteten später zur jeweiligen Reputation eines Salons wichtige Beiträge. Dieser Prozess der Demokratisierung ging mit einem Wandel im äußerlichen Stadtbild der Metropole einher: Es begann eine Verlagerung des öffentlichen Lebens von den geschlossenen Salons auf die Boulevards und in die Cafés. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war zugleich die Geburtsstunde des Flaneurs oder auch Boulevardiers sowie des Kaffeehausbesuchers. Jene Verlagerung kam freilich den nicht adeligen Dandys entgegen, da öffentliche Auftritte seit jeher zu ihren charakteristischsten Leistungen gehörten. Somit stellte das neue High Life des Tout-Paris eine illustre Durchmischung der gesellschaftlichen Klassen dar, zu der sowohl die Adeligen höchster Abstammung gehörten als auch Dichter, Parvenüs, Halbweltdamen und eben müßiggängerische Dandys jeglicher gesellschaftlicher Provenienz. Im Anschluss an den Untergang des zweiten Kaiserreichs sowie das Ende des deutsch-französischen Krieges setzte in Frankreich eine Epoche des Friedens sowie des gesellschaftlichen Wandels ein. Die Wende des Jahrhunderts brachte Umwälzungen und Neuerungen im gesellschaftlichen System, in den Künsten sowie in Naturwissenschaft und Medienlandschaft mit sich. Diese Epoche, die sowohl durch Umbruch und Neuanfang als auch durch Krisen und Skepsis geprägt war und gleichermaßen den Beginn der Moderne inaugurierte, ging bekanntermaßen in die Historiographie als die ‚schöne Epoche‘ ein, als ‚Belle Epoque‘. Für die geschichtliche Entwicklung des Dandysmus bedeutet die Belle Epoque eine wahrhaftige Renaissance (ohne dass es freilich in den vorangegangenen Dekaden einen völligen Stillstand gegeben hätte), einen glanzvollen Höhepunkt sowie ein abruptes Ende durch den Beginn des Ersten Weltkriegs, der ebenfalls der Belle Epoque ihren jähen Abschluss brachte. In England sorgte am Ende des 19. Jahrhunderts der skandalträchtige Autor Oscar Wilde für das Erbe des Dandytums. Sowohl in seinem Leben als auch seinen zahlreichen Texten spielt das ideale Konstrukt des Dandys die zentrale Rolle. Seine Figur des Dorian Gray wurde rasch zur Kultfigur und zum Vorbild des modernen Dandys. Dekadenz und Ästhe-

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tizismus dienten solcherart als Nährboden für die Renaissance des Dandytums im Fin de Siècle. In Frankreich legt vor allem Joris-Karl Huysmans’ Romanexperiment A rebours (1883) Zeugnis von dieser Entwicklung ab. Wilde und Huysmans teilten beide „den Geschmack am Künstlichen und den Ekel vor der Trivialität des modernen Lebens.“19 Der Widerstreit innerhalb der Dichotomie Kunst-Natur wird in den Zeugnissen des Fin de Siècle klar zugunsten von Kunst und Künstlichkeit entschieden. Der Aphoristiker Oscar Wilde bringt diese Tatsache auf folgende ästhetizistische Formel: „Je mehr wir die Kunst studieren, desto weniger kümmert uns die Natur.“20 Wildes offen gelebte und zur Schau getragene Homosexualität21 besiegelt jedoch bald das Ende seiner glorreichen Karriere. Der prominente Sittenprozess gegen das enfant terrible des englischen Viktorianismus brachte ihn schließlich ins Gefängnis zu Reading. Auf diese Weise setzten die realen Gesetze der Gesellschaft mit all ihrer diskursiven Macht seinem ästhetizistisch-dandyhaften Werdegang ein öffentlich manifestiertes Ende. Derjenige Autor, der inzwischen als der subtilste Geschichtsschreiber der Pariser Belle Epoque gilt, ist sicherlich Marcel Proust. In seinem Jahrhundertroman A la recherche du temps perdu schildert er minutiös die gesellschaftliche Schwellensituation innerhalb des immer noch exklusiven, aber schon vom Untergang bedrohten Faubourg St. Germain mit all seinen schillernden, glanzvollen und dekadenten Mitgliedern bis hin zur Nivellierung jeglicher Klassenunterschiede durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Natürlich findet die Figur des Dandys auch bei Proust ausführlichste Beachtung: Neben den zwei Protagonisten Charles Swann und Palamède de Charlus begegnen wir im Verlauf des knapp viertausend Seiten starken Romans einer Reihe an Gesellschaftslöwen, Snobs und Parvenüs, die allesamt das Männlichkeitsideal des Dandys anstreben. Proust selbst darf nur unter Vorbehalt in jene mutmaßliche Kategorie eingeordnet werden. Er fungiert vielmehr als der Beobachter prominenter Dandys, wie z.B. des Grafen Robert de Montesquiou, dem Proust sowohl Bewunderung als auch unverhohlene Kritik entgegenbrachte. Montesquiou gilt als der Pariser Dandy par excellence und 19 Ebd., S. 258. 20 Wilde, Oscar: „Der Verfall der Lüge. Eine Betrachtung“ (1891), in: ders.: Werke in zwei Bänden. Rainer Gruenter (Hrsg.), München 61996, Bd. 1, S. 393-428; Zitat S. 393. 21 Zum Thema der Homosexualität muss angemerkt werden, dass die Dandys der ‚ersten Phase‘ oftmals und vielerorts mit Vorwürfen der Homosexualität konfrontiert und diffamiert wurden, da der Kult um das eigene schöne Äußere immer wieder mit Effeminiertheit gleichgesetzt wurde.

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diente Proust unter anderen als Vorbild seines Baron de Charlus. Auch Huysmans soll sich für seine Figur des Des Esseintes bei Montesquiou inspiriert haben. Eine Art Sonderstellung unter den Dandys der Belle Epoque hat sicherlich der italienische Dichter Gabriele d’Annunzio inne, der seinerseits oftmals auf den Pariser Bühnen der Gesellschaft durch seine charismatische Erscheinung glänzte. D’Annunzio ist wahrscheinlich der einzige Dichter-Dandy der Geschichte, der es in seinem Leben nicht nur zu literarischen Ehren brachte, sondern darüber hinaus als enger Freund Mussolinis im politischen Leben Italiens zumindest temporär eine wichtige Rolle spielte. D’Annunzio ist gleichzeitig einer der letzten Repräsentanten des historischen Dandytums. Bis in den Zweiten Weltkrieg hinein, ja darüber hinaus schaffte er es, seinen Kult um die eigene Person vor der monumentalen Kulisse des Vittoriale aufrechtzuerhalten. Montesquiou und D’Annunzio können trotz all ihrer offenkundigen Unterschiede als emblematische Repräsentanten des Belle Epoque-Dandysmus für den romanischen Raum kategorisiert werden.

Medialität und Performativität des Dandys Das Inszenierungsmodell des Dandys lässt sich kaum in angemessener Weise beschreiben, ohne den Einsatz und Stellenwert verschiedenster Medien zu berücksichtigen. Hierbei müssen deutlich zwei Ebenen unterschieden werden, die wiederum eng an eine historische Periodisierung gekoppelt sind, die zunächst näher herausgearbeitet werden soll. Aus Gründen der typologischen Vereinfachung, ohne die ein Artikel wie dieser nicht auskommen kann, möchte ich innerhalb der historischen Entwicklung des Dandytums zwei Phasen unterscheiden: einerseits den Dandy ‚der ersten Stunden‘, d.h. vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Fin de Siècle, andererseits den Dandy der Belle Epoque. Als Trennungslinie ließe sich aus historischer Sicht der deutschfranzösische Krieg anführen, der eine klare Zäsur innerhalb des Dandysmus markiert. Aus medientheoretischer Sicht fällt die Erfindung der Photographie exakt in jene Krise und sorgt zudem für eine nachhaltige Modifikation und Erweiterung im Inszenierungsmodus des Dandys. Die beiden Ebenen, die an die Medialität des Dandys geknüpft sind, entsprechen in gewisser Weise eben dieser medienhistorischen Entwicklung. Somit muss differenziert werden zwischen dem Dandy selbst als Medium und den Medien, derer er sich zum Zwecke der Selbstinszenierung bedient.

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Zweifelsohne verbirgt sich hinter dem Konzept des Dandys seit jeher ein stark idealisiertes Konstrukt, das in all seiner Oberflächenzentriertheit bestimmte Aussagen, Lebensgefühle und Ideologeme verkörpert. Von daher erscheint es zwangsläufig als gegeben, dass der Dandy seine gesamte Erscheinung als Medium benutzt, um beim Publikum – man könnte auch sagen: beim Rezipienten seiner selbst – gewisse, von ihm selbst intendierte Effekte zu erzielen. Das, was hier als ‚Erscheinung‘ beschrieben wird, soll als „‚die grundsätzlich und immer schon stattfindende menschliche Zur-Schaustellung einer Selbstauslegung für andere‘“22 verstanden werden. Der Dandy ist demnach eine sowohl übersteigerte als auch streng durchkalkulierte, höchst artifizielle sowie theatralische Form der Selbstinszenierung. Als wesentliche Bestandteile hierfür dienen dem Dandy, wie bereits erwähnt, vornehmlich seine Kleidung und die Kunst der Konversation. Um sich nun ein Bild vom Umfang des vorherrschenden Modediktats zu machen, dem sich der Dandy tagein, tagaus zu unterwerfen bereit ist, soll an dieser Stelle ein Originalzeugnis eines deutschen Paris-Besuchers aus dem Jahre 1827 herangezogen werden: ‚Also in der Regel braucht ein solcher Elegant wöchentlich 20 Hemden, 24 Schnupftücher, 9-10 Sommer ‚trousers‘, 30 Halstücher [...] ein Dutzend Westen und Strümpfe à discrétion. [...] Da aber ein Dandy ohne drei bis vier Toiletten täglich nicht füglich auskommen kann, so ist die Sache sehr natürlich, denn 1. erscheint er in der Frühstückstoilette im chinesischen Schlafrock und indischen Pantoffeln; 2. Morgentoilette zum Reiten im frock-coat, Stiefeln und Sporen; 3. Toilette zum Diner, in Frack und Schuhen; 4. Balltoilette in Pumps, ein Wort, das Schuhe, so leicht wie Papier, be23 deutet, welche täglich frisch lackiert werden.‘

Was wäre die Botschaft einer derartig ausschweifenden Alltagsmaskerade? Einerseits dokumentiert sie das Vorhandensein eines nicht unbeträchtlichen Wohlstands, und andererseits setzt sie freilich voraus, dass der Dandy über ausreichend Zeit verfügt, stundenlang mit An- und Aus22 Soeffner, Hans-Georg: „Erzwungene Ästhetik. Repräsentation, Zeremoniell und Ritual in der Politik“, in: Herbert Willems/Martin Jurga (Hrsg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998, S. 227; zitiert nach Josef Früchtl/Jörg Zimmermann: „Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens“, in: diess. (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a.M. 2001, S. 9-47; Zitat S. 19. 23 Auszug eines Briefes des Fürsten Pückler-Muskau an seine Frau vom 7. Juni 1827; zitiert nach Erbe 2002, S. 37.

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kleiden zu verbringen. Zeit und Geld wären demnach die maßgeblichen Grundvoraussetzungen für das erfolgreiche Sich-Inszenieren als Dandy. Die Biographien einiger Dandys, so auch die von Beau Brummel, beweisen allerdings das genaue Gegenteil, was letztendlich das gesellschaftliche Spiel von Sein und Schein verifiziert. Nun gilt für den Dandy in besonderem Maße die nietzscheanische Formel der Maske, welche keineswegs besagt, dass sich hinter der Maske das Wahre des Menschen verbirgt, sondern vielmehr, dass die Maske selbst das Wahre ist – „nur in der Maske ist der Mensch ganz echt.“24 Das bedeutet im konkreten Fall des Dandys, dass sein Persönlichkeitsbild erst durch die Maske in Erscheinung tritt. Als Maske fungiert das Ideal der schönen Oberfläche, d.h. der Stil dominiert über den Inhalt, ganz ähnlich einem inszenatorischen l’art pour l’art-Konzept. Die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Susan Sontag hat in ihren „Anmerkungen zu Camp“ in gewisser Weise ein adäquates Analyseinstrumentarium für das Modell des Dandys geschaffen. Ihre insgesamt 58 Anmerkungen hat sie bezeichnenderweise dem englischen Vorzeige-Dandy Oscar Wilde gewidmet, der für sie das Wesen des ‚Camp‘ verkörperte wie kein anderer. Diese Ästhetik des geschmackvollen Kitschs beschreibt vorzüglich die Erlebnisweise und Inszenierungsform des Dandys, handelt es sich doch bei Camp um „keine natürliche Weise des Erlebens. Zum Camp gehört vielmehr die Liebe zum Unnatürlichen: zum Trick und zur Übertreibung.“25 Dass es hierbei insbesondere um den schönen Schein der Oberfläche geht, hebt Sontag in ihrer Kurzdefinition des „Camp-Geschmacks“ hervor: Camp-Geschmack neigt bestimmten Kunstgattungen mehr zu als anderen. Kleider, Möbel, alle Elemente des visuellen Dekors zum Beispiel machen einen großen Teil des Camp aus. Denn CampKunst ist häufig dekorative Kunst, die die Struktur, die von den Sinnen wahrgenommene Oberfläche, den Stil auf Kosten des In26 halts betont.

Natürlich spielt die Figur des Dandys in ihrem Camp-Katalog eine zentrale Rolle. Sontag bezeichnet Camp als Form des „moderne[n] Dandyismus“ bzw. als „Antwort auf das Problem: Wie kann man im Zeitalter der

24 Früchtl/Zimmermann 2001 (wie Anm. 22), S. 11. 25 Sontag, Susan: „Anmerkungen zu Camp“ (1961), in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt a.M. 51999, S. 322-341; Zitat S. 322. 26 Ebd., S. 325.

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Massenkultur Dandy sein?“27 Auf diese Weise führt Sontag ebenfalls eine Unterscheidung zwischen dem „Dandy alten Stils“ und dem „Dandy neuen Stils“28 ein. Der Medienumbruch des beginnenden 20. Jahrhunderts und die damit einhergehende Geburt der Massenkultur stellen auch für Sontag das hauptsächliche Unterscheidungsmerkmal dar. Was bedeutet das jedoch konkret für den „Dandy neuen Stils“, d.h. den Dandy des 20. Jahrhunderts? Während der ursprüngliche Typus des Dandys vor allem Elemente wie Kleidung, Möbel, Sprachkunst und Affektkontrolle zur Manifestation seiner eigenen Medialität einsetzte, d.h. streng genommen Anleihen beim ‚alten‘ Medium des Theaters machte, benutzte der Dandy der Belle Epoque darüber hinaus vor allem die ‚neuen‘ Medien Photographie, Tagespresse und später – besonders im Falle D’Annunzios – sogar Film für seine publikumswirksame Selbstvermarktung. Somit löst der stärker mediatisierte Dandy des frühen 20. Jahrhunderts keineswegs das Dandykonzept des 19. Jahrhunderts ab, sondern fügt ihm lediglich eine entscheidende Erweiterung hinzu, ist es doch so, dass das Medium des Theaters bzw. die Theatralität als Selbstinszenierungsmodus auch im Zeitalter der Photographie weiterhin maßgebend für den Dandy bleibt. Dies gilt dementsprechend auch für die Rolle des Camp im Leben des Dandys. So noch einmal Sontag: Camp in Personen oder Sachen wahrnehmen heißt die Existenz als das Spielen einer Rolle begreifen. Damit hat die Metapher des Lebens als Theater in der Erlebnisweise ihre größte Erweiterung er29 fahren.

Demzufolge kennzeichnet den Dandy bereits die Doppelung des eigenen Körpers, die später beispielsweise für den Hollywoodstar von hoher Bedeutung sein wird: Realkörper einerseits und öffentlich zur Schau gestellter Charakter andererseits. Indem jedoch stets der Kult der Oberfläche im Vordergrund steht, stilisiert sich der Dandy zum „reinen Zeichen.“30 Sein Körper, verstanden als Medium, wird dergestalt zum Träger einer Botschaft, die darauf abzielt, daß auf die Nivellierung sozialer Hierarchien sowie auf die freie Wahl des Lifestyle nur mit der ausgewählten Künstlichkeit theatra-

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Ebd., S. 337. Ebd., S. 338. Ebd., S. 327. Straumann 2002, S. 81.

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GREGOR SCHUHEN lischer Selbstinszenierungen, mit attitude und posing geantwortet 31 werden kann.

Wichtig für den zunehmenden Einfluss der Photographie ist die Pose als Kunstform. Photographien von Dandys zeigen häufig stark stilisierte Posen vor künstlichen Hintergründen oder im eigenen Interieur, die an die Optik und Ästhetik romantisch codierter tableaux vivants erinnern. Derartig stark theatralisierte Posen sind den Motiven einer immer rastloser werdenden Moderne diametral entgegengesetzt und wirken vor dem Hintergrund eines beschleunigten Lebens in der Großstadt nahezu als photographisch eingefrorene Anachronismen. Hier spielt freilich der bereits evozierte Zeitfaktor wieder eine entscheidende Rolle: Der Dandy verfügt trotz der hektischen Metropolenatmosphäre über ausreichend Zeit, um sein Leben im antimodernen sowie elitären Slow-MotionTempo zu verbringen. Die photographierten Posen des Dandys entsprechen durch ihr anachronistisches Wesen in gewisser Weise der Theorie aus Roland Barthes’ La chambre claire. Barthes sieht nämlich durch die Photographie nicht nur die Wiederkehr der Toten beschwört, sondern versteht sie darüber hinaus als Emanation des wirklich Vergangenen, des ça-a-été.32 Genau diese melancholische Apotheose des Vergangenen zelebrieren die posenhaften photographischen Darstellungen der Belle Epoque-Dandys, wie Wilde, Montesquiou oder auch D’Annunzio. Zudem bescheren die künstlichen Posen den Dandy-Photos genau das, was im eigentlichen Sinne dem Wesen der Photographie entgegentritt: einen Verlust von Authentizität. Sowohl Barthes als auch sein Vorgänger Walter Benjamin schreiben der Photographie als Verdienst gegenüber der Porträtmalerei aller künstlerischen Skepsis zum Trotz ein hohes Potential an Authentizität zu. So Barthes: „Le pouvoir d’authentification prime le pouvoir de représentation.“33 Dessen ungeachtet fungieren die erstarrten Posen des Dandys in all ihrer Stilisierung als Versuch, ihre Photographien genau jenem Prozess zu unterziehen, den ausgerechnet Benjamin im Bereich der Kunst durch die Photographie gefährdet sah, namentlich dem der Auratisierung. Die Photographien der Dandys müssen also letzten Endes als Versuch verstanden werden, die neue Technik der Reproduzierbarkeit ihrer eigenen Abbilder zum Zwecke einer Auratisierung ihrer bildgewordenen Erscheinung zu nutzen. Somit dienen die Photographien zum ei31 Ebd. (kursiv im Original). 32 Vgl. Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980. 33 Ebd., S. 139.

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nen als zusätzliche Dokumentation eines elitären sowie gefallsüchtigen Lifestyle, d.h. zur medialen Inszenierung von auratischer Berühmtheit, und fungieren hinzukommend als „Schnittstellen des Öffentlichen und Privaten“,34 der Gegenwart und des Vergangenen. Auf diese Weise ersetzt die Photographie um 1900 in erster Linie das Medium der Portraitmalerei und verschafft dem Dandy aufgrund ihrer leichten und kostengünstigen Reproduzierbarkeit eine erhöhte Publikumswirksamkeit. Wie die Portraitmalerei benutzt der Dandy nicht nur sein Gesicht, sondern seine komplette, in einer Pose erstarrte Gestalt, um den Effekt einer auratischen Gesamtinszenierung zu erzielen. Demzufolge bleibt der Dandy der Belle Epoque nicht mehr nur Abglanz seiner öffentlichen Auftritte in Salons und Klubs, sondern verwandelt sich sukzessive in eine massenmedial generierte Celebrity avant la lettre. Hinter dieser Feststellung verbirgt sich zweifellos eine nachgerade aporetische Grundstruktur. Auf der einen Seite versucht der Dandy sich durch seine extravagante Maskerade von den Gesetzmäßigkeiten der modernen Massenkultur abzugrenzen, aber auf der anderen Seite braucht er den Beifall des breiten Publikums für die öffentliche Reputation seiner Inszenierung. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Dandy auf die gesellschaftlichen Normen und Strukturen der Massenkultur angewiesen ist, die er gleichzeitig verwirft.35 Das Ideal des Dandys ist demnach zwar ein autopoetischer Inszenierungsmodus, der sich jedoch keineswegs ex nihilo entwickelt hat. Dies wäre schlechterdings gar nicht möglich, wie Judith Butler in ihren Adorno-Vorlesungen hervorhebt: Und dennoch gibt es kein ‚Ich‘, das sich ganz und gar von seinen gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen lösen lässt, kein ‚Ich‘, dem nicht schon formende moralische Normen vorhergehen, die als solche einen gesellschaftlichen Charakter haben, der über die 36 rein persönliche oder idiosynkratische Bedeutung hinausgeht.

Somit wird deutlich, inwieweit die autopoetische Konstruktion trotz aller vermeintlichen Originalität des Dandys immer schon kulturell eingerahmt ist. Was den Einsatz diverser Medien angeht, so hat D’Annunzio auch in diesem speziellen Punkt eine Sonderrolle inne, da er als letzter Vertreter des Dandytums bereits den Einsatz des bewegten Bildes, des Films für seine öffentliche Inszenierung beanspruchte.

34 Straumann 2002, S. 71. 35 Vgl. ebd., S. 80. 36 Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt a.M. 2003, S. 19.

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Im Hinblick auf die Rolle der Medien im Leben des Dandys muss abschließend noch auf das wohl älteste Medium überhaupt näher eingegangen werden, d.h. auf die Sprache und die damit eng in Verbindung stehende Medialität der Stimme. Neben der zentralen Rolle der schönen und eleganten Oberfläche wurde schon mehrfach auf die besondere Kunstfertigkeit im Konversationsstil des Dandys hingewiesen. Ähnlich den antiquierten Posen auf den Photographien, bedient sich der Dandy während der Konversation oftmals einer Sprache, die in ihrer Bildhaftigkeit und Preziosität eher an vergangene Zeiten gemahnt. Die Redekunst des Dandys lässt sich durchaus mit dem höfischen Ideal des honnête homme vergleichen. Wichtig hierbei ist abermals die schöne Form, der vollendete Stil in der Unterhaltung, während die Inhalte von eher sekundärer Bedeutung sind. Der Formalkult der oberflächenzentrierten CampÄsthetik findet sich also obendrein im Gesprächston einer conversation d’autrefois,37 den der Dandy in den Salons der mondänen Welt kultiviert. Im Hinblick auf Prousts Darstellung der Pariser Salonkultur und deren blasierte Redeetikette stellt Gilles Deleuze fest, dass das gesellschaftliche Zeichen, das zuvörderst die mondäne Gesprächskultur umfasst, die Proust vor allem in Le Côté de Guermantes, dem dritten Teil der Recherche, in extenso exegiert und buchstäblich vorführt, leer sei. Er führt diese Leere näher aus, indem er schreibt: „Sie [die Zeichen; G.Sch.] sind leer, aber diese Leere bringt eine rituelle Vollkommenheit mit sich, als reinen Formalismus, der sich anderswo nicht finden läßt.“38 In diesem scharfsinnigen Befund steckt streng genommen all das, was man über die elitäre Hohlheit der Pariser Salonkultur und deren Rhetorik wissen muss, die wiederum Walter Benjamin bekanntlich als „Physiologie des Geschwätz“39 aburteilte. Deleuze attribuiert der mondänen Gesprächskultur gleichermaßen semantische Leere wie „rituelle Vollkommenheit“ sowie einen „reinen Formalismus“, der seinesgleichen sucht. Zugleich konstatiert er, dass das „gesellschaftliche Zeichen erscheint, als habe es einen Gedanken oder eine Handlung ersetzt.“40 Das würde bedeuten, dass die flottierenden Zeichen innerhalb der mondänen Welt letztlich von stark autoreferentieller Prägung sind, ein ‚Sagen-um-des-Sagens-willen‘ sozusagen. Hieran anknüpfen ließe sich die von Austin inaugurierte Theorie 37 Vgl. hierzu Rossbach, Susanne: Des Dandys Wort als Waffe. Dandyismus, narrative Vertextungsstrategien und Geschlechterdifferenz im Werk Jules Barbey d’Aurevillys, Tübingen 2002, S. 78f. 38 Deleuze, Gilles: Proust und die Zeichen, Berlin 1993, S. 10. 39 Benjamin, Walter: „Zum Bilde Prousts“ (1929), in: ders.: Medienästhetische Schriften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9-21; Zitat S. 13. 40 Deleuze 1993, S. 9.

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der performativen Sprechakte, die das Verhältnis von Sprechen und Handeln auf einer Ebene untersucht.41 Wenn aber das gesellschaftliche Zeichen, wie es Deleuze beschreibt, nichts als ein „Statthalter von Handlung und Gedanke“ ist, das in Bezug auf die Handlung als „trügerisch und grausam“ und im Hinblick auf den Gedanken als „dumm“ erscheint,42 dann muss notwendigerweise gefragt werden, welche Handlungen und Gedanken durch jene ritualisierten performativen Sprechakte substituiert werden. Auf den streng formalen Charakter der mondänen Rede wurde bereits näher eingegangen. Die Apotheose des schönen Stils würde den Dandy als manieristischen Performer einer preziös anmutenden Rhetorik erscheinen lassen. Mit dieser Befähigung agiert der Dandy als Meister der Verführung, der sein Umfeld durch seine Wortwahl zu beeindrucken versteht. Anders ausgedrückt: Die erfolgreichen Dandys „verführen mit Wörtern und ersetzen den sexuellen durch den narrativen Akt.“43 Darüber hinaus jedoch spielen Elemente wie Impertinenz, Ironie und Schlagfertigkeit eine wichtige Rolle in der Rhetorik des Dandys. Hierin entbirgt sich die von Deleuze beschriebene ‚Grausamkeit‘ des gesellschaftlichen Zeichens, die der Dandy vor allem in seiner Funktion als arbiter elegantiarum, als „Despot des Geschmacks“44 ausübt. Indem der gesellschaftlich etablierte Dandy über die Macht verfügt zu entscheiden, wer oder was als fashionable gilt und was nicht, besitzt seine Rede eine diskursive Urteilskraft, die mithin über ‚Leben‘ und ‚Tod‘ von gesellschaftlichen Repräsentanten befindet. Somit trägt er „[d]urch sein [oftmals] impertinentes Verhalten zur Auflösung der aristokratischen Etikette und zur Entwertung ihrer überlieferten ethischen Prinzipien bei.“45 Sein gleichwohl gesellschaftlich legitimiertes Urteilsvermögen lässt die Worte des Dandys gelegentlich als veritable „Waffe“ erscheinen, wie es Susanne Rossbach in Bezug auf Barbey d’Aurevilly formuliert. Wichtig hierbei ist – bleiben wir bei der kriegerischen Metaphorik – die hohe Kunst des Überraschungsangriffs, die den Erfolg der Dandy-Rhetorik im Wesentlichen ausmacht. So schreibt Barbey d’Aurevilly über den Ur-Dandy George Brummel:

41 Vgl. dazu auch die Beiträge von Walburga Hülk und Dorothea von Hantelmann in diesem Band. 42 Deleuze 1993, S. 9. 43 Rossbach 2002, S. 86. 44 Erbe 2002, S. 12. 45 Ebd., S. 17.

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GREGOR SCHUHEN [Brummel; G.Sch.] était avant tout un Dandy, et il ne s’agit que de sa puissance. Singulière tyrannie qui ne révoltait pas! – Comme tous les Dandys, il aimait encore mieux étonner que plaire: préférence très humaine, mais qui mène loin les hommes; car le plus beau des étonnements, c’est l’épouvante. Sur cette pente, où s’arrêter? Brummel le savait seul. Il versait à doses parfaitement égales la terreur et la sympathie, et il en composait le philtre 46 magique de son influence.

Die untrügliche Ausgewogenheit von „tyrannie“ bzw. „terreur“ und „sympathie“ beschreibt Barbey als den geheimen Zaubertrank in der Rede Brummels. Er rückt durch dieses Bild das rätselhafte Erfolgsrezept des Dandys in die Nähe eines rhetorischen je-ne-sais-quoi. Die Ingredienzen dieses Trunks stehen jedoch fest: „puissance“, „mieux étonner que plaire“, „terreur“. Ähnlich dem Principe Machiavellis untersteht auch die Redekunst des Dandys einer machtvollen ars oratoria, die sich martialisch geprägter Techniken bedient. Die solcherart beschriebene Grausamkeit in der Rhetorik des Dandys ließe sich mit der hate speechTheorie Judith Butlers näher beleuchten. In ihrer Studie zur Politik des Performativen untersucht Butler die Tatsache, wie Sprache, verstanden als performative Handlungsmacht, dazu imstande ist, anderen Verletzungen zuzufügen. Sie beruft sich dabei auf die Sprechakttheorie von J.L. Austin, der zunächst bei seiner Analyse von Sprechakten zwischen illokutionären und perlokutionären Sprechakten unterscheidet. Die ersteren tun das, was sie sagen, indem sie es sagen, und zwar im gleichen Augenblick. Die zweite Kategorie umfasst Sprechakte, die bestimmte Effekte bzw. Wirkungen hervorrufen: [...] ohne daß das Sagen und die hervorgerufenen Wirkungen zeitlich zusammen47 fallen.

Prominente Beispiele für illokutionäre Sprechakte sind staatlich oder religiöse Ritualakte, wie z.B. der Richterspruch, der über Schuld und Unschuld befindet, der Trauspruch „Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau“ oder gar das göttliche „Es werde Licht!“ Derartige Äußerungen sind im engsten Sinne performative Sprechakte, da sie in ihrem Äußern die Handlung zeitgleich manifestieren. Performative Anrufungen tragen laut Butler zur Subjektkonstitution bei – was im Fall der gerade beschriebenen Beispiele besonders augenfällig erscheint – und gelingen nur aufgrund ihres konventionellen Zitatcharakters, der innerhalb des diskur46 Barbey d’Aurevilly, Jules: Œuvres romanesques complètes, Paris 1966, Bd. II, S. 694. 47 Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 11 u. 31.

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siven Rahmens der Gesellschaft als gegeben erscheint. Mit anderen Worten: „Während illokutionäre Akte sich mittels Konventionen vollziehen, vollziehen sich perlokutionäre Akte mittels Konsequenzen.“48 Des Weiteren ist für den geglückten Vollzug eines performativen Sprechakts die Position des Sprechers entscheidend. Der Richter oder der Pfarrer sind dazu autorisiert, jene Akte zu vollziehen, d.h. sie sind mit einem institutionalisierten Machtpotential ausgestattet, das sie zu ihren Handlungen ermächtigt. Es wäre demnach höchstens von symbolischem Wert, wenn der Taxifahrer seine beiden Kunden zu Mann und Frau erklärte. Im konkreten Fall der verletzenden Rede (hate speech) müssen ebenfalls die beiden austinschen Kategorien unterschieden werden. Die illokutionäre hate speech fügt dem Adressaten im Moment ihrer Äußerung eine Verletzung zumeist psychischer Art zu. Als Beispiele führt Butler rassistische Reden und Darstellungsweisen der Pornographie an. Durch diese verletzende Anrufung konstituiert sich die Subjektwerdung sowohl des Subjekts als auch des Objekts der Äußerung. In diesem Modell „spiegelt das Sprechen nicht nur ein soziales Herrschaftsmodell wider, sondern inszeniert diese Herrschaft und wird damit zum Vehikel der Wiederherstellung der gesellschaftlichen Struktur.“49 Beziehen wir dieses Sprachmodell nun auf den Fall des Dandys, so offenbart sich sogleich die Eigenart seiner oftmals kriegerischen Rhetorik. Indem der Dandy, dessen Geschmack und Erscheinung in mondänen Kreisen außer Frage steht, als Vorbild dient, das zur Nachahmung verführt, wird seine Position als arbiter elegantiarum innerhalb der Gesellschaft sowohl mit Macht als auch mit einer gewissen Freiheit im Benehmen ausgestattet, die sein impertinentes, ja verletzendes Verhalten nachgerade legitimiert. Er besitzt somit eine Art von Autorität, die ihn dazu ermächtigt, öffentliche Urteile über den Geschmack anderer Personen zu fällen, deren Reichweite zum Ausschluss oder zumindest zur verletzenden Unterwerfung derjenigen führen kann. In diesem Sinne entscheiden die performativen ‚Richtsprüche‘ des Dandys darüber, wer ‚dazugehört‘ und wer nicht. Die Frage der Zugehörigkeit fungiert innerhalb des Systems der mondänen Gesellschaft als entscheidendes strukturierendes Apriori, ja als „Umwandlung der Frage Hamlets in die Frage d’en être ou de ne pas en être“,50 wie es Ursula Link-Heer formuliert. Insofern 48 Ebd., S. 31. 49 Ebd. 50 Link-Heer, Ursula: „Le prince de Guermantes a donc ces goûts? Über Geschlecht und Geschmack bei Proust“, in: Volker Kapp (Hrsg.): Marcel Proust: Geschmack und Neigung, Tübingen 1989, S. 61-72; Zitat S: 68 (kursiv im Original).

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verkörpern die Urteile des Dandys, die „terreur“ seiner Äußerungen genau das, was Butler als hate speech illokutionärer Prägung beschreibt. Um deren gesamte Tragweite noch einmal zu erfassen, schließt Butler ihre Überlegungen mit folgender Bemerkung: „Die performative Äußerung ist nicht nur eine rituelle Praxis; sie ist eines der einflussreichsten Rituale, mit denen Subjekte gebildet und reformuliert werden.“51 Demzufolge besitzt die Urteilskraft des Dandys innerhalb des Mikrokosmos der „feinen Gesellschaft“ eine nahezu „göttliche Macht der Benennung.“52 Die Macht der dandystischen Rede gilt jedoch nicht in uneingeschränkter Weise. Mag sein Stellenwert auch noch so groß sein, so muss er sich doch stets im Klaren darüber sein, dass er sich in einer gesellschaftlichen Hierarchie bewegt, an deren Spitze eben nicht er selbst thront, sondern staatliche Diskursträger, deren Autorität die seinige noch um einiges überschreitet. Die schier unausweichliche Hybris des Dandys ist demzufolge allzu oft die Ursache seines Scheiterns. Erinnern wir uns an die Worte George Brummels, die er indirekt an seinen ehemaligen Freund, den Prince of Wales, richtete: „Wer ist denn eigentlich Ihr fetter Freund?“ Diese Art der hate speech liest sich eher als perlokutionäre Variante eines Sprechakts. Allerdings trägt hier nicht der Adressat, d.h. der Prinz, die Konsequenzen jener Anrufung, sondern vielmehr Brummel selbst. Durch die beleidigende Impertinenz verursacht der ehemalige Primus innerhalb Englands Dandygarde den Beginn seines gesellschaftlichen Niedergangs. Die fortwährende gesellschaftliche Nichtachtung, die der Prinz dem Beau fortan entgegenbringt, besiegelt ihrerseits eine neue Variante von hate speech, die Butler als „stillschweigende Performativität der Macht“53 beschreibt: Denn man kann auch gerade durch das Schweigen, durch die Tatsache, nicht angesprochen zu werden, angerufen oder auf seinen Platz verwiesen werden bzw. einen Platz erhalten – was schmerzhaft deutlich wird, wenn wir entdecken, daß wir lieber erniedrigt, 54 als gar nicht angesprochen werden.

Es bedarf nahezu keiner weiteren Erklärung, denn es versteht sich von selbst, dass gesellschaftliche Nichtachtung dem Dandy weitaus mehr Schaden zufügt als eine negative Kritik seiner Erscheinung. Es war immerhin Oscar Wilde, der sagte: „Nur eine Sache auf der Welt ist schlim-

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Butler 1998, S. 226. Ebd., S. 53. Ebd., S. 225. Ebd., S. 45.

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mer, als Gesprächsthema zu sein, nämlich, nicht Gesprächsthema zu sein.“55 Im Folgenden nun möchte ich die bisherigen Thesen und Befunde anhand dreier konkreter Beispiele, dreier unterschiedlicher Dandytypen illustrieren. Im Vordergrund steht dabei der romanische Sprachraum, d.h. Frankreich und Italien. Hierzu gehören Balzac und Baudelaire als Autorenpaar, von denen der Erste den Dandy literarisch in Szene setzt und Letzterer gemeinhin sowohl als Theoretiker des Dandytums als auch als Analytiker der beginnenden Moderne gilt. Für den eigentlichen Zeitraum der Belle Epoque werde ich den bereits vielfach erwähnten Gabriele d’Annunzio als ‚Sonderfall‘ des Dandysmus vorstellen, der sich vor allem durch seinen politischen Aktionismus, seine künstlerische Nähe zur italienischen Avantgarde und seine Begeisterung für das ‚neue‘ Medium Film von seinen Vorgängern und Zeitgenossen unterscheidet.

Balzac und Baudelaire Aus rein biographischer Sicht unterscheiden sich die beiden Autoren Balzac und Baudelaire aufs Äußerste, was ihre persönliche Verkörperung des Dandytums betrifft. Baudelaire gilt in gewisser Weise als der ‚Asket‘ unter den Dandys, der zeitlebens unter der Diskrepanz zwischen angestrebter Dandy-Lebensweise und realer Misere litt. Seine tiefe Abneigung gegen alles Bürgerliche, Triviale, Natürliche sowie Arbeitsame spiegelt sich sowohl in seinen poetischen Werken als auch in seinen zahlreichen Essays über das gesellschaftliche Leben seiner Zeit wider. Auch Balzac befand sich quasi lebenslang in diesem Konflikt, Dandy sein zu wollen, ohne jemals die Voraussetzungen dafür zu erfüllen, allerdings würde man in seiner Person niemals die Figur des introvertierten Asketen sehen. In seiner Balzac-Biographie liefert uns Gaëtan Picon ein eindrucksvolles Porträt vom Autoren der Comédie Humaine: Die äußere Erscheinung von Balzac macht den Abstand zwischen Werk und Persönlichkeit noch sinnfälliger... Auf der einen Seite das so abgründige Epos, auf der anderen der am prosaischen Alltag haftende, zum Vulgären neigende, vierschrötige Mann. [...] Seine unbändige Vitalität genießt er mit offenen Sinnen; ihr Grundzug ist eine Art Lüsternheit, eine unersättliche Gefräßigkeit, ein Hunger, sich auszuleben und zu genießen, der sich in erster Linie auf Körperliches und Materielles richtet – auf Geld, auf Frauen, auf Ruhm und Ansehen, auf Besitz, auf Wein und Früchte [...] Er war hinrei55 Wilde, Oscar: Aphorismen. Frank Thissen (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1987, S. 81.

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GREGOR SCHUHEN ßend in seinem unbewussten Pantagruelismus, seinem Genußmenschentum, wenn er die Halsbinde abgelegt und das Hemd geöffnet hatte und zum Obstmesser griff, wenn er lachte, ein Weinglas 56 leerte, eine saftige Birne zerschnitt.

Schon anhand dieses kurzen Ausschnitts offenbart sich Balzacs biographische Entfernung zum gedanklichen Konstrukt des Dandys. Allein schon die Geste des Ablegens der Halsbinde in aller Öffentlichkeit, dieses für unsere Augen unscheinbare Detail, wäre höchstwahrscheinlich für einen George Brummel eine Todsünde gewesen. Auch Balzacs kräftige Statur, die wir beispielsweise von den berühmten Skulpturen Rodins kennen, steht der filigranen, anämischen Optik des Vorzeige-Dandys nahezu diametral entgegen. Es sind also die Elemente eines genießerischen Hedonismus und manischer Verschwendungssucht, die über weite Strecken für Balzacs Leben prägend waren. Die daraus resultierende immense Verschuldung ist sicherlich eine Ursache für den monumentalen Umfang seines Œuvres, ist es doch so, dass Balzac sich hauptsächlich durch Schreiben seinen aufwendigen Lebensunterhalt finanzierte. Hier liegt ein weiterer Unterschied zwischen Balzac und Baudelaire: Während Balzac bereits zu Lebzeiten ein anerkannter und viel gelesener Autor war, wurden Baudelaires bizarre Dichtungen von seinen Zeitgenossen zunächst aufgrund ihrer oftmals morbid-hässlichen Ästhetik missverstanden. Balzac jedoch veröffentlichte den Großteil seiner Erzählungen als Feuilleton-Romane, die sich vor allem bei den Leserinnen einer ausgesprochenen Beliebtheit erfreuten. Wenngleich Balzacs Persönlichkeit als solche in vielerlei Hinsicht dem Dandy-Konzept zuwiderläuft, so hat er gleichwohl in seinen zahlreichen Texten eine Vielzahl von Figuren geschaffen, die in nahezu vollkommener Weise die Ideale des Dandytums verkörpern. Allen voran wäre die Figur des Henri de Marsay zu nennen, der in insgesamt vier Erzählungen Balzacs auftaucht, woran man nicht nur Balzacs poetologisches Konzept der wiederkehrenden Personen festmachen kann, sondern zugleich die offenkundige Sympathie des Dichters für seine Figur. De Marsays prominentester Auftritt findet zweifellos in der Erzählung „La Fille aux yeux d’or“ (1834/35) statt, jener facettenreichen Novelle, die damit beginnt, die „Pariser Physiognomien“ mit den Bildern eines danteschen Molochs zu beschreiben und schließlich eine bizarre Liebesgeschichte schildert, die, obschon im Herzen von Paris spielend, an die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht gemahnt. Männlicher Protagonist 56 Picon, Gaëtan: Honoré de Balzac mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1959, S. 8ff.

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dieser schicksalhaften Leidenschaft ist der allerorts umschwärmte und aufgrund seiner außerordentlichen Schönheit bewunderte Henri de Marsay, „le plus joli garçon de Paris.“57 Bevor die eigentliche Geschichte zwischen De Marsay und Paquita, dem ‚Mädchen mit den Goldaugen‘, beginnt, versäumt es Balzac nicht, seine Leser über die Herkunft seines Helden zu informieren. Er beschreibt ihn als „enfant de l’amour“,58 das aus der Verbindung eines englischen Lord und einer französischen Marquise hervorgegangen ist. Lord Dudley, Henris Vater, scheint nicht nur ein großer Frauenliebhaber zu sein, dessen Kinder – ohne voneinander zu wissen – auf dem gesamten Kontinent verstreut sind, sondern in gleichem Maße dem männlichen Geschlecht zugetan, wie folgende Anekdote belegt: Le lord voyageur demanda quel était ce beau jeune homme en voyant Henri. Puis, en l’entendant nommer: – Ah! C’est mon fils. Quel 59 malheur! dit-il.

Demnach spielen Homoerotik und inzestuöses Begehren von Anfang an eine Rolle in der Geschichte des Dandys Henri de Marsay. Im spektakulären Finale der Erzählung, das durch den Mord an Paquita markiert wird, blickt Henri einem weiteren Spross seines Vaters ins Angesicht: seiner homosexuellen Zwillingsschwester Marguerita. All jene amourösen Verstrickungen, Verirrungen und Verwirrungen hat Shoshana Felman in ihrer Studie „Weiblichkeit wiederlesen“ meisterhaft entschlüsselt und nachgezeichnet.60 Mir geht es jedoch weniger um die Eigenheiten von Balzacs „provozierende[m] erotische[m] Rätsel“,61 sondern ausschließlich um die Figur des Dandys, verkörpert durch Henri de Marsay. Seine Erziehung erfolgt durch einen zwielichtigen geistlichen Würdenträger („vicieux mais politique, incrédule mais savant, perfide mais aimable“62), der ihn auf nahezu moralistische Weise auf das Leben in der Gesellschaft vorbereitet. Das Produkt dieser unkonventionellen Erziehung ist ein junger Mann ohne jegliches „sentiment obligatoire“, „libre 57 Balzac, Honoré de: „La Fille aux yeux d’or“, in: ders. : La Duchesse de Langeais. La Fille aux yeux d’or. Rose Fortassier (Hrsg.), Paris 1976, S. 243-349; Zitat S. 271. 58 Ebd., S. 267. 59 Ebd., S. 273. 60 Vgl. Felman, Shoshana: „Weiblichkeit wiederlesen“ (1981), in: Barbara Vinken (Hrsg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt a.M. 1992, S. 33-61. 61 Ebd., S. 36. 62 Balzac 1976, S. 269.

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come un oiseau sans compagne.“63 Henri wird im weiteren Verlauf als Müßiggänger beschrieben, der über ausreichend Geld verfügt, über Schönheit und Sinn für Geschmack, und der gleichzeitig stets Herr seiner Gefühle bleibt. Affektkontrolle wird als oberstes Gebot im Leben des Dandys beschrieben; dies rückt ihn in die Nähe der libertinen Protagonisten des 18. Jahrhunderts. Die Leidenschaft für Paquita erweist sich als Prüfstein für seine kontrollierten Gefühle, was aus dem Konflikt zwischen erotischem Begehren, Stolz und Eigenliebe auf der einen sowie Affektkontrolle auf der anderen Seite resultiert. Hiltrud Gnüg bewertet diesen inneren Konflikt als zentral für den Verlauf der Erzählung und sieht gar im leidenschaftlichen Stolz des Dandys die „stärkste Triebfeder seines Handelns.“64 Sie führt die durch De Marsay inkorporierte Konzeption des Dandys folgendermaßen aus: Balzac entlarvt in der Figur des Henri de Marsay keineswegs die Leere dandystischer Existenz, die fatuité und Impertinenz dandystischen Verhaltens als unmoralisch, er demonstriert in der Stilisierung de Marsays zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, die die Gesellschaft durch kühlen Charme beherrscht, seine eigene Affinität zu diesem Typus; gleichzeitig führt er durch den Handlungsverlauf der Erzählung, die die Kollision von Dandysmus und erotischer Leidenschaft thematisiert, den Preis vor, den das dandystische Lebenskonzept dem Ich abverlangt: permanente Affekt65 kontrolle.

Dennoch spielt auch der Kult der Oberfläche, den der klassische Dandy gemeinhin betreibt, im Leben des Henri de Marsay eine Rolle. Er verbringt immerhin täglich zweieinhalb Stunden mit seiner Toilette. Er kategorisiert sich selbst als „fat“, was soviel bedeutet wie ‚Stutzer‘ oder ‚Geck‘ und dem Begriff des Dandys in Frankreich vorausging. In einem Monolog, den er vor seinem Freund Paul de Manerville hält, erklärt er das Geheimnis des Stutzers: Mon ami, les fats sont les seuls hommes qui aient soin d’euxmêmes. [...] Un fat qui s’occupe de sa personne s’occupe d’une niaiserie, de petites choses. Et qu’est-ce que la femme? Une petite chose, un ensemble de niaiseries. [...] Enfin, un fat ne peut être fat que s’il a quelque raison d’être. C’est les femmes qui nous donnent ce grade-là. Le fat est le colonel de l’amour, il a des bonnes fortunes, il a son régiment de femmes à commander! [...] Ainsi donc la fatuité, mon ami Paul, est le signe d’un incontestable pouvoir con63 Ebd., S. 271. 64 Gnüg, Hiltrud: Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart 1988, S. 125. 65 Ebd., S. 124.

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quis sur le peuple femelle. [...] Mais crois-tu que ce ne soit rien aussi que d’avoir le droit d’arriver dans un salon, d’y regarder tout le monde du haut de sa cravate, ou à travers un lorgnon, et de pouvoir mépriser l’homme le plus supérieur s’il porte un gilet ar66 rière?

De Marsays Dandysmus verkörpert demnach vor allem einen Willen zur Macht – zum einen über die Frauen, was die oftmalig erscheinende Misogynie des Dandys kennzeichnet, und zum anderen innerhalb der etablierten Salons. „[M]épriser l’homme le plus supérieur“ lautet die Devise, die sich der Dandy nicht zuletzt durch seinen untrüglichen Sinn für Eleganz und guten Geschmack erarbeitet. Im Fall von De Marsay erfährt zumindest sein Wille zur politischen Macht seine Erfüllung, da er es im weiteren Verlauf der Comédie Humaine immerhin zum Premierminister der Juli-Monarchie bringen wird. Diese Karriere macht ihn im Kreise der literarischen Dandys zu einer einzigartigen Erscheinung. Seine Macht über die Frauen wird allerdings in „La Fille aux yeux d’or“ zunächst eine empfindliche Niederlage erdulden müssen. In den Illusions perdues (1835-43) scheint von einer Niederlage nichts mehr zu spüren zu sein. De Marsay ist mittlerweile zum „roi de nos dandies“67 avanciert und hat seine gesellschaftliche Position durch die Anhäufung von Macht einmal mehr gesteigert. Seine Darstellung liest sich beinahe wie ein Zitat des Brummel-Porträts durch Barbey d’Aurevilly: Le premier était monsieur de Marsay, homme fameux par les passions qu’il inspirait, remarquable surtout par une beauté de jeune fille, beauté molle, efféminé, mais corrigée par un regard fixe, calme, fauve et rigide comme celui d’un tigre: on l’aimait, et il effrayait. [...] De Marsay avait conquis le droit de dire des impertinences par l’esprit qu’il leur donnait et par la grâce des manières 68 dont il accompagnait.

In diesem kurzen Abschnitt resümiert Balzac noch einmal nahezu alle Grundeigenschaften des Dandys, die wir bereits kennen: Schönheit, Androgynie, scharfer Blick, Macht, Impertinenz und Anmut. All jene Eigenschaften, die De Marsay in sich zu vereinigen weiß, machen ihn zu einer der vollkommensten literarischen Darstellungen des Dandys überhaupt, zu einem literarischen Star sozusagen.

66 Balzac 1976, S. 293f. 67 Ders.: Illusions perdues, Paris 1983, S. 240. 68 Ebd., S. 140.

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Aus zahlreichen Briefen wissen wir heute, dass Baudelaire ein größeres Projekt im Auge hatte, welches eine ausführliche Studie zum Dandy unter dem Titel Le Dandysme littéraire ou la grandeur sans convictions beinhalten sollte.69 Dieses Werk kam jedoch niemals zustande. Stattdessen hat uns Baudelaire eine Reihe von kurzen Texten hinterlassen, die das Phänomen des Dandysmus‘ thematisieren. In einem seiner berühmtesten Essays „Le peintre de la vie moderne“ widmet er dem Dandy ein knapp vierseitiges Kapitel, das in nuce die Ästhetik des Dandys innerhalb einer beginnenden modernen Massenkultur theoretisiert. Als besonders symptomatisch erscheint mir Baudelaires sozialgeschichtliche Einordnung des Dandytums. Er sieht im aufkommenden Dandysmus einen kulturhistorischen Indikator für sozialgeschichtliche Schwellensituationen. Er schreibt: Le dandysme apparaît surtout aux époques transitoires où la démocratie n’est pas encore toute-puissante, où l’aristocratie n’est que partiellement chancelante et avilie. Dans le trouble de ces époques quelques hommes déclassés, dégoûtés, désœuvrés, mais tout riches de force native, peuvent concevoir le projet de fonder une espèce nouvelle d’aristocratie, d’autant plus difficile à rompre qu’elle sera basée sur les facultés les plus précieuses, les plus instructibles, et 70 sur les dons célestes que le travail et l’argent ne peuvent conférer.

Diese historisierende Einschätzung Baudelaires würde durch das Aufkeimen des Dandytums zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie während der Belle Epoque durchaus unterstützt. Insbesondere bei Proust finden wir die gesellschaftlichen Umwälzungen, die Baudelaire in seinem Essay gewissermaßen antizipiert, auf subtile Weise nachgezeichnet. Der Machtverlust des Adels zugunsten eines immer stärker werdenden Bürgertums wird vor allem anhand der tragischen Figur des Baron de Charlus exemplifiziert, der innerhalb der Recherche zunächst als dandystischer Star agiert, der jedoch am Ende dem Siegeszug des Bürgertums als nachgerade messianisches Opfer gereicht wird. Dem würde auch Baudelaires Zusatz entsprechen: „Le dandysme est le dernier éclat d’héroïsme dans les décadences...“71 Dieser Aphorismus könnte Prousts Recherche im Grunde genommen als Motto vorangestellt werden, da sich die Mo-

69 Vgl. den Hinweis bei Erbe 2002, S. 187 sowie die Anmerkungen der Pléiade-Ausgabe von Baudelaires Werken: Œuvres complètes (2 Bd.e). Claude Pichois (Hrsg.), Paris 1976; siehe Bd. II, S. 1425. 70 Baudelaire, Charles: „Le Peintre de la vie moderne“ (1863), in: ebd., S. 683-724; Zitat S. 711 (Kursivierung des Vf.s). 71 Ebd.

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tive von héroïsme und décadence im speziellen Fall des Baron de Charlus sowohl inhaltlich als auch poetologisch gegenseitig durchdringen. Für Baudelaire bildet die Figur le transitoire neben den beiden Elementen fugitif und contingent ohnehin ein zentrales Merkmal seiner modernen Ästhetik, wie er folgendermaßen ausführt: La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable. [..] Cet élément transitoire et fugitif, dont les métamorphoses sont si fréquen72 tes, vous n’avez pas le droit de le mépriser ou de vous en passer.

Folglich stellt die Figur des Dandys für Baudelaire eine moderne Form des Heldentums dar, deren Schönheit sich gemäß ihres l’art pour l’artCharakters selbst trägt. Jenes Männlichkeitsideal stellt für Baudelaire ein „ethisches Regulativ“73 dar, dem er sich selbst zu unterwerfen suchte. Die zahlreichen Anekdoten aus seinem Leben, wie die eingangs geschilderten Promenaden mit der Schildkröte, lassen seine Inszenierungen als Maskeraden erscheinen, die vor allem seinen Ehrgeiz dokumentieren, sich von der uniformen Massenkultur abzugrenzen und ihr gleichzeitig seine eigenen Ideale des Sublimen und Heroischen würdevoll entgegenzuhalten. Baudelaire war sich darüber im Klaren, dass er selbst in einer Epoche lebte, die sehr stark vom Wandel, vom transitoire geprägt war. Nicht zuletzt nahm er voller Skepsis den medialen Umbruch wahr, der sich durch die Erfindung der Photographie ankündigte. Bereits in seinem „Salon de 1859“ äußert er sich ausführlich über die Rolle der Photographie im Umkreis der etablierten Künste. Er sieht in der technischen Neuerrungenschaft vor allem den Inbegriff einer gesellschaftlichen „sottise“,74 die sich darum bemüht, den bildenden Künsten ihren Rang streitig zu machen. Für Baudelaire jedoch stellt die Photographie lediglich „une industrie nouvelle“ dar, „qui ne contribua pas peu à confirmer la sottise dans sa foi et à ruiner ce qui pouvait rester de divin dans l’esprit français.“75 Wieder finden wir den Rekurs auf die Dekadenz, den Verfall „dans ces jours déplorables“,76 der Baudelaire schließlich dazu veranlasst, der Photographie einen Siegeszug zu prophezeien. Wie sein späterer Leser Benjamin sieht Baudelaire vor allem die einzigartige Aura der Kunst72 Ebd., S. 695. 73 Erbe 2002, S. 189. 74 Baudelaire, Charles: „Salon de 1859“, in: ders. 1976 (wie Anm. 69), S. 608682; Zitat S. 616. 75 Ebd. 76 Ebd.

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werke durch die industrielle Reproduzierbarkeit der Photographien gefährdet sowie die Fähigkeit der Imagination, die für ihn bekanntlich die „reine des facultés“77 symbolisiert. Dessen ungeachtet spricht Baudelaire der Photographie keineswegs jedweden Nutzen ab – allerdings liegt dieser vermeintliche Nutzen niemals im Reich der Künste. Vielmehr sollte die Photographie laut Baudelaire einzig zu historischen Dokumentationszwecken genutzt werden: Qu’elle sauve de l’oubli les ruines pendantes, les livres, les estampes et les manuscrits que le temps dévore, les choses précieuses, dont la forme va disparaître et qui demandent une place dans les 78 archives de notre mémoire, elle sera remerciée et applaudie.

So verwundert es kaum, dass Baudelaire dem neuen Medium Photographie keine allzu große künstlerische Wertschätzung entgegenbrachte und sie aufgrund dessen nicht zum medialen Nährboden seiner Selbstinszenierungen erhob wie seine dandystischen Nachfolger. Technischer Fortschritt bedeutet für ihn lediglich „la domination progressive de la matière“,79 was seinen Vorstellungen von Ästhetizismus vollkommen zuwiderläuft, während beispielsweise die Schauspielkunst von ihm als „l’art sublime du comédien“80 eingeschätzt wird. Das erklärt letztlich die Tatsache, warum Baudelaire nicht nur zu den Theoretikern des Dandytums gehört, sondern darüber hinaus seine innersten Überzeugungen durch seine oftmals ins Theatralische, ja Buffoneske übersteigerten Selbstinszenierungen zum Ausdruck bringt. Besonders prägnant hat es erneut der wohl subtilste Baudelaire-Kenner Walter Benjamin auf eine Formel gebracht: Weil er keine Überzeugungen zu eigen hatte, nahm er selbst immer neue Gestalten an. Flaneur, Apache, Dandy, Lumpensammler waren für ihn ebenso viele Rollen. Denn der moderne Heros ist nicht 81 Held – er ist Heldendarsteller.

77 78 79 80 81

Ebd., S. 619. Ebd., S. 618f. Ebd., S. 616. Ebd., S. 617f. Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt a.M. 1980, S. 96.

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Zwischen Diva und Kommandant: Die Selbstinszenierungen des Gabriele d’Annunzio „Die Diva ist ein Unfall im Mythensystem der Stars.“82 Diese provokante These bildet den Ausgangspunkt im Diva-Buch von Elisabeth Bronfen und Barbara Straumann. Gabriele d’Annunzio wiederum ist ein Unfall im Mythensystem des klassischen Dandys – auf diese These wurde im vorliegenden Artikel bereits mehrfach hingewiesen. Was aber bildet nun den Konnex zwischen D’Annunzio als Dandy einerseits und der Theoretisierung der Diva auf der anderen Seite? Meiner Meinung nach verkörpert der italienische Starautor der vorletzten Jahrhundertwende in seiner komplexen Persönlichkeit sowohl die Grundeigenschaften des klassischen Dandys als auch die Insignien, die für die Divinisierung von Stars jeglicher künstlerischer Provenienz verantwortlich zu machen wären. D’Annunzio gilt aus historischer Sicht als Mittlerfigur zwischen der Ästhetik des Fin de Siècle bzw. der Décadence der Jahrhundertwende und dem italienischen Futurismus.83 Außerdem inauguriert er durch eine öffentlich vollzogene Demagogie vermittels technisch-analoger Medien erstmalig eine eklatante Hybridisierung von Kunst und Politik sowie Selbstinszenierung und Massenmanipulation. Tatsache ist, dass D’Annunzio, der sich in seinen Romanen und Theaterstücken noch nahezu in toto als Repräsentant des Fin de Siècle im Rekurs auf Antike und italianità inszenierte, sich dessen ungeachtet ad hoc der neuen Medien Photographie und später dann auch Film bediente. Man könnte sogar soweit gehen zu sagen, dass er die neuen Möglichkeiten des öffentlichen Selbstentwurfs augenblicklich für seine persönlichen Zwecke annektierte. Mein persönliches Interesse konzentriert sich nun nicht nur auf die Schriften D’Annunzios, in denen seine eigene Figur durch zahlreiche Selbstapotheosen, Heroisierungen und Stilisierungen repräsentiert ist, sondern vielmehr auf seine unterschiedlichen Selbstinszenierungen im Schnittpunkt von Körper und Macht sowie Leben und Kunst, die jedoch kaum von seinen Werken zu trennen sind. Hierbei möchte ich insbesondere die Rolle der (massen-)medialen Strategien aufzeigen, derer sich D’Annunzio innerhalb seiner persönlichen Meta-Morphosen bediente. Die beiden wesentlichen Persönlichkeitsmodelle, die bei D’Annunzios theatralischen Selbstentwürfen die größte Rolle spielen, sind neben dem 82 Bronfen, Elisabeth: „Zwischen Himmel und Hölle. Maria Callas und Marilyn Monroe“, in: dies./Straumann 2002 (wie Anm. 5), S. 43-67; Zitat S. 46. 83 Vgl. dazu ausführlich Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek 1993, S. 37-51.

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Dandy vor allem das der Diva und des commandante. Diese Modelle, die auf den ersten Blick als nahezu unvereinbar erscheinen, oszillieren bei D’Annunzio stets zwischen den beiden Polen von nationalistischem Vitalismus und dekadentistischem Todestrieb. Bereits im jugendlichen Alter von siebzehn Jahren bedient sich der italienische Dichternovize Gabriele d’Annunzio erstmalig des Massenmediums Zeitung, um sich auf äußerst bizarre, ja skandalöse Weise Gehör zu verschaffen: Er schreibt eine anonyme Postkarte an die Florentiner Zeitung Gazetta della Domenica, in der er seinen eigenen Tod bekannt gibt, der angeblich acht Tage zuvor eingetreten sein soll. Zu jener Zeit (1880) war D’Annunzio bereits in Italien mäßig bekannt als Nachwuchsdichter durch seinen ersten Gedichtband Primo Vere, der ein Jahr zuvor veröffentlicht worden war. Mit der fingierten Postkarte wollte er die Öffentlichkeit dazu ermutigen, den Nachlass eines jung verstorbenen Dichters zu kaufen. „Schon früh verstand er es, Marktstrategien für sein Werk und seinen Ruhm einzusetzen.“84 Auf die sowohl performative als auch subversive Qualität jener im Grunde gefälschten Todesanzeige, die letztlich als Zitat eines gesellschaftlich ritualisierten Redeensembles zu verstehen ist, hat Marijana Erstiü hingewiesen.85 Diese oft erzählte Anekdote gibt auf recht prägnante Art Aufschluss über eine Reihe von Schlüsselelementen aus D’Annunzios unbestritten eindrucksvoller Biographie. In ihr offenbart sich sowohl seine „übersteigerte Lust am raffinierten Selbstentwurf“86 – wenn auch auf merkwürdig makabre Weise – als auch an der Manipulation der Massen durch den geschickten Einsatz von Medien, in diesem Fall der Presse. Außerdem tritt die Figur der Todessehnsucht, die in seinem späteren Werk nahezu leitmotivisch eingesetzt wird, hier bereits in spielerischer Form auf. Man könnte sagen, dass sich damit schon in jungen Jahren die divaesken sowie dandyhaften Züge von D’Annunzios Persönlichkeit herausbilden, die im weiteren Verlauf seiner Vita immer dominanter werden. Somit vereint Gabriele d’Annunzio in sich Persönlichkeitsmodelle und -strukturen, wie sie in den künstlerischen Salons um die vorletzte Jahrhundertwende in Italien und vor allem in Frankreich absolut en vogue waren. Die Figur des Dandys bildet dabei lediglich einen Grundpfeiler von D’Annunzios ästhetizistischem Gesamtbild. Die eng mit dem 84 Gazzetti, Maria: Gabriele d’Annunzio mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 21995, S. 12. 85 Siehe ihren Beitrag in diesem Band. 86 Straumann 2002, S. 81.

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Dandy verwandte Figur der Diva als glamouröse Erscheinung zwischen „Lebensbejahung und Todestrieb“,87 die erstmalig von Elisabeth Bronfen in aller Deutlichkeit nicht mehr nur Frauen zugesprochen wird, wäre als zweiter Inszenierungsmosaikstein zu nennen. Bronfen sieht bezeichnenderweise die Geburtsstunde der Diva um die vorletzte Jahrhundertwende, eben genau zu der Zeit, da sich der erste signifikante Medienumbruch mit der Erfindung der Photographie vollzieht. Die Popularität der Diva bezieht ihren wesentlichen Anteil aus der Verbreitung ihres Images durch die neuen Medien Photographie und Film. Die frühen Diven, wie Sarah Bernhardt oder aber die Gräfin von Castiglione, setzten bereits geschickt die Photographie in Form von cartes de visite oder auch zur damaligen Zeit äußerst populären tableaux vivants ein, um ihre eigene Selbstvermarktung voranzutreiben. Dass diese Photos – ähnlich denen des Dandys – immer nur kalkulierte Posen aus dem kulturellen Bildrepertoire darstellen, die auf individuelle Weise theatralische Selbstentwürfe auf unterschiedlichen Bühnen vorführen, eröffnet das für die Diva typische Spannungsfeld von Bild und Körper. Gleichzeitig funktionieren die Photographien in ihrer Eigenschaft als Medien der Inszenierung von Berühmtheit als Schnittstellen des Öffentlichen und des Privaten. Hierbei steht nicht selten das morbide Spiel mit der Figur des Todes im Vordergrund: So lässt sich beispielsweise Sarah Bernhardt eine carte de visite anfertigen, auf der sie als aufgebahrte Leiche im Sarg zu sehen ist. Durch diesen manipulativen Kunstgriff wird das privatissime des Sterbens bzw. der Tod als letztes Tabu auf ironisch-subversive Art zum öffentlich inszenierten Happening. Die Anekdote über den jungen D’Annunzio zielt in eine ähnliche Richtung, wenn auch zunächst noch ohne Einsatz der Photographie. Elisabeth Bronfen sieht in diesen Inszenierungen ein deutliches Anzeichen „morbider Hysterie“,88 das in diesem Spiel mit der Idee des eigenen Todes zum Ausdruck gelangt. Diese bis zur regelrechten Obsession gesteigerte Faszination teilt Sarah Bernhardt mit D’Annunzio, dessen facettenreiche Persönlichkeit zweifelsohne ebenso hysterische Züge aufweist. So unterliegt, wie jede seiner Selbstinszenierungen, auch die Neigung zum Morbiden jener ironischen Geste, die für die Hysterie so kennzeichnend ist. Eine seiner mythologischen Lieblingsfiguren ist bezeichnenderweise der Heilige Sebastian, der Inbegriff des schönen Märtyrers, dessen Geschichte D’Annunzio 1911 zusammen mit Claude 87 Bronfen: „Callas und Monroe“ (wie Anm. 82), S. 63. 88 Dies.: „Sarah Bernhardt – Die Unermüdliche“, in: dies./Straumann 2002 (wie Anm. 5), S. 91-102; Zitat S. 98.

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Débussy in ein musikalisches Theaterstück verwandelt. In der Faszination für diese Figur, deren Abbilder in D’Annunzios Alterssitz „Il Vittoriale“ zahlreich zu finden sind, offenbart sich die für die Diva typische Gratwanderung zwischen Macht und Opferrolle. Die Idee des Todes bildet somit einen festen Bestandteil von D’Annunzios Selbstinszenierung, die er sowohl in seinen Werken (z.B. La città morta, 1896; Forsè que si forsè que no, 1910; L’innocente, 1892) zum Ausdruck bringt als auch in seinem monumentalen Nachlass an das italienische Volk: seiner letzten Wohnstätte Il Vittoriale in Gardone am Gardasee. Macht, Opferrolle und Heldentod bestimmen demnach große Teile von D’Annunzios selbst entworfenem Lebenstheater. Die von ihm in Auftrag gegebenen Photographien zielen vor allem, und das verbindet ihn mit sämtlichen Diven seiner Zeit, auf eine machtvolle Selbstvermarktung ab. Ob als bejubelter Orator vor den Massen seines Landes, als poeta soldato in Führerpose, als politisch aktiver comandante zwischen Nationalismus und Selbstverliebtheit oder aber als unantastbarer Dandy – stets finden wir die entsprechenden Posen in vollendeter Stilisierung photographisch festgehalten. D’Annunzio inszenierte sich demnach in der Öffentlichkeit entsprechend seinen literarischen Figuren als Held, Ästhet oder als patriotischer Verführer der Massen. Besonders sein 1900 erschienener Roman Il fuoco führt uns auf antizipatorische Weise einen als „Erwecker“89 beschriebenen Schriftsteller vor, der im morbiden Venedig vermittels einer enthusiastisch aufgenommenen Rede die Massen nachgerade choreographiert. Seine Selbstheroisierung findet in Verbindung mit nationalistischen Ideologemen und Machtbewusstsein ihren Höhepunkt in seinen Aktionen als selbst ernannter comandante beim Einmarsch in die Stadt Fiume im Jahre 1919. Es war sein Ziel, jene Stadt, die im Niemandsland zwischen Italien und Jugoslawien lag, wieder vollständig zur italienischen Nation zurückzuführen. Mit Unterstützung der Regierung marschiert er im September 1919 in Fiume ein und erreicht nahezu widerstandslos eine Besetzung der Stadt unter seiner Führung. D’Annunzio hatte bereits vor 1919 im italienisch-österreichischen Krieg an militärischen Aktionen teilgenommen und infolge einer ‚heldenhaften‘ Kriegsverletzung ein Augenlicht verloren. Spätestens durch diese Aktionen entfernt sich D’Annunzio auf eklatante Weise vom klassischen Bild des Dandys. Oder umgekehrt: Er fügt dem stilisierten Ideal eine entscheidende Erweiterung hinzu. Dennoch erscheint seine Figur stets zwischen Selbstverausgabung bzw. Opfergestus und eigenem Machttheater. Diese Hybrid-Inszenierung offenbart sich vor allem in sei89 D’Annunzio, Gabriele: Das Feuer, Berlin 1999, S. 82.

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nen kriegerischen Operationen, in denen er gleichzeitig die Versehrtheit seines leiblichen Körpers als auch die Apotheose seines öffentlichen Starkörpers zur Schau stellt. Nichts anderes unternehmen die von Bronfen und Straumann dargestellten Diven wie Maria Callas, Sarah Bernhardt oder gar Elvis Presley – wenn auch in völlig unterschiedlichen Kontexten. Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich D’Annunzio zu jener Zeit, als er sich als comandante in Fiume inszeniert, nachhaltig für das neue Medium Film zu interessieren beginnt. Es hatte bereits vor dieser Zeit eine recht lockere Verbindung zwischen dem Kino und dem italienischen Dichter gegeben, deren Resultat jedoch für die Filmgeschichte von großer Bedeutung ist: die Rede ist von dem Stummfilm CABIRIA aus den Jahren 1913/14 von Giovanni Pastrone. Aufgrund von Geldnöten hatte D’Annunzio für das Filmprojekt seinen Namen zur Verfügung gestellt und vermutlich nur die Namen von Figuren und den Titel erfunden. Hundertprozentige Sicherheit über das Ausmaß seiner Partizipation an CABIRIA herrscht jedoch nicht. Fest steht aber, dass der Name D’Annunzio seinerzeit in Italien immerhin als Erfolgsgarant galt, und aus diesem Grund machte der eigentliche Regisseur vermutlich den StarDichter zum Autor seines Films, obwohl jener damit streng genommen fast gar nichts zu tun hatte. Es ist bis heute noch nicht einmal geklärt, ob D’Annunzio diesen Film überhaupt gesehen hat. Anekdoten zufolge soll er sich im Gegenteil damit gerühmt haben, niemals CABIRIA gesehen zu haben. Für die Filmgeschichte war dieser Film vor allem bedeutsam, weil in ihm erstmalig die Verwendung einer langsamen Kamerafahrt erfolgt, die unabhängig von den Bewegungen der Schauspieler Figuren aus einem Tableau oder einer Gruppe herausgreift und darin reintegriert.90 Der Film war somit in der Lage, die statische Theaterästhetik und deren Blick ein für alle Mal hinter sich zu lassen und neue Wahrnehmungsformen zu schaffen. Von nun an ließ sich im Film die Bewegung des Fliegens simulieren, was wiederum den begeisterten Flieger D’Annunzio faszinierte. Lange Zeit also stand D’Annunzio dem Film relativ gleichgültig gegenüber. Nur wenn es darum ging, für hohe Gagen Zwischentitel zu schreiben oder aber Einblicke in neue Kameratechniken zu erlangen, richtete der Schriftsteller sein Interesse auf das neue Medium. So schrieb 90 Vgl. dazu ausführlich Gethmann, Daniel: „Daten und Fahrten. Die Geschichte der Kamerafahrt, Cabiria und Gabriele d’Annunzios Bilderstrategie“, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Friedrich Kittler/Bernhard Siegert (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996, S. 147-174.

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er für diverse Marinedokumentarfilme einige Titles, hielt sich jedoch von der Kunstform des Spielfilms fern. Das sollte sich während seiner Besetzung von Fiume ändern. In dieser Zeit erkannte er die Möglichkeit, den Film für propagandistische Zwecke zu benutzen und somit seine eigene Macht zu legitimieren und sogar zu erweitern. Er äußerte sich zusehends interessierter über den Film und ging sogar soweit zu sagen, dass möglicherweise Kinesis die zehnte Muse darstellen werde.91 Berühmt geworden ist desgleichen seine Äußerung, dass die Metamorphosen Ovids ein wahrhaft kinematographischer Stoff seien, den einzig das Kino zu transformieren in der Lage sei.92 Wenn man sich D’Annunzios Liebe zu antiker Mythologie vor Augen hält, dann wird deutlich, inwieweit er sich dem neuen Medium Film innerhalb weniger Jahre zugeneigt hat. Von baudelairescher Skepsis angesichts medialer Fortschritte ist bei D’Annunzio nichts mehr zu spüren. Als weiteres Zeugnis jener neu gewonnenen Zuneigung dient dabei ein Treatment, d.h. eine Vorstufe zu einem Filmdrehbruch, das D’Annunzio während seines Fiume-Abenteuers geschrieben hat. Der geplante Film sollte den Titel L’UOMO CHE RUBO LA GIOCONDA93 tragen. Das vordergründige Motiv dieser Geschichte geht auf den realen Diebstahl von Da Vincis Gemälde aus den Hallen des Louvre im Jahre 1911 zurück. Bei D’Annunzios Adaptation handelt es sich jedoch um eine Transformation des mythologischen Pygmalion-Stoffes, in der die Hauptfigur wiederum den Namen Gabriele d’Annunzio trägt. Ausgangspunkt ist der Wunsch nach der Belebung von Gemälden. Nach diversen gescheiterten Versuchen ist man sich einig, dass nur ein Mann in der Lage sei, dieses Experiment erfolgreich durchzuführen, namentlich Gab91 „‚Wie damals bei der Cabiria muß ich die bisher erreichte Grenze weiter hinausschieben! [...] Möge Kinesis, die zehnte Muse, mir helfen.‘“ Brief D’Annunzios an einen Filmproduzenten aus dem Jahr 1928; zitiert nach Tom Antongini: Der unbekannte D’Annunzio, Leipzig 1939, S. 157 (kursiv im Original). 92 „‚Il y a maintenant quelques années, je fus attiré par la nouvelle invention qui me parut pouvoir promouvoir une nouvelle esthétique du mouvement. Je passai plusieures heures dans une usine de films pour étudier la technique, en particulier pour me rendre compte du parti que j’aurais pu tirer de ces astuces que les gens du métier appellent les ‚truquages.‘ Je pensais que du cinématographe pouvait naître un art plaisant dont l’élément essentiel serait le ‚merveilleux.‘ Les Métamorphoses d’Ovide! Voilà un vrai sujet cinématographique. Techniquement il n’y a pas de limite à la représentation du prodige et du rêve.‘“ Zitiert nach Andreoli, Annamaria: D’Annunzio (1863-1938), Paris 2001, S. 103 (kursiv im Original). 93 Siehe in D’Annunzio, Gabriele: Tutte le opere di Gabriele d’Annunzio, Bd. 2: Tragedie, sogni e misteri, Verona 1960, S. 1171-1199.

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riele d’Annunzio. Man lässt also die Mona Lisa aus dem Louvre stehlen und opfert sogar ein Menschenleben, damit der Dichter seine Arbeit aufnehmen kann. Das Experiment glückt natürlich, und die Mona Lisa tritt aus ihrem Rahmen hervor. Sie entzieht sich jedoch dem Begehren des Erweckers und wird kurze Zeit später wieder ins Museum zurückverfrachtet. In diesem Drehbuch werden zwei Ebenen miteinander verbunden: Neben der selbstinszenatorischen Bildebene wird zudem eine medientheoretische Reflexionsebene evoziert. Vordergründig vollzieht D’Annunzio einmal mehr eine selbstüberhöhende Machtdemonstration, indem er sich nicht nur zum Autor dieses geplanten Films erhebt, sondern zugleich als Hauptdarsteller unter seinem eigenen Namen fungiert. Er inszeniert sich nicht nur wie vordem als Bildproduzent, sondern zusätzlich durch seine „animazione dell’imagine“94 als „Beleber“ der Bilder. Er geht sogar so weit, dass er sich von der erweckten Mona Lisa als Meister Leonardo anreden lässt. Auf der medientheoretischen Ebene legt er implizit ein Plädoyer ab für die zukünftige Vormachstellung des Mediums Film und seiner bewegten Bilder über das traditionelle Medium der Malerei. Damit klärt D’Annunzio mediengeschichtlich präzise die Ausgangsbasis des Kinos zu seiner Zeit: Die gemalten Bilder sind verblasst und haben ihre Wirksamkeit verloren, da zwei eng zusammenhängende Techniken aufgetreten sind, die sie zum Laufen 95 bringen: Film und Flugzeug.

Der geplante Film war vor allem darauf angelegt, D’Annunzio über die Grenzen von Fiume hinweg ins rechte Licht zu setzen, indem er den Dichter als einen Leonardo darstellen sollte, der eben nicht nur Bilder erschafft, sondern diese darüber hinaus auch noch bewegt. L’uomo che rubo la Gioconda ist demnach ein weiteres Zeugnis von D’Annunzios Selbstapotheosen, das seine nahezu göttliche Allmachtstellung diesmal in bewegten Bildern repräsentieren und erweitern sollte. Doch genauso wie das Projekt Fiume auf Druck der Alliierten zum Scheitern gezwungen wurde, so wurde auch der geplante Film nie realisiert. D’Annunzio fühlt sich von den Politikern seines Landes, insbesondere von Mussolini, verraten und zieht sich in seinen letzten Wohnsitz, in das Vittoriale in Gardone am Gardasee zurück, um dort die restlichen Jahre seines Lebens damit zu verbringen, seinem exzentrischen Leben ein monumentales Denkmal zu setzen, das er noch vor seinem Tod dem 94 Ebd., S. 1194. 95 Gethmann 1996, S. 174.

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italienischen Volk vermachte. Mit diesem vom Größenwahn durchdrungenen Landsitz verschrieb D’Annunzio bereits zu Lebzeiten seine Seele „der Inszenierung seines Nachlebens.“96 Immer mehr von der Außenwelt abgeschottet, zelebriert der alternde Dichter in einem ästhetizistischen Bilderrausch eine „[m]useale Kristallisation“ der Oberfläche. Demnach ist das letzte Medium, dessen er sich in seinem Leben bedient, das Museum. Adorno hat bereits in Bezug auf Proust und Valéry auf die sowohl phonetischen als auch konnotativen Affinitäten zwischen Museum und Mausoleum hingewiesen. Dies gilt in besonderem Maße auch für D’Annunzio: Er hat nämlich mit dem Vittoriale nicht nur ein Museum für das italienische Volk eingerichtet, sondern zusätzlich sein eigenes Grab errichtet.97 Jene monumentalen Interieurs, die so überladen mit Kunst, Nippes, Kriegssouvenirs etc. sind, stellen, ohne es zu intendieren, das bildgewordene, nachkonstruierte Interieur von Huysmans’ Des Esseintes nach. Der Leser von A rebours wird im Vittoriale die adäquaten Kulissen für seine Lektüre finden. Die Entfernung aber, die D’Annunzio im Laufe seines Lebens zu den Entwürfen dandystischer Prägung eingenommen hat, findet sich in gewisser Weise durch die völlige Überladenheit dieser Kulissen widergespiegelt. Die performative Montage des ‚Zuviel‘, die das Vittoriale unbestritten prägt, entzieht sich dabei jeglicher Deutung, da die einzelnen Zeichen aufgrund ihrer ungeheuren Masse und gleichzeitigen Divergenz einen Prozess des Entzifferns a priori verunmöglichen. Von einer Zeichenökonomie kann daher freilich keine Rede mehr sein – vielmehr charakterisiert das Vittoriale eine performative Ästhetik der Verschwendung, die eine Desemantisierung ihrer ästhetizistischen Textur kennzeichnet. Somit erfüllt D’Annunzio mit dem selbsterwählten Schicksal des lebendig Begrabenen eher einen wesentlichen Charakterzug der Diva. Denn wenn nicht ein früher Tod den Nachruhm, d.h. die Fama der Diva mitbegründet, so doch, wie im Falle von D’Annunzios Zeitgenossin, der Comtesse de Castiglione oder später bei Marlene Dietrich, ein abgeschiedenes Dasein fernab jeglicher Öffentlichkeit. „Am Ende erweist sich das Subjekt D’Annunzio [innerhalb seines selbst errichteten Grabs lediglich noch] als Retroeffekt der Versatzstücke seiner eigenen Selbstinszenierungen“98: Dandy, Diva, Demagoge.

96 Ernst, Wolfgang: „Museale Kristallisation: Il Vittoriale degli Italiani“, in: Gumbrecht/Kittler/Siegert 1996 (wie Anm. 90), S. 310-320; Zitat S. 312. 97 Vgl. ebd. 98 Ebd., S. 320.

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Metrosexualität oder die Rückkehr des Dandys in der Postmoderne? Fast alle ausführlichen Studien zum Thema Dandytum schließen mit einem Ausblick auf die Gegenwartskultur und diskutieren die Frage, ob es heute noch extravagante Erscheinungen gibt, die das Erbe der klassischen Dandys antreten.99 Es herrscht allgemeine Einigkeit, dass es sich in der heutigen Zeit beim Dandy um eine ausgestorbene Spezies handelt. Hiltrud Gnüg zufolge sind alle Besonderheiten, die einst den Dandy ausmachten, durch die Gesetzmäßigkeiten der Massengesellschaft „weitgehend sozialisiert worden“ und haben somit „den Nimbus des Besonderen verloren.“100 Außerdem sieht sie durch den Untergang der Salon- und Kaffeehauskultur das einstmalige Publikum des Dandytums unwiederbringlich verloren. Ähnlich argumentiert Günter Erbe: „Jedem Versuch, die Figur des Dandys in unsere Zeit hinüberzuretten, haftete etwas Erzwungenes an.“101 Auch Erbe macht die Massenkultur für den Niedergang des Dandytums verantwortlich. Seine Diagnose ist scheinbar eindeutig: „Der Dandy alten Stils ist von der Bühne verschwunden.“102 Und dennoch: Indem Erbe von einem „Dandy alten Stils“ redet, evoziert er da nicht automatisch, dass es auch einen ‚Dandy neuen Stils‘ geben müsste? Zweifelsohne stellt D’Annunzio bereits eine Schwellenfigur innerhalb der Kulturgeschichte des Dandysmus dar. In ihm verschmelzen dandystischer Passatismus sowie die Begeisterung für neue Medien und Fortbewegungsmittel. Sein eklatanter Ästhetizismus, in dem Hansgeorg Schmidt-Bergmann bezeichnenderweise ein „Vorspiel zum Futurismus“103 sieht, wird durch seinen kriegerischen Heroismus konterkariert. Schmidt-Bergmann formuliert D’Annunzios Konzept der Moderne wie folgt: D’Annunzio entwirft die Moderne als einen Kampfplatz zwischen den Geschlechtern, als ein individuelles Schwanken zwischen Passionen, sadistischem und masochistischem Begehren, gesteigert noch durch die Energie, das ‚kriegerische Dröhnen‘ der Maschinen, 104 die durch D’Annunzio ästhetisch überhöht werden.

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So z.B. Gnüg 1988, S. 7-11 u. 313ff. oder Erbe 2002, S. 299ff. Gnüg 1988, S. 317. Erbe 2002, S. 299. Ebd. Schmidt-Bergmann 1993, S. 39. Ebd., S. 43.

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Demzufolge inkorporiert D’Annunzio bereits eine Form des Dandysmus, die man schon nicht mehr als klassisch oder aber als „alten Stils“ bewerten kann. In der heutigen Zeit sind nun die Film- und Modestars an die Stelle des „Dandy alten Stils“ getreten. Ihre bevorzugten Orte der Selbstinszenierung sind nicht mehr die mondänen Salons und Kaffeehäuser, sondern vielmehr die Gazetten der Regenbogenpresse und Auftritte in einschlägigen Talkshows. Ich würde Gnüg und Erbe zustimmen, dass diese Form der Inszenierung innerhalb einer Inszenierungsgesellschaft105 nicht mehr viel mit klassischem Dandytum zu tun hat. Die Sozialisierung sowie Vulgarisierung dandystischer Lebensentwürfe in unserer Zeit verdankt sich zweifellos dem Untergang der Aristokratie bzw. dem Wandel der Gesellschaftsstrukturen im Allgemeinen. Aber ist der Wandel gleichzusetzen mit dem Ende eines Phänomens? Seit einiger Zeit kursiert vor allem im populärwissenschaftlichen Bereich ein Begriff, der auf den ersten Blick aufgrund seiner schillernden Definition in die Nähe des Dandysmus gerückt werden könnte: Die Rede ist vom Phänomen der ‚Metrosexualität‘. Obwohl der Begriff bereits seit Mitte der 90er Jahre im Umlauf ist, sucht man in herkömmlichen Wörterbüchern vergeblich nach einem entsprechenden Eintrag. Dessen ungeachtet ist vor kurzem ein Buch populärwissenschaftlicher Provenienz erschienen, das dem Phänomen der Metrosexualität nachgeht. Gleich zu Beginn schlägt Autor Michael Flocker folgende Definition vor: Me-tro-se-xu-el-le(r) m; 1: männlicher Trendsetter des 21. Jahrhunderts. 2. heterosexueller urbaner Mann, mit verfeinerter ästheti106 scher Wahrnehmung. 3. Mann, der seine weibliche Seite auslebt.

Als Ikone unter den so genannten Metrosexuellen fungiert der englische Fußballstar David Beckham, der in regelmäßigen Abständen seine Fans mit einer neuen Frisur und einem trendigen Look begeistert. Das „Handbuch für den neuen Mann“ präsentiert sich als Regel- und Benimmkatalog für Männer, die großen Wert auf ihr Äußeres sowie auf ihre geistige Erscheinung legen. Die Vorrede schließt mit folgendem metaphorischen Ratschlag: So wie Sie regelmäßig Ihren Computer, Ihr Auto und hoffentlich auch Ihre Unterwäsche upgraden, können Sie auch sich selbst up-

105 So der Titel eines Sammelbandes von Willems/Jurga 1998 (vgl. Anm. 22). 106 Flocker, Michael: Metrosexual. Handbuch für den neuen Mann, München 2004, S. 1.

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graden und ein echter Player in der Ära des neuen metrosexuellen 107 Mannes werden.

Am Tonfall lässt sich bereits festmachen, dass dem Vorhaben, eine scheinbar neue Kategorie von Männlichkeit zu etablieren, der notwendige Ernst zu fehlen scheint. Dieser Umstand offenbart sich schon bei dem Begriff als solchem, der sich aus der griechischen Vorsilbe ‚Metro-‘ und dem Substantiv ‚-sexualität‘ zusammensetzt, was wörtlich übersetzt so viel wie ‚Muttersexualität‘ bedeuten würde. Der ‚Erfinder‘ der Metrosexualität scheint jedoch eher das urbane Gefühl der großen Metropolen im Blick gehabt zu haben, was den schlichtweg unsinnigen Terminus zur Folge hatte. In unserer Zeit des gesellschaftlichen Bezeichnungswahns, der jeder Form von Sexualität seinen Stempel aufzudrücken sucht und uns tagtäglich neue deviante Schubladen beschert, erscheint eine Kategorie für Männer, die sich dem Klischee ‚klassischer‘ Männlichkeit auf gewisse Art entziehen, geradezu willkommen. Und genauso klischeelastig präsentieren sich die Artikel über die Metrosexuellen, etwa: ‚Männer, die zwar schwul aussehen, es aber nicht sind.‘ Auf diese Weise entpuppt sich der Begriff der Metrosexualität streng genommen als ebenso hohle wie unsinnige Worthülse, die lediglich eine Kategorisierung um der Kategorisierung willen zugunsten von eindeutigen Vermarktungszwecken vornimmt. Die Männer jedoch, die der Begriff zu umschreiben sucht, erfüllen grundsätzlich eine Reihe von Grundeigenschaften, die auf die Tradition des Dandys zurückgehen: Narzissmus, gepflegte Erscheinung, androgynes Äußeres. Die „Trendsetter des 21. Jahrhunderts“ beerben somit in eingeschränkter Weise den arbiter elegantiarum alten Stils. Allerdings verwundert es dabei kaum, dass die Massenindustrie durch das Etikett des Metrosexuellen eine neue Zielgruppe kreiert hat, die zwar nostalgisch auf den Dandy zurückblickt und von dessen Geist gewissermaßen durchströmt ist, aber die Individualität des ‚neuen‘ Mannes, der demzufolge gar nicht so neu ist wie es scheinen soll, lediglich vortäuscht. Das einzig Interessante hierbei ist, dass sich jene abgeschwächte Renaissance des Dandys in einer Zeit des Wandels vollzieht. In einer zusehends globalisierten und vernetzten Weltkultur betritt erneut eine Figur die Bildfläche, die zwar nicht neu, aber immerhin ‚neuen Stils‘ ist. Baudelaire würde seine These bestätigt sehen – jedoch eher mit einem Gefühl der Verachtung, da ihm ein ‚sozialisierter‘ Dandy mit Punk-Frisur, Turnschuhen und Designer-T-Shirt ebenso zuwider sein dürfte wie die Domi107 Ebd., S. 16 (kursiv im Original).

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nanz der photographischen Bilder, deren wirksame Verbreitung für seinen Erfolg so viel wichtiger erscheint als die Langsamkeit der Schildkröten.

AUTORENVERZEICHNIS Noelle Aplevich: studierte Anglistik und Entwicklungspolitik an der Universität Guelph (Kanada). 1998 kam sie nach Deutschland und begann nach einigen Jahren der Arbeit im außeruniversitären Bereich eine Dissertation an der Universität Siegen zur Sprachtheorie Yoko Tawadas. Marijana Erstiü: Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Zadar und Siegen. Zurzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen. Aufsätze zur Performativität der Pathosformel in der italienischen Medienkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Futurismus, Pathosformel ‚Venus‘) sowie zur Intermedialität im Film (Benigni, Lang, Antonioni). Herausgeberin der literarischen Anthologie Zagreb erlesen, Klagenfurt 2001. Dissertationsvorhaben zum Thema des Verhältnisses zwischen den bildenden Künsten und dem Film am Beispiel der Familienbilder bei Luchino Visconti. Grazia Dolores Folliero-Metz: Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Orientalistik. Laurea an der Università degli Studi di Roma – La Sapienza. Baccalaureatus, Licentia und Doctor Philosophiae an der Pontificia Università Gregoriana. Habilitation an der Universität Siegen (venia legendi in Italianistik unter Berücksichtigung der Allgemeinen Literaturwissenschaft). Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen eines Projekts des Forum Humanum – Club of Rome; Dozentin an der Pontificia Università Lateranense, Rom (Philosophie), an den Universitäten Marburg, Gießen, Siegen (Literaturwissenschaft). Buchveröffentlichungen: La Grecia ‚tedesca‘ fra nostalgia e mito. Schiller, Hegel, Nietzsche ‚das Land der Griechen mit der Seele suchend‘, Rom 1990; (Hrsg.) Francisco de Hollanda: Diálogos em Roma (1538). Conversations on Art with Michelangelo Buonarroti, Heidelberg 1998; Le „Rime“ di Michelangelo Buonarroti nel loro contesto, Heidelberg 2004. Annette Geiger: Studium der Kommunikations-, Kunst- und Kulturwissenschaften in Berlin, Grenoble und Paris. Promotion in Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart: Urbild und fotografischer Blick. Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts, München: Fink 2004. Seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste Berlin (Fakultät Gestaltung). Arbeitsschwerpunkte zur Anthropologie und Ästhetik des Design (Habilita-

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tionsprojekt), zu Gender- und Mediendiskursen in der Theorie und Geschichte der Gestaltung sowie zu den Wechselwirkungen von Kulturund Lebenswissenschaften (im Erscheinen: Hrsg. mit Stefanie Hennecke/Christin Kempf: Spielarten des Organischen. Die Metapher des Lebens in Architektur, Design und Kunst, Berlin 2005). Kirsten von Hagen: studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Anglistik, Germanistik und Romanistik in Bonn. Dissertation: Intermediale Liebschaften: Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses, Tübingen: Stauffenburg 2002. Arbeitsschwerpunkte: medienkomparatistische Fragestellungen, Film, Literatur, Theater. Zurzeit Vorbereitung einer Arbeit zum Thema „Zigeunerdarstellungen in Literatur, Theater, Oper und Film seit der Frühen Neuzeit“ im Rahmen eines Lise-Meitner-Habilitationsstipendiums an der Universität Bonn. Dorothea von Hantelmann: Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Ethnologie in Berlin und Hamburg. Von 1999 bis 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Kunst- und Ausstellungsinszenierungen“ des Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin; kuratierte verschiedene Kunst- und Theaterprojekte, darunter „I like theater & theater likes me“ am Schauspielhaus Hamburg (2001) sowie die Ausstellung „I promise it’s political“ am Museum Ludwig, Köln (2002), zu der auch ein Katalog erschienen ist. Veröffentlichungen zur zeitgenössischen bildenden Kunst und zum Theater. Dissertationsprojekt zum Thema Performativität und Geschichtlichkeit in der zeitgenössischen Kunst. Walburga Hülk-Althoff: Professorin für Romanische Literaturwissenschaft in Siegen; Lehrtätigkeiten in Freiburg, Gießen, Berkeley; Forschungsschwerpunkte: Literatur des Mittelalters und der Neuzeit, Fragen der literarischen und medialen Anthropologie und der Medienästhetik, wissenschaftsgeschichtliche Themen im Kontext der Metaphoriken der „two cultures“; Publikationen u.a. zu Schrift-Spuren von Subjektivität im Mittelalter, zu „Sinnesgeschichten“ in der Literatur, zu Rousseau, Kleist, Flaubert, Proust; Forschungsprojekt im Rahmen des Forschungskollegs Medienumbrüche („Macht- und Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur“).

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Christian Imminger: Studium Medienplanung, -entwicklung und -beratung in Siegen; Mitarbeit im Forschungskolleg Medienumbrüche („Macht- und Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur“). Michael Lommel: Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften der Universität Siegen. Redaktionsmitglied der Zeitschrift Navigationen – Siegener Beiträge zur Kultur- und Medienwissenschaft. Vorbereitung einer Habilitationsschrift über „Samuel Becketts Medienspiele und Synästhesien“. Veröffentlichungen: Der Pariser Mai im französischen Kino: 68er-Reflexionen und Heterotopien, Tübingen 2001; (Mithrsg.) Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003; (Mithrsg.) Media Synaesthetics: Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln 2004. Isabel Maurer Queipo: wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen. Nach ihrer Mitarbeit im DFG-Forschungsprojekt „Theater und Theatralität im Film: Französische Theater/Filme 1930-1960“ arbeitet sie zurzeit im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche mit. Sie hat über den spanischen Autor und Regisseur Pedro Almodóvar promoviert und beschäftigt sich nun in ihrem Habilitationsprojekt mit der Ästhetik und Sprache des Traums in den Medien. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Intermedialität, europäischer Surrealismus und Gender Studies. Nanette Rißler-Pipka: Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Romanistik und Wirtschaftswissenschaften in Siegen und Orléans. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ des Siegener Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Dissertation zum Thema Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion; Habilitationsprojekt unter dem Arbeitstitel „Passagen zwischen Bild und Text: von Góngora zu Picasso“. Verschiedene Artikel zu intermedialen Themen bei Chabrol, Rohmer, Rivette, Zola – Manet, Poe, Jean Renoir, Picasso. Melanie Schmidt: Studium der Romanistik, Erziehungswissenschaften und Chemie an den Universitäten Siegen, Bonn und Tours. Seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen. Aktuelle Arbeitsgebiete, Forschungsinteressen und Veröffentlichungen in den Bereichen tanzwissenschaftliche Theorie und performative Praxis des moder-

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nen sowie postmodernen Tanzes. Dissertationsprojekt zum Thema „Diskontinuierliche Historizitätskonzeptionen in Maurice Béjarts Messe pour le temps présent“. Sabine Schrader: Studium der Romanistik, Geschichte, Pädagogik, Philosophie an den Universitäten Göttingen, Venedig, Köln. 1998 Promotion in französischer Literaturwissenschaft: „Mon cas n'est pas unique“. Der homosexuelle Diskurs in der französischen Autobiographie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler 1999. Zurzeit wiss. Assistentin am Institut für Romanistik der Universität Leipzig. Publikationen im Rahmen der Gender und Queer Studies in der Romanistik u.a. zu MarieAntoinette, Diderot, Crevel, Gide, Genet, Leduc, Wittig, zur Intermedialität und scapigliatura, zu Savinio und Pirandello sowie zur zeitgenössischen italienischen Literatur und zum Film. Mitherausgeberin der Sammelbände Körper und Schrift (mit Claudia Gronemann u.a.), Bonn: RV 2001; Sehen Lesen Begehren. Homosexualität in französischer Literatur und Kultur (mit Dirk Naguschewski), Berlin: tranvìa 2001; „Viele Sprachen lernen – ein nothwendiges Uebel?“ – Probleme und Chancen der Mehrsprachigkeit (mit Christiane Maaß), Leipzig: Universitätsverlag 2003. Habilitationsprojekt zum Thema „Literatur und Film zu Beginn des Novecento. Zur Historisierung der Mediendebatte“. Gregor Schuhen: 1994-2001 Studium der Romanistik und Anglistik in Siegen und Paris. Seit 2003 Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen und freier Mitarbeiter im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Literaturressort). Forschungsschwerpunkte: französische Literatur vom 18. bis zum 20. Jh., Popkultur, klassische Avantgarden, Intermedialität im aktuellen Film. Veröffentlichungen zur gender-spezifischen Lektüre von Marcel Proust, zum zeitgenössischen Film (MOULIN ROUGE, THE HOURS, 8 FEMMES), zum Verhältnis von Gender Studies und Popkultur. Dissertationsprojekt zum Thema „Sexualität als Effekt. Proust mit Foucault und Butler“. Tanja Schwan: studierte Romanistik, Germanistik und Erziehungswissenschaften in Heidelberg, Nancy und Siegen. Arbeitet an einer Dissertation über die ré-écritures französischer Autorinnen des 16. Jh.s unter gender- und kulturhistorischer Perspektive. Wissenschaftliche Mitarbeit an der Universität Siegen, zunächst am Metzler Lexikon Gender Stu-

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dies/Geschlechterforschung (Hrsg. Renate Kroll), Stuttgart/Weimar 2002; derzeit im Teilprojekt „Macht- und Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur“ des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Diverse Veröffentlichungen zu Gender Studies, New Historicism, Mittelalter und Früher Neuzeit (Querelle des Femmes) sowie den Avantgarden der Romania (Futurismus, Surrealismus). Mitherausgeberin von (Post-)Gender. Choreographien/Schnitte, Bielefeld [2005] und Spektrum reloaded. Siegener Romanistik im Wandel, Siegen [2005]. Silke Wagener: Studium der Germanistik und Psychoanalyse in Kassel und Frankfurt. Seit 1996 Tätigkeit als Lehrerin. Arbeitet zurzeit an einer Dissertation in Literaturwissenschaft in Frankfurt zum Thema Künstlerpaare und Geschlechterverhältnisse in der historischen Avantgarde.

Die Neuerscheinungen dieser Reihe:

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus Dezember 2004, ca. 334 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-279-1

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Spannungswechsel Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000 Februar 2005, ca. 160 Seiten, kart., ca. 17,00 €, ISBN: 3-89942-278-3

Marijana Erstic, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) Avantgarde – Medien – Performativität Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts Januar 2005, 370 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-182-5

Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Februar 2005, ca. 400 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-280-5

Uta Felten, Volker Roloff (Hg.) Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus November 2004, 364 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-184-1

Jens Schröter, Alexander Böhnke (Hg.) Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung September 2004, 438 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-254-6

Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung

Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (Hg.) Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft

September 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-183-3

Januar 2005, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-276-7

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film April 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-181-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de