Autorität, Autonomie und Bindung: Die Ankerfunktion bei elterlicher und professioneller Präsenz 9783666462696, 9783525462690, 9783647462691


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Autorität, Autonomie und Bindung: Die Ankerfunktion bei elterlicher und professioneller Präsenz
 9783666462696, 9783525462690, 9783647462691

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462690 — ISBN E-Book: 9783647462691

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Michael Grabbe / Jörn Borke / Cornelia Tsirigotis (Hg.)

Autorität, Autonomie und Bindung Die Ankerfunktion bei elterlicher und professioneller Präsenz

Mit 14 Abbildungen und 5 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462690 — ISBN E-Book: 9783647462691

Mit 6 Cartoons von Björn von Schlippe und 2 Cartoons von Nils Grabbe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-46269-0 ISBN 978-3-647-46269-1 (E-Book) Umschlagabbildung: A-R-T, shutterstock.com © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Teil 1: Zum Konzept des gewaltlosen Widerstands und zur Ankerfunktion Haim Omer Die elterliche Ankerfunktion als Mittler zwischen Autorität, Autonomie und Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Arist von Schlippe Die Konstruktion von Feindbildern: Eine paradoxe »Anleitung« . . . . . . . . . . . 41 Michael Grabbe Wo fahren wir hin und wo ankern wir? Vom Navigieren in der Eltern-Kind-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Uri Weinblatt Die Kraft der zwei Anker: Wie die Beziehung der Eltern ihre Präsenz und Autorität stärkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Teil 2: Unterschiedliche Ausprägungen der Bedürfnisse nach Autonomie und Verbundenheit Heidi Keller Autonomie und Verbundenheit – menschliche Grundbedürfnisse und kulturelle Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Hiltrud Otto Bindung und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Jörn Borke Kultursensitive systemische Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Angela Eberding und Andrea Lanfranchi Neue Autorität bei Migrationshintergrund: Kompetenz statt Kulturalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

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Inhalt

Teil 3: Die Stimme des Kindes Peter Jakob Die notvolle Stimme des aggressiven Kindes:  Von der Beziehungsgeste zur Wiederherstellung elterlicher Sensibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Michael Bachg Wo bleibt das Kind beim Elterncoaching? Wie es mit dem Feeling-Seen-Ansatz gelingen kann, die Perspektive des Kindes einzubeziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Claudia Terrahe-Hecking und Stephan Theiling Elterncoaching – und was ist mit den Geschwistern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Christian Hawellek Mikroperspektiven elterlicher Präsenz: Beiträge der Marte-Meo-Methode zum Konzept der elterlichen Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Teil 4: Unterschiedliche Anwendungsaspekte und -bezüge Martin Lemme und Bruno Körner Sichere Orte: Verankerung und Verantwortung nach Psychotraumata . . . . . . 233 Petra Girolstein Boris auf hoher See: Neue Autorität im Elterncoaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Dennis Haase und Tom Pinkall Wiedergutmachung und Reintegration als (ver-)bindungsunterstützende Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Barbara Ollefs Stärkung der elterlichen Ankerfunktion und Bindung rund um die Geburt – Erfahrungen in der familienbezogenen Beratung im Übergang zur Elternschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Teil 5: Aus der Praxis Liane Stephan und Ruth Tillner Professionelle Präsenz und neue Autorität: Ein Führungsansatz . . . . . . . . . . . . 317 Elisabeth Heismann Eltern mit- und füreinander: Die aktive Mitarbeit von Eltern im Londoner Programm für gewaltlosen Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Martin Solty Elterliche Präsenz und die Entwicklung der hilfreichen Ankerfunktion: Ein Praxisbeispiel aus der Familien- und Schulberatungsstelle Herne . . . . . . . 354 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

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Vorwort

Als Arist von Schlippe und Michael Grabbe zusammen mit dem Team des IF Weinheim, Institut für systemische Ausbildung und Entwicklung, Haim Omer 1999 nach Deutschland einluden, um seine Ideen kennen zu lernen, waren alle sehr beeindruckt und nahezu begeistert. Endlich wurden Ansätze vorgestellt bzw. untermauert, wie aus hoch eskalierten Beziehungsdynamiken zwischen Eltern und Kindern ein Ausstieg gefunden werden kann. In Therapien und Beratungen saßen oft hilflos gewordene Berater und Therapeuten hilflosen Eltern gegenüber, die sich gegenüber ihren gewalttätigen, Drogen konsumierenden, den Schulbesuch verweigernden oder sich total zurückziehenden Kindern nicht durchsetzen konnten und oft auch nicht mehr wollten. Dabei haben sie zumeist gute Absichten verfolgt, ihre Sorgen waren berechtigt, diese kamen aber bei ihren Kindern nicht als solche an und ihre Präsenz und Autorität war verloren gegangen. Stattdessen waren sie in Machtkämpfen verstrickt bzw. in Resignation versunken. Heerscharen von engagierten Helfern verschlimmerten oft die Situation. Feindbilder und Dämonisierungen entstehen schnell, nicht nur zwischen Eltern und Kindern, auch analoge Spiegelphänomene zwischen Eltern, Schule, Einrichtung und Berater können sich entwickeln. Nun gab es ausgereifte, wissenschaftlich erforschte Ideen und Ansätze, wie Eltern und auch Professionelle gewaltlos neue Akzente setzen und aus der Resignation entkommen können. Etliche Bücher wurden veröffentlicht (vgl. die Literaturverzeichnisse der einzelnen Beiträge) und Tagungen durchgeführt. Neuere konzeptuelle Überlegungen räumen nun vor allem der elterlichen Ankerfunktion eine besondere Bedeutung ein, die durch ein Gefüge aus Autorität, Autonomie und Bindung zwischen den beteiligten Personen (Eltern und Kind) gekennzeichnet ist. Dieses Buch knüpft vertiefend an eine längere Tradition an, stellt aber auch aktuelle Entwicklungen vor. Es möchte dazu einladen, den Weg zu neuen Perspektiven und Themenfeldern zu beschreiten, den Leser bzw. die Leserin dazu

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Vorwort

ermutigen, die beruflichen Anker zu lichten und eine Reise in möglicherweise neue oder teilweise unvertraute Gewässer anzutreten. Dort, wo es sehr hilfreich zu sein scheint oder vielleicht auch aufregend anders, bietet es sich ja dann an, sich erneut zu verankern, um das Neuland näher zu erkunden. Ausgehend vom Konzept der Ankerfunktion richtet es einen auch kulturvergleichenden Blick auf vielfältige Anwendungsfelder elterlicher und professioneller Präsenz in Alltag und Beratung. Das Buch gliedert sich in fünf Teile. In Teil 1 werden grundlegende Hintergründe zum Konzept des gewaltlosen Widerstands und der Ankerfunktion dargestellt. Teil 2 befasst sich mit unterschiedlichen kulturellen Kontexten und deren Bezügen zu Entwicklung und Erziehung. Teil 3 vertieft die Bedeutung, die der Stimme des Kindes zukommt. In Teil 4 beschreiben die Autorinnen und Autoren verschiedene Anwendungsbezüge näher, die abschließend in Teil 5 durch konkrete Berichte von Praxisprojekten ergänzt werden. In unserer langjährigen Praxis mit den sich ständig weiterentwickelnden Ideen zum gewaltlosen Widerstand und zur elterlichen Präsenz wurden wir auch oft mit Fragen konfrontiert, auf die wir keine Antworten wussten. –– Fragen, die die kulturellen Unterschiede betrafen: Kann man diese Ansätze sozusagen weltweit als Gemeingut vertreten oder sind Unterschiede zwischen einzelnen Schichten der Bevölkerung, zwischen Stadt- und Landpopulation, zwischen Ländern, Erdteilen, Religionen zu berücksichtigen? –– Fragen zur Perspektive der Kinder: Kinder selbst waren bislang nicht im Fokus der Beratung, sondern die Eltern. Kinder kamen nur indirekt vor – es ging darum, nicht mehr gegen sie zu kämpfen, sondern darum, eine gute bzw. bessere Beziehung zu ihnen und einen Zugang zu einer neuen Autorität im Kontakt mit ihnen finden. Wir fokussieren bislang auf die Werte der Eltern und unterstützen sie in der Beratung dabei, dass sie diese (wieder) mit pragmatischen, moralisch vertretbaren Mittel installieren, dabei Übersicht über die Familie bekommen und Netzwerke schaffen können, die die Verbindung zum Kind stärken, anstatt mit einem Beziehungsabbruch enden. Die Kinder, vor allem im jugendlichen Alter, kamen ohnehin kaum zur Beratung mit. Ihre Eltern waren aus ihrer Sicht doch krank, unfähig und hatten keine Ahnung – sie selbst waren doch in Ordnung. Im Laufe der weiteren Entwicklung der Ideen von Haim Omer, dem israelischem Team und Arist von Schlippe kamen nun vermehrt Anfragen aus Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen, in denen die pädagogischen Kollegen berichteten, selbst Adressaten von äußerst herausforderndem Verhalten von ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen zu werden.

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Vorwort

–– Können die Möglichkeiten, die Eltern haben, analog auf Professionelle, in deren Obhut Kinder sind, übertragen werden? –– Welche Unterschiede der Präsenz sind zu berücksichtigen? Beziehungsabbrüche und entsprechende Drohungen erweisen sich oft eher als Ausdruck einer professionellen Hilflosigkeit, als dass sie als konsequente pädagogische Maßnahme mit Erfolgsaussichten gewertet werden können. »Wenn du das Verhalten nicht einstellst, bist du in dieser Einrichtung nicht länger tragbar!«, dürfte keine Antwort von entsprechend ausgebildeten Pädagogen sein. –– Wie könnte in der Jugendhilfe eine Kooperation mit Eltern gelingen, wie könnte eine veränderte Elternarbeit aussehen? Auch die folgenden Fragen stellten sich immer wieder: –– Warum forcieren Kinder dramatische Szenen, wenden Erpressung, Gewalt an und zeigen autoaggressives Verhalten? Warum riskieren sie den endgültigen Beziehungsabbruch? Welche Motive, Bedürfnisse oder Werte können ihnen dabei so wichtig sein? –– Wie geht man mit zerstrittenen Eltern um, die als Paar nicht kooperieren wollen und ihre Elternschaft aus den Augen verloren haben? –– Wie arbeitet man mit Menschen, die ihre Elternrolle vielleicht nicht verloren, sondern noch nie eingenommen haben, wo das Kind noch wenig eigenen Platz gefunden hat? Teil 1 beginnt mit einem von Janina von Schlippe aus dem Englischen ins Deutsche übertragenen Beitrag von Haim Omer. Er führt hier in die grundlegenden Überlegungen zur Metapher der Ankerfunktion ein, die als Verbindung zwischen neuer Autorität, Autonomie und Bindung verstanden werden kann. Ergänzend führt Arist von Schlippe in seinem Beitrag die allgemeinen Hintergründe von Dämonisierungen und Feindbildkonstruktionen aus, Dynamiken, die häufig auch in familiären Beziehungen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von leidvollen Umgangs- und Erlebensweisen beitragen. Er beschreibt, wie diese (in unterschiedlichen Kontexten) entstehen können und was helfen kann, sie in positivere und funktionalere Dynamiken zu überführen. Michael Grabbe breitet – metaphorisch und konkret zugleich – mögliche ehrenwerte Wertesysteme der Beteiligten aus, um Grundlagen für Orientierung und Navigation zu finden, mit denen ein neuer Zugang zu den Kindern und eine rahmende Führung gelingen könnten. Uri Weinblatt betont die Bedeutung beider Eltern-Anker, die dem Kind oder Jugendlichen Halt geben können, wenn die Eltern es schaffen, zu kooperieren und zwischen Paar- und Elternebene zu differenzieren.

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Vorwort

Bei Schiffen finden sich sehr unterschiedliche Ankerformen (z. B. Stockanker, Pfluganker und Klippanker). Die Existenz dieser verschiedenen Ankerarten lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass die jeweiligen Ankertypen je nach Grund bzw. Umgebung, in der geankert werden soll, unterschiedlich guten Halt geben. Auch die elterliche Ankerfunktion zeigt verschiedene Ausprägungen, die mit den jeweiligen kulturellen Kontext- bzw. Umgebungsbedingungen, in denen die Familienmitglieder leben bzw. aufgewachsen sind, in Zusammenhang stehen. Es gibt also auch hier unterschiedliche Ankerformen, die jeweils passend für das Umfeld sind, in dem geankert wird (oder wurde). So lassen sich verschiedene Formen der elterlichen und professionellen Präsenz sowie der darauf bezogenen beraterischen und therapeutischen Ausrichtung beschreiben. Diese Aspekte werden in Teil 2 des Buches vertieft. Heidi Keller führt in ihr Modell ein, welches ermöglicht, kulturelle Unterschiede aufgrund von differenzierten Formen, Bedeutungen und Verhaltensweisen der beiden menschlichen Grundbedürfnisse nach Autonomie und Verbundenheit abhängig von den jeweiligen Kontextfaktoren des Lebensumfelds zu beschreiben und einzuordnen. Sie stellt verschiedene prototypische Kontexte dar, in denen jeweils unterschiedliche Formen von Erziehungs- und Entwicklungsvorstellungen sowie -praktiken üblich sind. Folglich leiten sich hier auch jeweils korrespondierende Bedeutungen bezüglich Autorität, der Gestaltung von familiären Beziehungen sowie der jeweiligen Form von elterlicher Präsenz ab. Darauf aufbauend zeigt Hiltrud Otto nach einer Einführung in die Grundlagen der Bindungstheorie, wie sich kulturelle Unterschiede beim Aufbau des Bindungsverhaltens sowohl auf Seiten des Kindes als auch auf Seiten der Eltern zeigen. Sie stellt dabei eindrücklich dar, dass sich die Grundannahmen der Bindungstheorie der westlichen Mittelschicht entspringen und nicht ohne Weiteres auf andere Kontexte übertragbar sind. Dieses Wissen kann helfen, familiäre Beziehungen sowie elterliche Wünsche und Verhaltensweisen aus uns vielleicht nicht so vertrauten Kontexten besser verstehen und einordnen zu können und auch in unserem Kulturkreis, in dem kulturelle Mischformen bestehen, eher Fragen zu stellen als Normierungen zu setzen. Dies kann sich, gerade beim Elterncoaching, bei der Suche nach angemessenen Unterstützungsformen für Familien als hilfreich erweisen. Vor diesem Hintergrund skizziert Jörn Borke mögliche Grundzüge einer kultursensitiven systemischen Familientherapie. Er geht dabei auf die kultursensitiven Potenziale von systemischer Beratungsarbeit ein, wie auch auf damit zusammenhängende Herausforderungen und mögliche Grenzen. Er reflektiert, welche Ableitungen sich aus dieser Perspektive für die Arbeit mit dem Konzept des gewaltlosen Widerstands ergeben können.

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Vorwort

Abschließend beschreiben Angela Eberding und Andrea Lanfranchi die historischen Wurzeln, die Barrieren, die nach wie vor bei der Arbeit mit Familien mit Migrationshintergrund beschreibbar sind. Sie sensibilisieren für das Vermeiden einer zu großen Komplexitätsreduktion von kultureller Vielfalt, die zu einer unangemessenen Kulturalisierung führen kann. In diesem Zusammenhang reflektieren sie auch die Möglichkeiten, die sich durch das Konzept der neuen Autorität ergeben. Dieser Teil des Buches sensibilisiert also für kulturelle Unterschiede bei Eltern und Kindern und regt an, sie bei der Beratungsarbeit wahrzunehmen, wertzuschätzen und in die Begleitungsprozesse einzubeziehen. Eltern haben nicht nur Werte bezogen auf ihre Kinder, sondern auch auf ihre Partnerschaft und sich selbst. Sie versuchen Beruf, Karriere, einen vorzeigbaren Haushalt, Attraktivität in der Partnerschaft, Selbstverwirklichung und vieles mehr zu vereinbaren. Gesellschaftliche Erwartungen bzw. Erwartungserwartungen und somit der gesellschaftliche Druck werden als groß erlebt. Untersuchungen belegen, dass jede zweite Mutter ihre Kinder als Stress erlebt und jedes dritte Kind sich mehr Zeit mit den Eltern, vor allem mit der Mutter wünscht (vgl. Forsa-Studie, zit. nach Spiegel online vom 08. 05. 2013, http://www. spiegel.de/gesundheit/schwangerschaft/forsa-umfrage-kinder-sind-stress-fuerviele-muetter-a-898684.html). –– Haben da die Kinder nicht oft ein Recht, renitent ihre Eltern bzw. deren Zuständigkeit und Präsenz einzufordern, wenn diese sich als abwesend oder hilflos verstrickt zeigen? –– Sollte man die Kinder nicht direkt dabei unterstützen? –– Sollte man die Perspektive nicht auch einmal umdrehen und ein systemisches Kindercoaching formulieren? In der ersten Tagung zum Konzept des gewaltlosen Widerstands und der elterlichen Präsenz in Osnabrück im Jahr 2001 wurde, damals nicht nur scherzhaft gemeint, ein Szenarium entwickelt, wonach Kinder nachts am Bett ihrer Eltern auftreten und eine »Ankündigung« mit anschließendem Sit-in verlesen würden, in der es heißen könnte: »Viel zu lange habt ihr uns als Eltern vernachlässigt, es gibt viel zu wenig verlässliche Zuständigkeit und Gemeinsamkeit. Deshalb haben wir als eure Kinder beschlossen, alles zu tun, was uns möglich ist, um euch wieder als Eltern zu bekommen. Wir werden nicht mehr dulden, dass ihr euren eigenen Interessen nachgeht oder euch hilflos zeigt. Wir werden euch nicht schlagen, demütigen und wollen keine Gewalt anwenden. Wir sind an einer guten Beziehung interes-

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Vorwort

siert. Wir werden damit nicht allein bleiben, sondern unsere Freunde, Verwandten, Nachbarn und auch die Schule und das Jugendamt zu unserer Unterstützung einbeziehen. Wir wollen euch nicht beschämen, sondern das ist unser Weg, euch zu zeigen, dass wir euch brauchen. Wir erwarten von euch eine Lösung und werden hier darauf warten. Eure Kinder.«

Das soll heißen: Wo ist die Stimme der Kinder, wie wird sie verstanden und interpretiert? Teil 3 dieses Buches widmet sich den unterschiedlichen Perspektiven und möglichen Vorgehensweisen. Peter Jakob geht in seinem Beitrag auf die oft nicht genug wahrgenommene Not ein, die hinter aggressivem Verhalten von Kindern stehen kann. In diesem Zusammenhang beschreibt er unter anderem die Bedeutung der Aktualisierung eines Sorgedialogs in Familien, um Wege aus der Aggression finden zu können. Ausgehend von der Methode des Feeling-Seen zeigt Michael Bachg in seinem Beitrag anhand eines konkreten Beispiels sehr eindrücklich, wie gelingen kann, die Perspektive des Kindes zu erkunden und in die Beratung einzubeziehen. Claudia Terrahe-Hecking und Stephan Theiling gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Bedeutung hier den Geschwistern bzw. den geschwisterlichen Beziehungen zugeschrieben werden kann. Christian Hawellek gibt in Anlehnung an das Marte-Meo-Konzept einen Einblick in die Mikroperspektive, also die kleinen Schritte und Interaktionsmomente, durch die die Eltern die Grundlagen für ihre Präsenz und Ankerfunktion schaffen und wie sie diese ihrem Kind auf förderliche und unterstützende Weise vermitteln können. Teil 4 beschäftigt sich mit verschiedenen Feldern, in denen die Ideen der Ankerfunktion bzw. der elterlichen und professionellen Präsenz mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung Anwendung finden. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die psychotraumatische Situationen erlitten haben, steht im Mittelpunkt des Beitrags von Martin Lemme und Bruno Körner. Sie gehen dabei ausführlich auf die Hintergründe von posttraumatischen Belastungen ein und beleuchten die Möglichkeiten der Ansätze zum gewaltlosen Widerstand und zur neuen Autorität, um Kinder bzw. Jugendliche und deren Familien unterstützen zu können. Petra Girolstein geht anhand unterschiedlicher Fallbeispiele auf verschiedene Formen ein, in denen die elterliche Ankerfunktion geschwächt wurde bzw. sich in dysfunktionaler Weise entwickelt hat. Sie zeigt auf, wie Familien in diesen Fällen von einer professionellen Begleitung profitieren und sich somit neu und stabiler verankern können.

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Vorwort

Der Beitrag von Dennis Haase und Tom Pinkall beschreibt, wie über Wiedergutmachungsgesten und Reintegrationsinterventionen besonders im Schulkontext ein anderer Weg im Umgang mit Konfliktsituationen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beschritten werden könnte. Obwohl in der Schule Kinder unterrichtet werden und nicht Fächer und Jugendhilfeeinrichtungen ja eigentlich für Herausforderungen schwieriger Kinder ausgerichtet sind, kommen diese oft an ihre Grenzen. Pädagogen sind dabei oft in einer Doppelrolle: Sie übernehmen Erziehungsaufgaben analog zu den Eltern, kooperieren oder konkurrieren dabei mit ihnen und sind zugleich deren Berater. Konkrete Beispiele aus der Praxis kann es nicht genug geben, um das eigene besondere und passende Vorgehen in diesem speziellen Kontext zu entwickeln. Barbara Ollefs befasst sich in ihrem Beitrag mit dem Übergang zur Elternschaft und zeigt auf, wie die elterliche Ankerfunktion und der Bindungsaufbau gerade auch bei gesundheitlichen Komplikationen und psychischen Belastungen rund um die Geburt unterstützt werden können. In Teil 5 finden sich mehrere Praxisbeiträge. So beschreiben Liane Stephan und Ruth Tillner, wie der Ansatz des gewaltlosen Widerstands und die Metapher der Ankerfunktion auf Prozesse in Unternehmen und Organisationen transferiert werden und als Grundlage für Leitungs- und Führungskräfte zur möglichen Verbesserung ihrer professionellen Präsenz dienen können. Elisabeth Heismann stellt in ihrem Beitrag ein Konzept aus London vor, bei dem elterncoachingerfahrene Mütter und Väter als »graduierte« Eltern andere Familien unterstützen und auf diese Weise ihre Erfahrungen hinsichtlich einer gesteigerten elterlichen Präsenz weitergeben können. Abschließend beschreibt Martin Solty detailliert anhand eines konkreten Beispiels, wie die elterliche Präsenz und Ankerfunktion gestärkt werden und welche Rolle dabei unterstützende Personen aus dem familiären Umfeld spielen können. Dieses Buch bietet Hintergrundinformationen, Anregungen, neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten für unterschiedliche Praxisfelder an. Es soll dazu beitragen, Eltern und Professionelle zu unterstützen, ihnen Mut zu machen sowie die Stimmen der Kinder und kulturelle Hintergründe angemessen einzubeziehen. Michael Grabbe Jörn Borke Cornelia Tsirigotis

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Teil 1: Zum Konzept des gewaltlosen Widerstands und zur Ankerfunktion

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Haim Omer

Die elterliche Ankerfunktion als Mittler zwischen Autorität, Autonomie und Bindung1

Einführung Erziehungskonzepte, die eine positive Eltern-Kind-Bindung fördern sollen, betonen zumeist elterliche Fürsorge, Sensibilität und Zuwendung (z. B. Ainsworth, 1991). Diese werden als Kernqualitäten angesehen, die Eltern sicherstellen sollten, damit sich eine sichere und positive Beziehung ausbilden kann (→ für kulturvergleichende Aspekte zur Bindung siehe auch den Beitrag von Hiltrud Otto in diesem Band). In jüngerer Zeit wurde diesen Konzepten der Begriff der »elterlichen Präsenz« zur Seite gestellt (z. B. Omer u. von Schlippe, 2004). Dieser umfasst zum einen fürsorgende Qualitäten, wie sie bereits beschrieben wurden. Elterliche Präsenz beinhaltet jedoch noch mehr. Es geht auch um elterliche Fähigkeiten, die eher Autorität widerspiegeln, wie zum Beispiel Beständigkeit, Entschlossenheit, Disziplin bzw. Aufsicht, Beobachtung und Begleitung. Der Begriff der Autorität ist in den letzten Jahrzehnten eher kritisch diskutiert worden. Wir haben vorgeschlagen, ihn wieder mit einer positiven Assoziation zu verbinden, und in dem Zusammenhang den Begriff der »neuen Autorität« geprägt (Omer u. von Schlippe, 2010, 2011). Wir gehen aus unserer Perspektive davon aus, dass eine positive elterliche Autorität, die die Funktion eines Ankers erfüllt, eine zentrale Komponente für eine sichere Eltern-Kind-Bindung darstellt. Der Fokus liegt dabei auf »Stärke statt Macht«. Eltern, die eine nichtinvasive, nichtverletzende Form von Stärke zeigen, könnten wieder zu einer »sicheren Basis« werden. In diesem Beitrag soll diese Ankerfunktion als Verbindung zwischen zwei allgemein akzeptierten Modellen zur Erziehung und Entwicklung vorgeschlagen und beschrieben werden: der Bindungstheorie einerseits und dem Konzept der autoritativen Erziehung andererseits. Der Blick auf die autoritative Erziehung ist von den Arbeiten Baumrinds (z. B. 1966, 1981) abgeleitet; der Blick auf Wachstum und Entwicklung in Zusammenhang mit einer sicheren Eltern-Kind1

Aus dem Englischen übertragen von Janina von Schlippe.

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Haim Omer

Bindung beruht auf bindungstheoretischer Annahmen (z. B. Ainsworth, 1991; Bowlby, 1982). Es soll also hier keine neue Idee präsentiert werden, vielmehr soll die vorgestellte »Ankerfunktion« als Verbindung und als Brücke zwischen diesen beiden »alten« Modellen dienen. Zugleich scheint die Metapher der Ankerfunktion einen eigenen heuristischen Wert zu haben. So kann das Konzept der autoritativen Erziehung mit einem detaillierten Behandlungsprogramm handlungsleitend verbunden werden, das ein breites klinisches Anwendungsspektrum eröffnet (Omer, 2011; Omer u. von Schlippe, 2004). Es mag auch unser Verständnis von den entscheidenden Elementen der Eltern-Kind-Beziehung fördern, wenn die Kernmetaphern der Bindungstheorie – der sichere Hafen (»safe haven«) und die sichere emotionale Basis (»secure base«) – einbezogen werden.

Elterliche Autorität und Eltern-Kind-Bindung Traditionell war »elterliche Autorität« eng mit Distanz, Bestrafung und Dominanz assoziiert. Die Autoritätsperson sah sich selbst als einzige und absolute Quelle der Macht, war niemandem Rechenschaft schuldig und trug keine Verantwortung für Eskalationen in der Interaktion mit dem Kind. Disziplinarische Härte hing nur von der Renitenz des Kindes ab und wurde als dessen Folge gesehen (vgl. etwa Braunmühl, 1983). In den letzen Jahren entwickelte sich eine neue Sicht auf den Begriff der Autorität – unter anderem verbunden mit Baumrinds Konzepten von Elternschaft als einer Funktion von zwei orthogonalen Faktoren: Responsivität im Sinne von Zuwendung, Wärme und Ansprechbarkeit einerseits (»responsiveness«) und Lenkung, die auf Forderung und Anspruchshaltung beruht, andererseits (»demandingness«) (Baumrind, 1966). Der Faktor Zuwendung, Ansprechbarkeit und Responsivität bezieht sich auf das Ausmaß, mit denen die Eltern die Individualität und Selbstbehauptung des Kindes fördern, indem sie gemeinsam abgestimmt, unterstützend und sensibel auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen.

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Die elterliche Ankerfunktion als Mittler zwischen Autorität, Autonomie und Bindung

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Abbildung 1: Elterlicher Liebesbeweis2

2 Unter Lenkung soll verstanden werden, dass Eltern auch Anforderungen an ihre Kinder stellen und durch Verhaltensregulation mit Disziplin und Kontrolle das Ziel verfolgen, die Kinder in die Gesellschaft zu integrieren. Bezogen auf dieses Modell ist die traditionell autoritäre Elternschaft, wie sie bereits beschrieben wurde, wenig ausbalanciert, da die Eltern zum einen wenig Zuwendung und sensible Ansprechbarkeit geben und zum anderen hohe Anforderungen an das Kind stellen und sie unflexibel durchzusetzen versuchen. Damit repräsentieren sie dem Modell von Baumrind zufolge einen autoritär-direktiven Erziehungsstil (Baumrind, 1991). Bei dieser Form der Autorität wird das elterliche Verhalten dem Kind gegenüber an Bedingungen geknüpft. Das Kind wird von den Eltern nur so lange akzeptiert und erfährt Zuneigung, wie es die Bedingungen erfüllt. Das Erleben dieser Bedingtheit hat negative Folgen, sowohl für die Entwicklung des Kindes (Kanat-Maymon, Roth, Assor u. Reizer, 2012) als auch für seine Haltung gegenüber den Eltern (Roth, Assor, Niemiec, Ryan u. Deci, 2009). Auch können elterliche Äußerungen wie »Du machst das, weil ich es dir sage!« die Entwicklung der Fähigkeit zur Mentalisierung3 stören, die nach neueren Erkenntnissen als zentral für die Entwicklung von Kindern angesehen wird (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2004). Die Mentalisierung wird hier behindert, weil die Eltern den Sinn und das innere Befinden des Kindes nicht berücksichtigen

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Alle Cartoons mit der Signatur »Kartist« stammen von Björn von Schlippe, dem wir herzlich für die Überlassung danken. 3 Als Mentalisierung wird die menschliche Fähigkeit bezeichnet, das eigene sowie das Verhalten anderer durch die Zuschreibung von mentalen (geistigen) Zuständen wie Gefühle, Einstellungen oder Überzeugungen zu interpretieren.

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sowie den möglichen Sinn ihrer Aussagen nicht bewusst vermitteln – Anweisungen sollen eben befolgt und nicht verstanden werden! Diese Art der elterlichen Autorität ist seit den späten 1950er Jahren immer wieder auf heftige Kritik gestoßen. Als Reaktion darauf wurde eine antiautoritäre Haltung4 bei Psychologen und Pädagogen immer populärer. Die Hoffnungen waren groß, dass man Kinder ohne Anforderungen und Beschränkungen, die als schädlich für ein spontanes Wachstum angesehen wurden, großziehen könne (Braunmühl, 1983). Heute jedoch stimmen wohl die meisten Fachleute darin überein, dass diese Hoffnungen enttäuscht wurden. So zeigten Kinder, die im antiautoritären Sinne erzogen wurden, mehr Probleme als Kinder, die mit einer traditionellen Form der Autorität erzogen wurden (z. B. Baumrind, 1973, 1981). Allerdings kann dieses alte Modell der Autorität nicht einfach wiederhergestellt werden, ganz abgesehen davon, dass das alles andere als erstrebenswert wäre. Daher ist es zentral, das Modell der Autorität umzudefinieren, um es mit unseren Idealen einer zugewandten und sensiblen Elternschaft sowie mit den Werten einer demokratischen Gesellschaft in Einklang bringen zu können. Baumrinds (1966, 1981) Beschreibung des autoritativen Erziehungsstils war ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Demnach leiten autoritative Eltern die Aktivitäten des Kindes durchaus an, jedoch in einer sachbezogenen, aber auch warmen und zugewandten Art und Weise, die Dialog fördert und es dem Kind ermöglicht, die Gründe für die Entscheidung nachzuvollziehen. Das Modell der neuen Autorität baut unter anderem auf den Annahmen von Baumrind auf und erweitert es um die Verbindungen zwischen ihren Arbeiten und den Konzepten zur Entwicklung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung. Dieses Modell, das auch als »gewaltloser Widerstand« bekannt ist, beruht auf klinischen Erfahrungen und empirischer Evidenz aus Elternberatungsprogrammen, die in Israel, Deutschland, Großbritannien und Belgien durchgeführt wurden (z. B. Ollefs, von Schlippe, Omer u. Kriz, 2009; Omer, 2011; Omer u. Lebowitz, 2012; Vanschoonlandt, Van Holen u. Vanderfaeillie, 2012). In den auf diesem Modell basierenden Anwendungsprogrammen erhalten die Eltern eine kurze Beratung (im Rahmen von zehn bis zwanzig Sitzungen), die den Fokus auf die elterliche Präsenz, die Fähigkeit, die Umwelt zu strukturieren, auf Selbstkontrolle und soziale Unterstützung legt. Die Interventionen wurden mit vielen klinischen Klientengruppen und nichtklinischen Stichproben durchgeführt (z. B. Eltern von Kindern 4 Im Modell von Baumrind entspricht diese einem permissiven Erziehungsstil, bei dem ein hohes Ausmaß an Zuwendung, Wärme und Responsivität vorhanden ist und ein geringes Ausmaß an Lenkung, sowie in manchen Varianten möglicherweise auch dem vernachlässigenden Erziehungsstil, bei dem beide Aspekte gering ausgeprägt sind (Baumrind, 1966, 1981).

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mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – ADHS, mit aggressivem Verhalten, Angststörungen, selbstgefährdendem Verhalten und delinquenten Verhaltensweisen, Eltern mit Kindern, die die Schule schwänzen, Eltern, die sich über eine mögliche Computersucht bzw. einen Computermissbrauch, über Cannabis- und Alkoholmissbrauch und gefährliches Fahren Sorgen machen). Dieser Beratungsansatz, der für Familien mit Eltern europäischen, afrikanischen und nahöstlichen Ursprungs entwickelt wurde, zeigte sich als hochwirksam, um auffällige Verhaltensweisen von Kindern vermindern zu können. Bei den Eltern ging das Gefühl von Hilflosigkeit und die Tendenz zum Bestrafen signifikant zurück. Das breite kulturelle Spektrum der behandelten Klienten zeigt, dass das Modell sowohl für die Eltern wirksam sein kann, die aus westlich geprägten Gesellschaften kommen, als auch für Eltern mit eher traditionellem Hintergrund. Obwohl die Beratung mit diesen vielfältigen Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Schwerpunkte hat, ist die Akzeptanz für diesen Ansatz und die Auswirkungen der Intervention sehr ähnlich (→ zu kulturvergleichenden Überlegungen siehe auch den Beitrag von Jörn Borke in diesem Band). Zudem zeigen sich in dieser Art der Arbeit die wahrscheinlich niedrigsten Beratungsbzw. Therapieabbrüche (Drop-out-Rate), die man in der Literatur findet (Ollefs, von Schlippe, Omer u. Kriz, 2009).

Der Beitrag der Entwicklungsmodelle Bindungstheoretiker haben zwei einflussreiche Metaphern zur Beschreibung von elterlichen Haltungen und Verhaltensweisen entwickelt, die eine sichere Eltern-Kind-Bindung fördern: zum einen die Metapher des sicheren Hafens und zum anderen die der sicheren emotionalen Basis (z. B. Ainsworth, 1991; Bowlby, 1988). Doch hat die Bindungstheorie dabei die Rolle der elterlichen Autorität, die für die Bildung einer sicheren Bindung notwendig ist, meistens ignoriert; dies wurde auch von einigen Vertretern der Bindungstheorie kritisiert (z. B. DeWolff u. Van IJzendoorn, 1997). Möglicherweise kommt dieser blinde Fleck daher, dass sich die Forschung zur Bindungstheorie weniger mit der mittleren Kindheit und der Adoleszenz beschäftigt hat – also den Zeiten, in denen Fragen der Autorität besonders wichtig werden (Moss, Bureau, Beliveau, Zdebik u. Lepine, 2009). In dieser Entwicklungsphase, in der das Kind seinen Explorationsradius noch einmal deutlich erweitert und dadurch neuen Risiken ausgesetzt ist, wird die Verbindung zwischen Autorität und der Schaffung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung deutlich relevanter.

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Eine Kombination elterlicher Sensitivität und Präsenz mit Formen der elterlichen Autorität kann in den späten Kindheits- und Jugendjahren dauerhaft für eine stabile Bindung sorgen. Eine so gelebte elterliche Ankerfunktion erweitert die Funktionen des sicheren Hafen und der sicheren Basis: Während der sichere Hafen und die sichere Basis Angebote der Eltern für Zuflucht und Ermutigung sind, stellt die Ankerfunktion den Aspekt der Sicherheit dar. Die Eltern nehmen ihre Rolle als Eltern wahr, indem sie das Kind davor schützen, sich in gefährliche Gewässer zu begeben. Um diese Funktion gut erfüllen zu können, müssen sich die Eltern selbst gut in ihrer elterlichen Rolle verankern. Ein Anker muss fest sitzen, um das Schiff daran zu hindern wegzutreiben. Durch eine feste Verankerung in einer positiven Form von Autorität sind die Eltern in der Lage, das Kind, sich selbst und andere Familienmitglieder vor den Stürmen zu schützen, die in seiner Entwicklung auftauchen und die es gefährden können. Diese Annahme wird von der Studie von Jones und Prinz (2004) gestützt. Sie konnten unter Einbezug von zahlreichen Studien zeigen, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen dem elterlichen Gefühl von Selbstwirksamkeit und den Kompetenzen als Eltern gibt. Eltern mit einer höheren elterlichen Selbstwirksamkeit neigen zu einer effektiveren Elternschaft, auch bei schwierigem Verhalten des Kindes. Vermutlich haben diese Eltern auch ein gutes Gefühl für ihre Verankerung: Sie fühlen sich wohl und geerdet in ihrer elterlichen Rolle und den damit verbundenen Pflichten. Allerdings entsteht diese elterliche Selbstverankerung nicht einfach von selbst. Im Folgenden werden vier bedeutsame Quellen elterlicher Selbstverankerung beschrieben: Struktur, Präsenz, Unterstützung und Selbstkontrolle. Struktur Struktur spielt eine entscheidende Rolle beim Aufbau eines stabilen und sicheren Rahmens für das gemeinsame Familienleben. Sie entsteht, wenn die Eltern Regeln und Routinen definieren, die die Aktivitäten der Familie und des Kindes sicherstellen (Minuchin, 1974). Struktur bezieht sich zudem auf das Aufstellen von schützenden Grenzen, zum Beispiel bezogen auf den eigenen Raum, ihre Arbeit oder Freizeit- und Lebensbereiche, aber auch für das Kind. Darüber hinaus geht es um die Definition von Rollen, Zuständigkeiten, Erreichbarkeiten und Rechten der verschiedenen Familienmitglieder. Die Struktur ist von grundlegender Bedeutung für jedes Konzept von Autorität. Traditionell diente Struktur in erster Linie für die Schaffung von Distanz. Heute wollen die meisten Eltern nicht länger starre Regeln setzen, wie und wann sich ihr Kind ihnen nähern darf (Omer u. von Schlippe, 2010). Doch

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wenn sich Eltern aus Sorge, einen formalen und distanzierten Stil zu praktizieren, für ein Ideal der absoluten Verfügbarkeit und Spontaneität entscheiden, bedeutet dies oft einen Mangel an Struktur. Dies kann dann dazu führen, dass dem Kind das Gefühl von Klarheit und Stabilität fehlt (Baumrind, 1981). Wie schon Minuchin (1974) argumentiert, ist elterliches Handeln in zwei Richtungen zu sehen: Grenzen können zu undurchlässig und starr oder zu durchlässig und diffus sein. Daher sollte eine gute strukturelle Beratung bzw. Therapie beide Bereiche berücksichtigen. Die Probleme, die durch geringe elterliche Strukturen entstehen können, wurden zum Beispiel durch Studien belegt, die sich mit dem Zusammenhang zwischen elterlicher Nachgiebigkeit und Zwangsstörungen bei Kindern beschäftigt haben (Garcia et al., 2010). Die elterliche Nachgiebigkeit – die Bereitschaft der Eltern, allen Forderungen des zwanghaften Kindes hinsichtlich der Zwangsstörung nachzugeben – war hier durchweg mit größeren Funktionsstörungen verbunden (zugleich mit individuellen und familiären Belastungsfaktoren) als ein lenkendes bzw. strukturierendes Elternverhalten. Diese Befunde interpretiere ich so, dass in diesen Fällen das Bedürfnis des ängstlichen Kindes nach einem elterlichen Anker nicht erfüllt wurde. Besonders verschärft sich die Angst bei den Kindern, deren Eltern auf jeden Anflug von Angst nachgiebig reagieren und jede Routine, alle Grenzen und Anforderungen an das Kind zurücknehmen. Diese Eltern vermitteln dem Kind, dass auch sie nicht in der Lage sind, sich gegen die Angst zu stellen. So verstärken die Eltern eher die Überflutung mit Ängsten anstatt dem Kind als Damm dagegen zu dienen. In den Beratungen des auf den hier vorgestellten Konzepten beruhenden Programms für Eltern von Kindern mit Angststörungen (Omer u. Lebowitz, 2012), lassen sich häufig zwei Formen von elterlichen Verhaltensweisen finden, die mit autoritären oder permissiven Erziehungsstilen (Baumrind, 1981) in Verbindung gebracht werden können. Beide Reaktionsformen auf die Angst des Kindes versetzen die Eltern nicht in die Lage, dem Kind helfen zu können: a) eine strenge, anspruchsvolle Haltung setzt das Kind unter Druck, ohne ihm Unterstützung zu geben (autoritär); b) eine nachgiebige Haltung erlaubt der Angst, Regeln für das Kind, für die Eltern sowie teilweise für die ganze Familie aufzustellen (permissiv). In der Arbeit mit diesen Eltern zeigt sich, dass die Symptome beim Kind zurückgehen, wenn die Eltern beginnen, sich selbst neu als »Anker« zu verstehen. Sie beginnen, die Tagesabläufe wieder zu strukturieren und sie nicht mehr den ängstlichen Anforderungen des Kindes unterzuordnen (Omer u. Lebowitz,

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2012). Es ist so, als ob das Kind die Erfahrung macht, dass die Eltern bzw. der elterliche Anker »stärker als die Angst« sind. Ein ganz ähnlicher Prozess konnte bei Eltern von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nachgewiesen werden. Eine der häufigsten Beschwerden dieser Eltern ist, dass die Hyperaktivität des Kindes nicht nur das Leben des Kindes erschwert, sondern in der ganzen Familie nachhaltig für Unruhe und Konflikte sorgt. Anstatt zu erleben, dass sie dem Kind eine förderliche Ankerfunktion anbieten können, fühlen sich Eltern hier oft durch die Unruhe des Kindes verunsichert. Wenn man Eltern hilft, eine Routine als »Anker« zu entwickeln und damit sichere Räume sowohl für sich selbst als auch für das betroffene Kind und für die anderen Kinder in der Familie zu schaffen, dann reduziert sich das Gefühl von Hilflosigkeit und Depression signifikant. Damit einhergehend kommt es zu einer deutlichen Verbesserung der Aufmerksamkeitsproblematik des Kindes (Ollefs, von Schlippe, Omer u. Kriz, 2009). Dieser Befund stützt die Annahme, dass eine Selbstverankerung der Eltern dem Kind Stabilität ermöglicht, seine Aufmerksamkeitsfähigkeit erhöht und seine emotionale Labilität verringert. Präsenz Elterliche Präsenz wird durch Handlungen und Haltungen vermittelt, die dem Kind zeigen, dass seine Eltern verfügbar und responsiv sind (Ainsworth, Blehar, Waters u. Wand, 1978). Dies wurde bisher typischerweise vorrangig im Zusammenhang mit kindlichen Notlagen beschrieben. Wir nehmen jedoch an, dass elterliche Präsenz auch dann sichtbar wird, wenn Eltern ihre Autorität in Form von Wachsamkeit ausüben (Omer, 2011; Omer u. von Schlippe, 2004). Elterliche wachsame Sorge ist die beste präventive Maßnahme bei Risikoverhalten von Kindern aller Altersgruppen (Petit, Laird, Dodge, Bates u. Criss, 2001). In ihrer Metaanalyse, bei der über 300 Studien einbezogen wurden, fanden Loeber und Stouthamer-Loeber (1986), dass die Verringerung von aggressivem und destruktivem Verhalten des Kindes am meisten mit elterlichen Verhaltensweisen in Form von beobachtender Wachsamkeit und Aufsicht zusammenhing (gefolgt von positivem elterlichen Engagement). Die besondere Bedeutung der elterlichen Wachsamkeit für die Entwicklung einer sicheren Beziehung wurde besonders von Autoren hervorgehoben, die sich mit den Eltern-Kind-Interaktionen bei älteren Kindern beschäftigen. Während die Eltern in der frühen Kindheit eine ziemlich direkte Kontrolle über das Kind haben, wollen Kinder in späteren Jahren immer selbständiger sein. Dadurch verbringt das Kind immer mehr Zeit außerhalb des Sichtfeldes der Eltern (Waters,

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Kondo-Ikemura, Posada u. Richters, 1990). In ihrer Erweiterung der Bindungstheorie auf die spätere Kindheit deuten Waters, Kondo-Ikemura, Posada und Richters (1990) darauf hin, dass die wachsame Sorge der Eltern nicht weniger werden, sondern dass sie eine andere Form annehmen sollte. So wird sie mit zunehmendem Alter des Kindes auch abhängiger von der Bereitschaft des Kindes zur Zusammenarbeit, da Eltern und Kind als gemeinsames Ziel verfolgen, ihre gegenseitige Erreichbarkeit aufrechtzuerhalten. Allerdings ist die Kooperation des Kindes in dieser Beziehung nicht selbstverständlich. Um eine effektive wachsame Sorge zu praktizieren, müssen Eltern die Verantwortung übernehmen und ihre Präsenz auch bei kindlichem Widerstand aufrechterhalten. Eine hilfreiche Sorge manifestiert sich daher sowohl in der sensiblen Wachsamkeit bezüglich der Signale des Kindes hinsichtlich Not und Bedrängnis (Ainsworth, Blehar, Waters u. Wand, 1978) als auch durch die Entschlossenheit, an der Seite des Kindes zu sein, auch wenn das Kind versucht, die Eltern auf Abstand zu halten (Loeber u. Stouthamer-Loeber, 1986). Beides ist nötig, um dem Kind Sicherheit zu geben. Überraschenderweise wird in der Literatur kaum auf die Ähnlichkeiten zwischen der elterlichen Aufsicht über die Aktivitäten eines Jugendlichen und der wachsamen Sorge über ein Baby eingegangen. Durch das Bewusstmachen dieser Parallelen wird der Unterschied zwischen der distanzierten und intrusiven Art von Aufsicht (Merkmal einer autoritären Form von Autorität) und dem Bindung erhaltenden Charakter einer autoritativen Verankerung deutlich. Eltern ändern das Maß der Wachsamkeit kontinuierlich und spontan. So kann sich die Mutter mit anderen Aufgaben beschäftigen, wenn das Baby schläft oder ruhig ist, und ist doch mit ihrer Aufmerksamkeit beim Kind – diese Form der Wachsamkeit kann als offene Aufmerksamkeit beschrieben werden. Sie wird sich zu einer fokussierten Wachsamkeit verändern, wenn die Mutter ein Zeichen beim Kind wahrnimmt, das Not oder Leid bedeuten könnte. Zu diesem Zeitpunkt ist sie dann äußerst aufmerksam, greift aber noch nicht ein, um das Kind zu schützen oder ihm zu helfen, sondern wartet zunächst ab, ob sich das Baby wieder beruhigt. Wenn es dem Baby weiterhin nicht gut geht, macht die Mutter den nächsten Schritt, der als aktiver Schutz bezeichnet werden kann. Jetzt beginnt sie, Maßnahmen zu ergreifen, um die Not des Babys zu lindern. Mit dem flexiblen Hin- und Herwechseln zwischen diesen Ebenen greift die Mutter auf ihre Ressourcen zurück, bietet Schutz und minimiert gleichzeitig den Grad der Intrusion. Dieses Wechseln zwischen verschiedenen Arten von Aufmerksamkeit gehört zu einer wachsamen elterlichen Betreuung in Kindheit wie auch in der Jugend. Je größer die Fähigkeit von Eltern ist, zwischen den drei Ebenen der wachsamen Sorge zu wechseln, desto effektiver ist elterliche Auto-

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rität (Omer, 2011). Eltern, die sich unfähig fühlen, ihr Niveau der wachsamen Sorge zu erhöhen, selbst in Situationen, in denen Signale auftauchen, die Gefahr andeuten, manifestieren einen Mangel an Autorität. Aus dieser Sicht spiegelt ein Mangel an Sorge und Aufmerksamkeit eine Schwächung der Eltern-KindBindung wider: Die Eltern vertrauen nicht mehr darauf, dass die Bindung den Herausforderungen einer intensiven Wachsamkeit standhält. Dies wird deutlich, wenn die Eltern eines Heranwachsenden auf den Vorschlag, mehr auf das Verhalten ihres Kind zu achten, mit den Worten reagieren: »Das wird er mir nie verzeihen« oder »Wenn ich das mache, geht sie noch mehr auf Distanz!« Wir glauben, dass Jugendliche, auch wenn sie vielleicht protestieren, eigentlich dankbar sind, wenn ihre Eltern aufmerksam sind und sich in der Not für sie engagieren. Dies wird an einer Geschichte deutlich, die ein 16-jähriges Mädchen ihrer Therapeutin erzählte. Sie berichtete von einer Freundin, die damit prahlte, dass ihre Mutter »cool« sei. Sie frage nie, wohin sie gehe oder wann sie zurückkäme. Das junge Mädchen fragte diese Freundin darauf hin: »Wirklich? Kümmert sie sich denn überhaupt nicht um dich?« Wachsame Sorge trägt auch dazu bei, dass Kinder und Jugendliche die Fähigkeit entwickeln, auf sich selbst zu achten. Aus unserer Sicht kann man den Zusammenhang zwischen elterlicher Aufsicht und geringerem Risikoverhalten von Kindern so verstehen, dass Kinder die wachsame Sorge ihrer Eltern allmählich selbst internalisieren. Diese Vermutung wurde in einer Studie bei Vorschulkindern und ihren Müttern untersucht. Es wurde gezeigt, dass Kinder mit einer sicheren Bindung bei einer Aufgabenstellung, in der die Fähigkeit zum Standhalten einer Versuchung experimentell gemessen wurde, an einem verbotenen Spielzeug interessiert waren, dabei das Verbot in Abwesenheit der Mutter aber weniger missachteten als Kinder mit einer unsicheren Bindung (Laible u. Thompson, 2000). Darüber hinaus waren die sicher gebundenen Kinder eher in der Lage, Reue zu zeigen, wenn sie der Versuchung nicht widerstehen konnten, als die unsicher gebundenen Kinder. Das könnte darauf hindeuten, dass diese Kinder bereits auf dem Weg sind, die Fähigkeit zu entwickeln, auf sich selbst aufzupassen. Flexible wachsame Sorge kann man mit einem Anker an einer langen Kette vergleichen. Man kann es sich so vorstellen, als in einem Winkel der kindlichen Seele der elterliche Anker immer vorhanden ist, aber das Ziehen der Kette für das Kind nur dann fühlbar wird, wenn es in unruhige Gewässer gerät. Mit der Zeit muss das Kind nicht mehr bis zum Ende der Ankerkette kommen, sondern lernt, sich selbst zurückzuhalten – was darauf hindeutet, dass der elterliche Anker verinnerlicht worden ist.

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Soziale Unterstützung Eine weitere Säule der elterlichen Ankerfunktion ist die soziale Unterstützung, die zumeist auf der Paarbeziehung, der erweiterten Familie, Freunden und Gruppen aus der Gemeinde oder aus Institutionen basiert (z. B. Elterngruppen, Schule, Kirche, usw.). Diese unterstützenden Elemente gewährleisten eine breite, gebilligte und transparente Basis für die Autorität der Eltern (Omer, 2011). Traditionell wurde Autorität als Pyramide angesehen. Die Person an der Spitze stand in königlicher Isolation über denen darunter. Gegenüber diesen strengen Hierarchien sind freie Gesellschaften allerdings überaus misstrauisch, das gilt für Familien wie auch für andere Systeme. Aber gibt es eine Autorität, die nicht von oben nach unten (also top-down) aufgebaut ist? Kann es funktionieren, wenn der »Chef« nicht wirklich der »Chef« ist? In der Tat war auch die Herrschaft des traditionsreichsten pater familias nicht das Produkt seiner isolierten Macht. Die Autorität des Vaters stützte sich auf eine nahezu einstimmige Unterstützung aus allen wichtigen Bereichen der Gesellschaft. Doch Autorität ist heutzutage nicht mehr einfach selbstverständlich oder wird von der Gesellschaft uneingeschränkt gebilligt. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass die Eltern nicht nur darin unterstützt werden müssen, ihre Rolle als Eltern wahrzunehmen, indem sie wieder verfügbar und responsiv sind, sondern auch darin, dass sie wieder als Autoritätspersonen fungieren, wahrgenommen und darin bekräftigt werden. Damit dies möglich wird, muss eventuell ein Prozess der Reautorisierung begonnen werden, bei dem die Autorität der Eltern durch ein Unterstützernetzwerk wieder gestärkt wird. Dieser Prozess der Legitimation durch eine unterstützende Gruppe, Verwandte und Freunde stellt eine breite Basis für die elterliche Autorität dar, aber auch eine Begrenzung von Willkür und Macht, da die Einbeziehung der Unterstützer für Transparenz sorgt (Omer, 2011; Omer u. von Schlippe, 2004). Studien haben gezeigt, dass sich Eltern, die ihre Autorität mit Hilfe eines unterstützenden Netzwerks stärken, weniger hilflos fühlen, weniger zu Strafen neigen und insgesamt von einem Rückgang eskalierender Konflikte mit ihren Kindern berichten (Ollefs, von Schlippe, Omer u. Kriz, 2009). In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass der fast ausschließlich dyadische Fokus der Bindungstheorie (z. B. Bowlby, 1982, 1988) möglicherweise mit ein Grund dafür ist, dass der Aufbau von sozialer Unterstützung im Laufe der Entwicklung der Eltern-Kind-Bindung bisher kaum Beachtung in den entsprechenden Fachdiskursen findet. Dabei ist bereits im ersten Jahr des Lebens Bindung nicht streng dyadisch, sondern oft triadisch (Mutter–Vater–Kind) oder auch n-adisch (Sydow, 2008; → siehe hierzu auch den Beitrag von Hiltrud Otto in diesem Band).

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So kann beispielsweise ein Unterstützersystem eine Mutter so stärken, dass sie sich sicherer fühlt und mit mehr Selbstvertrauen in der Lage ist, dem Baby in schwierigen Situationen ihre Wünsche klar und angemessen zu vermitteln, zum Beispiel beim Reduzieren des nächtlichen Stillens oder bei der Umstellung auf feste Nahrung. Tatsächlich zeigte sich, dass bei erstgebärenden Müttern eine gute soziale Unterstützung sowohl eine positive Auswirkung auf die mütterliche Selbstwirksamkeit hatte als auch das Risiko einer postpartalen Depression geringer war (Leahy-Warren, McCarthy u. Corcoran, 2012). Auch bei Familien mit älteren Kindern konnte die Bedeutung von sozialer Unterstützung für elterliches Handeln nachgewiesen werden. Eltern von Kindern im Vorschulalter, die soziale Unterstützung besonders aus dem familiären Umfeld annahmen, zeigten sich mit ihren Kindern stärker verbunden, erzogen konsistenter und bestraften weniger physisch (Coyl, Newland, u. Freeman, 2010). Somit stärkt soziale Unterstützung zum einen die Eltern und begrenzt zum anderen eine unangemessene Ausübung von Autorität und Macht. Das Aufbauen eines Unterstützersystems ist ein Sinnbild dafür, wie sich Eltern selbst verankern und dadurch auch dem Kind als Anker fungieren können. Das Bild des Ankers ist in diesem Zusammenhang besonders geeignet: Ein kleiner Anker kann sogar ein sehr schweres Schiff durch seine Arme (Flunken) stoppen. Für einen Anker mit nur einem Arm, egal wie groß (z. B. im Fall von isolierten Eltern), ist die Aufgabe, ein schweres Schiff zu stoppen, sehr viel schwieriger. Bei größeren Kindern macht die Tatsache, dass die Eltern in ihrem Unterstützersystem verankert sind, ihre Forderungen gültiger und akzeptabler. In einem Fallbeispiel reagierte ein 14-jähriges Mädchen auf die Aufforderung ihrer Mutter, ihr zu sagen, wohin sie gehe und wann sie zurückkomme, mit dem üblichen Protest: »Du bist die einzige Mutter, die solche Fragen und Forderungen stellt.« Die Mutter antwortete: »Ich habe mit drei anderen Müttern aus der Gruppe gesprochen und wir sind uns in diesem Punkt einig und haben dazu die gleiche Meinung« (Omer, 2011). Diese soziale Bestätigung gibt der Mutter Rückhalt, stärkt ihr den Rücken und ermöglicht dem Mädchen, die Regel ohne das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben, zu akzeptieren. Eine allgemeingültige und gemeinsam aufgestellte Regel zu akzeptieren ist weniger erniedrigend, als sich dem Willen einer einzigen Person zu beugen. Darüber hinaus trägt die Verbundenheit unter den Eltern auch zum Gefühl der Sicherheit beim Kind bei, da diese bei Not einspringen können. Auch Familienmitglieder aus der näheren oder entfernteren Verwandtschaft und hier oft vor allem die Großeltern können in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle spielen. So ist es in der Tat so, dass in Familien mit einem eingebundenen Großelternteil die Gefahr geringer ist, dass Jugendliche antisoziales Verhalten entwickeln (Dornbusch et al., 1985).

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Dies ist besonders wichtig, wenn die Konfrontationen zwischen Eltern und Kind schnell eskalieren, da dann nicht alle Probleme in der direkten Auseinandersetzung zwischen den Eltern und dem Kind gelöst werden müssen. So kann zum Beispiel ein sich aggressiv verhaltenes Mädchen, das bei ihrem Onkel »eine Pause« von den schwierigen Interaktionen mit ihren Eltern nehmen kann, die Freiheitsgrade besser wahrnehmen, die sie in der Beziehung zu den Eltern hat. Der Onkel kann dann vielleicht auch zwischen den Eltern und dem Mädchen als Vermittler tätig werden. Diese Unterstützung kann einen positiven Einfluss auf die Autorität der Eltern haben, besonders wenn der Onkel seiner Nichte vermitteln kann, dass die Eltern die Pflicht haben, ihrer Gewalt zu widerstehen. Solch ein unterstützendes Netzwerk kann dem Kind helfen, ein flexibleres zwischenmenschliches Arbeitsmodell zu verinnerlichen, in dem Beziehungskrisen nicht nur in direkter Konfrontation gelöst werden können, sondern auch durch die Hilfe von anderen, die sich im unmittelbaren Umfeld befinden. Selbstkontrolle Zuletzt wollen wir auf das Thema »Selbstverankerung« eingehen. Eltern verankern sich selbst durch ihre Selbstkontrolle und Beharrlichkeit. Dadurch, dass sie eine Eskalation mit dem Kind vermeiden, bei Einschüchterungsversuchen nicht kapitulieren und sich nicht von den negativen Gefühlen des Kindes anstecken lassen, verleihen sie ihrer elterlichen Präsenz Gewicht. Selbstkontrolle bedeutet nicht nur, negative Reaktionen zu vermeiden, sondern auch, seine Fähigkeiten zum Aus- und Durchhalten zu festigen. Dadurch fügen die Eltern einen Zeitfaktor ein, der ihrer Autorität Tiefe verleiht. Dies ist das genaue Gegenteil der flachen Macht autoritärer Eltern, die auf das unmittelbare Bestrafen bauen (Omer, 2011). Traditionell wurde Autorität daran gemessen, wie gut die Eltern die vollständige Kontrolle über das Kind haben. Allerdings sorgt diese Haltung für einen Machtkampf mit zwei Handlungsmöglichkeiten: siegen oder besiegt werden. Wenn Eltern dann spüren, dass sie möglicherweise besiegt werden, kann es sein, dass sie eher zu extremen Reaktionen neigen (Bugental, Blue u. Cruzcosa, 1989). Aus diesem Grund wird hier vorgeschlagen, dass die elterliche Autorität eher als ein Ausdruck von Selbstkontrolle der Eltern gesehen werden soll statt als Versuch, das Kind zu kontrollieren. Dies geht mit der Botschaft an das Kind einher: »Ich kann dich nicht kontrollieren, aber es ist meine Pflicht, so zu handeln!« Autorität ist auch dann da, wenn das Kind nicht gehorcht, weil es nicht nötig ist, dass sie erst durch das Wohlverhalten des Kindes bestätigt wird. Kontrolle wird durch Selbstkontrolle ersetzt: Eine kritische Situation durchgestanden zu

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haben, ohne sie eskalieren zu lassen, ist ein Zeichen von Autorität, unabhängig vom Verhalten des Kindes. Zugleich eröffnen sich so Räume für eine kooperative Zusammenarbeit. Selbstkontrolle bildet sich auch aus, wenn Eltern in einer nichtdominanten Art und Weise auf ihrer elterlichen Pflicht bestehen, auch wenn sie vom Kind Gegenwind bekommen. Wenn sie dabei keine klassisch autoritäre Haltung einnehmen, befreien sie das Kind von dem Gefühl, es habe die »Pflicht zum Widerstand«. Tatsächlich zeigten sich Eltern, die an unserem Programm mit großer Betonung der Selbstkontrollmöglichkeiten teilgenommen hatten, weniger unterwürfig gegenüber dem Kind. Zudem waren sie danach weniger in Machtkämpfe verwickelt und konnten die Qualität der Beziehung zum Kind verbessern (Weinblatt u. Omer, 2008). Autorität auf der Grundlage von Selbstkontrolle bietet dem Kind einen sehr viel sichereren Beziehungsrahmen als eine Autorität, die auf Kontrollvorstellungen, Machtausübung und völligem Gehorsam basiert. In Beziehungen mit einer auf Selbstkontrolle aufbauenden Autorität sind die Eltern-Kind-Bindungen nicht an Bedingungen geknüpft, nicht vom Verhalten des Kindes abhängig und das Kind ist nicht davon bedroht, dass sein Wille gebrochen werden könnte. Die Internalisierung einer klassisch autoritär gestalteten Eltern-Kind-Interaktion mit einem Elternteil kann dazu führen, dass das Kind auch in zukünftigen Beziehungen eher zu einer dominanzorientierten Beziehungsgestaltung tendiert. Im Gegensatz dazu kann die ruhige Kraft eines Elternteils, das sich in Selbstkontrolle übt, dem Kind ermöglichen, Eltern als stabilisierenden Anker zu internalisieren. Durch solche Interaktionen bildet sich beim Kind ein positives Arbeitsmodell für zwischenmenschliche Beziehungen aus und es wird in der Entwicklung der eigenen Selbstregulierung unterstützt. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ermöglicht auch eine besondere Haltung in Bezug auf die Zeit. Anders als klassisch autoritäre Eltern fühlen sich Eltern mit einer guten Fähigkeit zur Selbstkontrolle nicht mehr verpflichtet, sofort reagieren zu müssen, wenn das Kind ihren Ansprüchen nicht nachkommt. Das Gefühl, immer sofort einschreiten und möglicherweise auch bestrafen zu müssen, steigert in Auseinandersetzungssituationen das Spannungsniveau. In solchen Situationen besteht dann die Gefahr, dass die Beziehung zwischen Eltern und Kind in einer Eskalationsschleife versinkt. Wenn die Eltern es jedoch schaffen, sich in ihrer Selbstkontrolle zu verankern, dann kann die Zeit auch eine Kraftquelle werden. Um Eltern zu helfen, mit dem Gefühl, »sofort reagieren zu müssen«, besser umgehen und sich in Selbstkontrolle üben zu können, greifen wir in unserem Programm immer wieder auf drei zeitbezogene Sätze zurück: »Sie müssen nicht gewinnen, sondern beharrlich sein!«, »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!« und »Fehler sind unvermeidlich, aber sie können korrigiert werden!«

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Die Fähigkeit, beharrlich zu sein, verzögert zu reagieren und – wenn nötig – nach eigenen Fehlern auch Schadensersatz und Wiedergutmachung anzubieten, schafft neue Chancen für die Beziehung zueinander. Beharrliche Eltern geben dem Kind eine Art emotionale Garantie dafür, dass sie für es verfügbar und zuständig sind. Durch das Aufschieben und Abwägen ihrer Reaktionen geben sie dem Kind zudem Raum, ebenfalls alles noch einmal zu überdenken. Eltern, die dem Kind zeigen, dass sie bei eigenen Fehlern zu Wiedergutmachungen fähig sind, zeigen dem Kind, dass Brüche oder Verletzungen passieren, aber auch repariert werden können. Die klinische Erfahrung zeigt, dass wenn Eltern den Mut haben, eine eigene unzulässige Handlung einzusehen und wiedergutzumachen, dies ihre Autorität überhaupt nicht schwächt, sondern sie sogar noch stärkt. Diese Eltern sind dann auch, wenn es die Situation verlangt, in der Lage, mit dem Kind zu erarbeiten, wie es selbst Wiedergutmachungen für das eigene Handeln leisten kann (Omer, 2011). Die Zeit an sich ist ein entscheidender Aspekt in solchen Eltern-Kind-Interaktionen. Aus einer autoritären Perspektive muss jede Konfrontation mit dem Kind eine unmittelbare Folge haben: Entweder das Kind gehorcht, wird bestraft oder »gewinnt«. Im Gegensatz dazu entfaltet sich die von uns hier beschriebene Art der neuen Autorität in der Zeit und durch die Zeit. Die Autoritätsfigur bekommt Kontur, Tiefe und Gewicht, indem er oder sie es schafft, verzögert zu reagieren und Wiedergutmachung für schädigende Handlungen zu zeigen oder zu verlangen. Wenn ein Kind diese Form der Beharrlichkeit bei seinen Eltern erlebt, wird es die Präsenz der Eltern wahrnehmen, selbst wenn keine unmittelbare Reaktion erfolgt.

Ein Fallbeispiel In der folgenden Fallvignette sollen die verschiedenen Aspekte der Verankerung verdeutlicht werden. Mia und Joe sind die Eltern des zehnjährigen Sid, der in unserer Klinik wegen einer Zwangs- sowie einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung behandelt wurde. In der ersten Sitzung beschrieben die Eltern eine Reihe von Regeln, die Sid der Familie infolge seiner Angst vor Ansteckung und Ekelgefühlen auferlegt hatte. Viele dieser Regeln hatten mit der fünf Jahre alten Schwester Cindy zu tun. So durfte Cindy zum Beispiel weder in der Küche sein, wenn Sid da war, noch durfte sie mit ihm am Tisch zusammensitzen. Sid rief morgens, bevor er sein Zimmer verließ, seine Mutter an, um sicherzugehen, dass er Cindy nicht begegnete,

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wenn er zur Schule ging. In Bezug auf die Mahlzeiten, das Betreten und Verlassen des Hauses sowie zum Abwischen der Füße (16 Mal, bevor man das Haus betritt) gab es Regeln, die für alle Familienmitglieder galten. Diese Forderungen wurden mit Hilfe von Schreien, Wutanfällen und extremen Drohungen durchgesetzt. Zudem zog Sid seine Mutter an den Haaren, schrie ihr ins Ohr oder er verhinderte, dass Joe und sie schlafen konnten. Sid hatte eine einzige Sitzung mit einem Therapeuten, weigerte sich aber wiederzukommen, außerdem weigerte er sich hartnäckig, zu einem Psychiater zu gehen oder Medikamente zu nehmen. Er war sehr unruhig und Joe beschrieb die Situation zu Hause als ein Leben, das von der Gnade eines Tornados abhängig ist. Der Therapeut erklärte den Eltern, dass der Zweck der Behandlung sei, dass sie als Eltern ihre Präsenz und Stabilität wieder erlangten, damit sie als ein Anker fungieren können, um Sid und die ganze Familie davor zu bewahren, durch Sids Probleme weggeschwemmt zu werden. In einem ersten Schritt würden sie sich selbst verankern, indem sie einige grundlegende Familienregeln festlegen und sich mit einer Reihe von Unterstützern in Verbindung setzen würden. Die Eltern entschieden sich zunächst, Sids Gewalt und seinen Drohungen bzw. demütigenden Regeln gegenüber Cindy zu widerstehen. Der Therapeut half den Eltern beim Verfassen einer schriftlichen Ankündigung, in der sie Sid mitteilten, dass sie nicht mehr mit seinen Verhaltensweisen einverstanden seien und ihr Problem nicht mehr geheim halten, sondern von jedem Hilfe annehmen würden, der ihnen helfen könnte. Als Sid beginnen wollte, mit ihnen darüber zu streiten, dass das nicht helfen würde, und ihnen zu drohen begann, antworteten die Eltern: »Wir können dich nicht kontrollieren, aber wir können uns selbst kontrollieren. Wir sind deine Eltern und werden deine Eltern bleiben. Du kannst uns nicht fallen lassen, loswerden oder uns trennen.« Sie standen auf und verließen den Raum, woraufhin Sid die schriftliche Ankündigung in Fetzen riss. Sie sagten: »Du musst nicht damit einverstanden sein! Dies ist unsere Entscheidung und wir dachten, dass es nur fair ist, sie dir mitzuteilen. Es ist unsere Pflicht, an unserer Entscheidung festzuhalten.« Mit Hilfe des Therapeuten stellten sie eine Unterstützergruppe von zehn Personen zusammen, unter anderem kontaktierten sie Großeltern, Onkel und eine Reihe von engen Freunden. Die Unterstützer wurden über die Situation informiert und gebeten, Sid immer dann zu kontaktieren, wenn die Eltern ihnen von gewalttätigem oder demütigendem Verhalten von Sid berichteten. Am nächsten Tag saß Cindy entgegen aller bisherigen Regeln mit am Frühstückstisch. Sid versuchte, sie anzugreifen, aber Mia ging dazwischen und bekam Schläge ab, die Cindy galten. Sie blieb ruhig, ließ sich in der Situation

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nicht provozieren, sondern sagte zu Sid: »Deine Gewalt ist inakzeptabel. Ich spreche mit deinem Vater darüber und wir denken nach. Wir entscheiden dann gemeinsam, wie wir darauf reagieren!« Im Laufe des Tages riefen zwei Onkel an, und Sids Großvater schickte ihm eine E-Mail aus Moskau. Sie sagten, dass sie sich um ihn sorgen und glauben, er könne es schaffen, seine Schwierigkeiten zu überwinden, und dass die Gewalt unbedingt aufhören muss. Sid war wütend und beschuldigte seine Eltern, sein Geheimnis verraten zu haben. Auf diesen Vorwurf antworteten sie: »Wir bleiben nicht mehr allein. Wir sind mit der Familie verbunden und das macht uns stärker!« Daraufhin ging Sid in das Zimmer der Eltern, als diese nicht da waren, schnitt ihre Bettdecke sowie zwei Kleider und einen Anzug in kleine Stücke. Außerdem zerriss er ­Cindys Lieblingspuppe. Die Eltern dokumentierten die Zerstörung und schickten der Unterstützergruppe Fotos. Sie gingen in sein Zimmer, machten ein Sit-in und sagten zu ihm: »Wir sitzen hier, bis du mit einer Lösung kommst, damit so etwas nicht wieder passiert.« Sie setzten sich ruhig für 45 Minuten hin und gingen nicht auf Sids Provokationen ein. Zuvor hatten sie vom Therapeuten gehört, dass das Sit-in ein deutliches und starkes Zeichen von Präsenz darstelle. Ein Sit-in werde das Verhalten von Sid nicht direkt ändern, sondern ihre eigene Ausstrahlung und ihr Auftreten. Sie würden dadurch ihrer Elternschaft Gewicht verleihen. Am Ende des Sit-ins sagten sie ihm: »Wir haben noch keine Lösung gefunden, daher sprechen wir erst miteinander und teilen dir später unsere Reaktion mit.« Mia hatte bereits ein gutes Verständnis für die elterliche Ankerfunktion gewonnen und sagte: »Das ist gut. Statt direkt zu reagieren, reagieren wir verlangsamt. Wir bauen einen Unterschlupf gegen den Wirbelsturm.« Drei Tage später kamen die Eltern zu Sid und sagten zu ihm: »Wir haben uns entschieden, dass du helfen musst, den Schaden zu bezahlen. Du bist ein Kind und du musst nicht für alles bezahlen, deshalb akzeptieren wir auch eine Teilzahlung. Möchtest du mit einer eigenen Idee zu uns kommen oder willst du lieber, dass wir entscheiden, wie die Bezahlung sein soll?« Sid weigerte sich, freiwillig einen Vorschlag zu machen. Darauf antworteten ihm die Eltern, dass sie viel Zeit hätten und dass sie ihre Entscheidung ein paar Tage aufschieben würden. Am nächsten Tag rief Sids Großvater an und sagte ihm: »Sei kein Narr! Wenn du einen Vorschlag machst, selbst wenn er bescheiden ist, akzeptieren sie es. Sie und ich sind dann damit zufrieden. Wenn du keinen Vorschlag machst, kann das dein Portemonnaie schwer belasten und vielleicht verkaufen sie sogar deinen Computer!« Dieser Appell an das eigene Interesse erwies sich als wirksam. Am nächsten Tag bot Sid an, für einen Monat das Auto der Familie wöchentlich zu waschen.

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Die Eltern stimmten diesem Vorschlag zu. Ein weiterer Unterstützer schickt Sid daraufhin eine E-Mail und schrieb ihm, dass er klug gehandelt habe und es ihm gelungen sei, sich aus einer schwierigen Klemme zu befreien. Von diesem Moment an aß Cindy wieder gemeinsam mit der Familie und Sid hatte keinen Einfluss mehr auf Cindys Bewegungsfreiheit. Zunächst weigerte sich Sid, gemeinsam mit der Familie zu essen, aber schließlich war Cindy nicht mehr länger abgesondert. Das nächste Ziel war, die Dienste und Zugeständnisse der Eltern zu reduzieren, die mit Sids Zwangsstörung zu tun hatten. Sid weinte und war untröstlich, als sie eine neue Ankündigung machten mit der Information, dass sie eine ganze Reihe von unangemessenen Zugeständnissen zurücknehmen würden. Mia erschrak sehr über die heftige Reaktion von Sid und überlegte, einen Rückzieher zu machen. Der Vater kontaktierte daraufhin den Therapeuten, der sie zu einer zusätzlichen Sitzung einlud. Er half Mia zu verstehen, dass sich Sids Angst weiter vergrößern würde, wenn sie sich davon gefangen nehmen ließe. Wenn sie sich aber dem Sog der Angst entgegenstelle, dann würde sie als Anker fungieren und Sid dabei helfen zu lernen, wie er mit seinen Ängsten umgehen könne. Daraufhin besuchte die Großmutter Sid. Sie lud ihn ein, für ein paar Tage zu ihr zu Besuch zu kommen. Er stimmte zu, obwohl im Haus der Großeltern keine der Zwangsregeln eingehalten wurden. Nach ein paar Tagen kamen die Eltern und Cindy dazu und aßen zusammen mit den Großeltern. Auch Sid nahm für einen kurzen Moment an der Mahlzeit teil. Am nächsten Tag brachten die Großeltern ihn wieder nach Hause und blieben mit ihm im Elternhaus, während Joe und Mia für ein Wochenende wegfuhren. Auch Cindy blieb zu Hause und in der Zeit, in der die Großeltern da waren, begann Sid, wieder gemeinsam mit allen am Tisch zu sitzen. Die Großeltern dienten somit als Übergangsanker und ermöglichten Sid so, Ziele zu erreichen, mit denen er bei seinen Eltern Schwierigkeiten gehabt hätte. Als die Eltern zurückkamen, begann Sid allmählich wieder, mit der Familie beim Essen zusammenzusitzen. Die Behandlung wurde noch für ein paar Wochen fortgeführt. Sid hatte immer noch Rituale, aber keine mehr, in denen die ganze Familie eingebunden war, auch kam es nicht mehr zu Gewalt oder Erniedrigungen. Drei Jahre nach dieser Behandlung kam es zu einer Verschlechterung der Zwangssymptomatik, doch dieses Mal stimmte er zu, eine kognitive Verhaltenstherapie zu beginnen. Die Behandlung ging nur langsam voran, aber Sid konnte weitere Fortschritte machen.

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Zusammenfassung In dem hier vorgestellten Modell bieten die Eltern eine sichere Eltern-KindBindung an. Sie schaffen nicht nur einen sicheren Hafen und eine sichere Basis, sondern füllen auch eine Ankerfunktion aus. Diese Funktion kann unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden: dem der elterlichen Einstellungen, Vernetzungen und Handlungen, die es ihnen ermöglicht zu handeln (die »Selbstverankerung« der Eltern), und dem der Auswirkungen auf das Kind (dem kindlichen Gefühl und Erleben, dass die Eltern als stabilisierender Anker fungieren, also der Ankerfunktion). Die eigene Verankerung der Eltern wird deutlich, wenn sie: –– strukturelle Rahmenbedingungen schaffen, die ein geschütztes und stabiles Familienleben ermöglichen; –– präsent bleiben und in das Leben des Kindes einbezogen sind; –– sich durch ein unterstützendes Netzwerk stärken; –– ihre Stärke auf Selbstkontrolle, Beharrlichkeit und Ausdauer stützen. Jeder dieser Punkte gibt den Eltern Halt und ermöglicht ihnen, als Anker für ihr Kind zu fungieren. Aus der Sicht des Kindes zeigt sich die Verankerung, die Ankerfunktion auf drei verschiedene Arten: –– durch das Gefühl von Sicherheit, das es erlebt, wenn Grenzen und Rahmen sicher sind und geschützt werden; –– durch einen stabilen Rahmen, in dem nicht die Kontrolle im Vordergrund steht; –– durch die Internalisierung einer Sorge um sich selbst und ein positives Arbeitsmodell von »Beziehungen« (Mikulincer u. Shaver, 2004). Obwohl wir Autorität vor allem als von den Handlungen der Eltern abhängig beschrieben haben, stellen wir fest, dass Autorität nicht einseitig ist, sondern immer einen gegenseitigen Prozess darstellt (Tuttle, Knudson-Martin u. Kim, 2012). Auch können, je nach Veranlagung des Kindes, unterschiedliche Arten von Autorität sinnvoll sein (→ zu kulturellen Unterschieden bezüglich des Elternverhaltens siehe auch die Beiträge von Heidi Keller, Hiltrud Otto und Jörn Borke in diesem Band). So wird ein Kind mit einer Tendenz zum Risiko (Byrnes, Miller u. Schafer, 1999) eine ganz andere Form elterlicher Aufsicht brauchen als ein Kind mit einem ängstlichen Temperament (Perez-Edgar u. Fox, 2005). Ein schlechtes Zusammenspiel zwischen dem Beaufsichtigen der Eltern und einer Orientierung an den Bedürfnissen des Kindes (z. B. wenn ein Elternteil bei einem ängstlichen Kind zu einer übermäßigen Überwachung neigt), kann die Probleme verschärfen, statt sie zu mildern (Omer u. Lebowitz, 2012).

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Die Wechselseitigkeit von Autorität innerhalb von Beziehungen schließt jedoch einseitige Interventionen, wie Patterson (1982) sie vorschlägt, nicht aus. Sein klassisches Modell von zwanghaften Interaktionen ist zirkulär, aber die Interventionen, die daraus entwickelt wurden, sind von den Eltern initiiert. Die Eltern unternehmen demnach zu Beginn einseitige Schritte, diese verändern aber nicht nur das Verhalten des Kindes, sondern haben Einfluss auf den gesamten interaktiven Zyklus. So reduzieren sie die Anzahl der Machtkämpfe deutlich und die negativen Emotionen gehen als Ergebnis unserer Intervention zurück (z. B. Levavi, 2010). Wie bereits erwähnt, wird das hier vorgestellte Programm mit entsprechenden Anpassungen für die Arbeit mit Eltern mit verschiedenen sozialen, ethnischen und religiösen Hintergründen verwendet. So arbeiten wir mit Eltern, die ein sehr traditionelles Konzept von Autorität vertreten, anders als mit Eltern, die jede Lösung durch einen Dialog erreichen wollen. Das Bild des Ankers ist dabei relevant für beide Elterngruppen (→ zu kulturvergleichenden Überlegungen siehe auch den Beitrag von Jörn Borke in diesem Band). Mit eher traditionellen Eltern sollte der Therapeut an deren Stärkung arbeiten; nicht im Sinne von Wucht, sondern im Sinne eines Ankers, der durch Ausdauer, Beharrlichkeit und Unterstützung gekennzeichnet ist. Sie können verstehen lernen, dass in der Gesellschaft, in der sie jetzt leben, die Form von Macht, die sie in ihrer ursprünglichen Gesellschaft gewöhnlich ausüben, nahezu zwangsläufig Widerstand hervorruft. Diese Eltern sind in der Regel offen für Argumente, die sie auf die Gefahren hinweisen, die sich ergeben, wenn sie die Kontrolle verlieren und körperliche Strafen einsetzen. Im Gegensatz dazu ist die Stärke, die sie in der Beratung angeboten bekommen, nicht nur dazu geeignet, den verlorenen Respekt wieder einzuführen, sondern sie bietet ihnen auch Möglichkeiten des gewaltlosen Widerstands und der Unterstützung und ein Netzwerk an. Bei liberal gesinnten Eltern, die den Dialog als ein Allheilmittel für alle Krankheiten ansehen, sollte der Therapeut betonen, dass es familiäre Diskussionsstrukturen gibt, die nicht nur unproduktiv sind, sondern das Problem verfestigen können (z. B. endlose Auseinandersetzungen mit dem Kind über seine Rechte nach unbegrenzter Privatsphäre). Diese Eltern können gefragt werden, ob ihr Kind dazu neigt, jedes Thema in eine nie enden wollende Diskussion ausarten zu lassen. Sie können dabei unterstützt werden zu verstehen, dass das Beenden einer fruchtlosen Argumentation wie ein Anker sein kann, der ein driftendes Schiff befestigt. Eltern aus verschiedenen kulturellen Kontexten unterscheiden sich oft auch in den Möglichkeiten, Unterstützung rekrutieren können. Zum Beispiel werden orthodoxe Juden unter keinen Umständen zustimmen, eine Unterstützergruppe

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zusammenzustellen, die nicht aus der unmittelbaren Familie kommt. Denn dadurch würden für ihre Kinder Nachteile bei den Heiratsaussichten entstehen. Angesichts der Tatsache, dass orthodoxe jüdische Familien in der Regel recht groß sind, gibt es durch diese Einschränkung allerdings selten Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Unterstützern. Die Erfahrungen aus der Anwendung des hier vorgestellten Ansatzes zeigen, dass für Familien mit Migrationshintergrund vor allem zwei Formen von Unterstützernetzwerken besonders ansprechend sind: Mitglieder der eigenen ethnischen Gruppe (oft aus ihrer Nachbarschaft) oder Familienangehörige, die im Herkunftsland der Familie leben (die oft ausgezeichnete Telefonunterstützer sind). Ein besonderes Problem stellen extrem isolierte alleinerziehende Eltern dar, bei denen oft ein geduldiger Prozess der Suche notwendig ist, um Unterstützer, zum Beispiel aus dem Schulkontext oder einige Verwandte und vielleicht ein oder zwei Freunde, zu rekrutieren. Für solche Eltern kann auch eine kleine Gruppe »Gleichgesinnter« zur gegenseitigen Unterstützung von Nutzen sein. Die vermutlich eigentümlichste Unterstützergruppe, die wir je rekrutiert haben, war mit einer sizilianischen Familie, die vermutlich Kontakte zur Mafia hatte und deshalb gezwungen war, nach Deutschland auszuwandern, da das Leben des Vaters unmittelbar bedroht war. Der sechsjährige Junge dieser Familie war im Kindergarten so massiv gewalttätig, dass die Eltern Angst um ihr Asyl in Deutschland hatten. In Ermangelung einer Unterstützergruppe vor Ort wurden die Verwandten mit Mafiakontakten gebeten, das Kind täglich abwechselnd anzurufen und ihm zu sagen, dass er die Ehre der Familie beschmutze, wenn er deutsche Kinder schlage. Sie teilten ihm auch mit, dass das natürlich anders sei, wenn er zum Urlaub nach Sizilien käme. Kulturelle Sensibilität ist ein entscheidendes Erfordernis bei jeder Form des Elterncoachings, besonders wenn man mit dem Modell der Ankerfunktion arbeitet. Eltern können sich nicht verankert fühlen, wenn sie mit einem Modell arbeiten sollen, das nicht zu ihren eigenen kulturellen Wurzeln passt. Allerdings gibt es bisher nur sehr wenige forschungsbasierte Versuche einer konsequent kultursensitiven Anwendung solcher Interventionen bei der Arbeit mit Eltern aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten (→ siehe hierzu auch den Beitrag von Jörn Borke in diesem Band). Tatsächlich zeigt die Arbeit von Cardona und Kollegen (2012), dass dies einen erheblichen adaptiven Aufwand erfordert. Beispielsweise kann die Bedeutung und Ausgestaltung des autoritären sowie des autoritativen Erziehungsstils in nichtwestlichen Kulturkreisen sehr unterschiedlich wirken und bewertet werden. Wie Chao (1994) zeigen konnte, werden dieselben erzieherischen Praktiken, die von amerikanischen Eltern als autoritär betrachtet und eher abge-

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lehnt werden, von chinesischen Eltern eher als positiv im Sinne eines Trainings gewertet. Allerdings macht Chao auch deutlich, dass, obwohl es sich um ein Training handelt, eine chinesische Mutter sehr präsent ist und dem Kind persönliche Nähe geben kann. Damit ist ihre Autorität etwas ganz anderes als der Drill eines Feldwebel. Daher würden wir diese Mischung aus Nähe gepaart mit hohen Erwartungen und Anforderungen als eine chinesische Version von Verankerung interpretieren. Das Konzept der Ankerfunktion und die damit zusammenhängende Form von elterlicher Präsenz ermöglicht den Ausdruck von Autorität, ohne dabei die elterliche Wärme und Sensibilität, die in der Regel zu einer stabilen und sicheren Eltern-Kind-Bindung gehören, außer Acht zu lassen. Man kann nicht erwarten, dass elterliche Liebe unter rauen Entwicklungsstürmen und ohne einen gut verwurzelten Stamm wachsen kann. Eltern sollten sowohl stark als auch sensibel sein, damit eine verlässliche Bindung gedeihen kann.

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Arist von Schlippe

Die Konstruktion von Feindbildern: Eine paradoxe »Anleitung« »Welches Muster verbindet den Krebs mit dem Hummer und die Orchidee mit der Primel und all diese vier mit mir? […] Welches ist das Muster, das alle Lebewesen verbindet?« (Bateson, 1984, S. 15 f.)

Kurze Geschichte einer Eskalation Nennen wir sie einmal Martin und Manfred, die beiden Brüder, die vor vielen Jahren gemeinsam Erben des väterlichen Unternehmens wurden. Der Vater hatte das Unternehmen gegründet. Er starb nach kurzer schwerer Krankheit, als die beiden gerade in der Endphase des Studiums steckten. Noch mit dem Vater gemeinsam war entschieden worden, dass Martin, der ältere Bruder und im Abschluss seines Ökonomiestudiums begriffen, in der Unternehmensführung tätig werden würde, während der drei Jahre jüngere Manfred sein Architekturstudium abschließen wollte und mit einer fünfzigprozentigen Anteilseignerschaft ohne Funktion zufrieden war. Bis zum Tod der Mutter, die im Aufsichtsgremium des Unternehmens gesessen hatte und es, ohne groß aktiv zu werden, immer wieder geschafft hatte, dass die beiden recht gegensätzlichen Brüder ihre Konflikte friedlich beilegten, liefen die Dinge gut. Das Unternehmen entwickelte sich circa dreißig Jahre lang in kontinuierlichem Wachstum wunderbar. Kurz nach dem Tod der Mutter jedoch brach ein heftiger Konflikt auf, der so stark eskalierte, dass beide nur noch schreiend miteinander redeten und Entscheidungen entweder gar nicht oder nur nach zähen Dauerkämpfen getroffen wurden. Langjährige Mitglieder hatten entnervt den Beirat verlassen, auch die Belegschaft war massiv irritiert. In dieser Situation suchten die Brüder nun externe Beratung. –– Im Gespräch wurden sie damit konfrontiert, dass, wenn sie so weitermachten, das Unternehmen erkennbar gefährdet sei. Die Antwort von Manfred war daraufhin: »Na und? Dann haben wir eben beide nichts mehr, dann ist endlich Gerechtigkeit da!« –– Im späteren Einzelgespräch sagte der eine zum Berater: »Gut, dass Sie Psychologe sind, Sie haben ja sicher sofort gesehen, dass mein Bruder eine schwere psychische Krankheit hat!«

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–– In einem weiteren, sich anschließenden Einzelgespräch sagt der andere: »Wissen Sie, mein Bruder ist ein Verbrecher. Und wie jeder geschickte Verbrecher weiß er, wie er seine Geschichte darstellen muss. Lassen Sie sich bloß nicht von ihm einwickeln!« Da ist ja ordentlich was los! Offenbar stecken beide in einer hoch eskalierten Zwickmühle, aus der sie kaum aus eigener Kraft hinausfinden dürften. Diese Zwickmühle hat erkennbar damit zu tun, wie sie sich die Situation und den jeweils anderen beschreiben. Die wechselseitigen Beschreibungen des jeweils anderen scheinen nur noch die Möglichkeiten zuzulassen, dass der jeweils andere entweder »dumm, krank oder böse« ist. Aber was ist da genau los? Es lohnt sich, diese Dynamiken genauer anzuschauen.

Dämonisierung – Grundlage für Feindbilder Beide sind ganz offenbar Gefangene einer Dynamik, die sich bereits verselbständigt hat und die sie nicht mehr (zumindest nicht mehr ganz) steuern können. Die Eskalation hat einen Punkt erreicht, an dem einer der beiden bereit ist, den eigenen finanziellen Untergang in Kauf zu nehmen, nur um dem anderen zu schaden – »dann haben wir eben beide nichts mehr«, um ein abstraktes Bild von Ausgeglichenheit zu gewährleisten: »Dann ist endlich Gerechtigkeit da!« Die Situation scheint in einem Grad eskaliert, die bei Glasl (1994) als Stadium »Gemeinsam in den Abgrund« charakterisiert ist, das letzte Stadium eines hoch eskalierten und chronifizierten Konflikts, der die Wahrnehmung in einer besonderen Weise verzerrt und einengt. Es ist nicht einmal denkbar, dass man selbst gewinnt, man will nur noch verhindern, dass der andere einen Vorteil hat, um jeden Preis. In einem solchen Stadium hat sich das Denken der Beteiligten verändert, sie sind nicht mehr in der Lage, den Hintergrund des jeweils anderen nachzuvollziehen. Es entsteht »eine Art von progressiver Versklavung und Verrückung des gesamten Fühlens, Denkens und Verhaltens, die meist nicht sprunghaft, sondern im Gegenteil monate-, jahre- oder gar jahrzehntelang kontinuierlich voranschreitet« (Ciompi, 2005, S. 213). Zwischen den Kontrahenten sind so im Laufe der Zeit »dämonisierte Zonen« entstanden, hoch eskalierte Konflikträume, in denen andere Wahrnehmungsformen und andere Formen der Affektregulierung gelten als in gewöhnlichen Interaktionen (Glasl, 1994). Ein wichtiger Bestandteil solcher negativer Eskalationsspiralen ist die Dämonisierung des Gegenübers. Wenn Menschen an einem solchen Punkt den ande-

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ren nicht verstehen können, wählen sie meist eine von drei Möglichkeiten, sich das Verhalten des jeweils anderen zu erklären: Der andere ist »dumm«, »krank« oder »böse«. »Dumm« stand als Erklärung in diesem Fall, bei zwei gestandenen Männern, die ihr Leben – außerhalb des Konflikts – gut meisterten, nicht zur Verfügung. Also blieben nur die Beschreibungen »krank« bzw. »böse« – und sie nutzten genau diese im Gespräch mit dem Berater. Ohne dass es ihnen bewusst wurde, verfestigten sie genau damit einen Teufelskreis, in dem sie selbst steckten. Die Dämonisierung, also die zunehmend negativ-feindliche bis gar »unheimliche« Beschreibung des anderen, setzt nämlich eine verhängnisvolle Spirale in Gang. Ohne dass sie sich dessen bewusst sind, stellen die Kontrahenten mit ihren Beschreibungen die Bedingungen dafür her, dass der jeweils andere so »wird«, wie man ihn sich beschreibt. Im Lichte einer narrativen Theorie entsteht soziale Wirklichkeit im Erzählen – und das ist weniger »leicht und locker«, als das Wort »Erzählen« das an dieser Stelle nahelegt: Eine narrativ konstruierte Wirklichkeit kann sehr hart sein, sie kann zum Gefängnis werden, vor allem, weil man sich selbst nicht bewusst ist, wie man dieses Gefängnis mitbaut. Es sind die Beschreibungen, die wir verwenden, die dazu beitragen, dass genau die Wirklichkeit entsteht, die man beschreibt: Beschreibungen geben nicht einfach die Wirklichkeit wieder, sie greifen in die Wirklichkeit ein und verwandeln sie. Mit diesem Aspekt, der sozialen Erzeugung unserer sozialen Welt, hat sich in der Gegenwartsliteratur vor allem Max Frisch beschäftigt. Zahlreiche seiner Romane behandeln genau diesen Aspekt, wie nämlich ein Mensch über die Weise, wie er beschrieben wird, genau zu dem wird, als der er (oder sie) beschrieben wird: »In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die anderen in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und um­gekehrt. Auch wir sind die Verfasser der anderen; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwort­ lich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage. Wir sind es, die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bemüht, im Wege stehen, und zwar dadurch, dass unsere Meinung, er sei erstarrt, ein weiteres Glied in jener Kette ist, die fesselt und langsam erwürgt. Wir wünschen ihm so, dass er sich wandle, o ja, wir wünschen es ganzen Völkern! Aber darum sind wir noch lange nicht bereit, unsere Vorstellung von ihnen aufzugeben. Wir selber sind die letzten, die sie verwandeln. Wir halten uns für den Spiegel und ahnen nur selten, wie sehr der andere seinerseits eben Spiegel unseres erstarrten Menschenbildes ist, unser Erzeugnis, unser Opfer« (Frisch, 1964, S. 33 f.).

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Fünf Rahmenbedingungen für die Entstehung dämonischer Narrative Verletztes Gerechtigkeitsempfinden Der Ausgangspunkt tief greifender Beziehungskonflikte1 liegt oft in einem tief empfundenen Gefühl von Ungerechtigkeit. Eine sogenannte »normative Erwartung«, also eine Vorstellung davon, wie der andere sich eigentlich »gerechterweise« verhalten sollte, wird enttäuscht. Man sieht sich dem, was der andere tut, hilflos gegenüber. Erkennbar wird die Intensität des verletzten Gerechtigkeitsgefühls an der Stärke der Empörung (Montada, 2011). Die Empörung ist ein sehr wichtiges Gefühl für das Verständnis von Konflikten, denn sie ist der Beginn der Dämonisierung. Das, was der andere tut, wird mit heftigen Begleitemotionen als ungerecht, unfair, kränkend oder gar als Verrat erlebt. Daraus ergibt sich eine besondere »Affektlogik« der Gefühle: Wer sich ohnmächtig und hilflos fühlt, neigt dazu, die Welt in stark affektiv gefärbten Unterscheidungen zu beschreiben wie: »gut–böse«, »Freund–Feind«, »wir gegen die«, »entweder– oder« (Ciompi, 2005). Diese Beschreibungen helfen, sich weniger hilflos zu fühlen: Man sieht klar(er), wo der »Gute« und wo der »Böse« steht, in naturgeschichtlicher Hinsicht hat dies sicher auch geholfen, Kampfbereitschaft zu mobilisieren. Es kann sogar stören, wenn man den anderen differenziert zwischen »schwarz« und »weiß« wahrnimmt, wenn es darum geht, alle Energie für den Kampf gegen den anderen in sich zu versammeln. Doch in einer Zeit, in der man sich nicht mehr totschlägt (nur sehr selten jedenfalls), sind solche Muster Einstieg und zugleich Verschärfung der Eskalationsspirale. Ein weiterer Aspekt des Themas »Gerechtigkeit« ist das subjektive Gefühl der absoluten »Richtigkeit« der eigenen Gerechtigkeitslogik. Dies ist besonders in Konflikten innerhalb der Familie von Bedeutung, denn in Familien gelten sehr individuelle, unterschiedliche Verrechnungssysteme. Das, was jeweils als »gerecht« oder »ungerecht« erlebt wird, unterscheidet sich bei einzelnen Familienmitgliedern erheblich (Stierlin, 2005). Hinsichtlich vieler Aspekte führen Mitglieder eines sozialen Systems so etwas wie ein »Gerechtigkeitshauptbuch« in dem das Bewusstsein von Fairness und Angemessenheit »verzeichnet« ist, was 1

In der Literatur wird vielfach unterschieden zwischen Sachkonflikten, Prozesskonflikten und Beziehungskonflikten. Erstere können zum Beispiel im Kontext von Organisationen wichtig und positiv sein, nur wenn sie in emotionale, in Beziehungskonflikte umschlagen, sind sie kritisch zu sehen (z. B. Kellermanns u. von Schlippe, 2012). Diese Differenzierung wird hier nicht weiter beachtet, der Text befasst sich, wenn nicht anders vermerkt, mit den emotionalen Beziehungskonflikten.

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etwa eigene und fremde Leistungen, Verdienste usw. angeht. In diesem »inneren Konto« schätzen Menschen sich selbst im Vergleich zu den ihnen Nahestehenden ein. Da man dabei aber erfahrungsgemäß regelmäßig einen systematischen Fehler begeht, nämlich die eigene Leistung positiv überzubewerten (Bruner, 1997), sind Konflikte und Gefühle der Empörung besonders in Familien häufig zu erwarten. Wahrnehmungsfehler Auf diesem Gefühl von »gerechter Empörung«, die man erlebt, setzen nun zwei in der Psychologie als »Wahrnehmungsfehler« bekannte Phänomene auf, der »fundamentale« und der »feindselige« Wahrnehmungsfehler. Aus konstruktivistischer Sicht klingt das Wort »Fehler« nicht passend, setzt es doch die Möglichkeit einer richtigen, »wahren« Wahrnehmung voraus. Wir wissen aber heute, dass eine voraussetzungsfreie Wahrnehmung nicht denkbar ist: »viel (muss) in der Sprache vorbereitet sein […], damit das […] Benennen einen Sinn hat« (Wittgenstein, 1996, S. 173). Doch gerade weil das so ist, ist es bedeutsam, sich die Prämissen der eigenen Wirklichkeitskonstruktion genau bewusst zu machen und sich zu fragen, was für eine Art von Wirklichkeit über die eigenen Beschreibungen mit erzeugt wird. Die hier als »Fehler« beschriebenen Formen der Beschreibung haben eines gemeinsam: Sie betäuben das Bewusstsein für den eigenen blinden Fleck. Der eigene Anteil am Konfliktgeschehen wird ausgeblendet, die Verantwortung dafür ganz in die Hand des anderen gelegt. Die Funktion einer solchen Art, die Welt zu beschreiben, so hat Bruner (1997) sehr deutlich gemacht, liegt darin, dass wir uns und anderen am liebsten solche Geschichten erzählen, in denen wir selbst als Erzähler im »weißen Kleid« dastehen, unschuldig und gerechtfertigt. Wenn wir von der Idee, dass über Geschichten »wahre Sachverhalte« berichtet werden, wegkommen, landen wir eher bei der Frage danach, welche Art von Beschreibung eine Person mit einer Geschichte vornimmt, wie sie sich in dieser Geschichte selbst positioniert und welche Bedeutung dieser Geschichte im alltäglichen Leben des Betreffenden zukommt. Der fundamentale Wahrnehmungsfehler: Dieser »Fehler« (ich behalte trotz der beschriebenen Skepsis den Begriff hier bei) liegt in einer besonderen Tendenz, die Ursachen für das eigene und das fremde Verhalten zuzuschreiben. Eine fehlerhafte Einordnung der eigenen Wahrnehmung liegt dann vor, wenn das eigene Verhalten jeweils aus der Situation heraus erklärt wird (»Ich konnte nicht anders!«), das des anderen aber aus spezifischen (negativen) Eigenschaften erklärt wird. Man selbst »musste sich wehren«, während der andere in seinem Verhalten sein

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»wahres Gesicht« gezeigt hat: Er/sie ist »dumm, krank oder böse«! Diese Tendenz, eine Situation zu beschreiben, ist vielfach in Hunderten von Untersuchungen bestätigt worden, sie findet sich universell in allen Kulturen (z. B. Jones et al., 1971; Hamilton, 1998). Denn Kausalität wird in der Regel linear erlebt, entsprechend ist der andere die Quelle des Unglücks. Erst aus der Distanz ist ein solcher Mechanismus erkennbar, doch diese Distanz ist umso weniger gegeben, je mehr man im Konfliktgeschehen involviert ist, je mehr man unter Stress steht. Man geht im Konflikt wie automatisch von sich selbst als Bezugspunkt aus, spürt die eigene Gekränktheit und beinahe »naturgegeben« erscheint der andere als Täter, als Verletzer, gegen den man sich wehren muss – manchmal mit härtesten Mitteln (»Das ist die einzige Sprache, die er versteht!«; Omer, Alon u. von Schlippe, 2007). Die Tragik dieses Mechanismus, der vielleicht entwicklungsgeschichtlich auch dazu diente, die Energien für einen Angriff auf den Gegner zu mobilisieren, liegt darin, dass beide Kontrahenten sich die Situation sozusagen »spiegelverkehrt« beschreiben. In den Nachrichten kann man manchmal nicht unterscheiden, welche der beiden Konfliktparteien gerade einen Ausspruch sagt wie: »Mit dem jüngsten Angriff hat die andere Seite nun endgültig gezeigt, dass sie nicht an einer friedlichen Lösung interessiert ist! Uns bleibt nichts anderes übrig, als in aller Härte zurückzuschlagen!« So führt dieser Mechanismus die Kontrahenten in die Konflikteskalation hinein, die eigenen Verhaltensweisen, wie hart und grausam sie auch sein mögen, werden gerechtfertigt, die der anderen Seite jeweils auf dem Negativkonto aufsummiert. Der Prozess der wechselseitigen Eskalation erscheint für beide Seiten als ein einseitiger: »Sie sind es, die eskalieren, wir reagieren ja nur!« Der feindselige Wahrnehmungsfehler: Der »feindselige Wahrnehmungsfehler« besteht darin, dass jedes Kommunikationsangebot des anderen, auch ein neutrales oder sogar positives, negativ interpretiert wird. Dieser Mechanismus wurde anfangs bei hochaggressiven Kindern nachgewiesen: Diese reagierten auch auf freundliche Interaktionsangebote einer Lehrperson feindselig (Dodge, 1993; zit. nach Omer, Alon u. von Schlippe, 2007). Offenbar schafft eine Situation wechselseitigen Misstrauens ein Klima, in dem dieses Misstrauen sich ständig selbst ernährt: Wer überzeugt ist, dass der andere ihm übel will, wird sich entsprechend feindselig verhalten, sogar dann, wenn das Beziehungsangebot des anderen eigentlich freundlich gemeint ist. Das ist besonders tragisch, denn so werden die in jedem Konflikt vorkommenden Momente, in denen die eine Seite versöhnungsbereiter ist und entsprechende vorsichtige Sondierungen vornimmt, nicht als solche wahrgenommen. Im Gegenteil, entsprechende Angebote werden

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möglicherweise sogar höhnisch abgelehnt (»Jetzt versuchen Sie es auf die sanfte Tour, aber nicht mit mir!«). Die Gegenseite reagiert dann natürlich besonders gekränkt und reagiert möglicherweise mit einem Eskalationsschritt (der dann das Wahrnehmungsmuster bestätigt: »Ich wusste doch, es war nur gespielt, jetzt zeigen Sie Ihr wahres Gesicht!«). Während das erste beschriebene Muster in den Konflikt hineinführt, verhindert das zweite, dass man aus dem Konflikt wieder herauskommt: Der kleinste Ansatz einer positiven Entwicklung wird negativ umgedeutet. Zwei kleine Beispielgeschichten hierzu: Nachdem wir mit einem Elternpaar über dieses Muster gesprochen hatten, traten einer Mutter Tränen in die Augen. Sie verstand einen Ablauf in ihrer Familie. Nach einem heftigen Streit mit dem halbwüchsigen Sohn hatte der am Sonntagmorgen den Frühstückstisch gedeckt. Sie hatte darauf reagiert mit dem Satz: »Was soll das denn jetzt? Damit brauchst du jetzt auch nicht mehr zu kommen!« Der Sohn war heulend vor Wut in sein Zimmer verschwunden, für den Rest des Tages gab es keine Möglichkeit mehr, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Jetzt wurde ihr bewusst, dass sie einen Ansatzpunkt für die Wandlung der Dynamik ins Versöhnliche verpasst hatte. Im Einzelgespräch mit einem der beiden Brüder aus dem Anfangsbeispiel berichtete der Ältere empört, dass sein Bruder ihn zu seinem 60. Geburtstag eingeladen habe: »Stellen Sie sich diese Frechheit vor! Er will mich verhöhnen!« Es dauerte lange, mit ihm zu überlegen, dass falls der Bruder es wirklich ehrlich gemeint habe, er angesichts einer solchen Reaktion keine Chance haben würde. Schließlich bedankte er sich freundlich bei seinem Bruder, der darüber sichtlich erfreut war.

Wenn man im »Griff« des feindseligen Wahrnehmungsfehlers steckt, ist alle Kommunikation negativ, das Gegenüber hat keine Chance mehr für einen kon­ struktiven Schritt. Die Tragik dieses Fehlers liegt darin, dass sie sich ihre selbsterfüllenden Prophezeiungen erschafft: Ein abgewiesenes versöhnliches Angebot verwandelt sich schnell in Kränkung. Und der Gekränkte wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nun seinerseits eskalieren (»Ich kann auch anders!«). Es braucht ein hohes Maß an Bewusstheit und Fähigkeit, solche Mechanismen zu erkennen und eben nicht wieder beleidigt zu reagieren. Nur dann kann man das Einzige tun, was in einem solchen Moment hilfreich ist, nämlich auf ein abgewiesenes Versöhnungsangebot ein weiteres folgen zu lassen. Dieses kann dann – vielleicht – den feindseligen Wahrnehmungsfehler unterlaufen. Denn

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erst wenn der andere nicht mehr anders kann, als das Angebot als freundlich wahrzunehmen, wird er seine feindselige Wahrnehmung verändern. Der Konflikt als Parasit Wenn die symmetrische Eskalation erst einmal ihre Eigendynamik entwickelt hat, entgleitet diese zunehmend der Kontrolle der beiden Seiten. Diese Dynamik hat Niklas Luhmann beschrieben. Er bezeichnet einen Konflikt als »parasitäres Sozialsystem«, gekennzeichnet durch die Tendenz, sich in soziale Systeme hineinzusetzen und sich von diesen zu »nähren« (1984, S. 531 f.): Alles Handeln wird im Lichte des Konflikts gesehen. Der »Parasit« greift dabei um sich. Eine an sich harmlose Interaktion (»Reichst du mir mal das Salz?«) kann dann, wenn die Gegnerschaft sich erst einmal verhärtet hat, von diesem besetzt werden (»Hol’s dir doch selbst!«). So greift die Dynamik immer weiter in die Beziehungen ein, setzt sich sozusagen im Kommunikationssystem fest und wirkt damit auf Dauer zerstörerisch. Ciompi spricht in diesem Zusammenhang von einer Art »psychischem Krebs« (2005, S. 214), weil die Wirkung auf psychische Zusammenhänge ähnlich zerstörerisch ist wie bei dieser Krankheit. Es ist gar nicht so selten, dass die Beziehungen in konflikthaften Sozialsystemen so massiv korrumpiert sind, dass nicht einmal mehr elementare Formen des höflichen Umgangs miteinander eingehalten werden: Man grüßt oder verabschiedet sich nicht mehr, hält sich nicht die Tür auf usw.2 Aus solchen Eskalationssituationen findet man zumeist allein keinen Ausweg mehr. Nicht selten merken die Konfliktparteien selbst, dass sie in dem Muster gefangen sind. »Konflikte üben auf die meisten Menschen eine Wirkung aus wie ein Fluss im Gebirge: Wir geraten in einen Strudel der Konfliktereignisse und merken plötzlich, wie uns eine Macht mitzureißen droht« (Glasl, 1994, S. 34). In Paartherapien gibt es immer wieder einmal die Auftragsform: »Bitte helfen Sie uns da heraus!«

2 Eine wichtige Konfrontation seitens eines Konfliktberaters kann hier darin bestehen, dieses Muster zu Beginn einer gemeinsamen Beratung zu konfrontieren: »Unter diesen Bedingungen arbeite ich nicht mit Ihnen! Wenn Ihre Beziehungen so weit zerstört sind, kann man als Berater nichts mehr machen! Sollten Sie sich entscheiden, elementare Höflichkeitsformen wieder einzuführen, wäre ich bereit, es mir noch einmal zu überlegen!«

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Abbildung 1: Der Konflikt als Parasit

Zerrüttung der Beziehung Das Bild des Konflikts als »Parasiten« verweist darauf, dass er sich fortschreitend ausbreiten kann. Letztlich besteht die Gefahr, dass er so die Beziehungen korrumpiert. Der amerikanische Paartherapeut John Gottman beschreibt vier »Apokalyptische Reiter«, die – ähnlich wie sie in der Bibel die Endzeit ankündigten – die zunehmende Zerstörung der Beziehung anzeigen. Prägnant ist dabei seine Aussage, dass er in 96 Prozent der Fälle vorhersagen könne, ob ein ehelicher Konflikt lösbar sei, nachdem er nur drei Minuten einem Streit der Partner zugehört habe (2002, S. 57). Denn die »Reiter« zeigen sich in einer angespannten Konfliktsituation kontinuierlich mehr oder weniger stark. Gottman unterscheidet die folgenden vier: –– Hemmungslose Kritik (»Du«-Sätze): Sie äußert sich in Schuldzuweisungen und Anklagen. –– Abwehr: Sie zeichnet sich durch Rechtfertigung mit Leugnung eigener Anteile und Gegenkritik aus. –– Verachtung: Der Respekt voreinander ist verloren gegangen, Sarkasmus und Zynismus stehen im Vordergrund, in der Kommunikation an nonverbalen Zeichen erkennbar wie Augenrollen, lautem Stöhnen bei Aussagen des ande-

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ren usw. Dieser »Reiter« wird von Gottman als der gefährlichste bezeichnet, paradoxerweise zeigt er sich in einem Nachlassen der Konfliktintensität und Lautstärke: Man ist sich egal, redet einfach nicht mehr miteinander. –– Abblocken: Dieser »Reiter« zeigt sich körperlich in Abwendung, in der Kommunikation, in Schweigen, Versteinern, »Dichtmachen«, sodass der andere »gegen die Wand« redet. Vorsicht vor übertriebenem therapeutischem Optimismus ist hier angezeigt. Selbst wenn man die Mechanismen im Nachhinein versteht, ist es oft zu spät: Es kann sein, dass es kein Zurück zu einer freundlichen Beziehung mehr gibt, weil die Verletzungen so tief sind. Manchmal kann es nur darum gehen, mit dem eigenen Groll umzugehen und zu verhindern, dass er zu einer »Allergie« gegen den anderen wird, die dann keine Kooperation mehr möglich macht. Die Prämissen: Dangerous ideas Paradoxerweise müssen sich zwei Parteien in einer ganzen Reihe von Fragen »einig« sein, um einen Konflikt in die Höhe zu treiben. Sie können dann sogar auf eine perverse Weise kooperieren, wie das Beispiel eines Duells im 19. Jahrhundert zeigt. Wenn das Duell einmal abgesprochen ist, sind beide bestrebt, dem jeweils anderen das Leben zu nehmen, doch man wahrt die äußere Form: »Sie haben die Wahl der Waffen!« – »Ich schlage den folgenden Ort vor!« – »Ich wähle xy als Sekundanten!« Die Kooperation folgt einem stereotypen Muster, da die Prämissen dieser tödlichen Interaktionsform geteilt werden: Da gab es eine Beleidigung, eine Provokation, beide sind sich einig, dass diese nur durch Blut »abgewaschen« werden kann. Es geht um die Ehre und die fordert den totalen Sieg von einem und die totale Niederlage des anderen. Einen Kompromiss kann es nicht geben. All diese Sätze würden von beiden Seiten unbedingt mit einem »ja« beantwortet. Und nur deshalb sind sie beide bereit, das perverse Ritual des Duells auf die Spitze zu treiben. In heutigen hoch eskalierten Konflikten finden wir auf eine ähnliche Weise Gedanken, die die Eskalation fördern. Wir erfahren ein beinahe unausweichliches Ineinandergreifen der Selbstorganisationsdynamik des »Parasiten Konflikt«, den beschriebenen Wahrnehmungsfehlern und gefährlichen, »automatisierten« Gedanken, die scheinbar »wie von selbst« entstehen und die so selbstverständlich sind, dass ihre Infragestellung oft heftigen Protest mit sich bringt. Ein solcher »eskalativer Mindset« besteht aus sehr engen affektlogischen Verknüpfungen. Die Gefühle sind dann die »entscheidenden Energielieferanten« der Gedanken (Ciompi, 2005, S. 95). Die intensiv erlebten Gefühle (Ciompi, 2005) verbinden

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sich mit gedanklichen Mustern wie den im Folgenden beschriebenen (siehe auch Eidelson u. Eidelson, 2003; Omer, Alon u. von Schlippe, 2007). Zugleich befeuern diese Gedanken ihrerseits wieder die Gefühle, ein potenziell gefährlicher Kreislauf. Ein wesentliches Moment dabei ist die Kontextvergessenheit: Der Beziehungskonflikt gleitet zunehmend ins Persönliche ab. Das Bewusstsein für die Komplexität der Gesamtsituation, in der man gemeinsam mit dem Konfliktpartner feststeckt, geht verloren, zunehmend werden »personenbezogene Zurechnungen« vorgenommen: »Der/die ist das Problem! Wenn er/sie sich nur anders verhielte, wäre alles gut, aber er/sie will ja nicht.« Persönliche Angriffe und Attacken nehmen zu, das Denken wird zunehmend getrübt. »Totales Denken«: Eine immer wieder beschriebene Dynamik des Denkens in Konflikten ist der Verlust an Differenzierung. Die Affektlogik der Eskalation entspricht der Nullsummenlogik in der Spieltheorie: Es kann nur ein Ergebnis geben: Verlieren oder Gewinnen, »Ich oder du!«, »Wir oder sie!« Die Lösung eines Konflikts kann nur in der Kapitulation des anderen bestehen und dem gleichzeitigen Anerkennen des eigenen Sieges. Einer muss gewinnen als Voraussetzung für ein positives Ende. Es ist das Denken in einer Logik des Duells, die Tragik liegt in seiner Totalität, die dauernde Kontrolle erfordert: Der Sieg muss ein für alle Mal unzweifelhaft sein, es braucht die bedingungslose Kapitulation. Die Gefahr bei Fortschreiten des Konflikts liegt darin, dass dieses Denken sich zunehmend von außen abschottet, es entwickelt sich ein »neues, in sich operational geschlossenes affektiv-kognitives […] Bezugssystem« (Ciompi, 2005, S. 215). Es zentriert sich um »entweder–oder« und neigt zu einer entsprechend selektiven und vergröberten Wahrnehmung, die mit »monolithischen Beschreibungen« einhergeht: Der andere ist »ganz und gar« negativ, schlecht usw. Essenzielle Asymmetrie: Die Idee, dass der andere grundsätzlich schlecht (»dumm, krank oder böse«) sei, während man selbst aus guten Motiven heraus handelt, findet sich bereits im beschriebenen fundamentalen Wahrnehmungsfehler. Das eigene Verhalten wird jeweils als berechtigt beschrieben und man erlebt sich – vielleicht sogar unter Bedauern – gezwungen, auf das Verhalten des anderen auf härteste Weise zu reagieren (»Er versteht es nicht anders!«). Die Wahrnehmung ist auf systematische Weise selektiv, die positiven Bemühungen des anderen werden entweder nicht wahrgenommen oder als Manipulation abgetan (wieder begegnet uns hier der »feindselige Wahrnehmungsfehler«). Entsprechend wird die ganze Schuld an Eskalationen beim anderen gesehen, der eigene Beitrag zur Eskalation wird nicht wahrgenommen. Gestützt wird dieses Muster durch eine besondere Tradition von Geschichten. »Opfernarrationen«, die vielleicht

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sogar über Generationen weitergegeben werden (etwa in manchen Familienunternehmenskonflikten oder auch bei internationalen lang ungelösten Spannungen), untermauern dieses Gedankenmuster. Wie Ciompi schreibt, wirken Gefühle wie »Schleusen«, die den Zugang zu unterschiedlichen Gedächtnisinhalten öffnen oder schließen können (2005, S. 97). So sorgen die besonderen Geschichten über Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit der anderen Seite dafür, dass die Aufmerksamkeit kontinuierlich auf den anderen gerichtet wird. So bestätigt sich eine negative Sicht kontinuierlich selbst. Besonders tragisch ist dieses Muster, wenn es in Form von Geschichten in Familien weitergegeben wird. Wann immer ein Mensch – und insbesondere ein Kind – eine Geschichte von Ungerechtigkeit oder Verletzung hört, die einem Elternteil, den Großeltern oder der Familie angetan wurde, stellt er/sie sich unmittelbar in den Dienst des Ausgleichs. Die Geschichten zeichnen oft ambivalenzfreie Bilder von »gut« und »böse«. Dadurch liegt es für ein Kind nahe, die Fantasie zu entwickeln, Retter der bedrohten Eltern zu sein (Pesso, 2005). Damit ist die Grundlage für eine generationenübergreifende Weitergabe von Konflikten gelegt. »Rächer« entstehen, die sich in den Dienst der »guten Sache« stellen, ohne ein Bewusstsein für die Gewaltspirale zu haben, in der sie sich verfangen. Wir müssen gar nicht bis zur Tradition von Blutrache oder von Selbstmordattentätern gehen, die über eine solche Tradition von Geschichten sozialisiert worden sein dürften. In vielen Unternehmensfamilien etwa finden sich solche generationenübergreifenden Konfliktgeschichten, die langfristig die Beziehungen der Familienmitglieder vergiften können (Gordon u. Nicholson, 2008). Der Glaube an Kontrolle – und der Mythos der Macht: Ein weiterer »gefährlicher Gedanke« ist die Idee, man könne einen befriedigenden Zustand zwischenmenschlichen Miteinanders erreichen, wenn es nur gelänge, das Verhalten des anderen zu kontrollieren. Für Bateson (1981) ist dieser Glaube an den »Mythos der Macht« der große Irrtum, dem die Menschheit als Ganzes unterliegt. Er sieht ihn als »Krankheit der Erkenntnistheorie«, die die Beziehungen von Menschen untereinander und ihr Verhältnis zur Schöpfung betrifft und die vielleicht irgendwann einmal zum Ende der Menschheit führen könnte (1981, S. 614 ff.; siehe auch von Schlippe, 2007). Wer in Begriffen von Macht denkt, schafft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, indem er beginnt, jede Interaktion in Kategorien von Manipulation, Taktik, Strategie und Kontrolle zu betrachten und sich entsprechend zu verhalten. Damit bringt man den anderen immer wieder in das Gefühl von Macht- und Hilflosigkeit mit dem Bestreben, daraus mit Mitteln der Manipulation und Macht herauszukommen. So entsteht ein Kreislauf von wechselseitiger Machtfixierung. Der Mythos der Macht korrumpiert: »Wer

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eine mythische Abstraktion begehrt, muss immer unersättlich sein« (Bateson, 1984, S. 272). Wer mit diesen Gedanken im Konfliktfall unterwegs ist, sieht nur vier mögliche Wege, zur Ruhe zu kommen: –– Umwandlung/Bekehrung: der andere erkennt die »Wahrheit« des anderen bedingungslos an; –– Unterwerfung: die totale und dauerhafte Dominanz des »uneinsichtigen« Gegners; –– Vertreibung als Prozess der dauerhaften »Reinigung«; –– Elimination: die Vernichtung des anderen ist die letzte, tödliche Konsequenz. Zugleich führt dieser »gefährliche Gedanke« in eine Paradoxie. Die Idee der völligen Kontrolle ist eng mit dem Gefühl von Hilflosigkeit verbunden: Wer den Anspruch hat, den anderen und sein Verhalten kontrollieren zu müssen, macht immer wieder die Erfahrung, dass dies nicht gelingt. Paradoxerweise ist es in der Hand des anderen, ob man sich mächtig oder hilflos fühlt, denn sein Erfolg hängt vom anderen ab. Verschwörung und Heimlichkeit: Wenn man im Griff der hier beschriebenen »gefährlichen Gedanken« steht, muss man ständig auf der Hut sein. Alles Verhalten des anderen kann potenziell gegen einen selbst gerichtet sein (der »feindselige Wahrnehmungsfehler« wurde bereits erwähnt). Dem offensichtlichen Verhalten des anderen kann nicht getraut werden, es geht immer darum, die »wirklichen« Motive zu erkennen, die heimlichen Schläge, die der Gegner plant. Entsprechend muss man selbst ebenfalls heimlich aktiv werden, verschwiegen sein, um den Gegner zu isolieren. Wenn es sich um Gruppenkonflikte handelt, führt das Denken in Kategorien von Verschwörung und Heimlichkeit dazu, dass jeder, der im eigenen Lager der Gegenseite ein positives Motiv unterstellt, zum Schweigen gebracht werden muss (»Wie kannst du nur so dumm sein und nicht sehen, dass das Angebot nur gespielt ist. In Wirklichkeit planen sie doch …!«). Die Logik der sofortigen Vergeltung: Ein »eskalativer Mindset« geht davon aus, dass die eigene Position jederzeit gefährdet ist. Daher braucht es bei jeder Infragestellung eine unmittelbare Reaktion, die mindestens so hart ausfallen muss wie die erlebte Kränkung: »Wie du mir, so ich dir!« Dies beinhaltet ein Gefühl, zur sofortigen Vergeltung bzw. Rache geradezu verpflichtet zu sein. Eine großzügige oder versöhnliche Geste im Konflikt, ein konstruktiver Schritt auf den anderen zu? »Dann denkt der andere doch, er kann sich alles leisten!« Nein, jegliche Handlung, die dem Gegner einen unverdienten Vorteil bringen könnte, hat zu unterbleiben, die kleinste Unentschlossenheit könnte als Schwäche ausgelegt werden.

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Das »Gegengift«: Prämissen einer tragischen Sicht Welche Alternative kann es für das eskalative Denken geben, das nach »großen Lösungen« sucht, die jeweils auch »ein für allemal gelten« sollen? Wir haben einmal vorgeschlagen, hierfür den Begriff »tragisch« zu verwenden (Omer, Alon u. von Schlippe, 2007). Dieser Begriff mag verwirren, weil das Wort »tragisch« in unserer Kultur eher depressiv besetzt ist. Doch die Grundaussage der tragischen Sicht besteht in einer Skepsis gegenüber »großen Lösungen«, die das Übel endgültig beseitigen sollen. Radikale Lösungen vergrößern oft das Leiden. Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit gehören zum menschlichen Leben dazu – und dies verbindet uns immer auch mit unserem Gegner: Der andere ist und bleibt uns ähnlich – und sei die Differenz unserer Positionen noch so groß! Das Tröstliche an einer tragischen Sicht ist, dass wenn es nicht um »absolute Siege« geht, es auch keine »absolute Niederlage« gibt. Damit ist die tragische Sicht ein wichtiges Gegenmittel gegen das Gefühl von Hilflosigkeit. Es geht nicht darum, den anderen vollständig zu besiegen, sondern beispielsweise nur darum, standzuhalten, die eigene Position klar und prägnant zu vertreten. So können Eltern sich selbst innerlich »auf die Schulter klopfen«, wenn es ihnen gelungen ist, ruhig zu bleiben und auf ihrer Position zu beharren, während ihr Kind sie beschimpfte und beleidigte – nur wer den Anspruch hat, das Verhalten des Kindes zu kontrollieren (»Du hörst sofort damit auf, oder …!«), wird sich hilflos fühlen. Anstatt nach großen Lösungen zu suchen, geht ein tragisches Denken von der Suche nach kleinen Schritten aus, die vielleicht nur begrenzte Wirkungen zeigen, die das Problem nicht ein für alle Mal lösen, dafür aber persönliche Gültigkeit haben. Die Vorstellung zu akzeptieren, dass Leiden ein unausweichlicher Teil des Lebens ist, das nie »völlig« ausrottbar sein wird, kann helfen, in einen friedlicheren »Mindset« zu gelangen – es gibt Menschen, die dies als eine spirituelle Erfahrung beschreiben.

Folgerungen für Deeskalation Haltungen: Eine tragische Sichtweise mündet konsequenterweise in eine besondere Haltung. Diese Haltung ist alles andere als resignativ, sie ist mit einer Position der Stärke durchaus vereinbar (Omer u. von Schlippe, 2010). Allerdings folgt eine ganz andere Art von »Kampf« daraus. Dieser geht nicht mehr gegen den anderen, sondern er geht um Beziehung. Er wird mit dem Ziel geführt,

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eine bedrohte oder verlorene Bindungsbeziehung wieder aufzunehmen, nicht um Macht und Kontrolle zu verwirklichen. Entsprechend geht es mehr darum, zu widerstehen als zu besiegen: Es ist die Stärke des Ankers, der beharrlich, aber nicht bedrohlich ist. Die eigene Präsenz zu wahren ist wichtig, nicht das Gewinnen! Einer der wesentlichsten Aspekte dieser Haltung ist das Bewusstsein, dass es nicht möglich ist, einen anderen Menschen zu verändern. Der andere ist und bleibt letztlich unverfügbar. Das bedeutet aber konsequenterweise, dass man niemanden anderen verändern kann als sich selbst (und auch das ist erfahrungsgemäß schwer genug). Diese Haltung ist dem bereits beschriebenen »Mythos der Macht« entgegengesetzt. Wenn ein anderer Mensch nicht kontrollierbar ist, ist es auch nicht nötig, eine Provokation oder eine Konfliktkommunikation »auf der Stelle und mit voller Härte« zu beantworten. Das Eisen zu schmieden, wenn es kalt ist, ist eine der wesentlichen Punkte der Vermeidung von sich zuspitzender Eskalation. Ein weiterer Aspekt einer Haltung der tragischen Sicht ist die Anerkenntnis, dass nichts ohne seinen Kontext Bedeutung hat: »Niemand ist in einem Vakuum ›findig‹, ›abhängig‹, ›fatalistisch‹. Das Charakteristische eines Menschen, was es auch sein mag, ist nicht etwas an ihm, sondern eher ein Charakteristikum dessen, was zwischen ihm und etwas (oder jemand) anderem vorgeht« (Bateson, 1981, S. 385). Diese Haltung führt dazu, personenbezogene Zurechnungen aufzugeben und sich bewusst zu machen, in welchem Maß man gemeinsam mit dem anderen aufgerufen ist, eine Lösung zu finden. Und schließlich geht mit der Haltung der tragischen Sicht das Bewusstsein einher, dass man kein »Held« sein muss. Es ist möglich, sich im Kampf um die Verbesserung der Beziehung freundlicher Unterstützung zu vergewissern, keine »Bündnispartner« gegen den anderen, sondern Menschen, von denen man weiß, dass sie als unterstützende Stimmen im Hintergrund anwesend sind und die eigenen gewaltlosen Schritte, die man geht, mittragen. Bewusstheit: Eine wesentliche Bedingung für eine konstruktive Konfliktkultur besteht in der Steigerung der Bewusstheit für den Kontext, in dem man sich bewegt. Man kann sich bewusst werden, in welchem Maße man selbst dem beschriebenen eskalativen Mindset »verfallen« ist, und man kann beginnen, die eigene Sprache zu beobachten: Spreche ich auf eine Weise, die Eskalation fördert, oder auf eine Weise, die zu einer Minderung der Eskalation beiträgt? Es kann hilfreich sein, sich klar zu machen, dass Sprache dazu genutzt werden kann, um eine eigene Position zu markieren: »Damit bin ich nicht einverstanden!«, »Ich werde mich dem entschieden entgegenstellen!« – oder in den

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»Bereich« des anderen einzudringen: »Du bist …!«, »Wenn du nicht sofort das tust, dann …!«, »Das sagst du jetzt doch nur, weil du Angst hast, dass …!«, »Das stimmt doch gar nicht! Du lügst doch, ohne rot zu werden!« Wenn die eigene Sprache genutzt wird, um den eigenen Bereich, die eigene Position zu markieren, dann vermeidet man damit sprachliche Übergriffe (siehe Abbildung 2; vgl. auch Rosenberg, 2001). In Familien gilt dies besonders: Kinder und vor allem Jugendliche reagieren geradezu (und mit Recht) allergisch auf das elterliche »Predigen«, mit denen die Eltern sozusagen in ihr Inneres eindringen, wenn sie – oft ausgehend von einem nicht unbedingt gravierenden Ausgangspunkt – sich in eine »Litanei« hineinsteigern: »Du hast schon wieder deinen Anorak nicht aufgehängt! Wie oft soll ich dir das noch sagen? Du bist derartig chaotisch und unordentlich, dass einem schlecht werden kann davon. Gerade gestern habe ich in dein Zimmer geschaut, wie sieht es da wieder aus? Und die Spülmaschine hast du auch nicht ausgeräumt, dabei hattest du das hoch und heilig versprochen! Du bist einfach nicht in der Lage, Ordnung zu halten. Wo soll das denn bei dir noch mal enden? So kriegst du später nie einen Partner! Was denkst du dir da eigentlich?« usw.

a) Sprache markiert die eigene Grenze: »Ich bin nicht einverstanden!«

b) Sprache greift in den Raum des anderen ein: »Du bist so und so!«

Abbildung 2: Zwei Arten der Nutzung der Sprache

Ein weiterer Punkt, der unter die Überschrift »Bewusstheit« passt, ist die Sensibilität für eine eskalierende oder eine deeskalierende Unterbrechung des Kontakts. Recht häufig geraten einzelne Personen im Streit so unter Druck, dass sie den Raum verlassen, um die eigene Spannung zu mildern. Dies kann unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen geschehen und je nachdem, wie man geht, kann eine solche Unterbrechung den Konflikt vertiefen oder konstruktiv beeinflussen. Wer wütend den Raum verlässt, ohne etwas zu sagen, ohne anzukündigen, ob und wann er zurückkommt, hinterlässt eine ohnmächtig-wütende andere

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Partei. Verstärkt wird dies noch durch entwertende Aussagen wie: »Das ist mir jetzt zu blöd!«, »Mit dir kann man einfach nicht reden!«, »Du machst ja doch, was du willst!« oder Drohungen: »Das wirst du büßen!« Damit drückt man zwar die eigene Wut aus, doch die Folgen für den Konflikt sind durchaus schwerwiegend: Er wird chronisch, die negativen Gefühle auf allen Seiten steigen an. Grundsätzlich kann eine Unterbrechung gut sein, wenn man merkt, dass man im Bann der eigenen emotionalen Erregung nicht mehr klar denkt und in der Gefahr ist, Dinge zu sagen oder zu tun, die die Eskalation antreiben würden. Doch kann man wie in Abbildung 2 beschrieben, dies auch auf eine deeskalierende Weise tun. Aussagen wie: »Ich bin jetzt zu aufgeregt, um das zu besprechen, ich unterbreche das jetzt, aber ich komme darauf zurück!«, »Ich brauche jetzt eine kurze Pause, ich komme um … zurück!« oder »Ich bin damit nicht einverstanden, was du sagst/tust, aber wir kommen im Moment nicht weiter. Lass uns später darüber reden!« erhalten die persönliche Präsenz, ohne den anderen zu kränken oder orientierungslos zurückzulassen. Handlungen: Vielleicht ist bereits deutlich geworden, dass es besonders auf die Haltung und die Bewusstheit ankommt, wenn man sich in einer eskalierenden Konfliktsituation konstruktiv verhalten will. Was genau man dann tut, ist natürlich auch wichtig, doch kommt es weniger auf die Handlung selbst an als vielmehr auf die Einstellung, mit der man sie ausführt. Dies vorausgeschickt, lassen sich aus der Tradition des gewaltlosen Widerstands, die von Haim Omer begründet wurde und die wir gemeinsam im deutschsprachigen Raum eingeführt haben (Omer u. von Schlippe, 2006a, 2006b, 2010), eine Reihe von Verhaltensweisen beschreiben, die helfen, eine Eskalationssituation zu verlassen: –– Die erste Verhaltensempfehlung besteht in einer Art der »inneren Moderation«. Man kann, wenn man entschieden ist, sich nicht mehr in eine Eskalation hineinziehen zu lassen, zunächst weniger agieren als mehr: das Predigen einstellen, die eigene Erregung eher innerlich moderieren (z. B. durch innere Sätze wie »Ich lasse mich jetzt nicht hineinziehen!«, durch Schweigen oder durch konstruktive Unterbrechungen wie bereits beschrieben). –– Etwas schwerer auszuführen sind Gesten, mit denen man dem anderen eine Freundlichkeit, eine Wertschätzung vermittelt. Sie sind sehr wichtig, um den »feindseligen Wahrnehmungsfehler« zu unterlaufen. Dazu sollte man zwei Aspekte beachten: Zum einen ist es wichtig, die Geste nicht an Bedingungen zu knüpfen, sondern sie eher beiläufig, »klein« zu übermitteln: »Ich war am Bahnhof und habe diese Zeitschrift gesehen und dabei an dich gedacht, ich habe sie dir mitgebracht!« Zum Zweiten muss man damit rechnen, dass der andere aus einem eskalativen Mindset in dieser Handlung

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eine Falle wittert: »Na und, mir doch egal!« Auf diese Reaktion sollte man vorbereitet sein und entsprechend gelassen reagieren: »Du musst sie natürlich nicht lesen, das ist deine Sache, ich habe einfach nur an dich gedacht!« Wenn die Geste auf diese Weise unmissverständlich kein »Trick« ist, macht dies dem Gegenüber schwerer, den feindseligen Wahrnehmungsfehler weiterhin aufrechtzuerhalten. –– Vermutlich helfen diese beiden Verhaltensweisen, wenn man sie konsequent durchhält, schon sehr dabei, eine Eskalationsspirale zu verlangsamen oder gar zu stoppen. Wenn die beschriebene Haltung und die dazugehörende Bewusstheit realisiert werden, können alle Schritte aus dem Instrumentarium des gewaltlosen Widerstands situationsentsprechend gegangen werden. Diese sollen an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden (etwa die »Ankündigung«, das »Sit-in«, die Mobilisierung von Unterstützung, die Telefonrunde usw., ausführlich siehe Omer u. von Schlippe, 2006b, S. 229 ff.).

Schluss: Anleitung zur Eskalation Es war das Ziel dieses Textes, die Dynamik der Konflikteskalation zu analysieren und so zu helfen, ihr nicht einfach zu unterliegen. Wir sind in Konflikten mit uralten Mechanismen konfrontiert, die sich in einer gering komplexen, dafür hochgradig feindlichen und gefährlichen Umgebung über vielleicht mehrere hunderttausend Jahre in der Evolution der Menschheit entwickelt haben. Heute leben wir in meist weitaus weniger unmittelbar gefährlichen, dafür wesentlich komplexeren sozialen Welten – und es kann ratsam sein, diese Mechanismen zu kennen, sich ihrer bewusst zu werden und die Automatismen zu vermeiden, in die sie uns verleiten wollen. Doch wer das Interesse hat, in genau diese Dynamik aktiv einzusteigen, dem seien zusammenfassend die folgenden paradoxen Handlungsempfehlungen mit auf den Weg gegeben: –– Seien Sie überzeugt, dass Ihre Beschreibung der Wirklichkeit und nur diese die richtige ist. Die anderen haben irgendwelche »Sichtweisen« der Dinge, Sie dagegen sagen, wie es wirklich ist! –– Seien Sie überzeugt, dass Ihr Kontrahent, wenn er seine Standpunkte vertritt, entweder dumm, krank oder böse ist. Wenn er es nicht wäre, würde er sofort auf Ihre, auf die einzig richtige Position einschwenken! –– Seien Sie überzeugt, dass Ihr Verhalten, auch wenn es aggressiv oder gar gewalttätig ist, die gerechtfertigte Antwort auf die perversen Schachzüge des anderen ist. Etwaige Schäden hat er sich selbst zuzuschreiben (Abbildung 3)!

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Abbildung 3: Der jeweils andere hat sich den Schaden selbst zuzuschreiben!

–– Wenn das, was der andere getan hat, Sie empört, vermeiden Sie, sich zu überlegen, welches Gerechtigkeitsgefühl vielleicht bei ihm verletzt sein könnte. Ihr Empfinden für das, was richtig und falsch ist, ist der Maßstab. Wenn er nicht bereit ist, den anzulegen – sein Pech! –– Sehen Sie freundliche Gesten des anderen nicht etwa als Bereitschaft, einen konstruktiven Weg einzuschlagen. Im Gegenteil: Nun hat er sich besonders »maskiert« – Sie kennen ja sein »wahres Gesicht«, also ist dieses Verhalten für Sie ein Anlass, heimlich mögliche Gegenschläge zu entwickeln. –– Nehmen Sie jede Gelegenheit wahr zu zeigen, dass Sie nicht bereit sind, den kleinsten Kompromiss einzugehen und im Zweifelsfall todesmutig sind. Warum sollten Sie ihn grüßen, wenn Sie ihm begegnen, soll er es doch tun (doch halt, wenn er es tut, will er nur so tun, als wäre alles in Ordnung, also drehen Sie sich am besten von ihm weg!). –– Fantasien eignen sich besonders gut, um sich in Stimmung zu bringen. Stellen Sie sich vor, welche Schweinereien Ihr Gegner (und er ist ja wirklich Ihr Gegner!) vorhat, malen Sie sich aus – und entwickeln Sie Gegenstrategien und Fantasien –, wie Sie ihn bestrafen werden, damit er es ein für alle Mal lernt! –– Bleiben Sie sich kontinuierlich bewusst, dass der andere falsch und schlecht ist. Es gibt keinen Grund, ihm zu vertrauen oder nur das kleinste Anzeichen von Freundlichkeit zu zeigen, warum auch? Er würde es ja doch nur als Schwäche auslegen – und das können Sie sich nicht leisten! –– Vergessen Sie es nie: Eines Tages werden Sie gewinnen – und dann wird endlich alles gut sein!

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Wo fahren wir hin und wo ankern wir? Vom Navigieren in der Eltern-Kind-Beziehung

Vorbemerkungen Macht- und Kontrollorientierungen von Eltern ihren Kindern gegenüber strapazieren die Bindungsbeziehungen nicht nur, sondern zerstören sie auf Dauer. Hingegen ermöglichen Stärke und Kraft der Elternposition Bindung und auch Re-Attachment (von Schlippe, 2011, 2012; → zu kulturvergleichenden Aspekten der Bindung siehe auch die Beiträge von Heidi Keller und Hiltrud Otto in diesem Band). Zur Überwindung eines vermeintlichen Gegensatzes von Autorität und Bindung schlägt Haim Omer die Metapher und den Begriff der Ankerfunktion vor (2010, 2011, → vgl. seinen Beitrag in diesem Band). Damit wird ausgesagt, dass das Schiff, also das Kind oder der Jugendliche, nicht mehr geborgen im sicheren Hafen eng an der Kaimauer vertäut liegen, also in engster Nähe und Aufsicht der Eltern gehalten sein muss, um Bindung und Sicherheit zu erfahren, sondern auch auf hohe See hinausfahren kann, um dort eigene Erfahrungen zu machen und dabei Bewegungsfreiheit zu nutzen. Wird die See rau und gefährlich, droht das Schiff abzudriften oder gar gegen Klippen zu schlagen, dann tritt der oder treten die Anker (→ siehe den Beitrag von Uri Weinblatt in diesem Band) in Funktion, durch die das Schiff gehalten und vor Gefahren bewahrt wird und zugleich ein größtmögliches Maß an Autonomie der Kinder gewahrt bleibt. Kontrolle wird durch Präsenz und Verbundenheit ersetzt. Der Anker muss dabei selbst gut befestigt sein, um nicht über den Meeresgrund geschleift zu werden. Selbstkontrolle über die eigenen Aktionen und Reaktionen und vor allem ein Netzwerk von Unterstützung kann dafür sorgen (→ vgl. den Beitrag von Haim Omer in diesem Band). Für eine Selbstverankerung ist eine Verwurzelung im elterlichen Pflichtgefühl sowie die in Liebe verankerte Beharrlichkeit und eine trainierte Frustrationstoleranz hilfreich. Kinder erleben den Anker besonders, wenn sie Sicherheit, schützende Grenzen sowie Fürsorge und Wachsamkeit und nicht einen auf Kontrolle ausgerichteten Beziehungsrahmen spüren. So können

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sie ein positives Arbeitsmodell internalisieren, welches später bei freier Fahrt auf hoher See abrufbar wird. Nun ist es nicht der Anker bzw. die gute Verankerung allein, die dem Schiff, das vielleicht auf Reede liegt, die Stabilität verleiht, sondern es ist vor allem auch die zum Anker gehörende Kette. Das Gewicht der verbindenden Kette macht aus, ob das Schiff gehalten wird und somit den Halt bekommt, den es braucht, um bei Strömung nicht ständig die Richtung zu ändern und sich nach dem Wind zu drehen oder gar trotz des Ankers auf die Klippen zu treiben. Je gewichtiger die Kette, je gewichtiger die Beziehung ist, desto stabiler liegt das Schiff. Nun darf die Kette bei den Erkundungsfahrten der Kinder natürlich nicht zu schwer oder gar schwerer sein als das Boot selbst. Nicht dass dieses dann untergehen würde, aber die Kette wird dann schnell von den Kindern als Last erlebt, die nach unten zieht und die gewünschte Schnelligkeit und Wendigkeit beeinträchtigt – sie wirkt dann wie ein Klotz am Bein, man fühlt sich eher angekettet als stabilisiert. In der Metapher der Kette findet sich eine Ambivalenz: Ist sie zu dünn, mag sie schmücken, ist aber leicht zerreißbar – ist sie zu massiv, wird sie zum Ballast der Beziehung. Hier ist nicht Gewicht im Sinne von Schwere gemeint, sondern dass Bedeutung und Gewichtung der Beziehung für die Bindungserfahrung relevant sind. Das kann sich dramatisch auswirken. Denn je höher und leichter das Boot auf den Wellen tanzt, desto mehr Verbindungsbemühungen starten oft die Eltern, indem sie die Kette massiv beschweren. Dann kann der Problemlösungsversuch schnell ins Gegenteil kippen. Die Kette bricht oder sie wird von den Kindern gelöst, die Verbindung wird gekappt. Allein die Kette gibt eben auch nicht die Stabilität – die Selbstverankerung (der Eltern) trägt das ihre dazu bei. Sie wird entscheidend durch das Gewicht, die elterliche Präsenz und Beziehung, gestärkt.

Zur Bedeutung des Navigierens im systemischen Elterncoaching Für das Gelingen der Erziehung erscheint mir jedoch das Bild des Navigierens noch wichtiger. Damit ist die Orientierung und der Kurs im Erziehungs- und Beziehungsfeld gemeint: Wo soll es hingehen, welche Ziele und Werte werden verfolgt? Oft gehen in hoch eskalierten Situationen bzw. bei Machtkämpfen mit herausforderndem Verhalten der Kinder und Jugendlichen die Ziele und Werte ver-

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loren. Es fehlt an Übersicht und Orientierung. Alle, die involviert sind, erleben sich als betroffen, ausgeliefert und machtlos sowie als Teil oder gar Opfer der Dynamik. Die Metaebene und Selbstbeobachtung geraten aus dem Blick. Metaphorisch beschrieben landet man in einem Stau, verirrt sich und fühlt sich ohne Landkarte und Signal verloren. Natürlich kann man Staus, das heißt schwierigen Situationen, nicht immer entkommen bzw. diese umfahren (umschiffen), dennoch hilft oft eine Managementposition, in der man zwar die Beteiligten kaum in ihrem Verhalten kontrollieren, jedoch einen Überblick über die Situation und die Position der Einzelnen gewinnen kann. Das können Navigationssysteme leisten. Einem »Navisystem« sollte man allerdings auch nicht blind vertrauen und folgen. So wie immer wieder Nachrichten kursieren, in denen navihörige Autofahrer ihre Gefährte, der freundlichen Stimme des Systems folgend, in Wasserkanäle gesteuert haben, so mag die strikte Befolgung direktiver Vorgaben aus allgemeinen Erziehungsratgebern die innere Stimme und die Intuition der Eltern übertönen. Auch das systemische Elterncoaching ist nicht als Trainingsplan zu verstehen, den es zu absolvieren gilt. Navigation bedeutet, nicht nur der Situation ausgeliefert zu sein bzw. blind geführt zu werden, sondern sie eröffnet zugleich die Möglichkeit, eine Metaebene zu gewinnen. Man fährt eben nicht nur, sondern beobachtet sich auch beim Fahren. In der Therapie- oder Beratungspraxis, die auch als Stätte »organisationalen Lernens« (Wedekind u. Georgi, 2005) beschrieben werden kann, wird dieser Prozess als professioneller Beitrag gefordert. Therapeuten und Berater nehmen sich als Teil des therapeutischen Systems wahr, beobachten ihren Beitrag, handeln mit Bedacht und Reflexion und verhelfen den Klienten ebenso zu einer Wahrnehmung ihres Tuns, wodurch dann Entscheidungen für Veränderungen oder zum Bewahren getroffen werden können: »Prozessbeobachtung gehört zu den genuinen Leitungsaufgaben« (S. 277). »Eine intelligente Organisation lernt sich selber durch die Beobachtung ihrer eigenen Aktivitäten und deren beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen innerhalb und außerhalb des Systems kennen und entwickelt Chancen zum Lernen« (S. 276). Ein Fallbeispiel aus einem anderen Kontext soll die Bedeutung einer zusätzlichen Beobachtungsebene illustrieren: Eine Mutter kam in die therapeutische Praxis, da sie sehr unter Selbstwertzweifeln und Versagensängsten litt. Als ein Beispiel nannte sie die immer wiederkehrende Erfahrung, dass sowohl ihr Ehemann als auch der Sohn jeden Tag über das Essen meckern würden. Das mache sie völlig fertig. Sie habe schon alles versucht: Kochbücher gekauft, Abreißkalender erworben, Fern-

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sehkochsendungen verfolgt, Essenslieferungen bestellt und sich sogar der »Höchststrafe« ausgesetzt und ihre Schwiegermutter gefragt, was sie denn gekocht habe, damit der Sohn zufrieden war. Die Klientin wurde vom Therapeuten gefragt, wann denn gemeckert würde: vor, während oder nach dem Essen und wer von den beiden anfinge? Sie wunderte sich und fragte, was das denn für eine Bedeutung habe. Mit diesen Beobachtungsaufgaben entlassen, berichtete sie beim nächsten Termin freudestrahlend vom Unterschied: Hatte sie sonst immer verschüchtert das Meckern befürchtet – »Bitte nicht heute, ich habe mir solche Mühe gegeben!« –, habe sie es nun nahezu herbeigesehnt, sie habe es wissen wollen und gar nicht abwarten können. Als die erste kritische Bemerkung gekommen sei, habe sie laut ausgerufen: »Ich habe es doch gewusst!!« Beim Nachfragen stellte sich dann heraus, dass der Ehemann seinen Büroärger umgeleitet hatte und der Sohn sich aus Verbundenheit gleich angeschlossen hatte. Mit der Qualität der Mahlzeiten hatte das wenig zu tun. Ehemann und Sohn verfügten über keine bewusste Selbstbeobachtung und Eigenreflexion, sie hatten ihre Äußerungen gar nicht auf das Essen bezogen und nicht mitbekommen, was sie für die Klientin bedeuteten. Die Klientin konnte eine distanzierte Position dazu gewinnen.

Eine navigationsorientierte Meta- bzw. Beobachtungsebene kann zu einer angemessenen Distanz verhelfen, die alternative Handlungsoptionen zugänglich werden lassen und einen Zugang zu Kraftquellen und Affirmationen ermöglichen kann.

Navigation als Steuermannskunst Dabei geht es um drei Elemente: 1. Ermittlung der momentanen Position, das bedeutet das Einnehmen einer Metaposition und die Selbstbeobachtung von Eltern und Professionellen: Was läuft hier? Worin bin ich involviert? Was ist mein Anteil? Was ist meine Haltung? Ist sie konfrontativ-feindlich motiviert bzw. könnte sie so erlebt werden, oder ist sie eher bündnisorientiert-unterstützend? Muss ich die Einladung zur Eskalation annehmen? Hierbei kann auch die videobasierte Marte-Meo-Methode hilfreiche Dienste leisten (→ vgl. den Beitrag von Christian Hawellek in diesem Band). Bedeutsam ist hier auch die Standortbestimmung: »Ich bin dein Vater, deine Mutter und du bist meine Tochter, mein Sohn. Ich

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Wo fahren wir hin und wo ankern wir?

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kann nicht dulden, dass du dich mit diesem Verhalten in Gefahr begibst. Ich werde damit nicht allein bleiben und auch anderen davon erzählen. Du bist mir wichtig und wir lieben dich«, also das Formulieren von Positionsansagen und Ankündigungen. Elterliche Präsenz (Präsens) ist mehr als ein Wortspiel. Hierbei erleben sich die Eltern in der Gegenwart, hoffen nicht auf eine bessere Zukunft oder beklagen die Vergangenheit, sondern sind im Hier und Jetzt für ihre Kinder hör-, sicht- und spürbar. 2. Ermittlung der optimalen Route zum Zielpunkt auch bei schwierigen Bedingungen wie Nebel, Glatteis und Donnerwetter (Gewitter): Man muss nicht den kürzesten Weg wählen. Niemand fährt über den Berg, riskiert ständige Serpentinen, um auf die andere Seite zu kommen, wenn es etwas weiter unten einen Pass oder eine Passage gibt bzw. wenn man eine Stelle umfahren kann, wo vielleicht schon Wracks (aus Scheitern kann man gescheiter werden) liegen. Bei der Ermittlung der optimalen Route ist darauf zu achten, dass eine Kollision mit anderen Fahrzeugen ausgeschlossen wird. Das andere Fahrzeug könnte das Kind selbst sein, welches sich nicht an die Rechtsfahrregel hält und einem plötzlich entgegenkommt, es kann aber auch die Oma oder der Lehrer sein, die querzukommen scheinen. Im Konvoi, also im Bündnis (Grabbe, 2007) zu fahren, scheint sicherer und macht oft einen stärkeren Eindruck. Als Elternteil bzw. Pädagoge kreuz und quer zu fahren, ist gefährlich und erhöht die Wahrscheinlichkeit des Zusammenstoßes. Die Klärung der Schuldfrage hält dann unnötig auf und bringt auch nicht weiter (Grabbe, 2006). 3. Wichtig für die Navigation ist die Ermächtigung, Stärkung oder Ermutigung (Empowerment) zum Führen des eigenen Fahrzeugs als Elternteil oder Pädagogin. Der ermittelte optimale Kurs sollte dabei zwar eingehalten, aber auch vor Ort angepasst werden können. Eine Abdrift ist einzurechnen, nicht immer geht alles stur geradeaus. Eine Schieflage kann dabei sogar hilfreich sein. In pädagogischen Ratgebern wird die Frage der »Konsequenz« oft hoch bewertet. Im Sinne von Transparenz im Erziehungsstil ist konsequentes Verhalten sicherlich wichtig. Dennoch führt Konsequenz bei ebenso stur konsequenten Kindern und Jugendlichen oft in eine heftige symmetrische Eskalation, wo dann die Konsequenz der Eltern nicht zur Lösung beiträgt, sondern als Teil des Problems gesehen werden kann. Hier wäre vielleicht eine selbstentschiedene, souveräne konsequente Inkonsequenz autoritäts- und präsenzstärkender: »Ich als deine Mutter entschließe mich, weil heute Dienstag ist, anders zu entscheiden und mir eine Ausnahme zu erlauben.«

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Alle in einem Boot Oft hört man in professionellen Kontexten, wie wichtig es sei, alle mit ins Boot zu bekommen. Bei diesem populären Ansinnen können jedoch Fragen auftauchen: –– Wer bestimmt das Reiseziel, ist es vor der Abfahrt klar? Kann man gegebenenfalls noch aussteigen, was auf hoher See sicherlich schwierig sein könnte? –– Haben alle einen angemessenen Preis bezahlt? Gibt es blinde Passagiere? –– Handelt es sich um eine Galeere, in der man am Ruder angekettet wird, während andere die Aussicht genießen? Ist die Rollenverteilung vorher abgesprochen? –– Was, wenn man ausgesetzt wird? –– Wer entscheidet, was für Proviant mitgenommen wird? –– Gibt es eine dominanzorientierte Hierarchie? Wer hat welche Position, wer gibt den Ton an: Bin ich Befehlsempfänger oder habe ich etwas zu sagen (siehe Hilfeplangespräche, Zielvereinbarungsgespräche)? –– Zumindest sollte man testen, ob sich im Boot die Balken biegen. Was muss man vermeiden, um nicht kielgeholt oder in den Mastkorb verbannt zu werden? –– Gibt es Rettungswesten und wer kommt zuerst in die Boote – oder rettet sich sowieso, wer kann, und die anderen sind dem Untergang geweiht? Dann sollte man vielleicht doch besser an Land bleiben und gar nicht erst ins Boot steigen. –– Oder handelt es sich doch um ein Kreuzfahrtschiff, das regelmäßig anlegt und Landgänge ermöglicht, wo man andere Länder, Gewohnheiten, Kulturen und Freunde treffen sowie Neues lernen kann? Das sollte vorher schon klar sein. Alle ins Boot bekommen zu wollen, kann auch bedrohlich klingen. Im Transfer bedeutet dies, dass das Verhalten von Eltern oder anderen Beteiligten, welches vielleicht als Widerstand oder gar Beratungsresistenz gedeutet wird, Ausdruck davon ist, dass noch Unklarheiten und Unsicherheiten bestehen und somit Aussagen oder Verhaltensweisen als Kooperationsangebote verstanden werden können, bei denen eine begründete Skepsis noch nicht ausgeräumt ist. Unter dem Autonomieaspekt kann die Idee, alle in ein Boot zu bekommen, von den Kindern und Jugendlichen auch als Kontrollversuch und aufdringliche Überwachung erlebt werden und somit kontrainduziert sein.

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Zurück zum Navigieren Bei der maritimen Navigation spielen Seekarten, Landmarken, Leuchttürme, Seezeichen, Bojen, Funkbaken eine Rolle, um den Kurs einhalten zu können. Einen radargesteuerten Autopiloten gibt es in der Erziehung nicht und man kann sich der Erziehungszuständigkeit als Elternteil auch nicht entziehen. Paare können sich scheiden lassen, Eltern und Kinder dagegen nicht, selbst, wenn sie den Kontakt abzubrechen versuchen.

»Ihr Kind nervt!« – »Ich hab Erziehungsurlaub, bin in Elternfreizeit!«1 Abbildung 1: Elternzeit

Im übertragenen Sinne mag Navigationshilfe heißen, dass Eltern deutlich eine Karte des Terrains anbieten und diese ausgebreitet zeigen, bevor sich die Kinder oder Jugendlichen auf große Fahrt begeben. Dabei wird die Ausbalancierung des (vermeintlich) paradoxen Verhältnisses von Autonomie und elterlicher Leitung und Autorität besonders relevant. Versteht man Leitung als 1

Die Cartoons in diesem Beitrag wurden von Nils Grabbe gezeichnet und freundlicherweise von ihm zur Verfügung gestellt.

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»orientierende Rahmung« (Wedekind u. Georgi, 2005), dann kann elterliche Leitung auch als An-Leitung gelten. Eltern übernehmen sowohl die Sicherung von Abhängigkeit als auch Unabhängigkeit und balancieren dabei angemessen aus. Eine einseitig auf Kontrolle und Macht setzende Pädagogik wird ebenso die gewünschte Wirkung verfehlen (neue Autorität) wie eine defensive und die losgelöste Selbstregulation des Kindes nur flankierende Moderation (vgl. Wedekind u. Georgi, 2005), im Sinne einer Laisser-faire-Haltung, die sogar existenzgefährdend sein kann. Auch monologische Predigten finden oft zwar ein Ohr, aber kaum Gehör. Die Dialektik von Autonomie und Bindung wird auch sprachlich deutlich: Mütter werden von ihrem Kind entbunden, um danach eine Bindung einzugehen. Wedekind und Georgi (2005, S. 274) sehen »eine zentrale Aufgabe von Leitung […] in der Optimierung der Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche autonome Gestaltung der Aufgabe«. Das beziehen die Autoren zwar auf Fachkräfte und Teams, es kann aber auch für Eltern gelten. Da kann auch die für die Kinder wichtige »affektive Rahmung« einbezogen werden (Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 1998). Eine Erklärung der Seezeichen (rot und grün) wird eher beachtet, wenn sie als Orientierungszeichen im Fahrwasser in die Aufmerksamkeit gerückt und nicht – zwar als Regel deklariert – als Vorschrift formuliert wird. »Von dieser Disko berichtet die Polizei, dass dort Drogen gehandelt werden und Tropfen in unbeaufsichtigte Trinkgläser geschüttet werden. Wenn du teure Automarken auf dem Parkplatz stehen siehst, könnte das eine Warnung sein.« Statt: »In solchen Etablissement hat eine 14-Jährige nichts zu suchen. Kinder unter 18 Jahren sollten dort überhaupt keinen Einlass haben. Du bist um 22.00 Uhr zu Hause!« Es gibt bestimmte Zeichen, die auf bereits gestrandete Wracks hinweisen, die selbst zur Gefahr geworden sind. Wedekind und Georgi folgend ist die Aufgabe von Leitung, »Informationen und damit Orientierungsmöglichkeiten innerhalb des Systemrahmens durch Unterschiedsbildungen« herzustellen (2005, S. 276). Das ist auch für elterliche Leitung anzunehmen. In der maritimen Metapher bedeutet dieses, dass für Kinder die Wasseroberfläche gleich und harmlos wellig aussehen, es darunter aber ganz anders aussehen kann: »Dies war die Spitze des Eisberges – gleich erleben Sie und zeige ich Ihnen den Rest«, formuliert ein Titanic-Witz. Leuchttürme geben kein Dauersignal und sind kein Blaulicht, sondern dezente Orientierungen an Land, die ein vereinbartes Signal aussenden, ebenso Funkbaken, wenn die Sicht nicht gut ist. Nebelhörner helfen auch bei der Verständigung. Die Metaphorik, die in diesen Bildern stecken könnte, lässt sich wohl selbst transferieren.

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Keinesfalls ist es erforderlich, dass bei der Navigation eine ständige GPSÜberwachung der Kinder erfolgt. »Helicopter parents« (im englischen Sprachraum ein gängiger Terminus für Eltern, die im übertragenen Sinne permanent schützend und kontrollierend über ihren Kindern schweben) bringen Kinder eher dazu, sich in gefährlichen Piratenschlupflöchern zu verstecken, als dass sie die Orientierung als hilfreich erleben. Die Kinder blicken dann gegebenenfalls zu oft nach oben, wo die Eltern sind, als dass sie auf ihr Fahrwasser oder die Zeichen achten. Die Angst und vielleicht sogar übertriebene Sorge der Eltern, die ja zumeist wohl hinter so einem Helikoptereinsatz stehen könnten, überträgt sich auf die Kinder. Diese resignieren dann schnell und reagieren mit Trotz, anstatt sich den eigenen Ängsten zu stellen. Wenn sie dagegen Ermutigung erfahren, wie man mit den Ängsten und Belastungen klarkommen kann, dann fördern Eltern die Autonomie ihrer Kinder, auch wenn das zunächst paradox klingt. Belastungen, Wut, Schmerz und Ängste sollten von den Kindern ertragen und integriert werden können und nicht von den Eltern dramatisiert, bagatellisiert oder vermieden werden. Angst kann man nicht wirklich umgehen, aber man kann lernen, mit ihr umzugehen. Funken die Kinder dann gegebenenfalls mit »Mayday, Mayday« oder »SOS« ihre Eltern an, dann brauchen sie Hilfe, Unterstützung und Ideen oder einen Lotsen und keine Belehrung: »Ich habe es schon kommen sehen«, »Ich hab es ja gleich gesagt, hättest du nur auf mich gehört und wärst zu Hause geblieben, das hast du nun davon.« Kinder möchten ihre Erfahrungen selbst machen, stolz auf sich und mutig sein, sich selbst (Rotthaus, 1998) und/oder auch ihre Eltern erziehen – sie sind dabei sozusagen oft »alleinerziehend«. In unserer Kultur gibt es Konsens darüber, dass die Würde der Kinder bewahrt werden sollte – man sollte Kinder nicht demütigen oder beschämen. Kann das Verhalten der Kinder auch nicht toleriert werden, so gilt es doch, die persönliche Integrität zu respektieren. Viele herausfordernde Verhaltensweisen sind auf die Scham der Kinder zurückzuführen, die versuchen, sich wieder Respekt zu verschaffen (vgl. hierzu Marks, 2013; Kerstin, 1997). Selbst wenn sie dabei gelegentlich Schiffbruch erleiden, besteht zumeist kein Grund zur Panik. Das Wasser kann den Kindern dabei ruhig einmal bis zum Halse stehen, wenn sie dabei den Kopf nicht hängen lassen oder gar schwimmen gelernt haben – das kann auch für Eltern gelten. Sie werden durch Erfahrungen vorsichtiger, durch Scheitern gescheiter. Man geht ja nicht immer gleich unter, auch wenn besorgte Eltern das schnell befürchten. In der Seefahrt gibt es auch die sogenannte »Brötchennavigation«. Das bedeutet, dass man nach dem späten Einlaufen – gegebenenfalls in einem etwas deso-

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laten Zustand –, in einen Hafen – vor Hafeneinfahrten gibt es übrigens keine Ortsschilder – erst beim morgendlichen Brötcheneinkauf, etwa beim Blick auf die Tüte, erfährt, wo man angelegt hat. Transfer: Bei Orientierungslosigkeit könnte man Freunde fragen: »Sag mal, was denkst du, wo wir mit unserer Kindererziehung gelandet sind?« Von Flugzeugpiloten erzählt man übrigens, dass sie sich, wenn sie sich verflogen haben, einen unüberdachten Bahnhof aussuchen, um dann im Sturzflug zu versuchen, das Schild auf dem Bahnsteig zu lesen – ich hoffe, das machen Piloten von Urlaubscharterflugzeugen oder gar Jumbopiloten nicht –, und auch Eltern müssen keinen Sturzflug wagen, um selbst herauszufinden, wo sie sich in ihrer Beziehung zum Kind befinden. Sind Kinder mit ihren Eltern in guter Verbindung und erleben diese als Unterstützung und nicht als immer rechthabenwollende Instanz, dann kann man auch die Eltern (oder jemand anderen Wohlwollenden) anrufen, ohne beschämt und klein gemacht zu werden.

Lotsen Ich habe den Lotsen erwähnt. Dies ist ein ortskundiger Helfer mit ausgewiesener Autorität und Expertise, der an Bord kommt, wenn die Fahrwasser oder die Hafeneinfahrten eng werden. Kapitäne wie Eltern müssen nicht überall sein und müssen nicht alles wissen und können. Der Lotse gilt in der Seefahrt als Inbegriff von Vertrauenswürdigkeit. Der Lotse kann auch als Metapher für eine Öffentlichkeit in zwei Richtungen stehen: –– Zum einen: Eltern und Kinder geben Informationen nach außen: »Hier kommen wir, so sieht es bei uns aus.« Natürlich kann es mit Scham verbunden sein, als Kapitän (einer Familie) auf großer Fahrt über die Weltmeere gesegelt zu sein und dann einen Lotsen zu brauchen, um in die Elbe oder gar Ems zu kommen. Diese Scham muss sicherlich respektiert und überwunden werden. –– Zum anderen: Der Lotse (Familienangehöriger, Freund, Kollege, Nachbar, Berater) kann auch hilfreiches Feedback und eine Legitimierung für Schwierigkeiten bereitstellen, das heißt Informationen nach innen geben. Einige Gewässer sehen harmlos aus, so als ob sie kein Wässerchen trüben könnten. Der Lotse vertritt eine öffentliche Meinung, hilft die Geheimhaltung zu überwinden, da er Teil der Öffentlichkeit ist, und kann für eine angemessene Distanzierung zum Geschehen sorgen.

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Das Einbeziehen Dritter kann zunächst paradox wirken, da dadurch die Beschämung zunächst zunehmen kann und auch die Kinder es als respektlos und als Verrat erleben können, wenn sich ein Lotse einschaltet. Daher ist es wichtig, die eigenen Werte klar zu benennen und die Liebe und wachsame Sorge dahinter zu transportieren. Dadurch sollte deutlich werden, in welcher Not sich die Eltern befinden und dass es nicht darum geht, die Kinder zu denunzieren und zu beschämen und sich selbst auch nicht, sondern dass das der Preis dafür ist, um aus tragischen Entwicklungen aussteigen zu können. Eine Metakommunikation in guten Momenten, das heißt nicht in einer Eskalationsphase, kann über diese Schwierigkeiten hinweghelfen und zur Klärung beitragen, dass es legitim ist, bei der Erziehung in schwierige Gewässer zu kommen und sich dann helfen zu lassen, und dass ein Lotse als Unterstützung der Eltern fungiert und nicht wie ein Pirat das Schiff entern will.

Klare Erziehungsziele, beziehungsstärkende Ankerketten und Wertenavigation Wo fahren wir hin und wo ankern wir? Die Eltern haben wie beschrieben leider keine Kontrolle darüber, ob die Kinder die Kette als Halt, also als stärkend, oder aber als schwer, bedrückend und einengend erleben. Das hängt einerseits von der Spürbarkeit, der Nachvollziehbarkeit, also der Transparenz der Werte der Eltern2 ab, aber auch davon, wie die Werte der Kinder von den Erwachsenen wahrgenommen werden. »Wohin fahren wir und wo ankern wir denn?« Werte können als wesentliches Element beim Navigieren gesehen werden. Die Werte der Kinder sind häufig denen der Eltern ähnlich, sind auf sie bezogen – oft aber trotzdem konträr. Werte gelten als wichtige »Säule der Identität« (Petzold, 1993) und als »guiding principles in people’s lives« (Schwartz u. Bardi, 2001, S. 269). Wird man mit jemandem konfrontiert, »dessen Verhalten den eigenen essenziellen Werten krass widerspricht, reagiert man mit Empörung« (von Schlippe, 2012, S. 372) sowie oft auch mit Wut und heftigster Enttäuschung. Leicht wird man in eine destruktive Dynamik hineingezogen, bei der hinter den Kämpfen um Verhaltensweisen wohl eher Konflikte um bedrohte Werte anzunehmen sind. Fehlt es an einer konstruktiven 2 Der Begriff »Wert« soll hier im ethisch-psychologischen Kontext und analog zu »Bedürfnis«, »Motiv«, »Rechte« und »Pflichten« verstanden werden und nicht ökonomisch oder politisch, wie vielleicht ursprünglich überliefert und zugeordnet. Dennoch: Auch Werte haben ihren Preis.

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Konfliktkultur, dann können leicht Machtkämpfe mit dem gegenseitigen Wunsch, siegen zu wollen und zu müssen, die Folge sein. Sowohl Eltern wie auch Kinder bewegen sich dann unerbittlich ihren Werten folgend innerhalb ihrer Systemlogiken, ohne dass diese transparent gemacht werden. Sie werden einfach als gegeben angesehen, die Kontextabhängigkeit (von Eltern- und Kinderwerten) wird zu wenig beachtet (→ zur Bedeutung unterschiedlicher kultureller Kontexte siehe auch die Beiträge von Heidi Keller, Hiltrud Otto und Jörn Borke in diesem Band). Systemisches Elterncoaching kann also auch »Wertemanagement« bedeuten, wie Arist von Schlippe es für Familienunternehmen formuliert (von Schlippe, 2012). Heinz von Foerster unterscheidet zwischen Werten und Moral (2006). Als Werte werden die Motive des eigenen Handelns verstanden, als Moral die Bewertung des Verhaltens der anderen, ob sie als gut oder böse, als richtig oder falsch angesehen werden. Betrachtet man sich und sein Handeln von einer Außenperspektive, dann kann man die Moral auch auf sich selbst anwenden. Werte sind sowohl als motivierend als auch als zielweisend anzusehen, also dialektisch Ausgangspunkt, Motiv und Ziel zugleich. Wohin will ich als Vater oder Mutter? Warum tue ich das? Und aber auch: Was bezweckt mein Kind? Warum tut es das, was möchte es erreichen? Rokeach (1973) unterscheidet zwischen als existenziell anzusehenden »terminalen« Zielwerten und »instrumentellen« Werten, welche als wünschenswerte »Arten der Lebensführung« (von Schlippe, 2012, S. 372) verstanden werden können. Bei Konflikten, die durch unterschiedliche Wertesysteme motiviert sind, kann wieder ein paradoxes Dilemma beschrieben werden. Sind Werte einerseits förderlich für Verbundenheit, Zugehörigkeit und Bezogenheit, so sind eigene Werte auch unerlässlich für Abgrenzung und die Individuation (vgl. Stierlin, 2007), also im Sinne einer Entwicklungsorientierung wichtig. Eltern wollen demnach einerseits, dass ihre Kinder ihren eigenen autonomen Weg gehen, befürchten jedoch andererseits, dass sie ihnen fremd werden und nicht mehr zur Familie gehören (wollen). Wechselseitige Übersetzung von Werten In der Praxis des systemischen Elterncoachings hat sich bewährt, negative Zuschreibungen, die von Eltern über ein Kind formuliert werden, vom Berater in unterstellte Werte der Eltern zurückzuübersetzen (Grabbe, 2009). Vier Werte reichen der Erfahrung nach zumeist aus, um die Aufmerksamkeit von den Kindern auf die Eltern zu lenken und diese – empathiegetragen – zur Mitarbeit unter folgendem Motto zu motivieren: Nicht die Kinder sind schlecht, sondern die Eltern sind gut.

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Beispiele: –– »Mein Kind ist das Allerletzte – ganz der Vater!!« – »Verstehe ich richtig, dass Sie sich Sorgen um Ihr Kind und seine Zukunft machen und dass Sie gern stolz auf es sein möchten?« –– »Mein Kind hat schlechten Umgang, nimmt Drogen, kommt nachts spät oder gar nicht nach Hause oder spielt den ganzen Tag Ballerspiele!« – »Verstehe ich richtig, dass Sie Ihr Kind schützen möchten, sich Sorgen machen, dass es in Gefahr gerät?« –– »Mein Kind geht nicht zur Schule, macht die Hausaufgaben schon lange nicht mehr, hilft im Haushalt nie, hängt nur faul herum.« – »Verstehe ich richtig, dass Sie möchten, dass Ihr Kind das aus sich macht, was in ihm steckt, seine Potenziale ausschöpft und ein gutes Leben haben soll?« –– »Ich habe gar keinen Zugang zu meinem Kind, keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Ich kann machen, was ich will, das interessiert es gar nicht. Mein Kind sagt nichts.« – »Verstehe ich richtig, dass Sie eine gute Verbindung zu Ihrem Kind haben wollen, ihm zeigen wollen, dass Sie Anteil an seinem Leben nehmen wollen, dass Sie es eigentlich mögen?« –– »Mein Kind sagt unmögliche Dinge zu mir, hat Ausdrücke, die ich hier nicht wiederholen möchte, und macht, was es will. Was ich sage, ist ihm scheißegal.« – »Verstehe ich richtig, dass Sie in Ihrer Familie möchten, dass jeder (wieder) mehr Achtung und Respekt voreinander hat?« Die Werte der Eltern Als Werte der Eltern sind identifizierbar (den von Steiner und Kim Berg 2005 formulierten humanistischen Grundannahmen folgend): –– Schutz, Abwehr von Gefahr: Allen Eltern und Pädagogen kann unterstellt werden, dass sie nicht möchten, dass ihr oder das ihnen anvertraute Kind in Gefahr gerät und Gefährdungen erfährt. –– Verbesserung der Potenziale des Kindes: Allen Eltern und Pädagogen kann unterstellt werden, dass sie möchten, dass das Kind das Beste aus sich macht und seine Potenziale ausschöpft. –– Verbindung: Allen Eltern kann unterstellt werden, dass sie zu ihrem Kind eine liebevolle Verbindung haben wollen, am Gefühlsleben teilhaben wollen und unter Entfremdung und Isolation leiden. –– Wertschätzung, Achtung, Respekt: Allen Eltern und Pädagogen kann unterstellt werden, dass sie sich im Umgang ein Klima von Respekt, Wertschätzung und gegenseitiger Achtung wünschen.

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Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Werte bedeutsam sind, selbst wenn Eltern sich anders zeigen oder äußern – das ist dann eher als Ausdruck einer tragischen Geschichte zu verstehen (Omer, Alon u. von Schlippe, 2007). Die Werte der Kinder und Jugendlichen Nun kann sich eine Übersetzung von herausfordernden Verhaltensweisen der Kinder in die möglicherweise zugrunde liegende Werte der Kinder und Jugendlichen ebenfalls als sehr hilfreich erweisen. Diese Werte können auch für die Eltern oft akzeptable sein, selbst wenn es das Verhalten nicht ist. Damit kann ein Arbeitsbündnis zwischen Eltern und Kindern und auch den Beratern gelingen bzw. kann darüber Eltern ein neuer Zugang zu ihrem Kind ermöglicht werden. Auch Kinder navigieren auf Werte bezogen, selbst, wenn diese von ihnen oft nicht formuliert werden können. Kindern und Jugendlichen mag man neben dem in diesem Band schon mehrfach akzentuierten Autonomiestreben beispielsweise folgende weitere Werte unterstellen: –– Abenteuer, Mut, Tapferkeit, An- und Aufregung, Risikobereitschaft, motorisches Erleben – Lebenslust; –– Freiheit, aber auch Grenzerkennung, wenn sie nicht reglementierend, sondern orientierend und Rahmen gebend angesetzt ist; –– eigenes Tempo, Selbstbestimmung; –– »Kontrolle« über sich und andere – Dominanz, etwas bewirken können; –– eigene Erfolge, Erfahrungen, Erkenntnis, Bildung, sich ausprobieren dürfen, Neugier; –– Zugehörigkeit, soziale Anerkennung, Mitspracherecht; –– Verbindung zu den Eltern, aber auch zur eigenen Peergroup; –– einen »guten, sicheren« Platz haben; –– Freundschaft, Treue, Loyalität, Solidarität; –– Ehrlichkeit, aber als Schutz auch lügen dürfen; –– Autonomie in Verhalten und Werten, Zivilcourage, Beharrlichkeit; –– Respekt, Anerkennung und Achtung erfahren, akzeptiert werden; –– stolz sein und gelobt werden; –– geliebt zu werden, ohne dass das an Bedingungen geknüpft ist (→ siehe den Beitrag von Peter Jakob in diesem Band); –– Halt, Sicherheit, Orientierung; –– »satt« werden, versorgt und umsorgt werden, ohne kontrolliert zu werden; –– Gerechtigkeit, Gleichbehandlung;

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–– Freude, Spaß, Quatsch machen, Erholung, physisches und psychisches Wohlbefinden, eventuell Sexualität, Träumen; –– Recht auf Fantasiewelten. Da die Werte bei Kindern und Jugendlichen wesentlich häufiger alters- und zeitgeistabhängig zu wechseln scheinen, kann es sich hier nur um eine Auswahl handeln. Ein Übersetzungsangebot ist hier mehr mit Fragen als mit Vermutungen verbunden, zumal Kinder für ihre Werte oft keine Sprache finden und/oder diese wie Wertgegenstände im persönlichen Safe verschlossen halten. Beispiele für eine mögliche Übersetzung sind: –– »Du machst nicht das, was deine Eltern wollen, hörst nicht auf sie, räumst dein Zimmer nicht auf und bringst den Mülleimer nicht herunter.« – »Verstehe ich dich richtig, dass es dir um die Bestimmung deines eigenen Tempos und um Selbstbestimmung geht, dass du das grundsätzlich wohl machen würdest, aber nur eben dann, wenn du willst?« –– »Du beschimpfst deine Lehrerin in Gegenwart deiner Klassenkameraden mit Worten, die sie unerträglich findet.« – »Verstehe ich das richtig, dass du sie gar nicht unbedingt beleidigen willst, sondern dass es dir vor allem darum geht, deinen Freunden zu imponieren und du ihnen zeigen willst, was du dich traust und dass du cool bist?« –– »Du nimmst deinem Bruder den Joghurtbecher weg, wenn du keinen bekommst, und er schreit dann wie am Spieß und beschimpft dich. Dann schlägst du ihn.« – »Verstehe ich das richtig, dass du eigentlich gar nicht den Joghurt meinst, sondern dass es dir um gleiche Behandlung durch deine Eltern geht und du das ungerecht findest?« –– »Du belügst deine Eltern und sagst ihnen nicht die Wahrheit.« – »Verstehe ich das richtig, dass du denkst, deine Eltern würden sowieso nicht verstehen, was mit dir los ist, und du möchtest sie auch schützen, weil du denkst, dass sie das nicht aushalten? Und dass du Angst vor Strafe hast?« –– »Du gehst nicht zur Schule, bleibst im Bett oder gehst zum Spielen ins Kaufhaus.« – »Verstehe ich das richtig, dass du eigentlich gar nicht faul und gleichgültig bist, sondern möglicherweise sogar Lust auf Lernen hast, wenn dich der Lehrer nicht vor den anderen vorführen und blamieren würde und die anderen dann lachen?« Sicherlich sollte man nicht übertreiben und versuchen, jedes Verhalten zu psychologisieren und zu interpretieren. Dennoch kann es wichtig sein, neben dem bedeutsamen und unabdingbaren gewaltlosen Widerstand gegen ein nicht zu tolerierendes Verhalten der Kinder auch zu beachten, dass sie ehrenwerte Motive

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haben können, es ihnen also um die (Wieder-)Herstellung ihrer »Ehre« geht, was immer sie damit verbinden (→ vgl. den Beitrag von Christian Hawellek in diesem Band), oder einfach um die Beibehaltung einer Lebenslust, die ihre Eltern vielleicht schon vor lauter Erwartungsdruck verloren haben. Auch kann sich hier die Not der Kinder ausdrücken und auf ihre nicht erfüllten physischen Grundbedürfnisse hinweisen (→ vgl. den Beitrag von Peter Jakob in diesen Band). Jim Wilson (2003) betont die Wichtigkeit einer kindorientierten, kindfokussierten Therapie, in der auf diese Grundbedürfnisse (oder Werte) der Kinder eingegangen wird. Oft sind die wechselseitig aufeinander bezogenen Werte von Kindern und Eltern reziprok, komplementär, miteinander bzw. diametral verstrickt. Dabei neigen beide Seiten oft zu »Überdehnungen« ihrer Werte, das heißt zu deren extremer Betonung, oder sie vermuten und unterstellen beim Gegenüber eine absolute und totale Ausprägung der Werte. Dann kann sich schnell eine Spirale der Erwartungs-Erwartungen als Grundlage des Handelns ergeben und die Modulationsmöglichkeit verloren gehen. –– Je mehr die Eltern auf Nähe, Bindung und Kontrolle gehen, umso mehr wollen die Kinder – altersabhängig – oft Distanz, Unabhängigkeit, Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung. Für den anderen Pol sorgen ja die Eltern. –– Je mehr die Eltern auf Pflicht, Disziplin, Sicherheit und Ordnung pochen, umso mehr reizt die Kinder das Abenteuer, die Lust, das Chaos und die Aufregung. –– Je mehr die Eltern den Kindern gut gemeint, mit besten Absichten, Proviant in den Rucksack stopfen, umso schneller wird er oft an der nächsten Ecke stehen gelassen, um Leichtfüßigkeit zu erlangen. –– Je mehr Sicherheitsdenken und Angst das Verhalten der Eltern bestimmen, umso mehr Sehnsucht nach Abenteuer und Mutproben kann erwachen. –– Je mehr Verbindung gefordert wird, umso größer kann ein Freiheitswunsch werden – ohne dass dieses als Widerspruch zur Liebe zu den Eltern gefühlt wird. Und andersherum: Je mehr von den Eltern und der Gesellschaft Unabhängigkeit und Individualisierungstendenzen propagiert werden, umso mehr kann bei den Kindern der Wunsch nach Gemeinschaft und Anschluss wachsen, selbst wenn dabei als Preis Abhängigkeiten zu Peers eingegangen werden, die tragische Auswüchse zur Folge haben können (→ vgl. den Beitrag von Peter Jakob in diesem Band, S. 175: »homeboys«). Wir kennen die Dynamik von Wechselwirkungen in verschiedenen Situationen, beispielsweise bei Spaziergängen: »Warum rennst du denn so?« – »Wieso, du hetzt mich doch!!«, und von Elterndisputen: »Ich bin ja nur streng und kon-

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sequent, weil du alles durchgehen lässt!« – »Ich gebe ja nur manchmal nach, weil man bei dir ja gar nichts darf und du alles verbietest!« Aus gewechselter Perspektive kommt noch deutlicher eine mögliche See(len)not der Kinder zum Ausdruck: Je mehr die Eltern Gleichgültigkeit zeigen, umso größer kann die Sehnsucht nach Zuständigkeit, Präsenz, Verbindung und Zugehörigkeit werden. Da diese oft nicht direkt eingefordert werden kann, führt der Umweg manchmal über provozierendes Verhalten. Kinder haben oft keine Worte für ihre Sehnsucht. Haben die Eltern eine Doppelbelastung zu managen (Arbeit, Haushalt und Erziehung) und sind etwa benötigte Kitaplätze nicht ausreichend vorhanden, können Eltern (Mütter) ihren Kindern gegenüber oft nicht die Ruhe und Geduld aufbringen, die diese benötigen. Von Eltern wird täglich Flexibilität, Belastbarkeit und Effektivität – bei einem oftmals eigenem hohem Perfektionsanspruch – gefordert: »Wenn du im Recht bist, kannst du es dir leisten, die Ruhe zu bewahren, und wenn du im Unrecht bist, kannst du dir nicht leisten, sie zu verlieren« (Mahatma Gandhi). Herbert Renz-Polster (2011) hat ein Viereck der Angst beschrieben: –– die Angst vor dem Verwöhnen, –– die Angst vor dem Tyrannen, –– die Angst, nicht perfekt zu sein, –– und die Angst, Kinder zu wenig zu fördern. Das mögen übliche Ängste der Eltern sein, andere haben dagegen auch Angst vor Arbeitslosigkeit, davor, ihre Kinder nicht ernähren, angemessen einkleiden und bilden zu können. Sie haben Angst vor ihren eigenen Eltern, den Lehrern (auch wenn sie vielleicht gegenteilig selbstbewusst fordernd aufzutreten versuchen) und mögen sogar Angst vor der eigenen oder um die eigene Existenz haben. Dann können Eltern Netzwerke und Unterstützer benötigen. Andere Eltern haben aus anderen Gründen soviel mit sich selbst zu tun, dass die Kinder Signalpatronen abfeuern müssen, damit die See(len)not erkannt wird. Kinder sind wichtig und wollen auch so wahrgenommen und nicht als Ballast im Laderaum abgelegt werden. Um das zu verhindern, mag den Kindern oder Jugendlichen jedes Mittel recht sein, auch Widerstand, Protest und Aufsässigkeit – sie brauchen eine frische Brise, um atmen zu können und voranzukommen. Außerdem gilt: Je mehr Kinder von Pflichten ferngehalten werden, umso mehr können sie sich eine Verantwortungsübergabe und eine Beteiligung an Gemeinschaftsaufgaben wünschen, mit denen sie einen wichtigen Platz bekommen – weil das durchaus ihrem Wertsystem entspricht.

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Eltern können paradoxe Botschaften geben, die von ihren Kindern nicht verstanden werden. So kann durchaus die Wichtigkeit von Autonomie und Eigenständigkeit propagiert und betont werden, aber eben nur in der Form, wie sie von den Eltern gewünscht ist. Kinder werden aufgefordert, ihren eigenen Weg zu gehen, aber am besten den von den Eltern gewünschten oder gar vorgeschriebenen Pfad.

»Wann lernst du endlich, auf eigenen Füßen zu stehen und deinen Weg zu gehen?« Abbildung 2: Große Erwartungen

Und auch: Werden die Eltern als langweilig und spießig erlebt, sorgen Kinder oft für Aufregung und suchen das Risiko, was auch die Eltern aus dem Sessel zurück ins Leben holen könnte (bzw. aus dem Status des Vor-sich-hin-Dümpelns bei Flaute, um ins maritime Bild zurückzukehren). Vielleicht hatten sie einst ähnliche Werte wie ihre Kinder heute und haben diese längst aus »Vernunftsgründen« und Sicherheitsdenken eingebüßt oder vernachlässigt. Ein Neid der Eltern auf die »unbekümmerte«, kompromisslose Jugend und deren Rebellion mag die Dynamik anheizen. Stellt man somit einen neuen Bezugsrahmen her, dann könnten die als Provokationen erlebten herausfordernden Verhaltensweisen auch als ein Beitrag

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der Kinder oder Jugendlichen dazu gesehen werden, dass sich die Eltern mit Werten auseinandersetzen müssen und die Familie sich weiterentwickeln kann. Familien mit trans- oder multikulturellem Hintergrund können oft in Dilemmata geraten, wenn sie einerseits die Regeln ihres Herkunftssystem tradieren und ihnen treu sein wollen und andererseits im eventuell selbst gewählten aktuellen Bezugssystem auf neue Regeln und Werte stoßen, mit denen sie konfrontiert werden und mit denen sie zurechtkommen wollen oder müssen. Die oft schon im neuen Heimatland geborenen folgenden Generationen können zuweilen unter diesem Spagat inkompatibler Wertesysteme leiden und eine mögliche Wertediskussion provozieren. Dieses kann zur Entwicklung »hybrider Identitäten« (Schirilla, 2013, S. 58 f.) führen. Viele schaffen den Spagat sehr gut, zu Hause eher traditionelle Werte und in der Öffentlichkeit die der Mehrheitsgesellschaft zu vertreten (siehe Toprak, 2010; von Wensierski u. Lübcke, 2012). Eine orientierende Rahmung kann aber auch sehr schwer werden und bedarf dann einer neuen kulturellen Verortung (→ zu kulturellen Werteunterschieden siehe auch die Beiträge von Heidi Keller, Hiltrud Otto und Jörn Borke in diesem Band). Es könnte insofern sehr hilfreich sein, eskalierende, die Beziehung stark belastende Machtkämpfe zwischen Eltern und Kindern (auch) als eine beidseitige Überprüfungs- und Testphase zu beschreiben, wo herausfordernd Werte geprüft und dahingehend hinterfragt werden, ob sie noch als kontext- und zeitgemäß bewertet werden können. Auch hier kann das Verhalten der Kinder dann als deren Beitrag zur Entwicklung der Familie betrachtet werden. Die Werte der Berater Berater und/oder Therapeutinnen sollten sich auch selbst hinterfragen, welche Werte sie favorisieren, wie sie diese im Coaching gegebenenfalls transportieren. Sie sind auch gut beraten, die Klienten zirkulär zu befragen, was diese vermuten, welche Werte der Therapeut oder Berater wohl hat – schon wegen der Geschlechts- und Schichtzugehörigkeit bzw. der vermuteten kulturellen Herkunft (→ vgl. den Beitrag von Jörn Borke in diesem Band). Wertediskussion versus Widerstand gegen deren Um- und Durchsetzung In der Beratungs- bzw. Therapiepraxis ist immer wieder zu beobachten, dass Kinder und vor allem Jugendliche oft gar nicht gegen die Werte als solche opponieren wollen, sondern dass die Art, mit der ihre Eltern (Pädagogen) versuchen, diese Werte durchzusetzen, die Machtkämpfe auslöst.

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Für Kinder sind Regeln zur Orientierung wichtig. Sie reagieren jedoch zumeist allergisch auf Reglementierungen. Das stößt schnell auf Widerstand vor allem bei Jugendlichen. Mittelschichtorientierte Eltern lehnen zwar oft direktive, in Befehlsform verbalisierte Erziehungsstile ab, da das eine »hierarchische Verbundenheit« signalisieren (→ vgl. den Beitrag von Heidi Keller in diesem Band) würde, die sie als Erziehungsstil abgelegt haben und als nicht mehr zeitgemäß bewerten würden. Sie verwenden jedoch oft eine Sprachform, die deutlich macht, dass sie nicht einverstanden sind, wenn die Kinder wirklich Optionen oder Antworten wählen, die ihnen nicht gefallen. Sätze wie »Würdest bitte den Mülleimer runterbringen?« (»Nein.«) oder »Wann räumst du denn wohl mal dein Zimmer auf?« (»Weiß ich noch nicht.«) oder »Könntest du mir beim Rasenmähen helfen?« (»Ja, mach ich aber nicht.«) sind keine Fragen, sondern Anordnungen, denen man sofort Folge leisten soll. Auch scheint Deutschland oft als ein Land zu gelten, das mehr Ausrufezeichen habe als Einwohner. Fragezeichen, die auch als solche gemeint sind, würden vielleicht mehr Anteilnahme signalisieren. Statt: »Du bist heute Abend um 22.00 Uhr zu Hause!!« vielleicht eher: »Wir möchten, dass du um 22.00 Uhr zu Hause bist, weil wir uns sonst Sorgen machen. Was hast du selbst gedacht, wann eine gute Zeit ist, um heute zu Hause zu sein?« Vielleicht sogar noch: »Was hast du vor, wie denkst du darüber?« Das sollte nicht eine klare Ansage ersetzen und den Kindern letztendlich die Verantwortung überlassen, sondern dazu führen, dass die Absichten der Kinder in die Entscheidung mit einbezogen werden und die Eltern sich gegebenenfalls verhandlungs- und kompromissbereit zeigen können. Ansagen in Ich-Form sind zu unterscheiden von kontrollorientierten Anordnungen in DuForm. Regeln dokumentieren, dass von den Eltern (auf der Basis ihrer Werte) Unterschiede gemacht werden. Sie dienen zur Komplexitätsreduktion von Verhaltensmöglichkeiten. Sie können als Beschreibungen formuliert werden und müssen nicht mit Bewertungen verbunden werden: »Wenn du das tust, bist du böse oder schlecht!« oder gar mit Drohungen von Beziehungsabbruch: »Wenn du das tust, kommst du ins Heim, will ich dich nicht mehr sehen, bist du nicht mehr mein Sohn etc.«, denn dadurch würde dem Entstehen von Feindbildern und einer Dämonisierung Vorschub geleistet werden. Bewusst gemachte Werte können für einen gefestigten Gleichgewichtssinn und für eine Raumvorstellung sorgen – für das Zurechtfinden und die ­Orientierung (siehe Wedekind u. Georgi, 2005) im dreidimensionalen Raum –, beide können als tragende Säulen beim hilfreichen Navigieren gelten. Beispiele für einen möglichen Schritt auf die bewusste Metaebene mit angepasster Rhetorik sind:

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–– »Ich weiß, du erlebst es als Beschwerung und Behinderung, und das ist unser Dilemma: Je mehr du dich dagegen wehrst und wir dann denken, dass du in Gefahr gerätst, desto mehr müssen wir uns verankern und die Verbindung erschweren. Das wollen wir eigentlich nicht. Aber das ist unser Weg, dir zu zeigen, dass wir dich lieben und du uns wichtig bist. Wir können nicht zulassen, dass du uns verloren gehst.« –– »Das machen wir, weil wir uns sorgen, wir wollen uns keine Vorwürfe machen. Das machen wir für uns, nicht unbedingt für oder gegen dich, sondern für uns als Eltern, das ist unser Job, ist unsere Aufgabe und ist unsere Berufung. Und unser Zeichen, dass du uns wichtig bist und wir uns als Eltern aber auch wichtig sind. Wir machen das für uns und für eine gute Beziehung zu dir.« –– »Ihr seid Scheißeltern!« – »Das mag für dich jetzt so sein«, »Nicht immer!« oder »Eltern haben das Recht, manchmal blöd zu sein!« könnten souveränere Antworten sein als lange Rechtfertigungstiraden wie: »Das sagst du, und wer kann dich denn nachts abholen, weil du wieder den Bus verpasst hast, und wer hat dir denn die letzten Jeans bezahlt, obwohl deine noch gut waren, nur weil die Marke nicht mehr ›in‹ war …« Der Gedanke, der hier vermittelt werden soll, ist, dass nicht das Verhalten der Kinder und das Verhalten der Eltern isoliert gesehen werden sollten, und dass man nicht nur abwechselnd Interaktions- oder Transaktionsketten beschreiben sollte, in denen der eine auf den anderen reagiert und man sich vom anderen zu seinen Reaktionen gezwungen sieht, sondern dass man alles systemisch als ein Gefüge betrachten kann, in dem jeder seinen Part hat, seinen Preis zahlt und an der Entwicklung der Familie mitwirkt. Alles ist ein Ganzes. Das gilt für eskalierende Verhaltensweisen, aber auch für die Wertesysteme der Beteiligten. Die Kinder wissen oder spüren doch, dass es die Werte der Eltern gibt – je klarer sie diese kennen oder erleben, umso mehr können sie den Gegenpol strapazieren. Und wenn sie es nicht wissen, ist es ihr gutes Recht, die Werte der Eltern bzw. Pädagogen herauszufordern. Zurück zur Navigationsmetapher: In der Nähe magnetischer Pole kann man nicht mit dem Kompass navigieren. Kleben Eltern (oder Erzieher, Lehrer) magnetisch in einer symmetrischen oder komplementären Eskalation aneinander, ist die Beziehung aktuell hochelektrisch geladen, dann braucht es Alternativen, Aufschub und die Metakommunikation, um aussteigen und sich befreien zu können.

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Zum Schluss Kinder und Jugendliche wie auch die Erwachsenen können wieder lernen oder sich besinnen, sich bei ihrer großen Fahrt an der guten alten Sonne und den Sternen zu orientieren und sich nicht übermäßig auf Techniken, ständig upgedatete Browsingmethoden und ausgeklügeltes Handwerkszeug zu verlassen. Das kann bedeuten, ihnen zu helfen, ihrer Intuition wieder mehr zu vertrauen und auf ihre innere Stimme zu hören. Eltern sollten versuchen, den Kindern und auch sich selbst weniger zu misstrauen. Denn Misstrauen schwächt, belastet die Beziehung und fördert Dämonisierung und das Entstehen von Wahrnehmungsfehlern (→ vgl. den Beitrag von Arist von Schlippe in diesem Band). Durch Liebe und Beziehungsgesten, die sich auf ihre Beziehung zum Kind und nicht auf das möglicherweise herausfordernde Verhalten des Kindes beziehen (vgl. Josse, 1998), können Eltern dafür sorgen, dass sie als freundliche Sonne für die Kinder erkennbar sind – und nicht als Gewitterwolken, die ständig hin- und herziehen und düstere Stimmung verbreiten. Etwas Humor und die Annahme des Lebens als sportliche Herausforderung könnten gut tun – das Leben als Regatta, bei der es gut ist, auch lebendiges, unkalkulierbares Wasser unter dem Kiel zu haben und das Wetter nicht immer vorhersagbar ist. Um zum Ziel zu kommen, kann es bei entsprechenden Winden nicht immer geradeaus gehen, Kreuzen ist zwar umständlich, aber erfolgreicher. Eltern müssen nicht als Einhandsegler allein die Welt umrunden. Sie können die Reise mit anderen gemeinsam antreten – auch wenn es nicht immer eine Vergnügungsreise ist. Denn: Wie verlockend kann doch die Freiheit der Meere sein. Sieben Weltmeere, rund um das Kap Hoorn und immer wieder um das Kap der Guten Hoffnung, hin zu den Inseln – hinter dem Horizont geht’s weiter. Ach, das würde so manches Kind ansprechen und auch das erinnerte Kind im Erwachsenen könnte sich recken. Und wenn mal Schiffbruch erfolgt, dann kann doch Robinson schon dort sein, also jemand, der sich auskennt oder auch noch der eingeborene Freitag, der mit anpackt (oder der »lange Donnerstag« der Beratungsmöglichkeiten). Oder vielleicht handelt es sich ja auch um eine Schatzinsel, wo Kisten mit wertvollen erziehungskonstruktiven Kostbarkeiten entdeckt werden können. Ähnliches finden Kinder oft in Cyberwelten, wo sie sich sicher fühlen vor ihren »Digital-immigrant«-Eltern, die oft nicht folgen können, und wo das Abenteuer noch möglich ist und man sich in verschiedenen Rollen erproben kann – wohl mit Konsequenzen, aber ohne Moral. »Game over« zeigt eine vorher bekannte Grenze des Spiels an und entspricht einem klaren »Nein, weiter geht’s so nicht« – ohne lange Predigten, Schuldzuweisungen und kleinmachende Entwertungen.

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Ebenso könnten die Kinder immer wieder selbst als Sonnenschein wahrgenommen werden, der immer vorhanden ist, selbst wenn sich gelegentlich herausfordernde dunkle Verhaltenswolken davorschieben (Josse, 1998). Sich auf eigene Werte zu besinnen und sich gegen unduldbares Verhalten zur Wehr zu setzen, dabei offen zu sein für die angenommenen ehrenwerten Werte der Kinder: Das könnte dazu beitragen, dass um die Liebe und nicht um die Macht gekämpft und dass wegen der Liebe geliebt wird.

Literatur Foerster, H. von (2006). Wissen und Gewissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Grabbe, M. (2006). Bündnisrhetorik in Spannungsfeldern mit Kindern. In C. Tsirigotis, A. von Schlippe, J. Schweitzer-Rothers, (Hrsg.), Coaching für Eltern. Mütter Väter und ihr »Job« (S. 252–267). Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Grabbe, M. (2007). Bündnisrhetorik und Resilienz im gewaltlosen Widerstand. In A. von Schlippe, M. Grabbe (Hrsg.), Werkstattbuch Elterncoaching. Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis (S. 25–43). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Grabbe, M. (2009). Es gibt keinen Weg zu einer guten Beziehung – eine gute Beziehung ist der Weg. Familiendynamik, 34 (3), 266–274. Josse, B. M. (1998). Mama do you love me. San Francisco: Chronicle Books. Kerstin, J. (Hrsg.) (1997). Starke Typen: Iron Mike, Dirty Harry, Crocodile Dundee und der Alltag von Männlichkeit. Baden-Baden: Nomos. Marks, S. (2013). Scham – grundlegende Überlegungen. Familiendynamik, 38 (2), 152–160. Renz-Polster, H. (2011). Menschenkinder: Plädoyer für eine artgerechte Erziehung. München: Kösel. Rokeach, M. (1973). The Nature of Human Values. New York: Free Press. Omer, H., Alon, N., Schlippe, A. von (2007). Feindbilder. Psychologie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Petzold, H. (1993). Integrative Therapie. Paderborn: Junfermann. Rotthaus, W. (1998). Wozu erziehen? Entwurf einer systemischen Erziehung. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. Schirilla, N. (2013). Die Vielfalt der Identitäten und die Macht der Konstruktion des Einen. Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung, 31 (2), 56–62. Schlippe, A. von (2012). Werte und Wertewandel in Familienunternehmen am Beispiel der Unternehmensnachfolge. In B.-H. Hennerkes, G. Augustin (Hrsg.), Wertewandel mitgestalten. Gut handeln in Gesellschaft und Wirtschaft (S. 367–385). Freiburg: Herder. Schwartz, S., Bardi, A. (2001), Value hierarchies across cultures. Journal of Cross-Cultural Psychology, 32 (3), 268–290. Steiner, T., Kim Berg, I. (2005). Handbuch Lösungsorientiertes Arbeiten mit Kindern. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Stierlin, H. (2007). Gerechtigkeit in nahen Beziehungen. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Toprak, A. (2010). Integrationsunwillige Muslime? Ein Milieubericht. Freiburg: Lambertus.

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Die Kraft der zwei Anker: Wie die Beziehung der Eltern ihre Präsenz und Autorität stärkt1

Vorbemerkungen In verschiedenen Beiträgen dieses Bandes findet sich die Ankerfunktion als Metapher. Eltern verankern sich, um über die Ankerkette ihren Kindern sowohl optimalen Halt und Verbundenheit zu geben als auch die nötige Autonomie zu ermöglichen. Bislang hatte meist eher ein Anker Platz in der Metapher. Noch besseren Halt bieten jedoch zwei Anker: einer vorn am Bug und einer am Heck. Dadurch kann das Schiff eine gute Ausrichtung erfahren und über die Länge der Verbundenheit ausreichend Freiheit und Beweglichkeit. Die Anker gehen dann auf Zug, wenn Gefahr droht und die wachsame Sorge es verlangt.

Abbildung 1: Die Kraft der zwei Anker

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Eine Erstfassung dieses Beitrages erschien in Systhema, 27 (1), 6–19. Überarbeitung und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion. Übersetzung: Nina Schindler.

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Das Feld der Familientherapie hat in den letzten vierzig Jahren einen Prozess durchlaufen, der zur Herausbildung von zwei neuen thematischen Bereichen geführt hat: Paartherapie und Elterncoaching. Während dieses Prozesses wurden Therapien für die Lösung der Hauptanliegen eines jeden Subsystems entwickelt, die zu beeindruckenden empirischen Ergebnissen sowohl in der Familientherapie als auch im Elterncoaching geführt haben. Gleichzeitig entstand zwischen dem Elternsubsystem und dem Paarsubsystem eine Kluft, die neue therapeutische Herausforderungen zur Folge hatte. Eine davon ist die Frage, wie man auf Ehezwist reagieren soll, während man Elterncoaching betreibt. Viele Therapeuten fürchten diese Situation, weil sie der Ansicht sind, dass der Streit zwischen den Eltern zum Verlust des Fokus führen und vom eigentlichen Thema wegführen könnte, sodass eine Verwirrung und Unterbrechung der Struktur des Elterncoachingprozesses die Folge wäre. Um das zu verhindern, reagieren Therapeuten oft mit improvisierten Lösungen: –– Sie verordnen vor dem Coaching eine Paartherapie. –– Sie lassen die Eltern gleichzeitig ein Coaching und eine Paartherapie bei zwei verschiedenen Therapeuten durchlaufen. –– Sie verordnen den Eltern, »sich selbst zu kontrollieren« und Paarthemen während der Elterncoachingsitzungen auszuklammern. –– Sie überweisen an eine Familientherapie, die alle Familienmitglieder einschließt. Jede dieser Möglichkeiten hat Vorteile, alle basieren auf der Annahme, dass Elterncoaching und Paartherapie keine miteinander zu vereinbarenden Praktiken sind. Die Forschungs- und theoretische Literatur unterstützen diese Annahme. Ein Versuch, Elterncoaching und Paartherapie gleichzeitig durchzuführen, müsste erst noch systemisch entwickelt werden.2 Ohne eine solche Anleitung müssen sich viele Therapeuten, die elterliche Konflikte während der Elterncoaching-Sitzungen schlichten wollen, auf Improvisationen beschränken und können dann leicht die Richtung verlieren. Das Anliegen dieses Beitrags ist, ein vorläufiges Modell zur Handhabung, Regulierung und Lösung von Eltern(-paar)konflikten während des Elterncoachings anzubieten. Dieses Modell basiert auf der Integration zweier Vorgehensweisen, die meine Arbeit mit Familien prägen: einerseits auf dem Non-Violent-Resis2 Modelle für Elterncoaching wie das Triple P (Sanders, Turner u. Markie-Dadds, 1998) oder Multisystemische Therapie (Henggeler, Schoenwald, Borduin, Rowland u. Cunningham, 1998) haben Paartherapie-Interventionen erfolgreich in ihr Programm eingebaut. Doch beide Programme liefern keine dauerhafte Anleitung für die Lösung von Elternkonflikten während Elterncoachingsitzungen.

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tance (NVR)-Elterncoaching-Modell (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004) und andererseits auf der Collaborative Couple Therapy (Wile, 1993, 2011). Mit diesem integrativen Modell möchte ich es den Therapeuten ermöglichen, von der Fokussierung auf das Elternverhalten und die Erziehungskompetenz (was wir hauptsächlich beim Elterncoaching tun) auf die Beziehung der Eltern zu wechseln (was wir eher in der Paartherapie tun), wobei die Struktur und der Ablauf des Prozesses beibehalten wird. Die Grundannahme des Modells besteht darin, dass Eltern zwischen zwei grundsätzlichen Positionen hin und her wechseln – der »kooperativen Elternhaltung«, die man gut für Elterncoaching-Interventionen nutzen kann, und der »antagonistischen Elternhaltung«, die eine am Paar orientierte therapeutische Position verlangt, um handlungsfähig zu sein.3 Damit Therapeuten erfolgreich mit Eltern arbeiten können, müssen sie imstande sein –– zu bestimmen, wann der Wechsel von der kooperativen zur antagonistischen Haltung erfolgte, und –– ihre therapeutische Position zu ändern, um diesem Wechsel zu folgen. Dieser Beitrag wird diesen Prozess beschreiben. Ich beginne mit der Beschreibung der theoretischen Aspekte der elterlichen Beziehung. Dann beschreibe ich die Hauptunterschiede in der therapeutischen Position zur kooperativen und zur antagonistischen Haltung. Danach zeige ich Möglichkeiten auf, wie die antagonistische Haltung gesteuert werden kann, und schließlich beschreibe ich, wie Eltern diese Steuerung selbst vornehmen können – wie sie zu bestimmten Zeitpunkten den Streit in wechselseitige Unterstützung, Elternkompetenz und wachsende Intimität münden lassen können.

Die kooperative und antagonistische Haltung in der Elternbeziehung Eltern haben rund um ihre Elternschaft eine Beziehung miteinander, die man als Coparenting (Weissman u. Cohen, 1985) bezeichnet. Sie besteht neben den romantischen und sexuellen Aspekten der Ehe und wird definiert als das Ausmaß, in dem sich Eltern im Umgang mit ihren Kindern wechselseitig unterstützen oder unterminieren (Feinberg, 2003). Es gibt zwar Überschneidungen von der Paarbeziehung und der Coparenting-Beziehung, doch nicht alle belasteten 3 Der Unterschied zwischen der kooperativen und der antagonistischen Haltung basiert auf Wiles Arbeit (1993).

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Paarbeziehungen werden zu belasteten Coparenting-Beziehungen, und nicht alle Eltern mit negativer Coparenting-Dynamik sind in ihrer Paarbeziehung unglücklich (Cowan u. McHale, 1996). Verschiedene Forscher wollten die unterschiedlichen Dimensionen definieren, aus denen sich das Coparenting-Konstrukt zusammensetzt (Teubert u. Pinquart, 2009). Zum Beispiel argumentieren Konold und Abidin (2001), die das PAI (Parenting Alliance Inventory) entwickelten, dass sich die Coparenting-Allianz aus zwei Hauptvariablen zusammensetzt: Kommunikation und Teamwork sowie Respekt. Kommunikation bezieht sich auf das Maß an Übereinstimmung bei den Erziehungszielen für das Kind. Sie beinhaltet Äußerungen wie »das Reden mit dem anderen Elternteil meines Kindes ist etwas, worauf ich mich freue«. Respekt bezieht sich auf das Vertrauen in das Engagement und das Urteil bezüglich der Fürsorge für das Kind. Respekt umfasst Äußerungen wie »der andere Elternteil meines Kindes sagt mir, ich wäre ein guter Elternteil«. Für einige Paare ist Coparenting ein Bereich, in dem ihre Fähigkeit zur Koordination der Herausforderungen bei der Kindererziehung zur Hauptstütze ihrer Beziehung wird. Für andere wird er zum Schlachtfeld, in dem Unterschiede und Egoismus zu ständigem Wetteifern und zu Konflikten führen (Belsky, Putnam u. Crnic, 1996). Es wurde bezüglich des Coparenting die Hypothese aufgestellt, dass es die vermittelnde Variable zwischen Paarkonflikt und dem Problemverhalten des Kindes ist (Gable, Belsky u. Crnic, 1992). Wenn das Problemverhalten des Kindes allerdings die Elternbeziehung stark beeinträchtigt, dann geht der Paarkonflikt auch in erfolglose Elternschaft über (Feinberg, 2003).

Abbildung 2: Die Zentralität der Elternbeziehung in der Familiendynamik

Die Elternallianz ist sensibel und kann leicht beeinträchtigt werden – von der Paarbeziehung, der Erziehungsqualität oder durch das Verhalten des Kindes (siehe Abbildung 2). Da sie von unterschiedlichen Familiendynamiken berührt wird, tendiert die Elternbeziehung dazu, sich von der kooperativen Haltung, mit

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der sich die Eltern unterstützen, ermutigen und respektieren, in eine antagonistische zu verwandeln, aus der heraus sich die Eltern beschuldigen, kritisieren und sie sich nicht vom anderen respektiert sehen. Nach Wile (2011), der ausführlich die antagonistischen Dynamiken in der Paartherapie beschreibt, sind die zwei Hauptursachen, die zu einer antagonistischen Dynamik führen, der »Verlust der Stimme« und der »Verlust der Beziehung«. Stimmverlust bedeutet den Verlust der Fähigkeit, Gefühle zu kommunizieren, die momentan jeweils die lebendigsten sind. Der Stimmverlust führt daher häufig auch zu einem Verlust der Beziehung. Denn ohne die Fähigkeit, sich einander ihre wahren Gefühle mitzuteilen, werden die Ehepartner sich fremd und greifen auf Kommunikationsformen zurück, die zu Wut, Feindseligkeit und Entfremdung führen. Im Therapieraum sind folgende Anzeichen typisch dafür, dass Eltern eine antagonistische Haltung einnehmen: –– Die Eltern geben einander die Schuld an den Problemen des Kindes: »Du bist zu streng!«, »Du bist zu nachgiebig!« –– Die Eltern sind sich uneins bezüglich des Problemverhaltens: »Ich halte das für ein Problem!«, »Nein, ich finde das völlig normal!« –– Die Eltern hören einander nicht zu, sondern sind nur bereit, dem Therapeuten zuzuhören. –– Die Eltern beschuldigen sich, zu engagiert oder nicht engagiert genug zu sein. Im Beratungsgespräch lässt es sich an der Beziehung zur Beraterin erkennen, dass sich die Eltern in einer indirekten antagonistischen Verfassung befinden:4 –– Ein oder beide Elternteile geben ihr die Schuld am Verhalten des Kindes. –– Ein oder beide Elternteile widersetzen sich bei Interventionen. –– Die Beraterin gibt einem oder beiden Elternteilen die Schuld. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zeigt sich in folgenden Anzeichen: –– Die Eltern können ihre Meinungsverschiedenheiten aushalten und sie manchmal sogar als Stärken interpretieren. Sie können humorvoll ihre unterschiedlichen Erziehungsstile beschreiben. –– Die Eltern wertschätzen, was der jeweils andere tut. –– Die Eltern geben einander nicht die Schuld am Problem des Kindes. 4

Eines der üblichen Anzeichen, dass sich die Eltern in einem antagonistischen Zustand befinden, zeigt sich darin, dass der Therapeut/die Therapeutin eine ablehnende Haltung zu einem oder zu beiden Elternteilen entwickelt. Wenn ich das bemerke, beziehe ich mich nicht mehr auf die Eltern, sondern arbeite an meiner Beziehung zu den Eltern, um eine weitere Zusammenarbeit zu ermöglichen. Wenn mir das gelingt, helfe ich den Eltern, eine kooperative Interaktion miteinander zu entwickeln.

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–– Die Eltern sehen ihre Rollen in den Auseinandersetzungen mit dem Kind kritisch und wollen ihr Verhalten ändern. –– Die Eltern stimmen mit einigen Kritikpunkten des anderen Elternteils an ihrem Erziehungsverhalten überein. Die antagonistische Haltung beeinflusst den Therapeuten genauso wie die kooperative Haltung. Wenn Eltern miteinander kooperieren, bemerkt die Beraterin meist, dass –– sie die Eltern mag, –– dazu neigt, das schwierige Verhalten des Kindes individualisierend hauptsächlich als ein Resultat seiner eigenen Schwächen und Schwierigkeiten anzusehen, –– die Eltern ihre Interventionen positiv bewerten und sich dafür interessieren.

Wie Therapeuten auf die unterschiedlichen Haltungen der Eltern reagieren sollten Wenn Therapeut(inn)en eine Veränderung von einer kooperativen Elternhaltung zu einer antagonistischen wahrnehmen, dann sollten sie ihre eigene Position verändern, sonst sehen sie sich möglicherweise in der antagonistischen Dynamik eines oder beider Elternteile gefangen. Was bedeutet es, wenn man in der antagonistischen Dynamik eines Elternteils gefangen ist? Das bedeutet, dass man den Elternteil (oder die Eltern) negativ wahrnimmt, ihnen die Schuld an den Problemen des Kindes gibt und sie egozentrisch, kindisch, unmöglich usw. findet. Die beiden häufigsten Möglichkeiten für den Therapeuten, in solch eine Dynamik mit Eltern einzusteigen, sind: –– das Unvermögen, die Eltern daran zu hindern, miteinander zu streiten; –– dass die Eltern Widerstand leisten und die Interventionen des Therapeuten ablehnen. Wie vermeiden wir es, uns in so antagonistischen Interaktionen zu verfangen? Indem wir unsere Haltung anpassen und verändern – von der problemlösenden Haltung, die Elterncoaching kennzeichnet, zu der Kommunikationshaltung, die wir häufig als charakteristisch bei einer Paartherapie ansehen. So wie die problemlösende Haltung höchst effektiv ist, wenn die Eltern kooperieren, so reduziert die kommunikative Haltung wirkungsvoll antagonistische Interaktionen. Diese Veränderung in der therapeutischen Haltung zeigt sich auf mehreren wichtigen Ebenen (siehe auch Tabelle 1, S. 92). Dazu gehören:

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Lösungen: Bei kooperativen Eltern sind Lösungen ein Ergebnis von »Problemlösungen«. So bieten Therapeuten Eltern innovative Möglichkeiten, auf das Kind zuzugehen und sich mit ihm zu identifizieren. Je mehr die Eltern miteinander kooperieren, desto eher sind sie bereit, die Interventionen zu nutzen und auszuprobieren, die ihnen der Therapeut anbietet. Doch bei antagonistischen Eltern können Therapeuten die kreativsten Elterninterventionen anbieten und werden trotzdem zurückgewiesen. Bei einer antagonistischen Einstellung sind Lösungen das Ergebnis einer anderen therapeutischen Strategie, die auf »Lösung des Augenblicks« abzielt (Wile, 1993, 2011). In der Augenblickslösung versucht der Therapeut unausgesprochene Wünsche, Ängste oder Gefühle auszudrücken, die die Eltern sich nicht mitteilen können. Damit etabliert der Therapeut einen Kommunikationszyklus, der den antagonistischen und entfremdenden Zyklus ersetzen soll, in dem die Eltern gefangen sind. Die Rolle des Therapeuten: Von kooperierenden Eltern werden das Wissen und die Kompetenz des Therapeuten akzeptiert und in die Verständigung der Eltern integriert. Bei einer antagonistischen Haltung ist die Rolle des Therapeuten als Übersetzer der jeweiligen Erfahrung des jeweiligen Elternteils hilfreicher. In diesen Situationen brauchen die Eltern vor allem eine andere Empathie und das Verstehen ihrer subjektiven Erfahrung. Interessanterweise verlangen antagonistische Eltern oft vom Therapeuten – und setzen ihn sogar unter Druck –, er solle die Rolle des Experten spielen und entscheiden, »wer recht hat und wer nicht«. Wenn der Therapeut bei antagonistischen Eltern eine solche Rolle übernimmt, bekommt er oft ein Problem. Kommunikationsfluss: Bei Kooperation werden zwischen dem Therapeuten und den Eltern Informationen mit konstruktivem Ergebnis ausgetauscht. Bei antagonistischen Eltern nimmt der Kommunikationsfluss einen anderen Weg und konzentriert sich auf aggressive Wortwechsel zwischen den Eltern. Um die ­Konflikte der Eltern zu stoppen, versucht der Therapeut häufig, diesen Kommunikationsfluss durch einen zu ersetzen, der dem kooperierenden ähnelt, indem er die Eltern anspricht und sich ihre Antworten anhört. Diese Strategie bewirkt eine momentane Unterbrechung des Streits, aber sie bietet keine Hilfe bei dem Auslöser der antagonistischen Dynamik.5 In solchen Situationen ist es oft hilfreicher, im Kommunikationsfluss von Elternteil zu Elternteil zu bleiben und die jeweilige Haltung des einen für den anderen zu übersetzen. So kann 5 Bei der Arbeit mit geschiedenen Eltern ist diese Strategie angemessen, weil es nicht darum geht, eine innige Verbindung zwischen den Eltern wiederherzustellen.

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den Bedürfnissen, Wünschen und Ängsten beider Elternteile Gehör und letztendlich auch Berücksichtigung verschafft werden. Koalitionen: Kooperative Eltern fühlen sich nach Wile (1993) »wie auf einem Podium«, was bedeutet, dass der Therapeut und die Eltern das Problem von einer höheren Ebene aus betrachten können. In solchen Momenten ist es möglich, sich auf beide Elternteile zu beziehen bzw. beide anzusprechen und gleichzeitig wird es von den Eltern angenommen. Im Gegensatz dazu ist ein solches Vorgehen bei antagonistischen Eltern schwierig. Deshalb besteht die hilfreichere Strategie darin, ständig zwischen dem Eingehen einer Koalition mit dem einen und dem anderen Elternteil hin und her zu wechseln. Zeitorientierung: Bei kooperierenden Eltern dreht sich die therapeutische Position um die Zukunftsplanung – wie die Eltern reagieren werden, wenn ihr Kind sich querstellt. Bei antagonistischen Eltern sollte sich der Therapeut auf das konzentrieren, was gegenwärtig geschieht, besonders im Konflikt zwischen den Eltern. So erhalten die Eltern die Hilfen, die es ihnen ermöglichen, sich in künftigen Konflikten mit ihren elterlichen Differenzen auseinanderzusetzen. Tabelle 1: Die Position des Therapeuten bei kooperierenden und bei antagonistischen Eltern kooperierend

antagonistisch

Lösungen

Problemlösung

Momentlösung

Rolle des Therapeuten

Experte

Übersetzer

Kommunikationsfluss

Therapeut der Eltern

von Elternteil zu Elternteil

Koalitionen

mit den Eltern

mit jedem Elternteil

Zeitorientierung

Zukunft

Gegenwart

Bei unterschiedlichen Elternhaltungen die therapeutische Position zu verändern, ist sehr sinnvoll und wirft gleichzeitig die Frage auf, wie man einen solchen Wechsel vollzieht, ohne bei den Eltern Angst auszulösen. Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass ein unerwarteter Wechsel zum Eingehen auf einen antagonistischen Elternteil (was bedeutet, dass der Therapeut sich ähnlich verhält wie ein Paartherapeut) häufig dazu führt, dass die Eltern protestieren: »Wir wollten aber keine Paartherapie!«6 Doch solche Reaktionen können leicht vermieden werden, wenn der Therapeut die Eltern auf solche Wechsel vorbereitet. 6 Diese Beschwerde wird meistens vom Vater geäußert.

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Deshalb bitte ich die Eltern in der ersten Sitzung um die Erlaubnis, auch über ihre Elternbeziehung sprechen zu dürfen. Ich teile ihnen ausführlich mit, dass ich keine Paartherapie beabsichtige, sondern dass mein Ziel darin besteht, dass ich sie »zu dem besten Team, das sie sein können« machen will. Dann frage ich sie, ob ich mit ihnen über ihr Teamwork als Eltern sprechen soll und sie dieses verbessern möchten. Fast alle Eltern reagieren darauf positiv.

Elternkonflikte als Möglichkeiten für größere elterliche Nähe Während der Sitzungen können die Eltern sowohl über die Konflikte mit ihrem Kind als auch über die Konflikte innerhalb ihrer Beziehung sprechen. Für klassische Familientherapeuten ist dies wegen der Grundannahme, dass das Hauptproblem im Subsystem Paar liegt und dass die Symptome des Kindes meistens ein Symptom dieser Probleme sind, ein willkommener Themenwechsel.7 Für andere Therapeuten bedeutet eine Eskalierung von Elternkonflikten, dass signifikante Eheprobleme den Elterncoaching-Prozess gefährden und nach einer Änderung der Therapieform verlangen – weg vom Elterncoaching hin zur Paartherapie. Nach meiner Sichtweise gehören solche Kämpfe zu der Entwicklung einer Elternallianz. Ich verstehe die intensiven Reaktionen als verzweifelte Anstrengungen, die Elternbeziehung und die Eltern-Kind-Beziehung zu verbessern. Ich führe diese Konflikte auf folgende Momente zurück: –– Wunsch nach Anerkennung und Respekt: Die oft gehörte Elternklage »Bei mir benimmt das Kind sich nie so!« kann leicht als ein Versuch gesehen werden, den anderen Elternteil zu tadeln und zu kritisieren. Ich möchte es lieber als wirkungslosen Versuch bezeichnen, den Respekt des anderen Elternteils zu gewinnen. Deshalb interveniere ich in solche Situationen und sage: »Ich glaube, Ihr Partner versucht zu sagen: ›Ich will dich nicht kritisieren, aber

7 Das erinnert mich an eine persönliche Erfahrung, die ich mit meiner ersten Familientherapie-Supervisorin hatte, einer Anhängerin der Strukturellen Familientherapie. Ich war bereits erfahren genug, um Elterntraining zu machen, aber noch nicht erfahren genug für Paar- oder Familientherapie. Damals arbeitete ich mit den Eltern eines Kindes mit vielen Verhaltensauffälligkeiten. Nach ein paar Monaten verbesserte sich das Verhalten des Kindes signifikant und in den Sitzungen kamen eher Paarthemen zur Sprache. Als ich das meiner Supervisorin mitteilte, sagte sie: »Sehr gut, dann können Sie ja endlich eine richtige Therapie mit dieser Familie machen!«

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ich wünschte mir, du würdest sehen, wie erfolgreich ich bei unserem Kind bin, und würdest das wertschätzen.‹« –– Wunsch, Punkte für sich verbuchen zu wollen: Eltern bedienen sich extremer Aussagen, um einen für sie bedeutsamen Gedanken wirkungsvoller zu kommunizieren. Wenn zum Beispiel ein Vater zur Mutter sagt: »Du bist unfähig, Grenzen zu setzen! Du lässt die Kinder alles tun, was sie wollen!«, dann beteilige ich mich am Gespräch und sage zur Mutter: »Ich glaube, Ihr Mann versucht Ihnen zu sagen: ›Ich will nicht wütend auf dich sein und ich weiß, wie sehr du an den Kindern hängst, aber ich mach mir Sorgen, dass sich das Verhalten von unserem Kind verschlimmert, wenn es keine Grenzen gesetzt bekommt.‹« –– Wunsch nach einer anderen Art Teamwork: Die meisten Eltern, die ein Elterncoaching wünschen, sind kein gutes Team, aber sie können das nur schwer ausdrücken. Deshalb sagen sie nicht: »Es fällt uns schwer, bei unseren Kindern zusammenzuarbeiten«, sondern: »Du machst immer genau das Gegenteil von dem, was ich tue!« oder »Warum musst du immer einlenken, nachdem ich unser Kind bestraft habe?« Ich wende diese Aussagen in positive Angebote, um eine veränderte Konstellation im Teamwork auszuprobieren. Meine Reaktion auf: »Du tust immer das Gegenteil von dem, was ich tue!« wäre: »Okay, was Ihr Partner Ihnen hier mitteilen will, ist meiner Meinung nach: ›Ich weiß, wir haben unterschiedliche Erziehungsstile, aber ich wünschte, wir könnten einen Weg finden, um als Team besser zusammenzuarbeiten und uns deshalb nicht immer zu streiten.‹« –– Den Wunsch, mehr über die Kinder reden zu können: Andere Klagen lauten: »Du bist zu streng!« oder »Du bist zu nachgiebig!« Solche Klagen können den Elterncoach dazu bringen, nach elterlichen Interventionen zu suchen, die sowohl harte als auch weiche Aspekte miteinander kombinieren. Diese Vorgehensweise kann sehr erfolgreich sein, wenn der Elternkonflikt nicht zu erbittert ist. Ich benutze solche Klagen gern als Möglichkeit, die Eltern in ihrer Fähigkeit zu verbessern, über ihre unterschiedlichen Erziehungsstile so zu sprechen, dass sie sich einander annähern und verbundener fühlen, statt als Feinde oder Rivalen dazustehen. Deshalb beantworte ich die Zu-strengoder Zu-nachgiebig-Klagen mit einer Bemerkung wie »Ich höre hier, dass Ihr Partner Ihnen zu sagen versucht: ›Ich weiß, wir haben unterschiedliche Stile, aber ich wünschte mir, du würdest dir meine Vorstellungen von Erziehung anhören, ohne zu denken, ich will dich kritisieren.‹«

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Antagonistische Haltungen aus eigener Kraft verändern und präsenter werden Positive Anerkennung, Kommunikation und Teamwork machen aus jedem Elternteil den besten, der er sein kann. Trotzdem waren Methoden, wie Eltern ihre Beziehung zur wechselseitigen Stärkung nutzen, bisher nie Thema der Literatur von Elterncoaching. Meiner Ansicht nach liegt der Grund dafür darin, dass sich solche Methoden mehr wie Paartherapieinterventionen anfühlen und sich nicht direkt auf Erziehungsfähigkeit oder Kindererziehung beziehen. Das ist bedauerlich, denn jeder Elternteil kann am besten beeinflussen und verbessern, wie der andere Elternteil sich selbst wahrnimmt. Wenn sich jedoch der eine Elternteil mit dem Kind streitet, befindet sich der andere Elternteil rasch in einem Dilemma – wenn er sich an dem Streit beteiligt, kann das der andere als Einmischung, Kritik oder mangelndes Vertrauen in die Urteilsfähigkeit darüber interpretieren, wie der Streit geführt werden sollte. Wenn er sich aber heraushält, kann sich der andere im Stich gelassen fühlen oder wütend werden. Ich möchte Eltern immer auf solche Situationen vorbereiten. Meiner Erfahrung nach besitzt der Moment, in dem der unbeteiligte Elternteil zu dem streitenden Elternteil eine Verständigung herstellt, ein enormes Potenzial zur Erweiterung der Elternerfahrung von der eigenen Präsenz. Nach Omer und von Schlippe (2002) bringen drei Erfahrungen Eltern dazu, sich als ganz präsent zu fühlen. –– Moralische Präsenz – die Erfahrung der eigenen Werte: Wenn Eltern moralisch präsent sind, sind sie nicht verwirrt, sondern sagen sich: »Was ich tue, ist richtig und gerecht.« –– Verhaltenspräsenz – die Erfahrung, Einfluss zu haben: Wenn Eltern in ihrem Verhalten präsent sind, sind sie nicht hilflos, sondern sagen sich: »Was ich tue, wirkt.« –– Systemische Präsenz – die Erfahrung von Unterstützung: Wenn Eltern systemisch präsent sind, sind sie nicht isoliert, sondern sagen sich: »Ich bin nicht allein.« Bei der Arbeit mit Eltern ist mein Ziel, zwischen den Elternteilen eine Beziehung zu fördern, in der sie über Kindererziehung so sprechen können, dass ihre Präsenz als Eltern gestärkt wird und sie vertraute Momente als Paar erleben. Das geschieht, indem ich dem Paar helfe, in Echtzeit von einer antagonistischen Interaktionsweise zu einer kooperativen zu gelangen. In den nächsten Abschnitten zeige ich, wie unterschiedliche Elternreaktionen genau dorthin führen können. In jedem kurzen Ausschnitt wird dargestellt, wie der Elterndialog,

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der sich zu einem Konflikt oder Streit hätte entwickeln können, stattdessen in eine kooperative Interaktion mündet, die dem Elternteil in der Konfliktsituation mit dem Kind hilft, präsenter zu sein. Die moralische Präsenz stärken In dem ersten Beispiel geht die Mutter zu dem Vater, nachdem der einen lautstarken Streit mit dem Sohn hatte. Beide brüllten und warfen sich kränkende Beleidigungen an den Kopf. V: »Ich könnte ihn umbringen!« M: »Tja, er weiß wirklich, wie er dich zur Weißglut bringt.« V: »Ja, aber ich habe die Beherrschung verloren und Dinge gesagt, die ich nie hätte sagen dürfen!« M: »Schon möglich, aber du bist trotzdem ein guter Papa.«

Zunächst ist der Vater wütend auf das Kind. Hätte die Mutter einen schlechten Tag gehabt, hätte sie wahrscheinlich eine Bemerkung gemacht wie »Warum musst du dich bloß ständig mit ihm streiten!« oder »Warum kannst du dich nicht besser beherrschen? Du bist doch der Erwachsene!« Aber heute ist die Mutter gut drauf und statt ihm Vorwürfe zu machen, findet sie die Wut des Vaters berechtigt. Das bewirkt in dem Vater einen Positionswechsel und lässt ihn erkennen, dass er eigentlich wütend auf sich selbst ist, weil seine Handlungsweise nicht seinen Wertmaßstäben entsprach. Deshalb empfindet er Scham und macht sich Vorwürfe. Die Mutter zeigt Verständnis für seinen Kontrollverlust und erinnert ihn daran, dass er ein guter Vater ist. V: »Ein guter Papa nennt seinen Sohn nicht einen blöden Trottel!«

Diese Bemerkung könnte die Interaktion zwischen den Eltern in eine antagonistische verwandeln. Die Mutter hat bereits viel Geduld gezeigt und könnte die Nase voll von den Klagen des Vaters haben. Sie hätte beispielsweise sagen können: »Stimmt, so was solltest du nie wieder sagen!« Aber die Mutter ist immer noch kooperativ und sagt stattdessen: M: »Er hat aber auch ein paar schreckliche Dinge gesagt und dich provoziert. Aber ich weiß, dass du nicht gern die Beherrschung verlierst, das ist nicht deine Art.« V: »Du hast recht, ich hasse das, das bin nicht ich.«

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M: »Und er ist dir wichtig und du machst dir Sorgen um ihn.« V: »Das könnte ich ihm aber auch sagen, ohne die Beherrschung zu verlieren und zu explodieren.« M: »Bei unserem Sohn kann man wirklich kein Buddha bleiben. Ich fahr bei ihm aus der Haut, du fährst bei ihm aus der Haut und er fährt total aus der Haut. Wenn du dich wegen deines Verhaltens entschuldigen möchtest, können wir das tun.« V: »Ja, das mache ich.«

Die Mutter teilt dem Vater mit, dass er in ihren Augen immer noch ein guter Vater ist. Dadurch reguliert sie die Scham und die Schuldgefühle des Vaters. Das führt zu einer pragmatischen Handlung, die dem Vater hilft, sich wieder so verhalten, wie er es angemessen und richtig findet. Die Möglichkeit, nach seinen Wertmaßstäben zu handeln, stellt die moralische Präsenz des Vaters wieder her. Wenn die Mutter dem Vater ohne diesen Regulierungsprozess vorgeschlagen hätte, sich zu entschuldigen, hätte er das wahrscheinlich abgelehnt und wäre wütend auf sie geworden. Die Verhaltenspräsenz stärken Nach einem Streit des Vaters mit dem Sohn, wann er nach der Party am Freitagabend zu Hause sein sollte, geht die Mutter zum Vater. M: »Danke, dass du dich darum gekümmert hast.« V: »Aber er hat mir gar nicht zugehört und ich weiß gar nicht, warum so was immer an mir hängen bleibt!«

Trotz der guten Absichten der Mutter ist der Vater wegen des Streits mit dem Kind immer noch wütend und aufgebracht. Er beantwortet die positive Bemerkung der Mutter mit einem Angriff. Das kann leicht zu antagonistischer Interaktion zwischen den Eltern führen. Doch die Mutter bleibt kooperativ: M: »Er gehorcht dir eher als mir. Wenn ich das Gespräch geführt hätte, hätte es schlimmer geendet.«

Hier tut die Mutter etwas Bemerkenswertes. Sie zeigt dem Vater, dass er das Kind beeinflussen kann. Sie teilt dem Vater mit, dass sie seine Anstrengungen nicht erfolglos und sinnlos findet, sondern positiv und konstruktiv.

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V: »Wahrscheinlich hast du recht.« M: »Trotz seiner Widerworte kannst du immer noch was bei ihm bewirken. Ich wünschte, ich könnte das auch.« V: »Du hast recht. Manchmal hört er auf mich.«

Mit zwei Sätzen hilft die Mutter dem Vater, seine Verhaltenspräsenz wiederzuerlangen. Sie bezieht sich auf seinen Erfolg und nicht auf seine Niederlagen. So kann der Vater auch selber seinen Einfluss und seine Kraft wahrnehmen. Die systemische Präsenz stärken Der Vater wendet sich an die Mutter, nachdem sie der Tochter bei den Hausaufgaben geholfen hat. V: »Danke, dass du Maya bei den Hausaufgaben geholfen hast.« M: »Na ja, einer muss es ja tun!«

Obwohl der Vater seine Anerkennung mitteilen möchte, versteht die Mutter seine Bemerkung, als wäre die Hausaufgabenhilfe bei der Tochter auf ewig ihr Job. Sie antwortet mit einem Angriff. Das könnte leicht zu einer antagonistischen Dynamik führen (wenn der Vater antworten würde: »Du irrst dich, ich helfe Maya oft bei ihren Aufgaben!«). Stattdessen fährt der Vater kooperativ fort: V: »Ich weiß, und ich wollte dich wissen lassen, dass ich das sehe, was du tust, und dass ich es gut finde.« M: »Wirklich?«

Die Mutter ist solches Lob nicht gewöhnt und reagiert mit Unglauben. Aber sie ist schon etwas eingeknickt. V: »Ich sollte dir das wahrscheinlich häufiger sagen und dir nicht das Gefühl geben, als wärst du allein verantwortlich und ich nicht.« M: »Ist zwar keine große Sache, aber ich finde es gut, dass du das sagst.«

Noch vor wenigen Minuten fühlte sich die Mutter erfolglos und alleingelassen. Die Worte des Vaters geben ihr das Gefühl, dass er sie wertschätzt, sie wahrnimmt und sich um sie sorgt. Seine Anerkennung und Unterstützung helfen ihr plötzlich bei der Feststellung, dass ihre Hilfe bei Maya »keine große Sache« ist.

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Können Eltern so miteinander reden? Nur wenn sie bereit sind zu kooperieren. Wenn sie sich dazu zwingen, obwohl sie einander antagonistisch gesonnen sind, wird es sich unglaubwürdig anhören, unehrlich und wirkungslos. Man kann leicht in eine antagonistische Haltung verfallen. In meiner Arbeit mit Eltern helfe ich ihnen, sich von antagonistischen Haltungen zu lösen – die sich in Angriffen, Schuldzuweisungen und Kritik äußern – und zu einer kooperativen Haltung zu gelangen. Dabei entwickelt sich mit der Zeit zwischen den Eltern die Fähigkeit, die tiefere Bedeutung ihres Konflikts zu verstehen, und letztendlich entschärft sich ihr Streit und sie werden zu Eltern, die ihre Beziehung als eine positive emotionale Regulierungskraft in der Familie nutzen können.

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Teil 2: Unterschiedliche Ausprägungen der Bedürfnisse nach Autonomie und Verbundenheit

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Autonomie und Verbundenheit – menschliche Grundbedürfnisse und kulturelle Werte

Vorbemerkungen Die Bedürfnisse nach Autonomie und nach sozialer Verbundenheit gehören zur menschlichen Grundausstattung und damit zur universellen Psychologie des Menschen. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Formulierungen in der Literatur zu finden, die für eine gesunde Entwicklung und Wohlbefinden als notwendig erachtet werden: Gemeinschaftlichkeit und Handlungskontrolle (Bakan, 1966), Liebe und Zugehörigkeit sowie Selbstaktualisierung (Maslow, 1968), Nähe und Interdependenz mit anderen sowie Kontrolle über das eigene Leben (Ryan u. Deci, 2000). Die Annahme menschlicher Grundbedürfnisse bedeutet jedoch nicht, dass die Konzepte ab Geburt aktualisiert sind. Menschen erwerben Konzepte von Autonomie und Verbundenheit allmählich durch Teilnahme und Teilhabe an alltäglichen Situationen im Kontext von Handlungsroutinen im Laufe ihrer Entwicklung. Die kulturellen Botschaften, die in alltäglichen Situationen und Handlungsroutinen kodiert sind, unterscheiden sich jedoch substanziell zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten (Ochs u. Izquierdo, 2009; Keller, 2007; Demuth, Keller, Gudi u. Otto, 2011). Als Konsequenz dieser differenziellen Entwicklungsprozesse variieren die Konzeptionen von Autonomie und Verbundenheit zwangsläufig. Während der vergangenen Jahrzehnte sind verschiedene Vorschläge zum Zusammenspiel von Autonomie und Verbundenheit gemacht worden – von der bipolaren, eindimensionalen Definition von Individualismus/Kollektivismus (Hofstede, 2001; Triandis, 1995) bis zur Koexistenz von unabhängigen Dimensionen (Deci u. Ryan, 1991; Kağıtcıbaşı, 1996; Kitayama u. Uchida, 2005; Kuhl u. Keller, 2008; Raeff, 2010). Die Vorstellung des bipolaren, unidimensionalen Modells des Individualismus/Kollektivismus besteht darin, Autonomie und Verbundenheit als Pole eines Kontinuums zu verstehen. Eine Positionierung näher am Autonomiepol bedeutet zwangsläufig eine größere Entfernung vom Verbundenheitspol und umgekehrt. Aus der vielfältigen konzeptionellen

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wie auch methodologischen Kritik an diesem Ansatz heraus (z. B. Kağıtcıbaşı, 2007; Killen u. Wainryb, 2000; Oyserman, Coon u. Kemmelmeier, 2002; Raeff, 2010) sind Positionen formuliert worden, die die Koexistenz von Autonomie und Verbundenheit postulieren, da ja beide menschliche Grundbedürfnisse abbilden und daher Teil jeder menschlichen Handlung und Situation sein müssen. Hier ist das Modell der autonomen Verbundenheit (»autonomous-related«) von Kağıtcıbaşı (2007) zu nennen, ebenso die Annahme einer interdependenten Agency1 (Yeh, Bedford u. Yang, 2009) oder verbundenen Agency (»conjoint agency«, Markus u. Kitayama, 2003) und viele andere mehr. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass Autonomie oder »Agency« definiert wird als die Wünsche, Intentionen und Vorstellungen eines selbstständigen, unabhängigen Individuums, das seine Umwelt kontrolliert und zwischen verschiedenen Optionen frei entscheiden kann. Der Fokus liegt also auf der Betonung der inneren Welt des Individuums (z. B. Savani, Markus u. Conner, 2008). Verbundenheit betrifft das Bedürfnis nach Nähe sowie Handlungen und Intentionen, die sich auf andere Menschen richten. Obwohl beide Bedürfnisse koexistieren sollen, ist doch in den meisten der vorliegenden Ansätze implizit die Annahme enthalten, dass die eine Position mehr oder deutlicher ausgeprägt ist als die jeweils andere. Das Argument dieses Beitrags ist, dass unter einer kulturvergleichenden Perspektive einheitliche Definitionen von Autonomie und Verbundenheit nicht adaptiv sein können. Es muss also unterschiedliche Formen von Autonomie und Verbundenheit geben, um Kompetenz in unterschiedlichen ökokulturellen Kontexten entwickeln und ausüben zu können. Wie eingangs bereits festgestellt, kann angenommen werden, dass Konzepte von Autonomie und Verbundenheit in alltäglichen Lebenszusammenhängen erworben werden. Dabei blieb bisher das Säuglingsalter weitgehend unberücksichtigt, möglicherweise, weil reflexive Intentionalität in den ersten Lebensmonaten sicherlich nicht ausgedrückt werden kann. Aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen wie unter anderem den Neurowissenschaften, den evolutionären Theorien, der kognitiven und sozialemotionalen Entwicklungspsychologie ist inzwischen jedoch sehr viel Evidenz präsentiert worden, die aufweist, dass wichtige Bahnungen für die menschliche Entwicklung während der Säuglingszeit, also den ersten beiden Lebensjahren, eingeleitet werden. In dieser Entwicklungsphase weisen sowohl die Prägungen des kindlichen Gehirns als auch die entsprechenden Verhaltensbahnungen die höchste Entwicklungs1

»Agency« wird im Deutschen zuweilen als Selbstmächtigkeit bezeichnet. Hier wird jedoch »Agency« beibehalten, da dieser Begriff inzwischen auch im Deutschen gebräuchlich ist und damit keine unerwünschten Konnotationen verbunden sind.

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geschwindigkeit im menschlichen Lebenslauf auf. Diese Bahnungen können als Spuren verstanden werden, die durch Gebrauch deutlicher eingraviert werden. Das bedeutet nicht, dass Veränderungen und Korrekturen nicht zu späteren Lebensaltern möglich sind – es ist also keine deterministische Festlegung –, aber mit zunehmendem Alter wird es sprichwörtlich schwieriger, neue Wege einzuschlagen. Das Säuglingsalter steht daher im Mittelpunkt der hier angestellten Überlegungen. Bevor unterschiedliche Konzeptionen von Autonomie und Verbundenheit diskutiert werden, müssen zunächst einige Überlegungen zur Definition von Kultur und kulturellen Umwelten angestellt werden.

Unterschiedliche Umwelten, unterschiedliche kulturelle Milieus Die genaue Bestimmung dessen, was unter kulturellen Umwelten verstanden wird, ist wichtig, um analysieren zu können, worin Anpassungsleistungen bestehen müssen und können. In der Literatur wird Kulturvergleich allzu oft mit Unterschieden oder Gemeinsamkeiten heterogener oder auch homogener (z. B. studentischer) Stichproben auf Länderebene gleichgesetzt. Länder können jedoch sehr unterschiedliche kulturelle Umwelten beherbergen, verschiedene Schichten, verschiedene altersspezifische Subkulturen wie die Jugendkultur, verschiedene Werte und Normen. Aus diesem Grund schließen wir uns evolutionären und kulturellen Vorstellungen (siehe z. B. Keller, 2008; LeVine, 1977; Whiting, 1980) an und definieren Umwelten als unterschiedliche soziodemografische Kontexte, die unterschiedliche mentale Typen/Psychologien als Anpassungsleistungen erfordern. Es hat sich erwiesen, dass das Niveau der formalen Bildung (d. h. westlich organisierter Schul- und weiterführender Bildung) als Organisator unterschiedlicher Familienmuster naheliegt, die mit unterschiedlichen kulturellen Werte und Normen verbunden sind (Greenfield, 2004; Keller, 2007; LeVine et al., 1994). Höhere Niveaus formaler Bildung hängen zusammen mit späterer Erstelternschaft und Kleinfamilien. Geringere Niveaus formaler Bildung sind häufig assoziiert mit größeren Haushalten in Form von Mehrgenerationenfamilien (die natürlich in Komposition und Ideologie auch wiederum sehr unterschiedlich sein können), früherer Erstelternschaft und mehr Kindern. Ähnliche Profile solcher soziodemografischen Muster erfordern ähnliche Anpassungsstrategien, die in Normen und Werten, Haltungen und Überzeugungen repräsentiert sind, und das unabhängig von Ländergrenzen – und auch zu einem bedeutsamen Teil unabhängig von Sprache oder Religion (Greenfield, 1999; Keller, Borke, Lamm, Lohaus u. Yovsi, 2011).

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Wir können drei Typen von Umwelten unterscheiden, ohne dass damit ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird: Zwei dieser Umwelttypen stellen prototypische Kontexte dar, das heißt Kontexte, in denen Werte, Normen und Verhaltensstrategien in unterschiedlichen Bereichen gleichförmig sind. Der dritte Typus stellt die Verbindung zwischen Elementen der beiden prototypischen Kontexte dar und ist auf dieser Grundlage per definitionem heterogener. Ein prototypischer Kontext wird von Bauernfamilien gebildet, die subsistenzwirtschaftlich in nichtwestlichen Gesellschaften leben. Hier ist das Niveau formaler Bildung eher niedrig, Elternschaft beginnt in den späten Teenagerjahren, es werden viele Kinder geboren, und Familien sind als Großfamilien oder Clans organisiert. Ein anderer prototypischer Kontext wird von städtischen westlichen Familien gebildet. Hier ist ein großes Ausmaß formaler Bildung obligatorisch, verbunden mit später Elternschaft in den Endzwanzigern und Dreißigern und dem Leben in einer Zweigenerationen-Kernfamilie (Keller, 2008). Aus diesen beiden Prototypen sind multiple hybride Organisationsformen ableitbar. Ein Typus wird aus nichtwestlichen Mittelschichtfamilien gebildet, die ein hohes Ausmaß an formaler (meist in westlichen Ländern erworbener) Bildung aufweisen, in der Erstelternschaft und die Anzahl der Kinder zwischen den beiden Prototypen liegen, und die noch eine starke hierarchisch verbundenheitsorientierte Verwobenheit mit der Ursprungsfamilie haben. Die damit verbundenen unterschiedlichen Orientierungen in Bezug auf Autonomie und Verbundenheit können domänenspezifisch variieren, aber auch neue Formen der Synthese annehmen (Carra, Lavelli, Keller u. Kärtner, 2013). Migration kann ebenfalls zur Ausbildung eines hybriden Typus führen, da Migranten in der Regel aus dörflich agrarischen Umwelten kommen und auf eine öffentliche Kultur treffen, die aus der westlichen Mittelschichtperspektive und damit einer Orientierung an psychologischer Autonomie definiert sind (vgl. z. B. die Orientierungs- und Bildungspläne der 16 Bundesländer für Kindertagesstätten). Da hier häufig falsche Bezüge zu Individualismus/Kollektivismus hergestellt werden, muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass die beiden prototypischen Kontexte keine antithetischen Pole einer Dimension darstellen. Fünf bis sieben Jahre formaler Bildung sind nicht das Gegenteil von 15 bis 17 Jahren formaler Bildung; ein Kind ist nicht das Gegenteil von fünf Kindern, und mit 17 Jahren Mutter zu werden ist nicht das Gegenteil davon, mit 35 Jahren zu Mutter werden. Die beiden Prototypen müssen als zwei sehr verschiedene ökokulturelle Kontexte betrachtet werden, die sehr unterschiedliche Sichtweisen auf Autonomie und Verbundenheit nahelegen. Dies sind systematische Unterschiede, gleichzeitig ist aber auch innerhalb der einzelnen Typen zum Teil beträchtliche interindividuelle Variabilität zu verzeichnen (Lamm u. Keller, 2010).

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Die verschiedenen Gesichter von Autonomie und Verbundenheit Autonomie als Kontrolle über und Realisierung von Intentionen, Wünschen, Präferenzen und mentalen Zuständen kann aus einer individuellen Perspektive, wie in der westlichen Psychologie üblich, betrachtet werden, aber auch aus einer sozial-kommunalen Perspektive, wie die eingangs erwähnten Konzepte der autonomen Verbundenheit unter anderem nahelegen. Mentale Orientierung (»mind-mindedness«, Meins et al., 2002) und Mentalisierung (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2002) sind Schlüsselbegriffe, die das richtige Lesen, Verstehen, Kommentieren und Interpretieren innerer Zustände bezeichnen. Diese Form von sozialem Austausch in der Eltern-Kind-Interaktion, also die Verbalisierung und Erklärung dessen, was das Kind möchte, fühlt, denkt, wird als wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung von dieser Form der Autonomie betrachtet. Die individuelle Perspektive fokussiert auf den kindlichen Selbstausdruck und die eigene Wertschätzung. Ein Kind, das in diesem Modell sozialisiert wird, lernt praktisch von Geburt an, eigene Wahlen zu treffen (»Willst du dein Bilderbuch ansehen oder soll die Mama dir was erzählen?«) und eigene Wünsche zu artikulieren, wenn auch in den ersten Lebensmonaten in Form von »Als-obSpielen«, indem die Mutter den kindlichen Blick oder die Vokalisationen als kommunikative Beiträge interpretiert und in einen Dialog einbaut. Auch wenn die semantische Bedeutung der Kommunikationsmöglichkeiten von Säuglingen nicht erfasst werden kann, vermitteln jedoch Diktion, Intonation und Melodie der Sprache entsprechende kulturelle Botschaften. Entsprechend ist das selbstbewusste und selbstbestimmte Kind das kulturelle Ideal westlicher Mittelschichtfamilien. Eine kommunale Perspektive dagegen stellt das soziale Bezugssystem, in der Regel die Familie, in den Vordergrund des kommunikativen Austauschs. Ein Kind, das im Modell der kommunalen Autonomie sozialisiert wird, macht nicht notwendigerweise einen Unterschied zwischen den eigenen Ansprüchen und denjenigen der Familie. Das solchermaßen bescheidene Kind stellt das kulturelle Ideal einer nichtwestlichen Mittelschichtfamilie dar (Keller, 2007). Es ist wichtig festzuhalten, dass diese kommunale Perspektive weder von außen aufgezwungen ist (heteronom im Sinne Piagets, 1951) noch eine ungesunde Übernahme der Wünsche und Bedürfnisse anderer darstellt, wie sie beispielsweise in den Konzepten der Infiltration und Rumination (Deci u. Ryan, 2008) verstanden werden. Es handelt sich vielmehr um den Ausdruck einer sozialkommunalen Identität (z. B. Kitayama u. Uchida, 2005). Der Fokus auf mentale Zustände bei diesem Typus der Autonomie impliziert die reflektierende Begleitung von Verhalten. Dazu ist wiederum verbale

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Elaboriertheit notwendig, um mentale Zustände auszudrücken und mit anderen zu verhandeln. Wir bezeichnen diese Form der Autonomie, unabhängig davon, ob sie individuell oder kommunal eingebettet ist, als psychologische Autonomie, um den Bezug zur inneren Welt herauszustellen (siehe auch Keller u. Otto, 2011). Es ist allerdings auch möglich, Handlungen und Situationen kontrollieren zu können, ohne auf innere Zustände des Selbst oder der Gemeinschaft zu referieren; zum Beispiel Holz zu sammeln, Wasser zu holen, etwas auf dem Markt zu verkaufen oder auf jüngere Geschwister zu achten, was von Kindern in traditionellen Bauernfamilien schon etwa ab dem Alter von drei Jahren geleistet wird, erfordert individuelle Entscheidungen und Verantwortlichkeiten, die jedoch nicht von Reflexionen über diese Handlungen und darauf bezogene Kognitionen und Emotionen begleitet sein müssen (Rabinovich, 2008). Anthropologen haben solche mentalen Konzeptionen anschaulich beschrieben. Schieffelin (1990) hat zum Beispiel eine Undurchsichtigkeitsdoktrin (»opacity doctrine«) bei den Kaluli, einer Gruppe von Urwaldbewohnern in Papua-Neuguinea, beschrieben. Sie versichern, dass sie nicht wissen können, was andere denken und fühlen, und unterstellen anderen auch kaum Intentionen (Duranti, 2008). Ein ähnliches Phänomen berichtete Daniel Everett (2009) mit dem Prinzip der Unmittelbarkeit der Erfahrung (»immediacy of experience principle«), das er bei den brasilianischen Piraha Indianern, die im Amazonasgebiet leben, beobachtet und analysiert hat. Sie akzeptieren keine Aussagen, die sich nicht auf das unmittelbare Hier und Jetzt beziehen, oder die zumindest von jemandem, den man kennt, gesehen wurden. So hatten die Piraha Indianer keinerlei Verständnis für Everett, der ursprünglich als Missionar zu ihnen gekommen war, wenn er ihnen von Jesus erzählen wollte – weder hatte er Jesus gesehen, noch kannte er jemanden, der ihn gesehen hatte. Andererseits kann aber keinesfalls daraus geschlossen werden, dass die Kaluli oder die Piraha keine Agency oder Autonomie ausüben. Ich habe vorgeschlagen, diesen Typus von Autonomie als Handlungsautonomie zu bezeichnen (Keller, 2011; Keller u. Otto, 2011). Handlungsautonomie betrifft die Fähigkeit eines Individuums, selbstverantwortlich und in eigener Kontrolle zu handeln von der Planung bis zur Ausführung. Handlungsautonomie kann natürlich auch im Kontext psychologischer Autonomie ausgeübt werden. Der Erwerb von Handlungsautonomie kann als Entwicklungsaufgabe der frühen Kindheit aufgefasst werden, ab dem Zeitpunkt, zu dem das Kind in der Lage ist, motorische Kontrolle, zumindest mit den Händen, auszuüben. Allerdings können sich Handlungskontexte sehr unterscheiden, wenn wir zum Beispiel an ein typisches Item aus einem westlichen Entwicklungstest denken (wie z. B. Bauklötzchen aufeinanderstapeln) oder aber das Hantieren mit einer Machete in einem Urwald-

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dorf (z. B. Everett, 2009). Daran wird deutlich, dass Verhaltensstrategien nicht ohne deren Entwicklungskontexte verstanden werden können. Verbundenheit wird in der Literatur zumeist in den Modi der Nähe und der Getrenntheit diskutiert. Diese Differenzierung mag zu der unrichtigen Vermutung Anlass geben, dass sogenannte getrennte Individuen kein Interesse und auch kein Bedürfnis nach Beziehungen haben. Natürlich kann niemand ohne Beziehungen ein gesundes Leben führen, und Beziehungen sind für Entwicklung lebensnotwendige Kontexte, wie das Leben des armen Kaspar Hauser und ähnlicher Schicksale eindringlich gezeigt hat. Es geht also gar nicht um Getrenntheit und Verbundenheit, sondern um den Modus und die Struktur von Beziehungen, die in der Tat unterschiedlich sein können. Kitayama, Duffy und Uchida (2007) charakterisieren den Getrenntheitsmodus als instrumentelle soziale Beziehungen, in denen Individuen ihre Beziehungen auf dem Hintergrund eigener Wünsche, Bedürfnisse, Ziele und Pläne regulieren. Kitayama, Markus, Matsumoto und Norasakkunit (1997) charakterisieren den Nähemodus als kommunale soziale Beziehungen, in denen Individuen externe Kontingenzen, wie Erwartungen, Bedürfnisse und Wünsche von anderen, wie auch die nicht sozialen Aspekte sozialer Situationen in ihr Beziehungskonzept integrieren. Soziale Beziehungen sind eingebettet in Verantwortlichkeiten sozialer Rollen und Erwartungen. Das bedeutet also, dass es nicht um Beziehungen ja oder nein geht, sondern um deren Gestalt. Wie wichtig Beziehungen für ein Individuum sind, ist davon nicht tangiert. Parallel zu den Konzepten der psychologischen und der Handlungsautonomie können auch Beziehungen als psychologisch, das heißt als Teil reflexiven Erlebens oder als selbstverständliche Verantwortlichkeit und Verpflichtung erscheinen. Solchermaßen definierte psychologische Verbundenheit tritt als Tandem mit psychologischer Autonomie auf und charakterisiert das Beziehungskonzept der Angehörigen der westlichen Mittelschicht. Soziale Verantwortlichkeit ohne selbstreflexive Betonung der eigenen Präferenzen kann im Tandem mit Handlungsautonomie als funktionales Modell nichtwestlicher traditioneller Bauern oder auch anderer subsistenzwirtschaftlich organisierter Gruppen (wie Sammler und Jäger, Fischer oder Viehzüchter) aufgefasst werden. Die Anlagen zur Ausbildung dieser verschiedenen Formen von Autonomie und Verbundenheit können sicherlich als Teil des evolutionären Erbes verstanden werden und gehören damit zur Grundausstattung aller Menschen. Allerdings haben sie unterschiedliche Anpassungsfunktionen in den drei Typen von Umwelten, die hier angesprochen sind. Im Folgenden werden unterschiedliche kulturelle Milieus, die mit diesen ökosozialen Kontexttypen verbunden sind, im Hinblick auf die Erfordernisse an Autonomie und Verbundenheit charakteri-

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siert. Es ist wichtig, nochmals darauf hinzuweisen, dass hier Typen charakterisiert werden, die in sich ein – allerdings unterschiedliches – Ausmaß an Variabilität aufweisen. Das kulturelle Modell der hierarchischen Verbundenheit: Die traditionelle bäuerliche Familie Es wurde argumentiert, dass in ländlichen bäuerlichen Familien der Prototyp der hierarchischen Verbundenheit den höchsten Anpassungswert besitzt (Keller u. Kärtner, 2013). Das Leben der subsistenzwirtschaftlichen, also selbstversorgenden Bauernfamilien erfordert uneingeschränkte und unhinterfragte Kooperation aller Haushaltsmitglieder, um die Lebensgrundlagen zu sichern. Jedes Mitglied des Haushalts muss seine Pflichten und Verantwortlichkeiten erfüllen, die sich aus der Geschlechts- und Altershierarchie einer Großfamilie ergeben. Sozialisationsstrategien sind entsprechend auf den frühen Erwerb sozialer Verantwortung gepaart mit Handlungsautonomie ausgerichtet. So können alle Familienmitglieder von früh an zum Überleben und Wohlbefinden der Familie beitragen – im Rahmen ihrer entwicklungsbedingt definierten Möglichkeiten. Ein frühes Medium zur Erreichung dieses Sozialisationszieles ist Körperkontakt. Ausgeprägter und lang andauernder Körperkontakt führt nachgewiesenermaßen zu einer frühen Entwicklung von Folgsamkeit und Akzeptanz sozialer Regeln (Keller et al., 2004, 2005). Entsprechend wurde extensiver Körperkontakt mit Säuglingen aus verbundenheitsorientiert organisierten Kontexten berichtet, wie zum Beispiel für die kamerunischen Nso-Bauern (Keller, 2003; Nsamenang, 1992), die Volksgruppe der Beng an der Elfenbeinküste (Gottlieb, 2004), die zentralafrikanischen Ngandu-Bauern (Hewlett, Lamb, Shannon, Leyendecker u. Schölmerich, 1998), um nur einige zu nennen. Ausgeprägter Körperkontakt ist mit anderen elterlichen Praktiken verbunden, wie der Vermeidung negativer Emotionen zum Beispiel durch antizipatorisches Stillen (Rothbaum, Weisz, Pott, Miyke u. Morelli, 2000). Durch Anlegen des Babys an die Brust, bevor dieses laut sein Bedürfnis (durch deutliche Unmutsäußerungen oder Schreien) ausgedrückt hat, führt zu einer Verwischung der Ich-Andere-Grenzen und damit einer sozialkommunalen Fundierung des Selbst. Der gleiche Mechanismus wirkt, wenn die elterlichen Reaktionen auf kindliche Signale nicht im kontingenten Zeitfenster, also zeitlich abgegrenzt geäußert werden, sondern synchron überlappend (z. B. Gratier, 2003; Keller, Otto, Lamm, Yovsi u. Kärtner, 2008). Solche Muster werden auch über verschiedene Verhaltenskanäle koordiniert, wenn zum Beispiel motorisch rhythmische Stimulationen mit verbal-vokalen Rhythmen synchronisiert werden. Dabei entstehen eher rhythmische Protolieder als Pro-

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tokonversationen nach dem dialogischen Modell (Cowley, Moodley u. Fiori­Cowley, 2004; Demuth, 2008). Die verbalen Konversationen beziehen sich eher auf Verhalten und das äußere Erscheinungsbild des Kindes als auf seine mentalen Zustände und seine innere Welt (Demuth, 2008). Darüber hinaus sind Verbalisationen weniger als Fragen formatiert, sondern als Aufforderungen und Anweisungen (Schröder et al., 2011). Diese frühen sozialen Erfahrungen führen zu spezifischen kulturellen Lösungen universeller Entwicklungsaufgaben, die das Modell der hierarchischen Verbundenheit bahnen (Keller u. Kärtner, 2013). Das kulturelle Modell der psychologischen Autonomie: Die westliche postmoderne städtische Familie Im von der westlichen Mittelschicht geprägten Großstadtmilieu wird Konkurrenzfähigkeit und überzeugende Selbstdarstellung benötigt, um ein kompetentes Mitglied dieser Gesellschaft zu sein. Intentional, aber auch zum großen Teil nicht bewusst, verfolgen Familien wie auch Institutionen wie Kitas und Schulen Strategien, die genau diese Kompetenzen im Blick haben. Das bedeutet, dass in Familien die Eltern wie auch ihre Kinder das selbstverständliche Recht haben, ihre Meinungen kundzutun und die anderen Familienmitglieder dazu zu bringen, diese zu akzeptieren und zu übernehmen. Hierarchische Altersund Geschlechtsunterschiede sind – scheinbar – nicht vorhanden, und alle Familienmitglieder haben das Recht auf Meinungsäußerung und Berücksichtigung ihrer Standpunkte. Im Fall von Säuglingen treten diese Haltungen und Umgangsformen natürlich noch in eher spielerischen Formen auf (siehe dazu Keller, 2012). Allerdings wird durch die exklusive Aufmerksamkeit, das Frageformat der Konversationen, das »turn taking« und die unbedingte Responsivität ein soziales Klima geschaffen, das auch nonverbal die Botschaft der Kindzentriertheit transportiert. Mütter und Väter sind oft unerfahren im Umgang mit Babys, sodass in der Regel der erste engere Kontakt mit einem Baby der mit dem eigenen – und oft einzigen – Kind ist. Durch die reflexive Weltsicht kann der Zugang zu den intuitiven elterlichen Kompetenzen erschwert sein, und das Bestreben, alles richtig zu machen und dem Kind die besten Startchancen zu ermöglichen, führt möglicherweise zu Verunsicherung und entsprechendem Konsum von zahlreichen auf dem Markt befindlichen Ratgebern. Durch widersprüchliche und zuweilen kontraintuitive Botschaften (z. B. das Programm »Jedes Kind kann schlafen lernen«, Kast-Zahn u. Morgenroth, 2006) wird die Unsicherheit erhöht, sodass eine Vielzahl von Regulationsschwierigkeiten, zum Beispiel in Bezug auf Schlafen, Schreien, Füttern (Borke, Gernhardt u. Abs, 2010), häufig den familiären Alltag bestimmt.

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Interessant ist auch, dass hier Unterschiede bei der Beurteilung unterschiedlicher Entwicklungsbereiche vorgenommen werden. Denn obwohl es Teil der Erziehungsphilosophie in westlichen Kontexten ist, dass Kinder ihr eigenes Entwicklungstempo haben und dieses respektiert werden muss, scheint dies nicht für die motorische Entwicklung zu gelten. Kinderärzte warnen vor zu frühem Sitzen, und Gehhilfen werden pauschal und vehement als schädlich abgelehnt. Ein frühes Training des kognitiven Systems dagegen wird als Entwicklungsförderung verstanden, sodass es neben vielen Babyspielzeugen, Büchern und Spielen eine Fülle von Trainingsprogrammen wie »Kleiner Einstein«, »Mozart für Babys« und »Kreativität mit Picasso« gibt. Eine Zeit lang wurde auch intensiv versucht, Babys Zeichensprache beizubringen in der Annahme, dass Babys durchaus komplexe Sachverhalte kommunizieren könnten, für die ihnen nur die Ausdrucksmöglichkeiten – sprich Sprache – fehlen. In der Realität sah es dann so aus, dass wenn das Baby gelernt hatte, mit Zeichen kundzutun, dass es Milch wollte, es auch bereits Milch sagen konnte (Brüser, 2011). Viele Babys aus deutschen Mittelschichtfamilien nehmen an zahlreichen Programmen und Angeboten teil, wobei beispielsweise Babyschwimmen und das Prager Eltern-Kind-Programm (PEKiP; z. B. Pulkkinen, 2008) sehr verbreitet sind. Insgesamt sind alle erzieherischen Bemühungen auf die Entwicklung und Entfaltung der inneren Welt ausgerichtet und unterstützen somit die Entwicklung von psychologischer Autonomie und psychologischer Verbundenheit. Handlungsautonomie wird von kleinen Kindern nicht wirklich erwartet, und hierarchisch verbundenheitsorientierte Vorstellungen wie etwa Respekt oder Gehorsam werden als Erziehungsziel für die ersten Lebensjahre von deutschen Mittelschichteltern häufig abgelehnt (Keller, 2011). Das kulturelle Modell der autonomen Verbundenheit: Die nichtwestliche städtische Mittelschichtfamilie Nichtwestliche Mittelschichtfamilien sind häufig in Großstädten ihrer Länder Migranten der ersten oder zweiten Generation aus traditionellen Dörfern, wie sie bereits beschrieben wurden. Häufig werden Bezüge zu »meinem Dorf« hergestellt, und die soziale Nähe und Verbundenheit mit der Familie auf dem Land ist Teil einer nicht lokal residierenden Großfamilie. Die Städter haben ein hohes Ausmaß formaler Bildung, das sie in westlich organisierten Schulen oder direkt im westlichen Ausland erworben haben. Diese Art von formaler Bildung ist ein Motor für Veränderungen in vielerlei Hinsicht. Entsprechende Prozesse sind in drei Ansätzen sehr anschaulich dokumentiert worden. Çiğdem Kağıtcıbaşı (1996)

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hat aufgezeigt, wie sich Erziehungsziele in türkischen Familien verändert haben und damit zusammenhängend der Wert des Kindes – hinsichtlich materieller und psychologischer Verbundenheit zwischen den Generationen verschwindet die materielle Komponente. Susan Seymour (1999) hat drei Generationen von Frauen in der indischen Tempelstadt Bhubaneswar begleitet und dokumentiert, wie formale Bildung die Stellung der Frau und die Teilhabe an der außerhäuslichen Gesellschaft verändert. Patricia Greenfield (2004) hat bei den ZinacantecMaya-Indianern in Mexiko ebenfalls über drei Generationen hinweg gezeigt, wie formale Bildung und damit verbunden Geldökonomie sowohl das Zusammenleben als auch die materielle Seite von Kultur verändern, indem zum Beispiel lange Traditionen an Webmustern jetzt mit individueller Kreativität variiert werden. Diese Veränderungen machen Wissen zu einem persönlichen Besitz und nicht zu einem gemeinsam verwalteten Eigentum der Familie. Patricia Greenfield geht sogar soweit zu sagen, dass formale Bildung die Familie als Erziehungs- und Bildungsinstitution aufweichen und damit auch Ausgangspunkt für erhebliche intergenerationale Konflikte sein kann (Greenfield, 1996, 2004). Formale Bildung wirkt sich auf frühkindliche Sozialisationsstrategien vor allem im Ausmaß der Verbalisierung und der Rolle von Gesprächen im sozialen Austausch aus (LeVine, Miller, Richman u. LeVine, 1996). Insgesamt werden Interaktionen dadurch distaler, das heißt über die Fernsinne reguliert. Neben der besonderen Rolle von Sprache spielen Blickkontakt und Objektstimulation die tragenden Rollen. Über diese Systeme und die damit zusammenhängenden Mechanismen wie kontingente Reaktionen auf Blicke und Lächeln mit Schauen, Lächeln und Vokalisieren bzw. Sprache wird psychologische Autonomie unterstützt, aber eben nicht auf Kosten der sozialen Verbundenheit im hierarchischen Familiensystem. Es ist auch städtischen Eltern weiterhin wichtig, ihre Kinder zu Konformität mit den familiären Werten, Respekt für die Älteren, Selbstkontrolle und Akzeptanz der elterlichen Autorität zu erziehen (Chaudhary, 2004; Kağıtcıbaşı, 2007). Es ist offensichtlich, dass in diesem Modell eine Vielzahl von Konstellationen aus Autonomie und Verbundenheit denkbar sind, weshalb diese soziodemografische Gruppe auch keinen Prototyp abbildet. Kinder nehmen an Alltagshandlungen teil und konstruieren dabei kommunale psychologische Autonomie, das heißt, der Blick ist nach innen auf mentale Prozesse gerichtet, allerdings nicht in Bezug auf das Selbst, sondern auf die soziale Gemeinschaft. Individuelle psychologische Autonomie kann allerdings gleichzeitig auch unterstützt werden, zum Beispiel im Leistungsbereich. Im Bereich der Verbundenheit sind psychologisch definierte Beziehungen (emotionale Bänder) vorhanden, die allerdings auch starke Elemente der hierarchischen Verbundenheit, das heißt Verpflichtung und soziale Verantwortung, enthalten.

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In diesem hybriden Konzept ist es nicht von vornherein klar, welche Dimension, die Autonomie oder die Verbundenheit, in ihrer jeweiligen Ausprägung dominant für die entstehende Organisation ist. Die multiplen Möglichkeiten machen die Hybridität des Modells aus. Da es vermutlich auch das Modell ist, das Migrantenfamilien entwickeln, ist es besonders wichtig, hier sehr viel Energie auf die Analyse zu verwenden, da diese Kenntnis zentral für den Erfolg von Programmen in der Familienberatung wie auch für frühe Bildungsprozesse ist.

Ausblick In diesem Beitrag wurde argumentiert, dass Autonomie und Verbundenheit menschliche Grundbedürfnisse darstellen und gleichzeitig kulturelle Werte abbilden. In Abgrenzung zu vorhandenen Ansätzen wurde hier vorgeschlagen, Autonomie und Verbundenheit nicht in einem irgendwie gearteten Mehr oder Weniger zu verstehen, sondern als Modalitäten, die sich kontextuell adaptiv unterscheiden. Damit können auch die Formen der Koexistenz genauer spezifiziert werden. In multikulturellen Gesellschaften werden alle drei hier dargestellten kulturellen Modelle gelebt. Die öffentliche Kultur, vom Kinderarzt über die Beratungspraxis bis zur Kita, postuliert jedoch in der Regel lediglich ein kulturelles Modell als richtig und handlungsleitend, das der psychologischen Autonomie. Psychologische Homöostase und psychische und physische Gesundheit (»well-being«) werden durch den Einklang der alltäglichen Lebenspraxis mit den öffentlichen kulturellen Modellen gewährleistet. Dies ist für viele Individuen jedoch nicht zutreffend. Durch die Diskrepanzen entstehen vielerlei Irritationen mit möglicherweise fatalen Folgen für die gleichberechtigte Teilnahme aller Bürger am Bildungssystem sowie am gesellschaftlichen Leben insgesamt. Mehr als 80 % der türkischstämmigen Migranten in Deutschland (die größte Einwanderungsgruppe) stammen aus Dörfern, deren sozialökonomische Struktur und deren damit verbundenes kulturelles Modell mit dem hier geschilderten Modell der hierarchischen Verbundenheit weitgehend übereinstimmen. Entsprechend stimmen 81 % der befragten türkischen Migranten (nicht nach sozialer Herkunft selegiert) der Aussage »Glücklich und zufrieden kann man sich in unserer modernen Zeit nur in der Familie, zu Hause mit seinen Kindern fühlen« zu, im Gegensatz zu nur 54 % deutscher Befragter (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Generations and Gender Survey, GGS, 2006). 80 % der türkischen Migranten stimmen der Aussage »Kinder sollten ihre Eltern zu sich nehmen, wenn diese nicht mehr selbst für

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sich sorgen können« zu, im Gegensatz zu 45 % der deutschen Befragten. Hier zeigen sich ganz klar unterschiedliche Prioritäten, die das Familienleben und den familiären Zusammenhalt betreffen. In sehr vielen Aussagen von Migranten, auch städtischer Herkunft, wird fehlender Respekt und mangelnde Achtung vor Älteren beklagt: »Zum Beispiel, zum Beispiel. Ich fahre Straßenbahn. Und, um die Zeit, wenn alle Schüler von der Schule fahren. In der Straßenbahn steht die bejahrte Frau mit zwei Krücken. Siebzig Jahre alt. Keiner wird ihr den Platz überlassen. Und als ich auf Deutsch gesagt habe: ›Bitte, überlassen Sie den Platz!‹, sie hat den Platz überlassen. Aber mich hat wie ›den Feind des Volkes‹ angeschaut … In Weißrussland, in Weißrussland, ich glaube, sie wird aufstehen – (…) Und die Kinder, die Kinder überließen den Platz. Die Kinder überließen in Russland den Platz« (wortwörtliche Transkription eines Interviewausschnitts mit einer Aussiedlerin, geführt von Anna Dintsioudi).

Auch Bildungseinrichtungen werden in diesen Zusammenhang kritisch betrachtet oder erlebt. So werden Kitas teilweise entsprechend nicht als Orte betrachtet, in denen Bildungschancen wahrgenommen werden können, sondern als Institution, die Kindern falsches und unerwünschtes Verhalten nahelegen, empfunden: »Manche von uns haben versucht, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken, aber dann bekommen sie eine Erziehung, sie benehmen sich ganz anders, die Erzieherinnen lassen die Kinder alles machen, was sie wollen. Deswegen, ehrlich gesagt, habe ich Angst, meine Kinder dahin zu schicken. Ich habe es zwar einmal versucht, aber dann habe ich selber gesagt, nein« (Spätaussiedlerin, Forschungsgruppe JugendMedienKultur, Universität Trier, 2005).

Nach dieser Ansicht dokumentieren Erzieherinnen Inkompetenz, wenn sie die Kinder fragen, was sie möchten, anstatt ihnen strukturierte Vorgaben zu machen. Das trifft in gleicher Weise auch auf den Beratungskontext zu. Im Berater wird weniger ein Partner auf gleicher Augenhöhe als eine kompetente Autoritätsperson gesehen; entsprechend wird eine stärker direktive und strukturierte Beratung gewünscht (Schernewski, 2009). Für Problemlösungen Einzelner muss der Familienkontext inklusive Rollenverteilung und der familiären Hierarchie berücksichtigt werden. Unterschiedliche Erziehungsziele, elterliche Vorstellungen und Erziehungspraktiken müssen erkannt und akzeptiert werden. Wie das Modell der autonomen Verbundenheit gezeigt hat, gibt es Synthesen verschiedener kultureller Modelle. Dies setzt aber voraus, dass eine grundsätzliche Akzeptanz von

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Andersartigkeit gewährleistet ist. Der enge Zusammenhalt in türkischstämmigen Familien ist nicht die Wiege für Ehrenmorde, wie man immer wieder lesen kann, sondern dabei handelt es sich um eine pathologische Erscheinung, die sich möglicherweise aus diesem Modell herleiten lässt. Andererseits käme niemand auf die Idee, die unzähligen Fälle kindlicher Vernachlässigung, die man in allen Zeitungen ständig lesen kann, als Bestandteil der autonomieorientierten Familienkultur zu betrachten. Dies ist ebenfalls eine pathologische Erscheinung, die sich möglicherweise aus diesem Modell herleiten lässt. Im konstruktiven Umgang mit Vielfalt und Vielfältigkeit haben wir einen dreistufigen Prozess vorgeschlagen (Keller, 2013): Wissen – Haltung – Können. Das Wissen um andere kulturelle Modelle und Implikationen für Familien und außerfamiliäre Institutionen ist eine Voraussetzung für die Entwicklung einer reflektierenden Haltung auch der eigenen Kultur. Erst wenn diese Prozesse gelungen sind, kann Vielfalt gelebt werden und sich im Können ausdrücken. Auf diesem Weg ist noch vieles zu tun.

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Hiltrud Otto

Bindung und Kultur

Bindung Der Aufbau von Bindungsbeziehungen gilt als eine universelle Entwicklungsaufgabe, die Kinder während des ersten Lebensjahres lösen müssen. Der britische Kinderarzt und Psychiater John Bowlby postulierte 1969 die Existenz eines Bindungsbedürfnisses, das er als gleichwertig gegenüber den primären Grundbedürfnissen – wie beispielsweise Nahrung oder Schlaf – erachtete. In seiner Funktion als Kinderarzt erlebte Bowlby die Kranken- und Waisenhäuser der Nachkriegszeit, in denen er bei einer Vielzahl der Kinder massive Entwicklungsverzögerungen und Entwicklungsstörungen diagnostizierte. Diese Diagnosen veranlassten Bowlby die seinerzeit übliche Praxis im Umgang mit Kindern kritisch zu hinterfragen: Wieso entwickelten sich Kinder in Krankenhäusern, wo ihr Bedürfnis nach Nahrung, körperlicher Pflege und Schlaf erfüllt wurden, nicht ebenso gesund wie Kinder, die in Familien aufwuchsen? Wieso entwickelten sie Hospitalismus und Deprivationssymptome, darunter beispielsweise Apathie, bizarre Verhaltensstereotypien, geistige, emotionale und motorische Retardierung? Bowlby vermutete als Ursache das Fehlen von stabilen Bezugspersonen aufgrund des ständig wechselnden Krankenhauspersonals, das sich nicht intensiv mit einzelnen Kindern auseinandersetzte, sondern Dienst nach Vorschrift erfüllte sowie aufgrund der damaligen Hygienevorschriften einen sehr distanzierter Umgang mit den Kindern pflegte. Vorläufererkenntnisse zu diesen Beobachtungen Bowlbys tauchen bereits früher auf. So hat vermutlich der Stauferkaiser Friedrich II. (1194–1250) im 13. Jahrhundert ein (grausames) Experiment durchgeführt, das nachwies, dass Kinder auch mit ausreichend Nahrung und Pflege sterben, wenn emotionale Zuwendung fehlt.1 In dem mittlerweile historischen Experiment wollte Friedrich  II. 1

Ähnliche Experimente wurden angeblich bereits in der Antike vom ägyptischen Pharao ­Psammetich I. (etwa 600 v. Chr.) durchgeführt.

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herausfinden, welches die menschliche Ursprache sei, also welche Sprache die Kinder von allein sprechen, wenn keine Sprache von außen an sie herangetragen wird. Dafür ließ Friedrich  II. Neugeborene von Hebammen stillen, untersagte diesen jedoch jedwede emotionale Zuwendung ebenso wie den Gebrauch von Sprache. Nachdem innerhalb kurzer Zeit alle Säuglinge verstorben waren, ließ das Experiment zwar keine Schlüsse über die Ursprache des Menschen zu, jedoch über die Notwendigkeit von Bindungsbeziehungen. Was im 13. Jahrhundert erkennbar war, wurde 1969 von Bowlby zum ersten Mal wissenschaftlich fundiert vorgetragen: Kinder benötigen in ihrer Entwicklung stabile und liebevolle Bezugspersonen, um Sicherheit und Vertrauen in ihre Umwelt zu gewinnen. Bowlby definiert Bindung als emotionales Band  – »a child’s tie to his mother«  –, das sich im Laufe des ersten Lebensjahres entwickelt (Bowlby, 1969/1982, S. 179). Bowlby betrachtete Bindung als ein evolviertes und biologisch verankertes Verhaltenssystem, welches das Überleben des Säuglings unter den Umweltbedingungen, unter denen unsere Vorfahren lebten (»environment of evolutionary adaptedness«), sicherte (Bowlby, 1969/1982, S. 50). Bindungsverhaltensweisen bauen Nähe zu Bezugspersonen auf und variieren je nach Alter und motorischem Entwicklungsstand des Kindes von Lächeln und Weinen, Festklammern, Hinkrabbeln, Hinterhergehen bis hin zur aktiven Suche nach der Bezugsperson. Bindungspersonen reagieren normalerweise intuitiv auf Bindungsverhaltensweisen mit Fürsorgeverhalten und helfen so dem Kind, physische und/oder psychische Sicherheit zu gewinnen. Bowlby ging davon aus, dass ein Kind, das in der Lage war, in engem Kontakt zu seinen Bezugspersonen zu bleiben, eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit hatte als ein Kind, das diese Verhaltensweisen nicht zeigte: Kontakt mit Bezugspersonen schützte vor Kälte, Feinden, und erlaubte Stillen bei Bedarf. Bindungsverhalten war somit ein Faktor, der Individuen mit höherer Wahrscheinlichkeit überleben und reproduzieren ließ, wodurch das Bindungssystem im Laufe der Phylogenese im menschlichen Genom verankert wurde. Bowlby postulierte als hypothetisches Konstrukt das sogenannte internale Arbeitsmodell (»internal working model«), in dem die frühkindlich erlebten Beziehungen (vor allem mit der primären Bezugsperson) repräsentiert sind. Diese mentalen Bindungsrepräsentationen sind definiert als »Regeln für die Organisation von Informationen über bindungsbezogene Erfahrungen, Gefühle und Vorstellungen, einschließlich einer Gedächtnisorganisation, die den Zugang zu diesen Informationen erleichtern oder erschweren kann« (Main, Kaplan u. Cassidy, 1985, S. 67). Erfahrungen mit einer zuverlässigen Bindungsperson sollten entsprechend in einem positiven internalen Arbeitsmodell von der Bindungsfigur und dem

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Selbst resultieren, Erfahrungen mit einer unberechenbaren, unzuverlässigen Bindungsfigur in einem negativen internalen Arbeitsmodell. Üblicherweise hat sich nach zwölf Monaten im Kontext konkreter Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson eine Bindungsbeziehung entwickelt, in der individuelle Interaktionsmuster deutlich werden: Eine mehr oder weniger tragfähige Bindungsbeziehung ist hergestellt. Die Bindungstheorie nimmt dabei an, dass die Arbeitsmodelle, die im Laufe des ersten Lebensjahres grundlegend gebildet werden, die weitere sozioemotionale Entwicklung stark beeinflussen und lebenslang relevant bleiben. Mary Ainsworth, eine Schülerin von John Bowlby, entwarf eine Methode, mit der sich die Qualität einer Bindungsbeziehung empirisch feststellen ließ: Die sogenannte Fremde Situation. Die Fremde Situation ist eine Art Minidrama mit feststehenden Sequenzen, in der ein 12–18 Monate altes Kind in einer fremden Umgebung mit einer fremden Person konfrontiert und zudem mehrfach von der Mutter bzw. Bezugsperson getrennt sowie mit ihr wiedervereinigt wird (Ainsworth, Blehar, Waters u. Wall, 1978). Die Reaktionen der Kinder bei den Trennungs- und Wiedervereinigungssituationen mit der Mutter bzw. Bezugsperson sowie das Interaktionsverhalten der Kinder gegenüber der fremden Person sollen eine Bindungsklassifikation des Kindes erlauben. Folgende Bindungstypen konnte man mit Hilfe der Fremden Situation identifizieren: Sicher gebundene Kinder (Bindungstyp B) zeigen ihre Emotionen offen: Sie protestieren, wenn die Mutter geht, freuen sich über deren Rückkehr und bevorzugen die Mutter vor der fremden Person; unsicher-vermeidende Kinder (Bindungstyp A) scheinen unbeeindruckt von der Trennung bzw. Wiedervereinigung mit der Mutter und interagieren lieber mit der Fremden, unsicher-ambivalente Kinder (Bindungstyp C) sind dauerhaft gestresst, lassen sich weder von der Mutter noch von der Fremden beruhigen. Wichtig ist zu betonen, dass sowohl sicher als auch unsicher gebundene Kinder Bindungsbeziehung aufgebaut haben, basierend auf ihren bisherigen Erfahrungen mit ihrer Bezugsperson, aber unterschiedliche Verhaltensstrategien im Umgang mit Stress erlernt haben. In den 1980er Jahren wurde eine vierte Kategorie definiert (Main u. Solomon, 1986), die sogenannte desorganisierte Bindung (Bindungstyp D). In diese Kategorie fielen Kinder, die durch bizarre, stereotype Verhaltensweisen auffielen und sich keiner der drei genannten Bindungstypen zuordnen ließen. Typische Verhaltensweisen dieser Kinder sind Unterbrechung einer Bewegung, Erstarren, rhythmisch-monotone Bewegungen bis hin zu völliger Emotionslosigkeit. Als zentrale Einflussgröße für die Bindungsorganisation der Kinder sah Ainsworth die Qualität des mütterlichen Interaktionsverhaltens. Sie erfasste mütterliches Verhalten mit Hilfe des Konzepts der Feinfühligkeit (»sensitivity«),

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welche definiert ist als die Wahrnehmung und richtige Interpretation der kindlichen Signale, sowie Angemessenheit und Promptheit der mütterlichen Reaktion auf diese Signale. In einer Studie mit US-amerikanischen Mutter-Kind-Paaren fand Ainsworth dann auch den vermuteten Zusammenhang: Kinder von Müttern, die im Alltag feinfühlig reagierten, zeigten in der Fremden Situation häufiger sicheres Verhalten, wohingegen Kinder von Müttern, die sich im Alltag als wenig feinfühlig erwiesen, in der Fremden Situation häufiger unsicheres Verhalten zeigten (Ainsworth, Bell u. Stayton, 1974). 1997 wurde das Sensitivitätskonzept von Meins auf der sprachlichen Ebene erweitert: Mütter, die sich in die psychische Lage ihres Kindes versetzen und die inneren Zustände ihrer Kinder differenziert verbalisieren können (sogenannte »mind-mindedness« zeigten), hatten häufig sicher gebundene Kinder. Das Zusammenspiel von mütterlicher Feinfühligkeit und kindlicher Bindungsorganisation spiegelt sich in den Bindungsstrategien wider: Sicher gebundene Kinder haben erfahren, dass ihre Signale wahrgenommen und richtig interpretiert werden, sie verlassen sich auf die Hilfe ihrer Bezugsperson, äußern ihren Stress offen und lassen sich von der Mutter wieder beruhigen. Unsicher-vermeidende Kinder haben gelernt, ihre Emotionen zu unterdrücken; Mütter dieser Kinder werden durch negative Signale des Kindes gestresst, weshalb es für diese Kinder besser ist, negative Emotionen zu unterdrücken. Unsicher-ambivalente Kinder haben Mütter, die nicht konsistent in ihrem Verhalten gegenüber den Kindern sind, sodass die Kinder das Verhalten ihrer Mütter nicht einschätzen können und daher versuchen, immer Kontakt zu ihren Müttern zu halten. Entsprechend ist das Bindungssystem notorisch aktiviert. Im Gegensatz zu sicher gebundenen und unsicher gebundenen Kindern haben desorganisierte Kinder keine kohärente Bindungsstrategie aufgebaut, die ihnen ermöglichen würde, mit einer Trennungs- und Wiedervereinigungssituation umzugehen. Sie scheinen in der Fremden Situation völlig überfordert. Desorganisation ist häufig das Produkt von Missbrauch durch die Bezugsperson: Wenn die Bindungsperson, die Schutz bieten soll, zugleich selbst die Bedrohung darstellt, gerät das Kind in eine sogenannte Double-bind-Situation, aus der es keinen Ausweg gibt. Die Kernannahmen der Bindungstheorie, wie sie von Bowlby (1969/1982) und Ainsworth et al. (1974, 1978) aufgestellt wurden, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Universalitätsannahme: Alle Neugeborenen, mit Ausnahme von Kindern mit massiven neurophysiologischen Schädigungen, entwickeln im Zuge des ersten Lebensjahres eine Bindung an ihre Bezugsperson(en). 2. Normativitätsannahme: Die Mehrheit aller Kinder entwickelt ein sicheres Bindungsmuster, das durch das offene Kommunizieren von Emotionen

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gekennzeichnet ist; als Standardnormalverteilung von Bindungsmustern (»American standard distribution«) betrachtete Ainsworth folgende Verteilung, die sie in ihren Studien mit amerikanischen Mutter-Kind-Paaren fand: 66 % sicher gebundene Kinder, 22 % unsicher-vermeidende Kinder, 12 % unsicher-ambivalente Kinder (Ainsworth et al., 1978). 3. Sensitivitätsannahme: Als wichtigste Ursache für Bindungssicherheit gelten feinfühliges Elternverhalten sowie mütterliche »mind-mindedness«. 4. Kompetenzannahme: Bindungssicherheit führt zu einer kompetenteren Bewältigung weiterer Entwicklungsaufgaben, ist also auch im Hinblick auf Bildung zentral.

Kultur in der Bindungstheorie Die genetische Verankerung des Bindungssystems lässt vermuten, dass Bindung ein universelles Phänomen ist, das in allen kulturellen Kontexten auftritt (Polan u. Hofer, 2008). Diese Annahme der Universalität von Bindung ist soweit unbestritten: Überall auf der Welt entwickeln Kinder Bindungsbeziehungen, mit Ausnahme desorganisierter Kinder, deren Anteil in nichtklinischen Stichproben vergleichsweise gering ist (z. B. Metastudie von Van IJzendoorn, Schuengel u. Bakermans-Kranenburg, 1999). Aus kulturpsychologischer Sicht ist hingegen fraglich, ob die Annahmen der Sensitivität, Normativität und Kompetenz ebenfalls für alle kulturellen Kontexte zutreffen; es scheint wahrscheinlicher, dass die Entwicklung, Funktion und Konsequenz von Bindung in verschiedenen Kulturen auch unterschiedlichen Prinzipien folgt. Wie in den meisten Bereichen der Psychologie wurde Kultur lange Zeit nicht grundlegend von Bindungsforschern berücksichtigt; die meisten Untersuchungen zur Entwicklung von Bindung fanden in westlichen Kontexten statt, wo Mittelschichtmütter und ihre Kinder zu Hause besucht oder in die Labore der Universitäten eingeladen wurden. Einige wenige Studien fanden in nichtwestlichen Kontexten statt, so wurde beispielweise die Fremde Situation auch nach Japan, in israelische Kibbuzim oder ins afrikanische Mali übertragen. In diesen Studien fanden sich häufig ungewöhnliche Verteilungen der Bindungsmuster, z. B. wurden überproportional viele japanische Kinder als unsicher-vermeidend klassifiziert. Ungewöhnliche Ergebnisse in den nichtwestlichen Kulturen wurden dann als ein Kultureffekt interpretiert: beispielsweise, dass in der japanischen Kultur überwiegend vermeidende Kinder sozialisiert werden. Wenngleich dies laut Bindungstheorie implizierte, dass eine Vielzahl japanischer Kinder ungüns-

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tige Bindungsstrategien verfolgte, wurden die Ergebnisse und Interpretationen meist nicht weiter hinterfragt. Da kindliche Entwicklung aber immer in einen bestimmten kulturellen Kontext eingebettet ist und entlang kulturspezifischer Entwicklungspfade verläuft, muss Kultur als zentrale Einflussgröße auch bei der Betrachtung von Bindungsprozessen erachtet werden. Eine differenzierte Sichtweise auf unterschiedliche kulturelle Kontexte und ihre Konsequenzen für kindliche Entwicklung wird von Heidi Keller (2007, → vgl. ihren Beitrag in diesem Band) gegeben. Sie zeigt auf, dass Elternverhalten von kulturellen Kontexten auf eine Art und Weise geprägt ist, die gewährleistet, dass Kinder optimal in und für einen bestimmten Kontext sozialisiert werden. Kulturelle Kontexte sind hier nicht gleichbedeutend mit Ländern oder Nationen anzusehen. Stattdessen sind es unterschiedliche Umwelten, die zu unterschiedlichen soziodemografischen Kontexten führen, die wiederum unterschiedliche mentale Typen/Psychologien als Anpassungsleistungen erfordern (siehe Keller, 2007, → vgl. ihren Beitrag in diesem Band; LeVine, 1977; Whiting, 1980). Finden sich Kontexte mit ähnlichen soziodemografischen Mustern, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie ähnliche Anpassungsstrategien erfordern, die wiederum in Normen und Werten, Haltungen und Überzeugungen repräsentiert sind (Greenfield, 1999; Keller, Borke, Lamm, Lohaus u. Yovsi, 2011). Hier lassen sich neben vielen Mischmodellen zwei prototypische Kontexte unterscheiden, innerhalb derer Werte, Normen und Verhaltensstrategien sehr ähnlich sind. Ein prototypischer Kontext wird von städtischen westlichen Familien gebildet. Hier ist ein großes Ausmaß formaler Bildung obligatorisch, verbunden mit später Elternschaft in den Endzwanzigern und Dreißigern und dem Leben in einer Zweigenerationen-Kernfamilie (Keller, 2007, → vgl. ihren Beitrag in diesem Band). Betrachtet man die Erziehungsziele und Ideale westlicher Mittelschichtfamilien, zeigt sich eine sehr große Übereinstimmung mit den Annahmen der Bindungstheorie. Ein anderer prototypischer Kontext wird von traditionellen Bauernfamilien gebildet, die subsistenzwirtschaftlich in nichtwestlichen Gesellschaften leben. Hier ist das Niveau formaler Bildung eher niedrig, Elternschaft beginnt in den späten Teenagerjahren, es werden viele Kinder geboren, und Familien sind als Großfamilien organisiert. Kulturvergleichende und anthropologische Forschungen belegen, dass Familien mit Kindern aus nichtwestlichen kulturellen Kontexten Erziehungsziele und Ideale verfolgen, die sich nicht in der Bindungstheorie finden lassen, aber ihre eigene Gültigkeit besitzen. Diese beiden prototypischen Kontexte bilden Extreme, die sich gut eignen, zwei nahezu konträre Entwicklungsverläufe und ihre Ursachen zu kontrastieren: Die Definition einer sicheren Bindungsbeziehung, von gutem Mutterverhalten

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und von kindlicher Kompetenz unterscheiden sich in diesen nichtwestlichen kulturellen Kontexten deutlich. Neben diesen beiden prototypischen Kontexten gibt es wie erwähnt auch viele Kontexte, die durch Mischformen gekennzeichnet sind (→ siehe den Beitrag von Heidi Keller in diesem Band), welche in diesem Beitrag aber nicht weiter betrachtet werden können. Im Folgenden soll daher die Bindungsentwicklung in den zwei prototypischen kulturellen Kontexten verglichen werden, basierend auf Untersuchungen mit deutschen Mittelschichtfamilien und kamerunischen Bauernfamilien. Ziel ist zu demonstrieren, dass frühkindliche Erfahrungen großen kulturellen Unterschieden unterliegen und als Konsequenz den Aufbau qualitativ unterschiedlicher Bindungsbeziehungen nach sich ziehen (→ siehe den Beitrag von Heidi Keller in diesem Band; Otto, 2008, 2011).

Bindungsbeziehungen: Ein Vergleich kamerunischer Nso-Bauern2 und deutscher Mittelschichtfamilien Elternverhalten Die Bindungstheorie geht davon aus, dass eine gute Mutter sensitiv auf die Bedürfnisse des Kindes reagiert und sich durch einen mentalistischen Sprachgebrauch auszeichnet. Beobachtet man Bezugspersonen von deutschen Mittelschichtkindern, zeigen diese üblicherweise sensitives Verhalten im Umgang mit ihren Kindern (z. B. Grossmann u. Grossmann, 2004). Zudem sprechen die Bezugspersonen üblicherweise viel und »mind-minded« mit dem Kind: So wird ein drei Monate altes Baby bereits nach Wünschen und Präferenzen gefragt. Forschung hat gezeigt, dass diese Art des Umgangs langfristig die Entwicklung von Selbstwirksamkeit und Individualität beim Kind fördert. Sind Bezugspersonen hingegen direktiv im Umgang mit dem Kind oder unterbrechen intrusiv das Spiel des Kindes, so zeigen sie laut Bindungstheorie unsensitives oder egoistisches Elternverhalten, das beim Kind zu unsicherer Bindung führen kann. Ebenso wird ein nichtmentalistischen Sprach- und Kommunikationsstil der Mütter mit negativen Entwicklungskonsequenzen für die Kinder in Beziehung gesetzt. Betrachtet man nun das Elternverhalten der Nso-Bauern unter dem Aspekt der Sensitivität und »mind-mindedness«, müsste man bei den Nso von einem 2 Die Nso sind eine Ethnie, die vor allem in den Bamenda Grassfields im Nordwesten Kameruns lebt.

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Vorherrschen negativer Bindungsmuster ausgehen. Die Nso sind in der Interaktion mit Kleinkindern wenig sensitiv und gar nicht mentalistisch. Nso-Mütter erachten sich als Experten für die Entwicklung des Kindes: Sie wissen, was für das Kind wichtig ist, welches Verhalten es zu erlernen gilt und welche Verhaltensweisen abtrainiert werden sollen. Entsprechend kontrollieren und dirigieren sie das Spiel- und Explorationsverhalten der Kleinsten (Yovsi, Kärtner, Keller u. Lohaus, 2009) und sehen keinen Sinn darin, sich an den Bedürfnissen und Wünschen von Kindern zu orientieren. Bei genauer Betrachtung wird aber klar, dass dieses wenig sensitive Elternverhalten in bestimmten Kontexten – z. B. dem der Nso – durchaus funktional ist: Die dort priorisierten Sozialisationsziele wie Gehorsam, Respekt und Identifikation mit der Großfamilie werden mit Hilfe eines responsiv-kontrollierenden Erziehungsstils am besten umgesetzt (Yovsi et al., 2009). Mentalistische Konzepte bilden bei den Nso nicht das Kernstück eines Wertesystems, da Beziehungen strengen Hierarchien und Regeln folgen und nicht einer individuellen Aushandlung anhand von individuellen Wünschen und Bedürfnissen unterliegen (Ochs, 1988). Bezugspersonen Aufgrund der klassischen Frauenrolle in den 1960er Jahren, nach der die Versorgung von Kindern die Aufgabe der Mutter war, sah die Bindungstheorie lange Zeit die Mutter als wichtigste Bezugsperson für das Kind an. Erst im Laufe der letzten Jahre räumte die Bindungstheorie auch engagierten Vätern und betreuenden Großeltern eine potenzielle Funktion als Bindungsfiguren ein (Otto, 2008). Nach Ansicht der Bindungstheorie bildet ein Kind, wenn es mehrere Bezugspersonen zur Verfügung hat, eine Hierarchie von Bindungspersonen, entsprechend der Wichtigkeit der Bezugspersonen für das Kind. Die Bindungstheorie geht dabei von maximal drei bis vier Bindungspersonen aus. All dies spiegelt die Familienbeziehungen in Mittelschichtkontexten wider: Die Familie lebt als Kernfamilie mit Mutter, Vater und einem Kind, vielleicht unterstützt durch in der Nähe lebende Großeltern. In Kamerun, wie auch in vielen anderen Ländern Afrikas, gibt es das Sprichwort: »It takes a village to raise a child«, das heißt, es ist die Aufgabe des gesamten Dorfes, ein Kind großzuziehen. Bei den kamerunischen Nso-Bauern kann man genau dies beobachten: Kinder, die noch nicht einmal ein Jahr alt sind, wechseln von einer Person zur nächsten, häufig betreut von etwas älteren Kindern. Eine Hierarchie von wenigen Bezugspersonen lässt sich im dörflichen Kontext bei den Nso nicht finden, da zu viele Personen involviert sind (Otto, 2008). Die Mütter wissen meist nicht, wo genau sich ihr Kind befindet, sind dadurch aber

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nicht im Geringsten beunruhigt. Ähnliches ist von der Ethnie der Beng aus der Elfenbeinküste bekannt: Hier wird ein Kind bereits am Tag der Geburt vom ganzen Dorf begrüßt, indem es von einem Arm zum nächsten gereicht wird und so alle potenziellen Bezugspersonen gleich am Tag der Geburt kennen lernt (Gottlieb, 2004). Ab der Geburt haben die Kinder täglich Kontakt mit vielen verschiedenen Personen, verbringen dafür im Durchschnitt aber auch nur fünf Minuten bei einer einzelnen Person (Gottlieb, 2004, S. 140). Anthropologen (z. B. Hrdy, 1999, 2005), Evolutionsbiologen (z. B. Voland, 2000) und Primatologen (z. B. Bard, 2002) gehen davon aus, dass multiple Kinderbetreuung die eigentliche Norm darstellt und dyadische Mutter-Kind-Beziehungen einen Sonderfall bilden. In Kontexten mit multiplen Bezugspersonen kommen den unterschiedlichen Bezugspersonen zudem unterschiedliche Rollen zu: Die Mutter scheint fast ausschließlich für das physische Wohlbefinden des Kindes zuständig zu sein, das heißt für das Stillen des Kindes, wohingegen Geschwisterkinder und andere Betreuer zentral für die soziale und kognitive Stimulation des Kindes sind (Kermoian u. Leiderman, 1986). Diese Rollenverteilung legt die Vermutung nahe, dass sich Kinder, die mit multiplen Bezugspersonen aufwachsen, je nach Situation und Bedürfnis an unterschiedliche Bezugspersonen wenden – und ihre Bezugspersonen wiederum unterschiedlich reagieren. Emotionen Kulturelle Besonderheiten finden sich auch im Bereich der Emotionsentwicklung schon früh – bereits bei Interaktionen von dreimonatigen Säuglingen und ihren Bezugspersonen zeigen sich gravierende kulturell bedingte Unterschiede (siehe auch Keller u. Otto, 2009). Deutsche Mittelschicht-Bezugspersonen fühlen sich am wohlsten in Interaktionen mit dem Kind, wenn eine positive Grundstimmung vorherrscht. Typischerweise versuchen Mutter oder Vater diesen positiven Affekt im Kind auch hervorzurufen, indem sie selbst das Kind anlächeln, auffordern (»Lach doch mal!«) oder kommentieren (»Na, das macht dir Spaß!«) (Demuth, 2008). Ebenso erachten es Mittelschicht-Eltern als positiv bzw. als ein Zeichen von Individualität, wenn das Kind negative Emotionen ausdrückt, sofern der Ausdruck »im Rahmen« bleibt: Das Kind will eben seinen eigenen Kopf durchsetzen. Mit circa neun Monaten lässt sich bei den deutschen Kindern dann das Auftreten von Fremdenfurcht bzw. Fremdeln beobachten, was der Lehrbuchmeinung entspricht, dass Fremdenfurcht ein universelles Phänomen darstellt. Lacht ein dreimonatiges Nso-Kind in einem der Dörfer in Kamerun, so wird dies bei den Nso als ein Zeichen von Gesundheit interpretiert und führt ansons-

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ten zu keiner weiteren Reaktion. Zeigt das Kind aber negative Emotionen oder weint, so wird dies zumeist mit ausgeprägter vestibulärer Stimulation und klarer Schelte beantwortet, denn: »Hier wird nicht geweint!« (Demuth, 2008). Kamerunische Nso-Mütter erwarten von ihren Kindern Emotionskontrolle, um sich so an die vorherrschenden Umgangsformen anzupassen. Fremdenfurcht lässt sich bei den Nso-Kindern nur selten beobachten, stattdessen wechseln die Kinder ohne Furcht auf den Arm einer Fremden; die wenigen Kindern, die dies nicht tun, werden als ungezogen angesehen und ausgeschimpft (Otto, 2008). Auch in anderen afrikanischen Kontexten ist das Phänomen der Fremdenfurcht nicht zu beobachten: Gottlieb (2004) berichtet von den Beng an der Elfenbeinküste, dass Fremdenfurcht nicht auftritt, da Kinder von Geburt an mit vielen verschiedenen Personen Umgang pflegen. Zudem gilt ein Fremder bei den Beng an und für sich nicht als bedrohlich, sondern als etwas Besonderes. Er wird freudig empfangen und erfährt Gastfreundschaft (Gottlieb, 2004, S. 160). Kulturvergleichende Studien haben gezeigt, dass es grundsätzlich unterschiedliche kulturelle Neigungen zur Beachtung positiver und negativer kindlicher Signale gibt: Deutsche Mütter nehmen eher positive Signale wahr und versuchen positiven Affekt beim Kind zu maximieren, afrikanische Frauen reagieren eher bei negativen Signalen und versuchen negativen Affekt sogar antizipatorisch (z. B. durch Stillen) zu unterbinden (Keller, Völker u. Yovsi, 2005; Keller, Otto, Lamm, Yovsi u. Kärtner, 2008; Yovsi, 2003). Auch Fremdenfurcht scheint kein universelles Phänomen zu sein, sondern kulturellen Sozialisationsprozessen zu unterliegen. All dies mag unterschiedliche Konsequenzen für den Aufbau und die Organisation einer Bindungsbeziehung haben. Bindungsorganisation Es sind die frühen Erfahrungen während des ersten Lebensjahres, die bestimmen, wie die Bindungsbeziehungen von einjährigen Kindern aussehen. Da wie beschrieben die Erfahrungen von Säuglingen großen kulturellen Unterschieden unterliegen, wundert es nicht, dass auch Bindungsbeziehungen kulturspezifisch ausfallen: Gemäß der Bindungstheorie gilt eine sichere Bindung als optimale Bindungsstrategie; unsichere Bindungsbeziehungen oder Desorganisation hingegen als ungünstigere bzw. maladaptive Verhaltensstrategien. Hierzu schrieb Bowlby: »Die drei Hauptbindungsmuster der ersten Lebensjahre konnten jetzt reliabel identifiziert werden, zusammen mit den Familienbedingungen, die sie bedingen: Eines dieser Muster steht im Einklang mit einer gesunden Entwicklung des Kindes, zwei sind prädiktiv für eine gestörte Entwicklung« (Bowlby, zit. nach Belsky u. Rovine, 1988, S. 166).

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Gegen die universelle Gültigkeit des sicheren Bindungsmusters als Norm sprechen Befunde von traditionellen ländlichen Kulturen: Laut Bindungstheorie ist für das sichere Bindungsmuster unter anderem der offene Ausdruck von Emotionen gegenüber der Bezugsperson charakteristisch. Bei den kamerunischen Nso ist jedoch die häufigste kindliche Bindungsstrategie ein sehr passives und emotionsloses Verhalten, das aus Sicht der traditionellen Bindungstheorie auf eine ungünstige Strategie hinweisen würde (Otto, 2008, 2011). Unter Umständen könnte solch ein Verhalten sogar zu der Klassifikation Desorganisation führen. Nso-Mütter schätzen diese Passivität der Kinder jedoch, da ruhige Kinder problemlos von verschiedenen Bezugspersonen betreut werden können und dadurch ihren Müttern ermöglichen, ihrer alltäglichen Arbeit nachzugehen. Dieses Ideal eines ruhigen und emotionslosen Kindes wird auch für andere ländliche Stichproben beschrieben: Friedl (1997) berichtet dies von einer iranischen Volksgruppe, Howrigan (1988) von den Maya in Yucatan und Broch (1990) für Einwohner Indonesiens. Harwood, Miller und Irizarry (1995) legten puerto-ricanischen Müttern Bilder mit Ausschnitten aus der Fremden Situation vor, auf denen die typischen Verhaltensweisen von sicher und unsicher gebundenen Kindern dargestellt waren, und entdeckten, dass puerto-ricanische Mütter Verhaltensweisen bevorzugten, die zufolge der Bindungstheorie unsicher sind, oder Verhaltensweisen ablehnten, die zufolge der Bindungstheorie als sicher gelten. Die Tatsache, dass in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Verhaltensweisen als optimal angesehen werden, zeigt den elementaren Einfluss kultureller Wertesysteme. Kindliches Bindungsverhalten ist zwar biologisch angelegt, stellt aber immer auch ein Sozialisationsergebnis dar, das von kulturspezifischen Wertesystemen geprägt ist. Diese Wertesysteme können in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten durchaus konträr ausfallen, wodurch die Annahme, dass eine kindliche Verhaltensweise – die sichere Bindung, wie sie von der Bindungstheorie beschrieben wird – in allen Kontexten die optimale Verhaltensstrategie repräsentiert, grundsätzlich in Frage zu stellen ist.

Ausblick: Interventions- und Präventionsprogramme Die Bindungstheorie ist nach wie vor eine zentrale Theorie der Entwicklungspsychologie sowie Grundlage vieler Anwendungskonzepte und John Bowlby gebührt das Verdienst, das Bild, das die Psychologie vom Kleinkind hatte, maßgeblich verändert zu haben. Leider hat die Bindungstheorie aber in den letzten fünfzig Jahren den kulturellen Einflüssen immer noch nicht den Stellenwert

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eingeräumt, den sie – gerade in der heutigen Zeit – verdienen. In vielen unserer Lebensumwelten treffen verschiedene Kulturen aufeinander, beispielsweise bedingt durch Migration. Oft kommt es in Folge zu einem »culture clash«, da Wissen über fremde Kulturen, ihre Werte und Normen fehlt. Auswirkungen zeigen sich auch im Bereich kindlicher Entwicklung: In Kitas und Schulen, bei Ärzten und Psychologen stellen unterschiedliche kulturelle Auffassungen sowohl Familien als auch Praktiker vor große Herausforderungen. Eine Vielzahl von Frühförder- und Bildungsprogrammen sowie Präventions- und Interventionsprogrammen basiert auf den Grundannahmen der Bindungstheorie. Dabei bleibt leider unberücksichtigt, dass die Bindungstheorie vor allem auf die Lebensumwelten von Mittelschichtfamilien zugeschnitten ist, jedoch nicht auf Familien, die anderen kulturellen Idealen folgen. Diskrepanzen zwischen verschiedenen kulturellen Werthaltungen ergeben sich auch in Bezug auf die Inhalte von existierenden Frühförderprogrammen. Ein Beispiel ist das Herstellen von Situationen, in denen ein Erwachsener mit einem einzelnen Kind interagiert und dadurch exklusive Aufmerksamkeit herstellt; dies ist für Kinder aus traditionell ländlichen Kontexten eine unnatürliche Situation, die einschüchternd wirken kann. Ebenso ist das Herstellen von Blickkontakt in vielen Programmen zentral; Blickkontakt kann in Kontexten, in denen man den Blick vor älteren Personen abwendet, als Provokation aufgefasst werden; entsprechend lernen Kinder Blickkontaktvermeidung. Auch kann eine Mutter der Nso möglicherweise den Sinn einer Eingewöhnungsphase in der Kita nicht sehen, da das Kind doch längst gelernt haben sollte, mit vielen verschiedenen Bezugspersonen umzugehen. Und auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass viele Nso-Mütter ihre Kinder in deutsche Kitas schicken, so stammen doch viele Familien mit Migrationshintergrund aus traditionellen und ländlichen kulturellen Kontexten und sind in Teilen ihren Werthaltungen oftmals den Nso-Müttern ähnlicher als den Mittelschichtmüttern (Keller, 2011). Grundsätzlich lässt sich damit festhalten: Erfolgreiche Interventions- und Förderprogramme für Familien und Kinder aus verschiedenen kulturellen Kontexten benötigen kulturinformierte Konzeptionen von Bindung und Beziehung. Dies stellt sowohl die Forschung als auch die Praxis vor eine anspruchsvolle und komplexe Aufgabe. In diesem Zusammenhang wäre es bedeutend, kulturell unterschiedliche Formen der elterlichen Präsenz und der elterlichen Ankerfunktion zu betrachten, um kulturell angepasste Interventionsstrategien entwickeln und implementieren zu können (→ siehe hierzu auch den Beitrag von Jörn Borke in diesem Band). Die Lösung dieser Aufgabe sollte uns allen am Herzen liegen, da Wissen und Verständnis notwendige Ingredienzien für ein erfolgreiches Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen sind.

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Bindung und Kultur

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Jörn Borke

Kultursensitive systemische Familientherapie

Einführende Überlegungen Die systemische Familientherapie1 stellt seit Jahren einen bedeutenden Zweig der in Deutschland angewandten Konzepte für psychotherapeutisches und beraterisches Arbeiten dar. Es haben sich dabei im Laufe der Zeit unterschiedliche Ausprägungen und Weiterentwicklungen etabliert, durch welche vielfältige Einsatzmöglichkeiten sowie eine große Methodenvielfalt ermöglicht werden (z. B. von Schlippe u. Schweitzer, 2012; Schweitzer u. von Schlippe, 2006). Ein noch vergleichsweise junger Zweig der systemischen Therapie umfasst Ansätze, welche sich mit der systematischen Berücksichtigung von kulturellen Unterschieden in Beratungs- und Therapieprozessen befassen. Hier sind in den letzen Jahren zunehmend Publikationen erschienen, die sich näher mit diesem Feld beschäftigen und Grundlagen für eine kultursensitive familientherapeutische Arbeit beschreiben sowie die fachliche Diskussion um deren Bedeutung und Ausgestaltung bereichern (z. B. Hegemann u. Oestereich, 2009; Pirmoradi, 2012; Radice von Wogau, Eimmermacher u. Lanfranchi 2004; von Schlippe, El Hachimi u. Jürgens, 2003). In diesem Beitrag sollen als Ergänzung zu diesen bisher vorliegenden Ideen Erkenntnisse der kulturvergleichenden Familienforschung dargestellt und bezüglich ihrer praktischen Relevanz beleuchtet werden. Es soll dabei aufgezeigt werden, dass dadurch sowohl Leitlinien zur Einordnung von kulturellen Unterschieden eingeführt werden können als auch dass sich der Raum für Handlungs- und Erklärungsmöglichkeiten in therapeutischen bzw. beraterischen Prozessen erhöhen lässt.

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Aus Gründen der Vereinfachung und besseren Lesbarkeit wird hier der Begriff systemische Familientherapie verwendet, eingedenk der Tatsache, dass es in diesem Feld durchaus sehr unterschiedliche Ansätze, Auslegungen und eben auch Bezeichnungen für Beratungsansätze gibt, die sich auf systemische Gedanken und Theorien beziehen (für einen Überblick siehe z. B. von Schlippe u. Schweitzer, 2012).

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Kultursensitive systemische Familientherapie

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Unterschiedliche kulturelle Entwicklungspfade Der Begriff »Kultur« wird mit sehr unterschiedlichen Definitionen und Auslegungen verwendet. Fragt man zwei Menschen, was sie unter Kultur und kulturellen Unterschieden verstehen, bekommt man mit ziemlicher Sicherheit zwei, zumindest in Teilen, voneinander abweichende Antworten. Entsprechend lassen sich auch bei den Praxisansätzen, die sich mit der Berücksichtigung von kultureller Vielfalt beschäftigen, verschiedene Definitionen finden (z. B. mit mal weiter und mal enger gefassten Beschreibungen von dem, was als jeweils gemeinsame Kultur beschrieben wird). In diesem Beitrag soll eine Definition von Kultur sowie ein darauf aufbauendes Modell dargestellt werden, durch das sich Ordnungsparameter ziehen lassen, welche eine systematische Betrachtung und Einordnung von kultureller Vielfalt ermöglichen können. In einem nächsten Schritt leiten sich, darauf aufbauend, Ableitungen für Beratungs- und Psychotherapieprozesse her. Bezug genommen wird hier auf das Konzept der unterschiedlichen kulturellen Entwicklungspfade, welches von Heidi Keller entwickelt wurde (z. B. Keller, 2007, 2011). Es entstand vor dem Hintergrund evolutionärer, kulturanthropologischer sowie psychologischer Denktraditionen und Erkenntnisse (z. B. Belsky, Steinberg u. Draper, 1991; Whiting u. Whiting, 1975). Zentraler Grundgedanke ist, dass die jeweiligen sozioökonomischen, soziokulturellen und ökologischen Bedingungen des Kontextes, in denen Familien aufwachsen, –– die Vorstellungen von dem, was bezüglich der Bildung und Entwicklung als besonders erstrebenswert gilt, –– die Vorstellungen vom Umgang mit Kindern, –– das elterliche Verhalten, –– die kindliche Entwicklung sowie –– die Strukturierung des Selbstkonzeptes maßgeblich beeinflussen und formen und zwar in dem Sinne, dass die Kinder jeweils auf das Umfeld vorbereitet werden, in dem sie leben bzw. erfolgreich groß werden sollen. Ein ähnliches Umfeld, in dem Familien leben, führt demnach zu ähnlichen Ausformungen ihrer Strategien, Verhaltensweisen und Wertesysteme (Keller, 2007). Als wichtige sozioökonomische, soziokulturelle und ökologische Bedingungen lassen sich eine eher ländliche oder eher städtische Umgebung, das Ausmaß an formaler Bildung, das Leben in großfamiliären oder kernfamiliären Strukturen, die Anzahl der Kinder, aber auch andere Bedingungen, wie beispielsweise klimatische oder geologische Umgebungsfaktoren beschreiben. Unterschiede zwischen verschiedenen Ausprägungen von

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kulturellen Mustern können in besonderem Maße anhand von zwei menschlichen Grundbedürfnissen eingeordnet werden: dem Bestreben nach Autonomie (nach Eigenständigkeit, Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung) und dem nach Verbundenheit (Gemeinschaftlichkeit, Eingebundensein in orientierungsstiftende Ordnungen) (→ siehe hierzu auch die Beiträge von Heidi Keller und Hiltrud Otto in diesem Band). Beide sind für alle Menschen bedeutend, es zeigen sich aber je nach kulturellem Kontext sehr unterschiedliche Gewichtungen und auch Ausgestaltungen dieser Bedürfnisse (Kağıtçıbaşı, 2007; Keller, 2007; Markus u. Kitayama, 1991). Nun lassen sich prinzipiell endlos viele unterschiedliche Ausprägungen hinsichtlich der Bedeutung von Autonomie und Verbundenheit denken. Demnach bestehen zwischen allen Familien kulturelle Unterschiede, da natürlich niemals zwei Menschen (oder Familien) in komplett identischen Kontexten mit den gleichen Erfahrungen aufgewachsen sind. Insofern sollte das hier vorgestellte Modell zur Ordnung von kulturellen Unterschieden nicht als vereinfachendes Schubladendenken missverstanden werden. Es geht nicht darum, die Unterschiedlichkeit von Familien auf wenige Erscheinungsformen zu reduzieren oder eindimensional darzustellen. Es kann vielmehr als eine Möglichkeit betrachtet werden, aus dem Wissen über die kontextuellen Hintergründe von Familien, Ideen über ihre Struktur, über ihre Wünsche und Verhaltensweisen sowie über ihre Erfahrungen mit beraterischen und therapeutischen Prozessen und ihre Erwartungen daran abzuleiten. Wie erwähnt, soll dies nicht dazu dienen, Familien in Kategorien einzuordnen und nicht mehr individuell wahrzunehmen (letzteres ist natürlich in jedem Fall und im Besonderen bei einer systemischen Herangehensweise unerlässlich), sondern eine ergänzende Möglichkeit zur Verfügung stellen, um unterschiedliche kulturelle Hintergründe einordnen zu können. Es kann durch den hier vorgestellten Ansatz also quasi der Raum beschrieben werden, in dem sich Familien einordnen lassen: mit den beiden später ausgeführten Prototypen der Autonomieorientierung und Verbundenheitsorientierung als Randausprägungen und einer prinzipiell unendlichen Anzahl von Misch- und Zwischentypen (siehe Abbildung 1) (→ siehe in diesem Zusammenhang z. B. auch die Beschreibung des kulturellen Modells der autonomen Verbundenheit im Beitrag von Heidi Keller in diesem Band).

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Abbildung 1: Bezugsrahmen für unterschiedliche kulturelle Muster

Durch die in diesem Ansatz vertretene Definition von Kultur und kultureller Vielfalt wird es möglich, ein Konzept für die Einordnung von kultureller Vielfalt zu bestimmen, das auf der einen Seite nicht einer unangemessenen Komplexitätsreduktion anheim fällt, wie dies zum Beispiel bei Ratschlägen, was man bei der Arbeit mit russischen oder türkischen Familien im Unterschied zu deutschen Familien berücksichtigen sollte, der Fall wäre. Dies kann zwar möglicherweise hilfreich bezüglich sprachlicher, religiöser und historischer Besonderheiten sein, es ist aber eben auch eine große Vereinfachung, da das Festmachen von kulturellen Unterschieden an Länderunterschieden ausblendet, dass es natürlich sehr große Unterschiede zwischen den Menschen aus einem Land gibt. So macht es beispielsweise einen immensen Unterschied, ob eine türkische Familie aus der Mittelschicht einer türkischen Großstadt oder aus einem ländlich-bäuerlichen Kontext stammt. Auf der anderen Seite findet sich oft die Betonung, dass jede Familie einzigartig ist und damit zusammenhängend jeweils auch nur hinsichtlich ihrer ganz individuellen Familienkultur zu betrachten ist. Dies ist natürlich zweifelsohne richtig und schützt vor einer ungerechtfertigten Vereinfachung sowie vor einem stereotypenorientierten Schubladendenken. Dadurch bleiben aber kulturelle Unterschiede auf individuelle Unterschiede beschränkt, und es entstehen wenig Möglichkeiten, diese Unterschiede zu systematisieren, um dadurch entsprechende Einordnungs- und Handlungszugänge schaffen zu können.

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Autonomie- und Verbundenheitsorientierung Im Folgenden sollen nun zwei prototypische Ausprägungen kultureller Entwicklungspfade näher dargestellt werden (→ siehe hierzu auch die Beiträge von Heidi Keller und Hiltrud Otto in diesem Band). Beim Prototyp der Autonomieorientierung kann die psychologische Autonomie als handlungsleitend angesehen werden. Hier haben Aspekte wie Individualität, Entfaltung eigener Interessen und Selbstverwirklichung einen besonderen Stellenwert. Er ist charakteristisch für Kontexte der westlichen Mittelschicht (in Europa und Nordamerika). Diese können durch Parameter wie hohe formale Bildung, Leben in urbanen Umgebungen, ein hohes Erstgeburtsalter, relativ wenige Kindern und ein Leben in Kernfamilien beschrieben werden (Keller, 2007). Eine zentrale Bedeutung kommt bei diesem Prototyp offenbar der Freiheit und Unabhängigkeit sowie individuellen Intentionen, Wünschen, Präferenzen und Vorlieben zu. Ziel ist die Entwicklung von Individuen mit stabilen Ich-Grenzen. Auch in der Beziehungsgestaltung spielt die psychologische Autonomie eine bedeutende Rolle. Hier werden soziale Verpflichtungen als verhandelbar angesehen und erlebt und es besteht eine individuelle Kontrolle über soziale Beziehungen und deren Dauer und Form. Die Bedeutung der psychologischen Autonomie lässt sich in diesen Kontexten auf vielen Ebenen und in vielfältigsten Bereichen beobachten und beschreiben. So besteht bei Eltern häufig der Wunsch, dass Kinder relativ früh lernen, allein in einem Bett oder möglicherweise auch in einem eigenen Zimmer zu schlafen. Auch möchten sie häufig, dass sie früh lernen, sich allein zu beschäftigen und auch allein mit sich glücklich sein zu können. Kindern werden schon recht früh viele Fragen gestellt und viele Auswahlmöglichkeiten gegeben, um es ihnen zu ermöglichen, eigene Vorlieben zu erkunden und einzubringen, und sie als dialogische Gesprächspartner ernst zu nehmen (Demuth, 2008; Keller, 2007, 2011). In Interaktionssituationen warten die Eltern vermehrt die Initiativen der Kinder ab und folgen diesen (Keller, Borke, Chaudhary, Lamm u. Kleis, 2010). Die Autonomieorientierung wird beispielsweise auch an hier vorherrschenden pädagogischen Ansätzen deutlich, bei denen die Selbstbildung der Kinder verstärkt unterstützt werden soll, in der Form, dass die pädagogischen Fachkräfte den Kindern keine Angebote unterbreiten, sondern sie dabei begleiten, sich die Themen und Betätigungen selber zu wählen (z. B. Schäfer, 2008). Auch in psychologischen, beraterischen und therapeutischen Bereichen lassen sich autonomieorientierte Schwerpunkte finden. So spielen hier häufig Aspekte der Selbstverwirklichung eine Rolle. Der Kontakt zwischen Beratern und Klienten gestaltet sich nicht hierarisch, sondern auf Augenhöhe, sodass der Klient bzw.

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das Klientensystem gleichberechtigt in den Ablauf des Beratungsprozesses und die Interventionsgestaltung eingebunden sind und nicht durch eine Autorität belehrt und begleitet werden. Nondirektive Ansätze entsprechen hier also in besonderem Maße einer Orientierung an der psychologischen Autonomie der Klienten. Wie erwähnt, gilt dieser Prototyp als charakteristisch für die westliche Mittelschicht. Vermutlich kann eine nondirektive Arbeitsweise für diese Klienten besonders anschlussfähig sein, da sie mit ihrem kulturellen Hintergrund korrespondiert. Zu fragen ist aber, ob sich diese Ausrichtung der beraterischen bzw. therapeutischen Arbeit auf andere kulturelle Hintergründe übertragen lässt. Um dies zu verdeutlichen soll nun eine zweite prototypische kulturelle Ausprägung näher dargestellt werden. Bei der Verbundenheitsorientierung können die hierarchischen Verbundenheit, also Aspekte der Zusammengehörigkeit, der Gruppenbedürfnisse, aber auch der hierarchischen Eingliederung in Ordnungen und Strukturen als handlungsleitend angesehen werden. Dieser Prototyp scheint charakteristisch für nichtwestliche ländliche Kontexte (z. B. in Afrika und Asien). Hier liegt der Schwerpunkt auf den sozialen Beziehungen, die als Netzwerk von Verpflichtungen in einer hierarchischen Sozialstruktur gestaltet sind und erlebt werden. Die Ich-Grenzen zwischen Individuen sind hier eher fließend. Die Autonomie spielt hier eine andere Rolle. Sie ist an einen konkreten Handlungsvollzug gebunden. So sollen beispielsweise Kinder früh lernen, einfache Handlungsanweisungen selbständig auszuführen, um so an der Gemeinschaft teilnehmen zu können. Eltern haben hier beispielsweise viel Körperkontakt mit den Kindern, über den sie Wärme und Nähe vermitteln. Der Blickkontakt spielt hier keine so große Rolle2 (Keller, Borke, Staufenbiel, Yovsi, Abels, Papaligoura, Jensen, Lohaus, Chaudhary, Lo u. Su, 2009). Die Wünsche und Bedürfnisse der sozialen Gruppen, in denen sich das Leben gestaltet (hier vorrangig natürlich in der Familie), stehen über den Bedürfnissen des Einzelnen. Im Zweifelsfall ist hier also das »Wir« wichtiger als das »Ich«, während in autonomieorientierten Kontexten oftmals dem »Ich« der Vorrang vor dem »Wir« gegeben wird. So ist es beispielsweise in autonomieorientierten Kontexten deutlich leichter, sich scheiden zu lassen oder den Kontakt zur Herkunftsfamilie abzubrechen, wenn es einem damit nicht mehr gut geht. Und auch der Selbstverwirklichung wird im Zweifel oftmals der Vorzug gegenüber einer Anpassung an familiäre Wünsche gegeben. Entsprechend gestaltet sich in 2

In Face-to-Face-Situationen werde in autonomieorientierten Kontexten oftmals Wärme – zum Beispiel durch Lächeln – und Selbstwirksamkeitserlebnisse durch kontingentes Eingehen auf die kindlichen Ausdrücke und Töne vermittelt.

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verbundenheitsorientierten Kontexten auch die Begegnung in Beratungs- bzw. Therapiesituationen nach anderen Mustern, in denen Hierarchie und direktive Methoden eine deutlich größere Rolle spielen als in autonomieorientierten Kontexten. In vielen sehr ausgeprägt verbundenheitsorientierten Kontexten ist eine psychologische bzw. psychotherapeutische Arbeit eher unbekannt (z. B. in einigen ländlichen Teilen Afrikas). Hier sind es vor allem traditionelle Heilerpersönlichkeiten, die beispielsweise durch klar vorgegebene und instruierte Rituale, Opfer oder Medizinverschreibungen Unterstützung und Heilung auch bei nichtkörperlichen Beschwerden anbieten. Auch in weniger deutlich ausgeprägt verbundenheitsorientierten Kontexten, in denen aber eine psychologische und psychosoziale Arbeit bekannt und vorhanden ist, erweist sich diese vielfach auch als stärker direktiv als in autonomieorientierten Kontexten (Pirmoradi, 2012). Es zeigen sich also auf vielen Ebenen unterschiedliche kulturell bedingte Konzepte hinsichtlich der Entwicklung und Erziehung von Kindern, aber auch bezogen auf Selbstkonzepte und Lebensgestaltung bzw. -schwerpunktsetzungen von Menschen sowie auf deren Erwartungen an beraterische und therapeutische Unterstützungsangebote und ihre Erfahrungen damit.

Hypothesen hinsichtlich einer kultursensitiven systemisch-familientherapeutischen Arbeit Welche Erkenntnisse lassen sich nun aus dem dargestellten Ansatz hinsichtlich einer systemisch-familientherapeutischen Arbeit ableiten? Dieser Frage soll in den folgenden Abschnitten dieses Beitrags nachgegangen werden. Dabei stehen hier erste Überlegungen und Hypothesen im Mittelpunkt, durch welche die Diskussion zum Umgang mit kultureller Vielfalt bereichert werden soll. In der Folge besteht hier natürlich noch Bedarf an empirischer und praxisbezogener Validierung der hier angeführten Ideen. Der Fokus dieses Beitrags liegt auf beraterischer bzw. therapeutischer Arbeit in Deutschland, ist also bezogen auf einen Kontext, der in weiten Teilen als autonomieorientiert beschrieben werden kann.3 Wir begegnen in Deutschland aber auch einer großen kulturellen Vielfalt, die durch zunehmende Globalisierungs3 Auch wenn sich hier natürlich ebenso kulturelle Unterschiede beispielsweise zwischen städtischen und ländlichen Gegenden sowie zwischen unterschiedlichen Schichten oder Generationen zeigen lassen.

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bewegungen und Migrationsprozesse weiterhin zunimmt. Dies hat eine Bedeutung für eine beraterische und therapeutische Arbeit, in der es ja zwangsläufig zu Begegnungen von unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Mustern kommt, die mal mehr autonomieorientiert und mal mehr verbundenheitsorientiert sein können bzw. sich in den unterschiedlichsten Mischformen darstellen. Der Gedanke liegt nahe, dass Beratungs- und Therapieansätze jeweils passend und anschlussfähig für ihr Umfeld entwickelt wurden. Zudem beruhen die meisten psychologischen Erkenntnisse, Theorien und Modelle auf Datengrundlagen, die in der Regel in westlichen Mittelschichtstichproben erhoben wurden. Daraus lässt sich ableiten, dass sie als passend für Menschen und Familien aus der westlichen Mittelschicht angesehen werden können. Sie sind jedoch nicht universell auf alle Kontexte übertragbar, auch wenn das vielfach angenommen wird (Keller u. Kärtner, 2013; → siehe auch den Beitrag von Hiltrud Otto in diesem Band). Auch die theoretischen und praktischen Wurzeln der systemischen Familientherapie sind im Wesentlichen in westlichen Kontexten beheimatet (siehe z. B. von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Damit scheinen Ansätze der systemischen Familientherapie gut für autonomieorientierte Kontexte geeignet zu sein. Diskussionswürdig ist nun eher, wie, wo und in welcher Form sie auch anschlussfähig für Familien mit einem stärker verbundenheitsorientierten Hintergrund sind. Familientherapeutische Arbeit legt den Fokus nicht nur auf einzelne Personen, sondern ebenso bzw. vor allem auf die Interaktionen, Deutungen und Geschichten, die sich zwischen den Mitgliedern von Familien oder anderen sozialen Systemen bilden. Damit kommt dem Eingebundensein in Gruppen sowie der Berücksichtigung der Perspektiven, Empfindungen und Gedanken der einzelnen Gruppenmitglieder (unabhängig davon, ob sie im Beratungsprozess anwesend sind oder nicht) eine zentrale Bedeutung zu. Dieser Aspekt spielt auch in verbundenheitsorientierten Kontexten eine so wichtige Rolle, dass wichtige Bezugspersonen als Teil des eigenen Ichs empfunden werden und teilweise Beziehungsgestaltungen üblich sind, die in autonomieorientierten Kontexten als zu intrusiv angesehen werden können (Markus u. Kitayama, 1991). Die systemische Familientherapie bringt somit in ihren grundlegenden Ansätzen ein gutes Potenzial mit, um anschlussfähig für unterschiedliche kulturelle Hintergründe sein zu können (Pirmoradi, 2012). Eine besondere Bedeutung kommt hier der Form der Beziehungsgestaltung innerhalb von Beratungs- bzw. Therapieprozessen zu. Hier zeigt sich ein Blick auf die unterschiedlichen Konzepte und Ansätze, die sich über die letzten Jahrzehnte hinweg im Bereich der systemisch-familientherapeutischen Arbeit entwickelt haben (siehe von Schlippe u. Schweitzer, 2012), als hilfreich. So wird bei-

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spielsweise zwischen Ansätzen der Kybernetik erster Ordnung und Ansätzen der Kybernetik zweiter Ordnung unterschieden (von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Mit dem ursprünglich aus der Mathematik und Technik stammenden Begriff der Kybernetik wird Bezug darauf genommen, dass bei familientherapeutischen Prozessen Veränderungen von Regeln, Strukturen und Mustern innerhalb von Systemen zentral sind, bei denen mehrere Personen miteinander interagieren und aufeinander reagieren. Ansätze der Kybernetik erster Ordnung legen zugrunde, dass ein System von außen erkannt und in seinen funktionalen und dysfunktionalen Anteilen beschrieben sowie in andere (heilsamere) Bahnen bzw. Zustände gelenkt werden kann (z. B. Minuchin, 1977; Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1977). Den Therapeuten oder Beratern kommt hier die Rolle zu, das jeweilige Familiensystem zu analysieren, zu verstehen und durch entsprechende Interventionen (gezielt) zu verändern. Bei der Kybernetik zweiter Ordnung werden Therapeuten bzw. Berater selber als Teil des Systems betrachtet. Sie können also keine losgelöste Außenperspektive einnehmen (z. B. Andersen, 1987; Anderson u. Goolishian, 1992; Dell u. Goolishian, 1981). Berater können also nicht die Rolle von verstehenden und wissenden Personen in dem Sinne einnehmen; sie können keine klaren Ursachen zuschreiben und keine zwangsläufigen Lösungsmöglichkeiten verordnen. Diese Sichtweisen stimmen mit systemtheoretischen Erkenntnissen überein, die von multikausalen Einflussvariablen und jeweils rückgekoppelten Bezügen innerhalb eines Systems (z. B. einer Familie) ausgehen (z. B. Kriz, 1998). Demnach können Familiensysteme nicht gezielt verändert werden, da sie sich im Wesentlichen selbst organisieren. Es kann auch nicht von außen bestimmt werden, in welche Richtung sich ein System verändern sollte und welche Schritte für diese Veränderung zwangsläufig notwendig sind. Vielmehr geht es hier darum, mögliche Anregungen, Ideen und Umdeutungen zu generieren, durch die der Raum der Handlungsmöglichkeiten für das Familiensystem erhöht werden kann. So kann es in einem nächsten Schritt gelingen, Prozesse auszulösen, die zu neuen und heilsameren Ordnungen in Familiensystemen führen können (Kriz, 1998). Korrespondierend mit diesen Grundsätzen einer Ausrichtung hinsichtlich der Kybernetik zweiter Ordnung besteht hier ein gleichberechtigter Kontakt zwischen den Klienten und den Beratern bzw. Therapeuten. Da die Berater weder die Ursachen für Schwierigkeiten noch die genauen Schritte der Veränderung eindeutig (und einseitig) festlegen können, können und sollen sie in einer nichtdirektiven Gesprächsgestaltung sowohl die Veränderungsoptionen für das System erhöhen als auch einen sicheren Rahmen zur Verfügung stellen, in dem möglicherweise erst einmal angstbesetzte Veränderungsprozesse durchgeführt werden können. Ein solches nichtdirektives Vorgehen hat seine Wurzeln eben-

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falls in humanistischen Therapieansätzen. So ist es bei der klientenzentrierten Therapie ein wesentliches Element, dass die Klienten mögliche Diskrepanzen zwischen ihrem Erleben und ihrem Selbstkonzept erkennen und diese im Sinne einer kongruenten, also auf den verschiedenen Ebenen stimmigen Einheit auflösen (z. B. Rogers, 1983). Auf diese Weise kann eine Selbstverwirklichung erlangt werden. Diese Formen von nichtdirektiven Herangehensweisen und Begegnungen auf Augenhöhe in Beratungs- bzw. Therapiesituationen lassen sich gut in Verbindung bringen mit einer autonomieorientierten Sichtweise, in der hierarchiefreie Strukturen und die Idee einer Gleichberechtigung ausgeprägt sind. Für Klienten der westlichen Mittelschicht erscheint es meist als passend, wenn sie in einer Kontaktgestaltung auf Augenhöhe in den Therapieverlauf eingebunden sind und maßgeblich auch ihre eigenen Ideen, Wünsche und Bedürfnisse einbringen sowie in weiten Teilen selbst über die Durchführung möglicher Veränderungsschritte entscheiden. Für Klienten aus eher verbundenheitsorientierten Kontexten kann dies aber möglicherweise irritierend und schwer anschlussfähig sein. Sie sind unter Umständen Unterstützersysteme gewohnt, die eher direktiv vorgehen und klare Verschreibungen vornehmen. Es kann hier also zu einem erschwerten Beziehungsaufbau zwischen Klienten und Beratern aufgrund von unterschiedlichen kulturell gefärbten Herangehensweisen kommen. Vermutlich kann es für Klienten mit einem verbundenheitsorientierten Hintergrund anschlussfähiger sein, Elemente aus Ansätzen der Kybernetik erster Ordnung in den Beratungsprozess einzuführen, also bei Bedarf durchaus auch auf direktivere Methoden zurückzugreifen, um an den Erfahrungen und Erwartungen der Klienten ansetzen zu können und möglicherweise auch, um als beruflich kompetente Person wahrgenommen zu werden (Pirmoradi, 2012). Eine nondirektive Beratungsgestaltung kann unter Umständen von Klienten mit einem verbundenheitsorientierten Hintergrund als Inkompetenz wahrgenommen werden (»Wie kann mir hier denn geholfen werden, die wissen ja offensichtlich selber nicht, was man in dieser Situation machen soll?«). Hier kann es also hilfreich sein, je nach kulturellem Hintergrund der Klienten mal nondirektiver und mal direktiver aufzutreten bzw. zwischen Elementen der Kybernetik erster Ordnung und solchen aus der Kybernetik zweiter Ordnung zu variieren. Es soll nun natürlich nicht unbedingt darum gehen, dass die Therapeuten bzw. Berater bei jedem neuen Klienten ihren Ansatz komplett umkrempeln, aber eine gewisse Flexibilität bezüglich der Prozessgestaltung kann anschlussfähig an unterschiedliche kulturelle Hintergründe sein. Eine solche Flexibilität ist bei Therapeuten und Beratern sicherlich oftmals schon Teil ihrer Arbeitsweise, da es ja darum geht, sich auf jeden neuen Klien-

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ten bzw. jede neue Familie wieder neu und unvoreingenommen einzulassen. Auch ist es ja Teil der Kybernetik zweiter Ordnung, sich selber zur Disposition zu stellen sowie im Rahmen der Auftragsklärung eine Einigung über den Weg der Vorgehensweise zu finden. In diesem Prozess kann dann eben auch die Überzeugung wachsen, dass es sinnvoll und passend erscheint, auch direktivere Elemente einzubinden (die eher einer Logik der Kybernetik erster Ordnung entsprechen, aber so eben nicht in einem Widerspruch zur Kybernetik zweiter Ordnung stehen). Die Erkenntnisse der kulturvergleichenden Familienforschung können ergänzend helfen, mögliche Wünsche oder Verhaltensweisen von ratsuchenden Personen systematischer einordnen zu können, dies möglicherweise gerade dann, wenn sie der eigenen Arbeitsweise erstmal entgegenlaufen oder zu widersprechen scheinen. Im Weiteren kann dann darauf aufbauend überlegt werden, wie und in welcher Form partizipative Vorgehensweisen in der Beratung Berücksichtigung finden können. Wie bereits erwähnt, haben sich im Bereich der systemischen Familientherapie sehr vielfältige Ansätze entwickelt, die mit unterschiedlichen Methoden und für unterschiedliche Felder Unterstützung und therapeutische Hilfe anbieten. Vor dem Hintergrund kulturvergleichender Familienforschung wäre es nun denkbar, die jeweiligen Chancen, aber auch mögliche Grenzen oder Stolpersteine für eine kultursensitive Arbeit abzuleiten. Dies soll im Folgenden für den Ansatz angedeutet werden, der in diesem Buch eine zentrale Rolle spielt. So lassen sich die Konzepte zum gewaltlosen Widerstand (z. B. Omer u. von Schlippe, 2002; Omer u. Lebowitz, 2012) beispielsweise aus der Sicht betrachten, dass sie Methoden zur Arbeit mit Familien darstellen, deren Kinder Verhaltensauffälligkeiten in Zusammenhang mit einem überfordernden Autonomiebestreben zeigen: also in Fällen, in denen die Kinder mit Aggressionen oder Ängsten auf als übermäßig erlebte Freiheit reagieren und die Eltern zunehmend ihre Präsenz durch eine ausgeprägte Form der Beziehungsgestaltung auf Augenhöhe verlieren, durch welche ihnen die Rolle einer entwicklungsunterstützenden Ordnung und Halt gebenden Person erschwert oder kaum mehr zugänglich gemacht wird. Dies kann als eines der Risiken von Autonomieorientierung angesehen werden. Die Konzepte zum gewaltfreien Widerstand können hier dabei helfen, dass die Eltern zu einer guten und angemessen (»neuen«) Autorität zurückfinden. Das Risiko eines die kindliche Entwicklung hemmenden Autoritätsverlusts auf Seiten der Eltern stellt daher vermutlich vor allem ein Problem für autonomieorientierte Familien dar, während es in vielen traditionellen Kontexten mit einer starken Verbundenheitsorientierung nicht im selben Maße zu einem Problem

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werden dürfte. Hier besteht möglicherweise ein größeres Risiko, dass elterliche Autorität auch mit Gewalt (im Sinne der »alten« Autorität) durchgesetzt wird. In verbundenheitsorientierten Kontexten spielen Gehorsam, Respekt und Hierarchien eine recht große Rolle; Kinder werden bei Nichteinhaltung von Regeln und sozialen Normen deutlich sanktioniert. Jeder kulturelle Kontext bedingt also ganz unterschiedliche Konfliktpotenziale und Herausforderungen, die zu entsprechend unterschiedlichen familiären Schwierigkeiten führen können. Es könnte also sein, dass ein zentraler Aspekt bei Beratungen mit eher autonomieorientierten Familien das Wiedererlangen der elterlichen Autorität ist, während er bei eher verbundenheitsorientierten Familien im Etablieren von Gewaltlosigkeit liegen könnte. Für die weitere Diskussion wäre es bedeutsam zu erfassen, inwiefern sich in der praktischen Anwendung des Ansatzes zum gewaltlosen Widerstand, der ja in sehr vielen verschiedenen Kontexten zum Einsatz kommt, tatsächlich kulturell unterschiedliche Verläufe und Schwerpunkte zeigen, wodurch dann wiederum eine Grundlage für weitere konzeptionelle Überlegungen zur kulturell unterschiedlichen Anwendung gelegt werden könnte. Im nächsten Abschnitt dieses Beitrags soll anhand von Ergebnissen einer Studie noch etwas genauer auf die Verwendung von systemisch-familientherapeutischen Interventionen im Kulturvergleich eingegangen werden.

Systemisch-familientherapeutische Interventionen im Kulturvergleich Hinsichtlich der Interventionen, die von Therapeuten oder Beratern für angemessen gehalten werden und im Verlauf eines Beratungs- oder Therapieprozesses Anwendung finden, lassen sich kulturelle Unterschiede beschreiben. Dies wird beispielsweise an folgenden Befunden deutlich. Jingyu Shi und Jochen Schweitzer (2012) haben in ihrer Studie 82 chinesischen und 76 deutschen systemisch ausgebildeten Familientherapeuten jeweils ein fiktives Fallbeispiel vorgelegt. In diesem Fallbeispiel wurde eine Familie beschrieben, die aufgrund von depressiven Phasen und hyperkinetischen Schwierigkeiten ihres elf Jahre alten Sohnes psychotherapeutische Hilfe aufsuchten. Die Therapeuten sollten dann Hypothesen über die Hintergründe der familiären Schwierigkeiten bilden sowie mögliche Interventionen darlegen. Es ist zu vermuten, dass die Mehrzahl der deutschen Therapeuten der westlichen Mittelschicht zuzuordnen ist und somit einen eher autonomieorientier-

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ten Hintergrund hat. Bei der Stichprobe der chinesischen Therapeuten kann ebenfalls von einer Mittelschichtstichprobe ausgegangen werden, allerdings aus einem nichtwestlichen und traditionell eher verbundenheitsorientierten Kontext. Vermutlich sind hier sowohl ausgeprägte Aspekte der Autonomieorientierung als auch der Verbundenheitsorientierung vorhanden, letztere ausgeprägter als bei der deutschen Stichprobe (Kağıtçıbaşı, 2005; Keller, Abels, Borke, Lamm, Lo, Su u. Wang, 2007). Die Autoren der Studie untersuchten, inwiefern sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Gruppen zeigten. Dabei fanden sie unter anderem, dass lediglich die deutschen Therapeuten »individuelle Bedürfnisse/ Erwartungen an die Beziehung« im Rahmen ihrer Hypothesen thematisierten. Im Sinne einer Autonomieorientierung sind für sie also »Abgrenzung« und »Selbstentfaltung« besondere Themen, familiäre Schwierigkeiten zu erklären. Die Autoren heben hervor: »›Autonomie‹ und ›Unterschied‹ sind für deutsche Teilnehmer wichtige Anstöße bei der Hypothesenbildung« (Shi u. Schweitzer, 2012, S. 198). »Häufige Themen für die chinesischen Teilnehmer sind die Persönlichkeit des Vaters und die Herkunftsfamilie der Eltern« (S. 199). Die chinesischen Therapeuten der Stichprobe fokussierten also stärker auf familiäre Zusammenhänge und mehrgenerationale Perspektiven als die deutschen Therapeuten. Diese Unterschiede zeigten sich konkret darin, dass die deutschen Therapeuten eine möglicherweise zu enge Eltern-Kind-Beziehung als problematisch betrachteten, während die chinesischen Therapeuten hier eher kein Problem sahen und dieses eher in der Paarbeziehung oder der Herkunftsfamilie der Eltern vermuteten. Hinsichtlich der Interventionen zeigte sich bei der Beurteilung der Paarbeziehung, dass die deutschen Therapeuten hier eine neutrale Position hinsichtlich einer Entscheidung zwischen Trennung oder Aufrechterhaltung der Beziehung einnahmen, während für die chinesischen Therapeuten der Erhalt der Ehe einen deutlich höheren Stellenwert darstellte. Auch bezüglich der Interventionstechniken zeigten sich unterschiedliche Vorlieben zwischen den beiden Gruppen. Von den chinesischen Therapeuten werden beispielsweise häufiger Genogramme und Hausaufgaben als Interventionen vorgeschlagen als von den deutschen Therapeuten, während diese häufiger den Schwerpunkt auf die Auftragsklärung und die Wertschätzung legten (Shi u. Schweitzer, 2012). Ein Schwerpunkt der deutschen Therapeuten der Stichprobe kann also in der gemeinsamen Absprache über Therapieziele und -abläufe gesehen werden, die in einer wertschätzenden Atmosphäre stattfinden sollen. Es kann vermutet werden, dass hier vielfach eher nondirektive Herangehensweisen gemeint sind. Der Schwerpunkt der chinesischen Therapeuten auf dem Einsatz von Geno-

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grammen und Hausaufgaben wiederum kann zum einen mit einer besonderen Bedeutung der mehrgenerationalen familiären Zusammenhänge und Einflüsse in Verbindung gebracht werden. Zum anderen zeigt die Betonung von Hausaufgaben (bei gleichzeitig geringerer Betonung einer Auftragsklärung) möglicherweise, dass die chinesischen Therapeuten eine direktivere Form der Beratung bevorzugen und ihnen auch klare Verschreibungen bzw. Vereinbarungen mit den Klienten wichtig sind. Die Klienten sollen also nach der Therapiesitzung wissen, was sie bis zur nächsten Sitzung tun können (oder möglicherweise sogar sollten). Die Ergebnisse dieser Studie zeigen beispielhaft, mit all den Einschränkungen, die eine solche relativ kleine Stichprobe mit sich bringt, wie sich Unterschiede in der Anwendung von systemisch-familientherapeutischen Ansätzen zeigen, je nachdem, in welchem Umfeld diese durchgeführt werden. Das Wissen darüber kann sowohl dabei helfen, die Arbeit von Kollegen mit anderen kulturellen Hintergründen besser einordnen und verstehen als auch die eigene Arbeit noch gezielter auf die Begegnung mit Klienten aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten abstimmen zu können.

Fazit In diesem Beitrag wurden Erkenntnisse aus der kulturvergleichenden Familienforschung sowie ein daraus erwachsender Rahmen für die Beschreibung von unterschiedlichen kulturellen Modellen und familiären Entwicklungspfaden dargestellt (siehe Abbildung 1). Darauf aufbauend wurden einige Gedanken und Hypothesen zur systemisch-familientherapeutischen Arbeit abgeleitet und diskutiert. Wie erwähnt soll dies als Beginn eines gegenseitigen Austausches sowie als Grundlage für vertiefende Diskussionen und Überprüfungen angesehen werden. Auf diese Weise können die hier vorgestellten Konzepte und Ideen eine Ergänzung zu bisher vorhandenen Ansätzen darstellen sowie Bausteine für zukünftige Weiterentwicklungen von systemisch-familientherapeutischer Beratung und Therapie mit Klienten aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten sein.

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Angela Eberding und Andrea Lanfranchi

Neue Autorität bei Migrationshintergrund: Kompetenz statt Kulturalisierung »Erst wenn wir aufhören, uns als Zentrum aller Werte zu betrachten, können wir anfangen, die anderen zu verstehen.« (Dieter Dorn)

Vorbemerkung In deutschsprachigen Ländern leben immer mehr Menschen, die selbst eingewandert sind oder von eingewanderten Eltern abstammen. Wir begegnen ihnen in allen Institutionen der Jugendhilfe, in Beratungsstellen, Praxen und in der Schule. In Supervisionen und im Kollegenkreis hören wir immer wieder Sätze wie: »An diese Klientin bin ich nicht herangekommen.« oder: »Ich verstehe den kulturellen Hintergrund dieser Familie einfach nicht.« Wir hören Familien sagen oder bekommen Menschen mit Migrationsbiografie mit dem Satz zitiert: »In unserer Kultur ist das so, im Koran steht das so … und ihr Deutschen versteht das sowieso nicht.« In einem therapeutischen oder beraterischen Setting scheint es eine Herausforderung zu sein, eine gute »professionelle Beziehung« zu gestalten zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der deutschen oder schweizerischen Institutionen und den Menschen mit Migrationshintergrund.

Barrieren mit historischen Wurzeln Das erste Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien wurde 1955 beschlossen. Zwischen 1960 und 1968 folgten ähnliche Abkommen mit Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Sie sollten den Arbeitskräftemangel in Deutschland in den niedrig qualifizierten und schlecht bezahlten Berufen beheben. Diese Menschen nannte man damals in Deutschland Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter und in der Schweiz Fremdarbeiter. Sie sollten und wollten einige Jahre in der »Fremde« arbeiten, um später in ihre Heimat zurückzukehren. Beziehungen zu Personen im Aufnahmeland waren nicht geplant, Deutschkurse wurden nicht angeboten und waren auch nicht gefragt. Dieser Plan ging jedoch nicht auf. Die meisten

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Neue Autorität bei Migrationshintergrund: Kompetenz statt Kulturalisierung

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Arbeiterinnen und Arbeiter blieben hier und holten ihre Familienangehörigen nach. Max Frisch formulierte dies in den 1970er Jahren so: »Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.« Als der Arbeitskräftemangel behoben war, wurde in Deutschland 1973 der Anwerbestopp beschlossen. In der Schweiz wurde in jenen Jahre die grassierende Arbeitslosigkeit in Form von »Rückschaffungen« sogenannter Saisonniers sowie Jahresaufenthalter ins Ausland exportiert. In Deutschland war von »Rückkehrförderung« die Rede: Nach dem Rückkehrhilfegesetz wurde für jede ins Herkunftsland zurückkehrende ausländische Familie eine Prämie von 10.500  DM und für jedes Kind 1.500 DM bezahlt. Auch dieser Plan ging nicht auf. Die meisten Migrantinnen und Migranten blieben, konnten sich aber mangels Investitionen im Bereich der gesellschaftlichen Eingliederung und Teilhabe weder integrieren noch assimilieren. 1990 wurde das Aussiedleraufnahmegesetz in der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es wanderten über vier Millionen Spätaussiedlerinnen und -aussiedler, hauptsächlich aus Polen, Rumänien, der Sowjetunion und den Nachfolgestaaten, nach Deutschland ein. Das waren Deutsche. Hier sollte es keine Barriere geben. Aber auch das war eine Fehleinschätzung. Als Kommunikationsprobleme auftauchten, wurden diese schnell den Eingewanderten zugeschoben: Sie lernten kein Deutsch und seien nicht motiviert, an der Aufnahmegesellschaft zu partizipieren. Faktisch waren sie aber gar nicht dazu legitimiert. Die ersten »Sprach- und Kulturvermittler«, die zwischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in deutschen oder schweizerischen Institutionen und Familien eingesetzt wurden, waren die Kinder der Eingewanderten. Sie mussten unter anderem ihre eigenen Schwierigkeiten in der Schule übersetzen, manchmal sogar die gesundheitlichen Probleme der Mutter beim Frauenarzt. Da es auf der Hand lag, dass dies keine gute Lösung ist, wurden in Deutschland Migrantinnen und Migranten in Schnellkursen zu Sozialberaterinnen und Sozialarbeitern ausgebildet. Sie waren bei den Wohlfahrtsverbänden angestellt: für Menschen aus Italien, Spanien und Portugal bei der Caritas, für solche aus Griechenland sowie für die protestantischen Glaubens bei der Diakonie und für die Musliminnen und Muslime bei der Arbeiterwohlfahrt. Diese Struktur findet man zum Teil heute noch, wobei die Mitarbeitenden inzwischen gut ausgebildet sind. Auch dieser Lösungsversuch führte in vielen Fällen zu unbefriedigenden Ergebnissen, was sich sehr schnell unter anderem in der ungleichen Verteilung von Bildungschancen in der Schule zeigte, beispielsweise in der überdurchschnittlich hohen Aussonderung von Kindern mit Migrationshintergrund in Sonderklassen und Sonderschulen.

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Angela Eberding und Andrea Lanfranchi

In den 1980er Jahre versuchte man mit der sogenannten »Ausländerpädagogik« die (Sprach-)Defizite der ausländischen Kinder auszugleichen. Erst in den 1990er Jahren fing man mit dem Ansatz der Interkulturellen Pädagogik an, nicht nur die Migranteneltern und ihre Kinder mit »ihren« Defiziten, sondern auch die Mitarbeitenden in Schulen, Beratungsstellen etc. mit »unseren« Schwierigkeiten in der Arbeit mit Migrationsfamilien ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Während früher beim Begriff »Kulturschock« lediglich an die Probleme der Migrantinnen und Migranten gedacht wurde, kann heute durchaus auch ein »Kulturschock« bei den Professionellen identifiziert werden. Gefragt ist in solchen Fällen primär Kompetenz statt Kulturalisierung (Lanfranchi, 2009). Nur: Wenn wir heute in unseren Fortbildungen und Supervisionen fragen, welche Teilnehmenden sich tatsächlich im Rahmen ihrer Aus- und Weiterbildung mit spezifischen Themen des Umgangs mit Diversität bzw. der Beratung von Menschen mit Migrationshintergrund befasst haben, so zeigt sich, dass dies in der Regel eine kleine Minderheit ist.

»Kulturelle« Barrieren In einem Therapie- oder Beratungssetting treffen Menschen mit unterschiedlichen Denkmodellen aufeinander, die im Zusammenhang mit besonderen kulturellen Wertesystemen stehen können (→ siehe hierzu auch die Beiträge von Heidi Keller, Hiltrud Otto und Jörn Borke in diesem Band). Wenn in diesem Zusammenhang über »Kultur« gesprochen wird, dann ist meist die ethnische Herkunft gemeint, die mit Begriffen wie »Barriere« oder »Kluft« assoziiert wird. Zu oft wird übersehen, dass diese Wertesysteme auch religiöse, schicht-, familien- und biografiespezifische Wurzeln haben, und zwar sowohl aufseiten der »Fremden« als auch der »Einheimischen«. Fakt ist: Unterschiede werden oftmals kulturalisiert. Hier einige Beispiele: Ein kurdisches kleines Mädchen war an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. Meine Aufgabe (Angela Eberding) war es, die Familie bei diesem Prozess zu begleiten. Ein paar Stunden nach dem Tod wurde ich noch einmal in das Zimmer gerufen, in dem die Leiche aufgebahrt war. Der Vater beschimpfte das gesamte Klinikpersonal, insbesondere die Ärzte als Rassisten. Sie hätten seine Tochter sterben lassen. Wäre sie ein deutsches Kind gewesen, würde sie jetzt noch leben. Der kurz vor mir im Zimmer eingetroffene Arzt war bereits in die hitzig geführte Diskussion eingestiegen und bezeichnete nun den Vater als Rassisten. Ich bat um

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Neue Autorität bei Migrationshintergrund: Kompetenz statt Kulturalisierung

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eine Unterbrechung, nahm die starr zuschauende Mutter in den Arm und sagte den Eltern, dass es für alle nachzuvollziehen sei, wie furchtbar es ist, ein Kind zu verlieren. Alle Eltern, denen ein solches Schicksal widerfährt, seien traurig und wütend. Das sei eine normale Reaktion auf ein unfassbares Ereignis. Die Situation war sofort entschärft. Die Eltern haben sich später entschuldigt, der Arzt ebenfalls.

Hier wurde die Trauer der Eltern kulturalisiert, ein Kulturunterschied für den Tod verantwortlich gemacht. Wenn ein Mann seine Ehefrau tötet, weil sie ihn verlassen hat, so heißt dies Familiendrama, wenn es in einer deutschen oder Schweizer Familie passiert, und Ehrenmord, wenn es in einer muslimischen Familie passiert. Hier wird ein männliches Gefühl von Wut, Kränkung, Entmachtung und/oder Entwürdigung kulturalisiert. Ein fünfjähriges Mädchen bekommt während eines Spitalaufenthalts kaum Besuch von den Eltern. Zusammen mit der Sozialarbeiterin vereinbaren die Pflegenden einen Termin, um dies zu besprechen. Nur die Mutter kommt. Sie berichtet, diese und eine weitere Tochter stammen aus ihrer ersten Ehe. Mit ihrem jetzigen Ehemann habe sie einen Sohn. Ihr Mann sei arbeitslos, sie putze stundenweise. Ihr Mann kümmere sich kaum um die Kinder. Die Mädchen beachte er gar nicht. Wenn sie ihn stören, werde er laut, schlage manchmal sogar zu. Er bevorzuge eindeutig den Sohn. Um den Haushalt kümmere er sich gar nicht, das sei seiner Meinung nach Frauensache.

Hier zu kulturalisieren hieße, dieses männliche Verhalten auf seine muslimische Kultur zu schieben, die Frau zu bedauern und die deutsche oder schweizerische »Kultur« für überlegen zu halten, da »bei uns« die Frauen nicht unterdrückt und die Jungen nicht bevorzugt werden. Bei der beschriebenen Familie handelte es sich aber um eine deutsche sozial benachteiligte Familie. Hier wäre also ein schichtspezifischer Unterschied kulturalisiert worden. Solche Kulturalisierungen können uns vordergründig das Leben leichter machen. Immer sind die anderen Schuld und wir konnten auch nicht anders handeln, denn: wenn eine Verhaltensweise scheinbar von ihrer ethnischen Kulturzugehörigkeit determiniert ist, ist daran nichts zu ändern: »Bei uns oder bei denen ist das eben so!« Auf der anderen Seite haben Kulturalisierungen dieser Art viele und zum Teil gefährliche Nebenwirkungen. Sie werten ab, beschämen, verengen die Sichtweise auf einen Menschen oder eine Familie auf ein Merkmal. Sie machen starr und sind nicht hilfreich, wenn es um Veränderung geht oder darum, Einfluss zu nehmen auf Haltungen, Werte, Verhaltensweisen, mit denen jemand sich oder anderen schadet.

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Kultur Wenn wir im Weiteren über Kultur nachdenken, gehen wir von einem dynamischen, prozesshaften Begriff aus, der von Falicov (1995, S. 235) wie folgt definiert wird: »Kultur ist die Summe von gemeinsamen Sichtweisen einer Gruppe oder Gesellschaft zu den unterschiedlichen Bereichen des Lebens in Abhängigkeit von den Lebenswirklichkeiten der betroffenen Menschen.« Eine Kultur enthält somit die »Landkarten der Bedeutung, welche die Dinge für ihre Mitglieder verstehbar machen« (Clarke, 1979, S. 41). Ein solcher Kulturbegriff engt nicht ein, sondern ermöglicht immer wieder neue Hypothesen und Handlungsoptionen. Er ermöglicht jedem Menschen, jeder Familie verschiedene Wurzeln, zum Beispiel deutsche und türkische, schweizer und albanische. Man kann einer bestimmten Religionsgemeinschaft angehören und dabei mehr oder weniger religiös sein. Die Haltungen, Werte und Verhaltensweisen eines Menschen können tatsächlich in seiner ethnischen Herkunft verankert sein und vielleicht mit einer ethnischen Kultur in Verbindung stehen. Es könnte aber auch ganz anders sein. Ein dynamischer Kulturbegriff ermöglicht auch, den Unterschied zwischen den in der Heimat gebliebenen und den eingewanderten Mitgliedern einer Gruppe oder Gesellschaft zu erkennen. In der Diaspora werden ethnisch-kulturelle Werte eher konserviert, was in vielen typischen Einwanderungsländern zu beobachten ist. Darüber hinaus zeigt die Gruppenforschung (­Ardelt-Gattinger, Lechner u. Schlögl, 1998), dass in der eigenen Bezugsgruppe geteilte Normen und Werte Verhaltenssicherheit schaffen und Identität stiften. Grenzen wir Menschen mit Migrationsbiografien aus, kann dies dazu führen, dass sie sich verstärkt in der eigenen Gruppe »verschanzen«, um sich zu schützen und den eigenen verletzten Selbstwert zu heben. Ein prozesshafter Kulturbegriff erlaubt uns auch, die historischen Zusammenhänge zu berücksichtigen. Zum Beispiel hat der Umgang mit Gewalt bzw. die gesellschaftliche und damit kulturelle Legitimation von Gewalt einen historischen Hintergrund. Gehen wir von unserer Vergangenheit aus: In einer traditionellen, bäuerlichen Gesellschaft haben gewalttätige Auseinandersetzungen rund um Ehre, Kindererziehung und territoriale Besitzansprüche eine anerkannte Rolle gespielt und spielen sie teilweise heute noch (Lanfranchi, 2011). Zwar wird seit einigen Jahren die physische (nicht jedoch psychische!) Anwendung von Gewalt gegenüber den eigenen Kindern zu Hause oder in der Schule sanktioniert. Auch in der Ehe wird Gewalt nicht mehr als eine Privatangelegenheit der Partnerschaft betrachtet, sondern beispielsweise in der Schweiz seit 2004 als Offizialdelikt geahndet. In Deutschland wurde das Züchtigungsrecht des Ehemannes

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gegenüber seiner Frau 1928 abgeschafft. In Bayern wurde das Verbot der körperlichen Züchtigung von Schülern durch Lehrkräfte 1983 gesetzlich verankert. Bezogen auf die Schweiz sind gerade ausländische Staatsangehörige im Bereich der Gewaltdelikte mit einer Beteiligung von rund 60 Prozent im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung von rund 20 Prozent deutlich überproportional vertreten (Eidgenössisches Departement des Innern EDI, 2009). Ähnlich verhält es sich in Deutschland, wo die Überproportionalität bei der Straftatenstatistik im Verhältnis in etwa gleich ist wie in der Schweiz (Statistisches Bundesamt, 2013). Das Problem, das wir auch bei erfahrenen Fachpersonen ab und zu antreffen, ist, dass sie von vornherein Migrantinnen als wehrlose Opfer patriarchalischer Strukturen und Migranten als Gefangene ihrer kultureller Gewohnheiten (sprich: »Machogehabe«) sehen. Sie interpretieren gewalttätiges Verhalten als kulturelle Norm, was von Handlungsstrategien ablenkt und zu Blockaden und Überforderung führt. Wiederum: In solchen Fällen braucht es Kompetenz statt Kulturalisierung. Diese Kompetenz kann und soll durchaus »Kultur« berücksichtigen, allerdings im Sinne einer kultursensiblen Haltung und nicht von »Expertenwissen« über Kulturen.

Maßgeschneiderte Kulturbrücke Wir möchten im Folgenden eine maßgeschneiderte Kulturbrücke (Lanfranchi, 2013) vorstellen, die hilfreich sein kann, um den Kulturschock auf unserer Seite, also auf der Seite der Professionellen, zu vermeiden oder zu mildern. Die Bausteine dieser Brücke sind einerseits die interkulturelle Kompetenz der Beraterin oder des Therapeuten und anderseits Haltungen und Interventionen der neuen Autorität (siehe z. B. Omer u. Lebowitz, 2012; Omer u. von Schlippe, 2002, 2004, 2010). Interkulturelle Kompetenz Interkulturelle Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit, die besondere Situation von Individuen oder Familien kontextbezogen zu verstehen und entsprechende, fallspezifische Handlungsweisen daraus abzuleiten. Im Zentrum stehen Begegnung, Kommunikation und Interaktion. Um herauszufinden, was in der Beziehung zwischen Klientin mit Migrationshintergrund und beratender und behandelnder Fachperson genau geschieht, muss demnach die individuelle Sichtweise der Klientin und nicht die »fremde Kultur« einbezogen werden. Hintergrundwissen

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Angela Eberding und Andrea Lanfranchi

über migrationsspezifische Lebensrealitäten oder über interkulturelle Konzepte sowie Erfahrungen im Migrationskontext können dabei hilfreich sein. An erster Stelle müssen jedoch die Auseinandersetzung und das Hinterfragen eigener Sicht- und Handlungsweisen kommen. Hinzu kommen noch folgende Elemente: Kooperation bei oder trotz Unterschiedlichkeiten herstellen können, das heißt Ambivalenz auszuhalten; Gesprächskultur reflektieren und wenn nötig ändern: Wie erfolgt in meiner Einrichtung die Kommunikation mit der Migrationsklientel? Schließlich gehört dazu die Verantwortung, sich bedeutsame Informationen zu beschaffen: über Familienstrukturen und Rollenverständnis, Bedeutungssysteme, Religion, die sozioökonomische Situation im Herkunftsland, aber auch Lebensbedingungen im Aufnahmeland (Hegemann, 2004). Nach dem in Meilen bei Zürich entwickelten Konzept des Fallverstehens in der Begegnung beinhaltet interkulturelle Kompetenz darüber hinaus den Austausch von Zugehörigkeit(en) und die affektlogische Rahmung von Interaktionen (Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 2004). Ziel ist, die anderen in der Eigenart ihrer Geschichte und Situation so zu verstehen, dass Wandel möglich wird, also Transformation von wenig nützlichen Denkmodellen in taugliche Handlungsstrategien. Gestützt auf das Meilener Konzept heißt interkulturelle Kompetenz im Kontext von Beratung und Therapie primär: a) Wissen zum Allgemeinen abrufen und erwerben (Kulturinformationen, etc.); b) offen sein für das Besondere, um fallbezogenes Können zu erzeugen; c) über maßgeschneiderte Handwerkszeuge verfügen (wie das Erschließen von Lebensthemen aus der Arbeit mit Genogrammen, das Entwerfen neuer Lebensentwürfe dank Zulassen von Geschichten und, falls nötig, das Einbinden kultureller Übersetzer). Die konkrete Ausgestaltung einer interkulturell kompetenten Beratung kann hier nur kurz skizziert werden. Für wichtig halten wir: –– Ruhe und Zeit für ein ausführliches Joining; –– die Vorstellung der Institution bzw. der Beratung/Therapie; –– eine Herangehensweise, die die Ressourcen aus der Herkunfts- und der jetzigen Kultur der Klientinnen und Klienten berücksichtigt; –– das Bewusstsein über die eigenen stereotypen Bilder; –– eine Haltung von Offenheit und Neugierde ‒ soziokulturelles Wissen kann erfragt werden; –– den bewussten Umgang mit Sprachbarrieren; –– eine interkulturelle Kooperation, zum Beispiel durch Einbezug von muttersprachlichen Fachkräften, Autoritäten aus der Ethnie oder der Religionsgemeinschaft.

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Veränderung in einem interkulturellen Kontext zu planen, anzuregen, zu begleiten, verlangt stets den gebührenden Respekt und Rücksicht darauf, dass die eigenen Normen und Werte auch Teil der sozialen Identität jedes Einzelnen sind und in der Vergangenheit sinnstiftend und hilfreich waren und heute in Teilen sicherlich weiterhin sind (siehe hierzu ausführlich Eberding, 1998, 2000, 2004, 2009, 2010). Neue Autorität Lanfranchi (2004) beschreibt den Integrationsprozess von Familien mit Migrationsbiografie als Suche nach einer guten Balance zwischen Orientierung nach innen (Tradition) und Öffnung nach außen (Moderne). Nur in einem solchen Balanceakt kann die Gestaltung von Übergängen und somit auch kulturelle Transformation gelingen (Lanfranchi, 2008). Omer entwickelte gemeinsam mit von Schlippe und anderen das Konzept der neuen Autorität. Ursprünglich in Israel konzipiert, sollte es Eltern helfen, Einfluss zu nehmen auf gewalttätiges Verhalten ihres Kindes, die Beziehung zum Kind und die elterliche Präsenz zu verbessern und dabei auf jegliche Gewalt zu verzichten. Omer war klar, dass dazu die Mittel der traditionellen Autorität unwirksam, ja kontraproduktiv waren. Dieses Konzept und die Umsetzung im erzieherischen Alltag werden in vielen Beiträgen des Buches beschrieben. Wir möchten an dieser Stelle deshalb nur eine Skizze darstellen, in der Haim Omer die traditionelle der neuen Autorität gegenübergestellt (siehe Tabelle 1; Omer, 2012, 2013; → siehe auch seinen Beitrag in diesem Band). Tabelle 1: Gegenüberstellung der traditionellen und der neuen Autorität traditionelle Autorität

neue Autorität

Distanz

Präsenz, Beziehung, Nähe

Kontrolle, Fügsamkeit

Selbstkontrolle

Pyramide in der Hierarchie, Macht

Vertretung eines Netzwerks

Unmittelbarkeit bei allen Reaktionen

Beharrlichkeit, Zeit

Vergeltung

Wiedergutmachung, Beziehungsgesten

Immunisierung gegen Kritik

Transparenz

In der traditionellen Autorität beruft sich der Patriarch (König, Priester, Lehrer, Arzt, Vater) auf seine natürliche oder gottgegebene Macht und Überlegenheit. Er hat in seinem Geltungsbereich das Gewaltmonopol, das heißt, er hat das Recht zu kontrollieren und zu strafen. Der traditionelle Patriarch kann zum Beispiel

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Angela Eberding und Andrea Lanfranchi

von Frauen und Kindern erwarten, dass sie sich ihm fügen, er steht über jeder Kritik. Das führt zu einer distanzierten Beziehung zwischen ihm und seinen »Untergebenen«. Dagegen beruft sich die neue Autorität auf Nähe und Beziehung, auf Selbstkontrolle als Quelle der Stärke sowie auf Vernetzung und Öffentlichkeit in der Familie, Institution und Gemeinde. Eltern, professionelle Erzieherinnen und Pädagogen sehen sich und ihre Verhaltensweisen dadurch autorisiert und legitimiert. Gewalt und Eskalationsschleifen können beendet werden, indem Protest und Widerstand gegen destruktive Verhaltensweisen gezeigt werden. Dafür kann Zeit und Beharrlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Dass zwischen der Person und ihren destruktiven Verhaltensweisen getrennt wird, kann durch Beziehungsgesten verdeutlicht werden. Verhaltensweisen, die jemandem geschadet haben, können wiedergutgemacht werden. All dies führt wiederum zu einer Verbesserung der Beziehungen.

Anschlussfähigkeit der neuen Autorität in Familien mit Migrationshintergrund Familien, die im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutschland gekommen sind, stammen zum größten Teil aus ländlichen Gebieten, in denen Mitte des letzten Jahrhunderts die kulturellen Werte und Normen (in ähnlichem Maße wie in Westeuropa zu Beginn dieses Jahrhunderts) geprägt waren von der traditionellen Autorität. Eltern, die dort aufgewachsen sind, kennen in der Regel weder die Auflehnung gegen diese alten Autoritäten noch die Ideen einer antiautoritären Erziehung (→ siehe hierzu auch den Beitrag von Jörn Borke in diesem Band). Wenn Kinder ein stark oppositionelles Verhalten gegen die traditionellen Werte ihrer Eltern zeigen, stehen diesen in der Auseinandersetzung oft nur die Disziplinierungsmaßnahmen der traditionellen Autorität zur Verfügung, die jedoch nicht mehr in dem Maße, wie sie es aus ihren Herkunftsländern kennen, von einer westeuropäischen Gesellschaftsordnung legitimiert sind. Dies macht solche Eltern besonders hilflos. Wir erleben sie dann oft in Eskalationsschleifen verfangen, was dann zu Kulturalisierungen führen kann (»Bei uns ist das eben so!«). Hier bietet die neue Autorität ein sehr hilfreiches Modell, »mit dessen Hilfe es Eltern möglich ist, Eskalationen mit ihren Kindern zu vermeiden, ohne dabei auf eine konfrontative Positionierung zu verzichten« (IFW Ausbildungs-

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curriculum, 2011, S. 9). Auch für Eltern mit Migrationsbiografie gilt: Bis zum Beweis des Gegenteils gehen wir davon aus, dass Eltern stolz auf ihr Kind sind, einen guten Einfluss auf es haben wollen, ihrem Kind eine gute Ausbildung und Erfolgschancen ermöglichen wollen, erreichen wollen, dass die Zukunft ihres Kindes gleich gut oder besser ist als die ihrige und dass ihnen an einer guten Beziehung gelegen ist (IFW Ausbildungscurriculum, 2011, S. 13). Wenn wir als Beratende den Eltern mit dieser Grundannahme entgegentreten, können wir mit ihnen gemeinsam überlegen, an welcher Stelle sie sich zwischen der traditionellen und der neuen Autorität bewegen. Ein Elterncoaching im Rahmen der neuen Autorität ermöglicht es uns, mit den Eltern gemeinsam Interventionen zu suchen, die ihre Hilflosigkeit verringern und die Beziehung zu ihrem Kind stärken. Die Eltern können erfahren, dass dies auch ohne Gewalt möglich ist, weil wir ihnen Methoden der Selbstkontrolle vermitteln können. In Netzwerken zu denken und zu handeln ist in traditionellen Gesellschaften verankert. Ein Schlüssel, den die neue Autorität der Beratung und Therapie von Familien mit Migrationsbiografien zur Verfügung stellt, ist der Begriff der »Würde«. So wie bei Wiedergutmachungsgesten einem Kind deutlich gemacht wird, dass uns seine Würde wichtig ist, so ist es hilfreich, wenn wir dies in einer professionellen Beziehung den Eltern gegenüber deutlich machen können. Rassismus und Ethnozentrismus nehmen dem Gegenüber seine Würde. Mit unserer Grundhaltung von Wertschätzung der anderen Person sowie Respekt vor anderen Ansichten und Meinungen wird eine interkulturelle Kommunikation leicht. Damit können wir gerade Eltern mit Migrationshintergrund, die an einer guten Beziehung sowie einer guten Zukunft ihres Kindes interessiert sind, mitnehmen auf dem Weg zu einem adaptierten Erziehungsverhalten. Das an den Partizipationszielen der neuen Gesellschaft ausgerichtete, mindestens teilweise transformierte Erziehungsrepertoire ist von der Haltung und den Interventionen der neuen Autorität geprägt.

Fazit In der Beratung und Therapie von Familien mit Migrationshintergrund brauchen wir maßgeschneiderte Kulturbrücken. Wir möchten die Metapher einer Brücke einführen, deren Bausteine aus zwei Steinbrüchen herausgebrochen worden sind: einerseits aus dem Konzept der interkulturellen Kompetenz, andererseits aus dem Konzept der neuen Autorität. Der Baumeister dieser Brücke muss mit beiden Materialien arbeiten können: Er muss über eine gute interkul-

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turelle Kompetenz verfügen sowie auch über die Haltungen und Interventionen der neuen Autorität. Eine maßgeschneiderte Brücke braucht im Einzelfall mehr oder weniger Steine aus dem einen oder anderen Steinbruch. Wenn sie einmal gebaut ist, wird sie eine stabile Basis sein für eine ressourcenorientierte und wertschätzende professionelle Beratung oder Therapie von Familien mit Migrationshintergrund auf dem Weg von ihren traditionellen Vorstellungen zur neuen Autorität. Und: Dies gilt nicht nur für Klientinnen und Patienten, die in einer anderen Kultur aufgewachsen sind!

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Teil 3: Die Stimme des Kindes

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Peter Jakob

Die notvolle Stimme des aggressiven Kindes:  Von der Beziehungsgeste zur Wiederherstellung elterlicher Sensibilität

Der Sorgedialog zwischen Eltern und Kind Ob in der Pflegefamilie, stationären Jugendhilfe oder in der Herkunftsfamilie – immer wieder erleben Fachleute, dass Kinder, die physische Misshandlung, sexuellen Missbrauch oder Vernachlässigung erfahren haben, mit zu denen gehören, die die meisten unbefriedigten psychischen Grundbedürfnisse aufweisen. Jene, die dann selbst gewalttätig werden oder selbstschädigendes Verhalten zeigen, sind meist hochgradig abweisend, wenn Erwachsene Sorgebereitschaft zeigen. Es können jedoch auch Kinder und Jugendliche, die nicht misshandelt worden sind, ähnlich abweisende Reaktionen auf die Sorgeangebote von Erwachsenen zeigen, wenn aggressives oder selbstschädigendes Verhalten bereits zu erheblicher Entfremdung geführt hat. Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind unter anderem von komplexen Interaktionsprozessen geprägt, die erfolgreiche Sorgehandlungen um das Kind ermöglichen. Hierzu gehören kindliche Notäußerungen, elterliche Sensibilität für diese Notäußerungen, Sorgehandlungen und die Rückmeldung an die Eltern über deren Auswirkungen. Wer selbst Kinder erzogen hat, versteht intuitiv, wie störanfällig diese Prozesse sein können. Sich Erwachsenen gegenüber notvoll zu zeigen, erfordert erhebliches Grundvertrauen – ein Junge, der sich schwach zeigt, wird von der verinnerlichten Grundannahme ausgehen müssen, dass die Erwachsenen gleichzeitig in sich stark sind und sensibel statt verletzend reagieren. Erwachsene ihrerseits müssen eine aktiv suchende Aufnahmebereitschaft für oft versteckte Notäußerungen des Sohnes aufweisen. Sie müssen dazu in der Lage sein, zwischen Grundbedürfnissen, bloßen Wünschen und unangemessenen Forderungen ihrer Tochter zu unterscheiden und diese verschiedenen Anforderungen entsprechend unterschiedlich würdigen. Dabei ist es zum Beispiel unerlässlich, dass sie die richtige Balance zwischen Schutzverhalten und der Unterstützung zum eigenkompetenten Handeln des Mädchens finden und diese

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jeweils je nach Entwicklungsstand variieren (Omer u. Lebowitz, 2012, S. 13 ff.; → bezüglich kultureller Unterschiede zwischen den Bedürfnissen der Autonomie und der Verbundenheit siehe die Beiträge von Heidi Keller, Hiltrud Otto und Jörn Borke in diesem Band). Gerade bei Jugendlichen gestaltet sich entwicklungsbedingt das Kommunikationsspiel um die Fürsorge oft kompliziert: Aus der Spannung zwischen Autonomiestreben und Sorgebedürfnis sind die Notäußerungen des Jugendlichen oft verschleiert, während die Hilfestellungen der Erwachsenen auf subtil indirekte Weise erfolgen müssen.

Abbildung 1: Nicht geäußert und nicht gehört

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Die notvolle Stimme des aggressiven Kindes

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Diese störanfälligen, dabei für das emotionale Gleichgewicht von Kindern wie Erwachsenen unerlässlichen Kommunikationsabläufe bezeichne ich als den Sorgedialog. Bei diesem Dialog findet auf empathischer Grundlage und ohne Voreingenommenheit eine wirkliche Begegnung zwischen Eltern und Kind statt, ein Prozess, der zur Gestaltung der »Ich-Du-Beziehung« im Sinne Martin Bubers (2008) beiträgt. Wenn der Sorgedialog zwischen Erwachsenem und Kind zusammenbricht, wachsen die unbefriedigten psychischen Grundbedürfnisse der Tochter an. Der folgende kindfokussierte Zugang ist aus dem gewaltlosen Widerstand (GLW) bei gewalttätigen Kindern und Jugendlichen hervorgegangen, die in der Vergangenheit sexuellen Missbrauch, physische Gewalt oder Vernachlässigung erlebt haben. Er eignet sich jedoch grundsätzlich für das Elterncoaching. Das Ziel des kindfokussierten Zuganges im Elterncoaching mit dem gewaltlosen Widerstand ist die Erneuerung des Sorgedialogs zwischen Erwachsenem und Kind.

Bedingungen, die elterliche Fürsorge erschweren: Was geschieht, wenn Kinder oder Jugendliche aggressiv sind und die Sorgeangebote abweisen? Wenn Kinder oder Jugendliche sich abweisend, abwertend und aggressiv verhalten, entwickeln Eltern und Erziehende oft ein ausgeprägtes physisches und psychisches Vermeidungsverhalten. Wir wissen aus dem gewaltlosen Elterncoaching, dass die Erhöhung elterlicher Präsenz maßgeblich an der Entwicklung einer gewaltlosen Autorität beteiligt ist (Omer u. von Schlippe, 2012). Beim Vermeidungsverhalten kommt es auch zum Präsenzverlust bei den emotional unterstützenden Funktionen elterlichen Erziehungsverhaltens. Eine Mutter ging zum Beispiel innerlich »auf eine ferne Insel«, wenn ihr Sohn das Zimmer betrat, um nicht von Angst und Erniedrigungsgefühl überflutet zu werden: »Ich schalte ab; ich lenke mich selbst ab, und dann gehe ich innerlich auf Reisen …« Auf solche Weise dissoziiert, konnte sie natürlich nur schwer die ohnehin versteckten notvollen Äußerungen ihres Sohnes wahrnehmen. Je mehr Eltern oder andere Erziehende Gewalterfahrungen gemacht haben, desto ausgeprägter kann ihr Vermeidungsverhalten sein. Gerade Eltern misshandelter Kinder haben oft erhebliche Gewalterfahrungen, mitunter von früher Kindheit an. Allerdings können auch Eltern ohne diese Vorerfahrung von dem gewalttätigen Verhalten ihres Kindes allein schon schwer traumatisiert sein. Viele Verhaltensweisen des Kindes werden von den Eltern dann mit frü-

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herer Gewalterfahrung assoziiert, und oft werden auch körperliche Merkmale und Eigenarten der Bewegung oder Sprachweise des Kindes zu posttraumatischen Auslösern: »Ich sehe seinen Vater in seinen Augen, dann läuft es mir kalt über den Rücken.« Wenn die Mutter sich zu oft von der Tochter zutiefst bedroht fühlt, reagiert sie mit Furcht, Angst, Erniedrigungsgefühl, Schamgefühl und Zorn. Zu anderen Zeiten mag sie sich auch von Opferschuld überschwemmt fühlen. In einer solchen Opferposition gefangen, neigen Eltern dann zu erhöhter Reaktionsbereitschaft des Überlebenszentrums im Gehirn. Sie zeigen dann angstvolles Vermeidungsverhalten bis hin zur Dissoziation, gehen in eine Angriffshaltung über oder aber es kommt zum depressiven Aktivitätsverlust. Die erlernte Hilflosigkeit mancher Eltern mit Gewalterfahrung bildet oft den Hintergrund für die Hilflosigkeit im Umgang mit dem Kind, das Aggressionen zeigt. Die bloße Anwesenheit eines aggressiven Sohnes kann bei traumatisierten Erwachsenen oft Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung auslösen, wie zum Beispiel intrusive Erinnerungen oder sogenannte Flashbacks. Bei traumatischer Belastung verbleiben die traumatischen Erinnerungen im Arbeitsgedächtnis; sie werden nicht ausreichend verarbeitet und im Langzeitgedächtnis abgespeichert. Der traumatisierte Vater nimmt emotional einen bedrohlichen Angreifer wahr, nicht den eigenen Sohn; seine Wahrnehmung kindlicher Notsignale ist herabgesetzt. Grace, Kelley und McCain (1993) haben nachgewiesen, dass negative innere Repräsentationen voneinander in konflikthaften Beziehungen zwischen Müttern und Jugendlichen das Empathievermögen herabsetzen. Gegenseitiges stereotypes Denken und Spekulation über die negativen Absichten des jeweils anderen führen zu feindseligem Verhalten (Golec u. Frederico, 2004). Therapeutinnen kennen die negativen inneren Kindesbilder aus den Narrativen der Eltern – oft sind sie dann überrascht, wenn sie später einem Jungen begegnen, der freundlich ist und viel kindlicher wirkt als erwartet. Ein Mädchen, das man für berechnend und »böse« hält, wird man kaum auch als bedürftig wahrnehmen; dies macht es Eltern schwer, sensibel die Kindesäußerungen wahrzunehmen. Manche Eltern beschäftigen sich ruminativ mit Verletzungen, die sie durch das Kind erfahren haben. Sie wollen ihm dann oft auch »zeigen, wie es sich anfühlt so behandelt zu werden«. Verschiedene neuropsychologische Untersuchungen zeigen auf, wie ein Rachebedürfnis die üblicherweise mit Empathie verbundene Gehirnaktivität herabsetzt (Pinker, 2011, S. 577 ff.). Wir können auch im klinischen Alltag die Beobachtung machen, dass Mütter und Väter mit Racheimpulsen weniger Einfühlungsvermögen zeigen und weniger über die Not der Tochter oder des Sohnes nachdenken.

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Nicht nur offen aggressives Verhalten, sondern auch Abweisung beeinflusst die Reaktionsweise von Erwachsenen. Wenn selbst sehr junge Pflegekinder die Sorgeangebote ihrer Pflegeeltern abweisen und sich so verhalten, als bedürften sie nicht deren Sorge, werden Pflegeeltern im Laufe der Zeit weniger fürsorglich und mehr bestrafend (Dozier, Higley, Albus u. Nutter, 2002). In ihren Ausführungen zur interpersonalen Neurobiologie der Kindererziehung haben Hughes und Baylin (2012) das Konzept der blockierten Fürsorge (»blocked care«) entwickelt. Bestimmte Gehirnareale, unter anderem der präfrontale Kortex und Teile des limbischen Systems, werden in spezifischer Weise aktiviert, wenn Fürsorge empfunden wird. Die damit verbundenen sorgenden Handlungen beschreiben sie folgendermaßen (Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor): –– sensibel sein für das kindliche Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und emotionales Eingehen auf dieses Bedürfnis; –– Kinder beständig und wirksam beruhigen, wenn sie emotional belastet sind (was Kliniker als affektive Koregulation bezeichnen); –– als erstes positives Gegenüber fungieren, bei dem Kinder erstmals lernen, wie sie die Beziehung zu anderen Menschen genießen und mit ihnen verbunden bleiben können; –– wissen, wann man es Kindern überlassen muss, sich Herausforderungen zu stellen und sie selbst zu meistern, um deren eigene Resilienz zu entwickeln; –– Kinder vor der dysregulierenden Wirkung der eigenen negativen Emotionen zu schützen, indem man die eigene Fähigkeit zur Selbstregulierung und Stressbewältigung einsetzt (die Erwachsene im Raum sein). Die Aktivität der bei solchen Handlungen beteiligten Gehirnareale wird herabgesetzt, wenn sich Kinder feindselig und abweisend Erwachsenen gegenüber verhalten. Dies kann chronisch oder akut geschehen, kindspezifisch sein oder sich spezifisch auf die jeweilige Entwicklungsphase eines Kindes beziehen. Die zugehende Aufmerksamkeit für das Kind, das Fürsorglichkeitsempfinden und die ausführende Fürsorge des Erwachsenen werden also buchstäblich als Reaktion auf feindseliges Kindesverhalten im Gehirn blockiert.

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Wie gehen aggressive Kinder und Jugendliche mit der eigenen Not um? Aggressive junge Menschen leben – ähnlich wie ängstliche Kinder und Jugendliche – in einer subjektiv bedrohlichen Welt; sie erleben andere als grundsätzlich feindselig (Barrett, Rapee, Dadds u. Ryan, 1996). Wenn es zu erheblicher symmetrischer Eskalation zwischen einer Jugendlichen und ihren Eltern gekommen ist, werden die Erwachsenen-Feindbilder umso ausgeprägter sein. Wer mit aggressiven Jugendlichen einzeltherapeutisch arbeitet, wird erfahren haben, welche negative Sicht ihrer Eltern oder Erzieher sie wiedergeben. Während das einerseits der Rechtfertigung des eigenen kontrollierenden Verhaltens dienen mag, wird andererseits aber auch deutlich, dass sie ihre Eltern als höchst bedrohlich empfinden können. Ein Jugendlicher sucht keine Unterstützung bei denen, von denen er sich bedroht fühlt. Jungen mit früh einsetzenden Verhaltensschwierigkeiten weisen eine Übererregbarkeit der Amygdala auf (Herpertz et al., 2008) und auch Ohmann (2005) hat nachgewiesen, dass Jugendliche mit Verhaltensproblemen ebenfalls eine höhere Aktivierung der Amygdala zeigen. Dieser Teil des limbischen Systems im Gehirn ist unter anderem für Überlebensreaktionen zuständig. Man hat nachgewiesen, dass Übererregbarkeit der Amygdala mit erhöhter Risikowahrnehmung im sozialen Umfeld einhergeht (Vasterling u. Brewin, 2005). Bei hoher Reaktivität der Überlebensfunktion im Gehirn wird die Selbstreflexion herabgesetzt. Die innere Not wird in der Selbstwahrnehmung einer aggressiven Jugendlichen oft sekundenschnell zu Zorn; statt »Ich bin verstört; ich bin verwirrt; das tut mir weh; das macht mir Angst« heißt es dann »Ich bin wütend!« oder »Du machst mich wütend!« (vgl. Abbildung 1, S. 166). Dem Jugendlichen fällt es schwer, andere Empfindungen als Ärger auszudrücken – es kommt allenfalls zu einem »Die stinkt mir schon wieder gewaltig«. Ein Kind kann keine Not signalisieren, wenn sie sofort in aggressive Gefühle, Gedanken und innere Bilder umschlägt. An dieser Stelle soll einem möglichen Missverständnis vorgebeugt werden. Ich gehe nicht davon aus, dass kindliche Not ursächlich dem aggressiven Verhalten zugrunde liegt. Vielmehr geht es darum, dass notvolles Erleben von aggressiven Kindern hinter ihrem Zorn verborgen bleibt, was mit zum Zusammenbruch des Sorgedialogs beiträgt. Wenn die Geschehnisse in der früheren Herkunftsfamilie schwer vorhersagbar gewesen sind, zum Beispiel bei Alkohol- oder Drogenmissbrauch oder bei psychischen Störungen der Eltern, fühlen sich Kinder oft sicherer, wenn sie Kontrolle auf die Umwelt ausüben können. Wenn man als kleines Kind nicht vorhersagen konnte, was einen bedrohen könnte, wann man physisch oder zwi-

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schenmenschlich alleingelassen oder ob man emotional aufgefangen wird, trägt die Kontrolle der Umwelt zur Vorhersagbarkeit des Lebens bei. Wenn Kinder mit solcher Vorerfahrung die emotionale Unterstützung durch die Erwachsenen durch kontrollierendes Verhalten ersetzen, bleiben ihre psychischen Grundbedürfnisse unbefriedigt. In einem wechselseitigen Prozess entwickeln Kinder und Erwachsene höchst negative Internalisierungen voneinander. Die resultierende Entfremdung führt dazu, dass das Kind sich oft ungewollt und nicht zugehörig fühlt. Von wem man sich entfremdet fühlt, dem wird man sich nicht notvoll anvertrauen. Eine weitere, dem kontrollierenden Verhalten innewohnende Beziehungslogik erschwert den Sorgedialog: Jugendliche mit gewalttätigem, aggressivem oder selbstschädigendem Verhalten sprechen oft davon, wie wenig sie von ihren Eltern erhalten – was oft in krassem Gegensatz zu den vielen materiellen Dingen steht, die sie sich erzwingen. Wer jedoch immer verlangt, immer vom anderen nimmt, hat nie die Gelegenheit unaufgefordert zu erhalten. Nur durch unaufgefordertes Geben erfahren Kinder bedingungslose Liebe und Wertschätzung. Wenn ein Junge ständig von der Mutter materielle Dinge oder Aufmerksamkeit einfordert, erfährt er nur selten spontane Zuwendung. Es kommt zum Vertrauensschwund: »Woher soll ich auch wissen, dass sie mich will?« Bei einem solchen Vertrauensschwund zeigen Kinder und Jugendliche keine Schwäche, sondern werden noch fordernder. Dieser Prozess ist besonders häufig bei Kindern in der stationären Jugendhilfe oder in Pflegefamilien zu beobachten: Der Erfolg eines Besuches bei der Herkunftsfamilie wird vom Kind oft am materiellen Wert der Dinge gemessen, die es von den Eltern erhält. Eine Jugendliche, die im Heim lebt, hatte zum Beispiel ihrem Vater gesagt, er möge ihr ein Blackberry geben. Als er ihr ein billigeres Mobiltelefon gab, kam es zu einem heftigen schnell eskalierenden Streit, und später im Heim schrie und tobte sie stundenlang. In der Therapiesitzung sprach sie davon als Beispiel dafür, wie sie sich »immer schon von allen im Stich gelassen« fühlt, und dass ihr »niemand auch nur das Kleinste gönnt«.

Bedingungslose Liebe und Sorgebereitschaft: Ich werde dir immer wieder die Hand reichen, egal was du tust! Wie kann das Elterncoaching auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen, wenn doch meistens mit den Erwachsenen gearbeitet wird und so die Perspektiven des Kindes weniger Beachtung finden können? Lassen sich ein Fokus auf das Kind und der gewaltlose Widerstand gegen seine Gewalttätigkeit miteinander

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vereinbaren? Omer (2004) geht davon aus, dass es im Kind positive Stimmen gibt; es hat positive Eigenschaften, hat das Bedürfnis nach Liebe und Anleitung durch die Eltern, und wünscht sich die Stärkung der Elternposition. Die Erwachsenen können diese positiven Stimmen dadurch ansprechen, dass sie in ihrem Widerstand gegen die kindliche Aggression Eskalationen vermeiden, Selbstkontrolle üben und beharrlich durch Beziehungsgesten dem Kind ihre Liebe und Wertschätzung zeigen. Wilson (1998) hat die Notwendigkeit artikuliert, in der Familientherapie den Fokus stärker auf das Kind zu richten. Ähnlich wie Omer benutzt auch er die Stimmenmetapher, um nicht ausgedrücktes und nicht wahrgenommenes Erleben des Kindes zu charakterisieren. Er spricht jedoch in diesem Zusammenhang von der Not des Kindes als einer Stimme, die zum Stillschweigen gekommen ist. Der Zugang zu einem Kindesfokus liegt darin, dass mit dem Kind gesprochen wird, nicht an das Kind gerichtet. So können Narrative konstruiert werden, die dem kindlichen Verhalten neuen Sinn geben. Ich habe den von Wilson entwickelten Ansatz der kindfokussierten Familientherapie in das Elterncoaching integriert (Jakob, 2011). Mit einem aggressiven Kind zu sprechen, um seine Not zu erfahren, bringt uns zurück zum dialogischen Prinzip – es geht darum, Eltern wie Kind dabei zu unterstützen, wieder zu einer echten Begegnung miteinander zu finden. Mit Wilson (persönliche Mitteilung, 2012) stimme ich jedoch darin überein, dass es sich beim Kindesfokus nicht um eine kindzentrierte Position handelt – zu der Begegnung zwischen Eltern und Kind gehört, dass die Eltern mehr als nur die Aggression im Kind sehen; gleichzeitig aber müssen sie das Bedürfnis der Geschwister und das eigene Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz vor den Übergriffen ihres gewalttätigen Kindes ernst nehmen. Erwachsene können nur dann auf die Kindesnot eingehen, wenn sie eine Position der Stärke einnehmen. Im anderen keinen Gegner wahrzunehmen, sondern ein Gegenüber, aber gleichzeitig sich der Gewalt des anderen entschlossen entgegenzustellen, hierin liegt das Grundprinzip des gewaltlosen Widerstands, wie er von Gandhi konzipiert und praktiziert wurde. Mit der Entwicklung der kindfokussierten Perspektive im Elterncoaching wird es möglich, den Aspekt der Begegnung mit dem Gegenüber stärker zu akzentuieren. Doch wie kann man in den Dialog mit jemandem eintreten, der nicht wirklich gesprächsbereit ist? Wie kann eine Erzieherin diese Begegnung suchen, wenn der Junge in der Heimgruppe sie immer abweist und nicht in der Therapie kooperiert? Das Prinzip des einseitigen Handelns (Omer u. Lebowitz, 2012) erlaubt es nicht nur, sich entschlossen zur Wehr zu setzen oder das Kind vor selbstschädigendem Verhalten zu schützen, sondern eröffnet auch vielfältige dialogische Möglichkeiten. Wenn die Mutter beharrlich Versöhnung- bzw. Beziehungsgesten

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an den Sohn richtet, erfährt er bedingungslose Zuwendung, sogar oder gerade, weil er diese Gesten immer wieder zurückweist. Wenn sich Eltern in der Therapie darüber beklagen, dass ihr Kind nicht positiv auf ihre Gesten reagiert, stelle ich dies als eine hervorragende Gelegenheit dar – sie können durch ihre Beharrlichkeit der Tochter zeigen, dass sie nichts von ihr im Gegenzug erwarten. Dies greift in die problematische Beziehungslogik der erzwungenen Aufmerksamkeit ein: Wenn der Vater seinem Sohn immer wieder trotz dessen Zurückweisung beharrlich die Hand reicht, wird allmählich seine bedingungslose Haltung spürbar. Damit eine Beziehungsgeste bedeutungsvoll sein kann, muss sie mit Augenmerk auf die ganze Person des Kindes geplant und durchgeführt werden – die Aufmerksamkeit des Erwachsenen darf sich nicht ausschließlich auf das Problemverhalten beschränken. Zur ganzen Person des Kindes gehören seine Not und seine unbefriedigten Bedürfnisse. Es ist daher wichtig, die Erziehenden dabei zu unterstützen, ihre Aufmerksamkeit auf die unbefriedigten psychologischen Grundbedürfnisse des Kindes zu richten. Die Planung von Beziehungsgesten, die eine Hinweisfunktion auf die unbefriedigten Grundbedürfnisse haben, bietet Eltern das therapeutische Vehikel, um die Aufmerksamkeit auf das ganze Kind zu richten, die eigene Empathie fürs Kind als innere Ressource zu reaktivieren und sich für dessen Bedürfnisse zu sensibilisieren. In Therapiesitzungen wird immer wieder deutlich, wie diese Aufmerksamkeitsverschiebung sowohl die Angst der Eltern als auch ihren Zorn reduziert – eine Mutter, die ein Bild von ihrer Tochter als auch fürsorgebedürftig verinnerlichen kann, fühlt sich nicht von ihr bedroht. Die beharrliche Ausführung von Beziehungsgesten weist das Kind immer wieder darauf hin, dass die Eltern seine Not wahrnehmen und sich um ein Verständnis seiner unbefriedigten Bedürfnisse bemühen. Handlungen sprechen lauter als Worte. Durch ihr Handeln signalisieren die Eltern ihre Sorgebereitschaft; sie geben der Tochter zu verstehen: »Wir stehen zu dir; wir nehmen dich wahr, auch wenn es dir schlecht geht; wir sind bereit, dich zu unterstützen – egal wie oft du uns zurückweist; wir sind deine Eltern, du kannst unsere Fürsorge nicht abschütteln!«

Unbefriedigte Grundbedürfnisse im aggressiven Kind Mir sind bei misshandelten Kindern vier chronisch unbefriedigte psychische Grundbedürfnisse deutlich geworden. Ihre Befriedigung wird durch den Zusammenbruch des Sorgedialogs weiter erschwert. Aber auch wenn es keine Kindesmisshandlung gegeben hat, kann es in belasteten Familien im Laufe der Zeit zum

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völligen Zusammenbruch des Sorgedialogs kommen. Daher eignet sich meines Erachtens der Kinderfokus grundsätzlich für das Elterncoaching. –– Das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit: Viele Kinder und Jugendliche, die Kindesmisshandlung erfahren haben, werden bindungsunsicher. Dies wird zunehmend als eine Form posttraumatischer Belastung verstanden (Hansen u. Spratt, 2000), in der unter anderem das grundsätzliche Vertrauen in die Kontinuität der Sorge durch andere Menschen erschüttert worden ist und bei der starke Ängste im zwischenmenschlichen Bereich aufkommen. Demzufolge sind die abweisenden und feindseligen Verhaltensweisen misshandelter Kinder Bewältigungsstrategien im ständig als Bedrohung erlebten sozialen Nahraum – Bewältigungsstrategien, die allerdings der Befriedigung des Bedürfnisses nach Sicherheit im zwischenmenschlichen Bereich im Wege stehen, wenn die Erwachsenen im Leben des Kindes mittlerweile gutartig handeln. Misshandelte Kinder weisen oft aber neben dem Vertrauensverlust auch ausgeprägte posttraumatische Belastungsstörungen auf, mit hohem psychophysischem Erregungsniveau, ständiger unterschwelliger Angst, erhöhter Risikoaufmerksamkeit, intrusiven Erinnerungen an bedrohliche, angstbesetzte Ereignisse usw. Schließlich führt die Gewalttätigkeit des Jugendlichen selbst auf vielfältige Weise zum Angstaufbau: Zum einen erwartet er, dass er sich die Umwelt zum Feind macht, besonders wenn es zu häufig schnell eskalierenden Auseinandersetzungen gekommen ist; zum anderen dient aggressives Verhalten auch dazu, es zu vermeiden, sich notwendigen Herausforderungen zu stellen: »Du kannst mich mal, ich gehe nicht in die Schule.« Die Jugendliche verliert dadurch zunehmend an sozialer und praktischer Handlungskompetenz, was wiederum zu erhöhtem Angstpotenzial führt. –– Das Bedürfnis nach Unterstützung bei Entwicklungsschwierigkeiten: Im Lebenszyklus der Familie kommt es beim Übergang von einer Entwicklungsstufe zur nächsten häufig zu krisenhaften Belastungserscheinungen (Carr, 2006, Carter u. McGoldrick, 1999). Die Krise wird verschärft, wenn das Kind oder der Jugendliche mit Entwicklungsschwierigkeiten zu kämpfen hat, wie zum Beispiel mit dem Asperger-Syndrom, ADHS oder Lernbehinderungen. Bei aggressionsbedingter Entfremdung zwischen dem Kind und seinen Eltern oder Erziehenden erhält das Kind nicht die notwendige Unterstützung zur Bewältigung seiner Entwicklungsaufgaben, denn der Zusammenbruch des Sorgedialogs verhindert das Gespräch über die Hilfeleistungen, derer es bedarf. –– Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit: In der klinischen Praxis hören Therapeuten immer wieder von Jugendlichen, dass sie sich nicht mehr ihrer Familie zugehörig fühlen. Mitunter fantasieren sie sogar, dass sie adoptiert worden sind, und die Familienangehörigen seien gar nicht ihre wirklichen Eltern

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und Geschwister. Ebenso fremd kann sich die Schule als sozialer Nahraum anfühlen, wie auch der bisherige Freundeskreis. Im urbanen Milieu suchen Jugendliche die Befriedigung dieses Bedürfnisses zunehmend durch die Zugehörigkeit zu »Gangs« bzw. Jugendbanden, deren extreme innere Kohärenz und scharfe Abgrenzung nach außen das fehlende Zugehörigkeitsgefühl sofort ersetzen können. Nicht umsonst werden im englischsprachigen Jargon die Mitglieder der eigenen Gangs als »homeboys« (Jungen von daheim) bezeichnet. Diese Ersatzbefriedigung des Zugehörigkeitsbedürfnisses führt dann natürlich zu weiterem gefährlichen und kriminellen Verhalten. Besonders Kinder in der stationären Jugendhilfe und in Pflegefamilien erleben Zugehörigkeit als zusätzlich erschwert. Erzieherinnen kennen nur zu gut den Spruch: »Ihr macht das ja nur, um Geld zu verdienen, um mich geht es euch ja gar nicht« aus ihrem Erziehungsalltag. –– Das Bedürfnis nach einer kohärenten und ausreichend positiven Familiengeschichte: Kinder, die familiäre Gewaltausübung gegen sich oder andere erlebt haben, erzählen oft unzusammenhängend wirkende Geschichten mit gewalttätigem Inhalt. Die Akteure sind meist grausam und unberechenbar. Kinder, die mit desorganisierter Bindung (Bindungstyp D) diagnostiziert worden sind, erzählen stärker fragmentierte Geschichten als andere (Steele et al., 2000). Die Art und Weise, wie zwischenmenschliche Realitäten konstruiert werden, ist bei diesen Kindern fragmentiert, was sich aus dem traumatischen Vorerleben vom Familienalltag erklären lässt. Dallos und Vetere (2009) haben eine systemisch-bindungstheoretische Perspektive entwickelt, in der sie besonderes Augenmerk auf die Fähigkeit richten, andere Menschen als Ressource bei der Bewältigung des eigenen Bedrohungserlebens zu nutzen. Ihnen zufolge bringt wachsende Bindungssicherheit die Fähigkeit mit sich, anderen die eigene Angst und Not mitzuteilen sowie Unterstützung zu suchen und mit anderen zusammen die Problemlösung angehen zu können, um die empfundene Not zu reduzieren. Diese Menschen verfügen dann aber auch über eine gute Einschätzung der eigenen Kompetenz, mit Problemen allein fertig zu werden, wo dies möglich und notwendig ist. Voraussetzung hierfür ist es, dass die Familieninteraktion ein Narrativ entstehen lässt, in dem die anderen Familienmitglieder ausreichend positiv repräsentiert sind. In meiner klinischen Erfahrung repräsentieren sich misshandelte Kinder oft selbst negativ im Familiennarrativ: »Er hat mich getreten wie einen Hund. Also bin ich ein mieser Hund, und ich verhalte mich auch so.« Ein solcher Junge bedarf einer Familiengeschichte, die einen inneren Zusammenhang aufweist und in der andere ausreichend positiv repräsentiert sind, damit auch ein positives Selbstbild aus dem Narrativ hervorgeht.

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Die Aktualisierung des Sorgedialogs Es wäre vermessen, mit einer Therapie direkt alle Grundbedürfnisse befriedigen zu wollen. Aus systemischer Sicht lässt sich Veränderung am ehesten in die Wege leiten, wenn wir kleine Ansatzpunkte aktivieren können, von denen aus maximale Umgestaltung von Interaktionsmustern ausgeht. Dies geschieht, wenn wir die Planung von Beziehungsgesten zur Sensibilisierung von Eltern für die unbefriedigten Grundbedürfnisse des Kindes nutzen; die Ausführung der Gesten macht dann die Jugendliche auf die Sensibilität der Erwachsenen aufmerksam und lädt sie dazu ein, sich ihnen anzuvertrauen. Der Therapeut im Elterncoaching trägt also nur dazu bei, den Sorgedialog wieder in Gang zu bringen – der Dialog selbst aktiviert dann die zwischenmenschlichen Ressourcen bei Eltern und Kind, um weitreichende Veränderung zuwege zu bringen. Ein Fallbeispiel soll den therapeutischen Zugang verdeutlichen. Fred war 14 Jahre alt und besuchte eine Sonderschule E (für soziale und emotionale Entwicklung). Er hatte eine siebenjährige Schwester, Elisabeth. Ihr gegenüber, aber auch gegenüber seiner Mutter zeigte er aggressives und gewalttätiges Verhalten. Der inzwischen verstorbene Vater Eric hatte ein Alkoholproblem gehabt und war beiden Kindern sowie ihrer Mutter Joanna gegenüber jahrelang schwer gewalttätig gewesen. Nach einer Zeit relativer Verbesserung – Joanna hatte bereits seit zwei Monaten sich und Elisabeth mit gewaltlosen Widerstand vor Freds gewalttätigem Verhalten geschützt – kam die Mutter verstört in die Therapiesitzung: Fred war wieder einmal mit schlechter Laune aus der Schule nach Hause gekommen und hatte seinem Unmut Luft gemacht, indem er Elisabeth tätlich angriff, vom Stuhl warf und dabei zutiefst verängstigte. Joanna neigte dazu, entweder sich voll Angst zurückzuziehen oder aber die eigene Angst mit blindem Zorn zu kompensieren, wollte aber diesmal keine der beiden Reaktionen zeigen. Der Therapeut lud sie ein, sich an die eigenen Empfindungen und Freds Reaktionen aus dem letzten »Sit-in« zu erinnern und aus der Erinnerung dieser Ausnahme zum Problemmuster eine Familienskulptur zu stellen. Diese Veränderungsskulptur brachte Joanna mit der eigenen Entschlossenheit, mit dem Gefühl, von ihrer Freundin Unterstützung zu haben, und mit ihrer Fähigkeit zur emotionalen Selbstregulierung in Kontakt. Daraufhin planten Joanna und ihr Therapeut gemeinsam ein erneutes »Sit-in« als Reaktion auf den Vorfall. Dies half Joanna, innerlich erfahrbar eine elterliche Position der Stärke einzunehmen. Nach der gemeinsamen Planung des nächsten Sit-ins, das Joanna für einen der kommenden Tage vorgesehen hatte, fühlte sie sich dazu in der Lage, sich

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mit der Not ihres Sohnes auseinanderzusetzen. Der Therapeut bat Joanna, sich mit ihm zusammen auf eine »imaginative Reise« zu machen: Sie möge sich vorstellen, dass Fred wieder einmal mit schlechter Laune nach Hause kommt. Allerdings zieht er sich diesmal auf sein Zimmer zurück, statt seinen Ärger an der Familie auszulassen. Joanna solle sich vorstellen, sie warte eine Weile, und geht dann leise, aber hörbar zu seinem Zimmer, klopft sanft an die Tür und geht hinein. Sie stellt eine Tasse Tee neben ihn hin und sitzt still, aber aufmerksam bei ihm. Allmählich kommen die beiden ins Gespräch. Was erzählt Fred davon, was in der Schule oder auf dem Nachhauseweg geschehen ist? Welche Gedanken äußert er? Welche Gefühle zeigt er? Was braucht er von seiner Mutter? Wie zeigt er Joanna, was er braucht? Wie reagiert sie dann auf Freds Not? Im nächsten Schritt machten sich Joanna und der Therapeut an die Planung einer Versöhnungs- und Beziehungsgeste. Aus dem imaginativen Gespräch schloss die Mutter, dass sich Fred erniedrigt gefühlt haben mochte, auch wenn natürlich Joanna nicht wirklich wusste, was in Freds Schulalltag vorging. Es wurde ihr auch deutlich, dass sich Fred wohl oft in der Vergangenheit von seiner Mutter im Stich gelassen gefühlt haben mag – besonders wenn sie früher auf die Gewalt des Vaters hin dissoziativ wurde und abwesend wirkte. Daher glaube er womöglich, er müsse mit allen Schwierigkeiten allein zurande kommen. Vielleicht sei ihm nicht bewusst, dass sie sich in Gedanken mit ihm befasst und sich um ihn sorgt. Möglicherweise glaube Fred sogar, dass sie ihn für ebenso böse hält wie den Vater? Joanna war erstaunt über die Tiefe ihrer eigenen Empathie und konnte die Vermutungen über Freds innere Not mit vielen kleinen Signalen von ihm verknüpfen. Sie entwickelte eine Beziehungsgeste, die ihm zeigen sollte, dass sie ihn in Gedanken bei sich trägt, sich um ihn sorgt und ihn wertschätzt. Mehrmals in der Woche »schmuggelte« sie ein Bonbon in sein Federmäppchen. Allerdings waren die Bonbons in anderes Papier als sonst eingewickelt und jedes Papier hatte einen Spruch: »Ich denke an dich«, »Ich hoffe, heute ist ein besserer Tag« usw. Schließlich ging Joanna trotz Freds vehementen Widerspruchs zur stellvertretenden Schulleiterin, um dem Problem auf den Grund zu gehen. In der Tat gestand Fred nach einigen Wochen seiner Mutter, dass sich zwei Mitschüler einen Spaß daraus machten, ihn sexuell zu bedrängen, und die Schulleiterin konnte gegen dieses Verhalten eingreifen. Im Verlaufe der Therapie wurden noch viele Aspekte von Freds Bedürftigkeit erhellt. In der Einzeltherapie bei einem anderen Therapeuten sagte Fred einmal, er werde mit einer Maschinenpistole zu McDonalds gehen und alles kurz und klein schießen. Im Gespräch mit Joanna erinnerte sich der Therapeut an einen Film mit Michael Douglas in der Hauptrolle, in dem eine ähnliche Szene stattfindet, und in der Tat hatte Fred diesen Film gesehen. Der Hauptcharakter dieses

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Filmes fühlt sich von allen im Stich gelassen. Joanna plante, Fred zu verstehen zu geben, dass er und die Schwester nicht von ihr im Stich gelassen worden waren, während der Vater noch lebte – obwohl sie es bisher immer ängstlich vermieden hatte, über die Vergangenheit in der Familie mit den Kindern zu sprechen. Fred sollte wissen, dass er es würdig gewesen war, beschützt zu werden. Der Vater hatte die Kinder oft stundenlang in ihren Zimmern eingesperrt. Joanna erzählte Fred, dass sie stets versuchte, Eric schneller betrunken zu machen, damit er besinnungslos wurde und sie die Kinder wieder befreien konnte. Mit dieser und anderen Geschichten aus der Vergangenheit wies Joanna Fred darauf hin, dass sie selbst in den schlimmsten Zeiten an ihn und seine Schwester dachte und die Kinder so gut sie konnte beschützte. Gemäß dem Prinzip des einseitigen Handelns sprach Joana immer nur kurz von diesen Dingen, erzählte sie fast beiläufig zum Beispiel kurz vor dem Aussteigen aus dem Bus und nahm keinen Augenkontakt auf – auf diese Weise gab sie Fred zu verstehen, dass keine bestimme Reaktion von ihm erwartet wurde. Ihre Berichte aus der Familiengeschichte wurden dadurch zu Informationen an Fred, mit einer offenen Einladung zum Gespräch – ohne Insistieren. In den nächsten Wochen und Monaten äußerte Fred immer häufiger von sich aus neue Sichtweisen über die traumatische Familienvergangenheit. Bei einer Gelegenheit sagte er unvermittelt zu seiner Mutter: »Jetzt verstehe ich, warum du nichts gegen ihn tun konntest – er hat dir zu viel Angst gemacht. Du konntest ja nichts dafür …« Später begann Joanna ihre Berufsausbildung nachzuholen und wurde zunehmend selbstbewusster. Auch darüber berichtete sie ihrem Sohn und es wurde ein Familienritual durchgeführt, bei dem symbolisch die Gewalt und die Hilflosigkeit neben dem Vater beerdigt wurden.

Das Beispiel verdeutlich das Zusammenspiel zwischen dem Protest gegen die Gewalt und dem Kindesfokus im Elterncoaching: Während der Widerstand gegen Freds Gewalthandlungen in Form von »Sit-ins« und einer Besorgniskampagne hilfreich war, um die Elternpräsenz zu erhöhen, waren diese Handlungen auch notwendig, damit die Mutter eine Position der Stärke einnehmen konnte. Diese Stärke war wiederum die Voraussetzung dafür, dass sie emotional dazu in der Lage war, ihre Aufmerksamkeit auf die Not des Sohnes zu richten, und sich für seine unbefriedigten Grundbedürfnisse sensibilisieren konnte. Dies ermöglichte es ihr wiederum, ihm bedeutungsvolle Kommunikationsangebote in Form ihrer Beziehungsgesten zu machen. Fred brauchte ein stärkeres Sicherheitsgefühl und die Gewissheit, dass er von seiner Mutter, wenn nötig, beschützt würde. Er benötigte auch eine ausreichend positive Repräsentation der Mutter im Familiennarrativ – denn aus ihrer Charakterisierung als beschützend ging

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hervor, dass er ihres Schutzes würdig war und dass sie mit einer starken Verinnerlichung ihres Sohnes operierte. All dies signalisierte die Mutter durch ihre Beziehungsgesten und reaktivierte damit den Sorgedialog – eine Voraussetzung dafür, dass die Angst des Sohnes allmählich zurückgehen und er ein besseres Selbstbild entwickeln konnte. Dieser Prozess benötigt ein ressourcenorientiertes therapeutisches Ethos und ein methodisches Instrumentarium, das Eltern oder Erziehenden hilft, einen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf die ungehörte Stimme der Not zu richten. Wenn ich davon ausgehe, dass die Mutter die notwendige empathische Fähigkeit besitzt, jedoch aufgrund des Zusammenbruchs des Sorgedialogs nicht ausreichend mit dieser eigenen Ressource in Verbindung steht, liegt eine Lösungsorientierung nahe; wir können der Mutter helfen, die eigene empathische Fähigkeit und das damit verbundene sorgende Handeln im Hier und Jetzt zu reaktivieren. Ich gehe also als Therapeut von der Überzeugung aus, dass die Familienmitglieder die inhärente Fähigkeit zu dieser Kommunikation besitzen – und sie heute noch, nach dieser Therapiesitzung, umsetzen können. Darüber hinaus bin ich als Therapeut auch zuversichtlich, dass die veränderte Wahrnehmung voneinander, die durch die Beziehungsgesten entsteht, sich für den gesamten Familienalltag generalisieren lässt. Diese Auffassung steht einer pathologisierenden bindungstheoretischen Sicht entgegen, die den Familienmitgliedern unterstellt, unfähig zur Aufnahme und Aufrechterhaltung enger, unterstützender zwischenmenschlicher Verbindungen zu sein.

Kindfokussierte Methoden im Elterncoaching Im obigen Fallbeispiel wird das methodische Grundprinzip des Kindesfokus deutlich: Die Therapeutin lädt die Klientin ein, sich eine Ausnahme zum Problemmuster vorzustellen – eine Situation, in der der Sorgedialog wieder in Gang gekommen ist. Die Fragen des Therapeuten dienen zum einen dazu, das Lösungsszenarium in der Imagination des Klienten zu verdichten; zum anderen ermöglichen sie es, bestimmte Interaktionshandlungen imaginativ so zu konstruieren, wie sie in einem solchen Szenarium stattfinden würden. Aus diesen imaginierten Handlungen heraus lassen sich schließlich jene Beziehungsgesten planen und durchführen, die den Sorgedialog in Bewegung bringen. Nach meiner Erfahrung haben sich bei diesem kollaborativen Vorgehen drei Methoden als besonders nützlich erwiesen: bedürfnisorientierte Fragesequenzen, das Interview des internalisierten notvollen Kindes und das therapeutische Netzwerktreffen.

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Stets beginnt dabei die Therapeutin damit, mit den Eltern oder Erziehenden über die Notwendigkeit bedeutungsvoller Versöhnungs- und Beziehungsgesten zu sprechen. 1. Bedürfnisorientierte Fragesequenzen: Zuerst wird mithilfe der Fragen des Therapeuten ein imaginatives Lösungsszenarium verdichtet. Es kann danach hilfreich sein, Fragen nach der elterlichen Sensibilität zu stellen: »Warum ahnten Sie, dass er sich gedemütigt fühlt?«, »Wie wurde Ihnen deutlich, dass ihm das so zu schafften macht?«, »Wie gelang es Ihnen, hinter seinen Zorn zu blicken?« Es ist dann notwendig, Fragen zu stellen, die Eltern zur Planung einer praktischen Geste ermuntern: »Mit welcher kleinen Geste könnten Sie ihm zeigen, dass Sie seine Not ahnen? Nehmen Sie sich Zeit, sich die Geste vorzustellen.« Schließlich ist es wichtig, die Eltern zur Bedingungslosigkeit zu ermutigen: »Wenn Sie also diese Geste machen, was wird Ihnen helfen, keine positive Reaktion von ihm zu erwarten, damit Sie nicht mit Enttäuschung oder Ärger reagieren oder sich entmutigt fühlen, wenn er die Geste immer wieder zurückweisen sollte?« 2. Das Interview des internalisierten notvollen Kindes: Das Interview des internalisierten anderen wurde von Karl Tomm (1998) in Anlehnung an die Arbeit David Epstons fortentwickelt, um Empathie im Familienbereich zu aktualisieren. Der Vater nimmt die Rolle seiner Tochter in einem Gespräch mit der Therapeutin ein. In dieser Variante des Rollenspiels bittet die Therapeutin den Vater, nicht das übliche Kindesverhalten zu spielen, sondern sich vorzustellen, dass die Tochter kooperativ auf die therapeutischen Fragen eingeht, und sich innerlich in ihre Lage zu versetzen. Mit ihren Fragen greift die Therapeutin »hinter den Zorn« des internalisierten Kindes im Vater: »Okay, als du also so sauer geworden bist und wieder von zu Hause weglaufen wolltest – lass uns das doch einmal in Zeitlupe ansehen. Was ging in dem ganz kurzen Augenblick in dir vor, bevor du wütend geworden bist? Wenn es dir schwerfallen sollte – sage mir einfach, was du jetzt in deinem Körper spürst, während du dich an den Augenblick zurückerinnerst, bevor der Ärger in dir aufstieg. Was merkst du?« Die Verlangsamung der Wiedergabe des Erlebens ist ein wichtiges therapeutisches Hilfsmittel bei der Arbeit mit aggressiven Gefühlen; hier lässt es den Vater ein annäherndes Verständnis dafür entwickeln, welche Gefühlslage sich hinter der Aggression seiner Tochter verbergen mag, auch wenn es dem Kind selbst noch nicht deutlich sein sollte. Wiederum entsteht ein imaginiertes Szenarium, in dem das Kind stärker die eigene Not spürt und signalisiert. Schließlich fragt die Therapeutin die internalisierte Tochter, mit welcher Beziehungsgeste der Vater ihr wohl am besten verdeutlichen könnte, dass er ihr Bedürfnis sensibel erahnt.

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Am Ende des Interviews befragt die Therapeutin die internalisierte Tochter noch nach der Beziehungslogik, der zufolge sie möglicherweise diese Geste abweisen wird: »Wenn also dein Vater in den nächsten Tagen diese Geste macht, vielleicht kannst du ihm noch nicht zeigen, dass dich das freut. Wie wirst du möglicherweise reagieren? Das macht sicher einen Sinn. Was kann ich deinem Vater sagen, um ihm Mut zu machen, damit er weitermacht und nicht das Handtuch wirft?« 3. Therapeutische Netzwerktreffen: Einzeltherapie ist bei schwerwiegenden Verhaltensproblemen oft nicht hilfreich, denn sie führt leicht zur Beschuldigung der Eltern und einer Art von Psychodämonisierung von Eltern und Kind (Omer, Alon u. von Schlippe, 2007), die in den Augen des Jugendlichen sein kontrollierendes Verhalten legitimiert und den Erwachsenen die Hoffnung nimmt, sein Verhalten könne sich im Hier und Jetzt verändern. Die Einzeltherapie zementiert oft die Annahme, dass die Aggression ursächlich aus einer tief greifenden, nebulösen Störung wachse, dass man daher erst langfristig mit einer Verhaltensänderung rechnen könne, und dass der Jugendliche für seine Gewalt nicht zur Verantwortung gezogen werden könne. Findet aber bereits eine Einzeltherapie statt (wie im obigen Fallbeispiel), kann die Einzeltherapeutin mit ins unterstützende Netzwerk einbezogen werden. Im Gespräch zwischen der GLW-Therapeutin und der Einzeltherapeutin kann es hilfreich sein, auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass sie an therapeutischen Netzwerkgesprächen teilnehmen kann, ohne die Verschwiegenheitspflicht zu brechen, indem sie mit der jugendlichen Klientin vorbespricht, welche Inhalte zur Sprache kommen sollen. Indem der Einzeltherapeut von den unbefriedigten psychischen Grundbedürfnissen des Kindes berichtet, wird er vorläufig zur Stimme der Not im Kind. Dieses Verfahren hat viele Vorteile: Auf der Grundlage der Bündnisrhetorik (Grabbe, 2007) geht der Einzeltherapeut eine unterstützende Allianz mit den Eltern ein: Er kann von dem eigenen Erleben der Notäußerungen des Kindes sprechen (eine »IchBotschaft« anstelle von an die Eltern gerichteten »Du-Botschaften«, die den Eltern die Verursachung des Kindesverhaltens zuschreiben) und die Eltern in ihrer Fürsorglichkeit für den Sohn wahrnehmen. Da der Kommunikationsweg von der Tochter zu den Eltern indirekt und durch die Vermittlung der Einzeltherapeutin geschieht, wird es der Jugendlichen erleichtert, in den beginnenden Sorgedialog einzutreten, ohne das Gesicht zu verlieren oder sich unmittelbar den Eltern gegenüber als schwach zu zeigen. Die Eltern und der GLW-Therapeut erhalten ihrerseits klarere Informationen über die Bedürftigkeit des Jugendlichen. Einzeltherapeuten haben mir gesagt, dass die Teilnahme an den therapeutischen Netzwerktreffen auch hilft, ihre ein-

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zeltherapeutische Arbeit zu optimieren: Anstatt soviel Augenmerk darauf zu richten, warum der Jugendliche wütend wird – zum Beispiel weil die Eltern sich wieder einmal ungeduldig oder nicht einfühlsam verhalten haben –, verschiebt sich oft der therapeutische Fokus in den Einzelsitzungen mehr auf andere Aspekte der Befindlichkeit des Jugendlichen. Es entsteht also ein stärkerer Kindesfokus auch in der Einzeltherapie! Auch eine andere erwachsene Vertrauensperson, die sich regelmäßig mit dem Jugendlichen trifft, kann sich als Stimme des notvollen Kindes in therapeutischen Netzwerkgesprächen zur Verfügung stellen.

Schlussgedanken Der gewaltlose Widerstand ist kein hermetisch in sich geschlossenes therapeutisches System oder präskriptives Trainingsprogramm. Darin liegt seine Stärke, aber auch ein Risiko. Die Stärke zeigt sich darin, dass immer neue Varianten des GLW entwickelt werden, um jeweils unterschiedlichen therapeutischen Herausforderungen und verschiedenen kulturellen Kontexten gerecht zu werden. Dies räumt Therapeuten viel kreative Freiheit ein und ermöglicht bessere Akzeptanz bei verschiedenen Familien und in unterschiedlichen Fachkreisen. So haben zum Beispiel Newman und Nolas (2008) mit der Fokusgruppenmethodik festgestellt, dass unter Familientherapeuten in Großbritannien der GLW nur dann auf Resonanz stoßen würde, wenn er sich ausreichend kindfokussiert zeigt. Es handelt sich bei den hier vorgestellten Ideen und Methoden um den ersten Entwurf eines solchen Zuganges. Wir können bei der Ausgestaltung von Beziehungsgesten aus reichen familientherapeutischen Traditionen schöpfen – therapeutische Metaphern, Familienrituale und andere Methoden bieten eine Ideenvielfalt, welche die Therapeutin Eltern oder Erziehern anbieten kann, um kollaborativ miteinander Lösungen zu kreieren. Verschiedene Kontexte sollten demnach auch unterschiedliche Arbeitsformen hervorbringen. Das Risiko der Offenheit im GLW liegt darin, dass sein Veränderungspotenzial geschwächt werden könnte, wenn die Kernprinzipien außer Acht gelassen werden. Mitunter scheuen Therapeuten vor der konstruktiven kämpferischen Auseinandersetzung zurück. Manchmal ist Harmoniestreben fehl am Platze und kann problematisches Harmoniestreben in der Familie spiegeln. Es läge dann nahe, mit dem Kindesfokus allein arbeiten zu wollen, ohne aber in der Auseinandersetzung mit der Gewalt die Elternpräsenz zu erhöhen. Im Prinzip des einseitigen Handelns liegt eine der größten Möglichkeiten des GLW. Das

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systemische »Sowohl-als-auch« ist bereits im gewaltlosen Widerstand Gandhis verankert – sich sowohl gemeinsam gegen die Gewalt des anderen zu wehren als auch im anderen den Menschen zu sehen, der mehr als seine Gewalt ist. Das eine geht nicht ohne das andere.

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Michael Bachg

Wo bleibt das Kind beim Elterncoaching? Wie es mit dem Feeling-Seen-Ansatz gelingen kann, die Perspektive des Kindes einzubeziehen

Vorbemerkung Wenn wir von der Grundannahme ausgehen, dass Kinder den Wunsch nach Zugehörigkeit und guten Beziehungen zu anderen in sich tragen, dann werden sich diese Ziele auch in ihrem Verhalten widerspiegeln. Wenn manche Kinder davon abweichen, dann muss bei Gültigkeit obiger Annahme erklärbar sein, was sie dazu veranlasst, diese Ziele durch ihr Verhalten zu verraten. Mehrere Erklärungsansätze bei der Entwicklung des kindlichen Geistes sind vorstellbar.

Die prägende Bedeutung kindlicher Interaktionserfahrungen Je mehr wir über die Entwicklung des Gehirns in Kindheit und Jugend verstehen, desto mehr setzt sich die Einsicht durch, dass Entwicklung zentral durch Interaktionserfahrungen gesteuert wird. Der Geist eines Kindes entwickelt, strukturiert und organisiert sich durch die Begegnungen mit der Umgebung, also auch mit seinen primären Bezugspersonen. Demzufolge sind die Bezugspersonen prägende Agenten der kindlichen Entwicklung. Sie beeinflussen das Kind unter anderem durch ihren Bindungsstatus, ihr Beziehungsangebot und ihre automatisierten Interaktionsmuster. Es geht also darum zu erkennen, dass sich die Entwicklung des kindlichen Geistes und damit auch seines Verhaltensrepertoires nicht abgeschirmt von seiner Umgebung vollziehen kann. Vielmehr ist dessen Entwicklung eingebettet in ein wechselseitig aufeinander bezogenes Geschehen zwischen dem Kind und seinem Umfeld. In Interaktionen werden zentrale Informationen ausgetauscht (hierzu finden sich viele empirische Befunde in der Säuglingsforschung, → siehe auch die Beiträge von Heidi Keller, Hiltrud Otto und Jörn Borke in diesem Band). Es wird beobachtet, dass Reaktionen, die auf die Bedürfnislage des Kindes eingehen, wie eine Passform wirken und in ihm unmittelbar Emotionen wie zum

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Beispiel Freude, Erleichterung oder Befriedigung erzeugen. Dagegen lösen solche Reaktionen, die die Bedürfnislage eines Kindes übergehen, zwar ebenfalls Emotionen aus, nur andere, unter anderem Schmerz, Wut, Enttäuschung, Irritation oder Entfremdung. Auf letztere reagiert es mit steigender körperlicher und emotionaler Anspannung. Das Kind ist also im Besitz von Informationen, die es ihm ermöglichen, zwischen passenden und entwicklungsförderlichen sowie weniger hilfreichen bzw. hemmenden Reaktionen seiner Bezugspersonen zu diskriminieren. Wenn wir auf das Erleben und Verhalten von Kindern schauen und darauf, welche Faktoren dieses beeinflussen, dann drängt sich die Erkenntnis auf, dass es ein systematischer Fehler wäre, bei der Perspektive der Eltern auf ihr Kind stehen zu bleiben. Zusätzlich muss die Frage aufgeworfen werden, welche Nöte von Kindern hinter dem gezeigten herausfordernden Verhalten stehen können. Dieser Spur folgen auch die Beiträge von Peter Jakob und Michael Grabbe in diesem Band, wobei Grabbe wegweisend die Werte der Kinder als Grundlage der Motivation ihres Verhaltens hervorhebt.

Grundlagen des Verhaltens Verhalten ist Motorik und damit kein isolierter Teil des menschlichen Geistes, sondern Bestandteil der Informationsverarbeitung im gegenwärtigen Bewusstsein. Wahrnehmung, Motorik, Emotion und Kognition stellen die Sequenz dar, in der Informationen verarbeitet werden. Der Motorik, also zum Beispiel dem beobachtbaren Verhalten eines Kindes, geht ein Akt der Wahrnehmung voraus. Mit Hilfe der Sinne nimmt unser Gehirn Informationen zum Beispiel aus unserer aktuellen Umgebung auf und verbindet sie mit den verschiedenen Gedächtnissystemen, wo sie mit Bekanntem abgeglichen werden. Damit wohnt jedem Akt der Wahrnehmung in der Gegenwart ein Akt der Erinnerung inne. Man kann auch mit Edelman und Tononi (2000) sagen: Jeder Moment der Gegenwart ist in Wirklichkeit erinnerte Gegenwart und zwar unabhängig davon, ob wir es wollen oder nicht bzw. ob wir uns dessen gewahr werden oder nicht. Dies hängt mit dem Umstand zusammen, dass die Erinnerungsprozesse automatisiert ablaufen, damit sie effizient genug sein können, um sicherzustellen, dass wir eine gegenwärtige Situation einordnen und verstehen sowie angemessen in ihr handeln können. Emotionen zeigen die subjektive Bedeutung eines Ereignisses an und werden zusammen mit dem Ereignis selbst enkodiert. Mit der Erinnerung an frühere

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Wo bleibt das Kind beim Elterncoaching?

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Erlebnisse werden auch die damit verknüpften früheren Emotionen erinnert und aktualisiert, sodass diese gegenwärtig erneut erlebt werden. Da der Ausdruck von Emotionen Motorik einschließt, können diese Emotionen durch den Ausdruck der Mimik und von Körperbewegungen beobachtet werden. In der hier dargestellten Methode des Feeling-Seen wird dieser Sachverhalt als direkter und schneller Zugang zu bedeutsamen Kontexten und möglicherweise prägenden früheren Erfahrungen genutzt. Allgemein betrachtet können wir schlussfolgern, dass es eine objektive Wahrnehmung eines gegenwärtigen Sachverhaltes nicht geben kann. Jeder Moment der Informationsverarbeitung ist manipuliert durch unbewusste Erinnerungsprozesse, die uns über die Bedeutung einer gegenwärtigen Situation aufklären und Handlungsmuster nahelegen. So betrachtet, rücken zum Beispiel bei herausforderndem Verhalten vor allem die Erinnerungen an prägende Erfahrungen eines Kindes in den Mittelpunkt des pädagogischen und therapeutischen Interesses. Diese Erfahrungen aus der persönlichen Lebensgeschichte eines Kindes sind höchst individuell und einmalig. Als hilfreich erweist sich, die Agenten und Erfahrungen in der Entwicklung des Kindes zu entdecken, um gegenwärtige Wahrnehmung und gegenwärtiges Verhalten zu verstehen, einordnen zu können und zu modifizieren. Letzteres kann mit Hilfe idealer Figuren erreicht werden, die gemeinsam mit dem Kind erfunden werden. Diese Ideale, Eltern oder Lehrer, hätten sich im Falle negativer Erfahrungen anders verhalten, Rücksicht auf die Bedürfnislage des Kindes genommen, sodass eine positive Erfahrung möglich wäre. Ich komme später in einem Fallbeispiel darauf zurück.

Wörter erzeugen Bilder im Geist Um wichtige Kontexte im Leben des Kindes zu entdecken, machen wir uns die Erkenntnis zunutze, dass Affekte und Gefühle eines Kindes unmittelbar und am schnellsten in seinem Gesicht auftauchen. Indem wir besonders auf die Mimik achten, kann das Gesicht des Kindes in der Tat als Spiegel seiner Seele begriffen und genutzt werden. Wir erhalten so, zusammen mit der Beachtung der Stimme, die wichtigsten Informationen über die Gefühlslage. Bedeutende Erlebnisse werden durch die Affekte und Emotionen, die sie begleiten, als solche markiert. In den Interventionen werden die Gefühlszustände des Kindes durch die Therapeuten benannt und mit dem Kontext verbunden, der dieses Gefühl auslöst, sodass Mentalisierung ermöglicht wird. Das passende Wort für

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die Benennung des Gefühls, wie zum Beispiel traurig, wütend, enttäuscht, glücklich, zufrieden usw., kann eine Passform für das Gefühl geben. Der Kontext, der vom Therapeuten wörtlich wiedergegeben und mit dem Gefühl verbunden wird, besteht aus Wörtern, deren Bedeutung im Geist des Kindes die beschriebene Szene vor seinem geistigen Auge wieder entstehen lässt. Diese inneren Bilder erzeugen das erinnerte Gefühl. Es gibt keine Gefühle ohne Kontext. Dabei kommt es dann darauf an nachzuspüren, mit welchem Input der Geist des Kindes in diesem Moment beschäftigt ist. Eine wertvolle Hilfe kann sein mitzubekommen, was das Kind gerade sieht, sei es in der gegenwärtigen Situation im Therapiezimmer oder vor seinem geistigen Auge erinnert oder fantasiert. Diese Art der Gesprächsführung und Intervention wird als zentrales Element gewertet, um die Perspektive eines Kindes unmittelbar an ihm selbst zu erheben. Das Kind kann gleichzeitig spüren, wie es sich anfühlt, im Geist eines Gegenübers gefühlt und von dort ausgehend verstanden zu werden. Dies sind Merkmale elterlicher Liebe, die angesichts möglicher Distanzierung oder Entfremdung von den eigenen Eltern häufig zu kurz gekommen sein können. Dies zu erleben, erhöht die Motivation vieler Kinder und Jugendlicher für eine Zusammenarbeit und verbessert ihre Compliance, da sie spüren: »Es geht um mich.«

Ein Fallbeispiel Marvin, elf Jahre, kommt zusammen mit seiner Mutter zu einer Sitzung. Die Mutter kommt gebürtig aus Sibirien. Sie spricht deutsch mit russischem Akzent. Marvin hat keine Geschwister. Er lebt mit seiner Mutter und seinem Vater in einem eigenen Haus zusammen mit den Großeltern mütterlicherseits. Die Großeltern sind beide pflegebedürftig und werden mehrmals täglich durch Marvins Mutter versorgt. Der Vater ist selbstständig und durch seinen Beruf stark beansprucht. Frau K. stellt Marvin auf Anraten der Schule wegen seines aggressiven und respektlosen Verhaltens vor. Er besucht die sechste Klasse einer Hauptschule. Therapeut (Th.): »Was kann ich für Sie oder für dich tun?« Mutter (M.): »Ja, das ist ein ganz großes Problem in der Schule und zu Hause auch mittlerweile, weil irgendwie behandelt er uns, es ist die Respektlosigkeit bei ihm gegenüber anderen, gegenüber Mitschülern, gegenüber Lehrern. Er kann beleidigen oder solche nicht guten Wörter sagen. Und zu Hause passiert das auch oft gegenüber uns.«

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Th.: »Das heißt gegenüber Ihnen?« M.: »… und meinem Mann, seinem Vater. Er nennt uns ›behindert‹ oder ›blöde‹ oder ›ihr könnt mich mal‹ oder ›du bist dumm‹ oder ›dumme Kuh‹ oder so etwas höre ich von ihm oft und das stört mich. Und in der Schule ist es so, dass er auch gegenüber einem Lehrer, zum Beispiel zum Englischlehrer hat er einmal gesagt ›Du Alter, was willst du von mir‹, so was Ähnliches. Dann hat der Lehrer mich sofort hinterher angerufen. Und gegenüber der Klassenlehrerin benimmt er sich auch sehr respektlos. Gestern zum Beispiel war 40-jähriges Jubiläum der Klassenlehrerin. Er ging gestern zur Schule wie immer und sie hatten etwas vorbereitet für die Lehrerin, wollten ihr auch gratulieren und die ganze Schule war auch damit beschäftigt. Auf einmal macht er einen Aufstand, weil seine Klasse – es ist ja seine Klassenlehrerin – eine Stunde länger bleiben muss in der Schule. Die anderen Klassen würden entlassen an dem Tag, weil sie etwas vorbereitet haben, und seine Klasse müsste eine Stunde länger bleiben und da hat er einen Aufstand gemacht ›Wieso?‹ und ›Warum?‹, ›Wegen Frau X‹ und er war sehr respektlos. Dann haben sie mich gestern angerufen, dass ich ihn abholen soll.« Th.: »Das kommt in der Schule vor und Sie bekommen dann Beschwerden?« M.: »Ja, in letzter Zeit sehr oft.«

Nach wenigen Einführungssätzen wechselt der Therapeut von der Mutter zu Marvin und befragt ihn nach seinem eigenen Erleben. Marvin beginnt davon zu sprechen, wie er sich fühlt, wenn er seine Mutter beleidigt hat. Th.: »Heißt das, es gibt Dinge, die du selber schwierig findest oder nicht okay?« Kind (K.): »Nein.« Th.: »Und was meinst du damit, dass du auch meinst, es sei nicht gut?« K.: »Was ich mache.« Th.: »Was denn zum Beispiel?« K.: »Dass ich meine Mutter manchmal beleidigt habe.« (senkt den Kopf) Th.: »Bist du traurig deswegen?« K.: »Weswegen?« Th.: »Wenn du daran denkst, dass du deine Mutter manchmal beleidigt hast?« K.: »Eigentlich nicht so.« Th.: »Bedauerst du das?« K.: »Ich weiß nicht, was das heißt.« Th.: »Tut es dir leid?« K.: »Ja.« Th.: »Wenn jemand hier wäre, der sieht, was du fühlst in diesem Moment, dann könnte diese Person sagen (Th. zeigt mit seiner Hand seitlich neben sich, als

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sei dort eine weitere Person, leiht dieser Person seine Stimme und lässt sie sagen): ›Ich sehe, wie leid es dir tut, wenn du dich daran erinnerst, dass du deine Mutter manchmal beleidigt hast.‹« K.: »Ja.« (schaut zur Seite, in den leeren Raum) Th.: »Jetzt denkst du an solche Momente? Hast du dich gerade an diese Momente erinnert?« K.: »Nein.« Th.: »Aber du fühlst in dir das Gefühl, dass dir das leid tut?« K.: »Ja.«

In dieser kurzen Sequenz entdeckt Marvin eigene Betroffenheit in der Erinnerung an sein beleidigendes und verletzendes Verhalten seiner Mutter gegenüber. Er spürt eine diesbezügliche emotionale Reaktion, vermag diese aber nicht mit einem zutreffenden Wort in das Gefühl zu übersetzen, welches er in diesem Zusammenhang subjektiv erlebt. Es mangelt ihm an dem notwendigen Wortschatz sowie der Fähigkeit, sich selbst mit seinen emotionalen Prozessen bewusst wahrzunehmen und sein Verhalten dadurch zu steuern. Aus Mangel an Bewusstsein agiert er seine Emotionen und Impulse einfach direkt aus. Er besitzt nicht seine Emotionen, seine Emotionen besitzen ihn. Durch die Einführung einer vorgestellten dritten Person im Therapieraum, die objektiv bezeugt, wie er sich in diesem Moment ausgehend von seiner Mimik und Stimmmodulation tatsächlich fühlt, wird seine Fähigkeit gefördert, sich als denjenigen sehen zu lernen, der gerade ein Gefühl erlebt, anstatt die aus der Emotion (z. B. Wut oder Frustration) angetriebene Handlung (z. B. beleidigendes oder aggressives Verhalten) auszuagieren. Albert Pesso (2005) nennt diesen Teil der exekutiven Funktionen des Gehirns Pilot. Die Entwicklung des Piloten eines Kindes bildet die Voraussetzung für Selbstkontrolle und Selbststeuerung. Durch die dargestellte therapeutische Intervention wird der Pilot des Kindes gefördert und darin unterstützt, die inneren Prozesse als solche mit Abstand objektiv zu erkennen und richtig zu benennen. In einem späteren Teil des Gespräches kommen wir auf die gesamte häusliche Situation zu sprechen: Th.: »Und wie ist es sonst zu Hause für dich? Wie ist die Atmosphäre, die Stimmung zu Hause?« K.: »Manchmal gut, manchmal nicht gut.« Th.: »Wovon hängt das ab?« K.: »Keine Ahnung. Mein Vater schreit mich immer an.« Th.: »Ja? Wie ist es, wenn du daran denkst? Wie ist es, wenn dein Vater dich anschreit?«

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K.: »Dann hasse ich ihn in dem Moment.« Th.: »Das macht dich zornig. Ist das so?« K.: »Ja.« Th.: »Dann könnte jemand, der dir und mir hilft zu benennen, wie du dich fühlst, sagen (Th. zeigt wieder mit seiner Hand seitlich neben sich, als sei dort eine weitere Person, leiht dieser Person seine Stimme und lässt sie sagen): ›Ich sehe, wie zornig es dich macht und zutiefst wütend, wenn du daran denkst, wie es für dich ist, wenn dein Vater dich anschreit.‹«

Auch in dieser Intervention geht es erneut darum, die Pilotfunktion Marvins zu stärken, um ihm zu helfen, sich mit seinen Emotionen bewusst sehen zu lernen, anstatt sie einfach nur zu erleben. Sie bereitet in dieser Sequenz aber zusätzlich einen weiteren Interventionsschritt vor: K.: »Ja.« Th.: »Was sagt er dann zum Beispiel?« K.: »Keine Ahnung. Der schreit mich voll laut an. Der schreit dann voll in der Wohnung herum. Deswegen streiten wir uns dann immer.« Th.: »Ja?« K.: »Fast immer schon.« Th.: »Dann klappt das nicht so gut zwischen deinem Vater und dir? Ist das richtig? Es ist nicht so, wie du es dir wünscht?« (Marvin nickt)

Marvin reagiert auf das Verhalten seines Vaters selbst mit Ablehnung und Hass. Es liegt nahe, dass seine Bedürfnisse zum Beispiel nach Schutz oder Unterstützung durch den Vater nicht berücksichtigt werden und er sich seinerseits respektlos behandelt und herabgewürdigt fühlt. Anstatt Freude, Wärme, Liebe oder Dankbarkeit in Verbindung mit ihm zu spüren, verbindet er selbst mit seinem Vater eigene Ablehnung, Entfremdung und Hass und wendet sich frustriert von ihm ab. Dies ist ein sehr wichtiger Moment für die Therapie. Die innere Abkehr eines Kindes von den eigenen Eltern stellt eine bedrohliche Entwicklung dar. Das Kind reagiert damit im Sinne einer Copingstrategie, um sich aus einem Dilemma selbst befreien zu können. Das Dilemma des Kindes besteht darin, dass es die Zuwendung seiner Eltern braucht, selbst aber nicht die Kontrolle darüber hat. Wiederkehrende Enttäuschungen lösen Trauer, Wut, Schmerz, Frustration oder Entfremdung aus und veranlassen das Kind, sich von Erwartungen in Bezug auf die Eltern zu distanzieren, um sich vor Enttäuschungen selbst zu schützen. Die notwendig erscheinende Distanzierung gelingt leichter, indem das Kind

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die eigenen Eltern entwertet und sie durch Respektlosigkeit die eigene Verachtung spüren lässt. Kinder erfinden zudem häufig aus sich selbst heraus innere verständnisvolle ideale Figuren, zum Beispiel eine innere ideale Mutter oder einen inneren idealen Vater. Fantasierte Elternfiguren also, die anders mit ihnen umgehen würden. Anstatt auf reale Erwachsene zu vertrauen, haben diese Kinder gelernt, nur auf sich selbst und die eigenen oft überschätzten Fähigkeiten zu bauen. Sie treten betont unabhängig und omnipotent auf. Mit Omnipotenz ist die innere Konstellation gemeint, die entsteht, wenn Kinder oder Jugendliche das Vertrauen in und den Respekt vor anderen Menschen verloren haben und sich selbst für die einzige kompetente Person halten. Sie vertrauen niemandem und setzen nur noch auf die eigene Stärke. Sie sind um Autarkie bemüht und signalisieren zu allen Seiten hin, dass sie niemanden brauchen und auch trotz bestehender Schwierigkeiten, wie zum Beispiel in Form von selbstverletzendem oder aggressivem Verhalten, keine Hilfe annehmen wollen. Die Abwehr des Kindes gegenüber eigenen Bedürfnissen nach elterlicher Zuwendung kann also die Entwicklung eines Omnipotenzerlebens des Kindes befeuern. Aus diesem Grund wird nun in der Therapie immer wieder darauf abgezielt, zusammen mit dem Kind brandneue kompetente Bezugspersonen zu erfinden, die mit dem Kind in einer Weise umgehen würden, dass es sich verstanden fühlt und eine Befriedigung seiner Bedürfnisse erfährt. Leitend ist hierbei die Tatsache, dass Menschen für eine neue Erfahrung nicht auf eine veränderte Wirklichkeit angewiesen sind, sondern dass ein glaubwürdiges Bild einer Wirklichkeit ausreicht, um in einem Augenblick eine gefühlte neue Erfahrung zu machen. Dadurch wird das Vertrauen des Kindes in die Kompetenz anderer wieder aufgebaut. Das Kind kann sich seinen Bedürfnissen gegenüber wieder öffnen und Omnipotenz wird durch erlebte Kompetenz anderer wieder abgebaut. Hier könnte sich die Frage stellen, ob es denn richtig wäre, die Wünsche, Anliegen und Bedürfnisse eines Kindes ernst zu nehmen und zu erfüllen, oder ob es nicht im Gegenteil die Entwicklung von Autonomie fördern würde, wenn das Kind selbst herausgefordert bliebe, eine Lösung zu finden. Diese Möglichkeit wird dem Kind jedoch durch diese Intervention nicht genommen, im Gegenteil. Frustration wirkt zumeist lähmend und entmutigend. Das Erleben einer passgerechten Reaktion einer Bezugsperson, wie sie im Folgenden aufgezeigt wird, ruft im Kind stattdessen Glücksgefühle und Zuversicht hervor. Es fühlt sich in seiner Selbstwirksamkeit bestätigt. Die Berücksichtigung und Erfüllung der Bedürfnisse durch die Eltern vermindert Stress, ermöglicht Entspannung und gibt ein Gefühl der Sicherheit. Dies ist eine stabile Basis, um zu lernen, Pro-

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bleme selber zu lösen. Es kommt auf die Reihenfolge an. Zunächst helfen die anderen, bevor das Kind lernt, Dinge allein zu bewältigen. Th.: »Wie würde das sein, wenn es so wäre, wie du es dir wünscht. Wie wäre das richtig?« K.: »Wenn er nicht so oft schreien würde.« Th.: »Dann?« K.: »Dann wäre es besser.« Th.: »Dann wäre es besser für dich. Das wäre es, wie es richtig wäre oder wie ein Vater das richtig machen würde, wie du dir vorstellt, wie ein Vater sein muss?« K.: »Ja.« Th.: »Wenn wir uns so einen Vater hier vorstellen, würde er sagen (Th. leiht dem vorgestellten Vater seine Stimme und weist mit den Fingerspitzen seiner Hand auf eine Stelle im Raum, direkt neben Marvin, wo sich dieser vorgestellte Vater befinden soll und sagt dann): ›Wenn ich dein Vater wäre, dann würde ich nicht so viel rumschreien zu Hause.‹« Th.: »Ist das richtig?« K.: »Ja.« Th. (lässt den vorgestellten Vater zu Marvin ergänzend sagen): »Und es wäre auch nicht so laut in der Wohnung.« K.: »Ja.« Th.: »Wie fühlt sich das an, wenn du dir das vorstellst? Ich meine, wenn du einen Vater hättest, der dich nicht so oft anschreien würde?« K.: »Ich würde es besser finden.« Th.: »Du fändest es besser. Fühlst du dich erleichtert dann? Froher oder …?« K.: »Froher.«

Auf diese Weise können neue Vorstellungen im Kind angeregt und neue Erfahrungen verankert werden. Man könnte auch sagen, es werden neue Verknüpfungen im Geist des Kindes ermöglicht und zwar an solchen Stellen, an denen bis dahin Frustration erfahren wurde und die Notwendigkeit von Notfallplänen bestand. Wir wenden uns nun noch einem weiteren Ausschnitt der Sitzung zu, in dem es um die schulische Situation geht und darum, dass Marvin sich diesbezüglich von seiner Mutter im Stich gelassen fühlt: K. (zornig und aufgewühlt): »Die [Klassenlehrerin] regt mich voll auf, keine Ahnung. Die ist voll behindert. Ich mache gar nichts. Ich bin vor der Klasse und dann sagt sie, ›Marvin, setz dein Käppi ab‹, obwohl ich noch nicht im Klassenraum bin. Dann sage ich ›okay‹, setze ich mein Käppi ab. Ich sitze an einem Ein-

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zeltisch und neben mir ist noch ein Stuhl frei, dann lege ich das Käppi da drauf und nicht in meine Tasche, weil da kein Platz mehr ist. Dann kommt sie, nimmt sie mir weg und kassiert sie ein. Dann verknickt sie sie. Und wenn das noch einmal passiert, dann, hat sie gesagt, wirft sie sie in den Müll. Das darf sie gar nicht.« Th.: »Sie überschreitet deine Grenzen.« K. (wütend): »Die ist voll behindert.« Th.: »Wie böse du auf sie bist, wie ungerecht behandelt du dich fühlst und benachteiligt.« K.: »Ja.« Th.: »Eine ideale, nette Lehrerin würde sagen (Th. weist erneut mit seiner Hand in Richtung der vorgestellten netten Lehrerin): ›Wenn ich deine ideale Lehrerin wäre, dann wäre ich nett zu dir. Dann hätte ich nichts gegen dich.‹ Wie fühlt sich das an, mit so einer netten Lehrerin?« K.: »Mit der neuen Lehrerin?« Th.: »Mit so einer vorgestellten, netten Lehrerin.« K.: »Die wäre besser. Ich mag sowieso keine Lehrer, aber die wäre besser.« K.: »Ich kriege meinen Finger nicht wieder raus.« (er hat seinen kleinen Finger in seine Turnschuhe verdreht) Th.: »Dann würde sie sagen: ›Dann wäre ich gerecht und fair und würde dich mit Respekt behandeln und dich nicht anschreien.‹« K. (entspannt und ruhiger): »Das würde ich besser finden.« Th.: »Hast du das schon mal mit deinen Eltern besprochen?« K.: »Wie?« Th.: »Wie schlecht es läuft in der Schule für dich mit Frau X.« K.: »Ja.« Th.: »Und was haben sie gesagt?« K. (achselzuckend, mit leiser, resignativer Stimme): »Meine Mutter? Die sagt dazu fast gar nichts.« Th.: »Ist das so?« K.: »Ja.« Th.: »Bist du enttäuscht darüber?« K.: »Ja.« Th.: »Dass sie gar nichts sagt.« K.: »Die Lehrerin erzählt auch immer voll die Lügengeschichten. Ich weiß auch nicht, wieso. Die lügt.« Th.: »Fühlst du dich dann im Stich gelassen von deiner Mutter oder unverstanden?« K. (sachlich, mit leichter Verbitterung in der Stimme): »Wenn sie der Lehrerin glaubt, dann soll sie der glauben. Ist ja ihre Entscheidung.«

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Th.: »Ja, aber dann fühlst du dich doch nicht gerade gut verteidigt oder beschützt. Ist das so?« K.: »Ja.« Th.: »Wie sollte eine Mutter das richtig machen?« K.: »Dem Kind glauben.« Th.: »Eine ideale Mutter, wenn wir sie uns hier vorstellen würden und ich ihr meine Stimme gebe, dann würde sie sagen: ›Wenn ich deine Mutter wäre, dann würde ich dem Kind glauben und nicht der Lehrerin.‹« K.: »Ja.« Th.: »Wie ist das?« K.: »Das wäre besser.« Th.: »Ja? Besser wie?« K.: »Ich würde es besser finden und mir würde es dann besser gehen.« Th.: »Ist das so? Wie sehr du es vermisst. Ist das richtig? Eine Mutter zu haben, die dir glaubt und nicht der Lehrerin.« K.: »Schon.« Th.: »Ich glaube, das verletzt dich auch, wenn du das Gefühl hast, dass sie dir nicht glaubt, aber der Lehrerin.« K.: »Ja.« Th.: »Die ideale Mutter würde sagen: ›Wenn ich deine Mutter wäre, würde ich dir glauben und nicht der Lehrerin.‹« (Marvin nickt zustimmend) Th.: »Jemand, der sieht, was du fühlst, könnte sagen: ›Ich sehe, wie einverstanden du bist, wie richtig das ist.‹ Was würde sie noch machen?« K.: »Die Mutter?« Th.: »Ja.« K.: »Nichts.« Th.: »Einfach nur dir glauben und nicht der Lehrerin?« (Marvin nickt erneut) Th.: »Würde das viel ändern für dich?« K.: »Ja.« Th.: »Was wäre denn der Unterschied für dich, wenn du eine Mama hättest, die dir glaubt und nicht der Lehrerin?« K.: »Dann … keine Ahnung.« Th.: »Weißt du, was ich mir vorstelle, was dann anders wäre?« K.: »Was?« Th.: »Wenn du eine Mutter hättest, eine solche nette Mutter, ideale Mutter, die dir sagen würde: ›Wenn ich deine Mama wäre, würde ich dir glauben und nicht der Lehrerin‹, dann könntest du dich bei dieser Mama fallen lassen, zeigen, wie es dir geht. Verstehst du?« K. (nach kurzer Pause nachdenklich): »Ja. Das verstehe ich jetzt.«

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Th.: »Sie würde sagen: ›Wenn ich deine Mama wäre, würde ich dir glauben und nicht der Lehrerin und du könntest dich bei mir fallen lassen und mir vertrauen.‹ Und das, stelle ich mir vor, ist etwas, was du zu wenig hast.« K.: »Ja.« Th.: »Siehst du das auch so?« K. (berührt): »Ja.« Th.: »Wenn jemand da wäre, der sieht, was du fühlst, könnte er jetzt vielleicht sagen: ›Ich sehe, wie traurig du bist, wenn du fühlst, wie sehr du es vermisst, jemanden zu haben, der dir glaubt und dem du vertrauen kannst.‹ Ist das richtig?« (Marvin schaut mit gesenktem Kopf vor sich auf den Boden und beginnt leise zu schluchzen – Pause) Th.: »Es ist Trauer in dir, wenn du fühlst, wie groß das ist, was dir fehlt. (Pause) Ist das richtig so?« K.: »Ja.« Th.: »Und so bist du eigentlich auf dich allein gestellt oder wie fühlst du dich?« K.: »Ja.« Th.: »Und dann versuchst du dich allein zu halten, weil du denkst, du hast nicht genügend Unterstützung, ist das so?« K.: »Ja, also für mich schon.« Th.: »Für dich ist das so, dass du nicht genügend Unterstützung hast.« K.: »Ja.« Th.: »Und du hast nicht genügend Schutz.« K.: »Warum Schutz?« Th.: »Nicht genügend Sicherheit.« K.: »Ach so. Ja.« Th.: »Oder nicht?« K.: »Doch.« Th.: »Denn das Anschreien ist ja auch erniedrigend oder herabwürdigend.« K.: »Ja.« Th.: »Aber du fühlst mehr den Mangel an Unterstützung, ist das so?« K.: »Ja.« Th.: »Und das Gefühl der Unterstützung kommt, wenn du dir eine Mutter vorstellst, die dir glaubt. Ist das richtig?« K.: »Ja.« Th.: »Dann würde sie sagen (Th. weist erneut mit seiner Hand auf die Stelle im Raum, an der sie sich gemeinsam diese Mutter vorstellen): ›Wenn ich deine Mutter wäre, dann würde ich dir glauben und nicht der Lehrerin, und du könntest dich von mir unterstützt fühlen, so wie jetzt.‹« K.: »Das wäre dann besser als so, wie es jetzt ist.«

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Th.: »Wenn du diese Vorstellung weiterführst, wie würdest du dich dann fühlen?« K.: »Gut.« M. (nachdenklich): »Klar, ich müsste dazu etwas sagen, obwohl ich im Grunde genommen immer auf seiner Seite bin. Ich bin immer auf deiner Seite, Marvin, ich bin immer auf deiner Seite. Du kannst mir alles sagen und du sagst es mir ja auch oft. Aber manchmal gibt es solche Situationen, dass …« Th.: »Fühlen Sie sich auf seiner Seite?« M.: »Ich fühle mich immer auf seiner Seite.« Th.: »Fühlst du das immer, Marvin?« (Marvin schüttelt heftig den Kopf) Th.: »Das ist der Unterschied. (Marvin weint) Ich denke, du brauchst jetzt jemanden an deiner Seite, ist das richtig, Marvin?« Th. (zur Mutter gewandt): »Möchten Sie einen Moment an seine Seite gehen, damit er Sie spüren kann? (zu Marvin gewandt) Ist das okay für dich, Marvin?« (Marvin nickt) Th.: »Zeig du ihr mal bitte, wie du sie brauchst. Wie soll sie näher kommen? (Mutter steht auf und geht auf ihn zu) Ist das okay Marvin? Soll sie dich in den Arm nehmen und trösten? (zur Mutter gewandt) Versuchen Sie mal.« Th.: »Lehn dich ganz an, mit dem ganzen Gewicht.« Th.: »Wie ist das jetzt?« K.: »Besser.« Th.: »Besser im Sinne von beruhigt oder erleichtert?« K.: »Beruhigt.« Th.: »Ich denke, sie sollte dir mehr das Gefühl geben, auf deiner Seite zu stehen und dich zu unterstützen? Ist das richtig?« K.: »Ja.« Th.: »Ich möchte deiner Mutter noch was sagen. Bleiben Sie so. Ich denke, Sie glauben, dass Sie ihn unterstützen und dass Sie auf seiner Seite stehen, aber er fühlt es nicht so.« M.: »Das habe ich jetzt deutlich gehört von ihm.« (Marvin beginnt heftig zu weinen) Th.: »Das berührt dich so tief, ist das richtig?« K.: »Ja.« Th.: »Wie berührt du bist, dass Mama das jetzt gehört hat, dass du dich nicht unterstützt fühlst.« Th.: »Halten Sie ihn fest. Mama muss dich festhalten? Ist das gut, wenn sie dich fest und kräftig hält?« K.: »Ja.« Th.: »Wie ist die Aussicht, wenn deine Mutter versucht, dich mehr fühlen zu lassen, dass sie auf deiner Seite steht, so wie jetzt, und dass sie dich unterstützen möchte. Wie wäre das für dich?«

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K.: »Besser.« Th.: »Das wäre gut für dich oder etwas, dass du brauchst.« K.: »Ja.« Th.: »Dann würde jemand sagen können, der sieht, was du fühlst: ›Ich sehe, wie sicher du dir bist, dass es das ist, was du brauchst. Diese Form der Unterstützung.‹ Haben Sie das verstanden und fühlen Sie das auch?« M.: »Ja, ich habe das verstanden. In letzter Zeit war auch viel Stress. Es kommt alles zusammen, die Schule und alles drum und dran und irgendwann ist das so eingespielt in der Familie.« Th.: »Sie bedauern das, ist das so?« M.: »Ja.« Th.: »Wie wäre es, wenn Sie ihm das noch einmal sagen, dass es auch wirklich viel Stress war und Sie bedauern, was passiert ist. Schauen Sie ihm in die Augen.« M. (schaut Marvin an und sagt mit weicher Stimme zu ihm): »Es war viel Stress in letzter Zeit. Es war nicht einfach mit der Schule und zu Hause und ich bedauere das sehr. Ich werde in Zukunft mehr hinhören und dir mehr Sicherheit geben. (leise, mit zärtlicher Stimme) Ich bin immer auf deiner Seite. Du kannst mir alles erzählen, alles.« K.: »Ja.« Th.: »Spürst du, dass sie das anders jetzt meint? Spürst du den Unterschied? Oder denkst du, es ist so wie vorher?« K.: »Nein.« Th.: »Es ist ein bisschen anders jetzt.« K.: »Ja.« Th.: »Bleiben Sie da, halten Sie ihn fest. Ist das gut?« (Marvin nickt zustimmend)

Die Mutter wischt ihm mit den Fingern vorsichtig und zärtlich seine Tränen von den Wangen und küsst ihn anschließend auf die Wange. Marvin freut sich, beide Gesichter befinden sich dicht nebeneinander, beide lächeln zufrieden und erleichtert. Sie geben das Signal, dass sie fertig sind für heute.

Kommentar und abschließende Bemerkungen In dieser Sitzung konnten die Grundlagen für eine zugewandte Beziehung zwischen Marvin und seiner Mutter neu gelegt werden. Bei einer Kontrollsitzung nach sechs Wochen berichtete die Mutter, dass es zu keiner Respektlosigkeit Marvins ihr gegenüber mehr gekommen sei. Stattdessen gab es seit langer Zeit

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Wo bleibt das Kind beim Elterncoaching?

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wieder entspannte und schöne Momente miteinander. Die Behandlung wurde unter Einbeziehung des Vaters und der Schule fortgesetzt. Omnipotentes herausforderndes Verhalten von Kindern und Jugendlichen entpuppt sich häufig auch als Resultat von Vernachlässigung kindlicher Entwicklungsbedürfnisse. Kinder wünschen sich von ihren Eltern, für sie wichtig zu sein, sich bei ihnen zu Hause zu fühlen, sie wünschen sich Lob und Anerkennung für ihre Anstrengungen, Unterstützung bei der Lösung von Problemen, Schutz vor Gefahren und ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Nicht zuletzt wünschen sie sich auch liebevolle Grenzen. All diese Bedürfnisse werden in Interaktionen gestillt. Bleiben diese aus oder werden Signale, die auf Bedürfnisse des Kindes oder Jugendlichen hinweisen, mit Regelmäßigkeit übergangen, sei es wegen Zeitmangels oder aus anderen Gründen, dann fühlt sich das Kind mit seiner Bedürftigkeit nicht gesehen und reagiert frustriert und enttäuscht. Anstatt sich diesen Erfahrungen dauerhaft auszusetzen, versucht es oft, sich hart zu machen und sich gegenüber der eigenen Bedürftigkeit zu verschließen. Das Kind rettet sich in Selbst-Selbst-Interaktionen, um Autarkie zu erlangen. Negative Prinzipien wie zum Beispiel die der Ignoranz, der Überforderung oder der Inkompetenz können von den Eltern auf andere Personen übertragen werden. Das Gegenüber ist von vornherein durch die eigene Lern- und Lebensgeschichte entwertet. Genauso können sich diejenigen fühlen, die ihnen begegnen und sich folglich mit Skepsis oder Ablehnung konfrontiert sehen. Somit scheint es bedeutsam zu sein, die Perspektive des Kindes neben die der Eltern zu stellen, auch um somit dem Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen Rechnung zu tragen.

Literatur Edelman, G. M., Tononi, G. (2000). A universe of consciousness: How matter becomes imagination. New York: Basic Books. Pesso, A. (2005). Die Bühnen des Bewusstseins. In S. Sulz, L. Schrenker, C. Schricker (Hrsg.), Die Psychotherapie entdeckt den Körper (S. 303–314). München: CIP-Medien.

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Claudia Terrahe-Hecking und Stephan Theiling

Elterncoaching – und was ist mit den Geschwistern?

Vorbemerkungen Systemisches Elterncoaching hat sich in der deutschsprachigen Fachwelt in den letzten Jahren etabliert (Omer u. von Schlippe, 2005, 2010; von Schlippe u. Grabbe, 2007). Das Konzept dient zum Wohl vieler Familien, zur Entlastung der Eltern und auch vieler Helfersysteme, die damit über ein wirksames Instrument der Deeskalation in familiären Systemen verfügen. Die Perspektive »Geschwister« scheint bisher nur wenig Beachtung in diesem Kontext gefunden zu haben. Auch im weiteren Umfeld von Beratung, Therapie und Pädagogik bestätigt sich, dass das mögliche Potenzial, das die Perspektiven der Geschwisterkinder beinhaltet, nicht genutzt wird. Helmut Kasten (2003, S. 13) stellt fest: »Erstaunlicherweise haben Geschwister in den Sozialund Humanwissenschaften der Neuzeit als Forschungsthema lange Jahrzehnte kaum eine Rolle gespielt.« Das erstaunt, müssten doch aus systemischer Perspektive bei der Entwicklung von Konfliktmustern bzw. von Lösungen alle Systembeteiligten, das heißt auch die Geschwistersichtweisen beteiligt werden. Diese Perspektive bildet im deutschsprachigen Elterncoachingbereich noch einen »blinden Fleck«. Von daher stellen sich Fragen wie: –– Welche Rolle spielen Geschwister bei der Entstehung von Eskalationsdynamiken, dem Umgang mit diesen Mustern und der Lösung familiärer Konflikte? –– Gibt es besondere Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Entwicklung von Kindern bzw. Jugendlichen, wenn die Geschwister mehr einbezogen würden? –– Wie kann diese Perspektive in den unterschiedlichen psychosozialen sowie medizinischen und pädagogischen Arbeitsfeldern besser genutzt werden? Dieser Perspektive soll eine besondere Aufmerksamkeit gegeben werden, um sie im Elterncoaching bzw. im Eltern- und Geschwistercoaching nutzbar zu machen. Ein weiterführendes Anliegen besteht darin, perspektivisch für diesen

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Elterncoaching – und was ist mit den Geschwistern?

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Gegenstandsbereich spezielle Fragestellungen und Methoden zu entwickeln, die vermehrt auch die Geschwister einbeziehen.

Der Einfluss der Geschwister und anderer Kinder Der Einfluss der Geschwister auf die Entwicklung von sozialer und emotionaler Kompetenz muss als groß eingeschätzt werden. Bereits in der Vorschulzeit verbringen Kinder in einer Familie mehr Zeit miteinander als mit den Eltern. Schwestern verbringen schon im Alter von drei bis fünf Jahren mehr als doppelt so viel Zeit mit ihren Geschwistern als mit den Eltern und passen sich dabei dem Sprachstil der jüngeren an. Geschwister mit geringerem Altersabstand entwickeln eine größere Intimität und zeigen geringere Statusunterschiede als Geschwister mit einem größeren Abstand (Onnen-Isemann u. Rösch, 2006). Auch wenn es aufgrund des Geburtenrückgangs insgesamt weniger Geschwister gibt, das heißt viele Kinder ohne Geschwister oder nur mit einem Geschwister zusammen groß werden, gehen diese viel früher in Horte, Tagesgruppen usw. und kommen somit früh und dicht mit vielen anderen Kindern zusammen. Dabei lernen sie, Konflikte untereinander zu lösen, und zwar besser, als wenn die Eltern anwesend sind. Ältere Geschwister (bzw. Kinder) nehmen eine Pionier- und Vorbildfunktion für die jüngeren Geschwister ein. Das Lernen am Modell und in Rollenspielen entwickelt sich am besten unter Gleichaltrigen. Insgesamt ermöglicht das Aufwachsen mit Geschwistern den Kindern eine Vielfalt an Bindungs- und Kommunikationserfahrungen, auf die sie in späteren Jahren zurückgreifen können. Sicherlich haben Eltern einen Einfluss darauf, wie sich ihre Kinder bzw. Jugendlichen verhalten. Das gilt jedoch auch umgekehrt: Kinder bzw. Jugendliche haben einen Einfluss darauf, wie sich Eltern verhalten. Damit haben Geschwister, insbesondere die älteren, in familiären Konflikten einen großen Einfluss auf das Verhalten der Eltern gegenüber dem als schwierig erlebten Kind. Wiederum übernehmen Geschwister auch füreinander wichtige Sozialisierungsfunktionen. Loyalität und eigene Ansprüche können abgeglichen, Nähe und Distanz kann geübt werden. Geschwister sind eine Ressource und stärken sich untereinander wie auch gegenüber den Eltern.

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Claudia Terrahe-Hecking und Stephan Theiling

Grundlegende Überlegungen zu Geschwistern Nachfolgend sollen hier allgemeine und grundsätzliche Überlegungen zu Geschwisterbeziehungen zusammengefasst werden: –– Die Geschwisterbeziehung ist die oftmals am längsten bestehende Beziehung im Leben. Sie besteht ab dem Zeitpunkt der Geburt bis zum Tod. Wahrscheinlich gehört – neben der Beziehung zu Vater und Mutter – die Position in der Geschwisterreihe zu den prägendsten Einflüsse auf unser Leben. Geschwisterbeziehungen sind in unterschiedlichen Phasen unseres Lebens mehr oder minder intensiv. Geschwister spielen zeitlebens eine wichtige Rolle in positiver und negativer Hinsicht. Damit ist nichts über die Qualität der Beziehung gesagt. Typisch für die meisten Geschwisterbeziehungen ist eine tief wurzelnde emotionale Ambivalenz, die oft erst im hohen Alter beigelegt werden kann. Die Beziehung überdauert den Tod der Eltern und reicht bis zum eigenen Tod oder dem von Bruder oder Schwester. Geschwisterbeziehungen kann man sich nicht aussuchen. In Geschwisterbeziehungen wird man hineingeboren. Das bedeutet, man kann sich weder seine Geschwister auswählen noch kann man die Position in der Geschwisterreihe bestimmen. Daher sprechen manche auch von Schicksals- bzw. Zwangsgemeinschaften. –– Geschwisterbeziehungen wirken fort, unabhängig von Art und Intensität der tatsächlich gelebten Beziehung. Haben sich Geschwister getrennt, leben sie in ganz unterschiedlichen Orten und/oder Kontexten, haben sich nichts zu sagen, sind möglicherweise sogar zerstritten, so ändert das letztlich nichts an dem Fakt ihrer Geschwisterlichkeit. Diese entfaltet ihre Wirkung allein aus der gemeinsamen Erfahrung und aus dem Wissen von der Existenz der Geschwister. –– Die Geschwisterposition hat Einfluss auf die Meinungsbildung der anderen Geschwister. Das ist zunächst unabhängig davon, ob das Geschwister älter oder jünger ist. So folgt häufig das jüngere Geschwister den Erfahrungen und Meinungen des älteren Bruders oder der älteren Schwester oder der Ältere versucht oft aus Fürsorge gegenüber dem jüngeren Geschwister, ihn oder sie vom vermeintlich schlechten Tun abzuhalten. Aber auch die gegenteilige Perspektive ist denkbar: Zur Betonung von Autonomie und Individualität mag auch das Einnehmen genau der Gegenhaltung den Geschwistern gegenüber dazu dienen, das eigene Profil zu schärfen. –– Geschwister können untereinander ein Höchstmaß an gemeinsamer Intimität erleben. Diese mögliche Exklusivität kann unter Umständen in dieser Art in keiner anderen Beziehung im Leben so erfahren werden. Geschwister unter-

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Elterncoaching – und was ist mit den Geschwistern?

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einander kennen sich sehr gut und wissen oftmals sehr differenziert um die Vorlieben und Neigungen des anderen. Die einzelnen Rollen in der Geschwisterreihe (wir sprechen nachfolgend auch von »Jobs«) werden unterschiedlich von den Geschwistern besetzt. So ermöglicht die Besetzung der Rolle des »Verantwortung Tragenden« durch den einen möglicherweise die »Ergreifung« des Jobs des »kreativen Clowns« durch den anderen. Oder »die Fleißige, Strebsame« macht mit der Besetzung ihrer Rolle Platz für diejenige, die sich Zeit nimmt und sich Umwege in Entwicklung und Ausbildung erlaubt. Rollen und Jobs können sehr vielfältig sein, zum Beispiel schwarzes Schaf, Retter, Kaputtmacher, Sonnenschein, Terrorist, Star. Interessant erscheinen uns in diesem Zusammenhang die Dynamiken, die sich entwickeln können, bezogen darauf, wer welchen Job in der Familie ausfüllt, welche Rollen noch zu besetzen sind bzw. wie die einzelnen Geschwister um die Rollen in der Familie rivalisieren. In der westlichen Kultur gibt es keine gesellschaftlichen Rituale zum Ablauf und der Gestaltung von Geschwisterbeziehungen. Das bedeutet für jede Familie, dass sie »neues Land« betritt, das gilt sowohl für die Eltern als auch für die heranwachsenden Kinder bzw. Jugendlichen, unabhängig davon, ob sie als Einzelkinder oder mit Geschwistern aufwachsen. In anderen Kulturen nimmt beispielsweise der erstgeborene Sohn eine herausgehobene Rolle und Aufgabe ein und es gibt Rollenzuweisungen der Brüder gegenüber den Schwestern. Er scheint Zusammenhänge zwischen Geschwisterkonstellation und Partnerwahl zu geben. Die sogenannte Verdoppelungs- oder Duplikationstheorie besagt, dass die Erfahrungen in der Geschwisterkonstellation einen sehr großen Einfluss auf die Gestaltung von Beziehungen in späteren Lebensjahren haben und die (Partnerschaft) umso glücklicher und dauerhafter wird, je ähnlicher sie früheren und frühesten intrafamiliären sozialen Beziehungen der Beteiligten entspricht (Kasten, 2003). Geschwister lernen schon sehr früh, untereinander solidarisch zu sein. Diese Verbundenheit ermöglicht auch, miteinander zu streiten und in Verbindung zu bleiben. Sie unterstützen sich trotz aller Rivalitäten, besonders gegenüber Dritten, die außerhalb der Familie stehen. Von daher bieten Geschwisterkonstellationen einen wertvollen Erfahrungsraum zur Entwicklung sozialer Kompetenzen. Vor- und Nachteile eines »Schattenkind«-Daseins: Im Kontext besonderer familiärer Belastungen wie zum Beispiel bei chronischer körperlicher Erkrankung, wegen der ein Kind sehr in den elterlichen Fokus gerät, werden die nicht so im Fokus stehenden Geschwisterkinder mit dem Begriff »Schatten-

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kinder« belegt (Kaiser, 1989). Das kann dazu führen, dass durch die elterliche Sorge um das einzelne Kind die übrigen Kinder im Schatten der elterlichen Aufmerksamkeit stehen. Diese befinden sich dann in einem Dilemma: Kämpfen sie um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern und nehmen sie möglicherweise dem kranken Geschwisterkind die dringender benötigte Aufmerksamkeit? Oder tun sie dies gerade nicht und müssen dann häufig das Ungleichgewicht erleben und den Mangel der elterlichen Aufmerksamkeit und Fürsorge spüren? Aber: Lässt es sich nicht ganz gut, vielleicht sogar besser am Rande der Familien, nicht so im elterlichen Fokus stehend, leben? Welche Rolle, welcher Job, welches Muster ist hier vor- bzw. nachteilig? Möglicherweise lässt dies ja auch eine Entwicklung zu, die unter anderen Bedingungen nicht möglich wäre. Nicht alles, was zunächst als Benachteiligung erscheint, muss auch negative Auswirkungen haben. –– Der elterliche Mythos »Wir haben euch alle gleich lieb« birgt Risiken und Nebenwirkungen. Kinder wollen einen Unterschied erleben: Ich bin die Ältere, du bist der Jüngere, der von den Eltern auch geachtet wird. Altersunterschiede können einen häufig unterschätzten, wenn nicht gar übersehenen, aber erheblichen Unterschied ausmachen. Hier geht es um den Aspekt, wie Eltern mit der »Unterschiedlichkeit« bzw. »Individualität« ihrer Kinder umgehen und hier sind insbesondere auch Altersunterschiede gemeint. Als Hypothese kann gelten: Eltern negieren der Einfachheit halber vielfach Altersunterschiede, insbesondere, je geringer diese sind, und begünstigen somit Muster zum Teil extrem ausgelebter Geschwisterrivalitäten, wo diese es dann übernehmen, vehement für Unterschiede zu sorgen. Bedeutsam können hier zum Beispiel Fragen danach sein, welches Kind in welchem Alter wann ins Bett geht, wer wie lange und was im Fernsehen sehen darf, wer welche kleinen Aufgaben in der Familie hat und wie viel Taschengeld bekommt. Wir erleben es immer wieder, dass es hier kaum Abstufungen bei den Eltern gibt, obwohl die Kinder eigentlich einen zwei- bis vierjährigen Altersunterschied aufweisen. –– Familiäre Eskalationsmuster hinterlassen auch ihre Spuren bei den Geschwistern. Das Erleben von elterlicher Hilflosigkeit kann bei Eskalationsdynamiken einen nachhaltigen Eindruck bei den Geschwisterkindern hinterlassen. Insbesondere vermuten wir eine starke Wirkung auf das jüngere Geschwisterkind, wenn die »Großen«, also die Eltern und das ältere Geschwisterkind, in dieser Konflikt- und Hilflosigkeitsdynamik »gefangen« sind. Weitere mögliche Muster können hier eine »good guy/bad guy«-Jobaufteilung in der Geschwisterkonstellation oder Triangulationen der Geschwister in die Eltern-»Problemkind«-Trias sein.

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Elterncoaching – und was ist mit den Geschwistern?

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–– Die Bedeutung der Geschwisterstimmen: Die Meinung der (insbesondere älteren) Geschwister zu den unterschiedlichsten Dingen im Leben hat eine erhebliche Kraft hinsichtlich der Meinungs- und Identitätsentwicklung der anderen (jüngeren) Geschwisterkinder. Vielfach hat sie einen höheren Stellenwert als die Meinung der Eltern. Zu der Frage, welche Ableitungen und Umsetzungsperspektiven sich aus diesen Überlegungen ergeben, um diese im Konzept des Elterncoachings zu nutzen, gibt es bisher erst wenige Veröffentlichungen von praktischen Beratungserfahrungen. So wissen wir nicht so viel darüber, wie die Geschwister die familiären Eskalationsprozesse und die darauf folgende Beratung erleben, wie sie ihren Einfluss sowohl auf die Eltern als auch auf ihre Geschwisterkinder nutzten können, um die Situation zu entschärfen.

Was alle Kinder bzw. Jugendlichen einer Familie in eskalierten häuslichen Situationen von ihren Eltern brauchen Kinder und Jugendliche brauchen vermutlich das Gefühl, dass ihre Eltern sie trotz allem wahrnehmen und bei Ungerechtigkeiten Position beziehen. Sie wollen, dass ihre Eltern fair und gerecht sind, sowohl dem »schwierigen« Geschwisterkind als auch ihnen selbst gegenüber. Sie wollen, dass ihre Eltern darauf achten, dass die Rechte, aber auch Pflichten gerecht verteilt sind und dass die Eltern ein Auge darauf haben, ob sie auch gewährt bzw. erfüllt werden. Geschwisterkinder brauchen das Gefühl von Sicherheit, sie wollen und müssen geschützt werden. Das bedeutet für die Eltern auch, dafür zu sorgen, dass sie sich selber sicher fühlen und von der eigenen Haltung überzeugt sind. Häufig kann eine konflikthafte Situation entlastet werden, indem die Paten der Geschwisterkinder mit einbezogen werden, auch als »Übersetzer« der Gedanken und Maßnahmen, die von den Erwachsenen initiiert werden. Unabhängig davon, wann die Eskalationen stattfinden, wie stark sie sind und welchen Verlauf sie nehmen, möchten die Geschwisterkinder nicht aus dem Fokus der Eltern geraten. Sie wollen trotz allem wahrgenommen werden. Sie brauchen Ansprechpartner, um zu verstehen, was sich in der Familie abspielt. Solche Ansprechpartner können auch Unterstützer außerhalb der Familie sein. Diesem Aspekt kann in Helferkonferenzen besondere Aufmerksamkeit gegeben werden. Auch Geschwisterkinder haben das Recht auf ihre eigene Befind-

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lichkeit. Diese kann sich unterscheiden von der des Vaters oder der Mutter. Sie ernst zu nehmen in dem, was sie beschäftigt, ist wichtig. Wenn erklärt und verstanden wird, was geschieht, und sich die Eltern bzw. wichtige andere Personen um Transparenz bemühen, erhöht das die Bereitschaft, im Rahmen des Möglichen mitzuwirken. Dabei müssen die unterschiedlichen Altersstrukturen der Kinder berücksichtigt werden. Wichtig erscheint uns in diesem Zusammenhang, dass der Wunsch nach mehr Harmonie und Frieden in der Familie nicht dazu führt, dass die Kinder überfordert werden. Die Verantwortung liegt bei den Eltern, nicht bei den Kindern, zumal wenn sie noch sehr klein sind. Die Kinder wünschen sich Eltern, die aktiv werden, etwas unternehmen und ihre Verantwortung für sie sichtbar zeigen. Daher ist es sinnvoll, die Geschwisterkinder im angemessenen Maß in die Beratung einzubeziehen, damit diese die Aktivitäten der Eltern verstehen und auch außerhalb der Familie direkt miterleben können. Omer (2012) beschreibt folgende Kriterien zur Kennzeichnung von elterlicher Präsenz, die sich sehr wohl auch auf die Geschwisterkinderperspektive übertragen lassen: –– die kindliche Perspektive beachten, benennen und bestätigen; –– auf eine kindliche (Re-)Aktion warten; –– für eine gute Atmosphäre durch ein freundliches Gesicht und einen angemessenen Ton sorgen; –– eine klare Struktur herstellen. Diese Aspekte sind zwar auf das Kind ausgerichtet, dessen Verhalten als problematisch erlebt wird, können jedoch ebenso für das Geschwisterkind sowie als ein weiterer wichtiger Baustein gelten, der möglicherweise zur Stabilität beiträgt.

Geschwisterlichkeit als mögliche Ressource im Elterncoaching Diese Überlegungen legen nahe, alle Familienmitglieder in die Entwicklung einer Lösung bei konflikthaften Situationen, die sich wiederholt im familiären Kontext ereignen, einzubeziehen. Dabei sind die Sichtweisen der Geschwister zu nutzen, gerade auch wenn sie sich in ihrer Unterschiedlichkeit zeigen. Möglicherweise erweisen sie sich als eine Ressource oder zeigen Potenziale bei dem als problematisch erlebten Kind bzw. Jugendlichen auf, die den Eltern Entlastung und leichtere Zugänge zum Kind erlauben. Das ist besonders für solche

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Elterncoaching – und was ist mit den Geschwistern?

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Eltern wichtig, die ihre Einflussmöglichkeiten als gering erleben und sich in ihrer Selbstwirksamkeit beschränkt sehen. Sie erleben die Situation als hoffnungslos und entsprechend verzweifelt fragen sie nach Unterstützung. Geschwisterkinder können ein wichtiges Feedback für Eltern darstellen, die sich darüber stärker verankern und sicherer im Umgang mit ihren Kindern werden können. Die szenische Darstellung der Familie aus der Perspektive eines Geschwisterkindes kann den Blick der Eltern auf das familiäre System erweitern und das Verhalten des auffälligen Kindes in einen systemischen Zusammenhang stellen. In einer Aufstellung wurde den einzelnen Mitgliedern der Familie K. die Bedeutung und Auswirkung des Verhaltens jedes einzelnen Familienmitgliedes auf alle deutlich. Familie K. war durch das Verhalten der jüngsten Tochter (15 Jahre), die zwei ältere Geschwister (17 und 19 Jahre) hat, sehr belastet. Es wurde deutlich, wie viel Aufmerksamkeit diese Tochter durch ihr Verhalten (u. a. permanente Regelübertretungen, Schlagen und Treten der Eltern) auf sich zog und so vom schwelenden Konflikt zwischen dem Vater und dem ältesten Sohn ablenkte. Gleichzeitig wurde die Position der zweitältesten Tochter, die für ein Jahr im Ausland lebte, gestärkt. Ihr Einfluss auf ihre jüngere Schwester in der Familie konnte gesehen und im weiteren Verlauf des Elterncoaching genutzt werden. Durch Briefe, Kontakte über das Medium Skype und SMS zu unerwarteten Zeiten erhöhte sich die Einflussnahme auf die 15-Jährige und damit Jüngste in der Familie. Gleichzeitig rückten die beiden älteren Kinder in den Blick des Elternpaares, und sie konnten die Aufmerksamkeit auf diese weiten und fühlten sich durch deren Unterstützung zeitweilig entlastet. Die Geschwisterkinder rückten näher zusammen und die Eltern fühlten sich in ihrem Engagement gesehen und verstanden. Die älteren Kinder erkannten die hohe Bedeutung ihrer älteren Geschwisterposition und ihren Einfluss auf die jüngste Schwester.

Beziehungsgesten sind im Konzept des Elterncoachings wichtige Interventionen, die das familiäre Klima verbessern können. Es kann sehr sinnvoll sein, Geschwisterkinder auch bei dieser Vorgehensweise mit einzubeziehen. Dabei sollten die Eltern darauf achten, dass dies altersangemessen geschieht, um so einen Unterschied herzustellen, der keinen Raum für neue Rivalitäten entstehen lässt. Aus der Geschwisterperspektive ist abzuleiten, dass bei einem systemischen Elterncoaching möglichst alle Familienmitglieder eingeladen werden – spätestens wenn die Eltern aus der ersten Phase der Hilflosigkeit herausgetreten sind. Bereits die Einladung der Familie als Ganzes kann eine bedeutsame Intervention darstellen. Dabei kann in Anwesenheit aller zum Beispiel ein Interview mit

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den Eltern geführt werden und alle Kinder der Familie werden als reflektierendes Team genutzt. Oder man arbeitet mit der Idee des »Innen- bzw. Außenkreises«: Zuerst sitzen zum Beispiel die Erwachsenen im Innenkreis und die Kinder außen und es wird mit den Erwachsenen ein Interview geführt. Nach einiger Zeit wechseln die Eltern in den Außenkreis und die Kinder bzw. Jugendlichen setzen sich nach innen. Diese werden befragt, unter anderem zu dem, wie sie das elterliche Interview erlebt haben. Oft sind die Kinder bzw. Jugendlichen und damit auch die Geschwister genaue Beobachter des familiären Geschehens und können sehr gut benennen, was von den Eltern nicht gesagt worden ist und was aus ihrer Perspektive noch eine wichtige Ergänzung wäre. Sie können so das elterliche Bemühen um eine Lösung der angespannten Situation erleben und fühlen sich möglicherweise auch als Geschwisterkinder gesehen und wertgeschätzt: »Mama und Papa vergessen uns bei den momentanen Turbulenzen nicht und sie tun ihr Bestes, damit sich die Situation verbessern kann. Sie haben Helfer und stärken sich. Wir sind nicht allein.« Gleichwohl mögen manche Situationen auch geeignet sein, die Geschwister nicht mit einzubeziehen, zum Beispiel, wenn –– sie darüber parentifiziert werden und altersunangemessene Aufgaben und Verantwortungen übernehmen sollen; –– sie in ihren Möglichkeiten, Unterstützung geben zu können, überschätzt werden; –– es eine starke Rivalität zwischen den Geschwistern gibt. Optimismus, Zuversicht, Vernetzung, nach Alternativen suchen und Aktivität entwickeln ‒ all das sind wichtige Bausteine resilienten Verhaltens. Wenn Kinder ihre Eltern so erleben, haben sie große Chancen, solches Verhalten ebenso für sich entwickeln zu können. Das gilt auch umgekehrt. Manchmal sind Eltern sehr davon überrascht, wie ausgeprägt solche Merkmale bei den Kindern zu finden sind. Es ermutigt sie, nicht aufzugeben, kreative Lösungen zu entwickeln und darauf zu vertrauen, dass diese Zeit vorübergeht und sich Verbesserungen zeigen. Aspekte des Resilienzkonzepts (Wright, 1997) legen nahe, Geschwisterkinder aus verschiedenen Familien zusammenzubringen und sich dadurch gegenseitig zu stärken. Folgende Säulen bieten sich hierfür an: –– Optimismus, –– Akzeptanz der Situation, –– Lösungsorientierung, –– Opferrolle verlassen, –– Verantwortung übernehmen,

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Elterncoaching – und was ist mit den Geschwistern?

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–– Netzwerkorientierung, –– Zukunftsplanung. Möglicherweise fühlen sie sich so ermutigt, den Kontakt zu ihrem aktuell als schwierig erlebten Bruder bzw. zur Schwester wieder aufzunehmen und sich nicht an den Rand drängen zu lassen oder auch dazu, sich mit anderen Geschwisterkindern zu vernetzen und sich in brenzligen Situationen Unterstützung zu holen. Insgesamt spricht vieles dafür, auch die Geschwisterkinder als Ressource für ein systemisches Elterncoaching zu verstehen bzw. ihnen ein eigenes Coaching zukommen zu lassen. Das wäre in den Gesamtprozess zu integrieren. Statt Geschwister als »Schattenkinder« zu betrachten, die angepasst die Zeit durchstehen, ohne sie dabei weder in ihrer Kompetenz noch in ihrer Hilfsbedürftigkeit zu sehen, kann die Perspektive »Geschwister« als mögliches Potenzial für den Coachingprozess genutzt werden.

Literatur Kaiser, P. (1989). Familienerinnerungen – Zur Psychologie der Mehrgenerationenfamilie. Heidelberg: Asanger. Kasten, H. (2003). Geschwister. München: Reinhardt. Omer, H. (2012). Autorität und Bindung. Manuskript präsentiert auf der 5. Osnabrücker Tagung – Elterliche und Professionelle Präsenz im kulturellen Kontext der Universität Osnabrück (Fachgebiet Entwicklung und Kultur) und des IF Weinheim (Institut für systemische Ausbildung und Entwicklung). Osnabrück, 28. September 2012. Omer, H., Schlippe, A. von (2005). Autorität durch Beziehung. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2010). Stärke statt Macht. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Onnen-Isemann, C., Rösch, G. M. (2006). Schwesterherz, Schwesterschmerz – Schwestern zwischen Solidarität und Rivalität. München: MVG. Schlippe, A., von, Grabbe, M. (2007). Werkstattbuch Elterncoaching. Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Wright, H. N. (1997). Resilience. Rebounding when life’s upsets knock you down. Ann Arbor, MI: Servant Publications.

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Christian Hawellek

Mikroperspektiven elterlicher Präsenz: Beiträge der Marte-Meo-Methode zum Konzept der elterlichen Präsenz

Zwei Elterncoachingverfahren, zwei Perspektiven Dieses Kapitel stellt den Beitrag der Marte-Meo-Methode zum Konzept der elterlichen Präsenz dar. In diesem Zusammenhang nehmen die nachstehenden Überlegungen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden Elterncoachingverfahren in den Blick. Beide eint der Anspruch, Eltern bei ihrem »Job« alltagstauglich zu begleiten und praktisch zu unterstützen. Beide Konzepte verstehen ihre Arbeitsweise als nicht nur mit der systemischen Therapie vereinbar, sondern sehen sich als ein schulenübergreifendes Konzept beraterischen Handelns (Hawellek, 2011, 2012; Hawellek u. von Schlippe, 2005; Omer u. von Schlippe, 2002, 2004). Das Konzept der elterlichen Präsenz ist aus der Arbeit mit gewalttätigen Jugendlichen hervorgegangen und ist im Laufe seiner Weiterentwicklung um unterschiedliche Aspekte erweitert und vertieft worden. Besonders erwähnenswert sind die Erweiterungen in die Richtung der Skizzierung einer Psychologie der (Ent-)Dämonisierung (Omer, Alon u. von Schlippe, 2007) und die Integration entwicklungs- und bindungstheoretischer Überlegungen (Omer u. Lebowitz, 2012) sowie die sich daraus ergebenden Folgen für die Beziehungsarbeit im Alltagsleben wie in beraterischen und therapeutischen Kontexten. Die Marte-Meo-Methode wurde von Maria Aarts in den achtziger Jahren ursprünglich im Rahmen der Arbeit mit autistischen Kindern entwickelt und hat sich im Laufe der letzten dreißig Jahre in verschiedenen sozialen Arbeits- und Praxisfeldern als ein wichtiges und innovatives Werkzeug der psychosozialen Beratung, Intervention und Prävention etabliert (Aarts, 2011; Bünder, Sirringhaus-Bünder u. Helfer, 2009; Hawellek, 2005, 2012). Marte Meo (abgeleitet von »mars, martis«, lat. Kampfkraft, und »meo« für »etwas aus meiner eigenen Kraft erreichen«) stellt die Bedeutung präziser Beobachtungen und deren Präsentationen in den Videoberatungen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Durch dieses neue Format der Therapie- und Beratungspraxis

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Mikroperspektiven elterlicher Präsenz

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(Hawellek, 2012) wird die nachhaltige Bedeutung alltäglicher sozialer Mikroereignisse für die Entwicklung von Kindern wie für die Gestaltung sozialer Beziehungen im Allgemeinen sicht- und verstehbar.

Zur elterlichen Präsenz Das Konzept der elterlichen Präsenz entstand aus dem Bemühen, den Begriff der elterlichen Autorität mit neuen Inhalten zu füllen und damit grundlegend zu reformulieren. Dass dieses in Deutschland, besonders vor dem Hintergrund des Missbrauchs des Autoritätsbegriffs in Zeiten der »Schwarzen Pädagogik« (Rutschky, 1977) und besonders auch des deutschen Faschismus, längst überfällig war, hatte schon in den Zeugnissen der antiautoritären Bewegung in den sechziger Jahren seinen Niederschlag gefunden (Hawellek, 2010). Die damalige Kritik des »autoritären Charakters« (Adorno, 1973) hatte jedoch weitgehend davon abgesehen, einen Gegenentwurf zum überkommenen repressiven Autoritätsbegriff vorzulegen. Dieses ist der Arbeitsgruppe um Haim Omer gelungen, indem dem Autoritätsbegriff durch die Integration der Gedanken zum »gewaltlosen Widerstand« und den »antidämonischen Dialogen« ein neues Fundament verliehen wurde. Während der traditionelle Autoritätsbegriff synonym zur Ausübung von Macht und Dominanz stand, geht es Omer und von Schlippe darum, »Autorität durch Beziehung« (2004) zu begründen. Dies geschieht durch die Präsenz der Eltern, die entsteht, wenn Eltern so handeln, dass die Botschaften übermittelt werden: –– »Ich bin hier!« –– »Ich bin dein Vater/deine Mutter und werde es bleiben!« –– »Ich werde dir nicht nachgeben, aber ich werde dich auch nicht aufgeben!« –– »Ich kämpfe um dich und um meine Beziehung zu dir, nicht gegen dich!« (Omer u. von Schlippe, 2004, S. 33). Wie die Autoren hervorheben, lässt sich die Haltung der elterlichen Präsenz in verschiedenen Facetten und unter unterschiedlichen Aspekten beschreiben (S. 34). Die von Omer und seinen Mitautoren beschriebene Form von Präsenz kann als ein Unterstützungs- und Entwicklungsprozess für Eltern oder andere Verantwortungsträger im Erziehungsumfeld wie zum Beispiel Lehrer und Sozialarbeiter verstanden werden. Sie ist lern- und lehrbar und kann, so der Anspruch von Omer und von Schlippe, durch Coachingprozesse vermittelt werden. Der Prozess, Präsenz zu erlernen, umfasst Aspekte des Erlebens, der inneren Haltungen, Einstellungen und Überzeugungen. Eine leitende Idee dabei ist,

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Christian Hawellek

dass es sich lohnt, für Würde, Integrität und Respekt in Beziehungen einzutreten und bisweilen auch zu kämpfen. Ein solcher Kampf ist in sich wertvoll und stärkend, unabhängig von seinem Ausgang – gemäß den Worten von Václav Havel über die Hoffnung: »Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.« Weiter umfasst diese Art des Kämpfens Strategien des gewaltfreien Handelns wie auch den Verzicht auf gewalttätige Handlungen und Verhaltensweisen. Im Wesentlichen geht es darum, Handlungen einzuüben, die zu Deeskalation und Versöhnung beitragen. Unter systemischen Aspekten führt Präsenz zur Offenlegung inakzeptablen Verhaltens und zur Mobilisierung sozialer Unterstützung durch Menschen und soziale Instanzen aus dem Umfeld. Das Konzept der Präsenz beruht auf dem Grundsatz, dass die Verletzung sozialer und ethischer Grundsätze durch Verhaltensweisen von einzelnen und Gruppen nie ein nur singuläres Problem darstellt, sondern die gesamte Gemeinschaft angeht und daher eine Stellungnahme der Umgebung herausfordert. Der Autoritätsbegriff, der dem Konzept der elterlichen Präsenz zugrunde liegt, beruht auf dem Mut zur einseitigen Beziehungsgestaltung durch eine explizite Stellungnahme in Worten und Taten. Damit wird für die Kinder und Jugendlichen zugleich ein Modell von Wertorientierung, Verlässlichkeit und Authentizität geprägt, das damit die Signatur von »Stärke statt Macht« trägt (Omer u. von Schlippe, 2010). Elterliche Präsenz entwickelt sich durch eine veränderte Be- und Erziehungspraxis von Eltern und anderen Verantwortungsträgern. Ihr Lern- und Entwicklungsfeld ist der Be- und Erziehungsalltag und die Reflexion neuer Erfahrungen, die von solidarischen professionellen und nicht professionellen Begleitern mitgetragen werden.

Zur Marte-Meo-Methode Gleiches gilt für die Marte-Meo-Methode. Auch hier ist das Alltagsgeschehen der Lern- und Erfahrungsraum für die Coachingarbeit. Dabei steht die genaue Beobachtung des Beziehungsgeschehens so wie eine anschließende videobasierte Auswertung der Beobachtungen im Zentrum der sich anschließenden Beratungs- und Coachingprozesse. Daher lässt sich die Marte-Meo-Methode auch treffend als eine beobachtungsgeleitete Beratungs- und Coachingmethode charakterisieren (Hawellek, 2011, 2012).

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Sie stellt sich in die Tradition der phänomenologischen Therapie- und Beratungsansätze und nutzt zugleich neue, den traditionellen Ansätzen noch nicht zugängliche Dimensionen. Die Rede ist von den vielen modernen Möglichkeiten einer sich weiterentwickelnden und zugleich einfacher werdenden und omnipräsenten Videotechnik. Durch die Verbreitung der digitalen Technik ist es heute kein Problem mehr, Beobachtungen mit anderen auch über große Entfernungen hinweg zu teilen, Beobachtungsvorgänge beliebig zu wiederholen, aber auch zu verlangsamen oder zu beschleunigen. Es war ein sinnfälliger Schritt, diese Technik auch in den Beratungs- und Coachingverfahren systematisch und gezielt einzusetzen, wie es seit den achtziger Jahren zunehmend geschieht. Die sich etablierenden »videogestützten« oder »videobasierten« Verfahren der Beratung und Therapie können als ein Schritt zu einem neuen Format der psychosozialen Interventionen gelten: »An die Stelle der berichteten Erfahrung tritt das Video, an die Stelle der Erzählung der Film über die konkrete Erlebenswelt, über die gesprochen wird. Vielleicht werden Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen der Zukunft über die sich abzeichnenden Veränderungen im Rückblick auch einmal sagen, dass sie den Charakter einer dramatischen ›Katastrophe‹ hatten, weil sie das Denken über beraterische Möglichkeiten und therapeutische Wirkmechanismen ganz grundlegend verändert haben« (von Schlippe, 2012, S. 9). In diesem Beratungssetting werden Klienten eingeladen, Beobachtungen zu teilen und selber neue Entdeckungen im Beziehungsgeschehen zu machen. Die eigene Beobachtung eines Geschehens ist im Gegensatz zu einem nachträglichen Gedanken oder einer Überlegung zum Geschehen in sich empirisch evident. Derjenige, der beobachtet, macht sich sein eigenes Bild, von dem er sich leiten lassen kann. Auf diese Weise können sich anschließende Überlegungen ebenfalls immer wieder einer Realitätsprüfung1 unterzogen werden. Bei der Marte-Meo-Methode werden ausgewählte Momente von Szenen präsentiert und in ihrer entwicklungsförderlichen Bedeutung hervorgehoben. Die Coachingarbeit besteht hier im Auffinden, Zeigen und Kommentieren von Verhaltensweisen, die hilfreiche Ressourcen sind, um die Beziehung konstruktiver zu gestalten, ein »Problem« zu lösen und einen Entwicklungsschritt zu unterstützen. Ebenso können Momente im Beziehungsgeschehen als Gelegenheiten zu einer förderlichen Kommunikation hervorgehoben werden. Diese »bildgebende« Arbeit ermöglicht den Klienten, zukünftige ähnliche 1

Der Begriff der »Realitätsprüfung« entstammt der psychoanalytischen Tradition. In einer konstruktivistischen Sicht lässt sich dieser Zusammenhang treffend als ein wechselseitiger Abgleich der Wahrnehmungen und ihrer Beschreibungen bestimmen.

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Momente in ihren Alltagsbeziehungen wiederzuerkennen und im Sinne ihrer Ziele zu verändern. So können Beobachter sich selber in verschiedenen Situationen mit verschiedenen Handlungsoptionen betrachten und zu »Experimentatoren« innerhalb der eigenen Alltagsinteraktionen werden. Im Rahmen des Coachingprozesses zeigen Folgevideoclips die Wirkungen der eigenen Handlungen auf und lassen eine direkte Evaluation des eingeschlagenen Weges zu. Im positiven Falle sind sie Dokumente positiver Unterstützungs- und Entwicklungsprozesse aus eigener Kraft. Sie wirken dann durch sich selber bestätigend und motivierend und machen die Klienten unabhängiger von Bewertungen Dritter.

Gegenwartsmoment und Situation Die nachfolgenden Überlegungen beziehen sich auf die neueren Arbeiten Daniel Sterns zum »Gegenwartsmoment« (2010) und zu den »Ausdrucksformen der Vitalität« (2011), mit denen Stern richtungsweisende Gedankengänge zur theoretischen und methodischen Fundierung einer phänomenologisch ausgerichteten Therapie- und Beratungspraxis – und damit auch zur Marte-Meo-Methode – vorlegt. Das beobachtungsgeleitete Vorgehen lenkt den Blick auf »gelebte Geschichten«, deren Dynamik und Struktur Stern (2010) als »Gegenwartsmomente« bezeichnet hat: »Gelebte Geschichten sind Erfahrungen, die wir inhaltlich narrativ formatieren, ohne sie jedoch in Worte zu fassen oder zu erzählen« (Stern, 2010, S. 71). Diese Erfahrungseinheiten verfügen über eine zeitliche und organisatorische Struktur. Die zeitliche Spanne von diesen bedeutsamen Erfahrungsgestalten beträgt zumeist von einer bis zu zehn Sekunden, wie Stern in seiner Studie ausführlich belegt (S. 58 ff.). Innerhalb dieser Zeitspanne können die meisten sozialen Informationen sinnvoll verarbeitet und beantwortet werden (S. 58). Gegenwartsmomente können somit als die »Grundbausteine psychisch bedeutsamer subjektiver Erfahrungen« gelten (S. 60). Gegenwartsmomente haben ihren Ausgangspunkt zumeist im Auftreten eines Ereignisses, das den weitgehend automatisierten Bewusstseinsfluss, zum Beispiel in Form einer »neuen«, das heißt nicht erwarteten Information unterbricht. Dies können Probleme, Konflikte, er- oder aufregende Erfahrungen, aber auch unscheinbare Ereignisse wie ein unerwartetes Geräusch oder das Reißen eines Schnürsenkels beim Schuhezubinden sein. Endpunkte von Gegen-

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wartsmomenten sind sodann (vorläufige) Aktionen, die die Erfahrung in den Wissens- und Emotionskontext sinnvoll einordnen und damit Lösungen oder Bewältigungsstrategien im Umgang mit der betreffenden Erfahrung darstellen. In der Sprache der Gestaltpsychologie könnte man in diesem Zusammenhang auch vom Schließen offener Gestalten sprechen. In der Erinnerung werden bedeutsame gelebte Erfahrungen zu erzählbaren Episoden, die zu Plots organisiert werden. Ein Plot besteht aus mehreren organisierenden Fragen, die eine gelebte Episode in eine erzählbare Episode verwandeln: Dabei geht es um das Wer, Wann, Was, Wie, Was vorher und Was wohl danach eines Geschehens. In seiner Konzeptualisierung der Gegenwartsmomente vergleicht Stern diese mit einer »Art ›Welt in einem Sandkorn‹. Gewöhnlich ist der Umfang einer erzählten narrativen Struktur größer, der Bericht dauert länger. Die Größe der kleinen eingebauten Lebensgeschichten wird gewöhnlich nicht detailliert erforscht. Dies wirft die Frage auf: Gibt es minimale gelebte Geschichten, aus denen alle größeren narrativen Strukturen aufgebaut werden? Ich beantworte diese Frage mit ›Ja‹ und behaupte, dass die Gegenwartsmomente die Grundbausteine dafür sind« (S. 74). Marte Meo nimmt Gegenwartsmomente in sozialen Beziehungen in den Blick und macht sie nachträglich einer Beobachtung zugänglich. Somit wird ein Blick auf die Mikroebene vergangener Beziehungserfahrungen in verschiedenen Gegenwartsmomenten möglich. Diese bilden die Grundlage unserer Erfahrungswelt, denn: »Was wir in uns aufnehmen, haben wir auf einer intimen und lokalen Ebene erlebt. Internalisiert werden nicht ›Objekte‹, sondern Interaktionserfahrungen« (Stern, 2011, S. 184). Die beobachteten Interaktionsmomente finden jeweils in konkreten Situationen oder Szenen statt. Während Gegenwartsmomente so etwas wie die Textur gelebter Geschichten und bedeutsamer Erfahrungen bilden, ermöglichen Beobachtungen ebenfalls Blicke auf die konkreten Situationen, in denen die Geschichten spielten. Diese bilden die »Bühne« für das jeweilige Beziehungsgeschehen. Menschliches Leben kann als eine lange Abfolge von Szenen und Szenarien verstanden werden, die schließlich zu Dramen oder anderen Bühnenstücken narrativ komponiert werden. Dies ist die Perspektive der sogenannten dramatischen Therapieverfahren wie des Psychodramas Morenos oder des therapeutischen Theaters Illjines (Petzold, 1993). In dieser Perspektive ist eine Interaktionssituation, eine konkrete Szene oder Episode die kleinste deskriptive Einheit des Sozialisationsprozesses (Mollenhauer, 1972, S. 110). Während Gegenwartsmomente und erlebte Szenen Konzepte bilden, die Innenperspektiven von Erfahrungen zugänglich machen, ermöglichen beob-

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achtungsgeleitete Beratungsmethoden wie Marte Meo, ein Beziehungsgeschehen von außen zu beobachten. Ein Klient, der sich selber in einem Videoclip betrachtet, hat einen doppelten Zugang zu dem, was er beobachtet: Zum einen kann er sich an die Szene, die er beobachtet, erinnern, und zum anderen kann er die Szene von außen betrachten. Er kann die Rolle des Teilnehmers der Situation abrufen und in die Rolle des Beobachters derselben Situation wechseln. Die Position eines »teilnehmenden Beobachters« ist in der Sozialforschung geläufig. Hier nimmt eine Person an einem Geschehen teil, verhält sich jedoch dem Geschehen gegenüber abstinent, weil die vorrangige Absicht bei der Teilnahme am Geschehen die Beobachtung ist. In jedem Fall finden bei der teilnehmenden Beobachtung die Teilnahme und Beobachtung zeitgleich statt. Bei den beobachtungsgeleiteten videobasierten Beratungen ermöglicht die Videoaufzeichnung, die Prozesse der Teilnahme und der Beobachtung zu trennen und nacheinander zu vollziehen (Hawellek, 1995, 1997). Unter Berücksichtigung dessen, was bereits zum Konzept der Gegenwartsmomente ausgeführt wurde, lässt sich sagen, dass eine beobachtungsgeleitete Beratung Gegenwartsmomente durch die Präsentation von Videoclips in einem Beratungsprozess erneut vergegenwärtigt, sodass so etwas wie Gegenwartsmomente zweiter Ordnung entstehen. Die Entwicklungs- und Lernprozesse, die beobachtungsgeleitete Beratungen kennzeichnen, bekommen ihre Wirkung durch den Unterschied zwischen der erlebten Episode (Gegenwartsmoment erster Ordnung) und der im Kontext einer Beratungsbeziehung beobachteten Episode – einem Gegenwartsmoment zweiter Ordnung. Durch eine beobachtungsgeleitete Beratung werden die Videobilder der erlebten Geschichten unter der Leitperspektive von einem entwicklungsorientierten Problemverständnis narrativ formatiert, indem die sichtbaren Ressourcen und Möglichkeiten der Problembewältigung präsentiert werden (Hawellek, 2012). So können die Gegenwartsmomente zweiter Ordnung, die in Beratungsprozessen gezeigt werden, konstruktive Perspektiven eröffnen und Klienten dazu ermutigen, neue Handlungsoptionen umzusetzen. Diese können wiederum gefilmt und in weiteren Beratungen auf ihre Entwicklungsmöglichkeiten hin evaluiert werden. Eine solche Form der Unterstützung kann dazu beitragen, bestehende Beziehungen nachhaltig konstruktiv zu verändern. Das gilt auch für die Versuche, elterliche Präsenz zu stärken. Im Folgenden wird dargestellt, wie elterliche Präsenz mit der Marte-MeoMethode unterstützt wird.

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Einflussfaktoren auf die elterliche Präsenz Der Begriff der elterlichen Präsenz verweist auf die Erfahrungen von Gegenwart und Anwesenheit der Eltern. Im Lichte der Überlegungen Daniel Sterns zu den Gegenwartsmomenten sind die Beziehungserfahrungen von elterlicher Präsenz mit jeweils konkreten Situationen und Szenen verknüpft. Dies betrifft die elterlichen wie auch die kindlichen Erfahrungen gleichermaßen. Im Zusammenhang mit dieser Darstellung wird elterliche Präsenz als eine übergeordnete narrative Formatierung von Erfahrungen der Eltern-Kind-Beziehungen verstanden. Sie basiert auf einer Verkettung erinnerter und erwarteter relevanter Gegenwartsmomente, die sich unter die Rubrik »elterliche Präsenz« fassen lassen. Das Konzept der Gegenwartsmomente eröffnete eine Mikroperspektive auf menschliche Sozialisationsprozesse. Diese Perspektive nimmt kleine und unscheinbare Beziehungserfahrungsmomente in den Blick. Damit wird auch klar, dass elterliche Präsenz aus vielen ähnlichen Momenten in vergleichbaren Situationen resultiert und somit, wie auch der Begriff »Präsenz« nahelegt, als eine Art überdauernder Instanz erscheint. In einer Beobachterperspektive zeigt sich elterliche Präsenz jeweils in konkreten Interaktionssituationen zwischen Eltern und Kindern. Bei der Art und Weise, sich als Eltern zu präsentieren, spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. –– Das Alter der Kinder hat einen deutlichen Einfluss auf die Art und Weise, in der Eltern mit ihren Kindern interagieren und sprechen. Zumeist stimmen sich die Eltern intuitiv auf die Kommunikationsbedürfnisse der Kinder ab, sodass sie das Kind mit ihren Botschaften erreichen können (Papoušek u. Papoušek, 1995). –– Die gemeinsame Situation ist ein weiterer Faktor, der die Art der elterlichen Präsenz beeinflusst. Alltagssituation stellen verschiedene Anforderungen an die Beteiligten. Situationen lassen sich danach unterscheiden, ob die Eltern den kindlichen Ideen und Initiativen folgen oder ob die Eltern die Kinder anleiten. So macht es einen deutlichen Unterschied, ob ein Kind in einem freien Spiel oder beim Zu-Bett-Gehen die Abläufe und Regeln bestimmt. Es gehört zu den elterlichen Aufgaben zu entscheiden bzw. zu unterscheiden, welche Art der Präsenz die jeweils aktuelle Situation von ihnen als verantwortlichen Eltern erfordert.2 –– Die Art und Weise der elterlichen Präsenz in einer bestimmten Situation ist von den Vorerfahrungen mit ähnlichen Situationen geprägt. Diese beeinflus2 In der Feldtheorie Lewins und in der Gestaltpsychologie ist in diesem Zusammenhang von der »Gefordertheit der Lage« die Rede.

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sen die wechselseitigen Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 116 f.). –– Eine weitere Einflussgröße auf die elterliche Präsenz ist das aktuelle Befinden von Eltern und Kindern in einer konkreten Situation. So führt aktueller Stress bei den Beteiligten häufig zu Auseinandersetzungen und negativen Eskalationen. Dem trägt zum Beispiel das »Prinzip des Aufschubs« Rechnung, »das Eisen zu schmieden, wenn es kalt ist« (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004), um zur Deeskalation von Aggression und Gewalt in der Beziehung beizutragen. –– Schließlich wird die elterliche Präsenz auf Seiten der Eltern von den eigenen Kindheitserfahrungen elterlicher Präsenz sowie von Überzeugungen und kulturellen Konzepten, zum Beispiel über »richtige Erziehung«, mitgeprägt. In einer bestimmten Situation ist die elterliche Präsenz von einer Kombination dieser und möglicherweise weiterer Einflussgrößen geprägt. In den nachfolgenden Überlegungen werden zwei Formen elterlicher Präsenz unterschieden, die direkt von der jeweiligen Be- und Erziehungssituation abhängen. Die Rede ist von der »folgenden« und der »leitenden« elterlichen Präsenz.

Grundformen elterlicher Präsenz Im Laufe ihrer Entwicklung müssen Menschen zwei – scheinbar gegenläufige – Entwicklungsaufgaben bewältigen. Zum einen handelt es sich um die Aufgabe der Selbstwerdung und Individuation, für die eine Verwirklichung und Weiterentwicklung der eigenen Interessen und Fähigkeiten charakteristisch ist. Zum anderen stehen Menschen vor der Anforderung, ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden und positiv auszufüllen. Dazu gehört unter anderem auch die Fähigkeit, die eigenen Ideen und Initiativen zugunsten anderer zurückstellen zu können. Beide Fähigkeiten werden zunächst im alltäglichen Umgang mit den primären Bezugspersonen, zumeist den Eltern, gelernt, trainiert und entwickelt (→ zu kulturellen Unterschieden hinsichtlich der Ausprägungen dieser beiden Entwicklungsaufgaben siehe die Beiträge von Heidi Keller, Hiltrud Otto und Jörn Borke in diesem Band). Im weiteren Leben gewinnen Erfahrungen mit den Peergruppen in Kindergarten, Schule und Gemeinwesen zunehmend an Bedeutung. Beide Entwicklungsaufgaben erfordern eine unterschiedliche Form elterlicher Präsenz, nämlich eine folgende auf der einen und eine leitende Präsenz auf der anderen

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Seite. Diese unterschiedlichen Formen alltäglicher Beziehungserfahrungen und Gegenwartsmomente wirken auf zweierlei Weise. Zum einen unterstützen sie die Fortschritte in den Entwicklungsaufgaben »Individuation« und »soziales Lernen« durch die aktuelle Beziehungserfahrung von Folgen oder Leiten. Zum anderen wirkt die jeweilige Form der elterlichen Präsenz ebenfalls als Modell für folgende oder leitende Präsenz. Das fließt dann wieder ins eigene Kommunikationsrepertoire der Kinder ein. Im Alltagsgeschehen ergänzen beide Formen der Präsenz einander und können je nach Erfordernis der aktuellen Lage schnell wechseln. Durch den Wechsel der Präsenz lernen die Kinder verschiedene soziale Situationen und Kontexte kennen und unterscheiden und erwerben auf die Dauer die Fertigkeit, soziale Situationen mit ihrer jeweiligen Erfordernis zu »lesen«. Der Wechsel von folgender und leitender Präsenz bildet dabei ein grundlegendes »Taktmuster« menschlicher Kommunikation. Elterliche Präsenz in Folgemomenten In Situationen, in denen die Eltern ihren Kindern folgen, zeigt sich elterliche Präsenz in folgenden Verhaltensweisen: –– Die Eltern tragen zu einer positiven Beziehungsatmosphäre bei, sprechen in einem freundlichen Tonfall und mit freundlichen Gesicht. –– Die Eltern warten auf eine kindliche (Re-)Aktion. –– Die Eltern beachten den aktuellen kindlichen Aufmerksamkeitsfokus bzw. die kindlichen Initiativen. Kinder zeigen häufig durch ihre Initiativen, worauf sich ihr Interesse in einer aktuellen Situation richtet. –– Die Eltern bestätigen den kindlichen Aufmerksamkeitsfokus bzw. die kindlichen Initiativen. –– Die Eltern benennen die kindlichen Initiativen. Die elterliche Präsenz in Folgemomenten eröffnet Erfahrungsräume, die eine Grundlage für wechselseitige Wertschätzung, Akzeptanz, Respekt und Selbstachtung bilden. Sie entspricht weitgehend einer respektvollen psychotherapeutischen Haltung, wie sie beispielsweise in der personenzentrierten und systemischen Psychotherapie gelehrt wird (Hawellek, 2012, S. 67 ff.). Die Folgemomente elterlicher Präsenz stärken die kindliche Persönlichkeitsentwicklung. Sie helfen den Kindern, den eigenen Initiativen und Ideen zu vertrauen und sich von ihnen leiten zu lassen. Wenn diese Erfahrung nachhaltig unterstützt wird, werden die Kinder zu Gestaltern ihres eigenen Lebens. Sie erleben die Möglichkeiten ihrer eigenen Kraft und Kreativität, die ein Antidot für eine passiv konsumie-

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rende Lebenshaltung darstellen. Eine folgende Präsenz hilft im Gegenzug den Eltern, den aktuellen Entwicklungsstand und die Erfahrungswelt ihrer Kinder kennen zu lernen. Elterliche Präsenz in (An-)Leitungsmomenten In (An-)Leitungsmomenten lernen die Kinder soziale Abläufe und deren Beziehungslogik kennen. Bei dieser Form der elterlichen Präsenz geben die Eltern die Struktur der Situation vor. Nachfolgend werden einige markante Verhaltensweisen dargestellt, die eine (an-)leitende elterliche Präsenz auszeichnen: –– Dies geschieht, indem die Eltern sagen, was das Kind im nächsten Moment tun kann. Auf diese Weise unterstützen sie das Kind dabei, passende Handlungsweisen in der gegebenen Situation zu nutzen. Sie helfen dem Kind ebenfalls, in Möglichkeiten zu denken. –– In Leitungsmomenten benennen die Eltern, was sie tun werden, was sie denken und gegebenenfalls fühlen. Auf diese Weise werden die Eltern sichtbar, vorhersehbar und lesbar für die Kinder. –– Ebenso benennen die Eltern die gemeinsame Situation und beschreiben so einen Rahmen dessen, was zur Situation passt. –– In Leitungssituationen benutzen Eltern Kooperations- und Leitungstöne. Auf diese Weise markieren sie die Situation als eine gemeinsame. –– Die Eltern sprechen von »Ich« und »Du« und verdeutlichen so die unterschiedlichen Optionen, die sich Eltern und Kindern in der aktuellen Situation bieten. Die hier skizzierte Form der positiven Anleitung von Kindern hat eine deutliche Nähe zu einer kompetenten pädagogischen Praxis in verschiedenen Handlungsfeldern wie Kindergärten und Schulen. Im Alltagsgeschehen ist die folgende und leitende Form der elterlichen Präsenz eng miteinander verzahnt und kann, wie gesagt, von Moment zu Moment wechseln. Beide Formen der Beziehungsgestaltung lassen sich schon in den frühesten Mutter-Baby-Interaktionen finden. Auch wenn man den Blick über die ElternKind-Beziehungen hinaus auf Beziehungen gleichrangiger Personen richtet, lässt sich der Rhythmus von Folgen und Leiten in der Kommunikation als Element eines »sozialen Tanzes« ausmachen (→ zu den hier bestehenden kulturellen Unterschieden siehe die Beiträge von Heidi Keller, Hiltrud Otto und Jörn Borke in diesem Band).

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Elterliche Präsenz in der beobachtungsgeleiteten Beratung Familien- und Erziehungsberatern sind viele Problemsituationen geläufig, die eine positive elterliche Präsenz erfordern. Dabei handelt es sich in der Regel um Beziehungsereignisse mit Kindern und Jugendlichen, die Eltern mit dem Gefühl von Hilflosigkeit oder gar Ohnmacht (Pleyer, 2003) zurücklassen. Wenn sie die Grundlagen eines gewaltfreien deeskalierenden Verhaltens gegenüber dem Kind einüben, beziehen sie die Kraft, die dafür erforderlich ist, aus einer veränderten Überzeugung und Haltung sich selbst und dem Kind gegenüber. Dabei ist die Unterstützung durch den Coachingprozess und das Helfernetzwerk eine wertvolle Hilfe. Wenn die Eltern die Präsenz gegenüber ihren Kindern mit Unterstützung eines Marte-Meo-Coachings stärken wollen, ist der elterliche Wunsch nach Unterstützung der Ausgangspunkt der Hilfe. Viele Eltern kommen mit einem erheblichen Problem- und Leidensdruck zur Beratung und haben daher zunächst den Wunsch, sich gegenüber ihren Kindern besser durchzusetzen. Sie berichten dann häufig von eskalierenden Konflikten und suchen nach Strategien, die ihnen helfen, dafür zu sorgen, dass die Kinder ihnen folgen. Am Anfang der Beratung werden Anlass, Anliegen und Auftrag geklärt und eine beobachtungsgeleitete Beratung vereinbart (Hawellek, 2012, S. 13 ff.). Dabei ist zu Beginn die Information wichtig, dass ein beobachtungsgeleiteter Coachingprozess wie Marte Meo darauf abzielt, die Eltern-Kind-Beziehung nachhaltig zu fördern. Dies geschieht in normalen alltäglichen Interaktionen, also dann, wenn gerade kein eskalierender Konflikt das Beziehungsgeschehen dominiert; denn »das Eisen wird dann geschmiedet, wenn es kalt ist« (Omer u. von Schlippe, 2002). Eine Stärkung und Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung wird mittelfristig auch zu einer Krisenprävention führen. Zur Bewältigung aktueller Krisen sollten – ergänzend zum Coachingprozess – Krisenbewältigungsstrategien entwickelt werden, die geeignet sind, den Eltern auch kurzfristig aus ihrer Hilflosigkeit herauszuhelfen. Als Beobachtungsgrundlage für die Marte-Meo-Beratung werden zunächst unterschiedliche familiäre Alltagssituationen auf Video aufgenommen. Diese dienen einer Einschätzung der familiären Kommunikation und des Informations- und Unterstützungsbedarfs von Eltern und Kindern. Dabei gilt das Interesse der folgenden und der anleitenden elterlichen Präsenz. Die folgende elterliche Präsenz ist in freien, unstrukturierten Kommunikations- und Spielsituationen gut zu beobachten. In diesen Situationen gehen (in westlichen Kontexten) die Initiativen in erster Linie von den Kindern aus, während die Eltern diesen Initiativen überwiegend folgen.

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Eine anleitende elterliche Präsenz zeigt sich in Situationen, in denen die Eltern eine (an-)leitende und strukturierende Rolle einnehmen. Dies gilt für alle Situationen, in denen die Kinder nicht ihren eigenen, sondern den elterlichen Initiativen folgen sollen, zum Beispiel Essens-, Zu-Bett-Geh- oder auch Schularbeitssituationen. In orientierenden Gesprächen mit den Eltern werden diese in ihrer Verantwortungsgemeinschaft für das/die Kind(er) angesprochen. Sie werden ermutigt, darüber zu sprechen, wie sie die Abläufe von Alltagssituationen mit den Kindern haben möchten und in welchen Situationen sie selber und in welchen Situationen die Kinder das Geschehen bestimmen sollen. Am Ende einer Beratungsstunde im Rahmen einer frühen Erziehungsberatung (Hawellek u. Rolfes, 2004) fragt eine Mutter ihren aufgeweckten zweieinhalbjährigen Sohn: »Möchtest du den Mantel anziehen?« Der Sohn antwortet prompt: »Nein!« Der Berater nutzt diese szenische Information aus der aktuellen Situation dazu, mit der Mutter zu besprechen, ob sie in diesem Moment möchte, dass ihr Sohn die Entscheidung darüber trifft, ob er bei herbstlich kaltem Wetter seinen Mantel anzieht oder nicht. In diesem Gespräch an der Garderobe wird der Mutter bewusst, dass sie mit dieser harmlosen Frage ihrem Sohn die Verantwortung für eine Entscheidung überträgt, die eigentlich sie treffen möchte. Ihr wird klar, dass sie aus einer Art höflicher Gewohnheit heraus auch in anderen ähnlichen Situationen ihrem Sohn viel zu viel Entscheidungskompetenzen für sein Alter übertrug, und dass sein »kleines Ego« dadurch künstlich aufgebläht und damit überfordert wurde, was im bisherigen Alltag zu vielen überflüssigen Diskussionen und Konflikten mit dem Sohn führte. Von ihrem Mann und ihren Eltern bekam sie zu hören, »dass sie konsequenter sein« müsse und mehr »Grenzen setzen« solle. Als Konsequenz aus dieser Episode entwickelte sie den Leitgedanken »sagen statt fragen«, worauf ihr Sohn unerwartet positiv reagierte und die Beziehung zu ihm sich wesentlich entspannte. Im Alltag ertappte sie sich anfangs immer wieder dabei, das alte Fragemuster zu verwenden. Allerdings war sie jetzt in der Lage zu merken, was da geschah, und dies im nächsten Moment zu verändern.

Das Beispiel belegt die strukturgebende Bedeutung der Prosodik bei der Kommunikation mit Kindern. Eine Frage gibt die Initiative und damit die »Verantwortung« für das Beziehungsgeschehen des kommenden Gegenwartsmomentes an den Befragten. Schon Babys und Kleinkinder erkennen diesen Ablauf an der Satzmelodie. In seiner Monographie über das Fragen charakterisiert Bodenheimer (1992) das Geschehen wie folgt: »Was immer […] als Frage melo-

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disiert ist, das äußert sich als ein nach oben angehobenes. Von dort oben her aber hat es (einen) drängenden […] Effekt. Es bringt jeden Hörenden um seine Ruhe, nötigt ihn mit verborgener Gewalt, dass er das Obengehaltene gleichsam herunterhole und so das Offengelassene abschließe – durch eine Äußerung, die man Antwort benennt« (Bodenheimer, 1992, S. 49). Vermehrtes Fragen führt sowohl bei kleinen Kindern wie auch bei alten und dementen Menschen zu einer deutlichen Aktivierung, die häufig als »Unruhe« empfunden wird. Unter Marte-Meo-Therapeuten ist dann häufig von »überfragten« Menschen die Rede. Fragen rücken die Präsenz des Befragten in das Zentrum und fordern zur Antwort auf. Personen, die auf Fragen Antworten zur Verfügung haben und falls nicht, dieses metakommunikativ mitteilen können, sind in der Lage von Fragen zu profitieren.3 Während Fragen die Präsenz des Befragten in das Zentrum des kommunikativen Geschehens rücken, erhöht eine Mitteilung, ein Sagen, die Präsenz dessen, der etwas sagt. Die prosodischen Wirkungen des Sagens lassen sich wie folgt beschreiben: »Wird ein Satz durch seine Passagen hindurch so melodisiert, dass er an seinem Ende – also dort, wo dem Atemholen Zeit gelassen wird – unten im Grundton ankommt, so gilt er als entschieden eindeutig, als geschlossen und bestimmt. Ist der Satz fertig, so tut er kund: Alles kann von nun an hier ›am Boden‹ bleiben. Danach ist jedermann frei. Man kann schweigen, man kann auch frei weiterreden. Jedenfalls haben alle Beteiligten, der Redende wie der Hörende, ihre Verschnaufpause« (Bodenheimer, 1992, S. 49). Aus der Mikroperspektive der Kommunikation werden Eltern für ihre Kinder präsent, indem sie sagen, anstatt zu fragen. Wer etwas sagt, anstatt zu fragen, nimmt die eigene Person zum Ausgangspunkt seiner Mitteilungen. Er verdeutlicht dem Gegenüber seine Position, macht sie und sich selber sichtbar. Diese Haltung bezieht sich auf die eigene Stärke und ist zugleich auch ein Verzicht darauf, das Gegenüber unmittelbar zu beeinflussen. Diese Form der Mitteilung kann unterschiedliche Aspekte einschließen. Eltern können sagen, was sie gerade denken, fühlen, meinen oder wünschen. Sie können sagen, was sie als Nächstes tun werden. Auf diese Weise werden Eltern für ihre Kinder vorhersehbar und berechenbar. Die Kinder können von Moment zu Moment die Erfahrung von Lesbarkeit und Verlässlichkeit ihrer Eltern machen. 3

Viele, auch systemische, Therapieverfahren arbeiten regelhaft mit mäeutischen Fragetechniken (Fragen, durch welche die befragte Person zur Selbstreflexion und vertieften Selbsterkenntnis angeregt werden soll), um neue Perspektiven und Überlegungen ins Spiel zu bringen. Für gut entwickelte Personen ist dieses Vorgehen zweifellos hilfreich. Für kleinere Kinder oder Personen mit Einschränkungen ist diese Methode schnell überfordernd.

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Mit dieser Form von entwicklungsunterstützenden Dialogen (Øvreeide u. Hafstadt, 1996) geschieht zugleich ein gemeinsames Mentalisieren von Eltern und Kindern (Bateman u. Fonagy, 2006; von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 302 ff.). Die Kinder werden dabei unterstützt, zu erkennen, dass Menschen über gemeinsam erlebte Momente unterschiedlich denken und fühlen. Sie lernen unterschiedliche Motivlagen und Perspektiven kennen und erwerben so durch alltägliche Einübung dauerhaft die Fähigkeit zur Perspektivübernahme. Wenn eine solche Erfahrung in genügend Beziehungsmomenten möglich ist, wird ein dauerhaftes Gefühl von Beziehungssicherheit gegenüber den Eltern gebahnt, was in sich entängstigend wirkt. Diese kommunikative Fähigkeit, die sich zum intuitiven Repertoire von Eltern zählen lässt, ist zugleich ein Grundbaustein positiver Zusammenarbeit. Wenn Kinder wissen, was ihre Eltern im nächsten Moment tun werden, können sie ihr Verhalten auf diesen Schritt abstimmen und erfolgreich kooperieren. Zugleich bekommen die Kinder ein Modell für kooperatives Verhalten, das ihnen in anderen sozialen Bezügen hilft, erfolgreich zu sein. Ein besonderer Aspekt der Mitteilung ist das Benennen. Besonders während der sprachsensiblen Phasen der Entwicklung unterstützen Eltern ihre Kinder, indem sie deren Initiativen und Gefühle benennen. Damit bekommen die Kinder auf natürliche Weise eine Hilfe bei der Entwicklung der Selbstwahrnehmung und daran anschließend auch der Selbstregulation. Dies kann auch für ältere Kinder, zum Beispiel für Kinder mit expansiven Verhaltensproblemen,4 eine Hilfe sein. Dabei ist auch unterstützend, wenn Eltern gegenüber kleinen Kindern die aktuelle Situation und – damit verbunden – das »Erfordernis der Lage«5 benennen und ihnen auf diese Weise helfen, die soziale Situation zu »lesen«. Dies ist insbesondere dann bedeutsam, wenn die Situation für das Kind neu ist oder sich rasch ändert. Die Präsenz der Eltern zeigt sich auf diese Weise indirekt. Durch das Benennen der Situation geben sie die Mitteilung: »Ich bin hier, ich helfe dir zu verstehen, was hier geschieht, und sage dir, wie du dich passend verhalten kannst.« Diese Mitteilung präsentiert die Eltern in ihrer Rolle als erwachsene »Caregiver« in einer für das Kind noch nicht vertrauten Situation. Damit kann das Kind seine Eltern als verlässliche Informanten erleben, insbesondere dann, wenn die Eltern dem Kind helfen, den nächsten Moment kompetent zu bewäl4 Dazu gehören zum Beispiel auch die mit ADHS diagnostizierten Kinder. 5 Dieser Begriff entspricht dem der »Gefordertheit« und entstammt den phänomenologischen Analysen Wolfgang Köhlers. Er wurde später von Kurt Lewin aufgegriffen und in seine Feldtheorie eingebracht. Er beschreibt den Sachverhalt, dass das aktuelle Erfahrungsfeld von Personen und damit die soziale Situation jeweils einen eigenen Aufforderungscharakter besitzen (Graumann, 1971, S. 94 f.).

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tigen. Dazu gehört, dass die Eltern neben den Erfordernissen der Situation positive Verhaltensmöglichkeiten für das Kind benennen und sagen, was sie selber tun, beispielsweise: »Schau mal, hier findet die Theateraufführung statt. Du kannst dich zu Lena setzen und wir setzen uns nach hinten zu Lenas Eltern.« Der Prozess der Ankündigung, der im Konzept des gewaltfreien Widerstands eine wichtige Rolle spielt (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004), trägt daher nicht zufällig ebenfalls die charakteristischen Merkmale des Sagens und Benennens. Auch hier werden die Eltern vorhersehbar, indem sie das ankündigen, was sie selber in bestimmten Situationen tun werden. Als eine Mitteilung lädt diese Form elterlicher Präsenz auch nicht zu weitergehenden Diskussionen mit den Kindern ein. Die Beteiligten haben eine »Verschnaufpause« (Bodenheimer, 1992, S. 49). Die Eltern beziehen sich auch hier auf sich selber, die eigenen Überzeugungen und Entscheidungen, mit anderen Worten auf die eigene Kraft. In der Praxis des Elterncoachings hat ein konstruktiver Umgang mit den eigenen Gefühlen erfahrungsgemäß ein großes Gewicht. Bei den alltäglichen Konfliktsituationen führen aggressive Auseinandersetzungen vielfach zur Eskalation in Wort und Tat. Diese drückt sich in den Tonlagen und Gesichtern der Beteiligten aus. Auf einer höheren Eskalationsstufe spielen die Inhalte der Auseinandersetzungen eine Nebenrolle. Fragt man etwa kleinere Kinder nach dem Ablauf eines Streites, bezeichnen sie zumeist die Art und Weise der Kommunikation als belastend und können sich an die Inhalte kaum erinnern. Aus diesem Grunde benutzen Omer und von Schlippe (2002) die Metapher des »kalten Eisens« zur Bezeichnung einer deeskalierenden Handlungsoption. Diese besagt, dass man klärende Gespräche sinnvollerweise außerhalb aktueller Konfliktsituationen führt. Das beobachtungsgeleitete Marte-Meo-Coaching kann bei einer Fokusveränderung im Alltagsgeschehen unterstützen, zum Beispiel dann, wenn Eltern diejenigen Momente hervorgehoben präsentiert werden, in denen ein konstruktives Zusammensein zu sehen ist. Während einer Videoberatung erkennen die Eltern eines als »ADHS-Kind« diagnostizierten achtjährigen Jungen, dass sie sich ihm nur zuwenden, wenn er Dinge tut, die er nicht tun soll. Wenn er zum Beispiel ruhig und freundlich beim Essen sitzt und konstruktive Gesprächsbeiträge liefert, beachten sie ihn kaum. Sie nehmen aus der Beratung mit, bis zum nächsten Termin die unauffälligen und positiven Momente des Zusammenseins stärker zu beachten und diese Momente durch Bestätigung, ein freundliches Gesicht und einen guten Ton zu verlängern. Beim folgenden Termin berichten sie, dass die Zwischenzeit recht entspannt abgelaufen ist. Im Folgevideo können sie sehen, dass ihr Sohn viel länger im Kontakt mit ihnen ist und ihre positive Zuwendung in den ruhigen

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Momenten sichtlich genießt. In der nachfolgenden Zeit entwickelt sich die belastete Beziehung zu einer Beziehung mit »normalen« Schwierigkeiten.

Wenn Eltern möchten, dass ihnen die Kinder folgen, wird in der Videointeraktionsanalyse der beobachteten Alltagssituation zunächst nach Momenten gesucht, in denen zu beobachten ist, dass die Eltern den kindlichen Initiativen folgen und so Anschluss an ihre Kinder bekommen. Dies geschieht durch eine folgende elterliche Präsenz. Wenn die Eltern versuchen, die Kinder anzuleiten, ohne zuvor Kontakt mit den Kindern zu haben, sind diese Versuche meistens zum Scheitern verurteilt. Kinder, die sich mit ihren Eltern oder Bezugspersonen verbunden fühlen, sind viel eher bereit, sich leiten zu lassen. Von daher gilt die pädagogische Faustregel, (An-)Leitungsmomente mit einem Kontaktmoment zu beginnen. Das Erzieherinnenteam eines Kindergartens bittet um Beratung wegen einer problematischen Kindergruppe. Schon am frühen Morgen gehe es drunter und drüber und das ziehe sich dann durch den ganzen Tag. Die Erzieherinnen sähen inzwischen jedem Tag mit Anspannung entgegen und bräuchten viel Anstrengung und »pädagogische Maßnahmen«, um die Abläufe in der Gruppe einigermaßen erträglich zu gestalten. Dabei handle es sich durchweg um recht aufgeweckte Kinder, die demnächst alle eingeschult würden und von denen die Erzieherinnen dächten, sie seien im Kindergarten tendenziell unterfordert. Bei der näheren Exploration der Geschehnisse stellt sich heraus, dass die ersten Kontakte mit den einzelnen Kindern überwiegend von Reglementierungen geprägt sind. In dieser Situation erläuterte der Berater, welche emotionale Bedeutung positive Kontaktmomente zu den Erzieherinnen zu Beginn der Gruppensituation für die Kinder haben. Nach längerer Diskussion über die praktischen Möglichkeiten entschlossen sich die Erzieherinnen zu einem persönlichen morgendlichen Begrüßungs- und Willkommensritual von etwa drei Minuten mit jedem Kind. Dabei gab es auch die Möglichkeit, den Kindern mitzuteilen, was sie an diesem Morgen unternehmen konnten. Das Ritual sollte klar und positiv abgeschlossen werden. In einem sechs Wochen später stattfindenden Telefonat berichteten die Erzieherinnen, dass die beklagten Schwierigkeiten verschwunden seien und es ihnen selber wie auch den Kindern mit einem positiven Willkommensritual sehr viel besser gehe. Sie teilten mit, dass diese Zeit am Beginn des Tages »eine Investition in den ganzen Tag« sei.

Dieses Beispiel macht deutlich, wie eine – in diesem Fall erzieherische – Präsenz in passenden Momenten dazu beiträgt, dass eine negative Eskalation gar nicht

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erst entsteht. Eine anleitende Präsenz ist vorausschauend und benennt gegenüber den Kindern die Möglichkeiten in den kommenden Momenten. Die beobachtungsgeleitete Marte-Meo-Beratung liest die »Botschaft hinter dem Problemverhalten« (Aarts, 2005). Sie stellt diese in eine Entwicklungsperspektive und rückt diejenigen Momente ins Blickfeld, die positive Entwicklungsmöglichkeiten entweder zeigen oder als Gelegenheiten enthalten. Auf diese Weise lernen die Eltern in den kleinen Momenten ihrer eigenen Alltagsrealität neue Möglichkeiten zu sehen und neue Handlungsoptionen auszuprobieren.

Antidämonische und entwicklungsorientierte Dialoge Die dargestellten Beispiele bestätigen und verdeutlichen das Konzept der elterlichen Präsenz aus der Mikroperspektive der Beobachtung alltäglicher Gegenwartsmomente, wie sie in der Marte-Meo-Methode praktiziert wird. Die abschließende Darstellung widmet sich der Frage, ob und wie die »Philosophien« der beiden systemischen Coachingmodelle zueinander passen. In ihrem Werk über »Feindbilder« haben Omer, Alon und von Schlippe (2007) den Prämissen einer »dämonischen« Weltsicht die Prämissen einer »tragischen« Weltsicht gegenübergestellt, die zugleich eine Grundorientierung für das Konzept der »elterlichen Präsenz« darstellen (→ vgl. auch den Beitrag von Arist von Schlippe in diesem Band). Diese Prämissen bilden ein Gerüst, an dem sich die Berührungspunkte und Unterschiede beider Konzepte darstellen lassen. –– »Leiden ist ein wesentlicher und unausweichlicher Teil des Lebens.« Gerade wenn man dieser von Omer, Alon und von Schlippe (2007) als »konstruktiven Fatalismus« bezeichneten Aussage zustimmen kann, gehört es zum konstruktiven Teil des Fatalismus, das Leid, wenn es nicht veränderbar ist, anzunehmen und auch angesichts des Leides den Blick auf die Möglichkeiten und Ressourcen von Therapeuten und Klienten zu lenken. –– »Schlechte Handlungen können positiven Eigenschaften entstammen.« Daher ist es hilfreich, zwischen den Motiven für eine Handlung und der Handlung selber zu unterscheiden. Es ist durchaus möglich, ein positives Motiv als einen akzeptablen Wunsch zu bejahen, und die negativen Handlungen, die daraus entstehen, abzulehnen und stattdessen nach konstruktiveren Handlungsoptionen zu suchen (→ vgl. auch den Beitrag von Michael Grabbe in diesem Band). –– »Der andere ist uns ähnlich.« Diese Annahme bildet die Grundlage von Identifikation und Mitgefühl und daher auch für pädagogisches wie therapeu-

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tisches und für humanes Handeln überhaupt. In einer Entwicklungsperspektive steht die Überzeugung der Ähnlichkeit ihrerseits am Ende eines Reifungs- und Integrationsprozesses, der von den Bezugs- und Bindungspersonen unterstützt werden muss, wenn er gelingen soll (vgl. Hawellek, 2012, S. 61 ff.). Aus diesem Grunde sind die Erfahrungen mit empathischen und mitfühlenden Eltern oder Bezugspersonen der Nährboden, auf dem diese Überzeugung wachsen kann. –– »Es gibt keinen privilegierten Einblick in die Erfahrungswelt eines anderen.« Diese Einsicht der Humanistischen Psychologie ist zugleich ein starkes Plädoyer für beobachtungsgeleitete Beratungs- und Therapieverfahren. Die Klienten unterliegen hier keiner Deutungshoheit durch Experten, sondern stehen diesen als »Kophänomenologen« zur Seite. Die inhaltliche Grundlage der gemeinsamen Arbeit bildet das, was dem Klienten und Therapeuten vor Augen ist. Der therapeutische Dialog zielt auf die gemeinsame Entwicklung eines narrativen Formates der beobachteten Gegenwartsmomente unter einer Leitperspektive; zum Beispiel der, die Entwicklung eines Kindes zu unterstützen. –– »Radikale Lösungen vergrößern oft das Leiden.« Die Marte-Meo-Methode wurde auch als »Kunst der kleinen Schritte« (Hawellek u. Meyer zu Gellenbeck, 2005) bezeichnet. Die Beachtung der kleinen undramatischen Alltagsmomente durch die Einführung einer videobasierten Mikroperspektive auf soziale Beziehungen ist ein Gegenmodell zu allen radikalen Lösungen: »Ich plädiere […] für eine andere Sicht des klinischen Prozesses, nämlich für eine Perspektive der momenthaften lokalen Ebene. Wenn wir uns auf die lokale aus Gegenwartsmomenten bestehende Ebene konzentrieren, entwickeln wir eine neue klinische Sensibilität« (Stern, 2010, S. 227). –– »Die Allgegenwärtigkeit des Leidens erfordert Akzeptanz, Mitleiden und Trösten.« Die Beobachtung von Momenten und Szenen, in denen Leid sichtbar ist, erlaubt ein unmittelbares Miterleben und schafft so Bedingungen für eine empathische Teilnahme am Geschehen. Im therapeutischen Dialog können zukünftige Möglichkeiten zur Linderung des erfahrenen Leids ihren Platz finden. Dazu gehört zweifelsfrei auch der Trost. In einer etymologischen Perspektive hat der Begriff des Trostes eine Verbindung zu den Begriffen »Vertrag« und »Bündnis« und bedeutete eigentlich »(innere) Festigkeit« (Duden, 1963). Dies kann als Hinweis dafür gelten, dass der Trost als humane Geste auch in beraterischen und therapeutischen Beziehungen einen angestammten Platz hat.

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Marte Meo und elterliche Präsenz Unsere Überlegungen zeigen, dass die »Philosophien« der elterlichen Präsenz und der Marte-Meo-Methode einander nahestehen und in einigen Bereichen eng miteinander verwandt sind. Die Arbeitsformen beider Konzepte unterscheiden sich durch ihre Herangehensweisen. Das Elterncoaching des gewaltfreien Widerstands schmiedet engagierte Allianzen gegen destruktive Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen und begleitet die Eltern durch die eigene Präsenz. Die MarteMeo-Methode stellt die Entwicklungsperspektive auf Kinder und ihre gezielte Unterstützung in den Fokus der gemeinsamen Beobachtungen und der anschließenden Beratung. Beide Methoden wurzeln in der Lebenswelt der Klienten, dem Alltagsgeschehen und regen dort zu Veränderung und Entwicklung an. Sie folgen den Eltern in einer Praxis des »learning on the job« und unterstützen sie dabei, diesen kompetent und ohne kompensatorische professionelle Hilfe zu tun. Auf diese Weise sind beide Coachingmethoden im Leben der Klienten verankert und können dort zur Entwicklung eines humanen Miteinanders beitragen.

Literatur Aarts, M. (2005). Von der Botschaft hinter den Problemen. In C. Hawellek, A. von Schlippe (Hrsg.), Entwicklung unterstützen ‒ Unterstützung entwickeln (S. 37–55). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Aarts, M. (2011). Marte Meo. Ein Handbuch. Eindhoven: Aarts Productions. Adorno, T. W. (1973). Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bateman, A. W., Fonagy, P. (2006). Mentalisation-based treatment for borderline personality disorder: A practical guide. Oxford: Oxford University Press. Bodenheimer, A. R. (1992). Warum? Von der Obszönität des Fragens. Stuttgart: Reclam. Bünder, P., Sirringhaus-Bünder, A., Helfer, A. (2009). Lehrbuch der Marte-Meo-Methode: Entwicklungsförderung mit Videounterstützung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Duden (1963). Das Herkunftswörterbuch. Mannheim: Bibliographisches Institut. Hawellek, C. (1995). Das Mikroskop des Therapeuten. Systhema, 10 (1), 6–28. Hawellek, C. (1997). Von der Kraft der Bilder. Systhema, 12 (2), 125–136. Hawellek, C. (2005). Ein-Sichten – Marte Meo in der Erziehungs- und Familienberatung. In C. Hawellek, A. von Schlippe (Hrsg.), Entwicklung unterstützen – Unterstützung entwickeln. Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell (S. 56–72). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hawellek, C. (2010). Vorwort. In H. Omer, A. von Schlippe, Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde (S. 9–12). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hawellek, C. (2011). »Sich beobachten heißt sich verändern.« Zu den Grundlagen videobasierter

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Beratungsarbeit. In H. Schindler, W. Loth, J. von Schlippe (Hrsg.), Systemische Horizonte (S. 167–179). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hawellek, C. (2012). Entwicklungsperspektiven öffnen. Grundlagen beobachtungsgeleiteter Beratung nach der Marte-Meo-Methode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hawellek, C., Meyer zu Gellenbeck, K. (2005). Die »Kunst der kleinen Schritte«. Marte Meo: Ein Modell und eine Methode sozialer Intervention. In C. Hawellek, A. von Schlippe (Hrsg.), Entwicklung unterstützen – Unterstützung entwickeln. Systemisches Coaching nach dem MarteMeo-Modell (S. 75–86). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hawellek, C., Rolfes, W. (2004). Frühe Erziehungsberatung. In LAG (Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung) Hessen (Hrsg.), EB-Kurier 2005. Frankfurt a. M. Hawellek, C., Schlippe, A. von (Hrsg.) (2005). Entwicklung unterstützen – Unterstützung entwickeln. Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mollenhauer, K. (1972). Theorien zum Erziehungsprozess. München: Juventa. Omer, H., Alon, N., Schlippe, A. von (2007). Feindbilder. Psychologie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Lebowitz, E. (2012). Ängstliche Kinder unterstützen. Die elterliche Ankerfunktion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. »Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Øvreeide, H., Hafstad, R. (1996). The Marte Meo method and developmental supportive dialogues. Harderwijk: Aarts Productions. Papoušek, H., Papoušek, M. (1995). Intuitive parenting. In M. H. Bornstein (Ed.), Handbook of parenting, Vol. 2: Biology and ecology of parenting (pp. 117–136). Hillsdale, NJ: Erlbaum. Petzold, H. G. (1993). Integrative Therapie Bd. 1–3. Paderborn: Junfermann. Pleyer, K. H. (2003). »Parentale Hilflosigkeit«, ein systemisches Konstrukt für die therapeutische und pädagogische Arbeit mit Kindern. Familiendynamik, 28 (4), 467–491. Rutschky, K. (1977). Schwarze Pädagogik. Frankfurt a. M. u. Berlin: Ullstein. Schlippe, A. von (2012). Vorwort. In C. Hawellek, Entwicklungsperspektiven öffnen. Grundlagen beobachtungsgeleiteter Beratung nach der Marte-Meo-Methode (S. 7–10). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Stern, D. (2010). Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Stern, D. (2011). Ausdrucksformen der Vitalität. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.

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Teil 4: Unterschiedliche Anwendungsaspekte und -bezüge

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Martin Lemme und Bruno Körner

Sichere Orte: Verankerung und Verantwortung nach Psychotraumata

Zum Kontext Wir erleben aktuell eine Diskussion, die Psychotraumata bzw. die Personen, die wahrscheinlich oder möglicherweise ein solches erlebt haben, sehr in den Vordergrund rückt. Dies hat wohl mit den neueren Erkenntnissen der Neurobiologie ebenso zu tun, wie mit der derzeit intensiv stattfindenden Entwicklung therapeutischer Verfahren für diesen Bereich. Möglicherweise hat es auch mit dem Erleben eigener Hilflosigkeit im Umgang mit Verhaltensweisen zu tun, denen wir mit unseren bekannten Möglichkeiten wenig oder nichts Erfolgversprechendes entgegensetzen können. Es gab und gibt immer wieder Diagnosen, die anscheinend eine Macht in sich entfalten, durch die Therapeuten und Pädagogen sowie auch andere Personen im Umgang meinen, innerlich aufrüsten zu müssen, um dieser Macht etwas entgegenstellen zu können. War dies zuletzt vor allem die Diagnose der »Borderline-Störung« (siehe z. B. Sachsse, 2004), könnte jetzt auch die sogenannte Psychotraumatische Belastungsstörung einen solchen Stellenwert einnehmen. So erklären wir uns als Therapeuten und Pädagogen unser eigenes Scheitern, also die selbst erlebte Macht- oder Hilflosigkeit, nicht selten mit Diagnosen, die durchaus auch Modeströmungen unterliegen. Dies kann bis dahin führen, dass wir bei noch nicht vorhandener Erinnerung der Traumatisierungen von deren Existenz im Präverbalen, Vorgeburtlichen oder sogar Transgenerationalen ausgehen. So hat diese Diskussion auch die neue Autorität erreicht. In Seminaren und Workshops sind wir häufig mit der Frage »konfrontiert« worden, wo denn im Konzept das Kind/der Jugendliche bleibe. In den letzten Monaten ist die Frage nach der »Stimme des Kindes« vermehrt diskutiert worden (→ siehe dazu auch die Beiträge von Peter Jakob und Michael Bachg in diesem Band sowie Omer, 2013). Wir wollen in diesem Beitrag unsere Sicht im Umgang mit den Bedürfnissen der betroffenen Kinder und Jugendlichen hinter deren manchmal schwer aus-

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haltbaren Verhaltensweisen beschreiben, dabei auf die dazugehörigen Diagnosen verweisen und letztlich dafür plädieren, dass es nicht vorrangig um die Diagnose oder das Erlebte der Betroffenen geht. Ausgehend von der Ankerfunktion im Rahmen der neuen Autorität erläutern wir unsere Vorgehensweise im Umgang auch mit Kindern und Jugendlichen, die vermutlich ­psychotraumatische Erfahrungen gemacht haben. Dabei beschreiben wir dies anhand eines Leitfadens sowie der Handlungsaspekte der neuen Autorität. Wir werden dabei bewusst nicht auf eine Problemdiagnose Traumatisierung fokussieren, sondern uns den Stärken und Möglichkeiten widmen, die im Konzept der neuen Autorität liegen, egal, was jemand vorher erlebt hat. Wir gehen dabei vor allem von professionellen Beziehungen in Jugendhilfe und Pflege- bzw. Adoptivfamilien aus.

Eine Fallgeschichte Hannah ist 16 Jahre alt. Von ihrer Geschichte ist bekannt, dass ihre Mutter Alkoholikerin sei und sich nur wenig um sie habe kümmern können. Als Hannah drei Jahre alt war, verließ der Vater die Familie. Es habe viel Streit und auch Gewalt gegeben. Wie bekannt wurde, habe sich das Mädchen während dieser Streits häufig in einen Spalt zwischen Wand und Schrank hinter der Tür versteckt und darauf gewartet, dass die Auseinandersetzung zwischen den Eltern vorüberginge. Etwa zur Grundschulzeit sei in die Wohnung der Mutter der Stiefvater eingezogen. Es sei weiterhin viel Alkohol getrunken worden. Dieser Stiefvater habe sich dem Mädchen immer mehr genähert, sich nackt zu ihr gelegt und sie zu sexuellen Handlungen gezwungen. Es kam auch zu Vergewaltigungen. Der Stiefvater drohte, sie ins Heim zu bringen und der Mutter etwas anzutun, wenn sie darüber spreche. In der Schule sei sie immer schwächer geworden. Außerdem habe sie unruhig auf ihrem Stuhl gezappelt und sei häufig gedanklich abwesend gewesen. Sie fing an, frech zu werden, zu widersprechen und manchmal sogar aus dem Unterricht zu gehen. Sie erhielt Strafarbeiten, musste nachsitzen und erlebte wohl einigen Ärger durch Lehrer und Schulleitung. Zwischen Mutter und Lehrkräften gab es Streit, Unverständnis und wenig Kontakt. Nachdem sie im Alter von elf Jahren zunächst einen Missbrauch durch den Stiefvater, anschließend lauten Streit und eine Schlägerei ihrer Mutter mit dem Stiefvater erlebte, ging sie übermüdet, unkonzentriert und ohne Hausaufgaben in die Schule. Dort erlebte sie Mahnungen, Ärger und einen Streit mit ihrer Lehrerin. Nach der Schule lief sie davon, auf der Suche nach den Großeltern. Sie landete in der Schutzstelle,

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wo es nach einiger Zeit Konflikte gab. Sie kam in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, verbrachte dort drei Monate. Danach wurde sie in eine Wohngruppe vermittelt. Sie hörte auf zu essen. Nach einigen Monaten wurde sie erneut in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht. Eine Rückkehr in die Wohngruppe wurde ausgeschlossen. Sie kam in eine neue Wohngruppe. Dort fing sie an zu ritzen, zunächst vorsichtig, dann immer intensiver. Auch das Essen kontrollierte sie sehr. Erneut folgte Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Diagnose Borderline, neue Wohngruppe, Konflikte, Entweichen, Kinder- und Jugendpsychiatrie … Es stellte sich die Frage, was nun mit ihr weiter geschehen sollte.

Schicksale wie das der 16-jährigen Hannah sind kein Einzelfall. Sie erlebt ein zerrüttetes Elternhaus, traumatische Erfahrungen mit Alkohol und sexueller Gewalt, Helfer, die nicht wissen, wie sie ihr begegnen sollen, Pathologisierung, Misstrauen und Enttäuschung von vielen Erwachsenen. Und ganz ehrlich – wenn wir als Profis von einer solchen Geschichte hören, dann lähmt es uns Autoren immer noch und immer wieder, obwohl wir mittlerweile ähnliche Schicksalsbeschreibungen schon häufiger gehört haben. Nun ist guter Rat teuer, wie man dieser Jugendlichen Sicherheit, Schutz und Zugehörigkeit vermitteln könnte. Wir werden uns im Folgenden damit beschäftigen, wie aus unserer Sicht durch das Konzept der neuen Autorität der Bedürftigkeit der beteiligten Menschen angemessen begegnet werden kann und stabile Beziehungen geboten werden können. Auch werden wir uns damit beschäftigen, wer welche Verantwortung für eine neue Verankerung hat. In unserer Arbeit orientieren wir uns an dem Leitfaden, der in Tabelle 1 abgebildet ist. Wir werden nun diesem Leitfaden nachgehen und unsere Gedanken danach entwickeln. Tabelle 1: Neue Autorität ‒ ein Leitfaden Leitfaden in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen –– Was oder wer braucht Schutz? –– Wie hoch wird die Gefahr einer Eskalation eingeschätzt? –– Um welches Verhalten geht es genau? Welchem Verhalten soll Widerstand entgegengesetzt werden? –– Welche Bedürfnisse bzw. Motivation stehen hinter dem gezeigten Verhalten? –– Was könnte dazu beitragen, die Situation zu (de-)eskalieren? –– Welche Möglichkeiten sind vorhanden? –– Welche Intervention erscheint auf welchen Ebenen erforderlich, um Präsenz (wieder-) herzustellen (Handlungsaspekte)? –– Was wäre der nächste Schritt, auch wenn er noch so klein ist?

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Schutz und Sicherheit Es stellt sich sicher nicht nur für uns zunächst die Frage, welche Schutzbedürftigkeit für wen besteht. Es ist unstrittig in der traumatherapeutischen Vorgehensweise, dass die Gestaltung von neuen Lebensräumen und auch die spätere Begegnung mit den erlebten Traumen einen sicheren Ort benötigen (Reddemann, 2010, 2011; Sachsse, 2004). Zu einem sicheren Ort gehört demnach das Erleben von Beziehungen, die auch in Krisen tragfähig sind. Zu diesem Ergebnis kommen auch einhellig alle Untersuchungen zum Thema der Resilienz, also der erfolgreichen Überwindung der Einflüsse extrem schwieriger kritischer Ereignisse hin zu einer gesunden Entwicklung (z. B. Werner u. Smith, 1982). Nach Werner und Smith lässt sich Resilienz auf drei Faktoren zurückführen: –– Eigenschaften des Kindes, die positive Reaktionen in einem sozialen Umfeld auslösen; –– emotionale Bindungen und Sozialisierungspraktiken der Familien, die Vertrauen, Selbstständigkeit und die Initiative des Kindes verstärken; –– externe Unterstützungssysteme, die die Kompetenzen des Kindes und die Entwicklung positiver Wertvorstellungen fördern. Werner (1993) nimmt an, dass Resilienz eine Fähigkeit darstellt, die im Entwicklungsprozess erworben wird. Dabei kommen offensichtlich zwei Faktoren bei der Entwicklung eine besondere Bedeutung zu: Erfahrungen gelungener Bewältigung und positive Bindungsbeziehungen. Die Qualität der emotionalen Bindung des Kindes an eine Bezugsperson scheint eng verknüpft mit seinem Selbstbild (Ainsworth, Blehar, Waters u. Wall, 1978). Wir gehen davon aus und sehen dies durch unsere praktische Erfahrung bestätigt, dass auch Kinder und Jugendliche, die in ihrer Kindheit nur wenig bis gar keine positiven Bindungsbeziehungserfahrungen haben, durch das spätere Erleben solcher Bindungserfahrungen nachträglich Resilienz entwickeln können (vgl. auch Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 2012). Wir orientieren uns dabei an dem Modell der Präsenz nach Omer und von Schlippe (2004, 2009, 2010), angewendet und umgesetzt in der Heimerziehung und bei Pflege- bzw. Adoptivfamilien. Insofern kann auch im Fall von Hannah nur von einer Veränderung ausgegangen werden, wenn sie einen Ort erleben kann, der ihr Schutz, Geborgenheit und auch Sicherheit vermittelt, selbst wenn sie die Verhaltensweisen zeigt, die ihr zu eigen geworden sind.

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Worum geht es genau? Psychotraumata und ihre möglichen Folgen »Eine der am meisten verbreiteten Krankheiten ist die Diagnose.« (Karl Kraus, 1911, S. 41) Wenn wir an dieser Stelle darüber nachdenken, was Psychotraumen genau sind und bedeuten, dann geht es uns nicht um eine diagnostische Ergänzung, Abgrenzung oder besondere Differenzierung. Uns geht es eben auch nicht um die Beschreibung eines neuen Feindbildes, dem es sich mit Macht zu stellen gelte. Wie wir in unserem Leitfaden schon deutlich gemacht haben, geht es uns darum zu verstehen, an welcher Stelle was genau passiert ist und wie eine mögliche Antwort aus Sicht der Handlungsaspekte der neuen Autorität aussehen könnte, selbst bei jungen Menschen, die in ihrer Geschichte Schlimmes erlebt haben. Wir beschäftigen uns also im Folgenden ein wenig mit der Unterscheidung verschiedener Traumatypen und ihrer Beschreibungen. Dabei wissen wir aus unserer praktischen Erfahrung, dass Beschreibungen und die daraus folgende Diagnostik sowohl hilfreich zum Verständnis sein als auch destruktiv zur Pathologisierung führen können. Wir plädieren bereits an dieser Stelle für eine sehr individuelle und subjektive systemische Diagnostik, die vor allem berücksichtigt, welche Faktoren dazu geführt haben, dass die gezeigten Verhaltensweisen sich so entwickelt haben, wie sie denn zum Beispiel bei Hannah aktuell vorzufinden sind. Im Umgang mit Hannah ist festzustellen, dass Lehrerinnen, Pädagoginnen und Therapeuten wie Ärzte immer wieder an ihre Grenzen angelangt sind. Es wird an ihrem Beispiel sichtbar, dass das Helfersystem im Laufe der Zeit die bereits verletzten Bedürfnisse nicht wieder aufgebaut, sondern vielleicht sogar die negative Entwicklung (im Sinne einer symmetrischen Eskalation) weiter hat eskalieren lassen. Dabei spielte die Frage der Diagnostik durchaus eine Rolle, da wir von dem verbreiteten Trugschluss wissen, dass, wenn wir nicht weiterkommen, tief im Untergrund ein noch schwierigeres Trauma verborgen sein müsse, welches wir noch nicht kennen und somit auch noch nicht bearbeiten können. An dieser Stelle pathologisieren Helfer möglicherweise ein Verhalten, das damit viel stärker den weiteren Umgang bestimmen könnte, als dies einer hilfreichen Entwicklung zur Überwindung gut tut. Zudem gestehen sie ihre Hilflosigkeit ein, was letztlich zu einer Verstärkung der Unsicherheit auch beim jungen Menschen führt und die Veränderungsmöglichkeiten zunehmend einschränkt.

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In unserer praktischen Tätigkeit erscheint es zunächst hilfreich zu wissen, ob es sich bei dem Erlebten um einmalige und/oder wiederholte Ereignisse handelt. Terr (1990) beispielsweise unterscheidet einen Traumatyp 1 (einmalige, völlig unerwartete Ereignisse) und einen Traumatyp 2 (Situationen, die längere Zeit andauern und aus denen es kein Entrinnen gibt). Tatsächlich erscheinen für viele Betroffene einmalige Situationen (Monotraumen) besser zu integrieren zu sein als Traumen, die zum einen wiederholt oder gar andauernd auftreten und zum anderen keine Möglichkeit des Ausweichens bieten. Damit wäre auch jede Fluchtmöglichkeit sowie jede Aktion der Selbstwirksamkeit außer Kraft gesetzt. Maercker und Rosner (2006) machen genau diese Unterscheidung zwischen Monotrauma und Multitrauma. Demnach wäre ein Monotrauma das Erleben eines einmaligen traumatischen Ereignisses, während das Multitrauma die anhaltende Ausweglosigkeit und die möglicherweise unterschiedlichen Erlebensebenen (Beobachtung, Selbsterleben, unterschiedliche Erfahrungsebenen ‒ physisch, psychisch, emotional) einbezieht. In der Literatur findet sich auch die sogenannte »sequentielle Traumatisierung« (Keilson, 1979), die das Erleben von mehrfachen ähnlichen Ereignissen (Foltererfahrungen, Kriegserlebnisse, innerfamiliärer Missbrauch) in möglicherweise größeren zeitlichen Abständen beschreibt. Dazu finde sich auch der Begriff der »kumulativen Traumata« (Khan, 1963), welcher beschreibt, dass erst einzelne Ereignisse in der Addition zu dem Erleben von posttraumatischen Erkrankungen führen (Bagatellunfälle, wiederholte Beschämung, Bedrohungen, Mobbing). Gerade in Zusammenhang mit dem sogenannten dissozialen Verhalten findet sich nicht selten diese Art und Weise der kumulativen Erfahrungen in Beziehungszusammenhängen. Francine Shapiro (2003), die Begründerin der EMDR-Vorgehensweise (Eye Movement Desensitization and Reprocessing; Augenbewegungsdesensibilisierung und -wiederaufarbeitung), differenziert nach dem Ausmaß des traumatischen Ereignisses. So unterscheidet sie Big-T-Traumata, die das Erleben von existenzieller äußerer und innerer Bedrohung durch Angriffe auf Körper, Leib, Geist, Seele, Leben und sozialer Existenz beschreiben. Zum anderen gibt es ihrer Ansicht nach sogenannte Small-T-Traumata, die zunächst scheinbar weniger katastrophalen Ereignisse, die mit Schreck und Angst in Verbindung mit einem hohen Maß an bestürzender Beschämung, Peinlichkeit, tiefer Verunsicherung und vermeintlicher oder realer Schuld einhergehen und die den Betroffenen mit der gleichen Unausweichlichkeit wie die Big-T-Traumata widerfahren. Weitere Unterscheidungen finden sich zum Beispiel in Bezug auf die Verursacher von traumatischen Ereignissen. So beschreibt Wöller (2006) apersonale Traumen als nicht durch Menschen herbeigeführt oder nicht personal zuzuordnen (Naturkatastrophen, unpersönliche Aspekte von Kriegswirren) und perso-

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nale Traumen, die zuordenbare, direkte, persönliche Erfahrungen (Überfälle, Vergewaltigungen und Missbräuche, Gewalt im Nahbereich, Folter) ausmachen. Sicher ist es auch hilfreich, eine Unterscheidung nach Lebensalter beim Erleben von Traumen zu machen. Dabei kann tendenziell festgestellt werden, dass Traumatisierungen im frühen Kindesalter deutlich eher zu komplexen Traumafolgestörungen führen als Traumatisierungen im Erwachsenenalter. Unterscheidungsmerkmale aus systemischer Perspektive (Hanswille u. Kissenbeck, 2008, S. 28) beziehen sich vor allem auf das System, weniger auf das Individuum. Sie nennen als außerfamiliär erlebte Traumata unter anderem Gewalt oder sexuelle Übergriffe, Unfälle, Krieg, Verfolgung, Folter, traumatische Verluste (z. B. Trennungen), Naturkatastrophen, Mobbing, Ausgrenzung. Innerfamiliär erlebte Traumata können demnach sexuelle inzestuöse Übergriffe und Ausbeutung, Züchtigung, Gewalt, körperliche, emotionale Deprivation, Misshandlung, Gewalt zwischen Eltern, Mord, Suizid eines Familienmitgliedes, Erkrankungen von Vertrauenspersonen usw. sein. Diese wirken häufig schwerer, da sie in einem grundsätzlich als Schutzraum erwarteten Kontext erlebt werden. Hanswille und Kissenbeck (2008) unterscheiden in ihrer Vorgehensweise fünf Zugänge in einem systemischen Fünfachsenmodell: –– Traumaauslöser: außer-/innerfamiliär, personal oder apersonal, Grundthemen; –– Traumakontext: inner-/außerfamiliär, Kontext vor, während und nach dem Trauma; –– Traumadosis: Dauer, Schweregrad (Typ 1 oder 2), Alter, einzelne Ereignisse versus Ereignisketten versus Ereignisfelder im System; –– Traumafokus: Individuum, Subsystem oder das gesamte System; –– Traumabeziehungsmuster: interaktionell, transgenerational oder fragmentiert. Dabei gehen sie davon aus, dass die Optionen im Umgang erhöht werden sollen und insbesondere für Kinder eine Möglichkeit geschaffen werden soll, die es ihnen ermöglicht, eine angemessene Begleitung und Antwort für das eigene Erleben und Verhalten zu finden.

Traumata und Hirnentwicklung Fassen wir also für Hannah zusammen, dass sie offensichtlich mehrfach massivste Übergriffe von vermeintlich vertrauenswürdigen Personen erfahren hat, die sehr personal auf sie gerichtet gewesen sind. Diese schrecklichen Erlebnisse waren sowohl körperlicher als auch emotionaler Art und Weise. Sie hat

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außerdem im familiären Raum keinen Schutz erfahren und kann bisher nicht auf stabile absichernde Beziehungserfahrungen zurückgreifen. Auch in den späteren Hilfekontexten hat sie bisher keine anderen Erfahrungen über längere Zeit machen können. Mit ihrem Verhalten und den mächtig gewordenen Diagnosen hat sie es offensichtlich anderen Personen zunehmend schwerer gemacht, mit ihr in einen guten Kontakt zu finden oder dies überhaupt anzustreben.

Gerald Hüther (2003) beschreibt die Hirnentwicklung als einen sich selbst organisierenden Prozess, der bei traumatischen Ereignissen gestört wird und folglich eine Desorganisation erfährt. Danach findet die neurologische Entwicklung nicht einem Programm (genetisch oder göttlich determiniert) folgend statt, sondern Nerven entwickeln sich aufgrund von zirkulären und wechselwirkungsbedingten Prozessen zwischen ihren grundsätzlichen Möglichkeiten (genetische Voraussetzungen), den bereits vorhandenen Erfahrungen, den aktuellen inneren Notwendigkeiten und den äußeren Anforderungen. Im Laufe der Entwicklung des Kindes findet danach ein Wechsel von innerer Organisation zu immer stärkeren äußeren Einflussnahmen statt. Durch sensorische Eingänge getriggerte Erregungsmuster führen dazu, dass die zugehörigen neuronalen Verschaltungsmuster stabilisiert werden; die Stabilität dieser Verschaltungen hängt von dem Vorhandensein der sie stabilisierenden Eingänge und Erregungsmuster ab. Bleibt also ein Input über längere Zeit aus, entwickelt sich auch die neuronale Verschaltung zurück, ist er zu stark, dominiert er auch die Entwicklung damit in Zusammenhang stehender Verschaltungsmuster. Im Normalfall führt dieser Prozess zu förderlicher Entwicklung, Veränderung und Anpassung. Dabei kann man das jeweils vorhandene neuronale System als ein homöostatisches Gleichgewicht (nach Cannon, 1975) beschreiben sowie etwaige Störungen, die die ausgebildeten neuronalen Verschaltungen und Interaktionen gefährden, als Stressreaktionen. Diese Stressreaktionen fordern das vorhandene Gleichgewicht heraus, dieses reagiert im Sinne eines Ausgleichs. Bei entsprechend anhaltender und dauerhafter Stressreaktion kommt es zu grundlegenden Veränderungen und Anpassungen des homöostatischen Gleichgewichts. Hüther (2003) unterscheidet dabei zwei Arten der Stressreaktion: –– Kontrollierbare Stressreaktion: Zu diesen Reaktionen kommt es, wenn die bisher angelegten Verschaltungen zwar prinzipiell zur Beseitigung der Störung geeignet, aber aktuell noch nicht effizient genug sind, um diese vollständig und routinemäßig zu beantworten. »Wiederholt auftretende, kontrollierbare psychosoziale Belastungen (Herausforderungen) können so zu einer sukzessiven Stabilisierung, Faszilitation und verbesserten Effizienz der in

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die Antwort involvierten neuronalen Netzwerke und Verbindungen führen« (Hüther, 2003, S. 98). Hier finden also Anpassungs- und Lernprozesse statt. –– Unkontrollierbare Stressreaktion: Für diese ist im vorhandenen neuronalen System nicht genügend Potenzial zur Abwehr bzw. Integration vorhanden. Es kommt somit zu einer hohen neuronalen und hormonellen Belastung, die zum Teil längere Krisen nach sich zieht, insbesondere wenn diese Stressoren aufrechterhalten bleiben. Derartige Krisen finden beispielsweise in der Pubertät statt. Beide Arten dieser Stressreaktionen tragen somit zur Entwicklung, Entfaltung, Neuorganisation und Strukturierung des Gehirns bei. Sie sind damit wesentlich an der Weiterentwicklung und Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale beteiligt. Schwere, unkontrollierbare Belastungen führen durch die massive Destabilisierung nicht mehr notwendiger oder unbrauchbar gewordener Verschaltungen (weil sie aktuell nicht mehr hilfreich zur Bewältigung der Situation erscheinen) zu Neuorientierung und Reorganisation von bisherigen Verhaltensmustern, selbst wenn wir diese möglicherweise als prosozial, notwendig und brauchbar bewerten. Dies meint wohl eine grundsätzlich dynamische Entwicklung und Anpassung an die wahrgenommene Bedürfnislage zur Wiederherstellung einer neuen Balance. Je früher während der Individualentwicklung derartige stabilisierende und destabilisierende Erfahrungen verhaftet und verankert sind, desto tiefer und nachhaltiger bestimmen sie die weitere Nutzung und Ausformung der vorhandenen neuronalen Schaltungen und damit auch die in der Vorstellungswelt einer Person verankerten Erfahrungen und die von ihr gehegten Erwartungen. Die wichtigsten Erfahrungen von Menschen in der frühen Kindheit sind das Erleben von Schutz und Geborgenheit, das Erleben von Sicherheit und dementsprechender Vertrauensaufbau. Eine weitere wichtige Erfahrung ist die früh erfahrene Selbstkontrolle, also die Erkenntnis, eine Bedrohung oder Störung des inneren Gleichgewichts durch eigenes Handeln unter Kontrolle bringen zu können. Bei beiden beschriebenen Stressreaktionen gelingt es der betreffenden Person letztlich, sich neu zu organisieren, einen neuen Plan im Umgang mit den Stressoren zu entwickeln. Kommt es aber zu dem Erleben einer Stressreaktion, in der das Kind keinen Ausweg auf die beschriebene Weise findet, führt dies zu einer Art Notreaktion. Dem geht der Zusammenbruch seiner integrativen Regelmechanismen voraus und sie führt zur Manifestation von unterschiedlichen körperlichen und/oder psychischen Störungen. Auslöser hierfür sind neben Katastrophen und einmalig erlebten Traumen vor allem auch negative Erfahrungen im Umgang mit eigenen kindlichen Bedürfnissen, insbesondere wenn diese durch vermeintlich vertrauenswürdige Bezugs-

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personen verletzt werden. Die so ausgelösten Destabilisierungsprozesse können lebensbedrohliche Ausmaße annehmen. Jeder Mensch versucht derartige traumatische Erfahrungen und die posttraumatisch aufflammenden Erinnerungen unter Kontrolle zu bringen (Hüther, 2003). Wenn hier die Vertrauenspersonen nicht mehr verfügbar sind, kommt es quasi zu einer Ausklammerung des Erinnerungsschatzes durch die Veränderung der eigentlichen Wahrnehmung sowie zu einer assoziativen Verarbeitung von Phänomenen der Außenwelt. Hat der Mensch eine Möglichkeit des Ausgleichs gefunden, dann hört der Destabilisierungsprozess auf und die Stressreaktion erscheint kontrollierbar. Durch die Dominanz dieser als positiv erlebten Erfahrung kann die neue Homöostase in erheblichem Maße die weitere Wahrnehmung und Entwicklung beeinflussen. Die Bewertung des Erfolgs einer Strategie ist natürlich ein subjektiver Prozess. So unterscheiden sich die Lösungsversuche traumatisierter Kinder und Erwachsener häufig deutlich von denen nichttraumatisierter Personen. Die dann entstehenden abwertenden und erneut destabilisierenden Reaktionen anderer auf diese individuellen Notlösungen führen häufig zu einem fatalen Kreislauf. Deutlich wird somit, dass Kinder mit traumatischen bzw. vermuteten traumatischen Erlebnissen eine dauerhafte und stabile Neuorganisation ihres inneren Erlebenssystems mit entsprechender neuronaler Abbildung benötigen. Entsprechend sind Maßnahmen mit beharrlichem, intensivem und dabei gleichbleibendem Beziehungsangebot hilfreich. Zurück zum Fallbeispiel von Hannah – was ist also genau das zu beschreibende Problem? Hannah hat Schutz, Sicherheit und Vertrauen nicht erleben können, auch die Erfahrungen von Selbstkontrolle konnten bisher offensichtlich nicht gemacht werden. Insofern hat sie eigene Kontrollideen und -möglichkeiten entwickelt, die dazu führten, dass sie dann in Kontakt mit anderen Menschen gehen konnte, wenn sie diese auf einer Distanz hält, die es ihr möglich macht, sich innerlich zu stabilisieren. Ihre ablehnende Haltung könnte somit als eigener Schutz davor verstanden werden, nicht erneut enttäuscht zu werden. Erwachsene, Betreuer und Helfer werden somit möglicherweise zu Personen, die in ihrem Bild nicht vertrauenswürdig und unterstützend sein können. Dabei hat sie wohl auch erlebt, wie sehr sie deren Verhalten wiederum dominieren kann, wenn sie sich verweigert oder in eskalierende Machtkämpfe einsteigt. Man kann von einem Bedürfnis nach Annahme, Sicherheit und dem Erleben von Selbstkontrolle ausgehen, egal wie sie sich verhält. Ihr Verhalten wäre damit ein Prüfstein für das Vertrauensverhältnis. So erscheint dieses nicht mehr unüberwindbar, gar hilflos machend, weil traumatisch schwierig, sondern wird eher zu einer Beziehungsanforderung an die ihr begegnenden Erwachsenen.

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Bindung und Ankerung Wir gehen davon aus, dass Eltern ein intuitives Eltern-Kind-Bindungsverhalten haben. Manchmal ist dies durch eigene Erfahrungen und fehlende Modelle eingeschränkt oder gar gestört. Doch grundsätzlich scheint es ein System von beziehungsaufbauenden Verhaltensweisen zu geben, mit dem Eltern ausgestattet sind (siehe u. a. Aarts, 2002; Ainsworth, Blehar, Waters u. Wall, 1978; Bowlby, 2008). Wir gehen ebenfalls davon aus, dass Kinder von Geburt an über bindungsaufbauende Verhaltensweisen verfügen, zum Beispiel in Form von Mimik, Gestik, Stimme, emotionalem Ausdruck (Ainsworth, Blehar, Waters u. Wall, 1978; Bowlby, 2008). Auch hier kann es bereits pränatal zu Beeinflussungen kommen. Die Bindungstheorie geht von zwei grundsätzlichen elterlichen Funktionen der Bindung aus: 1. Die Ermöglichung einer Bindungsrepräsentation: Eltern bieten im günstigsten Fall ihren Kindern eine Möglichkeit, Schutz, Trost, körperliche Nähe etc. zu erfahren. Die Kinder erhalten so einen sicheren Ort, an dem sie gebunden sind, einen sicheren Hafen, in den sie stets wieder einlaufen können. Die Botschaft ist Sicherheit, Zuverlässigkeit und Emotionalität. 2. Die Ermöglichung eines Explorationssystems: Eltern bieten ebenfalls im günstigsten Fall Kindern eine Möglichkeit, wie sie sich selbständig entwickeln und gleichzeitig wissen können, dass sie begleitet werden. Dies bedeutet im Alltag, dass Kinder eigene Erfahrungen machen können, Eltern ihnen Mut und Begleitung zusprechen, sie auch altersgemäß auf Gefahren hinweisen, ihnen aber durchaus die Möglichkeit eigener Herausforderungen ermöglichen. Die Kinder erleben somit bei der Entdeckung ihrer Welt eine sichere Basis, auf die sie sich beziehen können. Sie werden gleichzeitig durch etwaige Herausforderungen und mögliche Krisen in ihrer Selbständigkeit, Selbstwirksamkeit und Selbsteffektivität, letztlich also in ihrem Selbstwert gestärkt. Diese stete Interaktion zwischen Eltern und Kindern und die andauernde feine Abstimmung benötigen entsprechend Zeiten und Möglichkeiten der Anpassung und der Überprüfung. Wir wissen heute insbesondere in Zusammenhang mit der Resilienzforschung, dass diejenigen Menschen besonders gut Krisen bewältigen können, die ein entsprechendes Netzwerk mit anderen Menschen haben, in dem sie die beiden vorgenannten Funktionen finden und abrufen können. Im Rahmen der neuen Autorität wird eine dritte Funktion benannt, die Funktion und Notwendigkeit von elterlicher Stärke in der Auseinandersetzung um Grenzen: die Ankerfunktion. Es geht aus unserer Sicht dabei darum, dass Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag neue Erfahrungen ausprobieren und in

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diesem Zusammenhang auch die Reaktion der Eltern überprüfen. Eltern stellen dann im Idealfall eine Position des »Gegenübers« dar, einer »neuen Autorität«, die durch die Bereitschaft zu einer Auseinandersetzung bei einem gleichzeitigen Angebot von Beziehung und Sorge geprägt ist, ohne sich durch eine Form der Gewalt durchsetzen zu wollen: Stärke statt Macht! Diese Ankerfunktion wird aktiv ausgeübt, nicht nur dann, wenn das Kind dies fordert, sondern auch dann, wenn die Eltern aus ihrer Sicht sehen, dass entsprechende Schritte notwendig erscheinen. Aus systemtheoretischer Sicht könnte man Erziehung als die Entwicklung eines psychischen Systems in seinem sozialen Kontext beschreiben (Schleiffer, 2001). Da wir davon ausgehen, dass das psychische System autonom funktioniert, ist diese Sozialisation letztlich also Selbstorganisation. Somit scheint die Kunst in der Erziehung die zu sein, Kinder dazu zu bringen, etwas freiwillig zu tun, was sie möglicherweise nicht tun wollen oder lediglich mit Widerwillen. Gleichzeitig sind erziehungsverantwortliche Personen darauf angewiesen, »dass sich ihre Zöglinge erziehen lassen, damit mit anderen Worten ihr psychisches System anlässlich der erzieherischen Kommunikation nicht Einspruch erhebt« (Rotthaus, 1998, S. 47). Dies gelingt häufig nicht, ist nicht selten ein irritierendes Geschehen. Verlieren Erziehungsverantwortliche ihre Präsenz, macht das Kind die Erfahrung, dass es zu sorglos mit der Akzeptanz der Asymmetrie der Beziehung umgegangen ist, also mit der inneren Überzeugung, dass die Erwachsenen in jedem Falle und komme was wolle mit der Situation zurechtkommen werden. Die Eltern werden dann nicht mehr als eigenständige Personen wahrgenommen, die rückhaltgebende Sicherheit, Orientierung und Unterstützung bieten. Der Jugendliche muss daher seine Bindungsbeziehung verändern, sodass die Vorhersagbarkeit der Beziehungen, die seine Welt zum großen Teil ausmachen, wieder ausreicht, um ein gewisses Maß an Planbarkeit zu erlangen: »Entwicklungsbedingt noch in einem hohen Maße abhängig von den Erwachsenen, aber ohne ausreichendes Vertrauen in deren Kompetenz, wird es sich daran machen, seine Bindungspersonen zu kontrollieren« (Rotthaus, 1998, S. 185). Dies ist nachvollziehbar, weil das Selbstkonzept, beispielsweise von Kindern und Jugendlichen mit dissozialen Verhaltensweisen, schwach und unsicher ist und sich noch mitten in der Entwicklung befindet. So erleben Kinder und Jugendliche, dass sie sich als Ursache einer Wirkung bei anderen erleben konnten, also die Erfahrung von Kontrolle über das Verhalten der Erwachsenen. Betroffene Jugendliche fangen an, diesen Zustand der kontrollierenden Einflussnahme immer wieder herzustellen, es wird quasi zu einem zentralen Motiv ihres Selbstwirksamkeitserlebens. So können dissozial handelnde Jugendliche wie Hannah möglicherweise

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nur schlecht aushalten, wenn es nicht um sie geht, was in Gruppen ja durchaus geschieht. Sie erleben ihre Selbstreferenz vor allem durch das eigene Handeln. Beim Handeln wird für die daraus folgende Zustandsveränderung vor allem auch das eigene System wieder verantwortlich gemacht: Ich handle, also bin ich! Demgegenüber wird für das Erleben der Zustandsveränderung die Außenwelt verantwortlich gemacht. Dabei werden auch Gefühle als Reaktionen der Außenwelt interpretiert. Das eigene selbstbezogene Erleben ist für die Betroffenen zu riskant, erfordert es doch Vertrauen und Sicherheit, da es selbstreflexiv wäre und möglicherweise Scham mit sich bringen könnte. Dissoziale Kinder und Jugendliche lernen beispielsweise in der Schule, dass die für die Aufrechterhaltung eines ausreichenden Selbstwertes (also fortwährend Reaktionen der Außenwelt zu erfahren) notwendige soziale Resonanz am ehesten über die Rolle des erziehungsschwierigen Schülers zu erreichen ist. Der Betroffene erlebt sich so als stark, nicht als hilflos und ausgeliefert. Insofern erscheint es zwangsläufig, dass sich Hannah in unserem Beispiel wiederkehrend so verhält. Sie wiederholt ein Verhalten, mit dem sie erreicht hat, dass sie auf der einen Seite das Verhalten anderer kontrollieren kann und auf der anderen Seite Reaktionen erhält, die zumindest einen Teil ihrer Bedürftigkeit erfüllen. Dabei bleibt natürlich die innere Unsicherheit, da der eigene Selbstwert allein vom Erfolg des eigenen Handelns abhängt. Könnte sie so nicht mehr reagieren, müsste sie andere Möglichkeiten entwickeln.

Welche Bedürfnisse stehen hinter dem Verhalten? Die Stimme der Bedürftigkeit Abraham H. Maslow (1943) formulierte als Motivation menschlichen Handelns eine Bedürfnishierarchie. Als möglicherweise wichtigster Gründervater der humanistischen Psychologie ging er davon aus, dass Menschen als grundsätzlich gut angesehen werden können. Der Mensch werde durch ein angeborenes Wachstumspotenzial angetrieben, um sein höchstes Ziel, die Selbstverwirklichung, zu erreichen: »Destruktivität, Sadismus, Grausamkeit sind nicht inhärent, sondern wesentliche Reaktionen auf Frustrationen unserer inhärenten Bedürfnisse« (Maslow, 1973, S. 21). Die Darstellung der Maslow’schen Bedürfnishierarchie in Form einer Pyramide ist eine spätere Interpretation seiner Arbeit durch andere (siehe Brecht-Mayländer, 2004). Maslow stellte fest, dass manche Bedürfnisse Priorität vor anderen haben. Er ordnete diese nicht nach einer konkreten

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Rangliste, sondern in Form von fünf größeren Kategorien an, beginnend mit den grundlegenden physiologischen bis hin zu den kognitiv und emotional hoch entwickelten humanen Bedürfnissen: physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse, Selbstverwirklichung. Anschließend nimmt er eine weitere Unterteilung in die sogenannten Defizitbedürfnisse (Mangelbedürfnisse) und in Wachstumsbedürfnisse (unstillbaren Bedürfnisse) vor. Nur solange ein Bedürfnis unbefriedigt sei, aktiviere und beeinflusse es das Handeln. Mit zunehmender Befriedigung eines Bedürfnisses nehme also dessen motivierende Kraft ab und das nächste in der dynamischen Hierarchie folgende Bedürfnis nehme an Einfluss zu. Sind demnach also die physiologischen Bedürfnisse relativ gut befriedigt, stellt sich für den Menschen die Frage nach den Sicherheitsbedürfnissen. Wiederum müssen nach diesem Modell die Sicherheitsbedürfnisse relativ weitgehend befriedigt sein, bevor die sozialen Bedürfnisse handlungsführend werden. Demnach würde ein Mensch, wie in unserem Beispiel Hannah, nur dann dem Wunsch nach sozialen Beziehungen im engeren Sinne nachkommen, wenn sie ihre Bedürfnisse nach Schutz und Sicherheit sowie Geborgenheit als gestillt wahrnimmt. Und erst, wenn die sozialen Bedürfnisse wiederum weitestgehend befriedigt sind, können sich nach Maslow die Individualbedürfnisse wie der Wunsch nach mentaler und körperlicher Stärke, Erfolg, Unabhängigkeit, Ansehen, Wertschätzung und Wichtigkeit entwickeln. Marshall B. Rosenberg geht mit Bezug auf den chilenischen Wirtschaftstheoretiker Max-Neef von neun übergeordneten Bedürfnissen aus (2004, S. 27 ff.). Demnach gibt es Bedürfnisse nach körperlicher Nahrung, Sicherheit, Verständnis und Empathie, Kreativität, Liebe und Intimität, Spiel, Erholung, Autonomie sowie Sinn und Spiritualität. Weiterhin geht Rosenberg davon aus, dass im Mittelpunkt menschlichen Handelns Bedürfnisse stehen und der Mensch nach entsprechender Erfüllung in seinem Handeln strebt. Damit wäre auch sozial abgelehntes, destruktives und gewaltbereites Handeln ein wenn auch offensichtlich fehlgeleiteter Versuch, ein Bedürfnis zu erfüllen (→ vgl. auch den Beitrag von Michael Grabbe in diesem Band). Zudem geht er in humanistischer Tradition davon aus, dass Menschen ihr Möglichstes geben. Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir zudem, dass der Entwicklung der verschiedenen Bedürfnisse und den damit verbundenen Fähigkeiten sogar bestimmte Entwicklungszeiten zugeordnet werden können (Erikson, 1992). Luise Reddemann (2011) stellt fest, dass eine Begegnung mit den unter traumatischen Bedingungen entstandenen Verhaltensweisen dann möglich ist, wenn dies innerhalb einer sicheren Beziehung geschieht (S. 27). Sie geht in ihrem Modell PITT (Psychodynamisch-imaginative Traumatherapie) davon aus, dass

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zur Veränderung eine lange Stabilisierungsphase und Ich-Stärkung notwendig sind. Neben der persönlichen Alltagserfahrung vieler Therapeuten und Berater bestätigen auch weitere Autoren (z. B. Brisch, 2002; Hofmann u. Besser, 2003), dass Schutz und Sicherheit eine zwingend notwendige Grundlage im Umgang mit Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, und ihren Verhaltensweisen ist. Gerald Hüther (2012) beschreibt in einem Vortrag, wie insbesondere das Bedürfnis nach Zugehörigkeit durch traumatische Erlebnisse, die von zuvor für vertrauenswürdig gehaltenen Menschen bereitet werden, verletzt wird. Er macht deutlich, wie sehr sich dies neurobiologisch abzeichnet, und beschreibt, dass so das Vertrauen in neue Zugehörigkeiten zunächst eingeschränkt und verletzt ist, es also eines neuen Aufbaus bedarf. Wir können also davon ausgehen, dass die nachträgliche Entwicklung der Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Schutz und Sicherheit sowie Beziehung und Kontakt eine vermutlich neue neurologische Repräsentanz durch beharrliche Präsenz benötigt. Auch hier gehen wir davon aus, dass das Modell der Präsenz von Omer und von Schlippe (2004, 2009, 2010) eine Chance zur Entwicklung von Resilienz ermöglicht. Wenn wir uns speziell dem Thema des Umgangs mit dem Verhalten von Kindern und Jugendlichen, die zuvor traumatische Beziehungserfahrungen gemacht haben, zuwenden, dann sind für uns folgende Bedürfnisse im besonderen Fokus: –– Schutz und Sicherheit, –– Zugehörigkeit, –– Verständnis und Empathie, –– Kontrolle und Selbstwirksamkeit. Wir gehen davon aus, dass die grundsätzliche Versorgung in Maßnahmen der Jugendhilfe gewährleistet ist sowie davon, dass in Beziehungsrahmen, in denen Kinder und Jugendliche physisch, emotional und sozial gut aufgehoben sind, diese auch ihre Möglichkeiten der Kreativität entwickeln können und Antworten auf Sinnfragen erhalten. Schutz und Sicherheit Wie zuvor beschrieben benötigt ein Mensch für die Auseinandersetzung mit den eigenen Überlebensstrategien einen Ort des Vertrauens, bei dem er sich sicher sein kann, dass ihm nichts Schlimmes widerfährt, wenn er sich auf die Suche nach Veränderung begibt. Das bedeutet im Einzelnen, dass es keine körperliche oder psychische Bedrohung gibt und Verlässlichkeit und Transparenz im Umgang gezeigt wird. Es geht also um eine Haltung des Schutzes, wie sie in der

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wachsamen Sorge (Omer u. von Schlippe, 2009) beschrieben wird. Diese Haltung geht von Achtsamkeit und Wachsamkeit sowie hoher Aufmerksamkeit des Erziehungsverantwortlichen aus, der gegebenenfalls unter besonderen Umständen auch zu sogenannten einseitigen Maßnahmen greift, die wir an späterer Stelle noch erläutern werden. Im Verhalten des Erziehungsverantwortlichen bedeutet dies auch, dass Formulierungen der Abwertung und Machtkämpfe zu vermeiden sind, da sie eher zur Aufrechterhaltung kämpfender Anteile des betroffenen Jugendlichen führen würden. Zugehörigkeit Menschen benötigen ein Netzwerk von anderen Menschen, gegenüber denen sie sich als zugehörig wahrnehmen. In diesen Gruppen erhalten sie im günstigsten Fall Anerkennung, zumindest aber eine Rückmeldung. Zu diesem Bedürfnis gehört auch ein Ort, der als Heimat wahrgenommen wird. Schon kleine Kinder können sich besser in einem Raum bewegen, wenn sie sich daran orientieren können, wo sich die Bezugspersonen befinden. Aus unserer Sicht hat das Bedürfnis nach Zugehörigkeit an der Stelle eine Schnittmenge mit dem Bedürfnis nach Sicherheit, wenn es um das Erleben geht, dass ich meine Heimat auch dann behalte, wenn ich mich einmal von ihr entferne. Im Umgang damit erscheint es wichtig, dass Menschen, die ihre Zugehörigkeit an anderer Stelle verloren haben, einen sicheren Platz zugesichert bekommen, auch wenn sie sich möglicherweise nicht immer im Sinne geltender Regeln verhalten. Verständnis und Empathie Bei diesem Bedürfnis geht es um das besondere Erleben von Nähe, die nicht intim sein muss. Alle kennen wohl das Erleben, wie gut es tut, wenn wir in unseren Anliegen offensichtliches Verständnis oder einfühlsame, sympathische Reaktionen erhalten. Je mehr davon möglich ist, umso tragfähiger erscheint die Beziehung. Kontrolle und Selbstwirksamkeit Die Erfahrung von Kontrollverlust gehört für viele Menschen, vielleicht sogar für die meisten, zum Schlimmsten, was sie erleben können. Traumatische Ereignisse entziehen den Betroffenen in der Regel die Kontrolle über das eigene Handeln, wir werden hilflos, da wir uns nicht mehr als selbstwirksam erleben. Das Erleben von Kontrolle ermöglicht in der Regel, dass wir uns sicherer fühlen, da

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wir die Möglichkeit zu haben scheinen, Einfluss auf die Ereignisse zu nehmen. Wir glauben dann, selbstwirksam handeln zu können, und erscheinen nicht ausgeliefert. Das eigene Handeln und die damit (wieder-)erlangte Selbstwirksamkeit ermöglicht uns auch die Überwindung kritischer Erfahrungen, insbesondere dann, wenn wir ein hohes Maß an Selbstkontrolle und Selbstsicherheit im Umgang mit diesen gemacht haben. Im Verhalten von Hannah nehmen wir wahr, dass sie sich auf der einen Seite durch ihr Verhalten anderen gegenüber schützen möchte, da sie wahrscheinlich das Vertrauen in Erwachsene verloren hat, zum anderen erhält sie auf diese Weise die Idee der Kontrolle über das Geschehen und sogar über die Handlungsmöglichkeiten der Helfenden. Wir haben diesen Prozess schon beschrieben. Hannah hat offensichtlich bisher niemanden gefunden, der ihr diesen bedürfnisorientierten Rahmen bieten konnte. Wir gehen davon aus, dass Erziehungsverantwortliche sich im Sinne einer bedürfnisorientierten Haltung für eine weitreichende Grundhaltung entscheiden müssten: »Ich bin da! Und ich bleibe da, auch wenn es schwierig wird! Und ich werde nicht allein bleiben!« Dies ist die Aussage der Präsenz, so wie sie von Haim Omer und Eli Lebowitz formuliert worden ist (2012, S. 33, analog auch Omer u. von Schlippe 2004, 2009). Um also eine entsprechende Begegnungsmöglichkeit für Hannah zu finden, scheint es uns hilfreich, sich als Erziehungsverantwortlicher mit Handlungsmöglichkeiten auszustatten, die ihr für die Erfahrung von Schutz und Sicherheit, Zugehörigkeit sowie Kontrolle und Selbstwirksamkeit einen hilfreichen Rahmen anbieten können.

Handlungsaspekte der neuen Autorität Wir sind bereits auf die Handlungsaspekte der neuen Autorität (siehe auch Körner u. Lemme, 2011; siehe Abbildung 1) kurz eingegangen. Wir werden nun im Folgenden erläutern, wie aus unserer Sicht eine Vorgehensweise bei Hannah oder vergleichbaren persönlichen Geschichten im Rahmen der neuen Autorität aussehen könnte. Wir betrachten dabei die einzelnen Handlungsebenen separat, auch wenn diese letztlich immer wieder ineinandergreifen und sich ergänzen, also in einem dynamischen, zirkulären und wechselwirkungsbedingten Zusammenhang stehen. Ziel dieser Handlungsebenen ist aus unserer Sicht die (Wieder-)Herstellung der Präsenz der Erziehungsverantwortlichen, also der Eltern, Pflege- und Adoptiveltern, Lehrkräfte, Erzieherinnen und Sozialpädagogen sowie Therapeutinnen und Ärzte.

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Abbildung 1: Handlungsaspekte der neuen Autorität

Haltung, Entscheidung, Werte In Pflege- und Adoptivfamilien sowie stationären Jugendhilfe-Unterbringungskontexten können wir davon ausgehen, dass viele Kinder und Jugendliche traumatische Erlebnisse hatten. Zudem sind die Traumabeziehungsmuster durchaus auch durch die zum Teil schwierigen Erfahrungen mit den Eltern, die häufig bei diesen vorhandenen persönlichen Schwierigkeiten und diagnostizierten Störungen sowie wiederholte Trennungserfahrungen, beobachtetes Gewalterleben und das hilflose Verhalten anderer Erwachsener geprägt. Für den therapeutischberaterischen Umgang bedeutet dies, dass wir eine Vorgehensweise entwickeln sollten, die den Kindern das Nacherleben der drei vorstehend beschriebenen elterlichen Funktionsebenen im Rahmen der Bindungstheorie und Ankerfunktion (Omer u. Lebowitz, 2012; Omer u. von Schlippe, 2009) ermöglicht bzw. die betroffenen erziehungsverantwortlichen Erwachsenen darauf vorbereitet: –– Das Vermitteln eines sicheren Ortes mit klarer Beziehungsaussage (Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit). –– Die Begleitung und auch das Vertrauen bei selbständigen Entwicklungsschritten (Bedürfnis nach Autonomie).

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–– Die Bereitschaft, in kritischen und sorgenvollen Situationen deutlich und klar sowie beharrlich dem Kind oder Jugendlichen eine Möglichkeit der Auseinandersetzung zu ermöglichen (Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung sowie Empathie). Aus unserer Sicht liegt die Verantwortung für die Gestaltung der Beziehung zu den betroffenen Kindern und Jugendlichen bei den Erziehungsverantwortlichen. Diese nennen wir daher auch so. Für uns bedeutet dies, dass wir im Rahmen der neuen Autorität so weit wie möglich auf Strafen und Sanktionen verzichten sowie auch auf Belohnungen, sofern es um den persönlichen Kontakt geht. In größeren Systemen (Gruppen, auch Familien) kann man wohl nicht umhin, Regeln zu formulieren, deren Einhaltung bestimmte Konsequenzen fordert. Diese sollten allen bekannt sein und entsprechend umgesetzt werden. Allein dies Vorgehen kann bereits Sicherheit vermitteln, vor allem dann, wenn dies nicht mit der Distanzierung in der Beziehung einhergeht. Wir unterscheiden mit vielen anderen Autoren und praktisch Tätigen hier zwischen den sogenannten Konsequenzen, deren Verlauf und Zusammenhang allen klar und für alle gleich sind, und Strafen, die der persönlichen Stimmungslage entspringen und mehr dem machtvollen Durchsetzen denn der pädagogischen Sinnhaftigkeit entsprechen. Allerdings sehen wir es durchaus kritisch, wenn angekündigte Maßnahmen Distanz und Disziplinierung zum Ziel haben, auch wenn diese angekündigt sein sollten. So hat ein Zimmerarrest in der Regel zum Ziel, dass das Kind zu einer Einsicht in das Unangemessene des eigenen Verhaltens kommt. Auch Maßnahmen wie der »Stille Stuhl« oder die »Stille Treppe« sind aus unserer Sicht Maßnahmen, die die Machtposition des Erziehenden manifestieren sollen, nicht aber die Beziehung stabilisieren und absichern. Dazu müsste man sich dann möglicherweise neben das Kind setzen. Wenn eine Konsequenz umgesetzt wird, geht diese in manchen Situationen einher mit persönlicher Enttäuschung der erzieherisch Verantwortlichen. Es kommt quasi zu einer doppelten Strafe: zur bekannten Konsequenz und zur Beziehungsdistanz. Für Kinder und Jugendliche, die genau an dieser Stelle kritische Erfahrungen gemacht haben, kann dies zu Triggererfahrungen führen. Die emotional geprägte erzieherische Maßnahme kann also zu einer übermäßigen und scheinbar unangemessenen Reaktion führen. Wir halten die Wahrscheinlichkeit einer solchen Reaktion für geringer, wenn es trotz Konsequenz zu sicheren Beziehungsaussagen kommt. Dies erscheint nicht immer leicht, zumal, wenn die Herausforderung durch die Heftigkeit der persönlich gefärbten Handlungsweisen der Jugendlichen besonders groß ist.

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Wir halten übrigens auch Belohnungen für eine Vorgehensweise, die keine Nähebeziehung schafft. Kinder, die sich entscheiden, ihr Verhalten nach Belohnungen und Versprechungen auszurichten, tun dies in der Regel, um durch ihr Verhalten das zu erreichen, was ihnen sinnvoll erscheint. Aus unserer Sicht stabilisiert dies keine Beziehung, die möglicherweise aufgrund vorheriger Erfahrungen sehr fragil sein könnte. Jesper Juul (2012) vergleicht sogar Belohnungssysteme mit abhängiger Beschäftigung im Sinne eines Chef-AngestelltenVerhältnisses. Das besonders Kritische an einem Belohnungskontext erscheint uns, dass Zuneigung, Nähe und Beziehung an Bedingungen geknüpft ist, die zunächst erfüllt werden müssen. Wir haben bereits ausführlicher beschrieben, dass das Verhalten der Kinder und Jugendlichen häufig als eine Schutzreaktion für sich selbst beschrieben werden kann, die der Selbstwirksamkeit dient, nicht der persönlichen Attacke gegenüber den Erwachsenen. Aus unserer Erfahrung gehen wir davon aus, dass diese Jugendlichen Erziehungsverantwortliche benötigen, die sich für eine präsente Haltung entscheiden: in Kontakt bleiben und gemeinsam aushalten bei gleichzeitiger Ablehnung des destruktiven Verhaltensanteils mit entsprechender Vorgehensweise. Eine Pflegemutter berichtete, dass sie aufgrund eines scheinbar nichtigen Auslösers in Konflikt mit ihrer damals dreizehnjährigen Pflegetochter gekommen sei. Diese habe einen Wutausbruch bekommen, den sie schon einige Male gezeigt hat, allerdings zuletzt mit steigender Heftigkeit. Nachdem sich die Pflegemutter kurz besonnen und sich nicht aus dem Zimmer hat weisen lassen, erinnerte sie sich an eine Fortbildung mit einem der Autoren, an der sie kurz zuvor teilgenommen hatte. Sie blieb sitzen und teilte ihrer Tochter mit, dass sie in großer Sorge um sie sei und die jetzige Situation mit ihr aushalten wolle. In der Folge schlug das Mädchen mehrfach auf sie ein, allerdings in einer Art, dass die Pflegemutter wusste, dass sie ihr nicht wehtun werde. Nach einer langen Zeit des Schreiens und Schlagens brach das Mädchen plötzlich in heftiges Weinen und Schluchzen aus. Sie legte sich auf den Schoß der Pflegemutter, die sie zuvor geschlagen und angeschrien hatte, und ließ sich von dieser umarmen. Beide weinten eine Weile miteinander. Nach einiger Zeit schlief das Mädchen ein und die Pflegemutter wachte. Beide beschreiben, dass dieses Ereignis ein Wendepunkt in der Gestaltung ihrer weiteren Beziehung darstellte.

Wie viel Beziehung darf ich denn zulassen? Wie viel ist gut und wie wenig noch ausreichend? Was heißt das dann? Professionelle Beziehungen sind keine natürlich gewachsenen. Der Erziehungsverantwortliche hat eine Aufgabe übernommen, für die er/sie sich aufgrund eines professionellen Anspruchs entschieden

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hat. Und die Begegnung mit dem Kind findet auch in Pflegefamilien postnatal, manchmal erst einige Jahre später statt. Dieser Unterschied muss nicht unbedingt einen Unterschied im Erleben machen. Häufig ist dies aber in der Praxis der Fall. So können Eltern und Adoptiveltern ihre Elternschaft nicht abgeben, in professionellen Beziehungen (auch bei Pflegeeltern) ist aber ein Beziehungsabbruch vollständig ohne nachgehende Verantwortung möglich. Im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die sich nun besonders extrem verhalten, gibt es nicht selten auch die Androhung, dass bei einer fehlenden Verhaltensänderung der Ausschluss aus einer Familie oder einer Gruppe möglich ist. Wir meinen damit nicht, dass es nicht auch Situationen gibt, in denen es aus Schutzgründen unabdingbar ist, dass ein Jugendlicher ein System, in dem er vorher gelebt hat, wieder verlassen muss. Doch gehen wir davon aus, dass es notwendig ist, sich vor der Entscheidung für die Aufnahme eines Kindes zu verdeutlichen, dass es kritische Situationen geben kann, die diese Erziehungsverantwortung besonders herausfordern. Ein sicherer Ort für ein Kind/einen Jugendlichen, das/der traumatische Beziehungserfahrungen gemacht hat, setzt aus unserer Sicht voraus, dass die Beziehungszusage auch gilt, wenn es besonders schwierig in Zusammenhang mit Triggerreaktionen wird. Manchmal hören wir im Vorfeld, dass man sich als Profi nicht zu sehr in eine Beziehung einlassen dürfe, da sie sonst zu viel verspreche oder zu belastend für den Erziehungsverantwortlichen sei. Damit zusammenhängend stellt sich die Frage, wie persönlich der Erziehungsverantwortliche werden darf bzw. muss. In Pflegefamilien ist diese Frage durch den familiären Kontext klar. In der stationären Jugendhilfe misst sich eine hilfreiche Beziehung unseres Erachtens daran, wie verbindlich und verlässlich jemand zu dem steht, was er ankündigt und zusagt. Dies schließt das Team mit ein. Eine Zusage wie »Ich bin immer für dich da!« wäre dementsprechend nicht erfüllbar. Im Sinne der wachsamen Sorge schauen die Erziehungsverantwortlichen nach den ihnen Anvertrauten, nehmen Kontakt auf, sorgen gegebenenfalls für die Reparatur der Beziehung, wenn dies notwendig erscheint, und erwarten dies nicht primär vom Kind. Wir sehen die Bereitschaft zur Auseinandersetzung und die klare Wahrnehmung der Bedürfnisse als zentrale Punkte für die Beziehungsgestaltung an, da daraus für die jungen Menschen sichtbar wird, dass wir an ihnen als besondere, individuelle Personen interessiert sind. Kommen wir zu Hannah zurück. In der bisherigen Entwicklung ist Hannah niemandem begegnet, der die Konfrontation mit ihr so ausgehalten hat, dass sie ihre Verhaltensweisen hat aufgeben können. Ob sie diese wird in Zukunft lassen oder unterbrechen können, weiß niemand der Beteiligten. Für Hannah wurde

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eine Wohngruppe gefunden, die sich bereit erklärte, ihr begegnen zu wollen. In mehreren Vorgesprächen wurde zunächst darauf geachtet, dass Hannah sich auch wirklich für diese Gruppe entscheidet. Ihr wurde dann vom gesamten Team mitgeteilt, dass dieses sich entschieden hat, Hannah einen Platz in der Gruppe zu geben. Das Team gab ihr die Zusicherung, dass es alles in seiner Möglichkeit Stehende tun wolle, um ihr diesen Platz auch solange wie möglich anzubieten. Offen wurde angesprochen, welche Sorge entstehen könnte. Daher teilte das Team Hannah mit, dass sie wöchentlich eine Rückmeldung über die Eindrücke der Mitarbeiterinnen bekomme. Diese werde ihr in Einzelterminen mit der Bezugsbetreuerin angeboten, die unabhängig von ihrer Zustimmung diesen wöchentlichen Einzelkontakt anbieten werde. Darüber hinaus sollte sie einmal im Monat ins Team zur Fallbesprechung dazu geholt werden, um zu wissen, welche Stimmen und Meinungen gerade vorhanden sind. Bezüglich der bekannten Verhaltensweisen wurde ihr mitgeteilt, wie das Team damit umgehen wird. Diese Vorgehensweisen sind keine individuellen Maßnahmen, sondern werden allen Kindern und Jugendlichen angeboten.

Selbstkontrolle und Deeskalation Wir haben oben bereits die verschiedenen Eskalationsprozesse, die häufig ineinandergreifen, beschrieben. Um sich auf die Begegnung mit jungen Menschen wie Hannah einzulassen, erscheint es notwendig, ihr Handeln nicht als gegen eine andere Person gerichtet zu sehen. Mit der Überlegung, dass es sich um eine Schutz- und Abwehrfunktion und/oder um eine Verhaltenskette in Zusammenhang mit der eigenen Selbstwirksamkeit handelt, kann ich für mich selbst klären, dass ich in Situationen lediglich Stellvertreter bin. Mit diesem Bewusstsein kann ich aus einem möglichen Machtkampf aussteigen, ich muss nicht um mich oder um meinen Selbstwert kämpfen, da es ja gar nicht um mich geht. Strategien und Fragestellungen dazu haben wir bereits an anderer Stelle beschrieben (Körner u. Lemme, 2011). Die zweite grundsätzliche Möglichkeit ist die, eine Klärung zu vertagen. Eine Eskalation ist in der Regel ein Prozess, was bedeutet, dass es eine Zeit vor und nach einer Eskalation gibt. Unter heftigster Eskalation ist aus unserer Sicht nur Schutz und vielleicht Deeskalation möglich. Schutzmaßnahmen zu ergreifen bedeutet für uns auch, dass wir Unterstützergruppen einschalten, wenn Fremd- und/oder Selbstgefährdung eine Rolle spielt. Aus unserer Sicht bedeutet dies, dass auch der Einbezug von eingreifenden Helfern wie der Polizei, des Sozialpsychiatrischen Dienstes und Institutionen der Inobhutnahme sowie der Kinder-/Jugendpsychiatrie vorbereitet, abgesprochen und angekündigt werden

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sollte. Sofern kein Schutz notwendig ist, hat sich das Vertagen als die langfristig hilfreichere Variante der Veränderung herausgestellt. Nach der Eskalation sind in der Regel alle Beteiligten emotional zugänglicher und auch ansprechbarer. Etwaige Klärungsmöglichkeiten sind dann eher wahrscheinlich. Wir gehen davon aus, dass Maßnahmen in der Art, wie wir sie hier beschreiben, innerhalb des Teams und der Leitung bekannt sein müssen und ihnen dort auch zugestimmt wird. Dies ist wichtig, um sich selbst gegen etwaige Übergriffe zu schützen. Zudem benötigen wir als Helfer Unterstützung und Transparenz gegen den Verlust der Selbstkontrolle. Ausgehend davon könnten wir für Hannah beschreiben, dass sie Helfer benötigt, die bereit sind, sich von ihrem Verhalten nicht provozieren zu lassen. In der Jugendhilfeeinrichtung hatten die Mitarbeiterinnen beschlossen, dass sie die zum Teil heftigen Verhaltensweisen mit angedrohten und auch durchgeführten Selbstverletzungen nicht mehr dulden und entsprechend vorgehen wollten. So stellten sie sich den kritischen Situationen mit der folgenden Ankündigung und einem entsprechenden Sit-in: »Wir werden nicht mehr dulden, dass du dich verletzt. Allerdings können wir dich auch nicht davon abhalten, so gern wir das möchten. Also werden wir bleiben und dein Leid mit dir gemeinsam aushalten. Wir haben genügend Mullbinden und Pflaster dabei, um dich zu verbinden. Und solltest du dich so schwer verletzen, dass wir dir nicht mehr helfen können, dann werden wir dich vom Notarzt versorgen lassen. Nur allein werden wir dich nicht lassen, egal was kommt!«

Transparenz und Öffentlichkeit Wir verstehen eine transparente Haltung und die Einbeziehung der Öffentlichkeit als entscheidende Grundhaltungen in der Arbeit mit Klienten. Aus der Erfahrung zeigt sich, dass eine entsprechende Vorgehensweise Vertrauen ermöglicht und die Beziehungsebene stärkt. Für uns bedeutet dies zunächst, dass unsere Klienten wissen, was wir über sie und ihr Handeln denken, an welcher Stelle wir in der Beziehung zu ihnen stehen. Sie wissen auch Bescheid über das zukünftige Handeln, zumindest soweit dies planbar erscheint. Dabei teilen wir auch mit, mit wem wir über die verschiedenen Angelegenheiten in Zusammenhang mit den betroffenen Klienten sprechen. Diese Öffentlichkeit ist eine stets wohlwollende, da es nicht um eine Anklage, sondern um das gemeinsame Bemühen des Verstehens und des Hilfeangebots geht. Wir beziehen dabei diese Haltung der Transparenz und Öffentlichkeit auch auf das Handeln der Erziehungsverantwortlichen, die entsprechend auch im

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Kreis der Kollegen und Beteiligten nachvollziehbar und vorhersagbar machen, wie sie vorgehen und die nächsten Schritte vollziehen wollen. In unterschiedlichsten Kontexten teilen wir mit anderen Kollegen die Erfahrung, dass Einladungen an die Klienten (Eltern und Jugendliche), als Zuhörer an Fallbesprechungen teilzunehmen, sehr hilfreich für den weiteren Hilfeprozess waren. In der Zuhörerposition wurde die Auseinandersetzung im Team von den Klienten meist als sehr respektvoll und wertschätzend wahrgenommen. So sagte ein Vater nach einer solchen Sitzung: »Es ist ja kaum vorstellbar, wie viele Gedanken die sich über uns gemacht haben …« Auch die Mitarbeiter in den Teams erleben diese Art der Fallbesprechung als äußerst hilfreich. Einrichtungen erklären schon zu Beginn der Zusammenarbeit, in welcher Art die Mitarbeiterinnen Beziehungen gestalten. Dies bezieht auch mit ein, wie mit persönlichen Daten umgegangen wird bzw. wie die Daten gegenüber Dritten geschützt werden. Wie schon beschrieben, wurde Hannah angekündigt, dass sie wöchentlich ein Angebot der Bezugsbetreuerin erhält, unabhängig davon, ob sie dies wahrnimmt. In diesen Gesprächen sollte ihr zurückgemeldet werden, wie sich der Stand der Entwicklung aus Sicht des Teams darstellt. Darüber hinaus wurde sie einmal monatlich zur Fallbesprechung hinzugeholt, sofern sie dies wollte. Das Team beschloss, bei ihrer Nichtanwesenheit eine Bandaufnahme zu machen, um sie ihr zur Verfügung stellen zu können. Zudem wurde ihr mit der Aufnahme verdeutlicht, in welcher Art das Team vorgehen würde, wenn es zu bekannten Schwierigkeiten kommen sollte. Sie wusste also auch gleich zu Beginn über den Einbezug weiterer Helfer Bescheid.

Aus unserer Sicht und Erfahrung stärkt dieses Vorgehen das erzieherische, therapeutische Bündnis genauso wie das »Wir« der Erziehungsverantwortlichen. Wichtig erscheint uns dabei, hier sehr deutlich und transparent zu machen, wer genau das »Wir« ist, also wer alles dazu gehört. Unterstützung und Netzwerke Möglicherweise liegt die größte Gefahr in der eigenen Erwartung an sich selbst, eine kritische Situation allein bewältigen zu wollen. Wir erleben dies immer wieder bei Eltern wie bei Pädagoginnen und Lehrerinnen. Dies mag an sich noch keine Schwierigkeit darstellen, doch nicht selten geraten wir in Situationen, die uns an die eigene Leistungsgrenze und darüber hinaus bringen. Wie aus den vorstehend beschriebenen Situationen schon sichtbar geworden ist, wird her-

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beigeholte Unterstützung, sofern sie kooperativ eingebunden wird, nicht als Schwächung, sondern als Stärkung wahrgenommen. Stellen Sie sich einmal vor, dass Sie in einer Situation (vielleicht fällt Ihnen spontan eine ein), die Sie als kritisch und an Ihre Grenzen gehend erlebt haben, allein sind und diese bewältigen müssen. In einem zweiten Schritt stellen Sie sich bitte vor, dass in der gleichen Situation sich immer mehr Personen an Ihre Seite stellen, um Sie wohlwollend zu unterstützen. Wir sind sicher, dass Sie eine zunehmende Erleichterung und Entlastung erfahren werden. In Institutionen und Einrichtungen denken wir mit den Verantwortlichen über die Einrichtung von kurzfristig erreichbaren Hintergrunddiensten nach. Zur Einübung für kritische Fälle empfehlen wir entsprechende Unterstützungssysteme auch schon in Zusammenhängen zu nutzen, die an sich gut allein zu bewältigen wären. Dies übt ein und ermöglicht ein Trainingshandeln, welches auch dann funktioniert, wenn es brenzlig wird. Zudem trainiert dies die Bereitschaft des betroffenen Professionellen, sich überhaupt Hilfe zu holen (Lemme, Bojarzin u. Tepaße, 2011; Omer u. von Schlippe, 2010). Diese Unterstützersysteme werden entsprechend wieder für die Betroffenen und Beteiligten sichtbar und bekannt gemacht, sie bleiben nicht anonym und unberechenbar, sondern sichtbar und melden sich auch, wenn es zu keinen kritischen, sondern vielleicht sogar zu positiven Entwicklungen kommt. Hannah wurden die verschiedenen Unterstützersysteme und Beteiligten bei ihrer Aufnahme bekannt gemacht. Damit sie selbst ebenfalls entsprechende Unterstützer erfahren konnte, wurde ihr das schon erwähnte Angebot durch die Bezugsbetreuerin gemacht. Alle Personen aus der Einrichtung und den weiteren Unterstützersystemen stellten sich nach und nach bei ihr vor und boten ihr, bevor etwas kritisch wurde, schon ihre Hilfe an. So besuchte sie der Klassenlehrer der Schule, an der sie unterrichtet werden sollte, in der Einrichtung, bevor sie in die Klasse zum ersten Schultag ging.

Gesten der Beziehung und Versöhnung, Wiedergutmachung Ausgehend von der Haltung, dass die Erziehungsverantwortlichen sich auch für die Angebote in der Beziehung verantwortlich erklären, benötigen betroffene Kinder und Jugendliche Gesten, die ihnen sichtbar machen, dass die jetzt verantwortlichen Erwachsenen es ernst und gut mit ihnen meinen. Diese Gesten können vielfältiger Art sein, wir gehen allerdings nur von geringem materiel-

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lem Einsatz aus. Möglichkeiten sind zum Beispiel das zwischenzeitliche Angebot an Zeit, ein gemeinsames Hinsetzen sowie das Angebot des Zuhörens. Viele Jugendliche schätzen es sehr, wenn Erwachsene dann, wenn sie zum Beispiel aus der Schule kommen, ansprechbar sind, »ein Ohr« für sie haben. Auch zwischenzeitliche Spontanbesuche und die Rückfrage, ob alles gut ist, helfen für die Vermittlung von Interesse und Sicherheit. Sollte sich ein Konflikt ereignet oder ein Betreuer sich möglicherweise anders verhalten haben, als es eigentlich laut Verabredung sein sollte, könnte eine Geste der Versöhnung und eine deutliche, vertiefende Entschuldigung sichtbar machen, wie wichtig dem Betreuer der Kontakt ist. Aufmerksamkeit für Veränderungen oder besondere Ereignisse (z. B. Klassenarbeiten) sind ebenso wie ein kurzes Lob und der Ausdruck von Dankbarkeit hilfreich für die Gestaltung von Beziehungen. Die Mitarbeiterinnen in Hannahs Gruppe hatten sich vorgenommen, sie im Laufe des Tages gut im Blick zu behalten. Sollten sie sie einige Zeit nicht gesehen haben, so suchten sie nach ihr, fragten die anderen Gruppenmitglieder, gingen zu ihr ins Zimmer. In diesem Team war es auch üblich, besondere Ereignisse (Klassenarbeiten, Referate, persönliche Begegnungen u. a.) auf einem separaten, für alle sichtbaren Zettel im Büro zu notieren. So konnte gewährleistet werden, dass die Mitarbeiterinnen auch über den Schichtwechsel hinaus über die persönlichen Ereignisse der Jugendlichen, und so eben auch über die von Hannah, Bescheid wussten und diese ansprechen konnten. Dem Team war dies wichtig, da es Zuwendung und Aufmerksamkeit zeigen wollte, ohne dass sich ein Gruppenmitglied erst bewusst hätte zeigen müssen.

Protest, Demonstration und Widerstand, Wiedergutmachung Die Möglichkeiten des Protests und des Widerstands im Rahmen der neuen Autorität können aus unserer Sicht durch die in Abbildung 2 dargestellten Begriffe beschrieben werden. Nun gehen wir davon aus, dass ein Großteil dieser Methoden bereits bekannt ist und an anderer Stelle intensiver nachgelesen werden kann (z. B. Omer u. von Schlippe, 2004, 2009; Lemme, Tillner u. Eberding, 2009; Lemme, Bojarzin u. Tepaße, 2011). Wir werden uns daher hier auf den Bereich beziehen, den wir für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, als besonders wichtig erachten. Wir haben bereits erläutert, dass die Erfahrung von traumatischen Ereignissen einige Grundbedürfnisse offensichtlich radikal erschüttert: Schutz und Sicherheit, Zugehörigkeit, Verständnis und Empathie sowie Kontrolle und Selbstwirksamkeit. Wenn wir also über

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Wiedergutmachung »Ausrufezeichen!« Sit-in Dokumentation

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Nachgehen und Aufsuchen Protest, Demonstration und Widerstand, Wiedergutmachung

Ankündigung Telefonkette Präsenz und Beharrlichkeit

Abbildung 2: Handlungsebenen der neuen Autorität – Protest, Demonstration und Widerstand, Wiedergutmachung

Einflussnahme oder gar Widerstand gegen ein destruktives, gewaltbereites Verhalten eines traumabeeinflussten Kindes nachdenken, erscheint es notwendig, im eigenen Handeln diese Bedürfnisse wieder zu stabilisieren. Ankündigung

Wir setzen insgesamt, doch erst recht, wenn große Verunsicherung der Beteiligten angenommen werden kann, schon früh erste »kleine« Ankündigungen ein. Kommen Eltern zu uns, die sich zu einem ersten Gespräch eingefunden haben, schlagen wir am Ende vor, dass sie ihren Kindern mitteilen, dass sie sich Hilfe geholt haben und dies auch zukünftig so handhaben werden. Mehr nicht – und auch nicht weniger. Mit dieser kleinen Ankündigung haben die Eltern die vielleicht erste geschaffene Öffentlichkeit (den Beratungskontext) auch dem Kind gegenüber transparent gemacht. Bei besonders ängstlich agierenden Kindern könnten die Eltern ergänzen, dass sie sich Hilfe holen, damit es allen wieder miteinander besser geht, auch dem Kind. Ein spontaner schweigender Verbleib beim Kind mit möglicherweise einem leichten Körperkontakt (Hand halten) könnte diese Absicht unterstreichen. Nach jeder weiteren Sitzung sowie vor einer Sitzung könnte dem Kind dann entsprechend angekündigt werden, dass die Eltern sich wieder Hilfe geholt haben bzw. holen werden. Sie könnten das Kind einladen, dass es Zeuge dieser Treffen werden kann, wenn es dies möchte. Die Rolle des Kindes wäre dann die eines Zeugen im Sinne einer zuhörenden Anwesenheit, was auch bedeutet, dass damit kein verändertes Setting einhergeht (z. B. ein familientherapeutisches oder dass alle gemeinsam das Kind »überzeugen« wollen). Dies sollte auch entsprechend angekündigt und durchgeführt werden. Pädagogen und Lehrer könnten äquivalent vorgehen. Das heißt im Rahmen eines Teams, dass auch die Ankündigung einer Supervision oder einer Fallbesprechung die Einladung zum Zuhören und Teilnehmen beinhalten kann, vielleicht sogar sollte.

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Insgesamt sollte aus unserer Sicht bei Ankündigungen in Bezug auf Verhaltensweisen, die Reaktionen auf traumatische Zusammenhänge darstellen, besonders auf Transparenz, Verlässlichkeit sowie verbindliche Anwesenheit in Verbindung mit Beziehungsgesten geachtet werden. Transparenz erhöht die eigenen Möglichkeiten der Selbst- und Fremdkontrolle (Selbstwirksamkeit), die hier oftmals besonders eingeschränkt sind. Kinder und Jugendliche, die im bisherigen Leben vorrangig Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht haben, die sie enttäuschten, werden möglicherweise erstmal wenig Interesse an einem erneuten Vertrauensvorschuss gegenüber Erwachsenen haben. Sie werden vielleicht sogar erst recht ihre Unabhängigkeit unter Beweis und die handelnden Erwachsenen auf die Probe stellen. Verlässlichkeit ist genau das, was die Betroffenen eben nicht erlebt haben. Um also wieder eine Möglichkeit des vertrauensvollen Kontaktes herzustellen, bedarf es der sehr genauen Einhaltung des Versprochenen und Angekündigten. Dies wiederum setzt voraus, dass ich auch nur das ankündige, was ich einhalten kann. Wir sind der Überzeugung, dass an dieser Stelle weniger eher mehr ist. Beharrliche Anwesenheit bis zum Sit-in

Das Sit-in ist in der Regel als eine Vorgehensweise in einem festen Format bekannt (Omer u. von Schlippe, 2004, 2009). Wir sehen dies auch als weiterhin notwendig an, vor allem, wenn es um Gewalt oder selbst- wie fremdgefährdendes Verhalten geht. In manchen Seminaren haben wir erlebt, dass das Sit-in von Kollegen als Methode vorgestellt worden ist, welche den größtmöglichen Widerstand deutlich mache, dessen sich der gewaltlose Widerstand bedienen kann. Dies sei demnach also eine Methode, die nur bei den schwierigsten aller Schwierigkeiten einzusetzen sei. Wir sehen darin sowohl eine Eskalationsgefahr als auch ein deutliches Übersehen des für uns ebenso wichtigen Aspektes der Beziehungsgeste. Würde man davon ausgehen, dass grundsätzlich der Eskalationsgrad des Konfliktes über den Einsatz der Methoden und Mittel des gewaltlosen Widerstands entscheiden würde, wäre man aus unserer Sicht schon selbst in der Eskalation gefangen. Und was wäre, wenn dann auch das Sit-in keine Veränderung mehr brächte – die Hilflosigkeit läge auf der Hand. Das Sit-in vereint für uns den Protest gegen ein Verhalten und die Bereitschaft, bei der innerlich leidenden Person, für die ich als Handelnder die Erziehungsverantwortung übernommen habe, verlässlich, unausweichlich und wohlwollend anwesend zu sein – Zeit statt Macht anzubieten. Stellen wir uns also die verschiedenen Anteile des Sit-ins als ein Mischpult (Körner u. Stephan, 2011) vor, an dessen Reglern wohlwollende Anwesenheit, Protest und Widerstand sowie Unterstützung steht. Und stellen wir uns wei-

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ter vor, dass auf diesem Mischpult zusammengestellt wird, was sowohl möglich als auch sinnvoll bezüglich einer Reaktion auf eine Eskalationssituation ist. Und dabei darf die Zusammenstellung »kein Gehör schädigen« (Schutz und Sicherheit geht vor), doch darf es auch einmal laut oder leise werden … Für uns beginnt das Sit-in schon dort, wo ich mich, gerade im Umgang mit Angst und Enttäuschung sowie dem Verlust von Zugehörigkeit und Verlässlichkeit, regelmäßig länger schweigend zum Kind setze und dies kurz einleite: »Ich bin hier, weil ich in deiner Nähe sein möchte. Ich bin für dich da!« Wahrscheinlich würden viele an dieser Stelle noch nicht von einem Sit-in reden und doch ist der erste Regler auf unserem Mischpult nach oben geschoben. Wir könnten von wohlwollender, vielleicht intensiviert (Regler weiter nach oben geschoben) von beharrlicher und – nach kurzer Ankündigung – schweigender Anwesenheit sprechen. Dies könnten wir wiederholt, mal kürzer, mal länger, mal allein, mal mit anderen machen (weiterer Regler). Wir könnten so ein dynamisches Vorgehen entwickeln, welches sowohl die Bedürfnisse und Reaktionen des betroffenen jungen Menschen berücksichtigt als auch unsere Absicht von Transparenz, Schutz und Sicherheit, klarer Zugehörigkeit, Verständnis und Empathie sowie auch Protest gegen destruktives Verhalten ausdrückt. Und wir sind und wir bleiben da – nicht immer und auch nicht allein, doch wir bleiben da. So könnten sich dynamisch sowohl die Häufigkeit als auch die Intensität der Anwesenheit und der Ausdruck des Protests steigern, ebenso wie das kontinuierliche Beziehungsangebot und die zunehmende Öffentlichkeit und Unterstützung. Das Sit-in wird damit mehr zu einer dynamischen Methode und Möglichkeit, um gleichzeitig Widerstand auszudrücken, präsent zu sein und Beziehungsangebote zu geben, welche individuell an die jeweilige Situation angepasst sind. Es signalisiert auch: Wir sind an einer Lösung interessiert und erwarten auch Ideen von dir! Das Team, welches Hannah aufgenommen hatte, ist bewusst und aufmerksam auf sie zugegangen, wie dies auch für die anderen üblich ist. Dabei haben sich die Mitarbeiterinnen Zeit genommen, sich eine Weile zu Hannah zu setzen, je nachdem, wo sie sich gerade aufhielt. Hannah hat dies nicht immer positiv zurückgemeldet – die Mitarbeiterinnen haben entsprechend situativ entschieden, wie sie vorgehen. Bis zum jetzigen Zeitpunkt kam es zu zwei Sit-ins nach Vorfällen, in denen Hannah sich geritzt hatte. Die Einleitung des Sit-ins, welches jeweils von zwei Mitarbeiterinnen durchgeführt worden war, betonte die Sorge um die Gesundheit von Hannah. Nach dem ersten Besuch des Klassenlehrers vor dem ersten Schultag in der neuen Schule ist dieser zwischenzeitlich zwei weitere Male zu Besuchen bei Hannah gewesen, einmal davon unangemeldet,

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da er in der Nähe war. Das Team hat sich entschieden, in dieser Art weiterzuverfahren, da sich mittlerweile nach drei Monaten der Kontakt deutlich günstiger gestaltet, als dies in den Unterbringungen zuvor der Fall war.

Weitblick – Ausblick – Überblick: Der nächste kleine Schritt »Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt.« (Laotse) Wenn in einem Text ein Fallbeispiel dargestellt wird, so möchten Leser manchmal Details über diese Einrichtung, diese Klientin erfahren. Das ist aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich. Doch macht dies deutlich, dass es offensichtlich den Wunsch gibt, sich näher mit den Möglichkeiten und den Machbarkeiten des Konzepts der neuen Autorität auseinanderzusetzen. Möglicherweise ist der Hintergrund dieser Frage auch der, dass die Rahmenbedingungen in der eigenen Praxis manchmal scheinbar nicht ausreichen, um so vorzugehen, wie es im Beispiel dargestellt ist, wählt man doch meistens die recht gelungenen. Unser Anspruch ist nicht, eine neue Messlatte aufzulegen, an der man sich messen müsste. Wir möchten anregen, ausgehend von den Bedürfnissen der betroffenen jungen Menschen, egal ob mit traumatischen Vorerfahrungen oder auch nicht, über die Gestaltung der eigenen Rahmenbedingungen nachzudenken, diese anzupassen und zu entwickeln. Manch eine Unterbringung scheitert, weil die Erwartung an die Jugendlichen, sich an die Vorgaben einer Gruppe zu halten, möglicherweise zu groß ist. Im Sinne der neuen Autorität vorzugehen heißt zuallererst, sich verantwortlich für die Gestaltung, Veränderung und Anpassung der Rahmung des Lebensraumes der Jugendlichen zu erklären. Dabei ist das Modell einer Gruppe und einer Einrichtung möglicherweise erstmal nur dort hilfreich, aber für eine weitere Gruppe und Einrichtung nicht. Menschen, die über längere Zeiträume mit psychosozialen Problemen belastet waren, erleben es in der Regel sehr erleichternd, wieder »kleinschrittig« denken zu können und zu dürfen. Eltern und andere Erziehungsverantwortliche sind leicht verführt, vielleicht sogar gewohnt oder aufgrund von zeitlichen und finanziellen Engpässen »gezwungen«, in großen (Auf-)Lösungen zu denken. Während ein großer Schritt und eine vielleicht zu große Erwartung neue Enttäuschungen generieren können, sind kleine Entwicklungsschritte besser

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erreichbar und erhöhen daher Chancen für Erfolgserlebnisse und sind somit für den eigenen Selbstwert und das eigene Selbstwirksamkeitserleben oft vorteilhafter. Wir sind der festen Überzeugung, dass Jugendliche wie Hannah auch dann von Begegnungen profitieren, wenn sie diese möglicherweise nur kurz aushalten oder aufrechterhalten können. Überall dort, wo wir es schaffen, einen Unterschied zu den bisher vorrangig erlebten Beziehungen zu schaffen und Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen in ihren Bedürfnissen nach Sicherheit und Schutz, Zugehörigkeit sowie Verständnis und Empathie anzusprechen und ihnen zu begegnen, werden wir zu neuem Vertrauen beitragen und einen kleinen Schritt in Richtung einer möglichen Veränderung gehen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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Martin Lemme und Bruno Körner

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Boris auf hoher See: Neue Autorität im Elterncoaching

Vorbemerkungen »Ich bin viel zu gut für meine Eltern! Die haben mich gar nicht verdient!« Jennifer (14 Jahre)1 ist in Tränen ausgebrochen. Sie schreit die Worte heraus, giftige Blicke treffen Vater und Mutter, die rechts und links neben ihr sitzen. Die beiden hatten gerade angefangen miteinander zu sprechen, bissig, vorsichtig, auf der Hut voreinander. Doch immerhin haben sie miteinander gesprochen. Jetzt ist ihr Dialog verstummt und sie bemühen sich darum, die Tochter zu beruhigen. Die Mutter tätschelt ihre Hand, während der Vater sagt: »Jetzt lass uns vernünftig reden. Das muss man rational betrachten.« Mein Kollege und ich beobachten die Szene, erstaunt über die sich so rasch entwickelnde Dynamik und auch ein wenig hilflos, da Jennifer gerade schreit: »Am liebsten würde ich jetzt etwas kaputt machen, ich muss etwas kaputt machen!« Zu Hause zerstört Jennifer öfter Gegenstände. Sie schleudert Rotweinflaschen durchs Wohnzimmer, bricht Gläser entzwei, wirft Kerzenständer nach der Mutter. Da die getrennt lebenden Eltern seit Jahren nicht miteinander sprechen, findet der erste Kontakt mit uns auf neutralem Terrain, in unserer Praxis statt. Das Elterncoaching hat gerade begonnen.

Die Szene fand vor einem knappen Jahr statt, und seitdem gab es einige Entwicklungen, bei weitem nicht nur positive. Jennifers Familie gehört zu denen, bei denen eine »klassische Vorgehensweise« – wenn es die denn gibt – nicht möglich ist. Die Eltern sind zu wenig kooperativ, zu verstrickt miteinander und hochambivalent in ihren Veränderungswünschen. Seit etwa zehn Jahren versuchen wir uns in der Haltung der neuen Autorität, dem Elterncoaching nach Haim Omer und Arist von Schlippe. Es gab viel Ent1

Die Begleitung von Jennifer, Gökan und Boris fand in Kooperation mit meinem Kollegen Udo Brossette, die Begleitung von Hanna mit meinem Kollegen Martin Erhardt statt.

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wicklung in dieser Zeit, viele Veränderungen der Ideen und Vorgehensweisen. Lag die Orientierung zu Beginn eher auf den Strategien des gewaltlosen Widerstands, so traten diese mehr und mehr in den Hintergrund zugunsten der Frage nach den Entwicklungsbedürfnissen des Kindes und der klaren und konstruktiven Haltung der Erwachsenen, die Bindungsbeziehungen gedeihen lässt und eigene Befindlichkeiten wahrnimmt, achtet und würdigt. Manchmal sind die Erfolge des Elterncoachings verblüffend, manchmal scheint die Kooperation mühsam und Beharrlichkeit stellt die größte Herausforderung dar. Manchmal finden nahezu alle Strategien Anwendung und manchmal muss man neue erfinden. »Erfolgsstorys« scheinen gleichermaßen Bewunderung wie Abschreckung hervorzurufen: »Das geht mit unseren Familien nicht, das ist zu langwierig, zu teuer, zu aufwändig, setzt zu hohe Motivation voraus …« In diesem Beitrag geht es darum, anhand von Beispielen aus dem Beratungs- und Jugendhilfealltag darzustellen, wie einzelne Module des Ansatzes genutzt werden können, um manchmal kleine Verbesserungen zu begünstigen. Neben der Frage »Welche Art von Präsenz braucht das Kind?« (Omer u. von Schlippe, 2004, S. 33 ff.) beschäftigt uns dabei die Frage: »Welche Art von Präsenz brauchen die Erziehenden von den Beratern?« Einen Hinweis darauf liefert Uri Weinblatt (→ siehe seinen Beitrag in diesem Band) mit einer Metapher, die hier genutzt werden soll: Versteht man die beiden Eltern als Anker, welche ihrer beider Kraft nutzen können, um dem außer Kontrolle geratenen »Kinderschiff« Halt zu geben, so könnte man sich folgende Komplikationen vorstellen: –– Die Ankerketten verheddern sich. Sie brauchen »Entwirrung«, um ihre Kraft wieder einsetzen zu können. –– Die Anker sind sich ihrer Kraft nicht bewusst und setzen sie nicht ein. Sie benötigen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. –– Es scheint nur einen Anker zu geben und er allein sieht sich als nicht kräftig genug an. Er braucht Unterstützung von zusätzlichen Kräften. –– Die Anker scheinen unentwirrbar verkeilt. Es geht um kleinste Verbesserungen oder um Veränderungen des Kontextes.

Verhedderte Ketten oder Boris auf hoher See Die Arbeit mit Boris ist eine »Erfolgsstory«. Die Verbesserungen waren signifikant und nachhaltig, die Beziehung zwischen Beratern und Eltern war kooperativ und viele Strategien der neuen Autorität fanden Anwendung.

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Boris auf hoher See: Neue Autorität im Elterncoaching

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Boris war 17 Jahre alt, als das Jugendamt Elterncoaching in Auftrag gab. Er ging unregelmäßig in die neunte Hauptschulklasse und drohte, keinen Schulabschluss zu erhalten. Er war angeklagt, einen Raubüberfall auf offener Straße begangen zu haben, bedrohte seine Mutter und die kleine Schwester und nahm Drogen. Seit die Eltern sich getrennt hatten, lebte er bei der Mutter. Zum Vater gab es keinen Kontakt, seit er einmal in Frage gestellt hatte, ob Boris sein leiblicher Sohn sei. Der Kontakt zwischen den Eltern beschränkte sich auf die Übergabesituationen der kleinen Schwester, die sich gut entwickelte und eine gleichermaßen gute Beziehung zu beiden Elternteilen hatte. Obwohl das Jugendamt die Mutter als alleinige Ansprechpartnerin angekündigt hatte, ließ der Vater sich beim ersten Kontakt zur Mitarbeit gewinnen. Boris reagierte aufgebracht, wollte ihn nicht im Haus haben und verhöhnte die Zusammenarbeit der Eltern, der er keinen Bestand voraussagte. In den ersten Wochen eskalierte die häusliche Situation, indem Boris seine Mutter verfolgte, bedrohte und ihr Geld abpressen wollte. Der Mutter hingegen gelangen kleinste Schritte, als sie, mit einem inneren Mantra versehen (»Ich bleibe bei mir und ruhig«), die Strategie des Schweigens übte. Sie unterließ weitschweifige Erklärungen (»Du weißt, es ist Monatsende, ich habe nicht mehr so viel Geld und musste eure neuen Schuhe bezahlen …«) zugunsten einmaliger Erklärungen: »Nein, Boris, ich gebe dir kein Geld.« Boris übte sich in verbalen und körperlichen Attacken, bei denen er seine Mutter nicht angriff, ihr jedoch den Weg versperrte und Drohgebärden machte. Einmal eskalierte die Situation so weit, dass sie das Fenster weit öffnete und um Hilfe rief. Danach bat sie verschiedene Unterstützer, Kontakt mit Boris aufzunehmen: Der Vater, der gerade eine Urlaubsreise unternahm, meldete sich telefonisch aus dem Ausland; eine Freundin der Mutter erschien und lud Boris zum Pizzaessen ein; ein in den USA lebender junger Verwandter, den Boris schätzte, meldete sich per E-Mail und ein Freund des Vaters rief auf seinem Handy an. Alle ermahnten ihn eindringlich, jedoch auf unterschiedlichste Art, sein Verhalten zu ändern. Boris war verblüfft über die Reaktion der Mutter und empört über die hergestellte Öffentlichkeit, die er als Gipfel der Peinlichkeit empfand. Doch sein Verhalten änderte sich innerhalb weniger Wochen. Die Bedrohungen blieben fast völlig aus. Die Mutter kooperierte eng mit dem Klassenlehrer, der sich bereit erklärte, etwaiges Fernbleiben oder Fehlverhalten von Boris umgehend zurückzumelden, ihm aber ein Abschlusszeugnis zu geben, wenn er von nun an regelmäßig die Schule besuche. Mit der Aussicht, das leidige Thema Schule für immer hinter sich zu lassen, willigte Boris ein. Er erhielt seinen Abschluss und fand eine Lehrstelle, deren Anforderungen er ausgezeichnet bewältigte. Die Atmosphäre in der Familie entspannte sich, die Eskalationen nahmen kontinu-

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Abbildung 1: Starke Arme für ein Tigerkind

ierlich ab, während die positive Beziehungswiederaufnahme immer mehr Raum einnahm. Boris konsumierte weiterhin Drogen in einem Maß, das seine Gesundheit und seinen Alltag nicht bedrohlich zu beeinträchtigen schien. Die Eltern benannten die unterschiedlichen, sie herausfordernden Verhaltensweisen von Boris, differenzierten und sortierten sie nach der »Drei-KörbeMethode« (in den großen Korb alle Verhaltensweisen, die unerwünscht sind, aber im weitesten Sinn »normal«, in den mittleren Korb die Verhaltensweisen, die man nicht hinnehmen will, die aber vorerst nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen sollen, und in den kleinsten »roten« Korb höchstens drei Verhaltensweisen, gegen welche die Eltern sich ausdrücklich wenden), und legten so fest, was für sie aktuell am schlimmsten war und welchem Verhalten gegenüber sie sich anders verhalten wollten als bisher. Sie schrieben und übergaben Boris eine Ankündigung (»announcement«).

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Lieber Boris, wir, dein Vater und deine Mutter, sind in großer Sorge um dich. Es gibt ständig Streit in der Familie und die Atmosphäre ist unerträglich geworden. Wir möchten, dass sich das ändert, denn es ist uns wichtig, dass ihr Kinder in einer guten Atmosphäre aufwachst. Wir möchten nicht, dass deine Schwester Angst vor dir hat, und ich, deine Mutter, will auch keine Angst haben. Ich als dein Vater will wieder mehr Kontakt zu dir haben. Und ich als deine Mutter will wieder gute Zeiten mit dir erleben. Ich möchte, dass du hier bei mir wohnen bleibst, bis du in der Lage bist, allein zu leben. Wir wenden uns mit Entschiedenheit dagegen, dass du deine Schwester und mich, deine Mutter, bedrohst. Das Haus und das Grundstück werden von nun an eine drogenfreie Zone sein. Und wir werden nicht länger hinnehmen, dass du nicht zur Schule gehst. Du weißt, dass wir uns Unterstützung beim Jugendamt gesucht haben und wir werden weitere Unterstützung in unseren Familien und im Bekanntenkreis finden. Wir möchten, dass du ohne Drogen leben kannst, deinen Schulabschluss machst und einen Beruf lernst. Bei all dem unterstützen wir dich gern. Wir wissen, dass wir dich nicht besiegen können. Wir lieben dich und deshalb werden wir mit aller Kraft alles dafür tun, dass unser Zusammenleben sich ändert. Mama Papa Sie hielten mehrere Sit-ins ab, nachdem sie Drogen im Haus gefunden hatten. Die Unterstützer meldeten sich, wann immer die Situation dies erforderte. Erst verhalten, dann immer überzeugter, übten Vater und Mutter sich in Beziehungsgesten und hielten über alle Einbrüche hinweg den Kontakt zu ihrem Sohn (zu den Strategien vgl. Omer u. von Schlippe, 2003, 2004, 2010).

Was war entscheidend für diesen erfolgreichen Verlauf? Nach unserer Einschätzung waren es vor allem die Kooperation der Eltern und die neue Präsenz des Vaters, die zum Erfolg beigetragen hatten. Die Eltern waren in der Tat »verheddert« miteinander. Seit vier Jahren getrennt, hatten sie ihre Konflikte nicht bewältigt, sondern lagerten sie eher, um sie bei passender Gelegenheit hervorzuholen. Sie hätten »Leichen im Keller«, so ihr Sprachgebrauch. In diesem Fall war es von Vorteil, dass die Paarbeziehung nicht mehr bestand. Wenn ein alter Konflikt sich in den Vordergrund schob, fragten wir: »Wollen Sie sich jetzt damit auseinandersetzen?« Die Antwort der Eltern war stets: »Nein, dafür finden

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wir keine Lösung und brauchen sie auch nicht mehr.« Die Eltern erhielten viel Anerkennung für ihre Kooperation – von den Beratern, vom Jugendamt und von einander. Manchmal mussten sie sich daran erinnern, dass sie kein Paar mehr waren und Paarkonflikte also auch nicht mehr lösen mussten. Beeindruckend war, dass die Konfliktpunkte weniger wurden, je besser sie als Eltern zusammenarbeiteten und sich gegenseitig unterstützten. Für die Mutter war wichtig, dass der Vater ganz klar Position bezog, wenn es um Bedrohungssituationen ging, und bereit war, ins Haus zu kommen, auch wenn sie dies möglichst vermeiden wollte. Für den Vater war wichtig, dass von ihm nicht dieselbe Präsenz verlangt wurde wie von der Mutter. Er verstand sich als deren Unterstützer im Alltag mit Boris. Er selbst suchte vorsichtig und voll eigener Verletzungen durch erlebte Ablehnung einen neuen Kontakt zu seinem Sohn. Es gelang zu »entwirren«, indem die Positionen als Eltern und als Paar stets benannt und neu definiert wurden. Konflikte aus der Vergangenheit zwischen Frau und Mann wurden angesprochen und durften sein, ohne dass sie »bearbeitet« wurden. Der Vater fand Anerkennung und eine gute Position »in der zweiten Reihe« hinter der Mutter, die den Alltag mit Boris meisterte, und wurde zu einem klaren Gegenüber für seinen Sohn. Ein anderer Grund für den guten Verlauf ist sicherlich die Bindungsgeschichte von Boris. In seinen ersten Jahren erlebte Boris gute Bindungen an beide Elternteile. Diese hatten zwar im weiteren Verlauf der Beziehungsentwicklung gelitten, doch im Sinne einer »Rückkehr der Eltern« (vgl. Omer u. von Schlippe, 2003) konnte wieder an diese Grundlagen angeknüpft werden. Alle Beteiligten konnten auf eine sichere Basis zurückgreifen, auf starke Anker, die in einer anderen Zeit einmal gut funktioniert hatten und die nach der Entwirrung wieder wirken konnten.

Kraftlose Anker: Sophia in der Schule und Mareike in der Wippe Zwei kleine Beispiele sollen dazu dienen zu veranschaulichen, wie Eltern ihre Kraft (wieder-)entdecken können. Es mag vielleicht erstaunen, dass gerade Eltern sehr junger Kinder sich melden, weil sie sich entweder hilflos fühlen angesichts der Dominanz der »kleinen Tiger« oder aber, weil sie sich völlig verunsichert fühlen und Angst haben, das Falsche zu tun. Sophia war sechs Jahre alt und ging in die erste Klasse. Sie war ein großes Kind, das sich verbal gut ausdrückte, unerschrocken in den Praxisräumen umherging

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und interessierte Fragen stellte. Sie entdeckte rasch Kuscheltiere und Holzfiguren, mit denen sie spielen wollte, jedoch ließ sie sich beschränken, wenn sie etwas nicht durfte. Die Eltern rahmten klar, was Sophia und die vierjährige Schwester benutzen und womit sie spielen konnten, schienen liebevoll zugewandt und angemessen begrenzend. Die Lehrerin hatte den Eltern eine Therapie empfohlen, weil Sophia dominant sei, die anderen Kinder in Angst versetze und sich nicht an die Regeln halte, indem sie manchmal in die Klasse hineinrufe. Diese Rückmeldung der Lehrerin hatte die Eltern völlig verunsichert. Zu Hause wussten sie um ihr willensstarkes Kind, doch die Dramatik in der Schule konnten sie nicht nachvollziehen. Sie konnten keine konkrete schulische Situation schildern, sondern eher einzelne Ereignisse, von denen die Lehrerin berichtet hatte, wie: »Heute hat sie wieder einmal nicht aufgezeigt, sondern in den Unterricht gerufen«, oder: »Sie bestimmte, wer mitspielen durfte.« Was hier vielleicht erst einmal banal erscheint, kann doch dramatische Auswirkungen haben, wenn man sich vorstellt, dass die Lehrerin sich bereits an den Schulleiter gewandt hatte und die beiden zu dem Schluss gekommen waren, dass das Kind eine Therapie brauche. Da es anscheinend eine engagierte Lehrerin und einen interessierten Schulleiter gab, sollten die beiden einbezogen werden. Die Lehrerin sollte jeden Tag in kurzen Stichworten schriftlich festhalten, wie Sophia sich verhalte. Dabei sollte konkretes Verhalten beschrieben werden, und zwar positives wie negatives (vgl. den Beobachtungsbericht in Lemme, Tillner u. Eberding, 2009). Alle zwei Wochen sollte ein halbstündiges Gespräch zwischen Eltern, Lehrerin, Schulleiter und Sophia stattfinden, in dem die Notizen besprochen würden. Die Eltern wurden auf diese Art wieder zum Experten für ihr Kind, indem sie laufend informiert wurden. Lehrer und Eltern kooperierten und Sophia war sich der gesteigerten Aufmerksamkeit und Wachsamkeit der Erwachsenen bewusst. Sophias Eltern sagten den zweiten Beratungstermin ab, da die Situation sich völlig beruhigt habe und kein aktueller Beratungsbedarf bestehe.

Kraftlose Eltern (und auch Lehrer) brauchen Gelegenheit, wieder Selbstwirksamkeit zu verspüren und selbst handeln zu können, anstatt einfach an Therapeuten zu verwiesen zu werden. Die Bindungsbeziehung ist in Gefahr, wenn Eltern den Eindruck haben, die Fachleute verstünden mehr von ihrem Kind als sie selbst. Verunsicherung führt zu einem Nachlassen an Halt und Rahmung, was wiederum das destruktive kindliche Verhalten stärken und zu noch mehr Verunsicherung führen kann. Coaching bedeutet hier Anerkennung und Ermu-

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tigung für die Eltern: »Wir haben keinen Erziehungsnotstand, wir haben einen Ermutigungsnotstand!« (Tschöpe-Scheffler, 2008). Ermutigung brauchten auch die Eltern von Mareike (sechs Monate alt): Mareike zeigte kein auffälliges Verhalten, sie hatte vielmehr eine auffällige Geschichte. Vom Tag der Geburt an war sie unruhig und weinerlich, nachdem sie getrunken hatte. Sie schien Schmerzen zu haben, jedoch konnten die Ärzte keinen Anhaltspunkt für eine Erkrankung finden. Während der ersten Wochen und Monate sorgte sich vor allem die Mutter ständig, während ihre Umgebung sie beruhigte und sie aufforderte, den Ärzten zu vertrauen. Im Alter von zehn Wochen brachten die Eltern Mareike ins Krankenhaus, als sie nicht mehr aufhören wollte zu schreien. Die Ärzte entdeckten eine Fehlbildung des Magens, die eine Notoperation erforderlich machte. Nachdem Mareike und ihre Mutter aus dem Krankenhaus entlassen worden waren, begann das Leben mit dem Monitor. Während Mareikes Befindlichkeit sich besserte, führten die ständige Überwachung und die damit einhergehenden Fehlalarme dazu, dass die Eltern nahezu keine Nachtruhe mehr hatten.

Was führte die Eltern zum »Elterncoaching«? Sie wollten nun, da die schwerste Zeit vorbei schien, unbedingt alles richtig machen. Mareike sollte nach der langen Krankheitsphase nicht auch noch unter den Erziehungsfehlern der Eltern leiden. Zudem waren sie verunsichert, da sie in den vergangenen Monaten oftmals wegen ihrer »Überfürsorglichkeit« kritisiert worden waren. Es war für sie wichtig, ernst genommen zu werden in ihrem Anliegen und konkrete Anhaltspunkte zu erhalten, wie sie ihre Energien gut für das Kind und die kleine Familie einsetzen könnten. In diesem Fall waren die Untersuchungsergebnisse von Fivaz-Depeursinge und Carboz-Warnery (2001) hilfreich, zwei Schweizer Entwicklungspsychologinnen, die sich in einer umfangreichen Untersuchung mit dem »primären Dreieck« befassten, jener Konstellation, in die jedes Kind geboren wird. Angelehnt an diese Arbeit wurden in diesem Fall drei unterschiedliche triadische Situationen betrachten: die Interaktionen zwei plus einer, zwei für einen und drei gemeinsam. Jede dieser triadischen Konstellationen sollte in einer Familie konfliktfrei möglich sein, ohne dogmatisch Konflikte zu vermeiden, um gute Entwicklungsbedingungen für das Kind zu bieten. Diese verkürzte Darstellung wird der umfangreichen Arbeit der Autorinnen nicht gerecht, jedoch bietet sie Anhaltspunkte zur positiven Verstärkung der Eltern: Im Beratungskontakt übernahm immer wieder einer der Eltern die Sorge für Mareike, während der andere mit der Beraterin sprach (zwei plus

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einer). Während das Baby sich mit seinen Beißringen allein beschäftigte, erzählten sie gemeinsam und berichteten auch von kritischen Punkten als Paar und in der elterlichen Zusammenarbeit (zwei plus einer). Wenn Mareike quengelte und einer sich um sie mühte, mischte der andere sich nicht ein (zwei plus einer). Als Mareike gewickelt werden musste und dafür in der nicht babytauglich eingerichteten Praxis Decken und Papiertücher eingesammelt werden mussten, kooperierten die Eltern flugs (zwei für einen), bis einer von ihnen die eigentliche Wickelzeremonie übernahm (zwei plus einer), während der andere sich wieder der Beraterin zuwandte. Nach dem Wickeln entwickelte sich ein kurzes Spiel beider Eltern mit dem Baby (drei gemeinsam). Die Eltern hörten erstaunt, wie gut sie positive Dreiecke gestalten, sie suchten weitere Beispiele dafür und überlegten, wie sie dies weiterhin nutzen wollten. Sie gewannen einen neuen Blick auf die Normalität ihrer abgrundtiefen Erschöpfung und Müdigkeit sowie Anerkennung für das, was jeder Einzelne, beide gemeinsam und alle drei zusammen in den vergangenen Monaten bewältigt und geleistet hatten. Im dritten Beratungsgespräch wurde deutlich, dass eine Variante der Konstellation zwei plus einer – das Baby und die Eltern als Paar – am ehesten auf der Strecke blieb und dass es lohnenswert wäre, in Babysitter zu investieren statt in weitere Beratung. Der Blick auf positive Dreiecke und die Möglichkeit, diese zu verstärken, kann zur Wiedererlangung der Selbstwirksamkeit der Eltern beitragen, zu einem gezielten Beitrag wachsamer Sorge und zur Stärkung verloren geglaubter Kraft.

Ein Anker kann das Schiff nicht halten: Erholungskur für Leila und Nachhilfe für Hanna »Alleinerziehende« müssen nicht allein bleiben und auch in ihrem Umfeld gibt es Unterstützerinnen und Unterstützer. Doch allein mit Kindern lebende Elternteile haben es oftmals schwerer, andere mit einzubeziehen. Zum einen ist das Netzwerk einer Person oftmals kleiner als das von zweien, zum anderen gehört es oft zu ihrem Alltag und zu ihrer Selbstdefinition, »es auch allein zu schaffen«, sodass es manchmal schwerer fällt, Hilfe anzunehmen. Manchmal ist hier ein besonderer Einsatz des Helfersystems gefordert. Leila (14) war die jüngste von fünf Töchtern einer marokkanischen Mutter. Der Vater hatte die Familie vor fünf Jahren verlassen, um ins Heimatland zurückzukehren. Seitdem versorgte Frau L. ihre Kinder allein, verdiente als Hauswirt-

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schafterin das Geld für die große Familie und konnte sich an der Entwicklung von ihren vier älteren, schönen Töchtern freuen. Einzig Leila fiel aus der Rolle: Sie schwänzte die Schule, blieb bis spät in die Nacht weg, war frech und respektlos zur Mutter und zu den großen Schwestern und wurde gewalttätig wie einst der Vater, wenn ihr etwas nicht passte. Beim Kampf um die Fernbedienung für den Fernseher hatte sie einer Schwester den Arm gebrochen. Leila »residierte« im Wohnzimmer. Ihre Schwestern teilten sich jeweils zu zweit ein Zimmer, während sie vor langer Zeit vom Elternschlafzimmer auf der Couch im Wohnzimmer gelandet war, von wo aus sie über Fernseher, HiFi-Anlage und Computer bestimmte. Dieses Coaching begann mit der Umorganisation der Wohnung. Alle Zimmer und die Möbel wurden neu verteilt, sodass das Wohnzimmer mit einer Bettcouch zum Wohn- und Schlafzimmer der Mutter wurde, die Älteste in das bisherige kleine Schlafzimmer der Mutter zog und Leila sich ein Zimmer mit der nächstälteren Schwester teilte. Diese Veränderung verlief nicht ohne Konflikte. Es gab viele Verhandlungen, Streitigkeiten und ein paar Anschaffungen, die finanziert werden mussten. Die Konflikte waren laut und temperamentvoll, jedoch nicht mehr körperlich bedrohlich. Mit der immer wiederkehrenden Anwesenheit der Berater hatte Leila schnell zu einem immer noch impulsiven, aber gemäßigten Verhaltensmodus gefunden. Die Abwesenheit des Vaters wurde ausführlich thematisiert und Leila hatte einige längere Telefongespräche mit ihm. Er engagierte sich weder finanziell noch was den Alltag der Töchter anging. Dass er telefonisch präsent war, machte aus dem tabuisierten Mythos jedoch einen Menschen aus Fleisch und Blut, über den man sprechen, klagen und trauern konnte und dessen »Reinszenierung« durch die jüngste Tochter immer weniger notwendig schien. Die Mutter entwickelte Leila gegenüber eine neue klarere Haltung, die ihren Ausdruck in einem Announcement fand. Liebe Leila, ich hatte viel Angst um dich in den letzten Jahren. Du gehst nicht zur Schule, du schlägst deine Schwester, du hörst nicht auf mich. Ich tue alles dafür, dass sich das ändert! Frau G. und Herr B. helfen mir dabei. Ich will, dass wir zusammen leben, bis du erwachsen bist. Ich will das schaffen, auch wenn dein Vater nicht mehr hier ist. Ich habe dich lieb, Leila. Mama

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Leilas Schulbesuch wurde regelmäßiger; die Attacken gegen die Schwestern blieben aus. Sie schien entlastet, erholt und entwickelte sich zusehends von einem burschikosen Mädchen zu einer eigenwilligen mädchenhaften Jugendlichen. In dieser Phase wurde der Mutter eine Kur bewilligt und zum fast sofortigen Antritt bereitgestellt. Diese Kur schien uns bitter nötig und eine passende Bewährungsprobe für die jungen Frauen. Es gab jedoch niemanden im Umfeld der Familie, der in diesen drei Wochen die Sorge für sie hätte übernehmen können. Das Arbeitsumfeld der Mutter war ihre einzige Oase, in die wir nicht eindringen wollten; die Familie des Vaters war nicht zur Unterstützung bereit und die der Mutter über Europa und Nordafrika verteilt. Mein Kollege und ich entschieden schnell und stellten einen Plan auf, nach dem jeweils einer von uns täglich für eine bestimmte Zeit bereitstehen würde. Einige Termine wurden verbindlich, andere auf Abruf vereinbart. Es bestand permanente telefonische Erreichbarkeit – und die Option, im Falle einer gefährlichen Eskalation mit Wissen des Jugendamtes die Polizei zu informieren. Nach dieser klaren Rahmung und umfangreichen Organisation wurden wir kein einziges Mal gerufen, sondern waren nur zu den verbindlich vereinbarten Terminen in der Familie. Leilas Mutter ging es ausgesprochen gut. Sie genoss den Besuch der Töchter an einem Wochenende. Als sie die Kur um eine Woche verlängerte, hielten wir die Luft an – und verlängerten unsere Organisation um eine Woche.

Diese besondere Präsenz der Berater trug Früchte. Es schien, dass die von außen kommende Kraft in der Familie Vertrauen und Selbstbewusstsein wachsen ließ. Die Familie hatte selbst viele konstruktive Muster entwickelt – immerhin gab es sehr viele positive Erfahrungen mit den vier anderen Töchtern. Doch in den letzten Jahren war vielleicht die Kraft ausgegangen, um auch der fünften einen guten Rahmen zu geben, die zudem die Last der Repräsentation des Vaters zu tragen schien. Die Unterstützung von außen wirkte wie eine Krafttankstelle, deren Füllung einem müde gewordenen Motor zu neuer Energie verhalf. Auch Hannas Mutter hatte mit der Zeit ihre Kraft verloren: Vor acht Jahren, als Hanna sechs Jahre alt war, hatte der Vater die Familie ohne Ankündigung verlassen und war seitdem unauffindbar. Die Mutter ernährte sich und die Tochter mit voller Berufstätigkeit, sodass sie am Nachmittag nicht zu Hause war. Hanna war in letzter Zeit aufsässig und hielt sich an keine Regeln mehr. Nach dem Unterricht kam sie nicht nach Hause und blieb ganze Nächte weg. Bei Streitigkeiten mit der Mutter kam es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen.

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Die Mutter lernte mit Schweigen und verzögerter Reaktion zu deeskalieren, jedoch blieb die mangelnde Präsenz am Nachmittag Dreh- und Angelpunkt des Problems: Wenn Hanna nicht nach Hause kam, verbrachte sie den Nachmittag mit älteren Jugendlichen, bei denen sie in der Nacht blieb und dann am nächsten Tag nicht zur Schule ging. Die Geschwister der Mutter unterstützten, wo möglich, waren aber selbst berufstätig und konnten am Nachmittag nicht zur Verfügung stehen. Hannas Mutter schrieb Handzettel und verteilte sie in der Stadt, vor allem rund um die Hochschule: »Nachhilfelehrer/-in gesucht, täglich ca. 14–16 Uhr in der Wohnung der Schülerin (14)«. Eine Psychologiestudentin meldete sich, die auf der Suche nach einem Praxisprojekt für eine Studienarbeit war. Die junge Frau kam viermal in der Woche und war für Hanna so attraktiv, dass sie vom ersten Treffen an keine »Nachhilfe« ausfallen ließ. Die Studentin wurde am Nachmittag von der Mutter abgelöst, sodass fortwährend jemand in der Wohnung war. Das nächtliche Fernbleiben wurde sofort unterbrochen und wie Dominosteine fielen auch das gelegentliche Schuleschwänzen, nicht erledigte Hausaufgaben und eskalierende Auseinandersetzungen darüber weg. Die Mutter hatte mit ihrer kreativen Idee Selbstwirksamkeit erfahren und trat ihrer Tochter mit mehr innerer Kraft gegenüber. Die Kosten für die Nachhilfelehrerin wurden vom Jugendamt übernommen, das damit beträchtliche Betreuungskosten einsparte.

Verkeilte Anker und kleinste Erfolge? Gökan hinter Gittern Doch was tun, wenn die Anker unentwirrbar verkeilt scheinen, wenn nahezu keine Strategie unseres Repertoires fruchtet oder überhaupt zur Anwendung kommen kann? Gökan hatte mit 15 Jahren bereits eine lange Liste von Strafanzeigen und weiteren Straftaten, die niemand verfolgte. Er war als jüngstes von vier Geschwistern einer türkischen Familie in Deutschland geboren und aufgewachsen. Der Vater verdiente viel Geld mit teils undurchschaubaren Geschäften. Vater und Mutter zeigten hoch eskalierendes, sehr ambivalentes Verhalten vor allem Gökan gegenüber. Bei seinen Straftaten schienen sie eher zu verurteilen, dass er sich hatte erwischen lassen, als dass er Unrecht getan hätte. Vor allem die Mutter war sehr zugewandt und zärtlich zu ihrem Sohn, legte sich am Morgen in sein Bett und »streichelte ihn wach«. Wenn er sich etwas zuschulden kommen ließ,

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gab es Schläge und Bestrafungen. Diese wurden meist am nächsten Tag zurückgenommen und durch materielle Belohnungen ersetzt. In dieser Familie waren die Erwachsenen nicht in der Lage, zu schweigen oder Reaktionen zu vertagen. Es kam nie zu einer Drei-Körbe-Arbeit und jedes Sit-in wäre in einem gefährlichen körperlichen Kampf gemündet. Die Berater waren ständig damit beschäftigt, neuen Eskalationen zu begegnen bzw. diese zu entschärfen. Unter anderem hatte Gökan ein Mädchen vergewaltigt, was von den Eltern beschönigt wurde, viele Diebstähle begangen, war wegen mehrfacher Körperverletzung angeklagt und für seine Lehrer eine Provokation, derer sie sich nur noch entledigen wollten. Es kam zu Handgreiflichkeiten mit Messern in der Familie und massiven Drohungen von Gökan seinen Eltern gegenüber, sodass auch die Polizei mehrfach eingeschaltet wurde. Einzige Ressource dieses Betreuungssettings schien die Beziehung des männlichen Beraters zu Gökan. In den wenigen Gesprächen, auf die er sich einließ, zeigte der Junge sich auch reflektiert, mitunter verzweifelt und offen. Doch diese punktuellen Kontakte hielten die sich ständig beschleunigende destruktive Kraft nicht auf. Die Eltern fanden zu keiner klaren Position ihrem Sohn gegenüber, bedrohten ihn, schmissen ihn hinaus, um ihn am folgenden Tag mit Geschenken wieder aufzunehmen. Der Kreislauf wurde erst unterbrochen, als Gökan in Untersuchungshaft gebracht und eingesperrt wurde. Diese Monate wirkten wie eine Beruhigung in Bezug auf seine familialen Beziehungen. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Konflikte innerhalb der Familie weitergingen und neue Schauplätze fanden, die hier nicht beschrieben werden sollen. Gökan fand zur Ruhe und genoss die Besuche einzelner Familienmitglieder. Sein Vater fand sich zum ersten Mal zu ruhigen Gesprächen bereit. Es gelang ihm, seinem Sohn einen Brief zu schreiben. Er schrieb von seinen Gefühlen für ihn, von seinen Hoffnungen in den intelligenten Sohn. Er schrieb davon, was er ihm für die Zukunft wünsche und dass er ihn unterstützen werde, was auch immer geschehe. Er beschrieb auch zum ersten Mal seine Haltung gegen Gewalt und Diebstählen. Dieser Brief wurde niemals als »Announcement« benannt – und doch war er es in dieser einzigartigen Phase der Beruhigung.

Dies schien das einzig Mögliche in Gökans Familie, wenigstens vorübergehend zu konstruktiveren Mustern zu finden. Er wurde später verurteilt und blieb über zwei Jahre in Haft. Die Jugendhilfe wurde eingestellt. Im Vorfeld seiner Entlassung verlangte er nach einer Fortsetzung der Betreuung durch den männlichen Berater. Daraufhin erhielt er das Angebot eines neuen Betreuers in Zusammenarbeit mit der Bewährungshilfe. »Auch eine zwanzigprozentige Veränderung ist eine Veränderung«, sagte

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Petra Girolstein

Haim Omer einmal. In solchen Kontexten wie dem beschriebenen ist es vielleicht ein Erfolg, wenn es nicht zu weiteren Verschlimmerungen kommt. Beharrlichkeit wird oftmals gespeist von Demut und Bescheidenheit.

Elterncoaches als Seefahrer Die Eltern als Anker stehen nicht nur in unterschiedlichen Konstellationen, sie haben auch sehr unterschiedliche Ankerketten – ihre individuellen Geschichten. Je nachdem, wie sie lauten, haben die Berater wie bereits beschrieben sehr unterschiedliche Aufgaben: –– entwirren und ordnen, –– beobachten und ermutigen, –– unterstützen und stärken, –– beharrlich und bescheiden kleinste Veränderungen anstoßen. Vielleicht sind sie ein wenig wie Seefahrer, die nicht wissen, auf welches Gebiet sie sich begeben, ob die See ruhig und einladend oder stürmisch und bedrohlich sein wird. Die Geschichten, die uns begegnen und die wir erzählen, sind manchmal wie Seemannsgarn: Wer weiß, wie viel wahr oder erfunden ist. In Jennifers Familie gab es viele Veränderungen im Laufe eines Jahres: Sie trat aus dem Blickfeld, indem sie im Rahmen eines Schulprojektes für ein Jahr nach Südamerika ging. Ihre kleine Schwester rückte in den Vordergrund. Bisher unauffällig, sorgt sie, seit Jennifer aus dem Haus ist, für die ständige Beschäftigung der Eltern: Sie lügt, stiehlt und sorgt für große Turbulenzen in der Schule. Die Eltern haben gelernt, in einem moderierten Kontakt miteinander zu reden. Es wird immer deutlicher, dass die Mutter nicht bereit ist, sich ihren Kindern (oder den Beratern) gegenüber verbindlich zu positionieren. Es scheint, dass sie, sobald Nähe durch Verbindlichkeit entsteht, die Situation mit ihrer Impulsivität zum Eskalieren bringt. Der Kontakt zum Vater scheint tragfähiger. Wir werden versuchen, die Mutter dafür zu gewinnen, sein Angebot, mehr Verantwortung zu übernehmen, anzunehmen. Er wird sein Announcement schreiben und damit vielleicht eine neue Phase in der Bindungsgeschichte mit seinen Kindern bekräftigen.

Was in anderen Familien binnen weniger Wochen erreicht wird, braucht hier sehr viel länger. Besser oder schlechter? Erfolgreich oder weniger?

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Boris auf hoher See: Neue Autorität im Elterncoaching

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Ähnlich wie von Kleist (1805/2002) »die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« beschreibt, geht es vielleicht um die allmähliche Verfertigung der Beziehung in der Beratung. Im Wechselspiel zwischen den Beteiligten entsteht die relevante Beziehungsdynamik, entwickeln sich innere Prozesse und werden eigene Haltung, Positionierung und Verankerung genährt. Die Erziehenden erleben Präsenz am Modell des Beraters, der sich, mit Hilfe und doch unabhängig von Strategien, auf den Prozess einlässt – beharrlich, manchmal enttäuscht, manchmal begeistert, mit wechselndem Blick auf das, was geschieht, und auf die eigene Rolle und Beziehungsdefinition.

Literatur Fivaz-Depeursinge, E., Corboz-Warnery, A. (2001). Das primäre Dreieck. Vater, Mutter und Kind aus entwicklungstheoretisch-systemischer Sicht. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Kleist, H. von (1805/2002). Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner. Lemme, M., Tillner, R., Eberding, A. (2009). Neue Autorität in der Schule. Familiendynamik, 34 (3), 276–283. Omer, H., Schlippe, A. von (2003). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. Elterliche Präsenz als systemisches Konzept. Göttingen: Vanden­hoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Tschöpe-Scheffler, S. (2008). Vortrag auf der Tagung »Gut beratene Eltern« vom 14. bis 18. September 2008 in St. Virgil, Salzburg.

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Dennis Haase und Tom Pinkall

Wiedergutmachung und Reintegration als (ver-)bindungsunterstützende Interventionen »Ein Boot kann nicht gegen die Wettfahrtleitung wegen eines Regelverstoßes protestieren, es kann aber Antrag auf Wiedergutmachung einreichen und hat darauf Anspruch, wenn es nachweist, dass seine Wertung durch eine unzulässige Handlung oder Unterlassung der Wettfahrtleitung und nicht durch seinen eigenen Fehler wesentlich verschlechtert wurde.« Wettfahrtregeln, International Sailing Federation (ISAF)

Vorbemerkung Wenn Schiffe nicht »ankern« oder nicht in »sicheren Häfen« liegen, sondern stattdessen im harten Wettbewerb mit anderen Schiffen um einen guten Platz segeln und in diesem Wettbewerb andere schädigen, ihnen das Wegerecht nehmen oder andere Regelverstöße begehen, dann haben die Geschädigten Anspruch auf Wiedergutmachung. Regelwerke und internationale Wettfahrtbestimmungen halten hier umfangreiche Vorschriften bereit. Um den bereits mit maritimen Metaphern vertrauten Leser thematisch einzustimmen, haben wir auszugsweise diese Möglichkeit der Wiedergutmachung bei internationalen Wettfahrten (Regatten) vorangestellt. Wir möchten in diesem Beitrag unsere Aufmerksamkeit auf Schadensausgleich, Wiedergutmachung und Reintegration im Kontext von Erziehung und Bindung lenken. Dabei werden wir vor allem auf unsere Erfahrungen als Therapeuten, Trainer und Supervisoren zurückgreifen und neben einer theoretischen Erläuterung der Konzepte auch Praxisbeispiele schildern sowie zur persönlichen Reflexion einladen.

Wiedergutmachung Wiedergutmachung ist ein zentraler Bestandteil des Modells der neuen Autorität (Omer u. von Schlippe, 2004, 2010). Dabei wird Wiedergutmachung als wirksame Alternative zu Sanktionen und Strafen beschrieben, die eher in Eskalationen und Machtkämpfe führen können. Anlass für Wiedergutmachungen

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Wiedergutmachung und Reintegration als (ver-)bindungsunterstützende Interventionen

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sind Vorkommnisse, bei denen ein Kind oder ein Jugendlicher anderen Personen Schaden zufügt. Der Devise folgend, »schmiede das Eisen, wenn es kalt ist«, sollen Eltern dem Kind ohne Druck signalisieren: »Wenn du jemandem schadest, muss der Schaden ausgeglichen und wiedergutgemacht werden.« Von Bedeutung ist, dass das Kind die Wiedergutmachung nicht allein leisten muss. Es wird von den Eltern begleitet und unterstützt. Omer sieht hier übereinstimmende Muster in allen Religionen, in denen Ausgleich immer mit Unterstützung geleistet wird. Eltern oder Unterstützer sind dabei behilflich, den Ruf der Täter wieder herzustellen. So können Eltern sagen: »Ich unterstütze dich dabei, deinen Ruf in der Klasse wiederherzustellen. Dein Ruf und dein Ehrgefühl sind uns wichtig!« Dabei ist es unvermeidbar, dass ein Moment der Scham durchlebt werden muss. Diese Überwindung der Scham soll nicht mit unnötiger und anklagender Beschämung verwechselt werden. Um diesen Moment auszuhalten, sind Begleiter und Unterstützer wichtig. Am Ende steht die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft. Dabei ist Haim Omer und Arist von Schlippe eine gleichmäßig verteilte Aufmerksamkeit wichtig, die Respekt und Schutz für die Opfer ermöglicht und die Bedeutung der Gemeinschaft unterstreicht. Ähnliches skizziert Joachim Kersten, Soziologe und Kriminologe an der Hochschule der Polizei in Münster. Er beschäftigt sich mit Fragen der Jugendgewalt und Kriminalität. Auch in seinen Beiträgen finden sich nachdrückliche Empfehlungen für Rituale der Wiedergutmachung (Kersten, 2008, 2011). Unter Rückgriff auf den australischen Soziologen und Kriminologen John Braithwaite votiert Kersten für eine »wiedereingliedernde Beschämung« (»reintegrative shaming«). Ausgehend von der Annahme, dass beispielsweise jugendliche Gewalttäter in ihrer Sozialisation nicht gelernt haben, Scham auszuhalten und zu bewältigen, sollen sie als Konsequenz für Straftaten mit dem Leid der Geschädigten konfrontiert werden. Bedrohter Stolz und verletztes Selbstwertgefühl werden bei Kersten als häufige Ursachen von Gewalt beschrieben und die Wirkung von Bootcamps1 und üblichem Strafvollzug wird als weniger wirkungsvoll eingeschätzt als mögliche Wiedergutmachungen.

1

Bezeichnung für Einrichtungen zur (Um-)Erziehung von Straftätern.

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Dennis Haase und Tom Pinkall

Ausgleich, Wiedergutmachung und Reintegration von Schülern nach Schulvermeidung Im Behandlungskonzept der Wunstorfer Kinder- und Jugendpsychiatrie hat die Reintegration von Kindern und Jugendlichen mit Schulangst oder Schulvermeidungsvergangenheit eine längere Tradition. Seit ungefähr 15 Jahren werden Patienten mit einem besonderem Integrationsbedarf (Mobbingerfahrungen, Schulangst, Trennungsangst) am Ende der stationären Therapie zu einem therapeutischen Gespräch mit ihren Schulklassen begleitet. Obschon es sehr unterschiedliche Muster von Schuldistanz gibt, die eine differenzialdiagnostische Unterscheidung voraussetzen (Schweitzer u. Ochs, 2003; Schweitzer, von Schlippe, Spitczok von Brisinski u. Hahn, 2006), haben sich neben der üblichen kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnostik und Therapie zwei Interventionsebenen im Konzept der Klinik etabliert, die sich für die meisten Patienten mit Erfahrungen von Schuldistanz als besonders hilfreich erwiesen haben: ein wöchentliches Gruppenangebot (Schülergruppe) und ein begleitetes und moderiertes Reintegrationsgespräch mit der Schulklasse (Antrittsbesuch) der Schüler. Auf beiden Ebenen ist eine besondere Aufmerksamkeit für die Themen Scham, Schuld und (Re-)Integration angelegt. Diese sollen daher etwas ausführlicher skizziert werden. Da wir in diesem Beitrag den Fokus auf Aspekte der Wiedergutmachung und Reintegration legen, kann das therapeutische Konzept zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Schulangst bzw. Schulphobie jedoch in diesem Text nur verkürzt und unvollständig nachgezeichnet werden.

Zur Situation schulvermeidender Schüler Wie bereits angeführt, ist die Ausgangslage von Schülerinnen und Schülern mit Schuldistanzerfahrungen sehr unterschiedlich. Dennoch gibt es häufig übereinstimmende Muster, die bei allen unterschiedlichen biografischen Verläufen, familiären Herkunftssystemen und Erkrankungen sehr ähnlich sind. So sind nicht selten einige dieser Schüler mehr als sechs Monate oder länger nicht mehr in der Schule gewesen. Ein großer Teil dieser Patienten, die ambulant, teilstationär oder stationär kinder- und jugendpsychiatrisch behandelt werden, wurde zuvor über lange Zeiträume einzeltherapeutisch versorgt, manchmal auch durch ambulante Jugendhilfeangebote begleitet. Gemeinsam ist vielen Fällen auch, dass die Beteiligten den Grund für die Vermeidung finden wol-

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len. Dabei wird die Ursache oft in möglichen vergangenen Kränkungen, Entwertungen und anderen belastenden Erfahrungen vermutet. Eine Rückkehr scheint aus Sicht der Betroffenen nicht möglich und unzumutbar. Ebenfalls ähnlich ist, dass viele der Patienten sich komplett zurückgezogen haben. Sie vermeiden es, in ihrem Umfeld gesehen zu werden, um möglichen unangenehmen Fragen auszuweichen.

Gruppentherapeutisches Angebot für Patienten mit Schuldistanzerfahrung In einem gruppentherapeutischen Angebot treffen sich wöchentlich jugendliche Patienten, die am Beginn ihrer Therapie stehen und sich auf die teilstationäre oder stationäre Therapie vorbereiten, Patienten, die aktuell tagesklinisch oder stationär behandelt werden, sowie Patienten, die bereits erfolgreich die Schule wieder besuchen, aber die Gruppe noch zur weiteren Stabilisierung nutzen. Die Teilnehmer stehen also an ganz unterschiedlichen Punkten ihrer Entwicklung. Ein wichtiges Ziel der Gruppe ist es, unter anderem die Identität der Patienten als Schülerinnen und Schüler zu stärken. Darum heißt die Gruppe »Schülergruppe«. Thematisch stehen die Reflexion von Erfahrungen, der Umgang mit beschämenden Situationen sowie die Bewältigung familiärer Krisen und Belastungen im Vordergrund der Gruppe. Wenn diese Kinder und Jugendlichen über ihre Erfahrungen in ihren Klassen sprechen, beschreiben sie oft übereinstimmend Erfahrungen von Scham und Beschämung. Sie beschreiben beispielsweise, dass sie nach der Rückkehr von der ersten längeren Abwesenheit eine »unausgesprochene schlechte Stimmung« gegen sich wahrgenommen haben. Oft führt diese Erfahrung dazu, dass die Schüler sich eine erneute Rückkehr in ihre Klassen nicht vorstellen können. Sie zeichnen in Gesprächen das Bild von »verbrannter Erde« und wünschen sich einen »Neuanfang« an einem anderen Ort in einer anderen Schule. Häufig wird diese Sicht von Eltern, Lehrern und Therapeuten geteilt. Dies verstärkt jedoch das Selbstbild der Kinder und Jugendlichen als Opfer. Einige jugendliche Patienten befürchten auch, auf einer neuen Schule »enttarnt« und von ihrem »alten Ruf« eingeholt zu werden. Insbesondere durch mögliche Verbreitung durch soziale Netzwerke im Internet fürchten sie eine Rufschädigung auch in ihrem neuen Umfeld.

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Den Ruf wiederherstellen: Antritts- und Abschiedsbesuche In den meisten Fällen raten wir den betroffenen Patienten zu einer Rückkehr an ihre alte Schule. Dabei unterbreiten wir ihnen ein konkretes Angebot. Wir bieten ihnen an, sie dabei zu unterstützen, nach der Therapie ihren Ruf wiederherzustellen und ihren Stand in der Klasse zu festigen. Die Patienten reagieren meist erleichtert, einige können sich schon am Beginn eines längeren Therapieprozesses eine Unterstützung vorstellen, andere reagieren skeptisch, sind aber offenbar erleichtert, da mit den Ideen für eine Rückführung die Bedeutung dieser Frage schon unterstrichen wird. Ist das nicht möglich, da aufgrund von massiver Überforderung beispielsweise ein Schulwechsel angezeigt ist oder eine Klasse aufgrund der erheblichen Versäumnisse wiederholt werden muss, empfehlen wir einen ebenfalls begleiteten »Abschiedsbesuch« in der alten Klasse, um sich zu verabschieden und der alten Klasse noch das neue Bild von sich zu präsentieren. Sollte ein Wechsel oder eine Wiederholung der Klasse erfolgen, so kann es zunächst zu einem Abschiedsbesuch in der alten Klasse kommen und im Anschluss zu einem Antrittsbesuch in der neuen Klasse. Dabei wird der Schüler unter anderem vor dem Start in die Schule zu einem gemeinsamen Gespräch mit der ganzen Klasse begleitet. Wir nennen dieses Treffen mit der Klasse daher »Antrittsbesuch«. Ziel des Gesprächs ist es, den Schüler zu unterstützen, seine Abwesenheit vom regelmäßigen Schulbesuch zu erklären, sowie mögliche Vorurteile und Stigmatisierungen in Bezug auf den Psychiatrieaufenthalt zu entgiften und zu neutralisieren. Nach vorheriger Absprache mit dem Klassenlehrer oder der Klassenlehrerin wird ein Termin vereinbart, bei dem sich die Klasse im Stuhlkreis zusammenfindet. Der Therapeut der Klinik stellt sich vor und erläutert, dass er gekommen ist, um den betreffenden Schüler dabei zu unterstützen zu erklären, warum er so lange nicht in der Klasse war. Nach einer Vorstellungsrunde, in der jeder der Schüler seinen Namen gesagt hat, beginnt der betroffene Schüler zu berichten. Der Therapeut übernimmt in dieser Stunde eine behutsame Steuerung des Gesprächs. Dabei ist sehr wichtig, dass die Klasse nicht den Eindruck gewinnt, der begleitete Schüler habe eine anwaltliche Unterstützung, um die Schüler der Klasse für vergangene Ungerechtigkeiten anzuklagen. Dafür kann zum Beispiel die Erklärung »Ich komme nicht als Anwalt von Pascal, sondern verstehe mich als Anwalt für ein gutes Klassenklima« für einen vertrauensvolleren Austausch sorgen. Im ersten Teil des Gesprächs ist es wichtig, dass möglichst viel Kontakt entsteht und möglichst viel Austausch stattfindet. Der betroffene Schüler ruft im

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Verlauf die sich meldenden Mitschüler auf. So entsteht viel persönlicher Kontakt. Wenn beispielsweise eine Schülerin, die vor ihrer Fehlzeit ängstlich und zurückhaltend war, im Stuhlkreis die Meldungen ihrer Mitschüler abruft, diese mit Namen anspricht und sie dabei auch anschaut, dann wird bereits ein Unterschied eingeführt. Im zweiten Teil des Gesprächs geht es dann um mögliche Kränkungen und Probleme in der Vergangenheit. Folgende Fragen haben sich für diesen Teil bewährt: –– »Wer von euch in der Klasse hat eigentlich bemerkt, dass es Pascal nicht so gut geht?« –– »Wer hat bemerkt, dass Pascal Unterstützung gebrauchen könnte?« –– »Wer hat denn in dieser Zeit am meisten unter der Situation gelitten?« –– »Wer würde denn feststellen, ob sich Pascal verändert hat?« –– »Woran würdet ihr das erkennen?« –– »Gibt es noch Vorfälle, die geklärt werden müssen?« –– »Ist da noch alter Streit, der noch nicht bearbeitet werden konnte?« Während der Therapeut diese Fragen stellt, ruft der betroffene Schüler weiter die einzelnen Meldungen seiner Mitschüler ab. In einem weiteren Schritt wird dann der betroffene Schüler befragt: –– »War dir bekannt, dass sich einige deiner Mitschüler Sorgen gemacht haben?« –– »Was möchtest du deiner Klasse noch sagen, bevor du morgen wieder startest?« Aber auch Veränderungen und Entwicklungen in der Klasse selbst sind zu erfragen und zu würdigen. Sie unterstreichen zudem das Versäumte und entfachen einen lebendigeren Austausch. So könnte der moderierende Therapeut beispielsweise folgende Fragen stellen: –– »Was sind denn die wichtigsten Veränderungen in der Klasse, die sich in den fünf Monaten ereignet haben, in denen Pascal nicht hier war?« –– »Was hat sich in der Klassengemeinschaft verändert?« –– »Von welchen Veränderungen, Entwicklungen und Fortschritten in dieser Klasse sollte Pascal wissen, bevor er Montag hier wieder startet?« Die Antworten sind je nach Klassenstufe sehr unterschiedlich und oft auch für den anwesenden Klassenlehrer überraschend und informativ. So berichten Klassen beispielsweise auf diese Fragen: –– »Du solltest wissen, dass seit den Ferien die Mädchen jetzt mehr mit den Jungs machen, also wir finden uns jetzt nicht mehr so doof … Wir verstehen uns jetzt besser und beleidigen uns jetzt auch nicht mehr so.«

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In diesen Begegnungen gelingt es vielen Schülern, ihren Teil der Verantwortung für die Vergangenheit zu benennen. Der elfjährige Julius, der wegen einer Aufmerksamkeitsstörung tagesklinisch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt worden war und zuvor mit seinem unruhigem Verhalten Lehrer und Mitschüler in seiner Klasse herausgefordert hatte, sagte am Ende seines Antrittsbesuchs: »Ach ja, ich wollte noch sagen, dass es mir auch leid tut, dass ihr früher unter mir auch gelitten habt …« Die 17-jährige Clarissa, die nach längerer Abwesenheit und Klinikaufenthalt die Schule wechselte, wurde vor dem Wechsel noch zu einem Abschiedsbesuch begleitet. Sie hatte das Bild von sich, einen schlechten Stand in der Klasse zu haben, und fürchtete, die meisten könnten gegen sie sein. Auch befürchtete sie, dieses alte Bild könne sie in ihrer Berufsschule einholen. Dabei wird der Abschiedsbesuch nach sehr ähnlichem Ablauf gestaltet wie der beschriebene Antrittsbesuch. Die betroffenen Patienten gewinnen wir für dieses mutige Ritual, indem wir auch ihnen anbieten, sie zu unterstützen, ihren Ruf wiederherzustellen oder der alten Klasse ein »Update« von sich zu geben. So konnte sich Clarissa auf einen Abschiedsbesuch mit ihrer alten Klasse einlassen. Sie erzählte bei diesem Besuch von ihrer Therapie und ihrem blöden Gefühl in der Klasse vor der Therapie. Wie auch Julius fand Clarissa in dem moderierten Gespräch ausgleichende Worte. Sie sagte: »Wahrscheinlich fandet ihr das blöd und ungerecht, dass ihr hier zur Schule gehen musstet, und ihr habt geglaubt, ich muss das nicht, […] aber es ging mir echt schlecht.« Eine Mitschülerin, die ebenfalls Erfahrungen mit stationärer Therapie gesammelt hatte, berichtete daraufhin von ihrem eigenen Klinikaufenthalt und ihren Rückkehrerfahrungen und sagte, dass sie bedaure, dass Clarissa nicht zurückkomme, denn eigentlich sei ihr Platz doch in dieser Klasse. In diesem Fall hat nicht nur Clarissa ihrer Klasse ein neues Bild von sich zeigen können, sie hat auch ein neues Bild von ihrer Klasse bekommen.

Auf den ersten Blick erschließt sich möglicherweise nicht, was die beschriebenen Antritts- und Abschiedsbesuche mit Wiedergutmachung gemeinsam haben. Es ist zwar deutlich, dass hier mit Unterstützung vor allem Scham überwunden werden muss, doch der ausgleichsbedürftige Schaden ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, werden doch hier vor allem Verläufe von Patienten mit Schulvermeidung und Schulangst skizziert. Dabei lohnt es sich, hier besonders sensibel zu sein und neben den Belastungen der betroffenen Schüler auch ihre Verantwortung zu untersuchen. Ein Schüler, der aus therapeutischer Sicht möglicher-

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weise aus guten Gründen die Schule nicht mehr besucht, macht sich dennoch aus der Sicht seiner Klasse »schuldig«, weil er seine Schulpflicht nicht erfüllt. Schüler lernen, dass Fehltage aufgrund von Krankheit mit einer »Entschuldigung« der Eltern ausgeglichen werden müssen. Die Eltern bitten das Fehlen oder die Nichtteilnahme beispielsweise am Sportunterricht zu entschuldigen. Die Fehlzeiten von Schülern mit Schulangst oder Schulphobie sind jedoch um ein Vielfaches höher als die Fehltage, die üblicherweise mit einer Entschuldigung der Eltern beglichen werden. Ebenso kann in der Klasse die Idee bestehen, der oder die Abwesende meide die Schule, weil es mögliche Ausgrenzungen oder Mobbingsituationen gegeben habe, obschon die Vermeidung nicht im Zusammenhang mit der Klasse, sondern eher mit Trennungsangst steht. In diesen Fällen bleibt oft auch ein Schuldgefühl bei der Klassengemeinschaft und der Schule zurück, die glaubt, eine gewisse »Mitschuld« zu haben. Eine Aufklärung im Rahmen der beschriebenen Gespräche schafft dann oft eine spürbare Entlastung in der Klasse. So geht es bei der Reintegration von Schülern nicht nur darum, mögliche Ängste und familiäre Belastungen zu erklären und um Verständnis zu werben, sondern auch eine mögliche Ausgleichsbedürftigkeit anzuerkennen und mit den beschriebenen Ritualen einen ausgleichenden Beitrag dafür zu leisten. Dafür ernten die betroffenen Schüler nicht nur erkennbaren Respekt in ihren Klassen, sondern meist auch das deutliche Signal »Du gehörst wieder dazu«. Oft benennen auch andere Schüler ihren Anteil an möglichen Ungerechtigkeiten in der Vergangenheit. Die beschriebenen Gespräche mit den Klassen werden trotz der zu überwindenden Schamgrenze von den betroffenen Patienten als ausgesprochen hilfreich und entlastend beschrieben. In ihrer Rückschau auf einen meist langen therapeutischen Prozess und Leidensweg wird dieser »Wiedergutmachung« und der Rufwiederherstellung ein großer Wert zugemessen. In dem hier beschriebenen klinischen Kontext haben sich diese moderierten Gespräche bewährt.

Eltern als Unterstützer bei Wiedergutmachung Insbesondere bei Angeboten stationärer Erziehung und Therapie (Jugendhilfe, Klinik, Internat) sowie im Kontext von Schule bietet es sich an, Eltern zur Klärung und Wiedergutmachung einzubinden. Sie können nach einem Vorfall von Grenz- und Regelverletzungen ihr Kind in der Schulklasse, in der Wohngruppe oder auf der Therapiestation dabei unterstützen, seinen Ruf wiederherzustel-

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len. Auch hier ist es nötig, dass das Kind oder der Jugendliche einen Moment der Scham überwinden muss. In einer therapeutischen Wohngruppe geriet der 13-jährige Max mit einem 12-jährigen Mitbewohner in einen heftigen Streit. Der Streit eskalierte, Max rammte seinem Kontrahenten einen Buntstift in den Kopf und verletzte diesen so, dass ein ärztlicher Eingriff nötig wurde. Nach Rücksprache mit dem Jugendamt wurde Max für zwei Tage zu seinen Eltern beurlaubt, um sich eine Wiedergutmachung für den verletzten Jungen und die Gruppe zu überlegen. Die Familie reagierte zunächst überrascht und verärgert. Sie argumentierte, sie habe Max doch schließlich genau wegen seiner Wutanfälle in die therapeutische Wohngruppe vermittelt. Dennoch gelang es den Mitarbeitern der Wohngruppe, den Vater von der Notwendigkeit seiner Unterstützung zu überzeugen. Schließlich begleitete der Vater seinen Sohn in die Gruppenversammlung der Wohngruppenbewohner, an der üblicherweise keine Eltern teilnehmen. Max verschlug es die Sprache und er wirkte beschämt. Der Vater konnte jedoch einige Worte an die Gruppe richten. Er entschuldigte sich im Namen seines Sohnes und wirkte dabei sehr betroffen. Zudem sprach er in der Gruppe seinen Sohn an und sagte ihm: »Du bist uns wichtig und wir wollen, dass du einen guten Weg gehst …« Nach der Gruppensitzung wurde bei einem gemeinsamen Kaffeetrinken der Kuchen verteilt und gegessen, den Max mit Unterstützung seiner Eltern gebacken hatte. Die Mutter des zwölfjährigen Opfers erzählte später, dass ihr Sohn sehr beeindruckt und ergriffen war, als der Vater von Max die Wiedergutmachung in der Gruppe begleitet hatte.

In dem beschriebenen Beispiel wird deutlich, wie wichtig die Rolle der Eltern in dem Wiedergutmachungsprozess ist. Ihre Teilnahme unterstützt nicht nur den notwendigen Schritt über die Schamschwelle, sondern stärkt auch die Beziehung zwischen Eltern und Kind. Indem sich Eltern dafür gewinnen lassen, ihr Kind dabei zu unterstützen, seinen Ruf und sein Ehrgefühl wiederherzustellen, machen sie auch deutlich, wie wichtig ihnen ihr Kind ist. Das Kind bekommt die Botschaft: »Dein Ruf und dein Ehrgefühl sind uns wichtig, dafür kommen wir auch in deine Klasse oder Wohngruppe.« Das heißt, Eltern machen hier einen eleganten Spagat. Sie stellen sich zum einen an die Seite ihres Kindes und zum anderen auf die Seite der Regeln und Werte der betroffenen Einrichtung oder Schule. Durchgeführte Wiedergutmachungen wirken aber auch auf die gesamte Gruppe oder Klasse. Zum einen wird unterstrichen, dass ein Vorfall nicht eine Sache zwischen Täter und Opfer ist, sondern die ganze Gruppe betrifft. So

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ist auch der Ruf der Klasse oder Wohngruppe beschädigt, wenn es zu Gewalt kommt. Zum anderen entstehen Anteilnahme und Aufmerksamkeit für das Opfer oder für den Geschädigten. Es hat sich als sehr hilfreich erwiesen, dieses Vorgehen konzeptionell zu verankern und allen bekannt zu machen. Zukünftige Bewohner einer Wohngruppe können bereits im Aufnahmeprozedere zusammen mit ihren Eltern oder Angehörigen auf das beschriebene Vorgehen hingewiesen werden. Mögliche Krisen können so vorbesprochen und es kann in einer eskalationsfreien Zeit ein möglicher Ablauf vereinbart werden. Den Lesern, die mit dem Konzept der elterlichen und professionellen Präsenz (Omer u. von Schlippe, 2004) vertraut sind, ist der Satz »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist« ein geläufiges Motto. Dieses Prinzip kann durch ein Vorbesprechen möglicher Krisen und den Verweis auf Wiedergutmachung als Teil des Konzepts mustergültig angewendet werden.

Die Vorbereitung von Unterstützern Wer als Therapeut Wiedergutmachungen anregen will, muss nicht nur den vermeintlichen Täter für diese Unterstützung gewinnen, sondern auch das Umfeld und den oder die Geschädigten. Sind Ideen von Wiedergutmachung in einer Einrichtung schon etabliert, so können Betroffene auf ein Konzept und Erfahrungen zurückgreifen. Sind weitere Institutionen betroffen, in denen es zu Vorfällen und letztendlich zu einer Rufschädigung für den Täter gekommen ist, so müssen auch diese erst für eine Wiedergutmachung gewonnen werden. Das erfordert eine besondere Aufmerksamkeit auch für die Werte der betroffenen Einrichtung oder Schule. Es besteht das Risiko, dass es für die betroffene Einrichtung zu einer doppelten Kränkung kommt. Zum einen könnte das Gefühl vermittelt werden »Wir haben das nicht richtig gemacht« und zum anderen wird vielleicht das Konzept der betroffenen Einrichtung oder Schule implizit in Frage gestellt.

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Ein Netzwerk einbinden: Wiedergutmachungsmanagement Wenn »Profis« Kinder und Jugendliche unterstützen, die aktuell oder in ihrer Vergangenheit anderen Schaden zugefügt haben, dann geht der Interventionsradius meist über die eigene Einrichtung hinaus. Therapeuten in Beratungsstellen, Praxen oder Kliniken beschäftigen sich mit Vorfällen in der Schule, Schulsozialpädagogen, Lehrer und Beratungslehrer sind möglicherweise von Vorfällen ihres Schülers im Hort betroffen, und Mitarbeiter des Jugendamtes müssen nach einem eskalierenden Vorfall in einer Wohngruppe ein Kind aus einem stationären Angebot in das nächste vermitteln. Wenn es darum geht, eine Wiedergutmachung anzuregen und zu begleiten, dann ist eine gute Kooperation unumgänglich. In Fallkonferenzen, Hilfeplangesprächen und Supervisionen ist eine Sensibilisierung für Wiedergutmachung ebenso notwendig wie die Sicht auf die Bedingungen, Ziele und Werte der beteiligten Konfliktpartner. Michael Grabbe (2006, 2007) skizziert die Idee einer Bündnisrhetorik, in der Haltung und Sprache so gestaltet werden, dass die beteiligten Institutionen eine kon­ struktive Kooperationsbeziehung eingehen können. Zudem könnte ein verschriftlichter Wegweiser, der Schritte und Absicht des Wiedergutmachungsprozesses vorstellt, unterstützend sein. Wenn Ankerketten reißen: Zuständigkeitskonflikte Insbesondere Kinder und Jugendliche mit einem erheblichen Unterstützungsbedarf, die durch eskalierendes Verhalten die definierten Grenzen ihrer Einrichtung sprengen, werden zu Schiffbrüchigen und treiben hilflos zwischen den Hoheitsgewässern der Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Aus dem Blickwinkel der Kinder- und Jugendpsychiatrie können häufig Fälle skizziert werden, in denen Kinder und Jugendliche nach massiven Krisen in Einrichtungen der Jugendhilfe notfallmäßig (wieder) in der Klinik aufgenommen werden. Im Vorfeld dieser Krisen wird häufig eine Steigerungsdynamik der selbst- oder fremdgefährdenden Verhaltensweisen beschrieben. Die Aufnahme in die Klinik markiert dann meist den Höhepunkt dieser Krisen. In einigen Fällen kündigt die betreffende Einrichtung zu diesem Zeitpunkt die Jugendhilfemaßnahme und verwehrt ihren ehemaligen Schützlingen teilweise sogar die Möglichkeit einer Verabschiedung in der Einrichtung. Die 15-jährige Christin wurde nach längerer stationärer jugendpsychiatrischer Therapie in die therapeutische Wohngruppe einer Jugendhilfeeinrichtung ent-

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lassen. Der psychiatrische Therapieverlauf von Christin war von herausfordernden Krisen gekennzeichnet. In suizidalen Krisen entwich Christin und suchte die Nähe der Bahnschienen. Vielfältige Eskalationen erforderten immer wieder einen erhöhten Personalaufwand. Christin, deren Lern- und Leistungsvermögen in testpsychologischen Erhebungen im Bereich der Lernbehinderung verortet wurden, berichtete von sexuellen Übergriffen in ihrer Vorgeschichte und weiteren belastenden Erfahrungen. Neben einer posttraumatischen Belastungsstörung und depressiven Episoden wurde eine dissoziative Störung diagnostiziert. Nach längerer Suche findet sich eine Jugendhilfeeinrichtung, die Christin in einer ihrer therapeutischen Wohngruppen aufnimmt. Nach wenigen Monaten in der Wohngruppe wird Christin nach einer nächtlichen Eskalation in die Psychiatrie eingewiesen. Die Einrichtung teilt mit, dass sie Christin nach einer Stabilisierung nicht wieder aufnimmt.

Es kann nur vermutet werden, wie tief die Erschütterung in einer Einrichtung ist, nachdem in einer Krise Mitbewohner oder Mitarbeiter verletzt worden sind. Während der betroffene jugendliche »Täter« im Rahmen stationärer jugendpsychiatrischer Begleitung längst seine Steuerungsfähigkeit wiedergewonnen hat, ist die Krise der beteiligten Institutionen noch lange nicht beendet. Ist aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht nach der Krise die Jugendhilfe zuständig, drängt das Jugendamt auf eine weitere Behandlung in der Klinik. Im Rahmen dieser Verantwortungsklärung gerät die Verantwortung des betroffenen Jugendlichen meist aus dem Fokus. Insbesondere in diesen Fällen wäre es wünschenswert, dass Wiedergutmachung und Rufwiederherstellung mehr Aufmerksamkeit bekommen. Zum einen wird gerade diesen Jugendlichen eine wichtige entwicklungsunterstützende Erfahrung genommen, zum anderen haben auch die beteiligten Helfer und »Profis« nicht die Möglichkeit, ihr bisheriges Engagement zufriedenstellender abzuschließen und als wirksam zu verbuchen. Würde beispielsweise vereinbart, dass eine neue Hilfe nur beginnen kann, wenn ein Jugendlicher mit Unterstützung seinen Ruf wiederhergestellt und sich mit den Auswirkungen seines Verhaltens auseinandergesetzt hat, stärkte dieser Schritt möglicherweise alle Seiten. Würden die Ideen von Ausgleich, Wiedergutmachung und Reintegration mehr in den Vordergrund gerückt, wären damit nicht nur Chancen für den betroffenen Täter verbunden, sondern ebenfalls für die betroffene Einrichtung. So könnte beispielsweise in einem Hilfeplangespräch in der Jugendhilfe vereinbart werden, dass es erst zum Schadensausgleich und zur Wiedergutmachung im alten Umfeld (Schule oder Wohngruppe) kommen muss, bevor ein neues Angebot beginnt. Hierfür ist jedoch nicht nur Empathie für Täter und

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Opfer gefragt, sondern ebenfalls Klarheit und Sensibilität im Umgang mit den betroffenen Institutionen und Gruppen. Wenn in einer bestehenden Krise, in der es zu ausgleichsbedürftigen Schäden gekommen ist, Wiedergutmachung angeregt oder initiiert werden soll, dann sind meist andere Institutionen vertreten und betroffen, die für diese Idee erst noch gewonnen werden müssen. Gehören Wiedergutmachungsrituale (noch) nicht zum konzeptionellen Bestandteil der betroffenen Institution, kann es ratsam sein, die Regie in neutralere Hände zu legen. Bei einem Vorfall in einer Wohngruppe, in der ein Jugendlicher einen ausgleichsbedürftigen Schaden verursacht hat, der das Team und die Bewohner verletzt hat, könnte beispielsweise der Beratungsdienst die Regie für die Wiedergutmachung übernehmen. Ideen zur Anregung von Wiedergutmachung Folgende hilfreiche Fragen können eine erste Orientierung beim Thema Wiedergutmachung bieten: –– Welche eigenen Erfahrungen verfeinern meine oder unsere Sensibilität bezüglich des aktuellen Themas? –– Wo engen sie vielleicht den Blick auch ein? –– Wer ist hier eigentlich wodurch Täter und Opfer geworden? (Das ist beobachterabhängig und manchmal nicht leicht zu entscheiden.) –– Inwieweit ist Öffentlichkeit und Unterstützung hergestellt worden und was ist an dieser Stelle vielleicht noch zu tun? –– Ist für Schutz für Opfer und Täter gesorgt (z. B. auch vor unnötiger weiterer Beschämung)? –– Wie sind folgende Begriffe und deren kulturelle Konnotationen in den beteiligten Institutionen berücksichtigt und bewertet: Beschädigung, Scham, Würde, Ehre und Ehrgefühl, Schaden für die Gemeinschaft? –– Was würden andere Beteiligte als »in Ordnung« oder als Muster lernen können, wenn es keine Wiedergutmachung gäbe? –– Haben alle wichtigen Gruppen in verschiedenen Institutionen alle relevanten Informationen und sind die jeweiligen Familien gut einbezogen? –– Sind alle Beteiligten über die Ideen und Absichten der Wiedergutmachung informiert? –– Wie können konkrete Verantwortungsübernahme und Handlungen und deren Veröffentlichung möglicherweise auch ohne oder unter begrenzter Mitwirkung der Verantwortlichen erfolgen? –– Wie sind die jeweiligen Erwartungen der beteiligten Konfliktparteien hinsichtlich der Auswirkungen der durchgeführten Wiedergutmachung?

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–– Woran bemerkt der Täter, dass seine Schuld getilgt ist und dass er wieder Teil der Gemeinschaft sein darf? Um die Sensibilität für Wiedergutmachung und die Begleitung der Wiedergutmachung weiter zu schärfen und den Zugang hinsichtlich des Themas noch zu verfeinern, laden wir zu folgender Übung ein. Eine eigene Geschichte Auf die Bedeutung der eigenen Lebensgeschichte für die professionelle Tätigkeit angesprochen, sagte die amerikanische Familientherapeutin Virginia Satir einmal sinngemäß: Aus ihrer Erfahrung in der Beratung von Fachkräften sei zu bemerken, dass, wann immer jemand in der Beratung einer Familie nicht weiterkomme, es nicht so sei, dass die Person mit der Familie nicht weiterkomme. Sie sei vielmehr oft mit den Erfahrungen aus der eigenen Herkunftsfamilie oder Lebensgeschichte beschäftigt: »Was immer sie auf Lager haben, kommt aus diesen Erfahrungen.« Diesem Hinweis Beachtung schenkend möchten wir Sie und Ihre Geschichte auch in unserem Beitrag nicht aus den Augen verlieren und Sie einladen, eine kleine innere Reise zu unternehmen. Es kann sein, dass Sie dabei Mitgliedern Ihrer Familie innerlich begegnen, vielleicht aber auch Freundinnen und Freunden, Schulkameraden, Lehrern, Menschen, an die Sie vielleicht länger nicht gedacht haben. Die vorgeschlagene Übung hat sich auch in der Begleitung der Vorbereitung von Handlungen der Wiedergutmachung bewährt. Über den Selbstversuch hinaus ist sie vielleicht auch in Ihrer Praxis hier und da nützlich. Und wann immer Sie mögen, machen Sie dabei bitte auch Pausen. Das, was sich in Buchstaben vielleicht sehr schlicht liest, kann Sie durchaus sehr beanspruchen. Machen Sie die Übung vielleicht auch in dem Bewusstsein, dass es manchmal diese Art von Erfahrung und Auseinandersetzung ist, die wir Klientinnen in der beraterischen und therapeutischen Praxis immer wieder abverlangen. Wenn Sie mögen, nehmen Sie sich ein Blatt zum Buch hinzu, um einige Stichpunkte zu notieren, die Ihnen gleich in den Sinn kommen werden. Nehmen Sie sich dafür einen Moment Zeit. Und machen Sie an dieser Stelle dafür eine kurze Pause beim Lesen. Jetzt. Gehen Sie von Ihrem jetzigen Lebensalter einmal langsam in der Erinnerung zurück und notieren Sie alle Erlebnisse, die Ihnen einfallen, in denen Sie einem anderen Menschen oder einer Gruppe gegenüber so etwas wie Wiedergutmachung hätten leisten können. Situationen, in denen Sie Teil einer schmerzhaften Erfahrung von jemand anderem waren. In denen Sie jemanden beschädigt haben mit Worten oder Taten oder nicht gesagten Worten oder unterlassenen Taten. Schreiben

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Sie alles auf, was Ihnen einfällt, während Sie langsam im Lebensalter jünger und jünger werden – und schreiben Sie jeweils auch das Alter hinzu. Wenn Sie nun eine Liste oder eine Lebenslinie mit Stationen haben, sehen Sie sich diese an. Vielleicht sind einige Ereignisse abgebildet, viele oder wenige. Möglicherweise treten Sie Ihnen ganz deutlich vor Augen, vielleicht erscheinen sie Ihnen auch in einer gewissen Unschärfe. Und wenn Sie bisher auf noch kein solches Ereignis gestoßen sind, warten Sie einfach einen Moment, ob sich noch etwas einstellt. Wenn Sie sich an mehrere Ereignisse erinnern, bei denen Sie vielleicht Unterstützung bei Wiedergutmachung oder Reintegration hätten gebrauchen können, nehmen Sie sich nun einige Momente, um ein solches Erlebnis etwas mehr in den Fokus zu nehmen und noch bewusster in der Erinnerung wahrzunehmen. Es kann sein, dass Sie noch ein kleines Kind waren oder etwas älter. Und irgendetwas ist geschehen, womit Sie mehr oder weniger aus dem Rahmen gefallen sind und wodurch mehr oder weniger Schaden für andere entstanden ist – und für Sie selbst vermutlich ebenfalls. Vergegenwärtigen Sie sich: –– Wer war in dieser Situation zugegen? –– Wer war interessanterweise nicht da? –– Wo spielte sie sich ab? Lassen Sie die Szene noch etwas deutlicher werden: –– Was waren wohl Ihre Gefühle in der Situation? Was wollten Sie? –– Was ging dem Ereignis voraus? –– Wer hätte Sie stoppen, wer hätte vermitteln und intervenieren können? Und jetzt untersuchen Sie das Ende und die Folgen: –– Wie endete die Situation? –– Was geschah danach? –– Wie reagierten andere (Erwachsene und eventuell auch Kinder) darauf? –– Welche Konsequenzen hatte das Ereignis? –– Wie gestaltete sich fortan der Kontakt zwischen Ihnen und den anderen Beteiligten? –– Welche Rolle spielten Ihnen gegenüber im Anschluss Strafe, Macht und Bloßstellung oder Ähnliches? –– Was haben Sie aus dieser Situation vor allem gelernt? Und nun stellen Sie sich vor, Sie treffen sich selbst im Anschluss an dieses Ereignis mit all Ihrer heutigen oder vielleicht sogar zukünftigen Weisheit und Herz-

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lichkeit. Wenn Sie mögen, gestatten Sie, dass die heutige Version Ihrer selbst der früheren wirklich begegnen darf. Und hören Sie als die Person, die Sie heute sind, einfach zu. –– Was hätte der oder die Jüngere früher im Anschluss an dieses Ereignis gebrauchen können? –– Welche Art der Begegnung wäre hilfreich gewesen? Was wären Worte, Gesten, auch körperliche Begegnungen gewesen, die nichts verharmlost, aber auch nicht erniedrigt hätten, sondern in die Verantwortung hätten rufen können? –– Was hätten Erwachsene tun können, um Sie dabei zu unterstützen, im Kontakt zu bleiben mit allen Beteiligten und Ihren Ruf in der Gemeinschaft wiederherzustellen? –– Welche Handlungen hätten das den Geschädigten gegenüber ausdrücken können? –– Angenommen, es wäre notwendig, dass damit auch eine gewisse Scham einhergegangen wäre, was hätte Ihnen geholfen, diesen schwierigen Teil auszuhalten? –– Was hätten Sie und andere insgesamt lernen können? Möglicherweise lässt Sie diese Übung relativ rasch auf Ideen kommen, die für die Begleitung von Wiedergutmachungshandlungen Ihrer Klienten wichtig sein können. Sie hat sich auch bewährt als Angebot an Eltern oder beteiligte Fachkräfte, deren Einfühlungsvermögen für diejenigen, denen man geneigt sein könnte, Konsequenz im Sinne dominanzorientierten Handelns zukommen zu lassen, oft mit diesem Vorgehen steigt. An dieser Stelle lohnt sich vielleicht der Blick auf ein weiteres Konzept, das den Aspekt der Versöhnung als wesentlichen Teil in der Arbeit mit Gewalt in Familien und darüber hinaus beschreibt. Acht Schritte zur Korrektur von Ungerechtigkeit in Familien Cloé Madanes (1999) erprobt seit vielen Jahren im Rahmen sozialer Aktionstherapie Möglichkeiten, auf neue Art und Weise mit Gewalt und Ungerechtigkeit in Familien umzugehen. Sie hat ein Modell entwickelt, das ähnlich wie die Wiedergutmachung im Rahmen des Elterncoachings ein Vorgehen vorschlägt, das es erlaubt, mit allen Beteiligten zu arbeiten. Die acht nachfolgend beschriebenen Schritte sind ein Gerüst zur Orientierung, eine Anregung zu konkreter, praktischer Handlung. Je nach Situation können auch einzelne Schritte modifiziert, weggelassen oder andere ergänzt werden. Sie sind bei allen Arten von massiver Ungerechtigkeit, Verletzung und Gewalt anwendbar. Madanes (1999) unterscheidet dabei seelischen, körperlichen und spirituellen Schmerz (z. B. bezieht sie auch den Schaden, den eine Gemeinschaft

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durch körperliche oder verbale Gewalt und Ungerechtigkeit nimmt, mit ein), den sowohl Opfer als auch Täter erleben können.2 Wenn sie von Familien spricht, möchten wir einladen, probehalber auch die Begriffe »kooperierende Einrichtung« oder »Kollegin« einzusetzen, um zu sehen, inwiefern sich die Ideen auch für Einrichtungen nutzen lassen. –– Erster Schritt – Öffnung: Der erste Schritt besteht darin, die Familienungerechtigkeit aufzudecken. Jeder in der Familie muss verstehen, wie die Ungerechtigkeit oder Gewalt jedes Familienmitglied berührt hat. Eine direkte Methode wäre, die Familienmitglieder über ihre Beziehungen zu befragen, über Unfairness, über Frustration, Ärger, Empfindlichkeiten und Koalitionen. –– Zweiter Schritt – Veröffentlichung: Der zweite Schritt besteht darin, die Ungerechtigkeit öffentlich zu machen. Öffentlichkeit in der Familie heißt, wenn möglich alle Familienmitglieder zusammenzuholen und die Ungerechtigkeit oder Verletzung für alle öffentlich zu machen. Die Herstellung von Öffentlichkeit hebt das Geschehen aus dem Tabu-Bereich, macht es besprechbar und versetzt eine Gemeinschaft in die Lage zu fühlen und zu handeln. –– Dritter Schritt – Verstehen: Der dritte Schritt will sicherstellen, dass jede und jeder in der Familie versteht, warum gewisse Aktionen verletzen (bei Gewalt kann das offensichtlicher sein) und unfair waren; welchen körperlichen, emotionalen und spirituellen Schmerz sie beim Opfer verursacht haben. –– Vierter Schritt – Verantwortung: Der vierte Schritt ermittelt, wer verantwortlich ist. Hier muss sichergestellt werden, dass Täter Verantwortung für die Ungerechtigkeit übernehmen. Niemand darf glauben, dass das Opfer die Tat verursacht oder die schmerzliche Tat provoziert hat. –– Fünfter Schritt – Mitgefühl für Täter: Im fünften Schritt drückt die Beraterin ihre Sympathie und ihr Mitgefühl für die Seele des Täters oder der Täterin aus. Indem jemand einem anderen Schmerz oder Schaden zufügt, wird auch die Seele des Täters verletzt. Und auch das führt zu Leid und soll gewürdigt und benannt werden. –– Sechster Schritt – Bekenntnis zur Tat, Reue: Im sechsten Schritt werden Täter aufgefordert, Reue zu zeigen und sich zur Tat zu bekennen. Hier soll sich ein Täter für das entschuldigen, was er oder sie dem Opfer angetan hat. Und das muss er oder sie solange tun, bis alle in der Familie überzeugt davon sind, dass er oder sie ehrlich bereut. 2 Wenn hier Täter und Opfer benannt werden, soll damit grundsätzlich keine einseitig lineare Zuschreibung festgelegt werden. Bezogen auf einen konsensuellen Schaden wird hier dennoch eine bewusste Interpunktion im wechselseitigen Interaktions- und Transaktionsprozess vollzogen, um eine Verantwortungsübernahme für einen Teil der Dynamik und somit Wiedergutmachung zu ermöglichen.

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–– Siebter Schritt – Erweitertes Netzwerk: Jetzt wird das erweiterte Familiennetzwerk einbezogen, Verwandte, so viele wie möglich. An dieser Stelle kann auch eine Mitteilung im Freundeskreis, in der Klassengemeinschaft, im Sportverein oder gegenüber anderen Gruppen stehen. Die Familie oder andere relevante Gruppen müssen entscheiden, was die Konsequenzen sein sollen und was geschieht, wenn der Täter »rückfällig« werden sollte. Sollen gesetzliche Schritte eingeleitet werden, eine öffentliche Verurteilung stattfinden oder Formen der Wiedergutmachung gefunden werden? –– Achter Schritt – Wiedergutmachung: Im achten Schritt wird entschieden, welche Wiedergutmachung die Täterin oder der Täter für das Opfer übernehmen soll. Diese Handlung kann einmalig sein, sie kann aber auch Dinge beinhalten, die das ganze Leben lang andauern. Diese Schritte ermöglichen einen handlungsorientierten Umgang mit Verletzung, Ungerechtigkeit und Schuld. Sie helfen allen Beteiligten, ihr Gesicht zu wahren und im Kontakt zu bleiben, und bieten der Planung konkreter Schritte der Wiedergutmachung ein solides Fundament, auf dem die reintegrierende Scham ihren Platz hat.

Fazit: Und wenn das alles nicht geht? Was ist aber eigentlich, wenn nichts wiedergutzumachen ist? Wenn Wiedergutmachung wie ein Hohn klingt für Menschen oder Gruppen, weil einfach zu viel zerstört ist? Gibt es Grenzen des Vorgehens? Wir denken, es gibt vor allem die Notwendigkeit, einen sprachlichen Ausdruck zu finden, der Geschädigte würdigt und respektiert, und vielleicht ist manchmal auch eher schlicht von Verantwortungsübernahme als von Wiedergutmachung zu sprechen. Wichtig ist dabei, dass die Verantwortungsübernahme durch Handlung ausgedrückt wird, dass mindestens bedeutsame Symbole gefunden werden, und dass Kontakt in der Handlung entsteht. Vielleicht gelingt Wiedergutmachung oft nicht. Aber vielleicht können Bekennen, Eingestehen, Einstehen einen spürbaren Unterschied für alle Beteiligten machen. Versöhnung ist aus unserer Erfahrung in gewissem Maße viel häufiger möglich als wir das spontan oft annehmen. Oft stehen eigene Hemmungen und festgefahrene Glaubenssätze der beteiligten Erwachsenen im Weg. Dabei können wir durch Courage und professionelle Präsenz hier Entscheidendes für Kinder und Jugendliche und darüber

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hinaus tun. Uns steht die Erinnerung an einen 14-jährigen Jungen vor Augen, der eine Tür zerstört hatte. Die betreuende Einrichtung sah eine Strafe von fünf Euro vor. Tage nach dem Vorfall ging er an der sich immer noch in desolatem Zustand befindlichen Tür vorbei. Auf den Vorfall angesprochen sagte er: »Das ist ja unglaublich. Jetzt habe ich schon fünf Euro bezahlt und die Tür ist immer noch nicht repariert!«

Literatur Grabbe, M. (2006). Bündnisrhetorik im Spannungsfeld mit Kindern. In C. Tsirigotis, A. von Schlippe, J. Schweitzer-Rothers (Hrsg.), Coaching für Eltern. Mütter Väter und ihr »Job« (S. 252–267). Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Grabbe, M. (2007). Bündnisrhetorik und Resilienz im gewaltlosen Widerstand. In A. von Schlippe, M. Grabbe (Hrsg.), Werkstattbuch Elterncoaching. Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis (S. 25–43). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kersten, J. (2008). Die Währung heißt Respekt. Die tageszeitung (taz) vom 05. 01. 2008. Kersten, J. (2011). Was löst gewalttätiges Verhalten aus? Neue Einsichten zum Thema Scham, Wut und Maskulinität. In M. Bereswill, A. Neuber (Hrsg.), In der Krise? Männlichkeit im 21. Jahrhundert (S. 160–169). Münster: Westfälisches Dampfboot. Madanes, C. (1999). Unveröffentlichte Festansprache auf dem Family-Therapy-Networker-Symposium in Washington D. C., übersetzt von Dr. Margarete Hecker. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in der Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schweitzer, J., Ochs, M. (2003). Systemische Familientherapie bei schulverweigerndem Verhalten. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 52 (6), 440–455. Schweitzer, J., Schlippe, A. von, Spitczok von Brisinski, I., Hahn, K. (2006). Schulverweigerung und Mobbing – Wege und Umwege zur Schule. In J. Schweitzer, A. von Schlippe, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Das störungsspezifische Wissen (S. 300–314). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Stärkung der elterlichen Ankerfunktion und Bindung rund um die Geburt – Erfahrungen in der familienbezogenen Beratung im Übergang zur Elternschaft

Einführung Dieser Beitrag beschreibt anhand von zwei Fallvignetten exemplarisch familiäre Entwicklungen, denen wir in der Perinatalmedizin häufiger begegnen. Es wird die psychosoziale Betreuung vor und nach der Geburt dargestellt. In dieser Zeit können werdende oder junge Eltern durch die (drohende) Frühgeburt ihrer Kinder an ihre Grenzen kommen. Die mit der Frühgeburtlichkeit verbundenen Krisen können den Aufbau der Eltern-Kind-Bindung beeinträchtigen. Es soll sowohl die psychosoziale Situation um die Geburt skizziert werden als auch die damit verbundenen Themen der Paare, mit denen sie häufig konfrontiert sind. Daran anknüpfend wird die psychosoziale Betreuung vorstellt, die den Aufbau einer elterlichen Ankerfunktion und eine sichere Bindung zum Kind unterstützen möchte. Fallbeispiel 1 Die behandelnde Ärztin der gynäkologischen Station bat um einen Kontakt mit einer schwangeren Patientin mit Zwillingen in der 22. Schwangerschaftswoche, die mit vorzeitigen Wehen bereits seit zwei Wochen mit strengster Bettruhe nach einer Cerclage (Muttermundverschließung) stationär betreut wurde. Die ärztliche Kollegin berichtete, dass die Patientin große Ängste entwickelt habe. Auf das Angebot der Ärztin, eine Familientherapeutin einzubeziehen, hatte die Patientin zustimmend reagiert. Frau B.1 hat in den nachfolgenden Gesprächen ihre Angst um ihre Kinder und vor einer drohenden Frühgeburt thematisiert. Sie und ihr Partner hatten seit einigen Jahren einen unerfüllten Kinderwunsch gehegt. Nach einer Fruchtbar1

Fallbeispiele wurden anonymisiert und gegebenenfalls leicht verändert. Die Therapeutin der Familien war jeweils die Autorin. Sie ist als Psychologin und Familientherapeutin am Christlichen Kinderhospital tätig.

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keitsbehandlung war Frau B. direkt schwanger geworden. Die ersten Wochen der Schwangerschaft habe sie unbeschwert und in Vorfreude auf die Kinder zusammen mit ihrem Partner erlebt, auch wenn sie als Lehrerin in einer Kindertagesstätte wegen ihres fortgeschrittenen Gebäralters (36 Jahre) und ihrer Arbeit mit Kindern als »Risikoschwangere« eingestuft und von ihrer beruflichen Tätigkeit freigestellt worden war, was sie als Verlust wertete. Ausgelöst durch eine Infektion mit nachfolgend einsetzenden frühen Wehen, die eine Verkürzung des Muttermundes ausgelöst hatten, sei die Schwangerschaft in der 20. Woche jäh in Frage gestellt worden, was ihr bewusst gemacht habe, »dass es auch in eine ganz andere Richtung gehen könnte«. Die unerwartete Entwicklung wurde ihrerseits von starken Ängsten und Trauergefühlen begleitet. In der Genogrammarbeit wurde deutlich, dass Frau B.’s Mutter im sechsten Schwangerschaftsmonat Zwillinge verloren hatte, was sie darüber hinaus als bedrohliche Familienperspektive wahrgenommen hatte: Als damals Neunjährige hatte sie sowohl die Trauer der Mutter nach dem Abort als auch das Unvermögen der Eltern, mit ihr darüber zu sprechen, als »Schatten« und große Belastung erlebt, was in ihrem Erleben die Angst noch steigerte. Darüber hinaus äußerte sie Scham- und Schuldgefühle, »das Schicksal zu weit herausgefordert zu haben« und es nicht »geschafft« zu haben, die Schwangerschaft »normal« auszutragen. Auch Selbstzweifel würden sie beschäftigen, möglicherweise nicht vorsichtig genug bzw. in einer zu »sorglosen« Haltung die ersten Monate der Schwangerschaft erlebt zu haben. Frau B. hat ihre Gefühle offen geäußert und reflektiert und die Gespräche genutzt, um ihre Familiengeschichte wie auch ihre aktuelle Situation zu thematisieren. Sie beschrieb es als entlastend, ihre Gefühle und Gedanken mitzuteilen, die sie als belastend empfand, weil sie immer wieder in negative Gedankenspiralen geriet. Mit ihrem Partner hatte sie zwar über diese Themen sprechen können, wollte ihn aber nicht noch zusätzlich belasten, zumal sie seine angespannte Sorge um sie und die Kinder spürte, trotz seines Bemühens um eine ausgleichende Haltung. Neben den beschriebenen Gefühlen haben wir die Ressourcen von Frau B. thematisiert, die einen unbedingten Willen zeigte, die Bettruhe anzunehmen. Das kann für junge, mitten im Leben stehende Frauen, die plötzlich in ihren Aktivitäten komplett ausgebremst werden und damit verbundenen ihre Selbstwirksamkeit verlieren, meiner Erfahrung nach eine zusätzliche Herausforderung und Belastung sein. Es wurde daneben deutlich, dass sie und ihr Partner sich in dieser Krisenphase aufeinander verlassen konnten. Das hatte das Vertrauen in die Beziehung gestärkt.

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Darüber hinaus hat Frau B. die Beziehung zu ihren Eltern als wohltuend erlebt, die sie oft besuchten und ihr das Gefühl gaben, rückhaltlos »hinter mir zu stehen« und auch für Ablenkung sorgten: Ihre Mutter hatte, auch im zeitlichen Zusammenhang mit unseren Gesprächen, von ihren eigenen, belastenden Erfahrungen berichtet und ihr gleichwohl Zuversicht vermittelt. Es war für Mutter und Tochter offensichtlich tröstend, Unterschiede in der medizinischen Versorgung vor 27 Jahren mit der Gegenwart erkennen zu können: Heutzutage werden sogenannte »Risikoschwangere« in Perinatalzentren (größere gynäkologische Kliniken, die sich auf die Betreuung von »Risikoschwangerschaften« spezialisiert haben) betreut, wo sowohl die schwangeren Frauen als auch die ungeborenen Kinder auf eine breite, nach den neuesten Erkenntnissen ausgerichtete medizinische Versorgung und Erfahrung treffen. Darüber hinaus verfügen diese Zentren über Frühgeborenenintensivstationen, in denen schon sehr unreife Frühgeborene (ab der 24. Schwangerschaftswoche) eine Überlebenschance haben können.

Darstellung der Mutter-Kind-Situation vor der Geburt Die Schwangerschaft und die Geburt des ersten Kindes stellen junge Paare vor eine besondere Herausforderung, die als wichtigste Entwicklungsaufgabe im frühen Erwachsenenalter bezeichnet werden kann (Graf, 2002). Der Übergang zur Elternschaft wird von den Betroffenen als völlige Neuorientierung erlebt, die sich auf fast alle Lebensbereiche auswirkt. Sowohl in der Schwangerschaft als auch in den ersten Wochen nach der Geburt haben vor allem die Frauen enorme physische und psychologische Adaptationsleistungen zu vollbringen. Wenn eine Frühgeburt droht, wird nicht nur die körperliche Reifung des Kindes im Mutterleib verkürzt, sondern auch die psychische Vorbereitungsphase der Schwangeren. Denn die Zeit der Schwangerschaft ermöglicht der Frau, sich auf die Rolle als Mutter vorzubereiten und auf das Kind einzustellen bzw. eine Beziehung zu ihm zu entwickeln. Dieser pränatale Bindungsaufbau wird durch eine Frühgeburt frühzeitig unterbrochen und muss unter schwierigen Bedingungen auf der Frühgeborenenintensivstation nachgeholt werden (Schücking, Hellmers, Borrmann u. Gebker, 2008). In der Medizin wird von einer Frühgeburt bei einer Lebendgeburt vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche gesprochen, wobei die Rate 2001 in der BRD noch bei 7,1 % aller Lebendgeburten lag und 2006 bei 9,1 %. Die steigende

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Tendenz der Frühgeburten wird im Zusammenhang mit dem steigenden Alter der Erstgebärenden und der Zunahme der Mehrlingsschwangerschaften, die in Deutschland vor allem durch die vermehrten Fertilitätsbehandlungen bedingt sind, gesehen (Spätling u. Schneider, 2004). Dank der Fortschritte in der neonatalen Intensivmedizin haben sich die Überlebenschancen von sehr unreif geborenen Babys stark verbessert. Die Grenze zur Lebensfähigkeit liegt aktuell bei einem Gestationsalter zwischen 23 und 25 Schwangerschaftswochen und einem Geburtsgewicht von circa 500 Gramm. Mit der Überlebensrate ist auch gleichzeitig die Zahl der Kinder mit Langzeitbehinderungen angestiegen. Sehr unreif geborene Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm entwickeln zehn mal häufiger neurologische Störungen, Entwicklungsstörungen, Seh- und Hörschäden, chronische Lungenprobleme und Krampfanfälle als Kinder mit einem Geburtsgewicht von mehr als 2500 Gramm (Spätling u. Schneider, 2004). Das Erleben der werdenden Mutter kann dabei nicht isoliert gesehen werden, sondern geht mit der Gesundheit und den Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes einher, das heißt, die Schwangeren und jungen Mütter (wie auch die jungen Väter) sind in ihrem Erleben stark von dem Wohlergehen ihres Kindes abhängig. Frau B. befand sich zum Zeitpunkt unserer Gespräche in der sogenannten Konkretisierungsphase (Gloger-Tippelt, 1988), das heißt einer psychologischen Phase im Laufe der Schwangerschaft, die vom Registrieren der Kindsbewegungen sowie häufig von Gefühlen der Freude, Erwartung und Erfüllung begleitet wird. Die Bilder vom noch ungeborenen Kind konkretisieren sich in dieser Phase und das Kind wird aufgrund seiner Mobilität als eigenständiges Lebewesen für die schwangere Frau und mittelbar auch für den werdenden Vater wahrnehmbar und prägt die elterlichen Erwartungen bezüglich seines Temperaments, Willens und Charakters. Erste Zuschreibungen (»es scheint sehr temperamentvoll zu sein« oder »es ist eher ruhig und ausgeglichen«), die dabei helfen können, die Aufmerksamkeit auf das gemeinsame Kind und die damit verbundene Zukunft zu richten, tragen dazu bei, den Blick auf die zukünftige Triade einzunehmen und sich auf die Zukunft vorzubereiten. Gleichzeitig können die beschriebenen Gefühle bei einer drohenden Frühgeburt von der damit verbundenen Angst überschattet werden, sodass die pränatale Bindung, unterstützt zum Beispiel durch das Zwiegespräch mit dem Ungeborenen, die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Fetus und die affektive Fokussierung (z. B. im Form von liebevollen Gedanken), beeinträchtigt werden können. Neben der Angst beschreiben Frauen häufig ein (unbestimmtes) Gefühl von Schuld, wobei der Schwangerschaftsverlauf gedanklich häufig minutiös abgelau-

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fen wird und die Ursachen für die Situation des Kindes im eigenen Verhalten gesucht werden. Oft ist die quälende Frage nach der Ursache mit Schamgefühlen verbunden. Gerade der Zeitraum zwischen der 23. und 27. Schwangerschaftswoche ist von vielen emotionalen Ambivalenzen gekennzeichnet. Für viele Paare, deren Kinderwunsch im Rahmen einer Fertilisationsbehandlung erfüllt wurde, stellt sich bei drohender Frühgeburt die Frage, ob sie das Schicksal zu weit herausgefordert haben. Sie werden sich der Tragweite ihrer Entscheidung zu einem (behinderten?) Kind häufig bewusst und fühlen sich überfordert. Dieser Prozess wird bei werdenden Eltern häufig von Schamgefühlen begleitet und der Sorge, die Krise durch das eigene Handeln möglicherweise heraufbeschworen zu haben. Scham definiert Hilgers (2013) als ein Erleben von Diskrepanz zwischen einem (Selbst-)Ideal und dem erlebten Istzustand. Hilgers folgend ist Scham zunächst nicht als ein pathologisches Gefühl zu werten, sondern als ein wichtiger Regulationsmechanismus des Selbst in der Beziehung zu anderen Menschen. Schamgefühle können also dazu herausfordern, Selbstkonzepte wie auch Konzepte von anderen und der umgebenden Realität zu überprüfen, und können als Seismograf für die eigene Verortung in den Beziehungen zu anderen dienen. Erst ihre überwältigende Qualität – wenn Schamgefühle also übermächtig werden – kann zu destruktiven Entwicklungen führen, wie zum Beispiel bei depressiven Verstimmungen mit extremer Verletzlichkeit. Daher ist es hilfreich, wenn dieses Gefühl in den Beratungsgesprächen angesprochen werden kann. Dies kann auch depressiven Tendenzen entgegenwirken. Im Falle von Frau B. wurde deutlich, dass die Patientin, auch mit Unterstützung ihres Partners und ihrer Eltern, die negativ erlebten Gefühle im »Kampf um die Kinder« einsetzte, das heißt sich in konstruktiver Weise diesen Gefühlen stellte. Sie hat ihre Gefühle zugelassen, um sie im »Dreierschritt« (Schelp, 1988) von »Wahrnehmen, Erkennen und Akzeptieren« anzunehmen und als Chance im Durchstehen der Situation zu nutzen. Auch Scheff (1983) hat die Aufforderung, »Gefühle zuzulassen«, als Entlastung im Sinne von Erleichterung beschrieben, weil damit gleichzeitig auf der Beziehungsebene die Botschaft vermittelt wird, dass auch starke Gefühle von anderen Personen akzeptiert und begleitet werden. Dadurch wird das Bewusstsein gestärkt, nicht allein dazustehen. Gleichzeitig haben wir in den Gesprächen thematisiert, dass sich der Verlaufsprozess einer Schwangerschaft einer Kontrolle entzieht. Begleitet vom Credo: »Wir stehen das gemeinsam durch!«, »Wir werden alles tun, damit es unseren Kindern gut geht und sie möglichst lange im Mutterleib verbleiben können!«, »Alles andere liegt nicht in unserer Macht«, also im Sinne einer »demütig-aktiven Haltung« (Ollefs u. von Schlippe, 2007) konnte Frau B. den Fokus auf das Verhalten lenken, welches in ihren Möglichkeiten liegt.

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Das Fallbeispiel zeigt, wie einflussreich die soziale Unterstützung, vor allem die Paarbeziehung für die perinatale Krise ist. Darüber hinaus thematisieren manche Frauen in dieser Situation auch ihre religiöse Einbindung als eine wichtige Ressource dahingehend, die Verantwortung nicht allein tragen zu müssen. Einige Frauen beschreiben die Krise oder Krankheit ihres Kindes neben dem Leid, was es auslöst, auch als »Türöffner« zu mehr Nähe und Vertrauen in der Partnerschaft. Sie berichten zum Beispiel, dass sie ihren Partner als »über sich hinauswachsend« erleben oder sie nicht gedacht hätten, dass er so viel Geduld, Beharrlichkeit, Loyalität und Liebe zeigen würde bzw. »dass er erst jetzt richtig zum Ausdruck bringe, wie wertvoll ihm die Paarbeziehung ist«. Auch die Männer äußern in den Gesprächen häufig ihren Respekt bzw. ihre Bewunderung für ihre Frau und Partnerin darüber, die langen Wochen und Monate des Ausharrens mit Bettruhe zu ertragen. Viele Paare werten die Krise auch als eine Stärkung ihrer Paarbeziehung (häufig erst retrospektiv) und als wichtigen Schritt zur Vorbereitung auf die gemeinsame Zukunft, die Geburt und Übernahme der Elternrolle. Die Zwillinge von Frau B. mussten in der 26. Schwangerschaftswoche durch Kaiserschnitt entbunden werden, weil die mütterliche Infektion auf die Kinder überzugreifen drohte. Diese Entscheidung hatte bei Frau B. erneut Ängste um ihre Kinder ausgelöst, die jedoch gemildert wurden, weil ihre Kinder für diese noch frühe Schwangerschaftswoche schließlich mit einem relativ hohen Geburtsgewicht geboren wurden. Zwar mussten beide Kinder aufgrund ihrer Lungenunreife anfangs noch künstlich beatmet werden, konnten aber nach einigen Tagen auf eine weniger invasive Atemhilfe umgestellt werden. Diese anfänglich positive Entwicklung ihrer Kinder wurde von Frau B. mit Erleichterung aufgenommen, weil sie die Verantwortung für das Gedeihen ihrer Kinder an das Team der Intensivstation, zu dem sie großes Vertrauen hatte, delegieren konnte. Erst als eines ihrer Kinder im Vergleich zur Zwillingsschwester einen erhöhten Sauerstoffbedarf zeigte, wurde sie erneut von großen Ängsten ergriffen, die eine negative, selektive Wahrnehmung auslösten: Kleinste, wahrgenommene Verschlechterungen, die aus der Sicht des erfahrenen Teams als kleinere Schwankungen im Rahmen eines Genesungs- und Reifungsprozesses zu werten sind, hatten in ihrem Erleben eine übermächtige Angst ausgelöst. In Rücksprache mit dem Team, das die grundsätzlich positive Einschätzung vom Entwicklungsstand der Kinder und die Zuversicht teilte, haben wir in den Gesprächen ihren Ängsten Raum und Zeit gegeben und in Abstimmung mit ihren Affekten auch wieder die positiven Entwicklungsaspekte ihrer Kinder thematisiert. In diesem Zusammenhang wurde sie in ihrer liebevollen und sensiti-

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ven Haltung zu den Kindern unterstützt, die sie in der Versorgung authentisch zeigte und die eine Basis für den Bindungsprozess darstellt. Das offene Kommunikationsvermögen von Frau B. hat es dem Team erleichtert, auf ihre Sorgen einzugehen, sie in die Pflege und Betreuung ihrer Kinder zusammen mit ihrem Mann einzubeziehen und sie für die kleinen, positiven Entwicklungsschritte ihrer Kinder zu sensibilisieren.

Die beschriebene Angst erleben wir bei vielen Eltern als steten Begleiter. Wenn es gelingt, die Angst mit Unterstützung aus dem Team in die Betreuung einzubeziehen, entstehen häufig tragfähige Beziehungen: Wir erleben oft, dass die Eltern uns nach Monaten und vereinzelt auch noch nach Jahren mit ihren Kindern besuchen oder uns Fotos senden, um das Team am weiteren familiären Entwicklungsprozess und insbesondere dem der Kinder teilnehmen zu lassen. Frau B. konnte mit ihren Kindern schließlich nach zwölf Wochen aus der Klinik entlassen werden. Die Kinder hatten sich erstaunlich positiv entwickelt, was retrospektiv neben dem robusten Gesundheitszustand der Kinder auch den persönlichen Ressourcen der Eltern, ihrer Paarbeziehung und der Unterstützung aus den jeweiligen Herkunftsfamilien zu verdanken war. Frau B. war täglich für viele Stunden bei ihren Kindern gewesen, hatte ihnen vorgelesen, für sie gesungen, sie genährt und versorgt bzw. sie zusammen mit ihrem Partner einfach auf der Brust gewiegt. Wir hatten den Eindruck, dass der Bindungsprozess sich sicher entwickelte, trotz der besonderen Situation und den damit verbundenen Belastungen.

Die frühe Eltern-Kind-Beziehung wird bei Frühgeborenen als wesentliche Wirkvariable beschrieben, das heißt, sie stellt unter anderem den Rahmen für die Entwicklungsmöglichkeiten des frühgeborenen Kindes zur Verfügung. Die Interaktionsbereitschaft ist bei frühgeborenen Kindern noch wenig entwickelt: Je unreifer das Neugeborene ist, desto geringer ist seine Aufmerksamkeitsspanne oder seine Fähigkeit, Reize zu verarbeiten (Rose, Feldmann, Jankowski u. Van Rossem, 2005). Das trifft auf sehr unreife Frühgeborene besonders zu und es ist deutlich schwieriger für die Eltern, richtig auf ihr Kind zu reagieren. Auch der Zugang der Eltern zu ihrem intuitiven Elternprogramm kann durch eine erhöhte Stressbelastung erschwert sein, sodass sie Schwierigkeiten haben können, die Signale ihres Kindes passend zu deuten und entsprechend darauf zu reagieren. Das erfordert eine sensitive Unterstützung in der Betreuung junger Eltern im Kontakt mit ihrem Kind, zum Beispiel durch die Kinderkrankenschwestern auf

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der Intensivstation. Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass eine Frühgeburt bei den Eltern, insbesondere den Müttern, mit einem Anstieg an Depressionen oder Angsterkrankungen verbunden sein kann (Kersting et al., 2004). Das legt in dieser frühen vulnerablen Phase den Einbezug von psychosozialen Mitarbeitern nahe. Hinzu kommt bei den betroffenen Müttern von zu früh geborenen Kindern die Entbindungsform: Viele »Frühchen« werden per Kaiserschnitt entbunden. In Niedersachsen wurden beispielsweise im Jahr 2006 19,6 % der unreifen Babys per sectio geboren (vgl. Perinatalstatistik der Ärztekammer Niedersachsens). Viele Mütter von kleinen Babys sind aufgrund der Folgen des Kaiserschnitts belastet (z. B. durch die Narkose oder den Wund- und Narbenschmerz), sodass im Vergleich zu spontan gebärenden Frauen die körperliche Mobilität und die Präsenz gegenüber dem Kind einschränkt sind. Wenn gerade in den ersten Tagen der ersehnte Kontakt zum Kind belastet ist, kann dies die Schuldgefühle der Frauen zusätzlich verstärken und den Bindungsaufbau irritieren. Neben einer medizinischen Versorgung von Mutter und Kind kann der Einbezug von psychosozialen Mitarbeitern zur Krisenintervention sowie zur Unterstützung und Stärkung der Eltern-Kind-Bindung das Wohlbefinden junger Eltern erhöhen und ihre Wahrnehmung für die Bedürfnisse ihrer Kinder sensibilisieren. Gleichzeitig fördert dieser Prozess auch die Übernahme der Elternrolle.

Die elterliche Ankerfunktion Für die Kinder ist der Aufbau einer sicheren, nährenden Bindung zu den Eltern die Grundlage für die eigene körperliche, psychische und soziale Entwicklung sowie den Ausbau des Selbstwertgefühls und der Kommunikationsfähigkeit. Im Säuglingsalter ist ein komplementäres Kommunikationsmuster in der ElternKind-Interaktion lebensnotwendig für die Bindungsentwicklung: Der Säugling, mit der Motivation und der Fähigkeit zum Lernen ausgestattet, und die Eltern, mit Motivationen und Fähigkeiten zur komplementären Unterstützung des Lernens versehen, auch »intuitives Elternprogramm« genannt, bedingen sich gegenseitig in der Bindung (Papoušek, Schieche u. Wurmser, 2004). Dieses Muster ermöglicht es dem Kind, im Dialog mit der Mutter bzw. den Eltern kontinuierlich sein Kommunikationsrepertoire zu erweitern, durch Mimik, Gestik, Laute, Satzmelodie, prompte Reaktionen und später durch Sprache. Dabei beeinflussen sich das kindliche Bindungsbedürfnis und das elterliche Pflegebedürfnis wechselseitig und sind wie »Schlüssel und Schloss« (Brisch, 2010) aufeinander

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abgestimmt. Damit Eltern diesen stabilen Rahmen für die Beziehung herstellen können, ist neben der Verinnerlichung eines positiven Arbeitsmodells (Suess, 2003) von Bindung bzw. der Auseinandersetzung mit den eigenen Bindungserfahrungen auch eine elterliche Verankerung notwendig. Omer und von Schlippe (2011, S. 15 ff.) beschreiben die elterliche Verankerung wie folgt: »Um für die Kinder eine sichere Basis zur Verfügung stellen zu können, benötigen sie eine sichere Verwurzelung in ihrer Elternrolle, die damit verbundene Identität und damit verbundene Selbstverpflichtung, für ihr Kind präsent zu sein.« Anders ausgedrückt, helfen ihnen ihre eigenen liebevollen und zärtlichen Gefühle zu ihrem Kind, in diese Elternrolle mit einem empfundenen Selbstverständnis hineinzuwachsen. Wie können nun Eltern nach der Geburt in dieser innigen Gefühlsentwicklung unterstützt werden? Das Team der Frühgeborenenintensivstation unterstützt diese elterliche Verankerung, indem es die Eltern schon vom ersten Tag an in die Versorgung auch kleinster Frühgeborener einbezieht, sie darin anleitet und ihnen zur Seite steht: So ist das sogenannte »Känguruhen« mittlerweile zum festen Bestandteil der Frühgeborenenpflege selbst kleinster Säuglinge geworden. Auch wenn die Kinder in einem Inkubator (Brutkasten) liegen und von der Beatmungsmaschine abhängig sind, werden sie, sobald es ihr Zustand zulässt, auf die nackte mütterliche/väterliche Brust gelegt und nehmen den Körperkontakt, die Wärme und den elterlichen Geruch auf. Auch holen sie auf diese Weise intrauterine Erfahrungen nach. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass dabei nicht etwa die Gefahr der Auskühlung oder unzureichenden Sauerstoffversorgung besteht (natürlich werden Eltern und Kind dabei zugedeckt), sondern im Gegenteil die Körpertemperatur und der Sauerstoffgehalt stabiler werden (Jorch, 2006). Nicht nur die Kinder profitieren in ihrer Entwicklung von diesem Eltern-Kind-Körperkontakt. Das Känguruhen ist auch für die Eltern eine wichtige Erfahrung, um in die Elternrolle zu finden und eine Bindung zu ihrem Kind aufzubauen. Für die Eltern ist es oft beglückend, einen positiven Einfluss auf die Entwicklung ihres Kindes nehmen zu können und zu erfahren, dass ihr Kind ruhiger wird, es besser atmen kann und ihm der Kontakt offensichtlich gut tut. Sie lesen ihren Kindern häufig vor, singen oder sprechen mit ihnen, damit die Säuglinge die mütterliche bzw. väterliche Stimme wahrnehmen und erkennen. Junge Eltern, die eine hohe Fürsorgebereitschaft mitbringen, erleben im Zusammensein mit ihren Kindern eine hohe Selbstwirksamkeit und möchten wissen, was ihrem Kind gut tut und wie sie Einfluss auf seine positive Entwicklung nehmen können. Sie verbringen häufig täglich viele Stunden zusammen mit ihrem Kind. Das hilft ihnen, in die Elternrolle zu finden und sich darin zu verankern.

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Das heißt, die jungen Eltern sind in dieser Zeit vor allem mit ihrem Kind beschäftigt und rücken von der Dyade in die Triade – eine Herausforderung, weil die Paarbeziehung dadurch eine Veränderung erfährt. Omer und Lebowitz (2012, S. 27 ff.) beschreiben als weiteren Stützpfeiler für die elterliche Verankerung »die Schaffung einer Lebensstruktur für die Familie (Familienregeln, Grenzen, Gewährleistung eines sicheren Rahmens für die Eltern, sowohl für sie individuell als auch für die Paarbeziehung)«. Die psychosozialen Gespräche mit den Eltern bieten einen Rahmen, um sich über die Kommunikation auf der Paarebene, Wünsche und Erwartungen aneinander als Ausgangspunkt für eine gemeinsame Paar- und Elternbasis bewusst zu werden. Gerade in Krisenzeiten, wenn es dem Kind schlecht geht, reagieren Eltern oft sehr unterschiedlich: Beispielsweise reagieren die Frauen häufig mit einer übermächtigen oder panischen Angst, das Kind zu verlieren, und mögen sich nicht mehr von ihrem Kind trennen, was ihre Kräfte häufig überfordert. Die Männer reagieren manchmal eher rationalisierend oder/und versuchen sich durch ein erhöhtes berufliches Engagement abzulenken. Gerade das stößt auf Unverständnis ihrer Partnerin und kann Partnerschaftskonflikte forcieren. Gespräche können dazu beitragen, die Unterschiedlichkeit der Reaktionen zu »entdramatisieren«. Wir versuchen den Eltern zu vermitteln, dass es ganz »normal« ist, in Krisenzeiten unterschiedliche Lösungswege zu suchen, die häufig mit den Erfahrungen in der eigenen Herkunftsfamilie assoziiert sind und die sich angesichts der angespannten Situation gegenseitig verstärken können. Viele Eltern erleben es als entlastend zu hören, dass unterschiedliche Lösungsversuche auch bei anderen Paaren eher die Regel sind. Gute Erfahrungen haben wir machen können, wenn die Eltern in den Gesprächen über ihre eigentlichen Gefühle und Befürchtungen zu sprechen beginnen, und das Verständnis füreinander gestärkt wurde. Auf diese Weise ist es möglich, wieder stärker zusammenzurücken, Kompromisse zu schließen und wieder die Gemeinsamkeiten zu fokussieren. Darüber hinaus betonen Omer und Lebowitz für die Entwicklung der elterlichen Ankerfunktion die Verbindung zu einem sozialen Netzwerk zur Unterstützung und Reflexion eigener Sichtweisen. Während der Einbindung auf der Intensivstation und wenn dem Kind körperliche Einschränkungen drohen, kommt der nährenden Kraft aus dem erweiterten Familiensystem (Großeltern und Geschwistern) eine besondere Bedeutung zu, da »niemand allein krank ist« (von Schlippe u. Theiling, 2005). Diese Erfahrung zeigt sich insbesondere im Bereich der Kinderheilkunde: Wenn ein Säugling, Kind oder Jugendlicher von einer Krankheit betroffen ist, wird die Symptomatik unserer Erfahrung nach von den einzelnen Familienmitgliedern gedanklich, emotional und in der

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Kommunikation begleitet. Krankheit kann zu einem signifikanten Bestandteil familiärer Interaktion werden, um die sich ein Muster von Kommunikationen und Narrationen rankt. Die Familie stellt bei Krankheit immer auch einen Rahmen zur Verfügung, wie mit der Belastung umgegangen wird, welche Kommunikationen darüber entstehen, welche Gefühle geäußert werden (dürfen), wie mit den Gefühlen umgegangen wird und welche Schritte zur Veränderung bzw. Verbesserung möglich sind – wobei die Familie unserer Erfahrung nach nicht schuld an einer Krankheit ist, aber den Rahmen zur Verfügung stellt, wie mit Krankheit umgegangen wird (Simon, 1995). Die Familie stellt aus systemischer Perspektive einen Ort dar, in dem Menschen ihr Leben miteinander vollziehen und eine fein aufeinander abgestimmte Kommunikation entwickeln, die von wechselseitigen Erwartungsstrukturen geprägt ist, die eng aufeinander bezogen sind und sich im Sinne »geeichter Kommunikationen« mit hoher Geschwindigkeit entwickeln können. Daher versuche ich in den Gesprächen, die jungen Eltern für die positiven Beziehungsgesten aus den Herkunftsfamilien zu sensibilisieren und sie unter anderem darin zu unterstützen, Hilfsangebote (z. B. Betreuung von Geschwisterkindern oder Übernahme von Haushaltsarbeiten zur Entlastung) anzunehmen. Schließlich wird bei der Betonung der elterlichen Ankerfunktion auch die Selbstkontrolle angesprochen, das heißt die Fähigkeit, sich von impulsiven und destruktiven Reaktionen abzuhalten und elterliche Ziele geduldig und beharrlich zu verfolgen, zum Beispiel es auszuhalten, weiterhin in präsenter Weise den kindlichen Entwicklungsverlauf über viele Wochen und Monate zu begleiten. Diese Haltung setzt Kraft und Beharrlichkeit voraus, um sich auch über viele Wochen und Monate beispielsweise mit stagnierenden oder sich verschlechternden Entwicklungsverläufen auseinandersetzen zu können. Eltern nehmen in solchen Situationen kleine Beziehungsgesten dankbar auf, beispielsweise wenn jemand gemeinsam mit ihnen am Bett ihres Kindes sitzt, sie nach ihrem aktuellen Befinden fragt und freundliche Gesten anbietet. Sie erleben die Aufmerksamkeit für ihre Situation und die damit verbundene wertschätzende Rückmeldung aus dem Team bezüglich ihrer Geduld und Präsenz häufig als motivierend und Kräfte stärkend. Eltern erleben es unserer Erfahrung nach als entlastend, wenn ihre Bemühungen um das Kind von anderen Unterstützungspersonen, seien es die Familie, Freunde, Nachbarn oder auch professionelle »Partnern« wie das Team auf der Intensivstation, geteilt werden. Einen wesentlichen Einfluss auf das Gelingen von Elternschaft hat jedoch die Zufriedenheit in der Paarbeziehung (→ vgl. auch den Beitrag von Uri Weinblatt in diesem Band). Die Forschung zeigt markante

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Zusammenhänge zwischen Elternkonflikten, der Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen und kindlichen Verhaltensauffälligkeiten (Schneewind, 2010). Im Folgenden soll nun ein Prozess skizziert werden, bei dem sich die Paarkonflikte und das elterliche Wohlbefinden wechselseitig massiv beeinträchtigten. Fallbeispiel 2 Frau T. hatte in der 32. Schwangerschaftswoche Zwillinge geboren, die wegen ihrer körperlichen Unreife auf der Intensivstation betreut wurden und von beiden Eltern täglich über acht Wochen mit viel zeitlicher und emotionaler Präsenz versorgt wurden. Unmittelbar nach der Geburt hatte ich mich bei Frau T. vorgestellt und bei diesem Erstkontakt meine weitere Gesprächsbereitschaft angeboten. Drei Wochen später bat sie um ein Gespräch: Auslöser für ihre Initiative waren die Trinkprobleme und die Gewichtsabnahme ihrer jüngeren Zwillingstochter, die über eine Magensonde ernährt werden musste. Sie war deswegen sehr niedergeschlagen und machte sich große Sorgen. Im Gespräch stand zunächst sowohl die große Angst um ihre Tochter im Vordergrund als auch ihre mit den Sorgen verbundene Schlaflosigkeit und allgemeine Erschöpfung angesichts der Situation. Auf weitere Nachfragen hat sie ihre große Belastung vor dem Hintergrund ihrer angespannten Paarbeziehung angesprochen, die ihr »die Energie rauben würde«. Sie beschrieb die fünf Jahre andauernde Paarbeziehung bis zum Eintritt der Schwangerschaft als glücklich, eng und geradezu symbiotisch: Sie und ihr Mann hätten viel Zeit miteinander verbracht, wären viel gereist, hätten jeweils erfolgreich ihr Studium abgeschlossen und in ihren Berufen zufrieden gearbeitet. Auch ihr Mann, der zu den nachfolgenden Gesprächen eingeladen wurde, bestätigte die Beschreibungen seiner Frau. Er beklagte in diesen Kontakten sowohl die mangelnde Zuwendung seiner Frau ihm gegenüber und ihre Fokussierung auf die Kinder als auch die völlige Neuausrichtung ihres Lebens mit der Geburt ihrer Kinder, die er so nicht erwartet hatte. Beide schienen zutiefst unglücklich angesichts der ungeahnten Familiendynamik zu sein, wobei Frau T. ihre große Angst äußerte, von ihrem Mann verlassen zu werden. Dadurch werde ihre Traurigkeit noch verstärkt. Das Paar thematisierte in den Gesprächen seine Belastung und die damit verbundene Verzweiflung und Traurigkeit. Gleichzeitig wurde für mich in den Gesprächen spürbar, wie das Paar nach der anfänglichen Schwere auflebte, sich körperlich wieder zuwandte sowie liebevollen und innigen Blickkontakt zeigte. Es war darüber hinaus wahrnehmbar, dass beide eine große Sehnsucht nach Nähe zueinander mitbrachten: Frau T. bestätigte, sich ihren beiden Kinder stark verbunden zu fühlen und sich gleichzeitig mehr Zärtlichkeiten von ihrem

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Mann im Alltag bzw. mehr Beziehungsgesten zu wünschen. Ihr Mann äußerte sein Bedürfnis nach unbeschwerter Zweisamkeit mit seiner Frau, die ihn kaum mehr »als Mann« wahrnehmen würde. In unseren Gesprächen haben wir die Vorstellungen von der gemeinsamen, zukünftigen Paarbeziehung angesichts der Geburt der Kinder in den Mittelpunkt gerückt wie auch die unterschiedlichen Wünsche und Erwartungen aneinander und die Möglichkeiten erörtert, den stressigen Familienalltag mit Zwillingen besser koordinieren zu können. Mittels der Gespräche hat sich das Paar kleine »Auszeiten« genommen und Absprachen getroffen, um beispielsweise gemeinsam essen zu gehen und die »guten Momente des Miteinanders« wieder stärker zu pflegen. Inzwischen hatten sich die Kinder gut entwickelt, sodass die Entlassung nach Hause anstand, was vor allem bei Frau T. große Ängste davor auslöste, der »Rundum-die-Uhr-Präsenz« mit entsprechenden Schlafdefiziten nicht gewachsen zu sein. Wie konnten wir der Familie T. für die Zeit nach der Entlassung einen stabilisierenden Rahmen zur Verfügung zu stellen, zumal ihre jeweiligen Herkunftsfamilien, zu denen sie in nährenden Beziehungen standen, weiter entfernt wohnten? Mit dem interdisziplinären Team haben wir Möglichkeiten erörtert und der Familie schließlich im Rahmen der sozialmedizinischen Nachsorge (§ 43 SGB) 20 Kontakte mit einer erfahrenen Kinderkrankenschwester angeboten, die in der Betreuung von Frühgeborenen versiert ist und von der Krankenkasse finanziert wird. Da Frau T. die Kinderkrankenschwester schon während des Krankenhausaufenthaltes kennen gelernt und zu ihr Vertrauen hatte, konnte sie sich auf diese Hilfe bei der Pflege der Kinder einlassen. Zudem habe ich mit Frau und Herrn T. innerhalb dieser Nachsorge familienbezogene Gespräche geführt, die von Ressourcenaktivierung, Ermutigung und dem Einbezug von Bezugspersonen gekennzeichnet waren. In dieser Zeit hat sich das Paar darauf einigen können, sich persönliche Freiräume und kleine Auszeiten zu gönnen: Herr T. hat wieder seine Aktivitäten im Sportverein aufgenommen und sich mit Freunden getroffen, während Frau T. sich einer Gruppe von Frauen mit Zwillingen angeschlossen hat und einem Chor beigetreten ist. Auch hat das Paar stärker die Eltern bzw. Schwiegermutter und Geschwister, die weiter entfernt lebten, aber dem Paar unterstützend zur Seite standen, wochenweise eingeladen. Dadurch konnte das Paar wieder mehr Zeit miteinander verbringen, sich mit Freunden treffen und die Paarbeziehung wieder stärker pflegen. Die Herkunftsfamilien haben sich für das Paar als wichtige und nährende Ressource in den ersten Wochen und Monaten erwiesen, die nicht nur praktische Unterstützung angeboten, sondern auch die jungen Eltern liebevoll begleitet haben.

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Auf diese Weise konnte das Paar langsam in seine neue Familiensituation und in die damit verbundene neue Elternrolle finden. Das Paar T. hat die Gespräche außerdem dazu genutzt, um darüber in Austausch zu kommen, dass die Paarbeziehung trotz der Geburt der Zwillinge und auch zum Wohl der Kinder weiter einen (veränderten) Platz findet. Dies stellt aller Erfahrung nach eine wichtige Ressource dar, da Kinder wie erwähnt auf eine liebevolle Paarbeziehung ihrer Eltern angewiesen sind.

Dass junge Eltern nach der Geburt ihres Kindes auch Schwierigkeiten haben können, in ihre neue Rolle zu finden bzw. eine Balance zwischen der Paarbeziehung und der Beziehung zum Neugeborenen zu finden, ist nicht ungewöhnlich: Zwar sind sich Liebespaare oft einig, dass sie ihrer Liebe Ausdruck verleihen möchten, indem sie sich ein Kind wünschen (Inkarnation der Liebe). Dennoch bedeutet dies noch nicht selbstverständlich, dass sie dabei auch an die Elternrolle denken, die damit verbunden ist (Grabbe, 2008). Oft sind die Paare auf den Zuwachs nicht vorbereitet und haben sich weniger darüber ausgetauscht. Gleichzeitig sind sie häufig überwältigt von der unbedingten Forderung nach Fürsorge ihrer neugeborenen Kinder, die ihre Präsenz rund um die Uhr einfordern, was bei jungen Eltern mit Erschöpfung, Schlafmangel, Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit und erhöhter Ängstlichkeit einhergehen kann. Wir erleben häufiger, dass Eltern durch persönliche Krisen, wie beispielsweise Paarkonflikte, in ihrem intuitiven Zugang zu den Kindern beeinträchtigt sein können. Gleichzeitig erleben wir bei vielen jungen Eltern eine große Bedürftigkeit und Bereitschaft, sich auf psychosoziale Themen, bezogen auf die Geburt, einzulassen und ihre Situation und die damit verbundenen Gefühle offen zu kommunizieren. Diese Ressource nutzen wir mit unseren Gesprächen, da die Erfahrungen zeigen, dass Eltern in aller Regel gerade am Lebensbeginn gute Vorsätze und Wünsche für die Entwicklung ihres Kindes mitbringen, die als Türöffner für eine gute Kommunikation genutzt werden können und abschließend Erwähnung finden sollen. In Anlehnung an Steiner und Kim Berg (2005) wird insbesondere in der Betreuung junger Eltern deutlich, dass folgende Grundannahmen gelten, die für Therapeuten eine sichere Ausgangsbasis für die Aktivierung von Ressourcen sein können: –– Eltern möchten ihr Kind lieben und eine gute Beziehung zu ihm haben. –– Sie möchten stolz auf ihr Kind sein. –– Sie möchten einen guten Einfluss auf ihr Kind nehmen. –– Sie möchten positive Dinge über ihr Kind hören. –– Sie möchten ihrem Kind gute Erfolgschancen ermöglichen und sehen, dass die Zukunft ihres Kindes gleich gut oder besser wird, als ihre es war.

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Diese positiven Grundannahmen helfen, das Gespräch auf die zentralen Wünsche und Werte zu lenken und darüber in Austausch zu kommen, wie sie erreicht werden können. Beispielsweise können sie im Gespräch mit Eltern, die über wenig Unterstützung aus der Herkunftsfamilie verfügen, zum Verständnis der elterlichen Anliegen beitragen, um so möglichst frühzeitig Unterstützung und professionelle Hilfe, wie die sozialmedizinische Nachsorge, anbieten zu können. Auf diese Weise kann Eltern mit ihren Kindern der Start in das neue Familienleben erleichtert und die kindliche Entwicklung positiv unterstützt und gefördert werden.

Abschlussbemerkung Die Situation von Paaren rund um die Frühgeburt ist häufig herausfordernd. Ein systemisch-familienbezogener Zugang kann in dieser hoch sensiblen Übergangshase dazu beitragen, die Paare in ihrer elterlichen Ankerfunktion, in ihrer Bindung zum Kind und zueinander zu unterstützen. Dabei setzen die Gespräche bei den Stärken der Eltern an und fokussieren auf die Kommunikationen und Aktivierung von Unterstützersystemen. Die damit verbundenen Erfahrungen von Hilfe stärken Eltern häufig in ihrer Kraft und Zuversicht, mit den Herausforderungen ihrer Kinder mitzuwachsen und sich in ihrer Beziehung zueinander stärker zu fühlen.

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Teil 5: Aus der Praxis

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Liane Stephan und Ruth Tillner

Professionelle Präsenz und neue Autorität: Ein Führungsansatz

Vorbemerkungen Unsere heutige Arbeitswelt hat ihre Drehgeschwindigkeit erhöht, unterliegt einem großen Wettbewerbsdruck. Sie ist von der Kürzung der Ressourcen stark betroffen und der Mensch wird von einer Flut kurzzeitiger Informationsinputs, wie E-Mail-Benachrichtigungen, SMS, Telefon etc., stark in Anspruch genommen. Führungskräfte, als Schlüsselpersonen in den Organisationen, haben eine besondere und herausfordernde Aufgabe, den Mitarbeitern unter diesen Bedingungen eine authentische und präsente Führungskraft zu sein, die klar und fokussiert das Wesentliche aus dem »Chaos« herausfiltert und somit in der Lage ist, die Komplexität zu reduzieren. Gleichzeitig haben wir es in der heutigen Berufswelt überwiegend mit emanzipierten Mitarbeitern zu tun. Sie möchten eigenständig arbeiten, sie wollen sich entwickeln und in ihrer Arbeit einen Sinn erkennen. Die Kontextbedingungen für diese Bedürfnisse scheinen jedoch wenig gegeben. Der Gesundheitsstand war noch nie so niedrig wie derzeit (vgl. www.bmg.bund.de, Krankenstatistik 1970–2012). Vor allem Symptomatiken wie Burn-out und Depressionen, aber auch psychische Störungen allgemein nehmen rapide zu. Die Fehlerquote durch Konzentrationsmangel und Erschöpfung ist ein ernst zu nehmendes Thema geworden. Diese Rahmenbedingungen stellen insbesondere in Krisenzeiten, die häufig Ressourcenkürzungen nach sich ziehen, eine große Herausforderung dar. Als Führungskraft einen Rahmen zu bieten, der sowohl die individuelle Autonomie des Mitarbeiters wahrt als auch die Anbindung an die Organisation stärkt, ist ein Balanceakt. Als eine zentrale Voraussetzung, um hier überhaupt balancieren zu können, kann die Stabilität der Führungskraft gesehen werden. Um Führungskräfte in ihrer Position wieder zu stärken und einen Rahmen zu schaffen, der den Mitarbeitern Orientierung gibt, bieten das Konzept der professionellen Präsenz und die Mittel der neuen Autorität interessante und hilfreiche Ansatzpunkte.

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Ursprünglich für Eltern entwickelt, deren Kinder Verhaltensweisen zeigten, die als stark dominanzorientiert erlebt wurden, hat Haim Omers Konzept in den Bereichen der Jugendhilfe, der Schule und im Gemeindewesen Einzug gehalten. Unsere Erfahrungen und ersten Gehversuche, das Konzept auch auf das Thema »Führung« sowohl in Non-Profit-Organisationen als auch in Wirtschaftsunternehmen anzuwenden, ist auf positive Resonanz gestoßen. Wir werden im Folgenden diese Erfahrungen und die Rückschlüsse, die wir daraus gezogen haben, ausführen. Dabei werden wir uns primär auf die Erfahrungen in den Einrichtungen der Jugendhilfe beziehen, in denen wir mit den Führungsebenen explizit zu diesem Thema gearbeitet haben. In den Einrichtungen, in denen wir in die Ideen Haim Omers eingeführt haben, war schnell deutlich, dass es nicht ausreicht, wenn die Pädagogen, die mit den Kindern arbeiten, ihre Haltung und ihre Verhaltensweisen verändern, sondern dass sich die gesamte Organisation im Sinne der professionellen Präsenz auf allen Hierarchieebenen entwickeln könnte. Eine andere Kultur mit anderen Regeln, anderen Strukturen und Vernetzungen und ein neues Führungsverständnis waren häufig die logische Folge aus der veränderten Arbeitsweise und Haltung der Pädagogen. Sollte das Konzept in der gesamten Organisation wirklich wirksam werden, scheint es notwendig, dass sowohl alle Führungskräfte als auch die Teammitglieder untereinander mit den Mitteln der neuen Autorität handeln. Dies könnte auch im Sinne eines Rollenmodells einem kooperierenden und klaren Miteinander aller Beteiligten dienen. Die Idee, das Konzept nur für die Eltern von Kindern und Jugendlichen anzuwenden und es nicht als übergreifendes Grundprinzip einzuführen, könnte auch aus systemischer Sicht zu kurz gegriffen sein und eine geringere Wirksamkeit zeigen als bei einer Veränderung des Gesamtsystems. Diese Überlegungen motivierten uns, die Idee der professionellen Präsenz in die Führungskräfteentwicklungen zu integrieren, als einen Ansatz, der Geist, Körper und Herz miteinander verbindet.

Führung Es gibt verschiedene Schulen über Führungslehren und es gibt auch verschiedene Führungsstile, über die schon vieles geschrieben wurde. Glasl und Lievegoed (2004, S. 163) beschreiben den des Führungsmodells bzw. des Führungskonzeptes als umfassenden Überbegriff: »Ein Führungsmodell bzw. eine Führungskonzeption ist eine Soll-Vorstellung, also ein präskriptives Modell, das ein bestimm-

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tes Denken, Fühlen und Wollen und dazu passendes Verhalten als gewünscht darstellt.« Unserer Meinung nach haben Führungskräfte die Aufgabe, ihre Mitarbeiter zu führen, ihre Potenziale zu erkennen und zu entfalten, Unterschiede zu nutzen und in ihren Teams Kooperation zu fördern, um erfolgreich und qualitativ hochwertig die jeweiligen Ziele zu erreichen. In der Praxis konnten wir gehäuft die untenstehenden Aspekte beobachten oder heraushören. Diese Aspekte sind als Hypothesen zu verstehen, die hier plakativ formuliert und postuliert werden. Daraus können entsprechende Empfehlungen abgeleitet werden, die sicherlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und vor allem nicht auf »Wahrheit« haben: –– Führungskräfte haben keine klare Leitlinie an der Hand, wie sie führen sollen. Das heißt, es gilt eine klare Haltung zu entwickeln, die Werte zu leben und zu transportieren. –– Oft sind die zu erreichenden Ziele unklar bzw. gar nicht definiert und kommuniziert. Hier bedarf es einer klaren Auftragsklärung. –– Führen ist ein Beruf (oder vielleicht sogar eine Berufung?) – es gibt aber wenig Berufsausbildung hierfür, »das Talent« wird einfach vorausgesetzt. Wenn Mitarbeiter in eine Führungsposition gehoben werden, absolvieren sie oftmals ein »Führungskräftetraining«, welches losgelöst von den Prozessen im Unternehmen stattfindet. Es ist unabdingbar, dass Führungskräfte in einem kontinuierlichen, offenen Lernprozess bleiben, der sie stärkt und weiterentwickelt. Dieser Prozess sollte in Zusammenhang mit den Entwicklungen im Unternehmen stehen. –– Führungskräfte stehen vielfältigen herausfordernden Situationen gegenüber, in der sie manchmal Hilflosigkeit bezüglich neuer Handlungsoptionen erleben. Hier bieten die Mittel der neuen Autorität viele Möglichkeiten, da ein Grundsatz lautet: »Ich kann handeln.« –– Managen wird häufig mit Führen verwechselt. Watzlawick, Beavin und Jackson (2011) haben angeführt, dass jede Inhaltsebene auch eine Beziehungsebene beinhaltet. Dieser Aspekt der Kommunikation kommt in Unternehmen zumeist zu kurz. Den Beziehungsfaden zu stärken und aufrechtzuerhalten, stärkt auch die Inhaltsebene. –– Konflikte werden oft unangemessen oder gar nicht gelöst. Eine gute Konfliktkultur gehört zur Software eines jeden Unternehmens. Die Prinzipien des Reifens und der Beharrlichkeit können unterstützend dafür sein. –– Was Führungskräfte von ihren Mitarbeitern erwarten, geben und leben sie selbst nicht vor – dadurch werden Führungskräfte unglaubwürdig. Es gilt in einer guten Präsenz als Arbeits- und Identifikationsmodell zur Verfügung zu stehen.

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–– Es gibt häufig wenig Raum und Zeit für die Selbstreflexion der eigenen Verhaltensweisen. Um das eigene Handeln fortwährend zu reflektieren, können Selbstachtsamkeit und Selbstbewusstheit als Basis entwickelt werden. –– Führungskräfte haben häufig Schwierigkeiten in der Selbstführung. Deshalb gehören internale Präsenz und Selbstkontrolle zum Handwerkszeug einer jeden Führungskraft. –– Führungskräfte stehen stark unter Druck (zu viele Aufgaben, unklare Aufträge, wenig Ressourcen …) und nehmen sich wenig Zeit für den Austausch mit den Mitarbeitern und Teams oder auch anderen Führungskräften. Transparenz und somit Veröffentlichung der eigenen Nöte, Ängste, Herausforderungen können Führungskräfte entlasten und helfen, aus der Isolation – dem einsamen Posten – herauszukommen. –– Viele Führungskräfte denken, sie müssten alles allein tun. Sie nutzen nicht alle Ressourcen, Talente und das kollektive Wissen, um tragfähige Entscheidungen zu treffen. Dies bedeutet, dass Unterstützersysteme hilfreich wären, um der Vielstimmigkeit Raum zu geben und die Qualität der Entscheidungen zu erhöhen. –– Die Idee, Mitarbeiter zu binden und gleichzeitig Autonomie zu fördern, zwingt manche Führungskräfte in eine ambivalente Haltung. Eine Metapräsenz zu entwickeln und zu internalisieren, kann Führungskräften ermöglichen, wieder eine klare Haltung einzunehmen. –– Wenige Führungskräfte geben ihren Mitarbeitern regelmäßiges Feedback über ihre Leistungen und Zufriedenheit. Laut eines Artikels der Zeit online vom 6. März 2013, in der die neuste Gallup-Studie zitiert wurde, wird bemängelt, dass Vorgesetzte gegenüber ihren Mitarbeitern viel zu selten konstruktive Kritik üben und Unterstützung signalisieren. Hier können Gesten der Wertschätzung und eine wachsame Sorge hilfreich sein, die den Mitarbeitern das Gefühl von Anerkennung und Zugehörigkeit geben. –– Wenige Führungskräfte können Fehler öffentlich eingestehen und dafür Verantwortung übernehmen. Formen der Wiedergutmachung können eine Balance zwischen Geben und Nehmen herstellen. Das Konzept Haim Omers kann auf diese Beobachtungen hilfreiche Antworten geben, um die Rolle als Führungskraft in ihrer Komplexität voll und ganz einnehmen zu können. Diese Antworten sind als Menüvorschläge aufzufassen, die anregen und inspirieren und weniger als Wahrheiten verstanden werden sollten. Im Folgenden zeigen wir einzelne Menüvorschläge auf.

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Achtsamkeit, Konzentration und professionelle Präsenz Achtsamkeit ist eine grundsätzliche Fähigkeit des menschlichen Geistes oder Gehirns. Achtsamkeit ist eine nach innen und/oder außen gerichtete bewusste Aufmerksamkeit im Moment, die alle Sinne mit einschließt. Wenn Führungskräfte achtsam sind, können sie ihre Aufmerksamkeit lenken und sich auf Wahrnehmungen oder Gedanken konzentrieren und zwar so, dass alles, was nicht zielführend ist, an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt wird. Das Ergebnis: Sie schweifen weniger ab, es gibt weniger unnötige Gedankenschleifen, es wird mehr Raum für kreative Lösungsansätze eröffnet und vor allem nimmt die Drehgeschwindigkeit der gedanklichen Prozesse ab. Diese entspannt-wache Form der Achtsamkeit ermöglicht Phänomene zu erkennen, die von einem unruhigen oder unaufmerksamen Geist (viele blinde Flecke) weniger erkennbar sind. Gehen Führungskräfte einer Tätigkeit oder einer Gedankenkette mit einer gerichteten Achtsamkeit nach, können sie alle Aspekte, die zu diesem Tun bzw. Denken gehören, differenzierter wahrnehmen und dadurch, wie aus einer Metaposition (Vogelperspektive) heraus, Rückschlüsse ziehen und gegebenenfalls Korrekturen einleiten. Diese erhöhte Selbstbeobachtungsfähigkeit kann als Voraussetzung gelten, um die eigene Präsenz zu stärken und Konzentration im Moment zu gewährleisten. Mitarbeiter berichten, dass sie präsente Führungskräfte mehr spüren, weil sie das Gefühl haben, dass ihnen wirklich zugehört wird und die Führungskräfte ein ernstes Interesse an ihnen haben. Die Arbeitszufriedenheit und Motivation der Mitarbeiter wächst. Somit kann das Entwickeln einer achtsamen Geisteshaltung eine Voraussetzung sein, um die Mittel der neuen Autorität zu verstehen und in diesem Sinne zu praktizieren.

Unterschiedliche Präsenzebenen Präsent zu sein bedeutet nicht einfach nur anwesend zu sein. Um Präsenz zu entwickeln, ist es hilfreich, die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Ebenen zu lenken und zu beobachten, wie zum einen diese Präsenzebenen innerlich erlebt werden und zum anderen, wie je nach Kontext, die unterschiedlichen Präsenzebenen beeinflusst werden. Wir unterscheiden acht Ebenen, die Teil einer umfassenden Führungspräsenz sein können, und nennen einige anregende Fragen zu den unterschiedlichen Ebenen, mit denen überprüft werden kann, wie Präsenz (er-)lebt wird (Stephan u. Körner, 2011, S. 227 ff.).

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Viele der folgenden Fragen provozieren und forcieren vor allem die Selbsteinschätzung. Um einem systemischem Blick gerecht zu werden, sind zirkuläre Varianten und Ergänzungen hilfreich, wobei es dann zu Unterschieden zwischen Selbst- und angenommenen Fremdeinschätzungen bzw. überprüften Fremdeinschätzungen kommen kann. Jede Frage kann also sowohl analog als auch zirkulär hypothetisch formuliert werden: –– Wie würden mich meine Mitarbeiter, meine Kolleginnen und Kollegen, die mich gut kennen, mein Chef und andere relevante Personen aus dem beruflichen Kontext wohl jeweils einschätzen? –– Wie würde es mir mit einer unterschiedlichen Einschätzung und Skalierung gehen? Körperliche Präsenz: –– Wie differenziert ist meine Körperwahrnehmung? –– Wie beziehe ich meinen Organismus bewusst in meine Entscheidungen mit ein? –– Höre und achte ich auf meinen Körper – meine Körperresonanz? –– Welche körperlichen Reaktionen sind mir in Krisensituationen bewusst (Stressmuster, somatische Marker)? –– Kann ich mich gut beobachten und spüren? –– Nehme ich Unterschiede in unterschiedlichen Situationen wahr? –– Gönne ich meinem Körper Ruhephasen; bin ich fürsorglich im Umgang mit meinem Körper? –– Wie häufig bin ich bei meinen Mitarbeitern anwesend? –– Mit welcher Körperhaltung begegne ich ihnen? Wie wende ich mich ihnen zu? –– Wie gestalte ich den physischen Kontakt? –– Wie würden meine Mitarbeiter diese Fragen bezüglich meiner Person beantworten? –– Wie zugewandt und körperlich präsent erleben sie mich? Wie meine Kunden? Pragmatische Präsenz: –– Wie kreativ bin ich? –– Kann ich in vielfältigen Situationen angemessen an meine Ressourcen anknüpfen? –– Stehen mir auch für Krisensituationen genügend Handlungsoptionen zur Verfügung? –– Woran merke ich meine Handlungsunfähigkeit? Ändern sich meine Bezüge und Unterstützungssysteme? Welche Muster zeigen sich?

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–– Vertraue ich mir selbst und meinen Ideen, meiner Intuition? –– Wie zapfe ich meine Ressource »Kreativität« an? –– Besitze ich genügend »Tools«, um die Kompetenzen der und die Kooperation mit den Mitarbeitern zu fördern? –– Erlebe ich mich als handlungsfähig in den vielfältigen Situationen des Leitungsalltages? –– Erleben mich meine Mitarbeiter als angemessen handlungsfähig in den unterschiedlich herausfordernden Situationen? Wie würden diese meine Handlungsfähigkeit beschreiben? Ethische Präsenz: –– Wie hoch ist mein Selbstwert? –– Wie häufig reflektiere ich mich? –– Wie bringe ich meine Ideen ein? –– Wenn ich etwas mache, wie überzeugt bin ich davon? –– Was sind meine Kernwerte und handle ich danach? –– Wenn mir etwas nicht gelingt, wie gehe ich mit mir um? Darf ich Fehler machen und mich dann korrigieren? Wie gehe ich mit Erfolgen/Misserfolgen um? –– Wie beobachte und bewerte ich? Welche Gefühle lösen meine Interpretationen in mir aus? –– Gibt es Situationen, in denen ich zu überzeugt von mir bin und anderen nicht mehr zuhöre? –– Wie bewerte ich die Handlungen meiner Mitarbeiter? –– Wann bewerte ich und wann beobachte ich? Stelle ich meine Bewertungen in Frage und überprüfe sie? –– Wie würden meine Mitarbeiter meine Kernwerte und deren Umsetzung beschreiben? –– Aus Sicht der Mitarbeiter: Setze ich um, was ich verspreche? Internale Präsenz: –– Bin ich mir meines Selbst bewusst? Wie gut kenne ich mich? –– Wie gut ist meine Fähigkeit ausgeprägt, mich selbst wahrzunehmen und zu steuern? –– Kann ich gut auf meine inneren Stimmen hören? Wie gehe ich dann mit dem, was ich höre, um? Welche Stimme hat den Vorrang, welche überhöre ich gern? Von welchen habe ich mich verabschiedet, welche neuen sind hinzugekommen? –– Welche Situationen bringen mich aus dem inneren Gleichgewicht?

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–– Wie kleide ich meine Rollenidentität aus? –– Sorge ich gut für mein inneres Gleichgewicht? –– Wie würden meine Mitarbeiter, mein Chef, meine Kunden meine internale Präsenz einschätzen? Intentionale Präsenz: –– Wie gestalte ich Arbeitsbeziehungen? –– Wie nehme ich Kontakt auf? –– Was tue ich, damit Arbeitsbeziehungen gelingen? –– Wie reguliere ich Nähe und Distanz? –– Wie kommuniziere ich meine Bedürfnisse? Wie nehme ich die Bedürfnisse meiner Mitarbeiter wahr? –– Wie empathisch kann ich sein? –– Wie wertschätzend kann ich mir selbst gegenüber sein, wie wertschätze ich andere? Wann fällt es mir besonders schwer? –– Wann lasse ich mich auf Beziehungen ein, wann nicht? Woran messe ich das? –– Welche Stolpersteine sind mir bisher in Beziehungen begegnet? Was kann ich gut in Beziehungen? –– Wie gehe ich mit Beziehungskrisen um? Wann bekomme ich Angst davor, klar in den Beziehungen zu sein? –– Wie abhängig bin ich vom Verhalten des Mitarbeiters? –– Wie würden meine Mitarbeiter, meine Sekretärin, meine Kunden meine Art und Weise, Beziehungen zu gestalten, beschreiben? –– Was konkret würden sie empfehlen weiter zu stärken, zu entwickeln? Emotionale Präsenz: –– Wie gehe ich mit meinen Gefühlen um? –– Sind mir die körperlichen Signale bewusst? –– Welche Verhaltensweisen triggern mich an, sodass ich negativ reagiere? –– Kann ich Gefühle benennen und ausdrücken? –– Kann ich meine Gefühle kontrollieren? –– Weiß ich, woher diese Gefühle kommen? –– Kann ich zwischen »meinen und deinen« Gefühlen unterscheiden? –– Kann ich Gefühle beobachten, ohne sie zu bewerten? –– Wie »emotional« erleben mich meine Mitarbeiter und alle anderen Beteiligten? –– In welchen Situationen würden meine Mitarbeiter meine Reaktionen als emotional angemessen, in welchen als eher unangemessen beschreiben und einschätzen?

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Geistige Präsenz: –– Kann ich im Hier und Jetzt sein oder ist mein Geist immer beschäftigt (Vergangenheit und Zukunft)? –– Bin ich für den Moment wach und klar? –– Herrscht eher Gedankenchaos? –– Kann ich auch in Krisensituationen meinen Geist klar und ruhig halten? –– Kann ich aus der Adlerperspektive beobachten und denken? –– Kann ich meine Gedanken konzentriert bei einem Thema halten? –– Wenn ich zuhöre – wie häufig schweifen meine Gedanken ab? Oder habe ich schon Antworten oder Lösungen parat, bevor mein Gegenüber zu Ende erzählt hat? –– Wie würde mein Umfeld meine Fähigkeit, aufmerksam bis zum Ende zuzuhören, einschätzen? Unterstützende Umfeldpräsenz: –– Wie bin ich in meinem Leben eingebunden? –– Bin ich häufig allein und fühle mich einsam? –– Erlebe ich gute Beziehungen und Unterstützung im Unternehmen? Weiß ich, wen ich um Unterstützung bitten kann? –– Gehe ich eher als Ich oder als Wir durchs Leben? Wer ist alles mein Wir? Wie habe ich das installiert? Zufriedenstellend? Was könnte ich anderes dafür tun? Muss ich alles allein schaffen und können? –– Habe ich gelernt, um Hilfe zu bitten? –– Wie binde ich mein Team in meine Entscheidungen ein? –– Wann kann ich mich auf die Kompetenzen anderer verlassen? –– Wenn ich meine Mitarbeiter fragen würde, wie häufig ich sie um Unterstützung bitte, ihre Kompetenzen mit einbeziehe, ihr Wissen für Entscheidungen nutze, ihnen Verantwortung »zumute«, was würden sie sagen?

Ein Experiment Stellen Sie sich als Führungskraft nun einen herausfordernden Mitarbeiter vor, bei dem Sie merken, dass Sie nicht so handeln, wie Sie es sonst tun oder sich wünschen würden. Schätzen Sie nun auf der Skala von 1–10 Ihre Präsenz ein (1 = schwach, 10 = stark).

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Tabelle 1: Präsenzskala (aus Stephan u. Körner, 2011, S. 230) Präsenz

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

physisch ethisch pragmatisch intentional internal emotional geistig Umfeld

–– Welche Präsenzebene fiel Ihnen schwer einzuschätzen, welche leicht? –– Was denken Sie, welche Präsenzebene Sie stärken bzw. »schwächen« müssten, um eine angemessene Präsenz in dieser Situation zu entwickeln? –– Was denken Sie, was Ihre Sekretärin oder der entsprechende Mitarbeiter denkt, welche Präsenzebene Sie entwickeln könnten oder sollten? –– Wie könnten Sie die einzelnen von Ihnen eingeschätzten Werte um jeweils einen Punkt erhöhen und/oder kleiner werden lassen? Was müsste sich verändern, um dies zu tun? Wer könnte Sie darin unterstützen? –– Was denken Sie, welche Präsenz zu stark ist, wie können Sie diese besser ausbalancieren? Würde der Mitarbeiter auch denken, dass diese Präsenz zu stark ist? Wer würde ganz anders darüber denken? –– Wie würde Ihr Mitarbeiter, Ihre Sekretärin, Ihr Chef oder auch andere im Arbeitsumfeld Beteiligte all Ihre Präsenzebenen einschätzen? –– Wo entstehen große Unterschiede, wo gibt es Gemeinsamkeiten? –– Wie müsste Ihre Präsenzbilanz aussehen, damit Sie als Führungskraft authentisch und klar auftreten könnten? –– Wer würde das begrüßen, wer weniger, wer gar nicht? Unsere Annahme ist folgende: Wenn Führungskräfte ihre Präsenz immer wieder überprüfen, gegebenenfalls erneuern und somit flexibel und selbststeuernd handeln, können sie einerseits eine hohe Mitarbeiterbindung kreieren und andererseits da, wo es möglich ist, einen großen Spielraum für Selbstorganisationsprozesse zur Verfügung stellen. Ein entscheidender Faktor hierbei ist, zwischen dem Verhalten und der Person des Mitarbeiters unterscheiden zu lernen. Gerade bei herausfordernden Mitarbeitern ist es hilfreich, die Beziehung nicht unnötig zu belasten, indem die Führungskraft aus dem Kontakt geht und den

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Mitarbeiter als Person in Frage stellt. Schon die Aussage »Mein Mitarbeiter X zeigt in bestimmten Situationen ein unangemessenes Verhalten« anstelle von »Mein Mitarbeiter ist unangemessen« ermöglicht es, weiterhin gut im Kontakt und in der Beziehung zu bleiben. Durch ein verändertes Verhalten, eine neue Perspektive oder auch durch andere Kontextbedingungen seitens der Führungskraft können neue Verhaltensweisen beim Mitarbeiter hervorgebracht werden. Eine Führungskraft, die hauptsächlich auf den Mitarbeiter schaut und dort Verhaltensänderungen einfordert, ohne sich selbst als Teil des Wechselwirkungsprozesses zu sehen, wird auf Widerstand stoßen sowie sich selbst häufig immer hilfloser fühlen und gleichzeitig bedrohlicher wirken. In dieser »Eskalationsschleife« kann die Führungskraft ihre Präsenz verlieren.

Bindung und Autonomie Jeder Mensch ist von Geburt an mit einem evolutionär entstandenen Bindungsverhaltenssystem ausgestattet (z. B. Grossmann u. Grossmann, 2011). Es konnte gezeigt werden, dass gut und angemessen gebundene Kinder ein sicheres Explorations- oder Autonomieverhalten entwickeln und somit den Anforderungen in Kindergarten, Schule und später im beruflichen Leben standhalten können (→ für einen Vergleich zwischen unterschiedlichen kulturellen Kontexten bezüglich des Aufbaus von Bindungsverhalten und Bindungsbeziehungen siehe den Beitrag von Hiltrud Otto in diesem Band). Dieses Verhalten ist für das Gedeihen von Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen wichtig, aber auch bezogen auf das gesellschaftliche und berufliche Leben. Kinder brauchen Wurzeln und Flügel, um ein gutes Standing zu entwickeln. Weiterhin stärkt das in Bindungsbeziehungen erworbene und schließlich verinnerlichte Selbstwertgefühl ebenfalls die Sicherheit in der Auseinandersetzung mit der Welt (Scheuerer-Englisch, 2005). Menschen, die eine gute Bindung erfahren haben, werden in ihrem beruflichen Leben sicherer in ihrem Autonomieverhalten sein und mit Unsicherheiten und Risiken besser umgehen können. Wir haben die Hypothese, dass das erlernte Bindungsverhalten sich auch im Arbeitskontext zeigen und zu Missverständnissen auf Seiten der Führungskraft führen könnte: Wenn das Autonomieverhalten stärker gefördert wurde und wenig Bindung da war, entwickeln Menschen oftmals ein unsicher-ambivalentes Verhalten, weil die Sicherheit fehlte. Diese Mitarbeiter brauchen verstärkt eine gute Anbindung an die Führungskraft; in Zeiten der Krise können schnell Ängste und Unsicherheiten auftreten.

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Wenn die Bindung stärker war als das Autonomieverhalten, so werden diese Personen die Autonomie vermeiden. Gibt man diesen Mitarbeitern herausfordernde Aufgaben, die sie allein lösen sollen, kann das schnell zu Überforderung führen, sowohl fachlich als auch zwischenmenschlich. Es ist nicht Aufgabe von Führungskräften zu schauen, ob ihre Mitarbeiter im Kindesalter gut gebunden waren und ein gutes exploratives Verhalten entwickeln konnten. Es ist aber Aufgabe von Führungskräften zu schauen, ob Mitarbeiter in der Lage sind, eigenständig zu arbeiten, selbstsicher sind oder eher ein unsicheres und wenig eigenständiges Verhalten aufweisen. Der Gallup-Studie von 2011 zufolge »arbeiten nur 14 Prozent der Beschäftigten in Deutschland wirklich engagiert – mit einer hohen emotionalen Bindung zu ihrem eigenen Arbeitsplatz.« Weiter wird ausgeführt, dass »der durch die anspruchsvollen Wettbewerbsbedingungen im Markt entstehende Druck oft ungefiltert an die Mitarbeiter weitergeleitet wird, anstatt durch eine professionelle Pflege und Entwicklung der Humanressourcen Lösungen für die vielfältig auftretenden Probleme zu schaffen« (Gallup, 2011, o. S.). Wenn auch Firmen und Einrichtungen nicht mit Familien gleichzusetzen sind – selbst wenn einer solcher Mythos oft gepflegt wird –, so kann man doch annehmen, dass Menschen im Arbeitsprozess ebenso Wurzeln und Flügel benötigen. Dieses bedeutet wie schon beschrieben, dass es wichtig ist, gut in der Organisation und durch die Führungskraft angebunden zu sein, aber auch einen soliden Freiraum zu haben, um einen eigenständigen Arbeitsstil entwickeln zu können. Die Idee, Mitarbeiter zu binden und gleichzeitig deren Autonomie zu fördern, kann bei den Führungskräften zu einem hohen Reibungsverlust führen. Führungskräfte wissen nicht, wie sie beides gleichzeitig tun sollen, und könnten sich in verwirrenden Doppelbotschaften verlieren. Das Konzept der professionellen Präsenz kann hierfür Antworten bieten. Durch eine angemessene Präsenz im Sinne der neuen Autorität kann eine Führungskraft beides bei einem Mitarbeiter anregen und fördern, nämlich die Präsenz stärker oder schwächer ausüben, um den Freiheitsgrad für den Mitarbeiter zu variieren. Im Sinne des Ankerns kann hier der Mitarbeiter sowohl Sicherheit als auch stabilen Freiraum erfahren. Präsenz wäre sozusagen die Metaebene, die Autonomie und Bindung zur Verfügung stellen kann und die Führungskräfte im Sinne Haim Omers als »Anker« fungieren lässt (vgl. Omer u. Lebowitz, 2012, S. 27). Sicherlich ist hier zu beachten, dass der Begriff der Bindung nicht analog zu der Eltern-Kind-Bindung zu sehen ist. Hier wird Bindung als die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern oder Personen gesehen, die es ständig

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betreuen. Sie ist in Emotionen verankert und verbindet das Individuum mit anderen (Grossmann u. Grossmann, 2008). Mitarbeiter werden nicht in Unternehmen hineingeboren (manchmal in eine Unternehmerfamilie), sie gehen einen mehr oder minder (je nach Finanzoder Arbeitsmarktsituation) freiwilligen Vertrag mit dem Arbeitgeber ein, der auch ihre ökonomische Situation sichern soll. Dieser Vertrag kann beidseitig gekündigt werden, besteht nie selbstverständlich ein Leben lang. Ein Mitglied einer Familie kann nicht kündigen, die Bindung bleibt lebenslang, unabhängig davon, wie sie gelebt wird. Dennoch sind wir auch als soziale Wesen am Arbeitsplatz auf soziale Resonanz angewiesen. Ein Arbeitnehmer, vor allem mit einer Vollzeitstelle, knüpft soziale Bindungen, die nicht selten länger bestehen als die privaten Bindungen und einen großen Stellenwert einnehmen. Er braucht Kontakte mit anderen Mitmenschen, ist vom Respekt der anderen abhängig und braucht Anerkennung (vgl. Glasl, 1990, S. 28).

Die neue Autorität in der Führung: Haltung und Werte Es ist schon viel über Führung geschrieben worden, vor allem über Führungsstile (vgl. Mahlmann, 2011). Diese Führungsstile (autoritär, laisser-faire, situativ, partizipatorisch u. a.) wurden vielfältig beschrieben, weiterentwickelt, verworfen oder neu definiert. In diesem Zusammenhang wurde jedoch kaum untersucht, welche Ideen, Eigenschaften, Haltungen eine Führungskraft braucht, um einen persönlichen Führungsstil zu entwickeln. Das Konzept der neuen Autorität, die die Selbstführung und die Beziehungsgestaltung zum Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellt, kann hilfreiche und unterstützende Ideen für Führungskräfte liefern. Welche Handlungsebenen der neuen Autorität lassen sich auf das Führungsgeschehen übertragen? Illusion der Kontrolle Führungskräfte können der Illusion unterliegen, ihre Mitarbeiter vollständig kontrollieren zu können. Die »Machtposition« und die Entscheidungsbefugnisse scheinen dies nahezulegen. Unserer humanistisch systemischen Grundhaltung entsprechend können wir andere Menschen nicht kontrollieren; selbst wenn sie äußerlich vielleicht ein erwünschtes loyales Verhalten zeigen, können sie zum Beispiel innerlich

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gekündigt haben. Was aber in unserer Macht und Möglichkeit steht, ist die Selbstkontrolle. Hier können wir uns weitgehend selbst führen und kontrollieren, bezüglich unserer Gedanken, Gefühle, Handlungen und Beziehungsangebote. »Die Annahme, dass Kontrolle über andere illusorisch ist, kann einen befreienden Aspekt haben: Durch das Bewusstsein, dass Kontrolle unmöglich ist, wird man von dem Zwang zu kontrollieren befreit« (Omer u. von Schlippe, 2007, S. 161). Führungskräfte, die viel kontrollieren, senden den Mitarbeitern die Botschaft: »Du schaffst das nicht allein. Dir traue ich das nicht zu.« Damit ist ein ständiges Rauschen des Misstrauens in der Beziehung, was sich als störend und wenig produktiv erweist. Nach dem Prinzip des Reifens zu handeln, eröffnet dem Mitarbeiter und der Führungskraft ein prozessorientiertes Vorgehen, ohne das Ziel aus dem Auge zu verlieren. Warten zu können, ohne den Kontakt zu schwächen, dem Prozess genügend Raum zur Verfügung zu stellen, vermindert das Rauschen und fördert das klare Verstehen und Hören. Eine Blume wächst auch nicht schneller, wenn man an ihr zieht. Hier kann es hilfreich sein, sich mit den folgenden Fragen auseinanderzusetzen: –– Vertraue ich meinen Mitarbeitern? –– Wie viel Kontrolle übe ich aus und wie mache ich das? –– Was könnte ich stattdessen tun? Was würde dann mit mir passieren? –– Wie viel Freiraum gebe ich mir selbst? –– Kann ich den Dingen die Zeit geben, die sie brauchen? Denke ich in Prozessen oder mehr in Lösungen? Auch die nachstehende Metapher von Gregory Bateson (1982, S. 128) behandelt diesen Aspekt: »Man kann das Pferd zum Wasser führen, man kann es nicht zum Trinken zwingen. Trinken ist seine Sache. Aber selbst wenn das Pferd durstig ist, kann es nicht trinken, solange Sie es nicht zum Wasser führen. Das Hinführen ist Ihre Sache.« Verbindung und Kontakt Ein Hauptaugenmerk der unternehmerischen Tätigkeit ist das Wachstum und in Profit-Unternehmen die Gewinnmaximierung. Unternehmen bestehen aus Menschen und diese ermöglichen durch ihre Leistungsbereitschaft, dass das Unternehmen wirtschaftlich wachsen kann. Verbindung und Kontakt spielen in der Beziehungsgestaltung eine große Rolle. Diese kann wohl besser gelingen, wenn Führungskräfte mit sich selbst

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fürsorglich und wohlwollend in Kontakt sind, also eine gute Verbindung zu sich selbst haben. Aus einer authentischen Position heraus kann es gelingen, eine wachsame Sorge für die Mitarbeiter zu entwickeln: –– Wie gestalte ich die Beziehung zu meinen Mitarbeitern? –– Wie gut kenne ich meine Mitarbeiter? –– Wie höre ich ihnen zu und welche Art von Sprache nutze ich? –– Wie halte ich den Kontakt? Auch in schwierigen Zeiten? Woran merken die Mitarbeiter mein Interesse an ihnen als Menschen? –– Wie erleben meine Mitarbeiter wohl meine Beziehungsgestaltung? –– Glauben sie, dass ich mich in sie einfühlen und hineinversetzen kann? –– Erleben sie wohl, dass ich ihnen zuhöre und wie erleben sie meine Sprache? –– Wie erleben meine Mitarbeiter meine Kontaktversuche, Kontaktangebote? Wertschätzung und Respekt Unterschiede auszuhalten und sie gleichzeitig als ein Geschenk der Vielfalt zu erkennen, kann für Führungskräfte eine Herausforderung sein. Hier mag wie beschrieben gelten, dass man anderen dann wertschätzend und respektvoll begegnen kann, wenn man das auch für sich selbst tun kann. Oft kann man erleben, wie wenig wertschätzend Führungskräfte mit sich selbst umgehen, und nur eine geringe Toleranz eigenen Fehlern gegenüber aufbringen. Zu vertuschen oder sich selbst zu »bestrafen«, am besten noch mehr Überstunden zu machen, um beim nächsten Mal alles richtig zu machen, sind mehrfach erlebte Optionen. Sich Fehler zuzugestehen und daraus zu lernen und sich weiterzuentwickeln, kann vor allem dann gelingen, wenn eine wertschätzende Grundhaltung da ist, die lebenslanges Lernen und Reifen als Grundprämisse hat: –– Was schätze ich an mir? –– Wie gehe ich mit eigenen Fehlern um, wie mit denen meiner Mitarbeiter? –– Wie offen erlebe ich mich, wenn Mitarbeiter andere Sichtweisen einbringen? Kann ich gegebenenfalls von meinen eigenen loslassen? –– Wie gebe ich meinen Mitarbeitern Anerkennung? –– Habe ich überhaupt den Blick dafür, was gut läuft? –– Schaue ich mehrheitlich defizitorientiert? –– Wie sehen, erleben und schätzen mich wohl die anderen ein hinsichtlich dieser Punkte? Wo konkret haben sie ähnlich, wo sehr unterschiedliche Einschätzungen? Wie werde ich mit den unterschiedlichen Einschätzungen umgehen?

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Verbesserung Viele Situationen im Führungsalltag sind komplex. Je nachdem, mit welcher Offenheit und Neugierde eine Führungskraft diesen Situationen begegnet, können sie als Hindernis, als Druck oder als Chance interpretiert werden. Sich selbst beobachten zu können und mit Neugierde auf die eigenen Reaktionen zu schauen sowie den Blick auf die vielen Möglichkeiten zu lenken, die in jeder Situation stecken, führt zu einer Weiterentwicklung: –– In herausfordernden Situationen: Was denke ich? Was fühle ich? Wie reagiert mein Körper? Wie handle ich? –– Was vermeide ich? Wie versuche ich mein »Gesicht zu wahren«? –– Kann ich mir eingestehen, nicht alles zu können oder auch können zu müssen? –– Habe ich eine Haltung, die es mir ermöglicht, immer wieder Lernender zu sein? –– Macht es mir Freude, mit Neugierde Situationen, Themen und Beziehungen zu erforschen? –– Wie würde mein Umfeld meine Haltung bezüglich »Verbesserung« einschätzen? Wie erleben mich meine Mitarbeiter bezüglich meiner Offenheit neuen Möglichkeiten gegenüber? Öffentlichkeit und Transparenz herstellen Führungskräfte, die zeigen, wer sie sind und was sie zukünftig planen, die wesentliche Informationen kommunizieren und sich transparent mitteilen, fühlen sich weniger isoliert. Der Führungsjob kann sehr einsam machen. Die Idee, Verantwortung allein tragen zu müssen, hat schon viele in die Burn-out-Falle gelockt. Transparenz erhöht die Möglichkeit, interessante Rückmeldungen, Anregungen oder auch kritisches Feedback zu bekommen und sich von der Idee zu verabschieden, als Führungskraft alles allein können zu müssen. Vernetzung und Unterstützersysteme Transparenz erhöht die Möglichkeit der Vernetzung. Führungskräfte, die sich in einem Führungszirkel treffen, erfahren Weiterentwicklung, Entlastung und gegenseitige Unterstützung. Aber auch eine Haltung, die ermöglicht, dass die Mitarbeiter wirklich mitarbeiten, alle im gemeinsamen Boot sitzen und ein »gemeinsames Rudern auf das Ziel zu« stattfinden kann, würde eine Entwicklung vom Ich zum Wir fördern.

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Professionelle Präsenz und neue Autorität: Ein Führungsansatz

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Beharrlichkeit Im Sinne Haim Omers ist es bedeutsam, beharrlich am Puls zu bleiben, also vor allem präsent zu sein und sich bei Schwierigkeiten mit den Mitarbeitern nicht zurückzuziehen, sondern dazubleiben und für das, was ansteht, gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Ob es das kurzfristig einberufene Meeting ist – »Ich erwarte eine Lösung von Ihnen und werde nicht dulden, dass Sie zur Mitarbeit diesbezüglich nicht bereit sind. Ich werde darauf hier und jetzt warten bzw. gegebenenfalls wiederkommen!« –, um das kollektive Wissen zu nutzen und eine Lösung zu kreieren, oder eine Telefonkonferenz mit allen Beteiligten oder eine Ankündigung – was auch immer die Führungskraft für die Situation als angemessen empfindet, um gewaltlos Widerstand gegen nicht zu tolerierendes Verhalten zu demonstrieren, kann die Präsenz ausdrücken. Gesten der Wertschätzung Geregeltes Feedback als etabliertes Instrument kann eine Kultur der Offenheit und der Inspiration schaffen. Anerkennung ist ein Grundbedürfnis und kann über das Feedback genährt werden. Bonusauszahlungen, eine Beförderung, eine spezielle, schon immer ersehnte Aufgabe, ein mitgebrachter Kuchen, eine kleine Feier oder ein einfaches Lob oder Dankeschön von Seiten der Führungskraft kann als Geste der Wertschätzung erlebt werden. Im Rahmen der neuen Autorität sprechen wir in erster Linie von Beziehungsgesten, wenn Wertschätzung ausgedrückt werden soll, unabhängig von erbrachten Leistungen. Im beruflichen Kontext kann es notwendig bzw. eine etablierte Kultur der Organisation sein, diese durch Bonusauszahlungen, durch Beförderungen oder andere Mittel, die nicht nur beziehungsorientiert sind, auszudrücken. Wir haben häufiger erlebt, dass die leistungsorientierten »Belohnungen« genutzt werden, um Wertschätzung auszudrücken. Eine sehr interessante Geste der Wertschätzung ist das achtsame Zuhören. Eine Führungskraft, die sich Zeit nimmt, dem Mitarbeiter aufmerksam zuhört und sogar daraus einen authentischen Dialog entstehen lässt, wird als wertschätzend erlebt. Otto Scharmer (2009) hat drei wertvolle Prinzipien des Zuhörens entwickelt: 1. Hören Sie positiv und empathisch zu (Öffnung des Fühlens): Schaffen Sie eine Verbindung zu Ihrem Interviewpartner mit offenem Denken und offenem Fühlen; heißen Sie die sich entfaltende Geschichte willkommen und freuen Sie sich darüber. Stellen Sie sich in die Schuhe des Interviewpartners.

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2. Benutzen Sie die Fähigkeit, aus der Zukunft zu hören (Zugang zum offenen Willen finden): Versuchen Sie die für den Interviewpartner beste Zukunftsmöglichkeit zu erspüren, die gegenwärtig entstehen will. Wie könnte diese beste Zukunftsmöglichkeit aussehen? 3. Die Kraft von Stille und Gegenwärtigkeit: Seien Sie während des Interviews komplett präsent und gegenwärtig. Unterbrechen Sie auch einen kurzen Moment der Stille nicht. Momente der Stille können wichtige Zündfunken sein, die reflexive Ebene einer Konversation zu vertiefen. Oft gehen solche Chancen verloren, weil der Interviewer sich gezwungen fühlt, die nächste Frage zu stellen. Seien Sie mutig. Bleiben Sie im Moment des Öffnens im Jetzt. Verantwortungsübernahme und Wiedergutmachung Bei Fehlleistungen von Mitarbeitern, die Folgen nach sich ziehen oder andere Mitarbeiter mit betreffen, kann in den Teams überlegt werden, wie gemeinsam eine Lösung gefunden werden kann. Dies befreit den Mitarbeiter nicht von seiner Verantwortung. Anstelle von »einer ist ganz allein schuld und muss auch allein eine Lösung finden« wird gemeinsam überlegt. Die Verantwortung für die Umsetzung wird dem Mitarbeiter übertragen, der die Mehrarbeit bzw. den Fehler verursacht hat.

Die neue Autorität auf Teamebene Auch Teams können mit den Mitteln der neuen Autorität ihr Handeln überprüfen und stärken. Dies zu tun und anzuregen, ist Aufgabe einer Führungskraft. Ankündigungen im Sinne einer Selbstverpflichtung (»self-commitment«), die ein Team an sich selbst schreibt, erwiesen sich als sehr hilfreich. Durch die Verpflichtung und Veröffentlichung der zukünftigen eigenen Verhaltensveränderungen in den Teams, konnten das Wir-Gefühl und die zukünftige Strategie gestärkt werden. Aber auch Ankündigungen, die eine Führungskraft an das Team schreibt, können einen konstruktiven Veränderungsprozess in Gang bringen. Im Folgenden das Beispiel der Ankündigung einer Führungskraft an das Team:

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Professionelle Präsenz und neue Autorität: Ein Führungsansatz

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Liebe Mitarbeiter, in der letzten Zeit habe ich unsere gemeinsamen Teamsitzungen als d ­ estruktiv und wenig kooperativ erlebt. Verhaltensweisen wie ständiges SMS-Schreiben, zeitweises Verlassen des Meetings wegen angeblich wichtiger Telefonate, Nebengespräche während einer Präsentation oder auch abfällige Bemerkungen über Nichtanwesende werde ich nicht mehr akzeptieren. Ich möchte ein konstruktives Miteinander und ein konzentriertes zielführendes Arbeiten in den Meetings. Ich werde zukünftig mein Verhalten ändern und mein Bestmögliches geben, um dieses Ziel zu erreichen. Ich kann Sie nicht dazu zwingen, die Motivation muss von Ihnen kommen, ich kann nur meine Sicht auf die Dinge beharrlich weiter vertreten. Von Ihnen erhoffe ich mir eine positive Resonanz. Ich bin mir sicher, dass eine veränderte Atmosphäre in den Teamsitzungen auch Ihnen gefallen wird. Ich bin an einer guten Beziehung zu Ihnen als Mitarbeiter interessiert. Gern bin ich bereit, bei unserem kommenden Meeting erneut über Ihre Erwartungen bezüglich der Meetings zu sprechen.

Die Gesten der Wertschätzung untereinander können den Kooperationswillen fördern. Wiedergutmachungen, ganz gleich, ob es Entschuldigungen sind, die Übernahme von Aufgaben oder die fachliche Unterstützung bei Aufträgen für andere, zeigen, dass jeder im Team bemüht ist, für eine gute Balance zwischen Geben und Nehmen zu sorgen bzw. füreinander wachsame Sorge zu leben. Zugehörigkeit und Anerkennung im Team zu fördern und zu praktizieren, befriedigen die Grundbedürfnisse von Menschen und tragen zu einer hohen Mitarbeiterzufriedenheit bei. Folgende Fragen können hilfreich sein, um im Team die Haltung der professionellen Präsenz zu etablieren. Diese Fragen kann die Führungskraft einbringen, beispielsweise bei Teamtagen, in denen die Zusammenarbeit reflektiert werden soll: –– Wie offen und transparent sprechen wir über unsere Gedanken, Empfindungen, Wahrnehmungen? Wie viel Transparenz ist in unserem Kontext angemessen? –– Wie zugewandt verhalten wir uns? Können wir uns anschauen? –– Wie genau geben wir uns Feedback? Was lassen wir aus? Was lassen wir zu? –– Wie nehmen wir unser gegenseitiges Zuhören wahr? –– Wie fürsorglich gehen wir miteinander um? –– Wie treffen wir gemeinsame Vereinbarungen? Werden getroffene Vereinbarungen eingehalten? Werden Vereinbarungen boykottiert? Woran merken wir das?

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–– Haben wir genügend Handlungsoptionen im Umgang miteinander? Welche wären hilfreich, welche weniger? –– Lassen wir unterschiedliche Sichtweisen zu und erkennen sie als Ergänzung und Bereicherung an? Woran würden wir das merken? Wofür wäre das hilfreich? –– Wie konkret sieht unser gemeinsamer Werte- und Haltungskanon aus? –– Wie stark ist die Selbstverpflichtung in diesem Team, gemeinsam Ziele zu erreichen? –– Wie viel ist jeder bereit, sich zu entwickeln oder seine Persönlichkeit zurückzustellen bzw. nach vorn zu bringen? Inwiefern würde das Team davon profitieren? –– Welche Bedingungen brauchen wir, um gut kooperieren zu können? –– Wie transparent sind wir mit unserer Führungskraft? –– Welche Botschaften bringen wir klar und deutlich zum Ausdruck? Welche bleiben eher implizit? –– Wie überzeugt sind wir von dem, was wir tun und wie wir es tun? –– Was konkret tun wir für unser Wir-Gefühl? Welches Selbstverständnis haben wir von Teamarbeit? –– Wie groß dürfen die Unterschiede (Perspektiven auf uns, auf die Kinder, auf die Organisation …) sein, um immer noch von »Wir« sprechen zu können? –– Wer unterstützt das Team? Wie werden Unterstützer angefragt? Wie unterstützen sich die Teammitglieder untereinander? Diese Fragen haben wir im Rahmen der Einführung des Konzepts von Haim Omer in den Teams der Non-Profit-Organisationen (z. B. Jugendhilfeeinrichtungen) ausführlich bearbeitet. Es war für die Teams interessant, dabei zu bemerken, dass sie selbst häufiger Verhaltensweisen untereinander zeigten, die sie bei den Jugendlichen bemängelten. Folgende Punkte wurden am häufigsten benannt: –– Die Verbindung zwischen Verhalten und Person: Kollegen werden in Schubladen eingeordnet: »Der ist so …« –– Den Kollegen gegenüber keine Beharrlichkeit zu zeigen, um den Beziehungsfaden zu stärken: »Das lohnt sich nicht …« –– Wenige Gesten der gegenseitigen Wertschätzung: »Ist doch selbstverständlich …« –– Recht haben wollen und die Vielfalt nicht zulassen können: »Es geht schon immer so …« –– Wiedergutmachungen müssen tendenziell eher eingefordert werden und werden nicht geschenkt: »Fehler? Ich doch nicht …«

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–– Geringe Transparenz untereinander und nach oben bzw. unten: »Davon weiß ich nichts …« –– Wenig Veröffentlichung von Ängsten, Nöten und heiklen Themen: »Über so etwas spricht man bei uns nicht …« –– Vereinbarungen werden oft nicht eingehalten: »Die Situation hat das nicht zugelassen …« –– Angst vor Eskalation: »Ich sage lieber nichts …« Diese Aussagen und die dahinter liegenden Botschaften können die Präsenz der einzelnen Teammitglieder beeinflussen, als Summe betrachtet, könnte man hier von einer »Teampräsenz« sprechen. Es kann hilfreich sein, als Führungskraft die genannten Punkte im Team anzusprechen, damit zu arbeiten, um zum einen die eigene Präsenz zu festigen und zum anderen das Team weiterzuentwickeln.

Zusammenfassung: Die Kernfähigkeiten Zusammenfassend zeigen wir auf, dass Führen mit Präsenz und den Optionen der neuen Autorität mit folgenden Kernfähigkeiten ermöglicht werden könnte: –– Raum geben und halten können, in der Gegenwart stehen; –– Achtsamkeit kultivieren, Wahrnehmung sensibilisieren; –– Metapräsenz; –– Selbstkontrolle: Selbstführung und -wirksamkeit; –– präsent sein, da sein, wach sein; –– der Kraft der Intuition vertrauen; –– Wissen vernetzen; –– Körper, Herz und Geist verbinden; –– mutig den eigenen Werten folgen; –– Standfestigkeit in turbulenten Zeiten; –– prozessorientiertes Denken. Die Weiterentwicklung eines Führungsansatzes nach den Ideen Haim Omers steht sicherlich noch am Anfang. Die in diesem Beitrag aufgeführten Aspekte ließen sich aber schon in unseren Führungskräfteentwicklungsprogrammen in den Unternehmen übertragen und integrieren.

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Literatur Bateson, G. (1982). Geist und Natur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bundesministerium für Gesundheit (2013). Gesetzliche Krankenversicherung. Krankenstand. Zugriff am 17.02.2013 unter http://www.bmg.bund.de/fileadmin/dateien/Downloads/Statistiken/GKV/Mitglieder_Versicherte/KM1_Krankenstand__Dez12.pdf Gallup (2011). Gallup Engagement Index 2011. Zugriff am 17. 02. 2013 unter http://www.gallup.com/ strategicconsulting/158183/präsentation-zum-gallup-engagement-index-2011.aspx Glasl, F. (1990). Konfliktmanagement. Stuttgart: Freies Geistesleben. Glasl, F., Lievegoed, B. (2004). Dynamische Unternehmensentwicklung. Grundlagen für nachhaltiges Change Management. Bern: Haupt. Grossmann, K. E., Grossmann, K. (Hrsg.) (2011). Bindung und menschliche Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta. Grossmann, K. E., Grossmann, K. (2008). Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart: Klett-Cotta. Mahlmann, R. (2011). Führungsstile gezielt einsetzen. Weinheim: Beltz. Omer, H., Lebowitz, E. (2012). Ängstliche Kinder unterstützen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2007). Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. o. N. (2013). Mitarbeitern fehlt Lob. Zeit online vom 6. März 2013. Zugriff am 06.03.2013 unter http://www.zeit.de/karriere/beruf/2013–03/gallup-studie-2013 Scharmer, C. O. (2009). Theorie U. Von der Zukunft her führen: Prescencing als soziale Technik. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Scheuerer-Englisch, H. (2005). Festvortrag zum Jubiläum der Psychologischen Beratungsstellen der Katholischen Jugendfürsorge Augsburg, 35 Jahre Weilheim, 30 Jahre Schongau, 20 Jahre Penzberg und des 30-jährigen Jubiläums der Erziehungsberatungsstelle Schwandorf der Katholischen Jugendfürsorge für die Diözese Regensburg am 26. 10. 2005. Stephan, L., Körner, B. (2011). Körperliche Präsenz – ein unterstützendes Konzept für das Coaching zur Entwicklung elterlicher und professioneller Präsenz. Systhema, 25 (3), 218–236. Watzlawick, P., Beavin, J. H., Jackson, D. D. (2011). Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien (12., unveränd. Aufl.). Bern: Huber.

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Elisabeth Heismann

Eltern mit- und füreinander: Die aktive Mitarbeit von Eltern im Londoner Programm für gewaltlosen Widerstand

Hintergrund: Das Londoner Non-Violent-Resistance-Projekt Die aktive Mitarbeit von graduierten Eltern und die Partnerschaft zwischen Professionellen und Eltern ist seit 2007 ein einzigartiges und hochgeschätztes Merkmal des Non-Violent-Resistance (NVR)-Projekts des Oxleas NHS Mental Health Trust1 in London. Die Eltern werden in alle Aspekte mit einbezogen. Es werden jährlich zwei Gruppenprogramme für je 20 bis 25 Familien angeboten, an denen jeweils ein bis zwei graduierte Eltern von vorherigen Gruppen teilnehmen. Das manualisierte Oxleas-NVR-Gruppenprogramm umfasst elf Gruppensitzungen. Wenn Eltern an mehr als fünf Gruppenabenden teilgenommen haben, bekommen sie am Ende ein Zertifikat als graduierte Eltern. Dieser Status bedeutet, dass sie den monatlichen selbstorganisierten Elternklub besuchen können. Sie erhalten vier Newsletter im Jahr und können sogenannte »Boostersitzungen« (themenspezifische Sitzungen, die das NVR-Wissen auffrischen, wie z. B. bezüglich »Sit-ins«) besuchen. Außerdem erhalten sie regelmäßig motivierende SMS auf ihre Handys geschickt. Graduierte Eltern können darüber hinaus aber noch aktiver werden, indem sie bei den jährlichen Gruppenprogrammen mitarbeiten. Sie haben dann auch die Möglichkeit, an Interviews, Boostersitzungen und »Taster«-Sitzungen (Schnuppersitzungen, die einen kurzen Überblick über das NVR-Programm bieten) für neue Eltern teilzunehmen. Für interessierte Professionelle innerhalb und außerhalb der Klinik bieten wir bei Oxleas NHS außerdem ein viertägiges NVR-Training für Gruppenleiter an, welches die graduierten Eltern mitgestalten. 1

Der Oxleas NHS (National Health Service) Mental Health Trust bietet psychiatrische Dienste für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in den Londoner Stadteilen Bexley, Bromley und Greenwich an.

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Elisabeth Heismann

Zusätzlich nehmen einige graduierte Eltern an den monatlich stattfindenden Strategiegruppen und an viermal im Jahr stattfindenden Supervisionen teil. Sie schreiben Beiträge für die Newsletter und entwickeln neue Programme mit den professionellen NVR-Mitarbeitern, wie zum Beispiel das Gruppenprogramm für Eltern, deren Kinder Mitglieder in Gangs sind. Das Engagement und die Aktivitäten der Eltern bieten also eine große Bandbreite an Möglichkeiten aktiver Mitarbeit, von Gruppenleitung, Entscheidungen für neue Projekte bis zu Planungen, Evaluierungen oder dem Schreiben von Selbstzeugnissen. Elternaktivitäten in den Oxleas-NVR-Projekten umfassen: –– Mitarbeit bei den Elterngruppen innerhalb und außerhalb der NHS-Klinik (vier Eltern); –– Mitarbeit bei den Rollenspielen für eine DVD-Erstellung des Manuals (eine Mutter); –– Teilnahme an Interviews und Probesitzungen für neue Eltern (zehn Eltern); –– Leitung des Elternklubs und von Auffrischungssitzungen für andere graduierte Eltern (Themen z. B. Geschwister, Väter, Ankündigung; derzeit fünf Eltern); –– Konferenzpräsentation während der internationalen NVR-Konferenz (vier Eltern); –– Interview mit Haim Omer während der internationalen NVR-Konferenz für die DVD (vier Eltern); –– gegenseitige Interviews für die DVD (drei Eltern); –– Editieren der DVD mit ihren Konferenzpräsentationen und Interviews (vier Eltern); –– Planung, Vorbereitung und Teilnahme am NVR-Gruppenleitertraining (einmal jährlich) und an sonstigen Trainingsveranstaltungen für Professionelle (derzeit fünf Eltern); –– Entwicklung und Teilnahme am »NVR-Gangs«-Pilotprojekt (derzeit zwei Eltern); –– Teilnahme an Trainingssitzungen (Streetgangs, IT-Training) (zwei Eltern); –– Präsentationen bei auswärtigen Organisationen (z. B. im örtlichen College) und beim Londoner Kinderschutz, wo das Oxleas-NVR-Projekt einen Preis gewonnen hat (drei Eltern und zwei Jugendliche); –– Newsletter (viermal jährlich) (mehr als zehn Eltern); –– Herstellung eines Elternbuchs mit persönlichen Zeugnissen von Eltern (drei Eltern); –– Teilnahme an Supervision (zwei Eltern); –– Teilnahme an der CAHMS-NVR-Strategiegruppe (zwei Eltern); –– Mitgründung der nationalen NVR-Assoziation in England (drei Eltern).

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Eltern mit- und füreinander

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Tabelle 1: Statistische Daten zur Elternmitarbeit zwischen 2007 und 2012 Anzahl der insgesamt überwiesenen Familien zu den elf Gruppenprogrammen

224

Teilnehmer an ersten NVR-Gruppensitzungen der elf Gruppen

155

Graduierte Eltern, die an fünf oder mehr Sitzungen teilgenommen haben

90

Teilnehmer an Elternklubs und Boostersitzungen

17

aktive Eltern, die Gruppenleitungen übernehmen

5

Aktive Eltern haben dazu beigetragen, dass die NVR-Projekte Einnahmen generiert haben: Mit dem Verkauf der DVD erzielt Oxleas 15 Pfund per DVD, das gedruckte Manual kostet zur Zeit 115 Pfund pro Kopie und Teilnehmer am Training für Trainer bezahlen 400 Pfund (inklusive des Trainingspakets), wenn sie von außerhalb des Oxleas NHS kommen. Für ihre Mitarbeit von etwa 400 Stunden am Gangprojekt zwischen Oktober 2012 und März 2013 soll den Eltern ein Honorar von 7 Pfund pro Stunde vom Innenministerium bezahlt werden. Die Kosten, die für Oxleas durch die Elternmitarbeit anfallen, sind im Gegensatz zu den Einnahmen geringfügig: Babysitting, Reisekosten, Essen und die Teilnahmegebühren für die Internationale Konferenz 2011. Obwohl Oxleas NHS Trust eine aktive Mitarbeit von Betroffenen in allen seinen Veröffentlichungen propagiert und fordert und 2012 sogar kurzfristig personelle Ressourcen hierfür eingesetzt hat, um die mögliche Beteiligung von Betroffenen in den einzelnen Teams innerhalb CAMHS zu besprechen, ist die Mitarbeit der NVR-Eltern bisher die am weitesten entwickelte im gesamten Trust. Damit hat das NVR-Projekt ein vorbildliches Modell für die Einbeziehung und Vergütung von Betroffenen für Oxleas Trust entwickelt. Im Moment wird sich darum bemüht, eine Honorarstelle für einen Elternberater einzuführen. Unser Wunsch ist es, dass die Kosten für diese Stelle zuerst von dem Honorar aus dem Innenministerium bezahlt werden kann und dann später von Oxleas Trust übernommen wird.

Evaluation: Bericht über eine konkrete Durchführung Fünf aktive Eltern wurden in zwei Interviews über ihre Gedanken und Gefühle in Bezug auf ihre aktive Mitarbeit befragt. Beide Interviews haben eine Länge von zwanzig Minuten. Sie wurden auf Video dokumentiert. Ein erstes Interview

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mit drei Eltern wurde ins Deutsche übersetzt. Der volle Text des Interviews findet sich am Schluss dieses Beitrags. Arbeitsgruppen zu dritt wurden gebildet, in denen sich die Teilnehmer (professionelle Elterncoaches) vorzustellen versuchten, dass sie graduierte Eltern seien, die sich entschlossen hätten, aktiver an den NVR-Projekten teilzunehmen. Zwei Mitglieder sollten sich vorstellen, dass sie sich bereits von derselben NVR-Gruppe kennen würden, während das dritte Mitglied von einer anderen NVR-Gruppe sein sollte. Jede Gruppe sollte sich eine Aktivität aus der Liste der Elternaktivitäten aussuchen und die Dreiergruppe sollte für 15 Minuten diskutieren, wie sie an diese Aktivität herangehen will. Sie wurden außerdem gebeten, ein bis zwei Themen, die bei ihrer Diskussion aufkamen, zu notieren, um sie anschließend der Gesamtgruppe vorzustellen. Nachdem die Interviews gezeigt wurden, sollten die Teilnehmer dann ihre eigenen Themen mit denen der Oxleas-Eltern vergleichen. In der anschließenden Diskussion sollten sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Themen identifizieren und sich fragen, ob sie die Eltern, mit denen sie in ihrem beruflichen Feld arbeiten, zu einer ähnlichen aktiven Mitarbeit bewegen könnten, und welcher Nutzen und welche Widerstände von Seiten der Klienten-Eltern oder ihrer Organisationen möglicherweise zu erwarten seien. Vorgeschlagene Themen waren: –– Wir wollen weiterlernen. –– Wir wollen etwas an andere zurückgeben, weil wir profitiert haben. –– Sind wir sicher und erfahren genug, um anderen helfen zu können, besonders wenn wir ohne professionelle Gruppenleiter auskommen müssen (Elternklub)? –– Wer unterstützt uns, wenn wir im Elternklub nicht mehr weiter wissen und wenn wir mit extremer Verzweiflung konfrontiert werden? –– Sind wir verantwortlich, wenn wir anderen Eltern einen Rat gegeben haben, der kein gutes Ergebnis bringt? –– Machen wir den Job der Professionellen? Werden unsere Ansichten von anderen Eltern und von den Professionellen wirklich ernst genommen? –– Werden wir genug Zeit haben, um gute Ergebnisse zu liefern? –– Haben wir schon genug Wissen über NVR, um es an andere weiterzugeben? Folgende Beobachtungen, Hypothesen und Kommentare zum Eltern-Interview von Oxleas gab es: –– zunehmendes Selbstvertrauen, das von ihnen selbst und von anderen beobachtet wurde;

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Eltern mit- und füreinander

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–– Fähigkeit, öffentlich über persönliche Erfahrungen zu sprechen; –– Überraschung, dass Professionelle den Eltern zuhören wollen; –– Realisierung und Überraschung, dass sie etwas für andere Eltern und für Professionelle anzubieten haben, und dass das, was sie sagen, einen Unterschied für deren Verständnis von NVR macht; –– ein besseres und tieferes Verständnis der NVR-Prinzipien, indem sie diese immer wieder rekapitulieren; –– das Bedürfnis, etwas an diejenigen zurückzugeben, von denen sie während ihrer eigenen Zeit der Hilfesuche unterstützt wurden; –– die Erkenntnis, dass es einen großen Unterschied in ihren Familien- und Paarbeziehungen vor und nach dem Gruppenprogramm gibt; –– die Erkenntnis, dass NVR ihrer Familie Hilfe, Hoffnung und Ermutigung gegeben hat; –– die Freude, Teil des größeren NVR-Teams zu sein; –– weiteres Lernen von anderen Eltern und Professionellen; –– die Befriedigung zu sehen, wie andere Eltern sich durch das Programm verändern, nachdem sie ihnen geholfen und ihnen Hoffnung gemacht haben; –– Verbesserung ihrer eigenen Empathie und ihres Verstehens anderer; –– mitzuhelfen, dass andere Eltern NVR verstehen; –– gute Partnerschaft im NVR-Team; –– Befriedigung, den Elternklub allein anzuleiten; –– Haim Omer kennen zu lernen und zu interviewen; –– sich selber als Unterstützer von NVR zu sehen; –– die Idee von NVR verbreiten helfen zu wollen. Abschließend verfassten die Teilnehmer Botschaften mit einer Rückmeldung an die Eltern: –– »Ihr seid die Experten. Macht weiter!« (»You are the experts! Continue!«) –– »Liebe Eltern. Euer Interview hat mich ermutigt, Eltern mehr in die Arbeit mit Eltern einzubeziehen und darauf zu vertrauen, dass Eltern, die helfen wollen, gefunden werden können. Danke für das Interview!« (»Dear parents. Your interview has encouraged me to include parents more in the work with parents and to be confident, that parents who want to help can be found. Thank you for the interview.«) –– »Liebe Eltern. Es war sehr eindrucksvoll zu sehen, wie mutig ihr einander unterstützt. Ich arbeite in einem Beratungszentrum für jugendliche Drogenbenutzer und ich würde mich gern von eurem Mut anstecken lassen und ich werde versuchen, eine ähnliche Gruppe zu entwickeln. Vielleicht wird es bald Elterngruppen geben, die international verknüpft sind.« (»Dear parents. It

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Elisabeth Heismann

has been very impressive to see how courageously you are supporting each other. I work in a counselling centre for ›using‹ adolescents and I would like to be infected by your courage and I will try to develop a similar parent group. Maybe soon there will be parent groups, which are internationally connected.«) »Eure Arbeit, Erfahrung und Engagement machen das Projekt vollständiger.« (»Your work, experience and engagement make the project more complete.«) »Nur durch Eure Mitarbeit wird eine Atmosphäre von Zusammengehörigkeit kreiert, die alle bereichert und allen gut tut. Ich bin von eurer Arbeit beeindruckt! Danke!« (»Only through your participation an atmosphere of togetherness is created which enriches and benefits everyone. I am impressed by your work! Thank you.«) »Was ihr als Eltern berichtet, ist für andere Eltern hilfreich und ist sehr professionell. Ihr habt einen Zugang zu den Klienten, den Professionelle nicht im gleichen Ausmaß erreichen können.« (»What you report as parents is very helpful for other parents and most professional. You have an access to the clients which professionals cannot reach to the same extent.«) »Wir haben euch hier vermisst. Und: Ja, wir sind sehr an euren Erfahrungen und Erkenntnissen interessiert. Macht weiter!« (»We missed you here. And: Yes! We are very much interested in your experiences and knowledge. Keep on going!«) »Euer Konzept passt total mit den NVR-Prinzipien zusammen. Hilfe zur Selbsthilfe! Wir werden darüber nachdenken, wie wir diese Idee hierher übertragen können.« (»Your concept fits superbly to the principles of NVR! Help to help yourself! We will think about how we can transfer this idea.«) »Wir haben vor euch Respekt. Ihr ermutigt uns, weiterzumachen und in unserer Zusammenarbeit aneinander Anteil zu nehmen.« (»We have respect for you. You encourage us to stay and work together with compassion!«)

Das Feedback der Teilnehmer und Teilnehmerinnen war durchgehend positiv. Die Teilnehmer fühlten sich informiert, angeregt und ermutigt, ihre KlientenEltern stärker zur weiteren Mitarbeit einzuladen. Im Folgenden soll nun das Interview im Wortlaut wiedergegeben werden.

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Eltern mit- und füreinander

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Graduierte Eltern im Interview Das Interview mit Beth, Roger und Sarah führte die Autorin. Elisabeth: »Wir reden heute über die Elternmitarbeit, die ihr im NVR-Projekt macht. Könnt ihr mir sagen, wie ihr anfangs als graduierte Eltern beteiligt wurdet? Wurdet ihr eingeladen, oder habt ihr euch selbst vorgeschlagen? Wie ist das passiert?« Beth: »Für uns war es am Ende des Zehn-Wochen-Programms und wir waren, wie alle anderen auch, eingeladen worden, weiterzumachen und Unterstützer zu werden, falls wir das wollten. Es hatte in unserem Leben soviel verändert, dass wir denjenigen etwas zurückgeben wollten, die uns durch das Programm unterstützt hatten.« Elisabeth: »Habt ihr das zu Hause besprochen?« Beth: »Ich glaube, wir hatten bereits vor Ende des Programms besprochen, dass wir weitermachen und Teil des Programms werden wollten.« Roger: »Weil wir schon ganz begeistert davon waren.« Beth: »Wir fanden, dass es große Veränderungen in unseren Familien bewirkt hatte, und wir hatten gemerkt, wie viele andere Leute mit Problemen es gibt und dass dieses Programm auch zu ihnen kommen und ihnen helfen könnte.« Elisabeth: »Wie war es für dich, Sarah?« Sarah: »Es hat mir die Augen geöffnet. Soweit ich mich erinnere, habe ich mich freiwillig gemeldet, um mit NVR als graduierte Eltern weiterzumachen. Weil ich – genau wie ihr – etwas (an NVR) zurückgeben wollte, da es mir so sehr geholfen hatte. Es war also eine Art Dankeschön und weil ich anderen Eltern helfen wollte.« Elisabeth: »Und nun seid ihr alle schon einige Jahre lang aktiv dabei. Wie seht ihr eure Mitarbeit in den NVR-Projekten? Seid ihr froh, dass ihr mitmacht? Gibt es etwas, was ihr bedauert?« Roger: »Nein, wir sind froh, dass wir mitmachen. Und dass wir anderen Eltern helfen können, denselben Weg zu gehen wie wir, um ihre Familienbeziehungen wiederaufzubauen und sie von einem sehr miserablen Leben wegzuführen.« Beth: »Und ich glaube, dass unsere Mitarbeit uns hilft, uns als Teil des Teams zu fühlen und gleichzeitig andere Leute zu unterstützen. Wir haben auch gesehen, wie sich das Programm weiterentwickelt und sich auf andere Bereiche ausgeweitet hat. Und wir haben jetzt andere Projekte, wie zum Beispiel den Elternklub, den wir selber – mit Unterstützung des Teams – leiten, und dann die Entwicklung der NVR im nationalen Rahmen und dass wir beim Training für Gruppenleiter mitarbeiten. Anfangs dachte ich, dass wir nur für die Eltern

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da wären, aber wir scheinen unsere Rolle auszuweiten und wir lernen die ganze Zeit auch von anderen Eltern und Professionellen. Damit wächst auch unsere eigene Erfahrung. Es scheint mir, dass die Beziehung zwischen Eltern und Professionellen sehr gut funktioniert.« Sarah: »Ich bekomme sehr viel von meiner weiteren Mitarbeit. Wenn man das Zehn-Wochen-NVR-Programm macht, ist in den zehn Wochen eine Menge aufzunehmen. Deshalb hilft mir meine weitere Mitarbeit, dass alles in meiner Erinnerung frisch bleibt und dass ich weiterlerne. Ich mache auch gern das Training für Gruppenleiter, besonders wenn ich über NVR spreche und darüber, wie die verschiedenen NVR-Tools funktionieren.« Elisabeth: »Und ihr habt sogar Haim während der Konferenz interviewt.« Beth: »Ja, tatsächlich. Das war ein absolutes Privileg.« Elisabeth: »War das ein Höhepunkt?« Roger: »Ja, das war es. Es war ein wirkliches Privileg, ihn zu treffen, zu interviewen und zu hören, was er zu sagen hatte.« Sarah: »Er ist ein Genie.« Beth: »Zu der Konferenz zu gehen war ein Augenblick, der mich sehr tief berührt hat. Ihr habt uns gebeten, unsere Erlebnisberichte mitzuteilen, was zu dem damaligen Zeitpunkt ein wenig traumatisch war. Aber ich hatte niemals die anschließende Reaktion von all den Anwesenden erwartet. Viele Leute kamen zu uns und bedankten sich bei uns, dass wir das gemacht haben, und erzählten uns, was für einen tiefen Eindruck es auf sie gemacht hatte. Ich hatte überhaupt keine Idee, dass unsere Anwesenheit dort wirklich helfen würde, auch anderen Leuten helfen würde.« Elisabeth: »Gab es andere Dinge, über die ihr sehr froh seid?« Roger: »In meiner kleinen Gruppe, die ich mit anleite, kommen Leute hinterher spontan zu mir und sagen, wie hilfreich es war, dass ein Elternteil anwesend war, der tatsächlich die Dinge selbst erlebt hat. Es half ihnen, dass jemand tatsächlich verstanden hat, durch was sie hindurch mussten. Das war ein gutes Gefühl.« Beth: »Ich finde, man findet eine Art Gleichgewicht. Als wir im Programm waren, haben wir natürlich von euch Experten Ratschläge bekommen, aber dann Fiona und ihre persönliche Geschichte zu hören, das bedeutete für mich: ›Ja, du bist selber auch da gewesen und weißt aus eigener Erfahrung, wie es ist.‹ Und heute – nach der Testgruppensitzung – haben einige Leute gesagt: ›Du hast mir Hoffnung gemacht, dass wir auch etwas machen können und wir werden versuchen, in das Gruppenprogramm zu kommen.‹ Es ist eine andere Perspektive, die wir durch unsere Mitarbeit anbieten können«. Elisabeth: »Das hilft dir weiterzumachen, wenn du das hörst.« Beth: »Es tut uns unglaublich gut zu wissen, dass wir am Ende des Tages etwas

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bewirkt haben. Wir sind genauso Eltern wie sie und sind durch dieselben schwierigen und unangenehmen Erfahrungen und Zeiten zu Hause durchgegangen.« Sarah: »Du hattest recht, als du sagtest, dass man sich selber wiedererkennt, wie du vor ein bis zwei Jahren warst, wenn du den Eltern zuhörst. Man denkt: ›Ich war an derselben Stelle.‹« Beth: »Am Anfang des Gruppenprogramms trifft man Leute und denkt, ich erinnere mich, als ich zum ersten Mal eine Gruppe mitgeleitet habe, saß ich da und dachte: ›Vor einem Jahr war ich das.‹ Bei den Interviews weinten einige und ich erinnere mich, dass ich zu einer Mutter sagte: ›Vor einem Jahr war ich es, die hier weinend saß, genau wie du.‹ Dinge können sich verändern. Man kann jemandem diese Art von Hoffnung machen.« Sarah: »Man kann wirklich mit ihnen mitfühlen, weil man genau weiß, wie sie sich fühlen, wie schlecht sie sich fühlen.« Elisabeth: »Und gibt es irgendetwas, was ihr bedauert? Gibt es irgendwelche negativen Aspekte in eurer Mitarbeit?« Roger: »Manchmal ist es negativ, wenn man daran erinnert wird, wie schrecklich die Situation gewesen ist, und manchmal kann das aber auch gut sein, weil wir realisieren, wie weit wir gekommen sind.« Beth: »Ja, das ist wahr. Denn manchmal wird das Leben mit dem Programm so viel besser. Aber wir haben immer noch unsere Hochs und Tiefs. Wenn man gerade durch ein Tief geht und zum Beispiel mitten im Programm ist und versucht, andere Leute aufzurichten, und dabei denkt: ›Mein eigenes Zuhause ist im Moment selbst furchtbar‹, war das schwierig. Dann musste man erklären, was man selber erlebt hat. Ich denke, dass es mit der Zeit weniger ans Eingemachte geht, aber nach einem Jahr war es immer noch hart und mischt dich ein wenig auf, aber am Ende hilft es einem zu verstehen, was andere Leute durchmachen müssen.« Elisabeth: »Gab es Augenblicke, in denen ihr etwas erlebt habt, auf das ihr nicht vorbereitet wart, oder die euch überrascht haben? Gab es solche Augenblicke?« Beth: »Vielleicht die Vorträge. In der Vergangenheit hatte ich bereits Vorträge gehalten, aber nie über persönliche Dinge. Das fand ich ziemlich schwierig. Aber auch das wird einfacher.« Sarah: »Ja, ich habe auf der Konferenz gesprochen. Das war ein wenig kompliziert, da ich nicht gewöhnt bin, vor einem Publikum öffentlich zu sprechen. Aber dadurch, dass ich mehr und mehr mitmache, wird es viel einfacher.« Elisabeth: »Du hast das jetzt bereits mehrmals gemacht, vor einem Publikum zu sprechen. Wird es einfacher?« Sarah: »Ja, ich fühle mich ein bisschen wohler dabei.« Elisabeth: »Gut. Was hilft dir dabei, dich wohler zu fühlen?«

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Sarah: »Je öfter ich es mache, desto mehr gewöhne ich mich daran.« Elisabeth: »Und bist du selbst darüber überrascht?« Sarah: »Ja, das bin ich.« Beth (zu Sarah): »Du bist viel selbstsicherer geworden.« Elisabeth: »Gab es irgendwelche Augenblicke, die für euch bedeutend waren, für euch selber oder für NVR?« Beth: »Für mich war es, auf der Konferenz zu sehen, dass Leute uns zuhören wollten. Und dass wir ihnen helfen konnten. Wir haben die Leute dazu gebracht, die Sache auch aus der Elternperspektive zu sehen. Vorher habe ich nicht gedacht, dass ich irgendetwas anzubieten hätte, und plötzlich merkte ich, dass ich, dass wir etwas anzubieten haben.« Sarah: »Ich glaube, dass es für neue Eltern, die das NVR-Programm machen werden, wirklich wichtig ist, dass sie mit anderen Eltern sprechen können, die das durchgemacht haben, was sie gerade durchmachen, und die das NVR-Programm bereits durchlaufen haben. Das sind wirkliche Stimmen und wirkliche Leute, die da sitzen und ihnen sagen: ›Ich habe selber in deinen Schuhen gesteckt.‹ Das halte ich für sehr wichtig.« Beth (zu Sarah): »Ja, als wir dich das erste Mal trafen …« Roger: »Das war im Interview.« Beth: »Und als ich dachte: ›Ich will das wirklich nicht machen. Ich will nicht an einer Gruppe teilnehmen‹ und als wir am Ende unseres Gesprächs mit dir zusammen waren, dachte ich: ›Nein, ich werde es ausprobieren.‹« Sarah: »Dann war ich ja wohl doch nicht so furchteinflößend, oder?« Beth: »Nein, ganz und gar nicht. Du warst der Wendepunkt.« Roger: »Wir haben immer wieder erlebt, dass Leute nach den Interviews zu uns kamen und uns erzählten, dass sie – wenn sie nicht mit uns gesprochen hätten – den Kurs vielleicht nie weitergemacht hätten. Wir haben also einen Einfluss.« Elisabeth: »Ihr habt also einen Einfluss auf die Eltern und auf die Professionellen, denn auf der Konferenz waren Professionelle, und die waren ebenfalls sehr beeindruckt von den Lebensgeschichten der Eltern. Das ist eine sehr interessante Beobachtung.« Beth: »Es ist tatsächlich überraschend. Ich wollte anfangs niemandem erzählen, was ich durchgemacht habe, und dann habe ich auf einmal festgestellt, dass man anderen helfen kann, wenn man seine Erfahrungen mitteilt.« Elisabeth: »Wenn jemand im Elternklub über eine wirklich tiefe und schwierige Erfahrung zu Hause redet, was glaubt ihr, wollen sie als Reaktion von euch und wie fühlt ihr euch dann?« Roger: »Ich weiß nicht, was sie von uns wollen. Aber ich sehe unsere Rolle darin, dass wir versuchen, das Problem vom Standpunkt der NVR aus zu sehen und

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ihnen mit Hilfe der NVR-Prinzipien zu verstehen helfen, wie sie das Problem angehen können. Und ich nehme an, dass es das ist, was sie wollen, denn sie sind ja da, um weiterhin von dem Programm unterstützt zu werden.« Elisabeth: »Ihr haltet also die Fahne der NVR für sie hoch und erinnert sie daran.« Roger: »Indem sie zum Beispiel eine weitere Ankündigung machen oder ein Sit-in oder eine Deeskalation, alles Hauptprinzipien der NVR, und wir versuchen, sie auf den Weg zurückzubringen.« Sarah: »Und wir verurteilen sie nicht. Wir würden niemals sagen: ›Oh nein, ihr macht alles völlig falsch, ihr müsst es auf diese Weise machen!‹ Wir geben ihnen Rat und Unterstützung und hören ihnen zu.« Beth: »Ich stimme zu, Mitgefühl und Verständnis und keine Verurteilung, weil wir da sind, um uns gegenseitig zu unterstützen.« Roger: »Aber gleichzeitig versuchen wir, Vorschläge auf der Basis der NVRPrinzipien zu machen.« Beth: »Ja, natürlich.« Elisabeth: »Also basiert eurer Rat ausschließlich auf den NVR-Prinzipien?« Roger: »Nur darauf.« Elisabeth: »Das ist hilfreich zu wissen.« Beth: »Was wir durch die Teilnahme an anderen Programmen und von unseren eigenen NVR-Programmen und von Gesprächen mit Eltern in der ganzen Zeit gelernt haben.« Elisabeth: »Ihr habt an anderer Stelle im Interview gesagt, dass ihr euch manchmal selbst sehr angreifbar fühlt, weil die Probleme in eurer Familie ja nicht weggegangen sind. Nur dass ihr sie anders angeht. Aber wenn ihr dann durch die anderen Eltern mit ähnlichen Problemen daran erinnert werdet, heißt das für euch, dass ihr euren eigenen Traumata wiederbegegnet? Findet ihr das schwierig?« Beth: »Ich glaube, das wird mit der Zeit einfacher. Weil wir inzwischen zwei Jahre über unsere Krise hinweg sind, ist es weniger schwierig. Aber wir reden immer nur über unsere eigenen Erfahrungen oder über andere Geschichten, die man uns erzählt hat, wenn wir versuchen, anderen Eltern zu helfen. Wir würden zum Beispiel nicht sagen: ›Du musst das und das machen.‹ Das würde dann manchmal schwierig werden. Wir hatten mal jemanden, der uns eine E-Mail geschickt hat: ›Ich habe folgendes Problem. Was soll ich damit machen?‹ Wir sind keine Professionellen. Wir können ihnen nicht sagen, was sie machen sollen. Deshalb haben wir eure Unterstützung, die wir in Anspruch nehmen können.« Elisabeth: »Und würdet ihr dafür mehr Unterstützung von uns haben wollen oder habt ihr genug Unterstützung? Wenn ihr in solche Situationen geratet, in denen ihr euch nicht kompetent genug fühlt, oder das Problem geht über das

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hinaus, womit ihr umgehen könnt – ist das ein Bereich, wo ihr mehr Unterstützung vom NVR-Team haben wollt?« Beth: »Im Moment ist das bisher erst einmal passiert und wir haben die Unterstützung, dass wir das an euch weiterleiten können. Wir können einfach sagen: ›Es tut uns leid, wenn wir euch keinen Rat geben können, aber wir können es an die Professionellen weiterleiten.‹« Elisabeth: »Okay.« Beth: »Wir können also eine Art von Verbindungsglied sein, aber unsere Rolle ist nicht die eines Ratgebers.« Elisabeth: »Und die Eltern, die mit der Erfahrung an euch herangetreten waren, haben die die professionelle Unterstützung genutzt? Haben sie auf euch gehört? Wisst ihr, was sie gemacht haben?« Beth: »Ich weiß nicht mehr, ob wir soweit gekommen sind. Wir haben es diskutiert. Ich glaube, dass wir ihnen gesagt haben, was wir in der Situation getan hätten, und ich glaube, es ging an der Stelle nicht weiter, aber das hat uns gezeigt, dass das ein mögliches Problem werden könnte.« Roger: »Sie haben das ausprobiert, was wir gesagt haben, was wir in derselben Situation tun würden, und haben uns eine E-Mail geschickt, dass es enorm geholfen hat.« Beth: »Das stimmt. Es hat irgendwie aufgezeigt, dass es Situationen geben könnte, wo wir jemanden anderen einbeziehen müssen, wenn wir nicht mehr weiter wissen. Wir können nur von unserer eigenen Erfahrung her sprechen.« Elisabeth: »Es ist also nicht im Elternklub passiert, sondern in einer E-Mail?« Beth: »Nach dem Elternklub.« Elisabeth: »Nach dem Elternklub.« Beth: »Das ist eine ständig wachsende Gruppe.« Elisabeth: »Als Paar könnt ihr so etwas ja zusammen besprechen, aber mit E-Mails wie dieser könntet ihr auch auf euch selber gestellt sein, wohingegen ihr im Elternklub immer zu mehreren seid, die aktiv involviert sind und die dann so etwas miteinander diskutieren können und möglicherweise die Sache aus verschiedenen Perspektiven angehen könnten.« Sarah: »Wenn man selber eine ähnliche Situation erlebt hat, kann man Rat geben.« Elisabeth: »Ich würde gern wissen, was ihr denkt, wie ihr euch verändert habt, und wenn ja, was sich in euch durch die aktive Mitarbeit in den NVR-Programmen verändert hat?« Roger: »Wir haben ein tieferes Verständnis von NVR entwickelt. Je mehr man es versteht, desto besser kann man es anwenden. Ich glaube, das ist der Gewinn. Es ist nicht alles Selbstlosigkeit.«

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Beth: »Nein, ich würde sagen, dass ich immer noch lerne. Es hat mir die Augen für einen anderen Teil der Welt geöffnet. Mir war bisher noch nicht bewusst, dass es so viele Menschen gibt, die in derselben Situation wie wir sind. Ich dachte immer, dass es nur bei uns so war und dass die Familien aller anderen perfekt sind. Das hat mir die Augen geöffnet.« Elisabeth: »Wie hat es euch verändert, dass ihr aktiv mitarbeitet?« Beth: »Ich glaube, dass ich andere jetzt besser verstehe. Es hat mir geholfen zu verstehen, dass ich etwas anzubieten habe, was ich vorher nicht wahrgenommen habe.« Elisabeth: »Wie ist das für dich, Sarah?« Sarah: »Ich würde sagen, dass es mich zu einer positiveren Person gemacht hat, etwas bewusster und selbstbewusster.« Elisabeth: »Ja, du hast über die Jahre besonders an Selbstbewusstsein gewonnen.« Sarah: »Ja, vom Zeitpunkt an, als ich anfing.« Elisabeth: »Haben andere Leute das bemerkt?« Sarah: »Ja, Leute haben es bemerkt. Meine Familie. Freunde.« Elisabeth: »Ja, wenn man bedenkt, dass du vor einer gesamten Konferenz gesprochen hast …« Sarah: »Ja, ich weiß.« Elisabeth: »Und vor Professionellen. Das war eine steile wichtige Lernerfahrung für dich.« Sarah: »Mmh.« Elisabeth: »Habt ihr eine Botschaft für Eltern, die vielleicht auch überlegen, ob sie aktiv mitarbeiten wollen? Was würdet ihr denen sagen, wenn sie euch um Rat fragen würden oder wenn es im Elternklub als Frage aufkäme?« Roger: »Unser Rat wäre, es zu tun.« Beth: »Auf jeden Fall.« Roger: »Sie helfen anderen Eltern und sich selber.« Sarah: »Ja, es tut einem selber gut, wenn man die Veränderung in den anderen Eltern sieht.« Elisabeth: »Also positive Veränderungen.« Sarah: »Ja.« Beth: »Zu merken, dass man dazu beigetragen hat, dass ganze Familien sich verändert haben, und sie am Anfang des Kurses zu sehen und die Veränderung in ihnen. Wenn man dazu beigetragen hat, ist das in der Tat ein sehr befriedigendes Gefühl.« Elisabeth: »Und wie ihr wisst, wir haben das bereits besprochen, werde ich unser heutiges Gespräch zu einer Konferenz in Deutschland mitnehmen, zu der Professionelle kommen, die eine ähnliche Arbeit wie wir hier machen. Ich könnte

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mir vorstellen, dass sie daran interessiert sein könnten, dass auch ihre Eltern aktiv mitarbeiten. Habt ihr eine Botschaft für die Professionellen über die Mitarbeit von graduierten Eltern?« Beth: »Um es noch einmal zu sagen: Ich bin nur eine Mutter und denke deshalb nicht, dass es mein Recht ist, Professionellen vorzuschreiben, was sie tun sollen. Aber die Beziehung zwischen Eltern und Professionellen scheint zu funktionieren, wenn es zum Nutzen von anderen Eltern ist, die durch die Gruppe kommen. Dass sie ein Team haben und dass sie beide Perspektiven bekommen, die Perspektive der Eltern und die Erfahrung der Professionellen. Und es ist auf jeden Fall nützlich, dass die graduierten Eltern eine kontinuierliche Unterstützung haben.« Elisabeth: »Irgendwelche Botschaften von euch beiden?« Sarah: »Wie ich bereits sagte, ich sehe das Ganze wie Beth.« Beth: »Wenn Eltern nicht zu uns zurückgekommen wären, um uns zu sagen: ›Es hat für uns einen Unterschied gemacht, dass wir auch euch zuhören und mit euch sprechen konnten‹, würden wir wahrscheinlich nicht glauben, dass das der Fall ist.« Roger: »Es ist vielfach der Fall gewesen.« Beth: »Nicht nur wir haben das gesagt. Wir hatten Aussagen von anderen Leuten, die das auch gesagt haben.« Elisabeth: »Irgendwie scheint der Begriff ›Ermutigung‹ aufzukommen. Also dass Eltern und auch Professionelle ermutigt werden müssen. Gibt es eine Botschaft über Ermutigung, etwas auszuprobieren, was sie nicht kennen, aber sinnvoll ist zu tun?« Beth: »Ich vermute, dass es ein bisschen wie NVR ist, etwas Neues auszuprobieren, etwas anderes zu tun und zu sehen, ob es für sie funktioniert. Wenn es in ihrer Kultur nicht üblich ist, könnte es sich ein bisschen unbequem anfühlen. Genau wie NVR sich manchmal unbequem anfühlt, wenn man es in der Familie anwendet. Aber versucht es und findet heraus, ob es wirkt!« Roger: »Warum versucht ihr es nicht selbst einmal und findet heraus, ob es funktioniert?« Beth: »Ja, macht Sachen einmal etwas anders! Es scheint bei uns zu wirken.« Elisabeth: »Gibt es eine Übereinstimmung zwischen den NVR-Prinzipien und eurer aktiven Mitarbeit?« Beth: »Ich denke, wir sind Unterstützer des Programms.« Sarah: »Und bleiben beharrlich dabei. Wir wenden NVR als graduierte Eltern weiterhin an.« Elisabeth: »Und eine andere Sache ist auch, dass wir immer wieder neue Ideen haben und damit die Weiterentwicklung des Programms beeinflussen. Es ent-

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wickelt sich ständig weiter und kreiert neue Ideen. Neue Ideen werden ausprobiert und ihr seid diejenigen, die diesen Prozess genauso wie wir vorantreiben, und wir lernen voneinander.« Sarah: »Der NVR-Newsletter ist eine andere Art und Weise, wie wir die Botschaft von NVR verbreiten.« Elisabeth: »Genau. Und das Buch mit den Zeugnissen von Eltern, das Haim im Interview vorgeschlagen hat.«

Nachbemerkung Die Eltern in England waren sehr überrascht und berührt, als sie die Botschaften der Teilnehmer aus Deutschland bekamen. Sie waren anfangs sehr skeptisch gewesen, ob ihr Interview veröffentlicht werden sollte, da sie es für etwas steif hielten. Nach dem positiven Feedback waren sich alle einig, dass das Interview veröffentlicht werden kann. Für die Autorin waren besonders die Botschaften in beide Richtungen wichtig, da durch sie ein Stück aktiver interkultureller NVR-Kommunikation stattgefunden hat, die sehr wünschenswert ist und daher in Zukunft noch weiter ausgebaut werden sollte.

Vertiefende Literatur Day, E., Heismann, E. (2006). Non-violent Resistance Programme (Manual mit CD-Rom und DVD). Brighton: Pavilion Publishing House. de Silva, D. (2011). Helping people help themselves. A review of the evidence considering whether it is worthwhile to support self-management. London: Health Foundation. Tait, L., Lester, H. (2005). Encouraging user involvement in mental health services. Advances in Psychiatric Treatment, 11, 168–175.

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Elterliche Präsenz und die Entwicklung der hilfreichen Ankerfunktion: Ein Praxisbeispiel aus der Familien- und Schulberatungsstelle Herne

Familie D. Über mehrere Jahre begleitete ich im Rahmen eines Elterncoachings an der Familien- und Schulberatungsstelle in Herne eine Familie, die sich mit wechselnden Anliegen immer wieder an die Beratungsstelle wandte. Dabei nannten die Eltern im Laufe der Zeit ein breites Themenspektrum. Es reichte in den Anfängen von massivem oppositionellen Verhalten über soziale Delinquenzen des Sohns mit Rückzug in kritische Peergroups bis hin zu Alkohol- und Drogenmissbrauch. Ende 2011 baten die Eltern wiederum um Unterstützung. Dieses Mal hatte sich der Sohn extrem von der Familie zurückgezogen und verbrachte die meiste Zeit des Tages an seinem PC. Diesen letzten Coachingprozess gestaltete ich zusammen mit meiner Kollegin Christiane Cordes. Insgesamt kann auf einen achtjährigen Beratungsprozess zurückgeblickt werden, teilweise allerdings mit mehrjährigen Unterbrechungen. In den stattgefundenen Beratungen kamen dabei die Elemente der elterlichen Präsenz und der neuen Autorität zum Tragen. Es ist sicherlich nicht repräsentativ, dass Familien mit diversen Coachinganliegen immer wieder über eine so lange Zeit um Hilfe und Unterstützung bitten. Oft genug machen wir dagegen die Erfahrung, dass das Leben innerhalb der Familien mit Kindern, die ein besonders Verhalten aufweisen, für die Betroffenen mit der Unterstützung durch einen einmaligen Coachingprozess wieder lebbarer geworden ist und sich das Anliegen anschließend erübrigt hat. Das Praxisbeispiel der Familie D.1 soll nun aufzeigen, wie sich das auffällige Verhalten des Sohnes im Laufe der Jahre verändert hat, die Anforderungen an die Eltern immer größer wurden, deren Verzweiflung stetig wuchs und wie es schließlich gelang, durch entsprechende Modifizierungen und Settingveränderungen innerhalb des Coachings zu einem guten und erfolgreichen Abschluss zu kommen. 1

Alle persönlichen Daten der Familie wurden geändert.

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Während der 5. Osnabrücker Tagung – Elterliche und Professionelle Präsenz im kulturellen Kontext vom 27. September bis 29. September 2012 wurde im Rahmenprogramm ein Videozusammenschnitt des Auswertungsgesprächs mit der Familie D. gezeigt. An dem Reflexionsgespräch nahmen neben den Coaches und den Eltern auch die im letzten Prozess ständig mit anwesenden Unterstützer teil. Gefragt wurde danach, was für die Familie hilfreich war, was für die Familie den Unterschied ausgemacht hat. Das Video gibt zudem einen Überblick über den gesamten Prozessverlauf.2 An dieser Stelle sei noch erwähnt, dass die hier angesprochenen Haltungen, Methoden und Interventionen der neuen Autorität bei den Lesern als bekannt vorausgesetzt werden. Auf entsprechende Querverweise zu den Texten und Büchern wird deshalb verzichtet; nicht zuletzt auch, da es sich hier in erster Linie um eine Fallbeschreibung handelt.

Die Erziehungs- und Schulberatungsstelle in Herne Herne ist ein Mittelzentrum im Herzen des Ruhrgebiets mit allen Problemen des sozialen und gesellschaftlichen Strukturwandels. Die Arbeitslosigkeit in Herne liegt zurzeit bei ungefähr 15 %. Auch in der alltäglichen Arbeit der Beratungsstelle schlagen sich die Herausforderung der Menschen in und um Herne nieder. Viele Themen innerhalb der Familien ranken sich um wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Die Opelkrise und die Schließung des Nokiawerkes vor einigen Jahren seien nur beispielhaft genannt. Die Erziehungs- und Schulberatungsstelle in Herne ist in kommunaler Trägerschaft und Teil der öffentlichen Jugendhilfe nach §§ 27 ff SGB VIII. Mit dem Auftrag der Erziehungs- und Familienberatung ist sie die größte und einzige Beratungsstelle im Stadtgebiet. Circa 55 % der Klienten sind Selbstmelder, circa 45 % der Klienten kommen auf besondere Empfehlung der Schulen und der örtlichen Tageseinrichtungen für Kinder. Teilweise gibt es auch direkte Zuwei-

2 Im Anschluss an die Osnabrücker Tagung erhielt ich viele ermunternde Rückmeldungen, verbunden auch mit der Einladung, sich mit einem Fallbericht an diesem Band zu beteiligen. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. Mein Dank gilt natürlich auch meiner Kollegin Christiane Cordes, die wesentlich zu dem letztendlich erfolgreichen Beratungsabschluss mit der Familie D. beigetragen hat. Nicht zu vergessen Frank Wecker, der Leiter der Beratungsstelle, der wunderbare Unterstützung bei der Produktion und Herstellung der DVD geleistet hat.

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sungen durch das Jugendamt, wobei die Erziehungsberatungsstelle eine eigenständige Abteilung des Jugendamtes ist. Circa 10 % der Klienten weisen einen Migrationshintergrund, meistens einen türkischen, auf. Das derzeitige Team der Beratungsstelle besteht aus insgesamt zwanzig Fachkräften (ca. zwei Drittel davon als Teilzeitkräfte), der Leitung (Diplompsychologe) sowie zwei Verwaltungskräften. Innerhalb Hernes hat die Erziehungsberatungsstelle eine mehr als 40-jährige Tradition. Von den Anfängen bis zu Beginn des neuen Jahrtausends war die Beratungsstelle als Institut für Diagnostik und Heilpädagogik mit einer deutlichen analytischen Ausrichtung organisiert. Erst mit dem Wechsel der Leitung im Mai 2001 veränderte sich das alte Institut zu einer modernen und ganzheitlich ausgerichteten Beratungsstelle. Das multiprofessionelle Team zeichnet sich durch eine hohe Fachkompetenz in diversen Spezialisierungen aus. Einige Fachkräfte arbeiten schon seit mehr als dreißig Jahren in der Beratungsstelle und blicken auf einen großen Erfahrungsschatz zurück. Viele Fachkräfte haben entsprechende Zusatzqualifikationen in den unterschiedlichen Fachrichtungen. Beispielhaft seien traumaorientierte, mediative, paartherapeutische und systemische Weiterbildungen genannt. So kann auf die unterschiedlichsten Anfragen der Klienten jeweils adäquat reagiert werden. Innerhalb dieses großen Teams sind die Einstellungen und Haltungen der neuen Autorität immer noch ein Spezialgebiet einer einzelnen Fachkraft. Teilweise wird den Ideen der elterlichen Präsenz auch noch mit Skepsis begegnet. In den Team- und Fallbesprechungen gilt noch eher die Regel, bei besonders massivem oppositionellem Verhalten die weitergehenden Möglichkeiten der öffentlichen Jugendhilfe bzw. die psychosozialen Institutionen auf den Plan zu rufen. Dies allerdings auch deswegen, da die zeitlichen Ressourcen der Fachkraft mit entsprechender Ausbildung im systemischen Elterncoaching begrenzt sind und die übrigen Fachkräfte trotz mehrerer teaminterner Fortbildungen bzw. Inhouse-Veranstaltungen zu dem Thema die Gedanken und Haltungen der elterlichen Präsenz nicht in ihren Beratungsalltag integriert haben.

Die Familiengeschichte Familie D. entspricht den landläufigen Vorstellungen einer gutbürgerlichen Familie mit durchschnittlichem Einkommensvermögen. Herr J. ist gelernter Geologe und freischaffender Historiker. Frau D. arbeitet als Verwaltungsangestellte. Die Herkunftsfamilie von Herrn J. weist schottische Wurzeln auf. Der

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Vater von Herrn J. wird als dominant beschrieben. Herr J. stand oft schützend zwischen Vater und Mutter. Die Mutter von Frau D. soll eher distanziert und abweisend der Tochter gegenüber gewesen sein. Als die Tochter gerade 19 Jahre alt war, verstarben beide Elternteile von Frau D. innerhalb von sechs Wochen. In dieser Tatsache sieht Frau D. auch einen möglichen Ursprung für ihre hohe Bereitschaft, in besonderer Art und Weise schnell und früh Verantwortung übernehmen zu wollen und diese auch gewissenhaft auszuführen. Thomas ist der erstgeborene Sohn von insgesamt zwei Kindern der Familie D.

Abbildung 1: Das Genogramm der Familie D.

Seine Entwicklungsgeschichte ist geprägt von vielen Sorgen und der Notwendigkeit, sich gut um dieses Kind kümmern zu müssen. Bezogen auf die Lebensgeschichte von Thomas ist anzuführen, dass Schwangerschaft und Geburt von Thomas problematisch verlaufen sind. Nicht genau geklärt sind die tatsächlichen Ursachen von festgestellten Entwicklungsverzögerungen. Aufgrund dieser Entwicklungsverzögerungen erhielt Thomas in den ersten beiden Lebensjahren Krankengymnastik nach Vojta, die überwiegend von der Mutter durchgeführt

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wurde. In den Folgejahren bekam der Junge eine umfangreiche therapeutische Unterstützung in den Bereichen Ergo- und Heilpädagogik sowie Logopädie. Frau D. konnte dabei auf ihre gelernten Strategien und Muster bezüglich der Ausübung von Verantwortung und sorgenvoller Tätigkeit zurückgreifen. Im Gegensatz zur zweitgeborenen Tochter Steffi, die bislang unkompliziert und ohne Probleme durch das Leben geht, erfolgreich in der Schule ist und sich innerhalb der Familienstruktur gut an die aufgestellten Regeln und Abläufe halten kann, sorgte Thomas schon immer für Unruhe und Aufregung innerhalb der Familie. Nicht nur seine vielen Therapien und die erhaltenden Fördermaßnahmen im frühen Kindesalter bestätigten das Muster der Sorge und die Notwendigkeit, sich in besonderer Weise um dieses Kind kümmern zu müssen. Auch die Schulzeit war von Anfang an von Schwierigkeiten geprägt. Thomas litt unter einer ausgeprägten Lese-Rechtschreib-Störung. Auf der einen Seite gab es das beschriebene sorgenvolle Muster bei den Eltern, insbesondere bei der Mutter. Dadurch geriet Thomas in eine exklusive Stellung innerhalb des Familiensystems. Gerade durch die teilweise schuldbesetzte und sorgenvolle elterliche Haltung und das daraus entstandene Erziehungsverhalten der Eltern konnte Thomas seine eher destruktiv ausgerichtete dominante Mittelpunktstellung innerhalb der Familie entfalten und einnehmen. Dies bekam mit zunehmendem Alter von Thomas auch die Schwester zu spüren, die zusehends in der Familie an den Rand gedrängt wurde. Thomas schreckte später auch vor Gewalt gegenüber seiner Schwester nicht zurück. Als gute Freunde der Familie sind Peter und Petra zu nennen. Sie stellten in der letzten Phase des Elterncoaching eine äußerst hilfreiche Ressource dar und konnten von den Eltern als Unterstützer gewonnen werden.

Fallverlauf Familie D. stellte sich erstmals Ende 2001 in der Erziehungsberatungsstelle vor. Da es damals vorrangig um die Überprüfung einer möglicherweise vorliegenden umschriebenen Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) ging, fiel der Fall zunächst in den Zuständigkeitsbereich der Kollegin von der angeschlossenen Schulberatungsstelle. Mit Hilfe des üblichen Diagnostikinstrumentariums (IQ-Überprüfung, Grundwortschatz- und Rechtschreibtest sowie verschiedene Testverfahren zur Klärung der emotionalen Befindlichkeit) wurde der LRS-Verdacht bestätigt und Thomas erhielt über mehrere Jahre eine entsprechende außerschulische Förderung. Gleichzeitig wurden die Eltern bezüglich ihres Erziehungsverhaltens bera-

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ten, so wie es damals üblich war. Schon damals gaben die Eltern an, dass Thomas mit seinen zehn Jahren die Familie voll im Griff habe und sich sehr provokativ verhalte. Die Mutter meinte, sie wisse teilweise nicht mehr, wie sie sich verhalten solle. Auch habe sie Thomas gegenüber immer wieder Schuldgefühle. (Erst sehr viel später sollte sich herausstellen, dass diese Schuldgefühle aus der im Säuglingsalter verordneten Krankengymnastik nach Vojta herrührten. Erfahrungsgemäß kann es immer wieder zu störenden Einflüsse in der Eltern-Kind-Interaktion nach und durch frühkindliche Therapien nach Vojta kommen.) Unterstützend wurde der Mutter die Teilnahme an einer Elterngruppe angeboten, die von einer damals noch in der Beratungsstelle tätigen psychoanalytisch ausgerichteten Psychologin geleitet wurde. Frau D. nahm an dieser Elterngruppe gut zwei Jahre lang regelmäßig teil. 2004, Thomas war mittlerweile zwölf Jahre alt und besuchte eine Gesamtschule in der fünften Klasse, meldete sich die Mutter erneut in der Beratungsstelle. Während eines gemeinsamen Sommerurlaubes lebte Thomas erstmals in aller Deutlichkeit seine errungene dominante Stellung innerhalb des Familiensystems aus. Sein stark oppositionelles und grenzverletzendes Verhalten sprengte für die Eltern das Maß des Erträglichen. Da nun in den Schilderungen der Eltern bezüglich ihres Anliegens nicht mehr die Schulschwierigkeiten im Mittelpunkt standen – hier konnten zu dem Zeitpunkt sehr positive Veränderungen festgestellt werden –, übernahm ich nach entsprechender Teamberatung den Fall. Ich kam frisch von einer der ersten Osnabrücker Tagungen, hatte die ersten Bücher von Haim Omer gelesen, war ihm in Osnabrück persönlich begegnet und war voller Tatendrang. Aus den Berichten der Eltern wurde deutlich, dass Thomas mit massiven Beschimpfungen und Beleidigungen gegenüber den Eltern sowie mit aggressiven und gewalttätigen Attacken gegenüber der Schwester die Eltern an den Rand ihrer Kräfte gebracht hatte. Sie fühlten sich in ihrer elterlichen Wirksamkeit hilf- und machtlos. Die Mutter war voller Angstfantasien, die wiederum im elterlichen Verhalten zu massiver ängstlicher Kontrolle führten. Thomas wurde von den Eltern quasi auf Schritt und Tritt beobachtet, hinter jeder Äußerung und hinter jeder Aktion des Sohnes wurde die nächste Attacke vermutet. Neben dieser Verzweiflung waren allerdings auch deutliche Ressourcen bei den Eltern erkenn- und spürbar. Sie waren zum einen voller Motivation, sie wollten deutlich die Veränderung und sie sahen durchaus in ihrem elterlichen Verhalten eigene Anteile, hatten also durchaus ein gewisses Reflexionsvermögen. Zum anderen, was vielleicht sogar noch wichtiger war, konnten beide Elternteile auch von Ausnahmen in dem Verhalten des Sohnes berichten, und beide Eltern erzählten auch von schönen Momenten mit dem Sohn. An dieser Stelle

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war die ehemals durchgängig gute Beziehung untereinander wieder spürbar und ganz nah. Das machte Mut und ließ für den Verlauf der Beratung einen positiven Ausgang möglich erscheinen. Innerhalb des Elterncoachings konnten die Ideen des Prinzips des Aufschubs relativ schnell zu einer ersten wichtigen Deeskalation führen. Die Eltern konnten hilfreiche Metaphern wie zum Beispiel »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist« oder die Umschreibung der liebevollen Beharrlichkeit gut annehmen. Den eher destruktiven Reflex der Kontrolle konnten die Eltern verändern, indem sie ihrem Sohn ein erhöhtes und besonderes Maß an Aufmerksamkeit und Fürsorge schenkten. Hier wurde der Begriff der wachsamen Fürsorge eingeführt und mit der entsprechenden Metapher des Monitoring unterlegt. Um die wichtigen Beziehungsgesten musste bei den Eltern aufgrund der erlittenen Verletzungen und der permanenten Zurückweisung stetig neu geworben werden. Hier erwiesen sich vor allem die beiden Unterstützer als sehr kreativ. Da Thomas sehr gern aß und er vor allem selten einen Grillabend ausschlug, erwiesen sich Einladungen zum gemeinsamen Kochen und eben zu Grillevents als besonders schöne und hilfreiche Beziehungsgesten, die von Thomas auch gern angenommen wurden. Im Sinne der positiven Beziehungsgestaltung unterbreitete der Vater auch mehrere Vorschläge für gemeinsame DVD-Abende, nur für Vater und Sohn. Auch die beiden Haustiere taten ihr übriges, um Thomas auf der Gefühls- und Beziehungsebene zu erreichen. Das unverzichtbare soziale Unterstützungssystem wurde durch zwei gute Freunde der Familie hilfreich repräsentiert. Peter und Petra stellten für beide Elternteile eine weitere und besonders wichtige Ressource dar. Sie wurden durch einen entsprechenden Brief über das Coaching und über dessen Ideen und Ziele ausführlich informiert. Mit den Eltern wurde intensiv über die mögliche Form der Unterstützung gesprochen und auch darüber, welche Rollen und vor allem welche Haltung Peter und Petra gegenüber Thomas einnehmen sollten und konnten. Um die beschriebene Gewalt und das auffällige Verhalten des Sohnes weiter zu minimieren und um die Entschlossenheit der Eltern und deren Beharrlichkeit weiter zu demonstrieren, wurde schon recht früh innerhalb des ersten Coachings mit dem Erarbeiten einer Ankündigung begonnen. Die Arbeit mit den drei Körben diente hier als intensive Vorbereitung der Ankündigung. Auch in diesem Fall zeigte sich, dass durch diese Intervention ein weiterer wichtiger Schritt zur Deeskalation von Gewalt sowie zur Fokussierung der vorhandenen Konfliktthemen gemacht wurde. In der Zeit der Formulierung und kurz vor der eigentlichen Ankündigung wurden die Eltern besonders intensiv begleitet und gecoacht. Unter anderem fanden auch mehrere kurzfristige und spontane

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Elterliche Präsenz und die Entwicklung der hilfreichen Ankerfunktion

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telefonische Beratungen statt. Dies wurde den Eltern für den Krisenfall und in Momenten der Unsicherheit angeboten. Es folgt der Text der ersten Ankündigung, den die Eltern zur weiteren Steigerung ihrer elterlichen Präsenz schon im ersten Coachingprozess dem Sohn mitteilten. Lieber Thomas, wir sind nicht mehr bereit, deine gewalttätigen Handlungen in der Familie hinzunehmen. Wir möchten von dir nicht mehr angeschrien, beschimpft oder beleidigt werden noch wollen wir, dass du uns körperlich bedrohst (z. B. den Weg versperrst) oder uns körperlich attackierst (z. B. schubst oder stößt). Auch wir möchten dazu unseren Beitrag leisten und unser Verhalten in Zukunft ändern. Denn wir wissen auch, dass wir dich in solchen Konflikten häufig anschreien, beschimpfen oder beleidigen. Diese Situation ist für uns eine große Belastung und wir glauben auch nicht, dass du dich dabei wohl fühlst. Wir werden deshalb alles tun, um diese Situation zu ändern – außer dich körperlich oder mit Worten anzugreifen. Denn du bist uns wichtig und wir wollen auch in Zukunft für dich da sein. Wir haben deshalb Folgendes beschlossen: Wir wollen nicht mehr länger mit dem Problem allein bleiben, sondern wir werden uns an Freunde und Verwandte wenden, ihnen offen sagen, was los ist, und sie um Hilfe und Unterstützung bitten. Es geht uns nicht darum, dich zu kontrollieren, zu bedrohen oder zu besiegen. Wir möchten weiterhin an deinem Leben als Eltern teilnehmen und wünschen uns eine gute Beziehung mit dir. Mama und Papa

In den anschließenden Beratungen berichteten die Eltern von einer deutlichen Entspannungssituation im Umgang mit Thomas. Vor allem fühlten sie sich in ihrem eigenen Verhalten sicherer und gefestigter. Das Gefühl der Hilflosigkeit und der Ohnmacht wich. Stattdessen setzte langsam das Gefühl einer gesteigerten Präsenz ein. Vor allem die Selbstverpflichtung der Eltern auf Gewaltverzicht erweist sich im Rahmen dieses ersten Coachingprozesses als größter Auslöser für die einsetzende Veränderung. Des Weiteren war es den Eltern neben dem eigenen Ausstieg aus den Gewaltspiralen gelungen, Thomas fortwährende und gleichzeitige Beziehungsangebote zu machen und auch durchzuführen. An dieser Stelle konnte das erste Coaching einvernehmlich beendet werden.

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Weiteren Mut machte mir, dass die Eltern in nachfolgenden kleineren Krisen auf ihre frisch erworbenen Ressourcen und ihre gesteigerte elterliche Präsenz zurückgreifen konnten und neu aufkommende Fragestellungen in der Regel durch telefonische Kurzberatungen geklärt werden konnten. Das Fundament der neuen Autorität war gelegt. 2008, Thomas war inzwischen 16 Jahre alt, wurde die elterliche Präsenz von Herrn J. und Frau D. allerdings auf eine erneute große Probe gestellt. Der Sohn gab Anlass zur berechtigten Sorge. Angst um sein weiteres Wohlergehen kam auf, und vor allem bei der Mutter wurden die immer noch gut funktionierenden Mechanismen der Rettermentalität erneut aktiviert. Thomas probierte sich im Drogen- und Alkoholmilieu aus. Gleichzeitig sucht er die Nähe zu eher rechtsradikal orientierten Peergroups. Die Mutter fungierte hier oft als rettender Engel und holte ihren Sohn mehrfach betrunken oder bekifft vom Bahnhof oder von anderen Orten in der Stadt ab. Hier setzte das erneute Coaching an einer veränderten Präsenzhaltung an. Es ging nun mehr darum, die Wirksamkeit der Präsenz der Eltern auch außerhalb der elterlichen Wohnung zu erhöhen. Wir arbeiteten daran, wie es mit Hilfe der Unterstützer gelingen könnte, die sozialen Orte aufzusuchen, an denen sich Thomas normalerweise aufhielt und wie die Eltern dort quasi Duftmarken ihrer Präsenz hinterlassen konnten. Des Weiteren wurden mehrere Familiengespräche angeboten, in denen überprüft wurde, wie in dieser Zeit die Beziehungsund Kommunikationsmuster angelegt waren und ob überhaupt noch gegenseitige Beziehungswünsche erkennbar waren. In den Familiengesprächen wurde Thomas wider Erwarten als sehr offen und kommunikativ erlebt. Er entsprach eigentlich gar nicht dem Bild, das die Eltern im Vorfeld von ihrem Sohn entworfen hatten. Das ließ den Schluss zu, dass vor allem tief sitzende Ängste den Schutzreflex und die Rettermentalität aktivierten. Auch und gerade von Thomas war in dieser Zeit deutlich das Bemühen, ja, das Ringen um die gegenseitige gute Beziehung zu spüren. Auch er konnte formulieren, dass er eigentlich aus den Streitspiralen aussteigen wolle, dass er Angst vor einem möglichen Verlust der elterlichen Nähe und der Beziehungssicherheit habe, es ihm aber gleichzeitig unendlich wichtig sei, unbedingt gegenüber den Eltern sein Gesicht zu wahren und den coolen Helden zu spielen. In mehreren, nun eher systemisch-familientherapeutisch ausgerichteten Familiengesprächen, auch unter Einbeziehung der jüngeren Schwester Steffi, konnten die kritischen Kommunikationsmuster hilfreich verändert, Strukturen und Beziehungen geklärt und gegenseitige Irritationen passend übersetzt werden. Rückblickend auf diesen Beratungsprozess ist anzumerken, dass durch die Ergänzung und Verknüpfung aus klassischen familientherapeutischen Settings

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Elterliche Präsenz und die Entwicklung der hilfreichen Ankerfunktion

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mit den Elementen der neuen Autorität, vor allem mit einer Haltung von hilfreicher und konstruktiver Präsenz der Eltern und auch des Coaches, bemerkenswerte Unterschiede im Erleben der einzelnen Familienmitglieder zu erreichen waren. Es ist – und das kann vielleicht mit allgemeiner Gültigkeit gesagt werden – diese ganz besondere Zusage der Eltern, nämlich im Leben der Kinder weiter anwesend sein zu wollen, entsprechend der jeweiligen Familienphase und des Alters der Kinder. Wenn diese Zusage dann auch in einem gemeinsamen Setting ausgesprochen und gespürt werden kann, dann kann es durchaus möglich sein, dass vormals verkrustete Beziehungsstrukturen wieder aufweichen und ein kongruentes Miteinander wieder möglich ist. Im Frühjahr 2011, Thomas war inzwischen 19 Jahre alt, meldete sich Frau D. dann erneut in der Beratungsstelle. Dies kam für mich überraschend, da ich nach dem letzten Beratungsprozess davon ausgegangen war, dass die Eltern nun auch in Krisenzeiten über entsprechende Ressourcen verfügten, die eine selbstständige Bewältigung der jeweiligen Herausforderungen ermöglichen. Allerdings wusste Thomas schon immer, wie er seine Eltern und vor allem seine Mutter auf den Plan rufen konnte, welche entsprechenden roten Knöpfe er drücken musste, um das bekannte Spiel wieder in Gang zu bringen. Dieses Mal ging es um massive Schulverweigerung und exzessives Spielen am PC. Thomas hatte in der Zwischenzeit zweimal die Schule wechseln müssen. Er war mittlerweile an einer berufsvorbereitenden Schule gelandet. Der notwendige erfolgreiche Abschluss eines Praktikums war gefährdet. Besonders Frau D. war erneut in großer Angst und Sorge um ihren Sohn. Sie sah die Zukunft ihres Sohnes gefährdet. Herr J. klagte über das Schmarotzerverhalten von Thomas. Der Vater klang so, als ob er den Sohn schon fast aufgegeben hätte. Auch er war mit seiner Kraft am Ende. Dieser besonderen Situation, in dieser eigentlich eher auf Ablösung ausgerichteten Familienphase, wollte ich entsprechende Wertschätzung und Aufmerksamkeit entgegenbringen. So bot ich den Eltern ein gemeinsames Coaching mit meiner Kollegin an. Durch die Erweiterung des beraterischen Settings sollte verstärkt und vielleicht auch adäquater auf die besonderen Bedürfnisse der beiden Eltern mit den jeweiligen besonderen Genderthemen eingegangen werden. Des Weiteren besprachen wir auch sehr frühzeitig die erneute Aktivierung der schon mehrfach hilfreichen Unterstützer Petra und Peter. Die beiden Unterstützer nahmen schließlich im weiteren Verlauf des Coachings ebenfalls regelmäßig an den Beratungsgesprächen teil – im Rahmen eines Elterncoachings in der Beratungsstelle eine durchaus herausragende Situation und ein nicht so häufig durchgeführtes Beratungssetting, dem Anliegen und der Befindlichkeit der Familie allerdings angemessen.

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Recht zeitnah wurde im Rahmen einer Aufstellungsarbeit mit den Eltern und den beiden Unterstützern gearbeitet, um den guten und hilfreichen Ort der Unterstützer an der Seite der Eltern zu spüren und herauszufinden. Der Transfer in den Alltag mit den jeweiligen Alltagsrollen konnte so leichter umgesetzt werden. Ferner wurde ausführlich am jeweiligen Rollenverständnis gearbeitet. Welche Rolle können die Unterstützer einnehmen, welche Rolle können und sollen sie aus der Sicht der Eltern einnehmen? Eine weitere Ankündigung wurde schon relativ früh in diesem Coachingprozess erarbeitet und im ersten Entwurf besprochen. Es zeigte sich jedoch, dass offensichtlich für die Eltern selbst der passende Zeitpunkt, auch und vor allem mit Blick auf die innere Bereitschaft, Entschlossenheit und Beharrlichkeit, noch auf sich warten ließ. Des Weiteren wurde auch hier deutlich, dass es im Rahmen der Ankündigung und der anstehenden Veröffentlichung der Ankündigung zwingend notwendig war, mit den Eltern in eine ausführliche Beratung über die möglichen Reaktionen des Kindes einzusteigen. Die Familie D. erlebte es zum Beispiel als sehr hilfreich, als wir im Rahmen des Coachings diverse Körperübungen zur passenden Körperhaltung und zum jeweiligen Standing der Eltern durchführten. So konnten die Eltern in einen adäquaten Erlebensprozess einsteigen und die für sie passende innere Haltung erspüren und für sich übernehmen. Dies führte unter anderem dazu, dass sich die Eltern im Laufe der Beratung entschieden, die Ankündigung nicht im Beisein der Unterstützer durchzuführen. Sie wollten so auch ein Zeichen der eigenen elterlichen Beharrlichkeit und Stärke setzen. Ebenso sollte es ein wichtiges Zeichen der elterlichen Selbstverantwortung sein. Vor allem die Selbstverpflichtung im Sinne des Verzichts auf Kontrolle und die entsprechende Internalisierung dieser Selbstverpflichtung brauchte insbesondere bei der Mutter noch eine gewisse Zeit. Zu tief saßen die wirksamen Muster, die besagten: »Nur die ständige Kontrolle des Sohnes kann zu seiner letztendlichen Rettung führen – und somit mein Wohlbefinden steigern.« In den folgenden Wochen gelang es durch das intensive Coaching, dass sich die Mutter nach und nach von ihren Angstfantasien verabschieden konnte. Dabei waren die fortwährenden, eher auf die tief sitzenden Emotionen gezielten Interventionen und Körperübungen sowie Aufstellungen hilfreich. So konnten Petra und die Mutter von einer signalsetzenden Begegnung mit Thomas berichten, in der sie ihn um ein Gespräch baten und dabei sein Zimmer aufsuchten. Im Gegensatz zu früheren Situationen, in denen Thomas den Eltern den Zugang zu seinem Zimmer verweigert hatte, ließ der Sohn die Mutter nun herein. Gefragt nach dem Unterschied meinte die Mutter, dass sie ihn vorher mit ihren Angstfantasien belastet habe, ihn förmlich damit überschüttet habe. Nun könne sie

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eine andere Form von Aufmerksamkeit und Fürsorge dem Sohn entgegenbringen. Eine Art und Weise, die deutlicher und klarer das Interesse und den deutlichen Wunsch nach Beziehung zum Ausdruck brachte und weniger von dem Reflex der Kontrolle geprägt war. Eine Art der Begegnung, die Thomas gut annehmen und akzeptieren konnte. Gestärkt durch diese Erfahrungen entwickelten die Eltern dann die elterliche Kraft und Stärke, um die erneute Ankündigung allein und nicht im Beisein der Freunde und Unterstützer zu veröffentlichen. Als letzten Impuls hierzu bedurfte es allerdings dann noch einer erneuten gewalttätigen Eskalation von Seiten Thomas’. Wie üblich war der Anlass der Eskalation eher nichtig und belanglos. Es ging um eine Pizzabestellung. Thomas hatte den Eindruck, von der Mutter eine falsche Pizza bekommen zu haben, worauf es zu einer Rangelei und zu wüsten Beschimpfungen gekommen war. Den entscheidenden Satz formulierte der Vater an dieser Stelle. Er meinte mit aller Entschlossenheit, dass es nicht sein könnte, »dass wir uns so respektlos behandeln lassen, dann auch noch vom eigenen Sohn!«. Diese vom Vater in Worte gefasste Entschlossenheit wurde genutzt und als weitere Vorbereitung für die Ankündigung in einer passenden Körperhaltung dargestellt und sinnbildlich eingefroren. Mit dieser gut gespürten und verinnerlichten Haltung sahen die Eltern optimistisch gestimmt der Veröffentlichung der Ankündigung entgegen. Das nächste Gespräch fand nach der Ankündigung statt. Die Eltern berichteten, dass sie unmittelbar vorher mit den beiden Unterstützern noch viel geübt hätten und die Ankündigung auch noch einmal umformuliert hätten. Auf die Ankündigung selber hätte Thomas gar nicht reagiert, was sie im ersten Augenblick reichlich frustriert hätte. Gefragt nach der eigenen Befindlichkeit bei der Ankündigung, meinten die Eltern, dass sie sich gut gefühlt hätten. Letztendlich seien sie auch stolz, es geschafft zu haben. Peter gab die Rückmeldung, dass er die Eltern im Rahmen der Ankündigung und im Nachklang wesentlich selbstbewusster erlebt hätte. Vorher hätten die Eltern oft wie gehetzt und getrieben auf ihn gewirkt. Es gelang den Eltern nun auch bei erneuten Eskalationsangeboten von Thomas hilfreich auf der Beziehungsebene zu reagieren. Die Eltern verließen zum Beispiel mit einer deutlichen Botschaft, die gezielt den Beziehungsaspekt ansprach, den Raum: »Ich gehe nun hinaus, aber nicht, weil du mir egal bist, sondern weil ich im Moment Schlimmeres verhindern will, aber wir werden gemeinsam wiederkommen und die Sache dann klären.«. Die nächsten Coachinggespräche waren geprägt durch einen nun stattfinden könnenden Verabschiedungsprozess von alten Einstellungen und Haltun-

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gen. Unter anderem durch die Einführung der Metapher des elterlichen Ankers und der Ankerfunktion als besondere Form der Präsenz gelang es vor allem der Mutter, nach und nach ihre gut bekannte und ausgiebig gelebte Rettermentalität abzulegen. Sie machte ihr eigenes Wohlbefinden und ihre eigenes Gefühl von Wirksamkeit nicht mehr abhängig von den Äußerungen und Handlungen des Sohnes. Beide Eltern konnten gemäß der Ankerfunktion die Sicherheit in sich selbst spüren, dass sie auf der einen Seite den Sohn in die Eigenverantwortlichkeit entlassen konnten, dass sie aber auf der anderen Seite weiter im Sinne der elterlichen Präsenz und der neu gewonnenen Autorität im Leben von Thomas anwesend sein werden und können. An dieser Stelle konnte auch die Verabschiedung aus dem Coaching beginnen. Gemeinsam mit den Freunden und Unterstützern wurden Perspektivfragen diskutiert. Wie kreativ könnte sich zum Beispiel das Familiensystem zeigen, um auch noch in den nächsten Monaten die Beratung in Anspruch nehmen zu müssen? Petra und Peter zeichneten den Eltern die Vision auf, dass im kommenden Herbst große Herausforderungen bevorstehen könnten. Thomas könnte möglicherweise keine Ausbildungsstelle finden und weiter permanent zu Hause hocken. Eine weitere Eskalation und weitere Zukunftsängste könnten bei den Eltern entstehen. Hinzu könnten finanzielle Aspekte kommen. Das Kindergeld könnte eingestellt werden. Hierzu benannten die Eltern als hilfreiche Möglichkeiten das Verfassen einer weiteren Ankündigung und die Sicherheit, die Freunde an ihrer Seite zu haben. Auch diese Perspektivarbeit gab den Eltern die zusätzliche und nötige Sicherheit, um dann das Coaching endgültig und mit der nötigen Entschlossenheit zu beenden.

Das Interview Im Folgenden sollen nun Ausschnitte aus dem abschließenden Reflexionsgespräch mit den Eltern und den Unterstützern dargestellt werden. Therapeut 1 (Th. 1): »Thomas ist nun fast 20 Jahre alt. Wie geht es Ihnen nun am Ende des Coachingprozesses und wie geht es Thomas?« Herr J.: »Ja, man könnte fast sagen, Thomas hat sich fast gedreht. […] Auch von seinen sozialen Kompetenzen her. Er ist rücksichtsvoller, kooperativer geworden. Man kann fast gleichberechtigt mit ihm reden. Das hat auch bei mir dazu geführt, dass sich mein Bild von ihm, das sich in den letzten Jahren entwickelt hat, wesent-

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Elterliche Präsenz und die Entwicklung der hilfreichen Ankerfunktion

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lich positiver geworden ist. Ich kann ihn wieder mit ganz anderen Augen sehen und auch seine Qualitäten wieder wahrnehmen. Ich kann ihn wieder mehr schätzen. Und es gab auch schon mehrere Gespräche, in denen ich ihm das gesagt habe.« Frau D.: »Ich kann wieder mehr auf mich schauen, was ja in all den Jahren, in denen ich voller Sorge um Thomas war, nicht so der Fall war. Diese Sorge hat mich ja bestimmt und ich habe jetzt erst gemerkt, wie sehr die Sorge mich tatsächlich bestimmt hat. […] Auch gelingen ihm nun Dinge, die vorher nicht denkbar waren oder für mich nicht vorstellbar waren. Er erledigt für ihn wichtige Sachen selbstständig und pünktlich. Er hat sich zum Beispiel für einen Erste-Hilfe-Kurs angemeldet und geht da auch hin. […] Der Tag hat wieder für ihn eine Struktur bekommen. […] Vorher hat er sich nach der Schule bzw. nach dem Praktikum in sein Zimmer verzogen und ist in die Welt des PCs abgetaucht. Jetzt haben wir wieder Kontakt und wir machen auch wieder etwas zusammen.« Herr J.: »Wir sind jetzt nicht plötzlich die harmonische Familie geworden. Nur wenn es jetzt Konflikte gibt, dann sind die nicht sofort so katastrophenmäßig.« Th. 1: »Für wen nicht mehr so katastrophenmäßig?« Herr J.: »Ja, für uns alle!« Frau D.: »… ja, für uns alle.« Herr J.: »Ich glaube auch nicht, dass Thomas sich dabei wohl gefühlt hat, das glaube ich nicht. […] Jetzt sind die Konflikte irgendwie normaler, wir alle können damit besser umgehen. Und vor allem, früher haben sich die Konflikte ja mit Gewalt geäußert. Das ist ja ein ganz wichtiger Punkt. Das ist jetzt anders. Das ist ja jetzt praktisch kein Thema mehr.« Therapeut 2 (Th. 2): »An Sie als Unterstützer und Freunde gerichtet. Wir haben ja nahezu zeitgleich die gemeinsame regelmäßige Beratung aufgenommen. Wie und was haben Sie in dieser Zeit erlebt?« Peter: »Ich habe meine Rolle vor allem in der der Stärkung der Eltern gesehen. Das war schon manchmal schwierig. Wenn man jemanden unterstützt und gleichzeitig die Gewißheit gibt, nicht einzugreifen, das war schon was Besonderes. Und für mich am Anfang auch schwierig. Klar war, dass wir keine Ersatzeltern sind, zwar dabei stehen und unsere Meinung äußern können, aber im Grunde hinter den Eltern stehen.« Petra: »Für mich war am Anfang meine Rolle noch nicht so klar. Es gab schon das Gefühl, irgendwie Thomas zu retten. Aber es war für mich ein Lernprozess, das musste sich in meinem Kopf verändern, dass ich da eigentlich eine ganz andere Rolle habe. […] Ja, dass sich auch was im Verhalten von Thomas ändern kann und musste, aber dass meine eigentliche Rolle an der Seite der Eltern ist.« Th. 2: »Wo sehen Sie als Unterstützer heute den Unterschied im Verhalten der Eltern?«

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Petra: »B. (Vorname der Mutter) ist wesentlich gelassener geworden. In ihren Reaktionen. Die Furie ist ein bisschen weg. (allgemeine Erheiterung – der Vater tätschelt die Mutter am Arm) Auf der anderen Seite ist M. (Vorname des Vaters) insgesamt aufmerksamer geworden. (mit Blick auf den Vater) Du hast dich ja in der letzten Zeit so was von zurückgezogen, sodass man dich als Vater, ja, so gar nicht mehr wahrgenommen hat. Ja, und es hat da eine Angleichung stattgefunden. […] Auf der Paarebene und auf der Elternebene. Eine Zeit lang habe ich euch als Paar ohne Kinder wahrgenommen. Das war keine richtige Familie. Darüber haben B. und ich uns auch mal gestritten. Nun erlebe ich, wie ihr deutlich mehr auch wieder die Rolle als Eltern einnehmt. Dabei hat B. so ein wenig die Gluckenhaltung aufgegeben und M. hat sich entsprechend mehr den Kindern und vor allem Thomas zugewandt.« Th. 1: »Noch mal an Sie als Eltern gerichtet. Kann man rückblickend auch in Bezug auf Bindungs- und Beziehungsqualität eine Entwicklung oder auch eine Veränderung wahrnehmen?« Frau D.: »Klar! Vor allem die Beziehung zwischen mir und Thomas ist ja wesentlich entspannter geworden. Ich bin ja nicht mehr das Miststück. Wenn wir uns vorher gestritten haben, dann hat er mich ja immer als Miststück beschimpft und mich mit Nichtbeachtung bestraft. […] Auch wenn er mal sauer auf M. oder auf Steffi war, so war seine Wut in meine Richtung doch immer am größten. Da war er dann schon immer sehr gemein. Das hat mich lange sehr stark belastet. Und das war ja auch in den Situationen so, als ich ihn mit viel Opfer und Sorge gerettet habe oder ihn retten wollte. Und dann war ich wieder bei der kleinsten Gelegenheit das Miststück. Das war ja für mich das Schlimme. Das war ja noch vor einem Jahr so, dass er gar nicht so meinen Einsatz, den ich für ihn getätigt habe, gewürdigt hat oder nicht würdigen wollte.« Th. 1: »Das hört sich doch so an, als ob Sie ihm Spielraum für eigene Entscheidungen gegeben haben.« Frau D.: »Genau!« Th. 1: »Nichtsdestotrotz haben Sie sich doch dann immer stärker positioniert, haben auch auf der Beziehungsebene ihm Halt angeboten und waren für ihn da.« Frau D.: »Ja, und in dieser Zeit haben wir dann ja auch die Ankündigung geschafft. Obwohl das Komische war, dass man am Anfang gar nicht so die Reaktion gemerkt hat. […] Das ist ja dann eher so indirekt gewesen.« Peter: »Na ja, der ist doch zunächst mal abgegangen wie die Post. Aber wir hatten ja lange darüber gesprochen, wann denn nun für euch der richtige Zeitpunkt war. Das war zwischen uns ein großes Thema. Aber dann war ja irgendwann klar, nun ziehen wir das Ding durch. Einfach mal machen. Und das habt ihr dann ja auch gemacht.«

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Th. 2: »Nun war ja schon von der Ankerfunktion bei den Eltern die Rede. […] Hatten Sie denn als Unterstützer auch das Gefühl von Rettern zu einem Anker für die Eltern zu werden?« Petra: »Ja, B. hat es vorhin ja schon einmal formuliert. Wir sind im Laufe der Zeit so etwas wie eine sichere Bank für die Eltern geworden. Wenn zum Beispiel wieder etwas eskaliert ist.« Herr J.: »Sie waren Ansprechpartner, wir hatten die Möglichkeit, Emotionen zu besprechen. Und wir haben das ja bewusst eingesetzt. Wenn es mal wieder schwierig mit Thomas war, dann konnten wir schnell anrufen und sagen, die sind gleich hier. Das hat dann manchmal auch schon zur Beruhigung wieder beigetragen. […] Thomas hat ja die öffentliche Diskussion gescheut. […] Er wollte ja nicht, dass sein Verhalten zum öffentlichen Thema wird.« Th. 2: »Nochmals rückblickend. Vieles haben Sie in der Zeit nun schon ausprobiert. Einiges hat geklappt, einiges war weniger hilfreich. […] Was, glauben Sie, hat denn für Sie nun den hilfreichen Unterschied gemacht?« Herr J.: »Grundsätzlich war es immer sehr hilfreich, hier Ansprechpartner zu haben, über die Dinge reden zu können und Tipps zu bekommen. […] Aber so richtig machte es den Unterschied, als wir endlich das Gefühl bekommen hatten, man erreicht doch was, es geht voran. […] Auch wenn es manchmal nur ein kleines Stück ist. « Th. 2: »Sie wieder Ihre eigene Wirksamkeit spüren konnten?« Herr J.: »Ja genau, wenn endlich die Hilflosigkeit aufhört. Am schlimmsten ist es doch für uns Eltern, wenn man das Gefühl hat, man kann da irgendwie nichts machen. Und spürt sich nur noch als Opfer. Man hatte nur noch den Tunnelblick. […] Und als dann wieder Möglichkeiten zu handeln da waren, das war dann schon anders. Und sicherlich haben uns Petra und Peter auch ganz entscheidend geholfen.« Th. 2: »An Sie beide als Unterstützer noch die Frage, was glauben Sie denn, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich die Eltern nochmals mit einem Anliegen an die Beratungsstelle wenden?« Petra: »Also, ich glaube, dass die Wahrscheinlichkeit nicht sehr hoch ist. Weil alle Beteiligten, auch wir, gut gelernt haben. Und sollte jetzt noch mal eine Situation eintreten, die brenzlig für Thomas oder für euch als Eltern ist, dann glaube ich, dass wir uns erst einmal zusammensetzen werden und wir mittlerweile so viel Erfahrung und so viel Wissen haben, dass wir es zunächst mal zusammen versuchen werden. Und ich unterstelle uns auch mal, das wir einen gewissen Erfolg haben werden.«

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Schlussbemerkung Aus meiner Beratungspraxis hebt sich der Fall der Familie D. insofern heraus, als die Familie über Jahre immer wieder zurückgekommen ist. Ich glaube, dass die sehr tief sitzenden und starren Beziehungs- und Bindungsmuster sowie die fest verwurzelten eigenen Aufträge der Mutter und des Vaters zu den eher destruktiven und immer wieder heftig ausbrechenden Verhaltensmustern mit den jeweiligen entsprechenden Variationen bei Thomas geführt haben. Der unsagbare Wunsch, vor allem bei der Mutter, den Sohn retten zu wollen bzw. zu müssen, und dabei das eigene Wohlbefinden von dem Erfolg der Bemühungen um den Sohn abhängig zu machen, führten wohl, wie dargestellt, zu immer wieder auftretenden Krisen und zu den geschilderten Eskalationsschleifen. Rückblickend kommt es mir so vor, als ob im Laufe der Jahre, ähnlich einem Schalenmodell, mit jedem weiterem Beratungsprozess mehr in die Tiefen vorgedrungen werden konnte. Tief sitzende und fest verankerte Einstellungen und Haltungen konnten nach und nach auf ihre hilfreiche Wirksamkeit überprüft werden und gegebenenfalls von den Eltern modifiziert bzw. abgelegt werden. Während es in den meisten Coachingprozessen, auch und vor allem in der Beratungsstelle mitten im Ruhrgebiet, eher um Deeskalationsprozesse geht, teilweise mit diversen Variationen, die dann in überschaubaren Zeiträumen innerhalb eines halben bis ganzen Jahres erfolgreich abgeschlossen werden können, ging es bei Familie D. um verschiedene Themen. Dabei war das zunächst sichtbare Symptom, das von der Familie im ersten Prozess als Anliegen formuliert wurde, nämlich das oppositionelle Verhalten des Sohnes, nur die oberste Schale der Gesamtproblematik innerhalb des Familiensystems. Durch die Weiterentwicklung des systemischen Elterncoachings mit der hilfreichen Ausweitung auf die Herausforderungen im alltäglichen Familienalltag insgesamt – und somit auch durch die eigene Weiterentwicklung des beraterischen Spektrums – und durch die Modifizierungen innerhalb der einzelnen Interventionen konnten die jeweiligen Anliegen und Bedürfnisse der Familie entsprechend bedient und unterstützt werden. Beispielhaft sollen hier nur die Erweiterung des beraterischen Settings und die sehr hilfreiche Arbeit auf der emotional-körperlichen Ebene genannt sein. Vor allem durch das Ermöglichen eines sehr tief greifenden und analog ausgerichteten Beratungsangebots gelang es womöglich, die verkrusteten und immer wieder aktivierten Handlungsmuster zu durchbrechen und somit Handlungsalternativen zu entwickeln. Zum guten Schluss vielleicht ein kleines »Rezept« aus eigener Erfahrung, was für einen – möglichst erfolgreichen – Coachingprozess notwendig ist:

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–– ein gutes eigenes Standing des Beraters und der Beraterin; –– Verbundenheit mit und stabile Vernetzung im Team mit der Sicherheit, über Unterstützung zu verfügen; –– die sichere innere Präsenz als Berater und Coach; –– fundiertes und gefestigtes Wissen und der damit verbundene sichere Umgang mit den Methoden und Interventionen der neuen Autorität; –– ein reicher Erfahrungsschatz – zumindest fachliche Ressourcen im Kollegenkreis, auf die im Bedarfsfall zurückgegriffen werden kann; –– und nicht zuletzt Mut und Optimismus. Es bedarf einer gehörigen Portion Mut und Optimismus, zumindest für mich, immer wieder den Beziehungsaspekt und das Wissen über die Möglichkeit, dass es sehr bewegende Momente in der Arbeit mit Familien geben kann, hervorzuheben. Wenn aus einer schier nicht mehr auszuhaltenden und kaum mehr lebbaren Familiendynamik im Laufe des Coachings das Wesentliche, nämlich die gute Beziehung untereinander und das Gefühl zueinander, wieder langsam spürbar wird, es wieder wachsen kann, und am Ende des Coachings die Mutter sagt: »Danke, ich habe mein Kind wieder, ich spüre es wieder«, dann lohnt es sich, diese Arbeit zu tun. Und daraus schöpfe ich meine Kraft, meinen Mut und meinen Optimismus.

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Die Autorinnen und Autoren

Michael Bachg, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Kinderund Jugendlichenpsychotherapeut, ist zertifizierter Therapeut, Supervisor und Trainer in PBSP (Pesso Boyden System Psychomotor) und Begründer von Feeling-Seen, Osnabrück. Jörn Borke, Dr. rer. nat., Diplom-Psychologe, ist Mitarbeiter der Forschungsstelle »Entwicklung, Lernen und Kultur« des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) und Leiter der Babysprechstunde Osnabrück. Angela Eberding, Dr. rer. soc., Diplom-Pädagogin, Systemische Familientherapeutin und Supervisorin (IFW), arbeitet im Christlichen Kinderhospital Osnabrück sowie in freier Praxis und ist Mitglied des Kompetenznetzwerks am IF Weinheim. Petra Girolstein, Diplom-Sozialpädagogin, Systemische Familientherapeutin, ist in freier Praxis tätig, Geschäftsführende Gesellschafterin einer Jugendhilfeeinrichtung und Mitglied des Kompetenznetzwerks am IF Weinheim. Michael Grabbe, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Systemischer Familientherapeut, Supervisor (IFW, SG) und Systemischer Elterncoach (IFW), ist Lehrtherapeut und Lehrender Supervisor am IF Weinheim, Mitglied des dortigen Kompetenznetzwerks sowie in freier Praxis tätig. Er war Zweiter Vorsitzender der Systemischen Gesellschaft. Dennis Haase, Diplom-Sozialpädagoge, Systemischer Familientherapeut, Supervisor und Systemischer Elterncoach (IFW, SG), ist in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in der KRH Psychiatrie Wunstorf und in

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Die Autorinnen und Autoren

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freier Praxis tätig. Er lehrt an den Fachhochschulen in Hildesheim und Dresden und ist Mitglied des Kompetenznetzwerks am IF Weinheim. Christian Hawellek, Dr. phil., ist Erziehungs-, Familien- und Eheberater, Kinderund Jugendlichenpsychotherapeut sowie Leiter des norddeutschen Marte-MeoInstituts. Er ist Lehrbeauftragter in den Fachbereichen Erziehungswissenschaft und Psychologie der Universität Osnabrück. Elisabeth Heismann ist Familientherapeutin beim Oxleas NHS Trust in London. Peter Jakob, Dr., ist Leitender Psychologe und Familientherapeut im Englischen Staatlichen Gesundheitswesen und leitet das systemische Institut PartnershipProjects in Brighton. Heidi Keller, Dr. rer. nat., ist Professorin für Psychologie an der Universität Osnabrück und Leiterin des Fachgebiets Entwicklung und Kultur sowie der Forschungsstelle »Entwicklung, Lernen und Kultur« des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe). Bruno Körner, Diplom-Sozialpädagoge, Systemischer Familientherapeut (IFW/ SG) und Systemischer Elterncoach (IFW), ist freiberuflich im Bereich Coaching und Gewaltprävention tätig und Geschäftsführender Partner des SyNA – Systemisches Institut für Neue Autorität. Andrea Lanfranchi, Dr. phil., ist Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, Fachbereich Weiterbildung, Forschung und Entwicklung, in Zürich sowie systemischer (Lehr-)Therapeut am Meilener Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung. Martin Lemme, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Systemischer Therapeut, Systemischer Supervisor und Elterncoach (IFW), ist in eigener Praxis tätig sowie Geschäftsführender Partner des SyNA – Systemisches Institut für Neue Autorität. Barbara Ollefs, Diplom-Psychologin, Systemische Familientherapeutin und Supervisorin (IFW), arbeitet im Christlichen Kinderhospital Osnabrück und ist Dozentin an der Universität Osnabrück sowie am IF Weinheim. Sie ist freiberuflich in der Fort- und Weiterbildung tätig und Mitglied des Kompetenznetzwerks am IF Weinheim.

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Die Autorinnen und Autoren

Haim Omer, Dr. phil., ist Professor und Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie an der Universität Tel Aviv sowie Mitglied des Kompetenznetzwerks am IF Weinheim. Hiltrud Otto, Dr. rer. nat., Diplom-Psychologin, ist Postdoc Fellow der MartinBuber-Gesellschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem. Tom Pinkall, Diplom-Theologe, Systemischer Therapeut und Supervisor (IFW, SG), Psychotherapeut (ECP), ist Lehrtherapeut am IF Weinheim und Mitglied des Kompetenznetzwerks am IF Weinheim. Arist von Schlippe, Dr. phil., ist Professor an der privaten Universität Witten/ Herdecke, Lehrstuhl Führung und Dynamik von Familienunternehmen, sowie Lehrtherapeut, Supervisor und Systemischer Elterncoach am IF Weinheim. Er ist Mitglied des dortigen Kompetenznetzwerks. Martin Solty, Diplom-Sozialarbeiter, Systemischer Familientherapeut (IFW), ist in einer kommunalen Erziehungsberatungsstelle und in freier Praxis tätig. Er ist Mitglied des Kompetenznetzwerks am IF Weinheim. Liane Stephan, Diplom-Sportwissenschaftlerin, Systemische Lehrcoach (ProCAssociation), Systemische Lehrberaterin (DGSF), Systemische Familientherapeutin (SG) und Elterncoach, ist in freier Praxis in den Bereichen Coaching und Organisationsentwicklung tätig. Claudia Terrahe-Hecking, Diplom-Sozialarbeiterin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Systemische Familientherapeutin, Supervisorin und Coach (IFW, SG), ist Lehrtherapeutin am IF Weinheim und in freier Praxis tätig. Sie lehrt an verschiedenen Fachhochschulen und Universitäten und ist Mitglied des Kompetenznetzwerks am IF Weinheim. Stephan Theiling, Dr. phil., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut in Kassenpraxis, Systemischer Familientherapeut und Supervisor (IFW, SG), ist Lehrtherapeut am IF Weinheim, Gesprächspsychotherapeut und Ausbilder in Klientenzentrierter Psychotherapie (GwG). Ruth Tillner, Diplom-Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin, Systemische Familientherapeutin, Mediatorin, Supervisorin, Systemischer Elterncoach, ist freiberuflich in eigener Praxis und im eigenen Institut tätig.

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Die Autorinnen und Autoren

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Cornelia Tsirigotis, Hörgeschädigtenpädagogin, Systemische Familientherapeutin und Supervisorin (IFW, SG), Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, war viele Jahre in der Frühförderung und im Cochlear-Implant-Rehabilitationszentrum in Aachen tätig. Sie ist Leiterin des Überregionalen Beratungs- und Förderzentrums »Schule am Sommerhoffpark« in Frankfurt am Main, Herausgeberin der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung sowie Redaktionsmitglied von Systhema (IF Weinheim). Uri Weinblatt, Dr. phil., klinischer Psychologe und Systemischer Therapeut, langjähriger Mitarbeiter von Haim Omer in Tel Aviv, leitet nach vierjährigem Aufenthalt in Philadelphia, USA, das Marot-Familientherapie-Institut in Israel. Er ist Mitglied des Kompetenznetzwerks am IF Weinheim.

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