Ausgewählte Werke: Bändchen 2 Geschichte des Grafen Hugo von Craenhove und seines Freundes Abulfaragus [Neue Auflage, Reprint 2022]
 9783112625965

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Geschichte des Grafen

Hugo von Cruenhove und seines Freundes

Abulsaragus. Von

Heinrich Conscience. Deutsch von

Joh. Wilhelm Wolf. Neue Auslage.

Aon«, 1889.

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Bei Adolph Marcus.

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A u s g e tv a hlt e Werke von

Heinrich Conscience. Unter Mitwirkung des Uerfassers

deutsch VON

Joh. MH. M-!f.

Zweites Bändchen. Geschichte des Grafen Hugo von Craenhove und

seines Freundes Atbnlfaragns. Neue Auflage.

Aon», 1889.

Bei Adolph Marens.

Geschichte des Grafen

Hugo von Craenhove und seines Freundes

Avulsaragus. Von

Heinrich Conscience. Deutsch von

Ish. Wilhelm Mslf. Neue Auflage.

Aon«, 1889.

Bei Adolph Marcus.

Graf Hugo von Craenhove. i.

Ais Leiden Lirten. Nm das Jahr 1360 lag zwischen den Dörfern Wyneghem und Santhoven, drei Stunden von Antwerpen, noch ein wilder, düsterer Wald. Die Eiche, der Wälderkönig des Nordens, streckte ihre stolze Krone gen Himmel, während der getreue Epheu in Liebeskränzen an ihrem rauhen Stamme auf und ab kletterte und die duftenden Blumen­ sträuße des Gcisblattes ihren breiten Fuß wie mit gold­ gestickten Schuhen schmückten. Kinder einer Mutter, er­ hoben sich neben ihr die Buche mit deu glänzenden Blät­ tern, die silberstammige Birke, die Pappel mit ihrem ewig rauschenden Laube, und die schlanke Weide, die, einem in Liebe trauernden Mädchen gleich, sich mit ihrem Hangenden Laube über die zahlreichen Weiher beugte. Die Waldränder hatten etwas Zaubergleiches. Da warf die Brombeere ihre purpurnen Ranken von Stamm zu Stamm und wob also einen fast undurchdringlichen Vor­ hang, an dessen Grunde Schlüsselblumen und Maßliebchen wie verlorne Perlen glimmerten. Tiefer aber trug Alles einen andern Charakter; da schien der Boden der untrüg­ lichste Zeuge der gewaltigsten Revolutionen zu sein; hier und dort erhoben sich dürre Sanddünen; trügerische Moore und gährendc Süntpfe zehrten an den halbfaulen Stämmen 1

entwurzelter Weiden; fahl und trüb niederhangendes Moos deckte, statt des frischgrünen Geisblattes, die Bäume, die mit Pilzen und Schwämmen, wie mit Beulen des Aus­ satzes überschncit, einer Gesellschaft todesmüder Greise gli­ chen, welche ihr letztes Stündlein erwarteten. Nie drang ein Strahl der Mittagssonne durch all' dies wirre Laub hindurch bis auf den feuchten Boden; ein ewiges Halbdunkel und schauerliche Stille herrschten dort unumschränkt; nur von Zeit zu Zeit krächzte eine Eule ihren Leichenruf oder raschelte ein schneller Fuchs durch die abgefallencn Blätter und Zweige, die Todtenstille nur unterbrechend, um sie noch schauerlicher zu machen. Neben dem Walde dehnte sich eine unermeßliche Haide und weiter, da, wo der Himmel der Erde zu nahen scheint, war ein undurchdringlicher Vorhang von schwarzen Tannen. An einem Frühlingsmorgen des Jahres 1366, noch ehe die Sonne die dichten Nachtncbel durchbrochen, saßen zwei Hirten auf der Haide. Der Eine war ein alter Mann von mehr denn sechzig Jahren mit weißem Haar und ge­ krümmtem Rücken. Der Andere war fast noch Kind; nur siebenzehn Jahre glänzten von seinem frischrothen und ein­ nehmenden Gesichte, blaue Augen leuchteten sanft unter der breiten Stirne und feine Haare, deren Farbe ein Gemisch von Gold und Silber schien, rollten in schmeichelnder Un­ ordnung auf seinen Hals. Beide waren in rauhe Stoffe gekleidet und beschäftigt, aus dickem Wollentuch Strümpfe zu nähen, während ihre Heerden in einiger Entfernung, jede allein, die wenigen Blumen und Gräser abrissen, welche die Haide bot. Nach einigen Augenblicken legte der alte Hirte seine Arbeit bei Seite, zog ein Buch aus der Tasche und öffnete dasselbe. Das hatte der Jüngere nicht sobald bemerkt, als die eisernen Nähnadeln seiner Hand entfielen; sein Auge

8 glühte vor Neugier, und seinem Gesellen einen Schritt näher

tretend, beugte er sich über die offnen Blätter und schaute

mit gespannter Aufmerksamkeit

auf die Buchstaben hin.

Dann sprach er mit einem tiefen Seufzer: „Du kannst lesen, Albrecht? Hast du aus diesem Buche gelernt, wie mein die Winde lenkt, gut und schlecht Wetter machen und das Vieh bezaubern und entzaubern kann? O, ich gäbe zwanzig der schönsten Jahre meines Lebens

darum, verstände ich die Zeichen wie du." Der alte Hirte lächelte bei dem Ausrufe und erwiederte:

„So, Bernhard? Glaubst auch du schon dem, was die alten Weiber von Santhoveu sagen? Weil ich lesen kann, schreit man mich als Zauberer aus; ich habe in meinem

ganzen Leben übrigens kein ander Buch in der

Hand gehabt, als dies eine, und was meinst du wohl, was

darin steht?"

„Wie kann ich das errathen? Sag' es mir doch nur." „Ei nun, es ist die Passionsgeschichte unseres lieben Herrn und Heilandes. In meiner Jugend wohnte ich näm­ lich bei einem alten Pfarrer; der hat das Buch für mich geschrieben und mich mit vieler Mühe gelehrt, die Zeichen zu verstehen, der gute Mann, Gott gnade seiner Seele!

Hintenan

in das Buch

schrieb

er mir auch noch einige

kräftige Heilmittel, bei Krankheiten unter den Schafen gar nützlich; in der Kenntniß der Mittel, Bernhard, besteht

meine ganze Zauberkunst." Bernhard aber war nicht zufrieden damit.

„O, laß

mich das Buch doch einmal in die Hand nehmen!" bat er

ungeduldig. Der alte Hirte gab es ihm willig; Bernhard warf sich

auf den Boden, legte das Buch offen vor sich auf die Kniee und wandte mit sieberhafter Aufmerksamkeit ein Blatt nach dem andern.

Es lag etwas Wunderbares in der ganzen

4 Haltung des jungen Hirten und vor Allem in der starren

Unbeweglichkeit seines Hauptes, von dem zu beiden Seiten die blonden Locken lang herabgesunken hingen. Mit wohl­ wollendem Lächeln blickte der alte Albrecht auf ihn nieder und fragte dann endlich: „Du möchtest also so gerne zaubern lernen, Bernhard?" Der Andere erhob die glühende Stirne und antwortete:

„Zaubern? O nein, nein! Aber ich gäbe zwei Finger

meiner rechten Hand gern dem, der mich lesen lehren wollte." „Ich wollte es dir wohl lehren, konnten wir unsere

Heerden häufiger zusammen grasen lassen, doch das geschieht kaum zehnmal im Jahre; da möchtest du also schwerlich je

lesen lernen." Die Worte trafen den jungen Hirten tief; unter einem schweren Seufzer gab

er das Buch zurück,

nahm seine

Nadeln wieder ans und senkte mißmuthig den Kopf, wäh­

rend seinen Augen eine dicke Thräne entrollte. EineZeitlang herrschte ein peinliches Schweigen zwischen

den beiden Hirten; bald aber wandte sich der alte Albrecht mitleidig zu seinem weinenden Genossen und sprach:

„Bernhard, dein Verlangen, lesen zu lernen, ist eine

sonderbare Krankheit. Ich begreife nicht, wie du darum dich also sehr betrüben kannst; es ist nur ein glücklicher Zufall, daß ich das verstehe. Warum solltest du dich darüber

nicht trösten und beruhigen können, da die meisten Ritter

und Edelfrauen und Bauern und Bürger eben so wenig davon wissen, als du? Und könntest du denn auch lesen, woher wolltest du

ein Buch bekommen,

da du nie reich

genug sein wirst, dir eins zu kaufen?" Bernhard zuckte verzweifelnd zusammen bei den Worten; seine zarten Glieder spannten sich fast krampfhaft und tiefer Schmerz schaute aus jedem seiner Züge.

„Gewiß, Bernhard," fuhr der alte Albrecht fort, „deine

5 Wißbegierde ist nicht natürlich. Sie muß eine verborgene Ursache haben.

Du bist ein wunderlich Kind.

Niemand

weiß, woher du gekommen; du kennst weder Vater, noch Mutter; du sprichst und handelst ganz anders, als wir. Noch so jung und schon ein so gehcimnißdüster Leben; ich habe Mitleiden mit dir, denn ich sehe es nur allzuwohl,

du leidest, du bist unglücklich." Tief trafen die herzlichen Worte den jungen Hirten;

er bedurfte

einer offnen Aufdeckung

seines Innern vor

eines Andern Augen. Seinem Gesellen näher tretend, faßte

er ihn bei der Hand und sprach wehmüthig:

„Albrecht!

Niemand hier kennt mich.

Gelobe mir,

zu schweigen, dann sollst du wenigstens wissen, wer ich bin;

dann will ich dir sagen, warum die Wißbegierde mich also

erfüllt und warum Schmerzen meine Brust durchwühlen. Ich bin von edlem Stamme, Albrecht; du wirst es nicht glauben, aber dennoch ist's wahr; dein Gesell, der Hirte Bernhard darf sich Burggraf von Needale nennen." „Du bist von edlem Blute?" rief der alte Hirte be­

stürzt, „und dir Burggraf von Needale? Sprich, ich kann schweigen."

Bernhard wischte sich die Thränen aus den Augen und setzte sich nieder auf die Haide, Albrecht folgte ihm, und er begann also:

„Ja, sitze nur auch nieder, Albrecht, denn meine Ge­ schichte ist lang und traurig; ich bin noch jung, doch habe

ich viel gelitten.

Horche:" „Es sind noch kaum zehn Jahre verflossen, da wohnte ich mit meinem Vater und meiner Mutter auf einem adlichcu

Schlosse in der Nähe von Grimbcrgen. in Brabant.

Meine

Tage vergingen mir unter den Uebungen, welche einem Knaben von edler Abkunft gezieinen. Mein Vater, der ein berühmter Kriegsmann war, lehrte mich das Schwert

6 handhaben und schäumende Rosse bezwingen; obgleich noch sehr jung, gewann ich doch bald in diesem Allem eine große Gewandtheit. Unser Vermögen war nicht groß, und unser Tisch wäre oft gerade nicht geschickt gewesen, Zeugniß zu geben von unserm Stande, hätte nicht unausgesetzte Jagd die Wälder gezwungen, uns Wildpret in Fülle zu liefern. Um seinem Fürsten, Johann dem Siegreichen von Brabant, mit Ehren zum Kriege gegen die von Flandern folgen zu können, hatte mein Vatersein einziges Landhaus an Wucherer von Brüssel verpfändet. Der Herzog hatte ihm daher stets viel Schönes versprochen, doch er hielt Nichts. Du hast vielleicht gehört, Albrecht, wie die Fläminge unter Graf Ludwig van Male im Jahre 1356 Brüssel eroberten und ganz Brabant in Besitz nahmen. Mein Vater war damals einer von denen, die mit Everhart Serclacs einen Anschlag auf Brüssel machten. In einer Nacht drangen sie heimlich in die Stadt und trieben, von dem Volke unterstützt, die Fläminge aus derselben heraus; siegesfreudig eilte mein Vater auf den Wall und pflanzte seines Herzogs Banner daselbst auf; doch ein Pfeil traf ihn in die Seite und am andern Tage schon war er nicht mehr. Ich war inzwischen mit meiner Mutter auf dem Schlosse bei Grimbcrgen; wir hatten von der Eroberung von Brüssel gehört und freuten uns schon, unsern Vater bald wieder bei uns zu haben. Getröstet und beruhigt und fest auf bessere Tage rechnend, sprach meine Mutter, Herzog Wenzel werde gewiß nun die wenigen Ritter reich belohnen, denen er seinen Thron verdanke, sic küßte mich inniger, gab mir mehr denn ein Kreuzchen, und Thränen der Hoffnung und Liebe glänzten dabei in ihren Augen; ganz beruhigt und glücklich schliefen wir ein. Inmitten der Nacht traf plötzlich ein gellender Schrei mein Ohr, ich erwachte, aber, o Gott, ich sah nichts, als

7 Flammen um mich her, der dicke Ranch benahm mir fast die Stimme; ich hörte meine Mutter um Hülfe rufen, außer­ halb des Schlosses Jauchzen und Waffengetöse. Alles tanzte mir vor den Augen, Besinnung und Leben entflohen mir fast. Da stürzte plötzlich eine schwarze Menschengestalt durch die Flammen und auf mein Bett zu, umklammerte mich mit beiden Armen und flog mit mir durch die Gluth dahin. Besinnungslos ließ ich mich fortschleppen; was mit mir ferner vorgegangen, weiß ich nicht." Ueberwältigt von bittern Erinnerungen, schwieg Bern­ hard eine Weile; Thränen strömten über seine Wangen, aber kein Seufzer begleitete sie. Der alte Hirte wagte erst nicht ein Wort zu sprechen; endlich begann er: „Und deine Mutter denn, Bernhard?" „Meine Mutter? Nicht wahr? Meine arme Mutter ?.... O, verbrannt, zu Asche verbrannt; nur ihr verkohltes Ge­ bein hat man noch gefunden!" Ein Schrei des Entsetzens entfloh Albrecht's Brust und seine seit Jahren trocknenAugen näßten sich. Schweigend drückte Bernhard ihm die Hand. So saßen sie lange da. Bernhard unterbrach die Stille zuerst wieder, indem er also fortfuhr: „Die Häuptlinge der aus Brüssel verjagten Fläminge hatten meinen Vater während des Kampfes erkannt und waren nach ihrem Abzüge von der Stadt zuerst unserm Schlosse zugceilt; sie hatten große Holzhaufen um dasselbe aufgethürmt und dieselben angezündet. Nun war ich eine arme Waise, von Allem enblößt, zu jung noch, um als Krieger dienen zu können; die väterliche Burg war ein Trümmerhaufen, — aber wäre sie das auch nicht gewesen, wozu hätte sie mir dienen können, da sie ganz und gar den Wucherern gehörte? Was blieb mir sonder Erbthcil, ohne Aeltern, ohne Verwandte? Ich sah nur einen Ausweg vor

8 mir; ich konnte als Knappe irgendwo ein Unterkommen finden und also wenigstens zu einer Stellung kommen, die zu meinem Alter und meinem Adel paßte.

Für's Erste blieb ich in einem benachbarten Bauern­ hause, und zwar bei dem edelmüthigen Manne, der mich mit Lebensgefahr ans den Flammen gerettet hatte. Etwa zehn Tage nachher kam ein Ritter, der als Pilgrim zur Kirche unserer lieben Frau von Halle gewallfahrtet war, an den Ruinen unseres Schlosses vorbei. Er hatte herz­ liches

Mitleid

mit unserm Unglück,

und um so mehr

schmerzte cs ihn, da er ein guter Freund meines Vaters gewesen.

Der Bauer führte mich zu ihm;

meine roth-

geweinten Allgen, meine gramdurchfurchten Züge trafen ihn

tief;

er nahm mich als Knappe an und versprach dem

guten Bauer, mich lebenslang halten zu wollen.

als seinen eigenen Sohn

Ich folgte ihm.

Das Benehmen des Ritters war mir unerklärlich: am

ersten Tage sprach er während ganzer zehn Stunden kein Wort, ließ den Zaum seines Pferdes gleichgültig hängen und wankte stets mit dem Haupte nach vorn, gleich einem

Schlaftrunkenen. Seiil Auge, welches nur höchst selten sich einmal mir zuwandte, lag halb unter dickbuschigen Augen­ brauen verborgen und schien mir wie leblos, angehauchtem

Glase gleich.

Kein Wunder denn, daß

sich

Angst

und

Furcht in mein Herz senkte, daß ich mehr als einmal von schrecklichen Dingen träumte; dann aber war die Sprache

des Ritters, die ich auch selten nur hörte, wieder so sanft und traurig,

daß zuletzt das Mitleid über die Angst in

mir siegte. Nach einer Reise von zwei Tagen sahen wir in der und standen eine Stunde später an der Brücke eines großen und prächtigen Schlosses,

Ferne die Stadt Antwerpen,

welches mit vier großen Thürmen und starken Festungs-

9 werten umgeben war.

Kaum hatte der Thorwächter uns

bemerkt, als er sein Horn ertönen ließ; das Fallgatter hob sich, die Brücke sank und das Thor kreischte in seinen Angeln. Eine große Anzahl von Dienern und Waffen­

knechten, Alle ebenso schweigsam und fast noch geheimniß­ voller, als mein Wohlthäter, empfingen ihn mit großer Ehrerbietung, und ich erkannte bald, daß wir in seiner Wohnung standen. Nachdem ich mich

etwas erholt und gestärkt hatte,

von Craenhove (so hieß mein edclmüthiger Beschirmer) einem alten Diener, alsbald zwei

befahl Graf Arnold

Pferde zu fatteln und mit mir nach Antwerpen zu ziehen, um dort mich in seine Farben kleiden zu lassen. Wir blieben

fünf Tage in der Stadt; dann

bekam ich meine neuen O, wie war ich fo schön darin, Albrecht! Die rechte Hälfte meines Anzuges war vou himmelblauer Seide, die linke rosenroth; auf meinem Kopfe wogte eine rosen­

Kleider.

farbene Feder über einem braunsammtnen Käppchen; um

meinen Hals wand sich eine silberne Kette, an der auf der Brust ein kleines silbernes Jagdhorn hing. O, ich war so

schön, und so froh, daß man mich mit Gewalt von einem großen Stahlspicgel wegziehen, daß man mir drohen mußte, das schöne Jagdhorn mir zu nehmen, wenn ich nicht auf­

höre zu blasen.

Am sechsten Tage

endlich

kehrten wir

nach dem Laternenhose zurück.

Sogleich nach unserer Ankunft wurde ich vor Graf Arnold geführt; er schien sehr zufrieden über den Anzug und nicht weniger über meine stolze Haltung; doch — und dies hatte ich schon unterwegs bemerkt — seine Stimme wurde bald wieder dumpf und hohl, sein Lächeln gezwungen

und peinlich, und als ich dankbar seine magere Hand mit Küssen bedeckte, ließ er mich gewähren und blieb kalt bei allen Beweisen meiner Liebe.

Nach einigen Augenblicken *

10 tiefsten Schweigens erhob er sich aus seinem Sessel, nahm

mich, ohne ein Wort zu sprechen, bei der Hand und führte

mich durch mehrere Säle in ein schönes Zimmer, in welchem ein Mädchen meines Alters ain Fenster saß und verdrieß­ lichen Blickes auf dieUmgegend schaute. Sobald wir einander in die Augen sahen, schwebte ein gleiches Lächeln auf unsern Lippen, strahlte gleiche Freude aus all' unsern Zügen. Graf

Arnold sprach inzwischen mit seiner hohlen Stimme: „Aleidis, meine Schwester, ich bringe dir einen Spiel­ genossen, einen Bruder. Nun wirst du wohl nicht mehr traurig sein, nicht wahr? Seid denn recht vergnügt zu­

sammen . . . ." Und mit den Worten ließ er mich stehen und ent­ fernte sich. Beschämt und ohne einen Schritt zu wagen, schlug ich meine Augen zu Boden; doch das Mädchen kam ungeduldig auf mich zugelaufen, faßte meine Hand, zog mich mit sich an's Fenster und fragte freundlich:

„Wie heißest du und von wo kommst du? Bleibst du

immer hier? Und kannst du schön auf dem Hörne blasen?" Ich antwortete auf alle Fragen, so gut ich konllte, obgleich sie mir kaum Zeit ließ, zu sprechen; denn schnell zog sie einen Stuhl vor den ihren und sprach, wie halb gebietend:

„Da setze dich hin vor mich." Und als ich nun da saß, da beschaute sie mit großer

Neugier jeden meiner Züge und jedes Stück meiner Klei­ dung.

Nachdem die Untersuchung eine Zeitlang gedauert,

sprach sie, eine meiner Locken um ihren Finger rollend: „Wie hast du so schöne, feine Haare, Bernhard; sie sind gleich Silberfäden."

Ich, der schüchtern mein Auge an ihr geweidet hatte, ich entgegnete: „Nicht so schön wie deine blonden Haare,

Aleidis;

11 sie sind gleich dem Golde, welches in dein Mieder gewoben ist."

Sie lächelte freundlich und sprach: „Und welch' schöne blaue Augen hast du, Bernhard;

sie schauen so freundlich wie der Himmel." „Nicht so schön wie deine blauen Augen, Alcidis, die sind schöner, als die glänzende Seide meines Kleides." „Und welch schöne Lippen und Wangen hast du, Bern­

hard; sie sind rosiger, als die Feder auf deinem Haupte."

„O nicht so schön wie die deinen, Aleidis, die sind gleich der Koralle an deinem Halse." Dies Zwiegespräch schien Aleidis zu gefallen; plötzlich aber sprang sie von ihrem Stuhle, riß mich von dem

meinen und sprach:

„Bernhard, du wirst stets bei mir bleiben, nicht wahr?

Du darfst nicht wieder von hinnen gehen, hörst du, denn dann wäre ich wieder so einsam und trübe, so verlassen. Du wirst mein Bruder sein, und wir wollen immer, immer zusammen spielen, nicht wahr?" Dies Letzte setzten wir sogleich ins Werk, wir liefen umher, hüpften und sprangen, bis die Ermüdung uns zur

Ruhe nöthigte; dann blies ich auf meinem silbernen Jagd­ horn, oder ich crzählteAleidis, welch' schreckliches Mißgeschick

unser Haus betroffen, ich zwang sie zum Weinen, dann und wann wieder zum Lachen, kurz, wir wurden so vertraut mit

einander, daß sie Mittags nicht eher essen wollte, bis man mir erlaubte, neben ihr zu sitzen. Abends weinte sie bitterlich,

weil ihr der Tag zu schnell entflohen war und sie sich von ihrem Spielgenossen trennen mußte, um schlafen zu gehen. Was soll ich dir weiter sagen, Albrecht? Jeder Tag machte Aleidis mir und mich Aleidis theurer; nie fand man uns

einzeln; zwei junge Weinranken schlingen sich

nicht fester um einander; zwei Lämmer einer Mutter folgen einander nicht getreuer, als wir es thaten. Sonder Arg

12 mich meinen Gefühlen überlassend, bemerkte ich nicht, daß

mein Glück schon frühe Neider fand. Du mußt wissen, Albert, daß Graf Arnold beinahe nie zn sehen war; die Gemächer, welche er auf dem Schlosse bewohnte, blieben stets für uns und für die Diener ge­ schlossen, einen einzigen Mann ausgenommen, der, eben so tiefsinnig und spracharm, als er, sein ganzes Vertrauen zu besitzen schien. Er war ein sonderbares Wesen, dieser Mann,

und noch bebe ich, wenn ich an ihn zurückdenke.

Die Natur

hatte ihm keine angenehmen Gesichtszüge geschenkt; meine Aengstlichkeit Dor ihm wurde noch durch den feierlich bar­ schen Ausdruck seines Gesichtes gehoben und lieh ihm die abschreckendsten Formen. Du weißt, Albrecht, wie matte, gelbe Augen die Eule hat; so waren die seinen. Du siehest dort meinen Hund, dessen Nückenhaare aufrecht stehen, gleich den Nadeln der Tanne. So war sein Haar.

Dein

Buch ist in zwei eichene Brettchen geschlossen; so fahl und so schmutzig,

wie sie, war stets sein Angesicht. Hast dn je

einen Fuchs gesehen, der, in einem Stricke gefangen, den

Jäger angrinzt und zu beißen droht? So war sein süßestes Seine Hände kann ich nur eines Falken Klauen Dergleichen, so mager und krummgebogen waren seine Finger; sein Name tönte mir wie eine Gotteslästerung: er hieß

Lächeln.

A b u l f a r a g u s. Nie begegnete mir der Mann, der auf dem Schlosse und in der Umgegend als Sternscher und geheimer Wissenschaften kundig galt, ohne daß sein Blick mißtrauisch und forschend auf mir geruht hätte. Oft, wenn

ich mit Aleidis unter den Bäumen des Hofes herumsprang,

sah ich plötzlich sein gelbes Späherauge hinter einem dicken Stamme heroorlauern; mehr denn einmal kroch er, einem Jagdhunde gleich, unter den Brombcerrauken durch, um unseren Gesprächen zu horchen. Dies Alles fachte in mir einen tiefen Haß gegen den Mann an. Ich war es übrigens

13 nicht allein, der vor ihm zitterte; alleBewohnerdes Schlosses erbebten vor seiner Stimme, theils weil sie wußten, daß der stets unsichtbare Graf Arnold durch seinen Mund sprach,

theils auch, weil man fürchtete, er könne sich durch über­ natürliche Mittel rächen für den kleinsten Ungehorsam, den

man ihm bewies. Nahe bei dem Laternenhof war ein kleines Ulmenge­ büsch, unter dessen schwarzem undurchdringlichem Laube ein Leichcnstcin mit darauf gegrabenen Schriftzcichen lag. Da

verweilte Abulfaragus gewöhnlich, wenn er nicht bei Ar­ nold von Cracnhove sein mußte. Niemand wußte, was der Wahrsager dort that, noch warum er jedesmal so lange dort blieb;

mit Entsetzen hielt jeder sich dem Grabmale

fern, und wir wagten selbst nicht in der Nähe desselben zu

spielen.

Aleidis wußte Wohl,

daß

der Stein das Grab

ihrer allzu früh gestorbenen Aeltern decke,

doch war sie

nie in dem Ulmengcbüsche gewesen. Die Diener des Schlosses hatten von dem Astrologen

die Weisung erhalten, Aleidis nichts zu verweigern, aus­

genommen höchst wichtige Dinge, und so war Aleidis wirk­ liche Burgherrin, jedenfalls schien sie dies zu sein. Wünschte

sie aber etwas, oder wollte sie irgend einen launenhaften

Befehl ertheilen, dann war ich stets der Bote, der ihn den Dienern bringen mußte.

Ich gebot als Herr in ihrem

Namen; ohne daß ich die Ursache davon vermuthen konnte, sah ich bei solchen Gelegenheiten oft nicht geringen Aerger

auf dem Gesicht der alten Diener des Hauses glühen, doch in meinem Leichtsinn achtete ich nicht darauf und antwor­

tete mit losem Gelächter, während ich auf meinem silbernen

Jagdhorn meinen Neidern ein Spottlicdchen als Gruß ent­ gegenblies. Was kümmerte mich auch die Mißgunst einer

ganzen Welt, da ein einziger Sprung mich in meinen Himmel zurückführte, in welchem ein liebreicher Engel meiner harrte?

14 Du weißt, Albrecht, dem Unglücklichen ist die Zeit eine langsam hinsinkende Alte, demjenigen aber, der die Freude aus vollen Kelchen trinkt, fliegt sie schnellern Fluges als der

Adler.

Auch ich hatte mein dreizehntes Jahr erreicht, ohne

einen Tag zu zählen. Während dieser Zeit hatte ich von

Aleidis und aus zufällig hingeworfcnen Worten der Diener einen Blick in die Ursachen der sonderbaren Handlungs­

weise und der unbegreiflich düstern Stimmung meines Be­

schützers werfen können. Höre, was ich darüber vernahm. Zwei Jahre vor meiner Ankunft auf dem Laternenhofe bewohnte Graf Arnold von Craenhove dasselbe mit seinem ältern Bruder Hugo. Obwohl der letztere allein den Grafen­ titel führte und nach dem Rechte der Erstgeburt einziger

Eigner des Schlosses und aller andern Güter des Hauses war, lebte er doch in vollster Gleichheit mit seinem Bruder; ja ihre Zuneigung zu einander ging so weit, daß sie, um

nie scheiden zu müssen und die Erziehung ihrer jungen Schwester Aleidis zu sichern, einander gelobten, nie zu heirathen oder selbst auch nur nähere Bekanntschaft mit irgend einer Frau zu machen. Während der ersten vier Jahre nach dem Tode ihrer Aeltern blieben sie auch diesem Ge­ lübde treu; dann aber brachen sie dasselbe mit gegenseitiger

Zustimmung und begaben sich fast tagtäglich nach dem nahegelegenen Schlosse einer wälschen Edelfrau, welche sich Gräfin de Merampro nennen ließ. Niemand wußte, welche Mittel sie gebrauchte, jeden, der ihr nahte, seiner Sinne

viele glaubten, sie bediene sich dazu der schwarzen Kunst und starker Liebestränke. Wie dem aber zu berauben;

auch sei, man sagte sich in die Ohren, daß schon mehr denn zwölf Ritter ihretwegen gefallen wären, und daß unmöglich zwei Männer ihr nahen könnten, ohne einander nach dem Leben zu trachten. Es scheint, die zwei Brüder von Craen­ hove ließen sich übrigens nicht durch ihre Listen fangen,

15 denn sie blieben einander nach wie vor herzlich zugethan. Dagegen traf sie ein ander Unglück.

Eines Tages

gegen

Abend

ritt Arnold aus dem

Schlosse und schlug den Weg ein, der nach dem Schlosse der Gräfin führte.

Einige Zeit nachher folgte ihm sein Brnder Hngo, begleitet von Abulfaragus. Lange, sehr lange blieben die Beiden weg, und schon begann der Schlaf die Wächter zu überfallen, als Plötzlich ein schrillendes Pfeifen, dem Schrei eines Raubvogels nicht unähnlich, vor der Fallbrücke ertönte.

des Abulfaragus.

Die Wachen erkannten die Stimme

Sie ließen die Brücke nieder nnd öff­

neten das Thor. Ohne Jemand nur eines Blickes zu würdigen, ohne ein Wort zu sprechen, eilte der Alte nach

dem Theile der Burg, welchen die beiden Brüder bewohn­ ten ; eben so rasch war er zurück, beladen mit einem schweren Reisesacke; die Brücke sank und er verschwand in der Finster­ niß. Wie ängstlich und neugierig die Wachen dem Räthsel­ worte der sonderbaren Handlungsweise cntgegensahen, kannst

du leicht denken. Noch waren sie in Vermuthungen ver­ loren, als von Neuem der Pfiff von Abulfaragus ertönte. Sie öffneten; nun sprach er, und erzählte in kurzen Worten: die beiden Herren von Craenhove wären durch eine große

Anzahl von Räubern überfallen worden nnd hätten beide das Leben verloren; noch lägen ihre Leichen blutend am Wege, und er komme, Hülfe zu holen, um dieselben nach

dem Schlosse zu bringen. horchten mit nassen Augen

gefühllosen Alten.

Die verstummten Diener ge­

und folgten schluchzend dem

Eine Viertelstunde vom

Schlosse ab

gelangten sie an einen Kreuzweg, wo sie Arnold in seinem

Blute fanden; wie sie aber auch Hugo's Leiche suchen moch­ ten,

die war verschwunden;

ebensowenig fanden sie den

Ort, wo dieselbe in ihrem Blute gelegen haben mußte.

Arnold's Pferd

grasete neben ihm, Hugo's Pferd aber

16 fand man nicht. — Was der Astrolog mit dem Reisesacke

gemacht hatte, wagte keiner zu fragen. Arnold's Leiche wurde in das Schloß gebracht und auf ein Bett gelegt; gleich darauf hieß Abulfaragus Alles sich zur Ruhe begeben und schloß sich ein mit der Leiche.

Am folgenden Tage sagte er, Arnold wäre nicht todt und könne vielleicht wieder genesen; dann ließ er sich sein Mit­ tagsmahl bringen und schloß die Thüre wieder. Auf diese

Weise machte er cs gegen vierzehn Tage;

da erschien er

eines Morgens mit Herrn Arnold auf dem Vorhofe. Der

Letzte war bleich und eingefallen, wie Jemand, der von einer langen Krankheit sich erhebt; über seiner Stirne lag

eine tiefe Narbe, die ich auch noch darauf fand. Das ist Alles, was ich über das Haus Craenhove erfahren konnte. Alcidis und ich hatten so unser vierzehntes Jahr er­ reicht. Obgleich nicht mehr so wild und spiellustig, waren wir doch noch eben so unzertrennlich wie früher. Da erschien eines Morgens Abulfaragus in unserm Zimmer, ein Buch unter dem Arme tragend. Er setzte sich in einen Sessel, schlug das Buch auf den Knieen auf, und sprach sanfter denn gewöhnlich zu Aleidis: „Jungfrau, ihr habet nun euer vierzehntes Jahr er­

und cs ist Zeit, daß ihr zu lernen beginnt, was einem Edelfränlcin zu wissen geziemt. Bernhard kann euch nichts lehren, denn er ist unwissend." reicht,

Zum erstenmal in meinem Leben jagte ein mir unbe­ kanntes Gefühl Helle Gluth auf meine Stirne. Ergrimmt

schaute ich auf den Alten hin, doch der lächelte und fuhr

gleich ruhig fort: „Euer Bruder, Alcidis, will, daß ihr euer Gedächtniß schmücket mit hübschen, feinen Sprüchen und mit Erzäh­

lungen von den Heldenthaten der Ritter.

Die Zeit zu

17 spielen ist dahin; ihr müsset dereinst am Hofe der Herzogin

erscheinen, und was würde man da sagen, wäre Aleidis

von Craenhove einer unwissenden Bäuerin gleich!" Die Jungfrau las auf meinem Gesichte, wie große Betrübniß mir das Herz beklemmte; sie stand auf, ergriff

in zärtlichem Mitleiden meine Hand und sprach zu Abulfaragus: „Ich will nichts lernen! Wie, du wolltest mich von meinem Bruder trennen? Das soll dir aber nicht gelingen!"

„Euer Bruder? Euer Bruder?" brummteAbulfaragus „Wisset ihr denn nicht, daß er euer Diener ist?" Dieser Hohn entpreßte mir einen Schrei der Ent­

rüstung und des Schmerzes:

„Unedler!" unverschämt

rief ich

genug,

dem Wahrsager zu.

„Du bist

den Burggrafen von Reedale einen

Diener zu nennen? Warum nur muß nicht adlich Blut durch deinen verächtlichen Leib strömen? Dann würde ich

dich lehren, wie man Lästerungen straft. Doch nein, ich werde dich behandeln, wie man Knechte behandeln muß."

Blind vor Zorn, und

gereizt durch das spöttelnde

Lächeln, welches auf Abulfaragus' Zügen schwebte, griff ich eine Weidenruthe und erhob den Arm, um den Alten damit in's Gesicht zu schlagen, doch in demselben Augen­ blicke schoß sein gelbes Auge einen durchdringenden Blick

auf mich, ein kalter Schauder fuhr mir durch die Glieder und die Ruthe entfiel meiner Hand, ohne daß ich mir Rechenschaft hätte geben können,

welche geheime Macht

mich so plötzlich zum Feiglinge machte. Wie zerschmettert sank ich zurück in einen Lehnstuhl; Abulfaragus lachte laut auf, Aleidis weinte unter tiefem Seufzen. Der Astrolog achtete wenig auf unsere Stimmung

und begann in seinem Buche zu lesen. fest Willens, ihm nicht zuzuhören.

Zuerst waren wir

Aleidis entfernte sich

18 und trat an's Fenster, ich wandte dem Vorleser den Rücken. Kaum hatte er aber eine kurze Weile gelesen, als es wie eine gehcimnißvolle Kraft uns zu ihm hinzog; langsam und fast unfreiwillig wandten wir uns ihm zu, und bald horchten wir gespannten Ohres seinen Worten. O welch' schöne Dinge umschloß dies Buch! Wie ergreifend, wie erschütternd wurde die Stimme des häßlichen Abulfaragus! Ich selbst war gezwungen, mich an seinem Lesen zu freuen; Alcidis hing an seinen Lippen. Nachdem er uns zwei volle Stunden vorgelesen hatte, schloß er das Buch und verließ das Gemach mit den Worten: „Morgen fahren wir fort." Noch ganz dem Eindruck der schönen Dinge, welche wir vernommen, hingcgebcn, blieben wir eine geraume Zeit stumm da sitzen, endlich sprachen wir über das Gehörte. Aleidis konnte nicht aufhören vom Ritter Walewein und König Arthur zu sprechen, deren Geschichte uns Abulfaragus vorgelescn hatte. Den ganzen Tag hörte ich nichts, was unsern frühern Gesprächen glich, und wieviel Mühe ich mir auch gab, Aleidis' Aufmerksamkeit auf etwas Anderes zu lenken, cs glückte mir nicht. Oft sprach sie zu mir: „O warum kannst du nicht lesen, Bernhard! Wie schön wäre das! Deine Stimme ist so süß und so klar, und dann hätten wir den abscheulichen Abulfaragus auch nicht mehr nöthig." Ich unterdrückte gewaltsam meine Betrübniß, wie sehr groß sie auch war; sehnte sich Aleidis doch so gar sehr nach einem Vergnügen, welches ihr zu gewähren nicht in meiner Macht stand. Des andern Tages und jeden der folgenden Tage kam Abulfaragus zur festgesetzten Stunde zum Vorlesen; nie erschien er früh genug für Aleidis, und stets ging er zu früh weg. Obwohl sie mir stets dieselbe Liebe bewahrte,

19 so fühlte ich dennoch sehr wohl, daß ich ihr nicht mehr Alles war, und daß Abulfaragus' Vorlesungen ihr Denken und Gefühl nicht wenig in Anspruch nahmen.

Die Wißbegierde, über welche du dich wunderst, ver­

zehrte mich wie ein schleichend Feuer; Tag und Nacht sann ich über Mittel nach, lesen zu lernen. Oft trachtete ich über des Alten Schulter in das Buch zu schauen, doch dann schloß er cs zu, bis ich wieder

auf meinen Stuhl

sank. Mehr denn einmal wollte ich mit Gewalt in sein Zimmer brechen, um mir ein Buch zu holen, doch jedes­ mal stand Abulfaragus lachend hinter mir. Eines Morgens fiel mir ein, daß auf dem Grabsteine

in dem Ulmenwäldchen Buchstaben eingehauen seien, meine Neugierde siegte bald über meine Angst, und bebend drang ich in das Gebüsch. Vertrocknete Blumen deckten den Bo­ den rings um den Stein, auf dessen Schrift ich bewußt­ los und mit brennender Stirn hinstarrte.

Plötzlich drang

ein fernes Geraschel an mein Ohr, ich wandte mich um

und sah Abulfaragus, der auf das Grab zuschritt.

Voll

Angst und halbtodt vor Schrecken, barg ich mich zwischen

dem dichten Laube, hielt den Athem fest an mir und be­ lauschte so meinen Feind.

Abulfaragns nahte dem Steine langsam, zog dann

ein Körbchen mit Blumen gefüllt unter dem Koller hervor, und streute sie auf den Stein; ihr Balsamduft war so stark, daß er zu mir in mein Versteck drang. Unterdessen hörte ich, wie Abulfaragus schluchzend betete: „O Herr Jesns, schenke durch dein theures Blut den Seelen meines Wohlthäters und meiner lieben Schwester

den ewigen Frieden. Amen." Und dann senkte er das Haupt nieder auf den Stein und weinte so sehr, daß auch ich mich des Weinens nicht erwehren konnte;' meine Augen

schmerzten mich,

und ich

20 wischte mit der Hand eine Thräne ab.

Diese Bewegung

machte Abulfaragus aufmerksam auf mich — ich sah seine beiden Augen so flammend auf die meinen gerichtet, daß ein Schrei der Angst mir entfuhr. Der Wahrsager faßte mich bei der Hand, riß mich unter dem Laube hervor und

sprach mit einer Stimme, die mich tief erbeben machte:

„Du hast gesehen und gehört. Verwegener! So du aber zu sprechen wagst, schließt der Tod deinen Mund für immer!"

Während ich auf den Knieen um Verzeihung flehte, entfernte sich Abnlfaragus, indem er mir von Weitem noch einen drohenden Blick zuwarf. Ich blieb nicht lange an dem Orte, denn das Ulmenwäldchen war mir schrecklicher

denn je geworden. Lange irrte ich umher, ehe ich mich ganz erholen konnte und zu Aleidis zurückkehrte. Wie sehr ich mich auch abmühte, mir Abulfaragus' Worte zu erklären,

toie gern ich auch

im Reinen darüber

gewesen

wäre, ob die Mutter meiner Aleidis wirklich die Schwester

des abscheulichen Stcrnsehcrs gewesen sei, so wagte ich doch um keinen Preis von meinem Besuche bei der Grab­ stätte zu sprechen und schwieg, einem Stummen gleich, über den Vorfall. Täglich kam Abulfaragus zum Lesen in unser Zimmer; er schien schon ganz vergessen zu haben, daß ich ihn einst belauschte.... Ich aber magerte ab und verlor alle Farbe, so brannte in meinem Herzen die unbe­

friedigte Sucht zu lernen und der Neid über Abulfaragus'

Kenntnisse. Eines Tages, o ich werde es nie vergessen, hatte der Alte ein neues Buch mitgebracht, da wir Tages zuvor den

Schluß der schönen Geschichte von Floris und Vlanccfloer gehört hatten.

Aleidis schaute unverwandt auf ihn, und

keine Silbe ließ sie sich entschlüpfen, so sehr gefiel ihr, was

Abulfaragus las. Pötzlich nahmen des Alten Züge einen unbegreiflichen Ausdruck von Milde an, seine Augen glänzten

21 in höherem Feuer, seine Stimme wurde sanfter.

Ganz

Aleidis zugewandt, las er die folgenden Worte; ich konnte sie nur zu wohl behalten, so sehr trafen sie mich: Schöne Jungfrau, wohlgebildet, In allen Tugenden vollkommen,

Von edlen und bescheidenen Sitten,

Höfisch, keusch und guten Herzens, Nicht genugsam kann ich deine Tugend Preisen, Wohl erhebt sie weit dich über alle Frauen.

An dir auch mag man schauen Große Gütigkeit und Treue, Schönheit viel und Sittigkeit,

Liebliche Sprach' und reiches Wissen.

Tempel du, aller Tugend voll, An dir hat Gott ja nichts vergessen1).

Die innigste Freude strahlte aus Aleidis' Zügen: doch je mehr sie entzückt war, um so herber fühlte ich mich von Schmerz und Neid durchzuckt. Thränen rollten in Fülle über meine Wangen, und ich hörte nicht mehr auf zu weinen, als bis der Alte sich entfernte. Ich folgte ihm auf dem Fuße bis vor der Thüre seines Zimmers. Da warf ich mich vor ihm auf die Kniee und flehte mit beben­ der Stimme: „O Abulfaragus, gieb mir um Gotteswillen ein Buch!

1) Scone joncfrouwe wel geraect, In allen doghden volmaect, Edel oetmoedech van manieren, Hovessche, cussche ende goedertieren, U doghet en can ic niet volprisen; Licht draecht si di vore alle wiven Men mach oec wel ane u scouwen Grote goedertierenheit in trouwen, Goet ghelaet ende hovesscheide, Scone sprake ende wetenshede; Tempel in alder doghet beseten, Ane u heeft God niets vergeten.

22 Lehre mich doch lesen.

Ich will dir dienen, wie dein Knecht!

Habe doch Mitleiden mit mir; du siehst ja, wie die Wiß­

begierde mich verzehrt!" Und unter den Worten umfaßte ich seine Kniee und näßte sie mit meinen Thränen, doch er ließ mich gewähren; ohnv mir ein Wort zu erwiedern, steckte er ruhig und kalt

den Schlüssel in seine Thüre und trat, mich mit dem Fuße von sich stoßend, in das Zinuner, aus dem mir ein spöt­ tisches Lachen in die Ohren drang. Mit gebrochenem Herzen und niedergedrückt vor Scham,

kehrte ich langsamen Schrittes zu Aleidis zurück. Da warf ich mich wie entkräftet in einen Sessel und begann zu seufzen und zu weinen,

und geberdete mich wie ein Ver­

rückter. Aleidis wollte mich trösten, doch ich stieß auch sie

weg und wollte gar nicht mehr mit ihr

sprechen.

Ihre

Thränen brachen endlich meine Aufregung und ich rief: „Aleidis, du hast mir gesagt, ich solle stets dein Bruder

sein.

Das Wort hast du mir gebrochen. Abulfaragus ist

mein Todtfeind; er will mich tobten.

Eben noch stieß er

Eine Schwester kann den nicht lieben, der ihren Bruder so be­

mich weg von sich, wie man einen Hund wegstößt.

handelt. Sie sehnt sich nicht nach seiner Gegenwart, sie findet seine abscheuliche Stimme nicht schön. Ich bin von

Aleidis, und ich kann und will es länger nicht ertragen, daß ein Unedler mich höhne und schmähe edlem Blute,

— ja deine Freundlichkeit für mich läßt mich den Hohn Morgen verlasse ich den La­

selbst nicht mehr vergessen.

ternenhof und gehe auf Gottes Gnade in die weite Welt; du sollst mich nie Wiedersehen. Ich weiß, daß mein Weg­ gehen dich nicht lange betrüben wird.

Du hast ja Abul­

faragus; der kann dir besser sagen, als ich: Schöne Jungfrau, wohlgcbildct, An dir hat Gott ja nichts vergessen.

23 O ich werde lesen lernen, ich werde es schon lernen, dann aber sollen Andere meine Sprache hören." Bei diesen harten Worten senkte Aleidis das Haupt, wie niedergedrückt von einer unerträglichen Last; plötzlich

aber sprang sie empor, zweifelsohne, um mir den Mund

zu schließen, doch ihre Kräfte verließen sie, und wie leblos stürzte sie zu Boden. Ich wollte um Hülfe rufen, doch Abulfaragus stand da und die Worte erstorben mir auf der Lippe; er schaute

mit vorwurfsvoller Miene und doch lächelnd auf mich hin, faßte Aleidis in den Arm, rief sie durch einen Blick seiner Augen wieder zurück in's Leben und verließ dann schnell

das Zimmer. Nun verwies Aleidis mir meine Härte unter bittern

sie sprach in so zärtlichen Worten zu mir, sie gab mir so viele Versicherungen ihrer Zuneigung, daß ich

Thränen;

sie bald darauf auf den Knieen um Verzeihung bat. Wir wurden wieder gute Frennde und versprachen einander, das

Geschehene zu vergessen. Am folgenden Tage kam Abulfaragus wie gewöhnlich mit einem Buche und setzte sich nieder, aber hatte er begonnen,

zu lesen.

Kaum

als sich Aleidis' Stirne färbte;

schnell sprang sie auf den Alten zu, schlug die Hand auf

sein Buch und riß wohl zehn Blätter heraus; die zerfetzte sie und warf sie auf die Erde, indem sie ruhig sprach: „So werde ich's immer machen, wenn du noch wagst, mit Büchern hierhin zu kommen.

Und nun gehe, Ungläu­

biger!"

Ein dumpfer Schrei war des Sternsehers Antwort;

mit beiden Händen warf er sich auf den Boden und suchte die Stücke der zerrissenen Blätter zusammen. Ich sah zwei große Thränen seinen Augen entrollen; gewiß galten sie der Vernichtung des so kostbaren Buches.

Dann erhob er sich rasch und floh aus dem Gemache, während er mit klagender Stimme rief:

„Wehe! Wehe!" Von der Zeit ab ließ er uns in Ruhe. Wir lebten wieder still und vergnügt. Die einmal entflammte Wißbe­ gier aber verließ mich nicht, und ich beschloß, was es auch kosten möge, lesen zu lernen. Je mehr sich mein Denk­ vermögen entwickelte, um so größer wurde diese Lernbegier; um so mehr auch wurde ich neugierig, zu wissen, was mein stets unsichtbarer Schutzherr und Abulfaragus so sorgfältig vor mir verborgen hielten.

Eines Morgens, wo ich früher denn gewöhnlich auf­ gestanden war, schlich ich stille an den Thüren der Zimmer vorbei, welche mir bis dahin immer verschlossen geblieben waren. Eine der Thüren war nur angelehnt; auf den Zehen stehend, schaute ich klopfenden Herzens in das Ge­ mach. Graf Arnold saß da, wie gelähmt, in einem Lehn­ stuhl, das Auge regungslos auf die Mauer geheftet, an der ein schwarzes Bild hing, unter welchem goldene Lettern geschrieben waren, neben ihm saß Abulfaragus in einem großen Buche lesend. In demselben Augenblicke hörte ich, wie Graf Arnold sprach: „Ihr sagt, Abulfaragus, daß Bernhard das Schloß verlassen müßte. Da denket ihr aber wohl nicht der Ver­ zweiflung, die Aleidis ergreifen wird, wenn man ihr den Freund ihrer Kinderjahre nimmt?"

„Es ist eine Schlange, die ihr nährt," sprach der Alte. „Bleibt er länger hier, dann entdeckt er das fürchter­ liche Geheimniß und wird dem Hause eurer Väter einen blutigen Schandflecken ..." „Nein, nein, sprecht mir davon nicht mehr," fiel Graf Arnold ein. „Es giebt nur zwei Herzen in der Burg, welche

25 die Freude kennen; ihr würdet mich diese Herzen brechen

lassen." „Es muß sein!"

Stimme.

„Höret.

rief Abulfaragus

mit gebietender

Diese Nacht um Zwölfe

glänzte der

Himmel von Sternen; leicht fand ich unser aller Planeten. Euer Stern glänzte nur schwach, wie ein erlöschend Lämp­ chen neben dem Bernhard' s.

Letzte von Eurem,

Plötzlich entfernte sich der nahte ihm jedoch von neuem und be­

strahlte ihn mit dem Lichte der Freude und des Trostes. Durch die Kraft meiner Kunst zwang ich alsdann das Schicksal, sich zu erklären:

Entfernt ihr Bernhard nicht,

dann bringt ihr eurem Hause zwei erschreckliche Schläge bei, und der Name von Craenhove wird mit ewiger Schande

gebrandmarkt sein. Geht er aber nun von hinnen, dann kehrt er einst zurück und erfüllt euer Leben mit Freude und Glückseligkeit. So sprach das Schicksal mir." „O Abulfaragus, wie grausam seid ihr! Wie unbarm­

herzig gegen meine Schwester Alcidis! Nein, eher möge mein Leiden sich verdoppeln, als daß sie leide!"

„Arnold, Arnold!" rief der Alte ungeduldig und mit

dem Finger auf die goldneu Lettern des Bildes weisend. „Hättet ihr dieser meiner Prophezeiung immer geglaubt, dann littet ihr nun nicht, daun führten euch nicht Ge­ wissensbisse und Neue dem Grabe zu. Wisset ihr wohl noch, was da steht? „Wenn ein Weib zwischen euch tritt, daun befleckt euer eigen Blut das Haus Craeuhove."

War

es nicht also? Nur öffentliche Schande gebricht eurem Na­ men noch. Wohlan, werft euch selbst den ersten Koth in's

Angesicht; beschämt eures Vaters reinen Namen, schreibt auf sein Grab, daß sein Blut ein Blut der Schande ist. Fasset Muth zu der feigen That ... ." Während dieses Gespräches bebte ich vor Angst und

Schrecken gleich dem Blatte einer Zitterpappel; nun entfloh 2

26 mir säst die letzte Kraft, und ich mußte mich an der Mauer

festhalten, um nicht hinzusinken. Ich sah, wie Graf Arnold das Haupt tief auf die Brust sinken ließ, wie gebückt unter

der Last

der grausamen Worte des Alten.

Nach

einer

langen Pause fragte dieser mit strenger Stimme:

„Wohlan denn, Graf Arnold, was ist euer Wille?" „Daß er gehe!" war die Antwort.

„Dank für den Entschluß!" sprach der Alte: „aber das Schicksal will, daß er hinziehe, wie er gekommen ist, arm und verstoßen, daß er erniedrigt werde!" Ein banger Seufzer erhob sich aus Arnold's Brust; das schreckliche Urtheil begleitete ihn: „Es sei so; thuet mit ihm, wie cs euch gefällt."

Da sank ich ohnmächtig zusammen an der Schwelle

der Thüre; mein Schluchzen drang in das Zimmer. Abulfaragus trat näher, öffnete die Thüre ganz und grinzte mich an, wie ein Teufel, der über den Fall einer Seele trium-

phirt. Höhnisch lächelnd schritt er in dem Gange weiter. Auf einen Ruf von ihm, der das ganze Schloß durchhallte, hörte ich viele Thüren öffnen und schließen, und die Diener wie in eiligster Hast rennen und laufen; eine geheime Stimme

sagte mir,

daß man vielleicht nun schon mich für immer ich sprang auf und lief wei­ nend dem Zimmer zu, wo sie noch wenige Augenblicke zu­

von Aleidis scheiden wolle,

vor gewesen, doch — die Thüre war geschlossen.

Wie ich

auch schrie und rief, wie sehr ich meine Hände blutig klopfte, ich erhielt keine Antwort.

Verzweifelt rannte ich in dem

Schlosse umher, ich ließ keinen Thurm, keine Kammer unbe­

sucht, keine Thüre, bei der ich nicht nach meiner Schwester

rief, doch Alles blieb geschlossen, stumm; o wie unglücklich war ich, Albrecht! Nun weinte ich vor Aleidis' Gemach, dann

unter den hohen Bäumen des Hofes, dann wandelte ich jammernd durch die weiten Gänge des Schlosses; nichts half

27 mir; mein Urtheil war gefallt und schon halb vollzogen: ich hatte Aleidis verloren. Gegen Abend saß ich im Schloßhofe auf dem Grase;

die ganze schöne Vergangenheit trat mir in

glänzenden

Bildern vor die Seele; wie peinlich waren mir die Erinne­

rungen ! Es war, als ob jede dieser Freuden mir ein ewig Lebewohl gesagt hätte, ein so schmerzlich Lebewohl, wie

man es einem Freunde zuruft, den man nicht wieder zu sehen hoffen kann. Ich verlor endlich ganz das Bewußt­ sein, ich sah, ich dachte nichts mehr, ich hatte Alles ver­

gessen und schlief mit offnen Augen. In diesem Zustande muß ich lange geblieben sein, denn als ich daraus wieder erwachte, waren all' meine Glieder steif.

Mein erster Blick

fiel auf einen alten Diener des Schlosses, der unbeweglich

vor mir stand;

es war ein sechzigjähriger Waffenknecht,

Roger genannt, der mir immer sehr zugcthan gewesen, und der nun mitleidig auf mich hinzuschauen schien.

„Steht auf, Bernhard," sprach er, „ich muß euch etwas sagen."

Ich stand langsam auf,

trat ihm näher und horchte

mit gespannter Angst auf seine Worte: „Bernhard, es ist etwas Schreckliches gegen euch im Spiele. Es scheint, daß ihr eine große Missethat begangen; man sagt selbst, ihr hättet unter den Bauern ein Gerücht

ausgestreut, welches

unser Fräulein in Schande bringe.

Eurer ehrenräuberischen Worte wegen harret euer eine harte Strafe." Ich? meine Schwester Aleidis? Albrecht, ich war wie

niedergedonnert; mit einem Schrei der Verzweiflung griff ich in meine Locken,

doch der alte Kriegsmann hielt mir

die Hände und fuhr also fort:

„Bernhard, kennt ihr Abulfaragus? Wißt ihr,

daß

er Gift aus Honig kochen kann? Daß ein Mordstahl ein

28 Spielzeug in seinen .Händen ist, und daß höllische Geister ihm zu Diensten stehen? Wart ihr je in den unterirdischen

Kerkern? O Alles wartet eurer, darum fliehet! Ich habe das Hülfsthor aufgelassen, ihr könnt leicht durch den Graben

waten. Eilet, eure Missethat ist groß, doch eure Jugend ...

In dem Augenblicke funkelte Abulfaragus' gelbes Auge in der Ferne hinter einem Baume; die Worte erstorben

auf des Waffenknechtes Lippen, und er entfernte sich schnell

und zitternd. Was dann mit mir vorging, weiß ich nicht; meine Augen begannen zu kreisen, Bäume und Thürme tanzten

in schnellem Neigen um mich herum, und ich war gezwungen,

mich einen Augenblick in das Gras niederzusetzen, denn ich fühlte, daß ich fallen würde. Verloren im Gedanken über die Größe meiner Leiden, stand ich eine Zeitlang da, dann traten des treuen Alten

Worte wieder vor meinen Geist; ich sah Giftkelche für mich gefüllt, Dolche auf mein Herz gerichtet. die Furcht vor dem Tode überlief mich eisig,

O Albrecht, ich zitterte

und ergriff in meiner Angst als letzten Rettungsanker das Mittel, welches der Waffenknecht mir angegeben hatte. Durch die eintretende Nacht begünstigt, schlich ich an den Bäumen vorbei nach dem Theile der äußern Schloßmaucr,

wo das Hülfspförtchcn sich befand; wenige Schritte noch und ich hatte es erreicht. Diese Aussicht gab mir meine Straft und meinen Muth zurück. Es war mir ein Trost in meinem Leiden, daß ich nicht mehr den mir so sehr ver­ haßten Abulfaragus sehen sollte. — Doch der Himmel

wollte es anders; derStcrnseher saß vor dem Hülfsthörchen.

Wie festgebannt an den Boden vor Entsetzen, stand ich, als er auf mich zuschritt, seine Knochenhand meine Hand ergriff, und er mit ungemein milder Stimme sprach: „Bernhard, mein junger Freund, du bist unglücklich.

29 Auf wessen'Schultern schiebst du die Ursache davon? Auf die von Abulfaragus, nicht wahr?" „Ja wohl, und das mit Recht," rief ich aus. „Ihr habt mich stets, gleich einem bösen Geiste verfolgt, und nun kocht vielleicht schon auf einem Feuer das Gift, welches mich tobten soll." Ein bitteres Lächeln war des Alten Antwort. Er schwieg eine Weile und fragte dann: „Bernhard, hast du gehört, was ich diesen Morgen mit Graf Arnold gesprochen?" „Ich habe nur zu wohl gehört," schluchzte ich unter Thränen, „wie ihr mich verläumdet, und wie ihr so grau­ sam um mein Todesurtheil gebettelt habt." „Hast du nichts Anderes gehört?" fragte der Alte weiter. Um meinen Feind in Angst zu jagen, that ich, als wäre das schreckliche Geheimniß nun kein Geheimniß mehr für mich, und antwortete schnell: „Ja wohl habe ich noch mehr gehört; nie aber wage ich zu sagen, was ich weiß, und noch viel weniger, was ich vermuthe. Graf Arnold ist mein Wohlthäter." Die Stille, welche auf diese Worte folgte, wunderte mich nicht wenig. Der Alte schien Plötzlich trüber gewor­ den, als ich es war; er beugte das Haupt und seufzte un­ gemein peinlich. Nach einer Weile erhob er die Stirne wieder und sprach mit fast flehendem Ausdrucke: „Bernhard, mein Kind, du siehst mich für einen gar bösen Menschen an, nicht wahr? Wüßtest du aber, was ich thue und warum ich so thue! Wüßtest du, warum ich mich verhaßt mache, während ich doch nie irgend einem etwas zu Leide that, du würdest Mitleid mit Abulfaragus haben; du könntest ihn nur lieb gewinnen, denn dein Herz ist edel und rein."

80 Wie soll ich dir meine Verwunderung über diese Rede schildern, Albrecht? Der Mann, den ich einem Teufel gleich wähnte, stand bittend vor mir und seine Stimme rührte, ergriff mich tief; meine Furcht vor ihm war hin. „Abulfaragus," seufzte ich. „Ihr wundert mich. Sprecht ihr denn wirklich Wahrheit?" „Folge mir," sprach er, mich zugleich schon bei der Hand fortziehend. „Folge mir, die Zeit ist kostbar." Es muß wohl sein, daß nichts der Stimme von Abul­ faragus widerstehen konnte, da seine wenigen Worte nicht nur nieinen Haß und meine Angst, sondern selbst all' mein Mißtrauen vertrieben hatten. Ich folgte ihm ganz willig bis zur Thüre seines Zimmers. Da aber überlief mich ein leichter Schrecken: ich sollte zuerst den Fuß setzen in die geheimnißvollcn Räume, die acht Jahre lang meine Neugier gereizt hatten! Ich bebte, als die Thüre sich öffnete uni) ich in das Zimmer trat. Was ich jedoch sah, das erschreckte mich weniger, als ich erwartet. Alles lag schmutzig und in Unordnung da; eine eiserne Lampe verbreitete nur spärliches Licht und ließ mich einige Gerippe von kleinen Thieren, getrocknete Kräuter und Bücher erkennen, und — worüber ich nicht wenig er­ staunt war — ein großes Liebfraucnbild, von zwei schönen Blumensträußen umduftet. Das war Alles. Abulfaragus hieß mich auf einem Stuhle nicdersitzen, setzte sich in einen Sessel neben mich, faßte meine Hand und sprach: „Bernhard, du meinst, ich hasse dich und ich suche dein Verderben, doch du irrst dich sehr, mein Freund; die vom Blute der Cracnhove ausgenommen liebe ich nur einen Menschen noch und das bist du." „Ich habe dir in der That Ursache gegeben, mich zu fürchten und mich selbst zu Haffen, doch dazu zwang mich

31 das Schicksal, dessen Diener ich bin. dem Laternenhofe ankommen

Ich sah dich auf

und deine Ankunft erfreute

mich. Ich ließ dich in Ruhe, bis dich eine unwiderstehliche

Neugier antrieb, Diuge zu ergründen, welche du nicht wissen solltest.

Da nahm ich die Wage und legte in eine

ihrer Schalen dich und in die andere die Ehre und das Glück des Hauses Craenhove, und du wurdest zu leicht Oe« funden, du mußtest geopfert werden. — Du mußtest weg

von hier! Ich verfolgte dich also und bereitete dir Leiden, um dich deines Aufenthaltes hier überdrüssig zu machen, doch Aleidis heilte all' deine Schmerzen, du warst unüber­

windlich.

Du hast ein Recht mich zu hassen,

Bernhard,

denn ich überlud dich oft mit Kummer und Verdruß, und um dich immer mehr abzuschrecken, schien ich selbst Behagen an deinem Schmerz zu finden. Noch, mein Sohn, bist du zu jung, um die Gründe zu verstehen, welche mich zwangen, mit dir zu handeln, wie ich es gethan. Abulfaragus, mein Sohn, ist gleich einem Sklaven an das Haus der Craen­ hove gebunden, er muß dessen Wohl, all' seine Gefühle, all' seine Neigungen opfern; während er dich glühend liebte, zwangen ihn diese Bande zu scheinbarer Feindschaft

gegen dich. Später sollst du wissen, warum ich dich von Aleidis trenne; es giebt Leidenschaften, die du glücklicher­ weise noch nicht kennst, die aber das Herz entflammen und durchnagen, gleich einem alles verschlingenden Feuer. Was

die Sterne gesprochen, weißt du, und morgen vor Sonnen­ aufgang mußt du das Schloß verlassen, und das wirst du

willig, nicht wahr? Du wirst mich nicht zwingen, hart gegen dich zu sein, Waffenknechte zu rufen, dich entkleiden und vor das Thor werfen zu lassen. Das wäre grausam,

nicht wahr? Darum auch unterwirfst du dich, thust, warum dich bitte und gehorchst deinem Geschick. Versprich

ich

mir das."

32 Gebeugten Hauptes stand ich da; heiße Thränen rollten mir über die Wangen, ich konnte nur durch Seufzer antworten.

„Du weinst, mein Sohn," sprach der Alte. „Du denkst an Aleidis, nicht wahr? Es schmerzt dich, sie verlassen zu müssen, deine gute Schwester." „Für ewig, ja wohl!" rief ich schmerzlich. „Die Sterne sagten, du werdest wieder hierhin zu­ rückkehren," sprach der Astrolog, „und dann für immer hier wohnen."

Die Worte sanken mild tröstend mir in die Brust; ich schaute dankbar zu dem Alten auf, er schien mir nicht häßlich mehr, seine Züge trugen etwas Sanftes, Liebes, er schien mir ein Vater, der zu seinem Sohne spricht. „Bernhard," fuhr er fort, „versprich mir, meinen Willen zu thun, und ich will dir in wenig Worten sagen, welch' ein unendlich Glück das Schicksal für dich aufgespart hat."

Ich drückte ihm die Hand und gelobte ihm willige Unterwerfung.

„Wohlan denn," sprach er, „wenn du das Schloß ver­ lassen, werde ich dafür sorgen, daß nie ein anderer Jüng­ ling Aleidis nahe; was ein Vater für sein Kind nur thun kann, das werde ich für dich thun; ich werde dir eine reine treue Braut bewahren. Das Schicksal sprach, daß du einst Aleidis deine Frau nennen und des Laternenhofes und Abulfaragus' Herr sein werdest. Genügt das deiner Liebe und deinem Stolze?" Ich stand stumm ob der glücklichen Zukunft, welche des Alten Worte mir enthüllten; überwältigt von Gefühlen der verschiedensten Art, riß ich mich aus dem Stuhle em­ por und sank unter Thränen der Freude und des Glückes vor ihm auf die Kniee; ich konnte nur rufen:

33 „Dank, o Dank, Abulfaragus! Möchtet ihr euch nur

nicht trügen!" „Mich trügen, Kind? Ja ich habe mich oft betrogen, meine Kunst ist nicht ganz unfehlbar, doch tröste dich, ich bleibe hier, einen Theil dessen zu sichern, was ich dir ver­

Wird Aleidis nicht die Deine, dann soll sie nie eines Andern werden. Uebrigens haben die Sterne mir

kündete.

nie deutlicher gesprochen; doch nun höre, Bernhard, was du thun mußt, dein Glück zu verdienen. In deinem Schlaf­ zimmer findest du Bauernklcider, die ziehe an und nimm nichts von dir mit, was dir gehörte. Schlafe, wenn du kannst; vor dem Aufgang der Sonne werde ich dich wecken.

Einen Rath dir zu geben, ist mir verboten; du mußt gehen und bleiben, wohin es dich zieht; nie aber thue einen Schritt, um Aleidis oder den Laternenhof wieder zu sehen. Ein

wichtiges Ereigniß wird dir sagen, wann du zurückkehren mußt; dies aber geschehe nie, ohne daß du die Versicherung

habest, dem Grafen Arnold seine verlorne Ruhe und Lebens­ Soviel nur kann ich dir sagen,

freude wieder zu geben.

das Uebrige wirst du schon erfahren." Und er faßte die Lampe, führte mich in mein Schlaf­ zimmer, und verließ mich unter tröstenden Worten. Es wäre schwer, Albrecht, dir zu sagen, welch' sonder­

bare Träume mich während dieser Nacht umgankeltcn; hatte

doch der vergangene Tag mir so manche und so verschieden­

artige Gemüthsbewegungen gebracht. Unglücklich konnte ich mich nicht nennen, denn dieZukunft bewahrte mir ein so glück­

liches Loos.

Aleidis zu verdienen, der Gedanke machte

mich bereit zu Allem.

Auch unterwarf ich mich nicht nur

blindlings dem Willen des Abulfaragus, ich freute mich selbst innig, berufen zu sein zur Linderung oder selbst zur

Tilgung des Schmerzes, der so schwer auf dem Grafen Arnold lag.

Und konnte ich nicht noch einmal das Ge*

34 heimniß durchdringen, welches einem Zauberschleier gleich über dem Geschicke des Hauses Craenhove ruhte? Dies Alles schmeichelte mir und ließ mir meine Verbannung als etwas Großes und Erhabenes erscheinen. Als Abulfaragus meine Thüre öffnete und mit einer Lampe ein trat, stand ich bereits da, in mein schlecht Ge­ wand gehüllt. Noch einen trüben Blick warf ich auf mein silbernes Jagdhorn, und ich folgte meinem Führer. Das Thor öffnete sich, die Brücke sank. Als wir im Felde waren, gab Abulfaragus mir ein Stück Brod und einen gebratenen Vogel. Noch einmal drückte ich seine Hand und sprach traurig: „Abulfaragus, ihr wißt es: Aleidis wird meine Ent­ fernung nicht ohne tiefen Schmerz vernehmen; vielleicht wird sie den Verlust ihres Bruders betrauern." „Beruhige dich darüber, mein Sohn," erwiederte er gütig; „ich werde Aleidis trösten und sie zu überzeugen suchen, daß du einst wiederkehrst — und dazu, Bernhard, werde ich täglich von dir sprechen, denn ich will, daß sie dich niemals vergesse!" Thränen der Dankbarkeit entquollen meinen Augen, ich schlug meine Arme um des Abulfaragus' Hals und küßte ungestüm den Mann, den ich bis dahin für den bösartigsten aller Menschen gehalten. Er sagte mir noch einige freundliche Worte, und dann sein: „Lebewohl auf Wiedersehen." Ich eilte mit schnellen Schritten weiter und setzte den größten Theil des Tages unermüdet meinen Weg fort. Als ich Santhoven erreicht hatte, näherte ich mich einer Bauernwohnung und bat um ein wenig Milch, um meinen Durst zu löschen. Nachdem ich einige Worte mit dem Pachter gewechselt, erfuhr ich durch ihn, daß sein Schäfer ihn verlassen habe, um als Waffenknecht in die Dienste eines Edelmannes zu treten; ich bot mich zum

35 Ersätze an, und wurde angenommen.

Seit zwei Jahren

diene ich den braven Leuten und bin mit meinem Loose zufrieden;

habe ich doch die Versicherung, Alcidis einst

wiederzusehen. Aber ich möchte nicht gerne nach dem Laternenhofe zurückkehren, ohne lesen zu können; ich weiß, mit welchem

Vergnügen Aleidis Erzählungen von Waffenthaten und Rittern und Helden hört; sie hat mir einst diese Freude aufgeopfert; ihre Worte jedoch bewiesen mir während zweier Jahre, wie schwer ihr dies Opfer geworden ist. Auch

brennt in meinem Herzen eine unerklärliche Wißbegierde, ich glaube selbst, daß Aleidis nicht so ganz die Ursache davon ist; ein geheimes Gefühl beherrscht mich, ohne daß ich mir die Ursache davon erklären kann

Das ist meine Geschichte, Albrecht.

Sie ist traurig

und sonderbar, nicht wahr?" Der alte Hirte hatte mit so lebhaftem Interesse und so tiefer Aufmerksamkeit dieser Erzählung zugehört, daß er nicht sogleich antwortete. Er sah seinen jungen Gefährten mit Bewunderung an und sprach nach einigen Augenblicken:

„Traurig? ja, aber mehr noch wunderbar. Abulfaragus hat mich einigemale zittern gemacht. Weißt du auch sicher, Bernhard, daß er ein Mensch ist?" „Was sollte er anders sein, Albrecht?" „Du bist jung, Bernhard, und du weißt nicht, was ich weiß. Wenn ich dir aber sage, daß es Menschen giebt,

die sich mit dem Teufel verbinden, und dafür einen bösen Geist zum Sklaven und Diener von ihm empfangen? Wenn

ich dir ferner vertraue, daß diese Menschen häufig zu spät diesen fluchwürdigen Bund bereuen, und dann, von Ge­ wissensbissen und der Furcht vor der Hölle verfolgt, sich

einschließen und das Sonnenlicht fliehen?"

36 „Nun wohl, Albrecht, was willst bit damit sagen?" „Daß es nicht schwer zu begreifen ist, daß Graf Ar­

nold von Craenhove dem Teufel seine Seele verschrieben

hat, und daß Abulfaragus ein verdammter Geist ist, den

ihm Lucifer zum Sklaven und Diener gegeben." Diese Worte, mit dumpfer Stimme gesprochen, machten dennoch

einen tiefen Eindruck auf Bernhard's Gemüth;

faßte er sich schnell und bemerkte mit ungläubigem Lächeln: „Du betrügst dich, Albrecht. Graf Arnold ging als guter Christ nach Deurne zur Kirche, und was Abulfaragus betrifft, so würde er wohl schwerlich ein Liebfrauenbildchen auf seinem Zimmer haben, und würde er gewiß nicht Sorge tragen, daß stets frische Blumen vor ihm duften. Rief er

nicht den Herrn Jesus an, als er vor dem Grabmal kniete?

das ist das unentdeckte Geheimniß nicht. Etwas anderes birgt die schreckliche Nacht des Besuches bei der Gräfin Meramprö. Er, der weiß, wo die Leiche des Nein,

Grafen Hugo von Craenhove sich befindet, wird auch über alle andern Vorfälle Auskunft geben können." „Hat man nie bei der Gräfin Meramprö nachge­

forscht, Bernhard?"

„Wie hätte man sie fragen können, da sie seit jener

Nacht nicht wieder in Brabant erschien?" „Ich verliere mich in Muthmaßungen. Vielleicht sah jene geheimnißvolle Nacht eine um Rache schreiende Misse­ that, einen schrecklichen Mord; — aber, wie es auch sein mag, wir dürfen unsern Nächsten nicht durch unsere Ver­ muthungen verdächtigen.... Es ist spät, Bernhard. Die

Sonne neigt sich hinter den Gebüschen; wir müssen unsere Schafe heim führen."

Mit diesen Worten entfernten die Hirten sich von einander, und jeder ging, die Heerde seines Herm zusammen-

37 zutreiben.

Während Bernhard sich noch damit beschäftigte,

kam der alte Hirte mit leisen Schritten zu ihm geschlichen und sagte ihm mit gedämpfter Stimme in's Ohr: „Bernhard, hast du je deu Wärwolf gesehen?"

Der Jüngling

erschrak und wandte den Kopf nach

allen Seiten der Haide; dann erwiederte er:

„Nein, aber warum richtest du diese Frage an mich?" „Dann siehe einmal dorthin nach dem Waldrande zu, und du wirst ihn sehen!" Bernhard bemerkte in der That einen dunkeln, mensch­ lichen Schatten, der langsam und borsichtig an den Büschen

hinzugleiten schien. „Ach," sagte er, „das ist also der Wärwolf, von dem man so viel spricht.

Ich dachte mir ihn wie ein gieriges

Raubthier, und er scheint doch von ferne ein Mensch zu

sein.

Was ist denn ein Wärwolf?"

„Weißt du das nicht, Bernhard? Ein Wärwolf ist ein Mensch, der um himmelschreiender Sünden willen von Gott verurtheilt ist, allnächtlich in der Gestalt eines Wolfs ohne Rast und Ruhe umherzulaufen. Solche Wärwölfe

fliehen die Dörfer und Wohnungen der Menschen, aus Furcht, daß man die Thüren und Fenster ihrer Kammer schließe; denn sobald dies geschähe und die Stunde von des Wärwolfs Verwandlung käme, so würde er sich den Kopf an den Wänden einrennen und ohne Zweifel noch in derselben Nacht sterben."

„Hast du diesen Menschen in der Gestalt eines Wolfs schon gesehen, Albrecht?"

„Ja, oft.

Es sind nun schon länger denn zehn Jahre,

daß er diesen Wald zu seinem Aufenthalt erwählte; seit

dieser Zeit wagt es Niemand mehr, denselben zu betreten, theils vor Angst, theils aus Ehrfurcht vor dem Straf­ gerichte Gottes. In der Nacht geht der Wärwolf um,

38 oder er sitzt auf dem Kirchhof zwischen Gräbern; dort seufzt

und jammert er schrecklich; Niemand hat je seine Sprache gehört; denn er ist stumm und kann nicht sprechen.

Im

Uebrigen scheint er sanft wie ein Lamm; wenn er an uns

vorüberginge, so würde er das Haupt senken und sich mit

niedergeschlagenen Augen entfernen.

Keiner erinnert sich,

daß er je einem Menschen oder Thier ein Leids gethan. Einst hat er sogar einer armen Frau, welche vor dem Walde saß und weinte, zwei Goldstücke angebotcn; die Frau aber

lief entsetzt weg und wagte es nicht, das Geld anzunehmen. Aber dies ist doch ein Beweis, daß er kein böses Herz hat." Während dieser Erklärung hatte Bernhard kein Auge

von dem Wärwolf verwandt, und da dieser sich mit jedem

Schritte den Schäfern mehr näherte, konnten sie bald seine Formen genauer unterscheiden. Er schien ein Mann von ungewöhnlich hoher Gestalt und war von Kopf bis zu Fuß

in ein härenes Gewand gehüllt, das einem Thicrfelle nicht wenig ähnlich sah. In der rechten Hand hielt er einen Baumast, worauf er tiefgebeugt sich stützte; der linke Arm war fest am Körper angeschlossen, als ob er etwas darunter trüge.

Dieser Gegenstand erweckte

offenbar Bernhard's

Aufmerksamkeit, denn Plötzlich rief er aus:

„Was hält er unter dem Arm? Ist es nicht ein Buch?" „Ich kann's nicht deutlich unterscheiden,"

erwiederte

der alte Albrecht. Dennoch fügte er gleich darauf hinzu: „Es ist in der That ein Buch, viermal so groß als das meine!" Bernhard versank in tiefes Nachdenken und seufzte mit sonderbarem Tone: „Der Wärwolf kann lesen!" Als er wieder aufblickte, sah er, wie der Wärwolf sich

am Rande des Waldes bückte und hinter den Brombeer­

büschen verschwand.

Schon zweimal hatte sein Gefährte

39 ihn vergebens erinnert, die Haide zu verlassen, und Albrecht war bereits sehr weit mit seiner Heerde, als Bernhard immer noch regungslos auf derselben Stelle stand. Er

blickte starr nach dem Platze, wo der Wärwolf seinen Blicken entschwunden war.

Endlich gab er seinem Hunde

das Zeichen zum Aufbruch und verließ die Haide mit auf­ geregtem Gemüth und träumendem Geiste, indem er von Zeit zu Zeit seinen ersten Allsruf wiederholte: „Der Wärwolf kann lesen!"

II. Ker WLrmokf. Alles schläft auf der Haide.

Die Blätter der zarten Pflanzen sind noch zusammengefaltcn; die Blumen haben ihre Kelche noch nicht geöffnet und erscheinen wie beseelte Wesen, die mit geschlossenem Auge in stilles Selbstvergessen versunken sind.

Die Nacht ist entschwunden, der Tag noch nicht an­ gebrochen. Der Westen ist noch von schwarzem undurchdringlichem

Dunkel verhüllt; der Osten klärt sich leise wie ein durch­ sichtiger See in zweifelhaftem Lichte.

Von allen Sternen blinkt nur noch ein einziger am Firmament: es ist Lucifer, der Vorbote der aufgehenden Sonne. An dem Rande des Waldes hängt ein dichter Nebel­

schleier;

aber er erhebt sich, schon hat er die Gipfel der

Bäume erreicht;

bald

wird er aufsteigen und droben in

blauer Tiefe verschwinden

39 ihn vergebens erinnert, die Haide zu verlassen, und Albrecht war bereits sehr weit mit seiner Heerde, als Bernhard immer noch regungslos auf derselben Stelle stand. Er

blickte starr nach dem Platze, wo der Wärwolf seinen Blicken entschwunden war.

Endlich gab er seinem Hunde

das Zeichen zum Aufbruch und verließ die Haide mit auf­ geregtem Gemüth und träumendem Geiste, indem er von Zeit zu Zeit seinen ersten Allsruf wiederholte: „Der Wärwolf kann lesen!"

II. Ker WLrmokf. Alles schläft auf der Haide.

Die Blätter der zarten Pflanzen sind noch zusammengefaltcn; die Blumen haben ihre Kelche noch nicht geöffnet und erscheinen wie beseelte Wesen, die mit geschlossenem Auge in stilles Selbstvergessen versunken sind.

Die Nacht ist entschwunden, der Tag noch nicht an­ gebrochen. Der Westen ist noch von schwarzem undurchdringlichem

Dunkel verhüllt; der Osten klärt sich leise wie ein durch­ sichtiger See in zweifelhaftem Lichte.

Von allen Sternen blinkt nur noch ein einziger am Firmament: es ist Lucifer, der Vorbote der aufgehenden Sonne. An dem Rande des Waldes hängt ein dichter Nebel­

schleier;

aber er erhebt sich, schon hat er die Gipfel der

Bäume erreicht;

bald

wird er aufsteigen und droben in

blauer Tiefe verschwinden

40 Gleich einer bescheidenen Magd, die ruhig das Er­ wachen ihrer Herrin erwartet, liegt die Erde in tiefer Stille, der Ankunft ihres Herrn harrend. Ein rosiger Schimmer färbt nun den Osten, und der Morgenstern erbleicht. Dort schüttelt ein Goldfinke den Thau von den glatten Federn. Er verläßt den Zweig, worauf er ruhte, erhebt sich in die Luft und läßt sich auf dem höchsten Gipfel des Waldes nieder. Er blickt freudig nach Osten, wo die Sonne langsam ihre Bahn beginnt; helle, silberne Töne entsteigen der kleinen Kehle und begrüßen das Tageslicht. Glücklicher Vogel, der die Himmelsfackel eher sicht, als wir! Das Zeichen ist gegeben! Tausend befiederte Tonkünstler erwachen, und tausend Lobgcsänge verherrlichen zugleich die Schöpfung. Sieh', wie die Lerche sich immer höher und höher schwingt! sie will ihre Dankgcsänge dichter vor dem Thron ihres Gottes erschallen lassen. Nun erhebt sich die lachende Sonne über dem Tannen­ walde ! Ihre glänzenden Strahlenbüschel gleiten, einer uner­ meßlichen Zaubcrruthe gleich, über die Haide hin: was sic erreichen, empfängt Leben und Schimmer! Horch! wie die Heuschrecken und Grillen dem Herrn ihr Morgcngebct darbringen! Sieh'! wie die Blumen die Augen aufschlagen, ihre Kronen und Kelche erschließen, als ob sie einen Strahl des allliebenden Gottes in ihre Herzen aufnehmen wollten! Sei gegrüßt, gegrüßt du herrliches Meisterstück des großen Arbeiters!

41 Schallte solch' ein Lobgesang auch nicht aus Bernhard's Munde, so klang doch wenigstens in seiner Seele in noch

reicheren Tönen das Lob des Schöpfers wieder, denn schon seit einer halben Stunde kniete er auf der Haide und schaute

mit betendem Herzen dein Erwachen der Natur zu, während seine Schafe die nassen Kräuter verzehrten.

So andächtig auch Bernhard'sGebctgewesensein mochte, so hatte er dennoch unverwandt nach der Stelle geschaut, wo der Wärwolf Tags zuvor verschwunden war. Plötzlich erbebte er an allen Gliedern:

er sah den Wärwolf auf

Händen und Füßen unter den Vrombeerbüschen hervor­ kriechen, sich aufrichten und längs des Waldrandes sich wieder

entfernen. Diesmal trug er Nichts unter dein Arme. Das Buch mußte demnach im Walde geblieben sein. Vielleicht lagen noch andere Bücher in der Höhle des WärAber, o Gott, wie sollte Jemand den Muth haben, sich dieser Behausung zu nahen, oder gar in die Höhle ein­

wolfs.

zudringen? Würde nicht ein schrecklicher Tod seine Strafe

sein? Vielleicht würde der Wärwolf ihn zerfleischen und

seine zerrissenen Glieder den Naben

im stummen Walde

vorwerfen. Armer Bernhard! da steht er auf der Haide an seinen

Stab

gelehnt

und blickt wie verwirrt zur Erde nieder;

seine Stirne brennt, seine Kniee schwanken, eine unbegreif­ liche Macht zieht ihn nach dem Walde hin. Nun wagt er einen Schritt; — noch

einen — noch mehrere!

aber er

bebt und ist erschrocken, denn jetzt steht er dicht vor den Brombeerbüschen, der Grenze von des Wärwolfs Grund­

gebiet.

Wird er vermessen genug sein,

um sich, wie der

Wärwolf, zu bücken und den Fußpfad einzuschlagen, der nach der fürchterlichen Höhle führt?

Eine Stunde vor Mittag stand Bernhard noch immer vor den Brombeerbüschen, mit gesenktem Haupte, starrein

42 Blicke und in fieberhaftem Beben; die Wißbegierde kämpfte in seinem Herzen mit der Furcht vor dem Tode. Gewiß mußte der Streit sich jetzt entscheiden: denn Bernhard bog sich langsam zur Erde nieder und schlüpfte plötzlich auf Händen und Füßen unter den Brombeerbüschen hin. Die Wißbegierde hatte die Todesfurcht überwunden! — Die Brombcerbüsche reichten nicht tief; bald konnte Bernhard sich aufrichten, und umhersehen, wo er sich be­ fand. Nichts Fremdartiges zeigte sich seinem verwilderten Auge, nur eine traurige, öde Natur, die von Todesstille und halber Dämmerung umschlcicrt war. Mit klopfendem Herzen und steigender Angst schritt Bernhard langsam und vorsichtig wie ein Missethäter voran. Von Zeit zu Zeit traf der heisere Schrei eines Raubvogels sein Ohr und machte ihn an allen Gliedern erbeben; dann blieb er ent­ setzt vor einem verdorrten Baume stehen, der wie ein Mensch ihm seine dürren Arme cntgegenstreckte und ihn zurückhaltcn zu wollen schien. Aber die Wißbegierde zog ihn unwiderstehlich nach jener Höhle, längs des Pfades hin, den des Wärwolfs Füße gebahnt hatten. Endlich erreichte er eine Tiefe, wo der Holzwuchs einem freien Waldplatzc wich, der mit einem Teppich von Gras und Blumen überzogen war. Ein kleines, fast unsichtbares Bächlein wand sich durch diese natürliche Weide, wie eine Schlange, die eilig nach dem Gebüsche flieht, um sich vor den brennenden Sonnenstrahlen zu schützen. Hier athmete Alles Leben und Erquickung: die Sonne sandte ihre Strahlen senkrecht auf die fette Weide und entlockte ihr liebend tausend schinimernde Blümchen; die Vögel sangen in Chören auf den benachbarten Bäumen; mit einem Wort, diese kleine Stelle glich einem Lustgarten, von der launenhaften Natur mitten in einer Wüste an­ gelegt.

48 Ein anderer Wanderer als Bernhard hätte gewiß an

diesem reizenden Orte geruht;

er würde seinen Durst am

klaren Bächlein gelöscht und sein Auge mit Entzücken auf dem farbigen Blnmenteppich haben ruhen lassen, während sein Ohr dem vielstimmigen Gesänge der Vögel gelauscht hätte. — Bernhard dachte nur: „Wo mögen hier Bücher verborgen liegen?" Nachdem er sich eine Weile um geschaut hatte, bemerkte

er in der Ferne am entgegengesetzten

Ende der Weide

einen hohen Sandhügcl und zwischen wirren Gesträuchen eine Höhlung in demselben, die vielleicht den Eingang zu des Wärwolfs Wohnung bildete. Er wandte seine Schritte

jener Seite zu; doch je mehr er sich der Höhle näherte, um so langsamer wurde sein Gang; seine Angst wuchs mit jeder Minute, und er blieb zitternd vor dem sonderbaren

Aufenthalte des Wärwolfs stehen, der jedoch an und für sich durchaus nicht schrecklich zu nennen war. Man konnte sie auf den ersten Blick als das Werk einer unbeholfenen

Menschenhand erkennen. Derjenige, der sie gemacht, hatte zuerst eine weite Grube, wie ein Zimmer, tief in den Sand­ hügel hinein gegraben, über dieser viereckigen Höhlung aus

schweren Baumzwcigen ein Dach befestigt und dasselbe mit einer dichten Lage von Schling- und Farrenkraut bedeckt;

die erste Seite dieses Daches schützte hinlänglich vor Wind und Regen; in der andern befand sich eine Ocffnung, welche das Fenster ersetzte und das Tageslicht hereinließ.

Klein war die Wohnung des Wärwolfs nicht;

und ein

Mann von hoher Gestalt konnte gemächlich und ohne sich zu bücken hineintreten.

So wenig schreckhaft sie auch aussah, wagte es Bern­ eine unendliche Angst

hard doch nicht, sic zu betreten;

mußte ihn ergriffen haben, denn er wich einige Schritte zurück und blickte bange umher, ob der Wärwolf noch nicht

44 erschiene.

Vielleicht wäre er zur Haide zurückgekehrt; als

er aber wieder vor den Eingang trat, sah er das große Buch auf einem pultähnlichen Gestelle in der Höhle liegen. Nun war sein Entschluß schnell gefaßt; das Buch zog ihn

einem Magnete gleich an, und wie ein Naubthier, das auf seine Beute stürzt,

sprang er mit einem Satze vorwärts

und fiel mit beiden Händen auf die aufgeschlagencn Blätter

des Buches. Wie glücklich war nun der

arme Bernhard!

Ein

seliges Lächeln glitt über sein Antlitz, seine Augen glänzten

im Feuer der Neugier, seine Brust hob sich, sein Herz schlug

ungestüm und seine Finger bebten vor Ungeduld.

Er be­

saß ja nun auch ein so großes, so schönes Buch!

Wäre Bernhard nicht in den Anblick der Buchstaben vertieft gewesen, so würde er mehr als einen sonderbaren Gegenstand in der Hütte bemerkt haben.

Das Pult, worauf das Buch lag, war aus Baum­

zweigen geflochten und in der Erde befestigt; in einer Ecke der Hütte befand sich eine Lagerstätte auf dieselbe Weise

verfertigt, mit Moos ausgcfüllt und halb von einer zer­ rissenen wollenen Decke verhüllt; in der Mitte stand ein hölzernes Kreuz, an dessen einem Arme ein Ritterkleid oder Koller hing, der mit schwarzbraunen Flecken bedeckt war, welche getrocknetem Blute nicht ungleich sahen. Daneben hing ein Degen, mit großen Rostflecken übersäet, die wahr­

einer darauf gespritzten Feuchtigkeit herrührten. Am unteren Theile des Lagers befand sich ein scheinlich von irgend

geöffneter Rcisesack, und daneben lagen einige, wie es schien, herausgefallcne Goldstücke. Ferner waren eine Menge ge­

trockneter Wurzeln von allen Arten an den Wänden auf­

gehängt; außerdem eine Geißel und ein Gürtel mit vielen nach Innen laufenden eisernen Spitzen versehen. Diese Gegenstände fielen Bernhard gar nicht auf; er

45 war ganz in dem Anschanen des Buches verloren,

und

wandte zuweilen ein Blatt um, ohne selbst zu wissen, was er that. Ohne diese kleine Bewegung und die tiefen Athem­

züge seiner Brust hätte man ihn leicht für ein lebloses

Bild halten können. Aber, o Himmel!.... wer ist die Gestalt dort an der Thüre der Hütte? Ist es ein Mensch? Ja, es ist der Wärwolf mit seinem schweren Stabe und seinem braunen Kleide! — Ans seinen ticfgcsunkencn Augen sprüht es wie Feuer, seine hohlen Wangen erbleichen, seinen Mund verzieht

krampfhaft der Zorn — aber er bleibt still und bewegungs­ auf den Hirten hin, dessen

los stehen und schaut starr

Angesicht er nicht ganz sehen kann. Unglücklicher Bernhard, der so freudig und selbstver­ gessen sich an dem Anblicke des Buches weidet.

Sähe er

die blitzenden Augen, die auf ihn geheftet sind! Eine lange Weile blickte der Wärwolf mit grimmigem Ausdruck iu die Hütte; aber allmählich wurden seine Züge milder, und bald schien er wieder ganz ruhig. Wahr­ scheinlich hatte der alte Hirte die Wahrheit gesagt, als er behauptete, der Wärwolf könne nicht sprechen; denn statt

Worten entstieg nur ien dumpfer Seufzer seinem Munde,

der wie ein Donnerschlag zu Bernhard's Ohren drang. Alsbald sprang der Jüngling auf, wandte bebend das Haupt nach dem Eingang und sah das hohle Antlitz des Wärwolfs sich zugekehrt und seine funkelnden Augen fest

auf sich gerichtet.

Mit einem lauten Schrei flüchtete er

nach dem andern Ende der Hütte und hob sprachlos und

flehend

seine Hände zu

zitterte der Arme,

dem Wärwolf empor.

wie bleich

waren

ihm

O, wie

Stirn

und

Wangen. Der Wärwolf trat ihm einen Schritt näher; aber der

entsetzte Hirte, der den Tod vor Augen sah, ließ sich auf

46 die Kniee nieder, kroch bis dicht vor den Wärwols, ergriff eine seiner Hände und rief, sie mit Thränen benetzend: „O, wer ihr auch sein mögt, habt Mitleid mit mir! Gnade, Gnade! thut mir doch kein Leides!" Ein Lächeln voll Liebe und Wohlwollen strahlte auf des Wärwolfs Antlitz; er faßte Bernhard's beide Hände, hob ihn vom Boden auf, legte die knöcherne Hand schmeichelnd auf feine blonden Haare und sprach zum größten Er­ staunen des Jünglings mit sanfter Stimme: „Armes Kind, was fürchtest du von mir? O, ich bin unglücklich und muß auf eine harte Weise meine Sünden büßen; aber ich thue Niemand etwas zu Leide. Beruhige dich, mein Sohn, und ängstige dich nicht mehr vor mir." Der verwunderte Bernhard sah dem Wärwols dankbar in die Angen und küßte ihm entzückt die Hände; es stieg plötzlich in seinem Herzen ein Gefühl von Liebe auf für den unglücklichen Mann, der ihn so freundlich behandelte, während er den Tod von ihm erwartet hatte. Mit einem noch flehenden Lächeln erwiederte er: „Dank, Dank, Herr! Ich werde ewig eurer Güte gedenken, und wie das Grab über meinen vermessenen Be­ such bei euch schweigen. Vergebt mir, ich will ja schnell den Wald verlassen." Mit diesen Worten sandte er dem Buche noch einen trüben Blick zu, als ob er diesem Gegenstände seines bren­ nenden Verlangens ein letztes Lebewohl sagen wollte. Als er sich umwandte, bemerkte er den Wärwols, der auf dem Rande des Bettes saß und ihn starr betrachtete, während eine Fluth stiller Thränen über seine Wangen rollte. Dieser Anblick hielt Bernhard zurück; er blickte schmerz­ lich den Unglücklichen an, und auch seinen Augen ent­ strömten Thränen von Mitgefühl. „Herr," sprach er mit seiner sanften Stimme, „Herr!

41 Euer Leiden geht mir tief zu Herzen. Ihr wäret so gütig

gegen mich, daß ich viel darum geben würde, euch trösten zu können; aber was vermag ein schwaches Kind, wie ich? Bin ich aber int Stande, euch irgend einen Dienst zn er­ weisen, so verfügt über mich!"

Der Wärwolf erhob sich langsam, nahm Bernhard bei der Hand, führte ihn aus der Hütte und sprach zu ihm: „Komm', mein Sohn, daß ich dein Angesicht in der

Sonne beschaue: es wird mir eine Wohlthat sein und ein Trost in meinem Leiden." Er brachte den Hirten zu dem Bächlein, setzte sich in das hohe Gras nieder und sagte, vor sich hin auf die

Erde weisend: „Sitz hier dicht vor mir hin, mein Sohn,

und er­

staune nicht über die Thränen der Freude, die dein Anblick mir entlockt.

Es sind schon zehn Jahre vergangen, seit

kein Menschenlächeln mehr dem unglücklichen Wärwolf ent­ gegenstrahlte, seit kein freundliches Wort sein Ohr erreichte. Und dann, soll ich dir's vertrauen? Es ist ein Wesen auf

der Welt, das mir theurer ist, als mein Augapfel, dessen

Bild allein mich noch an's Leben zu fesseln vermag. Dies Wesen hat blaue Augen wie du, blonde Haare wie du, frischrothe Wangen wie du, und eine Stimme so süß, wie

die deine." „Dies ist die geheime Macht deines Angesichts

auf

Vergib einem Unglücklichen diese sonder­ bare und vielleicht lächerliche Leidenschaft." Bernhard ergriff eine der magern Hände des Wärmein Gemüth.

wolfs und streichelte sie sanft, um ihm seine Zuneigung

zu erkennen zu geben, und wenn es möglich wäre, ihn einigermaßen über sein trauriges Loos zu trösten. So saßen Beide einige Augenblicke stumm nebeneinander. Endlich fragte der Wärwolf:

48 „Aber sage mir, mein Sohn, wie barstest du es wagen, diesen gefürchteten Wald zu betreten? Gewiß hat die Ren­

gierde dich dazu gestachelt, und du besaßest Muth genug, ihr zu folgen!"

Die empfindlichste Saite von Bcrnhard's Gemüth war berührt; er sollte von der verzehrenden Wißbegierde sprechen, die so feurig in seinem Herzen lebte! Auch waren seine Nerven zitternd erregt, und er drückte noch liebevoller die Hand des Wärwolfs, indem er erwiederte:

„O Herr! ich darf es cnch kaum offenbaren; doch eure Güte macht mich kühn.

Verwerft meine verwegene Bitte,

wenn ihr sie nicht erhören wollt! aber zürnet mir nicht! —

Es brennt in meiner Seele ein unbegreifliches Verlangen,

lesen zu lernen; ich kann nicht, noch mag ich euch erklären, wie es entstanden ist; aber es geht so weit, daß der Anblick eines Buches eine unwiderstehliche Macht auf mich ausübt; ich fühle dann meine Stirn erglühen, mein Herz ungestümer

schlagen, und ich zittere vor Begierde, wie ein Kind." „Ich hab's gesehen," murmelte der Wärwolf. „Wohlan denn," fuhr Bernhard fort,

„ich sah euch

gestern mit einem Buche unter dem Arm am Rande des Waldes hingehen. Das war mir genug. Von diesem Augen­ blick an hatte ich keine Ruhe mehr; ich schlief diese Nacht nicht, und fühlte mich durch eine geheime Macht zu euch

hingezogen. Verzweifelnd kämpfte ich gegen diese unbekannte Gewalt, denn ich fürchtete mich vor euch; aber vergebens. Mein Schicksal war beschlossen, und ich würde durch Feuer

und Flammen gelaufen sein, um das Buch aufzusuchen. — Soll ich es euch gestehen, welch' kühne, welch' verwegene Hoffnung meine Brust erfüllte? Ich wagte zu hoffen, daß der Wärwolf mich lesen lehren würde!" Es entstand eine kurze Pause, in welcher Bernhard ängst­ lich und bebend dem Wärwolf in die hohlen Augen blickte.

49 „Wohlan denn,

mein Sohn,"

sprach dieser,

„deine

Hoffnung soll dich nicht betrogen haben: der Wärwolf

wird dich lesen lehren."

Ein Jubelschrei klang über die Wiese hin. Bernhard sprang auf, setzte sich neben dem Wärwolf nieder, schlang

die Arme um seinen Hals und weinte vor Freude auf

seiner Schulter, während Worte des Dankes seinen Lippen entströmten. Einen Augenblick später flog er wieder in die Höhe,

hüpfte wie wahnsinnig um den Wärwolf herum

und rief beständig:

„Ha, ha, ich lerne lesen! Dank! Dank! ich werde zu Gott für euch beten, eure Hände wie die meines Wohl­

thäters küssen. Ha, ha, lesen, — wissen! Wie schön!" Der Wärwolf stand auf, und indem er sich Bernhard näherte, sagte er mit ernster Stimme:

„Mein Sohn, ich muß die Erfüllung meines Ver­

sprechens durch unverbrüchliche Forderungen bedingen. Merke dir genau, was ich dir jetzt sagen werde, und

präge dir meine Worte tief in die Seele ein: denn wenn du ein einziges vergessen solltest, kann ich dich nicht mehr bei mir sehen."

„O sprecht," rief Bernhard aus, „ich bin zu Allem bereit. Niemals werde ich etwas thun, was euch mißfällig sein könnte." „So gieb denn wohl Acht! — Du darfst niemals

einen Fuß in den Wald setzen, als früh Morgens, ehe noch die Sonne im Süden steht, — niemals darfst du die

Hütte des Wärwolfs wieder betreten, es möge vorfallen,

was da wolle; — niemals darfst du den Wärwolf etwas über seine Lebensweise und seine Bußübungen fragen; eben­ sowenig ihm von deinen Eltern, deiner Schwester oder deinem Bruder erzählen.

Dieser letzte Name komme vor Allem nie über deine Lippen. Hüte dich wohl, des Nachts

3

so in beit Wald zu dringen!

Du kennst die Strafe, die ich

nach dem Willen Gattes erdulden muß; es ist schrecklich und gefährlich, Zeuge davon zu sein. Verschließe die Ge­

heimnisse dieses Waldes treu in deiner Brust: ein unvor­ sichtiges Wort könnte mir den Tod bringen. Dies ist Alles,

was ich dir zu sagen habe. Und nun, mein Sohn, — steh', die Sonne hat fast den Süden erreicht: eine meiner Stunden naht. Verlaß mich nun. Wenn du morgen wiederkehrst, so setze dich unter jene Eiche und ahme den Schrei der Waldeule nach. Er wird in meiner Hütte wiederhallen und ich komme dann mit dem Buche zu dir. Bis morgen, denn, mein Kind."

Er drückte bei diesen Worten nochmals die Hand des jungen Hirten,

wandte sich um und ging mit langsamen

Schritten seiner Hütte zu.

Bernhard hob seinen Stab vom Boden auf und schlug den Pfad ein, den er gekommen war. Wie schön, wie glänzend schien ihm nun die öde Waldnatur! Wie strah­ lend das Sonnenlicht, das ihm glühend auf die Stirn brannte, sobald er unter den Brombeerbüschen hervorge­ krochen und wieder auf der Haide war! Wie entzückend, wie süß der Gesang der Vögel und das eintönige Zirpen

der Heimchen! Mit leichten, hüpfenden Schritten eilte er zu seiner

Heerde, rief seinem treuen Hunde und erzählte ihm, daß er

nun lesen lerne.

Dann suchte er seinen geliebten Widder

unter den Schafen auf und begann auf's Neue seine frohe Erzählung; er sang alle seine Lieder und tanzte unermüdet auf der Haide umher, bis

Hause rief.

die sinkende Sonne ihn nach

51 III. Das Unwetter. Sobald Bernhard am andern Tage seine Schafe auf die Haide geführt hatte, kroch er unter den Brombecrbüschcn hin und eilte der Hütte des Wärwolfs zu. Er setzte sich unter dem bezeichneten Baume nieder und ahmte den Ruf der Waldeule nach: „Uhl, uhl, uhl!" Auf dies Zeichen trat der Wärwolf aus seiner Hütte und näherte sich dem Jünglinge mit freundlichem Lächeln; er setzte sich neben ihn unter den Baum, und nachdem er das große Buch aufgeschlagen, begann er, ihm ohne weitere Erklärung die Buchstaben zu zeigen und zu nennen. Als er diesem Unterricht zwei Stunden gewidmet hatte, erhob sich der Wärwolf, zog ein anderes Buch unter seinem Ge­ wände hervor und reichte es Bernhard mit den Worten: „Mein Sohn, nimm dies kleinere Bnch als ein Ge­ schenk von mir: es diene dir, um das, was ich dich gelehrt, für dich zu wiederholen. Lesen lernen ist nicht leicht: du mußt alle deine Geisteskräfte znsammeunehmen, um wohl zu behalten, was ich dir sage, und wenn du allein bist, mußt du die Buchstaben wiederzuerkennen suchen. Ich ver­ traue dir hinlänglich, um nicht überzeugt zu sein, daß du dies Buch Niemand zeigen, und im Fall es entdeckt würde, doch über den Wärwolf schweigen wirst." Bernhard brachte das Buch entzückt an seine Lippen und antwortete: „O fürchtet nichts, Herr, ich werde das Buch in einen Beutel von Schaffell stecken und an einer Schnur auf meiner bloßen Brust tragen. Auf diese Art wird man es sicher nicht entdecken. Ich werde es nur fern von allen Menschen hervorziehen, um ungestört lernen zu können."

52 „Vis morgen denn, mein Sohn/' sprach der Wärwolf, lind entfernte sich.

Bernhard verließ den Wald und begab sich zu seiner Heerde zurück.

Dort setzte er sich mit seligem Vergnügen

auf die Erde nieder, schlug das Buch auf den Knieen auf

und wiederholte

in tiefem Selbstvergessen

das Gehörte.

Zuweilen erhellte ein freudiges Lächelu seine Züge: —

dann hatte er einen Buchstaben erkannt, und jubelte ihm, wie einem alten Freunde entgegen; zuweilen aber lagerten

sich Trauer und Mißvergnügen auf seine Stirne, welche er

ungeduldig rieb: — danu war sein Gedächtniß ihm untreu geworden und versagte ihm den Namen dieses oder jenen

Buchstabens. So verlebte Bernhard den ersten Tag seiner Lehrzeit, und so vergingen auch alle darauf folgenden Tage. Nicht immer konnte er seine Heerde verlassen, um nach dem Walde zu gehen; denn häufig mußte er dieselbe fern von seiner Haide grasen lassen. So vergingen denn oft fünf bis sechs Tage, ehe er den Wärwolf besuchen

konnte; aber dann lernte er um so eifriger in seinem kleinen Buche, welches er stets auf dem Herzen trug.

Seit seiner Bekanntschaft mit dem Wärwolf war Bern­ hard von dem Pachter, dessen Schäfer er war, nicht mehr so gern gesehen.

Die Abnahme von Wohlwollen rührte von Bernhard's Nachlässigkeit her: denn anstatt die Schafe nach der fettesten Weide zn bringen, war er fast immer in

der Nähe des Waldes zu finden, obschon dort kein Futter für die Heerde mehr wuchs, und oft hatten die Vorüber­

gehenden sich vergebens nach dem Schäfer umgcsehen. Hierüber mußte Bernhard fast täglich Vorwürfe hören, aber wenn er sich auch zu bessern schien, so geschah cs nur, um nackwenigen Tagen wieder denselben Weg einzuschlagcn.

Nicht wunderbar wird es erscheinen, daß Bernhard in

53 kurzer Zeit bedeutende Fortschritte machte, und noch ehe ein Jahr verging, sein ganzes Buch lesen konnte, ja selbst

die schönen Gebete, welche darin standen, auswendig wußte. Von Zeit zu Zeit ließ ihn der Wärwolf in dem großen Buche lesen; Hirten,

dies war eine ungemeine Freude für deu

da der Band

„Plinius Naturwunder"

enthielt

und die seltsamsten Thiere beschrieb.

Bis dahin hatte Bernhard den Wärwolf noch über nichts gefragt, und dieser hatte noch kein Verlangen gezeigt, etwas Näheres über seinen jungen Schüler zu vernehmen: er kannte selbst dessen Namen noch nicht. Demungeachtet

fühlte Bernhard sich durch ein tiefes Gefühl von Liebe und

Dankbarkeit zu seinem Wohlthäter hnigezogen.

Schon

häufig hatte er bittere Thränen bei dem Gedanken ver­

gossen, wie viel Schmerzen der Wärwolf ertragen müsse, ohne daß es ihm vergönnt sei, Trost und Erleichterung für seine Leiden zu suchen. Sein dankbares Mitgefühl wurde

noch erhöht, als er nach einem Jahre bemerkte, wie der

Wärwolf zusehends abmagerte und offenbar allmählich dem

Grabe zuwankte.

Mit tiefer Betrübniß sah Bernhard, daß

der Alte bald nur noch mit Mühe die Hütte verlassen

konnte, um sich nach dem Baume zu begeben,

Augen

allen Glanz

daß seine

verloren und seine Stimme dumpf

und fast unverständlich wurde. Einst, als der Wärwolf ihm eine Stelle aus dem großen

Buche zu erklären suchte, verlor er plötzlich die Sprache mitten in der Rede und hauchte einen Seufzer aus, der bewies, daß seine Brust zu schwach war, um noch so an­ haltendes Athcmholcn ertragen zu können.

Das Gefühl

überwältigte diesmal Bernhard's Willen und er rief unter einem Strom von Thränen und mit schmerzlichem Tone:

„O Herr, ihr seid krank und ihr thut Nichts, wieder zu genesen. So wollt ihr denn sterben?"

um

54

Statt aller Antwort hob der Wärwolf sein Buch vom Boden auf, wandte sich langsam der Hütte zu und sagte mit trauriger Stimme: „Bis morgen, mein Sohn." Bernhard sah ihn schwankend dahingehen. Als er noch eine Zeitlang auf derselben Stelle geweint hatte, kehrte er voll Schmerz und Angst zur Haide zurück. Während des ganzen Tages gedachte er ausschließlich der Krankheit seines Wohlthäters und vergoß in der Stille manche Thräne über sein beklagenswerthes Loos. Als der Tag sich neigte, trat er den Heimweg an und überzählte, in Gegenwart des Pachters, die Schafe seiner Heerde, während er sie in den Stall laufen ließ. Es fehlten vier Schafe und ein Widder. Da machte sich der lang zurückgehaltene Zorn des Pachters Lnft: er verwies dem Hirten mit harten Reden seine Nachlässigkeit und überhäufte ihn mit Scheltworten. Zugleich hieß er ihn sein Bündel schnüren, und jagte ihn als ungetreuen Diener vom Pachthofe weg. Als der Abend die Erde in Dunkel gehüllt hatte, lag Bernhard weinend auf der Haide, nicht fern von den be­ kannten Vrombeerbüschen. Der unglückliche Jüngling wußte nicht, wohin er sich wenden sollte, und hatte den Kopf auf sein Bündel niedergelegt, um den Tag zu erwarten, und dann dem Wärwolf sein Mißgeschick zu klagen. Trotz seiner tiefen Betrübniß schlief er doch endlich ein. Kaum hatte er ein paar Stunden geschlafen, als die Luft schwer und gewitterschwül, gleich einer bleiernen Decke auf ihm zu lasten begann. Das Athemholen wurde ihm schwer, der Schweiß brach ihm am ganzen Leibe aus, von Zeit zu Zeit fuhr er halb bewußtlos mit der Hand nach der Brust, wie um sich Luft zu mache». Alles, selbst die leblose Natur, schien in ängstlicher

55 Erwartung; kein Windchen, kein seufzend Lüftchen bewegte die Blätter — die Haide schien

ein unermeßliches Grab.

Nur von Weitem hörte man eben das Gequak der Frösche, die dem nahenden Regen ihren Gruß entgegensangen. Bald zeigte sich am fernen Horizont ein schwarzer Be-

hang, der langsam höher und höher sich erhob und weiter sich ausbreitetc, einem Trauerflore gleich, den Gottes Hand über die angstvolle Erde deckte — hin und wieder flammte hinter dem Horizont eine lichte Gluth auf — noch schauer­ licher wurde die Stille der Natur, noch drückender die Lust .... bis endlich der drohende Vulkan einen Boten anssandte, wie zu künden: Ich komme! Das vorausgeschickte Lüftchen lispelte schmeichelnd durch das Laub, beugte sanft die Spitzen der Pflänzchen: — bald darauf aber entfaltete sich schnell das Unwetter: ein Feuer­

pfeil schoß dahin durch den weiten Raum, ein fürchterlicher

Donnerschlag crschütterteBernhard'sLagerstätte. Erwachend und noch betäubt von dem festen Schlafe, sprang der Hirte empor und schlug die Augen auf. — Da entfuhren zwanzig Blitze zugleich dem Wolkengebirge; gleich darauf tobte heulend ein Orkan über die Haide hin, beugte oder brach die stärksten Bäume, und führte die ihnen entrissenen Blätter in schnellem Kreise gen Himmel; die'Wolken bra­ chen, der Regen stürzte in Ströinen nieder, wie eine zweite Sündfluth .... Bang und ängstlich fiel Bernhard auf beide Kniee nieder und begann zu beten; das Wasser lief stromwcise

an ihm herunter, die Kälte beklemmte seine Brust.

Er stand

auf und eilte zu einer großen Buche, um da Schutz vor dem Unwetter zu suchen; aber noch ehe er dieselbe erreichen

konnte, lief eine flammende Schlange

am Stamm

des

Baumes nieder, zerbrach ihn gleich einem Strohhalm und

die reiche Krone stürzte mit lautem Krachen zur Erde nieder.

56 Unaufhaltsam zischten die Blitze über die Haide hin: Bern-

hard's Entsetzen wuchs mit jedem Augenblicke und, sei es, daß er allein vom Wärwolf noch Hülfe erwartete, oder

daß ihn das Schicksal, welches über ihm waltete, trieb, er kroch unter

den Brombccrbüschen

hin und eilte verwirrt

der Hütte des Wärwolfs zu. Unter dem Eichcnbaum an­ gekommen, rief er verzweifelnd:

„Uhl, uhl, uhl!" Doch er hörte nichts, und wie grell auch der Blitz die

Haide erleuchtete, er sah den Wärwolf nicht kommen. Erst jetzt fiel cs ihm ein, daß der Wärwolf in jeder Nacht, dem Strafgerichte Gottes zufolge, als Wolf umherlaufen müsse, und daß er vielleicht in dieser Gestalt zurückkehren werde. Der Hütte durfte er sich nicht nähern, um nicht sein gegebenes Wort zu brechen. Er kehrte auf demselben Wege,

den er gekommen und den einzelne Blitze vor ihm erhellten zurück und warf sich weinend, in einiger Entfernung von

den Brombeerbüschen,

zur Erde nieder.

Das Gewitter

verzog sich gen Norden hin, und eine schauerliche Stille sank nieder auf die Erde.

IV. Aufklärung. Am andern Morgen erhob sich die Sonne hell und glänzend am blauen Horizont, sie sandte ihre freundlichen

Strahlen zu Bernhard und trocknete schnell seine durch­ näßten Kleider.

Dieser nahm

sein Bündel vom Boden,

begab sich auf's Neue in den Wald und rief unter der

Eiche sein: „Uhl, uhl, uhl!"

57 Aber sein Ruf blieb wie in der vergangenen Nacht unbeantwortet, und Niemand trat aus der Hütte.

Bern­ hard wiederholte ihn zu verschiedenen Malen, doch immer vergebens. Da durchfuhr eine bange Ahnung seine Brust:

er dachte an den möglichen Tod des Wärwolfs; vielleicht auch war er nur krank — konnte er sich dann selbst helfen,

da er kaum mehr einige Schritte zu gehen vermochte? — Diese Gedanken reiften in Bernhard den Entschluß, nach der Hütte zu gehen und sich selbst seinem Edelniuthe auf-

zuopfcrn. Er schritt auf die Höhle zu; — aber kaum hatte er

hineingeblickt,

als ein schmerzlicher Schrei seinen Lippen

entfuhr und er bebend wie festgebannt stehen blieb.

Vor dem Kreuze lag der Wärwolf halb nackt, einer

Leiche gleich, ausgestreckt; Blut entquoll in dicken Tropfen seinem entblößten Rücken, und seine matte Hand hielt noch krampfhaft eine Geißel, mit welcher er sich selbst so un­ barmherzig geschlagen hatte. Nachdem Bernhard mit stummem Entsetzen dies gräß­ liche Schauspiel angesehen hatte, sprang er in die Hütte,

umfaßte den Wärwolf mit beiden Armen und rief weinend aus: „Herr, Herr, erwacht doch! Ich bin cs, euer Schüler, o sterbt doch nicht!" Der Wärwolf öffnete die Augen und sah de» jungen Hirten, der sich bemühte, ihn anfzuheben, unstät und mit

traurigem Lächeln an. „Mein Sohn," sprach er, „ich vergebe dir, daß du

dein Wort gebrochen hast: Du hast nun ein Geheimniß meines bittern Lebens entdeckt. Heute werde ich leider! noch nicht sterben: aber ich hoffe zu Gott, daß er mir bald ein Grab als Ruheplatz gönnen möge."

.

Bei diesen Worten richtete er sich gewaltsam auf, zog

58 sein härenes Gewand an und setzte sich auf den Rand des Bettes nieder; er sah ungewöhnlich bleich aus, seine Lippen waren blau und seine Augen starr und glanzlos. Länger konnte Bernhard diesen Anblick nicht ertragen. „O, Herr!" rief er mit schmerzlicher Stimme, „warum peinigt ihr euch so? Das kann Gottes Wille nicht sein! Habt ihr wirklich eine Sünde begangen, so kann sie nicht so groß sein, als die Strafe, die ihr euch auferlegt!" Ein spöttisches Lächeln schwebte über des Wärwolfs Züge. „Nicht groß?" sprach er. „Höre, Jüngling, da der Tod mir nahe bevorsteht und du doch nie deinen Wohl­ thäter verrathen wirst, so will ich dir meine Sünde anver­ trauen. Du hast in dem Buche, das ich dir gab, gelesen, wie Kain seinen Bruder Abel ermordete, und wie er darum von Gott bis in seine Nachkommenschaft verflucht wurde. Wohlan, mein Sohn, der Wärwolf hat auch seinen Bruder ermordet, und Gott hat auch ihn verflucht bis in den Tod! Sieh' dieses Schwert! es ist dasselbe, welches das Haupt meines Bruders spaltete; auf diesem Koller klebt sein un­ schuldig Blut." Eine bange Stille folgte diesen Worten. Bald jedoch blickte der Wärwolf auf's Neue dem er­ schütterten Bernhard in's Auge und fuhr mit gebrochener Stimme in seiner Erzählung also fort: „Mein Sohn, ich will dir in kurzen Worten meine Missethat offenbaren: die Geschichte meines Lebens wird wohl die letzte Lehre sein, die ich dir geben kann. — Ich hatte einen Bruder, wir liebten einander mit der größten Innigkeit. Wir hatten auch eine Schwester, deren Gesichts­ züge den deinen gar ähnlich sind; darum erfreue ich mich an deinen! Anblick. Lange lebten wir zufrieden und glück­ lich, bis eine Frau die Eifersucht in unsern Herzen erweckte. Ich liebte diese Frau mit verzehrender Gluth — mein

59 Bruder liebte sie nicht minder; er war aber schöner, als ich, er schien mit Gegenliebe belohnt. Die Eifersucht glühte tote Gift in meinen Adern, doch konnte sie die Bruderliebe nicht besiegen: ich barg meinen Schmerz und litt im Stillen. Als ich einst mit meinem Bruder und einem alten Diener von einem Besuche bei jener Frau zurückkehrte, begann er, mich wegen meiner unglücklichen Liebe zu höhnen und zu verspotten; die lang zurückgehaltene Wuth entbrannte in meiner Brust; — er fuhr mit seinen Spötteleien fort! — Ich verlor alle Be­ sinnung, und der Zorn machte mich blind; ohne es selbst zu wollen, ergriff ich dieses Schwert, das an dem Sattel meines Pferdes hing, und spaltete das Haupt meines Bruders — eine Leiche, stürzte er vor mir zur Erde nieder. Ich sprang schreiend vom Pferde, warf mich über ihn hin und rief unter heftigem Weinen seinen Namen; sein Blut bespritzte meinen Koller, ich riß mir verzweifelnd die Haare aus; doch er blieb stumm!" Hier hielt der Wärwolf ein wenig inne, nur Athem zu schöpfen. Bernhard starrte regungslos vor sich hin; er bebte sichtbar, und seine ganze Haltung verrieth eine eigen­ thümliche Ungeduld, die Fortsetzung dieser Geschichte zu vernehmen. Gewiß, die Gemüthsbewegung, die ihn ergriffen, verbarg ebenfalls ein Geheimniß. Der Wärwolf fuhr fort: „Lange war es mir nicht gegönnt, an der Leiche meines unglücklichen Bruders meine Missethat zu bereuen. Bald kam der alte Diener mit einem Neisesacke nnd band diesen auf mein Pferd; dann riß er mich von dem Todten weg, zwang mich mit unwiderstehlicher Macht, mein Pferd zu besteigen und drängte mich, zu fliehen, damit unser Hans nicht auf ewig mit Schande befleckt werde." „Blind und bewußtlos gab ich dem Rosse die Sporen,

60 lind ließ es die ganze Nacht hindurch rennen....

Zwei

Jahre irrte ich in fremden Ländern umher, erst nachdem

sie verflossen, beichtete ich, und meine Strafe war — mein

ganzes Leben in der Einsamkeit und in Bußübungcn zu­ zubringen. Dazu nun wählte ich diesen Wald. Ein Wärwolf bin ich nicht, mein Sohn; doch um meine Geheimnisse besser bewahren zu können, ließ ich mir diesen Namen, den

die Bauern mir gegeben, gefallen, und behielt ihn. kennst du deinen Wohlthäter."

Nun

Bernhard wollte sprechen, doch seine Ueberraschuug war so groß, daß erlange nicht zum Worte kommen konnte;

endlich

doch wurde seine Brust freier und

rief er: „Abulfaragus! Aleidis! Arnold!

wie sinnlos

O, Herr,

ihr seid

kein Mörder, euer Name ist Hugo Graf von Craenhovc!"

Wer vermöchte den Ausdruck zu beschreiben, der Hugo's Züge bei diesen Worten überflog! Seine Augen leuchteten plötzlich in neuem Feuer: er neigte das Haupt Bernhard

zn, wie wenn er ihn um nähere Erklärung der Worte hätte

flehen wollen. Der Jüngling aber rief auf's Neue: „Nein, Graf Hugo, ihr seid kein Mörder, euer Bruder lebt!" Unter einem lauten Schrei lind strömenden Thränen sank Hngo von der Bettstelle nieder zu Bodeu, schleppte

sich daun zn Bernhard, faßte seine Hände und „Was sagst du? O sprich! Ich hätte meinen nicht ermordet? Ich wäre kein Mörder? Er lebt hast ihn lebend gesehen nach jener schrecklichen O Gott, könnte ich das glauben! Doch du irrest,

seufzte: Bruder und du Nacht? ich habe

ihn ermordet, gewiß — da, da hängt ja sein Blut!" „Nein, nein, Herr!" rief Bernhard, „ich irre nicht: Arnold von Craenhove lebt, ich wiederhole cs euch. Er selbst

61 gab mir die süße Alcidis zur Schwester! Ich habe acht Jahre meines Lebens auf dem Latcrnenhofe zugebracht und kenne das Ercigniß jener Schrcckcnsnacht. Der Schlag, den ihr eurem Bruder versetztet, war nicht tödtlich, und nur ein tiefe Narbe auf der Stirne hatte er davongetragen. Nun wird mir erst klar, warum Abulfaragus mich ver­ bannte ; es geschah, um euch meinem Herrn, dem Grafen Arnold, wieder znzuführen." Hugo bezweifelte jetzt nicht mehr die Wahrheit von Bernhard's Worten. Er warf sich vor dem Kreuze nieder und sandte mit lauter Stimme ein feuriges Dankgebct zu dem Allmächtigen. Als er sich wieder erhob, erhellte ein seliges Lächeln sein Antlitz, und er wiederholte mit unanssprechlicher Frende: „So bin ich denn kein Mörder! kein Mörder!" Dann setzte er sich matt auf das Lager nieder und Thränen der Frende strömten unanfhaltsam unter bestän­ digem Lächeln über seine Wangen. Bernhard stand eine Weile stumm da und hielt die Hände vor das Gesicht, wie einer tiefen Aufregung hin­ gegeben. Nach einigen Augenblicken näherte er sich Hugo und sprach ernst: „Der allgütige Gott hat mich eine kurze Zeit unglück­ lich gemacht, um mich als Werkzeug seiner unerforschlichen Rathschläge zu gebrauchen; meine Aufgabe ist nun bald vollbracht. — Ich werde nun, wie Abulfaragus es vorher verkündet, schnell nach dem Laternenhofe zurückkehren, um das Leiden eures Bruders durch ein einziges Wort in Freude zu verwandeln." Hugo's Züge überlief verdüsternd ein Ausdruck tiefen Schmerzes. „Mein Bruder," sagte er nachdenkend; „mein Bruder! werde ich vor ihm erscheinen dürfen? Wird er mich nicht,

62 wie einen Mörder, mit Vorwürfen überhäufen? Und den­ noch, o Gott! ich muß ihn sehen, seine Vergebung erflehen, seinen Bruderkuß auf meiner Wange fühlen, meine Schwe­ ster Aleidis an die Brust drücken. — Und dann, dann will ich sterben im Schatten der Thürme des väterlichen Schlosses . . . „Euer Bruder?" fiel Bernhard ihm in die Rede, „euer Bruder wird euch wie einen Engel empfangen, der vom Herrn gesandt ist, ihm Vergebung zu bringen. Er hat, wie ihr, viel gelitten; auch er ist abgezehrt, und auch er beugt das Haupt unter bitterer Nene. Die Ueberzeugung, daß ihr lebt, und daß er durch seine spöttischen Worte euren Tod nicht verschuldete, wird ihm neue Lebenskraft und Freude verleihen; er wird euch, wie seinen Erlöser segnen; glaubt mir, Herr!" Eine neue Pause folgte diesen Worten; Graf Hugo unterbrach zuerst das Schweigen; er richtete sich empor, faßte Bernhard's Hand und sagte in flehendem Tone: „Mein guter Sohn, du wirst dich vielleicht wundern über die Bitte, welche ich an dich richten werde: es ist wahr­ scheinlich der letzte Dienst, den du mir erweisen kannst." „Alles, Alles," rief Bernhard aus; „ich habe ja noch nichts für meinen Wohlthäter, der mich lesen lehrte, thun können." „Wohlan, Jüngling, ich will dich nach dem Laternen­ hofe begleiten. Hast du wohl Muth und Kraft genug, um meine matten Glieder zu unterstützen?" „Ihr seid so schwach, Herr," seufzte Bernhard. „Wir haben zwei gute Stunden zu gehen, von hier aus! Werden eure Kräfte auch ausreichen? Wenn ihr einwilligt, hierzu bleiben, werde ich noch heute Abend mit einem Wagen zurückkommen, eitdj abzuholen." „Meine Ungeduld ist zu groß," erwiederte Hugo, „und

63 begreifst du nicht, mein Sohn, daß Diener und Waffen­ knechte den Wagen begleiten würden? Auf diese Weise aber

will ich nicht wiederkehren." „ Ich thue wie ihrwollt," sprach Bernhard, „ich bin bereit!"

Dankbar drückte Graf Hugo die Hand des Jünglings, und sagte, vor sich hinweisend: „Mein Sohn, diese Wohnung des Wärwolfs möge nicht, als ein Blatt seiner unglücklichen Lebensgcschichte, hier fortbestehen. Nimm Moos und Blätter aus dem Lager, reiße die Zweige aus der Erde und lege sie darauf; auch

das Lesepult wirs dazu."

Als

dies geschehen war, ergriff Hugo den blutbe­

fleckten Koller und legte ihn auf den Scheiterhaufen.

Bernhard folgte,

ohne ein Wort zu wagen, obgleich

sich großes Erstaunen in seinen Zügen aussprach. Er legte

das Kreuz in einer kleinen Entfernung nieder. Hugo war beschäftigt, mit einem Kieselstein dem Schwerte Funken zu

entlocken, welche er auf einen Haufen trocknen Grases nieder­ Jetzt erst verstand Bernhard seine Absicht. Er

fallen ließ.

lief schnell zurück, ergriff das große Buch, und nahm es

unter den Arm, wie einen Freund, den er aus den Flam­

men retten wollte.

Auf den Neisesack zeigend, fragte er:

„Aber dies Geld, Herr?" „Willst du davon mitnehmen,"

erwiederte Hugo, „so

thue es." Bernhard nahm zwei der goldenen Münzen und steckte

sie zu seinem kleinen Buche in den ledernen Beutel.

Der

Ausdruck seines Gesichts gab deutlich zu verstehen, daß er

das Geld nicht ohne besondere Absicht mitnahm. Plötzlich faßte das Gras Feuer und loderte unter dem

Hause Hugo's in hellen Flammen empor. Dieser ergriff Bernhard bei der Hand, führte ihn aus

64 der Hütte, hieß ihn das Kreuz mitnehmen, und ging voran bis zu dem Eichbaum.

Als sie

sich umsahen,

sahen sic

dicke Rauchwolken ans der Hütte aufsteigcn, bald schlugen

züngelnde Flammen über dem Dache zusammen und um­ gaben in einem Augenblicke des Grafen Wohnung. „Nun, mein Kind," seufzte Hugo, „laß uns noch ein­ mal in diesem Walde vereint zu Gott beten."

Mit diesen Worten kniete er langsam nieder und erhob Bernhard folgte seinem Beispiel, die Hütte ein Raub der Flammen ward, sandten beide in der Einsamkeit der wilden Natur ein

seine Hande im Gebete.

und während

inniges Gebet zu Gott, und ein freudiges Lebewohl dem

stillen Orte, der so lange von den Thränen des Grafen benetzt gewesen. Nachdem die Hütte in Asche verwandelt

war, standen sic auf, pflanzten das hölzerne Kreuz zum Andenken an die Eiche und schlugen mit langsamen Schritten den Fußpfad ein. Einen Augenblick später waren sic auf der Haide angelangt. Graf Hugo hatte seinen Kräften zu viel vertraut:

kaum waren Beide aus dem Walde,

als er eine große Schwäche in allen Gliedern empfand. Er setzte sich erschöpft

nieder und ließ das Haupt traurig auf die Brust nieder­ hängen. Bernhard brach indessen einen Eichenstab aus dem Gebüsche, um sich auf denselben dann zu Hugo zurück:

zu stützen,

und kehrte

„Habt nur guten Muth, Herr," sprach er, „ich werde euch schon unterstützen; euch tragen, wenn cs möglich ist.

Wir werden langsam wcitergehcn; faßt nur guten Muth!" Er half nun dem schwachen Hugo aufstchen; dann brachte er die Schulter unter dessen Arm, und nöthigte ihn, sich darauf zu lehnen. Mit schwankenden Schritten gingen sie über die Haide hin und unterbrachen ihre kleine Reise durch oft wiederholtes Ruhen.

65 Lange herrschte ein ziemliches Schweigen zwischen den

Beiden; aber nach und nach begannen sie tröstende Reden mit einander zu führen. Bernhard erzählte sonder Zweifel

die Geschichte

seines

wechselnden Lebens,

denn

häufig

glänzten seine Augen in ungewöhnlichem Feuer; der Name Aleidis erklang unter den einsamen Bäumen, und gewiß hörten die Felder das schüchterne Bekenntniß der geheimsten Gefühle seines Herzens.

Obgleich Hugo eine große Er­

müdung empfand, so umschwebte doch zuweilen ein Lächeln

seine Züge, als er die vornehme Herkunft seines jungen Gefährten vernahm und gewahrte, daß gegenseitige Liebe die Herzen von Bernhard und Aleidis einander verbunden

Die Erzählung des Jünglings überzeugte ihn, daß Arnold seine Spöttereien beweine, lind daß er nie aufgehört

habe.

ihn zu lieben, ungeachtet der tödtlichen Wunden, die Hugo ihm versetzte.

Diese tröstende Versicherung verlieh ihm

neue Lebenskraft; er kämpfte muthig gegen die Schwäche seiner Glieder und erreichte so mit Bernhard gegen

zwei Uhr

des

Nachmittags

ein

kleines Wäldchen

bei

Wyneghem. Da verließen ihn seine Kräfte; er sank an einem Baume nieder und lag matt und einer Leiche gleich am Boden; — dennoch waren seine Züge von einem seligen Ausdruck verklärt: seine Augen erglänzten,

seine hohlen

Wangen hatten sich durch die große Anstrengung mit leisem

Roth gefärbt. —

Der kräftigere Geist siegte über den

erschöpften Körper, und er glaubte mit Zuversicht, daß er nach der wohlthätigen Ruhe wieder im Stande sein werde,

seine Reise weiter fortzusetzen.

Bewundernswerth war die zarte Sorgfalt von Bern­ hard; er sah ängstlich umher, und seine Angen suchten nach

einem Gegenstände, der ihm als Kissen für Hugo's schwa­ ches Haupt dienen könnte. Als er dies nicht fand, ließ

66 er sich auf den Boden nieder, zog Hugo's Haupt leise zu sich und lehnte es an seine Brust; dann blieb er regungs­ los sitzen. Kein Seufzer war unter dem Baum zu vernehmen,

keine Bewegung verrieth Leben in diesen beiden Gestalten, bis endlich Graf Hugo,

nachdem

er eine halbe Stunde

geruht, zu Bernhard sagte: „Mein Sohn, mich dürstet." Der Jüngling wandte sich vorsichtig los und erwiederte,

indem er aufstand: „Bleibt ruhig hier liegen, Herr, ich will mich nach einem Trünke umsehen. Werdet ihr wohl den Durst bis zu meiner Rückkehr ertragen können?"

„Ich werde noch so lange ruhen," seufzte Hugo. Als Bernhard dies hörte, ging er zwischen den Bäu­ men durch; sobald er aber nicht mehr von Hugo gesehen

werden konnte, lief er aus allen Kräften dem Dorfe Wyneghem zu. Dort wechselte er ein Goldstück gegen einen Krug Vier, ein Stück gesottenen Fleisches, Butter und Brod.

Mit diesen Vorräthen beladen,

kehrte er eilig zu Hugo

zurück, welcher aufrecht an dem Baume saß und sich von

der übergroßen Ermüdung ein wenig erholt zu haben schien. Er aß und trank von Allem, was Bernhard ihm reichte,

und erfreute seinen jungen Gefährten mit Beweisen wieder­ erlangter Kraft und frischer» Muthes. Bald ergriff Bernhard auf's Nene das Buch und den

Wanderstab; Hugo stützte sich wieder auf seine Schulter,

und so verließen sie den Nnheplatz, um ihre Reise weiter fortzusetzen.

Zwei Stunden vor Sonnenuntergang erblickten sie in der Ferne die Thürme des Laternenhofes. Dasselbe Ge­ fühl erfüllte Beide; ihre Herzen schlugen schneller, sie er­

bebten und hefteten die Augen fest auf die fernen Zinnen,

67 ohne durch ein einziges Wort ihre tiefe Aufregung zu ver­ rathen.

Man sollte denken, daß sie nun mit verdoppelten Schritten und erhöhter Ungeduld dem Ziele ihrer Wande­ rung zugceilt wären?

Es geschah gerade das Gegentheil: Beide sanken, von ihren Gefühlen überwältigt, zu Boden und waren einige Zeit sprachlos in dem Anblick der Thürme verloren, wäh­

rend die Thränen ihnen in Hellen Perlen über die Wangen rollten.

Hugo unterbrach zuerst das Schweigen: „O, mein Sohn, könntest du in mein Herz blicken! Wüßtest du, welche unendliche Freude mich erfüllt und

ergreift! — Da sind sie, die Thürme des väterlichen Schlosses! Nach dreizehn Jahren Leiden, nach dreizehn Jahren, in

welchen die Neue mir wie einem Mörder am Herzen nagte, sehe ich sie wieder, mit dem beglückenden Gefühle, kein Mörder zu sein! Ach, das Laub der Bäume, das meine Kinderspiele beschattete, wird noch einmal über dem greisen

Haupte des schwachen, hinfälligen Hugo rauschen! Ich werde reiche Erinnerungen an meine Vorfahren wieder­ finden, meinen Bruder Arnold, meine Aleidis, meinen treuen Abulfaragus entzückt in die Arme schließen .... ach! der allgütige Gott schenke mir nur noch einige Tage.... und dann — dann will ich dankbar und froh . . . ."

Ein sonderbarer Schrei Bernhard's unterbrach ihn in

seiner Rede. „Seht! Seht!" rief der Jüngling, während er nach

der Ferne zeigte, „seht ihr unter jenen Bäumen einen alten Mann, der Kräuter pflückt?

Ja, ja, er ist es!"

Ehe noch Hugo mit dem Auge der Richtung folgen konnte, die Bernhard ihm anwies, war dieser schon in un­ gestümer Eile aufgestanden und lief nun, so schnell er konnte,

68 zwischen den Bäumen hin und auf den alten Manu zu. Hugo sah, ohne den Greis in der Entfernung zu erkennen, wie derselbe Bernhard dreimal an die Brust drückte und ihn feurig küsste. Gleich darauf schritten sie schnell der Stelle zu, wo Hugo saß, und erst als sic sich ihm näherten, erkannte dieser seinen treuen Abulfaragus. Er erhob sich mit einem Freudenschrei und sank in die Arme des Astro­ logen. Dieser konnte vor Erschütterung nicht sprechen, und seine Zunge stammelte nur unverständliche Worte. Er ließ sich auf das Gras nieder und vergoß einen Strom stiller Thränen. Hugo setzte sich ihm zur Seite und faßte seine Hand; Bernhard saß auf der andern Seite in derselben Haltung. Nach einigen Augenblicken trocknete Abulfaragus die Thränen von seinen Wangen, betrachtete in Bewunde­ rung und Liebe Hugo's Angesicht, und rief mit zum Him­ mel erhobenen Blicken: „Dank, Dank dir, o Gott, daß ich ihn noch einmal sehe, bevor ich sterbe." Dann heftete er seine Blicke wieder auf Hugo und sagte: „Ihr seid schwach und krank, Herr, aber fürchtet nicht, daß der Tod euch uns entreiße: mehr denn einmal habe ich ihn besiegt, und außerdem strömt das edle Blut von Craenhove in eisernen Körpern. Muth und Hoffnung, Graf Hugo; Glück und Frieden erwarten uns Alle." „So ist es denn wahr, Abulfaragus, daß mein Bruder Arnold mich nicht haßt?" „Euch Haffen?" erwiederte Abulfaragus erstaunt, „euch hassen, Graf Hugo? Euer Antlitz verräth, wie viel ihr gelitten habt; aber ich darf kaum glauben, daß euer Leben glücklicher war, als das von Arnold." „Ihr glaubtet, euren Bruder erniordet zu haben; Ar­ nold hielt sich durch seine höhnenden Worte für die Ursache

69 der Missethat itnb vielleicht eines Selbstmordes. er zwei Jahre

umhergcrcist,

Nachdem

zwei Jahre vergebens nach

einem Zeichen eures Lebens geforscht hatte, vergrub er sich gleich einem Todten in den Mauern des Laternenhofes, mit der Ueberzeugung, daß ihr selbst euch das Leben genommen

hättet. Ihr könnt leicht begreifen, wie diese doppelten Gewissensbisse seine Rnhe, seinen innern Frieden unwieder­

bringlich zerstören mußten. Ihr seid mager und abgehärmt; er ist es noch viel mehr; — ihr seid glücklich, ihn wieder zu sehen, und er wird vielleicht bei eurem Anblick vor Freude

die Sinne verlieren!" „Wohlan, so laßt uns zu ihm eilen!" rief Hugo, sich

erhebend, „damit ich ihn wiedersehe und seine Vergebung erhalte!" „Herr Graf!"

erwiederte Abulfaragus schnell, „euer

Wunsch kann und darf noch nicht erfüllt werden.

Eure plötzliche Erscheinung könnte leicht tödtliche Folgen für euren Bruder haben. Außerdem, ihr wißt es, ist uns Allen der

größte Theil unseres Lebens in Thränen und in Schmerzen entschwunden, um das schreckliche Geheimniß zu bewahren.

Es darf noch nicht entdeckt werden!" „Wenn Graf Hugo von Cracnhove den Laternenhof bei Tage in diesem armseligen Gewände beträte, so würden die Diener und Waffenkncchte die Lösung des Räthsels

suchen — und wer weiß, ob es ihnen nicht gelänge, sie zu finden! Bleibt hier bis gegen Abend; ich werde nach dem

Schloß zurückkehren und dort Befehle ertheilen, daß Nie­ mand sich daraus entferne. Während dessen sende ich euch Aleidis und komme selbst bei Zeiten wieder, euch abzuholen. Habt noch so lange Geduld; es sind nur wenige Augen­

blicke den dreizehn langen Jahren hinzuzufügen. Das letzte Opfer, das ihr der Ehre eures Hauses bringt!" Mit diesen Worten drückte er die Hand des Grafen

70 und schlug mit eiligen Schritten den Weg nach dem La-

terncnhofe ein. Von Hoffnung und Freude erfüllt, begann Hugo ein heiteres Gespräch mit Bernhard, welches ihnen die Zeit verkürzte. Plötzlich erblickten sie in der Ferne eine Edelfrau, welche sich ihnen zu nähern schien. Sie war von hoher, schlanker Gestalt und trug ein schwarzes Gewand und einen durch­ sichtigen Schleier, der ihr Angesicht halb verhüllte. Ob­ gleich Bernhard sie nicht erkannte, gehorchte er dennoch der Stimme seines Herzens, sprang eilends auf und lief ihr aus allen Kräften entgegen, während er entzückt ausrief: „Schwester! liebe Schwester! Aleidis! Aleidis!" Mit ausgebreiteten Armen stürzte er auf sic zu; doch in einer kleinen Entfernung blieb er plötzlich, wie vom Schlage ge­ rührt, stehen: er ließ die Arme sinken und vergoß einen Strom von Thränen, während er verschämt und verlegen die Augen niederschlug. Armer Bernhard! er hatte ge­ glaubt, seine Schwester, die kleine Aleidis, wiederzufinden, und statt ihrer sah er nun eine hohe Jungfrau von bezau­ bernder Schönheit vor sich stehen. Ohne den geringsten Ausdruck selbst einer leichten unbefangenen Freundschaft blickte sic auf ihn hin, im Gegentheil, die Nöthe der Scham bedeckte bei seinem ersten Anblick ihre Alabaster­ stirne. Dann erst fühlte Bernhard, wie grobe, beschmutzte Kleider ihn deckten, wie sein Haar verwirrt und sein An­ gesicht von den Nächten, die er unter freiem Himmel zu­ gebracht, gebleicht war. Verzweiflung erfüllte seine Brust, und vielleicht entdeckte er in diesem Augenblicke auch zum Erstenmale, daß ein ander Gefühl, als das der Bruderliebe, ihm unbewußt in seinem Herzen wurzelte. Es muß wohl sein, daß der Blick der Liebe bis in das Innerste des Herzens dringt; denn Aleidis verstand mit

71

einem einzigen Blicke den Schmerz des Jünglings; anstatt ihn mit dein Brndernainen „Bernhard" zu begrüßen, sagte sie mit ihrer schmelzenden Silberstimme: „Burggraf von Reedale, schmerztes euch, eure Schwester wiederzusehen?" Der Jüngling erhob das Haupt und lächelte ihr dank­ bar zu ob der tröstenden Worte; — während er schüchtern, aber entzückt das Auge auf ihr ruhen ließ, sprach sie sanft und wie ängstlich: „Bernhard, an euch allein habe ich gedacht während der langen, trüben Trennung; aber habet ihr Aleidis auch nicht vergessen?" Dieses Bekenntniß entpreßte Vernhard's Brust einen wunderbaren Ton, seinen Augen einen Strom von Freudenthränen. „Vergessen? o Gott," rief er. „Euch vergessen, Alei­ dis? Sprechet nicht solche Worte, da mein Herz vor Selig­ keit fast vergeht im Wiedersehen meiner Schwester und Freundin." Und er schloß ihre Hände in die seinen und netzte sie mit Thränen der Liebe und Dankbarkeit. Hand in Hand und bebend vor Rührung nahten beide dem Grafen Hugo. Hier begann ein rührender Auftritt inniger geschwisterlicher Zuneigung. Aleidis saß sprachlos neben dem Bruder, die Arme um seinen Hals geschlungen und ihr glänzend blaues Auge fest auf ihn geheftet. Bernhard's Blicke streiften nur zuweilen flüchtig und scheu die schöne Aleidis; denn ihre zauberischen Reize erregten zu leb­ haft sein weiches Gemüth und entstammten ein Gefühl in seinem Herzen, das ihn wunderte und beschämte. Dies Ge­ fühl wurde noch erhöht, wenn Aleidis' Auge dem seinen begegnete und sanft und mild auf ihm ruhte. Unterdeß verschwand die Sonne, einer glühenden Kugel gleich, am

72 Horizont, und die Dämmerung umhüllte die Felder: da kam Abnlfaragus zu ihnen zurück.

Sobald Bernhard den alten Mann erblickte, lief er auf ihn zu und stürzte ihm mit wilder Freude um den

Hals. Dann sprach er: „O habet Dank, habet Dank, guter, edler Abulfara-

gus!

Ihr habet für mich gethan, was ein Vater nur für

seinen Sohn thut; ihr habet mir eine schöne und liebreiche

Verlängere der Himmel dafür eure Tage und verleihe er euch. . . ." Lächelnd klopfte Abulfaragus dem Jüngling auf die

Schwester bewahrt.

Schulter und versetzte in fröhlichem Scherze:

„Seht ihr Junker, was nun euch Freude schafft, das konnte ehedem das Unglück eines edeln Hauses und euch

eine Schande werden.

Abulfaragus hat euch nicht ohne

Absicht verfolgt und verbannt. Nun ist alle Gefahr vor­ über, mein überglücklicher Sohn, ich habe ench nicht nur

eine Schwester bewahrt . . . ." Er näherte seinen Mund den Ohren Bernhard's und fuhr gehcimnißvoll fort: „Denn der Küster von Deurne hat den Befehl em­

pfangen, die Kirche für eine schöne Hochzcitsfeier zu schmücken. Kennt ihr den Bräutigam?"

Mit diesen Worten verließ er den erstaunten Bern­ hard und ging zu Hugo.

Er benachrichtigte ihn von dem Zustande seines Bru­ ders und mahnte zum Aufbruch, sobald er sah, daß ein

tieferes Dunkel ihren Einzug in das Schloß begünstigte. Während dieser kurzen Wanderung beobachteten Alle ein

tiefes Schweigen: das bevorstehende Wiedersehen erhielt sie in Spannung und ernstem Nachdenken: Hugo bebte an

allen Gliedern, er athmete kurz und schwer, sein Herz schlug in schnellen, ungeregelten Schlägen. — Er sollte ja

73

nun vor seinem Bruder erscheinen, den er beinahe ermor­ det hatte. Endlich iiberschritten sie die Brücke und traten in den Schloßhof. Hugo konnte sich nicht länger aufrecht erhal­ ten und bat um eine Stütze: Bernhard faßte seinen rech­ ten Arm, Aleidis den linken, und so gingen sie langsam nach Arnold's Zimmer. Die Thür öffnete sich, und in ergreifenden Tönen klang es: „Bruder! Bruder! Verge­ bung! Vergebung!" Und die beiden Brüder sanken einander laut weinend in die Arme. Ein langer Kuß — einige unverständliche Worte folgten .... und die müden Körper brachen zusam­ men, und stürzten in schwerem Falle zu Boden. Weil beide sich fest umschlungen hielten, glaubten die Anwesenden, daß die übergroße Erschütterung ihnen eine augenblickliche Ohnmacht zugezogen habe. Abulfaragus war der Einzige, dessen Lippen ein gellender Schrei ent­ fuhr, der im ganzen Schlosse wiederhallte; schluchzend warf er sich über die Körper der Brüder. Wehe! dreizehnjährige Leiden konnten ihre Lebenskraft nicht brechen — ein einziger Augenblick der Freude that es — sie waren todt .... vereint schwebten ihre Seelen empor zu Gottes Nichterstuhl.

Wer zehn Jahre später einen Blick in die einsame Burg hätte werfen können, der würde die Gebäude des Laternenhofes nicht verändert gefunden haben. Wäre es ihm indessen vergönnt gewesen, Abends in den Laubgängen des Hofes zu wandeln, dann hätte bald ein kleines Eichenwäldchen seine Aufmerksamkeit gefesselt, in dessen Mitte ein Grabmal mit folgender Inschrift stand: 4

74 D. 0. M. WALTER VAN CRAENHOVE ENDE SINE GHESELNEDE MARIA ENDE HARE RINDEREN HUGO ENDE ARNOLD.

GODT SY HARE SIELEN GHENADICH. Fünf Personen würde er knieend vor dem Grabmale gefunden haben: einen Greis, der unter der Last von hun­ dert Jahren gleich einem Kinde erbebte; eilten Mann mit blondem Haar und blauen Augen; eine gar schöne Frau mit blondem Haar und blauen Augen und zwei Kinder, ein Knäbchen und ein Mägdlein, mit Haar und Auge von derselben Farbe, wie ihr Vater Bernhard und ihre Mut­ ter Aleidis.

Geschichte von Avutfaragus.

An einem Winterabende des Jahres 1374 befanden sich die meisten Bewohner des Laternenhofes im großen Saale

des Schlosses. Der achtzigjährige Abulfaragus saß in einem beque­ men Lehnstuhl am Feuer und blickte stumm in die tanzen­

den Flammen; auf einem Fußbänkchen saß neben ihm ein von etwa fünf Jahren, der das Köpfchen an die Kniee des Alten drückend, ruhig schlief. Ein wenig wei­

Knabe

ter sah man an einem schweren Eichcntische die schöne

Alcidis von Craenhove, ein Töchterchen auf dem Schooße, und in lebhaftem Gespräche mit dem Burggrafen Bernhard von Reedale, ihrem Manne. Außerhalb des Schlosses war es zweifelsohne ein gar schlimmes Wetter, denn die Fensterscheiben rasselten schauer­ lich tu ihren Blcifassnngen, und zuweilen fuhren so heftige

Windstöße dagegen, daß die bange Aleidis mehr denn ein­ mal ängstlich das Haupt umwandte. Noch ärger war das Heulen des Sturmes in dem Kamine, wo er die Flammen des Heerdfeuers mit unwiderstehlichem Hauche zurückblies, sein durchdringendes Pfeifen um die Thurmspitzen des Schlosses und das Kreischen des wildherumgcworfcnen Wetterhahns. Peinliche Gedanken hielten Bernhard's -und Abulfara­ gus' Herzen befangen, nicht etwa, weil beide irgend etwas

fürchteten, oder zu fürchten hatten, es war nur der natür­ liche Einfluß des Unwetters. Alcidis dagegen saß in un-

76 erklärbarer Angst da; die Donnerstimme des Sturmes und seine klagenden Töne trafen ihre schwächer« Nerven und

ließen sie zittern und beben in ihrem Lehnstuhl.

Die Blässe ihres Antlitzes erschreckte ihren Gemahl nicht wenig und er gab sich alle nur deutliche Mühe, durch freundliche Worte ihre Aufmerksamkeit von dem Unwetter abzulenken, doch gelang ihm das nicht. Er litt gewiß mit der bangen Frau; dies konnte man in jedem feiner Züge

lesen.

Plötzlich spielte ein Lächeln um seinen Mund, wie wenn ein glücklicher Gedanke in ihm aufgestiegen wäre und

er sprach, zu Abulfaragus gewendet: „Abulfaragus, mein alter Freund, ist es denn wohl­

gethan, daß man sich betrübe, so lange man nicht mit dem Unglücke unter einem Dache lebt?"

„Nein, Herr," antwortete der Greis ohne aufzublicken; „die Stunden des Schmerzes und des Unglückes sind ohne­

dies zu zahlreich, aber der Mensch ist ein Theil der Schö­ pfung und so wundere es auch nicht, wenn sein Geist sich

umnebelt, während der Himmel mit Sturmwolken bedeckt ist." Die hohle Stimme des Greises erschreckte Bernhard nicht wenig und verscheuchte den Gedanken, der ihn hatte

lächeln machen, aus seinem Gedächtniß. Er frug: „Sagt diese Stunde euch etwas Betrübendes, Abul­ faragus, da eure Worte so schmerzlich klingen?" Der Greis wandte das Auge Bernhard zu und sprach in noch schmerzlicherem Tone: „Das Unwetter, Herr, übt eine unbegreifliche Macht aus auf der Menschen Herz; es zwingt die Seele zur Ein­ kehr in sich und zur Selbstbeschauung, es frischt das Ge­ dächtniß auf, entrollt Bilder aus der fernsten Vergangenheit

vor ihm und weist uns hin auf die schrecklichsten Stunden

unsres Lebens.

Darum sage ich, es umdüstert den Geist."

77 „In der That," versetzte Bernhard, „so ist es. Auch

an mir gingen seit einer halben Stunde die schauerlichsten

Augenblicke meines Lebens wieder vorüber. Aleidis,

Ich gedachte,

meine Geliebte, wie unendlich ich litt, als das

Schicksal mich so plötzlich und so grausam von deiner Seite

riß; von neuem versenkte ich mich in den alten Schmerz." Wollte die Edelfrau Bernhard für seine Liebesworte

lohnen, oder hatte das Gespräch sie bereits taub gemacht für die beängstigende Gewalt des Wintersturmes, sie lä­ chelte und drückte recht innig Bernhard's Hand.

Dieser

frug den Greis:

„Ihr aber, Abulfaragus, woran denket ihr denn? Ihr scheint mir von so tiefem Schmerze überwältigt?" „Ich?" seufzte der Alte. „Ich denke an meinen Bater

und meine Mutter und meine Schwester." „An euren Vater und eure Mutter?" riesen Bernhard

und Aleidis zugleich und verwundert aus. „Habt ihr uns doch stets gesagt, daß ihr diese nie gekannt hättet." „Ich hielt cs nicht für rathsam, euch durch die Er­ zählung all der Mißgeschicke und des Unglückes, welches sie traf, zu betrüben, und auch nun bitte ich euch, fraget mich nichts weiter über sie; euer Herz würde zu sehr mit

Trauer und Mitleid.erfüllt werden." „Und wäre dies auch," versetzte Bernhard darauf, „können wir den Abend schöner verbringen? Lasset uns immer weinen mit euch über das trübe Loos eurer Eltern; Thränen des Mitleids sind süß und entlasten den Geist.

Nicht wahr Aleidis?" „Ja gewiß, Abulfaragus," sprach die Edelfrau. „Ihr habt unsere Neugier und unsere Theilnahme geweckt, und wie traurig eure Erzählung auch sein möge, ich bitte euch,

■ tfjeitt sie uns mit. Ich sehne mich unendlich, das Geschick der Eltern unseres Freundes und Führers zu kennen."

78 „Ihr Loos, edle Frau?" rief Abulfaragus mit beben­ der Stimme. „Das meines Vaters? Von Wölfen zerfleischt! Ist das schrecklich genug?" „O Gott!" seufzte Aleidis. „Welch schreckliche Geheim­ nisse habt ihr vor uns noch bewahrt." „Nicht wahr?" fuhr der Alte fort. „Solche Erinne­ rungen sind zu grausig, als daß man sie mittheilen könnte. Es ist besser, daß ich sie noch in meiner Brust verschlossen halte." „O nein," fiel Aleidis ein. „Erzählt uns eure Ge­ schichte. Ihr habt es uns schon so oft versprochen und nun haben wir just einen langen Abend zum Horchen. Das wird dem Unwetter wehren, uns ferner zu ängstigen." Bernhard verband seine Bitten mit denen seiner Gat­ tin und beide flehten so lange, bis Abulfaragns endlich einwilligte und also begann: „Mod) im Jahre 1308 wohnte zu Damaskus ein jü­ discher Arzt Namens Abel Farach, der durch die Araber in mancher Wissenschaft große Kenntnisse erlangt hatte und seiner Gelehrsamkeit halber in ganz Syrien berühmt war. Man kam zu ihm von Aleppo, Jerusalem und Bagdad; ja selbst die Bewohner von Scanderon und Bassora scheu­ ten gefahrvolle Reisen nicht, ihn zu Rathe zu ziehen. Die­ ser Abel Farach war mein Vater." „Ich erinnere mich noch, daß wir ein prächtiges Haus bewohnten, an welches ein breiter Garten stieß; darin spielte ich täglich mit meiner guten Mutter Abigail und meiner Schwester Rebekka; wir besaßen Sklaven und Diener in großer Zahl und jeder, Jude, Christ und Sarazene achtete und liebte uns." „Damals unternahmen die christlichen Edelleute, die man Ritter Sankt Johannis von Jerusalem nannte, einen Kreuzzug gegen die Sarazenen, und lagerten mit ihrer Flotte

79 vor der Insel Rhodus, nehmen.

um diese den Mahomedanern zu

Ein allgemeiner Schrecken verbreitete sich über

die sarazenischen Länder, denn allgemein fürchtete man einen Einfall der Christen in Syrien und Palästina. Wie es

kam, weiß ich nicht, plötzlich aber verbreitete sich das Ge­ geheimen Be­ ziehungen mit dem europäischen Heere, und seien bereit den rücht, die Christen und Juden ständen in

Rittern von Sankt Johannis die Städte Syrien's verrä­ terischer Weise in die Hände zu liefern. Alle Einwohner Jerusalem's, die nicht an Mahomed glaubten, wurden er­ mordet; in noch größer» Strömen rann Christen- und Ju-

dcnblut in Aleppo, und schon forderte man einander in den Straßen von Damaskus auf, diesem Beispiele zu folgen."

„Am Abende dieses Tages saß ich mit meiner Mut­ ter und Schwester auf dem platten Dache unsers Hauses; ich war eben zehn, meine Schwester sieben Jahre alt, und

wir hatten noch wenig Acht auf die stille Betrübniß un­ serer Mutter, um so weniger, da wir die Ursache derselben

nicht kannten.

Wir athmeten spielend die Balsamdüfte,

welche der Wind uns von der Seite der Wüste zuwehte,

und zeigten einander die schönsten Sterne des Himmels, am Hause in dem Hofe einen

als wir plötzlich unten

Mann bemerkten, der ein Pferd und ein Kameel heimlich mit sich fortzog und die Thiere zu verbergen trachtete. Als­

dann wurde die Hausthür wie mit Gewalt geöffnet und wieder geschlossen. Ein kaum hörbarer Schrei entflog der Brust unserer Mutter, und dadurch auf sie aufmerksam

gemacht, sahen wir jetzt erst, wie sehr sie zitterte." „Mit ängstlicher Hast faßte sie uns an der Hand und

zog uns schweigend mit sich fort in den untern Saal, in den eben auch mein Vater eintrat. Sein Angesicht war bleich

und

seine Augen standen starr in ihren Höhlen.

Ohne meiner Mutter Zeit zum Sprechen zu lassen, schloß

80 er vorsichtig die Thür und sprach dann mit bebender

Stimme:"

„„Abigail, wenn wir hier bleiben, bis die Sonne wie­ derkehrt, dann bescheinen ihre ersten Strahlen unsere Lei­ chen. Wir müssen in größter Eile von hier weg. Togrul

Almahadi sagte mir, daß der Mord der Christen und Ju­ den morgen beginnen werde und daß wir, als die Reich­ sten, bestimmt seien, zuerst als Opfer zu fallen. Frag nun

nichts weiter,

nimm diese Kleider z unserer Sklaven und

ziehe sie an, damit man dich als eine Türkin ansehe, auch die Kinder kleide um. Ich gehe, Gold und Perlen einzu­

packen,

ein Pferd und ein Kamcel stehen im Hofe bereit. sie würden uns ver­

Eile und sage den Sklaven nichts;

rathen."" „Gegen Mitternacht zogen wir ab.

saß auf dem Kameel und wir,

Unsere Mutter jedes in einer Art von

Korb, zu"ihren Seiten; mein Vater ritt wohlbewaffnet zu Pferde voraus, um uns den Weg zu zeigen. Gewiß war die Angst unserer Eltern groß, denn häufig stießen wir

auf sarazenische Kriegerhaufen, doch wichen wir ihnen stets glücklich aus, oder mein Vater wußte mit arglosen Reden

allen Verdacht fern von uns zu halten und sie zu über­ reden, daß wir nach Aleppo reisende Türken seien. Nachdem wir während einiger Nächte — an« Tage hielten wir uns verborgen — unsere Reise fortgesetzt hatten, kamen wir nach Skanderon und von dort nach Simta, unweit Rhodus. Hier glückte es meinem Vater, in der Nacht heimlich auf

die christlichen Schiffe 'zu kommen; da bot er seine Dienste an, und bewies bald seine Umsicht und Kunde als Arzt so

glänzend, daß die Ritter Sankt Johannis mit Freuden in alle Bedingungen willigten, welche er ihnen stellte.

In

der folgenden Nacht kreuzte eine kleine Galeere an der Küste,

wo wir sie feit einer halben Stunde in einem Bote er-

81 warteten. Unter dem Schutze der Dunkelheit erreichten wir das Schiff und befanden uns bald in einer bequemen Kammer." „Die Belagerung von Rhodus dauerte länger als ein Jahr. Täglich fast gab es blutige Gefechte und eine große Zahl von Rittern wurde verwundet. Mein Vater rettete ihrer so viele vom Tode, daß die Christen sich ihm stets dankbar verpflichtet fühlten, und ihn als einen Wohlthäter verehrten. Unser Loos war ganz erträglich, denn unsere Galeere, zum Aufenthalte der Kranken eingerichtet, kam nie in die Schlacht, und mit der See und ihrem Ungestüm waren wir bald vertraut." „Auf der Flotte befand sich ein brabantischer Ritter, ein gar wißbegieriger Mann, der bald mit meinem Vater innige Freundschaft schloß. Ihre gegenseitige Zuneigung wuchs von Tage zu Tage und wurde endlich so innig, daß sie einander fast nie verließen, und zuweilen ganze Nächte hindurch beit Lauf der Sterne zusammen beobachteten. Auch auf uns erstreckte sich die Liebe des Ritters; er spielte nicht selten ganze Tage lang mit Rebekka und mir auf dem Ver­ deck des Schiffes; er wurde wieder Kind, um unsern Aufent­ halt auf dem Meere so angenehm, wie möglich, zu machen." „Meine Mutter liebte uns auf's Zärtlichste; ihr Herz glühte in Dankbarkeit für den edelmüthigen Christen-Rit­ ter, der sich so freundlich gegen uns arme jüdische Flücht­ linge bewies. Seit unsern frühesten Tagen hatte man uns die Christen als grausam und hassenswürdig geschildert, uns tausendmal wiederholt, wie sie die Juden verfolgten und daß sic deren ewige Blutfeinde wären. Das Benehmen des brabantischen Ritters aber erweckte unsere Dankbarkeit in dem Maße, daß wir jeden Abend, wo wir allein mit dem Vater waren, nnr und mit immer neuer Bewunderung von unserm Wohlthäter und Beschützer sprachen. Immer *

82 mehr und mehr erregte die christliche Religion unser Stau­ nen: wir sprachen untereinander von der Tapferkeit, von

dem Edelmuthe, welche der Glaube an Christus all die­ sen Rittern einflößte, von der Erhabenheit der christlichen

Liebe, welche ja einzig und allein unsern Schirmherrn an­ uns, die wir ohne alleil Schutz und ganz ver­ stoßen waren, das Leben in ein Paradies der Freundschaft

spornte,

und Bruderliebe zu verwandeln. Sicherlich unterhielt sich mein Vater oft über die Religion mit seinem christlichen

Frelinde, dem: wenn er zuweilen voll ihm zu lins zurück­ kehrte, dann war er voll Gedanken und sagte, es sei docki

so ganz unmöglich nicht, daß der Gekreuzigte der verhei­

ßene Messias gewesen sei. Bald gab er sich selbst Mühe,

uns zu überzeugen, daß kein anderer Messias kommen werde, da der Gottmcnsch der Christen cs gewesen. In Bezug

auf uns waren des Vaters Bemühungen überflüssig; seit lange waren wir im Herzen Christen; seit drei Monaten

besaßen wir ein kleines Christusbild und beteten heimlich

vor demselben, daß der Gekreuzigte das Leben seines Die­

ners, unsers brabantischen Ritters, erhalten möge." „Eines Morgens kam, während wir noch am Früh­ stück saßen, mein Vater in unser Gemach und setzte sich, ohne ein Wort zu sprechen, in einen Lehnstuhl. Aus sei­

nen Zügen leuchtete ein eigener Ausdruck von Glück und Freude; seine Augen glänzten, nm seine Lippen spielte ein Lächeln, sein ganzes Angesicht war wie erleuchtet von einer geheimen Muth, es war, als ob ein Sonnenstrahl durch das Verdeck bohrend auf seiner Stirn gespielt hätte."

„Nachdem er einen Augenblick schweigend dagesessen,

erhob er sich und sprach in feierlichem Tone zu uns:" „„Abigail, du treue Gefährtin meines Schicksals, und ihr, meine Kinder, höret aufmerksam auf das, was ich euch sagen werde;

was ich euch aber auch sagen möge,

83 glaubet nicht, daß ich euch verpflichten will, meinem Bei­ spiele zu folgen.

Komm her, Joatham, mein Sohn, itrtb

auch du Rebekka,

daß ich euch noch einmal küsse, bevor

ich weiter rede.""

„Wie sehr anch der frohe Ausdruck, der auf meines Vaters Zügen schwebte, uns hätte beruhigen müssen, so empfanden wir doch eine gewisse Angst. Fast bebend em­

pfingen wir den glühenden Kuß, und meine Mutter weinte bei der Umarmung. Wir konnten uns nicht erklären, was wir zu fürchten oder zu hoffen hatten."

„Plötzlich rief mein Vater mit ungemeiner Begeiste­ rung aus:" ,,„O meine Kinder! Es ist nur ein Messias und der

Messias ist Jesus und ich bin sein Diener! Seine Stimme hat zu meinem Herzen gesprochen,

seine Gnade mich mit

Licht und Freude erfüllt!""

„Mit den Worten zog er ein silbernes Kreuzbildchen unter seinen Kleidern hervor, hing es an der Wand auf und sprach:" „„Er ist mein Heiland und mein Gott!""

„Mein Vater glaubte gewiß,

wir würden jammern

und klagen wegen dieser Glaubensveränderung; nur die Furcht davor hatte ihn bestimmt, seine Erklärung so vor­

sichtig einzuleiten, doch zu seiner großen Freude hatte er sich darin betrogen. Meiner Mutter Augen leuchteten plötz­

lich in demselben Feuer; wie es der Christin geziemt, warf

sie sich vor dem Gekreuzigten nieder; meine Schwester und ich knieten neben ihr. Sie hob ihre Hände auf zum Himmel und betete also zu dem Menschgewordenen:"

„„Jesus, Sohn David's, du bist es wahrlich, von dem Darum wird der Herr euch ein Zeichen geben; sehet, eine Jungfrau wird empfangen und wird einen Sohn gebären und ihn nennen Emmanuel! — Dein Jesaias sprach:

84 Name, o Messias, sei verherrlicht durch Alles, was nur Leben hat! Du bist Gottes Sohn und der Welt Heiland,

meines Gatten Gott und der meine!"" „lind wir antworteten freudig: „„Amen, Amen!"" „Thränen der Rührung und Freude entquollen mei­ nes Vaters Augen; er knieete hinter uns nieder, umschloß uns mit seinen Armen und betete leise während einiger

Augenblicke, wie wenn er zu dem Heiland gefleht hätte, das Opfer unserer gemeinschaftlichen Andacht gnädig auf­ Dann hob er uns Alle von dem Boden auf,

zunehmen.

umarmte uns zu wiederholten Malen und rief fortwährend mit Entzücken aus:" „,,O, wir werden Christen!"" „Dieser Tag war der schönste unseres Lebens; wir

fühlten eine nie geahnte innige Seelenfreude und zerflos­

sen in Thränen,

die uns ein Vorgefühl gaben von der Seligkeit des Himmels. Gegen Mittag kam der braban-

tische Ritter in unser Zimmer und theilte unsere Freude; ja er war noch viel glücklicher als wir, denn er sah in unse­ rer Bekehrung die größte Wohlthat, welche seine Freund­

schaft uns hätte schenken können." „Es bedurfte nicht langer Zeit, uns mit den Geheim­ nissen unseres neuen Glaubens bekannt zu machen; unsere Herzen nahmen den Samen der Lehre Jesu so freudig auf,

daß wir bald vorbereitet genug waren, um die heilige Taufe zu empfangen. Der brabantische Ritter sollte mein Pathe sein; andere vornehme Herren sollten meiner Mut­ ter, meinem Vater und meiner Schwester als Pathen zur

Seite stehen."

„Am festgesetzten Tage kam ein Bischof mit einem gro­ ßen Gefolge von Rittern auf unser Schiff, und wir empfin­

gen nach vielen Ceremonien die heilige Taufe. Alle Herreu, welche der Feierlichkeit beiwohnten, wiinschten uns Glück,

85 Vor allen aber erfüllte den brabantischen Ritter die höchste

Freude; er küßte mich wohl hundertmal und nannte mich seinen Sohn Walter; das war nämlich der neue Name,

den ich als Christ empfangen hatte; mein Vater hieß Joseph, meine Mutter Susanne und meine Schwester Ma­ ria; Abel Farach wurde Abulfaragus."

„Während man uns noch von allen Seiten beglück­ wünschte, und die Ritter mit freudigem Jubel unsere Be­ kehrung feierten, sahen wir plötzlich an den Küsten von Rhodos eilte große Anzahl

türkischer Galeeren in See auf uns zu­

stechen und unter wüthendem Kriegsgeschrei

steuern." „Schnell lief der Ruf: „„Zu den Waffen!"" über die ganze christliche Flotte hin, jeder Ritter eilte seinem Schiffe zu,

alles bereitete sich

zur Schlacht,

und unsere Schiffe

flogen den Feinden entgegen. Ich sah nichts von dem Ge­ fechte, denn man hieß uns in das Innere des Schiffes gehen und da unsere Galeere nicht dazu diente, in den Kampf mitzuziehen, so hörten wir selbst nichts von dem

Anfalle." „Nachdem das Gefecht etwa eine Stunde gedauert hatte, kam man zu uns mit der Nachricht, daß die Christen

Sieger geblieben seien und vier türkische Galeeren verbrannt hätten; die übrigen waren wieder der Küste zugeflüchtet. Wir freuten uns herzlich der guten Nachricht und dank­ ten Gott in innigen Gebeten. Da hörten wir plötzlich

schwere Schritte auf dem Verdeck, in ängstlicher Ahnung stürzten wir die Treppe hinauf, und sahen wie man einen verwundeten Ritter auf unser Schiff trug."

„Die strömenden Thränen meines Vaters sagten uns sogleich, wer es war,

den man so blutbedeckt und leblos

daherbrachte. Ein lauter Schrei entrang sich unserer Brust, meine Schwester sank weinend in die Arme meiner Mutter.

86 Ich aber sprang vor und warf mich

auf die Kniee nie­

der neben dem bleichen Gesichte des brabantischen Ritters; ich rief ihn bei seinem Namen, ich küßte seine blauen Lip­

pen und netzte seine blasse Stirn mit meinen Thränen. Ach! mein Pathe, unser edler Wohlthäter hatte eine tödtliche Wunde in der Schlacht erhalten: ein Pfeil hatte ihm quer

den Hals durchbohrt." „Der Verwundete wurde in meiner Mutter Bett ge­ legt, dann bat mein Vater alle Anwesenden, sich zu ent­ fernen und ihn mit dem Ritter allein zu lassen.

Sobald

dies geschehen, sprach er zu uns: „„Lasset uns aufhören zu weinen, denn damit können

wir ihn nicht retten.

Ihr Frauen, kniet nieder und betet;

du, Walter, hole schnell Wasser!"" „Meine Mutter und meine Schwester warfen sich auf ihre Kniee nieder vor dem Kreuze; ich flog die Treppe hin­

auf und kam bald mit einem vollen Wasserkrnge zurück." „Ohne ein Wort zu sprechen, begann mein Vater die

Wunden zu waschen, und zu untersuchen, ob etwa ein gro­ ßes Blutgefäß in des Verwundeten Halse zerrissen sei; seine Stirn glühte fieberhaft bei dieser Untersuchung; ich sah, wie er verzweifelnd in seine Haare griff, wie er entmuthigt endlich auf den Rand des Bettes niedersank. Von neuem brach ich jetzt in Thränen aus, denn nun konnte ich nicht mehr an dem Tode unseres Wohlthäters zweifeln." „Rach einigen Augenblicken erhob mein Vater das Haupt und begann eine neue Untersuchung. Bald nachher überflog ein Ausdruck von Hoffnung seine Züge, und er sprach mit ruhigerer Stimme zu meiner Mutter und mei­ ner Schwester:"

,,„O betet! betet innig, denn mit Gottes Hülfe könnte er genesen!"" „ Ein Freudenschrei war ihre Antwort und tiefer senk-

87 ten sie das Haupt in heißere Gebete.

mittag

Den ganzen Nach­

half ich meinem Vater bei der Zubereitung von

Salben und Tränken; während der Nacht wachten wir bei

dem noch stets regungslosen Körper, ängstlich auf jede Be­

wegung achtend, die etwa einen Nest von Leben verrathen

hätte." „Der dritte Tag endlich war ein Tag des Glückes und der Freude für uns; ein leiser Laut war in der Kehle

des Verwundeten hörbar geworden, und mein Vater hatte gesagt: „„Er wird leben."" „Von dem Augenblicke an besserte sich der Zustand des Kranken zusehends; am zwölften Tage konnte er schon

seine Augen auf uns gerichtet halten und uns für unsere Sorgfalt mit freundlichen Blicken lohnen. Während vier­ zig Nächten wachten meine Schwester und meine Mutter abwechselnd bei dem Bette. Seine Wunde hatte sich un­ terdessen geschlossen, und nach einem Monate von Schwäche

erhielt er endlich

wieder.

seine ehemalige Gesundheit und Kraft

Jetzt kannte seine Liebe zu uns keine Grenzen mehr;

mein Vater war.ihm ein Bruder geworden und mich nannte

er nie anders, als seinen Sohn Walter." „Im Jahre 1310 am sechszehnten Mai eroberten die

Christen endlich die Insel Nhodus und vertrieben die Tür­ ken von derselben. Dann zogen viele der Ritter nach ih­ rem Vaterlande zurück, und wir beschlossen, die Flotte gleich­

falls zu verlassen, und irgendwo in Europa einen festen Wohnsitz zu suchen.

Unser Freund bot uns an, ihn nach

Brabant zu begleiten.

Wir besaßen

wenig in der Welt

und bedurften eines Beschützers; dazu wäre cs uns kaum möglich gewesen, von unserm Wohlthäter zu scheiden.

So

nahmen wir denn seinen Vorschlag dankbar an, und mach­ ten uns auf den Weg im Geleite unseres Freundes Wal­

ter von Craenhovc . . . ."

88 „Sott, mein Vater!"

rief Aleidis erschrocken.

„O

warum habt ihr den Namen so lange verschwiegen, Abulfaragus?" „Edle Frau," versetzte der Srcis halb lächelnd: „Ja, cs war euer Vater, mein Pathe, der Busenfreund meiner

Eltern. Ihr könnt es nicht glauben, wie sehr ich ihn liebte, diesen Tapfersten aller Christen-Ritter! O das Blut, welches

durch eure Adern rollt, ist das edelste, welches die Sonne in den drei Wclttheilen je beschienen hat.

Nannte ich euch

nicht früher seinen theuren Namen, dann that ich dies nur darum nicht, damit ich cnch nicht betrübte dnrch die Be­ schreibung seiner tödtlichen Krankheit; ich wollte euch nicht

an den Schmerzen Theil nehmen lassen, die unsere Brust an seinem Todesbette erfüllten."

Aleidis schwieg.

Ihr glänzendes Ange und ihr eben

erschlossener Mund sagten aber genug, welch ungewöhnliche

Neugier ihr Herz höher schlagen ließ. Abulfaragus be­ merkte cs und fuhr alsbald in seiner Erzählung fort: „Wir kamen nach einer langen Reise in der Stadt Lüttich an der Maas an.

Da fand mein Vater so viele

seiner ehemaligen Slanbensgcnossen, welche unsere Mutter­

sprache redeten,

daß er den Beschluß faßte,

als Arzt niedcrzulasscn.

nöthigte

uns,

sich daselbst

Der gute Graf von Cracuhove

eine ansehnliche Summe Geldes von ihm

anzunehmen. Wir kauften ein Hans in der Straße, in der die jüdischen Wechsler tvohnten, und blieben da wohnen. Walter von Cracnhove zog, begleitet von unsern Dank­ sagungen, weiter nach seinem Schlosse, dem Laternenhofe." „In Lüttich wohnten wir während einiger Jahre recht friedlich; mein Vater unterwies inich indeß in den Wissen­ schaften der Araber, vorzüglich in der Heilkunst und der Astrologie oder Stcrndeutekunst. Er erlangte bald in dem Lütticher Gebiete dieselbe Berühmtheit, deren er einst in

89 Syrien genossen hatte; täglich fast genasen Edle und Geist­ liche durch seine Hülfe, und dabei sammelte er bedeutende Schätze durch die'Vorhersagung künftiger Ereignisse. Man nannte ihn nur den reichen Astrologen Abulfaragus. Zwei­ felsohne erweckte sein Wohlstand Mißgunst und Neid in manchem Herzen, denn mehr als einmal hörten wir, daß man sich heimlich bestrebte, ihn als einen Zauberer zu ver­ dächtigen. Vor Allen: verläumdetcn und lästerten die Ju­ den ihn, weil sie sich über seine Bekehrung ärgerten, doch wir hatten zu viele mächtige Freunde,' und zu mancher kranke Ritter und Prälat bedurfte beständig die Hülfe mei­ nes Vaters, als daß wir nicht sicher vor aller Gefahr ge­ wesen wären." „Um die Zeit wurden in allen christlichen Reichen Briese des Papstes verlesen, welche Ritter und Bürger zum Kampfe gegen die Türken aufriefen; auf allen öffentlichen Plätzen, auf Märkten und Straßen predigten die Boten des Papstes einen allgemeinen Kreuzzug. In ihrer Be­ geisterung schilderten sie in rührenden Bildern und mit Thränen in den Augen, wie das Blut der Christen in Pa­ lästina in Strömen fließe, wie die Sarazenen das Grab Jesu täglich auf's Neue entheiligten durch schändliche Lä­ sterungen. Nicht selten auch sprachen sie von dem Leiden des Heilandes, und erzählten wie er durch das böse und verdammenswerthe Geschlecht, so nannten sie die Juden, gemartert und gekreuzigt worden wäre. Es kann auch nur natürlich scheinen, daß unsere' alten Glaubensgenossen beim Anhören dieser Predigten öffentlich murrten. Langsam ent­ wickelte sich von da ab ein tiefer Haß zwischen dem Volke von Lüttich und den zahlreichen Juden, die dort wohnten, und diese Abneigung wurde mit der Zeit iminer größer und allmählich schreckenerregend. Mehr denn einmal be­ hauptete man, daß die Juden sich heimlich allerlei Misse-

90 thaten schuldig machten und, wurde irgend ein Mord be­

gangen, so wälzte das Volk die Schuld gewiß auf die Juden.

Wie ungerecht es auch immer sein mochte,

also die Un­

schuldigen mit den Schuldigen zu verfolgen, so muß ich doch

bekennen, daß manche Juden, durch Schwärmerei verführt, Verbrechen begingen, welche den öffentlichen und allgemei­ nen Haß vollständig rechtfertigten." „In dieser Lage der Dinge und noch während der Kreuz­ predigten erschien plötzlich eine gefährliche Krankheit in Eu­

ropa; Lüttich war keine der Städte, in welchen sie die wenig­ sten Opfer hinrafftc. Diese Krankheit glich sehr dem morgen­

ländischen Aussatze, oder der Lazarusseuche, doch war sie in ihrer Art und Heftigkeit von ihr verschieden.

Man Wer von ihr ergriffen wurde, fühlte plötzlich das Herz ungestümer schlagen, kalter Schweiß nannte sie die Leprosheit.

brach ihm auf allen Theilen des Körpers aus; dann be­ kamen Gesicht und Hände eine trübe und gelbe Farbe, und zwei Stunden später waren sie wie besäet mit großen,

blauen Flecken. Diese verwandelten sich am folgenden Tage in harte Geschwülste, die bald zu ebensoviel offenen und

unheilbaren Eiterbeulen wurden." „Die meisten, welche von dieser schrecklichen Plage er­ griffen wurden, starben binnen wenigen Tagen; andere hielten sich länger aufrecht, und lebten noch ganze Monate lang zum größten Schrecken ihrer Stadtgenossen.

Das

Fürchterlichste bei der Krankheit war ihre Ansteckung; wer

die Hand eines von ihr befallenen Freundes drückte,

der

empfing mit diesem Drucke den Tod von ihm; wer in eine

angcstcckte Wohnung ging, wer Kleider oder Wäsche von Leprosen berührte, der war ain folgenden Tage mit blauen Geschwülsten bedeckt; ja das Geld selbst verbreitete die

Seuche." „Ein unbeschreiblicher Schrecken ergriff Aller Herzen

91 beim Einbrüche dieser tödtlichen Pest; alle Thüren und Fenster schlossen sich, keine lebende Seele war auf den Stra­

ßen zu sehen. Lüttich glich in den ersten Tagen einer Stadt,

in der weder Mensch noch Thier wohnte.

Mein Vater

war fast den ganzen Tag außer dem Hause: bestrichen mit ihm bekannten Krälltern, trug er Hülfe und Trost in die Häuser der Christen, wie der Juden, und es glückte ihm, auf tausend Kranke etwa zehn zu retten. Was er uns er­ zählte, wenn er tief in der Nacht zurückkehrte, um ein wenig

zu ruhen, war schrecklich: — er sah Kinder ihren kranken Vater mit langen Stöcken die Treppe hinunterstoßen und

auf die Straße treiben; er sah Mütter ihren angestecktcn Kindern mit List von weitem eine Schlinge um den Hals

werfen, und sie aus dem Hause schleppen; er sah Brüder

mit drohend erhobenem Beile ihre Schwestern fern von sich halten. O man kann es kaum glauben; alle Bande des Blutes und der Familie waren zerrissen, jeder haßte

den Andern und mißtraute ihm; Alle flüchteten in Höhlen und Keller, bereit, jeden zu tobten, der ihnen nahe, wäre es Vater, Gatte oder Kind. Und betrat ein Angesteckter die Straße, um sich Lebensmittel zu suchen, oder hinaus­

den Seinen, dann konnte er kaum einen Schritt thun, ohne daß ein eiserner Pfeil, aus einem nahen Fenster gesandt, ihm den kranken Leib durchbohrte." gestoßen von

„Nach sechs bis sieben Tagen dieses schrecklichen Grab­ lebens trat plötzlich Frost ein, und alle Anzeichen verkün­ deten einen sehr strengen Winker. Diese Veränderung des Wetters änderte auch die Seuche; man bemerkte nur wenig neue Ansteckungen, und selbst daß die Leprosen nicht mehr

starben und ihre Eiterbeulen nicht weiter um sich griffen."

„Die Nathsherren und das bischöfliche Kapitel ver­ sammelten sich wieder, und hier und da arbeitete man wie­ der, und so gewann die Stadt während des Frostes wieder

92 einen Schein von Leben.

Alsbald wurden nun zwar harte,

doch nothwendige Gesetze in Bezug auf die Leprosen ver­

kündigt, und andere Maßregeln gegen die Ansteckung ge­

Jeder, der von der Seuche befallen war, mußte überall eine weiße Ruthe in der Hand tragen; wer einen

nommen.

Leprosen, der diese Ruthe nicht trug, todtschlug, der bekam

eilte festgesetzte Belohnung von dem Mombour oder Bür­ germeister. Es war ferner jedem verboten, einem Leprosen auf zehn Schritte zu nahen; wer dies Verbot brach, den

durfte man todtschlagen.

Ein Angcsteckter durfte bei To­

desstrafe weder in Kirchen noch Häuser gehen, und wenn ein solcher etwas auf die Straße warf, sei es Schmutz oder Tücher,

oder einem Hunde, oder einer Katze einen

Bissen Brodes gab, dann wurde er zur Stunde getödtet. Kurz, die armen Leprosen durften sich nicht sehen lassen,

ohne daß das Schwert der dazu angestellten Todtschläger

ihrem Jammcrleben ein bitteres Ende machte." „Da der größte Theil der Angesteckten ans Armen und Nothleidenden bestand, so starben ihrer in der ersten

Zeit eine sehr große Zahl vor Hunger und Kälte; andere brachen, durch den Mangel an Lebensmitteln gezwungen,

Nachts mit Gewalt in die Häuser der Bäcker und Korn­ händler, und machten dadurch den Handel mit den Vor-

räthen gefährlich." „Theils aus Mitleid, theils auch, um der größern Verbreitung der Seuche hemmend entgegen zu treten, be­ fahl der Bischof, außerhalb der Stadt einige Häuser zu kaufen, und sie als Lazarcthe und Pesthäuser einzurichten. Die Bürger, welche hierin ein Mittel sahen, sich von der schanererregenden Gegenwart der Leprosen zn befreien, brachten gerne Geldopser, und binnen kurzer Zeit waren in

der Nähe der Stadt eine gewisse Anzahl von Häusern be­ reit, dse Kranken aufzunehmen. Man hatte au diesen Woh-

93 ttuugen nichts verändert, nur die Fenster zugemanert, hin­ ter dem Hause einen

großen viereckigen Platz mit einer

hohen Mauer umzingelt, die Thüren stärker gemacht und in

den Vordergiebel auf Manneshöhe ein großes Loch gebro­ chen, welches mit schweren EisenstaNgen, gleich einem Ker­ ker, verwahrt war."

„Alle Leprosen, welche man nach dem ersten Befehle

des Bischofs, sich in jene Häuser zu begeben, noch auf der Straße fand, und die nicht augenblicklich den Todtschägern nach einem der Lazarcthe folgten, wurden getödtct. In we­ niger als acht Tagen wurden alle Pesthänser vollgepfropft

mit Unglücklichen, welche durch den Hunger getrieben, ge­ nöthigt gewesen waren, sich lassen.

auf den Straßen sehen zn

Die reichen Leprosen fanden noch für große Sum­

men Geldes Leute, welche ihnen Essen holten und es ihnen

von Weiten! zuwarfcn." „Schrecklich, herzzerreißend war das Loos der armen eingesperrten Leprosen; hatte die Thür des Pesthauses sich einmal zum Empfange geöffnet, dann erschloß sie sich

nur, um einen neuen Bewohner und Leidensgenossen zu empfangen. Das Essen wurde ihnen an der Spitze einer langen Stange vor das Eisengitter gereicht; man sah, wie

die Unglücklichen sich halb nackt und mit knöchernen Händen über die spärliche Nahrung warfen, wie sie jammerten, wie sie weinten, daß es ein steinern Herz hätte erbarmen

O solch ein Pesthaus war ein gräßliches Grab, von Lebenden bewohnt! Wie viel mußten die zu ihm Ver-

mögen.

urtheilten jedesmal leiden, wenn einer ihrer Leidensgenossen den Geist aufgab, und sie mit eigenen Händen ihm in dem viereckigen Hofe sein Grab graben mußten!"

Abulfaragus bemerkte, daß seine Erzählung auf Alcidis'

94 Gemüth einen ihr vielleicht schädlichen Eindruck machte.

Darum frug er: „Wäre es nicht besser, edle Frau, daß wir die Fort­ setzung meiner Geschichte auf morgen verschöben? Ihr weinet so bitter, und doch habt ihr den schrecklichsten Theil meiner Erzählung noch nicht gehört. Der Abend und das Dunkel machen aber die Nerven empfindlicher; beim hei­

tern Sonnenlichte hört man schauerliche Dinge, ohne sich

allzusehr darüber zu entsetzen." „Ich hätte den schrecklichsten Theil eurer Geschichte noch nicht gehört?" seufzte die Edelfrau. „Was kann cs denn Schrecklicheres geben, als das Leiden dieser unglück­ lichen Leprosen?" „Das Loos meines Vaters!" rief Abulfaragus, wäh­ rend seinen trockenen Augen eine Thränenfluth entstürzte.

„O dürfte ich dies verschweigen!" Alle saßen eine Weile still in peinliche Gedanken ver­ sunken da; endlich sprach Bernhard:

„Ja erzählt uns morgen bei Tage den Rest eurer bit­ tern Leidensgeschichte. Ihr seid zu sehr ergriffen, und auch wir würden nicht schlafen können, hörten wir eine so schreck­

liche Erzählung." Bald nachher verließen sie den Saal und begaben sich in ihre Schlafgemächer.

II. Festlich

und glänzend stieg am folgenden Tage die

Sonne am reinblauen Himmel empor.

Sehr frühe fan­

den sich Bernhard und Aleidis in dem Saale ein; sie hoff­ ten von Abulfaragus die Fortsetzung seiner Geschichte zu

hören; doch schon nahte der Mittag und immer wollte ihr alter Freund noch nicht erscheinen.

Endlich trat ein Diener

95 ein und meldete ihnen, daß

der Greis

sich sehr unwohl

fühle. Unruhig darüber begaben sich beide Gatten in das

Gemach des Alten und fanden ihn zu Bette liegend. Sie sahen, oder meinten zu sehen, daß er nur an einem leicht vorübergehenden Unwohlsein leide, und sprachen ihm mit

liebevollen Worten Muth ein. „Abulfaragus," sagte Aleidis endlich: „ich muß mir

die Schuld davon zuschieben, daß ihr also leidet.

Meine

unbesonnene Neugier ließ mich euch um eine Erzählung bitten, welche all jene schmerzlichen Erinnerungen in eurem

Geiste weckte und eure Nerven zu sehr angriff." „In der That, edle Frau," antwortete Abulfaragus,

„diese Erzählung hat mich angegriffen, nicht sowohl durch

das, was ich euch schon mittheilte, sondern vielmehr durch das, was mir noch mitzuthcilen übrig bleibt. Als ich euch meine Geschichte versprach, baute ich zu sehr auf meine Kräfte; ich werde sie nie erzählen können. O, ihr wißt

nicht, welch fürchterliche Ereignisse sie umschließt." „So sollen wir denn eure Lebensgeschichte nicht ken­

nen? — Meine Neugier ist nicht befriedigt, Abulfaragus. Der Name meines Vaters ist in eure Schicksale verfloch­ ten, und darum betrachte ich mein Verlangen, sie zu ken­ nen, als verzeihlich.

Ich will nicht, daß ihr unverzüglich

in eurer Erzählung fortfahret';

daß dies nicht geschehen

kann, sehe ich sehr wohl ein, doch werdet ihr uns zu einer

andern Zeit wohl mit eurem ganzen Lebenslaufe bekannt

machen?" „Mein Mund, edle Frau, wird euch nie das gräßliche Loos meiner Eltern melden, ich fühle, daß ich bei der Er­ zählung unterliegen würde

"

Mit diesen Worten fuhr er mit der Hand unter das

96 Kopfkissen, und holte ein geschrieben Buch hervor.

Dies

gab er Alcidis und sprach: „Sehet hier, edle Fran, die ganze Geschichte meines Lebens bis zum Tode eures Vaters, meines Pathen und

Wohlthäters.

Euer Gemahl kann euch dieselbe vorlesen

und ihr werdet dann mehr wissen, als ich euch erzählen könnte. Was in dem ersten Kapitel steht, theilte ich euch gestern mit. Ich hoffe nicht, daß allzugroße Theilnahme euer Auge zu sehr nässe; dagegen hoffe ich mit Zuversicht, daß ihr das Buch niederlcgen werdet, sobald ihr eure

Brust zu sehr ergriffen fühlt.

Macht euch unterdessen keine

Sorge um meine Gesundheit, ich bin nicht krank und be­ darf nur einiger Ruhe, um mich wieder ganz zu erholen." Bernhard und Aleidis gingen mit der Handschrift in den Saal, und der Burggraf begann dort also zu lesen: „Während des harten Frostes hielt die Wuth der

argen Seuche ein; kaum bemerkte man noch einen Fort­ schritt derselben, und schon fing man an, es mit der Hand­ habung der strengen Maßregeln nicht so genau mehr zu

nehmen; kaum aber hatte es eine Nacht gethaut, als die

Plage wieder sich verbreitete, gleich einem alles verschlin­ genden Feuer. Vinncu wenigen Tagen zählte man mehrere

Hundert neue Ansteckungen; man floh einander aufs Neue,

noch mehr Todtschläger wurden angcstellt, und wer sich auf den ersten Wink dieser gesetzlichen Mörder nicht in das Pesthaus begab, dem schlugen sie den Kopf mit einem Beile

ein,

oder sie durchstachen ihn mit ihren langen Lanzen.

Die Bürger selbst hatten das Amt von Todtschlägern frei­ willig übernommen; wo sie einen Leprosen antrafen, da

glaubten sie es sich als Verdienst anrechnen zu müssen, wenn sie ihn wie einen rasenden Hund verfolgten und

tödteten. Mein Vater fuhr fort, jeglichem

hülfreich nahe zn

97 bleiben, der der Hülfe bedurfte, und war zuweilen während ganzer Tage von Hause weg, um die Kranken zu trösten und hier und da einem das Leben zu retten. Wie sehr er

uns auch liebte, so konnten unsere Thränen ihn doch nicht abhalten, in die angesteckten Häuser zu gehen; er betrachtete

es als eine heilige Pflicht, seinen Beruf als Arzt ganz zu erfüllen und aller Gefahr Trotz zu bieten, um seinen leidenden Mitmenschen zu helfen.

Dabei aber glaubte er

sich auch durch seine Kräuter gegen die Ansteckung hin­

länglich gesichert, und so setzte er seine täglichen Ausgänge

und Besuche ungestört fort.

Eines Abends

war die

gewöhnliche Stunde seiner

Rückkehr schon vorüber, ohne daß wir ihn sahen.

Meine Mutter wartete mit klopfendem Herzen, und zitternd vor

Angst, daß ihm vielleicht etwas zugestoßen sei; doch sagte sie uns nichts von ihrer Furcht, um uns nicht vielleicht unnöthig zu ängstigen.

Ich war just damit beschäftigt, meine Schwester Maria in einem Buche lesen zu lehren; so bemerkten wir nicht, wie bleich das Gesicht unserer Mutter war,

mit welch'

ängstlicher Aufmerksamkeit sie auf das leiseste Geräusch

auf der Straße wie auf einen Boten der Ankunft meines Vaters horchte. Nach einiger Zeit schloß Maria das Buch, sah erschrocken um sich her und fragte: „Aber, Mutter, wo ist denn der Vater?"

Unsere arme Mutter antwortete nicht, von ihren Wangen

aber rannen stille Thränen; sic betrachtete meine Schwester mit einem trüben Blicke und zog sie, ohne ein Wort zu

sprechen, an ihre Brust. Ich für meine» Theil dachte, der Vater verbringe vielleicht die Nacht am Sterbebette irgend einer vornehmen Person; die Angst meiner Mutter verstand ich nicht, obgleich ihre Thränen auch die meinigen hervor­ preßten. Alle meine Beruhigungen blieben ohne Einwirkung

5

98 auf ihr Gemüth; eine geheime Ahnung ließ sie ein schreck­

liches Unglück vermuthen,

und sic und meine Schwester

weinten bis zum Morgen. Da aber drückte auch mich die Angst nieder; o, die Sonne ging ans, sic stieg hoch und höher, und wir sahen unsern Vater nicht wieder! Das

Jammergeschrei meiner

Mutter

und

meiner

Schwester erfüllte unser Haus, sie rissen sich die Haare aus, sie zerrissen ihre Kleider vor Schmerz und Trauer

und ich, der ich mich muthig glaubte, ich stand rathlos

neben ihnen und weinte; nicht ein Wort des Trostes kam über meine Lippen. Endlich erwachte ich ans meiner Be­

wußtlosigkeit und sagte meiner Mutter, daß ich ausgehen wolle, um den Vater zu suchen, oder etwas über ihn zu hören. Sie küßte mich mit unbeschreiblicher Herzlichkeit,

wie wenn sie gefürchtet hätte, daß auch ich nicht wiederkehre, und warf sich mit meiner Schwester vor einem Kreuz­ bilde nieder.

Meiner

jammernden Schwester suchte ich,

indem ich mich selbst belog, einige Hoffnung einzuflößen,

und verließ das Gemach mit zerrissenem Herzen. Keiner von unsern Freunden konnte mir sagen, wo mein Vater war;

keiner hatte ihn am vorigen Tage ge­

sehen. Vergebens irrte ich, meine Thränen verbergend und

gesenkten Hauptes durch die Stadt; Jeder blieb stumm auf meine Fragen. Des Nachmittags stand ich an einer Brücke und schaute vcrzweiflungsvoll in das unter ihr strömende Wasser, den peinlichsten Gefühlen zum Raube.

Aus diesem

schmerzlichcnZustande weckten mich mehrere Männerstimmen,

ich wandte mich um und sah einen Leprosen vor mir, wel­

cher von den Todtschlägcrn mit den Spitzen ihrer Lanzen fortgetricbcn wurde. Die ergreifenden Klagen des Unglück­

lichen fanden einen tiefen Widerhall in meinem Herzen, und mitleidig folgte ich ihm einige Zeit nach, ohne selbst zu wissen, wohin ich ging und was ich that. So gelangte

99 ich vor bas Thor und in das Feld. Da sah ich die Thüre

des Pesthanscs öffnen, den Leprosen hincinstoßcn und die Thüre wieder schließen; die traurigste Stille herrschte wäh­ rend der ganzen Scene. Vom bittersten Schmerze überwältigt, setzte ich mich vor

dem weiten Grabe

in das Gras nieder, und im Geiste

sah ich das ganze Leben der Leprosen an mir vorübergehcn. Ich sah sie dahin wandeln, die lebenden Leichen in der Gesellschaft des Todes, einander fliehen beim Anblicke der gräulichsten Wunden, untcrgehcn vor Schmutz und Fäulniß, ersticken vor Gestank, sich verzehren in gegenseitigem Hasse.

O wie

schrecklich, wie tödtend quälte mich der Gedanke, daß cs in diesen Mauern Menschen gab, die, Raserei in jedem ihrer Züge, niedcrblickten auf ihre bereits abgestor­

benen Füße, während ihr Herz noch Kraft genug besaß, die ganze Gräßlichkeit ihres Looses zn fühlen! — Ich sah Menschen, die neben der kalten Leiche ihres Lcidensgenossen liegen blieben, ohne daß sic es für nöthig erachteten, sich nur zu rühren, um sich von dem drohenden Tode zu ent­ fernen. In solchen schrecklichen Gedanken lag ich versunken, als

plötzlich mein Name an mein Ohr schlug;

ein Freuden­

schrei entfloh meinem Munde, denn ich hatte die Stimme meines Vaters gehört. Ich stand auf und schaute um mich

her.... doch, o Himmel,

was sah ich!

Einem Donner­

schlage gleich traf es mich, ich lachte wie Einer, der spotten möchte, und sank ohne Gefühl zu Boden .... O, könnte ich cs ausdrücken, was ich in dem Augen­ blicke litt! Der Anblick, der mir wurde, war so schrecklich,

daß der höchste Ausdruck des grenzenlosen Schmerzes, ein Ich hatte meinen Vater hinter dem Eisengitter erblickt! Er, der mir das Leben gab, lag begraben — für ewig begraben in den: Hohnlachen, meine einzige Klage war.

100 verschlingenden Pestschlunde! O Gott, du standest mir in dem Augenblicke bei!

Wie hätte ich anders nach diesem

zerschmetternden Schlage noch leben können? Sobald mein Bewußtsein zurückkehrte, sprang ich laut weinend auf, um

zu dem Eisengittcr hinzustürzen, doch

fünf bis sechs Todtschläger hielten mich, indem sie mich zu

tobten drohten, zurück; noch einmal blickte mein verwildertes Auge auf das ehrwürdige Haupt meines Vaters,

dann

weinte ich, daß die Thränen mir von den Wangen strömten.

Etwa fünf Schritte nur von meinem armen Vater entfernt, lehnte ich mich an den Querbaum, den man dort ange­

bracht hatte.

Näher durfte ich mich nicht wagen,

denn

vier Todtschläger standen mit gespannten Kreuzbogen bereit, mich mit ihren Eisenpfcilen zu durchbohren, sobald ich eine Hand oder einen Fuß durch jene Schranken steckte. Nachdem ich meinem gepreßten Herzen durch reiche

Thränen Luft gemacht hatte, erhob ich das Haupt und blieb sprachlos und mit gefaltenen Händen dastehen, das

Auge fest

auf meinen

Vater geheftet.

Seine geliebte

Stimme drang verständlich zu meinem Ohre; mit so himmlischer Geduld:

er sprach

„Walter, mein Sohn, fasse Muth! der Herr hat seinen

Diener heimgesucht. Mit Ergebung erdulde ich den Schlag, wie hart er auch sein möge.

Weine nicht also, Walter,

bewahre vielmehr die Kraft deines Gemüthes, um deine Mutter und deine Schwester zu trösten . . . ." „O mein unglücklicher Vater!" rief ich mit dumpfer

Stimme. „Kann ich euch denn nicht retten? Sollte unsere Wissenschaft ohnmächtig sein gegen die furchtbare Seuche?" „Mein Kind, was würde das denn helfen?" versetzte

er darauf. „Genäse ich auch hundertmal in einer Stunde hier, ich würde hundertmal auf's Nene angesteckt werden. Ich will dir jetzt die ganze Wahrheit sagen, Walter, damit

101 du deine Mutter und deine Schwester auf den schmerzlichen

Schlag vorbereiten kannst, der sie treffen wird. Sei aber stark, mein Sohn;

bei deiner innigen Liebe zu mir be­

schwöre ich dich, daß du deine Mutter langsam und vor­

sichtig darauf vorbereitest, daß ich zu den Todten gehöre

und bald . . . Er sprach noch fort in diesem hcrzzerschneidenden Tone, doch der Schmerz hatte mich taub und blind gemacht; ich

verstand seine Worte nicht mehr; Alles kreiste vor meinen Augen und ein betäubendes Brausen erfüllte mein Ohr. Von Zeit zu Zeit unterschied ich noch die Stimme meines

Vaters, die rief:

„Walter, Walter! Mein Sohn!" Ich weiß nicht, wie lange ich also mit dem Haupte an den Querbaum gelehnt blieb; als ich aus diesem Zustande

erwachte, standen die Todtschläger noch da, ihre Bogen auf mich gerichtet, und meines Vaters Gesicht lächelte mir noch

hinter dem Eisengitter entgegen. Mit der abgezwungenen Ruhe der Erschöpfung seufzte ich: „Ach, Vater! Welch' ein Unglück brachte euch denn in dies abscheuliche Gefängniß?" Da erzählte er mir in kurzen Worten, wie er am Morgen des vergangenen Tages in einem Boot über die

Maas gefahren sei, um einige reiche Leprosen zu besuchen; wie sein Vertrauen auf die unfehlbare Kraft seiner Kräuter ihn getäuscht habe und schon Nachmittags sein Gesicht mit blauen Flecken bedeckt gewesen. In diesem Zustande hatten ihn einige Todtschläger gesehen und ihn, ohne auf irgend etwas zu hören, mit Gewalt nach dem Pesthanse getrieben. — Da nun saß er, bis der schrecklichste aller Tode ihn befreite.

Ich schreibe dieses also nieder, weil ich von meines Paters Erzählung nichts weiter, als abgebrochene Worte

102 verstand. Es schien mir gleichgültig, wie er in das Lazareth gekommen war;

vernichtend genug war der Anblick des

Eisengitters für mich, welches meinen Vater auf ewig von

den Seinen, von der ganzen Welt trennte.

Bereits sank die Sonne am Horizont, mehrmals be­ reits hatte mein Vater mich ermahnt, nach Hause zu gehen

und meine Mutter und Schwester zu trösten ; ich blieb mit

dem Kopfe auf dem Querbaunie liegen und hielt die Angen fest auf das

Eiscngitter gerichtet.

Ohne Zweifel hätte

ich also die Nacht verbracht, wenn nicht einer der Todt-

schläger mich mit Gewalt gezwungen hätte, die Stelle zu

verlassen. Er stieß mich auf der Straße nach Lüttich fort und sprach, als er mich verließ, um zu dem Pesthause zurückzukehren:

„Soll ich dir sagen,

was du

zu

thun

hast,

statt

gleich einem Weibe zu weinen über ein unabänderliches Mißgeschick?"

Ich blickte ihn mit Hoffnung im Auge an. Er fuhr fort: „Bringe deinem Vater morgen Essen und Trinken, denn die größte Qual der Leprosen in dem Pesthause ist

Hunger und Durst. Vergiß aber den Speiscstock von zehn

Fuß Länge nicht, sonst bist du gezwungen, das Essen so weit zu werfen, und das geht nicht wohl an ... . Guten Abend."

Wie sehr erschütterten die Worte mich!

Ich fühlte

sie auf dem Herzen glühen wie feurige Kohlen. Gott, ich sollte meinem Vater an der Spitze einer Stange Essen reichen! Welch' ein Gedanke! So unglücklich, wie nur ein Mensch es sein kann, ging ich trägen, langsamen Schrittes nach der Stadt zurück.

Da stieg plötzlich ein trostreicher Gedanke in mir auf — ich hatte ein Mittel gefunden, zu meinem Vater zu kom­ men. In meinem Unglücke lächelte ich freudig, und ich eilte

103 schneller weiter und einem Hause zu, wv ein uns befreun­

deter Leprose wohnte. In dem Augenblicke aber, wo ich hineintreten wollte, gedachte ich meiner Mutter und Schwe­ ster. Ich hielt an, weinte auf's Neue und entfernte mich

rasch,

denn

ich fürchtete, der Gedanke könne mich über­

— Ich hatte für einen Augenblick freudig den Vorsatz gefaßt, mich zu dem Leprosen zu begeben, ihn um die Mithcilung der Seuche, wie um eine Wohlthat zu

wältigen.

bitten, ihn zu berühren, und mich alsdann durch die Todt-

schlägcr in das Pcsthans zu meinem Vater einschließen zu lassen. Zu unser Aller Glück hatte das Bild meiner

Mutter und Schwester sich zwischen mich und die Thüre

des angestcckten Hauses gestellt. Was sollte ich den beiden Frauen nun sagen? Ich war ein Bote, den der Tod sandte, sein Erscheinen zu ver­ künden, und sollte, einem Mörder gleich, die Herzen meiner noch übrigen Theuren wie zwischen zwei Felsenstückcn zer­ malmen! Das war meine schreckliche Botschaft! Das über­ wältigende Gefühl meines ganzen Unglückes warf mich in eine Art von Bewußtlosigkeit, sonst hätte ich cs vielleicht

nicht gewagt, mich unserer Wohnung zu nähern; doch war

es mir, als ob meine Füße mich trieben, und also ich bis zu unserer Thüre. Da aber wurde es wieder hell vor mir; ich überdachte auf's Neue folternder Klarheit mein Unglück bis in seine

gelangte plötzlich und mit kleinsten

Theile und mit ihm meine fürchterliche Sendung. Ich zitterte so sehr, daß meine Kniee unter mir brachen, und ich auf der Schwelle unserer Wohnung niedcrsank. Trotz dieser tiefen Erschütterung versuchte ich, all' meinen Muth

zusammen zu nehmen, um, wie der Vater mir aufgctragen, meiner Mutter und Schwester sei»

unglückliches Loos

mit vorsichtigen Worten zu berichten.

Etwas mehr gestärkt, öffnete ich die Thüre und ging

104 mit wankenden Schritten und schrecklich zitternd dem Ge­

wo eine nicht zu beschreibende Scene meiner harrte. — Dort, im Hintergründe des Zimmers, saß meine Mntter, das Kinn auf beide Hände gestützt; ihre Augen mache zu,

waren roth, wie wenn Blutadern sich hinein gegossen hätten; ihr krampfhaft verzogener Mund ließ die festgeschlossenen

Zähne eben sehen. Neben ihr saß meine Schwester in der­ selben Haltung. Beide schauten scharf, aber mit starren Augen auf mich hin, wie ans einen ihnen gleichgültigen

Fremdling. Wie unendlich mußte ihre Hoffnungslosigkeit, wie schrecklich ihre Verzweiflung sein! Tief erschüttert von dem Anblicke, stand ich einen Augenblick in derselben Gefühllosigkeit da; dann aber stürzte ich vor meiner Mutter auf die Kniee nieder lind küßte sic mit wilder Inbrunst: — jede andere Sprache hatte ich

vergessen!

Ich erhielt keine Antwort; meine Mutter ließ

mich ihr Haupt hin und wieder drücken; gleich gefühllos

blieb meine Schwester, bis ich endlich

mit schneidender

Stimme ausrief:

„Mein Herz bricht! Mutter, Schwester, lasset nnch eure Stimme hören, oder ich sterbe!"

„Ach Walter!" seufzte meine Mutter leise.

„Armer Bruder!" murmelte meine Schwester. Diese Lebenszeichen beschwichtigten in etwas die Ver­ zweiflung, welche bis dahin meine Brust erfüllt hatte; sie gaben mir einige Kraft zurück und ich erinnerte mich meiner Sendung. „Welch' neues Unglück hat euch denn während meiner Abwesenheit getroffen?" fragte ich. „Lasset euch doch nicht so von der Angst beherrschen, seid doch nicht so tödtlich

betrübt.

Ich

habe unsern Vater gesehen, wahrscheinlich

wird er uns binnen Kurzem wiedergegeben sein . , ,

105„Du hast ihn gesehen?"

rief meine Mutter in wil­

dem Tone. „Ich"habe ihn gesehen, seid davon versichert," versetzte

ich bebend.

„Dann hat

dein Schutzengel dich behütet,

Walter;

denn Gott ließ dir deinen Verstand." Diese Worte waren mir ein Räthsel; meine Schwester aber brach bei ihnen aufs Neue in Thränen aus. Sie jammerte:

„Ach, Bruder, lüge nicht, lüge nicht!

Vater sitzt im

Pcsthaus, wir wissen es schon. Der Jude Borach hat ihn auch gesehen." Auf's Neue warf ich mich auf die Kniee vor meiner Mutter nieder und umschloß sie und meine Schwester zu­

gleich ; die Thränen entströmten uns auf's Heftigste, doch kein Seufzer, kein Athemzug störte die schauerliche Stille der Nacht, die um uns herrschte. Klagen mögen die Dol­ metscher gewöhnlichen Schmerzes sein; unserm nie gefühlten Schmerze war die Sprache zu schwach.

Wozu sollte ich es übernehmen, unsern Zustand wäh­ rend

dieser Nacht zu

beschreiben?

Nur das Bestreben,

unsere ohnmächtige Mutter zu laben, brachte einige Ver­

änderung in unsere Lage.

Die aufsteigende Sonne fand mich beschäftigt, ein

schreckliches Werkzeug zu verfertigen; ich arbeitete an dem

Speisestockc, mit welchem ich meinem Vater das Essen reichen mußte, einer langen Stange, an deren, einem Ende eine eiserne Schüssel befestigt war. Sobald sie fertig war,

packte ich ein gutes Stück gebratenen Fleisches, eine Flasche besten Cyperweines,

Brod

und Salz und einige leinene

Tücher zusammen, und ging zu meiner Mutter und Schwester, nm Abschied von ihnen zu nehmen; doch wie ich mich'auch bemühte, wie ich bat und flehte, sie wollten durchaus mit *

106 mir gehen, um unsern unglücklichen Vater zu sehen.

Ich

sah wohl ein, daß dieser Anblick all' ihre Schmerzen er­ neuern, sie selbst, wäre es möglich, noch vermehren müßte, darum bot ich Alles auf, was meine Phantasie nur ver­

mochte, um sie zurückzuhalten; doch vergebens, sie bestanden darauf, mir zn folgen.

So

gingen

wir denn hin durch die Straßen, das

Haupt tief gesenkt, Tranertragenden gleich, welche eine Leiche zu ihrer letzten Ruhestatt geleiten; unsere Betrübniß

und mein schreckliches Werkzeug erregten die Aufmerksamkeit der uns Begegnenden nur,

um jedeu fern von uns zu

halten. Ein solches Schauspiel war nichts Neues und blieb auch ohne weitere Einwirkung auf den Geist der Zuschauer;

es sagte ihnen nur, daß wir zn einer Familie gehörten, in

welcher die Seuche ein Opfer gefunden hatte. Außerhalb des Thores wandte ich mich um nach meiner Mutter; aber ich erstaunte nicht wenig, als ich ihre Züge von allen Anzeichen eines getrösteten, ja fast fröhlichen Gemüthes überstrahlt sah. Ich hielt an, sie zu erwarten,

und sprach wie mit süßer Freude: „Ach, Mutter, ich sehe wohl, dein Herz ist gefaßter,

o bleibe doch so!" Sie blieb im Felde stehen und wir mit ihr;

dann

sprach sie in einem Tone, der etwas Heiliges, Himmlisches

in sich hatte: „Kinder, ich habe

unterwegs inbrünstig zu unserm

lieben Herrn Jesu gebetet, und ich fühlte cs, wie es gleich

einem Strahle des Lichtes in meinen Geist drang, und es

durchströinte mich mit neuer Kraft zur Erfüllung unserer trüben Pflicht. Warum gehen wir zu eurem Vater? Um sein Herz zu zerreißen durch den Anblick unserer Leiden? Seinen Schmerz zn verdoppeln durch unsern Schmerz? —

Nein, nicht wahr? Die Unglücklichsten müssen durch minder

107 Unglückliche

getröstet

werden.

Wohlan denn,

Kinder,

drängen wir unsere bittern Thränen zurück in die gepreßte

Brust!

Zeigen

wir unserm Vater nicht sowohl unsern

Schmerz, als unsere Liebe; — und, sind wir schwächer, als unser Gefühl, drängen sich dennoch unsere Thränen hervor — dann lasset durch sie hindurch dem armen Vater ein sanftes Lächeln entgegenleuchten!"

Diese Worte übten einen wunderbaren Einfluß auf unsere Gemüther aus; so wie sie dem Munde unserer Mutter

entflohen, sank Kraft und Muth in unsere Brust, und wir wurden stark zur Erfüllung unserer Pflicht, die uns jetzt als

eine heilige Sendung erschien.

nahten wir dem Pcsthanse.

Einander also ermuthigend,

Schon in einiger Entfernung

sahen wir, wie die Todtschläger ihre Vogen spannten, und

hörten, wie sie uns mit drohender Stimme zuriefen:

„Vor dem Querbaum geblieben! Vor dem Querbaum!

bei Todesstrafe!" Wie sehr wir uns auch gestärkt fühlten, so zitterten wir dem Querbaume nahten; wir hatten glücklicher Weise Zeit, uns ein wenig zu erholen, denn wir

wir doch, als

sahen Niemand hinter dem Eisengitter. Einer der Todtschlägcr trat inzwischen auf uns zu und fragte, wen wir zu scheu verlangten? Nachdem wir den Namen meines Vaters genannt, schrie er mit starker Stimme: „Abulfaragus! Abulfaragus!" Da erschien das Haupt meines Vaters hinter dem Eisengittcr. Er lächelte liebevoll, der Unglückliche! Stille Thränen entrollten unsern Augen; doch durch sie hindurch glänzte der Ausdruck süßer Liebe, und wir sahen fdcntlich, welch' reichen Trost mein Vater aus unserer ruhigeren Stimmung schöpfte. Während ich mich anschickte, ihm mittelst des Speiscstockes das mitgebrachte Essen und

Trinken zu reichen, tröstete ihn meine Mutter mit Worten,

108 welche ihr Frauenherz allein kannte. O wunderbare Wir­

kung der Liebe! Wir waren Alle unaussprechlich unglücklich,

und doch fand in diesem Augenblicke ein Gefühl seliger Freude den Weg zu unserm Herzen! Anf's Vollste unter­ warfen wir uns dem Willen des Herrn und dem Schicksale,

welches er über uns verhängt hatte. Vielleicht auch war

die Saite des Schmerzes

in

unserm Herzen zerrissen.

Hatten wir nicht in der vergangenen Nacht den Leidens­

kelch bis zur Hefe geleert? Als ich den Speisestock dem Eisengitter zuschob und

sah,

wie der Vater das Fleisch ergriff, überlief mich ein

eiskalter Schauer: meine Mutter und Schwester erblaßten gleich mir; doch bald gaben die tröstenden Worte meines Vaters uns unsere Ruhe zurück. Was soll ich ferner von diesem Besuche sagen? Wir blieben noch eine geraume Zeit vor dem Querbaume stehen

und beriethen uns über die Mittel, durch welche der Vater

etwa hätte geheilt werden können.

Diese Berathung konnte

natürlich keine weitern Folgen haben, da an eine Herstcllnng nicht zu denken war, so lange er in dem Pcsthause blieb. Auf seine Bitten und geängstigt durch die Drohungen

der Todtschläger entfernten wir uns endlich und kehrten schweigend nach Hause zurück. An den drei folgenden Tagen machten wir denselben Weg

und blieben jedesmal lange vor dem Qncrbaume

stehen. Unterdes; breitete sich die Seuche, durch das anhaltende Thanwetter begünstigt, wieder mehr und mehr aus; in den beiden letzten Tagen hatte sie völlig ihre alte Kraft wieder erlangt und man hörte nur von neuen Ansteckungen und

Todesfällen. In dieser schrecklichen Zeit rief plötzlich der Pöbel, die Leprosen vergifteten die Brunnen und Wasserleitnngen, in-

109 dem sie ihre Wundtücher in denselben wüschen; auch hieß es, sie seien dazu durch die Juden erkauft, welche Geld hergeben, um die Christen zu tödten; damit diese nicht, dem Rufe des Papstes folgend, nach Jerusalem ziehen und

dort gegen die Ungläubigen streiten könnten.

In Frank­

reich zogen Banden von vier- bis fünftausend Mann um­ her, welche Pastoureaux genannt wurden, und die alle Juden und Leprosen aufsuchtcn und ohne Erbarmen hin­

schlachteten.

Sonder Zweifel entsprangen die Gerüchte in Ob die Be­

Lüttich aus diesen Vorfällen in Frankreich.

schuldigungen so schändlichen Verrathes gegründet waren,

weiß ich nicht;

so viel ist aber gewiß, daß der zwischen

Juden und Christen herrschende blutige Haß glühend genug

war, das unwissende Volk von beiden Seiten zu den ab­ scheulichsten Missethaten anzutreiben. Gegen Abend erzählte uns eine Nachbarsfrau, wie zahlreiche Haufen Volkes die Stadt durchzögen, ohne daß man wisse, welches ihr Vorhaben sei; auch sagte sie uns, daß man in der Nähe der Stadtmauer etwa zehn Juden­ wohnungen geplündert habe, und zeigte uns selbst durch's

Fenster den Gluthschein der Flammen, welche die Häuser eben bis zum Grunde vernichteten. Lange und mit Schrecken dachten wir nach über das

Loos unserer ehemaligen Glaubensgenossen, und eben be­ reiteten wir uns vor zum Schlafengehen, als plötzlich gcheimnißvoll an unsere Thüre geklopft wurde. Ich erschrak, eilte aber doch schnell zu einem Fenster über der Haus­ thür und öffnete es. In dem Dunkel unterschied ich einen

Mann, der sich fest gegen die Thüre drückte und dadurch

fast unsichtbar für mich wurde. „Was wollt ihr, Mann?" fragte ich. „Wohnt hier nicht der Arzt Abnlfaragus?"

„Ja."

110 „Ich habe euch Dinge zu sagen, von denen sein und seiner Familie Leben abhängt." „So sprechet denn, Freund, welch' Unglück ihr uns zu verkünden habt." „Ich darf nicht so laut mit euch sprechen. Man könnte

mich hören."

„Ihr wißt aber doch, daß man in so später Nacht­ stunde sein Haus keinem Unbekannten öffnet."

„Das weiß ich und ich lobe eure Vorsicht. Ihr braucht euer Haus nicht zu öffnen, kommt nur herab und stellt euch hinter die Thüre, ich spreche dann dnrch's Schlüssel­ loch mit euch." Schnell schloß ich das Fenster, um zu thun, wie er

wünschte ,: bevor ich aber hinunter ging, theilte sich Alles meiner Mutter mit. Dann stellte ich mich hinter die Thüre

und der Mann sprach mit gedämpfter Stimme: „Aus Frankreich kam eine Bande von Pastoralen in der Stadt an, der Pöbel hat sich ihnen zugesellt und gleich heute schon haben sie mehre Judenwohnungcn geplündert,: morgen werden sie alle Judcnhänser schleifen und die Leprosen der Stadt alle morden. Ich komme eben aus der Versammlung, die sie auf dem Cornillonsberge halten.

Abulfaragus heilte mich von der Lcprosheit und meine Dankbarkeit drängt mich, ihn zu warnen. Horcht wohl auf, was ich euch sagen werde. Böse Menschen haben Abulfaragus angcklagt, daß er nur mit dem Munde Christ, aber Jude im Herzen sei; sie gaben ihn als einen gott­ vergessenen Zauberer an, der durch teuflische Künste unbe­

Dies Letzte genügte, ihn zu verurthcilen; morgen früh beim Aufgang der Sonne schreibliche Schätze gesammelt habe.

werden sie seine Wohnung überfallen und ihn gewiß nebst seiner ganzen Familie morden, wer die Flucht nicht zeitig nimmt .... Sagt ihm das. — Lebt wohl."

111 Und der Unbekannte entfernte sich. Seine Mittheilung hatte mich so sehr erschüttert, daß ich lange zitternd, und ohne zu einem Entschlüsse kommen zu können, in dem Haus­

flur stehen blieb. Allmählich aber erwachte mein Trotz gegen

das Unglück, ich sah ein, welch' eine schwere Aufgabe mir

zu Theil geworden war, und wie meine Mutter und Schwester nur von meinem Muthe ihre Rettung zu erwarten hatten.

Wohl war ich nicht über zwanzig Jahre alt, doch der letzte Schlag, den das Unglück meines Vaters mir beigcbracht,

hatte meine Brust gegen das Schicksal gestählt; überdies bedachte ich, daß ich jetzt nichts mehr zu fürchten hatte, und also meinen Vater zu erlösen suchen könne, ohne mich dabei zu ängstigen, daß mau seine Flucht an meiner Mutter oder Schwester rächen werde. Den Kopf voll solcher bunt sich kreuzenden Gedanken,

stieg ich die Treppe hinauf und erzählte ruhig Alles, was

der Unbekannte mir berichtet hatte. Meine Schwester weinte bitter; meine Mutter hin­ gegen schien dies neue Leiden mit Geduld hinnchmen zu

Diese gewiß schreckliche Nachricht traf beide, dies hatte ich voraus gesehen, weniger tief, als jene von der

wollen.

Ansteckung meines Vaters. Wir mußten flüchten oder einen blutigen Tod erwarten. In größter Eile sammelte ich Alles, was ich auf unserer Flucht nöthig und nützlich glaubte.

Schwester folgten mir, wie Kinder.

Meine Mutter und

Auf meinen

Rath

zogen sie dreifache Kleider über einander an und nahmen Speisen,

ein Messer, Feuerzeug,

eine Flasche Wein, ein

Kruzifix, viel Geld und andere tragbare Dinge mit sich.

Ich nahm nur ein Jagdmesser und ein scharfes Handbeil.

Sobald wir Alle bereit standen, unsere Wohnung zu ver­ lassen, schrieb ich die folgenden Worte in arabischer Schrift eins ein Stückchen Pergament:

112 „Von den Pastoralen verfolgt, flohen wir und bargen nns in Höhlen. Morgen um Mitternacht werde ich mit einer Leiter an der Nordseite der Mauer stehen. Kommt und rettet euch — euren Unglücksgefährten ferne, kann unsere Wissenschaft euch vielleicht die Gesundheit wieder schenken." Ich faltete das Briefchen und band ein Stückchen Blei daran, steckte es zu mir und mahnte die beiden Frauen zum Aufbruch. Mit der größten Behutsamkeit und begünstigt durch ein undurchdringliches Dunkel eilten wir dann fort, ohne daß eilt Wort unsern Lippen entschlüpfte. Am Thore von Amercoeur trafen wir auf Wachen, welche sich weiger­ ten, uns aus der Stadt zu lassen; ich sagte ihnen, daß wir in Folge eines Gelübdes eine Wallfahrt zur Kapelle unserer lieben Frauen vom Berge machten, doch sie glaubten uns nicht, und erst eine Handvoll Geldstücke bahnte uns den Weg. Vor dem Thore angelangt, schlugen wir den Weg nach Deutschland ein. Die nahen Gebirge waren mir sehr wohl bekannt, da ich seit mehreren Jahren fast wöchentlich in ihnen Kräuter für meinen Vater gesucht hatte. Eine Stunde von der Stadt, an einem gar einsamen Plätzchen, wußte ich eine verborgene Höhle mit schmalem Eingänge, doch weit sich in den Berg hinein dehnend; ihr Boden war eben, gleich einem Gemache, und hier und da traf man auf vielförmige Tropfsteingebilde. In diese Höhle brachte ich meine Mutter und Schwester; die Oeffnung war so enge, daß wir gezwungen waren, auf Händen und Füßen hinein zu kriechen. Nachdem ich ihnen Muth ein­ gesprochen hatte, machte ich sie mit meiner Absicht bekannt, unsern armen Vater zu retten, und sagte ihnen zugleich, daß ich jetzt nach dem Pesthause müsse, um ihm mein Briefchen zukommcn zu lassen. Beide stimmten freudig in mein Vornehmen ein und baten mich, doch ja zu eilen, damit ich noch vor Sonnenaufgang zurückkehren könne.

113 Um Beide vor den Anfällen der Wölfe zu schützen, welche sich in Folge des harten Frostes in ganzen Haufen aus

dem Ardennenwalde in die Umgebungen Lüttich's verbreitet

hatten, rollte ich mit großer Mühe zwei schwere Steine vor den Eingang der Höhle und lief dann der Stadt zu.

In der Nähe des Gebirgsabhanges lenkte

ich rechts ab

und eilte so lange weiter, bis ich glaubte, nicht weit mehr von dem Pesthause entfernt zu sein. Dann kroch ich mit

größter Vorsicht zwischen den Bäumen und

Sträuchen

durch, um nicht von den Tvdtschlägern bemerkt zu werden.

So gelangte ich bis zu dem Fuße der Maner und warf das Briefchen hinüber; ich sah deutlich das weiße Pergament

fliegen und war auf's vollständigste überzeugt, daß es int

Innern des Pesthanscs angekommen sei.

Ich zweifelte nicht

daran, daß es in meines Vaters Hände kommen werde, denn nur er kannte die arabischen Schriftzeichen, und ge­

wiß würde man ihm das Briefchen gezeigt haben, um seine Meinung darüber zu hören. Erfreut über den guten Aus­ gang dieser ersten Unternehmung, kehrte ich schnell zu unserer Höhle zurück.

Da fand ich die beiden Frauen weinend;

doch trösteten sie sich bald und sehr,

als sie vernahmen,

welch' gute Aussichten ich zur Rettung unseres Vaters hatte.

Noch vor Sonnenaufgang pflückte ich einige Büschel kleiner Pflanzen, und bereitete davon auf dem Boden der

Höhle ein Lager für meine Mutter und Schwester; darüber

hin breiteten sie einen Theil ihrer Kleider und versuchten auf mein Zureden, ein wenig zu schlafen. Ich sagte ihnen, daß ich die Höhle verlassen müsse, um eine Leiter zu suchen, und wartete dann, bis sie einschlummerten. Als ich dies bemerkte, nahm ich — cs war gegen neun Uhr — von dem mitgebrachtcn Gelde, und entfernte mich, nachdem ich zuvor die Steine wieder vor den Eingang der Höhle

gerollt hatte,

114 Eineu großen Theil des Tages hatte ich schon damit verbracht,

alle Meierhöfe spähend zu umschleichen,

doch

nirgends fand ich, was ich suchte. Ich sah Leitern genug, doch waren alle mit Ketten und Schlössern an den Mauern

befestigt, so daß mir keine Hoffnung blieb, eine nehmen zu

können. Ich durfte auch den Wächtern kein Geld bieten, um eine Leiter zu kaufen, sie hätten mich sonst als einen Dieb weggejagt. Als ich nun so tiefbetrübt schon in die Nähe des Pesthauses kam und eben gedachte nach der Höhle zurückzukehren, sah ich von Weitem einen Kamin rauchen; ich eilte durch das Gebüsch nach dieser Seite und fand eine einsame und nicht geschlossene Bauernwohnung.

Wie hoch schlug mein Herz vor Freude, als ich eilte lange Leiter erblickte, welche hinter dem Hause und in Jedes Bereiche am Boden lag!

Schnell entfernte ich mich und merkte mir wohl die

Lage des Hauses und den Weg, der mich zu demselben führen sollte; dann schlug ich heiter und mit dem Lächeln der Hoffnung im Gesichte den Weg nach der Höhle ein. Hier tröstete ich meine Mutter und meine Schwester mit

der schönen Aussicht auf des Vaters Erlösung. Der Schlaf hatte ihnen wohlgethan, und selige Hoffnung leuchtete auch in ihre aufgeregten Herzen; wir aßen ein wenig und erwar­ teten dann mit Ungeduld die Nacht. Gegen Abend umzog der Himmel sich mit schwarzen Wolken; es regnete stark, und bald lagerte sich die tiefste Finsterniß über die Felder.

Ich deutete mir diese Verän­

derung des Wetters als ein gutes Vorzeichen, und es schien mir, als begünstige Gott offenbar meine gefahrvolle Unter­

nehmung.

Endlich nahte die lang ersehnte Mitternachts­

stunde. Meine Mutter und Schwester lagen bereits lange ans den Knieen vor dem Kruzifix; ich küßte Beide, schloß die Höhle und ging.

115 Schon hatte ich einen großen Theil meines Weges

zurückgelcgt und noch eilte ich dahin durch das dichteste Dunkel, als ich plötzlich hinter mir zwischen dem Gesträuche zwei Augen bemerkte, die gleich Lichtern glühten und fest auf mich gerichtet waren. Ich erschrak nicht wenig über diese Erscheinung, um so mehr, da ich in dem ersten Augen­ blicke nicht errathen konnte, ob es ein Mensch oder ein Thier war, welches mich anglotzte; doch blieb ich nicht stehen, sondern schritt muthig meines Weges weiter. Von Zeit zu Zeit sah ich mich ängstlich um, und jedesmal fand ich die beiden funkelnden Augen in derselben Entfernung von mir. Längs eines Eichengestrüppes fortgchend, hörte ich auf den dürren, rasselnden Blättern die Schritte des mich ver­ folgenden Thieres; bald sagte mir ein fast unmerkbarer Gurgellaut, daß ich einen Wolf zum Ncisegescllen hatte. Da ich wußte, daß diese Thiere selten einen Menschen an­ fallen, wenn er nicht strauchelt oder eine plötzliche Bewegung macht, so nahm ich mich in Acht, keinen Fehltritt zu thun, und hielt dabei mein Jagdmesser in der einen, mein Beil in der andern Hand stets znr Wehr bereit. Zitternd und voll Angst ging ich also während einer Viertelstunde fort, ohne daß der Wolf von mir wich; erhalte sich gar erkühnt mir näher zu komme», und ich gewahrte mit Schrecken, wie mir stets größere Gefahr drohte. Da klang plötzlich von Weitem im Walde ein hohles Geheul, dem Rufe der Wölfe gleich, wenn sie auf ein Pferd stoßen, und zu wenig zahlreich, es anzugreifen, Hülfe verlangen. Darauf wandte sich mein Verfolger, und ich hörte, wie er pfeilschnell durch das Gestrüpp hin zu seinen heulenden Gefährten flog. Einen Augenblick hielt ich an, ich athmete freier, faltete die Hände und dankte Gott für meine Nettnng. Gleich daranf setzte ich meine Wanderung mit erneutem

116 Muthe fort.

Bei dem einsamen Hause angekommen, ge­

wahrte ich mit Freuden, daß die Leiter noch auf derselben Stelle lag. Ich nahm sie auf, ließ an ihrer Stelle eine Summe Geldes zurück, welche wohl zehnmal ihren Werth enthielt, und schlich mich, wie ein Dieb, mit ihr weg. Ungefähr gegen Mitternacht kam ich in die Nähe des Pesthauses; da mäßigte ich meinen Gang, um ohne alles Geräusch die Leiter an die Mauer anlegen zu können. Bald trug ich sic auf der Schulter, dann kroch ich auf Händen und Füßen und zog sie auf dem Boden nach, bis ich endlich die Steine der Mauer fühlte. Sonder Zweifel schliefen die Todtschläger, denn wie sehr nahe ich auch ihrem Wachthansc war, so hörte ich doch keine Bewegung in demselben. Jetzt legte ich die Leiter an, kletterte hinauf und setzte mich rittlings auf die Mauer; ich zitterte wie ein Rohr und war so sehr von Angst durchschauert, daß mein Herz saunt mehr klopfte. Scharfen Blickes schaute ich in den Hof, und meinte in der dichten Finsterniß einen schwarzen Schatten zu unterscheiden. Ich fragte mit ge­ dämpfter Stimme: „Seid ihr es, Vater?" „Ich bin es, Walter," war die leise Antwort. „Wartet, ich will die Leiter herüberziehen und hinab kommen, euch zu helfen." „Höre aber, Walter," sprach mein Vater: „wenn du herabkömmst und dich nicht stets zehn Fuß von mir ent­ fernt hältst, dann kehre ich zu meinen Leidensgefährten zu­ rück und wäre ich auch eine Stunde Weges von hier. Willst du also meine Rettung, dann folge mir betritt." Während er dies sprach, zog ich die Leiter über die Mauer und ließ sic in den Hof nieder. Mein Vater stieg herauf, doch als er beinahe die Höhe der Mauer erreicht

117 hatte, zwang er mich, auf einige Entfernung von der Leiter wegznrntschcn.

Dann erst setzte er sich

ans die Mauer,

zog selbst die Leiter auf die Außenseite, stieg hinab und

stand auf freiem Boden.

Ich folgte ihm schweigend auf

dem Wege, den er wählte, um sich von dem Pesthause zu

entfernen. Bald waren wir der Unglücksstätte fern, und gern wäre ich jetzt meinem Vater näher getreten, da doch kein Todtschläger mehr zu fürchten war; doch was ich auch unternahm, er hielt sich stets und unerbittlich entfernt von mir.

Wie schmerzlich dies für mich war, das kann ich nicht sagen ; ich litt fürchterlich und stand ans dem Punkte, mich

ihm selbst gegen seinen Willen zu nähern und ihn zu be­ rühren. Als er dies bemerkte, sprach er — doch mit einer Stimme, welche mir einen kalten Schauer durch die Adern trieb; es war die schöne Stimme meines Vaters nicht mehr, dieser hohle und trockene Kehllaut, den Pest und Leiden ihm als Sprache gegeben hatten: „Mein guter Walter, ich sehe ein, wie sehr es deinem

liebevollen Herzen wehe thun muß, daß wir einander nicht in die Arme schließen können." —

„Ach, ich trinke an einem bittern Kelche," versetzte ich

weinend. „Aber, mein Kind, weißt du denn nicht, daß die lei­ seste Berührung

dir die Seuche mittheilen würde?

Du

würdest sterben, mein armer Sohn." „Ach, Vater!" rief ich, „lasset mich euch umarmen, um Gottes Willen! Sterben sagt ihr? aber glaubt ihr

denn nicht, daß es mir als ein Glück erscheinen würde, die Leiden und den Tod meines Vaters zu theilen? Da­ bei ist cs ja auch nicht sicher, daß auch ich angesteckt werde."

118 Meines Vaters Stimme wurde schmerzlicher, als er also zu mir sprach: „Könntest du mein Gesicht und meinen Körper sehen, dann mein Kind, würdest du selbst fliehen. Ich bin mit klaffenden Wunden bedeckt und dadurch umringt von ver­ pestetem Dunste. Ach, vielleicht sogst du bereits mit deinem Athem die schreckliche Pest ein. Ich bitte dich knicend, halte dich fern von mir." Ich sah trotz des Dunkels, wie mein Vater in der That nicderkniete und, die Arme gegen mich ausgestreckt, mich um Gehorsam flehte. Tief erschüttert und bebend blieb ich stehen, während er also fortfuhr: „Walter, hege nicht trügerische Hoffnungen. Ich bin dem Tode verfallen, denn die Seuche hat zu tief bei mir gewühlt. Wozu hälfe cS also, daß du ihr ein Opfer mehr brächtest, und deine Mutter und Schwester allein auf der Welt zurückließest? Nicht die Erwartung einer unmöglichen Herstellung bestimmte mich, das Pesthaus zu verlassen; nur meine Liebe zu euch und das Verlangen, euch noch einmal von Weitem zu sehen, trieben mich dazu an. Willst du nun, daß der Gedanke mich um so eher aufrcibe, ich habe die Ansteckung und den Tod in meine Familie gebracht? — und dies nur, um noch einmal mein Airge mit Wonne an meinen Kindern weiden zu können? Walter, ich soll leiden und sterben, ohne daß eine Hand die meine drücke, ohne daß eine süße Umarmung mich tröste, ohne daß cs dir vergönnt sei, die Augen deines sterbenden Vaters zu­ zudrücken. So lautet das Urtheil, welches der Herr über seinen Diener aussprach." Während dieser schmerzlichen Worte rollte ein Strom bitterer Thränen von meinen Wangen. Schluchzen und Seufzen waren Anfangs meine einzige Antwort. Plötzlich aber regte es sich wunderbar in mir; das Blut kochte mir

119 in den Adern und strömte gegen das beengte Hirn — vor

innerm Zorn bis; ich mir die geballte Hand blutig und

düstere Gedanken regten sich in mir. „Nicht wahr,

Walter?"

„du wirst mir gehorsam sein

fragte mein Vater flehend, und mich nicht berühren?"

Verdoppelt aber wüthete die sieberhafte Verzweiflung in mir und wie Feuer flammte es in meinem Herzen auf. „Vater," rief ich, „dann ist mir das Leben eine Last,

die ich nicht zu ertragen vermag! Sollte ich euch denn erlöst haben, um euch hülflos sterben zu sehen? Sollte ich euch fliehen, gleich einer giftgeschwollenen Natter? Sollte ich euch nicht umarmen, nicht euch die Augen schließen dürfen, so euch der Herr zu sich rief? — Ha, ha, so tief beugt euer Sohn dem Schicksale nicht den Nacken; er umarmt und küßt seinen Vater trotz der Seuche!

Hier — einen

Theil eurer Krankheit — kein ander Leben, keinen andern Tod, als ihr, mein Vater!"

Und ich lag lange an seiner Brnst, meine Lippen auf Einen Augenblick rang er mit Gewalt

seinen Wangen.

bald aber fühlte er, Ivie unwiderstehlich ich ihn in meine Arme geschlossen hatte, und kraftlos sank sein Haupt auf meine Schultern. Ich fühlte, wie warme Thrä­ gegen mich;

nen aus seinen Augen auf meine Hand rollten, und reich­ lich strömten die meinen dazu. Dann sprach er gerührt: „Kind, Kind, was hast du gethan!

Ich beschuldige

dich nicht wegen deiner unendlichen Liebe zu mir; sie ist mir eine Seligkeit in meinem Unglücke; aber siehst du denn nicht ein, wie sehr mir die Gewißheit das Herz zerreißt, daß mit dem Blute auch der Tod durch deine Adern rollt! Ich bin alt,

Walter, mir werden durch ihn nur wenige und lästige Jahre genommen; du aber, so jung noch, ver­ lierst ein ganzes Leben."

120 Meine That hatte mich erhoben iinb ich fühlte mich groß und stark. „Ich werde nicht angestcckt werden, nicht sterben!" rief ich. „Wisset ihr, was der durch die Bäume heulende

Sturm mir zuruft: Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange lebest auf Erden?"

„Gäbe der Allmächtige, daß der Geist der Propheten in diesem Augenblicke aus dir spräche, mein Kind! Steht aber nicht ebenfalls geschrieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen?!" „Er thue mit mir nach seinem allzeit gebenedeiten

Willen.

Bleibt noch Galle in dem Becher, ich bin bereit,

sie zu trinken! Meine erste Belohnung schmecke ich schon:

euer Kuß hat mir Kraft und Muth gegeben. Komnit, laßt uns zu unserer Mutter eilen!" Mit den Worten ergriff ich seine Hand und wir wen­ deten uns der Höhle zu. Als wir schon eine gute Strecke weit gegangen waren, sprach mein Vater sehr niedergeschlagen:

„Walter, ich beklage meine Erlösung als das größte von all' unsern Unglücken. Deine Liebe und deinen Muth bewundere ich, wenn sie auch deinen Lebensfadcn brechen werden.

Was will ich aber jetzt bei deiner Mutter und

deiner Schwester? Lieben sie mich weniger, als du,

werden sie sich nicht auch

und

auf dem Altare ihrer Liebe

opfern? O ich bin in einer schrecklichen Lage!

Was soll

ich beginnen? Jn's Pesthaus zurückkehren? Ich würde es für ein Glück ansehen,

dies zu können, doch wirst du es

zugeben?" „Nein, das würde ich nicht!" entgegnete ich fest. „Hört aber Vater, was ich euch sagen werde. Ich bin der Stimme meiner Liebe zu euch gefolgt und habe dadurch mich viel­ leicht der

Seuche überliefert.

Mit euch sehe ich aber

121 eilt, daß ich, wenn bis hierhin ich über mein Leben gebot, doch die heilige Verpflichtung habe,

meine Mutter und

Schwester zu hindern, daß sie meinem Beispiele nachfolgen.

Vertrauet mir, das Unglück hat mich binnen wenigen Tagen zum Manne reifen lassen; keine der beiden Frauen soll euch berühren, und ihre Liebe soll sich beugen vor meinem Willen, müßte ich

auch zu Gewalt und Härte

meine Zuflucht nehmen."

„Ich danke dir, mein Kind," seufzte mein Vater. „Wo­ hin aber führst du mich und wie willst du deine Mutter und Schwester von mir entfernt halten?" „Darüber denke ich bereits lange nach; doch meine ich jetzt ein Mittel gefunden zu haben. Ungefähr zehn Schritte

von der Höhle ist eine andere kleinere, erinnert ihr euch nicht mehr, da, wo wir einst eine uns unbekannte Pflanze fanden?"

„Das Aconitum der Lateiner mit seinem blutrothen Blatt?" „Ja, dort!

In dieser Höhle müßt ihr bleiben; ich werde dafür sorgen, daß meine Mutter und Schwester die Höhle nicht verlassen. Bei Tage will ich ihnen erlauben, euch bis auf eine geringe Entfernung zu nahen, so daß

ihr einander ohne Gefahr sehen und trösten könnt. Dann wollen wir wieder froh werden und rüstig unsere Wissen­ schaft zu Rathe ziehen. Habt nur guten Muth, ihr werdet eure Gesundheit wieder erlangen." „O mein Sohn!" rief mein Vater verwundert aus. „Deine Liebe zu mir hat dir Weisheit verliehen! Thue,

wie du gesagt hast. Ich verlasse mich auf deine Vorsicht." Unter solchen Gesprächen kamen wir bis zu der Höhle, welche ich zum Aufenthalte meines Vaters bestimmt hatte. Ich bereitete in ihr ein Bett aus dünnen Zweigen und

Blättern und ließ ihn sich niederlegen,

um auszuruhen,

6

122 dann ging

ich

zu dem Eingang der andern Höhle und

rief zwischen den zusammengerollten Steinen durch: „Mutter! Schwester! Seid ihr bet?" „Ach, Walter!" riefen zwei Stimmen. „Meine Unternehmung ist gegluckt!" fuhr ich fort. „Unser Vater ist erlöst,

bevor es Tag

men,

ist.

doch er kann nicht hierhin kom­

Ich gehe zu ihm zurück.

Be­

ruhigt euch nun, bis ich ihn zu euch bringe."

Einige Töne ihrer Stimmen sagten mir, mit welcher Freude sie diese Nachricht empfangen hatten. Ich wieder­

holte ihnen meine Bitte noch einmal

und kehrte dann in

die andere Höhle ztl meinem Vater zurück. Während des

Nestes der Nacht berieth ich mich mit ihm über die Mittel, welche wir zu seiner Herstellung anznwenden hatten.

Anfangs gab er nicht acht auf meine Vorschläge, so sehr hatte er alle Hoffnung aufgegeben; endlich konnte er doch meinen Bitten nicht widerstehen und sprach zu meiner größten Freude: „Walter, mein arabischer Lehrer schenkte mir beim Abschiede eine kleine silberne Kapsel und sagte mir, daß sie ein wenig Salbe enthalte, welche unfehlbar die Pest heile

und selbst den nahenden Tod besiege. Nur für Einen Menschen genügt der Inhalt, mehr enthält sie nicht." „Wo ist diese kostbare, diese glückbringende Kapsel?" rief ich zitternd vor Freude. „Hast du nicht bemerkt," fuhr mein Vater fort, „daß in unserm Keller an der einen Mauer viele Kreuze in den

Stein

gehauen sind, deren eins

die

andern an Größe

übertrifft?"

„Gewiß, und ich fragte euch oft, was das bedeute, ihr wolltet es mir nie sagen."

„Wohlan denn;

unter dem größten Kreuze ist eine

Höhlung in der Mauer; mittelst weniger Hammerschläge

123 samt matt die Steine heranshvlen; in dein Lache, welches sie schließen, befindet sich ein Klumpen Judenpech, in wel­

chem die silberne Kapsel steckt." „Ich gehe! ich gehe!" rief ich

in höchster Freude.

„O, ich bringe eure Gesundheit mit mir zurück."

Und ich

war im Begriffe fortzustürzen,

doch

mein

Vater hielt mich zurück und bedeutete mir, daß ich meine Reise bis zur folgenden Nacht aussetzen müsse, da schon

ein leichter Schimmer sich im Osten zeigte und ich unmög­ Ich sah ein, daß es mir jetzt weniger als je erlaubt war, der lich vor Sonnenaufgang in Lüttich sein konnte.

Gefahr zu trotzen, festgenommen oder gar getödtct zu wer­ den; hing doch das Leben meines Vaters ab von meiner Ungeduldig unterwarf ich mich der Nothwendigkeit. Erhaltung und meiner Freiheit!

Einige Zeit vor Sonnenanfgang führte ich

meinen

Vater zu einer Vertiefung, in welcher sich durch den Regen

etwas Wasser gesammelt hatte;

da wusch ich selbst ihm den ganzen Leib mit Leinwandlappen, die ich von meinem Unterkleide abriß. Trotz der großen Kälte erleichterte diese Abwaschung seine Schmerzen auf wunderbare Weise.

Je mehr die Sonne dem Horizonte sich näherte, um so deut­ licher sah ich sein Angesicht: cs hatte ein gräßliches Aus­

sehen! Ganz zerrissen war es von fressenden Wunden, voll abscheulicher blauer und kupferfarbener Flecken; die Augen lagen tief, die Wangen waren hohl und der Mund krampf­ haft verzogen. Ich weinte laut auf, als ich es sah. Mein

Vater sprach mir lange von meiner Mutter und Schwester, ehe ich einige Ruhe wiedergewann. So oft aber mein Auge auf sein Gesicht stet, überlief mich ein neuer kalter

Schauer. Kaum zeigte sich die Sonne ant Himmel, als ich ihn in eine kleine Entfernung

von der großen Höhle führte

124 lind ihn da niedersitzen ließ; dann rollte ich

die Steine

vor dem Eingänge weg und sprach: „Mutter, und du, Maria, horchet wohl auf das, was ich euch sagen werde. Unser Vater ist nicht weit von hier,

und ich komme, euch zu holen, damit ihr ihn sehet; berührt ihn aber nicht, kommt ihm nicht näher, als auf zehn Fuß, sonst kehrt er in's Pesthaus zurück und ich selbst führe ihn

dahin, ohne daß eure Bitten, und wenn ihr Blut dabei weintet, ihn oder niich davon zurückhalten könnten. Das­ selbe trifft euch, wenn

ihr mich berühret, denn auch ich

bin angesteckt." Die beiden Frauen zitterten bei diesen harten Worten an allen Gliedern; statt der Freude, die sie erwartet hatten, preßte nun der Schmerz Thränen aus ihren Augen.

„Ihn nicht anrühren,

nicht umarmen?"

rief meine

Schwester verzwciflungsvoll. Mit so sanfter Stimme, wie möglich, sprach ich: „Maria, sage mir, wünschst du den Tod deiner Mut­ ter? Du zitterst bei dem Gedanken, nicht wahr? Siehe aber, wenn du nicht pünktlich thust, was ich sage,

dann

wird es unserer Mutter gehen wie dir, sie wird angestcckt und muß sterben. — Und du, Mutter, willst du den Tod deines Kindes?" „Ich verstehe dich, Walter," seufzte meine Mutter; „fürchte dich aber nicht; wir werden gehorchen, wie Skla­ ven des unerbittlichsten Unglücks." Beruhigt durch dies Versprechen, führte ich die beiden Frauen zu der Stelle, wo nicht Vater faß.

Ein Schrei

entfloh ihrer Brust und Beide sanken ohnmächtig hin. Ich hatte dies wohl vorausgesehcn, doch wie wäre es möglich gewesen, es zu hindern. Da lagen die beiden Theuern nun wie entseelt vor mir ausgestreckt und ich durfte sie

nicht berühren, nicht ihnen helfen. In stummem Schmerze

125 zerraufte mein Vater sich das Haar; ich stand da, wie

ein Sinnloser, der sich willig und regungslos unter die Schläge des Schicksals beugt. Meine Schwester kam zuerst zu sich, hob das Haupt

ihrer Mutter von der Erde empor, rieb ihr das Gesicht und drückte ihre Hände, bis endlich Beide unter strömen­

den Thränen mit meinem Vater zu sprechen begannen. Auch mir kehrte die Besinnung zurück; ich sah ein, welche Gefahr uns drohte, wenn uns Jemand entdeckte. Darum ließ

ich die Frauen mit meinem Vater int Ge­

spräche und erstieg eine nahe Höhe, um von dort ans die Umgegend zu bespähen.

Eine Stunde lang stand ich da, ohne das Geringste

dann sah ich von Weitem zwei Männer hinter einem Hügel hcrvorkommen und auf den Weg ein­

zu bemerken;

lenken, der nach unserm Versteck führte. Bald erkannte ich, daß es keine Feinde waren, denn sie trugen keine

Waffen und ihre Kleidung schien mir äußerst nachlässig. Deß ungeachtet stieg ich schnell die Höhe hinab und brachte zuerst meinen Vater in seine, und dann auch die Frauen in ihre Höhle zurück. Dann wälzte ich die Steine vor den Eingang, entfernte mich nach einer andern Seite und

ging des Weges, den die beiden Männer nahmen, oft mich als ob ich Kräuter und Wurzeln ge­ sucht hätte. Ich bemerkte, daß die beiden Männer sehr eifrig zuschritten und als ob sie Verfolgung fürchteten, häufig den Kopf umwandten. Sobald sie mich erblickten, zur Erde bückend,

hielten sie au und schienen unter einander zu berathschlagen, was sie machen sollten, denn auch vor mir waren sie wohl bange. Doch kamen sie einen Augenblick später auf mich und da erst sah ich, daß es zwei Leprosen waren. Sie betrachteten mich sehr mißtrauisch, und einer von ihnen fragte: zu,

126 „Jüngling, habt ihr keine Kriegsknechte oder Todtschlägcr in der Gegend gesehen?"

„Nein," erwiederte ich. „Warum sollten diese hierhin kommen?"

„Kommt ihr denn heute nicht aus der Stadt?" „Nein, ich wohne in einem nahe gelegenen Dorfe."

„Sind auch in eurem Dorfe Leprosen?" „Ja, einige."

„Dann eilet schnell und rathet ihnen, aus dem Bisthume zu fliehen, denn die Pastoralen wollen sich noch heute in der Gegend verbreiten, um alle Leprosen zu er­ morden." „Und wenn sie sich denn in Keller und Höhlen ver­ bärgen?"

„Das würde ihnen wenig helfen?

Sind nicht alle

Höhlen und Keller zu finden und weiß nicht Jeder, daß

sie der gewöhnliche Zufluchtsort von solchen sind, die sich recht sicher verbergen wollen? Hättet ihr ein wenig Geld, Jüngling, ihr thätet ein Werk der Barmherzigkeit, so ihr cs zwei unglücklichen Leprosen gäbet!" Ich kannte die neue Gefahr, welche uns

bedrohte,

noch nicht genug, darum erwiederte ich: „Ich habe zwei Goldstücke und will sie euch gerne schenken, wenn ihr mir sagt, was die Leprosen meines

Dorfes zu fürchten haben und was diese neue Verfolgung für Ursachen hat."

Der, welcher noch nicht gesprochen hatte, antwortete: „O, das ist leicht gesagt. In dieser Nacht sind die Leprosen aus dem großen Pcsthause ausgcbrochcn, und hundert achtzig an der Zahl geflüchtet. Die Pastoralen und die Todtschläger verfolgen sie in die Felder, und wo sie welche finden, ermorden sie dieselben ohne Barmherzig­ keit. So stehen die Sachen, Jüngling."

127 Ich gab ihnen die zwei Goldstücke, und sie verschwanden im Walde. Nasch kehrte ich nun zu meinem Vater zurück und theilte ihm das Gehörte mit. Da wir es nicht wagen durf­ ten, unser Asyl während des Tages zn verlassen, nm eine weitere Reise zu unternehmen, da wir um so weniger daran denken durften, als unsere Gesichter den unverkennbaren Stempel unserer jüdischen Abstammung trugen, so hieß ich die beiden Frauen sich in der großen Höhle verbergen und kroch dann mit meinem Vater in die kleinere. Den ganzen Tag verbrachten wir in der größten Stille und in Furcht vor der Ankunft der mordlnstigen Pastoralen, doch hörten und sahen wir keine Seele. Nachmittags fing es an in großen Flocken zu schneien, und dies dauerte bis tief in die Nacht; vielleicht hielt dieses schlechte Wetter die Pastoralen ab, ihre Nachforschungen bis in die einsame Berggegend auszudchncn. Als endlich sich dichte Finsterniß über die Felder ge­ lagert hatte, krochen wir aus der Höhle, und ich ging zn dem andern Versteck, um meine Mutter und Schwester zu holen. Die armen Frauen! Sie waren gänzlich niederge­ schlagen, verweint, schwach und wie gelähmt an Körper und Geist; mit Mühe nur konnte ich ihrem Munde ein Wort entlocken, und dann war noch der Ton, in welchem es gesprochen wurde, so hoffnungslos, so erschütternd, daß es mir wie ein Messer durch das Herz schnitt. Wohin sollten wir unsern Fuß wenden? Für's Erste war cs dringend nöthig, uns so weit, wie möglich, von Lüttich zu entfernen. In andern Städten des Bisthums waren die Gesetze gegen die Leprosen nicht so strenge, weil die Seuche dort weniger wüthete; wenn wir die Maas

abwärts und bis unterhalb Maestricht kommen konnten, dann waren wir gerettet, denn dort kannte man die Lcproshcit kaum und Pastoralen gab cs da nicht. Wir beschlossen

128 alsv, zu trachten, daß wir Maestricht in den Rücken bckänien und noch in dieser Nacht so weit zu gehen, als unsere Füße uns tragen könnten. Meine Mutter und Schwester sprachen kein Wort; sie folgten uns gleich Schatten durch den Schnee. So schritten wir unaufhörlich weiter, ohne auf etwas Anderes zu stoßen, als auf Wölfe, die aber flohen, als sie uns in so großer Anzahl sahen. Nachdem wir etwa zwei Stunden zurückgelegt hatten, antwortete mein Vater fast gar nicht mehr auf meine Fragen; ich fühlte, daß die Ermüdung ihn überwältigen werde, denn er ruhte immer schwerer und schwerer auf meiner Schulter. Wie gut ich auch musste, daß diese allzustarke Bewegung seine Wunden entzündete, und daß er schrecklich dadurch litt, so durfte ich doch nicht davon sprechen, unsere Reise zu hemmen. Wir waren in einer uns nur oberflächlich bekannten Gegend, und würden in der Finsterniß unmög­ lich einen sichern Zufluchtsort haben finden können. Darum unterstützte ich meinen Vater so, daß ich mehr als die Hälfte seines Körpers trug, und ermuthigte die schweig­ samen Frauen durch Worte der Liebe und Hoffnung. Noch einige Zeit schritten wir zwischen hohen Hügeln fort in einer wüsten und wilden Gegend, als plötzlich mei­ nes Vaters Glieder in Folge einer plötzlichen Nervenläh­ mung schlaff und bleischwer auf mir lasteten; ich wollte weiter, doch seine Beine schleiften über den Schnee. Ein fürchterlicher Schrei entfuhr meinem Munde, — ich ließ den kraftlosen Leib meines Vaters auf den Schnee nieder­ sinken. Meine Mutter und Schwester stürzten auf die Kniee hin; nahen durften sie uns nicht; kaum entrang sich dann und wann ein dumpfer Seufzer ihrer Brust; sie waren wie versteinert durch ihr unermeßliches Weh. Mein Vater war der Sprache nicht ganz beraubt; denn während ich

129 bitter weinend seine Stirne mit Schnee rieb, seufzte er mit

matter Stimme: „Walter, meine Stunde ist gekommen, Kind! Eine Wunde hat den Weg zu meinem Rückenmark gefunden, der Tod ist mir nicht fern, — ich gehe zu Gott! Nun höre mich wohl: Hole die silberne Salbenkapsel, sobald du Gc-

legenhcit dazu findest.

Wirst du nicht angesteckt, dann be­

wahre das köstliche Mittel wohl — im andern Falle laß

es zu deiner Rettung dienen .... Du wirst mir als ein liebevoller Sohn die Augen zudrücken — hat tneiite Seele

dann ihre abscheuliche Wohnung verlassen, dann gräbst du mir mit deinem Beile eilt Grab, nicht wahr?" Ein herzzerreißender Jammerschrei war meine einzige Antwort; wie gänzlich der Sinne beraubt, schleifte ich meinen Vater über den Schnee und bis zu einer Anhöhe; da rief

ich ihm und den Frauen zu:

„Nein, der Tod soll

sich heute nicht zwischen uns

stellen! Ich gehe .... die silberne Kapsel .... Lüttich

. . . . Geduld, ich komme.... betet, betet!" Und pfeilschnell eilte ich dahin in der Richtung von

Lüttich. Es war wenig später, als Mitternachts ich lief, lief stets, bis das Herz mir so ungestüm in der Brust schlug,

daß ich meinte, es müsse mir zerspringen.

Dann erst

mäßigte ich meinen Gang, ohne aber darum einen gewöhn­ lichen Schritt anzunehmen. Als ich zu Lüttich ankam, fand ich das Thor offen; eine große Zahl Bewaffneter ging aus

und ein. Aus ihren Worten erkannte ich alsbald, daß es

Pastoralen waren; doch die Wichtigkeit meiner Sendung ließ mich kühn zwischen ihnen durch und in die Stadt dringen. An unserm Hause angekommen, fand ich die Hausthüre auf der Straße liegen, alle Fensterscheiben zertrümmert und den

Eingang durch zerbrochenen Hausrath versperrt. Die War-

130 nung des Unbekannten

hatte sich also

bestätigt: — man

hatte Alles geplündert.

So schnell wie möglich kroch ich in den Keller, schlug mit einem schweren Steine auf das größte Kreuz und öffnete die Mauer.

In freudiger Hast ergriff ich den Klumpeu Judenpcch, machte mich schnell auf den Rückweg und kam bald mit meinem köstlichen Schatze in das Feld.

Ich lief so sehr,

das; mir der Schweiß in Strömen von der Stirne rann;

wie viel Kraft und Muth gab mir die Freude, welche ich

im Herzen fühlte! Hielt ich nicht das Leben meines Vaters in der Hand? O bald sollte ich die Stelle erreichen, wo ich ihn verlassen hatte, bald ihm sagen: „Hier ist eure Ge­ sundheit! Lebet lange noch mit uns! Die Seuche ist besiegt!

— Umarmt nun auch meine Mutter und Schwester!" In diesem seligen Gedanken drückte ich den Klumpen an den Mund und küßte ihn mit tiefer Innigkeit.

So nahte

ich der Stelle, wo mein Vater lag, und schon war ich auf

dem Punkte, ihm aus der Ferne die frohe Nachricht ent­ gegenzujauchzen .... Da sah ich vor mir im Schnee auf dem Wege drei Wölfe beschäftigt, eine Bente zu zerreißen. Ich konnte

nicht vorbei, ich mußte an den Wölfen vorüber, denn ich befand mich in einem engen Passe zwischen zwei Bergen. Auch wollte ich nicht zurückkehren und einen andern Weg wählen, da dies mich mehr als eine halbe Stunde aufge­ halten hätte. Während ich noch so sinnend da stand und dachte, was ich zu thun habe, sah ich von ferne, wie die Thiere ganze Stücke Fleisch von ihrer Bente rissen und sie über den blutgefärbten Schnee schleppten. Da fiel mir ein, daß die Wölfe vor dem Klange des Eisens erschrecken; ich zog mein Handbeil unterm Kleide

hervor, schlug mit dem Jagdmesser darauf und machte möglichst viel Lärm; — die Wölfe sahen ans und liefen

131 durch das Gestrüpp davon. Hocherfreut über den schnellen Sieg, eilte ich weiter, und wollte schon ohne einzuhalten an

der Beute der Wölfe vorbei, als das grell auf dem weißen Schnee glänzende Blut mich zwang, einen Blick auf beit Boden zu werfen .... Eine Leiche lag da ... . und ich, o Gott und Herr!

ich erkannte die Leiche und stürzte unter

einem fürchterlichen Schrei, des Gefühls und Lebens fast beraubt, dahin in das Blut meines Vaters! ....

Von jetzt ab erzähle ich nicht mehr, was ich sah und selbst erfuhr; was ich weiter schreibe, wurde mir viele Jahre später durch meine Schwester mitgetheilt. Während ich auf dem Wege nach Lüttich war, hörten meine Mutter und Schwester, wie mein Vater den letzten

Seufzer aushauchte; sie nahten ihm mit unbeschreiblicher Augst und fanden in der That, daß sein Geist zu Gott

gegangen war. Ganz vernichtet gingen sie wieder auf einige Entfernung zurück und beteten heiß für den Hingeschiedenen; überwältigt von ihren Gefühlen und ermattet von dem

langen Wege, sanken sie endlich in einen schlummerähnlichen Zustand. Nach einer Weile hörten sie plötzlich in der Nähe eilt fürchterliches Geheul von wilden Thieren und sahen

gleich darauf, wie drei Wölfe die Leiche meines Vaters den Berg herabzerrten. Meine Mutter stieß einen letzten Angstschrei aus; dieser tödtcude Anblick hatte ihre Lebens­ kraft mit Gewalt gebrochen — sie sank hin und erhob sich nicht wieder von diesem Lcichcubctte. Meine Schwester verlor ihr Bewußtsein und blieb am

Boden liegen,

bis der Tag

anbrach.

Ihr verwildertes

Auge fiel zuerst auf die Mutter; sie hob ihre eiskalte Hand

auf und ließ sie erschrocken wieder fallen. — Ein Schrei entfuhr ihr, als sie mich am Fuße des Berges uiedergekaucrt sitzen sah; sie stürzte auf mich zu und warf sich an meine Brust. Ich criviedcrte ihren Kuß und wollte sie von

132 mir abwehren, doch sie hielt nach krampfhaft umschlungen,

gleich dem Schiffbrüchigen, der einen Rettungsbalken fest

umklammert. Endlich ließ sie mich los und sprach: „Walter, laß uns zu den Nächstwohnenden gehen, damit unsere Eltern in geweihter Erde begraben werden.

Komm', ich sehe dort einen Kirchthurm, komm'!" Ich aber lachte, gleich einem Narren, und hupfte im

Kreise herum mit Zeichen der äußersten Freude: „Haha!" rief ich, „Vater ist genesen! Ich habe ihm die Kapsel gebracht, er hat sich bestrichen .... Sieh' da,

da liegt er .... Nicht wahr, er ist genesen? .... Wölfe.... schwarz Blut! .... Wie schön ist die Sonne!"

Und ich spielte lachend wie ein Kind mit dem Klumpen Judenpech. Meine arme Schwester schlug ihren Arm um meinen Hals, zwang mich, niederzusitzen, stellte sich neben mich und

seufzte: „Armer Walter, sei still!.... sind verwirrt! Bete zu Gott, so du auch bald hier sterben .... Der vier in seinem Schooße vereinigen

sei ruhig! Deine Sinne kannst.... wir werden Himmel wird uns alle . . . ."

Ich murmelte einige unverständliche Worte und blieb

dann schweigend sitzen. Wir befanden uns in einiger Entfernung von der Leiche unseres Vaters; auf dem Hügel, auf dessen Fuß wir saßen, lag die unserer Mutter; nicht weit von uns ab lief die Landstraße gen Aachen hin; meine Schwester hatte eben auf ihr einen Reiter in vollem Trabe vorbeieilen sehen. Endlich war die Reihe unserer Leiden erfüllt. Morgens

hielten vor uns etwa zehn Ritter zu Pferde; Alle schauten uns mit tiefem Mitleid an. Sicherlich hatten sic »ns von der Straße aus auf dem Schnee sitzen sehen und sich, durch

Neugierde getrieben, uns genähert.

133

„Walter, mein Pathe, bist du cs?" fragte einer der Ritter, bont Pferde springend.

Seine Stimme ergriff mich gewaltig; ich lief mit dem Klumpen Judenpech zu ihm und rief ihm lachend zu:

„Haha! Vater! Hier ist die silberne Kapsel !.... Da, bestreicht eure Wunden .... schnell .... ehe die Wölfe

kommen! . . . ." Graf Walter von Craenhove, denn der war der Ritter, schloß mich unter Thränen in seine Arme. Mein Wahnsinn

und noch mehr das gräßliche Schauspiel, welches er vor sich sah, machten ihn schauern vor Weh und Betrübniß.

Da ich in meiner Sinnlosigkeit ihn für meinen Vater

hielt und stets darauf drang, daß er das Judenpech nehme, so konnte er durch mich nichts Näheres erfahren; meine Schwester erzählte ihm die Jammergeschichte. All'die Ritter

stiegen nieder von ihren Pferden und gaben uns rührende Beweise ihres Mitleids, doch Graf Walter von Craenhove ließ ihnen nicht lange Zeit dazu. Er rief seine zurückge­

bliebenen Diener, ließ jeden von uns ein Pferd besteigen, welches von einem der Diener am Zaume geführt wurde,

und gab dann Befehl, nach dem nächsten Dorfe zu ziehen.

Als er uns da untergebracht hatte, ließ er auch die Leichen unserer Eltern nach dem Dorfe bringen und mit den ge­ wöhnlichen kirchlichen Feierlichkeiten beerdigen. Am folgen­

den Tage sagte er seinen Rcisegenossen Lebewohl und ging

nicht, wie er zuvor gewollt hatte, nach Lüttich, sondern blieb in dem Dorfe bei uns, bis bessere Nahrung und seine freundlichen Worte meine Schwester in etwas gestärkt hatten.

Dann kaufte er einen gemächlichen Wagen und brachte uns nach seinem Schlosse, dem Laternenhofe, welches wir von

da ab nicht mehr verließen.

Da

Schwester

lebten wir nun in Ruhe und Frieden.

Meine

folgte jedem meiner Schritte mit ängstlichem

134 Kummer;

ich war der Gegenstand ihrer stete» Sorgfalt,

sie lebte nur für mich und um mir alles Unangenehme fern zu halten.

Mein Wahnsinn war kein böser; ich lachte

unaufhörlich, und obwohl ich meine Schwester nicht mehr kannte, liebte ich sie doch, den» ich suhlte, wie sehr sic mich liebte. Meine hauptsächliche Beschäftigung bestand darin,

Wölfe zu machen; was mir von Lehm, Wachs, Teig oder Achnlichem in die Hände fiel, das verwandelte sich alsbald in Gestalt eines vierfüßigen, wolfsähnlichcn Thieres; mit­ unter hatte ich deren wohl hundert vor mir sichen,

und dann lachte ich unaufhörlich in übermäßiger Freude. Meine Schwester hatte sich oft bemüht, mich davon abznhalten, doch sobald sie bemerkte, daß sie mich dadurch betrübe, ließ

sie mich wieder gewähren. Graf Walter von Craenhove war mir nicht minder zugethan; er schenkte uns überhaupt Alles, was uns das Leben nur angenehm machen konnte; wenn ich ihn in meinem Wahnsinn Vater nannte, dann gab ich ihm den rechten

Namen; er war uns in der That Vater und Wohlthäter. Nachdem wir also gegen

sieben Monate auf dem

Laternenhofe verbracht hatten, erschien Graf Walter eines

Tages in dem Zimmer, in welchem ich mich mit meiner Ich hatte mich mit Blumen bekränzt, und auf dem Boden vor mir stand wieder eine ganze Reihe Schwester befand.

Wölfe von Lehm. Der Graf nahm einen Lehnstuhl, setzte sich zu meiner Schwester und sprach:

„Maria, dein edclmüthiges und liebevolles Wesen hat cs scheint mir,

in mir die größte Bewunderung erweckt;

daß deine Tugenden gerade ein anderes und innigeres Ge­

fühl für dich in meinem Herzen weckten.

Doch in Gegen­

wart dessen, für den du dich so ganz aufopferst, werde ich nicht int Namen einer irdischen Leidenschaft zu dir reden. — So kannst du nicht ferner leben,

Maria,

ohne Familie,

135 ohne Eltern, durchaus abhängig von deinem Freunde Wal­

ter.

Oft, wenn der Schlaf nicht Lager flieht,

denke ich

über das Loos nach, welches deiner harrt, wenn mich der

Herr nach dem Nathschlusse seines unerforschlichen Willens zu sich rufen sollte. Dein Vater, Maria, hat mich einem gewissen Tode entrissen, seine Freundschaft war mir noch mehr werth, als das Leben, welches er mir wiedergab; — ich erkenne, daß Gott mich zum Troste und Schutze seiner

Kinder erwählte, und gerne möchte ich, daß deines Vaters Seele sich im Himmel der Weise freue, wie ich diese hei­ lige Sendung vollbringe. Dazu habe ich jedoch noch wenig

gethan; ich fühle, daß ich die Macht habe, dich und deinen

sichern. Eine Stimme von oben und ein geheintes Gefühl in meinem Herzen sagten mir, daß ich mein Geschick durch die Bande Bruder für immer vor neuen Leiden zu

des Blutes mit dem eurigen verbinden, daß ich euch eine Familie und eine Stütze im Leben schenken müsse. — Willst du meine Gattin werden, Maria?"

Meine Schwester hatte dem Grafen

hört.

erstaunt zuge­

Statt aller Antwort wies sie ans mich

hin und

seufzte: „Wer soll dann bei dem armen Wahnsinnigen bleiben?" „Du, Maria," sagte der Graf. „Meine Bitte ist nicht

eigennützig. Deine Liebe zu deinem Bruder gerade hat mein Herz in Liebe für dich entzündet. Je mehr du mit deiner Aufopferung fortfährst, um so inniger wird meine Zunei­ gung zu dir werden." Wie sehr der Graf aber auch meiner Schwester zu­ reden mochte, so schien sie doch nicht geneigt, einen andern Namen anzunehmen, als den, welcher sie an mich fesselte. Diese edle und uneigennützige Weigerung machte die Liebe

und Bewunderung des Grafen nur noch mehr rege, und so drang er

da seine Absichten nur die lautersten waren,

136 später noch oft darauf, die Zustimmung meiner Schwester zu erhalten.

Sie aber blieb unerschütterlich. Winter fiel Schnee" in Menge, die

Im folgenden

Wölfe verbreiteten sich wieder aus den Ardennen über das ganze Land. Eines Abends, als meine Schwester mich

allein gelassen hatte, um ein Spielzeug für mich zu suchen, lief ich aus dem Schlosse iu's Feld. Was mit mir vor­ ging, weiß ich nicht; vielleicht hatte ich einen oder mehrere Wölfe gesehen; wenigstens fanden mich die Männer, welche mich auf Befehl meiner weinenden Schwester mit Fackeln

suchten, wie leblos in dem Schnee ausgestrcckt liegen.

Ich

fiel in eine tödtliche Krankheit;

während acht

ganzer Tage lag ich mit brennendem Kopfe sprachlos zu

Bette,. ohne daß der Arzt zu entscheiden wagte, was für mich zu hoffen oder zu fürchten sei. Ich magerte gar sehr ab;

als aber diese Abzehrung

ihren höchsten Grad erreicht hatte, da durchdrang mich ein

neues Leben; allmählich nahm ich mehr und mehr zu, und in gleichem Maße kehrten meine Geisteskräfte und mein Gedächtniß zurück. Drei Monate später war ich völlig hergestellt und im vollen Wiedcrbesitze meiner Sinne. Meine Schwester wurde Gräfin von Craenhove; sie schenkte ihrem Gatten zwei Söhne, Hugo und Arnold, und

eine wunderschöne Tochter, welche den Namen Aleidis in der Taufe erhielt. Einige Jahre später starb sic lächelnden Angesichtes und in frommen Gebeten, wie eine Heilige. Der gute

Graf Walter folgte ihr bald. Beide liegen unter der Ulme begraben; neben ihnen

ihre Söhne Hugo und Arnold. Ich, Walter Abnlfaragus, wurde der Führer

Kinder meines Wohlthäters und meiner Schwester.

der

137 Wenn Gott, dem Ehre und Lob sei in Ewigkeit, mir vergönnte, diese Sendung zu erfüllen, wie ich sollte, dann werde ich mit Freuden das Haupt auf mein Todesbette niederlegen, und meine Seele steigt dann froh auf zu seinem Richterstuhl. Hier endigte die Handschrift.

Zur Vervollständigung der Geschichte von Abulfaragus wollen wir noch einige Worte hinzufügen. Als der Greis das Alter von hundert und zwei Jahren erreicht hatte, hauchte er seine Seele in den Armen von Bernhard und Aleidis aus. Sterben konnte man diesen Tod nicht nennen; kein Schmerz, keine Geistesschwäche! — Bevor er die Augen schloß, segnete er noch die zahlreichen Kinder von Bernhard und Aleidis, welche sein Lager um­ ringten, und sprach mit rührender Stimme zu ihnen: „Kinder, ehret Vater und Mutter, auf daß ihr, gleich eurem Freunde Abulfaragus, lange lebet auf Erden." Dann fügte er leise hinzu: „Lebt wohl, lebt wohl!" — und seine Augen schlossen sich langsam. Seine schöne Seele schwebte zum Himmel!

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Bonn, Druck von Carl Georgi.

3m Verlage tjn Adolph Marcus in Könn sind erschienen:

-ÄusgewähtLe Werke von

Heinrich Conscieuce. I. bis VI. Bändchen

unter Mitwirkung des Verfassers deutsch von

Iah. Mith. Mols.

VII. und VIII. Bändchen deutsch von

P. K- A. Thürlings.

Inhalt:

I.

Bändchen,

in

zwei Theilen:

Abendstunden, zwölf

Novellen. II.

Bändchen: Geschichte des Grafen Hngo von Cracnhove und seines Freundes Abulsaragns.

III. IV. und V. Bändchen: Der Löwe von Flandern.

VI. Bändchen: Lambrecht Hcnsmans. VII. und VIII. Bändchen: Die Qual der Zeit.

Der Preis jedes Theils ist 75 Pfg.