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German Pages 278 Year 2015
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Markus Rautzenberg (Hg.) Ausweitung der Kunstzone
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Markus Rautzenberg (Hg.) Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften
Unter Mitarbeit von Katrin Wächter
Diese Publikation ist im Rahmen des an der Freien Universität Berlin angesiedelten Internationalen Graduiertenkollegs »InterArt« entstanden und wurde mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft gedruckt.
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Inhalt
Einleitung Erika Fischer-Lichte | 7
A USWEITUNG I: Z WISCHEN DEN K ÜNSTEN Medienbegriffe — reine diskursive Strategien? Thesen zum ›relativen Konstruktcharakter‹ medialer Grenzziehungen Irina O. Rajewsky | 33
Die Grenzen der Sprache und ihre Chancen — eine hermeneutische Perspektive auf das Phänomen der Bildlichkeit Martin Urmann | 49
Aufgeführte Räume. Interferenzen von Theater und Bildender Kunst Barbara Gronau | 73
A USWEITUNG II: K UNST UND A LLTAGSWELT »Experimentelle Kunst ist niemals tragisch«: Kunst und Leben seit den 1960er Jahren Philip Ursprung | 91
Gordon Matta-Clarks Conical Intersect — Kunstwerk zwischen Kulturen, Künsten und medialen Darstellungsformen Gregor Stemmrich | 111
Klang in der Lebenswelt. Vom avantgardistischen Diskurs über das soziale Interventionspotential von Musik und Klangkunst Søren Møller Sørensen | 143
A USWEITUNG III: I NSZENIERTE R EALITÄTEN Inszenierte Wirklichkeiten — Das Neue und/als das Alte Joachim Fiebach | 165
Zwischen Kunst und Spiel — Medienästhetische Betrachtungen medialisierter Umgebungen Natascha Adamowsky | 183
Immersionseffekte: Intermediale Involvierung in Film und digitalen Medien Robin Curtis | 201
Audio und/oder Video. Zur offenen Struktur elektronischer Medien Yvonne Spielmann | 221
Gespräch: »Begriffe in Bewegung. Wie können die Kunstwissenschaften den Künsten gerecht werden?« Eine Podiumsdiskussion mit Gabriele Brandstetter, Gertrud Koch, Dieter Mersch und Joseph Vogl, Moderation: Markus Rautzenberg | 241
Autorinnen und Autoren | 267
Einleitung Erika Fischer-Lichte
Die Kunstwissenschaften haben lange Zeit – nicht nur in Deutschland – eine Einsiedlerexistenz geführt. Ob Musik- oder Theaterwissenschaft, ob Kunstgeschichte, Literatur- und Filmwissenschaft, jede sah sich durch ihren spezifischen Gegenstand und eine auf ihn bezogene Methodologie und Theoriebildung klar definiert und von den anderen abgegrenzt. In den letzten fünfzig Jahren zeichnen sich allerdings in allen Künsten Tendenzen ab, die diese Abgrenzung der traditionellen Kunstwissenschaften unterlaufen. Dafür sind vor allem zwei Entwicklungen verantwortlich: zum einen die zunehmende Aufhebung der Grenzen zwischen den Künsten, wie sie durch Performativierung, Hybridisierung und Multimedialisierung hervorgebracht wird, und zum anderen die Ästhetisierung der Lebenswelt, d.h. eine tendenzielle Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und NichtKunst wie etwa Politik, Ökonomie, neue Medien, Sport, Religion und Alltagspraktiken. Beide Tendenzen transformieren die Kunstwissenschaften im Hinblick auf ihre Gegenstände und stellen ebenso ihre Methodologie und Theoriebildung vor neue Herausforderungen. Wer heute die Grenzen zwischen den etablierten Kunstwissenschaften überwinden und die in ihnen jeweils angehäuften Kenntnisse und Einsichten in »ihre« Kunst für die anderen Künste und Kunstwissenschaften fruchtbar machen will, findet sich durchaus an eine lange und ehrwürdige Tradition angeschlossen, die bis zur Antike zurückreicht. Als Simonides von Keos die Malerei als eine »stumme Poesie« bezeichnete und die Dichtung als eine »redende Malerei« – Ausdrücke, die Plutarch in seinen Moralia aufgriff – und als Aristoteles in seiner Poetik sich mit den verschiedensten Künsten auseinandersetzte, die in der Aufführung einer Tragödie zusammen-
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treffen, legten sie den Grundstein für etwas, das wir heute als Kunstkomparatistik oder besser: als Interart-Ästhetik theoretisch neu zu begründen und zu etablieren suchen. Damit schufen sie die beiden grundlegenden Modelle, die bis heute zwar nicht aktuell geblieben sind, jedoch die Diskussion um die Beziehungen zwischen den Künsten maßgeblich beeinflusst und bestimmt haben. Das erste Modell vergleicht die einzelnen Künste im Hinblick auf ihre je spezifische Leistungskraft miteinander und fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen, das mit einer Kunst gegebene Potential auf andere zu übertragen und auf diese Weise die Grenzen zwischen den Künsten zu überschreiten. Es ist vor allem das 18. Jahrhundert, das sich mit ihm auseinandergesetzt und es prominent gemacht hat. Perrault, Du Bos, Batteux, Harris, Hogarth und Diderot griffen es auf und entwickelten es weiter.1 Vom Stand der Diskussion, den sie erreicht haben, geht Lessings Laokoon aus und treibt sie – im Rahmen der Möglichkeiten einer normativen Ästhetik – entscheidend voran. Im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Vorgänger, welche die ut pictura poiesis-These vertraten – also postulierten, dass die Dichtung wie die Malerei zu verfahren habe –, ging es Lessing darum, eben diese These zu widerlegen. Entsprechend konzentrierte auch er sich auf Dichtung und Malerei. Ausgehend von einer Gegenüberstellung von Vergils Beschreibung des »schrecklichen Geschreis«2 , mit dem Laokoon seinen Schmerz ausdrückt, und der Skulptur, die lediglich eine leichte Öffnung des Mundes zeigt und den Schmerz »durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke austeilet«3, arbeitete er vor allem die Differenz zwischen beiden Künsten heraus. Das zweite Modell fokussiert das Zusammen- und Wechselspiel zwischen verschiedenen Künsten. Es ist vor allem für die Diskussion um die Oper von großer Bedeutung gewesen, die es immer wieder modifiziert und weiterentwickelt hat. Seine prononciertesten Formulierungen verdankt es Goethe und Richard Wagner. In seinem 1798 publizierten Aufsatz Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke apostrophiert Goethe die Opernaufführung geradezu als Ideal 1 | Vgl. dazu insbesondere Karlheinz Stierle: »Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums«, in: Gunter Gebauer (Hg.): Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 23-58. 2 | Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon, Stuttgart 1964, XVI, Vorrede, S. 7. 3 | Ebd.
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eines autonomen Kunstwerks. Denn in ihr stimme alles – d.h. auch die verschiedenen beteiligten Künste – auf eine Weise zusammen, dass sie »eine kleine Welt für sich aus(mache), in der alles nach gewissen Gesetzen vorgeht, die nach ihren eigenen Gesetzen beurteilt, nach ihren eigenen Eigenschaften gefühlt sein will«.4 Diesen Gedanken weiterführend prägte Wagner für dieses Modell den Begriff des Gesamtkunstwerks und sicherte ihm so eine lange, letztlich bis heute reichende Wirkungsgeschichte. Abbildung: Laokoongruppe, 1. Jahrhundert AD, Vatikanische Museen, Rom
4 | Johann Wolfgang von Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hg. v. Ernst Beutler, Zürich 1948ff. Bd. 13, S. 178.
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Nachfolgend sollen Lessings und Wagners Interart-Ästhetiken daraufhin überprüft werden, welche Aspekte der beiden von ihnen jeweils in prägnanter Weise weiterentwickelten Modelle für künftige Interart-Ästhetiken fruchtbar zu machen wären, die der heutigen Situation einer permanenten Entgrenzung und Grenzüberschreitung zwischen den Künsten sowie der zunehmenden Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst Rechnung zu tragen vermöchten. Dabei kann es selbstverständlich weder um eine umfassende Auslegung des Laokoon gehen noch um eine detaillierte Auseinandersetzung mit allen Implikationen des Gesamtkunstwerkbegriffs. Es sollen lediglich Anknüpfungspunkte markiert werden, die von heutigen InterartÄsthetiken aufgegriffen werden könnten bzw. sollten. Lessings berühmte Gegenüberstellung von Malerei und Dichtung lautet: Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig diese Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile nebeneinander existieren, aufeinander folgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen. 5
Der erste Schritt, den Lessing hier in seiner Abgrenzung von Malerei und Dichtung vornimmt, bezieht sich auf die je spezifische Materialität der Künste: Figuren und Farben in der Malerei und artikulierte Töne in der Dichtung. Zunächst fällt auf, dass er hier unter Dichtung nicht den geschriebenen Text versteht, der sich auch aus »Figuren« zusammensetzt, sondern die vorgetragene, die aufgeführte Poesie, deren Material die von einer Stimme artikulierten Töne ausmachen. Aus der Differenz in der Materialität als solcher zieht Lessing noch keine besonderen Schlussfolgerungen, sondern erst nachdem er diese auf ihr Verhältnis zu Raum und Zeit hin bestimmt hat: Figuren und Farben in dem Raume in der Malerei und artikulierte Töne in der Zeit in der Dichtung. Damit sind Malerei und Dichtung als zwei grundlegend unterschiedliche Medien definiert. Das eine verwendet Zeichen, die es durch eine simultane räumliche Anordnung dem 5 | Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon, XVI, S. 114.
E INLEITUNG
Auge präsentiert, das andere solche, die es in einer zeitlichen Abfolge als transitorische dem Ohr übermittelt. Aus diesem Unterschied hinsichtlich Materialität und Medialität der beiden Künste – der ganz anders zu bestimmen wäre, wenn von Dichtung als einem schriftlich fixierten Text ausgegangen würde – zieht Lessing nun in der Tat weitreichende Konsequenzen. Sie betreffen zum einen die Gegenstände, die von den beiden Künsten repräsentiert werden sollen, d.h. ihre spezifische Semiotizität, und zum anderen die Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung, die sie ermöglichen – ihre Ästhetizität. Beide, Semiotizität und Ästhetizität, hängen nicht nur eng miteinander zusammen; sie hängen nach Lessing auch unmittelbar von den jeweiligen materialen und medialen Bedingungen ab, die mit den beiden Künsten gesetzt sind. Lessing spricht in dem oben zitierten Absatz von einem »bequemen Verhältnis«, welches die Zeichen zu dem Bezeichneten haben müssen, und zieht daraus den Schluss, den er braucht, um die Leistungen von Malerei und Dichtung grundsätzlich voneinander abgrenzen zu können, nämlich dass »nebeneinandergeordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile nebeneinander existieren«, auszudrücken vermögen, »aufeinanderfolgende Zeichen aber auch nur Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen«. Entsprechend fährt er fort: Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die aufeinander, oder Teile, die aufeinander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.6
Zwar räumt Lessing die Möglichkeit ein, dass auch die Poesie Körper und die Malerei Handlungen darzustellen vermögen. Er besteht jedoch darauf, dass die Dichtung Körper lediglich andeutungsweise und auch nur durch Handlungen darstellen könne und entsprechend die Malerei Handlungen nur andeutungsweise durch Körper. Die besondere Semiotizität der beiden Künste ist also in diesem Sinne durch eine gewisse Entsprechung zwischen der Materialität der verwende-
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ten Zeichen sowie den medialen Bedingungen ihrer Vermittlung und den von ihnen bezeichneten Gegenständen charakterisiert. Man mag daher zunächst versucht sein, Lessings Konzept des »bequemen Verhältnisses« auf eine Nachahmungsästhetik zu beziehen. Denn wenn es darum geht, Körper und Handlungen nachzuahmen, so mag dies am leichtesten zu bewerkstelligen sein, wenn man dazu jeweils Zeichen verwendet, die gewisse materielle und mediale Bedingungen mit ihnen teilen: also für die Darstellung von Körpern Zeichen, die nebeneinander im Raum kombiniert werden, und für die Darstellung von Handlungen Zeichen, die einander in der Zeit folgen. Dann wäre allerdings das Konzept des bequemen Verhältnisses eines, das für heutige Interart-Ästhetiken kaum fruchtbar gemacht werden könnte. Nun ist jedoch die Nachahmungsästhetik bei Lessing den Zielen einer Wirkungsästhetik nachgeordnet. Sie hat nur insofern Geltung, als sie die Ziele der Wirkungsästhetik zu befördern vermag. Insofern die Herstellung von Illusion einer Wirklichkeit die Voraussetzung für die jeweils intendierte Wirkung darstellt und die Nachahmungsästhetik eben auf die Möglichkeit reflektiert, Illusionen zu schaffen, gewinnt sie für Lessing ihre Bedeutung. Das Konzept des bequemen Verhältnisses zielt jedoch nicht auf sie, sondern auf die Wirkung, die das betreffende Werk auf den Rezipienten ausüben soll, auf die spezifische ästhetische Erfahrung, die es ermöglicht.7 Für diese Erfahrung ist zum einen die durch die besonderen medialen Bedingungen der beiden Künste gezogene Verbindung zu den verschiedenen Sinnen von Bedeutung: zum Auge und zum Ohr. Mit jedem sind andere Voraussetzungen für die Wahrnehmung gegeben. Das Auge zielt auf die Wahrnehmung eines Dinges als Ganzes. Erst betrachten wir die Teile desselben einzeln, hierauf die Verbindung dieser Teile, und endlich das Ganze. Unsere Sinne verrichten diese verschiedenen Operationen mit einer so erstaunlichen Schnelligkeit, daß sie uns nur eine einzige zu sein bedünken, und diese Schnelligkeit ist unumgänglich notwendig, wenn wir einen Begriff von dem Ganzen, welcher nichts mehr als das Resultat von Begriffen der Teile und ihrer Verbindung ist, bekommen sollen. 8
7 | Vgl. hierzu vor allem Karlheinz Stierle: »Das bequeme Verhältnis«. 8 | Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon, S. 123.
E INLEITUNG
Für das Hören dagegen gelten ganz andere Bedingungen. Dies wird vor allem deutlich, wenn der Dichter versucht, das, was das Auge mit einem Mal übersieht, langsam nach und nach aufzuzählen: […] für das Ohr […] sind die vernommenen Teile verloren, wenn sie nicht in dem Gedächtnisse zurückbleiben. Und blieben sie schon da zurück: welche Mühe, welche Anstrengung kostet es, ihre Eindrücke alle in eben der Ordnung so lebhaft zu erneuern, sie nur mit einer mäßigen Geschwindigkeit auf einmal zu überdenken, um zu einem etwanigen Begriffe des Ganzen zu gelangen! 9
Das »bequeme Verhältnis« der Zeichen zu dem von ihnen Bezeichneten hat also weniger mit dem Problem der Nachahmung – oder auch dem der Unterscheidung zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen, die Lessing der Malerei bzw. der Dichtung zuordnet – zu tun, als mit den spezifischen medialen Bedingungen der beiden Künste, die zugleich als bestimmte Wahrnehmungsbedingungen zu begreifen sind. Für die ästhetische Erfahrung sind zum anderen die Möglichkeiten relevant, welche die Art der Darstellung für die Tätigkeit der Einbildungskraft eröffnet. Lessing führt dies als Erläuterung des Konzepts vom fruchtbaren Augenblick aus. Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkt brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden: so ist gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblicks, nicht fruchtbar genug gewählt werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.10
Das heißt, das bequeme Verhältnis, welches die Zeichen zu dem von ihnen Bezeichneten einnehmen sollen, drückt sich auch darin aus, dass das Dargestellte – durch die Art seiner Darstellung – befähigt wird, die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf einen Augenblick zu 9 | Ebd. 10 | Ebd., S. 23.
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konzentrieren und auf diese Weise seine Einbildungskraft in Bewegung zu setzen. Der Zustand, in den er dadurch versetzt wird, gilt Lessing als ästhetische Erfahrung. Dass Lessing hierin eben die besondere Qualität und Bedeutung von ästhetischer Erfahrung nicht etwa nur in einer der beiden Künste sieht – auch wenn er das Konzept des fruchtbaren Augenblicks am Beispiel der Malerei erläutert –, sondern von Kunst schlechthin, geht aus einer Bemerkung aus der nur wenig später entstandenen Hamburgischen Dramaturgie hervor. Hier stellt er Natur und Kunst einander folgendermaßen gegenüber: In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können.
Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer Verbindung verschiedener Gegenstände, es sei der Zeit oder dem Raume nach, in unseren Gedanken absondern, oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab und gewährt uns diesen Gegenstand oder diese Verbindung verschiedener Gegenstände, so lauter und bündig, als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, gestattet.11 Ästhetische Erfahrung nimmt in diesem Sinne immer, d.h. in allen Künsten, von der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf ein Objekt, auf einen Augenblick, ihren Ausgang. Wenn wir von den normativen Voraussetzungen und Schlussfolgerungen im Laokoon absehen und uns auf das methodische Vorgehen konzentrieren, das befolgt wird, fällt ins Auge, dass Lessing die beiden ihn hier interessierenden Künste nicht im Hinblick auf einzelne Merkmale vergleicht, wie es die ut pictura poiesis-These impliziert, die er ja gerade widerlegen will. Vielmehr untersucht er das jeweilige 11 | Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, Stuttgart 1981, 70. Stück, S. 361.
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wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen Materialität, Medialität, Semiotizität und Ästhetizität in den beiden Künsten. Dabei interessiert ihn vor allem, wie Materialität, Medialität und Semiotizität zusammenspielen, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen und so ästhetische Erfahrung zu ermöglichen. Nun hat Lessing eine sehr klare Vorstellung davon, wie diese ästhetische Erfahrung beschaffen sein soll. Auf dieser Grundlage bzw. mit Blick auf sie nimmt er seine normativen Schlussfolgerungen sowie die Bewertungen der beiden Künste vor. Wenn wir davon abstrahieren, finden wir im Laokoon ein Vorgehen realisiert, das in mancher Hinsicht auch für heutige Interart-Ästhetiken modellbildend sein könnte. Es sind vor allem zwei Aspekte, die Lessings Methode als interessant und erfolgversprechend erscheinen lassen. Das ist zum Ersten die Fokussierung auf die durch die Künste ermöglichte ästhetische Erfahrung. Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei ästhetischer Erfahrung nicht um eine Erfindung des 18. Jahrhunderts handelt, die im Zuge der Proklamation der Autonomie von Kunst gemacht wurde, sondern um eine anthropologische Gegebenheit, die je nach kulturellen und historischen Bedingungen sich anders artikuliert und verwirklicht – und gegebenenfalls sich nicht nur durch und in Kunst verwirklicht12 –, dann erscheint ästhetische Erfahrung als eine für jede Interart-Ästhetik fundamentale Kategorie. Denn sie liefert den Bezugspunkt, unter dem der Vergleich verschiedener Künste überhaupt erst interessant und relevant wird. Sind es nicht nur historische und kulturelle Bedingungen, die eine je andere Artikulation und Verwirklichung von ästhetischer Erfahrung ermöglichen, sondern auch die verschiedenen Künste und ihre je unterschiedlichen historischen und kulturellen Erscheinungsformen? Dies sind Fragen, die m.E. grundlegend für jede Art von Interart-Ästhetik sein müssten. Der zweite Aspekt besteht in der Annahme, dass ästhetische Erfahrung von dem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zwischen je unterschiedlicher Materialität, Medialität und Semiotizität in den Künsten abhängt. Das heißt, wenn die je besondere ästhetische Erfahrung ermittelt und bestimmt werden soll, die eine Kunst ermöglicht, müssen die ihr eigene Materialität, Medialität und Semiotizität sowie ihr Verhältnis zueinander untersucht werden. Derartige Unter12 | Vgl. zum Begriff der ästhetischen Erfahrung, seiner Geschichte und seiner unterschiedlichen Semantik Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2003.
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suchungen sind nicht nur relevant, wenn von der prinzipiellen Verschiedenheit der Künste ausgegangen wird, sondern auch im Hinblick auf Grenzüberschreitungen, ja Grenzverwischungen. Denn diese setzen ja voraus, dass zunächst Grenzen gezogen wurden, die dann überschritten bzw. verwischt werden können. Vor allem stellt sich die Frage, in welcher Hinsicht jeweils die Grenzen überschritten werden – im Hinblick auf die Materialität, die Medialität, die Semiotizität oder die Ästhetizität der beteiligten Künste. In seiner Inszenierung der Wildeschen Salome (Düsseldorfer Schauspielhaus 1997) überschritt Einar Schleef nach Meinung vieler Zuschauer die Grenzen zwischen Theater und bildender Kunst. Nachdem der eiserne Vorhang hochgezogen worden war, präsentierte sich dem Publikum auf der Bühne ein tableau vivant. Im Bühnenraum, in dem graublaues Dämmerlicht sich ausbreitete, verteilten sich achtzehn grau oder schwarz gekleidete Figuren vollkommen bewegungslos in malerischen Attitüden und Konfigurationen. Das Bild, das sich den Zuschauern bot, war sehr schön und wurde bei seinem Erscheinen mit bewundernden »Ah«- und »Oh«-Ausrufen begrüßt. Nun stellt ein tableau vivant in einer Theateraufführung nicht unbedingt etwas Neues dar. Vor allem seit dem 18. Jahrhundert bürgerte es sich ein, einen prägnanten Moment der Aufführung – einen fruchtbaren Augenblick – durch ein tableau vivant zu markieren, das sich nach kurzer Zeit auflöste. Auch Anfang und Ende einer Aufführung wurden in der Theatergeschichte seitdem häufig mit einem tableau vivant besonders hervorgehoben. Dies Spiel mit den Grenzen zwischen der Schauspielkunst als einer »transitorischen Malerei«, wie Lessing sie definierte,13 und der Malerei als Abbildung einer im Moment des fruchtbaren Augenblicks angehaltenen Szene, das vor allem Diderot sehr schätzte, gehört also zum überlieferten Repertoire inszenatorischer Verfahren. Was seine Anwendung in Schleefs Inszenierung jedoch so provokant werden ließ, war die zeitliche Ausdehnung des tableau vivant. Es dauerte volle zehn Minuten an. Dann senkte sich der Vorhang und das Publikum wurde in die Pause entlassen. Bereits nach der ersten Minute zeigte sich das Publikum irritiert. Zwar lud das tableau vivant die Zuschauer wie ein Gemälde in einer Galerie oder einem Museum zur Betrachtung ein. Den Zuschauern waren die unterschiedlichen medialen Bedingungen allerdings nur allzu 13 | Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 5. Stück, S. 37.
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bewusst, so dass nur wenige bereit waren, sich im Theater auf die medialen Bedingungen der Malerei einzulassen. Die einen applaudierten, pfiffen, riefen »Bravo« und »Da capo« und bezogen sich damit unmissverständlich auf die besonderen medialen Bedingungen von Theater, wie sie durch die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern gegeben sind. Andere machten sich diese Bedingungen insofern zunutze, als sie nun ausdrücklich den Part der Akteure übernahmen. Sie machten mehr oder weniger geistreiche Bemerkungen und zogen so die Aufmerksamkeit der übrigen Zuschauer auf sich. Wieder andere rügten sie dafür und bestanden lautstark auf ihrem Recht, sich ohne ablenkenden Lärm in die Betrachtung des tableau vivant zu versenken. Wie auch immer die Zuschauer sich verhielten, sie wurden dabei von den wie Skulpturen im Raum stehenden Schauspielern beobachtet, die sich – trotz größter entsprechender Anstrengungen von Seiten einiger Zuschauer – kein Lächeln, kein Räuspern, keine Bewegung abringen ließen. Obwohl sie sich wie Statuen verhielten, nahmen die Zuschauer sie offensichtlich als Akteure wahr, mit denen sie in eine Interaktion treten wollten. Die Schauspieler erschienen so als scheinbar passive Zuschauer, während die Zuschauer den Part von aktiven, zum Teil sich streitenden Akteuren übernahmen, die sich vergeblich abmühten, die »Zuschauer« auf der Bühne in Aktion zu versetzen. Die Grenzüberschreitung zwischen Theater und bildender Kunst, die Schleef hier vornahm, ließ nur umso schärfer die spezifischen medialen Bedingungen von Theater hervortreten, ja erschien geradezu als Reflexion auf die unterschiedliche Medialität beider Künste (und natürlich auch auf den im 20. Jahrhundert mit großer Heftigkeit geführten Streit um die Passivität oder Aktivität des Publikums). Schleefs Inszenierung knüpfte durchaus an Lessings Überlegungen im Laokoon an und führte sie auf eine sehr spezifische Weise weiter. Damit schloss sie sich zugleich an eine Tradition an, welche die historischen Avantgardebewegungen begründeten. Im 20. Jahrhundert waren es vor allem die Künstler, die im Akt der Grenzüberschreitung die Grenzen und Unterschiede zwischen den Künsten reflektierten; sie vollzogen ihn als einen Akt der Selbstreflexion der Kunst. Wenn die Kunstwissenschaften sich heute daran machen, Interart-Ästhetiken zu entwickeln, so sind sie daher gut beraten, wenn sie dabei von der künstlerischen Praxis ausgehen. Wagners Begriff des Gesamtkunstwerks, den er vor allem in den beiden frühen theoretischen Schriften Das Kunstwerk der Zukunft (1849) und Oper und Drama (1850/1851) entwickelte, mag zwar auf
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den ersten Blick als direkte Antithese zum Laokoon erscheinen. Denn während es Lessing darum ging, die verschiedenen Künste auf der Basis ihrer spezifischen materialen und medialen Bedingungen in ihrer Eigengesetzlichkeit voneinander abzugrenzen, strebte Wagner das »große Gesammtkunstwerk« an, »das alle Gattungen zu der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesammtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur«.14 Die einzelnen Künste müssen also im Gesamtkunstwerk auf eine solche Weise zueinander in Beziehung treten, dass sie als Einzelne gar nicht mehr abgrenzbar und identifizierbar sind. Das Gesamtkunstwerk würde an sich den Begriff der Einzelkünste auslöschen. D.h. die »Vereinigung aller Künste« zum Gesamtkunstwerk muss spezifischen Prinzipien und Bedingungen folgen. Sie ist auf keinen Fall so zu denken, »daß z.B. in einer Gemäldegalerie und zwischen aufgestellten Statuen ein Goethescher Roman vorgelesen und dazu noch eine Beethovensche Symphonie vorgespielt wurde«.15 Es ist jedoch nicht nur die vollkommene Zusammenhangslosigkeit lediglich zur selben Zeit und im selben Raum auftretender und sich artikulierender verschiedener Künste – in diesem Falle der bildenden Kunst, der Dichtung und der Musik –, gegen die Wagner hier polemisiert, sondern auch die bloße Beteiligung der verschiedenen Künste im Theater, wie sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts praktiziert wurde. An der Großen Oper, der zu seiner Zeit populärsten Form der Oper, kritisiert Wagner, dass sie nichts als eine bloße Addition der Künste darstelle. Dagegen proklamierte Wagner die Vereinigung der Künste als ihre vollkommene Fusion, ihre Verschmelzung. Das hat für die Beschreibung und theoretische Erfassung des Gesamtkunstwerks weitreichende Folgen. Denn da in ihm die Einzelkünste nicht mehr gegeneinander abgrenzbar sind, können sie auch nicht als die Elemente bzw. Einheiten bestimmt werden, aus denen das Gesamtkunstwerk sich aufbaut. Es müssen also andere Einheiten gefunden werden, die entweder den einzelnen Künsten zugrunde liegen oder aus der Fusion der Künste hervorgehen. 14 | Richard Wagners Gesammelte Schriften, hg. v. Julius Kapp, 10 Bde., Leipzig 1914, 3. Bd., S. 60. 15 | Richard Wagner: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 3.
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Entsprechend fordert Wagner, dass das Gesamtkunstwerk dem Inhalt und der Form nach aus einer Kette […] organischer Glieder« bestehen solle, die sich gegenseitig so bedingen, ergänzen und tragen müssen, wie die organischen Glieder des menschlichen Leibes, der dann ein vollkommener, lebendiger ist, wenn er aus all den Gliedern, die ihn durch gegenseitiges Sichbedingen und Ergänzen ausmachen, besteht, keine ihm fehlen, keine ihm aber auch zu viel sind.16
Zwar sind die Einzelkünste an der Konstitution dieser »organischen Glieder« beteiligt, sie sind jedoch nicht mehr als Einzelne identifizierbar. Jede erfüllt vielmehr eine spezifische Funktion für das gesamte »organische Glied«. So hat z.B. »das Orchester zunächst nach seinem besonderen Vermögen […] die dramatische Gebärde der Handlung« auszudrücken. Der Sänger weiß sich als »Darsteller einer zunächst sprachlich ausgedrückten und bestimmten Persönlichkeit« und ist daher imstande, »die zum Verständnisse der Handlung erforderliche Gebärde dem Auge kundzutun«.17 Es wird also in einem ersten Schritt auf jene kleineren Einheiten zurückgegangen, in die sich die einzelnen beteiligten Künste zerlegen lassen, wie die Tonfolge, die Gebärde, der sprachliche Ausdruck. Diese Einheiten treten nun auf eine Weise zueinander in Relation, dass sie zusammen als komplexe Einheiten die »organischen Glieder« bilden. Ein solches »organisches Glied« stellt beispielsweise die »Handlung« dar, die sowohl vom Orchester als auch vom Gesang des Sängers dargestellt wird, oder auch die »dramatische Persönlichkeit«, an deren Aufbau wiederum Orchester, Gesang, Sprache und Gebärde beteiligt sind. Die Einzelkünste bewerkstelligen also mit den sie konstituierenden Elementen den Aufbau solcher komplexer Einheiten wie Handlung und Figur, sind aber als Einzelkünste in ihnen ausgelöscht und aufgehoben. Das zeigt sich auch daran, dass in diesen »organischen Gliedern« die beteiligten Einzelkünste sich gegenseitig beeinflussen und sich daher verändern. So bewirkt die Vereinigung von Sprache, Musik und Gebärde, dass Musik und Gebärde stärker semantisiert werden, Sprache dagegen desemantisiert. Entsprechend äußerte sich Wagner über die große Szene zwischen Alberich und Hagen: »Das wird wirken,
16 | Ebd., S. 196. 17 | Ebd., S. 217f.
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wie wenn zwei seltsame Tiere miteinander sprechen, man versteht nichts, und alles ist interessant.«18 Solche gegenseitigen Transformationen, die zugleich die Einzelkünste in ein Gesamtkunstwerk transformieren, setzen eine Verschiedenheit der beteiligten Einzelkünste voraus. Wagner, der sich vor allem auf die Musik, den Tanz und die Dichtkunst konzentriert, schlägt zur Bestimmung ihrer Differenzen einen signifikant anderen Weg ein als Lessing. Statt ihren spezifischen materialen und medialen Bedingungen nachzugehen, bezieht er sie auf anthropologische Kategorien. So ordnet er den Tanz dem »Leibesmenschen«, die Musik dem »Gefühlsmenschen« und die Dichtkunst dem »Verstandesmenschen« zu.19 Entsprechend drückt sich im Tanz der »Leibesmensch« aus, in der Musik der »Gefühlsmensch«, in der Dichtkunst der »Verstandesmensch«, richtet sich der Tanz an den »Leibesmenschen«, die Musik an den »Gefühlsmenschen«, die Dichtung an den »Verstandesmenschen«. Die drei Künste unterscheiden sich also darin, dass sie jeweils einen anderen Aspekt des Menschseins zum Ausdruck bringen und jeweils ein anderes menschliches Vermögen ansprechen. Ihrer Vereinigung im Gesamtkunstwerk würde daher eine Vereinigung des Leibes- mit dem Gefühls- und Verstandesmenschen korrespondieren. Im Gesamtkunstwerk könnte so der »ganze« Mensch zum Ausdruck kommen und in seiner Rezeption der Zuschauer sich als »ganzer« Mensch erfahren. Die Vereinigung der Künste im und zum Gesamtkunstwerk zielt entsprechend darauf, dem Zuschauer eine ästhetische Erfahrung zu ermöglichen, die Wagner – ganz offensichtlich in Anlehnung an Schiller – als die Selbsterfahrung eines Subjektes als eines »ganzen« Menschen bestimmt. In seiner Theorie des Gesamtkunstwerks untersucht er – ebenso wie Lessing im Laokoon, wenn auch unter völlig anderen Voraussetzungen und auf gänzlich anderen Wegen – die Bedingungen, unter denen Kunst im Rezipienten eine ästhetische Erfahrung auszulösen vermag. Die Große Oper ist nach Wagner dazu nicht imstande, weil die Addition der Künste, die er ihr vorwirft, nur der Maximierung des Effektes diene. Die Vereinigung der Künste im Gesamtkunstwerk dagegen ist nach Wagner gerade wegen der in ihr
18 | Cosima Wagner: Die Tagebücher, 1869-1883, 2 Bde., hg. v. Martin Gregor-Dellin/Dietrich Mack, München 1976/1977, S. 770. 19 | Vgl. Richard Wagner: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 67.
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sich vollziehenden Transformation der Einzelkünste dazu befähigt, dem Zuschauer ästhetische Erfahrung zu ermöglichen. Von diesen Transformationen scheint Wagner diejenige besonders wichtig zu sein, die dazu führt, dass im Gesamtkunstwerk Erkenntnis sich nicht im Modus des Verstandes, sondern im Modus des Gefühls vollzieht. Die Desemantisierung der Sprache in den »organischen Gliedern« hebt die Vorherrschaft des Verstandes auf. Ihr korrespondiert die erhöhte Semantisierung der Musik, die durch die »Anlehnung« des Orchesters »an die Gebärde«20 erreicht wird. Diese Semantisierung befähigt sie zum »Aussprechen« des »Unaussprechlichen«. Als »Vermögen der Kundgebung des Unaussprechlichen«21 bezieht sich das Orchester sehr viel stärker auf die Geste als auf das Wort. Das heißt, die Versprachlichung bzw. Semantisierung der Musik ist nicht als musikalische Wiederholung von Aussagen zu begreifen, die ebenso gut in der Sprache gemacht werden können, sondern als musikalische Formulierung von Aussagen, die in der Sprache gar nicht möglich wären. Das Leitmotiv übernimmt in diesem Sinne die Funktion sowohl der »Erinnerung« als auch der »Ahnung«,22 die so – auf dem Wege über das Orchester – sinnlich im Theater appräsentiert und zugleich im Zuschauer ausgelöst werden. Die Aussagen, welche das Gesamtkunstwerk macht, können daher auch nicht vom Verstand aufgenommen und begriffen werden: »Die Kunst hört, genaugenommen, von da an Kunst zu sein auf, wo sie als Kunst in unser reflektierendes Bewußtsein tritt.« Die Aussagen des Musikdramas können nur mit dem Gefühl erfasst werden: »Im Drama müssen wir Wissende werden« – aber Wissende wie Brünnhilde am Ende der Götterdämmerung oder wie Parsifal im dritten Akt: »durch das Gefühl« und nicht durch den »vermittelnden Verstand«. »Vor dem dargestellten dramatischen Kunstwerke darf nichts mehr dem kombinierenden Verstande aufzusuchen übrigbleiben: Jede Erscheinung muß in ihm zu dem Abschlusse kommen, der unser Gefühl über sie beruhigt.« Die »bestimmt erfassenden Organe« des Gefühls sind die »Sinne«. Die dramatische Handlung muss daher vollständig auf dem Wege der »sinnlichen Anschauung«23 vermittelt werden. Entsprechend schreibt Wagner in Zukunftsmusik, 20 | Richard Wagner: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 186. 21 | Ebd., S. 173. 22 | Ebd., S. 186. 23 | Ebd., S. 78f.
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dass »wir diejenige Kunstform als die ideale ansehen« müssen, »welche gänzlich ohne Reflexion begriffen werden kann«.24 Diese Kunstform ist nach seiner Auffassung allein das Gesamtkunstwerk, in dem die verschiedenen Künste sich auf eine spezifische, sie jeweils als Einzelkünste aufhebende und in ihrer Eigenart transformierende Weise vereinigen. Die ästhetische Erfahrung, die es ermöglicht, beschreibt Wagner entsprechend als Eintauchen in »jene ideale Täuschung, […] die uns in ein dämmerndes Wähnen, in ein Wahrträumen des nie Erlebten einschließt«.25 Um Wagners Theorie des Gesamtkunstwerks als eine InterartÄsthetik begreifen zu können, die sich für die heutige Diskussion fruchtbar machen lässt, müssen wir hinter die Antworten zurückgehen, die Wagner gegeben hat, bzw. sie als offene Fragen reformulieren. Besonders wichtig erscheint mir dabei der Bezug auf die ästhetische Erfahrung. Es gälte also zu ermitteln, welche Möglichkeiten für ästhetische Erfahrung dadurch eröffnet werden, dass verschiedene Künste zusammentreten; wie diese Möglichkeiten sich verändern, je nachdem, welche Künste bei der Entstehung derartiger »Verbünde« zusammenwirken und auf welche Art sie zusammenwirken: ob sie ohne erkennbaren Zusammenhang lediglich nebeneinander auftreten oder sich wahrnehmbar aufeinander beziehen, ob sie sich gegenseitig ergänzen und stützen oder gar miteinander verschmelzen. Der zweite Aspekt, den ich in unserem Zusammenhang für diskussionswürdig halte, geht aus Wagners Behauptung hervor, dass im Gesamtkunstwerk die verschiedenen beteiligten Künste in ihrer Eigenart transformiert werden. Es wäre also zu fragen, wie sich das Zusammentreffen verschiedener Künste in allen seinen möglichen Spielarten auf die beteiligten Künste auswirkt. D.h. es müsste untersucht werden, auf welche Weise Materialität, Medialität, Semiotizität und Ästhetizität der beteiligten Künste von der jeweiligen Kombination affiziert werden – und wie sich dies wiederum auf die ästhetische Erfahrung auswirkt, welche diese ermöglicht. Derartige Untersuchungen sind bereits durchgeführt worden – allerdings ausschließlich von Künstlern. In seinem Untitled Event, das John Cage 1952 im Black Mountain College initiierte, testete er aus, was mit verschiedenen Künsten passiert, wenn man sie nach dem Zufallsprinzip aufeinandertreffen lässt, und welche Möglichkeiten 24 | Richard Wagner: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 130. 25 | Richard Wagner: Gesammelte Schriften, Bd. 9, S. 340.
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für ästhetische Erfahrung sich daraus für die Zuschauer ergeben. An dem Ereignis waren außer Cage der Pianist David Tudor, der Komponist Jay Watts, der Maler Robert Rauschenberg, der Tänzer Merce Cunningham und die Dichter Charles Olsen und Mary Caroline Richards beteiligt. Die gemeinsamen Vorbereitungen waren minimal: Jeder Akteur erhielt eine Art Partitur ausgehändigt, in der lediglich time brackets eingetragen waren. Sie gaben die Zeiten für Aktionen, Pausen und Stille an und waren von jedem Teilnehmer individuell auszufüllen. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass zwischen den verschiedenen Aktionen keine kausale Beziehung bestand, d.h. dass »anything that happened after that happened in the observer himself«.26 Das heißt, das Untitled Event entsprach in etwa Wagners Horrorvorstellung, dass »in einer Gemäldegalerie und zwischen aufgestellten Statuen ein Goethescher Roman vorgelesen und dazu noch eine Beethovensche Symphonie vorgespielt würde«. Das »Ereignis« fand im Speisesaal des Colleges statt. An seinen Längs- und Schmalseiten waren die Stühle für die Zuschauer – die sich aus den übrigen Teilnehmern der Sommerschule, Mitarbeitern des Colleges und ihren Familien sowie aus der Landbevölkerung der Umgebung zusammensetzten – jeweils in vier Dreiecken angeordnet, deren eine Spitze in die Mitte des Raumes wies, ohne eine andere zu berühren. In der Mitte blieb so ein großer Raum frei, auf dem sich allerdings nur wenige Aktionen abspielten. Er fungierte eher als eine Art Durchgangsraum. Zwischen den Dreiecken waren breite Gänge freigelassen, die als zwei einander in der Mitte kreuzende Diagonalen den ganzen Raum durchmaßen. Auf jedem Stuhl war eine weiße Tasse platziert. Den Zuschauern wurde jegliche Erläuterung zu ihrem möglichen Gebrauch vorenthalten; sie verwendeten sie zum Teil als Aschenbecher. An der Decke hingen Gemälde von Robert Rauschenberg – seine »white paintings«. Cage, in schwarzem Anzug mit Krawatte, stand auf einer Trittleiter und verlas einen Text über die Beziehung zwischen Musik und Zen-Buddhismus sowie Auszüge aus Meister Eckharts Schriften. Anschließend führte er eine »Komposition mit einem Radio« auf. Zur selben Zeit spielte Rauschenberg alte Schallplatten auf einem handbetriebenen Grammophon mit Schalltrichter ab, neben dem ein Hund saß – lauschend auf »his master’s voice«. David Tudor bearbei26 | John Cage, zitiert nach Roselee Goldberg: Performance Art. From Futurism to the Present, New York 1988, S. 126.
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tete ein »prepared piano«; später fing er an, Wasser aus einem Eimer in einen anderen zu gießen, während Olsen und Richards eigene Dichtungen vortrugen – zum Teil inmitten der Zuschauer, zum Teil von einer Leiter aus, die an eine der Schmalwände gelehnt war. Cunningham tanzte mit anderen Tänzern durch die Gänge und zwischen den Zuschauern hindurch, verfolgt von dem inzwischen vollkommen durchgedrehten Hund. Rauschenberg projizierte auf die Decke und eine Längswand abstrakte Dias (die durch das Zerreiben von farbiger Gelatine zwischen zwei Glasplatten entstanden waren) und Filmausschnitte, die zunächst den Koch des Colleges zeigten und später, als sie allmählich von der Decke auf die andere Längswand wanderten, die untergehende Sonne. In einer Ecke des Raumes spielte der Komponist Jay Watts auf verschiedenen, für die Zuschauer zum Teil exotischen Instrumenten. Die Aufführung endete damit, dass vier in Weiß gekleidete Jungen den Zuschauern Kaffee in die Tassen einschenkten – ganz gleich, ob diese sie als Aschenbecher benutzt hatten oder nicht. Ganz zweifellos wurden in diesem Experiment durch das Zusammentreffen verschiedener Künste deren Medialität und Semiotizität affiziert. So wurden die Werke der bildenden Kunst – die white paintings und die Dias – ebenso wie die der Literatur – die Schriften Meister Eckharts und die Dichtungen von Olsen und Richards – den medialen Bedingungen von Aufführungen unterworfen, wie sie generell für Musik und Tanz gelten. Sie konstituierten wesentlich die Materialität der Aufführung mit und wurden von deren Flüchtigkeit und Transitorik angesteckt. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer wurde von ihrem Artefakt- bzw. Textcharakter ab- und auf die Eigenart hingelenkt, dass mit ihnen etwas getan wurde: dass sie – wie die Dias – in schneller Folge vorgeführt und – wie die Texte – vorgetragen wurden. Anstatt sich in die Betrachtung der Bilder versenken zu können, mussten die Zuschauer an der Decke und der Längswand vorüberhuschenden Farben und Formen folgen. Statt sich lesend in einen Text zu vertiefen, vor- und zurückzublättern, lauschten die Zuschauer den flüchtigen Sprachlauten, welche die Stimmen von Cage, Olsen und Richards artikulierten. Auch die Materialität der beiden Künste wurde in diesem Sinne durch das Zusammentreffen mit anderen tangiert. In dieser Aufführung wurden also die verschiedenen Künste nicht wie im ihr zeitgenössischen Theater unter Bezug auf eine Geschichte sowie auf miteinander interagierende Figuren eingesetzt; ihre Dramaturgie bestand vielmehr darin, sie zufällig aufeinandertreffen zu
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lassen. Daher waren die Bedingungen für die Wahrnehmung der Zuschauer und ihre Bedeutungskonstitution grundlegend anders nicht nur als diejenigen, die für Werke der einzelnen beteiligten Künste gelten, sondern auch als die Bedingungen für Theateraufführungen, die mit verschiedenen Künsten arbeiten. Denn da dramaturgische und inszenatorische Verfahren fehlten, welche die Wahrnehmung gelenkt und einen sinnvollen Zusammenhang zwischen den Handlungen der Akteure und dem Raum hätten stiften können, war hier jeder Zuschauer aufgefordert, aus den ihm gleichzeitig angebotenen Wahrnehmungsmöglichkeiten selbst eine Auswahl zu treffen bzw. sein Auge beliebig schweifen zu lassen und solche Zusammenhänge herzustellen, die ihm seine Phantasie, sein Erinnerungs- und Assoziationsvermögen eingaben. Das wiederum hatte Auswirkungen auf die Ästhetizität: Da jeder Zuschauer hier seine eigene Aufführung herstellen musste, war die ästhetische Erfahrung, die dadurch ausgelöst wurde, eine ganz besondere. Mit den Lösungen, die Lessing und Wagner für das Problem entwarfen, haben sie es zugleich weiter profiliert und als Problem in aller Schärfe konturiert, auch wenn die Lösungen selbst – nicht zuletzt wegen der Einbettung in eine normative Ästhetik auf der einen Seite und die organismische Konzeption bzw. das zugrundeliegende anthropologische Modell auf der anderen – heute so kaum mehr akzeptabel erscheinen. Für den, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt nach den oben skizzierten Prämissen arbeiten und die Erkenntnisse über die herkömmlichen Grenzen der etablierten Kunstwissenschaften hinaus fruchtbar machen möchte, bieten sie gleichwohl insofern einen vielversprechenden Ausgangspunkt, als sie für zwei unterschiedliche Modi von Interart-Phänomenen ein exemplarisches Erklärungsmodell suchen. Zugleich ist klar, dass wichtige aktuelle Ausprägungen von Interart-Phänomenen nicht mehr in den beiden traditionellen Modellen aufgehen: So lässt sich z.B. an den avancierten, transmedialen Theaterproduktionen von Heiner Goebbels, Frank Castorf oder René Pollesch studieren, wie Elemente verschiedener Künste – fernab vom Gesamtkunstwerk-Modell, aber auch vom Gedanken einer Übertragung von Potentialen – in spannungsgeladenen Konstellationen einander durchkreuzen, unterbrechen, verstellen oder behindern. Gerade solche Bruchlinien und Widerhaken innerhalb von Interart-Phänomenen unterstreichen die Notwendigkeit, mit Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu neuen Theorien und Beschreibungssprachen zu gelangen. Wie dabei verfahren und mit
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welchen Konzepten gearbeitet werden könnte, soll abschließend kurz unter nochmaligem Rekurs auf das Untitled Event skizziert werden. In Cages Untitled Event geht es ganz offensichtlich um Phänomene und Prozesse, die sich weder mit dem Begriff des Gesamtkunstwerks noch mit der Übertragung von Verfahren aus anderen Künsten angemessen beschreiben und erfassen lassen. Zum einen haben wir es hier mit einer radikalen Performativierung der einzelnen beteiligten Künste zu tun: Sie wurden alle aufgeführt. Wie ausgeführt, ging es hier nicht um die Betrachtung von Bildern oder die Entzifferung von Texten, sondern um eine spezifische Verwendung von Bildern und Texten in einer Aufführung, die als ihre Performativierung beschrieben werden kann.27 Eine solche Performativierung ist weder mit dem Begriff des Gesamtkunstwerks zu erfassen noch ist sie mit der Verwendung von Bühnenbildern und einem dramatischen Text in einer Schauspielaufführung gleichzusetzen. Durch Performativierung entsteht vielmehr etwas ganz Neues. Zum zweiten lässt sich das Untitled Event als ein Beispiel für Intermedialität erläutern. Denn außer Körper und Stimme setzte es auch das Klavier, die anderen Instrumente, das Grammophon und den Diaprojektor als Medien ein. Es kann in diesem Kontext nicht darum gehen, eine Diskussion des Medienbegriffs zu führen. Eine knappe Definition soll hier genügen. Der sogenannte schwache Medienbegriff bezieht sich auf jedes Mittel, durch das etwas anderes in Erscheinung tritt, wie Stimme, Schrift oder technische Medien wie Telefon, Grammophon, Fernsehen, Film, Computer. Im Verständnis des schwachen Medienbegriffs verschwindet das Medium hinter dem, was es vermittelt. Der starke Medienbegriff, wie er von Marshall McLuhan in Understanding Media (1964, dt. Die magischen Kanäle, 1968) vorausgesetzt wird, beinhaltet dagegen, dass »the medium is the message«. Eine mittlere Position vertritt Sybille Krämer, wenn sie schreibt: »Das Medium ist nicht einfach nur die Botschaft; vielmehr bewahrt sich an der Botschaft die Spur des Mediums.«28 Mit Blick auf Theorien der Intermedialität sind nur das starke und das mittlere Konzept von Interesse. 27 | Zum Begriff der Aufführung vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. 28 | Sybille Krämer: »Das Medium als Spur und Apparat«, in: dies. (Hg.): Medien, Computer, Realität, Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt a.M. 1998, S. 73-94, S. 81.
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Der Begriff der Intermedialität meint sowohl Medienkombinationen (wie in Wagners Gesamtkunstwerk oder auch in Cages Untitled Event) als auch intermediale Bezüge (wie in Lessings Laokoon und im Untitled Event) als auch Medienwechsel (wie im Untitled Event). Neben Theorien der Performativierung stellen entsprechend Theorien der Intermedialität29 vielversprechende Ansätze für eine neue Theorieentwicklung dar. Cages Untitled Event ließe sich mit Blick auf heutige Theorieentwicklungen auch mit dem Begriff des Hybriden oder der Hybridisierung beschreiben und analysieren. Bei diesem Begriff handelt es sich um einen terminus technicus, der in der Biologie eingeführt wurde, um Pflanzen oder Tiere zu bezeichnen, die als Ergebnisse eines speziellen Zuchtprozesses aus der Mischung zweier verschiedener Arten entstanden sind. In einer Hybridbildung erscheint also vereint, was »von Natur aus« nicht zusammengehört. Deswegen ist seine Anwendung auf kulturelle Phänomene und Prozesse nicht unproblematisch. Stellen die verschiedenen Künste »von Natur aus« unterschiedliche Phänomene dar, weswegen ihre Verbindung als eine Hybridbildung zu betrachten ist? Oder handelt es sich bei ihnen um Formen des menschlichen Ausrucksvermögens, die in oralen Kulturen in Ritualen, Festen, Spielen u.a. immer schon miteinander verbunden auftraten, so dass eher ihre Absonderung voneinander als ein »künstlicher Eingriff« in ihren »natürlichen« Verbund zu begreifen ist? Auch wenn aus den genannten Gründen die Verwendung des Begriffs im Felde des Kulturellen deplatziert erscheint, findet er dennoch weitgehende Verwendung. Mit Bezug auf die Künste und Medien werden mit ihm häufig Prozesse bezeichnet, welche Phänomene zusammenbinden, die traditionell als dichotomisch gedacht sind und daher einander auszuschließen scheinen – wie das Organische, Lebendige und das Mechanische (z.B. in den Performances des Künstlers Stelarc, der mit einem dritten, mechanischen Arm operiert oder sich an Computer anschließen lässt u.Ä.) – oder Formen, die in verschiedenen Epochen entwickelt wurden. Weniger im Sinne klar definierter Begriffe denn als Metaphern werden »Hybridisierung« und »Hybrid« auf Mischungen von Materialien, Verkettungen von Kodes und Kombinationen verschiedener Modelle im theoretischen Diskurs angewandt. Mit klareren begrifflichen Konturen findet der 29 | Vgl. zu solchen Theorien Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen/ Basel 2002.
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Ausdruck als Gegensatz von Einheit und Homogenität Verwendung. Das Hybride meint hier Vielfalt, Heterogenität, Relativität. Häufig bezeichnet der Terminus auch das Gegenteil zum Hierarchischen und Hegemonialen. Es wird insofern als eine formale Struktur begriffen, die nicht in einer Mischung resultiert. In diesem Begriffsverständnis würde »Hybridbildung« als Gegensatz zum Gesamtkunstwerkbegriff gelten. Es bleibt abzuwarten, ob der Begriff in Zukunft eine klarere Bestimmung erhält oder ob sein Vorzug gerade in seinem bisherigen metaphorischen Charakter besteht, der ein weites, nicht genauer bestimmtes Feld der Verwendung eröffnet.30 Wenn sich seine Semantik allerdings noch stärker ausweitet und jede Verbindung von Elementen einbezieht, die nicht auf den ersten Blick als zusammengehörig erscheinen, ist er nicht mehr produktiv einsetzbar. Gegenüber Lessings Theorie von der Übertragung von Potentialen oder auch Wagners Gesamtkunstwerkbegriff haben diese drei Begriffe den Vorzug, dass sie sich nicht nur auf Entgrenzungen zwischen den Künsten, sondern auch auf solche zwischen Kunst und anderen kulturellen Bereichen anwenden lassen. Sie erscheinen daher nicht nur für die Beschreibung und Analyse von Interart-Phänomenen geeignet, sondern auch für die vielfachen Überschneidungen, Verbindungen und Fusionen von künstlerischen und nicht-künstlerischen Phänomenen, die sich heute ohnehin nicht immer klar voneinander abgrenzen lassen. Wieweit die in den letzten Jahrzehnten nicht nur im Zusammenhang mit den Begriffen Performativität, Intermedialität und Hybridisierung entwickelten Theorien sich tatsächlich für die Beschreibung und Analyse zeitgenössischer – und auch vergangener – ästhetischer Phänomene und Prozesse als geeignet und produktiv erweisen, wird von den Beiträgen des vorliegenden Bandes ausgelotet. Im Zuge einer ersten Exploration dieses Forschungshorizontes sollte nicht zuletzt der Begriff und das Konzept des »Interart« selbst diskutiert und auf seine Fruchtbarkeit hin geprüft werden. Der vorliegende Band ist aus einer Universitätsvorlesung hervorgegangen, die im Sommersemester 2007 an der Freien Universität Berlin als Auftakt zum Internationalen Graduiertenkolleg »Interart« gehalten wurde, das zum Wintersemester 2007/2008 seine Arbeit aufnahm und sein Programm 30 | Vgl. Kien Nghi Ha: Hype und Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005.
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in Kooperation mit der Copenhagen Doctoral School in Cultural Studies, Literature, and the Arts durchführt. Das Kolleg verfolgt zunächst das Ziel, in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken bzw. -ereignissen der verschiedensten Epochen neue methodische Zugänge zu den jeweils anders in Erscheinung tretenden Interart-Phänomenen zu erarbeiten. Damit soll es zugleich der Entwicklung neuer ästhetische Kategorien dienen, welche die Tendenzen zu Performativierung, Multimedialisierung, Hybridisierung angemessen zu fassen vermögen. Längerfristig wird auf dieser Basis eine neue Theoriebildung angestrebt, die sich auf unterschiedliche Arten von Interart-Phänomenen bezieht, denen eine einzelne Kunstwissenschaft mit ihrer spezifischen Theoriebildung nicht gerecht zu werden vermag.
A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung: Laokoongruppe, 1. Jahrhundert AD, Vatikanische Museen, Rom. Quelle: Alex Potts: The sculptural imagination. Figurative, Modernist, Minimalist, New Haven [u.a.] 2000, S. 33.
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Ausweitung I: Zwischen den Künsten
Medienbegriffe — reine diskursive Strategien? Thesen zum ›relativen Konstruktcharakter‹ medialer Grenzziehungen Irina O. Rajewsky
Im Fokus dieses Bandes stehen zwei Tendenzen, die seit den 1960er Jahren in verstärktem Maße in künstlerischen Praktiken zu verzeichnen sind, nämlich zum einen eine Verwischung oder Aufhebung der Grenzen zwischen den Künsten und zum anderen eine Aufweichung oder Auflösung der Grenzen zwischen ›Kunst‹ und ›Leben‹, zwischen ›Fiktion‹ und ›Realität‹.1 Unterlaufen werden auf diese Weise traditionelle Grenzziehungen nicht nur zwischen einzelnen Künsten und Medien, sondern auch zwischen verschiedenen kunstwissenschaftlichen Disziplinen.2 Diese Beobachtung ist nun freilich keineswegs ein Novum, wie sich etwa seit nunmehr ca. zwei Jahrzehnten anhand verschiedener Beiträge im Bereich der Intermedialitätsforschung und seit einigen Jahren ebenso anhand transgenerisch und transmedial ausgerichteter Ansätze ablesen lässt, die ganz gezielt auf disziplinenübergreifende Forschungsperspektiven und entsprechende Theoriebildungen abheben.3 Zu nennen ist darüber hinaus die Debatte um 1 | Vgl. hierzu genauer die Einleitung zu diesem Band. 2 | Ich verstehe hier und im Folgenden ›Kunstwissenschaften‹ im weitesten Sinne; hierunter fallen also ebenso die Literaturwissenschaft wie die Kunstgeschichte oder etwa die Theater- und Filmwissenschaft. 3 | Verwiesen sei in diesem Zusammenhang zum einen ganz allgemein auf das junge Forschungsfeld der ›trans generischen und transmedialen Narratologie‹; verwiesen sei des Weiteren z.B. auf das von Werner Wolf gelei-
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den Begriff des Hybriden, die auch ihrerseits seit geraumer Zeit verwandte Fragestellungen verfolgt. Dies ändert jedoch nichts daran, dass nach wie vor zahlreiche Fragen offen sind, die gerade in Anbetracht der oben genannten Tendenzen besonders virulent erscheinen. Eben hier setzen jüngere Ansätze an, wie sie auch im Zusammenhang des Berliner Internationalen Graduiertenkollegs InterArt vorangetrieben werden. Ziel ist es dabei, über die bestehende Theoriebildung hinaus und z.T. in Abgrenzung zu dieser, neue theoretisch-methodische Zugänge und ästhetische Kategorien zu entwickeln, die die »Tendenzen zu Multimedialisierung, Hybridbildung, Performativierung« angemessen zu erfassen in der Lage sind.4 Hier deutet sich bereits an, welch wichtige Rolle dem Begriff des Hybriden in diesem Kontext zukommt. Dieser dient im Folgenden als ein erster Anknüpfungspunkt, um einige Fragestellungen aufzugreifen, die mir in diesem Gesamtzusammenhang ganz allgemein als zentral erscheinen. Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet dabei ein grundlegender Aufsatz zum Thema ›Hybridkultur‹ von Irmela Schneider – »Von der Vielsprachigkeit zur ›Kunst der Hybridation‹« – aus dem Jahr 1997.5 In dem genannten Beitrag geht Schneider verschiedenen Diskursen des Hybriden nach, wobei der Fokus ihrer Ausführungen auf ausgewählten diskursiven Zusammenhängen liegt, in denen die Kategorie des Hybriden aus natur- und technikwissenschaftlichen Kontexten gelöst und zur Beschreibung ganz unterschiedlicher Phänomene herangezogen wird.6 Die Felder, denen sich Schneider ausführlicher widmet, umfassen das Hybride in Bachtins Theorie des Romans, die tete Forschungsprojekt »Metareference — A Transmedial Phenomenon« an der Universität Graz, das Meta-Phäno mene in verschiedenen Künsten und Medien fokussiert. Siehe hierzu: Werner Wolf (Hg.) in Zusammenarbeit mit Katharina Bantleon u. Jeff Thoss: Metareference Across Media: Theory and Case Studies. Dedicated to Wal ter Bernhart on the Occasion of his Retirement, Amsterdam/New York 2009. 4 | Zitiert aus dem Forschungsprogramm des Internationalen Graduiertenkollegs InterArt an der Freien Universität Berlin; siehe: www.geisteswissen schaften.fu-berlin.de (Stand: 5.10.2009). 5 | Vgl. Irmela Schneider: »Von der Vielsprachigkeit zur ›Kunst der Hybridation‹. Diskurse des Hybriden«, in: Irmela Schneider/Christian W. Thomsen (Hg.): Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, Köln 1997, S. 13-66. 6 | Vgl. Irmela Schneider: »Von der Vielsprachigkeit …«, S. 20.
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Kategorie des Hybriden in ausgewählten Medientheorien, Hybridisierung und Medienkunst, Diskurse des Hybriden in der Postmoderne-Debatte und schließlich die Gender-Debatte, die auch ihrerseits, wenn auch auf indirekte Weise, als ein Diskurs des Hybriden verstanden werden kann. Wie schon diese Auflistung von Bereichen zeigt, in denen Diskurse des Hybriden eine Rolle spielen, hat man es mit einem weitgefächerten Begriff zu tun, der auf eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomenbereiche anwendbar ist, in ganz unterschiedlichen Diskurszusammenhängen Verwendung findet und mit Hilfe dessen unterschiedlichste Lebens-, Kunst- und Kulturzusammenhänge charakterisiert werden.7 Dies zeigt sich insbesondere im Rahmen der Postmoderne-Debatte, in der, so Schneider, »nahezu generell Hybridisierungen als ein definierendes Merkmal genannt« werden und die Kategorie des Hybriden nicht mehr nur auf spezifische Sachverhalte bezogen, sondern »die Welt insgesamt […] als ›hybrid‹ bewertet« wird:8 Diskurse des Hybriden, wie sie im Zusammenhang mit Postmoderne-Debatten geführt wer den, referentialisieren das Hybride auf ganz unterschiedliche Phänomene: auf Kunst wie Lite ratur, auf technische Entwicklungen, auf Lebensstile, auf Wertesysteme, auf Medien – um nur einige Beispiele zu nennen. Diese sehr heterogenen Referenzbereiche für Hybridisierungen verweisen darauf, dass Hybridisierung zur Signatur der gegenwärtigen Zeit gehört. Wir leben in einer Hybridkultur. 9
In dieser Allgegenwärtigkeit des Begriffs und in seinen weitgefächerten Verwendungszusammenhängen liegt nun ein Vorteil und, von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet, ebenso ein Nachteil dieses Konzepts. Der Vorteil liegt ganz offenkundig darin, dass es der Be7 | Hiermit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass der Begriff in einigen Diskursen in einem ganz spezifischen, eng gefassten Sinne verwendet und für bestimmte Phänomene reserviert wird; so etwa in bestimmten medienwissenschaftlichen Ansätzen, in denen der Begriff der Hybridisierung auf digitale Medien eingeschränkt und mit der Simulation in Verbindung gebracht wird. Vgl. hierzu z.B. Yvonne Spielmann: »Intermedialität und Hybridi sierung«, in: Roger Lüdeke/Erika Greber (Hg.): Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft, Göttingen 2004, S. 78-102. 8 | Irmela Schneider: »Von der Vielsprachigkeit …«, S. 44, S. 13. 9 | Ebd., S. 47.
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griff des Hybriden bzw. der Hybridisierung erlaubt, umfassende Prozesse und Problemzusammenhänge zu fokussieren und auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, die sich transgenerisch und transmedial, über die Künste und verschiedenste Lebensbereiche hinweg nachweisen lassen. Nur auf diese Weise wird es überhaupt möglich, zu einer wie auch immer gearteten Bestimmung der Signatur einer je gegenwärtigen Zeit zu gelangen. Aus dieser Konstellation ergibt sich, setzt man nun einen anderen Blickwinkel, oder genauer: ein anderes Erkenntnisinteresse an, zugleich ein Nachteil eines so umfassenden Konzepts.10 Hat man es, wie dies in den verschiedenen Kunstwissenschaften gemeinhin der Fall ist, mit der Analyse und Interpretation spezifischer Einzelphänomene zu tun, also z.B. mit der Analyse konkreter Texte, Filme, Performances, Installationen usw., so zeigt sich, dass unter den Begriff des Hybriden Phänomene subsumiert werden, die in ihrer je spezifischen Verfasstheit und Funktionsweise signifikante Differenzen aufweisen, und zwar gerade, was ihre je unterschiedliche Weise oder Form der Hybridbildung angeht. Hiermit wiederum – und gerade dies ist aus der Sicht der Kunstwissenschaften entscheidend – können ganz unterschiedliche Funktionalisierungen der jeweiligen Verfahren einhergehen. Anders ausgedrückt: Wenn sämtliche Vermischungen, Verkettungen von je Unterschiedlichem, wenn sämtliche Auflösungen von althergebrachten binären Dichotomien und Grenzen (wahr/ falsch, Kunst/Leben, männlich/weiblich usw.) unter Hybridisierung gefasst werden und Hybridisierung als Signatur einer bestimmten Zeit ausgewiesen wird, dann lassen sich spezifische, je unterschiedlich verfasste Phänomene mit diesem Konzept nicht mehr in ihrer jeweiligen Spezifizität erfassen. Hierin liegt nun keineswegs ein Problem des zitierten Beitrags, verfolgt dieser doch ein ganz anders geartetes Erkenntnisinteresse; hiermit aber hat sich eine kunstwissenschaftliche Analysepraxis auseinanderzusetzen. Man hat es hier nun freilich mit einer Konstellation zu tun, die keineswegs nur Konzepte des Hybriden betrifft. Entsprechendes geht vielmehr – und letztlich notwendigerweise – mit einer Vielzahl von Konzepten einher, die gerade darauf zielen, umfassende sozio-kultu10 | Es geht mir hier also um die Frage des jeweiligen Erkenntnisinteresses und damit einhergehend um den heuris tischen Wert und die Operationalisierbarkeit der je verwendeten Begriffe und Konzepte in unterschiedlichen wis senschaftlichen Zusammenhängen.
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relle und politisch-ökonomische Zusammenhänge, Dynamiken und Prozesse zu erfassen. So lässt sich hier, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, etwa auch das von Jay David Bolter und Richard Grusin entwickelte Konzept der remediation anführen, dem es um grundlegende, transmedial und transhistorisch zu fassende Korrelationen zwischen je älteren und neueren Medien geht und das sich, wie die Autoren anhand zahlreicher Beispiele veranschaulichen, an eine prinzipiell invariante »double logic« binden lässt, die Bolter und Grusin in »our culture’s contradictory imperatives for immediacy and hypermediacy« lokalisieren.11 Das Konzept der remediation ist zwar enger gefasst als das des Hybriden, da es sich allein auf mediale Zusammenhänge bezieht. Es bleibt aber gleichwohl so weit gefasst, dass signifikante Unterschiede zwischen einzelnen konkreten Verfahren der ›Remediatisierung‹ und deren je spezifischer Funktionalisierung aus dem Blick geraten, die für eine literatur- bzw. kunstwissenschaftlich verankerte Analysepraxis gerade von entscheidender Relevanz sind.12 Hieran lässt sich nun eine zweite Überlegung anschließen, die gerade in Hinblick auf die kunstwissenschaftliche Analysepraxis relevant wird und zugleich grundlegende Fragen einer Theoriebildung aufgreift, die unterschiedliche Formen von ›Übergängigkeiten‹ zu erfassen sucht. In den Vordergrund rücken hier erneut die eingangs angesprochenen Tendenzen zur Verwischung oder Auflösung von Grenzen sowohl zwischen den Künsten als auch zwischen ›Kunst‹ und ›Leben‹ – Tendenzen, die heute tatsächlich zum gängi-
11 | Jay David Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge/London 2000 [11999], S. 5. Vgl. auch Jay David Bolter: »Transference and Transparency: Digital Technology and the Remediation of Cinema«, in: Intermédialités/Intermedialities 6 (2005), S. 13-26 [Sonderheft zum Thema »Remédier/Remedia tion«, hg. v. Philippe Despoix u. Yvonne Spielmann]; ders.: »Cyerphobia: Digital Technology and the Interme diality of Cinema at the End of the Millennium«, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog/digital. Theorien, Methoden, Analysen, München 2008, S. 567-577. 12 | Vgl. hierzu genauer Irina O. Rajewsky: »Intermedialität und remediation. Überlegungen zu einigen Problem feldern der jüngeren Intermedialitätsforschung«, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog/digital. Theorien, Methoden, Analysen, München 2008, S. 47-60.
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gen Repertoire der kulturellen Praxis gehören.13 Nun setzen, bei aller Unterschiedlichkeit der jeweiligen Ansätze, sowohl Diskurse des Hybriden als auch z.B. Intermedialitätstheorien oder die sog. interart studies schon von ihrer grundlegenden Konzeption her Grenzziehungen zwischen Künsten, Gattungen und Medien voraus. Um von Hybridisierung, von Intermedialität oder von Phänomenen sprechen zu können, die sich inter artes bewegen, müssen voneinander unterscheidbare Größen ansetzbar sein, aus denen Hybridbildungen hervorgehen bzw. zwischen denen sich intermediale oder auch interart-Relationen und -Prozesse vollziehen können.14 Hierauf deuten letztlich bereits die Begriffsbildungen selbst hin: Das ›Hybride‹ setzt ebenso voneinander Unterscheidbares voraus wie das Präfix ›inter‹ der ›Intermedialität‹ oder der ›interart studies‹. Gerade diese Grundannahme der Unterscheid- und Abgrenzbarkeit einzelner Medien bzw. Künste – und damit zugleich die Annahme von Grenzen zwischen diesen – ist nun in jüngerer Zeit in der einschlägigen Forschung in Frage gestellt oder doch zumindest als problematisch ausgewiesen worden.15 Dabei wird zum einen auf den 13 | Vgl. in diesem Zusammenhang beispielhaft etwa die Ankündigung der Veranstaltung »Mixed Media: Studen ten der HfG-Karlsruhe im Raum Kalk« am 10.12.2008 durch die Kunsthochschule für Medien Köln: »Der Begriff ›Mixed Media‹, der in der zeitgenössischen Kunst die Verwendung verschiedenster Materialien bezeichnet, deutet die endgültige Aufhebung der Gattungshierarchien zwischen Architektur, Malerei und Plastik in der Moderne an. Durch den Einbezug aller erdenklichen Medien ist er zu einem Sammelbegriff jener Kunstbestre bungen geworden, die auf eine zeitgemäße Belebung der romantischen Idee des ›Gesamtkunstwerks‹ abzielen und die Kunst im Leben aufzulösen versuchen.« Siehe: www.khm.de/aktuelles/ veranstaltung/article/297 (Stand: 5.10.2009). 14 | Dies gilt zumindest für analoge Medien; in Bezug auf die digitalen Medien ergeben sich veränderte Bedingungen. Vgl. hierzu etwa Yvonne Spielmann: »Intermedialität und Hybridisierung«; Jens Schröter: »Intermediali tät, Medienspezifik und die universelle Maschine«, in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, Mün chen 2004, S. 385-411; Irina O. Rajewsky: »Intermedialität und remediation«. 15 | Vgl. zu den folgenden Überlegungen auch bereits Irina O. Rajewsky: »Das Potential der Grenze: Überlegun gen zu aktuellen Fragen der Intermedialitätsforschung«, in: Dagmar von Hoff/Bernhard Spies (Hg.): Textprofile intermedial, München 2008, S. 19-47; dies.: »Intermedialität und remed-
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Konstruktcharakter der Rede von ›Einzelmedien‹ abgehoben. Man habe es – so eine der in diesem Kontext relevanten Thesen – letztlich mit ›reinen diskursiven Strategien‹ zu tun; ein Umstand, dem etwa gängige Auffassungen von Intermedialität nicht hinreichend Rechnung trügen.16 Im Zuge dessen werden zudem gerade Ansätze im Bereich der Intermedialitätsforschung, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren möchte, des Öfteren recht pauschal mit essentialistischen Sichtweisen und einer ›Ontologisierungspraxis‹ in Verbindung gebracht.17 Unterschwellig mitzuschwingen scheint hier die Annahme, dass die Intermedialitätsforschung mit ihrer iation«; dies.: »Intermedialität ›light‹? Intermediale Bezüge und die ›bloße Thematisierung‹ des Altermedialen«, in: Roger Lüdeke/Erika Greber (Hg.): Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft, Göttingen 2004, S. 27-77, insb. S. 66ff. 16 | Vgl. die abschließende Podiumsdiskussion des VIII. Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Theater wissenschaft Theater & Medien, Erlangen 12.-15.10.2006, Teilabdruck unter dem Titel »Vom Nutzen und Nach teil des Medienbegriffs für das Theater und die Theaterwissenschaft«, in: Henri Schoenmakers/Stefan Bläske/Kay Kirchmann/Jens Ruchatz (Hg.): Theater und Medien/Theatre and the Media. Grundlagen, Analysen, Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2008, S. 545-560; siehe auch S. 26 der Einleitung zum genann ten Band, wo die Ausgangsthesen der Podiumsdiskussion aufgeführt werden. 17 | Von ›Ontologisierungspraxis‹ spricht etwa Kay Kirchmann; siehe »Vom Nutzen und Nachteil des Medien begriffs …«, S. 550. Vgl. in diesem Zusammenhang auch folgenden Auszug aus einer Vorschau zum Band Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse, hg. v. Wilhelm Voßkamp und Brigitte Weingart, Köln 2005: »Nicht nur innerhalb der traditionellen TextBild-Genres (Emblematik, Werbung, Pressefotografie, Comic etc.), son dern auch dann, wenn man es vermeintlich mit ›bloßen‹ Bildern oder Texten zu tun hat, erweisen sich mono mediale Annahmen über die Bildlichkeit des Bildes oder die Schriftlichkeit der Schrift als letztlich unhaltbare Essentialisierungen. Im Sinne der Feststellung W.J.T. Mitchells ›all media are mixed media‹ wird davon ausge gangen, dass mediale Reinheitsgebote ihrerseits als diskursive Effekte aufzufassen sind und damit nicht zuletzt als das Ergebnis von Prozeduren der Macht, von Inklusion und Exklusion.« Zitiert nach: Transkriptionen 5 (2005), S. 31 [Newsletter des Forschungskollegs Medien und kulturelle Kommunikation an der Universität zu Köln]; vgl. auch Wilhelm Voßkamp/Brigitte Weingart (Hg.): Sichtbares und Sagbares, S. 9f.
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Rede von medialen Spezifika, Differenzen und Grenzen von einem statisch-ontologischen Medienverständnis ausgehe und nicht in der Lage sei, dynamischen Prozessen Rechnung zu tragen, wie sie sich etwa in den genannten Tendenzen der Grenzverwischungen und -auflösungen zeigen. Eben diese Tendenzen werden ihrerseits zum Ausgangspunkt für einen zweiten Argumentationsstrang in diesem Zusammenhang: Steht zum einen der Konstruktcharakter der Rede von ›Einzelmedien‹ zur Debatte, so wird zum anderen die Frage aufgeworfen, ob das »Grenzüberschreitungskriterium«, das einstmals als Fundierungskategorie des Intermedialen ausgewiesen worden ist,18 »nach Jahrzehnten […], in denen traditionelle Grenzen der Kunstdisziplinen oft völlig verwischt wurden«, noch so einfach angewandt werden könne.19 Damit steht in letzter Konsequenz das Intermedialitätskonzept als solches auf dem Prüfstand: Denn tatsächlich ließe sich kaum mehr sinnvoll von Inter-Medialität sprechen, wenn keine differenzierbaren Größen ansetzbar wären, auf denen ein solches ›inter‹ basieren könnte. Festgehalten sei in diesem Zusammenhang vorab, dass die Grundannahme von Mediengrenzen und einer Abgrenzbarkeit von so genannten ›Einzelmedien‹ auch aus meiner Sicht durchaus zu Recht als nicht unproblematisch betrachtet wird und sicherlich eines reflektierteren Umgangs bedarf, als dies in der Intermedialitätsforschung lange Zeit der Fall war. Und tatsächlich zeigt sich gerade in den letzten Jahren auch innerhalb der Intermedialitätsforschung selbst ein theoretischer shift, in dessen Rahmen gerade die grundlegende Frage nach der Abgrenzbarkeit von Einzelmedien problematisiert wird. Lars Elleström spricht in diesem Zusammenhang von einer derzeit festzustellenden »tendency to deconstruct the dissimilarities of various arts and media« und führt diesbezüglich W.J.T. Mitchell als den Vorreiter und den einflussreichsten Kritiker ›klarer Grenzziehungen‹ zwischen einzelnen Medien an.20 Mitchell hat die 18 | Vgl. Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen/Basel 2002, insb. S. 12f. 19 | Zitat aus dem Exposé des VIII. Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft Theater & Medien, Erlangen 12.-15.10.2006; siehe: www.theater-medien.de/kongress/pdf/TK06_Expose.pdf (Stand: 5.10.2009). 20 | Das Zitat Elleströms ist einem noch unveröffentlichten Manuskript entnommen; vgl. Lars Elleström: »The Modalities of Media: A Model for Un-
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Debatte mit seinem berühmten Diktum »all media are mixed media« ganz fraglos nachhaltig geprägt.21 Nun wäre es aus meiner Sicht allerdings vorschnell, Überlegungen dieser Art zum Anlass zu nehmen, eine Abgrenzbarkeit von ›Einzelmedien‹ oder auch ›einzelnen Künsten‹ (und d.h. eine der in jeglichem Intermedialitäts- und letztlich ebenso in jeglichem InterartKonzept implizierten Grundvoraussetzungen) gänzlich in Frage zu stellen. Zu klären scheint mir vielmehr zu sein, wovon genau eigentlich die Rede ist, wenn im Zusammenhang intermedialer Praktiken von ›Einzelmedien‹, von medialen Spezifika und Differenzen und von einer Überschreitung von Mediengrenzen gesprochen wird. Tatsächlich braucht beim heutigen Stand der Debatte wohl nicht länger darüber diskutiert zu werden, dass es bei Grenzziehungen dieser Art nicht um als stabil zu denkende Grenzen zwischen ihrerseits als stabil zu denkenden Entitäten gehen kann. Der grundlegende Konstruktcharakter von Medien- und Kunstbegriffen ist ebenso offenkundig wie deren historische Wandelbarkeit und Abhängigkeit vom je beobachtenden Subjekt oder System. Hierauf hat auch Irmela Schneider in ihrem zuvor genannten Aufsatz hingewiesen und herausgestellt, dass, indem Unterschiede als beobachterabhängige Unterscheidungen erkannt bzw. konzipiert werden, diese zugleich als veränderbare deutlich werden.22 Differenzen und Grenzen werden mit anderen Worten gerade als nicht ›naturgegeben‹ erkannt und diskutiert – und damit zugleich als gesetzte bzw. gezogene Grenzen, die auch anders gesetzt und anders gezogen werden könn(t)en. Hierbei spielen, ganz allgemein gesprochen, Prozesse der Habitualisierung und der Konventionalisierung eine entscheidende Rolle. Auf Medienbegriffe bzw. die Rede von ›Einzelkünsten‹ bezogen lässt sich vor diesem Hintergrund somit insgesamt festhalten, dass die Frage, wie ein Medium oder eine bestimmte Kunstform zu definieren und von anderen abzugrenzen ist, selbstverständlich immer nur historisch, diskurs- und beobachterabhängig, unter Berücksichtigung technologischer Veränderungen, sich wandelnder konventioneller Zuschreibungen und in Abhängigkeit des zu einem spezifiderstanding Intermedial Relations«, in: ders. (Hg.): Media Borders, Multimodality, and Intermediality (erscheint im Frühjahr 2010 bei Palgrave Macmillan). 21 | W.J.T. Mitchell: Picture Theory, Chicago 1994, S. 95. 22 | Vgl. Irmela Schneider: »Von der Vielsprachigkeit …«, S. 45f.
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schen Zeitpunkt gegebenen medialen Relationsgefüges beantwortet werden kann. Zieht man nun konkrete intermediale Konfigurationen hinzu, so tritt allerdings zugleich die Tatsache hervor, dass im Rahmen intermedialer Verfahren auf mediale Differenzen abgehoben werden kann (und wird), dass also die Vorstellung vom jeweils ›anderen Einzelmedium‹ im Rezipienten abrufbar ist und vielfach abgerufen wird. Verdeutlichen lässt sich dies in aller Kürze etwa an fotorealistischen Gemälden, wie den Straßen- und Gebäudeansichten des US-amerikanischen Malers Richard Estes, oder z.B. an Lars von Triers Dogville (Dänemark 2003): Das Funktionspotential der Rekurse auf die Fotografie in der fotorealistischen Malerei und auf das Theater in Lars von Triers Dogville entfaltet sich gerade auf der Basis einer wahrnehmbaren medialen Differenz bzw. auf der Basis einer wahrnehmbaren Differenz zwischen verschiedenen Künsten und deren ästhetischen Verfahren. Ganz bewusst ist hier nun von bestimmten, historisch wandelbaren und beobachterabhängigen Vorstellungen die Rede – ebenso könnte man von medial gebundenen frames sprechen –, die sowohl auf Produktions- wie auch auf Rezeptionsseite mit einzelnen Medien verbunden werden. Dabei zeigt sich zugleich, dass die Rede von ›einzelnen Medien‹ keineswegs auf eine wie auch immer geartete ›Monomedialität‹ oder auf Vorstellungen von »isolierten Medienmonaden«23 zielt, oder auch auf das, was im intermedialitätskritischen Strang der Debatte gerne mit dem Begriff des ›medialen Reinheitsgebots‹ gefasst wird.24 Wie ich an anderer Stelle genauer ausgeführt habe, scheint die Funktionslogik intermedialer Konfigurationen vielmehr auf Relationen zwischen konventionell als distinkt wahrgenommenen Medien oder ›Medialitäten‹ zu beruhen,25 die ihrerseits natürlich eine (auch erweiterbare) plurimediale Grundstruktur 23 | So bereits Rainer Bohn/Eggo Müller/Rainer Ruppert: »Die Wirklichkeit im Zeitalter ihrer technischen Fingier barkeit«, in: dies. (Hg.): Ansichten einer zukünftigen Medienwissenschaft, Berlin 1988, S. 7-27, S. 10. 24 | Vgl. bereits oben, Fn. 17. 25 | Vgl. die Angaben in Fn. 15; vgl. zudem bereits die Definition des Medienbegriffs in Werner Wolf: »Musical ized Fiction and Intermediality. Theoretical Aspects of Word and Music Studies«, in: Walter Bernhart/Steven P. Scher/ Werner Wolf (Hg.): Word and Music Studies: Defining the Field, Amsterdam 1999, S. 37-58, S. 40; vgl. entsprechend auch ders.: »Intermedialität. Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissen schaft«, in:
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aufweisen können, wie z.B. der Film oder das Theater.26 Zu beruhen scheint die Funktionslogik intermedialer Konfigurationen mithin auf wandelbaren, konventionalisierten Vorstellungen bestimmter ›Einzelmedien‹ und deren Abgrenzbarkeit von anderen, oder auch, anders formuliert, auf bestimmten medial gebundenen frames, die für die Bedeutungskonstitution gegebener medialer Konfigurationen, bei aller Konstrukthaftigkeit, aber eben doch verfügbar sind.27 So heben etwa auch bestimmte Arbeiten im Bereich der Klangkunst, die die oben genannte Tendenz zur Auflösung bzw. Verwischung von Grenzen zwischen verschiedenen Künsten und Medien ganz fraglos befördert hat, gerade indem hier etablierte Grenzziehungen zwischen Herbert Foltinek/Christoph Leitgeb (Hg.): Literaturwissenschaft intermedial – interdisziplinär, Wien 2002, S. 163-192, S. 165. 26 | Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang die wohl generell anzusetzende Multimodalität von Medien bzw. deren materieller Manifestationen zu berücksichtigen, die schon per se jeglichem ›medialen Reinheitsgebot‹ widerspricht. Vielleicht ließe sich W.J.T. Mitchells einflussreiches Diktum ›all media are mixed media‹ (vgl. be reits oben) tatsächlich in ein etwas geschmeidigeres ›all media are multimodal (media)‹ umformulieren. Hierauf deutet auch Mitchells eigene Reformulierung seines berühmten Satzes hin, die sich einem Beitrag von 2007 ent nehmen lässt: »All media«, so spezifiziert Mitchell hier nun, »are, from the standpoint of sensory modality, mixed media« (W.J.T. Mitchell: »There Are No Visual Media«, in: Oliver Grau (Hg.): MediaArtHistories, Cambridge/London 2007, S. 395-406, S. 395; meine Hervorhebung). 27 | Hiermit sollen transhistorisch ansetzbare Spezifika einzelner Medien (bzw. deren materieller Manifestationen) keineswegs in Abrede gestellt werden (vgl. auch weiter unten). Gerade neuere kognitionstheoretisch fundierte Ansätze, wie sie etwa im Rahmen einer ›kognitiven Narratologie‹ zum Tragen kommen, erlauben es, sowohl transhistorische als auch historisch sowie diskurs- und beobachterspezifisch wandelbare Kriterien zu erfassen, indem auf bottom-up (data-determined) und top-down (frame-determined) cognitive strategies rekurriert wird (vgl. z.B. Manfred Jahn: »Frames, Preferences, and the Reading of Third-Person Narratives: Towards a Cogni tive Narratology«, in: Poetics Today 18, 4 (1997), S. 441-468; Bruno Zerweck: »Der cognitive turn in der Erzähl theorie: Kognitive und ›Natürliche‹ Narratologie«, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, S. 219-242). Narratologische Überlegungen dieser Art ließen sich durchaus gewinn bringend auf mediologische Fragestellungen übertragen.
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Künsten irritiert und unterlaufen werden, den Konstruktcharakter und die Wandelbarkeit von Grenzziehungen hervor, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt konventionell angesetzt waren. Reflektiert und für den Wirkungsmechanismus der jeweiligen Installation nutzbar gemacht werden also (vor)gängige Vorstellungen ›des Mediums‹ und (vor)gängige, konventionalisierte Grenzziehungen zwischen Kunstformen, die im Rezipienten abgerufen, aber auch – nicht zuletzt im medialen Vollzug selbst – modifiziert und verschoben werden können. Hier zeigt sich somit ein performatives Potential intermedialer Strategien und Prozesse: Gerade mittels intermedialer Praktiken können (je nach Funktionalisierung) Vorstellungen ›des Mediums‹ bzw. ›der Kunstform‹ sowie Grenzen und konventionelle Grenzziehungen zwischen Medien und Künsten – und damit zugleich der Konstruktcharakter der Rede vom ›Einzelmedium‹ – wahrnehmbar gemacht und als Setzungen reflektiert, aber auch modifiziert, verschoben und neu gesetzt werden.28 28 | Tatsächlich zeigt sich gerade am Beispiel der Klangkunst die wichtige Rolle, die Prozessen der Habitualisie rung und Konventionalisierung in Bezug auf mediale Grenzziehungen zukommt: Wurden Arbeiten, die inzwi schen mit dem Begriff ›Klangkunst‹ belegt würden, anfänglich (auch und gerade von den Künstlern selbst) als ein Versuch des Aufbrechens und der Irritation etablierter Wahrnehmungsmuster und Grenzziehungen und insofern als eine künstlerische Praxis verstanden, die sich an den Rändern gängiger Kunst- und Medienbegriffe bewegt, so wird Klangkunst in jüngerer Zeit als eine eigenständige und zunehmend etablierte Kunst- bzw. Mediengattung wahrgenommen. Für diese ist zwar nach wie vor die Zusammenführung von Klang und materiellen Setzungen konstitutiv; eine solche Zusammenführung aber wird inzwischen kaum mehr per se im Sinne einer Destabilisie rung oder Irritation etablierter Grenzziehungen und konventioneller Setzungen wahrgenommen. Vielmehr ist die Kombination von Klang und materiellen Setzungen inzwischen zu einem ›normalen‹, etablierten Bestandteil einer Gattung bzw. Kunstform geworden, der, wie allen anderen Gattungen auch, bestimmte präskriptive und restriktive Regeln unterliegen. Mit der Konventionalisierung und Etablierung der Klangkunst als einer ihrerseits konventionell als distinkt wahrgenommenen Kunst- bzw. Mediengattung ist somit das ursprünglich gegebene destabilisierende oder irritierende Moment dieser Form der medialen Grenzüberschreitung verlorengegangen oder – qua Habitualisierung – doch zumindest stark gedämpft worden. (Dies schließt freilich nicht aus, dass ein solches irritierendes Moment im Zuge spezifischer Verfahren innerhalb kon-
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Zu bedenken ist hierbei nun allerdings auch noch ein weiterer Aspekt, der uns zur grundlegenden Infragestellung medialer Grenzziehungen und der Abgrenzbarkeit von ›Einzelmedien‹ zurückführt, wie sie sich in den letzten Jahren in der Debatte um Konzepte von Intermedialität und Hybridität abgezeichnet hat. Habe ich in meinen bisherigen Ausführungen gerade den Konstruktcharakter und die Konventionalität medialer Grenzziehungen betont und herausgestellt, dass im Zuge intermedialer Verfahren gängige Dichotomien, Gattungshierarchien und konventionalisierte Grenzziehungen als veränderliche Setzungen erkennbar gemacht werden können, so sind solchen Dynamiken doch auch ihrerseits gewisse Grenzen gesetzt; Grenzen, die unmittelbar an die Medialität und mithin an die Materialität konkreter medialer Praktiken gebunden sind. Hiermit gelangt man zu einer in meinen Augen ganz entscheidenden Einschränkung des Konstruktcharakters von Medienbegriffen. Besonders augenfällig lässt sich dies erneut am Beispiel fotorealistischer Gemälde verdeutlichen: Fotorealistische Gemälde lassen beim Betrachter unweigerlich den Eindruck einer fotografischen Qualität entstehen. Sie erscheinen uns ›wie ein Foto‹; sie bleiben dabei aber ›nichts als Malerei‹, sie bleiben ›Öl (oder auch Acryl) auf Leinwand‹. Dies tatsächlich – und das ist hier nun entscheidend – notwendigerweise: Die Malerei kann die mediale Grenze zur Fotografie, soweit sie sich denn auf ihre eigenen, medienspezifischen Mittel, Instrumente und Verfahren beschränkt, nicht aufheben. Sie kann aufgrund ihrer spezifischen Medialität und Materialität ebenso wenig ›genuin‹ fotografisch werden, wie der Film tatsächlich zu Theater werden kann (hierzu fehlt ihm nicht zuletzt das für das Theater entscheidende Moment der Aufführungssituation, der liveness). Und entsprechend wird z.B. in literarischen Texten, in denen sog. ›filmische Schreibweisen‹ zum Tragen kommen, eben gerade nicht tatsächlich gezoomt, geschnitten oder mit Überblendungstechniken gearbeitet. Hervorgerufen werden kann mit den je eigenen Mitteln und Instrumenten kreter Klangkunst-Installationen neuerlich hervorgerufen werden kann.) Zugleich zeigt sich, dass sich gerade im Zuge von Verfahren der Über schreitung und Aufhebung etablierter Grenzziehungen, soweit diese mit nachhaltigen Prozessen der Konven tionalisierung und Habitualisierung einhergehen, diachron betrachtet andere Setzungen, andere wiederum als konventionell wahrgenommene Grenzen und mithin modifizierte oder auch gänzlich neue Auffassungen einzel ner Medien und Künste herausbilden können.
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immer nur eine entsprechende Illusion, ein ›Als-ob‹ des Altermedialen. Dies ist nun freilich keineswegs als ein Manko entsprechender Praktiken zu werten: Vielmehr ist es gerade diese nicht hintergehbare mediale Differenz, das Umspielen der eigenen materiellen und operativen Grenzen, aus denen diese besondere Spielart intermedialen Verfahrens ihr spezifisches Wirkungspotential und ihren ganz besonderen Reiz bezieht.29 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Rede von ›Einzelmedien‹, von medialen Spezifika, Differenzen und Grenzen eben doch nicht allein auf Konventionen, nicht allein auf habitualisierten frames und Schemata basiert. Zu berücksichtigen sind vielmehr immer auch die Materialität und gewisse basale mediale Bedingtheiten jeglicher künstlerischen oder allgemein kulturellen Praxis – mithin jeglicher Aisthetisierung –, die den Konstruktcharakter von Medienbegriffen und insbesondere den Konstruktcharakter medialer Grenzziehungen zumindest teilweise relativieren (sprechen ließe sich hier also von einem ›relativen Konstruktcharakter‹): Konventionelle mediale Grenzziehungen und konventionelle, etablierte Grenzziehungen zwischen den Künsten mögen im Zuge bestimmter intermedialer Praktiken, wie sich dies etwa am Beispiel der Klangkunst zeigen lässt, als solche offengelegt, verwischt, aufgelöst oder auch modifiziert und neu gesetzt werden; Grenzen zwischen unterschiedlichen medialen Artikulationsformen lassen sich aber eben nicht in jeder Hinsicht ›auch anders ziehen‹, wie dies die Betonung der Konstrukthaftigkeit von Medienbegriffen zu implizieren scheint.30 Dementsprechend lässt sich die Rede von ›Einzelmedien‹, von medialen Spezifika und Differenzen auch nicht, wie dies häufig nahegelegt wird, auf das Diktum ›reiner diskursiver Strategien‹ herunterbrechen 29 | Hier zeigt sich ein grundlegender Unterschied zwischen verschiedenen Formen intermedialer Verfahren, in diesem Fall zwischen sog. ›intermedialen Bezügen‹ und Formen der ›Medienkombination‹; vgl. hierzu genauer Irina O. Rajewsky: Intermedialität, sowie einführend dies.: »Intermedialität – eine Begriffsbestim mung«, in: Marion Bönnighausen/Heidi Rösch (Hg.): Intermedialität im Deutschunterricht, Baltmannsweiler 2004, S. 8-30; vgl. (mit etwas anderer Terminologie) auch Werner Wolf: »Intermediality«, in: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London/New York 2005, S. 251-256. 30 | Hier ergibt sich ein Unterschied zwischen Gattungs- und Medienbegriffen; vgl. genauer Irina O. Rajewsky: »Das Potential der Grenze«.
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– ein Umstand, der in Zeiten einer, wie mir scheint, manches Mal ins Extrem getriebenen ›anxiety of essentialism‹ in den einschlägigen Diskursen gerne vernachlässigt wird.31 Wie ich bereits an anderer Stelle formuliert habe, tritt vor diesem Hintergrund, entgegen der Hinterfragung von Grenzziehungen zwischen Medien und Künsten und entgegen einer gängigen Korrelation des Konzepts der Grenze mit statischen Taxonomien und essentialistischen Sichtweisen, insgesamt betrachtet ein dynamisches und kreatives Potential der Grenze hervor: Grenzziehungen und die Grenze als solche lassen sich in diesem Sinne als Ermöglichungsstrukturen begreifen, als Strukturen, die Spielräume und neue Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhänge schaffen.32 In diesem Sinne verstanden zeigt sich das Potential intermedialer Praktiken – und damit einhergehend das (heuristische) Potential der Intermedialitätsforschung – in etwas anderer Weise, als dies in intermedialitätskritischen Ansätzen aufscheint: In diesem Sinne verstanden nämlich rückt gerade das dynamisch-performative Potential intermedialer Praktiken in den Vordergrund, ihre grenzüberschreitende und (wenn auch stets in Abhängigkeit der medialen, operativen Bedingtheiten) potentiell ebenso grenzauflösende wie grenzreflektierende Wirkungsweise und Funktion.
31 | Chiel Kattenbelt spricht in ähnlichem Zusammenhang von einer in seinen Augen derzeit verbreiteten »Angst vor Ontologisierung«; siehe »Vom Nutzen und Nachteil des Medienbegriffs«, S. 553. 32 | Vgl. hierzu bereits Irina O. Rajewsky: »Das Potential der Grenze«. Im Englischen ließe sich hier von ›border zones‹ sprechen, was das gewissermaßen ›räumliche‹ Konzept eines solchen Grenzverständnisses besonders tref fend fasst.
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Die Grenzen der Sprache und ihre Chancen — eine hermeneutische Perspektive auf das Phänomen der Bildlichkeit Martin Urmann »Die Worte sind alles, die Worte, mit denen man Gesehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen und nach inspirierten Gesetzen als ein Bewegtes vorspiegeln kann.«1
S PR ACHBARRIEREN Die Frage nach dem Phänomen der Bildlichkeit ist verfänglich. Zu schnell wird sie im Lichte gesteigerter Evidenzversprechen gegen die Sprache gewendet. So herrscht zweifelsohne eine Tendenz in den gegenwärtigen Debatten um Interart-Praktiken, die suggestive und gerade die ikonische Macht des Wortes zu unterschätzen. Präsenz, Potentialität, Performativität – alles, was der avancierten Ästhetik teuer ist, wird als primär den nicht-verbalsprachlichen, vor allem natürlich den neuen elektronischen Medien zugänglich präsentiert. Und erst im Zeitalter des Interface und des Hypertextes hat der Roman 1 | Hugo von Hofmannsthal: »Poesie und Leben«, in: Reden und Aufsätze I (1891-1913), S. 13-19, S. 16. Zur Zitierweise: Aus Hofmannsthal wird zitiert nach: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. v. Bernd Schoeller (Bd. X: und Ingeborg Beyer-Ahlert) in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt a.M. 1979/80 (im Folgenden mit »GW« abgekürzt mit röm. Band- und arab. Seitenzahl), hier: GW VIII.
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zu seiner vollen ›Komplexität‹ gefunden. Die Sprache, so bekommen wir zu hören und zu sehen, bleibt mit ihrem etwas schwerfälligen Zeichensystem intrinsisch dem Sinn verhaftet und schafft den Absprung nicht zu jenen Sphären, die jenseits des Textes liegen, zumindest nicht aus sich selbst heraus. Dies ist allerdings eine verständliche Reaktion, bedenkt man die dominante Stellung der Sprache in der Tradition westlicher Schriftkulturen, welche durch den linguistic turn und die Ausweitung des Textbegriffs auch auf theoretischer Ebene zunächst noch weiter befestigt wurde. Dennoch droht diese Abwehrhaltung, den Einblick in die der Sprache eigenen Mittel der Bildlichkeit zu verstellen, durch die die rein sukzessive Dimension des Textes einer Wahrnehmungshaltung der Simultaneität geöffnet wird. Zugleich ist die Sprache zu der geduldigen Anstrengung gewillt, das letzte Wort nicht dem Verstummen im reinen Vollzug zu überlassen, welcher uns in einer Geste der Grausamkeit aus der ganz von seiner Faktizität eingenommenen Welt herauszustoßen droht.2 Mit diesen zugespitzten einleitenden Bemerkungen soll die Aufmerksamkeit auf einen komparatistischen Ansatz gelenkt werden, der stärker auf die Möglichkeiten der Transposition zwischen den verschiedenen Medien abhebt als auf ihre strukturellen Unterschiede. Die spezifische Materialität der einzelnen Kunstformen wird dabei keineswegs vernachlässigt. Wenn jedoch im Feld der »intermedialen 2 | Es geht hier freilich nicht darum, die Eigenlogik ästhetischer Erfahrung anzuzweifeln und ihr die Schaffung von Tatsachen zu unterstellen. Nichtsdestoweniger erzeugt jeder künstlerische Vollzug vor dem Auge des Betrachters eine materiale Evidenz seiner Zeichen, die im Extremfall den gesamten Möglichkeitsraum der so hervorgebrachten symbolischen Ordnung unter die Faktizität dieses Waltens zwingt und damit den Zwischenraum vernichtet, aus dem allein die Position des Anderen entstehen kann. Es ist daher nicht nur theoretisch kurzsichtig, die Unmittelbarkeit und Immersionskraft des (bewegten) Bildes über die des Textes zu stellen. Zur Gewaltsamkeit des stummen Vollzugs vgl. auch Jean Clam: »Schwierigkeiten des Sagens, Gründe des Verstummens«, in: Emmanuel Alloa/Alice Lagaay (Hg.): Nicht(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2008, S. 25-39, S. 26f. und Fabian Goppelsröder: »Grausame Geste. Zum Zusammenspiel von Verletzung und Verweisung«, in: Mirjam Schaub (Hg.): Grausamkeit und Metaphysik. Figuren der Überschreitung in der abendländischen Kultur, Bielefeld 2009, S. 199-210.
D IE G RENZEN DER S PRACHE UND IHRE C HANCEN
Bezüge«3 eine vorschnelle Rede von unüberbrückbaren Mediendifferenzen vermieden werden soll, muss es möglich sein, die Frage nach funktionalen Äquivalenzen zwischen verschiedenen künstlerischen Medien zu stellen und solange aufrechtzuerhalten, bis sich dann allerdings ein nicht zu bestreitender Punkt von Medienspezifität ergibt. In diesem Sinne werden im Folgenden theoretische Überlegungen vor allem zum Verhältnis zwischen Sprache und Bild, am Rande auch zwischen Sprache und Musik, unternommen. Dem zweiten, praktischen Abschnitt dient dabei die Reitergeschichte Hugo von Hofmannsthals als Anschauungsmaterial. Insbesondere geht es darum, konkrete Formen eines Umgangs mit Sprache zu erkunden, bei dem, was man nicht sagen kann, sich zeigt.
Z WISCHEN DEIK TISCHEM UND PR ÄDIK ATIVEM L OGOS Folgen wir zunächst Gottfried Boehm, dann ist die visuelle Logik, wie sie uns im eminenten Fall des künstlerischen Bildes begegnet, kategorial verschieden von der prädikativen Struktur der Sprache.4 Entlang dieser ist es möglich, ein substantielles Sachsubjekt auszumachen, das sich durch die Zuordnung unterschiedlichster akzidentieller Eigenschaften hindurch verfolgen und letztlich als dasselbe identifizieren lässt. In den Aussagesätzen der Sprache, in denen Sein und Erscheinung getrennt vorliegen und sodann zusammengeführt werden können, kämen dann allgemein kodifizierbare Sachlagen zu 3 | Damit sind jene Phänomene von Intermedialität bezeichnet, bei denen im Unterschied zur bloßen »Medienkombination« oder zum »Medienwechsel« ein künstlerisches Medium Arten der Formgebung aufgreift, die im relationalen Gefüge der Künste als für andere Medien spezifisch erscheinen. Für diese begrifflichen Unterscheidungen siehe Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen/Basel 2002, S. 15-18. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Rajewsky in diesem Band S. 41 f. Zu betonen ist jedoch auch, dass, obwohl die Systemgrenzen in diesem Prozess nicht einfach aufgehoben werden können, dennoch eine transgressive, beide Ausgangspunkte verändernde Dynamik entsteht. 4 | Siehe nur Gottfried Boehm: »Die Hintergründigkeit des Zeigens. Deiktische Wurzeln des Bildes«, in: ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 19-33, S. 26 für die Rede vom »deiktischen Logos«.
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ihrem Ausdruck. Die Propositionen fungierten im Prinzip als deren Substitute. Im Feld der Deixis finden sich diese Annahmen nun von Grund auf hinterfragt, stellen sich ihre Weisen des Sichtbarmachens doch ab einem bestimmten Punkt völlig relational ein, durch ein System von Grenzlinien und durch die Kontraste zwischen den Grenzen und Übergängen.5 Was vom Standpunkt der Prädikation aus wie eine Leerstelle erscheinen muss, wie ein stummer, unsagbarer Zwischenraum, macht gerade die phänomenale Dichte der Bildlichkeit aus.6 Von vornherein gilt es aber zu betonen, dass ikonische Systeme der Sichtbarmachung weder ein Monopol auf den zeigenden Umgang mit Realität besitzen noch per se in ihrem deiktischen Modus eingelöst werden – die Macht der Repräsentation dürfte kaum minder sein denn die der Prädikation. Das Phänomen der Bildlichkeit ist nicht auf das materiale Artefakt des Gemäldes oder auf entsprechende elektronische Erzeugermedien beschränkt. Es öffnet sich erst, wenn die prädikative Logik beziehungsweise die Logik der Abbildung an ihre Grenzen getrieben wird. Bildlichkeit ist demnach fundamental von der Differenz geprägt. Am zweifelsohne evidenten Beispiel des Gemäldes etwa meldet diese sich im elementaren Kontrast zwischen der Einheit der Bildfläche und der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Formen, die sich vor diesem Hintergrund abzeichnen. Die »ikonische Differenz« liegt am Ur5 | Vgl. Gottfried Boehm: »Zu einer Hermeneutik des Bildes«, in: Gottfried Boehm/Hans-Georg Gadamer (Hg.): Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1978, S. 444-471, S. 449-451 und S. 462f. 6 | Es ist nicht nur von historischem Interesse, zu betonen, dass zuerst Lessing auf diesen kritischen Punkt gestoßen war. Zwar hat die Romantik das Gros seiner Unterscheidungen zwischen Malerei und Poesie als problematisch und schlicht normativ erwiesen. Auch sollte man den Laokoon eher als Abwehr jener klassizistischen Normen verstehen – in eben dieser befreienden Manier wirkte die Schrift zeitgenössisch insbesondere auf Goethe und Schiller –, welche aus dem Geiste einer einseitig akademisch-mimetischen Konzeption der Malerei an die Literatur herangetragen wurden. Dennoch hat die grundlegende stilkritische Prämisse des Laokoon nach wie vor Bestand, »daß sich das, was die Maler durch Linien und Farben am besten ausdrücken können, durch Worte gerade am schlechtesten ausdrücken läßt«. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Lessings Werke, hg. v. Kurt Wölfel, Bd. 3, Schriften II, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1986, S. 7-171, S. 119.
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sprung jeder einzelnen optischen Artikulation innerhalb des Bildes.7 In Gestalt des spannungsvollen Gegensatzpaares von Oberfläche und Tiefe, von Figur beziehungsweise Form und Bildgrund führt sie uns ins Zentrum der Logik der Deixis. Um als solche wahrnehmbar zu werden, muss die Form sich von einem Hintergrund absetzen, welcher, derart abgeschattet, nicht zusammen mit ihr im gleichen Augenblick erfasst werden kann. Wenn auch die Form den Grund, aus dem sie aufgestiegen ist, gerade verdeckt, ist er dennoch bei weitem nicht einfach vollständig ausgeblendet oder neutralisiert. Der Grund bleibt vielmehr als das Andere der Form latent mitgegeben.8 Es ist diese Stätte, von der die Form, auch nachdem sie sich als Einheit abgezeichnet hat, ihre ästhetische Energie bezieht. Die Identität der Form ist folglich immer schon eine vermittelte, untrennbar von den Wechselwirkungen mit ihrem strukturell nicht-identischen Hintergrund. Um dem permanenten Übergang und der puren Potentialität gerecht zu werden, die diesen energetischen Fond so wesentlich kennzeichnen, nennen wir ihn den »Resonanzgrund«.9 Alle Formen artikulierten Sinns bleiben von seinem Nachhall und seinen Spiegelungen durchdrungen, die in ihnen mitschwingen. Doch auch wenn das Verhältnis zwischen Resonanzgrund und Form asymmetrisch ausfällt, ist dieser nicht direkt, aus sich selbst heraus zugänglich, sondern nur über die Form und ihre ausgeschlossene Seite. Erfahrbar wird diese präsentische Sphäre demnach immer nur aus einer radikalen Transgressions7 | Gottfried Boehm: »Die Wiederkehr der Bilder«, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11-38, S. 29f. 8 | Vgl. dazu im Rahmen einer allgemeinen Theorie von Medium und Form Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1999, S. 165ff. und Gottfried Boehm: »Zu einer Hermeneutik des Bildes«, S. 454458 und S. 465f. 9 | Mit ähnlichen Intentionen wurde der Begriff ursprünglich von Jean Clam geprägt im Rahmen einer Theorie der Artikulation und der medialen »fonds de résonance«, deren Vermittlung die Bedingung allen artikulierten Sinns darstellt. Jean Clam: Sciences du sens. Perspectives théoriques, Straßburg 2006, S. 196ff. und S. 319ff. Das Resonanzkonzept hat in den differenztheoretischen Ansätzen von Derrida über Deleuze und Luhmann bis hin zur Kulturtheorie Greenblatts freilich schon eine längere Geschichte, die hier nicht ausführlicher rekonstruiert werden kann. Siehe dazu die Einleitung der Herausgeber in: Karsten Lichau/Viktoria Tkaczyk/Rebecca Wolf (Hg.): Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, München 2009, S. 11-32.
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bewegung heraus, wenn die unsagbaren Zwischenräume und Übergänge, die in ihrer Dynamik aller Formgebung entzogen bleiben, sich zeigen. In einem kurzen spannungsgeladenen Augenblick wird die Perspektive des Betrachters für die genuin aisthetischen Dimensionen der Wahrnehmung geöffnet, die in den alltäglichen Vollzügen unter den stabileren Derivaten des Sinns verborgen sind.10
S IMULTANEITÄT UND S UK ZESSIVITÄT : L ESEN Die Differenz aus Resonanzgrund und Form erschließt sich dem Betrachter insbesondere auch in dem spannungsreichen Spiel zwischen simultanem und sukzessivem Wahrnehmungsmodus. Die Simultaneität der Sicht, verbürgt in der Einheit der Bildfläche, wird schon seit langer Zeit als der entscheidende Schlüssel zur Bildlichkeit betrachtet. Alles kommt nun darauf an, sie nicht als die unvermittelte Präsenz vorhandener distinkter Objekte ›auf‹ dem Bild zu missdeuten. Mit Blick auf die Natur der Beziehung zwischen Form und Resonanzgrund kann Simultaneität nur gemäß einer Logik von Aktualität und Potentialität verstanden werden. Sie ist die augenblickliche Realisierung einer Konstellation von Möglichkeiten, die intrinsisch mit anderen Formkonfigurationen verbunden ist, welche als inaktuelle jedoch in die Unbestimmtheit des Resonanzgrunds zurücktreten. Als solche kann die aktualisierte Konstellation nicht aus der Kette der Sequenzen vor und nach ihr abgeleitet werden, vielmehr versammelt sich in ihr die Potentialität des Bildes/Werkes als Ganzem.11 Simultaneität erweist sich dann nicht als Gegensatz zur Prozessualität des Wahrnehmens, sondern als ihre Komplementärform. Sie ist das Resultat, im Sinne des überspringenden Funkens, eines integrativen Akts, der sich unhintergehbar in der Zeit erstreckt, während der Betrachter von der einen konstruierten Figur zur nächsten voranschreitet in einer tatsächlich sukzessiven Bewegung, bevor er dann dazu gelangt (oder
10 | Zu den präsenztheoretischen Implikationen vgl. auch Fabian Goppelsröder: Zwischen Sagen und Zeigen. Wittgensteins Weg von der literarischen zur dichtenden Philosophie, Bielefeld 2007, insb. S. 27-29 und Markus Rautzenberg: Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie, Zürich/Berlin 2009. 11 | Siehe Gottfried Boehm: »Die Wiederkehr der Bilder«, S. 30.
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auch nicht), die separaten Partien auf das offene Ganze des Resonanzgrunds zurückzubeziehen. Dieser dichte Moment der Reintegration des Wahrgenommenen unter einem ganz neuen Sehpunkt, der nicht mehr nur Einzelteile als wiedererkennbare Inhalte aneinanderreiht, markiert zweifelsohne die kritische, nicht dauerhaft durchhaltbare Passage zwischen prädikativem und deiktischem Logos. Nicht nur wird der Betrachter des Sehens als seines spezifischen Sehens-Als gewahr, sondern die eben noch mit ›Sachen‹ assoziierten Flächen werden von distinkten Bedeutungseinheiten zu dynamischen Übergängen aus Linien und Farben. Durch ihre um sich greifenden Verbindungen entsteht ein prozesshaftes Kontinuum omnipräsenter Resonanzen. Das aufleuchtende ›Ganze‹, das sich auf diese Weise zeigt, bis die Wahrnehmung wieder in die Sukzession zurücksinkt, gibt in seiner versammelten Fülle gerade ›nichts zu sehen‹. Enthoben ist die Simultaneität somit nur dem sukzedierenden Schema, nicht jedoch der Zeit. Als Ergebnis dieser knappen Überlegungen zwischen Deixis und Prädikation bleibt festzuhalten, dass der Kontrast – beziehungsweise die paradoxe Kopräsenz – von Resonanzgrund und distinkter Form sowie jener von Simultaneität und Sukzessivität als basale tertia comparationis für das Nachdenken über das Verhältnis von Sprache und Bild dienlich sind. Es gilt, nach einem Umgang mit Sprache zu fragen, der propositionale Strukturen verflüssigt und ihr ausgeschlossenes Anderes freilegt; einem Sagen, das nicht nur feststellt, wie die Dinge sind, sondern Situationen provoziert, in denen die Modalitäten ihres Erscheinens selbst sich zeigen. Die zentrale korrespondierende Sprachfigur stellt in dieser Hinsicht die aus dem engen Rahmen der rhetorischen Trope befreite Metapher dar. Auf ihre transgressive Kraft wird noch ausführlicher einzugehen sein. Sobald die Vorstellung von Zeit in die räumliche Ordnung der Bildlichkeit eingeführt und die Idee eines deiktischen Sprachverhältnisses aufgekommen ist, wird klar, dass nicht nur im Falle des Textes, sondern auch des Bildes der Rezipient es mit dem Phänomen des Lesens zu tun hat.12 Das Lesen 12 | Siehe dazu in philosophischer Perspektive Hans-Georg Gadamer: »Über das Lesen von Bauten und Bildern«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8: Ästhetik und Poetik I: Kunst als Aussage, Tübingen 1993, S. 331-338 und im Rahmen eines komparatistischen Ansatzes Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1995, insb. S. 21-25.
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folgt bei weitem nicht einer Bewegungsfolge von sich aneinander reihenden Einzelsequenzen. Vielmehr sehen wir uns einer unsteten Aktivität aus Sprüngen nach vorne und wieder zurück gegenüber. Selbst wenn man mit einem Text beschäftigt ist, dessen Bedeutung nicht schwer zu entziffern ist, ergeben sich die Wege der Sinnstiftung mittels Vorgriffen auf das, was eine Zeile, ein Paragraph, ein Kapitel im vermuteten Ganzen des Textes am Ende bedeutet haben wird, wobei sich mit der jeweiligen Projektionslinie unser Verständnis von dem, was wir schon gelesen haben, wieder wandelt. Mit seinen überlappenden Zeithorizonten ist das Lesen ebenfalls von Sinnerfahrungen geprägt, die zwischen simultanisierender und sukzessiver Wahrnehmung oszillieren. Dies tritt nicht nur in forcierter Weise in der modernen Lyrik offen zutage, sondern auch im Fall des Romans, insbesondere seit Proust, Musil und Joyce.
E LEMENTE EINER B ILDTHEORIE DER S PR ACHE Worin liegen die Ursprünge der »evokative[n] Macht der Sprache« und auf welchen Wegen lassen sich diese am besten erhellen?13 Schließen wir uns Gadamer an, der Sprache vom eminenten Fall der Rede, insbesondere der von der Stimme getragenen Rede her begreift, so wird deutlich, dass sich durch den Prozess der Artikulation eine Ebene konstituiert, auf die die sinngebenden Modulierungen, Einschnitte und Überleitungen des Wortflusses unwillkürlich bezogen werden. Auch der schriftlich fixierte Text muss sich, noch bei stärkster Standardisierung, in uns ausbuchstabieren, selbst wenn dies in stummer Rede geschieht. Der so sich aufbauende Hintergrund ist nun dahingehend mit der Bildfläche vergleichbar, dass er ebenfalls eine infrasemantische Dimension des Sinns etabliert, die diejenige der sequentiellen Abfolge der diskreten Elemente unterläuft beziehungsweise überschreitet. Derart werden Wörter oder andere Sinneinheiten durch den Verlauf der Artikulation hindurch präsent gehalten, obwohl sie im Fluss der Rede einen früheren Platz einnehmen. Hierfür 13 | Hans-Georg Gadamer: »Hören-Sehen-Lesen«, in: ders.: Ästhetik und Poetik I, S. 271-278, S. 275. Siehe dazu auch Gadamers Ausführungen zum »Volumen« des Textes. Ders.: Text und Interpretation, in: Gesammelte Werke, Bd. 2: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode – Ergänzungen, 2. durchges. Aufl., Tübingen 1993, S. 330-360, S. 352ff.
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ist nicht so sehr ihr Bedeutungsgehalt als vielmehr ihre Klangrealität entscheidend. Mit Blick auf dieses Vermögen, artikulierte Formen auch nach ihrer Realisierung in den Prozess der Sinnstiftung als mitschwingenden Möglichkeitsraum einfließen zu lassen, ist es gerechtfertigt, diesen Hintergrund, wie er durch die Sprache aufgespannt wird, als Resonanzgrund zu bezeichnen und darin eine strukturelle Analogie zum Bild zu erkennen. Als solcher wird er hier wie dort von der unauflöslichen Verflechtung von Sein und Erscheinung, das heißt für die Sprache, von Sinnbezügen und Klangeffekten getragen. Die Intensität der Resonanzfähigkeit hängt maßgeblich davon ab, wie prononciert sich die Rahmung des Artikulationsprozesses abzeichnet und welche Sprachtiefen sie auszuloten erlaubt. An diesem Punkt muss nun aber doch zwischen Prosaliteratur und Lyrik unterschieden werden. Letztere verfügt über eine Reihe von Stilmitteln, die besonders geeignet sind, die sinnliche Textur der Sprache als Resonanzgrund zu entfalten, wie etwa Rhythmus, Reim und assonante Fügung. Die Lyrik der Moderne im Speziellen hat seit dem Fin-de-siècle gesteigert radikale Strategien entwickelt, um bildhaft zu evozieren, was sich allem Sagen strukturell entzieht. Sie entledigt sich systematisch aller stabilisierbaren Anlehnungskontexte und provoziert Situationen, in denen der Resonanzgrund als das Andere der Form nicht allein als Bedingung des Sagbaren und unmittelbarer noch als in der Prosa, nämlich aus dem Vollzug heraus und mit aisthetisch-sinnlicher Evidenz erfahrbar wird: Wir bekommen zu sehen und zu hören, wie die Form ihre Grenzen überschreitet und mit allen Elementen ihrer Textur in Verbindung tritt, bevor sie jedwede Kontur verloren hat. Auf diesen Augenblick der Präsenz kommt es dem literarischen Text in seiner stärksten lyrischen Verdichtung an. Wie magisch aufgeladen, ist jedes Wort, was es zu sehen gibt, wird jede Silbe und Atempause derart bedeutungsvoll, dass die Fülle am Ende ins Nichts umschlägt. Jenem Sich-Zeigenden korrespondiert die Figur der lebendigen Metapher, die die Grammatik des Sagbaren im Prozess ihres Entstehens selbst transformiert und damit sprunghaft Neues abseits der etablierten Wege der Sinnstiftung schafft.14 Die ›Bilder‹, die sie generiert, sind nicht als optisch-anschauliche Korrelate vorzustellen, sondern als Einblicke in das dynamische Resonanzgeschehen am Grunde aller Sinnstiftung vom Typus: ›O ist blau‹, um den Eingangsvers von Rimbauds Voyelles zu paraphrasieren. 14 | Siehe Paul Ricœur: La métaphore vive, Paris 1975, insb. S. 374ff.
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Jedoch auch die Prosa schöpft aus der unabschließbaren Polyvalenz der Sprache, die ihre höchste Intensität an den Grenzen der verschiedenen Sprachspiele erreicht. Wie Bachtin an den »Resonanzen« der »sozialen Vielfalt der Rede« gezeigt hat, sind wir auch im Roman essentiell mit ästhetischen Strategien konfrontiert, die auf ein vielstimmiges »Bild der Sprache« hinauslaufen.15 Das maßgebliche Charakteristikum des Romans besteht für Bachtin darin, dass die Horizonte unterschiedlicher sozialer Sprachen sichtbar gemacht werden, die sich in ihrer vom Autor arrangierten Interaktion gegeneinander absetzen und so Kontur gewinnen. Schon in dieser knappsten Formel des literarischen Bildes, wonach ein rahmender Kontext einen Hintergrund absteckt, vor dem eine andere Stimme ihre hybride Gestalt annehmen kann, wird klar, dass Sprache nicht in den Regeln der Prädikation aufgeht.16 Lässt man sich auf die relationale Logik von Text und Kontext ein, treten fortwährend Elemente einer Rede auf, die, um beim Beispiel des Romans zu bleiben, konstitutiv sowohl dem Horizont des Autors als auch demjenigen der zu zeichnenden Figur im Zusammenhang der Sprache ihrer sozialen Gruppe angehören. Auch in dieser Hinsicht weicht die prädikative Struktur von Subjekt und Objekt der Unbestimmtheit eines Simultaneitätsverhältnisses, das sich in seinen fließenden Übergängen gegen klare Zuordnungen sperrt. Die Sprache von ihren lateralen Grenzlinien her und als relationales Gefüge zu modellieren, dessen Sinn sich allein in der Verweisung bildet, kommt der Tendenz nach also in der Prosaliteratur ebenfalls zum Tragen. Das deiktische Strategienarsenal der modernen Lyrik von Mallarmé bis Celan bedarf, wie oben angedeutet, einer eigenen Analyse. Trotz (oder gerade wegen) der extremen Sprachtorsionen und Paradoxien, die unter den speziellen Bedingungen jenes Raums möglich geworden sind, birgt es auch einen nicht unbeträchtlichen Reiz, der Bildlichkeit der Sprache an dieser Stelle über ein ›bloßes‹ Prosabeispiel nachzugehen und zu unterstreichen, dass auch abseits der lyrisch-hermetischen Kunstgriffe eine enorme ikonische Dichte
15 | Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, hg. v. Rainer Grübel, Frankfurt a.M. 1979, S. 171 und S. 241. Zur Resonanz vgl. auch ebd., S. 249f. 16 | Ein konkreter korrespondierender Faktor der Rahmung in Prosatexten ist selbstverständlich auch die Wahl der jeweiligen Erzählperspektive, vor der die Ereignisse zur Darstellung kommen.
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der Sprache zu erzielen ist.17 Hierzu dient abschließend eine Lektüre von Hofmannsthals Reitergeschichte.
H ISTORISCHER Ü BERGANG Je problematischer Medienontologien werden, beziehungsweise je deutlicher hervortritt, wie hoch man den Verallgemeinerungsgrad ansetzen muss, um zu entsprechenden Aussagen zu kommen, umso interessanter nimmt sich die Frage nach der Konstellation zwischen den einzelnen Kunstformen in einer bestimmten geschichtlichen Situation aus. Durch das lange 19. Jahrhundert hindurch ist die Suche der Moderne nach Bewegung und Prozessualität untrennbar mit der Musik verbunden. An ihrem Anfang steht die Kritik der deutschen Frühromantik am klassischen Formbegriff, den sie im doppelten Zeichen höherer affektiver Expressivität einerseits und gesteigerter poetologischer Selbstreferentialität andererseits zu überwinden sucht. Nicht nur gelangt die Poesie seit Novalis und Tieck immer mehr unter den ausdrücklich bekundeten Einfluss der Musik wie kurz darauf die Malerei seit Géricault und Delacroix und erst recht dann mit dem Impressionismus. Darüber hinaus durchlaufen die nicht-transitorischen Kunstformen, insbesondere die Architektur und die Skulptur, mit Historismus und Akademismus eine symptomatische Stagnationsphase, die ihr gesamtes Ausdrucksrepertoire betrifft, so dass sie von einigen zeitgenössischen Kritikern gar als strukturell antimodern eingestuft werden.18 Erst vergleichsweise spät und nur durch Ausnahmeerscheinungen wie Otto Wagner und Rodin werden sie wieder auf den modernistischen Kurs aus Bewegung und Musikalisierung gebracht. ›Wer Moderne sagt, sagt Musik‹, könnte man in Anlehnung 17 | Vgl. dazu auch Frederik Tygstrup: »The textual tableau. Models of human space in the novel«, in: Karen-Margrethe Simonsen/Marianne Ping Huang/ Mads Rosendahl Thomsen (Hg.): Reinventions of the novel. Histories and aesthetics of a protean genre, Amsterdam/New York 2004, S. 211-226. 18 | Symptomatisch sind in dieser Hinsicht auch die divergierenden Einschätzungen zur Natur der Bewegung in Rodins Werk durch Simmel und Rilke. Vgl. dazu Lothar Müller: »Jenseits des Transitorischen: zur Reflexion des Plastischen in der Ästhetik der Moderne«, in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek 1996, S. 134-160.
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an Baudelaire formulieren. In der Tat ist die Ästhetik des 20. Jahrhunderts maßgeblich durch eine Rückkehr des Raums in die Künste gekennzeichnet, eine Rückkehr, die jedoch elementar auf dem zuvor erworbenen künstlerischen Wissen über Bewegung beruht. Zu den herausragenden Protagonisten dieser räumlichen Wende, die die Philosophie im Wesentlichen erst mit Heidegger sowie Merleau-Ponty und dem kritischen Entwurf einer postsubjektivistischen Konzeption von Identität vollziehen wird, gehören bereits die Dichter des Fin-desiècle, insbesondere Mallarmé und Hofmannsthal. Ersterer entdeckt Wege, das Weiß der Seite am Grunde des Gedichts zur Sprache zu bringen, und auch Hofmannsthals Werk fußt vital im Glauben an die evokative Macht des Wortes: Die Welt der Worte eine Scheinwelt, in sich geschlossen, wie die der Farben, und der Welt der Phänomene koordiniert. Daher keine »Unzulänglichkeit« des Ausdrucks denkbar, es handelt sich um ein Transponieren. […] Poesie (Malerei): mit Worten (Farben) ausdrücken, was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert. Das Leben transponieren.19
D EIK TISCHE P OTENTIALE DER S PR ACHE IN H OFMANNSTHALS R EITERGESCHICHTE 20 Als der Wachtmeister mit dem schönen Beutepferd zurückritt, warf die in schwerem Dunst untergehende Sonne eine ungeheure Röte über die Hutweide. Auch an solchen Stellen, wo gar keine Hufspuren waren, schienen ganze Lachen von Blut zu stehen. Ein roter Widerschein lag auf den weißen Uniformen und den lachenden Gesichtern, die Kürasse und Schabracken funkelten und glühten, und am stärksten drei kleine Feigenbäume, an deren 19 | So Hofmannsthal in zwei aufeinander folgenden, nicht weiter überschriebenen Notizen aus dem Nachlass von Ende Mai 1895. Hugo von Hofmannsthal: GW X: Reden und Aufsätze III (1925-1929). Aufzeichnungen (1889-1929), S. 400 (Hervorhebungen im Original). Siehe dazu auch Sabine Schneider: »Das Leuchten der Bilder in der Sprache. Hofmannsthals medienbewusste Poetik der Evidenz«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 11 (2003), S. 209-248. 20 | Die Reitergeschichte (in: GW VII: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe – Reisen, S. 121-131) entstand wohl zwischen 1896 und 1898 und erschien zuerst am 24.12.1899 in der Wiener Neuen Freien Presse.
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weichen Blättern die Reiter lachend die Blutrinnen ihrer Säbel abgewischt hatten. Seitwärts der rotgefleckten Bäume hielt der Rittmeister und neben ihm der Eskadronstrompeter, der die wie in roten Saft getauchte Trompete an den Mund hob und Appell blies. 21
Dieses Bild oder besser dieses textuelle Tableau,22 das das Ende der Handlung der Novelle ankündigt, soll uns also als Einstieg dienen. Die sich auftuende Szene ist mit der untergehenden Sonne einerseits und dem Appell andererseits sinnfällig vom Verlauf der Narration abgesetzt. Darüber hinaus folgt ihre Komposition, die mit den antipodischen Paaren aus Himmel und Weide beziehungsweise Bäumen und Soldaten ausdrücklich eine vertikale sowie eine horizontale Achse aufspannt, einer prononciert räumlichen Logik. Vor allem aber ist das Tableau von dem durchdringenden Licht der sinkenden Sonne unterlegt, das der gesamten Einstellung sprichwörtlich ihre Farbe verleiht. In diesem Hintergrund verdichtet sich die tragende Stimmung des Bedrohlichen, in die auch die weiteren Ereignisse getaucht sein werden. Ist dieser Rahmen, der freilich in mehreren Sätzen ausgelegt wird, so wie sich ja auch das Bild, wie wir gesehen haben, vor dem Betrachter aus seinen einzelnen Partien erst aufbauen muss, einmal installiert, beginnt der dynamische Interaktionsprozess aller Elemente der Szene sowohl auf der sprachlichen als auch auf der optischen Ebene, welche von Ersterer suggeriert wird. Zu den offensichtlicheren Impressionen, die diesbezüglich zu erwähnen wären, gehören die zahlreichen Spiegel- und Reflexionseffekte, die sich in ihrem Spiel gegenseitig verstärken: die mit Wasser gefüllten Hufspuren, die den roten Himmel spiegeln, aber zugleich auch das vergossene Blut, das diesen noch intensiver zu färben scheint, sodann die rot leuchtenden Brustpanzerungen, die das Scheinen der Schabracken aufnehmen und zurückwerfen, so dass schließlich die Gesichter der Soldaten selbst gezeichnet sind. Die optische Ansteckung reicht bis zum haptischen Niveau, wenn am Ende selbst die matten Blätter der kleinen Feigenbäume durch den physischen Kontakt mit der Flüssigkeit Blut, das von den Säbeln der Soldaten rinnt, ›funkeln und glühen‹. Neben eben diesen befleckten Bäumen kommt mit dem Rittmeister der Exekutor des finalen Gewaltexzesses zum Stehen. So bricht eine 21 | Ebd., S. 129. 22 | Zum Begriff siehe auch Frederik Tygstrup: »The textual tableau«, S. 211f.
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merkwürdige Kopräsenz von ursprünglich klar geschiedenen Polen, von oben und unten, links und rechts, nah und fern, sich Bahn, in der die Vorstellung einer stabilen Mitte des Bildes aufgelöst wird. Außerdem unterlaufen scheinbar unzweideutige Dinge und Handlungen einen radikalen Bedeutungswandel, wenn vor diesen Hintergrund gehalten. Nicht nur verformt sich die angesetzte Trompete, die, nachdem zahlreiche Gegner zuvor mit Säbelstichen in Mund und Hals getötet worden sind, nun wie eine Waffe wirkt, in ein Fanal des Todes; auch der Akt des Lachens wird zu einer bedrängenden Geste reiner männlicher Aggression. Zugleich werden all diese evozierten Effekte der Bildlichkeit von einer hoch elaborierten Setzung der Sprache sowie durch psychologisch suggestive Sprachspiele weiter verstärkt. Ein maßgebendes Stilmittel stellt in diesem Zusammenhang die von Hofmannsthal so geschätzte adjektivische beziehungsweise adverbiale Verdichtung dar, wie sie insbesondere auch durch Appositionen aus Partizipialkonstruktionen erreicht wird. Letzteres wird durch das folgende zweite Beispiel noch prägnanter veranschaulicht. Klare syntaktische Zuordnungen zersetzend, sind solche Fügungen symptomatisch für eine Handhabung der Sprache, die weniger an der Substanz der Dinge oder dem Ziel von Handlungen interessiert ist als vielmehr an den dynamischen Konstellationen und Übergängen zwischen ihnen und schließlich an den Stimmungen und Atmosphären, die an ihrem Grunde liegen. Grammatikalisch gesehen reines Beiwerk, sind es diese ›Beiordnungen‹, die den eigentlichen Sinn des Satzes ausmachen. Man beachte alleine schon die Wirkung, die die einfache Kennzeichnung der Feigenbaumblätter als »weich« entfaltet, gerade wenn man an die scharfen Säbel denkt, zu deren Reinigung sie dienen. Wie der Abstoßungspol zu einer gesteigerten Bildlichkeit der Sprache mutet angesichts dessen Lessings restriktives Urteil an: »Wer empfindet nicht, daß drei verschiedne Prädikate, ehe wir das Subjekt erfahren, nur ein sehr schwankes verwirrtes Bild machen können?« Denn es wäre, so fügt Lessing mit Blick auf Fälle misslungener Ekphrasis hinzu, »der natürlichen Ordnung des Denkens gemäß, erst mit dem Dinge, und dann mit seinen Zufälligkeiten bekannt« zu werden.23 Mit dieser Vorstellung bricht Hofmannsthals Prosa und holt sich hierfür im selben Atemzug Anleihen von der Musikalität der Sprache. So ist es der durch den komplexen Satzbau in seinen Beschleunigungen 23 | Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon, S. 105.
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und Verzögerungen gestiftete Rhythmus, der die Integration der sich fragmentierenden Attribute in das offene Ganze des Satzes erlaubt.24 Als symptomatisch muss im gegebenen Beispiel auch die Polysemie von »scheinen« erachtet werden, gerade wenn man die ausdruckstärkeren Verben »funkeln« und »glühen« aus dem unmittelbaren Kontext mit hinzuzieht und die Wiederholung im »Widerschein«. Diesen dem optischen Feld entstammenden Verben darf hier insofern eine prinzipielle Bedeutung beigemessen werden, als sie die Spiegelung der Substanz (des Bluts) offensichtlich als eine Steigerung ihres sachlichen Gehalts darstellen. Weit davon entfernt, die korrespondierenden Spiegelbilder einem originalen Ausgangspunkt unterzuordnen, verleiht gerade die polyzentrische Verteilung dem Phänomen sein energetisches Plus, dessen Sein mit der Vielzahl seiner Erscheinungen wächst.25 Durch eine geschickt eingesetzte Äquivokation (der Homographen Lachen – lachen) wird die Vieldeutigkeit des Wortes noch weiter ausgespielt und den ebenso brutalen wie obszönen Soldaten im wahrsten Sinne das Blut ins Gesicht getrieben. Schließlich scheinen die Kontraste zwischen den intensiven Farben des Tableaus in der klanglichen Struktur seines letzten Satzes transponiert und zusammengefasst, in dessen abschließendem Relativsatz die Vokale und der Diphthong »au« über fallende und steigende Klangbögen miteinander Kontakt aufnehmen und gesteigerte Präsenz gewinnen.26 Ein weiteres wichtiges Stilmittel ist dabei auch der Vergleich, (»die wie in roten Saft getauchte Trompete«), besonders wenn er wie hier einen Gegenstand zwischen verschiedenen Erscheinungsformen oszillieren lässt, ohne einen stabilen semantischen Endpunkt zu erreichen. All dies ist typisch für eine Prosa der Ambivalenz, die, anstatt Sachlagen abzuschildern, eine Logik der Assoziation aktivieren will.
24 | Lessing hielt allenthalben im homerschen Ausnahmefall die dicht gefügte Reihung von Adjektiven für möglich. Für die »neuern Sprachen« jedoch schloss er selbst diese kategorisch aus, ebd., S. 104. 25 | Diesem Abtragen von Hierarchien entspricht auf der Ebene des Satzbaus der verstärkte Einsatz koordinierender Konjunktionen (vor allem »und«) beziehungsweise anderer Gleichzeitigkeitspartikel (»während«, »zugleich«) sowie generell die auffällige Häufung von Juxtapositionen in der Reitergeschichte. 26 | Spätestens seit Rimbauds Sonett Voyelles darf die Korrespondenz zwischen Farben und Vokalen als offenes Geheimnis der modernen Lyrik und Kunstprosa gelten.
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Das nächste Beispiel gibt uns einen Einblick in die Fülle und Komplexität des Sinns, die sich in einer sprachlichen Bildkonstruktion verdichtet finden können. Dieses räumliche Arrangement mit wieder stark tableauartigen Zügen entfaltet sich in der geballten Polyperspektivität seiner divergierenden Linienführungen und multiplen optischen Gesten, während der Text es Figur um Figur abschreitet. […] konnte der Rittmeister sich selbst und der Schwadron nicht versagen, in diese große und schöne, wehrlos daliegende Stadt einzureiten. Unter dem Geläute der Mittagsglocken, der Generalmarsch von den vier Trompeten hinaufgeschmettert in den stählern funkelnden Himmel, an tausend Fenstern hinklirrend und zurückgeblitzt auf achtundsiebzig Kürasse, achtundsiebzig aufgestemmte nackte Klingen; Straße rechts, Straße links wie ein aufgewühlter Ameishaufen sich füllend mit staunenden Gesichtern; fluchende und erbleichende Gestalten hinter Haustoren verschwindend, verschlafene Fenster aufgerissen von den entblößten Armen schöner Unbekannter; vorbei an Santo Babila, an San Fedele, an San Carlo, am weltberühmten marmornen Dom, an San Satiro, San Giorgio, San Lorenzo, San Eustorgio; […] aus tausend Dachkammern, dunklen Torbogen, niedrigen Butiken Schüsse zu gewärtigen, und immer wieder nur halbwüchsige Mädchen und Buben, die weißen Zähne und dunklen Haare zeigend; vom trabenden Pferde herab funkelnden Auges auf alles dies hervorblickend aus einer Larve von blutgesprengtem Staub; zur Porta Venezia hinein, zur Porta Ticinese wieder hinaus: so ritt die schöne Schwadron durch Mailand. 27
Hier zeigt sich vor allem die prozessuale Dimension der Bildlichkeit, und Hofmannsthal treibt die Sprache in besondere Formen, um diese Qualität überdeutlich zur Abhebung zu bringen. In einer verblüffenden Anstrengung, die sowohl auf Aufschlüsselung als auch dramatische Unmittelbarkeit aus ist, macht der Text sinnlich erfahrbar, wie die Dynamik des Bildes unsere Wahrnehmung beschleunigt – ganz gemäß Hofmannsthals ambivalenter Wertschätzung der Moderne: »jeder Schimmer Sensation, jede Straßenecke Bild; […] Bewegung ist alles«.28 Der Ritt in die Stadt wird auch für den Leser zu einem massiven Immersionserlebnis, das ihn immer tiefer in das Textgeschehen hineinzieht. Dabei zwingen die zahlreichen Mittel der Gleichzeitig27 | Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte, S. 122f. 28 | So Hofmannsthal in seinem frühen Essay: »Die Mozart-Zentenarfeier in Salzburg« (1891), in: GW VIII, S. 515-518, S. 517f.
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keit den primär rhythmisch bestimmten Satzbau an seine äußersten Grenzen. In ihrer ausufernden Dichte lassen sie kaum noch distinkte Konturen und vor allem kein handelndes Subjekt mehr erkennen. Immer neue Bewegungsbilder steigen aus dem Dunkel des mit größter Hast durchquerten Mailand auf, gehen schier nahtlos ineinander über. Im Sog der sich überschlagenden Impressionen fragmentarisiert sich die Wahrnehmung. Von allen Seiten strömen optische Eindrücke ohne Zusammenhang auf die Schwadron ein: Straßen, Kirchtürme, Torbogen, Arme, Zähne; doch nicht nur optische, denn mit dem gleichzeitigen Glockengeläut, dem von den Fenstern »zurückgeblitzten« Marsch und dem Geruch blutgetränkten Staubs in der Luft nimmt die Szene synästhetischen Charakter an. Auch auf der von der formalen nicht zu trennenden inhaltlichen Ebene transzendiert der Text trotz seiner deskriptiven (aber eben nicht nur abbildenden) Züge die Logik der konsekutiven Figurenabfolge, indem er alle auftauchenden Ereignisse auf einen tragenden affektiven Grund rückbezieht. So treten als eigentliches Thema die hervorbrechende Aggression und Erregung der berauschten Soldaten zutage. Hinter der Sachlage: Ritt durch Mailand »zur Porta Venezia hinein, zur Porta Ticinese wieder hinaus«, welche Hofmannsthal in ihrer ganzen Leere auf zeigende Art zur Schau stellt, verbirgt sich also bedeutend mehr, als gesagt wird. Mit dem dritten Beispiel sind wir schließlich bei einer Art literarischem Tableau vivant angelangt, an dem sich die besondere psychologische Wirkung der Bildlichkeit ablesen lässt, und dies an der Stelle, die auch inhaltlich die entscheidende Zäsur der Reitergeschichte markiert. […] als wirklich eine aus dem Innern des Hauses ganz vorne in den Flur mündende Zimmertür aufging und in einem etwas zerstörten Morgenanzug eine üppige, beinahe noch junge Frau sichtbar wurde, hinter ihr aber ein helles Zimmer mit Gartenfenstern, worauf ein paar Töpfchen Basilika und rote Pelargonien, ferner mit einem Mahagonischrank und einer mythologischen Gruppe aus Biskuit dem Wachtmeister sich zeigte, während seinem scharfen Blick noch gleichzeitig in einem Pfeilerspiegel die Gegenwand des Zimmers sich verriet, ausgefüllt von einem großen weißen Bette und einer Tapetentür, durch welche sich ein beleibter, vollständig rasierter älterer Mann im Augenblick zurückzog. 29 29 | Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte, S. 123.
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Bevor wir uns dem Beispiel genauer widmen, sei nochmals auf das Wesen der Bildlichkeit verwiesen, um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen. Die Tatsache, dass die deiktischen Potentiale der Sprache in der Reitergeschichte immer wieder auch tableauartige Züge annehmen, heißt freilich nicht, dass Sprache nur im Nachbilden von Räumen oder im Nachbuchstabieren von Gemälden, die zudem nicht abstrakt angelegt sein dürften, bildliche Effekte evozieren kann. Wie gerade das Beispiel des Ritts durch Mailand gezeigt hat, dekomponiert sich ja die herkömmliche Sichtbarkeit der visuellen Konstellation in ein freies Spiel von Sinnesenergien, das nichts ›Anschauliches‹ mehr darstellt. Bildlichkeit ist, wie oben expliziert, als Einblick in das Resonanzgeschehen am Grunde der Sinnstiftung zu verstehen. Die zitierte Textpassage lässt vor dem Protagonisten Lerch im vielsagenden Dekor eines zwielichtigen Intérieurs plötzlich die Person seiner ehemaligen Geliebten auftauchen. Die Erinnerung an diese Begegnung und die Phantasmen, die er um eine imaginierte Beziehung mit ihr spinnt, werden wegweisend sein für das weitere unheilvolle Schicksal des Wachtmeisters. Und dann ist da natürlich noch der verschwindende unbekannte Dritte, der in der Szene nur indirekt durch sein Bild im Spiegel zugegen, aber dafür umso suggestiver präsent ist. Auffällig ist mithin, wie sehr die zeigende Dimension des Textes hier mit räumlichen und optischen Rahmungen in Verbindung steht. Die Informationen, die wir über den rasierten älteren Mann bekommen, könnten spärlicher nicht sein, und dennoch ist er eine hoch bedeutungsvolle Gestallt durch die bloße Art seines Erscheinens. Durch eine Tür tretend gespiegelt, wird ihm gar eine doppelte Rahmung zuteil, ganz davon zu schweigen, dass sein Bild in die Nähe des »großen weißen Bette[s]« gerückt wird. Auch die Zeichnung der Frau erfolgt stumm, primär über die billige Eleganz versprühenden Einrichtungsgegenstände, vor die sie gestellt wird, und über die legeren Kleider, die die Formen ihres Körpers betonen. Und wieder ist die Potenzierung des Blicks in der Spiegelung, durch die Lerch in intime Sphären eingeweiht wird, die der normalen Sicht entzogen geblieben wären, der Auslöser eines kritischen Zuwachses an Sinn. Dabei ist das Bild der Begegnung zwischen Lerch, der Geliebten und dem mysteriösen Dritten ebenso symbolisch wie konkret. Es birgt einen Überschuss an sinnlicher Evidenz, die sich nur begrenzt semantisieren lässt und in keiner der ihr zugeschriebenen Bedeutungen voll aufgeht. Der Sinn des Tableaus ist nicht von der Spezifik eben dieser offenen Situation abzulösen, so dass er allgemein kodifizierbar würde.
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Die zutiefst zweideutige Szene versammelt und verdichtet die Umstände, die zu den verhängnisvollen Entgleisungen des Wachtmeisters führen, indem sie sowohl ein Licht auf seine Vergangenheit wirft als auch auf die dumpfen Phantasien, die in ihm zu schwären beginnen. Bildlich kommt diese Überschneidung darin zum Ausdruck, dass sich Lerch räumlich auf halbem Weg zwischen dem Zug seiner Schwadron befindet, von dem er gerade seitlich in den Flur des ihm auffällig gewordenen Hauses abgewichen ist, und dem zivilkleinbürgerlichen Intérieur, das sich dort öffnet.30 Noch stärker sind diese Sinnbezüge in der unmittelbar folgenden Gebärde des Wachtmeisters zusammengezogen, die ihm in Charakter enthüllender Manier zu einer linkischen Mischung aus Zuneigungs- und Unterdrückungsbekundung gerät. Überhaupt ist die Geste als Form inkorporierter Bildlichkeit eine zentrale deiktische Ressource Hofmannsthals in der Reitergeschichte,31 was sich allein schon darin zeigt, dass deren Spannungshöhepunkt am Schluss praktisch ohne gesprochene Worte gestaltet ist und sich rein durch Bewegungen, Haltungen, Blicke und mimische Reaktionen zwischen den Akteuren vollzieht. Jene Eigenschaft, die in ihrem Gesamtkontext so typisch ist für Hofmannsthals Novelle, nämlich dass sie allerorts dunkle Hintergründe sich auftun lässt und derart sämtliche Geschehnisse in eine fundamentale Zweideutigkeit hineinzieht, ja ihnen letztlich einen wahrlich abgründigen Charakter verleiht, äußert sich im gegebenen Tableau auf besonders aufschlussreiche Weise, weil von ihrem Ursprung und unmittelbar auslösenden Moment her beleuchtet.32 Es sind demnach nicht so sehr die Bedrohungen durch äußere Gefahren und Gegner, die dem Wachtmeister zum Verhängnis werden, son30 | Bezeichnenderweise entbehrt auch diese Passage der Eindeutigkeit, denn lediglich als »halboffene« präsentiert sich die Tür des Hauses, ebd., S. 124. 31 | Auch in diesem Kontext gilt wieder, dass die Sprache wie das Bild unterschiedlich abstrakt mit Gesten umgehen kann: von der Darstellung der besonderen Armbewegung, mit der der Rittmeister auf Lerch anlegt, bis zur gestischen Pointe von nichtssagenden Sätzen wie: »[...] zur Porta Venezia hinein, zur Porta Ticinese wieder hinaus: so ritt die schöne Schwadron durch Mailand.« Vgl. auch Fabian Goppelsröder: Zwischen Sagen und Zeigen, S. 60f. 32 | Vgl. auch Richard Alewyn: Über Hugo von Hofmannsthal, 4. Aufl., Göttingen 1967, S. 80f.
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dern die seelischen Gewaltanwendungen gegen sein eigenes Inneres, die ab der einschneidenden Begegnung gegen ihn zurückzuschlagen beginnen. Der Macht der fortan auf ihn einströmenden Bilderflut ist Lerch praktisch schutzlos ausgeliefert. Das Bild ist in der Reitergeschichte mit einer besonderen affektiven Kraft versehen, verortet sie seinen Quell doch nirgendwo anders als in der Psyche des Protagonisten selbst. So enthüllt sich die Novelle auf formaler und inhaltlicher Ebene als eine Reflexion über die Wirkung der Bildlichkeit auf ihrem eigenen Terrain und mit ihren eigenen Mitteln. Vollends wird dies deutlich, wenn Lerch am Ende der Novelle als »von vielfältigen Bildern […] ganz überschwemmt« bezeichnet wird, die »aus einer ihm selbst völlig unbekannten Tiefe seines Innern« aufsteigen.33 Dabei dürfte jenes vom Säbel, »durch die linke Tasche des Schlafrockes durchgesteckt«, noch das harmloseste sein.34 Die Versuchung des Protagonisten ist also eine Versuchung der Bilder, und das bedeutet für Hofmannsthal zugleich: der evokativen Macht der Sprache. Dass es »seine Gewalt geltend« macht, heißt es ausdrücklich auch vom »ausgesprochene[n] Wort«, der Verkündigung aus Lerchs »Mund« gegenüber seiner Geliebten, er werde bei ihr ›Quartier‹ nehmen.35 Jetzt erfahren wir auch ihren Namen: »Vuic«.36 Die bildliche Versuchung schreibt sich auf doppelte Weise in den Text ein, insofern alle maßgeblichen inhaltlichen Zäsuren, die zu Lerchs folgenreichen Übertretungen führen, als konkrete Abwege von der narrativen Handlungsschiene gekennzeichnet sind und als solche bis auf das räumlich-topographische Niveau der Erzählung durchschlagen. Die stilistische Diskrepanz zwischen der Knappheit der militärischen Rapportform, mit der der Gehalt der Begebenheiten in knappen Strichen wiedergegeben wird, und den ausufernden Beschreibungen von Lerchs Fährnissen im Einzelnen trägt das ihrige zu diesem Eindruck bei. An drei wohl markierten Stellen setzt sich der Wachtmeister vom zielsicheren Treck seines Regiments ab, und jedes Mal kehrt er merkwürdig verändert von diesen Expeditionen zurück.37 Indem sich zwischen den so hervorgerufenen 33 | Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte, S. 131. 34 | Vgl. ebd., S. 125. 35 | Ebd., S. 124. 36 | Das slawische Wort für »Wölfin«. 37 | Die erste wichtige Abweichung vom Weg stellt das geschilderte Abbiegen in jenen Hausflur am Ausgang der Stadt Mailand dar, wo es zur Be-
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Bildersphären ein Geflecht von Querbezügen aufzubauen beginnt, wird der Gang der eigentlichen Handlung immer mehr von diesen Vor- und Rückverweisen der optischen Konstellationen unterlaufen, ja schließlich regelrecht überwuchert. Diese verwandeln den Faden der Erzählung in ein dichtes Netz von Szenen, die, sobald eine von ihnen anzitiert wird, vor dem Auge des Lesers verwandte oder kontrastierende Elemente von rein handlungsmäßig mitunter weit entfernten Sequenzen auftauchen lassen. Das kann so weit führen, dass sich die Novelle als Ganze kurzfristig einer simultanisierenden Sicht öffnet und wie ein einziges dynamisches Kontinuum von ineinandergreifenden Übergängen aufleuchtet.38 Dieser Effekt wird auf einer tiefer liegenden Ebene auch durch die konzentrierte Wiederkehr von sinnträchtigen Orts- und Zeitangaben sowie von symbolisch aufgeladenen Gesten und Gegenständen mit angebahnt.39 Allerdings geht die hofmannsthalsche Leitmotivik keineswegs in der semantischen Dimension ihrer Sinnzusammenhänge auf. Nur aus den jeweiligen Situationen, in denen sie erscheinen und mit denen sie sich wandeln, gegnung mit Vuic kommt. Darauf folgt der Ritt durch das einsame Dorf am Rande der Landstraße nach Lodi und schließlich die individuelle Verfolgung des feindlichen Offiziers abseits des Hauptgeschehens der ausgebrochenen Schlacht (bis an den Rand eines Bachs), die dem Wachtmeister den Eisenschimmel einbringt, dessen Nichtherausgabe ihm das Leben kosten wird. 38 | Folglich dürfen Bildlichkeit und Narration nicht als sich ausschließende Gegensätze betrachtet werden. Nur aus der Dynamisierung der Narration heraus stellen sich die Momente gesteigerter Bildlichkeit ein, welche sozusagen durch die Narration hindurchgegangen sind. 39 | Besonders Wege, Tiere oder Waffen und ferner auch der Akt des Lachens erhalten in der Reitergeschichte einen speziellen Sinn. Letzterer, in suggestiver Weise über offene Münder und entblößte Zähne sowie als bald »halbunterdrückt« (ebd., S. 130), bald schallend beschrieben, pendelt in der Novelle unentwegt zwischen Momenten scheinbar unschuldiger Freudenbekundung, sexuellen Begehrens und unverhohlener Aggressivität. Außerdem vollzieht sich das Schicksal des Wachtmeisters parallel zum immer wieder eingeblendeten Lauf der Sonne von ihrem Auf- bis zu ihrem Untergang an jenem 22. Juli 1848. Überhaupt kündigt das Naturbild gleich am Eingang der Reitergeschichte den Stimmungsgrund an, der die Geschehnisse der gesamten Novelle prägen wird, jenes kreatürliche Leiden, das stumm nach Trost und Errettung sucht, zugleich aber in einem fortwährenden Zyklus indifferenter Naturwüchsigkeit aufgehoben ist.
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beziehen die Motive ihre Bedeutung. Sie behalten stets einen symbolischen Überschuss bei, der semiotischen Decodierungsversuchen widersteht. Die Möglichkeit jener simultanisierenden Sicht der Reitergeschichte wirft ein besonders helles Licht auf das Fließen der Zeit und ihre Wahrnehmung. Im Übergang zwischen verstrichenen und vorausliegenden Handlungseinheiten erweisen sich für gewöhnlich geschiedene zeitliche Dimensionen als miteinander wechselseitig verspannte Horizonte. Fernab jedweder Linearität macht die Novelle aus ihrem Verlauf heraus die Verflochtenheit der Vergangenheit mit der Zukunft einsehbar, wobei sich der Sinn der einen im Zeichen der veränderten Möglichkeiten der anderen immer wieder neu einstellt. Die Gegenwart wird somit zu der paradoxen Stätte, an der Vergangenes und Zukünftiges spannungsvoll konvergieren. Dies bekommt Lerch am eigenen Leib und in der verschärften Form einer traumatischen Fixierung zu spüren. Je mehr sich die »Träumereien« des Wachtmeisters enthemmen,40 desto mehr wird er den Geschehnissen um sich herum entrückt. Die Sphäre, die ihm eben noch wie die Gegenwart schien, entgrenzt sich im Ineinanderfließen von Erinnerungen und Wünschen, und der Ausbruch aus diesem unbewussten Kreislauf wird dem Wachtmeister zunehmend unmöglich. Tatsächlich ›gelingt‹ dies erst in dem Augenblick wieder, als ihn die tödliche Kugel des Rittmeisters in die Stirn trifft.41 Der objektivierende Erkenntnisprozess, den die Novelle parallel zum Untergang des Wachtmeisters mit ihren bildgebenden Verfahren zugleich auch anstrengt, ist diesem also gerade nicht zugänglich. Besonders prägnant gestaltet sich diesbezüglich freilich Lerchs Ritt durch das abseits des Wegs »in einer dunkelnden Mulde gelagert[e]« Dorf,42 welcher die spiegelbildliche Inversion des rauschhaften 40 | Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte, S. 125. 41 | Insofern steht Hofmannsthal mit der Reitergeschichte in großer Nähe zu Kleist, an den die Novelle ihre Interpreten schon seit Otto Brahm, gerade in ihrem Zug zur Beschleunigung und mit Blick auf das Hervorbrechen unvorhersehbarer Ereignisse aus einer rätselhaften Seelenlage des Protagonisten heraus, so massiv erinnert hat. Zugleich ist sie in ihrer Struktur als analytische Aufarbeitung eines unaufhaltsam in den Abgrund führenden Traumas jedoch auch dem Blonden Eckbert und dem Runenberg Tiecks in besonderer Weise verpflichtet. 42 | Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte, S. 125.
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Zugs der Soldaten durch Mailand repräsentiert. Hier besiegelt sich sein Schicksal und dementsprechend wird dann auch das psychisch krasseste Bild gesetzt, jenes der Begegnung mit dem eigenen Selbst als Doppelgänger. Wie in einer Traumwelt zwischen den normalen Gesetzen von Raum und Zeit angesiedelt,43 illustriert diese Passage ins Unheimliche, die die Juxtaposition von suggestiven Szenarien abseits der narrativen Sukzession auf die Spitze treibt, Lerchs Unfähigkeit, anders als mit gewaltsamer Behauptung seines Selbst auf seine Umwelt beziehungsweise sein Unbewusstes zu reagieren. Wenn sich dieser am schließlich doch erreichten Ausgang des Dorfs plötzlich mit dem Auftauchen seines eigenen Doppelgängers konfrontiert findet, wird mit diesem mythisch überlieferten Topos die den Tod bezeugende Qualität der Bildlichkeit auf den Plan gerufen.44 Wird das Subjekt seiner Identität ansichtig, die zum Bild geworden ist, dann ist die Auflösung der Persönlichkeit in der Tiefe der Resonanzen unwiderruflich angekündigt, so Hofmannsthal. Der Ausgang des Konflikts in jenem Augenblick des Schlusses, der das ehemalige Vertrauensverhältnis zwischen dem Rittmeister und Lerch jäh in reine Aggression umschlagen lässt, bringt in seinem unverhohlenen Zynismus endgültig die Gewaltsamkeit zur Abhebung, die dem Verstummen im reinen Vollzug eignet. Die Reitergeschichte ist mithin auch als Reflexion auf die Verbindung von Präsenz und Gewalt zu lesen. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, 43 | In der Tat wird absichtlich offen gelassen, ob die gesamte Episode mit ihrer besonderen Bildlichkeit einem reinen Tagtraum des Wachtmeisters entsprungen ist, vor dessen innerem Auge sich immer ausuferndere Phantasien auftun, oder ob zumindest Andeutungen auf entsprechende Ereignisse in der äußeren Realität aufweisbar wären. Die Frage ist letztlich irrelevant, da auch der symbolische Ritt in die eigene Seelenlandschaft umgehend Realitäten zeitigt und das ›tatsächliche‹ Handeln des Wachtmeisters direkt beeinflusst. Dabei ist zu betonen, wie viel höher die dramatische Unmittelbarkeit der Passage durch die spezifische erzähltechnische Rahmung ausfällt, die Hofmannsthal dieser zuteil werden lässt. Die Darstellung umgeht eine rein diskursive Reflexion der Seelenlage des Protagonisten durch den Erzähler und verzichtet auch noch auf den entsprechenden Einsatz des inneren Monologs zugunsten des von keiner Individualperspektive gebrochenen Flusses der Ereignisse. 44 | Vgl. dazu Gottfried Boehm: »Zu einer Hermeneutik des Bildes«, insb. S. 470f., Anm. 9.
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dass das gestische Darstellungsprinzip am Ende der Novelle seinen Höhepunkt erreicht. So exponiert Hofmannsthal die fundamental ambivalente Natur forcierter ästhetischer Erfahrung. Das Zerreißen des Zeichenzusammenhangs, das das Individuum aus der herkömmlichen symbolischen Ordnung einer gemeinsamen Welt stößt und den Grund der reinen Resonanzen sich auftun lässt, macht sie dem blinden Vollzug körperlich erlittener Gewalt strukturell analog.45 Alles kommt darauf an, ob die künstlerische Grenzerfahrung der Erhellung der Situation des Menschen in der Welt dient oder ob sie sich in einer Geste der Grausamkeit jenen »Mächte[n]« fügt, die das Leben »von sich selbst hypnotisiert« sehen wollen.46 Bei der Brechung dieses Bannes fällt der Sprache eine ganz besondere Rolle zu. Gibt sie auch etwas ganz anderes zu vernehmen, als sie sagt, hört sie doch nicht auf, Sprache zu sein: Noch an ihren äußersten Grenzen bietet sie die Möglichkeit zur Teilhabe an Sinn.
45 | Vgl. auch Fabian Goppelsröder: »Grausame Geste«, insb. S. 209f. 46 | So Hofmannsthal in einem Brief vom August 1895, zitiert nach: Richard Alewyn: Über Hugo von Hofmannsthal, S. 83.
Aufgeführte Räume. Interferenzen von Theater und Bildender Kunst Barbara Gronau
Den kunstsinnigen Besuchern, die am 18. Januar 1964 das ehemalige Gelände der Ebeling Brauerei in der New Yorker Bronx betraten, hätten Gummistiefel sicherlich gutgetan. Auf dem Weg zu Allan Kaprows Eat galt es, immer tiefer in ein labyrinthartiges unterirdisches Kellersystem vorzudringen, an dessen Boden sich große Pfützen aus Sickerwasser gebildet hatten.1 Zwanzig Unerschrockene erhielten pro Stunde Einlass in den feucht-kühlen Felsenkeller, der vormals zur Lagerung von Bierfässern gedient hatte. Durch mehrere Hallen, Gänge und Türen gelangte das Publikum in ein bizarres Szenario, das sich über verschiedene Stationen hinzog und von mehreren Akteuren bespielt wurde. Begleitet von dumpfen ›Tick-Tack‹-Geräuschen erkundeten die Besucher ein Puzzle aus verkohlten Holzbalken und gezimmerten Bühnenpodesten, an deren Eingang sich zwei Türme von über zwei Metern erhoben. Auf diesen Türmen saßen zwei junge Frauen, die den eintretenden Besuchern in stummer Pose wahlweise roten oder weißen Wein einschenkten. Von der Decke der nur schwach und punktuell beleuchteten Höhle hingen zahlreiche Äpfel, die die Besucher pflücken oder einfach nur anbeißen konnten. Danach teilte sich die Höhle in zwei Kammern, von denen die eine 1 | Vgl. dazu Michael Kirby: »On each of these towers a girl sat motionless on a chair facing away from the entrance. The girl on the left had a gallon of red wine and the girl on the right had a gallon of white wine. If a visitor specifically asked her for wine, she poured some into paper cub and handed it to him. The girls did not speak and seldom moved, except to pour.« Michael Kirby: »Allan Kaprow’s Eat«, in: Tulane Drama Review 10:2 (1965), S. 44-49, S. 46f.
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mit mehreren verkohlten Holzbalken bestückt war, die dem Ganzen die Atmosphäre einer riesigen Feuerstelle verliehen. Hier saß eine junge Frau an einem elektrischen Camping-Herd und brutzelte Bananenscheiben in braunem Zucker, die sie an die Besucher verteilte. Im Zentrum der linken Höhlenkammer stand ein großer hölzerner Turm, in dessen Innerem ein Tisch mit Broten voller Erdbeermarmelade lockte. Um diesen Tisch zu erreichen, mussten die Besucher allerdings eine schmale hohe Leiter erklimmen, die gegen das Gerüst gelehnt war. Wie Michael Kirby berichtet, war das nicht das einzige durch Leitern zu erklimmende Arrangement, denn: At the rear of the bay another ladder leaned against the stone. It led to a small cave high in the wall, in which a man sat with a large pot. »Get ’em! Get ’em! Get ’em!« he called out mechanically over and over, pausing occasionally for a while and then continuing again. If a visitor climbed the ladder, the man cut a piece of boiled potato, salted it and gave it to him. 2
Für die Dauer einer Stunde waren die Besucher frei, sich durch das gesamte Gelände zu bewegen. Sie wurden animiert zu klettern, zu essen, zu trinken, zu rauchen oder den anderen Teilnehmern nur zuzuschauen. Nach Ablauf der Zeit erhielt eine neue Gruppe Einlass und sowohl die Besucher als auch die kochenden Akteure wurden ausgetauscht. Die Arbeit des amerikanischen Künstlers Allan Kaprow stellt eine der frühen Rauminszenierungen dar, in denen sich Bildende Kunst und Theater in spezifischer Weise durchkreuzen. Angekündigt als Environment – eine Bezeichnung, die Kaprow seit Mitte der 1950er Jahre für seine Raumarbeiten verwendet –, tritt dieser Abend jedoch aus einer rein statischen Funktion heraus. Hier sind nicht nur skulptural arrangierte Holzbalken zu besichtigen, sondern hier gilt es einen historischen Ort, eine präparierte Szene, ja eine Aufführung zu erleben. Der Grundcharakter dieses Arrangements lässt sich als installativ bezeichnen. In ihm werden Materialien, Medien, Sounds und Objekte in räumlichen Ensembles zusammengeführt, die den Charakter von Inszenierungen tragen. Die Besucher treten nicht nur einem Objekt gegenüber, sondern in eine Situation ein, d.h. sie erfahren sich als Bestandteil eines architektonischen, atmosphärischen und sozialen Beziehungsfeldes. Das Kunstwerk wandelt sich damit zu einem Schauplatz, »auf dem virtuell alle Beteiligten zu Protagonisten werden können, 2 | Michael Kirby: »Eat«, S. 49.
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wo mit der vermeintlichen Autonomie des […] Objekts auch jene des Subjekts […] auf dem Spiel steht«.3 In dem Maße, wie solche inszenierten Räume von der Spannung zwischen ortsspezifischen Qualitäten, plastischen Elementen und sich bewegenden Personen getragen sind, reichen sie über die bloße Ansammlung objekthafter Werke hinaus. Abbildung 1: Allan Kaprow: Cave Plan for EAT (1964)
3 | Silvia Eiblmayr: »Schauplatz Skulptur. Zum Wandel des Skulpturbegriffs unter dem Aspekt des Performativen«, in: Sabine Breitwieser (Hg.): White Cube, Black Box, Wien 1996, S. 75-85, S. 77.
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Der Raum und die darin befindlichen Körper gehen hier eine Verbindung ein, die insofern als performativ zu bezeichnen ist, als sie nicht nur Ausführungen, sondern auch Aufführungen von Handlungen stiftet. Auf welche Weise sich die einzelnen Elemente verbinden, welche Handlungen dabei initiiert werden und wer darin auf welche Weise als Akteur auftritt, wird Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Am Ausgangpunkt meiner Überlegungen steht die Beobachtung einer zunehmenden Interferenz von Theater und Bildender Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die als ein äußerst produktiver »Performativierungsschub«4 gedeutet werden kann. Mit ihm entsteht eine Reihe neuer Ausdrucksformen (Happening, Land-Art, Body-Art etc.), die sich nur mit Mühe einer einzelnen Gattung zuordnen lassen. Sie sind vielmehr einer ›Interart-Ästhetik‹ verpflichtet, die durch Konglomeration und Hybridisierung gekennzeichnet ist.5 In Installationen findet das Überschreiten einzelner Kunstgattungen und deren Zusammenführung zu mehrdimensionalen Wahrnehmungsformen seinen stärksten Ausdruck. Besonders deutlich wird das in Arbeiten wie Allan Kaprows EAT, die ich als »Theaterinstallationen« bezeichne.6 Darunter sind jene Aufführungen zu verstehen, in denen Architektur, Medien, Materialien, Klänge, Objekte und Subjekte in einem Raumszenario inszeniert werden, das vom Publikum durch Eigenbewegung erschlossen werden muss. Theaterinstallationen sind damit Ausdruck einer künstlerischen und diskursiven Synthese. Die Besucher bewegen sich hier innerhalb von installativ gestalteten oder szenisch veränderten Räumen, die aus Objekten, Sitzgelegenheiten, Videoleinwänden, Lautsprechern, Requisiten und landschaftlichen oder architektonischen Elementen bestehen. Innerhalb dieses Feldes begegnen sie spielenden, tanzenden, Geschichten erzählenden oder stumm anwesenden Akteuren, die die Besucher oft adressierend in ihre Handlungen einbeziehen. Wenn etwa Christoph Schlingensief das Publikum in Odins Parsipark durch ehemalige Militärgelände schickt, Christoph Martha4 | Erika Fischer-Lichte: »Vom Text zur Performance. Der ›performative turn‹ in den Kulturwissenschaften«, in: Kunstforum International, Bd. 152 (2000), S. 61-63, S. 63. 5 | Vgl. Erika Fischer-Lichtes Einleitung zu diesem Band. 6 | Vgl. Barbara Gronau: Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München 2010.
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ler das architektonische Innenleben der Volksbühne zu einer Straße der Besten ausbaut oder die Gruppe Signa uns zu Bewohnern von Krankenhäusern und Dorfgemeinschaften macht, dann zeigt sich, zu welch vielfältigen Formen Allan Kaprows künstlerisches Motto »go in, instead of look at«7 das Theater inspiriert hat.8 In einigen Fällen hat das so entstehende Setting den Charakter eines Parcours, in dem verschiedene Stationen durch Wege verbunden sind, in anderen Fällen tragen die Räume den Charakter von Labyrinthen oder von geschlossenen Welten. Ob die Besucher eine Serie von Einzelszenen abschreiten oder ob sie sich frei durch ein Gelände bewegen (müssen), in jedem Fall entsteht die Aufführung erst durch die Bewegung des Publikums im Raum und ist gebunden an eine direkte Interaktion mit der Architektur, der Landschaft und den darin auftretenden Akteuren. Damit ist der jeweilige Ort nicht mehr bloßer Hintergrund der Inszenierung, sondern tritt in seiner institutionellen, sozialen oder architektonischen Funktion, seiner Historizität und seiner Materialität hervor. Alle Theaterinstallationen lassen sich deshalb als ortsspezifische Arbeiten kennzeichnen. In ihnen wird die strikte Trennung von Bühne und Publikum bzw. Zuschauern und Akteuren aufgehoben. Damit lösen Theaterinstallationen in gewissem Maße die (neo)avantgardistische Sehnsucht nach Zusammenführung von Kunst und Leben ein. Sie zielen nicht nur auf eine ›Ausweitung‹, sondern auf eine ›Aufhebung‹ der Kunstzone. Dass dies nicht nur als
7 | Allan Kaprow in: Julie H. Reiss: From Margin to Center. The Spaces of Installation Art, Cambridge, London 1999, S. 24, Fn. 39. 8 | Auseinandersetzungen mit räumlichen Innovationen wurden noch in den 1980er Jahren unter dem Stichwort des »Bildertheaters« diskutiert. Vgl. Peter Simhandl: Bildertheater. Bildende Künstler des 20. Jahrhunderts als Theaterreformer, Berlin 1993. Dagegen behaupte ich, dass es hier weniger die zweidimensionale Logik des Bildes, als vielmehr die dreidimensionale Logik der Installation ist, die als Impulsgeber zeitgenössischer Theaterräume fungiert. Das heißt nicht, dass das Bild diesen Inszenierungen nicht als Präscript vorausgehen oder sie als monumentaler Rest überdauern kann, es kann als Medienbild auf Leinwänden und Bildschirmen erscheinen. Der Hauptaspekt von Theaterinstallation besteht jedoch weniger in einem zweidimensionalen visuellen Fokus als vielmehr in der räumlichen Erlebnisdimension, die die Körper und Handlungen von Akteuren und Publikum gleichermaßen umfasst.
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Befreiung, sondern gerade als Bedrohung erlebt werden kann, gehört wohl zum blinden Fleck des Transgressionsdiskurses.9
V ERBINDUNGEN VON THE ATER UND B ILDENDER K UNST In der Arbeit The Ghost Machine von Janet Cardiff und George Bures Miller (Hebbel am Ufer 2004) erzeugte die Verbindung von Bildender Kunst und Theater ein Hybrid aus Performance, Rauminstallation, Video und Soundexperiment, bei dem jeder einzelne Zuschauer mit einer Kamera in der Hand einer verwirrenden Spur durch die Flure, Säle und Winkel des alten Hebbel Theaters folgte. Die Möglichkeit, die in der Kamera aufscheinenden Ereignisse mit den im Theaterraum erlebten Geschehnissen zur Deckung zu bringen, forderte nicht nur die Einbildungskraft des Publikums heraus, sondern war von der Frage ›Was ist und wo beginnt Theater?‹ nicht zu trennen. In der Zusammenarbeit mit den Bildenden Künstlern Cardiff/Miller ging es augenscheinlich weniger darum, das Theater zur Galerie umzufunktionieren, als vielmehr darum, mit dem Umweg über andere Kunstformen die ästhetischen Möglichkeiten des Theaters selbst auszuloten. Wie die Ausstellungen I promise it’s political (Köln 2002), Das lebendige Museum (Frankfurt a.M. 2003) oder The Impossible Theatre (London, Warschau, Wien 2005) oder das Theaterfestival Fressen oder Fliegen10 gezeigt haben, vollziehen sich die Interferenzen von bildkünstlerischen und theatralen Verfahren als »Oszillieren zwischen ›ausstellen‹ und ›aufführen‹«11 oder als »Aufführen theatraler, mit9 | Ein anschauliches Beispiel für Bedrohung liefert Sabine Schoutens Beschreibung einer Inszenierung im Rahmen des Berliner X-Wohnungen Festivals. Sabine Schouten: »Was die Tasse zum Fliegen brachte. Zur wirklichkeitsgenerierenden Funktion atmosphärischer Einfühlung«, in: Erika Fischer-Lichte/Barbara Gronau/Sabine Schouten/Christel Weiler (Hg.): Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006, S. 48-57. 10 | Fressen oder Fliegen. Art into Theatre – Theatre into Art, Internationales Theaterfestival, 1.-16.11.2008 im Hebbel am Ufer Berlin. 11 | I promise it’s political. Performativität in der Kunst, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, hg. v. Dorothea von Hantelmann/Marjorie Jongbloed, Köln 2002, S. 11.
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unter ritueller Handlungen«.12 Dabei tauchen unwillkürlich alte Ressentiments und neue Pathosformeln auf, die das Verhältnis von Bildender Kunst und Theater seit vielen Jahrzehnten bestimmen. Zu den Ressentiments zählt etwa der notorische Verweis auf das von Michael Fried gegen die Minimal Art geführte Diktum, Theater sei die »Negation von Kunst« und habe die moderne Malerei »korrumpiert und pervertiert«.13 Umgekehrt wird auch das Theater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Einfluss der Bildenden Kunst revolutioniert, ja werden Begriff und Konzept des Theatralen einer umfangreichen Revision unterzogen. Was heute als »Postdramatisches Theater« die Bühnen erobert, ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen wechselseitigen Annäherung von Theater und PerformanceArt, Installationskunst und New-Media-Bewegung.14 Die modernen Interferenzen von Bildender Kunst und Theater lassen sich – grob gesprochen – auf vier Impulse zurückführen: die Sehnsucht nach Transgression, das Spiel mit Prozessualität, die Aktivierung der Zuschauer und die Neubestimmung des Raumes.
O HNE G RENZEN Von den historischen Avantgarden übernehmen europäische und amerikanische Künstler nach dem II. Weltkrieg vor allem zwei Forderungen: die nach der Entgrenzung der einzelnen Kunstgattungen untereinander und die nach der Annäherung von Kunst und Leben. Diese Entwicklung zeichnet sich durch eine schrittweise Auflösung traditioneller Gattungsgrenzen aus und geht mit der Infragestellung und Abkehr von einem an Objekthaftigkeit und Geschlossenheit orientierten Werkbegriff einher. Allan Kaprows ›Happenings‹ oder Joseph Beuys’ ›soziale Plastiken‹ stellen historische Beispiele solcher Entgrenzungsbestrebungen dar. Die Zunahme der performativen – dass heißt der handlungs- und prozessgebundenen – Aspekte 12 | Udo Kittelmann: Presseinformation zur Ausstellung: Das lebendige Museum, o.S., Anm. 17. 13 | Vgl. Michael Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit [1967]«, in: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art – Eine kritische Retrospektive, Dresden 1998, S. 334-274. 14 | Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999.
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von Kunst führt zu einer Verschränkung von Bildender Kunst und Theater, die sich in der Suche nach ›Aktionen‹ (Wiener Aktionismus), ›Ereignissen‹ (New Yorker Fluxusbewegung) oder ›Situationen‹ (Pariser Situationisten) niederschlägt. Zwar beziehen sich zahlreiche Künstler der Neoavantgarde zunächst nur in abgrenzender Form auf das Bühnentheater, weil am Theater noch immer der Charakter des Scheins und der Verstellung zu kleben scheint. Doch bereits Kunstkritiker wie Susan Sontag oder Richard Kostelanetz schlagen bereits in den 1960er Jahren eine Brücke zum Theater und erkennen in der Aktionskunst ein »Theater der Maler« und ein »Theatre of mixed means«.15 Wenn heute in der Bildenden Kunst mit Prinzipien der Inszenierung (Matthew Barney), der Prozessualität (Bruce Nauman), des Körpereinsatzes (Carsten Höller) oder des Ausstellungskontextes (Jeppe Hein) gearbeitet wird, dann kreisen die Arbeiten um Aspekte der Aufführung, der Betrachtereinbeziehung oder der Maskerade. Sie rekurrieren dabei auf theatrale Paradigmen wie das der Selbstinszenierung, der Vorführung einer Handlung oder auf das des Raumes als Schauplatz und Szenerie.
P ROZESS UND E REIGNIS Die Abkehr vom traditionellen Werkbegriff vollzieht sich mit einer gleichzeitigen Hinwendung zum Ereignis als prozessualer Form. So bekennt bspw. der amerikanische Fluxuskünstler George Brecht: »Das Wort Event schien mir die totale, alle Sinne in Anspruch nehmende Kunsterfahrung auszudrücken, an der ich mehr als an allem anderen interessiert war.«16 Schon 1950 initiieren die Foto- und Filmarbeiten, mit denen Hans Namuth den Maler Jackson Pollock porträtiert, ein neues, aktionszentriertes Kunstverständnis. Pollock steht hier mitten ›in‹ seinen Werken und lässt die Farbe als Spur den tänzelnden, werfenden, schüttenden, kreisenden und spritzenden Bewegungen sei15 | Susan Sontag: »Happenings: Die Kunst des radikalen Nebeneinanders«, in: dies.: Geist als Leidenschaft, Leipzig/Weimar 1989, S. 73-85; Richard Kostelanetz: Theatre of Mixed Means. An Introduction to Happenings, Kinetic Environments, and other Mixed-Means Performances 1970, London 1970. 16 | George Brecht in: Jürgen Schilling: Aktionskunst. Identität von Kunst und Leben?, Frankfurt a.M./Luzern 1978, S. 80.
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nes Körpers folgen. Namuths Bilder veranlassen den amerikanischen Kunstkritiker Harold Rosenberg 1952 zu jenem vielzitierten Statement, das den ästhetischen Produktionsprozess mit dem »Agieren in einer Arena« vergleicht: Zu einem bestimmten Zeitpunkt erschien einer Reihe amerikanischer Künstler die Leinwand plötzlich nicht mehr als Fläche, auf der ein wirklicher oder imaginierter Gegenstand reproduziert, neu entworfen, untersucht oder ›ausgedrückt‹ werden sollte, sondern als eine Arena, in der es zu agieren galt. Nicht ein Bild gehörte auf die Leinwand, sondern ein Ereignis.17
Die Umdeutung des Malaktes in eine Performance verschiebt den Fokus von der Produktion mimetischer Objekte zum Prozess einer offenen Handlung am Material. Was Amelia Jones als »the Pollockian performative« bezeichnet hat, kann als initiatorisches Moment der Neoavantgarde angesehen werden. Die »Aktion« gilt nun als zentraler Modus der Produktion und der Rezeption von Kunst. Denn die Filmaufnahmen bilden nicht bloß die Kunstpraxis des Malers ab, sondern bringen die Vorstellung vom »Artist as Actor«18 – im Doppelsinn von »Handelnder und Darstellender« – hervor. Der Begriff »Aktion« wird nicht nur zur Sammelbezeichnung einer speziellen Kunstrichtung, sondern bildet ein Synonym für das Performative, auf das alle Kunstformen dieser Zeit in unterschiedlicher Weise Bezug nehmen. Die Flüchtigkeit des Ereignisses soll zudem ein Widerstandspotential gegen den ökonomischen Zugriff des etablierten Kunstsystems markieren. Weil die Aktion als solche »nicht gehandelt, verkauft, nicht goldgerahmt, nicht verbrannt, nicht luxusediert, nicht auf Postkarten gedruckt, nicht als Schlafzimmerdekoration missverstanden werden kann«,19 wie der Künstler Thomas Schmit betont, gilt sie immer wieder als Mittel gegen die Logik des Marktes. Dass die Aktionskunst 17 | Harold Rosenberg: »Die amerikanischen Action Painter [1952]«, in: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Ostfildern-Ruit 2003, Bd. 2, S. 708-711, S. 708. 18 | Verena Kuni: »Vom Standbild zum Starschnitt. Überlegungen zur Performanz eines Mediensprungs«, in: Christian Janecke (Hg.): Performance und Bild. Performance als Bild, Berlin 2004, S. 209-246, S. 216. 19 | Tomas Schmit: »Handel, Handlungen, Händel, Behandlung. Aspekte neuer Kunst«, in: Wolf Vostell (Hg.): De-Coll/age 4/1964 (Januar), o.S.
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jedoch von Beginn an mit ihrer Mediatisierung, Institutionalisierung und Vermarktung verbunden ist, lässt sich allein an der Karriere der Pollock-Portraits von Hans Namuth verfolgen.
TEILNEHMEN UND S PIELEN »Warum lernt man die Geschichte der Moderne nicht im Stil Äsopischer Fabeln?«, fragt Brian O’Doherty in seinem epochalen Essay »Inside the White Cube« von 1976. Als Fabel ließen sich die komplexen Wege der modernen Kunst in anschauliche Märchen für Erwachsene verwandeln, die Titel wie »Wer brachte die Illusion um?«, »Wie der Rand gegen die Mitte revoltierte« oder »Wohin verschwand der Rahmen?« tragen könnten.20 All diese Märchen erzählten von einer verwirrenden Tendenz der Moderne: der Neubestimmung der Rolle des Betrachters. Der vormals stumme, gesichtslose Augenzeuge wird nunmehr körperlich adressiert, sinnlich verführt, latent bedroht oder buchstäblich unterworfen. »Bande von Versagern senkt den Kopf beim Eintreten«, hatte Ben Vautier über die hüfthoch verkleinerte Eingangstür seiner Ausstellung geschrieben. Über sinnliche Wahrnehmung, leibliche Bewegung oder handelndes Eingreifen sollen die Zuschauer zu engagierten Teilnehmern und Mitspielern werden. Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird mit der Forderung nach Partizipation ein künstlerischer Kampfbegriff ausformuliert, der an die Stelle geschlossener Werke kollektive Aktionen setzen will. So fordert etwa Allan Kaprow in den 1960er Jahren: »[…] audiences should be eliminated entirely […] A group of inactive people is just dead space.«21 Zur Wiederbelebung des ›toten‹ Zuschauerraumes wird das Publikum im Theater, im Museum oder im urbanen Raum zu Aktionen wie Essen, Trinken, Schmieren, Tauschen, Schreiben, Fegen oder Sprechen aufgefordert. Bezeichnenderweise erweist sich die emphatisch begrüßte Aktivität der Teilnehmer unter anderem dann als problematisch, wenn die Handlungen der Besucher den Intentionen des Künstlers zuwiderlaufen. So musste auch Kaprow eingestehen: »[...] the [visitors] came 20 | Brian O’Doherty: In der weißen Zelle/Inside the white cube, Berlin 1996. 21 | Allan Kaprow: Assemblage, Environments, Happenings, New York 1966, S. 188f.
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in and talked and moved about and sometimes were even aggressive and pulled things down and broke them […] [finally] they ruined the composition.«22
V OM K UBUS ZUR A K TIONSZONE Die Reflexion auf den Raum und seine historischen, politischen und institutionellen Parameter kann als eine der wichtigsten Schnittstellen von Bildender Kunst und Theater verstanden werden. Im Konzept der Ortsspezifik – also der direkten Bezugnahme auf den Umgebungsraum – und der Herausbildung der Installationskunst findet sie ihren beispielhaften Ausdruck. Während der white cube des Museums oder der Galerie einen scheinbar neutralen Ort etabliert, in dem der Betrachter autarken Kunstwerken gegenübertritt, thematisieren ortsspezifische und installative Arbeiten sowohl den Ort als auch die Körper und die Bewegungen derjenigen, die sie betreten. Im Bereich des Ästhetischen wird die Auseinandersetzung mit dem Raum zum zentralen Gravitationsfeld performativer Praktiken und Diskurse, markiert er doch jenen Punkt, an dem sich Subjekt und Objekt über eine perzeptive und politisch-soziale Konstellation gegenseitig ausdifferenzieren. Dabei wird dem Raum die Rolle zugesprochen, Austragungsort einer doppelten Überschreitung zu sein: Als Ort gattungsübergreifender ästhetischer Praktiken und als Ort gesellschaftlicher Bedeutungsvermittlung markiert er das Versuchsfeld, auf dem ästhetische Autonomie über eine Kontextualisierung und Totalisierung des Raumes aufgehoben werden soll. So heißt es etwa in Wolf Vostells ästhetischem Programm »Was ich will«: »Kunst als Raum, Raum als Umgebung, Umgebung als Ereignis, Ereignis als Kunst, Kunst als Leben.«23 Die räumliche Transgression verläuft über zwei Strategien: die Ausdehnung, ja Auswucherung des Objektes (die Plastik wird zur multimedialen Installation, die Bühne schwappt über die Rampe) und über die Kontextualisierung des scheinbar neutralen Galerie- oder Museumsraumes. Ob als Wüstenlandschaft, öffentlicher Platz oder szenarisches 22 | Allan Kaprow, zitiert nach Lars Blunck: Between object and event, Norderstedt 2001, S. 115. 23 | Wolf Vostell: Aktionen: Happenings und Demonstrationen seit 1965, Reinbek 1970.
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Tableau, der Raum ist/fungiert nicht mehr länger als neutraler Hintergrund, sondern wird selbst zum Gegenstand der Inszenierung. Dabei tritt der Besucher nicht einfach einem Objekt gegenüber, sondern in eine Situation ein, die ihn umfängt und adressiert. Am Schnittpunkt dieser beiden Achsen taucht plötzlich ein alter Bekannter auf – das Wagnersche Gesamtkunstwerk. Wenn Joseph Beuys von seinen Aktionen als »Gesamtkunstwerk unter der Methode des Schaubildes« spricht, Ilya Kabakov seinen ›totalen‹ Installationen den »Charakter des Gesamtkunstwerks« verleihen will und Christoph Schlingensief die multimediale Annäherung an den Geist von Bayreuth sucht, scheint Wagners Idee der ästhetischen Totalität nicht weit. Glaubt man Boris Groys, so hat die Installationskunst in dieser Hinsicht dem Theater den Rang abgelaufen. Weil die Installation sowohl gemalte Bilder, Zeichnungen, Fotos und Texte, als auch Objekte, Readymades, Filme oder Tonbänder in sich aufnehmen kann, gilt sie als »extrem gefräßige Kunstform«.24
L ABYRINTH AUS W ÖRTERN UND M ENSCHEN Ich möchte an einem abschließenden Beispiel zeigen, wie Transgressionen im Gegenwartstheater hergestellt werden, wenn Handeln nicht allein auf darstellerisches Spiel und sein Ort nicht mehr auf eine ferne Bühne beschränkt ist. Für die Frage, welche Handlungsformen von installativen Theaterformen evoziert werden, habe ich deshalb eine Produktion gewählt, an deren Entstehungsprozess ich als Dramaturgin mitbeteiligt war: die Schweizer Erstaufführung von Elfriede Jelineks »Über Tiere« 2007 in der Regie von Christine Gaigg. Jelineks Text »Über Tiere« geht auf einen von der österreichischen Zeitschrift Falter aufgedeckten Fall zurück, bei dem der Politikredakteur Florian Klenk polizeiliche Telefonprotokolle einer sogenannten Wiener Escortagentur an die Öffentlichkeit brachte. Die Aufzeichnungen der Gespräche zwischen osteuropäischen Mädchenhändlern, Wiener Zuhältern und Freiern führten zu einem öffentlichen Skandal und regten eine Me24 | »Die Installation etabliert sich in unserer Zeit als eine extrem gefräßige Kunstform, die alle anderen traditionellen Kunstformen in sich aufnimmt: gemalte Bilder, Zeichnungen, Fotos, Texte, Objekte und Readymades, Filme oder Tonbänder«; Boris Groys: Topologie der Kunst, München/Wien 2003, S. 26.
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diendebatte über Zwangsprostitution im gegenwärtigen Europa an. Jelineks dreißig Seiten starker Text enthält weder Szenenanweisungen noch Figuren oder Dialoge, er untergliedert sich in zwei Teile: Der erste ließe sich als eine Art innerer Monolog an einen abwesenden Geliebten beschreiben, im zweiten Teil montiert die Autorin Originalzitate aus den Telefongesprächen zwischen Zuhältern und Kunden über Preise und Sexualpraktiken.25 Die grundsätzliche Frage, die sich uns bei der Inszenierungsarbeit stellte, war die nach der eigenen Haltung. Trotz aller Sprachspiele und ironischer Überhöhungen, die Jelineks Texte stets kennzeichnen, konfrontiert »Über Tiere« seine Leser zunächst mit einer pornografischen Drastik. Der Text involviert, verführt und beschämt zugleich. Wir werden Ohrenzeugen, wie Menschen als Ware verhandelt werden, ohne dass sich diese Rede auf einzelne Figuren – im Sinne von Antihelden – beschränken würde: Sie ist vielmehr eingebettet in den Fluss von Reflexionen, Assoziationen, Rede und Widerrede. Die Übertragung dieser Frage auf die Inszenierung führte zu zwei konzeptionellen Entscheidungen. Erstens: Sprache und Bewegung wurden auf zwei darstellerische Ebenen übertragen: auf vier Schauspieler (je zwei Männer und Frauen) und zwölf Tänzerinnen. Die Inszenierungsarbeit umfasste also eine Sprechtheater-Regie und eine Choreografie, die zueinander in Beziehung gebracht werden mussten, wobei die Herausforderung für die Schauspieler darin bestand, keine festen Rollen wie Geschlechterrollen oder Opfer-Täter-Muster zu perpetuieren, sondern flüchtige und wechselnde Allianzen untereinander einzugehen. Das konnte bedeuten, da ›rotten‹ sich drei gegen eine zusammen, oder es sprechen zwei Darsteller als Dialogpaar miteinander, fallen einander ins Wort, greifen den Satz des nächsten auf usw. In Analogie zu Jelineks rhythmischen Sprachformen bestand das Bewegungsmaterial der Tänzerinnen aus einer Reihe von minimalen Aktionspatterns, die durch Loops und Wiederholungen in einen sich ständig leicht verändernden Fluss verwandelt wurden. Die Grundlage dieser individuellen Bewegungsmuster entstand aus der Proben-Auseinandersetzung mit Objekten, genauer gesagt, den Kanten und dem 25 | Bei der ungefähr zeitgleichen österreichischen Erstaufführung am Burgtheater hat Ruedi Häusermann »Über Tiere« als Monolog einer einzelnen Schauspielerin (Sylvie Rohrer), umrahmt von zwölf Pianos inszeniert, für die deutsche Erstaufführung am Deutschen Theater Berlin hat Nicolas Stemann den Text mit sieben Darstellern in parodistischem Ton und trashiger Bilderflut umgesetzt.
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Material von langgezogenen, hölzernen Bänken, auf denen die Tänzerinnen lagen. Abbildung 2: Elfriede Jelinek: »Über Tiere«, Regie/Choreographie: Christine Gaigg, Zürich 2007 (Fotos: Stephan Rappo)
Die zweite konzeptionelle Entscheidung bestand in der Herstellung einer besonderen Raumsituation. Anstelle eines getrennten Bühnen- und Zuschauerraumes kreierte Philip Hanoncourt eine Installation, in der Darsteller und Publikum auf derselben räumlichen Ebene agierten. Hier gab es keine Stühle und kein Podium, ja nicht mal einen räumlichen Fokus, auf den man sich ausrichten konnte, sondern vielmehr ein Setting aus zwölf kniehohen, langgestreckten Holzpritschen, mit einem einzelnen darüber hängenden Spot. Am Beginn des Abends, wenn das Publikum in den Raum gelassen wird, sind diese Bänke durch die Tänzerinnen belegt, deren Bewegungsuntergrund sie darstellen. Je nach Temperament und Enge müssen sich die ca. einhundert Zuschauer vorsichtig, neugierig oder forsch entlang der Raumachsen bzw. vor, neben oder hinter den Bänken bewegen. Diese Raumsituation stellte gleichermaßen eine Herausforderung für die Darsteller und die Zuschauer dar. Für die Darsteller bedeutete es, ohne schützende Rampe auf Augenhöhe unmittelbar zwischen den Zuschauern positioniert zu sein, durch ihre Körper hindurch den Kontakt zu den anderen Darstellern zu halten und jederzeit auf unvorhergesehene Reaktionen gefasst zu sein. Für die Zuschauer bedeutete die Situation, ohne die Anonymität im dunklen
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Zuschauerraum jederzeit für die Schauspieler und die anderen Zuschauer sichtbar zu sein, sich im Bühnenraum bewegen zu müssen, wenn man einen anderen Fokus einnehmen wollte, und nicht zuletzt, den ersten Teil von vierzig Minuten im Stehen zu verbringen. Abbildung 3: Elfriede Jelinek: »Über Tiere«, Regie/Choreographie: Christine Gaigg, Zürich 2007 (Fotos: Stephan Rappo)
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Wenn dann im zweiten Teil des Abends die Zuschauer gebeten wurden, auf den Bänken Platz zu nehmen, und an ihrer Stelle die Schauspieler sich bewegten, so verband sich damit keineswegs eine Rückkehr zum klassischen Raumsetting. Dicht nebeneinander gedrängt beobachteten die nunmehr sitzenden Zuschauer einander und erlebten, dass die Schauspieler sie adressierten, während sie auf der Textebene detaillierte Sexual- und Verkaufspraktiken wiedergaben. Die Tatsache, dass das Licht alle Reaktionen des Publikums sichtbar machte, dass die Darsteller sich neben sie setzten oder in ihre Richtung sprachen, führte zu einer andauernden Verunsicherung. Das Ziel der Inszenierung, die latente Gewalt des verhandelten Themas in eine nicht bloß intellektuelle, sondern kollektive physische Erfahrung zu übertragen, wurde durch ein anderes Handlungssetting erreicht. Hier musste niemand aufstehen und ›mitspielen‹, was bekanntermaßen die größte Angst des Publikums im Theater ist, jeder Zuschauer konnte in der gewohnten Sitzhaltung bleiben. Und doch drangen die Blicke und Worte überall hin, provozierte das Wechselspiel aus Beobachten und Beobachtetwerden die Fragen: Was mache ich hier? Wie reagiere ich darauf? Und wer bin ich in diesem Spiel?
A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Allan Kaprow: Cave Plan for EAT (1964). Quelle: Tulane Drama Review 10:2 (1965), S. 45. Abbildung 2: Elfriede Jelinek: »Über Tiere«, Regie/Choreographie: Christine Gaigg, Zürich 2007 (Fotos: Stephan Rappo). Quelle: 2nd Nature/Theater am Neumarkt, Zürich 2007. Abbildung 3: Elfriede Jelinek: »Über Tiere«, Regie/Choreographie: Christine Gaigg, Zürich 2007 (Fotos: Stephan Rappo). Quelle: 2nd Nature/Theater am Neumarkt, Zürich 2007.
Ausweitung II: Kunst und Alltagswelt
»Experimentelle Kunst ist niemals tragisch«: Kunst und Leben seit den 1960er Jahren Philip Ursprung
Die performative Kunst der 1960er und 1970er Jahre, also Happening, Fluxus, Performance und Body Art, hat die Kategorien der Kunstgeschichtsschreibung grundlegend verändert.1 Das Interesse vieler Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker hat sich von der Beschreibung statischer Objekte hin zur Analyse von dynamischen Prozessen verlagert. Die dualistische Unterscheidung zwischen Kunstwerken und Betrachtern ist der Analyse der Interaktionen zwischen Produktion und Rezeption gewichen. Die Wahrnehmung und Interpretation von Kunstwerken ist als kontingenter, von spezifischen Interessen und Bedingungen geleiteter Prozess ins Blickfeld gerückt. Und auch die Historiographie der Kunst wird seit einiger Zeit auch 1 | Der vorliegende Text basiert auf meiner Antrittsvorlesung an der Universität Zürich vom November 2006 sowie einem Vortrag, den ich anlässlich des 29. Deutschen Kunsthistorikertags in Regensburg im März 2007 in der von Verena Krieger und Hubert Locher geleiteten Sektion »Kunstliteratur im 20. Jahrhundert« gehalten habe und dann in veränderter Form im Rahmen des Graduiertenkollegs »InterArt« an der Freien Universität Berlin im Juni 2007 präsentieren durfte. Der Text ist in geringfügig anderer Form zuerst erschienen in: Verena Krieger (Hg.): Kunstgeschichte und Gegenwartskunst: Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft, Wien 2008. Mein Dank geht an Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Allan Kaprow (†), Verena Krieger, Hubert Locher, Caroline Philipp und Christoph Schlingensief.
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unter dem Aspekt des performativen Schreibens reflektiert, das heißt als eine Praxis, welche die Bedingungen und Motive der Autoren ins Spiel bringt und der es weniger darum geht, Bedeutung zu fixieren, als darum, sie offenzuhalten. Amalia Jones und Andrew Stephenson brachten dies in der Einleitung des Aufsatzbandes Performing the Body/Performing the Text (1999) auf den Punkt: Since the 1960s, visual art practices, from body art to Minimalism, have opened themselves to the dimension of theatricality in such a way as to suggest that art critics and art historian might reassess our own practices of making meaning through an engagement with the process of art production and reception as performative. […] The notion of the performative highlights the open-endedness of interpretation, which must thus be understood as a process rather than an act with a final goal, and acknowledged the ways in which circuits of desire and pleasure are at play in the complex web of relations among artists, patrons, collectors, and both specialized and nonspecialized viewers. […] Adopting the notion of performativity as a critical strategy within the study of visual culture thus enables a recognition of interpretation as a fragile, partial, and precarious affair and, ultimately, affords a critique of art criticism and art history as they have been traditionally practiced. Since meaning is negotiated between and across subjects and through language, it can never be fully secured: meaning comes to be understood as a negotiated domain, in flux and contingent on social and personal investments and contexts. […] Interpretation itself is a performance between artists (as creators, performers, and spectators of their work) and spectators (whether ›professional‹ or non-specialist). 2
Das Buch erschien im Kontext einer Reihe von Publikationen zur Performativität, darunter Peggy Phelans Unmarked: The Politics of Performance (1993), Judith Butlers Excitable Speech: A Politics of the Performative (1997), Rebecca Schneiders The Explicit Body in Performance (1997) und Amelia Jones’ Body Art: Performing the Subject (1998). Diese Bücher standen am Beginn einer Trendwende in der Kunstgeschichte. Scheinbar unverrückbare Grenzen wie die Unterteilung in Gattungen, Medien und Epochen wurden ebenso geöffnet wie der Zugang zu Kino, Tanz, Theater, Literatur, Populärkultur. Die Erkenntnis setzte sich durch, dass gerade ephemere Kunstwerke, 2 | Amelia Jones/Andrew Stephenson: Introduction, in: dies. (Hg.): Performing the Body, Performing the Text, London/New York 1999, S. 1-10, S. 1f.
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die notwendigerweise der medialen Repräsentation durch Fotografie und Video bedürfen, auch nach historischer Nacherzählung rufen, also gleichsam privilegierte Gegenstände der Historiographie sind. Selbst offensichtlich statische Artefakte wie die Objekte der Minimal Art wurden mit einem Mal als Elemente von performativer Wahrnehmung interpretiert. Lange Zeit marginalisierte Künstler wurden in den kunsthistorischen Kanon aufgenommen. Und, nicht zuletzt dank Erika Fischer-Lichtes Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der FU Berlin, konnte die deutschsprachige Kunstgeschichtsschreibung in Bezug auf die methodische Beweglichkeit, die Offenheit gegenüber benachbarten Disziplinen sowie die Affinität zur Kunst der eigenen Gegenwart ihren notorischen Rückstand auf die englischsprachige Kunstgeschichtsschreibung verringern. Innerhalb des erstaunlich kurzen Zeitraums von einem Jahrzehnt wurde die Kunstgeschichte des Performativen institutionalisiert. Was heute hingegen fehlt, so meine These, ist eine performative Kunstgeschichte. Obwohl die Kenntnisse der performativen Gegenstände zugenommen haben, betrachten die meisten Historiographen sie nach wie vor aus der Distanz. Auch wenn das »Ich« der kunsthistorischen Autoren gelegentlich hinter vorgeblicher Neutralität hervorblickt und die persönlichen Motive und die Umstände der Forschung nicht mehr nur ausschließlich in den Danksagungen vor oder nach dem Haupttext versteckt bleiben, wird die Performanz der Historiographen kaum diskutiert. Mit anderen Worten, die Wandlung vom Beobachter zum Teilnehmer, welche die Kunst vor vierzig Jahren verändert hat, hat in der Kunstgeschichte noch nicht stattgefunden. Aber wie könnte eine performative Kunstgeschichte aussehen, die sich vornimmt, den eigenen Gegenstand nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu beeinflussen? Also vorzugehen in Analogie zu Karl Marx’ Satz aus den Thesen über Feuerbach: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.«3 Und warum, so werden manche zu Recht fragen, sollte dies überhaupt nötig sein?
3 | Karl Marx: Thesen über Feuerbach (11. These), geschrieben 1845, nach der Ausgabe von 1888, Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, in: Karl Marx/ Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin (Ost) 1952, Bd. 2, S. 372.
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D ISTANZIERTE K UNSTGESCHICHTE Der Grund für eine performative Kunstgeschichte, eine Kunstgeschichte, die sich einmischt und exponiert, so meine Antwort, liegt darin, dass sie sich die traditionelle Rolle der distanzierten Betrachtung nicht mehr leisten kann. Die goldenen Zeiten ihres Vermittlungsmonopols, wenn es denn je ein solches gab, sind endgültig vorbei. Die Vermittlung von Kunst, namentlich von Gegenwartskunst, ist in den letzten dreißig Jahren zu einem immer stärker umkämpften Feld geworden, um dessen Kontrolle sich diverse Instanzen bemühen. Die Kunstgeschichtsschreibung hat in diesem Prozess zunehmend an Terrain verloren. Sie hat ihre zwischen dem mittleren 19. und dem mittleren 20. Jahrhundert bestehende Vorrangstellung auf dem Feld des künstlerischen Diskurses an andere Akteure der Vermittlung und Bewertung abgeben müssen, namentlich Sammler, Händler und Museumskuratoren. Diese Entwicklung setzte im Lauf der 1960er Jahre ein. Im Übergang von der »artist’s world« – so ein Schlagwort im New York der 1950er Jahre – zur »art world« – so der in den 1960er Jahren langsam eingebürgerte Begriff – rückten die Kunsthistoriker zunehmend an den Rand. Die Kunstwelt konsolidierte sich Anfang der 1970er Jahre. Museen und Ausstellungszentren, freischaffende Kuratoren und Sammler sowie der eng damit verflochtene Kunstmarkt rückten ins Zentrum der Vermittlung und sind seither die Instanzen, welche über Wert und Bedeutung der zeitgenössischen Kunst – und damit teilweise auch über die Kunst früherer Epochen – entscheiden. Es ist für die Kunstgeschichte ein geringer Trost, dass es der Kunstkritik, von der sie sich im Lauf des 20. Jahrhunderts immer mehr distanzierte, noch schlechter erging als ihr selber. Diese im 19. Jahrhundert meinungsbildende Praxis ist seit den 1970er Jahren bekanntlich nur noch ein Schatten ihrer selbst. Und auch die Künstler büßten seit damals an diskursivem Gewicht ein. Die Kunsttheorie, die Jahrhunderte lang stark von Künstlertexten geprägt war, bedarf der Stimmen der Künstler schon lange nicht mehr. Sie tauchen, ebenso wie die Stimmen der Kritiker, allenfalls im Künstlerinterview noch auf. Kunstgeschichte, Kunstkritik und Künstler sitzen damit sozusagen im selben Boot. Dieser Trend ist ungebrochen. Nach der Preisexplosion der zeitgenössischen Kunst in den 1980er Jahren und dem nach dem kurzfristigen Einbruch des Kunstmarktes 1991 folgenden Boom der späten 1990er Jahre, der erst 2008 endete, expandierte die Kunstwelt
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abermals stark und bewegt sich seither eng angelegt an die Konjunktur der globalisierten Wirtschaft. Das heißt, sie zielt auf die Konzentration von kulturellem Kapital und lokalisiert sich in den ökonomischen Zentren, ohne den nationalstaatlichen Grenzen Beachtung zu schenken. Sie organisiert sich um ein stabiles Portfolio von vergleichsweise wenigen lebenden oder bereits verstorbenen Künstlern mit einem sehr hohen Preisniveau. Und sie entwickelt zugleich einen schier unersättlichen Appetit auf neue Kunst aus Bereichen jenseits der globalisierten Welt oder vermeintlich marginalisierte Künstler aus dem Fundus der Kunstgeschichte. Diese Dynamik hat Rückwirkungen auf die universitäre Kunstgeschichtsschreibung. Denn auch wenn nur eine Handvoll von Künstler-Stars, Galeristen und Sammlern von dem Boom unmittelbar finanziell profitieren können, ist der seit den 1990er Jahren ungebrochene Triumph der Kunstwelt ein Motor für die gegenwärtige Blüte des akademischen Faches Kunstgeschichte und den Trend hin zur Geschichte der Gegenwartskunst. Das Interesse einer wachsenden Öffentlichkeit an Fragen der zeitgenössischen Kunst bedeutet Arbeitsplätze und Zukunftsperspektiven für junge Kunsthistoriker, von denen ihre Vorgänger in den 1960er und 1970er Jahren kaum zu träumen wagten. Mit einer Mischung aus Neid und Herablassung verfolgen Kollegen aus anderen Disziplinen denn auch die Vitalität der Kunstgeschichte. Hans Ulrich Gumbrecht meinte im Gespräch, dass sie sicherlich das lebendigste Fach im deutschen Sprachraum sei, obwohl sie sich weder über ihren Gegenstand noch über ihre Methoden im Klaren sei. Entsprechend erstaunt war er darüber, dass sie vor allem in die eigene Vergangenheit blickte, und meinte provozierend: »Horst Bredekamp ist doch viel interessanter als Aby Warburg.«4 Tatsächlich vermag die optimistische Rhetorik ihrer Protagonisten eine grundsätzliche Unsicherheit nicht zu verbergen. Und die Vitalität des Faches Kunstgeschichte kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie am aktuellen Boom nur wenig Anteil hat. Sie ist eher davon getrieben, als dass sie selber eine treibende Kraft wäre. Auf die Dynamik der Kunstwelt ist sie nicht vorbereitet. Sie erwartet Selbstheilung entweder aus dem verdrängten Arsenal ihrer eigenen Disziplingeschichte – Stichwort Warburg –, oder indem sie sich an andere Disziplinen anlehnt wie
4 | Hans Ulrich Gumbrecht, Gespräch mit dem Autor, Palo Alto, 8. Februar 2007.
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die Philosophie, die Soziologie, die Naturwissenschaften, die Medizin oder die Ökonomie. Ich möchte, quasi als Antwort auf Gumbrecht, unter dem Begriff »performative Kunstgeschichte« ein paar Überlegungen zu der Frage formulieren, wie wir als Kunsthistoriker unsere Positionen, Motivationen und Interessen ins Spiel bringen und dabei unseren Ort innerhalb der boomenden Kunstwelt besser lokalisieren können. Wie wir als Historiographen »ich« sagen können – nicht als distanzierte Berichterstatter abgeschlossener Ereignisse, sondern als lokalisierbare Teilnehmer eines sich ständig ändernden Geschehens. Mein Motiv ist, dass sich die Kunstgeschichte von ihrer passiven Beobachterposition lösen und ihr Gewicht stärker einbringen möge. Mein Gegenstand ist der amerikanische Künstler Allan Kaprow (1927-2006).
»M EIN « A LL AN K APROW Als Hedy Graber und ich Allan Kaprow 1996 zu einem Workshop in die Kunsthalle Palazzo in Liestal einluden, einem alternativen Ausstellungszentrum bei Basel, das wir damals kuratierten, führte er mit uns eine Reihe von so genannten Activities durch. Sie trugen den Titel Performing Life. Eine davon bestand darin, dass jemand mit einer Kreide einen Strich auf die Straße zog und ein anderer diesen mit einem Radiergummi wieder auslöschte. Die Activity dauerte so lange, bis entweder die Kreide oder der Gummi aufgebraucht waren. Als ich auf dem Bahnhofsplatz vor der Kunsthalle kniete und meinen Strich malte, während mein Partner eifrig rubbelte, um diesen wieder unsichtbar zu machen, schaute uns eine wartende Frau zu. Sie fragte, was wir täten. Ich antwortete, dass ich einen Strich zöge, den mein Partner wieder ausradierte, solange bis entweder die Kreide oder der Gummi verbraucht waren. Sie rief: »Ja, aber das ist ja wie im Leben!« Die Annäherung der Kunst an das Leben zieht sich als roter Faden durch die Kaprows Kunst. Ausgebildet in New York als Maler und Kunsthistoriker, suchte er wie viele seiner Generation in den 1950er Jahren nach einem Weg, der Malerei des Abstrakten Expressionismus zu entkommen. Er entwickelte als Alternativen zum Tafelbild das Environment, also Umgebungen aus Plastikfolien, Leinwandstreifen, zerbrochenen Spiegeln, Gerüchen, Esswaren, in welche die Betrachter eintauchen und die sie buchstäblich konsumieren konn-
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ten. Anfang der 1960er Jahre entwickelte er diese Methode weiter in den so genannten Happenings. Die Bilder wurden quasi lebendig, sie wurden aufgeführt. In einem dritten Schritt überwand er die aus dem Bereich des Theaters stammende Trennung zwischen Akteuren und Zuschauern. Nun gab es in seinen Happenings keine Zuschauer mehr, sondern nur Mitspieler. Außerdem verband er die Happenings untrennbar mit dem Ort des Geschehens. Für Household (1964) baute er mit Architekturstudenten der Cornell University auf einer Mülldeponie aus Abfall Häuser auf und zerstörte diese wieder. Für Fluids (1967) errichtete er in Los Angeles Bauten aus Eisblöcken, die bald schmolzen. Und für Sweet Wall (1970) errichtete er in einer Kriegsbrache unmittelbar neben der Berliner Mauer mit Freunden eine Mauer aus Zementsteinen, die mit Brot und Marmelade verkittet waren, um sie gleich danach wieder einzureißen. Abbildung 1: Allan Kaprow, Household, Happening, Deponie außerhalb Ithaca, New York, 3. Mai 1964, im Rahmen des Festival of Contemporary Art, Cornell University, Ithaca, N.Y. (Aufnahme: Sol Goldberg)
Indem Kaprow auf handhabbare Werke verzichtete, entzog er sich dem Einfluss von Sammlern und Galerien. Auch die Museen verloren ihn ab den 1970er Jahren aus den Augen. Er lebte von den Honoraren für die Happenings sowie von seiner Lehre an Universitäten, zuletzt, bis zu seiner Emeritierung Mitte der 1990er Jahre, an der University of California, San Diego. Es ging ihm dabei nicht um die Kritik des Kunstbetriebs. Er begriff, dass diese Kritik ihren Gegenstand
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unweigerlich reproduzierte und stärkte. Als wir Kaprow 1996 nach Liestal einluden, stand er am Tiefpunkt seiner Bekanntheit. Olav Westphalen, der bei ihm studiert hatte, hatte uns auf ihn aufmerksam gemacht. Die Ausstellung zog etwa zwei Dutzend Besucher an, und den Katalog verkauften wir vielleicht fünf Mal.5 Aber die Activities – neben derjenigen auf dem Bahnhofplatz beispielsweise die, sich die Hand zu geben und zu fragen: »Is it warm yet?«, bis einer sagt: »yes« – hinterließen bei uns Teilnehmern einen bleibenden Eindruck. Für mich veränderten sie die Art der Wahrnehmung von ganz alltäglichen Gesten und das Gefühl für den Lauf der Zeit. Abbildung 2: Allan Kaprow, Household, Happening, Deponie außerhalb Ithaca, New York, 3. Mai 1964, im Rahmen des Festival of Contemporary Art, Cornell University, Ithaca, N.Y. (Aufnahme: Sol Goldberg)
Die Begegnung mit Kaprow war Anlass, mich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen. Dies änderte meinen Blick auf die jüngere Kunstgeschichte und brachte mein damals stockendes Habilitationsprojekt in Schwung.6 Dass von den Happenings nur photographische Dokumente übrig blieben, empfand ich nicht als Problem, sondern im Gegenteil als Vorteil, weil sie ja auf der Ebene der Narration existierten und damit nach historischer Nacherzählung gleichsam riefen. Dass er damals fast vergessen war, kam mir zupass, weil ich freie Bahn hatte, meine eigene Darstellung dieser Kunst zu entwickeln. Ich konnte mich auf das »performative writing« stützen, welches, wie oben erwähnt, Amelia Jones und Rebecca Schneider, aufbauend 5 | Allan Kaprow, Ausst.-Kat. Kunsthalle Palazzo Liestal, hg. v. Hedy Graber/ Philip Ursprung, Basel 1996. 6 | Philip Ursprung: Grenzen der Kunst, Allan Kaprow und das Happening, Robert Smithson und die Land Art, München 2003.
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auf Judith Butler, fruchtbar auf Performances und Body Art anwandten. Motiviert von der Autoritätskritik des Postfeminismus boten sie eine Weiterentwicklung der postmodernistischen Ideologiekritik, etwa durch Hal Foster und Benjamin H.D. Buchloh. Allerdings erwähnten sie Kaprow nie. Und sie sprachen auch nie von einer »performative art history«. Eines ihrer Ziele war die Revision des Kanons, also die Rehabilitation und Integration von Figuren, welche die Historiographie oder der Betrieb ausschließt – darunter viele Performancekünstler sowie solche, die wegen feministischer, homosexueller oder politischer Themen marginalisiert waren. Aus der Perspektive dieser so engagierten und differenzierten Historiographie war Kaprow als einstmals sehr einflussreiche, akademisch abgesicherte Figur zu fest etabliert. Mit dem, was ich unter performativer Kunstgeschichte verstehe, geht es mir nicht darum, den bestehenden Kanon zu revidieren, indem ich marginalisierte Figuren wieder einfüge. Es geht mir vielmehr darum, den Kanon zu ändern. Dieses Ziel ist natürlich unerreichbar. Aber es gibt mir eine Richtung vor. Ich will Kaprow deshalb nicht als Ausnahme zu einer etablierten Erzählung der Kunst der 1960er Jahre darstellen, sondern als zentrale Figur innerhalb meiner Erzählung dieser Kunst, einer Erzählung, die sich von meinen gegenwärtigen Fragestellungen beziehungsweise von sich im Laufe des letzten Jahrzehntes immer wieder ändernden Fragestellungen aus entwickelt. Eine Herausforderung ist es, Gegenstände zu wählen, die sich für diese methodischen Beschreibungen eignen, ohne dass sie dadurch neutralisiert werden, dass sie als Beleg für eine Theorie dienen. Anders gesagt: Gegenstände zu wählen, anhand derer ich nicht in Versuchung komme, Fragen aufzuwerfen, deren Antworten bereits bekannt sind. Ein besonders geeigneter Fall in Kaprows Œuvre ist das erste Happening überhaupt. 18 Happenings in 6 Parts wurde Anfang Oktober 1959 an sechs Abenden in einer New Yorker Galerie aufgeführt. Die Galerie war in drei Räume unterteilt. Die Zuschauer erhielten Kärtchen, die anordneten, wann sie in welchem Raum zu sitzen hätten. Pro Abend traten sechs Akteure auf, vornehmlich Künstler. Ein Glockenschlag eröffnete die Veranstaltung. Elektronisch generierte Geräusche ertönten aus Lautsprechern. Dias wurden projiziert. Die Akteure führten in der Folge kurze Aktionen auf, rhythmische Bewegungen, Musikaufführungen, gesprochene Texte über Kunst etc. Sie führten kleine Geschehen auf, eben »happenings«, wie Klötze anord-
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nen, eine Leinwand bemalen, Orangen auspressen, Texte aufsagen. In den Pausen mussten die Besucher sich gemäß den Anordnungen im Programm umsetzen. Es kam zu Verwirrungen und Diskussionen, Paare wurde auseinander gerissen usw. Das letzte Happening bestand daraus, dass sich alle Akteure in einem Raum trafen, Papierrollen von der Decke zogen und begannen, die darauf geschriebenen Wörter laut zu lesen. Die Stimmen vermischten sich zu einem babylonischen Gewirr. Die Lichter gingen aus und ein Dia von Kaprows Mund und Kinn wurde projiziert. Dann waren die 18 Happenings zu Ende. Abbildung 3: Allan Kaprow, 18 Happenings in 6 Parts, Happening, Reuben Gallery, New York, 4., 6.-10. Oktober 1959 (Probenaufnahme)
18 Happenings in 6 Parts gilt als Meilenstein der Kunstgeschichte, aber kaum ein Kunsthistoriker geht über die Erwähnung des Titels hinaus. Interessant ist der Bericht des amerikanischen Science-FictionAutors Samuel Delany, der als 18-Jähriger dabei war. In seiner 1988 erschienenen Autobiografie The Motion of Light in Water schreibt er:
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»The only truly clear memory I have of the performance proper was that I wasn’t very sure when, exactly, it began.«7 Er beschreibt, dass er enttäuscht gewesen war, nicht alles gesehen zu haben. Zugleich hat er den Eindruck, Zeuge eines epochalen Werks gewesen zu sein. Denn gerade die Tatsache, dass niemand dasselbe sieht und begreift, »was geschieht«, dass es keinen linearen Handlungsablauf, keine Geschlossenheit gibt, zeigte ihm, dass dieses Kunstwerk wie ein historisches Ereignis organisiert war. Sein Nichtverstehen interpretiert er damit, dass er in den modernistischen Vorstellungen einer linear ablaufenden Zeit verhaftet gewesen und zum ersten Mal mit postmodernistischer Simultaneität konfrontiert worden sei. Unter den Kunsthistorikern beschrieb bisher nur Gavin Butt das Happening ausführlich.8 Er sieht darin ein Emblem für den fragmentarischen Charakter der Erinnerung, einen Anlass für ein Plädoyer als Historiograph, Bedeutung generell offenzuhalten. Weder Butt noch sonst ein Historiograph erwähnen allerdings, dass Kaprow das Happening 1988 in New York mit einem ganz neuen Score neu aufführte. Wenn wir es auf die historische Einmaligkeit reduzieren, noch dazu auf seinen Status als »erstes« Happening, fixieren wir seine Bedeutung ungewollt ebenfalls. Das führt mich zu einer wichtigen Frage der performativen Kunstgeschichte. Wie halten wir die Bedeutung im Fluss und verhindern, dass sie erstarrt? Wie erhalten wir den Gegenstand am Leben? Wie können wir uns methodisch mitreißen lassen und zugleich den Gegenstand mitreißen? Wie Delany glaube ich, dass 18 Happenings von der Stellung des Subjekts in der Geschichte handelt. Aber mich interessiert nicht der Unterschied zwischen moderner und postmoderner Geschichtsauffassung – diese Diskussion fand in den 1980er Jahren statt –, sondern die Frage, wie man zu unterschiedlichen Zeiten an der Vergangenheit partizipieren kann. Wie Butt möchte ich die Bedeutung nicht endgültig festschreiben. Aber ich möchte sie auch nicht einfach offenhalten, denn damit distanziere ich mich ja meinerseits wieder von meinem Gegenstand.
7 | Samuel Delany: The Motion of Light in Water, Sex and Science Fiction Writing in the Eeast Village, 1957-1965, New York 1988, S. 112. 8 | Gavin Butt: Happenings in history, or, the epistemology of the memoir, in: Oxford Art Journal 24 (2001), S. 113-126.
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P ERFORMANCE UND A RBEIT Meine Geschichte von 18 Happenings in 6 Parts setzt bei der Thematik der Unterteilung an, und zwar namentlich der Arbeitsteilung. Der Autor selber ist ihr unterworfen. Er tauchte im Programm auf, als Autor und Mitwirkender. Innerhalb der Veranstaltung trat er in verschiedenen Rollen auf, etwa als Sprecher, als Musiker und, wie erwähnt, vermittels des Dias seiner unteren Gesichtshälfte. Der Autor hatte das letzte Wort – doch er blieb augenscheinlich stumm und blind, da die Augen nicht zu sehen waren. Auch die Akteure waren nur für Ausschnitte verantwortlich. Und selbst die Zuschauer waren dieser Partikularität unterworfen. Sie konnten jeweils nur ahnen, was im Nachbarraum vor sich ging. Es gab keinen Ort, von dem aus die Gesamtheit des Ablaufs überblickt werden konnte. Alle waren Teil eines Prozesses, der nicht zwischen Produktion und Rezeption unterscheidet. Warum betrachte ich das Happening gerade unter dem Aspekt der Arbeitsteilung? Einerseits scheint mir ›Arbeit‹ derjenige Begriff zu sein, der vom Begriff ›Performance‹ gern verdrängt wird. Die Moderne scheint mit Ausnahme des Realismus keine Möglichkeit zu bieten, Arbeit zu repräsentieren. Dies ist ein Grund für mein Interesse. Der andere Grund ist pragmatischer, nämlich dass ich seit den 1990er Jahren regelmäßig mit Architekten und Ausstellungsmachern zusammenarbeite, für die ein kreativer Prozess ohne Arbeitsteilung gar nicht denkbar ist. Ich erfahre diese Tätigkeiten als Alternative zu der vergleichsweise einsameren Arbeitsweise der Kunsthistoriker, die ja in der Regel alleine am Schreibtisch sitzen. Ich entnehme also meine Vorstellungen aus dem Œuvre von Kaprow ebenso, wie ich sie darauf projiziere. Dies fällt mir in seinem Fall leicht. Er ist, wie gesagt, ausgebildeter Kunsthistoriker. Seine Master’s Thesis über Mondrian schrieb er bei keinem Geringerem als Meyer Schapiro an der Columbia University. Er agierte stets im Kontext der Hochschulen und veröffentlichte im Verlauf seiner Karriere zahlreiche Aufsätze und Bücher. Wir sprechen sozusagen dieselbe Sprache. Zeit und der Ort seiner wichtigsten Produktion fallen außerdem teilweise mit meiner eigenen Kindheit zusammen. Ich wuchs in den 1960er Jahren in der universitären Welt der amerikanischen Ostküste auf – mein Vater war Professor für Biologie an der Johns Hopkins University. Tätig im deutschen Sprachraum und zugleich orientiert an der angloamerikanischen Kunstgeschichte, entspricht mir seine Verwurze-
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lung im amerikanischen Pragmatismus und die ironische Skepsis gegenüber dem europäischen Idealismus. Ich habe Sympathie für seine Haltung, die Realität zu spiegeln – also nicht, sie im Sinne einer symbolischen Kunst zu transzendieren. Und schließlich gibt es auch eine politische und ökonomische Affinität. Denn auch wenn die Struktur seiner Happenings oft rituelle Züge aufweist, sind sie es nicht im religiösen Sinn, sondern im Sinn gemeinschaftlicher Arbeit, wie das Aufrichten einer Scheune durch die Quäker, oder des Spiels von Kindern, die spontan einer selbst gegebenen Spielregel folgen. Diese Spielregeln sind sehr wichtig. Sie machen seine Arbeit alles andere als willkürlich oder anarchisch, sondern durch und durch reguliert im Sinne von demokratischen Konventionen. Nicht zuletzt ist Kaprows Kunst eine, die an meine ökonomische Klasse adressiert ist. In seinen Worten: »Middle-class money, both public and private, should be spent on middle-class art, not on fantasies of good taste and noble sentiment.«9 Unter performativer Kunstgeschichte verstehe ich, noch einmal, die Verfahren, »meinen« Kaprow darzustellen beziehungsweise meiner Geschichte der Kunst Gehör zu verschaffen. Nicht, um einem Subjektivismus zu huldigen, sondern um eine unter vielen möglichen Darstellungen besser nachvollziehbar und angreifbarer zu machen und damit die Diskussion in Bewegung zu halten. Dazu gehört es, die Grenzen zu den unterschiedlichen Institutionen zu artikulieren. Als Vertreter der Institution Universität genieße ich heute das Privileg der akademischen Freiheit. Das heißt, ich muss mich nicht den Wertvorstellungen der Sammler, Museen und Galerien unterwerfen. Im Fall von Kaprow bestand diese Gefahr lange nicht. Aber nun ist der Kunsthandel auf ihn aufmerksam geworden. Wie beeinflusst dies meine Position? Als Kaprow mich Anfang 2005 fragte, ob ich mit meinen Studierenden das Happening Fluids anlässlich der Art Basel 2005 neu inszenieren möchte, lehnte ich ab.10 Nicht weil ich gegen den Kunstmarkt bin oder ihm die Popularität missgönnte. Aber weil ich nicht leichtfertig meine Erzählung dieser Kunst dem Interesse des Kunstmarktes ausliefern wollte – und weil ich, pathetisch ge9 | Allan Kaprow: »The artist as a man of the world«, in: Art News 63:6 (1964), wieder in: Allan Kaprow: Essays on the Blurring of Art and Life, hg. v. Jeff Kelley, Berkeley 1993, S. 46-58, S. 57. 10 | Vgl. Allan Kaprow: Fluids, hg. v. Hauser & Wirth, Zürich/London/Köln 2005.
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sagt, nicht öffentliche Subventionen (das Engagement von mir und meinen Studenten) für die Zwecke einer kommerziellen Galerie einsetzen wollte. Aber dies war erst der Anfang seines Comebacks. Im Herbst 2006 startete im Haus der Kunst in München eine große Retrospektive von Kaprow, die danach in Eindhoven, Bern, Genua und Los Angeles zu sehen war. In München wurden etliche von Kaprows Happenings neu aufgeführt, als Höhepunkt eine originalgetreue Rekonstruktion von 18 Happenings in 6 Parts.11 Ich war bei der Wiederaufführung von 18 Happenings in 6 Parts dabei, und meine größte Überraschung war es, die formale Schönheit zu sehen, das Ineinandergreifen von Bewegung, elektronischen Geräuschen, Bildern und Gerüchen. Problematisch war, dass in der Retrospektive die Gier der Institutionen, sich den einstigen Renegaten einzuverleiben, ihn in den historischen Kanon aufzunehmen, stets spürbar blieb. Schlagartig, das heißt mit Kaprows Tod, fühlte sich jeder für das Erbe zuständig. Die Bühne, die für die Pressekonferenz im Münchner Haus der Kunst aufgebaut worden war, vermochte die Vermittler kaum zu fassen, die beanspruchten, die Bedeutung von Kaprows Kunst zu vertreten. Symptomatisch war, dass der Hauptraum der Ausstellung gänzlich von Archivmaterialien eingenommen wurde, so als wollte die Institution den Fall bei der kreativen Wurzel fassen. Offener war die Interpretation von einigen Environments, welche die Studierenden der Kunstakademie München anboten. Sie inszenierten einige Werke neu, darunter Words (1962/2006) durch die Klasse Magdalena Jetelova. Ironischerweise fußt dieses 1962 zum ersten Mal aufgeführt Happening auf einem Projekt mit dem Titel Chapel, das Kaprow 1961 für eine Ausstellung im Museum of Modern Art in New York konzipiert hatte. Er hatte damals vorgeschlagen, dass Künstler Papierbahnen bemalen sollten, die von den Besuchern in der Ausstellung übermalt worden wären. Die Direktion lehnte das Projekt damals ab. In München erwies es sich als offenster Teil der Ausstellung, der spontan von Besuchern und deren Kindern in Beschlag genommen wurde. Die Ablehnung durch das Museum of Modern Art hatte den Beginn einer fast fünfzigjährigen Verdrängung durch die Institution Museum eingeläutet. Nun, das wurde mir in München klar, wollte sie ihn wiederhaben. Zugleich wurde mir klar, dass auch ich nicht anders vorging, 11 | André Lepecki: Redoing 18 Happenings in 6 Parts, in: Allan Kaprow: 18 Happenings in 6 Parts, Göttingen 2007, S. 45-50.
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wenn ich die Darstellung dieses Künstlers im Rahmen des universitären Diskurses begrenzen wollte. Zum Projekt der performativen Kunstgeschichte gehört, sich dieser Mechanismen gewahr zu sein und die Kunst weder dem Museum alleine zu überlassen, noch exklusiv für sich zu beanspruchen. Kaprow hatte mir einmal gesagt, dass er »aus der Geschichte heraustreten wollte«.12 Ich verstand dies als Versuch, sich durch die Logik der Kunstgeschichte nicht vereinnahmen zu lassen. Ob das funktioniert, wissen wir nicht. Aber die Ausstellungen in München und Berlin zeigen, dass andere interessiert sind, seine Experimente aufzugreifen. In Kaprows Worten: »Experimentelle Kunst ist niemals tragisch. Sie ist ein Präludium.« In der Einladung zu dieser Vortragsreihe berichten die Veranstalter von Karl Heinz Stockhausens Diktum, dass 9/11 das größte Kunstwerk aller Zeiten sei. Sie fragen, ob es sich um eine schier unerträgliche Provokation handle, oder ob etwas Wahres dran sei. Ich möchte darauf antworten, dass die bloße Idee, dass es sich bei einem Terroranschlag um ein Kunstwerk handeln könnte, symptomatisch für ein anachronistisches Verständnis des Verhältnisses zwischen Kunst und Gesellschaft ist. Stockhausen hat sich 2001 von seinen Äußerungen sogleich distanziert und gebeten, diese nicht zu veröffentlichen. Aber die Art, wie sein Ausrutscher von Politikern und Journalisten, Kritikern und auch anderen Künstlern seither ausgeweidet wurde, ist charakteristisch für die vor allem im deutschsprachigen Raum verbreitete Idee, dass Kultur etwas Absolutes sei, eine Sphäre, die neben oder über der alltäglichen Realität, dem Leben, existiere, jenseits ökonomischer und politischer Zwänge, quasi ein anderer Aggregatzustand, eine Intensivierung von Leben. Dies erlaubt es den Gesellschaften, Kultur oder Kunst als etwas Abgetrenntes zu behandeln, sie als Projektionsfläche für Wünsche oder Ängste zu benutzen, sie für besondere Vorkommnisse sozusagen in Reserve zu halten. Bereits das Ummünzen eines historisch komplexen Ablaufs in ein Emblem – »9/11« – ist charakteristisch für diesen Mechanismus. Und eine Gruppe von Autoren, darunter der Kunsthistoriker T.J. Clark, haben in dem Buch Afflicted Powers treffend gezeigt, wo das Potential einer interdisziplinären Betrachtung dieses Konflikts liegt – und wo
12 | Allan Kaprow, mündliche Mitteilung an Philip Ursprung, Encinitas, Oktober 1997.
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die Grenzen sind.13 Die Grenze zwischen Kunst und Leben ist durchlässig, aber nur von einer Seite. Die Gesellschaft lagert Konflikte gerne auf das Feld der Kultur aus – seien es die Arbeitslosigkeit, Kriege oder Generationskonflikte –, wo sie, im Rahmen des Feuilletons, entschärft werden. Aber wehe, jemand verlässt das Feld der Kultur, geht den umgekehrten Weg und mischt sich ins Leben ein, so wie Salman Rushdie, Peter Handke, Elfriede Jelinek oder Schlingensief. So wurde auch Schlingensiefs Containeraktion Bitte liebt Österreich, die er 2000 in Wien realisierte, im Einladungstext zur der Vorlesungsreihe nicht als Kunstwerk bezeichnet, sondern als »Affront« – sein Beitrag wird damit implizit als Provokation interpretiert, aus der Perspektive der Politik gesehen und nicht als das dargestellt, als was die Kunstgeschichte es eigentlich darstellen und analysieren sollte, nämlich als zentrales Werk innerhalb des Oeuvres eines erstklassigen Künstlers. Ein Affront war damals das Verhalten von gewählten Politikern wie Jörg Haider. Eine Provokation war das Verhalten von Medienunternehmen wie Endemol, das mit Big Brother eine Bühne geschaffen hatte, auf der die Aggressivität der Fernsehzuschauer angesichts der Bedrohung der Sozialstaaten und der Angst vor Arbeitslosigkeit ausgelebt werden konnte. Werke wie diejenigen von Schlingensief sind als Gegenstände der Historiographie der Kunst fruchtbar, weil sie uns herausfordern, die Funktion von Begriffen zu testen, neue zu entwickeln, alte zu entsorgen.
S CHLINGENSIEFS K APROW Gleichzeitig mit München richtete Christoph Schlingensief an der Berliner Volksbühne die, wie er es nannte, begehbare Installation Kaprow City ein. Während Kaprow vor fünfzig Jahren das Theater in die Kunst holte, um diese aus ihrer damaligen Stagnation zu lösen, führte Schlingensief die Kunst ins Theater, um sie aus ihrer, wie er es sieht, Selbstgefälligkeit und Heretik zu befreien. Während Kaprow Künstler spielen ließ, die nichts aufführten, sondern alltägliche Verrichtungen wie Orangen-Auspressen durchführten, setzte Schlingensief Akteure mit Behinderungen ein, die ebensolche Verrichtungen machten und die, wie er sagt, nichts »vor13 | Retort (Iain Boal/T. J. Clark/Joseph Matthews/Michael Watts): Afflicted Powers, Capital and Spectacle in a new age of war, London/New York 2005.
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spielen«, sondern »einfach da sind«.14 Er stellte diese Akteure in keiner Weise bloß. Vielmehr artikulierte er mit ihnen die Tatsache, dass die Kunstwelt eine hochgradig exklusive ist. Unwillkürlich musste ich an die Stellen in Delanys Autobiographie denken, wo er seine Eindrücke bei 18 Happenings schildert. Zusammen mit seinem Vetter stand der Teenager verlegen herum und sagte zu einer Frau neben ihm: »That was kind of fun.« Sie entgegnete: »Oh, did you think so? How did you come here?« Er antwortete, dass er ein kleines Plakat gesehen habe. »You did?«, fragte sie etwas ungläubig. Er hatte bereits bemerkt, dass er und sein Cousin die einzigen Afroamerikaner im Publikum waren und die Einzigen, die wohl niemand von Sehen kannte. »›You liked it?‹ And she smiled. ›How unusual.‹«15 In dem auf der Drehbühne aufgebauten Environment aus Versatzstücken aus Kaprows Bilderwelt mischten sich Akteure, herumirrende Zuschauer, Techniker sowie Schlingensief selber, der unentwegt kommentierend die Zuschauer durch das Labyrinth führte. Die Handlung, oder eben Nicht-Handlung, drehte sich um die Fiktion eines angeblich geplanten Films über Lady Diana. Die Akteure waren als Figuren aus diesem Film verkleidet, unter anderem als Elisabeth II. Und wie bei Kaprow die Zuschauer mehrmals die Plätze tauschen mussten und deshalb nur Fragmente wahrnahmen, teilte auch Schlingensief das Publikum in Gruppen. Nach dem Motto »Keiner sieht alles« war eine Gruppe auf der Drehbühne, die zweite darum herum, die dritte im Zuschauerraum und die vierte in einem Separée platziert, wo sie ein Diner serviert erhielt, aber nichts von der Aufführung sah. Kaprow City war eine fragile Komposition, so wie ja auch Schlingensiefs Position als Künstler stets lokalisierbar und angreifbar ist. Seine Kunst hält, wie diejenige von Kaprow, der Welt den Spiegel vor. Die englische Boulevardpresse tobte, die Deutschen würden die Queen als Faschistin darstellen. Und Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste Berlin, outete sich als genuiner deutscher Philister, als er nach einer Aufführung fragte: »Was will uns der Künstler sagen?«16 Er entsprach damit Kaprows Beobachtung, dass manche 14 | Christoph Schlingensief, Gespräch mit dem Autor, Berlin, 19. Oktober 2006. 15 | Samuel Delany: The Motion of Light, S. 113. 16 | »Kaprow-City eröffnet«, DPA-Meldung vom 14. September 2006, zitiert nach: www.schlingensief.com/weblog/index.php?p=138 (Stand: April 2008).
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Menschen immer noch »Zäune um ihre Taten und Gedanken« legen.17 Für mich wiederum war Kaprow City von Schlingensief, der Anfang der 1980er Jahre in München Kunstgeschichte studierte, ein ausgezeichnetes Kunstwerk und ein Instrument, 18 Happenings in 6 Parts deutlicher zu sehen, ja es überhaupt als jenen Gegenstand wahrzunehmen, der performative Kunstgeschichte hervorbringen kann. Und zugleich nahm ich durch Kaprow Schlingensief zum ersten Mal als visuellen Künstler wahr. Mehr als in der Rekonstruktion in München verschwamm das unmittelbares Erlebnis von Kaprow City und die historische Fiktion in eines. Ich schwankte zwischen dem Text der Historiographie und der Textur des Kunstwerks. Und ich fühlte die Bestätigung von Kaprows vor bald einem halben Jahrhundert geäußerten Satz: »Experimental art is never tragic, it’s a prelude.«18
Z EITGENOSSENSCHAF T Zeitgenossenschaft ist heute ein kostbares Gut. Wir befinden uns, zumindest in den Industrienationen, in einer Phase, welche einerseits von immer neuen Ereignissen beziehungsweise »Events« geprägt ist – wo also ständig »etwas passiert« –, dass wir aber andererseits unsere Zeit zugleich als ewige Gegenwart empfinden, innerhalb derer keine Veränderung stattfindet – wo also eigentlich »nichts geschieht«. Der Appetit auf »Präsenz« ist enorm. Dies ist zweifellos ein Grund dafür, warum wir die Performances, welche das Spiel zwischen Abund Anwesenheit artikulierten, heute wieder als aktuell empfinden. Und so hängt denn auch die Konjunktur der zeitgenössischen Kunst damit zusammen, dass eine zunehmend breite Öffentlichkeit Antworten von ihr erwartet, Orientierung und Präsenz in einer Umgebung, die sie als zeitlich und räumlich diskontinuierlich wahrnimmt. Die Kunstwissenschaften haben alle Voraussetzungen, sich in diesem Kontext zu exponieren, einzubringen und Gehör zu verschaffen.
17 | »Most humans, it seems, still put up fences around their acts and thoughts.« Allan Kaprow: »The shape of the art environments, How anti-form is ›anti-form‹?«, in: Artforum, 6, 10 (Sommer 1968), wieder in Allan Kaprow: Essays on the Blurring of Art and Life, S. 90-94, S. 93. 18 | Allan Kaprow: »Experimental Art«, zuerst in Art News 65:1 (1966), wieder in Allan Kaprow: Essays in the Blurring of Art and Life, S. 66-80, S. 80.
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A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Allan Kaprow, Household, Happening, Deponie außerhalb Ithaca, New York, 3. Mai 1964, im Rahmen des Festival of Contemporary Art, Cornell University, Ithaca, N.Y. (Aufnahme Sol Goldberg). Quelle: Bildzitat: Philip Ursprung: Grenzen der Kunst, Allan Kaprow und das Happening, Robert Smithson und die Land Art, München 2003, S. 186. Abbildung 2: Allan Kaprow, Household, Happening, Deponie außerhalb Ithaca, New York, 3. Mai 1964, im Rahmen des Festival of Contemporary Art, Cornell University, Ithaca, N.Y. (Aufnahme Sol Goldberg). Quelle: Bildzitat: Jeff Kelley: Childsplay. The Art of Allan Kaprow, Berkeley/Los Angeles/London 2004, S. 101. Abbildung 3: Allan Kaprow, 18 Happenings in 6 Parts, Happening, Reuben Gallery, New York, 4., 6.-10. Oktober 1959 (Probenaufnahme). Quelle: Bildzitat: Jeff Kelley: Childsplay. The art of Allan Kaprow, Berkeley/Los Angeles/London 2004, S. 6.
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Gordon Matta-Clarks Conical Intersect — Kunstwerk zwischen Kulturen, Künsten und medialen Darstellungsformen Gregor Stemmrich
Wie bezeichnet man ein Werk, das aus Eingriffen in die Architektur eines zum Abriss bestimmten Gebäudes besteht? Als Skulptur? Als Architektur? Als Performance? Und welchen Status weist man den Film- und/oder Videoaufnahmen, Zeichnungen, Fotos und Fotocollagen zu, die als Einzige noch eine Vorstellung von dem Zustand des Gebäudes vor dem Abriss vermitteln können? Den Status eines autonomen Kunstwerks – als Film, als Video, als Foto, als Collage, als Zeichnung? Wohl kaum, denn diese Darstellungs- und Vermittlungsformen sind zentriert in der Vorstellung und Vergegenwärtigung eines nicht mehr existenten Werks, das geschaffen wurde, um eine Leere zu hinterlassen. Doch steht der Begriff des Werks nicht für eine Fülle, die einer Leere entgegenzusetzen wäre; vielmehr ist die Rede von einem Werk, das als solches nur aus derjenigen Leere bestand, welche Einschnitte in und Ausschnitte aus der Architektur hinterlassen haben. Wie auch immer man dieses Werk kategorisiert – als Skulptur, als Architektur oder als Performance –, es selbst lässt diese Kategorien nur als in der Schaffung einer Leere zentrierte gelten. Dabei steht der Begriff der Leere nicht für ein anschauliches Zentrum von Bedeutung, vielmehr sieht sich die Suche nach einem derartigen Zentrum durch die Leerstellenstruktur auf die Peripherien dessen verwiesen, was diese Suche auf sich zieht. Dazu gehören die angrenzenden Architekturen und der urbane Raum sowie andererseits die etablierte »Artworld« mit ihren Institutionen – Museum, Galerie, Kunstmarkt, Auktions-
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Abbildung 1: Gordon Matta-Clark: Conical Intersect (Fotocollage), 1975. Sammlung David Zwirner, New York
häuser, Kunstzeitschriften, Biennalen etc. –, die durch das Kunstwerk in ein Abseits gestellt sind, da es von ihnen nicht vereinnahmt werden kann. Dennoch konnte das Werk nur durch die Macht und Vermittlung dieser Institutionen geschaffen werden, indem diese dazu beitrugen, die mentalen und juristischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der künstlerische Vorschlag offiziell genehmigt wurde. Das Werk existierte an der Schnittstelle zwischen seinen Peripherien: der Artworld mit ihren Institutionen und Akteuren und dem urbanen Raum mit seinen Institutionen und Akteuren. Die Leere, um derentwillen es geschaffen wurde und die in eins um seinetwillen geschaffen wurde, ist nur von ihrem Rand her zu verstehen, von ihrer räumlichen und ihrer zeitlichen Begrenzung her. Es ist dieser
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Rand, seine Schaffung und seine planerische oder künstlerisch-dokumentarische Vergegenwärtigung, auf den sich die Vorstellungen verschiedener Künste oder medialer Kunstformen beziehen lassen. So liefern diese zwar unterschiedliche Gesichtspunkte und Verständnishorizonte, deren Integral jedoch die Leere bzw. ihr Rand ist. In Bezug auf ihn bzw. sie kommunizieren sie miteinander, treten in Rapport zueinander, ohne darin ihre eigne Valenz aufzugeben. Es ist deshalb nicht von einer Vermischung oder Verfransung verschiedener Künste oder Kunstformen auszugehen; vielmehr verhält sich das Werk eigenartig ignorant gegenüber herkömmlichen Kategorien. Dennoch zieht es diese auf sich, um das Inkommensurable seiner eigenen Anlage sinnfällig werden zu lassen. Der Neologismus InterArt, der hier den thematischen Rahmen vorgibt, in dem Matta-Clarks Kunst verhandelt wird, hat eine eigentümlich technologische Anmutung – ähnlich wie der Begriff Internet. Er kann als ein terminus technicus verstanden werden, der eine Bündelung höchst verschiedener Kunstphänomene gestatten soll, die sich einer Kategorisierung sperren. Es mutet freilich paradox an, dass dieser Terminus das Fehlen eindeutiger Kategorien selbst unter eine scheinbar eindeutige Kategorie fasst. Umso wichtiger ist es, der top-down-Kategorisierung bestimmter Werke und künstlerischer Praxisformen als InterArt mit einer bottom-up-Analyse einzelner Werke zu begegnen. Allein in der Gegenläufi gkeit der Perspektiven lässt sich eruieren, was die Kategorie InterArt zu umfassen versucht. In diesem Sinne sei hier der Fokus auf MattaClarks Werk Conical Intersect gerichtet. Doch gilt es zugleich, den historischen Ort des Begriffs der InterArt näher zu bestimmen. Betrachtet man Werke der Kunsttradition, ein Gemälde zum Beispiel, so ist es sehr gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass darin Einflüsse aus verschiedenen Künsten zu verzeichnen sind, aus der Literatur, der Plastik, dem Theater, der Musik, der Druckgrafi k. Man würde jedoch zögern, ein solches Werk unter die Kategorie InterArt zu fassen, denn es ist und bleibt eindeutig ein Gemälde. Die Vorstellung, dass eine besondere Kunst nur sich selbst verpfl ichtet ist und deshalb sämtliche Einflüsse von Seiten anderer Künste zu vermeiden hat, ist neueren Datums. Sie wurde von dem amerikanischen Kunstkritiker Clement Greenberg zur Doktrin des »Modernism« erhoben. Künstler, die sich gegen diese Doktrin zur Wehr setzten, ließen kein Bedürfnis erkennen, zu einer älteren Kunsttradition zurückzukehren, sondern hielten un-
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befangen nach Möglichkeiten des Kunst-Machens Ausschau, die keinem vorab vereinbarten ästhetischen Raum oder Medium angehören mussten. Sie waren sich dabei gleichwohl der Tatsache bewusst, dass kulturell eingeschliffene Vorstellungen und Kategorisierungen existieren, zu denen sie ihre Kunst in Beziehung zu setzen hatten, da sie in jedem Fall zu ihr in Beziehung gesetzt werden würden. Die Kunst nahm so den Charakter von Grenzfällen an, die existierende Kategorisierungen gleichzeitig nahelegten und abwiesen. Durch eben diese Ambivalenz verschaff te sie sich die Möglichkeit, den kulturellen Vorstellungshaushalt insgesamt zu betreffen und gleichzeitig die Grenze zur Nicht-Kunst offen zu halten. Dies ging einher mit der Entwicklung veränderter – oder direkt entgegengesetzter – Kriterien der Kunstbeurteilung. Was sich zuvor nur in negativen Begriffen beschreiben ließ, sollte auch in positiven Kategorien gefasst werden können bzw. in Kategorien, die einer positiven Aufl adung fähig waren. Zu diesem Zweck wurden Begriffe wie »Postmoderne« und »InterArt« geprägt. Die damit angesprochenen Phänomene aber werden nicht maßgeblich von diesen Kategorien her verständlich, sondern nur, wenn man in medias res geht. In diesem Sinne lässt sich die Rede von einer »Ausweitung der Kunstzone« verstehen. Eine Zone erschließt sich nicht primär über Begriffe, sondern über ein Austesten und SichEinlassen. So erscheint der Begriff der Kunstzone darauf angelegt, thematisch einen Bereich von Aktivitäten zu erfassen, deren soziale Bedeutung nicht maßgeblich über den Kunstbegriff vermittelt zu denken ist. Sowenig die Rede von einer »Ausweitung der Kunstzone« deshalb mit Beuys’ »erweitertem Kunstbegriff« gleichzusetzen ist, sowenig ist der Begriff der InterArt mit Adornos Rede von einer Verfransung der Künste gleichzusetzen. Das Präfi x »Inter-« ist vielmehr im Sinn von M. Bakhtins Begriff des Intertextes zu verstehen, d.h. im Sinne der Konzeption eines Textes, der eben nicht nur einer ist, da er den Umstand, dass er auf andere Texte bezogen ist, von anderen Texten durchdrungen ist, von ihnen gestört werden kann, thematisch in seine Anlage integriert. Solche wechselseitige Durchdringung und Störung ergibt sich für künstlerische Aktivitäten nicht allein oder primär in Bezug auf besondere Künste, sondern in Bezug auf die soziale, kulturelle und politische Realität insgesamt. Daraus lassen sich ansatzweise bereits eine Reihe möglicher Konsequenzen ableiten. So lässt sich feststellen, dass InterArt-Phänomene in der Regel nicht
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an anscheinend autonome Werkobjekte gebunden sind, die an beliebigen Orten präsentiert werden können, vielmehr häufi g einen situationsbezogenen prozessualen Charakter haben. Die künstlerische Aktivität nimmt einer bestehenden Situation ihre scheinbare Selbstverständlichkeit und erweckt damit eine ästhetische Aufmerksamkeit, die zum Verhandlungsraum für soziale, kulturelle und politische Fragen werden kann. So ist sie auch in der Lage, scheinbar unterschiedliche soziale oder kulturelle Sphären thematisch miteinander zu verbinden. Dennoch ist sie nicht darauf angewiesen, konkrete politische Antworten vorzugeben. Sie muss jedoch, um überhaupt als Kunst in Betracht zu kommen, Beziehungen zum Kunstdiskurs aufweisen, d.h. Antworten auf Fragen beinhalten, die innerhalb dieses Diskurses verhandelt wurden oder werden können bzw. werden sollten. Es wäre deshalb verfehlt, InterArt-Phänomene thematisch außerhalb des Kunstdiskurses zu verorten. Im Gegenteil kommt alles darauf an zu erkennen, wie, an welchen Stellen oder in welchen Konstellationen sie aus dem Kunstdiskurs erwachsen, um diesem möglicherweise eine andere Richtung zu geben. Der Fokus, der hier im Folgenden auf Gordon Matta-Clarks Werk Conical Intersect gerichtet werden soll, lässt sich deshalb von genealogischen Fragestellungen leiten. In welchen Traditionen steht dieses Werk und wie sind in ihm amerikanische und französische Kunsttraditionen des 20. Jahrhunderts aufeinander bezogen? Diese Frage weist eine lose Verbindung zu der anderen auf, wie in Matta-Clarks künstlerischer Praxis verschiedene Künste und Medien aufeinander bezogen sind; denn die Entgrenzung der Zugehörigkeit eines Werks zu einer einzigen Kunst geht bei ihm einher mit der Entgrenzung der Zugehörigkeit zu einer einzigen Kultur. Gordon Matta-Clark ist multikulturell aufgewachsen. Sein Vater war 1933 aus Chile nach Paris gekommen, hatte als Architekt im Büro von Le Corbusier gearbeitet, sich dann aber der Malerei zugewandt und den Surrealisten angeschlossen; 1938 emigrierte er in die USA, kehrte aber nach dem 2. Weltkrieg wieder nach Paris zurück. Gordon Matta-Clark ist in New York und Paris aufgewachsen; Anfang der 60er Jahre studierte er an der Cornell University Architektur, ging aber 1963-1964 nach Paris, um an der Sorbonne französische Literatur zu studieren. Diese wenigen Angaben lassen bereits vermuten, dass Matta-Clark eine besondere persönliche Beziehung zu der Stadt hatte, in der er 1975 sein Werk Conical Intersect schuf. Wichtiger ist
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jedoch der Umstand, dass sein Interesse für künstlerische Aktivitäten durch seine Aversion gegenüber dem Architekturunterricht genährt wurde, den er an der Cornell University erfahren hatte. Das machte ihn hellsichtig für tatsächliche und mögliche Beziehungen zwischen dem Kunstdiskurs und dem Urbanitätsdiskurs. Sein Einstieg in den Kunstdiskurs fiel in die Zeit, als die amerikanische Minimal Art (und mit ihr eine Reihe weiterer Kunstbewegungen: Conceptual Art, Land Art, Process Art u.a.) zum Durchbruch kam. Bei der Minimal Art handelte es sich um eine Kunst, die weder eindeutig Skulptur noch eindeutig Malerei war und dabei Beziehungen zur Architektur aufwies. Donald Judd prägte dafür den Ausdruck »specific objects«. In Bezug auf Matta-Clark lässt sich deshalb bei der Frage ansetzen: Wie ist der Übergang von einer Kunst, die weder eindeutig Malerei noch Skulptur ist, zu einer Kunst verstehen, die weder eindeutig Skulptur noch Architektur ist? Donald Judd ging von der Malerei aus und gelangte in einer Reihe von Schritten zu einer Objektkunst, die in der Regel aus einer Serie von industriell gefertigten Modulen besteht. Abbildung 2: Donald Judd: Ausstellungsinstallation in The National Gallery of Canada, Ottawa 1975: Skulpturen 1972-1974
Dabei handelt sich um Container- oder Rahmenformen, die formal auf den architektonischen Umraum Bezug nehmen. Die Entwicklung von der Minimal Art zur Kunst Matta-Clarks kann ansatzweise verständlich werden, wenn man von einem Begriff ausgeht, den Matta-Clark geprägt hat und den er als eine kulturelle Zustandsbe-
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schreibung verstanden wissen wollte, den Begriff der »containerization of usable space«.1 Diese Begriffsbildung wäre ohne das vorausgegangene Container-contained-Paradigma der Minimal Art kaum denkbar gewesen. Die Minimal Art hatte durch dieses Paradigma bereits sehr nachhaltig ein Bewusstsein dafür geschaffen, wie Kunst Bezüge auf ihren architektonischen Vollzugsrahmen formal in ihre eigene Anlage aufnehmen kann. Matta-Clarks Rede von einer »containerization of usable space« beinhaltet dieses Bewusstsein, doch ist seine Stoßrichtung zugleich eine andere; denn in seiner Begriffsbildung drückt sich zugleich eine Unzufriedenheit mit der formalen Abgeschlossenheit der Minimal Art aus, eine Unzufriedenheit damit, dass diese letztendlich im »white cube« der Kunstgalerie befangen geblieben war und deshalb ihre Affinität zu architektonischen Belangen nicht zu einem Vorstoß in Belange des Urbanismus und der zeitgenössischen Kultur insgesamt zu nutzen vermochte. Der Ausdruck »containerization of usable space« impliziert den Verdacht oder die Vorstellung, dass es sich dabei um eine Befangenheit handelt, die sich nicht allein in der Kunstsphäre beobachten lässt, sondern die sich in der gebauten Umgebung und im Verhältnis der Menschen zu ihrer Umgebung insgesamt feststellen lässt. So spricht er in dem Interview, aus dem das Zitat stammt, von »attitudes that determine containerization of usable space«; und er merkt an: »Those attitudes are very deep-set …«.2 Es werden architektonisch containerartige Parzellen gebildet, die eine passive Haltung begünstigen, eine Konsumhaltung: So sitzen wir in unseren vier Wänden als einem Container und schauen Fernsehen, wobei das Fernsehgerät selbst die Welt medial in sich als Container zu enthalten scheint – ein Container, der einen direkten sensuellen Kontakt zur umgebenden Wirklichkeit ausschließt, was gerade seine manipulative mediale Macht ausmacht. Es gab auch andere Künstler, die den Drang verspürten, die Formensprache der Minimal Art kritisch zur umgebenden sozio-kulturellen Umgebung in Beziehung zu setzen. Dan Graham zum Beispiel, der 1966 in seinem Zeitschriftenartikel »Homes for America« die Reihenhaussiedlungen in den amerikanischen Vorstädten bewusst so fotografiert und beschrieben hat, dass ihre Entsprechung zur Formensprache 1 | Liza Bear: »Gordon Matta-Clark…Splitting (Tuesday, May 21st, 1974)«, in: Gordon Matta-Clark, Ausst.-Kat. IVAM Centre Julio Gonzáles, Valencia 1993, S. 374-377, S. 375. 2 | Ebd.
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der Minimal Art unübersehbar wurde. »Containerization of usable space« bedeutet, dass der Umraum der architektonischen Container kein Eigengewicht gewinnt. Seine Erfahrung kann nicht zu einem Korrektiv werden. Sie steht so auch nicht für die Möglichkeit eines öffentlichen Raumes, der dem privaten Raum entgegenzusetzen wäre. Noch viel weniger steht sie für die Möglichkeit, diesen Gegensatz in einer Erfahrung von Gemeinschaft aufzuheben. Was Matta-Clark in seiner Kunst der »containerization of usable space« entgegengesetzt hat, ist eine Strategie, diese »containerization« durch seine Kunst von innen her aufzubrechen und dadurch andere Erfahrungen möglich zu machen. In seinen bekanntesten Werken hat Matta-Clark Einschnitte in bestehende Architekturen, die bereits für den Abriss bestimmt waren, vorgenommen und Ausschnitte daraus entfernt. Diese Arbeitsweise hat weit reichende Implikationen. Um diese in den Blick zu bekommen, sei von einer einfachen Frage ausgegangen, der Frage: Seit wann gibt es das überhaupt, dass ein Künstler nicht ein Objekt schafft, das anschließend in andere Situationen eingefügt wird, sondern dass seine Kunst im Gegenteil allein darin besteht, ein Material aus einer bestehenden Situation zu entfernen? Das früheste Beispiel dafür im amerikanischen Kontext ist Robert Rauschenbergs Erased de Kooning Drawing von 1953. Die Vorgeschichte sei hier nur kurz umrissen: Rauschenberg hatte de Kooning aufgesucht und ihm erklärt, dass er eine Zeichnung machen wolle, die nur auf dem Verfahren des Ausradierens beruhe; wenn er eine eigene Zeichnung ausradiere, sei das Ausradieren bloß der halbe Prozess, allein wenn er die Zeichnung eines anderen Künstlers ausradiere, könne er seine Idee realisieren.3 De Kooning war davon zwar nicht begeistert, aber bereit, Rauschenberg eine seiner eigenen Zeichnungen zum Ausradieren zu überlassen. Rauschenberg setzte die ausradierte De-Kooning-Zeichnung in einen Goldrahmen und brachte eine Plakette daran an, auf der zu lesen ist: Erased de Kooning Drawing Robert Rauschenberg 1953. Das hat auf den ersten, und vielleicht auch auf den zweiten Blick wenig mit Matta-Clark zu tun, denn Rauschenbergs Werk ist ja am Ende wiederum ein Objekt, das zu Präsentationszwecken in neue Situationen eingeführt wird. Wichtig ist nur eine Bestimmung: Durch den Akt des Ausradierens, des Wegnehmens von etwas, das offenkundig 3 | Siehe dazu: Barbara Rose: An Interview with Robert Rauschenberg, New York 1987, S. 51.
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da gewesen war, verschiebt sich das Interesse zwangsläufig von der Zeichnung als solcher auf den historischen Kontext des Werkes, auf seine Deklaration als Kunst, und auf dessen Rahmung, die integraler Bestandteil des Werkes ist.4 Das lässt sich auch an einigen weiteren Beispielen verdeutlichen, die Matta-Clarks Kunst historisch näher stehen. Lawrence Weiner entschied 1968, dass seine Kunst zwar nach Bedarf von ihm oder jemand anderem ausgeführt werden kann, aber nicht ausgeführt zu werden braucht, um zu existieren. Existenzfähig ist sie auch allein als sprachliches Statement über eine vollendete Tatsache. Eine Reihe von Werken aus dem gleichen Jahr benennen Akte des Wegnehmens, des »removal«; so zum Beispiel sein Werk: A 36“ x 36“ removal to the lathing or support wall of plaster or wallboard of a wall. (Die Entfernung von einem Quadratmeter Wandverputz oder Wandverkleidung von einer Wand). Dieses Werk ist tatsächlich häufig ausgeführt worden, u.a. deshalb, weil es auf dem Wege einer Freilegung der Wand als Träger auf sehr sinnfällige Weise Bedingungen von Malerei, von Skulptur und von Architektur anspricht, ohne einer dieser Künste tatsächlich anzugehören. Einige Jahre später, 1973, hat Michael Asher diese Idee auf andere Weise weitergeführt, indem er in der Toselli Galerie in Mailand den gesamten Wandverputz und die zahllosen Schichten weißer Farbe entfernen ließ. Indem er mit der Galeriearchitektur als solcher arbeitete und kein Objekt in die Galerie einführte, hob er das Container-contained-Paradigma der Minimal Art auf. Doch hielt sich Asher immer noch an den Innenraum einer Kunstinstitution, die er auf den Zustand eines Rohbaus zurückführte; weder griff er jedoch die Architektur wirklich an noch tangierte er Fragen des Urbanismus. Fragt man dagegen, wie sich Künstler durch Akte und Verfahren des Wegnehmens von Material auf den Außenraum bezogen, dann sieht man im amerikanischen Kontext auf Werke der Earth Art oder, wie sie etwas später auch genannt wurde, der Land Art verwiesen. 1968 führte Michael Heizer in der Wüste von Nevada eine Reihe von Arbeiten aus, die auf der Entfernung von Material in bestimmten zeichenhaften Konfigurationen aus dem flachen Wüstenboden basierten. Diese Konfigurationen bezogen sich zwar ästhetisch auf die 4 | Siehe dazu: Benjamin H. D. Buchloh: »Appropriation and Montage in Contemporary Art«, in: Artforum (Sept. 1982), S. 43-46.
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Weite des umgebenden Raumes, doch von Kritikern wurde moniert, dass sie sich letztendlich – zumal in der fotografischen Abbildung – wie Striche auf einem Zeichenblatt verhielten. Ein Jahr später, 1969, fand an der Cornell University, an der Matta-Clark Architektur studiert hatte, eine Earth-Art-Ausstellung statt, bei der Dennis Oppenheim aus der Eisdecke eines zugefrorenen Flusses, der zu einem Wasserfall führte, eine lange Bahn entfernte, wobei ihm Matta-Clark assistierte. Abbildung 3: Lawrence Weiner: A 36” x 36” removal to the lathing or support wall of plaster or wallboard from a wall, ausgeführt in der Ausstellung When Attitudes become Form, Kunsthalle Bern 1969
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Abbildung 4: Gordon Matta-Clark assistiert Dennis Oppenheim bei der Herstellung von Beebe Lake Ice Cut, Itaca, New York 1969
Thematisch im Vordergrund standen hier weniger zeichenhafte ästhetische Konfigurationen, als vielmehr die Erfahrbarkeit der materiellen Elemente. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dies für Matta-Clark eine überaus wichtige Erfahrung war. Die verschiedenen Werkansätze, die auf einem Wegnehmen von Material basieren, lassen im Kontrast die enorme Tragweite von Matta-Clarks Ansatz desto deutlicher werden. Denn Matta-Clark ließ sich gerade nicht in Wüstengegenden oder in Naturgebiete außerhalb der Stadt abdrängen, und er ließ es ebenso wenig zu, dass sich seine Eingriffe in Architekturen auf den Wandverputz von Innenräumen
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beschränkten. In dem historischen Kontext, in dem er arbeitete, waren Außenraum und Innenraum strikt getrennte Kategorien. Sein künstlerischer Ansatz dagegen schloss eine solche kategoriale Trennung von vornherein aus. Erst dadurch wurde es möglich, Fragen des Urbanismus, Fragen, die die gebaute soziale und historische Realität betreffen, effektiv anzusprechen. Das Konzept des ostentativen Entfernens von Material wurde jedoch zuerst in Frankreich entwickelt und war hier von vornherein thematisch auf die soziale, politische und urbane Situation bezogen. Wie so oft in der Moderne gibt es auch hier eine Art Ursprungsmythos, der das plötzliche Auftauchen einer neuen Kunstidee in eine Narration einbetten soll. Erwähnt sei hier nur das Notwendigste: Raymond Hains und Jacques de la Villeglé befanden sich 1949 auf einem Streifzug durch die Straßen von Paris, als ihre Aufmerksamkeit auf eine Plakatwand fiel, auf der von sämtlichen Plakaten nur noch Fetzen zu sehen waren, die so zugleich den Blick auf zahllose Schichten von Plakaten freigaben. Abbildung 5: Raymond Hains: C’est ça le renouveau ?, 1959. Sammlung des Künstlers
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Sie fassten den Entschluss, diese Plakatwand abzunehmen und auf eine Leinwand aufzuziehen, um sie zu einem Kunstwerk zu erklären.5 Sie waren euphorisch, weil sie etwas entdeckt hatten, das sie der École de Paris, d.h. dem vorherrschenden Trend einer akademisch gewordenen Abstraktion, einer geschmäcklerischen informellen Malerei, entgegensetzen konnten. Zugleich begannen sie, über die weit reichenden Implikationen ihrer Kunstidee nachzudenken. Wichtig war ihnen der kategorische Unterschied zur Collage, denn während in der Collage Zeitungsfetzen und andere reale Gegenstände als zusätzliche Mittel der Malerei verwendet wurden, tritt in der Décollage der Plakatabriss ostentativ an die Stelle der Malerei. Nur so war es möglich, im Bild den direkten Kontakt zu einer urbanen, sozialen und politischen Realität zu wahren. Der Fokus liegt auf der Geste des anonymen Passanten, der sich durch Werbung und Propaganda psychisch belästigt fühlt und prompt reagiert. Das Zerfetzen der Plakate entzieht diese dem kommerziellen Raum; dieser Entzug wird forciert und thematisiert, indem die abgerissenen Plakatflächen als Kunstwerke ausgestellt werden. Es handelt sich dann zwar um Objekte, die in eine Situation – die der Kunstausstellung – eingeführt werden, doch als raison d’être dieser Einführung bleibt der Entzug, das ostentative Wegnehmen von etwas, unverkennbar. Dabei zeigt sich, dass der Décollagismus aufgrund der Auswahl und der Ausschnitte der abgerissenen Plakatflächen in der Lage war, komplexe Kommentarfunktionen zu übernehmen. Teilweise bezogen sich diese impliziten ironischen Kommentare auf die Kunstszene selbst, indem etwa Ausschnitte gewählt wurden, die ironisch mit der geschmäcklerischen Gestensprache der École de Paris konkurrierten; teilweise bezogen sie sich jedoch auch auf die politische Situation. So hat Raymond Hains 1961 einer ganzen Ausstellung den Titel La France dechiré gegeben, wobei die ausgestellten Werke unverkennbare Anspielungen auf den Algerienkrieg, den Indochinakrieg und das politische Gemauschel im eigenen Land enthielten. Die abgerissenen Plakatflächen boten sich dabei als Metaphern für einen kulturellen Zustand an. Da aber jeder abgerissene Plakatfetzen einen 5 | Tatsächlich ist das entstandene Werk im Unterschied zu späteren Arbeiten noch aus mehreren Plakatflächen zusammengesetzt; siehe dazu die Chronologie von Aude Bodet und Sylviain Lecombre in: 1960. Les Nouveaux Realistes, Ausst.-Kat. Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, Paris 1986, S. 46.
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Fetzen eines anderen darunter liegenden Plakates freilegt, gab es zugleich ein komplexes Spiel von thematischen Überlagerungen und Verknüpfungen, ungeahnte Durchblicke in buchstäblicher und übertragener Bedeutung. Wenn wir die Entwicklung des Décollagismus, wie diese Kunstpraxis genannt wurde, mit der Kunstentwicklung in Amerika vergleichen, dann können wir eigentümliche Parallelen entdecken, und zwar weniger in Bezug auf die Praxis des »removal«, als vielmehr in Bezug auf die Konzepte der Bildfindung in der Malerei. Ein Gemälde wie Ach Alma Manetro von 1949 erinnert in seiner Gestensprache und seinem All-over-Rhythmus an Gemälde Pollocks und anderer abstrakter Expressionisten, nur verdankt sich diese Gestensprache bei den Franzosen nicht einer individuellen, oft quietistisch anmutenden künstlerischen Expression, sondern dem Vandalismus anonymer Passanten. In den späten 50er und frühen 60er Jahren dagegen tauchen verstärkt Medienklischees als Motive auf, was eine Affinität zur Pop Art unverkennbar macht. Was bedeutet dies nun für ein Verständnis von Matta-Clarks Kunst? Raymond Hains hat zwar einmal einen gesamten mit Plakaten beklebten Bauzaun in eine Ausstellung integriert, doch erst Matta-Clark machte sich daran, hinter Bauzäune zu steigen, um sich mit der Architektur direkt zu befassen. Was er mit der Architektur anstellte, weist jedoch durchaus Affinitäten zur Praxis der Décollagisten auf. Er schnitt Stücke aus der Architektur aus und stellte sie in Kunstgalerien aus, wo diese Stücke als Fragmente auf die baulichen Situationen verwiesen, denen sie entstammten. Doch im Unterschied zu den Décollagisten sind Matta-Clarks Eingriffe in die bauliche Substanz insbesondere auch vor Ort signifikant, während die Décollagisten durch ihre ausschnitthaften Entfernungen von Plakatwänden in der Stadtlandschaft keine markanten Veränderungen von Wahrnehmungsdispositionen hervorrufen konnten. Wir sind hier ganz darauf angewiesen, uns mit diesen Plakatwand-Ausschnitten in Kunstgalerien konfrontiert zu sehen. Doch sowenig die Décollagisten sich mit der Feststellung zufriedengaben, dass Plakate endlos überklebt werden können, so wenig gab sich Matta-Clark damit zufrieden, dass ein Gebäude einfach abgerissen wird, um ein neues an seine Stelle zu setzen: Wichtig war vielmehr, den Wechsel von alt zu neu so in einen Fokus zu rücken und gleichzeitig zu gestalten, dass das Procedere dieses Wechsels seine scheinbare Selbstverständlichkeit einbüßt. So wurde es möglich, ästhetisch einer Haltung Aus-
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druck zu verleihen, die nur aus einer Reflexion auf eine gesamtkulturelle Situation hervorgehen und insofern auch eine Art Innehalten bewirken kann. Die Affinitäten zwischen dem künstlerischen Ansatz der Pariser Décollagisten und dem architekturbezogenen von Gordon MattaClark können und sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eminente Unterschiede bestehen. Matta-Clark nimmt nicht aggressive Gesten anonymer Passanten ästhetisch in Besitz, sondern setzt sehr präzise Schnitte, die bestehende Architekturen verwandeln. Es ist deshalb der besondere Schnittcharakter seiner Eingriffe in bestehende Architekturen auf seine historischen und kontextuellen Voraussetzungen hin zu befragen. Dabei lässt sich wiederum vom amerikanischen Kunstkontext ausgehen, denn hier hatte im Kontext der Minimal Art Carl Andre den Schnittcharakter von Skulptur sehr nachdrücklich zum Thema gemacht. Abbildung 6: Carl Andre: Palisade, 1976, Stedelijk Van Abbemuseum Eindhoven, Niederlande
Den Ausgangspunkt dafür kann eine Anekdote verdeutlichen. In jungen Jahren orientierte sich Andre an der endlosen Säule von Constantin Brancusi, da dieser zwei Prinzipien in die Skulptur eingeführt hatte, die für ihn wegweisend wurden: zum einen die Sockellosigkeit und zum anderen die Serialität. Andres frühe Werke waren vor allem Brancusi-Paraphrasen. Bei einem solchen Werk hatte er in einen industriell zugeschnittenen Holzbalken, der vertikal auf dem
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Boden stand, von einer Seite eine Serie von keilförmigen Hohlformen geschnitten. Eines Tages machte jedoch Frank Stella zu ihm die Bemerkung, die unbearbeitete Rückseite des Holzbalkens sei »auch Skulptur«;6 und daraus zog Andre den Schluss, dass er das Material selbst, so wie es in seinem industriellen Zuschnitt vorlag, d.h. ohne es selbst handwerklich-künstlerisch zu bearbeiten, als »Schnitt im Raum« bzw. »Schnitt in den Raum« behandeln konnte, indem er einfach Teile gleichen Zuschnitts aneinanderlegte. Zwei Zitate Andres können dieses Konzept weiter verdeutlichen. Zum einen seine Erklärung: »I believe in using the materials of the society in the form the society does not use them«,7 und zum anderen sein Aperçu: »A thing is a hole in a thing it is not« – »Ein Ding ist ein Loch in einem Ding, das es nicht ist«. Das erste Zitat macht deutlich, dass für Andre zwar jedes Material auf einen Gebrauch und eine entsprechende Zugriffsweise verweist, in diesem Sinne spricht er von den »Materialien der Gesellschaft«, dass das so vorliegende oder bereitgestellte Material aber dennoch auf andere – künstlerische – Weise gebraucht werden kann. Das zweite Zitat dagegen zielt auf einen Umschlag in Bezug auf unsere Vorstellung von einem Ding als etwas Positivem, so dass die Bestimmung des Schnitts, den wir uns gewöhnlich als etwas Negatives vorstellen, tatsächlich durch etwas Positives erfüllt werden kann: Das Ding selbst, die Skulptur, ist der Schnitt im Raum. Andre spielt dabei mit der phonetischen Verwandtschaft der Begriffe »whole« und »hole«, dem Ding als ein Ganzes und dem Ding als ein Loch. Insgesamt laufen seine Bestimmungen auf eine Re-Definition von Skulptur hinaus. Tatsächlich erwies sich diese Re-Definition von Skulptur als sehr einflussreich, und zwar nicht nur in Bezug auf die weitere Entwicklung der Skulptur als einer besonderen Kunst (wobei man u.a. auf Richard Serra verweisen kann), sondern auch in Bezug auf deren Beziehung zu anderen Künsten und Medien. Zu verweisen ist dabei insbesondere auf Anthony McCalls Film Line Inscribing a Cone von 1971, da dieser Matta-Clarks Arbeit Conical Intersect direkt inspiriert hat.
6 | Siehe dazu: Diane Waldman: »Carl Andre«, in: Carl Andre, Ausst.-Kat. The Solomon Guggenheim Museum, New York 1970, S. 8. 7 | Carl Andre, zitiert in: Carl Andre, Ausst.-Kat. Haags Gemeentemuseum, hg. v. Enno Develing, Den Haag 1969, S. 5.
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Abbildung 7: Anthony McCall: Solid Light, 1973. Installationszeichnung für Line Describing a Cone. Tinte auf Papier
McCalls Film ist dazu bestimmt, in einem leicht mit Dunst gefüllten Raum projiziert zu werden, so dass der Lichtstrahl des Projektors durch den Raum den Eindruck einer physischen Masse erweckt. Zuerst wird nur ein einzelner Punkt projiziert, der sich jedoch im Verlauf des Films langsam zu einer Kreisbahn erweitert. Der Lichtstrahl des Projektors erweckt auf diese Weise zeitlich wie räumlich den Eindruck eines Schnitts im Raum bzw. eines Schnitts durch den Raum. Am Ende des Films erscheint dessen Projektion als ein solider Konus, der – von außen betrachtet – auf irreale Weise alle Eigenschaften einer Skulptur aufweist. Thomas Crow hat Matta-Clarks Conical Intersect als eine thematische Inversion von McCalls Verfahren beschrieben: »Whereas McCall made the immaterial cone of vision into something one could seemingly observe and touch from the outside, Matta-Clark enlarged and transformed it into an invisible, impalpable projectile capable of eating away at the most solid historical matter.«8 Der Unterschied zu McCall besteht so aber auch darin, dass Matta-Clarks Konus aufgrund seiner ovalen Überschneidungen mit der rektangulären architektonischen Raumstruktur höchst unerwar8 | Thomas Crow: »Gordon Matta-Clark«, in: Corinne Desirens (Hg.): Gordon Matta-Clark, London 2003, S. 95. Pamela M. Lee spricht in Bezug sowohl auf McCalls Film als auch Matta-Clarks Conical Intersect von einer »literalized absence«; siehe: dies.: Object to be Destroyed. The Work of Gordon MattaClark, Cambridge/London 2000, S. 176.
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tete visuelle und räumliche Strukturen generiert. Crow spricht in Bezug darauf von einer virtuell kubistischen Komplexität (»virtually Cubist complexity«). Dieser Gedanke sei hier aufgegriffen, zumal auch Künstlerfreunde Matta-Clarks mit Nachdruck auf die kubistischen Wurzeln seiner Kunst verwiesen haben. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass die Idee, ein Objekt durch abstrakte Schnitte zu zerlegen, es gleichsam transparent werden zu lassen, positive und negative Bestimmungen ineinander umschlagen zu lassen und verschiedene Blickwinkel miteinander zu kombinieren, aus dem Kubismus stammt. Was im Kubismus bildliche Bestimmungen waren, die auf traditionelle Bildgegenstände – Landschaft, Stillleben, Portrait – bezogen wurden, sind bei Matta-Clark auf die Architektur bezogene reale Bestimmungen geworden. Die Grundidee aber dabei bleibt dennoch gewahrt. Es ist dann allerdings interessant zu sehen, dass die herkömmliche Unterscheidung von analytischem und synthetischem Kubismus in Bezug auf Matta-Clarks Eingriffe in bestehende Architekturen nicht greift, sondern geradezu invertiert wird. Das liegt daran, dass ein Gebäude als Objekt selbst bereits eine ›kubische‹ Struktur und Qualität hat, also nicht wie ein Bildgegenstand durch Annäherung an kubenartige Formen ›analysiert‹ werden kann. Es ist deshalb erst der freie, aber auf die Vorstellung eines Objektes bezogene Umgang mit einem abstrakten Formenvokabular im synthetischen Kubismus, der im Falle Matta-Clarks einen ›analytischen‹ Zugriff auf die Architektur und ihre Umgebung eröffnet. Der synthetische Kubismus hatte zur Entwicklung der Collage geführt, d.h. zur Einführung von Fragmenten einer außerbildlichen Wirklichkeit in den Bildzusammenhang; bei Matta-Clark dagegen lässt sich nur eine Entfernung von Fragmenten aus dem Zusammenhang des Gebäudes feststellen, was, wie bereits erwähnt, eine Affinität zur Décollage besitzt. Während Matta-Clark in anderen Werken jedoch eine Vielzahl von Einschnitten vorgenommen hat, was den Eindruck eines analytischen Zugriffs auf ein Objekt begünstigt – eines Zugriffs, der gleichzeitig eine neue synthetische Komplexität von Eindrücken generiert –, wirkt die konische Hohlform in Conical Intersect als eine einzige ästhetische Geste von elementarer Durchschlagskraft, die psychologische Projektionen auf sich zieht. Das könnte Anlass sein, nach den Beziehungen von Matta-Clarks Kunst zum Surrealismus zu fragen (zumal sein Vater, Roberto Matta, ein berühmter surrealistischer Maler war); doch obwohl uns aus dem Surrealismus alle möglichen
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traumhaft-suggestiven Motive bekannt sind, fällt es schwer, hier irgendein Beispiel namhaft zu machen, das sich zum Vergleich anbieten würde. Zieht man jedoch in Betracht, dass der Surrealismus einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der amerikanischen Avantgarde ausgeübt hat, dann gewinnt man durchaus historische Anhaltspunkte für die unheimliche, latent surrealistische Anmutung von Matta-Clarks Conical Intersect.9 Zu denken ist hier insbesondere an die Objekte und reliefartigen Strukturen, die Lee Bontecou seit 1959 geschaffen hat. Abbildung 8: Lee Bontecou: Untitled, 1961, The Museum of Modern Art
Dabei handelt es sich um kastenartige Konstruktionen, die an der Wand angebracht sind oder auf dem Boden stehen und vorne, eingefasst von einer Struktur aus einzelnen miteinander vernähten Leinwandstücken, eine oder mehrere mehr oder minder große runde Öff9 | Die Fähigkeit von Matta-Clarks »building cuts«, psychologische Projektionen auf sich zu ziehen, hat vor allem auch John Baldessari hervorgehoben; er erklärte: »His work was incredibly dreamlike […] He made the transition between Minimalist concept and a kind of expressionist execution«; vgl. Corinne Desirens (Hg.): Gordon Matta-Clark, S. 191.
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nungen haben, durch die man in ein schwarzes Loch bzw. mehrere schwarze Löcher blickt. In einem Artikel schrieb Donald Judd 1965 dazu: »Lee Bontecou was one of the first to use a three-dimensional form that was neither painting nor sculpture. Her work is explicit and powerful.«10 Etwas verkürzt kann man sagen, dass Bontecou für ihn eine Wegbereiterin der Minimal Art war. Doch lässt er dabei außer Acht, dass Bontecous Werk darauf angelegt ist, unheimlich zu wirken und psychologische Projektionen auf sich zu ziehen, was eine surrealistische Genealogie unverkennbar macht, die in ihren Zeichnungen auch vergleichsweise konventionelle Formen angenommen hat. Ein wichtiger Unterschied zu Matta-Clarks kreisrunder schlundartiger Öffnung des Mauerwerks in Conical Intersect freilich ist – abgesehen davon, dass hier an die Stelle eines Gebildes, das weder Malerei noch Skulptur ist, ein Gebilde getreten ist, das weder Skulptur noch Architektur ist –, dass Matta-Clarks Zyklopenauge nicht einförmig schwarz ist, sondern eine komplexe interne Struktur sich überschneidender und aufeinander stoßender ovaler Kanten aufweist. Wollte man dies in Analogie zu Bontecous Arbeiten setzen, so könnte man sagen, dass eine Struktur, wie sie bei Bontecou das Umfeld ihrer schwarzen Löcher bildet, bei Matta-Clark zur internen Struktur des Loches selbst geworden ist. Doch würde man diese interne Struktur damit allzu sehr von den Bedingungen des Reliefs her lesen, was ihrer architektonischen Plastizität und Räumlichkeit nicht gerecht würde. Wir müssen vielmehr ins Auge fassen, dass Matta-Clark mit einer Architektur arbeitet, die die Vorstellung eines euklidischen Raumes nahelegt, während sein Umgang mit Architektur diese Vorstellung effektiv unterminiert. Die Minimal Art begnügte sich noch damit, den euklidischen Raum der Architektur zu spiegeln und in eine materielle Struktur zu übersetzen. Wir müssen also fragen, wo mit der Vorstellung eines euklidischen Raumes gebrochen wurde, doch nicht, um ein direktes Vorbild für Matta-Clarks Kunstpraxis zu finden, sondern um eine Verschiebung im Denken zu erkennen, die sich auf eine besondere Weise auch in Matta-Clarks Kunst manifestiert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Weise, in der Dan Graham 1969 in seinem Artikel »Subject Matter« auf eine Reihe 10 | Donald Judd: »Lee Bontecou«, in: Arts Magazine 39:7 (April 1965); wiederabgedruckt in: Lee Bontecou. A retrospective, Ausst.- Kat. Museum of Contemporary Art, Chicago; UCLA Hammer Museum, Los Angeles 2003, S. 194-199, S. 196.
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von Skulpturen einging, die Bruce Nauman von 1965 bis 1966 gemacht hatte.11 Abbildung 9: Bruce Nauman. Untitled, 1965-1966. Latex-Gummi mit Stoffverstärkung. Collection Philip Johnson
Denn Graham erkannte angesichts dieser Gebilde schlagartig, dass eine Terminologie, die auf der Vorstellung des euklidischen Raumes basiert, angesichts dieser Gebilde verfehlt wäre, und verwendet stattdessen ein topologisches Vokabular in populärwissenschaftlicher Form. Bei Naumans Skulpturen handelt es sich um in Gummilatex getauchte Stofffetzen, die auf dem Boden zu bogen- und knäuelartigen Gebilden zusammengelegt wurden, wobei sie alle möglichen Dellen und Falten aufweisen. Sie scheinen keine definitive Form zu besitzen, sondern offen zu sein für prozessuale Veränderungen. Dies ist der Punkt, wo die Topologie ins Spiel kommt. Unter Mathematikern kursiert der Witz: Topologen seien unfähig, den Unterschied zwischen einem Donut-Ring und einer Kaffeetasse zu erkennen. Für einen Topologen handelt es sich tatsächlich um exakt die gleiche Konfiguration, weil es keinen Unterschied macht, ob eine Form konkav oder konvex ist, ob sie dünn oder dick ist, wie lang oder kurz sie ist, ob 11 | Publiziert in: Dan Graham: Articles, Van Abbemuseum, Eindhoven 1978, S. 63-71.
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sie rund oder kantig ist, wenn nur die eine Bedingung erfüllt ist, dass sie – um im Beispiel zu bleiben – auf irgendeine Weise ringartig ist. Nun sind mathematische Definitionen von Bedingungen zwar nicht unmittelbar einer physischen Realität gleichzusetzen, doch kann diese dennoch so geartet sein, dass sie ein Gefüge von Bedingungen beinhaltet und sichtbar macht, welches die Vorgabe einer euklidischen Geometrie außer Kraft setzt. Dies geschieht bei Matta-Clark auf andere Weise als bei Nauman, da Matta-Clark nicht mit einem elastischen Material arbeitet, sondern mit Einschnitten und Wanddurchbrüchen. Abbildung 10: Gordon Matta-Clark: Conical Intersect (Außenaufnahme von der Entstehung des Werks, 1975)
Doch sind diese darauf angelegt, sozusagen elastische Wahrnehmungsbedingungen zu erzeugen: Das Auge stellt sich flexibler auf Verhältnisse von Nähe und Ferne ein als der Körper; die Durchbrüche schaffen deshalb visuelle räumliche Konfigurationen, die eine Art Taumel der Wahrnehmung auslösen können; oft erhält man den Eindruck, dass sich dort, wo eine Wand durchbrochen ist, ein Spiegel befindet, in dem unvermutet ein anderer Teil des Raumes auftaucht, und gleichzeitig wird evident, dass dieser Spiegeleindruck dem Bedürfnis entspringt, die Vorstellung einer Wand gerade auch dort aufrechtzuerhalten, wo keine Wand mehr ist. Ebenso ist es möglich, dass der Lichteinfall Öffnungen suggeriert oder vorspiegelt, wo tatsächlich Wände sind. So entstehen komplexe, sich mit der Bewegung des Betrachters oder der Kamera oder des Lichtes ständig verlagernde
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Echobildungen innerhalb der Wahrnehmung der aufeinander bezogenen räumlichen Konfigurationen. Durch diese Echobildungen ist, um eine Interview-Erklärung Matta-Clarks aufzugreifen, das »microcosmic self […] related to the whole«; es handele sich um eine »innerpersonal gesture« der Zentrierung und Re-Zentrierung.12 Matta-Clark hat dies als den hermetischen Aspekt seines Œuvres bezeichnet. Man kann und sollte diesen hermetischen Aspekt jedoch nicht von der urbanen Situation des Gebäudes und Matta-Clarks Eingriff trennen, vielmehr erklärte er im gleichen Zusammenhang, seine Absicht sei es, »to extend the building«.13 Das Ganze ist kein Gehäuse; die Öffnungen schaffen vielmehr eine direkte Verbindung zum Außenraum und lenken den Blick auf die weitere urbane Umgebung. Abbildung 11: Gordon Matta-Clark: Conical Intersect (Innenaufnahme von der Entstehung des Werks, 1975)
Es sind deshalb zugleich Echobildungen in Bezug auf diese Umgebung zu beachten, eine besondere Anschlussfähigkeit an Erfahrungen, die diese urbane Umgebung per se beinhaltet. Insbesondere Dan Graham hat den Fokus darauf gelegt. Er verwies auf die geradli12 | Donald Wall: »Gordon Matta-Clark’s Building Dissections«, in: Arts Magazine (May 1976), S. 74-79; wiederabgedruckt in: Corinne Desirens (Hg.): Gordon Matta-Clark, S. 181-186, S. 182. 13 | Judith Russi Kirshner: »Interview with Gordon Matta-Clark«, in: Gordon Matta-Clark, Ausst.-Kat. IVAM Centre Julio Gonzáles, S. 388-394, S. 391.
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nigen, meist leicht ansteigenden bzw. abfallenden Straßenschluchten von Paris, auf die Metrostationen, wo auf der Bodenebene plötzlich schlundartige Öffnungen in die Tiefe führen, und nicht zuletzt auf das Wahrzeichen von Paris, den Eiffelturm mit seinen Kreisbögen, seiner leicht hyperbolisch durchgebogenen Stützkonstruktion und deren Zwischenstationen. Das alles findet ein Echo in Matta-Clarks Conical Intersect. Zwar ist dieses Werk nicht selbst eine technische Konstruktion wie der Eiffelturm, doch es befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer noch im Bau befindlichen technischen Konstruktion, dem Centre Pompidou; und es gab am Ende des teleskopartigen konischen Durchbruchs den Blick auf dieses frei. Das Centre Pompidou ist ein Gebäude, in dem von vornherein – und nicht erst nachträglich wie bei Matta-Clark – das Innere nach außen gekehrt ist: Aufzugs- und Lüftungsschächte, Wasser- und Heizungsrohre, Rolltreppen sind von außen sichtbar und dabei auf ein Ektoskelett bezogen, das den Gesamteindruck bestimmt. Im Kontext der historisch gewachsenen urbanen Struktur in seinem Umfeld, deren partielle Zerstörung seine Errichtung mit sich gebracht hat, wirkt es deshalb wie ein Fremdkörper. Es konnte deshalb auch nicht wundern, dass seine Errichtung heftige Proteste hervorrief. Ein Teil der Proteste hatte seinen Grund darin, dass die Menschen dem alten Paris nachtrauerten, ein anderer Teil aber richtete sich gegen die konkreten politischen Implikationen dieser Baumaßnahme. Das Stadtviertel, Les Halles, in dem das Centre Pompidou errichtet wurde, war eine Hochburg der Linken, die deshalb auch sofort erkannten, dass mit dieser Baumaßnahme das Gleiche bezweckt wurde, was im 19. Jahrhundert die Haussmannisierung bezweckt hatte: Unter dem Vorwand, Licht und Luft in stickige, dringend sanierungsbedürftige Wohnungen und Straßen zu bringen, waren ganze Arbeiterviertel niedergerissen und durch Boulevards ersetzt worden. Es hat Matta-Clark, der aus seiner linken politischen Orientierung nie einen Hehl gemacht hatte, deshalb auch schwer getroffen, als in der L’Humanité, der Tageszeitung der Kommunistischen Partei, ein Artikel erschien, in dem sein Projekt als Manifestation bourgeoiser Selbstgefälligkeit eines ahnungslosen amerikanischen Künstlers bezeichnet wurde. Wie es schien, oder wie es dieser Artikel scheinen machte, stand Matta-Clark mit seinem Projekt auf der anderen Seite, die offiziell erklärt hatte, dass die zum Abriss bestimmten Gebäude allein schon aus gesundheitlichen Gründen hätten abgerissen werden müssen. Doch war es dann die politische Rechte, die das
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Gelände abriegelte und dadurch verhinderte, dass Matta-Clarks Werk auch von innen betrachtet werden konnte.14 Wenn wir historisch zurückschauen und uns zugleich fragen, was uns überhaupt veranlasst, historisch zurückzuschauen, dann stoßen wir zuerst auf Matta-Clarks Conical Intersect, und zwar paradoxerweise deshalb, weil dieses Werk nicht mehr existiert, ja überhaupt nur für einen sehr kurzen historischen Moment existiert hat. An das Centre Pompidou hat man sich gewöhnt, und die Debatten über seine Errichtung sind längst vergessen; das Einzige, was sie dem Vergessen zu entreißen vermag, ist paradoxerweise das nicht mehr existente Loch, das Matta-Clark in die beiden Gebäude aus dem 17. Jahrhundert in der unmittelbaren Nachbarschaft des Centre Pompidou gerissen hat, denn diese Debatten gehören unabdingbar zu dessen historischem Kontext. Was wüssten wir heute noch von dem Artikel, der in L’Humanité erschienen war, wenn er sich nicht auf Matta-Clarks Werk bezogen hätte? Dieser Artikel war insofern verfehlt, als er von vornherein die Frage ausschloss, wo denn und was denn die Eingriffsmöglichkeiten eines Künstlers sind. Das Centre Pompidou war kurz vor der Fertigstellung, und das Schicksal der beiden Häuser war längst besiegelt, als Matta-Clark seinen Eingriff vornahm; da war nichts mehr zu verhandeln oder zu erkämpfen. So hatte dieser Eingriff in Wirklichkeit auch nichts mit der offiziellen Rhetorik zu tun, Luft und Licht in sanierungsbedürftige Stadtviertel zu bringen. Doch in der ideologischen politischen Konfrontation wird jede Art der Stellungnahme auf eine Seite gezwungen, worin üblicherweise beide Seiten hervorragend kooperieren. Wir haben deshalb Anlass zu fragen, worin der eigentliche politische Gehalt von Matta-Clarks Werk zu erkennen ist, und darüber hinaus, ob es in Frankreich eine Tradition ebenso politischer wie ästhetischer Kultur gibt, vor deren Hintergrund dieser politische Gehalt zu verstehen ist. In der Literatur wird Matta-Clarks Kunst gelegentlich zu dem Programm eines »unitären Urbanismus« in Beziehung gesetzt, das die Situationistische Internationale – kurz: S.I. – seit den
14 | Siehe dazu Thomas Crow: »Gordon Matta-Clark«, S. 7-132, S. 100, in: Corinne Desirens (Hg.): Gordon Matta-Clark. Sehr erhellend ist auch Pamela M. Lees Darstellung der historischen, urbanen und publizistischen Zusammenhänge in ihrem Buch Object to be Destroyed; siehe den Abschnitt »Le trou des Halles and ›the building with its tripes outside‹«, S. 185-197.
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späten 50er Jahren entwickelt hatte.15 Von Freunden Matta-Clarks wissen wir, dass dieser das Programm der Situationistischen Internationale kannte und intensiv diskutierte.16 Dies ist auch insofern wahrscheinlich, als der Höhepunkt der Entwicklung der S.I. zweifellos die 68er Revolte war, und andererseits, weil Matta-Clarks Vater, der surrealistische Maler Roberto Matta, der ein Kommunist war, eine sehr aktive Rolle in dieser Revolte eingenommen hat, was mit zu seinem lang anhaltenden Renommee beigetragen hat. Doch wissen wir nicht, welche genauen Kenntnisse Gordon Matta-Clark von der S.I. hatte und wie er deren Programm und Praxis diskutierte. Das sollte uns jedoch nicht davon abhalten, die Dimension des Problems zu erkennen, auf das die S.I. hingewiesen hat. Kunst als ein spezialisiertes Betätigungsfeld war für die S.I. historisch obsolet geworden, weshalb sie forderte, Kunst in eine Konstruktion von Situationen zu überführen, in ein Feld des spielerischen Experimentierens und des bewussten Gestaltens intensiver Erfahrungssituationen. Dieses Feld aber konnte für sie nur die gesamte Stadtlandschaft sein; es sollte den gesamten Alltag bestimmen, anstatt etwa als eine Art Freizeitgestaltungsreservat ausgegrenzt zu werden. Der Hauptfeind der S.I. war deshalb der Urbanismus, eine Städteplanung, wie sie von offizieller Seite im Sinne einer Optimierung von Verkehr, Produktion, Konsum und Administration rigide praktiziert wurde. In einem Artikel von 1961 erklärte sie: Der ganze Raum ist bereits vom Feind besetzt, der bis zu den Grundregeln dieses Raumes alles für seinen Gebrauch gezähmt hat […] Der authentische Urbanismus taucht auf, wenn gewisse Zonen sich aus dieser Besetzung herauslösen. Hier fängt das an, was wir Konstruktion nennen. Diese kann mithilfe des in der modernen Physik gefundenen Begriffs des »positiven
15 | Zu den Beziehungen von Gordon Matta-Clarks Kunst zum Situationismus siehe: Elisabeth Sussman: »The Mind Is Vast and Ever Present«, in: Gordon Matta-Clark: You Are The Measure, Ausst.-Kat. Whitney Museum of American Art, hg. v. Elisabeth Sussman, New York/New Haven/London 2007, S. 12-33. 16 | Gerry Hovagnimyan, Matta-Clarks Assistent bei der Realisierung von Conical Intersect, erklärte: »We used to talk about the Situationists all the time«; zitiert in: James Attalee/Lisa Le Feuvre: Gordon Matta-Clark: The Space Between, Glasgow 2003, S. 27.
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Lochs« verstanden werden. Die Freiheit zu materialisieren, heißt zuerst, dieser domestizierten Welt einige Parzellen ihrer Oberfläche zu entziehen.17
Dieses Zitat kann eine Affinität zwischen den Anliegen der S.I. und Matta-Clarks Kunst andeuten; aber das heißt natürlich nicht, dass die S.I. eine Praxis entwickelt hätte, die bereits derjenigen Matta-Clarks entspräche. Was sie jedoch entwickelt hat und was zugleich MattaClarks Praxis korrespondiert, ist das Grundkonzept des »détournement«, was im Deutschen meist mit »Zweckentfremdung« – seltener auch mit »Umwidmung« – übersetzt wird, aber auch »eine andere Wendung geben« bedeutet. Dem lag die Strategie zugrunde, die Praxis- und Publizitätsformen des Gegners gegen diesen selbst zu wenden. Bezieht man diesen Gedanken auf Matta-Clarks Umgang mit Gebäuden, die für den Abriss bestimmt waren, dann zeigt sich zugleich eine Besonderheit seiner Kunst. Denn was wird hier zweckentfremdet: das Gebäude oder sein Abriss? Was man sagen kann, ist vielmehr, dass er beidem »eine andere Wendung« gibt. Matta-Clark konstruierte Situationen – um in der situationistischen Terminologie zu bleiben –, die der offiziellen städteplanerischen Ratio der Errichtung und Vernichtung von Gebäuden fundamental widersprachen. Darin liegt seine Affinität zu den Anliegen der S.I. begründet; seine »removals« waren »something like the acts of the Paris Situationists, in 1968«, schreibt Dan Graham, »who had seen their acts as public intrusions or ›cuts‹ in the seamless urban fabric«.18 Da Matta-Clarks »Cuts« darauf angelegt waren, »[to] unrepress certain concealed realities«, kommt durch sie etwas ins Spiel, was die Paradigmen von »presence« und »place« in der Minimal Art und in daran anschließenden Kunstrichtungen in Amerika bislang ausgeschlossen hatten: ein kollektives historisches Gedächtnis. Graham hat dies zum zentralen Anliegen seiner eigenen Auseinandersetzung mit Matta-Clarks Kunst gemacht, wobei er diese nicht nur auf Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen, sondern zugleich auf einen architektonischen Diskurs bezog, der europäische und amerikanische Positionen 17 | Attila Kotanyi/Raoul Vaneigem: »Elementarprogramm des Büros für einen unitären Urbanismus«, in: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995, S. 95-98, S. 97. 18 | Dan Graham: Gordon Matta-Clark, Kunstforum International, Oktober/ November 1985, S. 114-119; wiederabgedruckt in: Corinne Desirens (Hg.): Gordon Matta-Clark, S. 199.
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– Leon Krier und Aldo Rossi ebenso wie Michael Graves, Robert Venturi und Louis Kahn – umfasst. Es wäre sicherlich aufschlussreich, diese Diskurse spezifischer auf Matta-Clarks Kunst zu beziehen. Hier aber sei zum Schluss der Frage nachgegangen, wovon unser eigenes historisches Gedächtnis von Matta-Clarks »Cuts« sich nährt, d.h. der Frage nach der Anlage, der Funktion und der Bedeutung seiner Filme, Foto-Collagen und Zeichnungen. Der Film, der die Entstehung und den Abriss von Conical Intersect dokumentiert, ist eine Auftragsarbeit. Da Matta-Clark wusste, dass er keine Zeit haben würde, selbst einen Film zu drehen, beauftragte er einen professionellen Filmemacher.19 Wir müssen uns deshalb fragen, in welchem Sinne wir überhaupt sagen können, dass es sich um einen Film Matta-Clarks handelt. Was wir sehen, sind filmische Dokumente eines Arbeitsprozesses und dokumentarische Aufnahmen vom Resultat dieses Arbeitsprozesses. Wenn wir von einem Film Matta-Clarks sprechen, obwohl diese Aufnahmen (wie auch der Filmschnitt) von anderen gemacht wurden, dann wollen wir nicht die Arbeit der anderen herabsetzen; wir meinen auch nicht bloß, dass ein Werk von Matta-Clark thematisch im Zentrum steht, sondern dass der Film selbst auf eine bestimmte Weise von diesem Werk zusammengehalten wird – einem Werk, dessen Konzeption, Realisation und Rezeption beinhalten, dass der Film das geeignete Medium einer Dokumentation ist, in der allein es eine dauerhafte Existenz erlangen kann. Der Film dokumentiert das Werk nicht gleichsam von außen, vielmehr ist alles, was ein Film von Matta-Clark zeigt, integraler Bestandteil der Situation der Werkentstehung und seiner daraus hervorgehenden primären Rezeption. Die Filmaufnahmen selbst sind Teil dieser Situation und bilden selbst in ihr Schnitte in Raum und Zeit, d.h. sie reflektieren diese Situation ästhetisch in ihr selbst.20
19 | Leider wird dessen Name in den Filmographien, die in Ausstellungskatalogen zur Kunst Matta-Clarks zu finden sind, nicht genannt. Zum Film finden sich folgende Angaben: »Conical Intersect, 16 mm, color, silent, 18:40«; vgl. Steven Jenkins (Hg.): City Slivers and Fresh Kills: The Films of Gordon Matta-Clark, San Francisco Cinematheque 2004. 20 | Siehe dazu: Marc Glöde: »Den Raum zerschneiden – den Raum denken. Zu den Filmarbeiten von Gordon Matta-Clark«, in: Gertrud Koch (Hg.): Umwidmungen. Architektonische und kinematographische Räume, Berlin 2005, S. 88-99.
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Alles, was ein Film zeigt, gehört notwendig der Vergangenheit an. Gerade dies aber korrespondiert dem, was Matta-Clarks Filme zeigen, dass nämlich die Werke selbst unwiderruflich der Vergangenheit angehören. Wäre es bloß darum gegangen, das Resultat seiner Arbeit zu dokumentieren, hätte die Fotografie ausgereicht; tatsächlich gibt es von jedem Werk Matta-Clarks zahlreiche fotografische Aufnahmen. Um jedoch Prozess und Resultat dokumentarisch in eine Art von Gleichgewicht und Gleichwertigkeit zu versetzen, bedurfte es eines anderen Mediums, des Films. Dieses Gleichgewicht basiert darauf, dass das Resultat von Matta-Clarks Arbeitsprozessen kein Produkt ist. Der Begriff »Produkt« setzt voraus, dass ein Produktionsprozess definitiv zum Abschluss gekommen ist, dass etwas produziert wurde, das ein Interesse nur noch auf sich selbst lenkt. Aber Matta-Clarks De-Konstruktionen von Gebäuden stellen in diesem Sinne nichts her, das dann als Produkt gekauft und gebraucht werden könnte; sie eilen vielmehr der sozialen Destruktion dieser Gebäude voraus. Darin liegt eine durchgängige energetische Gespanntheit, die einen offenen zeitlichen und räumlichen Horizont konstituiert, in dem das Werk existiert. Man könnte deshalb fast sagen, dass die Werke Matta-Clarks ›filmisch‹ sind unabhängig von der Tatsache, dass sie gefilmt wurden. Sie sind durch und durch bestimmt von einer Prozessualität, die ihre Erzeugungsbedingungen, ihre Wahrnehmungsbedingungen und ihre Existenzbedingungen betrifft. Was als Resultat betrachtet werden kann, stellt diese Prozessualität nicht in Abrede, sondern bildet nur die Voraussetzung für ihre Bewusstwerdung. Das Resultat als solches ist niemals als Ganzes sinnfällig gegeben, sondern immer eine Art Choreographie, die den Betrachter nicht zum passiven Zuschauer macht, sondern ihn auffordert, im Rahmen dieser Choreographie zu einer freien Variablen zu werden und sich in Bezug auf die Leitlinien dieser Choreographie, die die Einschnitte in die Architektur bilden, zu verhalten und zu bewegen. Film ist das Medium, das diese Faktoren am sinnfälligsten umzusetzen vermag. Dies umso mehr, als Film selbst ein Material ist, das geschnitten wird, um durch diese Schnitte komplexe Verschränkungen von verschiedenen Raumeindrücken zu eröffnen; in seiner hohen Auflösungskraft und Tiefenwirkung hat Film die Möglichkeit, Räume visuell zu erfassen und gleichzeitig eine poetische Intimität der Erfahrung hervorzurufen; Film hat aber auch die Möglichkeit, Bildräume so flach zu halten und Oberflächen optisch derart nahe zu bringen, dass unser Tastgefühl angesprochen wird; zudem kann die Kamera selbst zu einem Raum werden, in den
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mit unvermuteter Intensität das Licht einbricht, wie in die von MattaClark bearbeiteten architektonischen Räume. Wenn heute versucht wird, Matta-Clarks Kunst unter die Kategorie InterArt zu fassen, dürfen wir nicht vergessen, dass er die verschiedenen Medien, derer er sich bedient hat, nicht nur auf eine für seine Belange spezifische Weise verwendet hat, sondern auch so, dass die spezifischen Eigenarten dieser Medien effektiv zum Tragen kommen. Gerade das Beispiel des Films kann dies verdeutlichen. Das gilt entsprechend auch für die verschiedenen Künste oder Kunstformen, zu denen seine Kunst Beziehungen aufweist. Solche Spezifik ist jedoch zu unterscheiden von einer Orientierung an einem vorgeblichen ›Wesen‹ einzelner Künste, das als deren durch Tradition aufgeladene ›wahre‹ Bestimmung erscheint. Der Begriff des Spezifischen ist im Prinzip frei davon. Was er jeweils indiziert, ist so auch im Prinzip offen dafür, neue Verbindungen einzugehen, seien es Verbindungen zwischen verschiedenen Medien, verschiedenen Künsten oder auch zwischen verschiedenen Kulturen und historischen Genealogien. Matta-Clarks Kunst kann als Beleg dafür gelten. Was ihn motivierte, war eine übergreifende »idea of community«.21 Die Rede von einer »Ausweitung der Kunstzone« mutet demgegenüber blass an, denn sie beinhaltet keine positive Idee. Wenn Matta-Clarks Kunst heute als InterArt kategorisiert wird, sollte man deshalb nicht außer Acht lassen, dass dies kein Begriff war, dessen er bedurft hätte, um seine Kunst zu schaffen.
A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Gordon Matta-Clark: Conical Intersect (Fotocollage), 1975. Sammlung David Zwirner, New York. Quelle: Gordon MattaClark, Ausst.-Kat. sms contemporanea, Siena 2008, S. 25. Abbildung 2: Donald Judd. Ausstellungsinstallation in The National Gallery of Canada, Ottawa 1975: Skulpturen 1972-1974. Quelle: Donald Judd. Zeichnungen/Drawings 1965-1976, Nr. 147, Ausst.Kat. The National Gallery of Canada, Ottawa 1975.
21 | Siehe dazu: Judith Russi Kirshner: »The Idea of Comunity in the Work of Gordon Matta-Clark«, in: Corinne Desirens (Hg.): Gordon Matta-Clark, S. 148-160.
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Abbildung 3: Lawrence Weiner: A 36” x 36” removal to the lathing or support wall of plaster or wallboard from a wall, ausgeführt in der Ausstellung When Attitudes become Form, Kunsthalle Bern 1969. Quelle: ProspectRetrospect. Europa 1946-1976, Ausst.-Kat. Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf 1976, S. 126. Abbildung 4: Gordon Matta-Clark assistiert Dennis Oppenheim bei der Herstellung von Beebe Lake Ice Cut, Itaca, New York 1969. Quelle: Corinne Desirens (Hg.): Gordon Matta-Clark, London 2003, Abb.-Nr. 18. Abbildung 5: Raymond Hains: C’est ça le renouveau ?, 1959. Sammlung des Künstlers. Quelle: 1960. Les Nouveaux Realistes, Ausst.Kat. Musee d’Art Moderne de la Ville de Paris, Paris 1986, S. 157. Abbildung 6: Carl Andre: Palisade, 1976, Stedelijk Van Abbemuseum Eindhoven, Niederlande. Quelle: Carl Andre. Haags Gemeetemuseum Den Haag, Ausst.-Kat. Stedelijk Van Abbemuseum Eindhoven, Eindhoven 1987, S. 103. Abbildung 7: Anthony McCall: Solid Light, 1973. Installationszeichnung für Line Describing a Cone. Tinte auf Papier. Quelle: Christopher Eamon (Hg): Anthony McCall. The Solid Light Films and Related Works. With texts by Branden W. Joseph and Jonathan Walley, Evanston 2005, S. 77. Abbildung 8: Lee Bontecou: Untitled, 1961, The Museum of Modern Art. Quelle: Lee Bontecou. A Retrospective, Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art, Chicago; Hammer Museum, Los Angeles 2003, Abb.-Nr. 34. Abbildung 9: Bruce Nauman. Untitled, 1965-1966. Latex-Gummi mit Stoffverstärkung. Collection Philip Johnson. Quelle: Brian Wallis (Hg.): Dan Graham. Rock my Religion 1965-1990, Cambridge 1993, S. 41. Abbildung 10: Gordon Matta-Clark: Conical Intersect (Außenaufnahme von der Entstehung des Werks, 1975). Quelle: Corinne Desirens (Hg.): Gordon Matta-Clark, London 2003, Abb.-Nr. 119. Abbildung 11: Gordon Matta-Clark: Conical Intersect (Innenaufnahme von der Entstehung des Werks, 1975). Quelle: Corinne Desirens (Hg.): Gordon Matta-Clark, London 2003, Abb.-Nr. 129.
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Klang in der Lebenswelt. Vom avantgardistischen Diskurs über das soziale Interventionspotential von Musik und Klangkunst Søren Møller Sørensen
Zwischen dem vorliegenden Text und der im Rahmen der Vorlesungsreihe »Ausweitung der Kunstzone« im Sommer 2007 gehaltenen Vorlesung an der Freien Universität Berlin erstreckt sich ein ebenso umfassender wie mühseliger Bearbeitungsprozess. Die Veranstalter erlaubten mir damals großzügigerweise, auf Englisch über ein von mir selbst ausgewähltes Thema zu sprechen, und ich gab meinem Beitrag den verführerisch wohlklingenden Titel »Sound and the Social. Interventionist aesthetics and the social power of sound«. Zwei Jahre später wurde ich von den Veranstaltern erneut angesprochen und gebeten, eine revidierte Fassung des Textes zwecks Veröffentlichung bereitzustellen, diesmal auf Deutsch. Bei der Durchsicht des Manuskripts wurde ich allerdings dessen gewahr, dass ich zwar über mein selbstgewähltes Thema gesprochen hatte, aber auch über vieles andere. Mein theoretisches Interesse, so sah ich, galt durchaus der Frage um Anwesenheit und Wirkung von Klang und Musik im sozialen Raum, es galt aber ebenso der Analyse des Feldes von Avantgardepositionen, in dem aktuelle Klangkunst mit Anspruch auf Eingriff in das Soziale beheimatet ist. Die theoretische Ambition war demnach eine Art Positionsbestimmung innerhalb eines Diskurses, der sich als weitverzweigte Diskussion potentieller Wirkungsmöglichkeiten von Musik und Klangkunst verstehen lässt, und die ich mich bis in die späten 1950er Jahre zurückzuverfolgen entschied. Im vorliegenden Text habe ich nach Vermögen dieses theoretische Ziel zu expli-
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zieren versucht, das auch die Rolle der Avantgardeszenen als eine Art Experimentierstätte betrifft, in der das kritische Potential der Avantgarde in künstlerische Praxis umgesetzt wird, wobei divergierende und konkurrierende prinzipielle Prämissen geprüft und konfrontiert werden. Mein Material ist das ursprünglich besprochene. Im Text befasse ich mich mit künstlerischen und theoretischen Äußerungen von Douglas Kahn, Henning Christiansen, György Ligeti, Brandon LaBelle und anderen. Ich hoffe, dass ich diesem Material und dessen Urhebern gegenüber solidarisch auftrete. Es war allerdings nirgends die Absicht, »Künstlerportraits« zu entwerfen. Das Material wurde mit einer gewissen Willkür und ausschließlich im Hinblick auf seine Angemessenheit zur Darstellung einer derjenigen Positionen gewählt, die es zu analysieren galt.
D ER K L ANG UND DAS S OZIALE Die Geschichte der sozial eingreifenden Kraft des Klangs hat keinen Anfang. Klang hat es immer gegeben, und immer hat er die ihm eigene Fähigkeit, Relationen unmittelbar herzustellen, ausgeübt: Relationen zwischen Mensch und Umwelt oder gegenseitig zwischen Menschen in der Sozialsphäre. Auch die Suche nach einem genauen Entstehungsmoment des Diskurses über die soziale Kraft des Klangs wäre müßig. Einige der ältesten Texte des musiktheoretischen Kanons befassen sich gerade mit dem Zusammenhang zwischen klanglicher und gesellschaftlicher Organisation. In Platons Der Staat wird Sokrates folgende Auffassung nachgesagt: »Werden doch nirgends die Regeln der Musik verändert, ohne daß die wichtigsten Gesetze des Staates nicht in Mitleidenschaft gezogen werden«,1 und im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erklärte der Chinese Sima Qian: »Die Opfer und Musik, die Riten und das Gesetz haben ein einziges Ziel; durch sie vereinen sich die Herzen der Menschen, und aus ihnen entspringen die Prinzipien guter Staatsführung.«2
1 | Zitiert nach der Übersetzung von Otto Apelt, Hamburg 1961, S. 141. 2 | Übersetzt nach Jacques Attali: Noise. The Political Economy of Noise (= Theory and History of Literature, Volume 16), Minneapolis/London 2005 (1986), S. 29.
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Interventionistische Ästhetik im Bereich der Audizität ist also keineswegs neu, und wenn Klangkunst der Gegenwart gerade hierauf ihren Fokus richtet, handelt es sich nicht nur um eine Modewelle, sondern auch um eine Wiederbelebung uralter und höchst interessanter Schichten des musikalischen Diskurses. Diese Wiederbelebung vollzieht sich in dem komplexen Spiel scharf umrissener Positionen und Gegenpositionen, das die künstlerischen Avantgarden kennzeichnet, und das die musikalische und klangkünstlerische Avantgarde betreffend als ein Spiel angesehen werden mag, das Grundvorstellungen vom Wirkungsmodus des Klangs inszeniert und miteinander konfrontiert. Eine entscheidende Achse in diesem diskursiven Spiel erstreckt sich von der Vorstellung von Klang als unmittelbar eingreifender Kraft und desselben als mehr oder weniger neutralem Medium der Darstellung oder der Signifikation. Wie die Besprechung einiger der Positionen in diesem Opposition und Widerspruch suchenden Spiel darlegen wird, sind aber auch andere Gegensätzlichkeiten im Spiel.
Soziale Präsenzeffekte Brandon LaBelle, Klangkünstler und auch in akademischen Zusammenhängen aktiv, stellt in seinem Background Noise: perspectives on sound art (N.Y. 2006) den Klang als ein Medium dar, das »intrinsically and unignorably relational«3 ist, und er hebt hervor, dass die ›Relationen‹, die die physikalische Präsenz des Klangs etabliert und ins Spiel bringt, in hohem Maße auch soziale Relationen einbegreifen. »Sound«, so er, is produced and infected not only by the materiality of space but also by the presence of others, by a body there, another there, and another over there. Thus, the acoustical event is also a social one: in multiplying and expanding space, sound necessarily generates listeners and a multiplicity of acoustical ›viewpoints‹, adding to the acoustical event the operations of sociality. 4
Die relationalen Effekte, die LaBelle sich zu untersuchen vornimmt, werden demnach als unmittelbare Wirkungen der Materialität des 3 | Brandon LaBelle: Background Noise: perspectives on sound art, New York 2006, S. ix. 4 | Ebd., S. x.
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Mediums dargestellt, die nicht entscheidend durch die künstlerische Verarbeitung des Materials bedingt ist. Der Kontext seiner Untersuchung jedoch ist die aktuelle Szene der Klangkunst, wo diese materialspezifischen Wirkungen inszeniert und akzentuiert werden. LaBelle wünscht zu beschreiben, »… what sound is always already doing, yet as framed by the eccentric and productively rich context of art and music and their respective experimental edges«.5 Die ästhetische Tendenz, die LaBelle hier vertritt, wendet also ihre Aufmerksamkeit den Effekten der unmittelbaren, sinnlichen Präsenz des Klingenden zu. Mit terminologischer Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht ließe sich sagen, dass sie ›Präsenzeffekte‹ auf Kosten von ›Sinneffekten‹ hervorhebt.6 Die sozialen Effekte, die LaBelle und seinen Geistesverwandten der aktuellen Klangkunstszene vorschweben, sind demnach nicht so sehr eine Frage der vom Klingenden vermittelten Bedeutungen, sondern vielmehr eine Frage der Wirkungen der körperlichen und sinnlichen Begegnung mit dem akustischen Material. Dass die dem Medium innewohnenden materiellen Qualitäten auf diese Weise für das soziale Interventionspotential der Klangkunst verantwortlich gemacht werden, bekundet einen deutlichen Unterschied zwischen der interventionistischen Ästhetik der aktuellen Klangkunst und den Vorstellungen von der Gesellschaftlichkeit und kritischem Potential, das in meinen jüngeren Jahren in Mode war. Gefragt sind heute nicht mehr Kompositionen, »… die in ihrer eigenen Struktur die gesellschaftlichen Antinomien dar[.]stellen …«,7 und auch kein Verlangen nach ›Erkenntnischarakter‹ wird laut in dem Sinne, den Theodor W. Adorno bereits in »Die gesellschaftliche Lage der Musik« (1932) darlegte, und der seinen wirkungsgeschichtlichen Höhepunkt in den 1970er Jahren erreichte. Gegenwärtig geht es nicht um chiffrierte gesellschaftliche Mitteilungen, die es zu entschlüsseln gilt. Spekulative Sozio-Hermeneutik ist nicht mehr an der Tagesordnung, sondern eher ein »Tun mit Klang« und ihn »mit uns tun lassen«. Und nicht zuletzt geht es um das Dasein in der Welt mit ihren Klängen. 5 | Ebd., S. ix. 6 | Hans Ulrich Gumbrecht: Production of Presence. What meaning cannot convey, San Francisco 2004. Deutsche Übersetzung: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004. 7 | Theodor W. Adorno: »Die gesellschaftliche Lage der Musik«, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Doppelheft 1/2 (1932), S. 105.
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In seinem Production of Presence inszeniert Hans Ulrich Gumbrecht den Wechsel des Brennpunkts von hauptsächlich ›Sinneffekten‹ zu ›Präsenzeffekten‹ als einen epistemologischen Bruch von bahnbrechender Kraft; ein Bruch, der eine Abkehr vom kartesischen Ich und der dualistischen Gegenüberstellung von Geist und Materie bedeutet. Eine Wertung dieser Inszenierung ist meiner Meinung nach eher eine Frage des Geschmacks als theoretischer Erwägungen im engeren Sinne. Die Tradition philosophierender Literaturprofessoren, zu denen Gumbrecht zählt, stellt mit Vorliebe ihre Theorien in historischen Narrativen mit fesselnden Handlungsabläufen dar. Wie auch immer die Beurteilung Gumbrechts philosophischer Aspirationen, stellt sein Begriffspaar einen wertvollen Ausgangspunkt bereit für die Analyse des komplizierten diskursiven Spiels mit den künstlerischen Möglichkeiten des auditiven Materials und besonders der Verhandlung des Verhältnisses zwischen den formellen und bedeutungsmäßigen Aspekten einerseits und den ›unmittelbaren‹ oder ›vorkünstlerischen‹ Wirkungen des auditiven Materials andererseits. Zugespitzt ließe sich behaupten, dass LaBelle eine Freigabe der sozialen Präsenzeffekte des Klangs befürwortet, und dass diese Freigabe unter anderem durch eine Loslösung von Konventionen der Musik – und vermutlich sogar vom Musikbegriff selbst – bedingt ist. Er vertritt demnach eine Position innerhalb eines Avantgarde-Diskurses, der etlichen Befreiungsprojekten den Weg bereitet hat, die sich gegen verschiedene Aspekte des Bedeutungs- und Wirkungspotentials des Auditiven richten und oftmals das Feld zwischen Bedeutungs- und Präsenzeffekten zu seinen Extremen hin polarisiert haben.
G YÖRGY L IGE TI D ER K L ANG UND DIE BEFREITE A SSOZIATION All dieses berührt in hohem Maße auch Rezeptionsformen, und meinen generationsbedingten Gesichtspunkt betreffend ist es auch eine Frage der persönlichen Erfahrung. Ich höre heute anders, und zwar viel konkreter. Mein Erlebnis von Umweltgeräuschen ist neuartig in Verbindung mit meinem Musikerlebnis gebracht worden. Die Musik ist gewissermaßen der Klangwelt zurückgegeben worden, zu der sie gehört. Der Dialog zwischen Musik und den Geräuschen des Alltags ist intensiviert und bereichert worden. Diese veränderte Rezeptionseinstellung ist zweifellos mit den fundamentalen Veränderungen der
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Audizität als solcher verbunden, die die ›technische Reproduzierbarkeit‹ des Klangs verursachte, und zu denen auch Erfahrungen mit Kunst, die selbst mit den neuen Klangmedien experimentierte, beitrugen. Hören wir uns Ligetis Orchesterwerk Apparitions von 1958 an. In jeder praktischen Hinsicht fügt sich dieses Werk in den institutionellen Rahmen westlicher Kunstmusik. Es wird Klang produziert, wie es hier üblich ist: Partitur, Dirigent und ein schweigendes Publikum befinden sich im gedämpft beleuchteten Saal. Die Geräusche jedoch wollen es anders mit uns. Die Klänge sind sorgfältig als konkrete, handgreifliche Klangobjekte komponiert, die sich nicht, wie es die idealistische Musikästhetik vorschrieb, als einer hintergründigen Satzstruktur transparent vorgelagert verstehen lassen. Sowohl das Werk selbst als auch die von Ligeti vorgelegten Leitfäden zur Rezeption desselben fordern uns dringend auf, unseren ästhetischen Spürsinn in die Konkretheit der Klänge, so wie sie ›erscheinen‹, zu investieren. Apparitions ist wie erwähnt ein rein instrumentales Werk, zählt aber zu denjenigen der Frühwerke Ligetis, die er auf Grundlage der Erfahrungen mit elektro-akustischer Musik schuf. Der in Ungarn geborene György Ligeti kam nach dem dortigen Aufstand 1956 nach Deutschland, und einige der ersten Jahre im Westen verbrachte er in Herbert Eimerts und Karlheinz Stockhausens Studio für elektronische Musik in Köln. Den dort gewonnenen Erfahrungen hat Ligeti selbst große Bedeutung beigemessen. Es entwickelte sich dort ein neues Materialverständnis – ein neuer, direkter Einfallswinkel zu dem akustischen Material, wie es sich in den Händen des Komponisten durch die arbeitsintensiven Prozesse des klassischen, elektro-akustischen Studios formte. In einer Notiz über sein elektro-akustisches Werk Artikulation (1958) beschreibt Ligeti sein Erlebnis des so objektivierten und handgreiflich gemachten Klangs: Klänge und musikalische Kontexte erwecken in mir stets die Empfindung von Farbe, Konsistenz und sichtbarer wie auch tastbarer Form. Und umgekehrt: Farbe, Form, materielle Beschaffenheit, ja sogar abstrakte Begriffe verknüpfen sich in mir unwillkürlich mit klanglichen Vorstellungen. Dies erklärt das Vorhandensein von so zahlreichen ›außermusikalischen‹ Zügen in meinen Kompositionen. Klingende Flächen und Massen, die einander ablösen, durchstechen oder ineinander fließen – schwebende Netzwerke, die zerreißen und sich verknoten – nasse, schleimige, klebrige, gallertartige, faserige,
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trockene, brüchige, körnige und kompakte Materialien – Fetzen, Floskeln, Splitter und Spuren aller Art – imaginäre Bauten, Labyrinthe, Inschriften, Texte, Dialoge, Insekten – Zustände, Ereignisse, Vorgänge, Verschmelzungen, Verwandlungen, Katastrophen, Zerfall, Verschwinden: All das sind Elemente dieser nichtpuristischen Musik. 8
Eine doppelte Bewegung macht Ligetis Äußerung bemerkenswert: Einerseits betont er durch eine Beschreibungsstrategie, die taktile und räumliche Erfahrungen mit einbezieht, die objektartige Erscheinung des Klangs. Andererseits verleiht er der Erfahrung Ausdruck, dass das neue Gespür für die Objektartigkeit des Klanges ein neues und freieres Assoziationsspiel zwischen unterschiedlichen Sphären des Erlebens und der Reflexion anregen mag. Die Freilassung der Klanglichkeit, die in Ligetis Musik der späten 1950er Jahre am Werke ist, stellt also gleichzeitig eine Freilassung der ›außermusikalischen‹, referentiellen Aspekte des Klangs dar. Mit Werken wie Artikulation und Apparitions hat Ligeti klangliche Objekte und Klangereignisse schaffen wollen, die frei mit Objekten und Ereignissen in der seine Musik umgebenden Welt assoziieren.
D OUGL AS K AHN D ER SOZIALE K L ANG — DIE ASOZIALE M USIK Nichtpuristische Musik ist Ligetis Bezeichnung für Musik, die solches wagt. Damit sagt er auch, dass unser Musikbegriff weit genug ist, auch Musik zu beherbergen, die auf einer bedeutungsmäßigen Interaktion mit ihrer Umwelt besteht und sich nicht als autonomes Kunstwerk in sich selbst schließt. Fragt man Douglas Kahn, der mit seinem Noise Water Meat – A history of sounds in the arts (1999) an der Artikulation einer ästhetischen Basis für Teile der modernen Klangkunstszene mitwirkte, ist der Musikbegriff allerdings so großzügig nicht. Für Kahn ist der Begriff der Musik als solcher mit einer Ästhetik verbunden, die Fremdreferenzen endgültig ablehnt und die Musik von einem Dialog mit den Geräuschen der Lebenswelt und allen damit verbundenen kul8 | György Ligeti, zitiert nach Monika Lichtenfeld (Hg.): György Ligeti. Gesammelte Schriften, Band 1 (= Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung 10), Mainz 2007, S. 28f.
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turellen, sozialen und politischen Bedeutungen abschneidet. Kahn stellt es als das historische Schicksal der Musik dar, autonome Kunst zu sein, während aus seiner Sicht die Klangkunst sich gerade in der Welt bedeutender Klänge entfaltet, die die Musik als autonom nicht wahrnehmen will. In seinen schärfsten Formulierungen gibt Kahn zu verstehen, dass die Musik qua ihrer Ablehnung jeglicher Darstellung sich selbst davon ausschließt, im eigentlichen Sinne modern zu werden; dass sie sich selbst daran hindert, auf Entwicklungen in der Geschichte der Audizität adäquat zu reagieren, was im 20. Jahrhundert vor allem eine Frage der durch das moderne Leben und die neuen Klangmedien hervorgerufenen Veränderungen der kulturellen Bedeutung der Geräusche ist. Kahn gibt zu, dass im 20. Jahrhundert neue Musik das Material der Kompositionsmusik radikal erweitert hat, und bestätigt, dass dieses als »… a way to keep in pace with the present«9 verstanden werden kann. Er ist jedoch geneigt, die Erweiterung des Materials anders zu sehen, und zwar als »… an adaptive maneuver by which arts in the West confronted larger transformations in the social conditions of aurality and kept the full extent of their social, political, and poetic provocation at bay by recuperating significant sound into musical materiality«.10 Die Musik, so Kahn andernorts, sucht sich Mittel, »to protect itself from sound«!11 Der Weg vom ›sound‹ (d.h. Bedeutung tragenden Klang) zur ›musical materiality‹ führt demnach über die Vernichtung der sozial bedingten Bedeutungsdimension des Klangs. Musik als solche ist für Kahn eine kulturelle Praxis, die die soziale Bedeutung und potentielle Wirkung des Klangs neutralisiert. Musikalischer Klang ist asozialer Klang! Dieser radikale Standpunkt findet in Kahns Kritik an John Cage ihren deutlichsten Ausdruck. In einer seiner Gipfelformulierungen heißt es, dass Cage eine »musicalization of aurality itself«12 bewerkstelligt. Cages Vorrat an Methoden zur Sinnentleerung, seine Hinweise auf Möglichkeiten kontemplativer Aneignung eines beliebigen Klangphänomens, sollte demnach zur Folge haben, dass alles Hörbare als Musik wahrgenommen wird, da Musik per se als Spiel mit einem 9 | Douglas Kahn: Noise Water Meat. A History of Sound in the Arts, Cambridge/London 1999, S. 102. 10 | Ebd. 11 | Ebd., S. 103. 12 | Ebd., S. 102.
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Material ohne Fremdreferenzen verstanden wird. Deshalb kann Kahn behaupten, dass das Hauptproblem der Ästhetik Cages ihre Verankerung in einem musikalischen Paradigma wäre. Was bei Cage wie eine inklusive Ästhetik erscheint, die die Klangwelt des modernen Lebens hereinbittet, ist in einem entscheidenden Punkt exklusiv: Willkommen sind die Klänge nur als Gegenstand einer kontemplativen Aneignung, die ihre soziale Bedeutungsdimensionen zum Schweigen bringt. ›Silence‹ und ›silencing‹ werden demnach untrennbar verbundene Begriffe. Cages ›silence‹ – Metapher der Absichtslosigkeit und Kontemplation – geht mit ›social silencing‹ Hand in Hand. Kahns Buch ist vor allem ein Plädoyer für eine moderne Klangkunst, die mit historischen Veränderungen der Audizität interagiert. Unter diesem Gesichtspunkt ist sein etwas einäugiger Musikbegriff durchaus zweckdienlich. Ein autonomieästhetisches Musikverständnis mit der kulturellen Realität der Musik zu verwechseln wäre jedoch ein Fehlgriff. Obwohl die Romantik und ihre Ausläufer die Musik als Inbegriff autonomer Kunst sahen, und auch ungeachtet der radikalisierenden Autonomieästhetik, die von wichtigen Exponenten des musikalischen Modernismus vertreten wurde, ist auch Musik Teilhaber der sozialen Realität. Ästhetische Erfahrung ist menschliche Erfahrung und somit ein soziales Faktum. Diese an sich banale Feststellung ist wichtig, wenn es gilt, den Zusammenhang zwischen dem aktuellen Interesse an Musik und Klangkunst aus einer sozialen Perspektive – die auch Fragen des Eingreifens oder der Wirkung einbezieht – und Teilen der historischen Voraussetzungen zu verstehen. Zu Letzteren zählen radikale Experimente mit auditiven Wahrnehmungsformen, die gerade auf die Neutralisierung sowohl der assoziativen Bedeutungsmöglichkeiten (Ligeti) als auch der materialspezifischen Wirkungen (LaBelle) bestehen. Dass die Beziehungen hier zwischen entgegengerichteten ästhetischen Positionen geknüpft werden, ist keineswegs ein Paradoxon, sondern bezeugt lediglich den besonderen, dialektischen Diskurstypus, der die künstlerischen Avantgarden kennzeichnet.
H ENNING C HRISTIANSEN D IE BEFREITE W AHRNEHMUNG Für die Darstellung der Position radikaler Sinnentleerung habe ich mir ein musikgeschichtliches Material aus Dänemark als Ausgangs-
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punkt ausgesucht, das außerhalb der dänischen Grenzen kaum bekannt ist. ›Den ny enkelthed‹ – ›Neue Einfachheit‹13 – nannten wir es in Dänemark, als eine Gruppe junger dänischer Komponisten gegen Mitte der 1960er Jahre sich ihren eigenen Weg durch das mannigfaltige Angebot an internationalen modernistischen und avantgardistischen Strömungen ihrer Zeit suchte. Zu den Kennzeichen der dänischen Neu-Einfachheit zählen eine stark konkretistische Tendenz und deutliche Einwirkung sowohl des musikalischen als auch des bildnerischen Minimalismus. Es handelte sich um ein offenes und bewegliches Milieu, dem auch ein hohes Maß an Interaktion zwischen den Kunstarten eigen war. Henning Christiansen, eine zentrale Persönlichkeit dieses Milieus und zugleich dessen stärkster Befürworter, hat selbst auf die Beziehungen zwischen seinen Perceptive Constructions (1966) und dem minimalistischen Werk 16 objects des dänischen Skulpteurs Peter Louis-Jensen hingewiesen. Space and object lautet der Titel des ersten Satzes, der sich sehr wohl als ›Übersetzung‹ eines minimalistischen Raum-Kunstobjekts interpretieren lässt, wobei die regelmäßige Anordnung identischer Objekte im Raum in zeitlich regelmäßige Verteilung von Klängen übersetzt wird. Peter Louis-Jensens 16 objects besteht aus 16 identischen Stelen und dem dazwischen liegenden Raum. Der Satz space and object besteht aus 14 von genau abgemessenen Pausen getrennten Klangsäulen. Auf jeden der 10 Sekunden langen Klänge folgen 10 Sekunden Stille. Die Klangsäulen setzen sich aus der gleichen Tonhöhenauswahl zusammen, variiert nur durch Dynamik und Register sowie das Auslassen eines oder mehrerer Töne. Auf diese Art wird das Empfinden 14 identischer Klangsäulen angestrebt, die lediglich unterschiedlich schattiert wahrgenommen werden, als würden sie aus verschiedenen Perspektiven und in wechselnder Beleuchtung betrachtet.
13 | Hier sowohl auf dänisch als auch in deutscher Übersetzung vorgestellt, um die sehr naheliegende Verwechslung mit der »Neuen Einfachheit« in Deutschland zu vermeiden, die ein späteres und auch ganz anderes Phänomen bezeichnet. Vertreter der dänischen Neu-Einfachheit waren unter anderem Pelle Gudmundsen-Holmgreen und Henning Christiansen.
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Abbildung 1: Henning Christiansen: Perceptive Constructions, op. 28. Beginn des ersten Satzes: Space and object
Gemäß der Vorliebe für Transparenz und No-Nonsense-Kommunikation, die die dänische Neu-Einfachheit vertrat, war Henning Christiansens Bekennung zu der anti-expressiven, konkretistischen Ästhetik des Werkes ebenso ausdrücklich und klar. In seinem Artikel »En rose er en rose er en rose« (»Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose«) ist zu lesen: »Ein Klang ist ein Klang. Der Abstand zwischen zwei Tönen ist der Abstand zwischen zwei Tönen. Hält man sich daran, wird die Musik aus der Welt des Traums und der Metaphysik in die Wirklichkeit hineingeführt.«14 Henning Christiansens Wunsch nach ›Wirklichkeit‹ ist unmissverständlich. Die Absicht hinter Perceptive Constructions ist das Herbeiführen einer Perzeptionssituation, in der die ›Präsenz‹ der Klangobjekte nicht durch ›expressive‹ oder ›metaphysische‹ Sinneffekte gestört wird. Die Präsenz der Klangobjekte in Perceptive Constructions aber ist eine merkwürdige oder gar paradoxe Präsenz ›in the middle of nowhere‹, und angesichts der Kritik der Nachzeit fällt es nicht schwer, den ideellen Ort für Christiansens Wahrnehmungsexperiment auszumachen, und zwar als musikalisches Pendant zum »weißen Kubus«, in dem weitgehende soziale Präsenzeffekte kaum zu erwarten sind. Schauen wir uns aber in Christiansens Produktion dieser Pe14 | Henning Christiansen: »En rose er en rose er en rose«, in: Ta’, Nr. 2, Kopenhagen 1967.
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riode um, wird uns klar, dass seine künstlerische Tätigkeit bereits zu diesem Zeitpunkt mit einer Art Kulturkritik verbunden war. Die gewünschten Effekte seiner Modelle für auditive, perzeptuelle Experimente beschränkten sich keineswegs nur auf den Bereich der autonomen Kunst. Das bezüglich ›Sinn‹ und ›Ausdruck‹ bis auf den Nullpunkt reduzierte musikalische Material sollte ein neutrales Medium für eine Befreiung der Wahrnehmung bereitstellen, von der er sich Konsequenzen auch für das alltägliche Leben erhoffte. Abbildung 2: Das erste von Henning Christiansens Modellen (1964-67). Variationen über eine einfache Struktur von Dauer
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Dem verleiht Christiansen in dem manifestartigen Vorwort zu seinen Models (1964-67) Ausdruck. »Grundidee der Modelle«, so heißt es dort, »ist prägnante Formen mit anderer Rezeptionssicht zu finden und zu erspüren«, und erstrebt wird das Hervorrufen »… eine[r] zeitarchitektonische[n] Vorstellungsfreiheit, die eine bewusste Haltung zur Zeit fordert«. Dieses Ziel wird unter anderem durch die Problematisierung eines organischen, mit Körperlichkeit und Emotionalität verbundenen Zeitempfindens erreicht. Abbildung 3: Ede der Notiz Henning Christiansens zu Modellen (1964-67) in originaler Typographie des Komponisten
Der musikalische Konkretismus der 1960er Jahre – hier durch Henning Christiansen vertreten – war als Übungen zur ›befreiten Wahrnehmung‹ beabsichtigt. Man suchte nach kompositorischen Mitteln, automatisierten emotionellen Effekten zu entkommen. Wir sollten lernen, dass musikalischer Klang die reine Wirklichkeit sein konnte wie die Rose in Gertrude Steins Gedicht, oder wie der Stein, den wir laut Viktor Schklowsky und den russischen Formalisten durch die ent-automatisierende Kraft des Gedichts wieder als Stein erleben können sollten. Aus der Perspektive der neueren Klangkunst jedoch muss die Wirklichkeit, wie sie in z.B. Christiansens Modelle erscheint, noch eigentümlich unkörperlich vorkommen. Die durch Christiansens Konkretismus erstrebte Realität ist eine besondere, abstrakte! Wie schon der Begriff ›Modell‹ verrät, ist eine strukturelle oder konzeptuelle Dimension vordergründig, und den essentiellen strukturellen Eigenschaften ist eine prinzipielle Unabhängigkeit vom Hier und
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Jetzt der Aufführung zugedacht. Trotz der Absicht avantgardistischer Sinnentleerung bleiben die über-situationellen Eigenschaften, die dem traditionellen Kunstwerk beigemessen werden, erhalten. Der ›ideelle Ort‹ der Modelle ist wahrlich ideell, und ihre Realität eine ideelle Realität, verwandt etwa mit dem logischen oder mathematischen Satz in der Philosophie Husserls.
D ER K L ANG UND DAS O RTSSPEZIFISCHE Trotz des Widerstandes gegen ›Traum und Metaphysik‹ hält der radikale, konkretistische Minimalismus Christiansens der 1960er Jahre also an der Spielart des Repräsentationsdenkens fest, das ein zentrales Element des klassischen Werkbegriffs auch in seinen formalistischen Abzapfungen ausmacht. Ein Ton ist letztendlich nicht nur ein Ton. Die Organisierung der Töne weist nach wie vor auf eine abstrakte, hintergründige Formidee hin, und die erstrebten Wirkungen spielen sich unabhängig situationeller Aspekte auf der mentalen Ebene ab. Dem gegenüber steht ein innerhalb des Diskurses über das Ortsspezifische in der Kunst entwickelter Ideensatz. Das Zentrale und Prinzipielle dieses Diskurses betrifft gerade die Problematisierung des Repräsentationsdenkens und das Betonen der Bedeutung der Situation. Hierüber schreibt der deutsche Klangkünstler Achim Wollscheid in einem Beitrag zu der Anthologie Sound of Site: »[T]he less musical activity is fixed or centered on the representational handling of representational objects, the more the quest for meaning shifts to the conditions of the social and spatial implications of situations and therefore, of course, space.«15 Wollscheid deutet somit an, was sich mit Rückgriff auf die Terminologie Hans Ulrich Gumbrechts als ein reziprokes Verhältnis zwischen Sinn- und Präsenzeffekten, darunter sozialen Präsenzeffekten, bezeichnen lässt. Ein Großteil aktueller Klangkunst ist mit der ortsspezifischen Kunst verwandt, wie sie Miwon Kwon beschrieben hat: Site specificity used to imply something grounded, bound to the laws of physics. Often playing with gravity, site-specific works used to be obstinate 15 | Achim Wollscheid: »Does the song remain the same?«, in: Brandon LaBelle/Steve Roden (Hg.): Site of Sound. Architecture and the ear, Los Angeles 1999, S. 7.
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about ›presence,‹ even if they were materially ephemeral, and adamant about immobility, even in the face of disappearance or destruction. Whether inside the white cube or out in the Nevada desert, whether architectural or landscape-oriented, site-specific art initially took the ›site‹ as an actual location, a tangible reality, its identity composed of a unique combination of constitutive physical elements: length, depth, height, texture, and shape of walls and rooms; scale and proportion of plazas, buildings, or parks; existing conditions of lighting, ventilation, traffic patterns; distinctive topographical features.16
Jedes der von Kwon hier aufgezeichneten Charakteristika ortsspezifischer Kunst in ihrer »klassischen« Form lässt sich ohne Weiteres in Eigenschaften der aktuellen Klangkunst übersetzen, die nicht weniger hartnäckig auf Präsenz besteht und sich mit vergleichbarem Eifer engagiert in »… the epistemological challenge to relocate meaning from within the art object to the contingencies of its context; the radical restructuring of the subject from the old Cartesian model to the phenomenological one of lived bodily experience«.17 Die Überlegungen Miwon Kwons sind zur theoretischen Orientierung innerhalb der Klangkunst immer noch äußert hilfreich. Nicht zuletzt ihre Diskussion der Flexibilität des Ortbegriffs vermittelt Einsicht in die Dynamik des Feldes. Kwon beschreibt einen Expansionsvorgang innerhalb des Ortbegriffs selbst, in dem sich nach und nach drei interagierende ›paradigms of site specifity‹ herausbilden. Sie stellt eine Entwicklung vom klassischen Paradigma fest, in dem ›Ort‹ (›site‹) sich auf konkrete, materielle Eigenschaften der Stätte künstlerischer Tätigkeit bezieht, zu einem Paradigma hin, in dem künstlerische Manifestationen »… their ›locational‹ anchor in the discursive realm«18 finden. Sie scheint sich dabei auch der Steigerung des Abstraktionsgrades in der Bewegung vom phänomenologischen über das institutionelle bis hin zum diskursiven Paradigma voll bewusst zu sein. Ein Kunstwerk mit messbaren visuellen oder akustischen Eigenschaften eines Raums, eines Stadtraums oder einer Landschaft interagieren zu lassen ist eines. Etwas anderes ist es, das Kunstwerk kritisch auf die Institutionen der Kunstwelt reagieren zu lassen. Und 16 | Miwon Kwon: »One Place after Another: Notes on Site Specificity«, in: October 80 (1997), S. 85. 17 | Ebd., S. 86. 18 | Ebd., S. 95.
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noch eine andere Sache ist seine Teilnahme an Diskursen über gesellschaftliche Themen wie z.B. Macht, Ethnizität und Sexualität. Das verbindende Element ist die gemeinsame Ambition des ›Daseins‹, des Arbeitens ›von innen‹ und gegen die Bedingungen des gegebenen ›Ortes‹. Es ist zwar wohlbekannt, dass Künstler der hier zur Debatte stehenden Avantgardeszenen oftmals mit Geschick Grenzen abbauen und kategorischen Trennlinien selten freundlich gegenüberstehen. Dennoch ist es nicht theoretisch uninteressant, die Eingrenzung des Feldes zu diskutieren, in dem der Begriff ›site-specificity‹ sinnvoll zur Verwendung kommt. Mit aller Vorsicht würde ich vorschlagen, die Grenzen des Feldes dort zu ziehen, wo materialspezifische Präsenzeffekte keine Rolle mehr spielen. Bewegen wir uns durch die drei Paradigmen mit zunehmendem Abstraktionsgrad, nähern wir uns dieser Grenze.
S CHLUSSBEMERKUNG Die Avantgarde als E xperimentierstätte Diese abschließende Betrachtung schmeckt womöglich etwas nach Beckmesserei. Aber wirklich schämen tue ich mich nicht. Die Frage nach den potentiellen Konsequenzen unseres Daseins in der materiellen Präsenz ästhetischer Medien ist zu dringlich, als dass wir stillschweigend einer Verwässerung dieses theoretischen Brennpunkts zugunsten lediglich diskursiver Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Themen zuschauen dürfen. Interventionistische Kunstpraxis verliert ihre erneuernde Kraft, wenn sie die Intention sozialer Intervention nicht mehr mit experimenteller Auseinandersetzung mit den Eigenschaften des spezifischen, künstlerischen Mediums verbindet. Goethes Wort »Bilde Künstler, rede nicht« ist noch immer von Belang. Aber ich nehme auch gerne eine Paraphrasierung hin, wie sie Helmut Lachenmann einst vorschlug: »Bilde Künstler, aber rede auch«. Meine Disziplin, die Musikwissenschaft, hat von der Begegnung mit Werken und Manifestationen der aktuellen Klangkunstszene viel zu lernen, nicht zuletzt aber auch von der Begegnung mit ihren ›redenden Künstlern‹ und der blühenden ästhetischen und theoretischen Diskussion, die unter ihnen stattfindet. Die Pointierung des
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orts- und situationsbedingten Wirkungspotentials klanglicher Manifestationen durch dieses Milieu steht mit aktuellen Tendenzen in jenen Bereichen der Musikwissenschaft im Einklang, die es als professionelle Verpflichtung ansehen, über die Grundlagenprobleme der Disziplin zu reflektieren. Ist die Behauptung wahr, dass die Musik der akustischen Welt zurückgegeben worden ist, aus der sie hervorging, öffnen sich neue Perspektiven auch für moderne, kritische Musikwissenschaft. Und wie es so oft der Fall ist, ist die Eröffnung neuer Perspektiven mit einer Wiederaufnahme oder Wiederbelebung älterer, mehr oder weniger vergessener Einfallswinkel verbunden. Ich erwähnte bereits eine neue Empfindsamkeit gegenüber dem musikalischen Klang als akustische Realität; auch das intensivierte Empfinden einer dialogischen Beziehung zwischen dem Erlebnis musikalischer Klänge und den Geräuschen des Alltags. Zu dieser neuen, ästhetischen Empfindsamkeit gesellt sich eine verstärkte theoretische und historiographische Aufmerksamkeit gegenüber Themen wie etwa die Bedeutung des Klangs der Instrumente, historische Diskurse über Instrumente und Instrumentation, die Bedeutung der konkreten akustischen Situation für musikalische Darbietungen, die Geschichte des Musikhörens im Spannungsfeld zwischen der Geschichte der Musik und derjenigen der Audizität und vieles mehr. Die Kunstwissenschaften brauchen die Avantgarde, die in ihrer besten Form dem Experiment jene Aufmerksamkeit zuteil werden lässt, die den klassischen Geisteswissenschaften so schmerzlich fehlt. Zugleich bietet die Funktionsweise des Avantgardediskurses, der unterschiedliche Positionen nach ihren Extremen hin polarisiert, ein auch für das historisch orientierte wissenschaftliche Interesse äußerst nützliches Reflexionsmaterial an. Musik ist ein verhandelbarer Begriff, und vergeblich sucht man nach gültiger Wesensbestimmung außerhalb des Bereiches des Verhandelbaren. Das Gelingen der Kunst setzt unter anderem voraus, dass über die Prämissen für das künstlerische Gelingen Einigkeit erreicht werden kann. Derartige Einigkeiten entstehen, wirken und vergehen wieder in komplexen, diskursiven Spielen, in denen auch das gesprochene und das geschriebene Wort eine wichtige Rolle spielt. Der historiographisch äußerst reflektierte Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus hatte einen Blick dafür und schrieb im Zuge seiner Arbeit mit der Entwicklung des Musikbegriffs in der deutschen Romantik: »Die Literatur über die Musik ist kein bloßer Reflex dessen,
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was in der musikalischen Praxis der Komposition, Interpretation und Rezeption geschieht, sondern gehört in einem gewissen Sinne zu den konstitutiven Momenten der Musik selbst.«19 Diese These, die bei Dahlhaus in eine Betrachtung über die definitorisch eingreifende Rolle veränderter Rezeptionskategorien in einer von »kategorialer Formung des Wahrgenommenen« grundsätzlich abhängigen musikalischen Rezeption mündet, lässt sich ohne Weiteres auf das hier ansatzweise analysierte Material der Avantgarde des ausgehenden 20. Jahrhunderts übertragen. Die Verhandlung des künstlerischen Möglichkeitsraums des Klangs und der Musik durch die Avantgarde erschließt jedoch nicht unbedingt Neuland. Zwar lässt sich von einem Avantgardediskurs sprechen, der die auditive ›Kunstzone‹ erweitert. Dazu sei allerdings eine gewisse Vorsicht angeraten. Der Neuheit der von der Avantgarde definierten und erprobten Positionen ist oftmals nämlich eine eigenartig doppelbödige, und sehr oft dokumentieren die Avantgarden durch ihre Suche nach Neuem und Unerprobtem die Stärke der These Walter Benjamins, laut der die ›Mode‹ immer »Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt«,20 hat. Demnach sind keine der oben hervoranalysierten Positionen im engsten Sinne neu. Aus der Besingung der unmittelbar eingreifenden Wirkung des Klangs lässt sich mit etwas gutem Willen das Echo der ältesten Mythen unserer Kultur über die ›elementare Macht der Musik‹ heraushören, die einst Jerichos Mauern beben und einstürzen ließ, und in dem Spiel der übrigen Positionen finden sich Elemente des alten Streits der Musikgeschichte zwischen Vertretern unterschiedlicher ›Inhaltsästhetiken‹ und verschiedenen Arten des Formalismus. Die Dynamik der Avantgarde ist nicht nur eine zerstörende Kraft, die uns von Tradition und Geschichte entfernt und uns ins Neue und Unbekannte hineinstürzt. Sie etabliert durch die Entfaltung ihrer eigenen, diskursiven Logik auch überraschende, unvorhergesehene Beziehungen zu vergessenen Anschauungsformen, Möglichkeiten, Potentialen. Und was in der aktuellen Situation korrekt als eine ›Ausweitung der Kunstzone‹ zu verstehen ist, ist für eine andere Betrachtung als Wiederaufzeichnung einer Landkarte zu ver-
19 | Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1987, S. 66-67. 20 | Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt a.M. 1974, S. 701 (These XIV).
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stehen, auf der vergessene Gebiete wieder verzeichnet werden und neue Verbindungswege zum Vorschein kommen.
A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Henning Christiansen: Perceptive Constructions, op. 28. Beginn des ersten Satzes: Space and object. Quelle: Engstrøm & Sødrings Musikforlag ApS, Klampenborg, Dänemark. Abbildung 2: Das erste von Henning Christiansens Modellen (196467). Variationen über eine einfache Struktur von Dauern. Quelle: Engstrøm & Sødrings Musikforlag ApS, Klampenborg, Dänemark. Abbildung 3: Ede der Notiz Henning Christiansens zu Modellen (1964-67) in originaler Typographie des Komponisten. Quelle: Engstrøm & Sødrings Musikforlag ApS, Klampenborg, Dänemark.
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Ausweitung III: Inszenierte Realitäten
Inszenierte Wirklichkeiten — Das Neue und/als das Alte Joachim Fiebach
Die Einzüge spätmittelalterlicher Könige in große Städte waren vieles in einem: Höhepunkte künstlerischen (Er)Schaffens, Auftakt des Zeitraums, in dem die jeweilige Stadt das Königshaus und sein Heer materiell unterhalten musste, und effektvolle symbolische Aktion, die Vorstellung von der göttlich gegebenen Macht und der Ewigkeit der Krone im mentalen Haushalt der Untertanen zu verankern. Alle Körper demonstrierten wirksam das Naturgegebene, die unbefragbare Legitimität des hierarchischen Gesellschaftsgefüges. Der König(skörper) erschien als alleiniger Produzent des Wohlstands und als Garant für die Rechtsansprüche aller. Man tauschte, wie Konigson anmerkte, »Privilegien gegen Geld für die königliche Schatulle«. Der Symbolismus des Gaben-Austauschs sei nichts anderes gewesen als eine »Überbewertung der königlichen Gabe«, die darin bestand, sich selbst in Person darzubieten. Die Gegenwart des Königs wäre »buchstäblich ›unschätzbar‹« gewesen, »ausgetauscht« gegen das »Äquivalent der Nahrung«. Die Krone unterstrich ihre Macht, indem sie die Städte ihre Einzüge finanzieren ließ (Tributforderung). So gewährte der König »gnädig« Privilegien. Sollte die Stadt den Einzug, daher das Lösegeld nicht bezahlen, drohte Brandschatzung. 1382 bot Cambrai eine große Summe auf, damit Charles VI die Stadt schonte. Dann realisierte (»deutete«) man den Einzug als ein freudiges Geschehnis.1
1 | Lawrence M. Bryant: The King and The City in the Parisian Royal Entry Ceremony: Politics, Ritual and Art in the Renais sance, Genf 1986, S. 42, 31ff.; Elie Konigson: »La Cité et le Prince: Premières Entrées des Char les VIII
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Bevorzugte dramaturgisch-inszenatorische Techniken waren großflächige Raumdefinitionen, Körperhaltungen und dekorative Bilder (Tableaus). Eine hervorragende Rolle spielte das Bildhafte, besonders mit der Einführung des Baldachins seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und einem Straßentheater in Form lebender Bilder, die Momente der Passion Christi, des Lebens Heiliger und der Jungfrau darstellten. Die Menge der Bewegungsdetails, der Gruppierungen und der dekorativen Tableaus schoss, im historischen Kontext gesehen, zu einer erstaunlichen Bilderflut zusammen. Verbindungen der großen Staatsaktionen zum religiösen Theater, den Passionsspielen/Mysterien, dürften dafür eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben. Den Prinzen als von Gott Auserwählten ausstellend, manifestierten die Einzüge Charles VIII die gleichsam naturgegebene Verknüpfung von Religion und Macht. Ein lebendes Bild während des Einzugs in Rouen 1485 zeigte den alten König David, der Salomon zu seinem Nachfolger bestimmt; er ordnet an, dass man seinen Sohn salbe. Auf einer Plattform ausgeführt, hieß es »Salbung des Königs«, wohl unmissverständlich behauptend, Charles sei Abkömmling des biblischen David. Die westafrikanischen Griots im Dienst Adliger und Könige waren alles zugleich: musikalisch-theatrale Hofkünstler und Chefideologen, Historiker von Königreichen und damit ihnen nachfolgender Staats-/ Gesellschaftsgefüge, und oft wichtigste Politiker-Diplomaten ihrer Herren. Besonders in ihren musikalisch rhythmisierten Darstellungen des Soundjata-Epos bekräftigte sich nicht nur die Rechtmäßigkeit der Reiche und Kleinstaaten, die sich mehrmals nach/aus dem alten, von Soundjata gegründeten Mali-Imperium des 13./14. Jahrhunderts bildeten. Die besungene Geschichte war für ihre Zuschauer/Hörer Realisierung einer immer gegenwärtigen Wahrheit oder »wirklichen Wirklichkeit«. In den Griot-Körpern markierte sich das In-Einander-Fließen der verschiedensten Lebensäußerungen, das für die Realisierung ihrer »vormodernen« Gesellschaften insgesamt galt, nicht unähnlich den Theaterstaaten Balis des 19. Jahrhunderts. Balinesische Politik wäre wie jede andere, unsere eingeschlossen, symbolische Aktion, so Geertz in seinem Negara-Buch. Das heiße nicht, sie wäre nur »im Geiste« oder sie bestünde »ganz und gar aus Tänzen«. Die Aspekte dieser Politik wie exemplarisches Zeremoniell, Hierarchie, die Aus(1484-1486)«, in: Jean Jac quot/Elie Konigson (Hg.): Les Fêtes de la Renaissance, Bd. III, Paris 1975, S. 56-62.
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stellung entsprechenden Wettbewerbs und ikonisch demonstrierte Verwandtschaft hätten eine Realität konfiguriert, so dicht und unmittelbar wie die Insel selbst. Die Männer […] die ihren Weg durch diese Realität machten – indem sie Paläste bauten, Verträge entwarfen, Mieten eintrieben, Handel machten […] Feste gaben und Götter imaginierten – verfolgten ihre Ziele, die sie konzipierten, mit den Mitteln, die sie hatten.
Die Dramen des Theater-Staats, mimetisch in sich selber, waren weder Illusionen noch Lügen, weder Tricks noch ein Als-ob (makebelieve). »Sie waren das, was da war.«2 So waren auch die Königseinzüge nur ein charakteristisches Moment der »Wirklichkeit« mittelalterlicher Öffentlichkeiten: »Das Schloß, die Kirche, die Stadt sind theatrale Dekorationen«, verallgemeinerte Le Goff 1964. »Es ist symptomatisch, dass das Mittelalter keinen besonderen Ort für das Theater kennt. Dort, wo es ein Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gibt, improvisieren sich die Szenen und Darstellungen. Die ganze mittelalterliche Gesellschaft spielt sich selbst.«3 Sprung zu der Zeit, in der unser Heute anhub, zu den großen Weltausstellungen, den Warenhäusern und der »Ästhetisierung« europäischer Realitäten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Hobsbawm in seiner Kultur- und Sozialgeschichte der Blütezeit des Kapitals: Hätte Europa noch im Zeitalter der Barockfürsten gelebt, so wären jetzt prunkvolle Maskenspiele, Festzüge und Opern an der Tagesordnung gewesen, in denen sich allegorische Darstellungen des wirtschaftlichen Triumphs und des industriellen Fortschritts zu Füßen ihrer Beherrscher drapierten. Tatsächlich hatte die triumphierende Welt des Kapitalismus ihr Gegenstück dazu. Den Auftakt zur Ära des weltweiten Sieges und zugleich deren Zäsuren bildeten […] die großen Weltausstellungen, die die wachsende Zahl und
2 | Clifford Geertz: Negara. The Theatre State in Nineteenth Century Bali, Princeton 1980, S. 136, 123f. 3 | Jacques Le Goff: La Civilisation de L’Occident Médiéval, Paris 1964, S. 444.
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Mannig fal tigkeit der Industrieprodukte zur Schau stellten, einheimische und ausländische Besucher in astro nomischen Mengen anlockten. 4
Und: Das Warenhaus, der Pariser Bon Marché 1869 wohl sein erstes großes Modell, erschien Zola als »Cathédrale du commerce moderne«. Frauen würden in die Warenhäuser gehen, wie sie in die Kirche zu gehen pflegten, »in einen Ort des Enthusiasmus, wo sie kämpfen zwischen ihrer Leidenschaft für Kleider und der Sparsamkeit ihrer Ehemänner«, ein »Lebensdrama mit dem Diesseits der Schönheit«.5 Die Waren-Ausstellung und die perspektivenwechselnde Wahrnehmung ihrer schaulustigen, genusssuchenden Besucher/Käufer drängten geradezu den Vergleich mit dem Theater auf. Der Bon Marché, so Miller in seinem Buch über bürgerliche Kultur und Warenhaus, sei sehr »ähnlich dem Theater, dessen Bild der Bon Marché immer bereitwillig annahm«. Künstlerische Phantasie/Kreativität beflügelte und potenzierte nicht nur die Warenzirkulation. Sie dürfte für die Wirksamkeit des sehr handfesten Kampfes der Suffragetten um das allgemeine Frauenwahlrecht mitentscheidend gewesen sein. Erstaunlich der Reichtum der bewegten Bilder, die sie von sich entwarfen, die Vielseitigkeit der Spektakel, mit denen sie die britische Öffentlichkeit behandelten, bis hin zur Einbindung von Gewaltakten in ihre theatralen Praktiken wie das organisierte Bewerfen der Polizei mit Steinen. Als man die ersten zwei Steinewerferinnen aus dem Gefängnis entließ, wurden sie in einem Festzug begeistert geehrt. Die Entlassenen stellten sich groß in einer Kutsche aus, in einem Arm Blumen haltend, mit der anderen erhobenen Hand demonstrativ Steine hochreckend. Während anderer Demonstrationen stellten ehemals verhaftete Frauen ihr Märtyrertum und die Demütigungspolitik des repressiven Staats in Gefängniskleidern dar. Gegen das in der männerbestimmten Öffentlichkeit vorherrschende Bild von der unfemininen, hässlichen Wahlrechtskämpferin betonten sie ihre Weiblichkeit, kleideten sich besonders modisch, postierten gut aussehende Frauen gezielt für Fotografen und Zeitungsberichterstatter in die ersten Reihen ihrer Versammlungen. Ab 1911 ging die Bewegung zu hochsymbolischen 4 | Eric J. Hobsbawm: Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1845-1875, Frankfurt a.M. 1980, S. 49. 5 | Michael B. Miller: The Bon Marché. Bourgeois Culture and the Department Store 1869-1920, Princeton 1981, S. 177.
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Gewaltakten über. Angriffsziele waren Räume der politischen Macht und der männlichen Öffentlichkeit, auch Privathäuser prominenter Politiker. Während sie Ende 1911 eine Demonstration durchführten, bei der die Polizei über 200 Teilnehmerinnen verhaftete, schlug eine andere kleine Gruppe mit Hämmern und Steinen systematisch Fenster von Regierungs- und bekannten Geschäftsgebäuden ein. Oder: In ihrer guten Mittelschicht-Kleidung unauffällig, gingen im März 1912 über 100 Suffragetten einzeln verteilt durch die vornehmen Geschäftsstraßen und zertrümmerten dann systematisch Scheiben. 1913 hinterließen sie ein Schreiben, in dem es hieß: »Remember, no property will be safe until women are franchised. We are deadly earnest now. […]«6 Schließlich schossen mit der Durchsetzung dessen, was unter Lifestyle firmiert, künstlerische Raffinesse und hartes, profitabel phantasiereiches Geschäftemachen zusammen. Der GeschäftsmannKünstler Paul Poiret war wohl nicht nur der Erfinder der modernen Modenschau, des »Kleidertheaters«, wie es ein Feuilleton 1913 nannte. Er war zugleich der erste große allseitig modeschöpfende Industrielle, der nicht nur die Reichen des Vorkriegseuropas kostümierte, sondern für sie auch das ganze Spektrum ihres hochästhetischen Lebensstils produzierte, vom Parfum bis zu den vielfältigen Accessoires. Sein Kleidertheater zog von Paris über Wien, Budapest, Berlin bis nach Amerika – Interart – und er selbst schuf aufwendige Bühnenbilder und Kostüme für jene Pariser Theater der Vorkriegszeit, deren Struktur-Modell die englische Music Hall war. Interart. Die, übrigens, hatte schon lange vorweggenommen, wiederum Interart, was der Paradigmenwechsel der Hochkunst seit der Jahrhundertwende demonstrierte – das bewusst unbedenkliche Zusammen-Machen der so lange getrennten Künste. Auffällige Markierungen: 1912 Kandinskys Der Gelbe Klang, ab 1910 die Performances, die die Literatur und bildende Kunst der Futuristen theatral realisierten, die das AbstraktGeschriebene versinnlichten und das gleichsam Statische der Leinwandmalerei und der Skulpturgestalten visualisiert mobilisierten. Ersteres vielleicht nicht ohne – Interart – Ein-Wirkung des Letzteren: Futuristische Kunde war wohl bald, siehe Waldens Der Sturm, nach Deutschland gelangt. 6 | Zitiert in: Jana Günther: Die politische Inszenierung der Suffragetten in Großbritannien. Formen des Protests, der Gewalt und symbolischen Politik einer Frauenbewegung, Freiburg 2006, S. 54.
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Zusammengefasst: Das, was heute, dem Flyertext der Vorlesungsreihe gemäß, als anscheinend Neues zum analytischen Bedenken drängt, steht struktural und funktional in einem diskreten historischen Liniengeflecht, das, sehr weitgespannt, international, in fern Vergangenes reicht. Die Suffragetten haben, so Leslie Hill 1999, die Performance Art erfunden.7 Aber das taten wohl, zumindest schon, die englischen Plebejer des 18. Jahrhunderts, zu deren Anti-Theater das Abfackeln von Häusern ihrer Aristokraten-Herrscher und deren Justizbeamten gehörte, inszenatorisch abgemessen, bewusst ohne tödliche Übergriffe, eine symbolische Aktion gegen das Sachliche, das »Institutionelle«, in meiner Deutung gegen die soziopolitischen Verhältnisse, in denen sie lebten. Schlingensief-Aktionen im fernen 18. Jahrhundert? Nur nebenbei: Die Dinge so sehend, erscheint es verwunderlich, wenn in letzter Zeit, von einem je Auffälligen bedrängt, schnellschüssig gefolgert wird, wir stünden einem absolut Neuen gegenüber, das ganz neue Forschungsperspektiven, neue »turns« erzwinge. Warum bedarf es einer besonderen Wende zum »Bildhaften«/»pictorial oder visual turn«, einer neuen Bildwissenschaft (Visual Studies/Visual Culture), um die enorme sozialkulturelle und politische Rolle/Bedeutung des Bildlichen/des Visuellen zu fassen? Historische Einlassungen verschiedener »Fächer« haben schon lange ein umfassendes Archiv geschaffen, in/mit dem sich die massiv prägende Kraft des Visuellen in den Geschichten fast aller Gesellschaften als ein typologisch-historisch Übergreifendes ausgiebig lesen/verstehen lassen dürfte. Oder: Dem historisierenden Blick, nur flüchtig von Brecht und Plessner zu Marx schweifend, war die in den 1980ern »postmoderne« Entdeckung der sozialen Konstruktion, daher der je historisch-kontextuell sich ändernden Formung der Individualität und damit des Individuums nur eine alte Einsicht in neuartiger Fassung. Zum Beispiel 1926 Brechts Mann ist Mann und sein Kommentar im Gespräch mit Guillemin: »Ich bin für das epische Theater! […] Das kontinuierliche Ich ist eine Mythe. Der Mensch ist ein immerwäh-
7 | Katherine Cockin: »Citizenship, Art and Theatre in the British Women’s Suffrage Movement«, in: Citizen Artist. Theatre, Culture & Community. Book of Abstracts. FIRT/IFTR 2005 Conference, June 26-July 2, Department of Theatre, University of Maryland, S. 50.
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rend zerfallendes und neu sich bildendes Atom.«8 Das Sehen auf Altes, die historisierende Herangehensweise also als Unterpfand, ein heute bedrängend Neues möglichst genau zu fassen. Allerdings: Scheint ein/das heute Aufstörend-Neue/s (nur) ein eigenartiges Glied diskontinuierlicher historischer Linien zu sein, gleichsam gewachsen aus/in der Geschichte, wäre diese Eigenart intensiv und umfassend zu hinterfragen. Daher auch, und vielleicht vor allem, die Sicht auf die Brüche, die Differenzen der Phänomene, in der alle Geschichten verlaufen. So wie, nur ein jüngeres Beispiel, Lev Manovich die ästhetischen/künstlerischen Möglichkeiten des Rechners und des von/ mit ihm scheinbar ins Grenzenlose führenden Internets diskutierte. Indem er die Geburtslinie des Neuen aus der Geschichte des Kinematographischen im 19./20. Jahrhundert analysiert, löst er solche Entdeckungs-Mythen auf, wie dass das Digitale und das Interaktive das absolut Neuartige des neuen Mediums ausmachten. Auch die Datenbanken und der navigierbare Raum (navigable space) als die, nach ihm, Schlüsselformen des neuen Mediums sieht er in einer diskontinuierlichen Linie. Vertows »Mann mit der Kamera« sei der halbe Weg vom Flaneur des 19. Jahrhunderts zu Gibsons »data cowboy«, der sich mit »data-mining«-Algorithmen durch reine Daten zoomt.9 Und: Der Bildschirm/screen als das Interface definiere immer noch das Verhältnis von Körper und Wahrgenommenen wie in der alten Malerei, den Dioramas, im Film: »Interaktivität, Simulation und Telepräsenz: Wie vor Jahrhunderten schauen wir immer noch auf eine flache, rechteckige Oberfläche, die im Raum unseres Körpers und Handelns als Fenster in einen anderen Raum existiert.«10 Manovich, auch praktizierender Künstler, konzentrierte sich auf Formen, auf Strukturales. Nur jeweils kurz verwies er, allerdings hochinteressant, auf übergreifende ökonomisch-technologische und kulturelle Kontexte, auf Triebkräfte, die im Zusammenhang mit der Herausbildung des Kinematographischen und des Rechners stehen/ standen. 8 | Bertolt Brecht: Schriften zum Theater, Bd. II, Berlin/Weimar 1964, S. 289f. 9 | Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge/London 2001, S. 275. 10 | Ebd., S. 115: »Interactivity, simulation, and telepresence: As was the case centuries ago, we are still looking at a flat, rectangular surface, existing in the space of our body and acting as a window into another space.«
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Ich würde das anders akzentuieren. Zugespitzt formuliert: Es gilt, vor allem das Verhältnis zwischen Darstellungsweisen/Formungen und ihren gesellschaftlichen Bedingungen und die Triebkräfte von Veränderungen, nicht zuletzt kommunikative, zu befragen. Es wäre kritisch zu beleuchten, was die verschiedenartigen Gestalten und Praktiken des Künstlerisch-Ästhetischen für ihre jeweiligen historischen Kontexte bedeuten, wie sie in diesen wirken/was sie (mental/ intellektuell-emotional) bewirken (können). Historische Brüche der »langen Dauer« gerade in den je bestimmenden Kommunikationsweisen sind relativ leicht einsehbar, ein nicht unwichtiger Ausgangspunkt für das kritische Behandeln dessen, was heute irritieren (mag). Wenn auch die gesellschaftlichen Rahmenverhältnisse unseres Mittelalters, der oralen Kulturen des alten Westafrika und der Negara-Theaterstaaten sehr unterschiedlich waren/sind, vollzog sich in allen die »ästhetisch-künstlerische« Durchsetzung ihrer Realitäten entscheidend in der unmittelbaren, daher je lokal begrenzten Begegnung der Körper. Das Geschriebene, die hohe Manuskriptkultur im mittelalterlichen Europa wie im Bali des 19. Jahrhunderts blieb als Wirk-/Vermittlungsfaktor marginal. Im Europa des 19. Jahrhundert eine wesentlich andere Situation. Die Weltausstellungen waren gleichsam Ergebnisse der technologischen Kommunikationsrevolution, der Eisenbahn, der Telegraphie und des Zeitungs-Rotationsdrucks seit der Jahrhundertmitte. Die Eisenbahn schaffte die Millionen Besucher heran, ohne die das Crystall-PalaceUnternehmen gar nicht möglich geworden wäre, und nur die Raumund Zeit-Distanzen »vernichtende« Zeitungs-/Telegraphenberichterstattung machte die Ausstellungen zum jeweiligen »Welt«-Ereignis. Ähnliches gilt für die Warenästhetik der Kaufhäuser und/oder Paul Poirets Modekünstler-Geschäft. Die Kataloge, die Bon Marché herausgab, die illustrierten Karten und Almanache seiner Angebote waren für das Warenhausunternehmen wesentlich. Sie könnten, vielleicht, mehr als alles andere ein lebendiges Bild französischer Bürgerkultur geben. Durch das Gedruckte könnten wir zu verstehen beginnen, so Miller, was es heißt, wenn wir uns auf die Respektabilität oder die Solidität oder die Zuversicht/Sicherheit (certainty) des bürgerlichen Vorkriegslebens beziehen. Sie stellten die Details eines richtigen Bürgerhaushaltes dar, die Reichhaltigkeit der Sammlungen und Ausschmückungen, die Solidität der Kommoden, die Bettwäsche, die für eine bürgerliche Lebensweise absolut notwendig war so wie Vorhän-
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ge an den Fenstern, Tischtücher auf den Esstischen. Das Esszimmer allein ein bürgerliches Requisit.11 Allerdings: Das Gedruckte ist die Abstraktion, von der die Imagination sich Bilder des »Wirklichen« machen muss. Obwohl bald illustriert, dann bestückt mit den gestellten Fotobildern, ermöglichte seine Wahrnehmung nicht die Erfahrung der »vollen, audiovisuellen Sinnlichkeit« der (inszenierten) Wirklichkeiten. Diese, gleichsam das »Eigentliche«, war nur in der körperlichen Begegnung mit den Veranstaltungen/den »Performances« zu erleben. Die breite nationale wie internationale Öffentlichkeit etwa der Pariser Weltaustellung 1900 stellte sich nur im Gedruckten her; nur so war sie für eine Nachwelt zu archivieren. Zum Beispiel das »Erlebnis« der »Völkerschau« und ihrer Warenästhetik. Richtlinie sei die Suche nach dem Erfolg, kommentierte ironisch ein Besuchs-Teilnehmer, nach Show, nach allem, was amüsiert und unterhält. Warum werde das verhungernde Indien in gut gekleideten, gut genährten Indern verkörpert? Weil Hungersnot keine Ausstellungsattraktion ist. Und warum empfiehlt Andalusien, ausstaffiert wie zu Zeiten der Mauren, Schokolade von Menier? Weil die authentischen Mauren und das authentische Andalusien sich nicht für Werbung eignen. Ohne Werbung gebe es keine Ausstellung und werde es nie eine geben. Hinter dem »ornamentalen Delirium«, hinter seiner scheinbar verrückten Unordnung läge ein strikt logisches Ordnungsprinzip, nämlich die Unterwerfung der Wahrheit, des Geschmacks und jedweder Ansichten unter die Ziele des Geschäfts.12 Erst der Film ermöglichte, über die schnelle Verbreitung seiner bewegten Bilder, gar der tönend bewegten, eine »volle Sinnnlichkeit« von Realitäten wahrzunehmen und so zu »erleben«, ohne bei ihren Geschehnissen »wirklich«, genauer körperlich unmittelbar zugegen zu sein. Er stillte, zunächst, den kinematographischen Drang nach Bewegung und dem vollen Illusionismus in der Wirklichkeitswahrnehmung, der sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in Dioramas, Panoramas und der Photograpie entfaltet hatte.
11 | Michael B. Miller: Bon Marché, S. 179-181. 12 | Rosalind H. Williams: Dream Worlds. Mass Consumption in Late Nineteenth-Century France, Berkeley 1982, S. 64, 63. Vgl. Thomas Kuchenbuch: Die Welt um 1900. Unterhaltungen und Technikkultur, Stuttgart/Weimar 1992, Teil II: Die Weltausstellung von 1900.
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Doch erst die elektronische Revolution, zunächst und immer noch vor allem mit dem Fernsehen, machte das gleichsam »filmische« MitDabei-Sein bei räumlich kontinentalentfernten Geschehnissen, bei dessen Illusionismus zu einer Alltagstätigkeit. 1974 diagnostizierte Raymond Williams, das gesellschaftliche Leben sei bis in den Alltag hinein dramatisiert. Theater und Drama seien heute nicht mehr bedeutungsgleich. Jetzt fänden die meisten dramatischen Darstellungen in den Film- und Fernsehstudios statt. Das Drama habe sich, allein auf das Fernsehen bezogen, in einer ganz neuartigen Weise ins Alltagsleben eingefügt.13 Man wäre seinem Fluss von Bildern »ununterbrochener Repräsentationen« sehr neuartig ausgesetzt und bedürfe so seiner. Ein sehr zurückhaltender Kommentar. Denn: Ohne sich zu ihnen zu begeben, rund um die Uhr in der eigenen Behausung, bis in den Schlaf/die Schlafzimmer verfolgt der »völlige Illusionismus« des Fernseh-Realen das Individuum, TV-Reality ein symptomatischer »Höhepunkt«. Adorno 1963: Fernsehen bewirke traumlosen Traum; es mindere fürs Bewusstsein die Grenze zwischen Realität und Gebilde herab. Das Gebilde werde für ein Stück Realität, eine Art Wohnungszubehör genommen, das man sich mit dem Apparat gekauft hat.14 Und 1980 Georges Balandier in seinem Geschichtsabriss zu Le Pouvoir sur scènes: Es sei angebracht zu wiederholen, dass das ganze politische Universum eine Bühne ist, oder allgemeiner ein dramatischer Ort, wo Effekte produziert werden. Was sich seit einigen Jahrzehnten aber merklich geändert habe, seien die Techniken, die für diesen Zweck zur Verfügung stehen, und deren Gebrauch. In der Medien-Gesellschaft nähre sich das politische Unternehmen vom Ereignis (l’événement). Dieses sei der Motor der Dramatisierungen, die sie konstituieren und aufrechterhalten. In den vorangegangenen Gesellschaften war es umgekehrt: Die Macht dramatisierte die lange Dauer, das Bewahren der Tradition.15
13 | Raymond Williams: Drama in a Dramatised Society. Inaugural Lecture, University of Cambridge, 29.10.1974, abgedruckt in: Alan O’Connor (Hg.): Raymond Williams on Television. Selective Writings, London/New York 1989, S. 3, 4. 14 | Theodor W. Adorno: »Prolog zum Fernsehen«, in: ders.: Eingriffe, Frankfurt a.M. 1963, S. 73. 15 | Georges Balandier: Les Pouvoir sur scènes, Paris 1980, S. 151ff.
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Die wendigen Griots kehren wieder als heutige Alleskönner, die allen möglichen Tätigkeiten ästhetisch faszinierende Oberflächen verpassen, von Hollywood-Blockbustern und dem Videospielgeschäft über die Life-Style-Lebenswelt bis zu »realen Kriegen« – Wag the Dog! 2004 überlegte Arundathi Roy, dass die Nachrichtenredaktionen der Medien bald die Maske fallen lassen und Theaterregisseure anstelle von Journalisten engagieren würden. Während Amerikas Showbusiness immer gewalttätiger und kriegsähnlicher und Amerikas Kriege immer mehr zu einem Showbusiness werden, mehrt sich das Überkreuzen. Der Designer, der für 250.000 Dollar das set, also die Zimmerflucht oder auch das Bühnenbild, in Katar baute, von dem aus General Tommy Franks die »stage managed coverage of operation Shock and Awe«, also die Berichterstattung der Irak-Invasion inszenierte, dieser Designer baute auch die sets für Disney, MGM und Good Morning America.16 In diesem Kontext erscheint Stockhausens »größtes Kunstwerk aller Zeiten« gar nicht so provokant. Vergleichbares/Ähnliches haben heutige Griots, um das Bild nochmals heranzuziehen, davor und danach mehrfach inszeniert – ich denke an den ersten FernsehGolfkrieg 1991 und an die deutschen Fernsehrealitäten des Vorspiels zur und dann während der Nato-Bombardierung Restjugoslawiens 1999.17 Eindrucksstark auch 2003 das vielleicht schon vergessene »Weltereignis« vor der UNO – Powells Produktion eines Irak, dessen Massenvernichtungswaffen Blairs Britannien in einer halben Stunde erreichen konnten. Und ein paar Wochen später dann die machtvolle CNN-Inszenierung der Invasion Iraks für das nordamerikanische Publikum. Wichtiger als die pauschale Einsicht in das Künstlerisch-Ästhetische solcher Geschehnisse dürfte das Be-Denken der Interessen sein, die sie bedienen. Etwa Baudrillards Überlegungen zum Attentat vom 11. September: Das System, unser westliches, habe die objektiven Bedingungen für das brutale Zurückschlagen geschaffen. Wenn keine Alternative des Denkens erlaubt sei, was bleibe anders übrig als ein 16 | Arundhati Roy: An Ordinary Person’s Guide to Empire, Cambridge 2004, S. 56-58. 17 | Siehe Joachim Fiebach: »Theater und Audiovisuelle Medien«, in: Theater der Zeit 1999/3 (1999); Joachim Fiebach: »Vorbemerkung«, in: ders. (Hg.): Theater der Welt, Theater der Zeit: Theater der Welt 1999 in Berlin, Berlin 1999.
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terroristischer situativer Transfer (situational transfer)? Die Selbstmörder verwandelten ihren eigenen Tod in eine absolute Waffe gegen ein System, das auf der Basis des Ausschlusses des Todes operiert, ein System, dessen Ideal ein Ideal von Zero Deaths ist. Es sei unser Theatre of Cruelty, das blendende (dazzling) Mikromodell eines Kerns von realer Gewalt mit dem Maximum an Echo, daher die reinste Form des Spektakels. Und zugleich ein Opfermodell als die reinste Form des symbolischen Sich-Widersetzens (symbolic defiance) gegen die historische und politische Ordnung.18 Und Slavoj Žižek fügte hinzu: Tote wurden kaum gezeigt. Selbst die schreckliche Verwüstung zwang nicht, die panische Furcht vor dem Tod zu überwinden. Konkreter wohl die Todverdrängung, die westliche Kulturen immer mehr beherrscht. Der Boom der Verjüngungschirurgie sei ein eher unwichtiges Zeichen. Tod, grausames Sterben gehören nicht in diese unsere Welt; sie geschehen in den anderen, da draußen. Das mediatisierte »Ereignis« setze die »Entrealisierung« (derealization) des Schreckens (horrors) fort, die in der ganzen amerikanischen (Hollywood)-Gesellschaft zu beobachten sei. Während man die Zahl der Opfer, 3.000, endlos wiederholte, war Žižek überrascht, wie wenig wir von der tatsächlichen Schlächterei (carnage) sehen – keine zerstückelten Körper, kein Blut, keine verzweifelten Gesichter Sterbender […] im deutlichen Kontrast zu Berichten über Katastrophen der Dritten Welt, wo es gerade um die Anhäufung schrecklicher Details geht: Somalis, die Hungers sterben, vergewaltigte bosnische Frauen, Männer mit durchgeschnittenen Kehlen […] Ist das nicht noch ein weiterer Beweis, wie, selbst in diesem tragischen Augenblick, die Distanz, die Uns von Denen trennt, aufrechterhalten wird: der wirkliche Schrecken geschieht dort, nicht hier?19
Die künstlerische Besetzung/Gestaltung (fast) aller Lebensbereiche ist heute wohl nicht in erster Linie die kreative Aktion des Einzelnen. Der ist eingebunden in Großinstitutionen/-industrien. So im Institute for Creative Technologies, 1996 assoziiert der University of Southern California und finanziell vom amerikanischen Militär unterstützt. Es geht um »technologies of the digital spectacular«. Seine Mission ist es, 18 | Jean Baudrillard: The Spirit of Terrorism, London 2002, S. 9, 16, 30. 19 | Slavoj Žižek: Welcome to the Desert of the Real. Five Essays on September 11 and Related Dates, London/New York 2002, S. 13.
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so seine Homepage, eine Partnerschaft zwischen der Unterhaltungsindustrie, der Armee und Akademien zu schaffen, mit dem Ziel, synthetische Erfahrungen zu kreieren, die so überwältigend sind, dass Teilnehmer reagieren, als ob sie real wären. Das Ergebnis seien neue, einnehmende, immersive, daher alles/alle völlig umschließende, einsaugende Technologien (engaging, new, immersive technologies), und zwar für Lern- und Trainingszwecke und für »operational environments«.20 Das »Hollywood management« des Instituts schließe, so der kanadische Medienforscher Jonathan Burston, frühere leitende Manager von der Fernsehkette NBC, von Paramount und Disney ein. In der »pipeline« seien kommerzielle Videospiele wie »C-Force, Full Spectrum Warrior«. Aber: »Immersive environments« werden ausschließlich für das Militär entwickelt, mit den »monstrous moral implications«, wie sie diese Art des »virtual war« haben. Virtualität vernichte die Distanz zwischen Fakt und Fiktion. Auf dem Schlachtfeld sei der feindliche Soldat nur noch zu einem Avatar in einem Videospiel geworden, den wir mit größerer psychischer Leichtigkeit auslöschen dürfen, als wir das mit seinem »carbon-based ancestor« können. Das sei das Verschwinden des Krieges, wie wir ihn (bisher) kennen. An seiner Stelle würden neue Kriege ausgefochten in derselben Art und Weise, wie sie in den militärischen Simulationen und den öffentlichen Verschleierungen (dissimulations) durch die Live-Nahrung des Fernsehens dargestellt werden.21 Es dürften wohl nicht die Inszenierungen des Politischen sein, die den Alltag der Massen vor allem, bis in die Schlafraumzeit, bestimmen/ausmachen. Eher ist es die gleißende, alles ein- und vereinnehmende, einsaugende (immersive) künstlerisch-ästhetisch besetzte Warenzirkulation. Wohl übertrieben meint Don Slater, in der »modernen Welt« seien »core social practices and cultural values, ideas, aspirations and identities« eher definiert und orientiert im Verhältnis zum Konsum als zu anderen gesellschaftlichen Dimensionen wie
20 | Nachzulesen unter: http:/ict.usc.edu (Stand: 10.08.2007). 21 | Jonathan Burston: Hard Power, Soft Power: Useful Terms When Thinking About Human Security and Culture?, in: Unveröffentlicher Entwurf der Forschungsgruppe »Culture and Human Security«, Toronto 2006, S. 8.
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zum Beispiel der Arbeit.22 Jedoch die enorme Rolle/Wirksamkeit des Konsums oder anders der Warenzirkulation ist unübersehbar. Das elektronische Bombardement hat heute auch die Wohnräume zu Zolas Konsum-Kathedralen gemacht. Grenzen zwischen der elektronischen und nicht-medialen Konsum-Bilderwelt verfließen. Sie besetzt fast die ganze Lebenswelt, bis zu besonders hergerichteten Bahnhöfen und Flughäfen. All solche Räume, wohl genauer Raumzeiten, haben, so Aldo Legnaro und Almut Birenheide, theatralische, filmische Qualitäten, indem sie hergebrachte soziale Tätigkeiten inszenatorisch überbauen und ihnen verleihen wollen, was ihnen offenbar alltäglich fehlt, eine reflexive und zugleich erhebend konstruierte Sozialität, die sich nicht damit begnügen kann, ›Besorgungen zu machen‹, sondern ›shopping‹ zur Lebensart erhebt […]. 23
Zugleich wirken Kaufzentren/Shopping-Malls wie ein »big three-dimensional walk-in TV commercial«.24 Diese Dichte, daher die Intensität, in der diese Warenzirkulation das Individuum bedrängt, besetzt – kolonialisiert? –, ist enorm, wohl das historisch (absolut) Neue. Wohin man sich wendet, wo man ist, da ist die Konsum-Bilderwelt. Ihre totalisierende – totalitäre? – Saugkraft (»Immersion«) oder auch ihr »absoluter Illusionismus« bindet die Individuen in die Art von Freiheit ein, die sie offeriert und zum Erwerb stellt. Für viele, sehr viele macht sie, wie Legnaro/ Birenheide für die nicht-mediatisierten Stätten der Moderne formulierten, »denkbare andere Arten der Freiheit obsolet«. Die Öffentlichkeiten der alten Griot-Gesellschaften waren auch, vergleichbar der unseren, »ästhetisiert/symbolisch überhöht«, nicht 22 | Zitiert in: Harald Gruendl: EOOS: The Death of Fashion, Wien 2007, S. 20. Don Slater: Consumer Culture and Modernity, Cambridge 2003, S. 24. Don Slater definiert consumer culture: »The notion of ›consumer culture‹ implies that, in the modern world, core social practices and cultural values, ideas, aspirations and identities are defined and oriented in relation to consumption rather than to other social dimensions such as work or citizenship, religious cosmology or military role.« (Ebd.) 23 | Aldo Legnaro/Almut Birenheide: Stätten der späten Moderne. Reiseführer durch Bahnhöfe, shopping malls, Disneyland, Paris, Wiesbaden 2005, S. 18. 24 | Ebd., S. 108.
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aber ihre abgeschiedenen Wohn-/Schlafstätten. So wenig wie die in Europa bis zum 20. Jahrhundert. Interessant Planchons Inszenierung von Molieres Tartuffe in den frühen 1970ern: Im Haus des Orgon gab man sich schmucklos, einfach, gleichsam »nackt« in billigen Gewändern, betont anders als in der durchinszenierten Öffentlichkeit der Epoche Ludwig XIV, wie sie erst jüngst Peter Burke und Doris Kolesch zeichneten.25 Oder auch anders als in der von Sennett beschriebenen aristokratisch-großbürgerlichen Pariser Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts. Erfahrungen solcher unterschiedlicher Raumzeiten boten, vielleicht, bessere Möglichkeiten, Distanz zur Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu gewinnen, sie und das eigene Verhalten nüchterner, auch, vielleicht, ironisch zu nehmen. Aufschlussreich, vielleicht, das unterschiedliche Verhalten zu unterschiedlichen Inszenierungen in alten Griot-Kulturen. Zu den Darstellungen des Soundjata-Epos, noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in Gambia praktiziert, bemerkte Gordon Innes: Das Benehmen des Publikums, das einem Griot das Sunjata-Epos erzählen hört, ist verschieden von einem Publikum der (nur! J. F.) fiktiven Geschichten. Im letzteren Fall feuern Mitglieder des Publikums immer wieder den Erzähler zum Weitermachen an. Ein erfahrener Geschich tenerzähler hat gewöhnlich einen Freund im Publikum, der nach beinahe jedem Satz ›Namu‹ ausruft oder irgendeinen anderen Ausdruck der Bestätigung und Unterstützung. Und das ganze Publikum singt natür lich die Refrains mit, die in vielen Geschichten eine Rolle spielen. Im Gegen satz dazu hört ein Publikum, das einer historischen Narration (Sunjata, J. F.) beiwohnt, schweigend zu, ohne Zwischenrufe oder irgendwelche Un terbrechungen. 26
Heute rahmen die Künstler, oft sehr kreativ, das selbst, was ihre spezifischen Tätigkeiten als »Kunst« aus der Unmenge von Wirklichkeitsinszenierungen abhebt (abheben kann/soll). Performances demonstrieren das Konstruierte ihrer Realitäts-Inszenierungen, und auch das »institutionalisierte/oder Stadt-Theater« legt meistens seine »Künst25 | Vgl. Peter Burke: The Fabrication of Louis XIV, New Haven/London 1992; Doris Kolesch: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV, Frankfurt/New York 2006. 26 | Gordon Innes (Hg.): Sunjata. Three Man dinka Versions, London 1974, S. 3, 10f.
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lichkeit« bloß, die Volksbühnen-Übungen, etwa Polleschs, nur besonders hartnäckig. Grenzüberschreitungen des »Kunsthaften« in die nicht als künstliche/künstlerische gefasste »Realität« heben, bewusst angestrebt, siehe wieder Schlingensief, an ihren Bruchstellen das Konstruieren besonders deutlich hervor. Sie sind als solche gut durchschaubar; ihre Machart wie ihre Bezüge auf andere Realitäten und damit diese selbst sind relativ leicht kritisch zu behandeln. Anders die Situation der anderen, der so entscheidenden Inszenierungsarten, der Wirklichkeitskonstruktionen da »draußen«, außerhalb des als Kunst gerahmten Feldes. Diese kommen als die »wirkliche Wirklichkeit« daher, ob als elektronisch-filmische Dokumentation des »Realen« oder in dem »völligen Illusionismus« der elektronischen und »wirklich« realen ästhetischen Konsumwelten, Ausnahmen natürlich zugestanden. Das heißt für mich: Gegenwärtig bräuchten wir uns, Kunst-/ Theaterforscher/Spezialisten der Künste etc., kaum oder vielleicht gar nicht, im Moment jedenfalls, um das ausdifferenzierte Künstlerische, um das als Kunst »Gerahmte« bekümmern, um unsere alten, gleichsam originären Gegenstände. Wohl aber um die anderen großen Bereiche, um die Inszenierungen der Konsumwelten und des Politischen, natürlich nicht nur um die medialisierten, gerade auch um die Überschwemmung der nicht-medialen Lebenswelt: ihre Kostümierungen, Drapierungen, Rauminszenierungen. Als Spezialisten für Darstellungsweisen dürfen wir diese Felder nicht den kritischen Soziologen, Anthropologen, Kulturhistorikern oder Künstlern, Schriftsteller/innen wie Arundathi Roy überlassen. Sie destillieren zwar kritisch, sehr wesentlich, Bedeutungen, Funktionspotentiale der Konstruktionen heraus, aber mustern kaum und legen so nicht umfassend genug die Techniken des Inszenierens, des Konstruierens bloß. Das Durchschaubar-, daher Bewusstmachen der Konstruktionsweisen, oder anders des Wie, mit dem sie die Individuen kolonialisieren, mit dem sie andere Arten von Freiheit obsolet machen (können) – das aber ist wohl letzten Endes entscheidend. Den Blick für dieses Wie zu schärfen, vielleicht überhaupt erst das Konstruierte als das, was es ist, wahrnehmbar/daher auff ällig zu machen, erscheint mir eine Vorbedingung, den Inszenierungen des Wirklichen gegenüber kritische Haltungen zu entwickeln, ein, vielleicht, kleiner Schritt, der Kolonialisierung entgegenzuwirken. Es gilt, kräftig »Grenzen« zu überschreiten, in provokanter Kritik, wie Schlingensief und andere in ihren Kunstpraktiken – wenn heute
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überhaupt noch etwas in diesen Feldern aufstören, verstören, provozieren kann. 1999 fragte Peter Weibel, ob es heute eine Wirklichkeit »unterhalb der medial vermittelten Öffentlichkeit« gibt, und er erinnerte an die alte Metapher von Landkarte und Land, wo die Landkarte das Land bedeckt. Seine Antwort sinngemäß: Heute bedecke die Landkarte das Land oder mache es sogar ganz aus. »In einem Prozeß gegenseitiger Anpassung und Erpressung« stellten Medien und Politik durch »gemeinsam akkordierte Beschlüsse« die Wirklichkeit her. Die Medien seien daher weltweit zu einer tendenziell antidemokratischen Kraft geworden […] Die mit dem Aufstieg des Neoliberalismus einhergehende Abwertung von Demokratie wird gerade durch die Verknüpfung von Politik und Medien ermöglicht. […] Auf Grund der Implosion von Landkarte und Land sind Medienkritik und Gesellschaftskritik nicht mehr voneinander zu trennen. 27
Ich würde Weibels Beobachtung und Schlussfolgerung für uns so umdeuten: Die künstlerisch-ästhetische Konstruktion, die inszenatorisch überhöhte (Legnaro) Besetzung der neoliberal globalisierten »Wirklichkeiten«, ob nun der politisch-systemischen oder der des konsumeristischen Alltags, betreiben maßlos die Implosion von Landkarte und Land. Sie machen so andere Arten von Wirklichkeiten, daher von anderer Freiheit (als die des global flottierenden Kapitals und des Konsumerismus) nicht nur obsolet. Es droht sogar, dass ihre Macht verunmöglicht, andere Wirklichkeiten/Freiheiten überhaupt zu denken. Daher sollte/muss Kunst-Criticism heute Gesellschaftskritik sein.
27 | Peter Weibel: »Medien und Metis«, in: Manfred Faßler (Hg.): Alle möglichen Welten. Virtuelle Realität – Wahrnehmung – Ethik der Kommunikation, München 1999, S. 118f.
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Zwischen Kunst und Spiel — Medienästhetische Betrachtungen medialisierter Umgebungen Natascha Adamowsky
Es beginnt im Hilton Hotel in Las Vegas. Man biegt um die Ecke und läuft in eine Gruppe von Klingonen, die einen freundlich zur Besichtigung des Star Trek Museums History of the Future einladen. Nachdem man an Vitrinen voller Uniformen der Sternenflotte, Modellen des WARP-Antriebs, Zeitleisten und historischen Logbüchern vorbeidefiliert ist, gelangt man am Ende der Ausstellung zu einem kleinen Fahrstuhl. Die Fahrstuhlführerin erklärt, dass sie einen in den 2. Stock zu den Space-Shuttle-Exponaten bringen könnte, und da sie guckt, als wäre dies ein ganz besonderes Highlight, betritt man mit 15 anderen Leuten die Kabine. Dann nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Statt in den 2. Stock zu fahren, explodiert der Fahrstuhl, die Lichter gehen aus, alles dröhnt und ruckelt, zischender Dampf überall. Die Fahrstuhlführerin ruft mit schreckensgeweiteten Augen, »Oh my God!« und »Please stay calm!«, und dann erscheint auf dem Monitor, auf dem eben noch der nette Security Manager zu sehen war, ein hassverzerrtes Klingonengesicht. Plötzlich öffnet sich die Tür und man wankt auf die Kommandobrücke der Enterprise – ins 23. Jahrhundert. Böse Überraschung: Seit wir da sind, ist Captain Picard verschwunden, d.h. einer von uns muss sein Urahn sein, und das haben die Klingonen natürlich gewusst, als sie diesen Zeitriss gerade produziert haben. Sehr schlechtes Timing: Wir sind mitten in voller Gefechtssituation und niemand hat Zeit, kurz zu plaudern. Rasch wird man von den Crewmitgliedern zu einem der Rettungsschiffe gescheucht, das einen wieder in die eigene Zeit zurückbringen soll. Also rennt man
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los, springt in eines der Shuttles hinein, schafft es gerade noch sich anzuschnallen und schon schießt man in das Sperrfeuer eines feindlichen Raumschlachtschiffs. Das also ist der Weltraum in Flammen. Überall sind Kampfflieger, überall Feuer, mörderischer Funkverkehr, hinter uns hat es einen erwischt, unser letzter Verteidiger ist weg und so eine Klingonenzecke sitzt am Heck und ist nicht abzuschütteln. Um es kurz zu machen: Wir erwischen noch rechtzeitig den Zeittunnel, es folgt eine Vollbremsung und dann der Absturz. Zum Schluss schnallt man sich wieder ab und wird von einer Putzfrau, die gerade die Ausstellungshalle wischt, energisch hinausbeordert. Man ist zurück, mitten in der Wüste von Nevada. Attraktionen wie die Star Trek Experience ›Klingon Encounter‹, die seit nunmehr gut zehn Jahren im Hilton Hotel in Las Vegas mit großem Erfolg angeboten wird, sind interessante Verräumlichungen einer fiktionalen Bilderwelt. Indem sie eine audiovisuelle Vorlage als multimediales Zusammenspiel in plastischen Formen entfalten, bieten sie das Erlebnis einer verdichteten intimen Wirklichkeit. Der opulente Einsatz von Sinnesattraktionen zielt auf die packende Erfahrung eines faktisch Unmöglichen, in der das Wissen von der medientechnischen Produziertheit einer Weltraumzeitreise im subjektiven Erleben vergleichgültigt wird. Wenn einem der zweite Offizier seine Hand auf die Schulter legt und mit hervorgepresstem Atem sagt: »The Klingons won’t get you!«, ist man im Zentrum des Geschehens. Als Zuschauer und Akteur zugleich scheint einem die Tatsache, dass man letztendlich nur einen massentouristischen Bild-Parcours moderner Unterhaltungsindustrie abschreitet, für den Moment eine irrelevante Außenperspektive zu sein. Sobald man seine Raumkapsel besteigt, ist man mit einer Mission unterwegs und die Erkenntnis, dass man dafür auf ein hydraulisches Hochleistungsvehikel für simulation rides zurückgreift, rein akademisch. Im Folgenden dient der Klingonen Encounter als Ausgangspunkt, um einigen aktuellen medialen Trends nachzugehen, in denen sich Kunst, Spiel, Design und Entertainmentformen zu neuen partizipatorischen Möglichkeitsräumen verschränken. Diese Verschränkungen sind primär technisch induziert und rücken die vier genannten Bereiche in ihren Produktions- wie Rezeptionsbedingungen eher zusammen, als dass sie sie trennen. Einerseits erscheint dies kontraintuitiv, da ein Ziel der vorliegenden Aufsatzsammlung ja gerade darin besteht, Konturen für eine neue kunstwissenschaftliche Theoriebil-
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dung und Ästhetik zu gewinnen. Zweifellos ist es gerade in Zeiten vielschichtiger Entgrenzungsprozesse der Künste, medialer Fluktuationen und globaler Vernetzungen wichtiger denn je, zu wissen, was, warum, wie und von wem als Kunst wahrgenommen wird, um dann darauf aufbauend für spezifische Geltungsansprüche, Sinnkonzepte und Erfahrungspotentiale der Künste in einem kapitalistischen, wissenschaftstechnisch geprägten Raum der Moderne argumentieren zu können. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die mediale Entwicklung zunehmend auf Formen der Übergänglichkeit von Bildwelt und realem Raum angelegt ist und auf die kognitiv-affirmativen Einlassungen des Publikums zielt. Wie scheinbar jedes ›brandneue‹ Phänomen hat auch dieses eine lange Vorgeschichte in Kunst und Unterhaltungskultur, man denke an einen historischen ›Klassiker‹ wie das barocke Festarrangement oder an fast vergessene Vergnügungen wie das Daumenkino oder die Geisterbahn. Im Zuge neuer und neuester Entwicklungen im Umgang mit digitaler Technologie scheint jedoch der alte Wunsch, an der Wirklichkeit der Bilder partizipieren zu können, eine neue, ganz eigene Aktualität zu gewinnen. Zumindest gibt es eine Reihe innovativer Spiel-, Kunst- und Unterhaltungsformen, deren multimediales Design sich nicht in den grenzenlosen Weiten unerschöpflicher Simulationsverläufe hinter verschlossenen Bildschirmscheiben verliert, sondern die physische Teilhabe des Publikums sucht. Sie setzen auf körperliche Präsenz, mehrdimensionale Räumlichkeit und die sinnlichen Qualitäten des Materialen – alles Begriffe, die bislang nicht auf Platz eins standen, wenn es darum ging, Schlüsselmerkmale digitaler Kultur zu beschreiben. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen wird auf der Beschreibung dieser neuen ästhetischen Situationen liegen, die mit den Begriffen medialisierte Umgebungen und mediale Praktiken beschrieben werden. Es handelt sich um ein Zusammenspiel von physisch-körperlichen mit computertechnischen Elementen zur Konstruktion affektiv aufgeladener Medienwirklichkeiten. Neue Formen der Präsentation von und Interaktion mit digital generierten Objekten und Strukturen erlauben ein multimediales Ineinandergreifen von realer und virtueller Realität, von analogen und digitalen, alten und neuen Medien.
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M EDIALE P R AK TIKEN UND MEDIALISIERTE U MGEBUNGEN Es ist ein wichtiger Zug kulturwissenschaftlichen Denkens, Medien nicht allein als Gegenstände technischer Kommunikationssysteme zu verstehen, sondern als Elemente von medialen Praktiken.1 Damit geht eine Vervielfältigung der Perspektiven einher, sind doch mediale Praktiken als politische, technische, ästhetische, künstlerische, wissenschaftliche, soziale Aktivitäten im gesamten Raum der Kultur anzutreffen. Zugleich ist so eine Verschiebung des Forschungsinteresses markiert: Nicht, was Medien sind oder wie sie in isolierten Versuchsanordnungen wirken, steht im Mittelpunkt, sondern die Frage, wie wir aus der Fülle des Geschehens heraus mit Medien agieren und beispielsweise den Grenzverkehr zwischen dem Möglichen und Realen und dem Unmöglichen, Utopischen oder auch Wunderbaren organisieren. In diesem Zusammenhang scheinen mediale Praktiken nicht nur den state of the art des zurzeit medial Machbaren auszustellen, sondern Optionen von Medialität schlechthin zu inszenieren. Die Beschreibung der medialen Konstruktion eines konkreten Beispiels verlangt gleichursprünglich nach einer Auseinandersetzung mit Grundzügen des Medialen selbst, die sich jedoch kaum vereindeutigen lassen. In dieser Hinsicht bieten sich mediale Praktiken medienepistemologischen Diskursen als mobile Beobachtungsobjekte für das Heterologische an, da sie sich theoretisch nur schwer disziplinieren bzw. einer einzigen Beschreibungslogik ausschließlich zuordnen lassen. Mit »medialisierten Umgebungen« sind multimedial konstruierte Erfahrungsräume gemeint. In ihnen geht es um das Anspielen möglichst vieler Sinne zur Vergegenwärtigung eines Abwesenden, Abstrakten oder Fiktiven, und damit insbesondere um den Prozess der Verschränkung von verschiedenen Repräsentationsebenen und ihrer Inszenierung im realen Raum. Von besonderer Bedeutung ist der Aspekt der Bewegung. Damit die Realität des Zuschauers und die inszenierte Wirklichkeit medialisierter Umgebungen in Fluss geraten, bedarf es körperlichen Engagements und dynamischer Wahrnehmungsangebote. Sobald nämlich Bilder, Texte, Töne und natürlich auch die Teilnehmenden in Bewegung sind, entstehen multidimensionale Kommunikations- und Raumstrukturen, die geschlossene 1 | Vgl. hierzu auch Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 179-202.
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oder starre Grenzführungen und Leitunterscheidungen unterlaufen. Hier zeigt sich ein Grundzug von Medialität, nämlich die Fähigkeit, die Nicht-Identität zwischen etwas und seiner Darstellung im Moment des Geschehens zu vergleichgültigen. Vor diesem Hintergrund bieten sich insbesondere zwei Perspektiven für eine Analyse und Einordnung von medialisierten Umgebungen wie der Star Trek Experience an. Die erste betrifft die Kombination von neuester digitaler Animationstechnik, geschickter Dramaturgie und dem Einsatz ganz klassischer Unterhaltungskünste wie Schauspielerei, Bühnentechnik und Fahrgeschäften. Künstlerische wie medientechnische Neuerungen werden oft so präsentiert, als würden sie alles bisher Dagewesene obsolet machen. Attraktionen wie die Star Trek Experience hingegen bieten ein exemplarisches Beispiel, wie neue Darstellungsformen alte integrieren und verändern und dabei in der Kombination über sich hinauswachsen. Auch ist der Klingonen Encounter ein Beleg, dass alle Medienverbindungen, auch wenn sie noch so revolutionär daherkommen, selbstverständlich auf einer medienhistorischen Entwicklung aufsetzen bzw. aus dieser hervorgehen. Medientechnik, Trickkombinationen und inszenatorische Raffinesse sind vermutlich so alt wie die Mediengeschichte selbst. Medialisierte Umgebungen haben dementsprechend eine lange Vorgeschichte, die sie mit der Geschichte des bewegten Bildes, der Gestaltung von Erlebnisräumen und von Angeboten für affektives wie somatisches Engagement verbindet. Eine Aufmerksamkeit für historische Medienwechsel und den Wandel der Inszenierungsformen ist daher für ihre Analyse unerlässlich. Die zweite Perspektive hängt damit zusammen, dass das StarTrek-Abenteuer eine sog. filmed attraction ist, in der avancierte Film-, Computer- und Bühnentricktechnik zum Einsatz kommen. Unbestritten ihres historischen Kontextes sind diese filmed attractions damit in ganz aktuelle Entwicklungen eingebunden: die Zukunft des Kinos, die Karriere von Computerspielen und die neuesten Trends der Unterhaltungsarchitektur. Sie illustrieren die Wanderungsbewegungen von Narrativen, visuellen Motiven, Inszenierungsstilen und Spezialeffekten in unterschiedliche Medien, Genres und Materialitäten. Die aus dieser expansiv-invasiven Dynamik resultierenden intermedialen Medienarrangements favorisieren einen engagierten Zuschauer-Spieler-Explorateur. Dieser neue Teilnehmer-Akteur ist der mobile Mittelpunkt eines polyzentrischen Raumes, der aus der ki-
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nästhetischen Verschränkung von Schauspielraum, Bühnenkulisse, Computeranimation, Filmtechnik und Maschinenfuhrpark entsteht. In diesem neuen multimedialen Raumarrangement gibt es keinen Vorhang mehr, keinen Zuschauerraum, keine Zeit für Popcorn. Eines Tages, so das Versprechen, beamen wir mit.
N E T WORK BASED PERFORMANCES Ein weiteres interessantes Beispielfeld für aktuelle Entwicklungen im Bereich der medialisierten Umgebungen sind sog. network based performances. Es geht um spielerische und künstlerisch-ästhetische Umgangsweisen mit neuer mobiler, vernetzter Computertechnologie. Eine Schlüsselstellung nimmt dabei die Entwicklung von ubiquitous computing devices ein. Damit ist die Integration kleinster, vernetzter Computerprozessoren und mikroelektronischer Sensoren in jeden Alltagsgegenstand gemeint. In sog. smart environments sollen digitale und reale Welt zu einer einzigen augmented reality verschmelzen. Anstelle eines Verlusts von Realität an die Simulationswelten des Cyberspace, wie noch vor zehn Jahren befürchtet, richtet sich nun das Virtuelle – so die Vision – in Form miniaturisierter vernetzter Computereinheiten und unsichtbarer Interfaces in unser aller Leben ein. Bislang wurde diese Entwicklung – jenseits militärischer, ökonomischer und ingenieurswissenschaftlicher Interessen – hauptsächlich unter den Aspekten von Überwachung und Datenschutz diskutiert. Jüngste Entwicklungen im Feld digitaler Kultur hingegen zeigen spielerische wie künstlerisch-ästhetische Ansätze, in denen die neue Technik Gegenstand subversiven wie affirmativen Experimentierens ist. Eine attraktive Strategie ist, im Modus des Spiels reale und virtuelle Welt miteinander zu verbinden und dabei neue Interaktionsformen und überraschende Wahrnehmungsmöglichkeiten zu schaffen. Das bevorzugte Spielfeld ist der öffentliche Stadtraum. Aus den Aktionen mehrerer Spieler, dem Einsatz smarter Technologie und einer multimedialen Spielregie entwickelt sich ein mehrdimensionaler Erlebnisraum, der neue Kommunikations- und Aneignungsformen im Schnittfeld von urbanem und technisch generiertem Raum eröffnet. Zwei der Beispiele agieren im Fahrwasser klassischer Game-Strukturen. Das eine sind die Big Games der New Yorker Spiel-Designer Frank Lantz und Kevin Slavin, das zweite ist ein Ausschnitt aus der
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Arbeit Flying Spy Potatoes der griechisch-amerikanischen Medienkünstlerin Jenny Marketou. Das dritte Beispiel schließlich bietet das mediale Arrangement eines erkenntnisoffenen Spielverlaufs, es ist die Arbeit Urban Eyes der Interactive-Designer Marcus Kirsch und Jussi Ängeslevä.
Big Games Wenn das Spieldesigner-Duo Frank Lantz und Kevin Slavin, Gründer von area/code, zumeist jugendliche Spieler mit Handys und Laptop losschickt, verwandeln sich die Straßen amerikanischer Großstädte in einen Hybridraum aus realem und virtuellem Spielfeld. Eines ihrer bekanntesten Urban Games ist das 2002 gemeinsam mit Studierenden der Universität von New York entwickelte PacManhattan: Fünf Spieler – PacMan und die ihn verfolgenden Geister Inky, Pinky, Blinky und Clyde – lieferten sich in den Straßen rund um den Washington Square Park ein Rennen. Allen voran rannte der PacMan-Spieler mit einer gelben Gummischeibe vor dem Bauch, um wie im Computer-Spiel möglichst viele virtuelle Punkte einzusammeln, ohne dabei von den Geistern erwischt zu werden. Alle fünf blieben per Handy in Kontakt mit ihren Controllern, die sie über das Spielfeld von Manhattan steuerten. Am Ende des Spiels errechnete das Programm die Punktezahl des PacMan-Spielers – falls dieser ›überlebt‹ hatte. Im selben Jahr folgte ConQwest, ein Spiel, das Lantz und Slavin mittlerweile in fünf amerikanischen Städten veranstaltet haben und das in besonderer Weise mit dem Motiv einer »Informatisierung der Dinge«2 im öffentlichen Raum spielt. Fünf Teams mit je einem mehrere Meter hohen Plastik-Totem treten gegeneinander an.3 Der urbane Raum wird durch einen speziellen Spielplan neu kartographiert und in acht durchnummerierte Zonen aufgeteilt, die jeweils ca. sechs Häuserblocks umfassen. Eine Zone wird dadurch besetzt, dass eine Mannschaft ihr Totem, ein riesiges aufgeblasenes Plastiktier, an designierten Positionen innerhalb der Zonen aufstellt, was auf einem großen Bildschirm im Zentrum des Spielfeldes verfolgt werden kann. Sogleich müssen die Spieler innerhalb ihrer Zone ausschwärmen, 2 | Vgl. Edgar Fleisch/Friedemann Mattern (Hg.): Das Internet der Dinge – Ubiquitous Computing und RFID in der Praxis, Berlin/Heidelberg/New York 2005. 3 | Vgl. www.playareacode.com/work/conqwest (Stand: 10.07.2009).
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um mit Hilfe von Photo-Handys verschlüsselte Zeichen, sog. Semacodes, zu fotografieren und so Punkte zu sammeln.4 Bei den Semacodes handelt sich meist um Aufkleber an Straßenschildern oder Häusern, gelegentlich aber auch um Aushänge in Ladenfenstern, Anzeigen in Zeitungen, Abbildungen auf großen Plakatwänden, auf Fahrzeugen oder Kleidungsstücken. Das Team mit der höchsten Punktezahl gewinnt. Es versteht sich von selbst, dass diese und andere Formen urbanen Spiels prädestinierte Untersuchungsobjekte für medialisierte Umgebungen sind, in denen ein neues Wissen über den Stadtraum und die gestalterischen Dimensionen digitaler Technik verhandelt werden. Dabei ist es zweifellos nicht neu, dass innovative Technologien, insbesondere die Computertechnik, Gegenstand von Spielleidenschaften werden. Neu sind die Dimensionen, in denen gespielt wird, sowohl was die Zahl der Spieler, als auch was die Größe und Art des Spielfeldes betrifft. Das Zusammentreffen eines multilinearen game space mit dem urbanen Raum lässt die Stadt zu einer gigantischen Bühnenlandschaft werden, zu einem ausgeklügelten Hindernisparcours und vielfältig aktivierbaren Experimentalraum. Der Umdefinition des Stadtraums zum Spielfeld haftet dabei eine Geste des leicht Anarchischen an. Die Überschreitung der Nutzungskonventionen kommt jedoch nicht als Avantgarde, sondern im Gewand einfachster und ältester Spielformen daher. Lantz und Slavin selbst erwähnen die Schnitzeljagd, Räuber und Gendarm, Live-Action-Rollenspiele, Aufführungen historischer Schlachten und Ereignisse, Paint-Ball-Spiele oder auch Parkour, die Skater-Kultur und städtische Marathonveranstaltungen. »Big games«, schreiben sie, »are games, not academic exercises, not tech demos. They are life-size collaborative hallucinations.«5 Big Games, so wäre daran anzuschließen, vermitteln dementsprechend keine Inhalte, keinen Protest, keine Lebensempfehlungen. Sie halten lediglich intensivierte kollektive Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume bereit, deren Reflektion jedem frei steht. In diesem Freiraum jedoch kann sich, aber muss nicht, eine der aufregendsten Erfahrungen ereignen, die man im Spiel machen kann: dass die Welt, für einen kurzen Moment zumindest, ver-rückt wird. 4 | Vgl. http://semacode.com/about/company.html (Stand: 20.09.2009). 5 | Zu finden unter: www.playareacode.com/manifesto.html (Stand: 10.10. 2007).
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Ä STHE TISCHE PARTIZIPATION Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass ein Erkenntnisinteresse an medialisierten Umgebungen auf die Klärung des Zusammenspiels von ästhetischer Situation, Medialität und Spiel zielt. Das Feld des Ästhetischen zeigt sich dabei als Schauplatz der Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von medialen Praktiken und Erkenntnis, von Wahrnehmungs- und Wissensprozessen.6 Es geht um die Konvergenz von kognitiven wie emotionalen Dimensionen,7 insbesondere um die Frage nach der medialen Differenzierung von Aufmerksamkeit. Diese ist nicht nur die erste Qualität des Ästhetischen, wie Hartmut Böhme schreibt, sondern zugleich ein komplexer flüssiger Prozess aus Wahrnehmungsvorgängen, somatischer Affizierung, Reflexion, Wissen, Können, Erinnern, Beobachten, Spüren, Teilhaben, Beeinflussen.8 Es versteht sich von selbst, dass rein akademischen, oder genauer gesagt, szientifischen Beschreibungen ästhetischer Prozesse aus der distanzierten Perspektive neutraler Beobachterobjektivität einiges, wenn nicht sogar die Pointe ästhetischer Erfahrung entgehen muss. Vor diesem Hintergrund wird Ästhetik als die unausgesetzte Frage nach der epistemologischen Dimension ästhetischer Partizipation deutlich.9 Diese Herausforderung lässt sich letztlich nicht begrifflich auflösen; man muss sich auf sie einlassen. Ein zentraler Impuls für die Formulierung einer kulturwissenschaftlichen Ästhetik besteht daher in der Erkundung einer ästhetischen Einstellungsweise, die erlauben würde, dem Verlauf einer intensivierten Beziehung zu den Dingen zu folgen. Es wäre ein exemplarisches, performatives Vorgehen, das sich nicht 6 | Vgl. hierzu auch Hildegard Kernmayer: »Philosophische Disziplin oder transversale Denkfigur? Theoretische Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlich verfahrenden Ästhetik«, in: Elisabeth List/Erwin Fiala (Hg.): Grundlagen der Kulturwissenschaften, Tübingen/Basel 2004, S. 163-172, hier insbesondere S. 170f. 7 | Vgl. auch Karlheinz Barck: »Ästhetik/ästhetisch«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart/Weimar 2005, Band 1, hier S. 310. 8 | Hartmut Böhme: »Einführung in die Ästhetik«, in: www.culture.hu-berlin. de/hb/static/archiv/volltexte/texte/aestheti.html (Stand: 28.01.2010). 9 | Vgl. hierzu auch Federico Celestini: »Kulturwissenschaftliche Ästhetik«, in: Fiala List (Hg.): Grundlagen der Kulturwissenschaften, S. 173-177, hier insbesondere S. 176f.
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in konventionellen propositionalen Aussagen erschöpfte, sondern jenseits bipolarer Zuordnungen nach der Mehrdeutigkeit ästhetischer Dimensionen fragen würde, die ein gegebenes Objekt eröffnet. Das folgende Beispiel soll diesen Gedankengang exemplifizieren.
Mission 21st Street Die Arbeit Mission 21st Street aus der Serie Flying Spy Potatoes von Jenny Marketou10 war ein 6-wöchiges Urban Game, das 2005 auf der 21. Straße in Chelsea, New York, gespielt wurde. Es bestand aus einer Installation von drei großen Videoscreens auf dem Fußboden der Eyebeam-Gallery und einem roten Heliumballon von 5 Fuß Durchmesser, den man für seine Mission ausleihen konnte. Es gab ein Spielbrett der 21. Straße sowie 40 Mappen, in denen jeweils eine sog. Mission Card und die Spielregeln enthalten waren. Der rote Heliumballon enthielt eine Digitalkamera, die die Aktion aus luftiger Höhe filmte. Sie war an einen Transmitter angeschlossen, der das Geschehen live auf die Videoscreens in der Galerie übertrug – eine Art Flying Cinema.11 Die Regeln waren sehr einfach. Man lieh sich den Ballon aus und musste die auf der Mission Card beschriebene Aufgabe erfüllen. Eine Mission konnte z.B. lauten: Exit Eyebeam. Cross the Street. The entrance of your destination is marked with a lamppost. Enter with caution through the plastic curtain. Team up with a cab driver to reveal the »Time Machine« hidden in »Good Year« tires. Your mission apparatus must fly at low altitudes. You have 30 minutes to complete this mission.
Jede Mission wurde nicht nur zeitgleich übertragen, sondern auch aufgezeichnet. Das Spiel war zu Ende, als alle Missionen erledigt und das Gelände der 21. Straße vollständig ›enthüllt‹ war. In 40 Missionen und ihrer ›Verfilmung‹ war eine polyperspektivische Repräsentation einer kollektiven Geographie-in-Bewegung entstanden. Markteou nennt es ein »game of flying perspectives«.
10 | Informationen unter: www.jennymarketou.com/ (Stand: 28.01.2010). 11 | So lautet auch der Titel einer anderen Arbeit von Marketou, die 2006 in Kampala, Uganda, gezeigt wurde; www.amakula.com/archive/2006/performances/flyingcinema.html (Stand: 28.01.2010).
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Neben dem Angebot in der Gallerie war vor allem das Geschehen auf der Straße zentral. Nicht nur die ›Superagenten‹, unterwegs in ihrer Mission, bestimmten das Spielgeschehen, sondern die gesamte Nachbarschaft des Chelsea-Viertels transformierte sich mit dem Flug des roten Ballons in einen ludisch motivierten Imaginationsraum. Ein wichtiger Teil des nachbarschaftlichen Engagements und damit des Spiels bestand in dem täglichen Vergnügen, den unterschiedlichsten Leuten bei ihrem Gang durch die Straßen zuzusehen, wie sie versuchten, bei Wind und Wetter den Ballon zu kontrollieren, unter Brücken hindurch, an Baustellengerümpel vorbei. Als interactive networked environment wurde Chelsea so für sechs Wochen zu einem urbanen Spielfeld, auf dem es um das Auskundschaften der ästhetischen wie affektiven Resonanzen räumlich-sozialer Beziehungen ging. In ihrem Resümee schreibt Jenny Marketou (2006): I am especially interested in social networks and various modes of production in order to create visual experiences and new forms of representation […]. In my public street games I am interested to create open fields of enactment, […] participatory and performative situations and spectacles [which] […] open up time and space for exploration and imagination.
Zur Medialität der ästhetischen Situation Wie das Beispiel verdeutlicht, liegt ein wesentliches Charakteristikum von ästhetischen Situationen in ihrer intermediären Flexibilität. Das Intermediäre nun ist ein Begriff des Spiels. Mit ihm ist einerseits ein proteushafter Kreuzungspunkt heterogenster Optionen bezeichnet, andererseits die vitale Erfahrung von Ambivalenz. Letzteres ergibt sich aus der bekannten Tatsache, dass man im Spiel ist und nicht ist, was man scheint, und oftmals auch noch viele davon. Richard Schechner nennt dies »in-between-identities«,12 Victor Turner spricht von einem »no-man’s-land-in-betwixt-and-between«,13 Brian SuttonSmith beschreibt es als die heteroglossale Ausdrucksweise des sub-
12 | Richard Schechner: »Performers and Spectators – Transported and Transformed«, in: Kenyon Review Bd. III, 4 (1981), S. 83-113. 13 | Victor Turner (1974): »Liminal to Liminoid, in Play, Flow, and Ritual«, in: Rice Studies 60:3 (1974), S. 53-92.
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jektiv vervielfältigten Spielers.14 Sich in diesem Schwellenbereich aufzuhalten, heißt, im Bewegungsmodus des Nicht-Identischen zu agieren. Das Spiel ist eine Bewegung ins Ungedeckte, das gleichsam etwas Unentdecktes in die Bewegungen des Geistes bringt. Es ist ein ewiges Versuchen, das zwischen Sich-Versuchen und Etwas-Versuchen changiert.15 Damit ist nicht unterstellt, Kunstschöpfungen seien bloßes Spiel, sondern vielmehr sind Beobachtungen beschrieben, nach denen es auch der ästhetische Prozess erforderlich macht, aus der Deckung zu kommen und teilzuhaben an einer Situation, die noch nicht festgelegt ist. Um zu gelingen, verlangt sie und erlaubt ein Verhandeln bislang bestehender Differenzen und Unmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund wären ästhetische Situationen auch beschreibbar als sinnlich-ästhetische Kontaktstellen für das an sich Unvermittelbare, als Arrangements der intensiven Erfahrung eines Unbekannten, das im subjektiven Erleben zugänglich wird. Im Zustand höchster Komplexität und Animation all unserer Vermögen spüren wir uns doch gleichsam in äußerster Lebendigkeit. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die mit dem ästhetischen Phänomen verbundene Erfahrung als gesteigerte Erfahrung und erhöhte Vitalität zu verstehen. Um diese Form der ästhetischen Erfahrung zu ermöglichen, braucht es, so K. Ludwig Pfeiffer, Medialität.16 Oder anders gesagt, die Begrifflichkeiten des Medialen scheinen in besonderer Weise geeignet, Erkundungen im Feld ästhetischer Erfahrung anzustellen. Dem Projekt einer kulturwissenschaftlichen Ästhetik geht es dabei insbesondere um die grundsätzliche Frage nach dem strukturellen Verhältnis von Medialität und kulturellen Wahrnehmungs- wie ästhetischen Erfahrungsdimensionen. In diesem Zusammenhang erweisen sich medialisierte Umgebungen als ästhetische Laboratorien des Medialen im doppelten Sinn. Zum einen deutet die hohe Konzentration wissenschaftlicher, technischer, künstlerischer wie ökonomischer Ressourcen bei der Produktion und Ge14 | Brian Sutton-Smith/Mary Ann Magee: »Reversible Childhood«, in: Play & Culture 2 (1989), S. 52-68, S. 60. 15 | Weitergehende Ausführungen in Natascha Adamowsky: »Spiel und Wissenschaftskultur. Eine Anleitung«, in: dies. (Hg.): »Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet.« Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis, Bielefeld 2005. 16 | K. Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a.M. 1999.
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staltung medialisierter Umgebungen darauf hin, dass es sich hier um avancierte Experimentalräume des Austestens und Überschreitens medialer Leistungspotentiale und ästhetischer Gestaltungsoptionen handelt. In diesem Sinne sind medialisierte Umgebungen als zeitgenössische Laboratorien multimedialer Welterzeugung zu verstehen. Zum Zweiten und damit zusammenhängend scheinen medialisierte Umgebungen nicht nur den state of the art des z.Zt. medial Machbaren auszustellen, sondern sich kunst- wie kulturwissenschaftlichen Diskursen als ›Theorie-Laboratorien‹ medienästhetischer Grundlagenforschung anzubieten. Damit ist ein Vorgehen umrissen, dass von einer Vorabdefinition ›Medien sind:‹ absieht und stattdessen Medienarrangements und die sie eröffnenden Wahrnehmungsfelder im performativen Nachvollzug an konkreten Fallbeispielen exemplifiziert. Durch deren »Materialbezogenheit [ist] per se auch die historische Dimension solcher Untersuchungen aufgerufen«.17 Es geht somit nicht darum, eine bereits feststehende medientheoretische Definition von Medialität auf eine endlose Kette von ästhetischen Beispielen anzuwenden. Vielmehr ist ein Forschungs- und Denkprozess bestimmt, der darauf zielt, an jeder gegebenen ästhetischen Situation neue Impulse für ein Verständnis mediendurchwirkter Wirklichkeit und polymodaler Weltwahrnehmung zu gewinnen. Zwangsläufig gelangt man so zu einer heterogenen Perspektive. In dieser herrscht allerdings nicht Beliebigkeit, sondern ein Spiel von Differenz und Wiederholung. Selbstverständlich gibt es Muster und Strukturen, lassen sich Konstruktionsprinzipien ästhetischer Erfahrungsräume nachzeichnen. Drei davon sollen kurz skizziert werden. Sie betreffen Eigenschaften des Medialen, die bereits als zentral für ästhetische Phänomene beschrieben wurden und im Modus des Spiels verortet sind, darunter das Vermögen, kategorial Gegensätzliches zu vereinen und eine besondere Intensität des Erlebens zu erzeugen. Einen besonderen Stellenwert nimmt die Ambivalenz des Ludischen ein, die die rätselhafte Produktivität des Medialen motiviert: Medien können konkretisieren, realisieren, objektivieren, sie können aber auch virtualisieren, simulieren, subjektivieren, und brisanterweise tun sie dies, so die Vermutung, auch noch zur gleichen 17 | Bernhard Dotzler/Ernst Müller: »Vorwort«, in: dies. (Hg.): Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur Aisthesis materialis, Berlin 1995, S. viixi, S. vii.
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Zeit. Das Ergebnis dieser Verkopplung authentizitätsstiftender wie artistisch-illusionierender Gestaltungsverfahren ist der Entwurf einer Natur wunderbarer Geschmeidigkeit: Winziges wird riesig, Entferntes anschaulich, Phantastisches greifbar. Das damit einhergehende Inkommensurable an Medien ist die Paradoxie der Erfahrungen, die sie bieten, dass – ganz im Sinne des Spiels – etwas ist und nicht ist, was es scheint. Dieser medialen Verfügbarmachung eines Abwesenden oder prinzipiell nicht Zugänglichen ist eine magische Wirkmächtigkeit eigen. Mit Magie ist selbstredend nicht die Idee eines nichtrationalen und esoterischen Prozesses gemeint, sondern eine Form des Performativen, die in der Lage ist, die Nicht-Identität zwischen etwas und seiner Darstellung in bestimmten Situationen zu unterlaufen. Medien können entscheidende ordnungsstrategische Differenzen wie beispielsweise zwischen fiktiv und real im Moment des Erlebens vergleichgültigen. Sie schaffen attraktive Ereignisse, in deren Verlauf sich Realität als durchlässig und formbar, ja geradezu selbst als plastisches Medium erweist. Ein letztes Beispiel soll dies verdeutlichen.
Urban Eyes In der Arbeit von Marcus Kirsch und Jussi Ängeslevä geht es um ein poetisch ambivalentes Zusammenspiel von digitaler Netzwerktechnologie und Videoüberwachungssystemen mit dem Leben von Londoner Großstadttauben. Überwachungskameras und Tauben haben gemein, dass sie das Bild jeder modernen Großstadtlandschaft prägen. Speziell in London ist das Kameranetz mittlerweile flächendeckend. In dem Projekt Urban Eyes, das im Juni 2006 von der HTTP Galery in London präsentiert wurde, beginnt alles mit einem Päckchen elektronisch präparierten Vogelfutters. Frisst die Taube von diesem Futter, löst sie bei ihrem Flug durch die Stadt in den Überwachungskameras, die sie passiert, einen Photomechanismus aus. Die Kameras wurden für das Projekt mit einem speziellen RFID-Lesegerät18 ausgestattet, 18 | RFID steht für Radio Frequency Identification und meint die automatische Identifizierung und Lokalisierung von Gegenständen und Lebewesen. Ein RFID-System besteht aus einem Transponder, der sich am oder im Gegenstand bzw. Lebewesen befindet, sowie einem Lesegerät zum Auslesen der Transponder-Kennung. In der Regel erzeugt das Lesegerät ein elektromagnetisches Hochfrequenzfeld geringer Reichweite, vorzugsweise mit Induktionsspulen, womit nicht nur Daten übertragen werden, sondern auch
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so dass das Bild, welches die vorbeifliegende Taube verursacht, dem Käufer des Vogelfutters auf sein Mobiltelefon gesendet wird. Einerseits werden so Impressionen einer Bewegung durch den städtischen Raum sichtbar, die dem flugunfähigen Stadtbewohner grundsätzlich unzugänglich sind. Durch die panoptische Position der Kameras erhält man Einblicke in Hinterhöfe und Wohnzimmer, die dem normalen Fußgänger verborgen bleiben. Die Flugbahn der Taube erweist sich hier als voyeuristische ›Choreographie‹ einer Enthüllung. Neben dem Ausspionieren des sonst Unzugänglichen und Versteckten wird jedoch gleichsam im Vertrauten ein neuer geteilter Lebensraum sichtbar: Denn Tauben haben einen Bewegungsradius von ca. einer Meile rund um ihr Nest. Man bewohnt also den gleichen Kiez. Der Benutzer hat so die Möglichkeit, den Flügen seines Vogels einige Tage lang zu folgen und aus dessen luftiger Perspektive einen gemeinsamen Nachbarschaftsraum zu reflektieren. Auf diese Weise verbinden sich bekannte visuelle Muster von Satelliten- und Überwachungsaufnahmen mit einer persönlichen Beziehung zu einem der ältesten Träger von Luftperspektiven, dem Vogel. Taubenraum, die Bildwelt der Kameras und der eigene Blick schieben sich dabei ineinander. Es entstehen explorative Wahrnehmungen, neue Aufmerksamkeiten und assoziative Wissensqualitäten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob es dabei zu einer Um- oder Neubewertung des Systems von Überwachungskameras kommt. Transformiert dieses für den kurzen Moment, in dem das Tier vorbeifliegt, von einem Überwachungsdispositiv zum schwebenden Blick in die grenzenlose Freiheit des Fliegens? Das Auge des Vogels, der Traum vom Fliegen und das Moment des ganz Anderen gehen hier eine poetische Verbindung ein, die die Vorstellung urbaner Bewegungsräume modifiziert. In der Verfremdung der eigenen Wahrnehmung des Bekannten ziehen neue Reibungs- und Assoziationsfiguren in die gewohnten Reflektionsfelder ein. Es ist ein Spiel mit einem offenen Geheimnis, die Teilhabe an den Flugbahnen einer Taube, meiner Taube, die mir unsichtbar Luftbotschaften zusendet, rätselhafte Koordinaten, die nichts bedeuten und doch auch wieder nicht Nichts. Unmerklich gleitet man so auf die Kehrseite der Verbindung von Taubenflug, Kamera und dem Transport verborgener Ansichten. Denn die Ausrüstung von Tauben mit geheimen Botschaften und seit dem frühen 20. Jahrhundert auch der Transponder mit Energie versorgt wird. RFID-Transponder können so klein wie ein Reiskorn sein und kosten teilweise nur wenige Cent.
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mit Kameras ist ein altes Sujet militärischer Spionage. Löst die vorbeifliegende Taube den Kameramechanismus des Überwachungssystems aus, geht sie eine intensivierte Beziehung zum Diskurs globaler Geheimdienste und ihren totalitär angelegten Informationssystemen ein. Kirsch und Ängeslevä selbst scheinen die Frage offenzulassen. Während in ihrem Internet-Auftritt das bekannte Photo einer Taube des Bayerischen Taubenkorps mit Kamera aus dem Jahr 1903 zu sehen ist, orientiert sich ihre Projektbeschreibung eher an einem poetisch-subversiven Naturdiskurs, der nach neuen Perspektiven und Gestaltungsoptionen im Bekannten sucht. Sie schreiben: [P]igeons become maverick messengers in the information super-highway, fusing feral and digital networks. […] Being one of the last remaining signs of nature in a metropolis such as London, the urban pigeon population represents a network of ever-changing patterns more complex than anything ever produced by a machine. […] Urban Eyes enlists our feathered neighbours to establish a connection between the bird-eyes view of the city as now distributed by Google Earth and our terrestrial experience.19
Möglicherweise lassen sich beide Perspektiven auch nicht eindeutig trennen. Anekdotisch könnte man dazu anmerken, dass die Bayerischen Taubenphotographen ihren größten Auftritt vielleicht nicht dem Spionagewesen, sondern der modernen Massenkultur verdankten. Auf der Internationalen Photographie-Ausstellung in Dresden 1909 waren sie die Sensation und ihre Bilder wanderten zu Tausenden als Postkarten mit schönen Grüßen in alle Welt.
R ESÜMEE In den vorgestellten Beispielen ging es auf drei ganz unterschiedliche Arten und Weisen darum, eigene, neue, subversive, alternative Umgangsformen mit bestehenden bzw. sich aktuell neu formierenden technischen Dispositiven und Wissensformationen zu entwickeln. Ganz vorn auf der Agenda stehen die Exploration mobiler ubiquitärer Netzwerktechnologie, die Gestaltung von Öffentlichkeit und urbanem Raum, die Frage nach sozialen Interaktionsformen, Reprä19 | Zu finden unter: www.http.uk.net/docs/exhib10/exhibitions10.shtml (Stand: 28.01.2010).
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sentationsmodi und performativen Optionen. In drei ästhetisch sehr verschiedenen Herangehensweisen wurde die Frage gestellt, wie sich aus neuen Medien und digitaler Technologie kritische, radikale und gleichsam unterhaltsame wie evtl. sogar mitreißende Spielangebote gestalten lassen, in denen neue soziale wie ästhetische Imaginationen verhandelt werden können. Mit der Einladung zum Spiel sind jeweils ludische Choreographien verbunden, die zu einer anderen Art, sich im städtischen Raum zu bewegen, auffordern. Der eigene körperliche Einsatz ist dabei unverzichtbar. Dies ist insofern eine bemerkenswerte Präferenz, als alle drei Spielarrangements mit Phänomenen technischer Vernetzung spielen, die in Gestalt des weltumspannenden Internet einen raumlosen Raum der Instantialität und Dislokation der Information geschaffen hat. Die Lauf-, Flug- und Wanderungsbewegungen der Spieler und Tauben jedoch führen die Dimensionen von Raum und Zeit wieder ein und demonstrieren, »dass alle noch so perfekt entwickelten Medien nicht überspringen können, dass Kommunikation zuletzt immer solche von organischen Lebewesen ist, die der Zeit und dem Raum unterworfen bleiben«.20 Oder anders gesagt, bei aller notwendigen, wichtigen und richtigen Beschreibung der allgegenwärtigen Technisierung der menschlichen Wahrnehmung ist es unerlässlich zu berücksichtigen, »dass man, um wahrzunehmen, auch da sein muss, leiblich anwesend«.21 Damit ist jede ästhetische Situation, sei sie Kunst, sei sie Spiel, weder im Irrealis der Utopie verortet noch im Gegensatz zu den sog. ernsten oder bedeutsamen Dingen des Lebens. Sie ist unhintergehbar in der Mitte des Geschehens zu Hause als ein Begehren des Geistes wie des Sinnlichen, deren Konvergenzen das kulturelle Geflecht sich verzweigender Reflexionen und künstlerischer Expressivität fortschreiben.
20 | Hartmut Böhme: »Die Tauben und die Medien. Kulturgeschichtliches zum Projekt ›Capire al Volo‹ von Pia Gazzola«, in: Pia Gazzola: capire al volo/im flug verstehen, Mailand 1999, S. 46-59, S. 58. 21 | Gernot Böhme: »Die Wirklichkeit der Bilder«, in: Christian Filk/Michael Lommel/Mike Sandbothe (Hg.): Media Synaesthetics. Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln 2004, S. 84-94, S. 93.
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Nachsatz Kirsch und Ängeslevä beziehen sich in ihrer Arbeit übrigens explizit auf die Situationisten. Vorbild für ihre Arbeit seien insbesondere die psychogeographischen Erkundungen Guy Debords von Paris gewesen. Auf die Situationisten berufen sich heute fast alle, die im Bereich der network based performances arbeiten. Ebenso oft fallen die Namen Fluxus, Dada, Happenings, Performance-Kunst, John Cage und Nam June Paik. Man mag dies als nicht besonders originell einschätzen. Andererseits ließe sich diese Konjunktur auch dahin gehend interpretieren, dass Ideen aus der Kunst der 50er, 60er und 70er Jahre heute offenbar eine besondere Popularität zukommt. Positiv gewendet könnte man dann sogar von einem frischen Blick auf bekannte Themen sprechen, von neuen medialen Aktualisierungen eines ästhetischen Anliegens, das offenbar schon seit geraumer Zeit virulent ist. Neu an den eben beschriebenen Medienensembles scheinen dabei ihre Kontextualisierungen bzw. Selbstpositionierungen zu sein. Anders als ihre künstlerischen Vorbilder kommen medialisierte Umgebungen ohne revolutionären Gestus aus, sondern betont leicht daher, angesiedelt irgendwo zwischen high art und low entertainment. Keines der Projekte arbeitet sich dezidiert an Grenzziehungen ab, seien diese zwischen Kunst und Leben, Kunst und Nicht-Kunst, Theorie oder Praxis, Kritik oder Affirmation. Sie bewahren vielmehr eine Zwischenlage, die ihnen der Modus des Spiels sichert. Als ästhetische Einstellungsweise wird das Spiel hier gerade nicht als utopisches Reich Schillerscher Freiheit ausdefiniert, sondern als offene epistemologische Qualität, die den medialen Eigenschaften des Spiels zur Organisation des Abstrakten geschuldet ist. Es sind einfachste Spiele, die gespielt werden, einfachste Verbindungen von Spieler und Spielgegenstand, die dennoch das Potential des Spiels als Konvergenz von gesteigertem Erleben und ästhetischer Produktivität greifbar machen. Dabei werden polymodale Experimentalformen zu Verfügung gestellt, in denen kulturelle Spannungen Verfahrensweisen finden können. Die ästhetische Formproduktion des Spiels bietet nicht nur Vergnügen und Genuss, sondern Methoden des In-Bewegung- bzw. In-Beziehung-Setzens. Es handelt sich um ein besonderes Potential der Übergänglichkeit, eine Möglichkeit, sich auf das Nicht-Identische einzulassen. Jedes Experimentieren und Partizipieren kann von hier seinen Ausgang nehmen.
Immersionseffekte: Intermediale Involvierung in Film und digitalen Medien Robin Curtis
In den letzten Jahren hat sich die Intermedialität im deutschsprachigen geisteswissenschaftlichen Diskurs als fester Begriff etabliert. Diesem Begriff wird nun vor allem die Rolle zugeteilt, die immer üblicher werdende Vermischung von ehemals diskreten ästhetischen Kategorien zu bezeichnen und damit in den Griff zu bekommen. Dennoch – und das ist das Ziel des folgenden Beitrags – sollte etwas mehr Acht darauf gegeben werden, inwiefern die Intermedialität sowohl die Kategorie des Mediums wie auch die Signifikanz der Rezeption unhinterfragt lässt und damit die Komplexität der zu diskutierenden Gegenstände, Medien und Rezeptionsformen tendenziell verschleiert. Um diese Problematik zu erhellen, verweise ich einleitend auf ein Beispiel, das eine Reihe von Fragen aufwirft, die für meine eigene Position respektive für die Intermedialität (und Interart) zentral sind. Anhand einer zeitgenössischen amerikanischen Fernsehsendung, nämlich der Folge World of Warcraft der Zeichentrickserie South Park, möchte ich fragen, ob diese Folge als paradigmatisches Beispiel der Intermedialität gelten kann, oder ob wir es hier mit einem Fall schlichter Intertextualität zu tun haben? Genauer gefragt: Was hat man von dem Rekurs auf Intermedialität beziehungsweise was gewinnt man durch den Gebrauch dieses Begriffs? In der Folge, die im Oktober 20061 zum ersten Male ausgestrahlt wurde, nahmen die Macher von South Park Bezug auf ein weiteres 1 | »Make Love, Not Warcraft«, Nr. 147, erste Ausstrahlung am 4.10.2006.
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popkulturelles Phänomen der Jetztzeit, das für die selbe Zielgruppe von Belang ist, nämlich auf das Massively Multiplayer Online Role-Playing Game (MMORPG) World of Warcraft. Dieses Spiel wird – wie die Bezeichnung MMORPG suggeriert – online mit sehr vielen anderen Menschen gespielt, die sich zur selben Zeit im Netz verabreden, das heißt sich dort gleichsam »treffen« und zusammen in der Fantasiewelt »Azeroth« diverse Abenteuer gemeinsam erleben. World of Warcraft ist die erfolgreichste dieser Sorte von Videospielen und hatte im Januar 2007 weltweit 8,5 Millionen aktive »Subscriber« beziehungsweise aktuell angemeldete Spieler.2 Jeder Spieler oder jede Spielerin entwirft seinen oder ihren eigenen Avatar, der aus einer Vielfalt von Möglichkeiten äußerlich individuell gestaltet werden kann. Die Zeichentrickfiguren von South Park (Stan, Kyle, Cartman und Kenny), die weiterhin durch ihre Stimmen erkennbar sind, treten in dieser zweiten diegetischen Welt als Spieler auf. Visuell sind sie durch die je gewählte Figur (beziehungsweise den je gewählten Avatar) vertreten. Es ist dann zuerst auch die visuelle Ebene, anhand derer man von einem intermedialen Phänomen sprechen könnte. South Park selbst wird durch eine entschieden low-tech Cut-Out-Animation gekennzeichnet, die Pilotfolge entstand mittels dieser Technik nach drei Monaten Arbeit. Bunte Papierstücke wurden dabei so übereinander gelagert, dass eine deutlich zweidimensionale Welt entstand. Der Anschein der hervorgehobenen Zweidimensionalität wurde für die weiteren Folgen der Serie beibehalten, obwohl man die Animationstechnik schon seit der zweiten Folge durch Computergrafik simulierte. Bei World of Warcraft (so wie bei allen 3D-Spielen) werden hingegen nur die Cutscenes, wo kein spielerischer Eingriff möglich ist, aber die Handlung vorangetrieben wird, mit echter pre-rendered Computergrafik hergestellt, die ein im visuellen Sinne qualitativ besseres, das heißt detaillierteres Bild entstehen lässt, als es sonst im Spiel zu sehen ist. Die World of Warcraft-Sequenzen bei South Park wurden aber durch die Machinima-Technik hergestellt: Die Computergrafik (CGI) wird dabei mit einem in Echtzeit arbeitenden 3D-Engine (oder real time rendering) kombiniert. Die Machinima-Technik ermöglicht es Spielern, Aufnahmen von sich und ihren Erfahrungen in der Spielwelt aufzu2 | »World of Warcraft surpasses 8 million subscribers worldwide«, Blizzard Entertainment press release, January 11, 2007, in: www.blizzard.com/ press/070111.shtml (Stand: 22.6.2007).
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nehmen – quasi wie Touristenvideos in der simulierten Welt. Solche »Selbstaufnahmen« in der Spielwelt von allen möglichen Videospielen sind millionenfach im Internet zu finden. Was durch die Mischung dieser Techniken und kulturellen Texte entsteht, ist aber genauer zu hinterfragen. Dies möchte ich, bezogen auf mein Beispiel, anhand von drei Aspekten tun. Erstens: Handelt es sich bei dieser South Park-Folge um einen Insider-Witz der Intertextualität, der vermeintlich subkulturelles Wissen voraussetzt und in einer – wenn man so will – Inversion des Paragone eine Konkurrenzsituation zwischen zwei der niedrigsten Low-cultural-Beschäftigungen inszeniert? Zweitens: Handelt es sich vielleicht um eine Vermischung von Spielwelten, die ihrerseits Intermedialität abbildet, eine Vermischung, die sich durch den ästhetischen Kontrast der Low-tech-Machart von South Park mit der High-tech-Zusammensetzung des Computerspiels vollzieht? Wichtig zu bemerken wäre hier natürlich, dass diese technischen Unterschiede nur simuliert werden. Oder drittens: Handelt es sich um noch etwas anderes, nämlich um die Darstellung des Kontrasts zwischen einer Fernsehsendung und einem Videospiel, das heißt um den Unterschied von passiven und aktiven beziehungsweise interaktiven Rezeptionsmodi? Und, um einen weiteren Begriff, der heute immer häufiger zu lesen ist, zu nennen: Welche Rolle spielt die Immersion in dieser Erfahrung? Setzt diese Form der Immersion Interaktivität oder gerade Interpassivität,3 Kontemplation oder Zerstreuung voraus? Um diese Fragen näher zu untersuchen, möchte ich mich nicht eingehender mit einem einzelnen Medium auseinandersetzen (also nicht den genannten Film analysieren oder die »digitalen Medien« behandeln), sondern das Erlebnis der Immersion in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stellen, um auf eine andere Art und auf einer allgemeineren Ebene zu Fragen der Funktionsweise des Interagierens von Erfahrungsebenen und Erfahrungswelten zu gelangen, die
3 | Dies wird vor allem als »delegiertes Genießen« verstanden, das sich insofern von der Askese unterscheidet, dass das Genießen nicht verweigert wird, sondern nur auf eine andere Person übertragen bzw. verschoben. Zum Begriff der Interpassivität vgl. Robert Pfaller: Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt a.M. 2002 sowie Rober Pfaller (Hg.): Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen, Berlin/New York 2000.
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offensichtlich in den Begriff der Intermedialität beziehungsweise den der Interart eingefaltet sind.
I NTERMEDIALITÄT Obwohl der Begriff Intermedium schon 1812 bei Samuel Taylor Coleridge eine erste (und sogar recht anregende) Erwähnung fand4 und Mitte der 1960er Jahre eine erste Konjunktur im Kontext der amerikanischen Kunst- und Filmavantgarde erlebt hat, ist eine deutliche zweite Welle der Konjunktur in den 1990er Jahren zu verzeichnen, und zwar spezifisch im Kontext der deutschen Geisteswissenschaften. Auch wenn noch 2008 ein großer und umfangreicher Sammelband von Joachim Paech und Jens Schröter zu diesem Thema beim Fink Verlag herausgegeben wurde,5 liegt der Scheitelpunkt dieser zweiten Welle schon in der Vergangenheit. Im Folgenden möchte ich kurz zwei Aspekte der Karriere dieses Begriffs hervorheben: Zum einen fungierte der Begriff Intermedialität hierzulande lange als eine Art Scharnier innerhalb einer hochschulinternen Verhandlung von Disziplin-Relationen oder Fach-Beziehungen und wäre von daher als Mittel einer universitären Systemkritik zu deuten. Ich möchte aber behaupten, dass die Hochkonjunktur des Begriffs Intermedialität deshalb im Abflauen begriffen ist, weil er allmählich durch andere Fragestellungen und Konzepte einerseits zur Interdisziplinarität und andererseits zur Interaktion von kulturellen Phänomenen (sowohl in Texten wie auch in Rezeptionsformen) abgelöst wurde.6 Zum anderen zeigen aber viele Aspekte der früheren 4 | »Narrative allegory is distinguished from mythology as reality from symbol; it is, in short, the proper intermedium between person and personification. Where it is too strongly individualized, it ceases to be allegory«, in: Thomas M. Raysor (Hg.): Coleridge’s Miscellaneous Criticism, Folcroft 1936, S. 33, zitiert bei Jürgen E. Müller: »Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept«, in: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998, S. 31. 5 | Vgl. Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität: Analog/Digital, München 2008. 6 | In der Tat beobachtet Jens Schröter, »dass sich etwa im selben Zeitraum [zum Aufkommen des Begriffs Intermedialität, Anm. der Autorin] die Vor-
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Diskussionen zu Intermedia, die in den 1960er Jahren durch Künstler der Fluxus-Bewegung wie etwa Dick Higgens, oder auch Künstler der Filmavantgarde und des Expanded Cinema wie Jud Yalkut lanciert wurden, eine überraschende Nähe zu eben den zeitgenössischen Diskursen, die den Begriff der Intermedialität gerade verdrängen. In den gängigsten Definitionen dient der Begriff der Intermedialität als Basis für eine komparatistische Diskussion, die sich darüber Rechenschaft ablegen möchte, wie die Wechselwirkungen vor allem zwischen »alten« künstlerischen Medien und den technischen Reproduktionsmedien systematisch zu fassen sind. Wenn man die einzelnen Medien in der Gesamtheit ihrer Charakteristika ernst nimmt, deuten sich schnell Komplikationen in dieser Beschreibung an, und zwar im Verhältnis zwischen monomedialen Medien wie zum Beispiel der Literatur oder auch der (Instrumental-)Musik und denjenigen Medien, die polymedialer Natur sind, wie Gesang, Oper, Theater oder auch Film. In ihrer Untersuchung des Phänomens Intermedialität schlägt Irina Rajewsky deshalb Folgendes vor: Das jeweilige Referenzmedium muss im kontaktnehmenden Produkt in seiner Spezifizität zu erkennen sein, die es von anderen medialen Ausdrucksformen unterscheidbar macht. Auch diese Spezifizität aber unterliegt einem historischen Wandel.7
Gleich folgt bei Rajewsky die Feststellung: [Den] Untersuchungen zu den Wechselwirkungen zwischen Film und Literatur mangelte und mangelt es auch heute noch häufig an einer Definition dessen, was zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten historischen und gesellschaftlichen Kontext als ›filmisch‹ bzw. ›literarisch‹ zu bezeichnen ist. 8
Diese Bemerkungen deuten vor allem darauf, dass die Intermedialität in diesem Sinne für die Erforschung von Strategien des transmediastellung ausbreitete, die getrennten Medien würden bald im ›Universalmedium Computer‹ aufgehen«. Jens Schröter: »Intermedialität, Medienspezifik und die Universelle Maschine«, in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 386. 7 | Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Basel 2002, S. 36. 8 | Ebd.
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len Erzählens beziehungsweise für Formen der Narratologie besonders gut geeignet war und ist. Allerdings kommen dabei sowohl die spezifische Visualität als auch die besondere affektive Kraft des Auditiven des audiovisuellen Mediums kaum zur Geltung. Ferner, wenn deutlich wird, dass es an einer Definition des »Filmischen« und des »Literarischen« mangelt, ist das Hinterfragen der disziplinären Kompetenzbereiche in den Begriff Intermedialität eingefaltet: Wie sind die »Dinge«, die für uns als Geisteswissenschafter im Mittelpunkt unserer jeweiligen Disziplin stehen, zu beschreiben beziehungsweise voneinander zu unterscheiden? Was meine ich überhaupt, wenn ich zum Beispiel von »Film« spreche? Am zentralsten für die Intermedialitätsdebatte ist natürlich das jeweilige Verständnis von dem, was da implizit verhandelt wird, nämlich der Begriff des Mediums. Wenn Intermedialität lediglich als Begriff Verwendung findet, um zwischen bestimmten disziplinären Größen zu unterscheiden, nämlich zwischen den sogenannten »neuen Medien« und den alten, oder zwischen audiovisuellen oder elektronischen und traditionellen Medien, muss die Diskussion notgedrungen einem recht sterilen Drang zur Klassifikation verpflichtet bleiben. Wenn aber, laut Marshall McLuhan, einerseits ein Medium als eine Ausweitung des menschlichen Körpers und seiner Sinne im Raum zu verstehen ist, und andererseits, »der ›Inhalt‹ jedes Mediums immer ein anderes Medium ist«,9 verlangt diese Perspektive nach einer anderen Auslegung der Qualität des Intermedialen: »Der Inhalt der Schrift ist Sprache«, fährt McLuhan fort, »genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen ist.«10 Besonders Joachim Paech vertritt diesen Blick auf die Intermedialität, der sich spezifisch den Bildmedien und vor allem der Zeitlichkeit des zeitbasierten Bildes widmet. Paechs Ansatz gilt von daher als Beitrag zu einer Bildwissenschaft und legt den Strategien des Erzählens im Film nur eine untergeordneten Bedeutung bei. Paech schreibt: Intermedialität ist […] eine spezifische Form medialer Differenz, die »zwischen« der Form des fotografischen und der Form des filmischen Mediums 9 | Marshall McLuhan: »Die magischen Kanäle«, in: Martin Baltes/Fritz Böhler/Rainer Hältschl/Jürgen Reuss (Hg.): Medien Verstehen. Der McLuhan Reader, Mannheim 1997, S. 113. 10 | Ebd.
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»figuriert«. Die Differenz-Form der Fotografie (ihr Medium), der Zeit-Spalt, den die Bewegung des Verschlusses der Fotoapparates auf das Vergehen von Zeit geöffnet hat, wird in der Form filmischer Bewegung selbst verzeitlicht und narrativ überformt. Als Intermedialität ›figuriert‹ hier diese Verzeitlichung, die in spezifischen Formen, vor allem sog. ›Überblenden‹, auf ihr Medium, ihre Differenz-Form, selbst verweist.11
Während Paech sich hier – bezogen auf das Filmbild – eine Reihe von Phänomenen als Objekte der Intermedialitätsforschung vorstellen kann, nämlich vor allem »›stilistische‹ Merkmale wie das Malerische in der filmischen Physiognomie der Landschaft ([à la Béla] Balázs) oder das Musikalische bestimmter Formen rhythmischer Montage ([à la Jean] Mitry)«, bleibt sein Interesse an der Intermedialität letztendlich doch klassifikatorisch. Er blickt zuletzt auf eine »künftige Theorie der Intermedialität als transformatives Verfahren«, welches das Versprechen einer »historisch begründeten Systematik der Figuration der Intermedialität«12 einlösen sollte. Mich interessiert aber etwas Anderes und ein Weiteres. McLuhans Vorstellung vom Medium als »an extension of ourselves«13 hat breitere Implikationen, denn er fährt wie folgt fort: »Any extension, whether of skin, hand, or foot, affects the whole psychic and social complex«.14 Wenn Intermedialität mehr leisten will, als die Intertextualität mit einem erweiterten Textbegriff es schon getan hat, muss die Rolle des Körpers und müssen die Auswirkungen der Medien auf den Körper – und umgekehrt – berücksichtigt werden.
V ISUAL S TUDIES Ungefähr zeitgleich zur Debatte um die Intermedialität in den deutschen Geisteswissenschaften gewann der Begriff der Visual Studies als polemische Forderung im angelsächsischen Kontext an Bedeutung, und das sowohl als Aspekt einer möglichen künftigen disziplinären 11 | Joachim Paech: »Intermedialität«, in: Medienwissenschaft Heft 1 (1997), S. 23. 12 | Ebd., S. 26-27. 13 | Marshall McLuhan: »Understanding Media«, in: Eric McLuhan/Frank Zingrone (Hg.): Essential McLuhan, Toronto 1995, S. 151. 14 | Ebd., S. 149.
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Ordnung als auch als grundlegende Frage an das Selbstverständnis der Kunstgeschichte beziehungsweise Kunstwissenschaft. Der Aufruf zur Etablierung einer Disziplin namens Visual Studies hat es überhaupt ermöglicht und notwendig gemacht, eine weitere grundsätzlichen Frage zu stellen, nämlich: »Was ist ein Bild?«. In einem Text mit dem Titel »Image, Medium, Body«, den der Kunsthistoriker Hans Belting 2005 in dem amerikanischen interdisziplinären Journal Critical Inquiry veröffentlicht hat, nimmt er explizit Bezug auf die Rolle des Körpers im Bild und betont die Ereignishaftigkeit des Vorgangs der Bildbetrachtung: »Images are neither on the wall (or on the screen) nor in the head alone. They do not exist by themselves, but they happen; they take place whether they are moving images (where this is so obvious) or not.«15 Demnach sind Bilder nur als Kombination von materiellen (pictures) und mentalen Bildern (images) zu begreifen, die im Prozess der Rezeption entstehen. Die Beschreibung von Bildern und ihrer Medien lässt sich also nicht unabhängig von der körperlichen Bedingtheit der Rezeption beschreiben, für welche die Aktivität der Imagination wesentlich ist. Dies hat entschiedene Konsequenzen für eine Beschreibung der Art und Weise, wie Bilder zum Beispiel über Zeit und zwischen Medien interagieren können. Laut Belting: Images resemble nomads in the sense that they take residence in one medium after another. This migration process has tempted many scholars to reduce their history to a mere media history and thus replace the sequence of collective imagination with the evolution of visual technology.16
Dieser Begriff der bildlichen Intermedialität impliziert von daher und in diesem Sinne eine Aneignung des Bildes, die nur innerhalb der Prozesse der Imagination und als eine Verkörperlichung, das heißt als eine spezifische Involvierung zu verstehen ist. »Bodies perform images (of themselves or even against themselves) as much as they perceive outside images. In this double sense, they are living media that transcend the capacities of their prosthetic media.«17 Der performative Begriff des Verhältnisses von Bild, Medium und Körper, 15 | Hans Belting: »Image, Medium, Body: A New Approach to Iconology«, in: Critical Inquiry 31 (Winter 2005), S. 302-319, S. 302f. 16 | Ebd., S. 310, Hervorhebung der Autorin. 17 | Ebd., S. 311.
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der von Hans Belting in diesem Text beschrieben wird, steht einer der Grundannahmen des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« sehr nahe, der seit 1999 an zwei der Berliner Universitäten interdisziplinäre Forschung betreibt.18 In der Tat scheint es mir der Fall zu sein, dass das wachsende Interesse an der sich im Begriff der Performativität aussprechenden Interaktion von Text, Medium und Körper den Begriff der Intermedialität überflüssig macht, weil er tendenziell einer Untersuchung der Bedingungen des Textes (im erweiterten Sinne) oder auch des Mediums als reiner Technologie verhaftet bleibt.
I NTERMEDIA Eine Aufmerksamkeit für die körperlichen Implikationen von Intermedia war dagegen aber schon in den Texten von Dick Higgens (1966) und Jud Yalkut (1967) vorhanden. Beide Autoren befassten sich zu der Zeit mit der Wirkungsweise von neueren künstlerischen Phänomenen wie Op Art, Kinetische Kunst, Happenings, expanded cinema oder auch visual poetry, und damit mit Phänomenen, die, wie Higgens es formuliert hat, sich zwischen »the general area of art media and those of life media«19 positionierten. Die zeitliche Nähe und inhaltliche Sympathie zum Medienbegriff von McLuhan ist hier allerdings sehr deutlich spürbar. Yalkut schreibt: »Intermedia bilden den Nährboden für alles, was nachfolgen wird. Denn aus dem technologischen und ästhetischen Zusammenwirken werden sich Mittel zur Transformation unserer Erkenntnismöglichkeiten entwickeln.«20 Zentral in der 18 | Für einen Überblick der Forschung zum Begriff des Performativen in diesem Sonderforschungsbereich vgl. z.B. Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch (Hg.): Kulturen des Performativen (= Paragrana, Bd. 7, H. 1), Berlin 1998; Erika Fischer-Lichte/Christof Wulf (Hg.): Theorien des Performativen (= Paragrana, Bd. 10, H. 1), Berlin 2001; Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hg.): Praktiken des Performativen (= Paragrana, Bd. 13, H. 1), Berlin 2004; Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2009; Christina Lechtermann/Kirsten Wagner/Horst Wenzel (Hg.): Möglichkeitsräume: Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin 2007. 19 | Dick Higgins: »Intermedia«, in: Leonardo 34:1 (2001), S. 49-54, S. 49. 20 | Jud Yalkut: »Understanding Intermedia«, in: Gottfried Schlemmer (Hg.): Avantgardistischer Film 1951-1971, München 1973, S. 92-95, S. 94.
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Entstehung solcher Transformationen waren, so Yalkut, die spezifischen sinnlichen Möglichkeiten der jeweiligen Medien-Vermischungen, die er als »complex tactilities« bezeichnete. In einem Interview aus dem Jahr 2004 in dem Film- und Media-Journal Millenium sagt er Folgendes dazu: By tactilities, I mean the unique texture which each medium has, whether it is the beautiful reflected light of film, the direct eye-brain projection of electron/photons in video or the magical iterations of digital delay, feedback and electronic coloration. The contrast between »real« color in imagery and the otherworldly richness of electronic color is highly beautiful and fascinating to me, as are the confluence of pixels in digital work, raster lines in video, and grain in film. They each have a unique beauty that cannot be found in other forms. 21
Deutlich ist, dass es in diesen Beschreibungen nicht um einen Vergleich zwischen den Charakteristika verschiedener Medien geht, sondern um die spezifischen, komplexen Wahrnehmungsbedingungen, die sie jeweils hervorrufen. Hervorzuheben ist außerdem die Verwandtschaft zwischen dem Phänomen der Intermedia und den Möglichkeiten der intermodalen Wahrnehmung, die oftmals in Zusammenhang mit Synästhesie erwähnt wird. Obwohl in der neueren Forschung behauptet wird, es gäbe in der menschlichen Population ein Verhältnis von einem Synästhetiker zu 23 Nicht-Synästhetikern, bleiben doch genuine Synästhetiker eine Seltenheit in der Gesellschaft.22 Diese besondere Sensi21 | Sabrina Gschwandter: »Between Film and Video – The Intermedia Art of Jud Yalkut: An Interview with Jud Yalkut«, in: Millenium 42 (Fall 2004), siehe: www.mfj-online.org/journalPages/mfj42/gschwanpage.html (Stand: 25.6.2007). 22 | In starkem Gegensatz zu früheren Ergebnissen scheint es der Fall zu sein, dass die Synästhesie verbreiteter ist als früher geglaubt. Während z.B. Heinz Paetzold in einem sehr detaillierten, 2003 erschienenen kulturhistorischen Überblickstext noch von einer Häufigkeit von einem Synästhetiker zu 100.000 bis 300.000 Menschen in der Bevölkerung ausging (vgl. Heinz Paetzold: Art. »Synästhesie«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Band 5, Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart 2003, S. 840-868, S. 843), wird bei neuerer Forschung ein Verhältnis von einem Synästhetiker zu 23 Menschen festgestellt. Die Diskrepanz ist da-
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bilität der Wahrnehmung, die vererbbar zu sein scheint, kombiniert in einer langfristig gleichbleibenden Paarung zwei Sinne beziehungsweise zwei Wahrnehmungselemente miteinander. Weil Intermedia aber eine allgemein zugängliche Form der Sinnesvermischung untersuchen wollte, ließe sich vielleicht besser von Synästhesie-Effekten sprechen, die einerseits durch die Komplexität des ästhetischen Objekts, andererseits aber auch durch die fundamentale Intermodalität beziehungsweise Amodalität der menschlichen Wahrnehmung hervorgerufen werden. Die amodale Wahrnehmung wurde vor allem bei Säuglingen festgestellt und dürfte damit als Phänomen gesehen werden, das wenigstens in den frühen Entwicklungsphasen eines Menschen allgemein erlebt wird. Der Psychologe Daniel Stern hat in seiner 1985 erschienenen Untersuchung zu pre-verbalen Säuglingen, The Interpersonal World of the Infant (Die Lebenserfahrung des Säuglings, so der Titel in der deutschen Übersetzung), festgestellt, dass Säuglinge in der Lage sind, Informationen, die sie in einem bestimmten sensorischen Modus aufgenommen haben, in einen anderen zu übersetzen. Dies bedeutet allerdings keine direkte Übersetzung von zum Beispiel »Hören« in »Sehen«, sondern – laut Stern – die Einkodierung in eine sogenannte »amodale Repräsentation«, die in allen sensorischen Modalitäten erkannt werden kann. Er schreibt: »These abstract representations that the infant experiences are not sights and sounds and touches and nameable objects, but rather shapes, intensities, and temporal patterns – the more ›global‹ qualities of experience.«23 Solche »amodalen Repräsentationen« erhalten den Namen »vitality affects«. Es sind Affekte, die sowohl im eigenen Körper erlebt, wie auch in den Körpern von anderen Personen erkannt werden. Laut Stern: »These elusive qualities are better captured by dynamic, kidurch zu erklären, dass diese neuen Befunde Ergebnis einer Untersuchung waren, die zum ersten Mal sich nicht auf self-reporting von Synästhetikern verlassen hat und zugleich eine große random sample der Bevölkerung in Anspruch nahm. Für neuere Daten vgl. Julia Simner et al.: »Non-random associations of graphemes to colors in synaesthetic and normal populations«, in: Cognitive Neuropsychology 22:8, S. 1069-1085, zitiert in: Richard E. Cytowic/David M. Eagleman: Wednesday is Indigo Blue. Discovering the Brain of Synesthesia, Cambridge 2009, S. 8. 23 | Daniel Stern: The Interpersonal World of the Infant: A View from Psychoanalysis and Developmental Psychology, New York 1985, S. 51.
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netic terms, such as ›surging‹, ›fading away‹, ›fleeting‹, ›explosive‹, ›crescendo‹, ›decrescendo‹, ›bursting‹, ›drawn out‹, and so on«,24 als durch die besser bekannten Kategorien der emotionalen Affekte, die schon von Darwin etabliert wurden. Like dance for the adult, the social world experienced by the infant is primarily one of vitality affects before it is a world of formal acts. It is also analogous to the physical world of amodal perception, which is primarily one of abstract qualities of shape, number, intensity level, and so on, not a world of things seen, heard, or touched. 25
Stern beschreibt also eine Kapazität in der Wahrnehmung, die viel eher mit qualitativen, fast atmosphärischen Aspekten der Wahrnehmung zu tun hat als mit konkreten »Handlungen«. Es sind Kapazitäten, die wir alle in den frühesten Phasen unserer Entwicklung erleben. Diese Qualitäten der Wahrnehmung könnten einiges über die emotionale Wirkungsweise eines künstlerischen Objekts erklären, das sowohl durch die formalen Aspekte des bestimmten Textes wie auch durch seine spezifischen medialen Bedingungen – und dies jenseits der Berücksichtigung von Handlung und bloßer Inhaltsangabe.26
I MMERSION Im Folgenden möchte ich das Phänomen der Immersion fokussieren, das womöglich das paradigmatischste Beispiel einer transmedialen Form der Involvierung beschreibt, das aber gleichzeitig jeweils sehr mediumspezifische ästhetische Strategien und Konstruktionen voraussetzt. Das Wort Immersion bezeichnet das Einbetten oder Eintauchen in eine Flüssigkeit, oder auch das vollkommene Umgebenwerden durch ein anderes Medium (wie zum Beispiel dem Wasser). Immersive Erfahrung stellt eine Verwirrung und Vermischung der 24 | Ebd., S. 54. 25 | Ebd., S. 57. 26 | Die Anwendbarkeit von Sterns Thesen für eine Analyse filmischer Emotionalität wurde zunächst von Raymond Bellour untersucht. Vgl. Raymond Bellour: »Die Entfaltung der Emotionen«, in: Matthias Brütsch/Vinzenz Hediger/Ursula von Keitz/Alexandra Schneider (Hg.): Kinogefühle, Emotionalität und Film, Marburg 2005, S. 50-101.
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individuellen Sinne zur Schau und hinterfragt zugleich die vermeintliche Wirkungsweise der individuellen Medien. Sie bezeichnet möglicherweise die zeitgenössische Form einer Überschreitung der Grenzen von Kunst und Leben. Ähnlich wie die Intermedialität vor wenigen Jahren hat der Begriff der Immersion in den deutschen Geisteswissenschaften in letzter Zeit zunehmend Konjunktur, jedoch ohne dass es bisher eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Begriffs und der Wirkungsvielfalt des Phänomens gegeben hat.27 Weil die meisten Untersuchungen von immersiver Erfahrung dem durch die Analyse eines bestimmten Gegenstands (ob Computerspiele, Virtual Reality oder digitale Kunst) geprägten Diskurs verhaftet bleiben, scheinen bisher die meisten Auseinandersetzungen daran interessiert – in einer recht zirkulären Argumentationsform –, eine Definition der Immersion zu erarbeiten, die allein durch die technischen Eigenschaften des jeweils zur Diskussion stehenden Mediums bestimmt wird. Zu wenig wird dabei der Modus der immersiven Erfahrung bearbeitet und auch die Frage, ob es sich denn wirklich nur um einen einzigen Modus handelt. Diesem Mangel ist es auch zu schulden, dass die Überschneidung von Kunst und Leben, die in dieser Erfahrung implizit ist, kaum zum Thema gemacht wird. In einem kunsthistorischen Überblick universalisiert Oliver Grau das Phänomen der Immersion, indem er die Immersionserfahrung durch die Eigenschaft einer 360°-Umgebung begründet. Er behauptet ein Erfahrungskontinuum, das von pompejanischer Wandmalerei über perspektivische Deckenbilder des Barock, etwa in der römischen Kirche Sant’Ignazio, bis zu den Panoramagemälden des 19. Jahrhunderts reicht und von da aus weiter bis zu den Virtual-Reality-Umgebungen und -Apparaturen in der digitalen Kunst der 1990er Jahre. 27 | Siehe z.B. die kürzlich erschienene Ausgabe des film- und medientheoretischen Journals montageAV zum Thema der Immersion, Heftherausgeber Robin Curtis und Christiane Voss (17/2/2008). Vgl. hierzu außerdem Oliver Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart: Visuelle Strategien, Berlin 2001; Allison Griffiths: Shivers Down Your Spine: Cinema, Museums, and the Immersive View, New York 2008; Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media, Baltimore 2001; Maria Walsh: »The Immersive Spectator. A Phenomenological Hybrid«, in: Angelaki, Journal of the Theoretical Humanities 9:3 (December 2004), S. 169-185.
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Dieses Kontinuum definiert sich für Grau aber nicht durch die jeweilige Erlebnisform, welche die Kunstwerke und Umgebungen an sich darbieten, sondern vielmehr durch die gemeinsame Inszenierungsform der unterschiedlichen Medien. Wie oft bei Diskussionen zur Immersion werden die produktionsästhetischen Eigenschaften so sehr in den Vordergrund geschoben, dass die (möglicherweise allein durch das performative Verständnis der jeweiligen Verwendung zu erhellende) Gebrauchsform des Kunstwerks vernachlässigt und der immersive Effekt quasi zum ästhetischen Automatismus reduziert wird. Dieses Problem zeigt sich ebenfalls in jenen Texten, die in den letzten Jahren versuchten, die immersive Qualität des Films und der Filmrezeption zu bestimmen und diese Qualität mit der zeitgenössischen Movie-Ride-Ästhetik zu begründen.28 Der Begriff des Movie Ride ist in letzter Zeit als konzeptuelles Modell für die Möglichkeiten der kinetischen Involvierung beim bewegten Bild geläufig geworden. Das Vorbild für diese Art der Involvierung ist die Angstlust erregende Kinetik der Achterbahn, die gerne für die Ästhetik der Actionfilme der letzten Jahre in Anspruch genommen wurde – Beispiele sind die Action-pur-Attraktionen etwa des Regisseurs Michael Bay in Bad Boys II (USA, 2003) oder Transformers II (USA, 2009), aber auch verschiedene Sequenzen in dem letzten James-Bond-Film A Quantum of Solace (Marc Forster, USA, 2008). Bei einer raschen Fahrtbewegung hin zum Fluchtpunkt des Bildes wird die Kamera in diesem Format frontal orientiert. Der Eindruck, in die Bewegung körperlich involviert, ja von ihr bedroht zu sein, kann in solchen Inszenierungen 28 | Vgl. hierzu Constance Balides: »Immersion in the Virtual Ornament: Contemporary ›Movie Ride‹ Films«, in: David Thorburn/Henry Jenkins (Hg.): Rethinking Media Change: The Aesthetics of Transition, Cambridge 2003, S. 315-336 oder Jörg Schweinitz: »Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität. Ein Mediengründungsmythos zwischen Kino und Computerspiel«, in: Das Spiel mit dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft, Bd. 14, Marburg 2006, S. 135-152. Das Phänomen des Movie Rides, das in letzter Zeit eine Beliebtheit in der filmhistorischen Forschung genießt, wurde allerdings schon 1970 von Raymond Fielding in Bezug auf Hales Tours und Phantom Rides untersucht. Vgl. Raymond Fielding: »Die Hale’s Tours: Ultrarealismus im Film vor 1910«, in: MontageAV (17/2/2008), S. 17-40.
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so überwältigen, dass man auf ein Objekt, das einem entgegenfliegt, körperlich, das heißt mit Reflexen reagiert. Diese starke, angstgesteuerte Reaktion gilt in vielen Beschreibungen als Beleg für das erfolgreiche Wirken der filmischen Immersion. Konzepte der Immersion beziehen sich nach diesem Modell in erster Linie auf den Versuch, einen dreidimensionalen Raum in einer möglichst detaillierten Widergabe zu suggerieren, in der Hoffnung, dass der Zuschauer, Nutzer oder Betrachter sich dann in dieses holistische räumliche Konstrukt hineinversetzen kann. Ein solches Verständnis von Immersion, das sich auf einen räumlichen Realismus stützt, behindert aber ein komplexeres Verständnis vom Zusammenhang zwischen Immersion und bestimmten perzeptorischen Kapazitäten, die vollkommen unabhängig von audiovisuellen Technologien operieren können. Nichtsdestotrotz gilt bisher generell die Devise: je räumlich detaillierter, desto immersiver.
S PATIAL P RESENCE Die Frage wäre nun: Ist das Phänomen der Immersion ausschließlich bei denjenigen Erfahrungen zu finden, in denen der Mensch durch die »Maschine« der technologischen Medien im Sinne McLuhans »ausgeweitet« wird? Diese Annahme wurde von einem Forschungsprojekt bestritten, das sich um den Kommunikationswissenschaftler Werner Wirth von der Universität Zürich formierte. Das Projekt, das sich nicht mit Immersion, sondern mit dem angrenzenden (und in der Kommunikationswissenschaft gängigen) Begriff der Spatial Presence befasste, definierte das Phänomen zunächst in Abgrenzung zum üblichen Modell der Presence, das wie folgt verstanden wird: It is commonly referred to as a sense of »being there« which occurs when part or all of a person’s perception fails to accurately acknowledge the role of technology that makes it appear that s/he is in a physical location and environment different from her/his actual location and environment in the physical world. 29
29 | Werner Wirth/Tilo Hartmann/Saskia Böcking/Peter Vorderer/Christoph Klimmt/Holger Schramm/Timo Saari, Jari Laarni/Niklas Ravaja/Feliz Ribeiro Gouveia/Frank Biooca/Ana Sacau/Lutz Jänicke/Thomas Baumgartner/Petra
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Doch wesentlich an dieser Studie ist das Interesse daran, die Erfahrung von Präsenz nicht nur bei technologischen Medien (in Anlehnung an Virtual Reality beziehungsweise Telepräsenz), sondern durchaus bei den »älteren« Medien wie Büchern oder auch dem Fernsehen zu suchen. Dies gelingt dadurch, dass obwohl externe (medienbasierte) Informationen wie visuelle, auditive, haptische oder propriozeptische Impulse durchaus die Erfahrung von Präsenz bereichern können, interne Prozesse wie zum Beispiel diejenigen der Imagination bei minimalen externen (beziehungsweise medialen) Reizen kompensatorisch wirken. Hierfür wesentlich sind die Prozesse, die für das Verarbeiten von räumlichen Cues (das heißt räumlichen Hinweisreizen) notwendig sind – das Medium stellt die Information zur Verfügung, die dann in die eigenen Vorstellungen vom dargestellten Raum integriert wird. Das Ergebnis dieses Abgleichs ist die Herstellung eines sogenannten Spatial Situation Model oder SSM – schlicht eines mentalen Modells der vom Medium vorgegebenen Situation. Sie schreiben: To create an SSM from perception and memory, users must have a ›library‹ of spatial experiences in their mind and must be able to imagine objects and spaces (i.e., they must possess figural imagination). Both spatial knowledge and spatial imagination become more relevant if the mediated representation of the space is less intuitive and more fragmented (for example, when reading textual descriptions of space). 30
Die Einbindung der Imagination in dieses Modell ermöglicht eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie Imagination und Erinnerung in Zusammenarbeit mit den vielfältigen räumlichen Cues eines Mediums in der Herstellung eines Gefühls von Präsenz kooperieren. Auf Grundlage dieser Annahme wäre nach alternativen Analogien für das Phänomen Immersion Ausschau zu halten, nach Analogien, die im Gegensatz zum Paradigma Achterbahn eine vielfältigere Auseinandersetzung mit dem, was bewegte Bilder anbieten, ermöglichen. Es hat sehr wohl für das Verständnis von intermedialen Phänomenen Konsequenzen, wenn man sich mit jenem Umgang mit der Jänicke: »A Process Model of the Formation of Spatial Presence Experiences«, in: Media Psychology 9:3 (2007), S. 493-525, S. 495. 30 | Ebd., S. 502.
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Intermedialität nicht zufriedengeben mag, der de facto Intermedialität als eine Ausweitung der Intertextualität versteht. Die spezifischen Auswirkungen einer bildlichen Intermedialität sind außerdem andere als diejenigen, die bei textlichen Medien hervorgerufen werden. McLuhans Vorstellung vom Medium als »an extension of ourselves«31 trifft insofern zu, als die Reaktionen auf Medien den gesamten Körper einbinden. Der Begriff der Intermedialität muss in diesem Sinne auf eine verkörperlichte – ja geradezu vollständige – Aneignung des Bildes angewendet werden und steht ganz im Einklang mit McLuhans Fazit zum Begriff des Mediums als Ausweitung des Körpers: »Any extension, whether of skin, hand, or foot, affects the whole psychic and social complex«?32 Dies wäre aber nicht unbedingt mit dem üblichen Verständnis von Immersion in Einklang zu bringen, das im Grunde mit der Vorstellung einer gelungenen Illusion gleichgesetzt wird, eine Illusion, die durch die Überlappung von Räumen beziehungsweise Welten entsteht und somit einen fiktiven Aktionsraum für das Subjekt herstellt. Wäre das der Fall, könnte man allerdings nicht von einer so tiefgehenden Veränderung des Organismus sprechen, wie McLuhan es getan hat, denn das übliche Verständnis von Immersion kehrt die produktionsästhetische Ebene stillschweigend hervor und lässt die Rolle des Zuschauers beziehungsweise Nutzers dabei weitgehend außer Acht. Wie verhält es sich nun: Setzt die Immersion Interaktivität oder doch auch das Gegenteil, Interpassivität, Kontemplation und Zerstreuung voraus?
F UN H OUSE An dieser Stelle möchte ich nun eine weitere Analogie einführen, die meines Erachtens besser dazu geeignet ist, die Vermischung von Aktivität und Passivität wie auch die Verunsicherung der Subjektposition in der Immersion hervorzuheben, als die verbreitete Analogie der Achterbahn. Das Fun House war eine beliebte stationäre Attraktion auf Rummelplätzen und in Amusement Parks bis in die 1980er Jahre hinein. Mittlerweile ist es deshalb eine Seltenheit geworden, weil Feuerschutzbestimmungen und andere Fragen der Haftbarkeit 31 | Marshall McLuhan: »Understanding Media«, S. 151. 32 | Ebd., S. 149.
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die Rentabilität dieser Attraktion in Frage gestellt haben. Es war eine sogenannte Walk-through-Attraktion; man bestimmte selbst die Dauer des Aufenthalts in den labyrinth-ähnlichen Raumabfolgen. Eine Vielfalt an einzelnen Attraktionen innerhalb der Fun Houses verunsicherte die Wahrnehmung von Schwerkraft, Gleichgewicht und – allgemein gefasst – der Selbstverortung. Dazu gehörten Fließband-Böden, Spiegel- und Glaslabyrinthe, Treppen, die in zwei verschiedene Richtungen hin und her verschoben werden konnten, rotierende Röhren, insgesamt schräggestellte Zimmer, Gummiräume, Trickspiegel und zuletzt die Rutsche, die immer zum Ausgang führte. Diese Attraktionen induzierten eine andere Art viszeraler Selbsterfahrung und auch Entfremdung als die Achterbahn. Ich möchte vorschlagen, dass die Ästhetik des bewegten Bildes nicht nur dazu in der Lage ist, immersive Erfahrungen durch rapide Bewegung in Echtzeit zu induzieren. Das bewegte Bild ermöglicht es dem Zuschauer vielmehr, eine Art von Shape-Shifting zu erleben, die eine Verwandtschaft mit der Tradition der Fun-House-Attraktion hat.
TE TRIS Im Eingangsbeispiel, das heißt der World of Warcraft-Folge der Serie South Park, hatte ich eine Fernsehsendung (die von Wirth et al. als immerhin minimal immersiv eingestuft wird) mit einem MMORPG oder Videospiel konfrontiert (das durch die in Echtzeit stattfindende Zusammenkunft verschiedenster Spieler und durch die stellvertretende Aktivität des Avatars als relativ stark immersiv eingestuft wird). Im Kontext des Videospiels gilt die Devise: je realistischer, desto immersiver. Um diese Immersionsgleichung ganz grundlegend zu bezweifeln, möchte ich zuallerletzt ein Beispiel erwähnen, das manche Annahmen über Auseinandersetzungsmodi mit Raum hinterfragt – aber dies auf eine ganz andere Weise tut als filmische Beispiele. Gerade im Bereich der Konsol- und Spielentwicklung wird Fortschritt bisher vor allem durch einen wachsenden dreidimensionalen Realismus gemessen. Als Alternative zu dieser Messlatte möchte ich als Beispiel die exzessive Involvierung nennen, die ausgerechnet im Fall eines alten zweidimensionalen Spiels entsteht, eine Immersion, die eine geradezu überwältigende Überblendung der Welt des Spielers mit der Objektwelt des Spiels bewirkt. Dabei ist an die These von Werner Wirth et al. zu erinnern, dass man so etwas wie ein
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»Archiv« der räumlichen Erfahrung aufhebt, das immer wieder in der gegenwärtigen Erfahrung von Raum zur Geltung aktiviert wird. Die Kommunikationsforscher der Spatial Presence haben bemerkt, dass die Erfahrung der Präsenz von der Fähigkeit eines Mediums abhängt, den Zuschauer, Leser oder Nutzer (je nachdem) dazu zu bringen, die räumlichen Cues, die vom Medium angeboten werden, in die eigene mentale Repräsentation des im Medium dargestellten Raums zu integrieren. Ziel des einfachen Spiels ist es, die Formen, die oben im Bildschirm erscheinen und allmählich sich nach unten bewegen, so zu rotieren, dass sie in eine Leerstelle am unteren Ende des Spielfeldes passen. Sobald eine Reihe vollständig wird, verschwindet sie und schafft damit mehr Platz für die oben immer wieder neu erscheinenden Formen. Das Spiel Tetris ist für ein Phänomen namens »TetrisEffekt« verantwortlich, der bei fast jedem Spieler zu beobachten ist. Der Tetris-Effekt zeichnet sich dadurch aus, dass, nachdem Spieler mit dem Spielen aufhören, sie weiterhin Formen »sehen«, die nach unten fallen, und sich unausweichlich weiterhin mit der gedanklichen Aufgabe beschäftigen müssen, sie ordnend zu navigieren, eine Aufgabe, die sie bis in ihre Träume verfolgt. Eine Studie, die im Jahr 2000 an der Harvard Medical School durchgeführt wurde, hat festgestellt, dass selbst anterograde Amnesiekranke, die sich durch eine Störung des Langzeitgedächtnisses noch nicht mal an die Tatsache erinnern können, dass sie Tetris gespielt haben, nichtsdestotrotz die Aufgabe in ihren Träumen verarbeiten.33 Es scheint der Fall zu sein, dass der Schlaf und vor allem der Traum dazu da sind, die Erfahrungen, die man tagsüber gemacht hat, als Lernerfahrungen im Bewusstsein zu verankern – also das eben beschriebene Archiv der Räumlichkeiten auszubilden. Auch wenn der Tetris-Effekt mehr mit der Welt des Schlafs und des Traums als mit der des Alltags zu tun hat, kann er Zweifel an Modellen wecken, die davon ausgehen, dass die verschiedenen Sinne der Wahrnehmung oder auch die unterschiedlichen Medien kategorisch voneinander geschieden werden können. Die »Dinge« der ästhetischen Erfahrung (wie »Filme«, »Fernsehsendungen«, »Videospiele«, »begehbare Installationen«) leisten oftmals mehr, als man dann für 33 | Robert Stickgold/April Malia/Denise Maguire/David Roddenberry/ Margaret O’Connor: Replaying the game: Hypnagogic images in normals and amnesics, in: Science 290:5490 (October 2000), S. 350-353.
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möglich hält, wenn man Bilder einfach als Medien der Kommunikation betrachtet, und dabei die Relevanz des »Körpers« und des »Mediums« verkleinert oder gar vergisst. Wir sollten uns darum bemühen, auch jenseits der offensichtlichsten Erklärungen der Raumerfahrung nach ästhetischen Wirkungen zu suchen und dabei die viszerale Kraft des bewegten Bilds ernster nehmen, als wir es bisher getan haben.
Audio und/oder Video. Zur offenen Struktur elektronischer Medien Yvonne Spielmann
D YNAMISCHES E VOLUTIONSMODELL Im Diskurs über elektronische und digitale Medien haben sich Kategorien des Bruchs, der Umwälzung und sogar einer ›digitalen Revolution‹ etabliert, welche die Novität eines jeweils neu hinzukommenden Mediums betonen. Diese Diskussionsrichtung macht überraschend schnell zwei Grundvoraussetzungen vergessen: dass jedes neuartige Medium zum einen im Zeitalter der technischen Medien zumindest sowohl eine technisch-apparative Entwicklung mitführt und zum anderen in ein vorhandenes Mediensetting hineinwächst. Zusammengenommen begründen diese Voraussetzungen gerade den intermedialen Entstehungszusammenhang eines neuen Mediums in technisch-apparativer wie auch in ästhetisch-semiotischer Hinsicht. Weiterhin ergibt sich aus diesem Entstehungskontext eine Vielzahl von Allianzen und Interrelationen der Medien durch wechselseitige Adaption, Einarbeitung und Umwandlung von neuen und fremden Elementen. Schließlich bilden sich immer neue Mischformen, wenn Film auf Fernsehen trifft, Fernsehen auf Video, Video auf Computer usw., die es schwer machen, kategoriale Trennungen beispielsweise der Sorten hier analog und dort digital aufrechtzuerhalten. Hinzu kommt, dass die jeweils neu entstehenden Medienformen nicht nur auf vertikaler Achse paradigmatische Verschiebungen gegenüber dem vorhandenen Mediensetting dadurch anzeigen, dass das ›neue‹
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im Verhältnis zum ›alten‹ Medium verbindende und trennende Elemente aufweist. Ebenso wichtig zu nehmen sind die Verknüpfungen auf horizontaler Achse zu benachbarten und koexistierenden Medienformen, demzufolge Video nicht ohne syntagmatische Bezüge zu Performance und Happening und gleichfalls zu den Referenzmedien Film und Fernsehen in seiner Kapazität zu erfassen ist. In Konsequenz birgt die vorherrschende Forschungsperspektive neuer Medien, die trennende vor verbindenden Bausteinen interagierender Medien mit dem Ziel der Behauptung des Neuen favorisiert, für die Einschätzung elektronischer Medien eine negative Auswirkung. Dies wird eklatant, wenn beispielsweise Video als Zwischenstation von analog zu digital gilt und folglich mit dem Eintritt der Digitalmedien nicht länger im Diskurs interessant erscheint. Bestehen bleibt dennoch ein Interesse an der rein historischen Erschließung, was sich in der vielerorts erkennbaren Anstrengung ausdrückt, historisch-konzeptuelle Vorläufer insbesondere der Bild- und Tonerzeugung auszumachen und technische Erfindungen oder ihre Imaginationen wie einzelne Perlen auf der Schnur argumentativ aufzulisten. Motiviert sind solche Argumente nicht zuletzt durch Marktstrategien und Ausstellungskonzepte, wo insbesondere ein kunsthistorisches und ein kuratorisches Interesse ineinandergreifen, mit dem Ziel, das ehemals ephemere, grundlegend störanfällige und durch instabile Bildlichkeit ausgewiesene elektronische Medium in den Kanon der Bildmedien einzureihen. Die Notwendigkeit dieser Art von historischer Nobilitierung scheint vor allem gegeben, wenn ein neues Medium, sei es Video oder das Internet, schwer kategorial zu greifen ist und dennoch in ein Verständnis von Medienevolution eingepasst werden soll, welche linear von einem zum anderen gedacht wird. Sodann ist es nur folgerichtig zu nennen, wenn die technische Weiterentwicklung von digitalen Speichermedien dem Mediendiskurs dazu dient, nicht nur die Hardware Videodisk und Videorecorder, sondern gleich das gesamte Medium zu verabschieden.1 Im gleichen Diskursfeld wird zudem Video mit Fernsehen generisch verbunden (und somit seine Eigenständigkeit in eine Abhängigkeit umgewandelt) und dann vorwiegend als Aufzeichnungs-, Bearbeitungs- und Speichermedium filmischer Prozesse diskutiert, 1 | Vgl. Ralf Adelmann/Hilde Hoffmann/Rolf Nohr (Hg.): Video als mediales Phänomen, Weimar 2002.
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über denen das Damoklesschwert des Digitalen schwebt. Ein Seitenblick auf den Film verrät im Gegenteil, wie ein ›altes‹ Medium solche Verabschiedungsprozeduren mehrfach ›überlebt‹ hat und als digitaler Film und demnächst in digitalen Kinos durchaus Zeugnis von einer dynamischen Medienentwicklung qua Implementierung neuer Techniken (wie Computergrafik) gibt. In ähnlicher Weise soll hier am Beispiel des elektronischen Mediums deutlich werden, wie elektronische Signale und computergesteuerte Programmierung zusammengehen. Insbesondere die Erforschung der Übergänge von Video zum Digitalmedium belegt die transformativen Grundeigenschaften im Video, welche die enge Allianz von Signalmanipulation mit Synthesizern und Prozessoren – im strengen Sinne Analogcomputer – und Programmierschritten in späteren digitalen Computern zuallerst ermöglichen. Der Vorschlag zu solch einer dualen Perspektive auf Differenzen und Gemeinsamkeiten will nicht zuletzt einer eindimensionalen Novitätsdiskussion entgegenwirken, welche die bereits von Marshall McLuhan am Beispiel des Fernsehens in den sechziger Jahren vertretene Einsicht missachtet, dass jedes Medium das vorausgegangene aufreibt. Schließlich besagt sein Statement »the medium is the message« in dem oft überlesenen Anschlusssatz auch, der Inhalt eines Mediums bestünde darin, dass das Neue das Alte massiert (»the message is the massage«).2 In diesem Modell der Interrelationen der Medien sind sowohl veränderliche, transformative als auch konstante, wiedererkennbare Elemente zusammengebracht. Sie interagieren im ›neuen‹ Medium umso stärker, je offener die Strukturen des Mediums selbst beschaffen sind, so dass das jeweilige Transformationspotential der massage wiederum an medienspezifische Eigenschaften gebunden und für jede Kollision von Medienformen neu zu bestimmen ist. Anders als bei Positionsbestimmungen, wo neue Medien einander ablösen, soll der Vorteil einer intermedial ausgerichteten medienwissenschaftlichen Perspektive auf elektronische Medien darin liegen, auf das Interrelationsgefüge der für Video relevanten Medienumgebung in puncto technische Neuerungen, medienspezifische Ausdrucksformen und institutionelle beziehungsweise multiple Aufführungsorte zu achten. Das heißt, Fragen der technischen Voraussetzungen werden bei der Ergründung der Entwicklung bestimmter ästhetischer Ausdrucksformen ebenso fokussiert, wie es notwendig 2 | Dokumentiert in Nam June Paiks Videoarbeit »McLuhan Caged«, 1968.
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wird, jene Eigenschaften zu benennen, die spezifisch für ein Medium ausgewiesen werden können und deshalb spezifisch zu nennen sind, weil sie sich von anderen, synchron wie diachron vorliegenden Medien unterscheiden. Diese Merkmale wiederum stehen in Relation zu anderen Merkmalen, die das elektronische Medium beispielsweise mit den filmisch-fotografischen Aufzeichnungsmedien teilt. Die vorgeschlagene Perspektive bedient sich somit einiger Grundannahmen: Zum einen wird ein dynamisches Verständnis der Medienevolution angelegt und zum anderen wird von medienspezifischen Unterscheidungsmerkmalen ausgegangen. Des Weiteren sind die technischen Voraussetzungen und medialen Besonderheiten nur als Gerüst für ästhetische Artikulationen elektronischer Medienformen anzusehen. Da hier jedoch festgelegt ist, dass elektronische Signale in ständiger Bewegung gehalten sind und sowohl auditiv als auch visuell ausgegeben werden können, begründen diese Vorgaben zuallererst ein audiovisuelles Grundverhältnis im Video, welches dann in der ästhetischen Anwendung die Spezifität des elektronischen Mediums in einem vielfältigen Ausdrucksvokabular zur Anschauung bringt. Dies schließt die Transformation der Signalzustände von Audio in Video und von Video in Audio mit ein. Und hierin zeigt sich schließlich auch der wesentliche Unterschied zum Fernsehen: Es bündelt den elektronischen Flow der Signale in konstante Transmissionen und festgelegte Formate, um den Realitätseffekt eines repräsentativen Bildes und Transfers zu unterstreichen und den Zeilenaufbau des elektronischen Bildfeldes möglichst nicht in Erscheinung treten zu lassen. Zeitversetzte Zeilen, ungenaue Synchronisation beim Zeilensprung, offene Strukturen – auslaufende Bildzeilen und Signaltransformationen werden hier als mediale Störung begriffen, die es zu vermeiden gilt. Schließlich sind es die bereits auf der technischen Ebene angelegten Eigenschaften der Instabilität, Flexibilität und Offenheit, die sich in der Medienform von Video als Band, Installation oder Objekt verstärken und Video als Medium sui generis ausweisen. Im Folgenden geht es um den Vorschlag, das elektronische Medium Video in einem dynamisch verstandenen Medienprozess zu situieren. Dabei beziehe ich mich auf ein Modell verschiedener Entwicklungsschritte, welches zwar speziell für das Kino konzipiert worden ist, jedoch in der Absicht, eine verallgemeinerbare Struktur vorzulegen. Gemeint ist das genealogische Modell von Gaudreault und Marion, welches die Geburt eines Mediums als Ergebnis dynamischer
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Prozesse beschreibt.3 Ausgegangen wird von bestimmten technologischen Voraussetzungen, die innerhalb einer vorhandenen medialen Umgebung erfolgen, woraus sich eine besondere Medienform hervorhebt. Sobald die besonderen ästhetischen Ausdrucksformen des Mediums Anerkennung finden beziehungsweise sich durchsetzen, kann von der Etablierung beziehungsweise Institutionalisierung des Mediums gesprochen werden. Diese schrittweise Geburt eines Mediums durch Auseinandersetzung mit der umgebenden Medienkultur wird als gewaltsam beschrieben und tritt zu Beginn mit einer nur ›relativen‹ Spezifität auf, die erst im Zusammenspiel von technologischen und kultursemiotischen Faktoren an Eigenständigkeit gewinnt und dem Medium Struktur und Gestalt verleiht. Festzuhalten bleibt, dass sich diese medialen Besonderheiten im Verlauf weiterer Medienentwicklungen, etwa durch Digitalisierung, als variabel erweisen und somit keine unverrückbaren Konstanten, sondern transformative Größen bilden.
V IDEOSPEZIFIK Video tritt Mitte der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre mit der Einführung einer neuen Technologie auf: portable Videokamera, Videorecorder, Monitor. Es teilt zwar mit dem Fernsehen die elektromagnetische Transmission von Bild- und Tonsignalen, unterscheidet sich aber grundlegend vom Programmfluss und der Segmentierung (Wiederholungen) des Fernsehens, einschließlich solcher Gebrauchsweisen, das Präsenzmedium Fernsehen nachträglich per Videoaufzeichnung zu fixieren. Demgegenüber geht es im Video stärker um die manipulatorischen Möglichkeiten mit pluralen, paradoxalen und parallelen Bildformen. Die prozessuale Entstehung von Video, bei der Lichtimpulse in Signale umgewandelt und in Zeilen geschrieben werden, ermöglicht die Anschlussfähigkeit von Synthesizern und weiteren Analogcomputern und damit vielfältige Bildformen. Sie weichen von den im Fernsehen standardisierten Festlegungen des Bildfeldes (PAL, NTSC oder SECAM) ab und sind durch das Auseinandertreten von Konstruktion (Aufzeichnung) und Rekonstruktion (Wiedergabe) 3 | André Gaudreault/Philippe Marion: »The cinema as a model for the genealogy of media«, in: Convergence: The International Journal of Research into New Media Technologies 8:4 (2002), S. 12-18.
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eher geeignet, eine Selbstreflexion der offenen Struktureigenschaften des Videobildes zu leisten, welche im Fernsehen zugunsten einer glaubwürdigen Realitätswiedergabe enggeführt werden. Solche experimentell-technisch-künstlerischen Gebrauchsweisen von Video erschließen die Kapazitäten des spezifischen Vokabulars in der Auseinandersetzung mit und Abgrenzung zu benachbarten Medienkünsten, angefangen bei der Differenz zum Fernsehen. In dieser Semiotisierungsphase entsteht Videoästhetik qua Medienspezifik – und auf dieser Grundlage sind dann weitere intermediale Beziehungen zu anderen Medien möglich, die sich jetzt auf der Ebene der Gestaltung, Adaption und Transformation gleichrangiger Medien auszeichnen, wie etwa bei Videoaufzeichnung von im Fernsehen ausgestrahlten Filmen. Diese Ebene intermedialer Gestaltungsoptionen unterscheidet sich von der oben angeführten notwendigen intermedialen Entstehungsphase eines Mediums, welches jedes Medium bei der schrittweisen Entwicklung von Technologie zu Medium durchlaufen hat, will es sich im vorhandenen Mediensetting durchsetzen. Schließlich umfasst das Verständnis einer dynamischen Medienentwicklung – sobald ein semiotisches Vokabular entwickelt ist – auch die dispositive An-Ordnung der Aufführung des Mediums und seiner Distributionsweisen. Diese Phase der Institutionalisierung verläuft bei den technischen Medien wie Fotografie, Film, Video und Computer in unterschiedlicher Ausprägung. Während für die Fotografie der Papierabzug und für den Film das Dispostiv Kino kanonisiert sind, hat Video keine vergleichbare dispositive Struktur entwickelt, zeichnet sich vielmehr durch offene, plurale Dispositive aus, die keinen bestimmten Generierungs- und Ausgabevorgang festlegen – wie dies beispielsweise mit Kamera, Projektor und Leinwand für den Film gilt. Hiervon unterschieden, zeichnet sich Video durch offene dispositive Strukturen aus, die den transformativen und prozessualen Charakter des Mediums hervorkehren. Prozessualität heißt: Videosignale werden im Inneren der Geräte (Kamera, Synthesizer) erzeugt, zirkulieren in und zwischen zusammengeschalteten Geräten (Kamera, Monitor, Keyer, Switcher, Scan Processor etc.), lassen sich multipel kombinieren, überlagern, segmentweise verändern, von Audio in Video umwandeln und von Video in Audio, und können in verschiedenen Bearbeitungspositionen und auch auf verschiedenen Geräten in elektronischen Bildformen sichtbar werden. Dies umfasst insbesondere Kamerabild, Fernsehmonitor, integrierte Monitore der
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Prozessoren, zusammengeschaltete Monitore (Videowall) und Großbildschirme. Anhand dieser Vorgaben lässt sich die Medienspezifik des elektronischen Bildes insbesondere von den benachbarten Medienformen im Film und im digitalen Computer absetzen. Exponierte Eigenschaften des elektronisch generierten Bildes treten vor allem dort in Erscheinung, wo die Instabilität des elektronischen Signalprozesses sich in den ständig fortlaufend in Zeilen geschriebenen Videosignalen sichtbar niederschlägt. Des Weiteren weist Video variable Bildformen auf, hervorgerufen durch die im Prinzip unbegrenzte Verlaufsform des Signals, das im standardisierten Format des Fernsehbildes arretiert werden muss, will man ein stabilisiertes, realitätsnahes Bild erhalten. Geschieht diese Arretierung nicht, kommt es zum horizontalen Drifting, einer horizontalen Verschiebung einzelner Bildzeilen. Hinzu kommt die vielfach ›übersehene‹ Grundeigenschaft der Audiovisualität, denn Video bringt weder Bild als Einheit hervor, noch verfügt es über eine Materialität, die dem Filmstreifen und der im Film getrennten Bild- und Tonspur vergleichbar wäre. Elektronischer Signalprozess bedeutet im Unterschied die Realisierung von instabilen Zuständen von Bildlichkeit bei der Aufzeichnung, Übertragung und Ausstrahlung von Lichtinformation, die in Bezug auf Form, Struktur und Gestalt variabel sind. Aufgrund des ›Rohmaterials‹ von Video, das im elektronischen Rauschen oder genauer im elektronischen Geräusch vorliegt, können Bildsignale in Tonsignale transformiert werden, und durch einen Audiosynthesizer erzeugte Tonsignale können als Bildsignale ausgegeben werden, so dass entweder Audiosignale Videosignale steuern oder umgekehrt Videosignale gleichzeitig visuell und auditiv ausgegeben werden. Das elektronische Signal ist ›neutral‹, sein Frequenzwert kann sicht- und hörbar gemacht werden. Die Realisierung von Video als audiovisuelles Medium heißt: Man hört, was man sieht, und man sieht, was man hört. Video und Film verbindet eine analoge Aufzeichnungstechnik, beides sind Analogmedien. Allerdings wird im Unterschied zum Film die einfallende Lichtinformation nicht in eine lichtempfindliche Oberfläche eingeschrieben, sondern vielmehr elektromagnetisch im Inneren der Kamera abgetastet und in Videosignale umgewandelt, die sich an andere Geräte übertragen lassen oder auf Magnetband (später Bildplatte, Videodisk) gespeichert werden können. Schließlich werden statt ›Bildern‹ Signale gespeichert, aus denen Bilder hervorgehen können, jedoch auch Töne. Dies haben Videopioniere
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seit der Frühphase des Mediums genutzt: um Signalabweichungen elektromagnetisch vorzuführen (Nam June Paik, Steina und Woody Vasulka, Stephen Beck usw.) und Audiosynthesizer zur Abweichung der Frequenzmodulation und Generierung von Video einzusetzen. Während in der Anfangsphase zunächst die vorhandenen Audiosynthesizer eingesetzt wurden, hat Stephen Beck einen der ersten Videosynthesizer entworfen, mit dem sich Bild und Ton synthetisieren lassen. Mit diesem Direct Video Synthesizer (Abb. 1, »Synthesis«, USA 1971-1974) können aus den Signalimpulsen unmittelbar Formen, Textur und Farben generiert werden, wobei der externe Kamera-Input keine Notwendigkeit darstellt. Das Signal kann selbst im Synthesizer generiert werden. Demgegenüber arbeitet der analoge Scan-Processor mit externem Input und ermöglicht die Modulation der Scan-Lines in Wellenformen durch die kontrollierte Veränderung der elektrischen Spannung. Dadurch werden die helleren Partien im Bild angehoben, und es bilden sich skulpturale Formen. In »Vocabulary« (Abb. 2, USA 1973) hat Woody Vasulka diese Vertikalisierung des Bildfeldes noch durch Feedback verstärkt, wodurch die generische Prozessualität von Video in einem reflexiven Vorgang anschaulich wird. Abbildung 1: Stephen Beck, »Synthesis«, USA, 1971-1974, 29:00
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Abbildung 2: Woody Vasulka, »Vocabulary«, USA, 1973, 4:50
Diese grundlegende Transformativität und Prozessualität verbindet Video stärker mit dem Computermedium als mit dem Bildmedium Film, dem als Tonfilm der Ton additiv auf einer gesonderten Tonspur hinzugefügt wird. Videogenierung und Generierung von Bild, Ton, Text etc. im Digitalcomputer sind prozessuale Vorgänge, wobei im Unterschied zur analogen Prozessualität von Video der Computer nicht auf der Voraussetzung eines Ausgangssignals beruht. Es kann im Video entweder durch externen Kamera-Input oder durch per Synthesizer erzeugte Signale oder interne Signale entstehen, beispielsweise im Testbild des Broadcast-Signal-Generators. Demgegenüber werden im Computer mathematische Befehle ausgeführt, und per Programmierung kann jegliche Bildlichkeit und Audiovisualität in jeder beliebigen Dimension und Direktion realisiert werden. Diese Programmierfunktion und die daraus folgende Optionalität multidimensionaler und mehrdirektionaler Bildformen bezeichnet schließlich die Grenze von Video und Computer. Im Lichte dynamischer Medienentwicklung stellen sich sodann am Übergang von analogem Video zu digitaler Bildarbeitung neue Mischungsverhältnisse ein. Die Einführung von digitalen Videokameras, DVD-Projektionen usw. hat einerseits die Implementierung von Digitaltechnologien sowohl in Video als auch in Film zur Folge und kündet andererseits zugleich einen neuen intermedialen Entstehungskontext der Hybridmedien an. Digitale Filmkameras, hochauflösendes Video (HDTV) und die Entwicklung digitaler Kinos stehen für die Erweiterung der pluralen dispositiven und dis-
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tributiven Erscheinungsformen, die Video geprägt hat. Hierbei ist letztlich zu bedenken, dass Computerbausteine bereits seit Anfang der siebziger Jahre in Videogeräte integriert worden sind, wodurch diese Entwicklung eher genealogisch denn als Medienumbruch anzusehen ist.
M EDIENSPEZIFISCHE F ORMEN IM V IDEO IN DER I NTERREL ATION MIT ANDEREN K UNSTFORMEN Bei der Verhältnisbestimmung von elektronischen Medien zu zeitgleichen Kunstformen sind einerseits die technisch-apparativen Eigenschaften zu berücksichtigen. Denn sie bedingen die Generierungs-, Darstellungs- und Aufführungsformen von elektronischer Audiovisualität und unterscheiden elektronische Bildlichkeit von Medienformen im Film und Computer, die in je verschiedener Hinsicht (hier analog, dort prozessual) mit Video strukturverwandt sind. Andererseits ist in einem Medienvergleich auch zu diskutieren, wie sich Parameter einer Interrelation jeweils medienspezifisch niederschlagen. Im Kontext der Gegenwartskünste ist in bezug auf Video vor allem der Frage nachzugehen, wie sich prägende Ausdrucksmodalitäten in den multimedialen, performativen und hybriden Verbindungen in einem prozessual ausgewiesenen Medium niederschlagen beziehungsweise mit welchen Kapazitäten des elektronischen Mediums solche Interaktionen zur Anschauung gebracht werden. Mit dem Verfahren der Multimedialität ist zunächst ein integratives, additives Nebeneinander gemeint. Bevorzugte Ausdrucksformen sind Collagen und Montagen von Elementen/Bausteinen, die in einem übergreifenden medialen Kontext etwa der Performance, des Musiktheaters oder des Tanztheaters korreliert werden. Multimediale Kunstformen sind genretypologisch im Happening, Fluxus und der Aktionskunst verankert. Multimedia entsteht in Parallelität und stellenweiser Überschneidung zu den durch Transformation gekennzeichneten Intermedia der fünfziger, sechziger Jahre. Während jedoch in den Multimedia die Bausteine wie Musik, Text, Sprache usw. erkennbare Einzelelemente bleiben, zeichnen sich die Intermedia durch die Verschmelzung der Elemente aus. Mit dieser Unterscheidung lässt sich Multimedialität als eine Kernkategorie im Digitalcomputer bestimmen, wo über Text, Bild, Schrift, Ton, Stimme, Grafik etc. gleichrangig, d.h. auf einer gleichen technischen Ebene der binären
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Codes verfügt werden kann. Video zeichnet sich von seiner Struktur her nicht als ein multimediales Medium aus. Dennoch findet Video prominente Verwendung in multimedialen Kunstkontexten, und zwar insbesondere im Bereich der Performance, wenn Video als Mediatisierungsebene eingesetzt wird oder Videotechnik ein multimediales Element der Performance bildet. Exemplarisch zu nennen sind hier die Performance-Videos von Ulay und Marina Abramovic, Dan Graham, Bruce Nauman und ebenso die Performance-Tanz-Videos von Merce Cunningham und Nam June Paik, die Videoopern von Robert Ashley und die Multi-Media-Performances von Laurie Anderson. Im engeren Bezug zu Video stehen hingegen die Videoperformances von Vito Acconci, bei denen die ästhetisch-technischen Potentiale von Video in einer Interrelation mit dem Fernsehen zu Tage treten. Diese Situation ist anders als die oben angeführten Beispiele, bei denen es sich strenggenommen um Performance-Videos handelt, weil Tanz-, Theater-, Aktions- und Filmperformances mittels Video aufgezeichnet beziehungsweise multimedial realisiert werden. Bei Acconcis Videoperformances hingegen ist die physische Präsenz eines Akteurs vor der Kamera der Ausgangspunkt miteinander agierender Kamera- und Monitorbilder, wobei hier die Grundstruktur des Fernsehens selbstreflexiv dargestellt wird. Im »Theme Song« (Abb. 3, USA 1973) verschränkt Acconci die mediale Reflexion auf die Fernsehsituation – bei der der Nachrichtensprecher eine parasoziale Interaktion mit dem direkt angesprochenen Zuschauer eingeht – mit der Selbstreflexion des Künstlers, der sein eigenes Videobild kontrolliert und bestrebt ist, die Trennung von Bild und Abbild aufzuheben. Dies geschieht dadurch, dass Acconci die Mediengrenze negiert, nahezu in die Kamera hineinkriecht und das weiblich adressierte Publikum auffordert, zu ihm auf seine Seite zu kommen. In diesem »Personto-person«-Kontakt simuliert Acconci eine reale Dialogsituation und macht aufgrund der versuchten Verneinung der apparativen Distanz umgekehrt auf die Bausteine der Mediensituation aufmerksam, bei der die Mediengrenze nicht überschritten werden kann. Hier dient Video als multimediale Ebene der Interrelation von Fernsehen und Performance mit dem Ziel, beim Zuschauer eine Erkenntnis der Strukturunterschiede zu provozieren.
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Abbildung 3: Vito Acconci, »Theme Song«, USA, 1973, 33:15
Im Unterschied also zu Kunstgattungen, die der Performance zuzuordnen sind und bei denen eine Aktion beziehungsweise Aufführung im Vordergrund steht, die multimedial konzipiert ist und mittels Video verstärkt und dementsprechend transformiert wird, weist die andere Kategorie von Videoperformances auf die performativen Potentiale von Video selbst hin. Eine offene dispositive Struktur, wie sie bei Acconcis Überschreitung der Mediengrenze zugrundegelegt ist, wird darüber hinaus in instabilen und transformativen Bildprozessen umgesetzt, die im experimentellen Video erprobt werden. Mit unabgeschlossenen Darstellungsformen von Video und Audio, die in Prozessoren manipuliert werden, kommt der medienspezifische LiveCharakter von Video zum Tragen, der eine grundlegende Performativität von Video anzeigt. Wichtige Beispiele hierfür finden sich in der Geschichte der Videogeräte, zum einen der Image Processor von Dan Sandin (1972) und zum anderen der Rutt/Etra Scan Processor (1973). Mit dem Image Processor kann das Videosignal verschieden prozessual moduliert werden, und es lassen sich Sequenzen auf Programmebene kombinieren (vgl. Abb. 4). Zudem liegen bereits Programmierfunktionen in Echtzeit vor, mit denen sich räumliche Relationen von einfachen geometrischen Formen im Video realisieren lassen, die logisch nicht möglich sind, wie in der Videoarbeit »Triangle in Front of Square in Front of Circle in Front of Triangle« (Abb. 5, USA 1973). Wie Sandins Image Processor zählt auch der von Steve Rutt, Bill Etra
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und Louise Rutt entwickelte Rutt/Etra Scan Processor zur Kategorie der Analogcomputer. Bei diesem System wird durch die Kontrolle der elektrischen Spannung eine Beugung der einzelnen Scan-Lines erzielt, und das Bildfeld kann nach oben und unten und nach rechts und links geschoben und durch 0 spiegelverkehrt umgedreht werden (vgl. Abb. 6). In einem weiteren Experiment mit dem Scan-Processor führen Steina und Woody Vasulka vor, wie durch Änderung der Voltzahl aus einem per Video aufgezeichneten Portrait Steinas ein abstraktes Bildfeld wird (Abb. 7, »Transformation«, USA 1978), das sich nicht aus einer Aktion der Akteure ergibt, sondern ausschließlich der Aufführung medialer Eigenschaften in den Geräten verdankt. Abbildung 4: Dan Sandin, »Image Processor«, USA, 1973
Abbildung 5: Dan Sandin, »Triangle in Front of Square in Front of Cirlce in Front of Triangle«, USA, 1973, 3:00
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Abbildung 6: Bill Etra/Steve Rutt, »Scan Processor«, USA, 1973
Abbildung 7: Steina and Woody Vasulka, »Transformation«, USA, 1978
Diese Aufführungen von performativen Eigenschaften des Mediums Video weisen bereits interaktive Komponenten auf, die bei der Implementierung von digitalen Prozessoren im Video weiter an Bedeutung gewinnen werden. Schließlich erfordern bildliche (audio-visuelle) Gestaltungsprozesse mit digitalen Geräten eine stärkere Co-Kreativität mit den technischen Vorgängen, die nicht vollständig kontrollierbar sind, sondern überraschende Effekte hervorbringen. Diese Entwicklungslinie ist bereits in der frühen Videoperformance angelegt, genauer in den »Video-Violin-Performances« von Steina Vasulka (Abb. 8), welche die performative Qualität von Video auf der Basis der offenen Struktur der Geräte darlegen. Hier wird der aufgenommene Ton der von Steina live gespielten Violine mit den Bildern von zwei Video-
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kameras, die ihr Violinenspiel aufnehmen, einem Keyer und einem Prozessor derart in einem Closed Circuit zusammengeschaltet, dass die Tonhöhe die bildliche Wiedergabe der Performance steuert. Der Ton wird in das Videosystem eingespeist, um das Signal des Kamerabildes ihres Violinspiels zu modulieren. Im Ergebnis werden die Modulationen des Tons als sichtbare Wellenbewegungen des elektronischen Signals erkennbar. Videoperformance heißt hier, die Künstlerin spielt zugleich Violine und Video. Abbildung 8: Steina Vasulka, »Violin Power«, USA, 1970-1978, Videoperformances
Steina Vasulka macht in diesem technischen Kreislauf auch die grundlegende audiovisuelle Interaktion von Bild und Ton deutlich, dadurch, dass die Performerin in die Wellenformen des Videobildes selbst einbezogen ist. Der Ton ihrer Violine stört und verfremdet das Bild ihrer Performance, so dass das gleichzeitige Hören und Sehen von Video im Geräusch liegt und nicht in konstanten Bildformen. Diese Vorgaben sind für weitere Bearbeitungen im Medium Video, vor allem aber auch für die Bezugnahmen auf andere Medien mit und durch Video bedeutsam. Denn videospezifische Relationen zu benachbarten Medien zeichnen sich insbesondere durch Verfahren der Aneignung aus, bei denen mittels Video spezifische Formen des anderen Mediums variiert werden. In solchen Transformationen einer Medienform durch eine andere werden auch die bildlichen Differenzen etwa von Video zu Film für die Zuschauer nicht nur zur Sichtbarkeit, sondern gleichfalls zur Hörbarkeit gebracht.
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Hier ist mit der Performativität von Video auch eine strukturelle Erweiterung um mediale Bausteine angelegt, die über die Inkorporation von analogen Effektgeräten hinausgehen. Video hat sich bereits seit den siebziger Jahren als erweiterungsfähig erwiesen, weil das Medium modular strukturiert ist und keine dispositive Beschränkung mitführt. Die ersten Bausteine, die der Kategorie des Digitalen zuzuordnen sind, kommen bereits 1973 mit dem Multikeyer von George Brown zum Einsatz, der wie die geschilderten analogen Prozessoren über Programmierelemente und basale Speichermöglichkeiten verfügt. Zu Geräten mit digitalen Kontrollmöglichkeiten zählt der Multikeyer durch die Funktion einer Uhr, die es ermöglicht, die Signalimpulse in jedem Darstellungssystem zu demonstrieren und die Repositionierung des Videosignals zu bewerkstelligen. Mit dieser Bedingung lassen sich verschiedene Videoquellen exakt aufeinander beziehen (der Multikeyer von 1973 kann sechs verschiedene Bildquellen in unterschiedlichen Prioritäten darstellen). Dennoch handelt es sich hierbei um Analoggeräte mit Programmierfunktion, die mit Steckund Schaltverbindungen operieren, und nicht um digitale Computer, die auf Programmierung beruhen. Erst mit der digitalen Bearbeitungsebene wird es möglich, reale und simulierte Elemente miteinander zu verschmelzen, mithin hybride Vermischungen auf der Grundlage von bereits vermischten, mediatisierten Formen auszuführen und Gestaltungselemente wie Bild, Text, Ton usw. optional zu handhaben. Paradigmatisch kommt diese Hybridisierung als Merkmal der Vermischung im Digitalen in der technischen Computersimulation zum Ausdruck, wo differente Medienformen, etwa Text, Malerei, Foto, Film, Video und Grafik derart ineinander übergehen oder auseinander hervorgehen können, dass sie elastisch und reversibel in Erscheinung treten und flexible Formen generieren, die nicht an Vorgaben der physikalischen Realität gebunden sind. Hybridisierung bezeichnet in dieser medienwissenschaftlichen Determination die Kernkategorie der Interrelationen auf der Stufe des Digitalen, genauer in den Medienformen der Interaktivität und Virtualisierung. Wie diese neuen Gestaltungsoptionen mit der Entwicklung von Videoästhetik zusammengehen, belegt eine neuere Arbeit von Steina Vasulka, die an die frühen Videoperformances anschließt. Wieder ist die Künstlerin Akteurin, deren Bild gleichzeitig moduliert wird. Mit »Warp« (Abb. 9, USA 2000) führt Steina die Konstruktion von digitalem Raum in der Komprimierung und Akkumulation von bildlichen
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Elementen vor, die sie live vor der Kamera ausführt. Die von Steina gemeinsam mit Tom Demayer entwickelte Software Image/ine komprimiert und dehnt in Echtzeit Bildsegmente, während die Performerin und Videokünstlerin sich vor der Kamera um die eigene Achse dreht. Die Nicht-Fixiertheit der digitalen Modulation wird hier als eine endlose Multiplikation veranschaulicht, wobei die visuelle Struktur eingefroren und wie auf einen Punkt fixiert zu sein scheint. Dieser paradoxale Effekt (von realen Bewegungen und simulierter Fixierung) entsteht, weil die skulpturalen Bildformen Zeit und Linearität des Videos enthalten, die aber im Digitalen nicht als Verlauf dargestellt sind. Das digitale Bildkonzept erweitert somit die videografischen Möglichkeiten zeitlicher Ausdehnung in einer simulierten räumlichen Dimension. Abbildung 9: Steina Vasulka, »Warp«, USA, 2000, 4:44
In einem vergleichbaren Ansatz manipulieren die audiovisuellen Performances von Granular Synthesis die Zeit-Raum-Verhältnisse und stellen Verlauf und Fixierung als optionale Möglichkeiten dar. In dem Beispiel »Model 5« (Abb. 10, Austria 1996) sind Bild und Ton der Performerin Akemi Takeya auf vier parallelen Screens in unterschiedlicher Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit kontrolliert, wobei die Intensität des Tons ebenso an eine Schmerzgrenze gesteuert wird wie die Dynamisierung des Visuellen an die Grenze der Sichtbarkeit/ Erkennbarkeit geführt. Es entstehen Bild- und Tonverbindungen, die das real Mögliche übersteigern und hybride Körper- und Klangskulpturen entstehen lassen. Sie provozieren das Maschinelle im menschlichen Ausdruck. Audiovisualität basiert hier nicht länger wie im
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frühen Video auf einem nachvollziehbaren Austauschverhältnis, vielmehr sind Ton und Bild optionale Gestaltungsmerkmale kontrollierter Softwareanwendungen, die allerdings vom audiovisuellen Grundverhältnis im Video ausgehen und das Geräuschhafte des Mediums an eine neue Darstellungsgrenze treiben. Abbildung 10: Granular Synthesis, »Model 5«, Austria, 1994-1996, Videoperformances
Bei der genaueren Betrachtung von Interrelationstypen in bezug auf die Situierung des elektronischen Mediums im Kontext von analog und digital erhärten sich schließlich die Spezifika der elektronischen Medien. Die hier diskutierten Beispiele entstammen einem Bereich der Videokunst, wo die medialen Grundverhältnisse von Video besonders experimentell reflektiert sind. Die angeführten Arbeiten erheben nicht unbedingt den Anspruch auf Videokunst, sondern wollen Experimente, Studien und didaktische Anschauung sein, die im Wesentlichen darauf gerichtet sind, die grundlegend reflexiven, performativen und interaktiven Eigenschaften von Video zu artikulieren. Der Reflexionscharakter von Video zeigt sich dabei insbesondere bei Darstellungen der Performativität und der Prozessualität von Video, sowie bei analog-digitalen Übergängen zur Interaktivität, was letztlich auch den besonderen Stellenwert der Verbindung von Video und Computer im intermedialen Entwicklungsprozess von analog und digital erhellen mag. Festzuhalten bleibt, dass Video reflexiv zu nennen ist, weil im technischen Verständnis Signalprozesse zirkulieren. Videosignale
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werden im Inneren der Geräte generiert, übertragen und üblicherweise in einem standardisierten Format (Fernsehformat, PAL, NTSC und Secam) ausgestrahlt. Ein sogenanntes Videobild ist in ständiger Bewegung gehalten, das Signal durchläuft das Bildfeld von oben nach unten und von links nach rechts (entsprechend der Vorgabe des Schreibens in der westlichen Kultur). Das Videobild ist kein Bild wie das Tafelbild, das Fotogramm oder der Filmkader, vielmehr besteht es aus einer fließenden Struktur, die ständig Sichtbarkeit auf- und aufbaut. Genaugenommen gibt es im Video gar kein Bild, sondern nur offene Bildstrukturen, die den Eindruck fortlaufender Bewegungsbilder – wie im Film – erzeugen können, aber auch videospezifische Formen der Signalabweichung darstellen, wie beim Scan-Prozessor. Weiterhin ist für die Bestimmung elektronischer Medienbilder die audiovisuelle Austauschbarkeit wesentlich. Videosignale können aus Audio- wie aus Videoinput erzeugt werden, und sie können in den Geräten wechselseitig transformiert werden. Weil man also hören kann, was man sieht, und umgekehrt sehen kann, was man hört, kann Video nicht als ein Bildmedium gelten. Es lässt sich auch nicht multisensorisch erschließen, wie Vertreter der Pictorial-Turn-Diskussionen (W.J.T. Mitchell)4 nahelegen. Es gilt vielmehr die Grundannahme ernst zu nehmen, dass Video auf der Medienseite audiovisuell, also multimodal strukturiert ist. Diese multimodalen Produktionsvorgaben können in der einzelnen Anwendung, der künstlerischen Gestaltung, verstärkt, vermindert und sogar nahezu vollständig negiert werden. Dies geschieht im Fernsehen, wo die videografischen Strukturmerkmale nur bei technischen »Fehlern« auftreten. Sie können aber gleichfalls eine medienspezifische Ästhetik begründen, die Video von anderen Medien, einschließlich Fernsehen, unterscheidet und Audiovisualität heißt.
4 | Vgl. W.J.T. Mitchell, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago 1994.
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A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Stephen Beck, »Synthesis«, USA, 1971-1974, 29:00; Quelle: Stephen Beck: »Synthesis«, USA, 1971-1974, 29:00. Abbildung 2: Woody Vasulka, »Vocabulary«, USA, 1973, 4:50; Quelle: Woody Vasulka: »Vocabulary«, USA, 1973, 4:50. Abbildung 3: Vito Acconci, »Theme Song«, USA, 1973, 33:15; Quelle: Vito Acconci: »Theme Song«, USA, 1973, 33:15. Abbildung 4: Dan Sandin, »Image Processor«, USA, 1973; Quelle: Dan Sandin: »Image Processor«, USA, 1973. Abbildung 5: Dan Sandin, »Triangle in Front of Square in Front of Cirlce in Front of Triangle«, USA, 1973, 3:00; Quelle: Dan Sandin: »Triangle in Front of Square in Front of Cirlce in Front of Triangle«, USA, 1973, 3:00. Abbildung 6: Bill Etra/Steve Rutt, »Scan Processor«, USA, 1973; Quelle: Bill Etra/Steve Rutt: »Scan Processor«, USA, 1973. Abbildung 7: Steina and Woody Vasulka, »Transformation«, USA, 1978; Quelle: Steina Vasulka/Woody Vasulka: »Transformation«, USA, 1978. Abbildung 8: Steina Vasulka, »Violin Power«, USA, 1970-1978, Videoperformances; Quelle: Steina Vasulka: »Violin Power«, USA, 1970-1978, Videoperformances. Abbildung 9: Steina Vasulka, »Warp«, USA, 2000, 4:44; Quelle: Steina Vasulka: »Warp«, USA, 2000, 4:44. Abbildung 10: Granular Synthesis, »Model 5«, Austria, 1994-1996, Videoperformances; Quelle: Granular Synthesis: »Model 5«, Austria, 1994-1996, Videoperformances.
Gespräch: »Begriffe in Bewegung. Wie können die Kunstwissenschaften den Künsten gerecht werden?« Eine Podiumsdiskussion mit Gabriele Brandstetter, Gertrud Koch, Dieter Mersch und Joseph Vogl, Moderation: Markus Rautzenberg1
Markus Rautzenberg (MR): Von Gordon Matta-Clarks »Conical Intersect«, dem Medium Video bis zu den vielfältigen Immersionsformen multimedialer Umgebung haben wir innerhalb dieser Vorlesungsreihe mannigfaltige Beispiele gesehen, die mit dem Begriff »Interart« beschrieben werden konnten. So verschieden die Phänomene, so vielgestaltig sind auch die Möglichkeiten der theoretischen Annäherung an diese. Aber welche Form der Theorie, welche Methoden gar, können dazu dienen, diese sehr heterogenen Beispiele zu beschreiben und miteinander in Beziehung setzen? Das Graduiertenkolleg »InterArt«, auf dessen Programmatik die Konzeption dieser Ringvorlesung basiert, hat es sich zur Aufgabe gestellt, Interart-Phänomene nicht nur aufzufinden und darzustellen, sondern auch Theorieansätze und -methoden zu entwickeln, die sich den Herausforderungen gewachsen zeigen, welche die Künste heute an die Kunstwissenschaften stellen. Zwei Tendenzen sind für den Begriff »Interart« konstitutiv. Zum einen die zunehmende Aufhebung der Grenzen zwischen den Künsten und jener zwischen Kunst und Leben. Beide Tendenzen verunsichern die Kunstwissenschaften im Hinblick auf ihre Gegenstände, 1 | 19.07.2007, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin
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also eben im Hinblick auf dasjenige Moment, durch das sie sich so lange klar definiert und von den anderen abgegrenzt glaubten und damit auch im Hinblick auf ihre Methodologie und Theoriebildung. Grundlegende These dabei ist, dass die Kunstwissenschaften angesichts dieser Situation ihr Begriffs- und Theorieinventar substantiell erweitern müssen, um mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten. Zwar ist die Thematisierung der Grenzen und Grenzüberschreitung zwischen den Künsten in der Ästhetik und den Kunstwissenschaften alles andere als neu, jedoch bieten die theoretischen Auseinandersetzungen mit der Thematik, wie sie uns etwa in Lessings »Laokoon« oder Wagners Begriff des Gesamtkunstwerks entgegentreten, nur Denkanstöße, die natürlich nicht umstandslos auf die heutigen Gegebenheiten appliziert werden können.2 Die Heterogenität der einzelnen Interart-Phänomene, wie sie uns während der Ringvorlesung begegneten, fordert ein Sich-Einlassen auf deren jeweils spezifische Eigenheiten, die sich der eindeutigen Zuordnung zu Genres, Medien oder Künsten oftmals sehr erfolgreich entziehen. Zum Einstieg würde ich daher gerne eine Frage stellen, welche die je einzelnen Fachgebiete betrifft, aus denen unsere Gäste jeweils kommen: Welches Potential, ob positiv oder negativ, sehen Sie für ihre jeweiligen Fachgebiete in einem Konzept wie dem des Interart, das bestrebt ist, die Grenzen der einzelnen Disziplinen der theoretischen Erfassung der Phänomene zu transzendieren? Und welche methodologischen Chancen oder auch Gefahren sind für Sie damit verbunden, mit einem solchen Angebot, mit einer solchen Programmatik? Gertrud Koch (GK): Die theoretische Erfassung von Phänomenen aller möglichen Art in Begriffen ist die Domäne der Philosophie. Dass die Definition dessen, was Kunst ist – und damit hängt die Frage nach der »Verfransung der Künste« (Adorno) zusammen –, nicht abschließbar ist, zeigt, dass weder die Kunst in dieser Verfransung erdrosselt wird, noch die einzelnen Künste darin ganz verschwinden. Wenn man das so als Kurzdefinition zugrunde legt, dann könnte man natürlich sagen, es gibt doch eine Eigensinnigkeit der Disziplinen, die darin besteht, dass sie bestimmte Phänomene eben besser analy2 | Vgl. hierzu ausführlich die Einleitung von Erika Fischer-Lichte zu diesem Band.
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sieren können als andere, weil sie über mehr historische Rahmungen und angemessene Methoden verfügen, d.h. ja nicht, dass man nicht interdisziplinär gemeinsame Phänomenbereiche multiperspektivisch zusammen analysiert, aber ich glaube es sollte nicht heißen, dass alle alles machen. Ich glaube, das macht ja auch die Philosophie Gott sei Dank nicht, sondern die beschränkt sich ja eben dann doch klug tatsächlich auf die Arbeit am Begriff. Die programmatische Ankündigung »Begriffe in Bewegung« verleitet mich zu der Nachfrage, wie es eigentlich mit der ästhetischen Theorie in der Philosophie bestellt ist? Da sieht es vermutlich im Moment nicht so gut aus und deswegen wird, glaube ich, auch sehr viel an Problematik zurückgegeben an die Empirie. Plötzlich soll die Beschreibung von Phänomenen ihre Begriffe ersetzen. Das wiederum ist ein kompliziertes Vorgehen. Insofern würde ich sagen, dass es die Disziplingrenzen vermutlich nicht hinweggespült hat. Es gibt aber, glaube ich, immer mehr Phänomene, die eine zumindest multidisziplinäre Analyse erfordern. Insofern sind die Wissenschaftler vermutlich aufgefordert, sich stärker mit den Problemen der anderen zu befassen und Kompetenzen in dem Sinne eher, ja sagen wir mal, perspektivisch in Anschlag zu bringen als sie einfach als Allgemeingut zu unterstellen. Ich darf vielleicht einmal an einem Beispiel erläutern, was ich meine. Es gibt so einen kleinen Streit in der Filmwissenschaft, in der Filmpublizistik und auch unter Filmemachern, ob die Zukunft des Films im Museum liegt. Im Moment werden nur noch Filme subventioniert, haben nur noch Filmemacher eine Chance zu überleben, wenn sie explizit als Künstler unterwegs sind und den White Cube bespielen. Das heißt, jetzt werden die Filme zerlegt auf multiple Leinwände und in Rauminstallationen noch mal neu präsentiert in einer anderen medialen Form, in einer anderen rezeptiven Form, und das führt sehr oft zu interessanten Ergebnissen. Es gibt aber auch so eine gewisse kannibalistische Neigung, das einfach aufzusaugen. Und dann gibt es eben nur noch den großen – also ich sag es jetzt mal polemisch, wir wollen ja diskutieren – den großen industriell gefertigten Film und die Künstlerfilme in der Galerie. Und es gibt nicht mehr das, was wir sozusagen als europäische Filmgeschichte vielleicht im Auge haben. Wenn das so ist, dann gibt es natürlich ein Problem. Auf der diesjährigen Documenta liefen irgendwie, irgendwo tausend Stunden Film, d.h. das war schon willentlich in Kauf genommen, dass niemand irgendwas sehen wird, weil alle immer nur dran vorbeizischen, weil sie selber in Bewegung sind und sich nicht hinsetzen und
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sich zwei Stunden Filmprogramm anschauen. Der diesjährige Kurator – ein Wiener, der eine gewisse Neigung zum Film-Film zeigt – hat die Entscheidung getroffen, ein Begleitprogramm zur Documenta zu machen, das im Grunde die gesamte Filmgeschichte in einem exemplarischen Ausschnitt zeigt. Dahinter steht die Auffassung, dass sehr viele von den anderen Künsten wiederum, einschließlich der Kuratoren, die für die Präsentation dieser Künste zuständig sind, Film zunehmend als ein Reservoir ansehen, aus dem man sich bedienen kann, ohne dass man, wie das innerhalb der Kunst-Kunst üblich ist, voraussetzt, dass alle das Expertenwissen haben aus der Geschichte der Kunst, die entsprechenden Bildverläufe, im Warburgschen Sinn, identifizieren zu können. Das ist ja das Ausstellungsprinzip der diesjährigen Documenta – ein Warburgkonzept. Und wenn man das von der Schiene aus betrachtet, hat man schon in diesem Ausstellungskonzept mindestens zwei Auffassungen von Film, also filmästhetische Begriffe, wenn man so will, realisiert. Das eine wäre eben, den Film als autonome Kunst zu sehen. Und das andere ist, Filme als Alltagsgegenstände zu sehen, als Ready-mades, wo ich Filmschnipsel von Hitchcock oder irgendwem, it doesn’t matter, nehme und in mein eigenes Bild klebe. Das sind zwei verschiedene Konzeptionen und zwei verschiedene Begriffe von Film. Einmal Film als dieses große, anonyme Bildreservoir, das jeder teilweise kennt und das öffentlich zugänglich ist und wo jeder, also ich rede jetzt von jedem Künstler, etwas abzweigen und umbauen kann. Das ist die charmante Seite. Die weniger charmante ist natürlich, dass – und darauf hat Horvath als Kurator des Filmteils der Documenta natürlich mit seiner Art der Installation von Film im Kino als Film wieder zurückverwiesen –, dass Film eine eigene Tradition hat und eine eigene, sagen wir mal, bearbeitbare Konzeption hat, die im Film selber ja auch wieder aktiviert und recycelt wird. Aber das sind vielleicht nur zwei Modelle, wo man sagen kann okay, das sind völlig unterschiedliche Begriffe von dem, was man unter Film versteht, die hier aufeinanderprallen. Und die prallen aufeinander in einer Praxis, wo tatsächlich auf der phänomenalen Ebene sich die Kunstformen und die alteingesessenen Künste neu zusammenbauen. Ich glaube, das kann man überhaupt nicht übersehen. Aber auch in diesem Neubau, würde ich sagen, gibt es eben ganz unterschiedliche Architekturen und die muss man bestimmen, und ich glaube, die kann man besser bestimmen, wenn man irgendwie auch ein bisschen etwas von
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den einzelnen Künsten versteht, wenn ich es jetzt mal so salopp sagen darf. Joseph Vogl (JV): Ich denke, dass man die Sache auch umdrehen kann. Ich glaube, in der akademischen Landschaft gibt es zwei verschiedene Formen von Wissenschaften: richtige Wissenschaften, eigentliche Wissenschaften, die nennen sich »Sciences«, und es gibt Bindestrich-Wissenschaften, und das ist das, was wir betreiben, also Kunstwissenschaft, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Theaterwissenschaft etc. Und diese Wissenschaften zeichnen sich, glaube ich, seit ihrem Entstehen dadurch aus, dass sie sich irrsinnig schwer begrenzen lassen, auch als Disziplinen. Das Problem war nie: Wie werden die Grenzen überschritten? Sondern das Problem war immer: Wie lassen sich Grenzen ziehen? Die ganzen Debatten, von Dilthey angefangen bis heute, gingen eigentlich darum: Wie kann man, und zwar unnatürliche, Grenzen innerhalb der Disziplinen ziehen. Deswegen, glaube ich, wäre es sinnvoll, die Diskussion oder Debatte umzudrehen, nicht danach zu fragen: Wie können wir interdisziplinär arbeiten? Sondern eher danach zu fragen: Wie ist es eigentlich immer schon, und zwar in einer langen Tradition, geschehen? Und ich würde sagen, zwei Punkte muss man dabei, glaube ich, in Rechnung stellen; das prägt irgendwie die Spannung dessen, womit wir uns beschäftigen. Eines ist, dass wir tatsächlich uns mit Singularitäten in einem ganz eminenten Sinne beschäftigen, also es sind Wissenschaften vom Singulären, und interessant ist, dass je klarer, je schärfer, je näher man singuläre Sachverhalte – und sei es einen einzelnen Film – ansieht, desto transgressiver wird die Arbeit zwangsläufig. Wir kommen von einer Bildanalyse zu einer Textanalyse, von der Textanalyse zur Technologie, von der Technologie zur Soziologie etc. Also es sind Wissenschaften, die die Struktur vom Hundertsten ins Tausendste besitzen, und ich denke, dem muss man sich in irgendeiner Weise stellen und nicht nach Interdisziplinarität fragen, sondern einfach mal beobachten, wo sie eh schon zwangsläufig vorhanden ist. GK: Das tun wir ja sowieso. Ich meine, das ist ja gar nicht das Geheimnisvolle. Wir sind ja alle interdisziplinär unterwegs in gewisser Weise. Aber ich würde doch direkt da noch mal was darauf sagen, weil du das über die Wissensproblematik angedeutet hast, über die Selbstdefinition der Wissenschaften. Es ist sehr interessant, in Chicago gab
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es letztes Jahr eine große Konferenz zur Zukunft der Disziplinen mit dem Titel »The Fate of the Disciplines«. Das Interessante war, dass da ein Jurist war, Robert Post, der sehr interessant argumentiert hat, nämlich ganz in Deinem Sinne, und gefragt hat, was sind denn eigentlich Disziplinen? Also man kann das Problem ja auch so angehen, dass man sagt, wir greifen uns jetzt den Begriff raus und sagen, was sind denn Disziplinen? Post sagt, Disziplinen sind ein Korpus, der im Grunde juridisch definiert wird über Prüfungsberechtigung, über Studiengänge usw., d.h. das ist eigentlich ein System einer Wissensordnung, das die Universität sich selber in solchen diskursiven Ausformungen gibt. Und das finde ich völlig korrekt, insofern sehe ich da gar keinen Widerspruch. Nur was man daraus macht, ist natürlich immer die zweite Frage. Gabriele Brandstetter (GB): Aber es ist ja vielleicht nicht untypisch, dass wir so schnell wieder bei der Wissenschaft sind und bei den Disziplinen oder bei der Disziplin selber, eben auch als das, was wir als Wissenschaftler tun – interdisziplinär oder doch auf der Suche nach der eigentlichen oder unserer eigenen Disziplin: Das steht jetzt, in unserer Debatte, auch recht schnell wieder im Vordergrund. Und Ihre Frage hätte man ja doch von zwei Seiten her verstanden wissen können. Sie wollten zunächst unser Verhältnis zu einer Kunst, die sich als Interart darstellt, aufrufen. Und Sie haben es ja selber schon gesagt, dass Künste sich einfach nicht darum scheren, wo ihre Grenzen sind. Es gibt natürlich die Disziplinen im Sinne von Grenzen, aber wir leben spätestens seit der Avantgarde an einem Punkt, an dem genau an den Grenzen und über die Grenzen hinaus eigentlich die spannenden Dinge passieren: Prozesse, die die Begriffe und das Nicht-Begriffliche, also die Anschauungen und die Ästhetik selber in Bewegung bringen. Im Moment gibt es eine Debatte über Tanz-Tanz und KonzeptTanz. Und das sind natürlich nachgeholte und dann schon wieder sozusagen rücktransportierte ästhetische Paradigmen, die seit der Avantgarde zirkulieren, spätestens seit den sechziger Jahren, und die immer etwas Applikatives haben. Und auch da kann man nur feststellen, dass eigentlich das für uns vielleicht Diskutierenswürdige oder Spannende ja eher ist: Wo sind eigentlich die Grenzen zwischen Theorie und Praxis? Werden diese Grenzen mehr und mehr flüchtig, weil die Praxis der Wissenschaften dadurch affiziert wird? Ich denke schon, dass »Begriffe in Bewegung« ja auch heißt, ein movement, das aus
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der Praxis heraus die Theorie und die Wissenschaft nicht unbewegt lässt. Und wenn im Moment Theorie-Performances und Lecture-Performances im Bereich der Kunst, auch im Bereich der Wissenschaft, solche Felder der Unentscheidbarkeiten aufmachen und besetzen, dann sind es vielleicht auch diese Bewegungen, über die wir hier noch mehr sprechen könnten. Speziell in der Choreographie – einer Kunst, von der man immer sagt, sie ist nicht festzustellen und sie ist deshalb historisch so schwer dem Kanon der Wissenschaften einzuordnen, wie das beim Tanz der Fall ist – gibt es im Moment große Debatten, was denn eigentlich das Theoretische in der Praxis ist oder an der Praxis, also Theorie in der Praxis oder Praxis als Theorie. Im Rückgriff natürlich auf den spekulativen Pragmatismus, Susan Melrose, oder Arbeiten, in denen es um »epistemology of the practice« geht; diese Konzepte werden nun übertragen. Das sind ja eigentlich eher MIT-Konzepte, die nun eine Rolle spielen in der Kunst und in der Selbstreflexivität der Kunst. Und da finde ich eigentlich: Es passiert hier etwas, dem wir Rechnung tragen müssen in unserer eigenen Arbeit, weil man sozusagen die Zweiweltenlehre von Kunst-Praxis und Theorie oder von Kunst und Wissenschaft dann so nicht mehr aufrechterhalten kann. Und die Herausforderung, was das eigentlich für uns bedeutet, liegt auf dem Tisch; auch wenn wir nicht sofort Antworten dafür haben … Auf der Documenta konnte man im Bereich des Tanzes und der TanzPerformances sehen, dass reenactment plötzlich ein Thema ist in den von jungen Tänzerinnen gezeigten, »verkörperten«, Choreographien von Trisha Brown. Auch wenn man Marina Abramovic hier kürzlich in ihrer Lecture-Performance am theaterwissenschaftlichen Institut erlebt hat, wie sie die Wieder-holung und damit sozusagen eine Übertragung aus einer biography des Inszenierens wieder-aufführt: ein Performieren als eine Mischung aus einer Selbstreflexion, einer theoretischen Debatte, einem Diskurstheater und einer szenischen Aufführung und einer Praxis. An diesem Punkt müsste man sich fragen, ob da nicht genau solche Grenzüberwucherungen spannend sind, zwischen Theorie und Praxis, und damit auch als Herausforderung unserer Disziplinen, die sich nicht feststellen lassen und in Bewegung sind. Dieter Mersch (DM): Ich würde gerne auch in Bezug auf die Frage etwas hinzufügen. Erstens, eine Wissenschaft des Singulären gibt es nicht. Das ist eigentlich eine contradictio in adiecto. Es gibt vielleicht
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ein Wissen, was durch Singularität motiviert wird, aber es gibt keine Wissenschaft des Singulären. Dies, weil Sie auch die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und den Disziplinen, Interart und der Vielfalt der Disziplinen gestellt haben. Es gibt das doppelte Problem: Auf der einen Seite gibt es natürlich die Disziplinen, die tradierten Disziplinen, das Wort ist ja eigentlich sehr schön, denn es verweist auf die Disziplinierung, und zwar durch Begriffsarbeit. Und genau das ist das Problem: die Disziplinierung durch die Begriffe einerseits sowie andererseits die Disziplinierung durch Konjunkturen von Begriffen. Ich glaube, nichts wird so sehr verstellt im Bezug auf die Künste und die Beschreibung oder Erfahrung von Künsten wie die Konjunkturen von Begriffen, die immer wieder auftauchen, und diese Platzhalter versuchen etwas beschreibbar zu machen, was zunächst einmal auf diese Weise auch immer wieder durch Entzüge charakterisiert ist. Auf der anderen Seite ist das Problem, dass gerade die philosophische Ästhetik ebenfalls lange Zeit bestimmten Konjunkturen unterworfen war, die sich selbst gleichsam das Wasser abgegraben hat, dadurch, dass sie die Frage der Kunst oder Kunstbeschreibung ausschließlich auf der Grundlage der Frage der Erfahrung, also der Rezeptionsästhetik untersucht hat. Und ich würde hier einfach gerne ein glühendes Plädoyer für die Wiederbelebung der Produktionsästhetik einbringen, und zwar nicht der Produktionsästhetik auf der Ebene des künstlerischen Subjekts, sondern auf der Ebene von »ästhetischen Praktiken«. Wenn man versucht, solche Praktiken zu beschreiben, dann geht es eigentlich nicht darum zu fragen, aus welcher Disziplin kommen eigentlich die Begriffe, mit denen ich das beschreibe, sondern zunächst einmal geht es darum, überhaupt etwas beschreibbar zu machen. Nicht in dem Sinne: Wie lassen sich Grenzen ziehen? Sondern in dem Sinne: Was ist ihr Spezifikum, ihre Eigenart, wie operieren sie im Einzelfall, was suchen sie auf welche Weise zur Erscheinung zu bringen? Nun kann man natürlich sagen: Grenzen ziehen bedeutet Differenzen bilden, was dann wiederum etwas beschreibbar macht, aber ich würde zunächst einmal sagen, es geht überhaupt darum, die Disparität von Praktiken, die, wenn man es nun Interart nennen will, in den multimodalen künstlerischen Prozessen zur Geltung kommen, diese auf eine Weise beschreibbar zu machen, dass deutlich wird, dass sie selber schon an Wissen und Wissen hervorbringt, die ich eben in der Tat als ein singuläres Wissen beschreiben würde, aber von der es wiederum keine Wissenschaft, also keine adäquaten Begriffe geben kann. Kurz gesagt, ich denke, das Problem der Disziplinen oder der Begriffe
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oder der Theorien ist, dass sie eigentlich gleichsam auch immer ihre eigenen Behinderungen mit ausstellen oder mitreflektieren müssen, d.h. ihre Inadäquanz, ihre Übersetzungsschwierigkeiten. Es gibt eine Praxis der Übersetzung, wenn ich es so ausdrücken darf, die gleichzeitig klarmacht, dass die Übersetzung misslingt. Die das Misslingen der Übersetzung dadurch zur Schau stellt, dass sie gewissermaßen die Sperrigkeit dessen, was man da eigentlich betreibt, mit zur Geltung bringt. Das wäre in meinem Sinne ein Versuch, eine permanente Metamorphose begrifflicher Arbeit zu betreiben, in der genau diese Sperrigkeit des Begrifflichen mit zur Geltung kommt. MR: Ihr Schwerpunkt, Herr Mersch, ist ja die Präsenztheorie, also die Frage, wie aus einer postmetaphysischen Perspektive heraus ästhetische Phänomene in ihrer wahrnehmungsgebundenen Gegebenheit theoretisch erfasst werden können, ohne sie gleich auf Zeichen, Sinn oder Strukturen zu reduzieren. Sie haben das gerade schon genau erwähnt, eines der vielen von Ihnen herausgearbeiteten Merkmale einer solchen Präsenztheorie ist gerade, dass es ihr aufgegeben ist, das Scheitern der Sprache und Begriffe ständig mitzuführen, terminologisch mitzuführen. Wie könnte, dessen eingedenk, eine Methodik aussehen, die ihre Gegenstände nicht terminologisch überwältigt, sondern diese gerade in der genannten Singularität zur Geltung bringt, aber natürlich trotzdem begrifflich erfasst. Die Differenz zwischen Wissenschaft und Kunst ist ja wohl allen hier immer noch wichtig. Oder widerspricht der Begriff der Methodik, den ich benutzt habe, nicht vielleicht schon an sich dieser Herangehensweise. Also kann es Methodiken in dem Sinne gar nicht geben? DM: Eine Methode in dem Sinne, würde ich sagen, gibt es nicht. Es gibt natürlich so etwas wie den Wortsinn von Methode: methodos, »Wegfolgen«. Man könnte sagen: In Konfrontation mit künstlerischen Praktiken gibt es eigentlich immer nur je und je verschiedene Zugangsweisen, die sich natürlich auf eine bestimmte Weise beschreiben lassen, aber immer im Sinne eines Wagnisses und nicht im Sinne einer Methode, wenn man Methode versteht als etwas, was auf Regeln oder Grundsätzen und Verallgemeinerbarkeiten basiert. Ich würde zunächst einmal sagen, in der Begegnung mit künstlerischen Praktiken sind wir mit zwei Arten von Wissenspraktiken konfrontiert. Auf der einen Seite: Die Theoriepraxis ist selbst eine Wissenspraxis. Auf der anderen Seite: Die künstlerische Praxis als eine
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andere Form von Wissenspraxis. Beide sind disparat. Das macht das Ganze so schwierig, deshalb weigere ich mich anzuerkennen, dass sich Kunst auf irgendeine Weise diskursiv einfangen ließe. Es geht mir eigentlich darum, diese beiden Wissenspraktiken in ihrer Disparität auch stehen zu lassen und vielleicht gerade auch die Schwierigkeit der Konfrontation immer wieder reflexiv einzuholen. Meine Weise, da heranzugehen, ist die, zu versuchen, künstlerische Projekte oder Prozesse auf das zurückzuführen, was ich »mediale Praktiken« nenne, deswegen auch Produktionsästhetik. Es geht um Praktiken, die oft den Charakter haben, dass sie widersprüchliche oder paradoxe Konfigurationen produzieren, die etwas Sperriges, manchmal Unzusammenhängendes oder Nichtaufgehendes haben. Um ein Beispiel zu geben: Auf der Documenta konnte man eine Multi-Screen-Installation einer indischen Künstlerin sehen, die explizit von der Unaussprechbarkeit des Leidens handelte – ein Leiden, das durch keine mediale Formation einzufangen ist. Diese Unaussprechbarkeit des Leidens, seine Undarstellbarkeit wurde mit Mitteln realisiert, die es dem Betrachter verunmöglichten, immer alles im Blick zu haben oder in der Parallelität des Präsentierten überhaupt auch nur zu verstehen, was gezeigt wurde, d.h. sie arbeitete mit Brüchen, mit den Differenzen zwischen den verschiedenen Bildschirmen und dem, was auf den Bildschirmen zu sehen war, sowie den Geschichten, die auf den Bildschirmen erzählt wurden oder rekonstruierbar schienen. Das sind Praktiken, die mich interessieren – Differenzpraktiken, die durch ihre Brüchigkeit auf etwas verweisen, was sich gleichzeitig der Übersetzbarkeit in einen Diskurs entzieht –, und zwar deswegen, weil sie in ihrer Mitte etwas entstehen lassen, was zunächst einmal nur auf der Ebene der Erfahrung oder dessen, was ich Präsenz nenne, zu beschreiben ist. Das meine ich mit dem Singulären. Es entsteht dadurch auf eine je spezifische Weise ein Raum, den man betreten muss und der auch nicht konsistent entschlüsselbar ist. Natürlich hat man das Repertoire von klassischen Beschreibungsmustern, wie sie aus der Filmtheorie oder aus anderen Theorien kommen, aber zunächst einmal gibt es einen Raum, in dem diese Disparität gewissermaßen Platz greift. Dadurch wird etwas hergestellt, was ich eine spezifische Form singulärer Reflexivität nenne. Und mich interessiert diese Art der Reflexivität. JV: Hm, ich würde auch ganz gerne an dem Punkt vielleicht mal einer anderen Intuition folgen. Es gibt einen Satz, ich glaube der stammt
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von Barnett Newman, der irgendwann sagte, die Künstler bräuchten die Kunsthistoriker und Kunstwissenschaftler so nötig wie die Vögel die Ornithologen. Und dieser Satz, glaube ich, ist dumm, ist deswegen dumm, weil sich natürlich der Ornithologe nicht für den Vogel interessiert, sondern für bestimmte Funktionsweisen, für ein Ökosystem, für physiologische Abläufe, aber nicht für den Vogel, auch nicht, wie er zwitschert. Und ich würde sagen, das ist ganz entscheidend auch für unser Verhältnis zur Kunst. Ich interessiere mich nicht für die Frage, was Kunst definitiv ist, sondern ich interessiere mich dafür, wie sie funktioniert, d.h. also ich interessiere mich für die Bezogenheit von künstlerischen, literarischen Sachverhalten auf andere Sachverhalte … und das ist, glaube ich, ein ganz entscheidender Punkt. Etwa die Frage, wie viel Fiktionalitätsbedürfnis ist in einer Gesellschaft vorhanden, wie viel Bedürfnis nach Unsagbarkeiten, wie viel Bedürfnis nach Illusionen, Betrug und all dem, was eine Gesellschaft am Laufen hält. Und ich glaube, für eine kunst- oder literaturhistorische Perspektive ist das eine elementare Fragestellung, d.h. also nicht sozusagen mimetisch in die Haut des Künstlers zu schlüpfen und einen zwitschernden Ornithologen abzugeben, sondern eben definitiv umgekehrt danach zu fragen, dass Kunst sich selbst Funktionen in gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhängen zuweist. Und darüber kann man Aufschlüsse bekommen, die mehr ergeben als Aufschlüsse über ästhetische Produktivität etc., sondern wirklich über manifeste, soziale, politische, kulturelle Zusammenhänge, das wäre mein Interesse. MR: Frau Brandstetter, die Tanzwissenschaft ist eine noch sehr junge Disziplin, die maßgeblich mit Ihrem Namen verbunden ist. Sie ist in dem Zusammenhang ein hervorragendes Beispiel, denn neben vielfältigen inhaltlichen Aspekten ist die Tanzwissenschaft für unser Thema heute schon allein deswegen so interessant, weil sie die grenzüberschreitenden Disziplinen von vorneherein programmatisch eigentlich internalisiert hat. Die Theorie, wenn Sie mir erlauben, das so als These auf die Bühne zu bringen, die Theorien- und Methodenbildung speist sich daher, soweit ich das übersehen kann, aus vielen Fächern, und zwar nicht nur aus dem geisteswissenschaftlichen Kanon. Trotzdem ist sie natürlich wesentlich mehr als die Summe ihrer Einflüsse, deswegen wäre es auch aus der Perspektive der InterartStudies hochinteressant … genau in dem Zusammenhang, den wir hier besprochen haben … von Ihnen einige Worte dazu zu hören,
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wie sich aus den verschiedenen natur- und geisteswissenschaftlichen Elementen gerade eine neue Theoriebildung formiert, die den spezifischen Anforderungen des Tanzes angemessen ist. GB: Mir gefallen die konträren Positionen meiner Vorredner gut. Es wir mir nicht gelingen, diesen eine Dritte hinzuzufügen. Genauso wenig will ich eine Dialektik daraus konstruieren oder sozusagen ein Hybrid, um dieses Wort mal wieder zu verwenden. Und schon gar nicht kann es darum gehen zu sagen, es gäbe so etwas wie die ideale Kombinatorik unterschiedlicher, disziplinärer, theoretischer, bis in die Naturwissenschaften hineinreichender Ansätze, falls Sie auf so etwas anspielen. Dann, meine ich, ist es vielleicht das viel Interessantere zu sagen, es gibt tatsächlich die Multipositionalisierung, die eine Multiperspektivierung oder eine Beweglichkeit fordert. Wenn mich Choreographie interessiert als eine Frage nach Steuerung, und zwar nach Steuerung von Bewegung in Raum und Zeit, dann bekommt es eine Dimension, die ich ohne weiteres in die Frage sozialer Massen oder in die Frage von politischen und ökonomischen Steuerungskontexten verlängern kann, um von daher gerade aus der Kunst der Raumbeschreibung – dessen, was Choreographie macht – gleichzeitig auch Perspektiven und Fragen herauszufinden, die eine andere Reichweite haben, die kulturwissenschaftlich, die politisch relevant sein kann und die dann nicht mehr die Frage stellt nach dem singulären Ästhetischen oder nach der ästhetischen Erfahrung oder auch der Präsenzerfahrung, für die Tanz ja meistens als zuständig gilt. Es gibt diesen speziellen Diskurs der besonderen Flüchtigkeit des Tanzes, der ja selber Diskurs ist und der immer in dem Moment, in dem wir mit Tanz zu tun haben, uns ja schon vor die Entscheidung stellt, ob wir zum Beispiel mit einem Bildkonzept oder mit einem medialen Konzept arbeiten. Und von da aus wären die nächsten Perspektiven zuständig. Tanz selber positioniert sich – ach, was heißt Tanz selber, es sind gerade diese Indifferenzen, von denen ich vorhin sprach, zwischen Theorie und Praxis, weil auch Tänzer und Choreographen sich genau die gleichen Fragen stellen –, da gehe ich ganz d’accord mit Dieter Mersch, weil diese Art des Arbeitens oder des Wissens keine diskursferne ist. Das wäre blind und hieße, die Kunst wirklich in einem theorie-, diskurs- und gesellschaftsfernen Raum zu positionieren. Es geht um die Frage – wie Gertrud Koch am Anfang ja auch sagte –, wie Kunst sich auf eine andere Weise Themen stellt, die aktuell sind in unserer Gesellschaft, ohne sie zu »lösen«. Also kann es nicht nur um
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eine Übersetzungsaufgabe für uns gehen, sondern tatsächlich darum – um dieses Beispiel noch mal aufzugreifen mit den Steuerungsfragen, wenn uns das Thema Schwarm interessiert –, wie kann eine Choreographie in unterschiedlichsten Formationen Schwarmphänomene simulieren oder überhaupt erst ästhetisch konstruieren? Dann erfahren wir etwas darüber, an welchem Punkt welche Beobachtungen möglich oder unmöglich sind. Von außen oder innen betrachtet stellt sich das jeweils anders dar: welche Dichtigkeiten oder welche Bewegungsfluiditäten so ein Phänomen charakterisieren und in welcher Weise ich das – wenn ich mich in einem Schwarm mitbewege – physisch, kinästhetisch usw. als ästhetische Erfahrung wahrnehme. Dann kann ich es aber nicht zugleich von außen beschreiben. Und alleine schon dieses Changieren ist eines, das die Wissenschaft oder die Theorie mit der Praxis ständig vernetzt; das wäre dann noch mal zu rahmen. Diese Rahmungsfragen stelle ich, um herauszufinden, ist das etwas, was über das Singuläre einer einzelnen Choreographie hinausweist und mir etwas erzählt über Fragen, die allgemein in unserer Zeit aktuell sind. Und da ist die Tanzwissenschaft natürlich – gerade weil sie erst am Entstehen ist, und weil sich im Moment sehr viel bewegt innerhalb der Kunstform Tanz – an einem Punkt, wo sie sich selbst definiert und deswegen vielleicht offener ist als andere, sehr etablierte Kunst- und Kulturwissenschaften. DM: Ich würde ganz gerne noch, weil wir uns ja irgendwie streiten wollen hier oben, etwas zu Joseph Vogl sagen. Natürlich kann das ein Untersuchungsgegenstand sein, nach dem Bedürfnis von Unsagbarkeit in einer Gesellschaft oder nach der Funktion des Unsagbaren zu fragen, aber dabei frage ich mich immer: Von welchem Ort aus ist das überhaupt möglich? Wer spricht da und von wo spricht man? Mich interessiert vielmehr das Verhältnis, wenn ich es mal pathetisch ausdrücken darf, zwischen Leiden und Sprache oder Leiden und Ausdrückbarkeit und die Disparität, der Abstand, der dazwischen ist. Als Theoretiker kann ich eigentlich immer nur negativ darüber reden, also von einem Entzug sprechen. Als Künstler kann man Praktiken entwickeln, um etwas von dieser Disparität erfahrbar zu machen. Das ist etwas ganz anderes als darüber zu sprechen – welche Funktion hat eigentlich Unsagbarkeit in einer Gesellschaft beispielsweise. JV: Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, es war ein Beispiel unter vielen. Ich sollte vielleicht noch mal sagen, dass ich
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vielleicht ganz grundsätzlich der Rede von den Künsten oder der Kunst misstraue, weil ich glaube, dass das, was man da so nennt, letztlich nur ein Metazustand ist, der historisch so variabel ist, dass dieser Begriff kaum ausreicht, 2000 Jahre Literatur-, Kunstgeschichte etc. zu fassen. Und auch der soziale oder kulturelle Ort von Kunst ist so unterschiedlich. Deswegen wäre ich sehr vorsichtig, auch beispielsweise Kunst über den Begriff oder eine Erfahrung des Leidens zu definieren. Da es ganz andere Formen der Verklärung, der Verehrung, des Kultus, des Gestaltens etc. gibt, d.h. auch unterschiedlichste Motivationsformen. Und ich würde eben sagen, diese Definition ist eine sehr moderne Form, Kunst über emphatische Erfahrung oder pathetische Erfahrung oder die Erfahrung des Erhabenen und damit natürlich über bestimmte Spielarten des Leidens zu definieren. Aber es ist nicht, glaube ich, eine grundsätzliche Darreichungsform dessen, was historisch immer als Kunst geliefert wurde, deswegen die gewisse Vorsicht gegenüber einer Definition der Kunst, die, glaube ich, uns in der Moderne auch ein bisschen blind gemacht hat. Kunst ist ein metastabiler Zustand, der alle möglichen, unterschiedlichen anderen Zustände auf- und auseinanderbrechen kann. Und vielleicht eine zweite Bemerkung dazu: Wenn ich eben meinte, dass es um Zirkulation von Fiktionen, Unsagbarkeiten etc. geht, dann würde ich gerne darauf verweisen, dass z.B. die Urszene der modernen Soziologie, etwa um 1900, sich ausschließlich über ästhetische Phänomene definiert hat. Gesellschaft funktioniert nur über Irrationalitäten, ästhetische Phänomene wie Nachahmung, Imitation etc. Die Soziologie von Durkheim, die Soziologie von Gabriel Tarde hat sich zunächst mit ästhetischen Phänomenen beschäftigt, aber eben nicht als Kunst, sondern als etwas, das notwendig die Gesellschaft zusammenhält: dass also ohne dieses Unsagbare, Irrationale, Fiktionale, Täuschende Gesellschaften gar nicht funktionieren. DM: Mir geht es eigentlich eher um die Brüchigkeit, die, wenn man so will, Gesellschaften mitkonstituiert. Das ist der eine Punkt. Der zweite: Ich habe nie von Kunst gesprochen, sondern ich habe von künstlerischen Praktiken gesprochen. Das ist etwas anderes. Wenn man so ansetzt und von den Praktiken spricht, dann kann ich gleichzeitig nicht daran vorbei – und das ist natürlich ein eurozentrischer Standpunkt, auch ein moderner Standpunkt –, dann muss man diese in Bezug auf das Künstlerische als Reflexivität, als reflexive Praktiken verstehen. Das würde ich nicht aufgeben wollen und deswegen
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stehe ich auch so wortlos vor solchen Phänomenen, die aus außereuropäischen Kulturen kommen und die mir einfach nichts mehr sagen. Aber ich denke, darin liegt auch eine Geste der Bescheidung, zunächst einmal zu sagen, das entzieht sich mir oder da wird gewissermaßen Übersetzung grenzförmig. GK: Ich finde es schon interessant, dass jetzt Definitionen eine Rolle spielen, die – das sehe ich bei Dir ganz stark – doch wieder darauf zurückgehen zu definieren, was Kunst ist und damit eigentlich diese Frage, wie diese merkwürdige Verfransung der Künste untereinander zu bestimmen sei, unterläuft oder überfliegt. Ich meine, man kann das einmal wie Joseph historisch funktional als Strategien beschreiben. Dann hat man die Kunst als soziales Funktionssystem definiert, das komplementäre Sinnpotentiale bereitstellt, mit denen die Gesellschaft sich dann noch mal verstehen kann. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, sitzen wir hier eigentlich, um zu diskutieren, was eigentlich passiert, wenn die Kunst in Gestalt ihrer empirischen Mannigfaltigkeit plötzlich auf die Theorien zurückschlägt und damit auch natürlich die dominanten Kunstbegriffe, ob das jetzt die der Moderne sind oder die der funktionalistisch verstandenen Systemtheorie, unterläuft. Und das ist doch die Frage, die ich vorhin so herausgehört habe. Sowohl Gabriele Brandstetter als auch Dieter Mersch verweisen ja auf das Problem, dass es so etwas wie ein implizites Wissen gibt, was in den ästhetischen Praktiken steckt und wo für uns eigentlich die Frage ist: Wie können wir das verstehen oder was können wir damit anfangen. Das wäre ja die pragmatische Frage: Was stellt es dar? Joseph Vogl bietet an, das sozusagen als eine Selbstreflexion zweiter Ordnung zu verstehen, als eine Art von Mängelliste, die wieder zurückweist auf die Gesamtgesellschaft. Gabriele Brandstetter sagt, es gibt eine interne agonale Struktur, in der die Theorie eigentlich gesetzt wird in der Praxis, und damit ist es gar nicht die klassische Theorie, die über die Praxis gebildet wird, sondern die Theorie ist eigentlich Ergebnis der Praxis. Und in gewisser Weise habe ich Dieter Mersch so verstanden, dass Wissen in der ästhetischen Praxis steckt, das aber nicht weiter benennbar ist. Und da finde ich, gibt es natürlich schon ein Problem in der philosophischen Ästhetik. Und zwar dort, wo mit der Differenz der ästhetischen Erfahrung und dem impliziten Wissen, das in der ästhetischen Produktion steckt, operiert wird, ohne noch sagen zu können, was eigentlich die Differenz von ästhetischem zu anderem Wissen aus-
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macht. Man weiß, da gibt es ein Wissen, man kann es aber irgendwie nicht richtig benennen. Es wird nur praktisch in der Performanz selber ausagiert. An dem Punkt hatte ich neulich abends ein Streitgespräch mit verschiedenen Künstlern, die genau die These vertreten haben: »Ihr sagt ja immer, bei uns gibt es eine Art von Wissen, die Wissen ist. Und wenn das so ist, dann soll jetzt auch das so institutionalisiert werden, dass die Kunstakademien uns Doktorentitel verleihen können für bestimmte Werke.« Und es ist in der Tat eine Überlegung, die an der amerikanischen Kunstakademie derzeit institutionell durchgespielt wird. Die Künstler waren da also völlig unterschiedlicher Auffassung. Die einen fanden, dass es zu einer Überinstitutionalisierung führt, also einer Akademisierung, die sozusagen unangenehme Anklänge an die akademische Malerei usw. hat. Die anderen, vor allem diejenigen natürlich, die elektronische Kunst machen, fanden, dass sie sowieso die besseren Wissenschaftler seien. Vielleicht muss man diese Konflikte auch dahingehend verstehen, dass in der Tat die Kunst, da würde ich Dieter Merschs Beschreibung zustimmen, immer selbstreflexiver wird, und indem sie es wird, hebt sie sich natürlich nicht mehr im hegelianischen Sinne auf und wird Philosophie, sondern sie wird plötzlich eben zu einer anderen Philosophie, von der wir aber leider immer noch nicht genau sagen können, was dieses Andere daran ist. Und dann kommt man wieder in diesen Regress, dass man die Kunst immer differenzlogisch als das Andere definiert, das notwendig unbestimmt bleiben muss. Und das ist natürlich eine Definition, mit der man, glaube ich, immer nur die Dilemmata wiederholen kann, die sich dann stellen in dem Moment, wo die Kunst als Begriff zerfällt in diese Hunderte von hybriden, multiplen, sich verfransenden Objekte von solchen also disziplinären Ordnungen. Und da muss man schon fragen, wer denn da eigentlich Wissensbestände neu generiert, wer die intern relativiert? Wenn man das über das Wissensparadigma diskutiert, müsste man dann vielleicht noch mal sagen, was da eigentlich an neuem Wissen erzeugt wird. Und können wir das nicht fassen, weil wir noch in alten Begriffen denken? Ist das sozusagen immer die Lektion der Kunst, dass sie dann doch vorausgeht und dass die Kommentarbedürftigkeit der Kunst immer etwas ist, das sozusagen später kommt, weil sie erst mal das Neue setzt, was noch nicht begriffen ist – im wahrsten Sinne des Wortes. Und dann kommt der Kommentar, es wird allmählich erschlossen, und es wird also von dieser einen Wissensebene in die andere transponiert oder übersetzt
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oder wie man das begreifen möchte. Ich glaube, anders kann man sich das nicht vorstellen. Das ist doch auch sozusagen die Herausforderung, die an uns von der Kunst kommt, dass wir sie eigentlich nicht mehr kommentieren können, weil sie das selbst tun möchte. MR: Ich möchte nun eine Schlussfrage stellen, die dann auch ins Publikum hinein geöffnet werden wird. Wir hatten verschiedene Positionen: die Kunst als das Unverfügbare, über das zu reden eigentlich nicht möglich ist. Und zweitens, die Kunst als Funktion in einem Diskursgefüge, was als solches dann auch zu beschreiben die Aufgabe ist. Zwei Ebenen, die sich aber in einem Punkt treffen, der auch wieder auf die Interart-Problematik zurückverweist, und zwar in politisch-ethischer Dimension. Von ihrer programmatischen Ausgangslage her wäre es den Interart-Studies aufgegeben, auch und vielleicht gerade sogar vor allem jene Grenzverwischung zwischen Kunst und Leben zu thematisieren, die sich mit der Repräsentation von Gewalt, Terror und Folter zeigen, wie sie uns zum Beispiel in den Fotos von Abu Ghraib entgegenstehen. Liegt hier vielleicht die Chance auch für eine politische Re-Sensibilisierung der ästhetischen und kulturwissenschaftlichen Theorie? Oder haben sich diese hier eher herauszuhalten? Das ist eine sehr schwierige und sensible Frage, die zu stellen jedoch schon erlaubt sein müsste in diesem Zusammenhang, gerade im Spannungsfeld zwischen Kunst und Gesellschaft. Das würde ich gerne jetzt noch mal in die Runde stellen und dann das Podium für Fragen aus dem Publikum öffnen. JV: Vielleicht noch einmal einen kurzen Schritt zurück. Ich würde ganz gern anstelle von Kunst zuweilen auch von ästhetischen Formen im weitesten Sinne sprechen, weil dann eben deren Verstreuung, deren Dissemination, wenn man so sagen will, in allen möglichen Bereichen, von der Illustrierten bis zum Fernsehen, von den Inszenierungen der Politik bis hin zu der, wie soll man sagen, privaten Beschallung im Wohnzimmer reicht. Alles das sind Umgänge mit ästhetischen Wahrnehmungen. Die Frage, die Sie aufgeworfen haben, ich glaube, die lässt sich ganz leicht beantworten. Wenn es einen künstlerischen Impuls gibt angesichts diese Konstellation, angesichts des Terrors und vor allem der Bilder des Terrors, angesichts der Bilder von Abu Ghraib, dann ist es ein langer, ewiger und immer wieder neu zu beginnender Kampf gegen Klischees. Kunst würde ich in dem Fall oder in dieser ästhetischen Form als Dauerkampf gegen das Klischee
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begreifen. Dies ist vielleicht am sinnfälligsten von Francis Bacon formuliert worden, der an einer Stelle ganz explizit sagte: Das Problem der bildenden Künste, das Problem der Malerei ist nicht: Wie bekomme ich das Bild auf die Leinwand? Sondern: Wie bekomme ich die Bilder weg aus der Leinwand, um beginnen zu können. Das ist die Frage des Klischees. Ich würde sagen, diese beiden Prinzipien gelten nach wie vor, wie konservativ der damit verbundene Kunstbegriff auch scheinen mag, aber das scheint für mich zentral zu sein: der Kampf gegen das Klischee und der Kampf gegen das Geschäft. Das sind die beiden Dinge, die unsere Arbeit und die Kunst und letztlich auch elementare Lebensformen permanent bedrohen. GB: Zwei Punkte möchte ich noch mal aufgreifen. Gerade weil vorher noch mal die Frage war, ob an dem Punkt, wo wir das nicht mehr entwirren können, wo die Wissensform der Kunst sozusagen von den Wissensformen von Wissenschaft, von Disziplinen, die sich wissenschaftlich nennen oder von Theorie nicht mehr eingeholt werden und die Kommentarbedürftigkeit ein Nachklappen wäre, das nie an das Innovationspotential hinreicht: Genau hier, würde ich sagen, kehrt sich die Spirale um. Und es ist spannend zu sehen, dass der Kommentar nicht nachträglich kommt, sondern dass der Kommentar spätestens seit Heiner Müller sozusagen selbst zur ästhetischen Praxis gehört und nicht mehr kategorial trennbar ist von einem »Eigentlichen« der Kunst. Die Kunst selbst absorbiert eben bis zu gewissen Graden das, was das Geschäft war, was Theorie oder Kunstwissenschaft leistet, und sie arbeitet damit anders, politisch zum Beispiel, und stellt die Frage nach dem, was die Institution Theater oder die Vorstellungen von Text und Drama herausfordert, neu. An dem Punkt, glaube ich, ist dieses Wissen, und auch die Frage: Was sind die Diskursformen des Wissens?, einesteils evident; andernteils aber ist es auch nicht mehr sehr interessant, das dann noch einmal zu reduplizieren in Disziplinen, wenn Kunst selber sich da unterläuft. Und ich denke auch, dass es da nicht mehr um Innovation geht, sondern vielleicht darum, genau diese Standards der Erwartung, die immer an Kunst gerichtet waren, zu unterbieten und möglicherweise den Pathosdruck, wenn man so will, und den Singularitätsdruck aus dem Szenario herauszunehmen. Das konnte man auch in der Documenta gut sehen, dass interessante Arbeiten eigentlich diejenigen waren, die sich eher an Rändern positionierten. Man kann sich ja fragen, ob nicht genau diese Frage, die Sie nach Kunst und Leben gestellt haben, an einem Punkt sich neu
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beantwortet, wo sie eben jenseits des Terrors und der Klischees von Terrorbildern neue Zeichen setzt. Es ist jetzt sehr provokativ formuliert, aber bei den Fragen von Kunst und Leben, da denkt man an die neuen Enemy-Studies oder eben generell an Themen von Gewalt. Aber es gibt noch mal ganz andere Disseminationsfelder, um das in dem Fall Metaphorische wörtlich zu nehmen, innerhalb derer sich die Frage von Kunst und Leben auch noch mal neu aktualisiert. Wenn so sehr wie in unseren Medien und in unseren Disziplinen speziell diese Abu-Ghraib-Bilder schon zu einem Diskursklischee geworden sind, muss Kunst ja anders reagieren oder müssen ästhetische Praktiken anders arbeiten, damit das nicht einfach nur ein Topos ist, der genau das, was sozusagen das Potential des Schreckens oder, um mit Mersch zu sprechen, »des Leidens« wäre, schon vereinnahmt. DM: Ja, ich würde eben doch noch mal betonen wollen: Künstlerische Praktiken sind in sich selbst weisende Kommentierungen, sind in sich selbst weisende Sichtbarmachungen des Wissens, und ich würde dem explizit widersprechen, dass man sagt, es ist eine andere Weise als die theoretische Weise des Sprechens über, was immer schon ein Sprechen als, ein Bestimmen von etwas als etwas beinhaltet. Dass man gewissermaßen immer nur eine Differenz markiert, das liegt einfach an der Paradoxie, dass eine diskursive Praxis eine andere Art der Wissenspraxis nicht einholen kann. Wir haben es stattdessen mit Singularitäten oder singulären Reflexionsweisen zu tun, die sich nicht kanonisieren lassen, die immer wieder neu ansetzen, die auch experimentell versuchen, an Sichtbarkeiten zu arbeiten. Deswegen würde ich auch nicht »Kampf« sagen, sondern »Arbeit an …«. Diese »Arbeit an …« verläuft in eine andere Richtung als die diskursive Praxis der Bestimmung – sie will nicht bestimmen, sondern zeigen. Dass wir hier immer nur eine Differenz konstatieren können, liegt eben daran, dass wir es tatsächlich mit einer Paradoxie zu tun haben, solange wir reden oder solange wir reflexiv, im Diskursiven bleiben. Auf der anderen Seite, wenn man »Kampf gegen« sagt, egal was: Klischees oder Geschäft, dann ist man immer schon im Modus von Reflexion, denn »gegen« impliziert schon eine negative Form und deswegen würde ich schon sagen, das beschädigt eigentlich das, worauf ich hinaus will: Die künstlerische Praxis oder künstlerische Praktiken sind singuläre Reflexionspraktiken, und die kann man nur im einzelnen Fall immer wieder rekonstruieren, und zwar in der Weise, wie sie arbeiten. Und dieses Wie der Arbeit ist eben nicht nur ka-
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priziert auf Klischees oder auf Auseinandersetzungen mit Klischees, sondern nimmt beispielsweise auch Bezug auf das Vergessene – das Vergessene auch in dem Sinne, dass das Leiden oder das, was im Leiden oder in Gewalt mitschwingt, ein Verdrängtes bleibt. Solches Verdrängte auf eine je singuläre Weise zu evozieren, das ist das, was ich u.a. mit den künstlerischen Praktiken auf eine sehr eindrückliche Weise verbinde. GK: Ja, ich würde dem teilweise zustimmen, dennoch vermute ich, dass das eine sehr allgemeine Definition ist, wo die singuläre Praxis nur innerhalb des Systems der Kunst so funktioniert. Und singuläre Praxis, weiß ich nicht, ob es das geben kann oder ob Praxis nicht eben immer auf etwas verweist, das auf den Raum Anderer bezogen ist. DM: Ja klar … GK: … und die allgemeinste Bestimmung, dass sich die Kunst in einer Differenz zur pragmatischen Weise der Verständigung definiert, diese würde dann auf jedes oder auf kein Werk zutreffen. Und dann würdest du auf der anderen Seite normativ sagen müssen, also: Kunst ist nur dann, wenn dieses Kriterium erfüllt wird, und das andere sind dann eben keine Kunstwerke mehr. In der romantischen Kunstkritik gab es die Vorstellung, dass die Kritik selber zur Kunst wird. Brandstetter hat das beschrieben: Die Kunst ist bereits ihr eigener Kommentar, sie baut also das mit ein und wird damit immer unabhängiger von den Kommentierungen. Ich finde, beides sind Modelle einer romantischen Aufhebung, in der das eine in dem anderen aufgeht, was ich doch gerne etwas antagonistischer sehen würde. Also ich glaube, dass die Kunst auch noch gesehen, gehört, gelesen werden will. MR: Ich möchte diese vier Positionen jetzt eigentlich nicht künstlich einer Synthese zuführen, sondern es in aller Offenheit belassen und das Wort ans Publikum übergeben. Gast 1: Ich würde ganz gern noch mal einhaken bei Herrn Mersch und noch mal mich beziehen auf den produktionsästhetischen Ansatz, den Sie verfolgen, wie Sie sagen. Ich gehe absolut konform damit, Praktiken zu beschreiben, aber ich finde es doch relativ wichtig, ich sage es mal so, den eigenen wissenschaftlichen Standpunkt an-
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zunehmen, und der ist einer des Reflexorgans, wenn man so will. Da kann man nicht heraus. Und ich denke, dass hat dann nicht so sehr etwas mit produktionsästhetischer Sichtweise, sondern erst mal mit einer Rezeption zu tun von dem, was ich meine, das da an Praktiken passiert, aber da fängt es ja schon an einzuhaken. Also was kann ich denn von außen sehen, was der oder die Künstlerin an Praktiken angewendet hat, es sei denn, ich begebe mich tatsächlich in den Prozess des Entstehens, des Verfahrens, sei das jetzt bei einem Tanzstück, dass ich selbst als Tänzerin drin bin oder Dramaturgin, wie auch immer, oder sei es, dass ich im Entstehungsprozess einer Installation dabei gewesen bin. Also, ich denke, das ist eine tatsächliche Kluft. Oder ich wäre gezwungen, quasi nur über einen Künstler oder eine Künstlerin zu schreiben, um sämtliche Möglichkeiten der Diskursivität oder Vergleichbarkeit auszuschalten. Also ich halte das für sehr schwierig. Natürlich kann man so eine Position beziehen, aber dann muss ich mich natürlich wirklich fragen, was ist dann mit meinem eigenen Standpunkt. Und das ist immer schon einer und das ist ja auch ein gesetzter. Und noch eine kleine zweite Sache noch. Ich glaube, ehrlich gesagt, auch nicht so sehr daran, dass man als Europäer nur europäische Kunst verstehen kann. Also was soll das sein? Also ich finde, das existiert doch gar nicht. Wir haben es mit so dermaßen vielen, um das Wort noch mal zu benutzen, hybriden Formen zu tun. Das war in der Avantgarde schon so, dass Brecht, ja als der europäische Künstler, vom asiatischen Theater beeinflusst war. Also ich glaube nicht an solche hermetisch abgeschlossenen Zirkel, die sich auf Kontinente beziehen. DM: Ja, ich würde Ihnen zu einem gewissen Grade Recht geben. Also ihr Nicht-Glauben in Ehren, aber ich meinte es zunächst einmal im Sinne einer Geste der Bescheidung. Es gibt auch eine Grenze in meinem eigenen Verstehen, die immer kontextuell gebunden ist an den Raum, in dem ich mich befinde, bzw. den Raum, der gleichsam an Erfahrung von künstlerischen Produktionen in mir Fuß gefasst hat. Aber zur ersten Frage, die ich interessanter finde. Was ich meine, ist natürlich etwas, was immer einer Wechselseitigkeit bedarf. Wenn ich mich für eine Produktionsästhetik stark mache, dann vielleicht aus sentimentalen Gründen, weil die Produktionsästhetik in den letzten zehn Jahren vernachlässigt worden ist oder sozusagen die Untersuchung von Produktionsprozessen zugunsten einer Aus-
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zeichnung von Rezeptionsprozessen vernachlässigt worden ist. Und das reflektiert natürlich eine bestimmte Situation, nämlich, dass man von einem theoretischen Standpunkt aus einem Prozess, einem Objekt, einem Resultat, einer Performance oder was auch immer gegenübersteht und damit zunächst einmal etwas gegenübersteht, das man nicht versteht und das man gleichsam über die Erfahrung, die man damit macht, bestenfalls mit einer Annäherung versuchen kann zu begreifen. Adorno hat mal gesagt – das finde ich, ist ein sehr kluger Satz –, dass die künstlerische Utopie heute darin besteht, lauter Dinge zu machen, von denen man nicht weiß, was sie sind. Genau das wird ja reflektiert im Grunde genommen in der Bewegung der Beschränkung auf Rezeptionsästhetiken: Hier geht es um ein Aufgeben eines emphatischen Künstlerbegriffs. Dem versuche ich, in gewisser Weise entgegenzusteuern. Ich meine damit aber nicht die Restitution des Künstlersubjekts, sondern ich beschränke mich auf die Rekonstruktion von medialen Praktiken oder ästhetischen Praktiken und ihre Konstellationen. Was mich also interessiert, ist, die Konstellation solcher medialen Praktiken minutiös zu beschreiben, d.h. dass ich natürlich mit einer Erfahrung anfange, aber dann auf die Suche gehe danach, was da eigentlich passiert ist. Und die Frage ist: Welches Problem wird da verfolgt? Mit welchen Praktiken wird versucht, es zu verfolgen? Welche Rolle spielt zum Beispiel Materialität? Wie wird Materialität eingesetzt? Welche Rolle spielt so etwas wie die Raumkonstellation oder das Dispositiv gleichsam der räumlichen Ordnung usw. usw. Das sind Versuche, dem auf die Schliche zu kommen, was in jeder künstlerischen Praxis eigentlich eher gleichsam dasjenige ist, was den Nährboden der Auseinandersetzung bildet, nämlich das Experiment. Gast 2: Ich hätte eine Frage an Sie alle, eine kurze. Und dann würde ich gern versuchen, zwei Anmerkungen zu machen. Also wenn wir von Didi Hubermann das Ideal haben, der Wissenschaftler muss versuchen, den Rhythmus des Kunstwerks aufzunehmen, und in seiner Darstellung einen Tanz mit dem Kunstwerk wagen, da schien mir jetzt Ihre Position für uns als Kunstwissenschaftler sozusagen eher eine vage zu sein und die Grenzen gerade auch in unseren wissenschaftlichen Annäherungen nicht in diesem Sinne stark in Richtung des Ästhetischen zu verschieben, also nicht diesen Versuch zu machen, auch in unseren Darstellungen eben den Rhythmus des Kunstwerkes aufzunehmen, um es mit Didi
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Huberman zu sagen. Da hätte ich vielleicht noch mal gern eine klärende Aussage dazu. Das zweite ist an Joseph Vogl gerichtet. Ich finde es auch unheimlich wichtig, sozial- und kulturwissenschaftliche Kontexte in der Annäherung mit Kunst stark zu machen und diese hermeneutische Ebene zu durchlaufen. Aber ich finde das Tolle, dass uns gerade der InterArt-Kontext hier ermöglicht, doch sozusagen darüber hinausgehend eine Ebene freizulegen, wo uns diese Kontexte gerade nicht mehr weiterhelfen, also wo sich etwas zeigt und, mit Herrn Mersch gesagt, wo es Präsenzphänomene gibt, die sich auch diesen Dekontextualisierungen eben noch entziehen. Und das wäre zumindest für mich ein wesentlicher, ein wichtiger Anspruch an InterArt. Und das dritte ist: Gerade wenn man eben diese Phänomenebene nicht überspringen will, glaube ich, ist es bei Künsten, die so stark intermedial arbeiten, wichtig zu versuchen, genaue Beschreibungen dafür zu entwickeln, was passiert, wenn durch dieses Zusammenspiel von einzelnen Kunstformen sich sozusagen das, was ursprünglich Malerei war, das, was ursprünglich Film war, genau in diesem Zusammenspiel verschiebt, und da ist glaube ich, analytisch noch ganz, ganz viel zu machen. Und ich denke, dass uns gerade die Hermeneutik an der Stelle weiterhelfen kann. Denn, was die schon immer getan hat, ist Horizontüberlappungsphänomene zu thematisieren und zu fragen, wie sich vor dem Hintergrund des einen etwas anderes ex negativo abzeichnet, ohne dass man irgendetwas davon in Identität auflösen könnte. JV: Ich kann nicht wirklich darauf antworten. Ich kann nur sagen: Misstrauen Sie Epiphanien! Und genauso würde ich auch von dem Versuch abraten, »mit dem Kunstwerk zu tanzen«. Das könnte einem auf die Füße fallen. Ich würde lieber andere Tanzpartner dafür wählen. Diesen von Ihnen angedeuteten radikal modernen Kunstbegriff historisch zu projizieren, fände ich fatal. Da hilft ihnen auch keine Hermeneutik weiter. Da würden Sie sozusagen nur Irrtümer begehen. Und Sie brauchen nur irgendeinen Aufklärungsroman aufzuschlagen, einen von Schnabel etwa. Da merken Sie nichts von Epiphanien. Da geht es um Geschäft, da geht es um Schiffbrüche, Unfälle und Heiraten, nichts anderes. Kein epiphanisches Erlebnis wird dabei sichtbar, auch kein Geheimnis. Es gibt geheimnislose Kunst. Damit muss man sich abfinden.
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Sie schütteln den Kopf. Dann geben Sie mir ein Gegenbeispiel. Also welches ominöse Geheimnis würden Sie in Schnabels »Insel Felsenburg« beispielsweise finden? Gast 2: Also, natürlich, gut, im 18. Jahrhundert wird es schwerer, aber nehmen Sie nur Jean Paul, nehmen Sie die Romantik … JV: Da sind wir ja in der Moderne. Das meinte ich ja … Gast 2: Ok. Aber Sie würden unterstellen, bei Caravaggio gibt es nichts sich Entziehendes, der malt die Dinge so schön, wie sie sind. JV: Ich will nur daran erinnern, dass bis ins 18. Jahrhundert »Künste« – in Anführungszeichen – auch Techniken und Handwerke waren, »bildende Künste« eingeschlossen; eine besondere künstlerische Differenz ist nicht so leicht zu finden. Ich würde gerne anmerken, dass eben gerade im Zeichen der Medienkunst, im Zeichen digitaler Technologien, in einer gewissen Weise die kurze Zeit der Differenzierung zwischen Kunst und Technik zu Ende gegangen ist. Und dem muss man sich stellen. Und das ist das, was gerade vorher angesprochen wurde, wenn Künstler mit Soft- und Hardwarekenntnissen vielleicht auch einen Doktor haben wollen. Ich würde gerne daran festhalten, dass diese Ausdifferenzierung, hier Technologien und auf der anderen Seite Künste, eben die schönen Künste, die auch noch nach Sparten und nach Wissenschaften getrennt sind, dass das im Augenblick eine Sache ist, die ausläuft, die so nicht mehr, jedenfalls in ganz zentralen Bereichen, nicht mehr weiter funktionieren wird. Gast 3: Ich möchte gern eine Frage stellen zur ethischen und politischen Funktion von Kunst. Und zwar ist da der Begriff des Geschäfts gefallen, der irgendwie kurz fiel und dann war er wieder weg. Für mich ist dieser Aspekt sehr interessant, weil ich an der gesamten Vorlesungsreihe teilgenommen und gemerkt habe, dass diese Form der Grenzziehung zwischen Kunst und Leben oder zwischen Kunst und Gesellschaft immer wieder thematisiert wurde. Es wurde immer wieder von der Gesellschaft als einer medialisierten Gesellschaft oder vom Phänomen einer globalisierten Gesellschaft gesprochen, die ökonomisierte Gesellschaft oder die Frage nach dem Geschäft ist eigentlich zu kurz gekommen. Deswegen war ich ganz froh, dass dies heute einmal thematisiert wurde, wenn auch leider nur am Rande.
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Ich würde da einfach gern noch mal nachfragen, was jetzt vielleicht speziell Sie, Herr Vogl, also unter Geschäft verstehen würden. Könnten Sie das näher ausführen? JV: Man kommt jetzt wahrscheinlich in schwierige Gebiete, und könnte sehr schnell in Verdacht geraten, eine ganz brachiale Kulturkritik zu betreiben. Ich würde aber ganz gerne unterstreichen und eben diese Gefahr auch eingehen und gestehen, dass ich in einer gewissen Weise an der Verunstaltung der Welt durch Uniformierung leide. Ich glaube, das geht sehr vielen Leuten so, und das ist das, was ich mit »Geschäft« bezeichne, und das ist es, was ich die »Herrschaft des Klischees« nennen würde. Hier stellt sich die Frage nach Rückzugsgebieten des nicht immer schon Erkannten, der Phänomene, an die man immer bereits erinnert wird, die man gar nicht mehr sehen braucht, also eine Welt zum Wegschauen ist, glaube ich, eine Sache, die ich mit »Geschäft« meine. Wir sind mit Produkten, mit Phänomenen umgeben, die uns das Wegschauen impulsiv nahe legen, und ich hätte eben damit die Idee verbunden, kleine Inseln des Hinschauens, der Möglichkeit des Hinschauens, Hinhörens zu erzeugen, und die sind irrsinnig schwer zu produzieren. Das würde ich als künstlerische Tätigkeit begreifen.
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Autorinnen und Autoren
Natascha Adamowsky, Prof. Dr. phil. habil., Gastprofessorin für Kulturwissenschaftliche Ästhetik am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, lehrt und forscht im Bereich ludische Erkenntnistheorie, Medienästhetik und Wissenskultur; aktuelle Projekte behandeln das Dispositiv des Wunderbaren in der Moderne, die Medialität des Anormalen sowie urbane Ästhetik im Zeitalter des Digitalen. Aktuelle Publikationen: Das Wunder in der Moderne. Eine andere Kulturgeschichte des Fliegens, München: Fink (Herbst 2010); »Approaches to an aesthetics of the mysterious – with reference to marine research of the 19th century«, hg. m. M. Heßler in: V. Weigel/ Kunsthalle Wilhelmshaven, Über Wasser/Unter Wasser: Vom Aquarium – zum Videobild, Bielefeld: Kerber Christof 2009; »Eine Natur unbegrenzter Geschmeidigkeit. Medientheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Aisthesis, Performativität und Ereignishaftigkeit am Beispiel des Anormalen«, in: S. Münker/A. Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Gabriele Brandstetter, Prof. Dr., Professorin für Theater- und Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Darstellung, Körper- und Bewegungskonzepte in Schrift, Bild und Performance; Forschungen zu Tanz, Theatralität und Geschlechterdifferenz. Publikationen (Auswahl): Loïe Fuller. Tanz, Licht-Spiel, Art Nouveau, Freiburg im Br.: Rombach 1989 (Mitautorin B. Ochaim); Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Fischer 1995; ReMembering the Body. Körperbilder in Bewegung, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2000 (hg. mit H. Völckers); de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München: Fink 2002 (hg. mit S. Peters); Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierungen in Goethes »Wahl-
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verwandschaften«, Freiburg i.Br.: Rombach 2003 (Hg.); Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin: Theater der Zeit 2005; Schwarm(E)Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.Br.: Rombach 2007 (hg. mit B. Brandl-Risi/K. van Eikels); Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps«, Bielefeld: transcript 2007 (hg. mit G. Klein); Tanz als Anthropologie, München: Fink 2007 (hg. mit C. Wulf); Prognosen über Bewegungen, Berlin: b_books 2009 (hg. mit S. Peters/K. van Eikels). Robin Curtis, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin im Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« im Projekt »Synästhesie-Effekte: Kinetische und farbliche Dimensionen des Films«. Feodor-Lynen Stipendiatin, Alexander von Humboldt Stiftung 2008-2010. Geboren in Toronto. Studium in Toronto und Berlin, Filmemacherin, Kuratorin und Medienwissenschaftlerin. Buchveröffentlichungen: Conscientious Viscerality: The Autobiographical Stance in German Film and Video, Berlin: Edition Imorde 2006; Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Fink 2009 (hg. mit G. Koch); Synästhesie-Effekte: zur Intermodalität der äisthetischen Wahrnehmung, München: Fink 2009 (hg. mit M. Glöde/G. Koch); Special Issue »Immersion«, montage/av, 2/2/2008 (hg. mit C. Voss); Deixis und Evidenz, Freiburg i.Br.: Rombach, 2008 (hg. mit H. Wenzel/L. Jäger/ C. Lechtermann). Arbeitet derzeit an einer Theorie der Immersion. Joachim Fiebach, Prof. Dr., Honorar- u. Gastprofessur für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, pensionierter Prof. für Theorie und Geschichte des Theaters an der Humboldt-Universität zu Berlin, Gastprofessuren zwischen 1970 und 2006 in Tansania, Nigeria, USA, Kanada, Österreich. Publikationen (Auswahl): Die Toten als die Macht der Lebenden. Zur Theorie und Geschichte von Theater in Afrika, Berlin: Henschel 1986; Inseln der Unordnung. Fünf Versuche zu Heiner Müllers Theatertexten, Berlin: Henschel 1990; Von Craig bis Brecht (From Craig to Brecht). 3. erw. und überarb. Aufl., Berlin: Henschel 1991; Keine Hoffnung, Keine Verzweiflung. Versuche zur Theatralität und Theaterkunst, Berlin: Vistas 1998; Europäische Theatermanifeste. Grotowski bis Schleef, Recherchen 13, Berlin: Theater der Zeit 2003; Inszenierte Wirklichkeit. Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen, Berlin: Theater der Zeit 2008.
A UTORINNEN UND A UTOREN
Erika Fischer-Lichte, Prof. Dr. Dr. h.c., Professorin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Sprecherin des Internationalen Graduiertenkollegs »InterArt« und Direktorin des Internationalen Forschungszentrums »Verflechtung von Theaterkulturen«. Ihre Arbeitsgebiete umfassen die Ästhetik und Theorie des Theaters, die Europäische Theatergeschichte und interkulturelles Theater. Studium der Theaterwissenschaft, Slavistik, Germanistik, Philosophie, Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Berlin und der Universität Hamburg. Als Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Komparatistik und Theaterwissenschaft unterrichtete sie von 1973 bis 1996 an den Universitäten Frankfurt a.M., Bayreuth und Mainz. Als Gastprofessorin lehrte sie in den USA, Russland, Japan, China und Indien. Publikationen (Auswahl): Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004; Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre, London/New York: Routledge 2005; Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, München: Fink 2006 (Hg.); Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin: Theater der Zeit 2006 (hg. mit B. Gronau/S. Schouten/C. Weiler); Staging Festivity. Theater und Fest in Europa (= Theatralität Bd. 10), Tübingen/Basel: Francke 2009 (hg. mit M. Warstat). Barbara Gronau, Dr. phil, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin und am Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen«. Promotion 2006 mit einer Arbeit über Bildende Kunst und Theater (Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München: Fink 2010), derzeit Habilitationsprojekt zur »Ästhetik des Unterlassens«. Daneben Tätigkeit als Dramaturgin bei verschiedenen Produktionen (u.a. Cafe Dutschke, Sophiensäle Berlin 2002; Über Tiere, Zürcher Festspiele/Tanzquartier Wien 2007) und als Kuratorin der internationalen Festivals Poker im Osten (2005) und Palast der Projekte – Zum Verhältnis von Theater und Ökonomie (2008) – beide im Hebbel am Ufer Berlin. Publikationen: Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin: Theater der Zeit 2006 (hg. mit E. Fischer-Lichte/C. Weiler/S. Schouten); Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2007 (hg. mit A. Lagaay); Ökonomien der Zurückhaltung – Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld: transcript
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2010 (hg. mit A. Lagaay); Global Ibsen – Performing Multiple Modernities, London/New York: Routledge 2010 (hg. mit E. FischerLichte/C. Weiler). Kristiane Hasselmann, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin und Geschäftsführerin des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen«. Promotion am Graduiertenkolleg »Körper-Inszenierungen« mit einer historiographischen Arbeit zu den Ritualen der Freimaurer (Die Rituale der Freimaurer. Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript 2009). 2006-2007 Postdoktorandin am Internationalen Graduiertenkolleg »InterArt«. Aktuelles Forschungsprojekt: »Hidden Dimensions. Zur restriktiven Performativität des Tabus«. Publikationen: Utopische Körper. Visionen zukünftiger Körper in Geschichte, Kunst und Gesellschaft, München: Fink 2004 (hg. mit S. Schmidt/C. Zumbusch); »Entfesselung des Imaginären und Suche nach der perfekten Form. Zur Bedeutung freimaurerischer Referenzen in Matthew Barneys Cremaster 3 (2002)«, in: H. Schramm/L. Schwarte/J. Lazardzig (Hg.), Spuren der Avantgarde: Theatrum alchemicum, Berlin/New York: de Gruyter 2010; »Theater und Tabu – Aisthetische Grenzerprobungen an tabu-immanenten Markierungen«, in: B. Gronau/A. Lagaay (Hg.), Ökonomien der Zurückhaltung, Bielefeld: transcript 2010. Gertrud Koch, Prof. Dr., Professorin für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zahlreiche Gastprofessuren im In-und Ausland. Forschungsaufenthalte am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, am Getty Research Center in Los Angeles u.v.a. Publikationen: Herbert Marcuse zur Einführung, Hamburg: Junius 1987 (zus. mit H. Brunkhorst); »Was ich erbeute, sind Bilder«. Zur filmischen Repräsentation der Geschlechterdifferenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988; Die Einstellung ist die Einstellung. Zur visuellen Konstruktion des Judentums, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992; Kracauer zur Einführung, Hamburg: Junius 1996; Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion, Frankfurt a.M.: Fischer 1995 (Hg.); Bruchlinien – Zur Holocaustforschung, Köln: Böhlau 1999 (Hg.); Kunst als Strafe, München: Fink 2003 (hg. mit S. Sasse/L. Schwarte); Umwidmungen – Filmische und architektonische Räume, Berlin: Vorwerk 8 2004 (Hg.); Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfahrung in
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der Kunst, München: Fink 2005 (hg. mit C. Voss); ...kraft der Illusion, München: Fink 2006 (hg. mit C. Voss); Inszenierungen der Politik. Der Körper als Medium, München: Fink 2007 (hg. mit P. Diehl); »es ist als ob«: Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, Paderborn: Fink 2009 (hg. mit C. Voss). Mitherausgeberin zahlreicher deutscher und internationaler Zeitschriften. Dieter Mersch, Prof. Dr., Lehrstuhl für Medientheorie und Medienwissenschaften an der Universität Potsdam. Studium der Mathematik und Philosophie in Köln, Bochum und Darmstadt, zwischen 2000 und 2004 Gastprofessur für Ästhetik und Kunsttheorie an der Muthesius-Kunsthochschule Kiel, 2006 Max-Kade-Professur an der University of Chicago, 2008 Gastprofessor an der Technischen Universität Budapest, 2009/2010 Fellow am IKKM Weimar. Publikationen (Auswahl): Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink 2002; Ereignis und Aura. Untersuchungen zur einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002; Medientheorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2006; Kunst und Wissenschaft, München: Fink 2007 (Hg.); Logik des Bildlichen. Zur Kritik ikonischer Vernunft, Bielefeld: transkript 2009 (hg. mit M. Heßler); Posthermeneutik, Berlin: Akademieverlag 2010. Irina O. Rajewsky, Jun.-Prof. Dr. phil., Junior-Professorin für italienische und französische Literaturwissenschaft am Institut für Romanische Philologie und an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität Berlin. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Italianistik und Kunstgeschichte in Madison, WI (USA), Berlin und Pisa (Italien); 2000 Promotion im Bereich der Italienischen Philologie an der Freien Universität Berlin. Zahlreiche Beiträge im Bereich der Intermedialitätsforschung (u.a. Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002; Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne. Von den giovani scrittori der 80er zum pulp der 90er Jahre, Tübingen: Narr 2003). Ihr laufendes Forschungs- und Buchprojekt ist in der Transmedialitätsforschung angesiedelt: »Medialität – Transmedialität – Narration. Perspektiven einer transgenerischen und transmedialen Narratologie (Film, Theater, Literatur)«. Markus Rautzenberg, Dr. phil., 2007-2009 Postdoktorand am Internationalen Graduiertenkolleg »InterArt«, zurzeit wiss. Mitarbeiter am
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Fachbereich Philosophie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie, Ästhetik, Bildtheorie, Theorie und Ästhetik digitaler Medien. Aktuelle Publikationen: Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie, Berlin/Zürich: Diaphanes 2009; »Uncanny Valley. Kleine Bildtheorie der Zombiefikation«, in: M. Fürst/F. Krautkrämer/S. Wiemer (Hg.), Untot. Zombies in den Medien, München: Belleville 2009; »Exzessive Bildlichkeit. Das digitale Bild als Vomitiv«, in: I. Reichle/S. Siegel/A. Spelten (Hg.), Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression, München: Fink 2009. Derzeitiges Forschungsprojekt: »Evokation. Zur non-visuellen ›Macht der Bilder‹«. Søren Møller Sørensen, Prof. Dr., ist Musikwissenschaftler, Associate Professor am Department of Arts and Cultural Studies der Universität Kopenhagen sowie Forschungskoordinator und Redakteur von Musicology Online. Promotion (1992) über das Konzept des musikalischen »Werks«. Zahlreiche Publikation zur Ästhetik der Musik, Musikgeschichte und zeitgenössischer Musik, Beiträge zur Musikgeschichte Nordeuropas (Stuttgart: Metzler 2001). Jüngste Veröffentlichungen in englischer Sprache: »… as Phryne from the Bath. The debate on musical temperaments in the 18th century«, in: Musik & Forskning 30 (2005); »Sound without properties? German 19th-Century Discourses on the Parametrical Hierarchy«, in: Paragrana 16/2 (2007). Yvonne Spielmann, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1957, Studium der Germanistik, Amerikanistik und Philosophie an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt a.M., Promotion in Hannover (1989), Habilitation in Konstanz (1997). Professor and Chair of New Media, University of the West of Scotland, zuvor Professur für Geschichte und Theorie der visuellen Medien an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Wichtige Publikationen: Eine Pfütze in bezug aufs Mehr. Avantgarde, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1991; Intermedialität. Das System Peter Greenaway, München: Fink 1998; Video, das reflexive Medium, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005; Video. The Reflexive Medium (engl. ÜB), Cambridge/London: MIT Press 2008; What is Intermedia?, Convergence, special issue (2002); Hybrid Identities in Digital Media, Convergence, special issue, 8:4 (2005) (hg. mit J. Heinrichs); Remédier/Remediation, Intermédialités, special issue, 6 (2005) (hg. mit P. Despoix); »CAA 2005: Hybridity: Arts, Sciences and Cultural Effects.« Special section, in: Leonardo, 39:2 und 39:3 (2006) (hg. mit
A UTORINNEN UND A UTOREN
J. D. Bolter); Kultureller Umbau. Räume, Identitäten und Re/Präsentationen, Bielefeld: transcript 2007. URL: www.yvonne-spielmann. com Gregor Stemmrich, Prof. Dr., ist Professor für Kunstgeschichte des 20./21. Jahrhunderts an der Freien Universität Berlin. Er studierte Kunst, Kunstgeschichte und Philosophie (Promotion 1987). Nach Assistenz und Habilitation (1997) an der Freien Universität Berlin Professur an der Kunsthochschule Dresden (bis 2007). Buchveröffentlichungen (Auswahl): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel: Verl. der Künste 1995 (Hg.); Jeff Wall. Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit, Dresden/Basel: Verl. der Künste 1997 (Hg.); Kunst/Kino. Jahresring 48/Jahrbuch für moderne Kunst, Köln: Oktagon 2001 (Hg.); Having been said – Writings and Interviews of Lawrence Weiner 1968-2003/Gefragt und Gesagt – Schriften und Interviews von Lawrence Weiner 1968-2003 (dt. und engl. Ausgabe), Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004 (hg. mit G. Fietzek); Dan Graham (Artist’s Monographs/Künstlermonographien. F.C. Flick Collection), Köln: DuMont 2008. Er konzipierte das Modul Kunst und Kinematographie für das Medienkunstnetz (www.medienkunstnetz.de). Martin Urmann, M.A., geb. 1979, studierte Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft in Berlin und Paris. Von 2006 bis 2009 war er Mitglied im Graduiertenkolleg »InterArt« (Freie Universität Berlin) mit einem Dissertationsprojekt zur Ästhetik der Fin-desiècle Künste. Veröffentlichungen: »Paradoxologisches Sprechen als Triumph der Sprache. Mallarmés Lyrik des ›Blanc‹«, in: E. Alloa, A. Lagaay (Hg.), Nicht(s) sagen – Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2008; »Articulation et médium. Autour d’une nouvelle théorie du sens et de ses applications possibles«, in: Revue des sciences sociales 39 (2008); »Gestimmtes Wissen. Die Fin-de-siècle Literatur als Antwort und Frage an das Problem der Wissenschaft«, in: U. Jensen/D. Morat (Hg.), Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 18801930, München: Fink 2008. Philip Ursprung, Prof. Dr., geb. 1963 in Baltimore, USA, Professor für Moderne und zeitgenössische Kunst an der Universität Zürich. Studium der Kunstgeschichte, Allgemeinen Geschichte und Germanistik in Genf, Wien und Berlin. 1993 Promotion an der Freien Uni-
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A USWEITUNG DER K UNSTZONE
versität Berlin, 1999 Habilitation an der ETH Zürich. Er unterrichtete u.a. an der Universität der Künste Berlin, der ETH Zürich und der Graduate School of Architecture, Planning and Preservation der Columbia University New York. Kurator an der Kunsthalle Palazzo, Liestal und Gastkurator am Museum für Gegenwartskunst in Basel und am Canadian Center for Architecture in Montreal. Publikationen: Grenzen der Kunst: Allan Kaprow und das Happening, Robert Smithson und die Land Art, München: Schreiber 2003; Herzog & de Meuron: Naturgeschichte, Montreal/Baden: Müller 2002 (Hg.); Einführung und Interviews für Olafur Eliasson: Encyclopedia, Köln: Taschen 2008. Zuletzt erschienen in der Beck’schen Reihe: Die Kunst der Gegenwart. München 2010. Joseph Vogl, Prof. Dr., von 1998 bis 2006 Professur für Theorie und Geschichte künstlicher Welten, Fakult Medien, Bauhaus-Universität Weimar; seit 2006 Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft/ Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin. – Jüngste Publikationen (Auswahl): Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München: Sequenzia 2002; Europa: Kultur der Sekretäre, Zürich [u.a.]: Diaphanes 2003 (hg. mit B. Siegert); Politische Zoologie, Zürich [u.a.]: Diaphanes 2007 (hg. mit A. von der Heiden); Über das Zaudern, Berlin: Diaphanes 2007; Für alle und keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Kafka und Nietzsche, Zürich [u.a.]: Diaphanes 2008 (hg. mit F. Balke/B. Wagner); Versuchsanordnungen 1800, Zürich: Diaphanes 2009 (hg. mit S. Schimma); Alexander Kluge/ Joseph Vogl: Soll und Haben. Fernsehgespräche, Zürich [u.a.]: Diaphanes 2009.
Kultur- und Medientheorie Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.) Kultur im Konflikt Claus Leggewie revisited Oktober 2010, ca. 226 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1450-3
Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums November 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7
Claus Leggewie, Anne-Katrin Lang, Darius Zifonun (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien November 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst Mai 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3
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Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz
Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion
Januar 2010, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3
Juli 2010, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8
Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik Einführung in ein kulturund medienwissenschaftliches Forschungsfeld
Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930)
August 2010, 372 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1297-4
November 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7
Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika
Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt
Oktober 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1043-7
April 2010, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1356-8
Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert, Martina Rosenthal (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader
Theo Röhle Der Google-Komplex Über Macht im Zeitalter des Internets
Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien
Juli 2010, 266 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1478-7
Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9
Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
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