Geschichte des Grafen Hugo von Craenhove und seines Freundes Abulfaragus [Neue Auflage, Reprint 2021] 9783112514108, 9783112514092


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German Pages 75 [146] Year 1890

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Geschichte des Grafen Hugo von Craenhove und seines Freundes Abulfaragus [Neue Auflage, Reprint 2021]
 9783112514108, 9783112514092

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AusgewShlte Werke von

Heinrich Conscience. Unter Mitwirkung der Verfasser»

deutsch von

Ich. Mich. M-lf.

Zweites Bändchen. Geschichte des «rasen Hugo von Craeuhove und

seines Freundes Abulfaragus. Neue Auflage.

Aon«, 1889.

Bei Adolph Marcus.

Geschichte des Grafen

Hugo von Craenhove und seines Freundes

Avulsaragus. Bon

Heinrich Conseience. Deutsch

von

Ich. Wilhelm Wolf. Neue Auflage.

Zton«, 1889. Bei Adolph Marcus.

Graf Hugo von Craenhove.

i. Pie Seid«» Kirte«. Um das Jahr 1360 lag zwischen den Dörfern Wyneghem und Santhoven, drei Stunden von Antwerpen, noch ein wilder, düsterer Wald. Die Eiche, der Wälderkönig des Nordens, streckte ihre stolze Krone gen Himmel, während der getreue Epheu in Liebeskränzen an ihrem rauhen Stamme auf und ab kletterte und die duftenden Blumen­ sträuße des Geisblattes ihren breiten Fuß wie mit gold­ gestickten Schuhen schmückten. Kinder einer Mutter, er­ hoben sich neben ihr die Buche mit den glänzenden Blät­ tern, die silberstammige Birke, die Pappel mit ihrem ewig rauschenden Laube, und die schlanke Weide, die, einem in Liebe trauernden Mädchen gleich, sich mit ihrem Hangenden Laube über die zahlreichen Weiher beugte. Die Waldränder hatten etwas Zaubergleiches. Da warf die Brombeere ihre purpurnen Ranken von Stamm zu Stamm und wob also einen fast undurchdringlichen Vor­ hang, an dessen Grunde Schlüsselblumen und Maßliebchen wie verlorne Perlen glimmerten. Tiefer aber trug Alles einen andern Charakter; da schien der Boden der untrüg­ lichste Zeuge der gewaltigsten Revolutionen zu sein; hier und dort erhoben sich dürre Sanddünen; trügerische Moore und zählende Sümpfe zehrten an den halbsaulett Stämmen

1

2 entwurzelter Weiden; fahl und trüb niederhangendes Moos deckte, statt des frischgrünen Geisblattes, die Bäume, die mit Pilzen und Schwämmen, wie mit Beulen des Aus­ satzes überschnell, einer Gesellschaft todesmüder Greise gli­

chen, welche ihr letztes Stündlein erwarteten.

Nie drang ein Strahl der Mittagssonne durch all' dies bis auf den feuchten Boden; ein ewiges Halbdunkel und schauerliche Stille herrschten dort unumschränkt; nur von Zeit zu Zeit krächzte eine Eule wirre Laub hindurch

ihren Leichenruf oder raschelte ein schneller Fuchs durch

die abgefallenen Blätter und Zweige, die Todtenstille nur unterbrechend, um sie noch schauerlicher zu machen. Neben dem Walde dehnte sich eine unermeßliche Haide und weiter, da, wo der Himmel der Erde zu nahen scheint, war ein undurchdringlicher Vorhang von schwarzen Tannen. An einem Frühlingsmorgen des Jahres 1366, noch ehe die Sonne die dichten Nachtnebel durchbrochen, saßen

zwei Hirten auf der Haide. Der Eine war ein alter Mann von mehr denn sechzig Jahren mit weißem Haar und ge­ krümmtem Rücken. Der Andere war fast noch Kind; nur siebenzehn Jahre glänzten von seinem frischrothen und ein­

nehmenden Gesichte, blaue Augen leuchteten sanft unter der breiten Stirne und feine Haare, deren Farbe ein Gemisch von Gold und Silber schien, rollten in schmeichelnder Un­ ordnung auf seinen Hals.

Beide waren in rauhe Stoffe

gelleidet und beschäftigt, aus dickem Wollentuch Strümpfe zu nähen, während ihre Heerden in einiger Entfernung,

jede allein, die wenigen Blumen und Gräser abrissen, welche die Haide bot. Nach einigen Augenblicken legte der alte Hirte seine Arbeit bei Seite, zog ein Buch aus der Tasche und öffnete dasselbe. Das hatte der Jüngere nicht sobald bemerkt, als die eisernen Nähnadeln seiner Hand entfielen; sein Auge

s glühte vor Neugier, und seipem Gesellen einen Schritt näher tretend, beugte er sich über die offnen Blätter und schaute mit gespannter Aufmerksamkeit auf die Buchstaben hin.

Dann sprach er mit einem tiefen Seufzer: „Du kannst lesen, Albrecht? Hast du aus diesem Buche

gelernt, wie man die Winde lenkt, gut und schlecht Wetter machen und das Vieh bezaubern und entzaubern kann? O, ich gäbe zwanzig der schönsten Jahre meines Lebens

darum, verstände ich die Zeichen wie du." Der alte Hirte lächelte bei dem Ausrufe und erwiederte: „So, Bernhard? Glaubst auch du schon dem, was die alten WeibK von Santhoven sagen? Weil ich lesen kann, schreit man mich als Zauberer aus;

ich habe in

meinem ganzen Leben übrigens kein ander Buch in der

Hand gehabt, als dies eine, und was meinst du wohl, was darin steht?" „Wie kann ich das errathen? Sag' es mir doch nur." „Ei nun, es ist die Passionsgeschichte unseres lieben Herrn und Heilandes. In meiner Jugend wohnte ich näm­

lich bei einem alten Pfarrer; der hat das Buch für mich geschrieben und mich mit. vieler Mühe gelehrt, die Zeichen

zu verstehen, der gute Mann, Gott gnade seiner Seele!

Hintenan in das Buch schrieb er mir auch noch einige kräftige Heilmittel, bei Krankheiten unter den Schafen gar nützlich; in der Kenntniß der Mittel, Bernhard, besteht meine ganze Zauberkunst." Bernhard aber war nicht zufrieden damit.

„O, laß

mich das Buch doch einmal in die Hand nehmen!" bat er

ungeduldig. Der alte Hirte gab es ihm willig; Bernhard warf sich

auf den Boden, legte das Buch offen vor sich auf die Kniee und wandte mit fieberhafter Aufmerksamkeit ein Blatt nach

dem andern.

Es lag etwas Wunderbares in der ganzen

r Haltung des jungen Hirten und vor Allem in der starren Unbeweglichkeit seines Hauptes, von dem zu beiden Seiten die blonden Locken lang herabgesunken hingen. Mit wohl­

wollendem Lächeln blickte der alte Albrecht auf ihn nieder

und fragte dann endlich: „Du möchtest also so gerne zaubern lernen, Bernhard?" Der Andere erhob die glühende Stirne und antwortete: „Zaubern? O nein, nein! Aber ich gäbe zwei Finger meiner rechten Hand gern dem, der mich lesen lehren wollte." „Ich wollte es dir wohl lehren, könnten wir unsere Heerden häufiger zusammen grasen lassen, doch das geschieht kaum zehnmal im Jahre; da möchtest du also schwerlich je

lesen lernen."

Die Worte trafen den jungen Hirten tief; unter einem schweren Seufzer gab er das Buch zurück, nahm feine Nadeln wieder auf und senkte mißmuthig den Kopf, wäh­ rend seinen Augen eine dicke Thräne entrollte.

Eine Zeitlang herrschte ein peinliches Schweigen zwischen

den beiden Hirten; bald aber wandte sich der alte Albrecht mitleidig zu seinem weinenden Genossen und sprach: „Bernhard, dein Verlangen-, lesen zu lernen, ist eine sonderbare Krankheit.

Ich begreife nicht, wie du darum

dich also sehr betrüben kannst; es ist nur ein glücklicher

Zufall, daß ich das verstehe. Warum solltest du dich darüber

nicht trösten und beruhigen können, da die meisten Ritter

und Edelfrauen- und Bauern und Bürger eben so wenig davon wissen, als du? Und könntest du denn auch lesen, woher wolltest du ein Buch bekommen, genug sein wirst, dir eins zu kaufen?"

da du nie reich

Bernhard zuckte verzweifelnd zusammen bei den Worten; seine zarten Glieder spannten sich fast krampfhaft und tiefer Schmerz schaute aus jedem seiner Züge.

„Gewiß, Bernhard," fuhr der alte Albrecht fort, „deine

Wißbegierde ist nicht natürlich. Sie muß eine verborgene

Du bist ein wunderlich Kind. Niemand weiß, woher du gekommen; du kennst weder Vater, noch Ursache haben.

Mutter; du sprichst und handelst ganz anders, als wir. Noch so jung und schon ein so geheimnißdüster Leben; ich

habe Mitleiden mit dir, denn ich sehe es nur allzuwohl, du leidest, du bist unglücklich." Tief trafen die herzlichen Worte den jungen Hirten; er bedurfte einer offnen Aufdeckung feines Innern vor eines Andern Augen. Seinem Gesellen näher tretend, faßte

er ihn bei der Hand und sprach wehmüthig: „Albrecht! Niemand hier kennt mich. Gelobe mir,

zu schweigen, dann sollst du wenigstens wissen, wer ich bin;

dann will ich dir sagen, warum die Wißbegierde mich also erfüllt und warum Schmerzen meine Brust durchwühlen. Ich bin von edlem Stamme, Albrecht; , du wirst es nicht

glauben, aber dennoch ist's wahr; dein Gesell, der Hirte Bernhard darf sich Burggraf von Reedale nennen."

„Du bist von edlem Blute?" rief der alte Hirte be­

stürzt, „und du Burggraf von Reedale? Sprich, ich kann schweigen." Bernhard wischte sich die Thränen aus den Augen und setzte sich nieder auf die Haide, Albrecht folgte ihm, und er begann also: „Ja, sitze nur auch nieder, Albrecht, denn meine Ge­ schichte ist lang und traurig; ich bin noch jung, doch habe ich viel gelitten. Horche:" „Es sind noch kaum zehn Jahre verflossen, da wohnte ich mit meinem Vater und meiner Mutter auf einem adlichen

Schlosse in der Nähe von Grimbergen in Brabant.

Meine

Tage vergingen mir unter den Uebungen, welche einem Knaben von edler Abkunft geziemen. Mein Vater, der ein berühmter Kriegsmann war, lehrte mich das Schwert

6 handhaben und schäumende Rosse bezwingen; obgleich noch sehr jung, gewann ich doch bald in diesem Allem eine große Gewandtheit. Unser Vermögen war nicht groß, und unser Tisch wäre oft gerade nicht geschickt gewesen, Zeugniß zu

geben Dort unserm Stande, hätte nicht unausgesetzte Jagd die Wälder gezwungen, uns Wildpret in Fülle zu liefern.

Um seinem Fürsten, Johann dem Siegreichen von Brabant, mit Ehren zum Kriege gegen die von Flandern folgen zu können, hatte mein Vaterseineinziges Landhaus an Wucherer von Brüssel verpfändet. Der Herzog hatte ihm daher stets

viel Schönes versprochen, doch er hielt Nichts.

Du hast

vielleicht gehört, Albrecht, wie die Fläminge unter Graf

Ludwig van Male im Jahre 1356 Brüssel eroberten und ganz Brabant in Besitz nahmen. Mein Vater war damals einer von denen, die mit Everhart Serclaes einen Anschlag auf Brüssel machten. In einer Nacht drangen sie heimlich in die Stadt und trieben, von dem Volke unterstützt, die

Fläminge aus derselben heraus; siegesfreudig eilte mein Vater aus den Wall und pflanzte seines Herzogs Banner daselbst auf; doch ein Pfeil traf ihn in die Seite und am andern Tage schon war er nicht mehr.

Ich war inzwischen mit meiner Mutter auf dem Schlosse bei Grimbergen; wir hatten von der Eroberung

von Brüssel gehört und freuten uns schon, unsern Vater

bald wieder bei uns zu haben. Getröstet und beruhigt und fest auf bessere Tage rechnend, sprach meine Mutter, Herzog Wenzel werde gewiß nun die wenigen Ritter reich belohnen, denen er seinen Thron verdanke, sie küßte mich inniger, gab mir mehr denn ein Kreuzchen, und Thränen der Hoffnung und Liebe glänzten dabei in ihren Augen;

ganz beruhigt und glücklich schliefen wir ein.

Inmitten der Nacht traf plötzlich ein gellender Schrei mein Ohr, ich erwachte, aber, o Gott, ich sah nichts, als

7 Flammen um mich her, der dicke Rauch benahm mir fast die Stimme; ich hörte meine Mutter um Hülfe rufen, außer­ halb des Schlosses Jauchzen und Waffengetöse. Alles tanzte mir vor den Augen, Besinnung und Leben entstohen mir fast. Da stürzte plötzlich eine schwarze Menschengestalt durch die Flammen und auf mein Bett zu, umllammerte mich mit beiden Armen und flog mit mir durch die Gluth dahin. Besinnungslos ließ ich mich fortschleppen; was mit mir ferner vorgegangen, weiß ich nicht." Ueberwältigt von bittern Erinnerungen, schwieg Bern­ hard eine Weile; Thränen strömten über seine Wangen, aber kein Seufzer begleitete sie. Der alte Hirte wagte erst nicht ein Wort zu sprechen; endlich begann er: „Und deine Mutter denn, Bernhard?" „ Meine Mutter ? Nicht wahr? Meine arme Mutter ?.... O, verbrannt, zu Asche verbrannt; nur ihr verkohltes Ge­ bein hat man noch gefunden!" Ein Schrei des Entsetzens entfloh Albrecht's Brust und seine seit Jahren trocknen Augen näßten sich. Schweigend drückte Bernhard ihm die Hand. So saßen sie lange da. Bernhard unterbrach die Stille zuerst wieder, indem er also fortfuhr: „Die Häuptlinge der aus Brüssel verjagten Fläminge hatten meinen Vater während des Kampfes erkannt und waren nach ihrem Abzüge von der Stadt zuerst unserm Schlosse zugeeilt; sie hatten große Holzhaufen um dasselbe aufgethürmt und dieselben angezündet. Nun war ich eine arme Waise, von Allem enblößt, zu jung noch, um als Krieger dienen zu können; die väterliche Burg war ein Trümmerhaufen, — aber wäre sie das auch nicht gewesen, wozu hätte sie mir dienen können, da sie ganz und gar den Wucherern gehörte? Was blieb mir sonder Erbtheil, ohne Aeltern, ohne Verwandte? Ich sah nur einen Ausweg vor

mir; ich konnte als Knappe irgendwo ein Unterkommen

finden und also wenigstens zu einer Stellung kommen, die zu meinem Alter und meinem Adel paßte. Für's Erste blieb ich in einem benachbarten Bauern­ hause, und zwar bei dem edelmüthigen Manne, der mich mit Lebensgefahr aus den Flammen gerettet hatte. Etwa

zehn Tage nachher kam ein Ritter, der als Pilgrim zur Kirche unserer lieben Frau von Halle gewallfahrtet war, an den Ruinen unseres Schlosses vorbei. Er hatte herz­ liches

Mitleid mit unserm Unglück,

und um so mehr

schmerzte es ihn, da er ein guter Freund meines Vaters

Der Bauer führte mich zu ihm; meine rothgeweinten Augen, meine gramdurchfurchten Züge trafen ihn gewesen.

tief;

er nahm mich als Knappe an und versprach dem

guten Bauer, mich lebenslang als seinen eigenen Sohn halten zu wollen.

Ich folgte ihm.

Das Benehmen des Ritters war mir unerklärlich: am

ersten Tage sprach er während ganzer zehn Stunden kein

Wort, ließ den Zaum seines Pferdes gleichgültig hängen

und wankte stets mit dem Haupte nach vorn, gleich einem Schlaftrunkenen. Sein Auge, welches nur höchst selten sich einmal mir zuwandte, lag halb unter dickbuschigen Augen­

brauen verborgen und schien mir wie leblos, angehauchtem Glase gleich.

Kein Wunder denn, daß

sich Angst und

Furcht in mein Herz senkte, daß ich mehr als einmal von schrecklichen Dingen träumte; dann aber war die Sprache

des Ritters, die ich auch selten nur hörte, wieder so sanft

und traurig, daß zuletzt das Mitleid über die Angst in mir siegte. Nach einer Reise von zwei Tagen sahen wir in der Ferne die Stadt Antwerpen, und standen eine Stunde später an der Brücke eines großen und prächtigen Schlosses, welches mit vier großen Thürmen und starken Festungs-

9 werken umgeben war.

Kaum hatte der Thorwächter uni

bemerkt, als er sein Horn ertönen ließ; das Fallgatter hob sich, die Brücke sank und das Thor kreischte in seinen Angeln. Eine große Anzahl von Dienern und Waffen­

knechten, Alle ebenso schweigsam und fast noch geheimniß­ voller, als mein Wohlthäter, empfingen ihn mit großer Ehrerbietung, und ich erkannte bald, daß wir in seiner Wohnung standen.

Nachdem ich mich etwas erholt und gestärkt hatte, befahl Graf Arnold von Craenhove (so hieß mein edelmüthiger Beschirmer) einem alten Diener, alsbald zwei Pferde zu satteln und mit mir nach Antwerpen zu ziehen, um dort mich in seine Farben kleiden zu lassen. Wir blieben

fünf Tage in der Stadt; dann bekam ich meine neuen Kleider. O, wie war ich so schön darin, Albrecht! Die rechte Hälfte meines Anzuges war von himmelblauer Seide, die linke rosenroth; auf meinem Kopfe wogte eine rosen­ farbene Feder über einem braunsammtnen Käppchen; um

meinen Hals wand sich eine silberne Kette, an der auf der Brust ein kleines silbernes Jagdhorn hing. O, ich war so

schön, und so froh, daß man mich mit Gewalt von einem großen Stahlspiegel wegziehen, daß man mir drohen mußte, das schöne Jagdhorn mir zu nehmen, wenn ich nicht auf­ höre zu blasen. Am sechsten Tage endlich kehrten wir nach dem Laternenhofe zurück. Sogleich nach unserer Ankunft wurde ich vor Graf Arnold geführt; er schien sehr zufrieden über den Anzug

und nicht weniger über meine stolze Haltung; doch — und dies hatte ich schon unterwegs bemerkt — seine Stimme wurde bald wieder dumpf und hohl, sein Lächeln gezwungen und peinlich, und als ich dankbar seine magere Hand mit Küssen bedeckte, ließ er mich gewähren und blieb kalt bei allen Beweisen meiner Liebe. Nach einigen Augenblicken *

10 tiefsten Schweigens erhob er sich aus seinem Sessel, nahm

mich, ohne ein Wort zu sprechen, bei der Hand und führte mich durch mehrere Säle in ein schönes Zimmer, in welchem ein Mädchen meines Alters am Fenster saß und verdrieß­

lichen Blickes auf die Umgegend schaute. Sobald wir einander

in die Augen sahen, schwebte ein gleiches Lächeln auf unsern Lippen, strahlte gleiche Freude aus all' unsern Zügen. Graf

Arnold sprach inzwischen mit seiner hohlen Stimme: „Aleidis, meine Schwester, ich bringe dir einen Spiel­ genossen, einen Bruder. Nun wirst du wohl nicht mehr traurig sein, nicht wahr? Seid denn recht vergnügt zu­ sammen . . . ." Und mit den Worten ließ er mich stehen und ent­

fernte sich. Beschämt und ohne einen Schritt zu wagen, schlug ich meine Augen zu Boden; doch das Mädchen kam

ungeduldig auf mich zugelaufen, faßte meine Hand, zog mich mit sich an's Fenster und fragte freundlich :

„Wie heißest du und von wo kommst du? Bleibst du

immer hier? Und kannst du schön auf dem Hörne blasen?" Ach antwortete auf alle Fragen, so gut ich konnte, obgleich sie mir kaum Zeit ließ, zu sprechen; denn schnell zog sie einen Stuhl vor den ihren und sprach, wie halb

gebietend: „Da setze dich hin vor mich." Und als ich nun da saß, da beschaute sie mit großer Neugier jeden meiner Züge und jedes Stück meiner Klei­ dung.

Nachdem die Untersuchung eine Zeitlang gedauert,

sprach sie, eine meiner Locken um ihren Finger rollend: „Wie hast du so schöne, feine Haare, Bernhard; sie

sind gleich Silberfäden." Ich, der schüchtern mein Auge an ihr geweidet hatte, ich entgegnete: „Nicht so schön wie deine blonden Haare,

Aleidis;

11 sie sind gleich dem Golde, welches in dein Mieder gewoben

t$."

Sie lächelte freundlich und sprach: „Und welch' schöne blaue Augen hast du, Bernhard;

sie schauen so freundlich wie der Himmel."

„Nicht so schön wie deine blauen Augen, Aleidis, die sind schöner, als die glänzende Seide meines Kleides."

„Und welch schöne Lippen und Wangen hast du, Bern­ hard; sie sind rosiger, als die Feder auf deinem Haupte."

„O nicht so schön wie die deinen, Aleidis, die sind gleich der Koralle an deinem Halse." Dies Zwiegespräch schien Aleidis zu gefallen; Plötzlich aber sprang sie von ihrem Stuhle, riß mich von dem meinen und sprach: „Bernhard, du wirst stets bei mir bleiben, nicht wahr?

Du darfst nicht wieder von hinnen gehen, hörst du, denn dann wäre ich wieder so einsam und trübe, so verlassen. Du wirst mein Bruder sein, und wir wollen immer, immer zusammen spielen, nicht wahr?"

Dies Letzte setzten wir sogleich ins Werk, wir liefen umher, hüpften und sprangen, bis die Ermüdung uns zur Ruhe nöthigte; dann blies ich auf meinem silbernen Jagd­ horn, oder ich erzählte Aleidis, welch' schreckliches Mißgeschick

unser Haus betroffen, ich zwang sie zum Weinen, dann und wann wieder zum Lachen, kurz, wir wurden so vertraut mit einander, daß sie Mittags nicht eher essen wollte, bis man mir erlaubte, neben ihr zu sitzen. Abends weinte sie bitterlich,

weil ihr der Tag zu schnell entflohen war und sie sich von ihrem Spielgenossen trennen mußte, um schlafen zu gehen. Was soll ich dir weiter sagen, Albrecht? Jeder Tag

machte Aleidis mir und mich Aleidis theurer; nie fand man uns einzeln; zwei junge Weinranken schlingen sich nicht fester um einander; zwei Lämmer einer Mutter folgen

einander nicht getreuer, als wir es thaten.

Sonder Arg

12 mich meinen Gefühlen überlassend, bemerkte ich nicht, daß

mein Glück schon frühe Neider fand. Du mußt wissen, Albert, daß Graf Arnold beinahe

nie zu sehen war; die Gemächer, welche er auf dem Schlosse bewohnte, blieben stets für uns und für die Diener ge­ schlossen, einen einzigen Mann ausgenommen, der, eben so tiefsinnig und spracharm, als er, sein ganzes Vertrauen zu besitzen schien. Er war ein sonderbares Wesen, dieser Mann,

und noch bebe ich, wenn ich an ihn zurückdenke. Die Natur hatte ihm keine angenehmen Gesichtszüge geschenkt; meine Aengstlichkeit vor ihm wurde noch durch den feierlich bar­ schen Ausdruck seines Gesichtes gehoben und lieh ihm die abschreckendsten Formen. Du weißt, Albrecht, wie matte,

gelbe Augen die Eule hat; so waren die seinen. Du siehest dort meinen Hund, dessen Rückenhaare aufrecht stehen,

gleich den Nadeln der Tanne. So war sein Haar.

Dein

Buch ist in zwei eichene Brettchen geschlossen; so fahl und so schmutzig, wie sie, war stets sein Angesicht. Hast du je einen Fuchs gesehen, der, in einem Stricke gefangen, den Jäger angrinzt und zu beißen droht? So war sein süßestes Lächeln. Seine Hände kann ich nur eines Falken Klauen

vergleichen, so mager und krummgebogen waren seine Finger; sein Name tönte mir wie eine Gotteslästerung: er hieß Abulfaragus. Nie begegnete mir der Mann, der auf

dem Schlosse und in der Umgegend als Sternseher und geheimer Wissenschaften kundig galt, ohne daß sein Blick

mißtrauisch und forschend auf mir geruht hätte. Oft, wenn ich mit Aleidis unter den Bäumen des Hofes herumsprang, sah ich plötzlich sein gelbes Späherauge hinter einem dicken

Stamme hervorlauern; mehr denn einmal kroch er, einem Jagdhunde gleich, unter den Brombeerranken durch, um unseren Gesprächen zu horchen. Dies Alles fachte in mir einen tiefen Haß gegen den Mann an. Ich war es übrigens

13 nicht allein, der vor ihm zitterte; alle Bewohner des Schlosses erbebten vör seiner Stimme, theils weil sie wußten, daß

der stets nnsichtbäre Graf Arnold durch seinen Mund sprach, theils auch, weil man fürchtete, er könne sich durch über­ natürliche Mittel rächen für den lleinsten Ungehorsam, den

man ihm bewies. Nahe bei dem Laternenhof war ein kleines Ulmenge­ büsch, unter dessen schwarzem undurchdringlichem Laube ein Leichmstein mit darauf gegrabenen Schriftzeichen lag. Da verweilte Abulfaragus gewöhnlich, wenn er nicht bei Ar­ nold von Craenhove sein mußte. Niemand wußte, was der Wahrsager dort that, noch warum er jedesmal so lange dort blieb; mit Entsetzen hielt jeder sich dem Grabmale fern, und wir wagten selbst nicht in der Nähe desselben zu spielen. Aleidis wußte wohl, daß der Stein das- Grab ihrer allzu früh gestorbenen Aeltern decke, doch war sie

nie in dem Ulmengebüsche gewesen. Die Diener des Schlosses hatten von dem Astrologen die Weisung erhalten, Aleidis nichts zu verweigern, aus­ genommen höchst wichtige Dinge, und so war Aleidis wirk­

liche Burgherrin, jedenfalls schien sie dies zu sein. Wünschte sie aber etwas, oder wollte sie irgend einen launenhaften Befehl ertheilen, dann war ich stets der Bote, der ihn den Dienern bringen mußte.

Ich gebot als Herr in ihrem

Namen; ohne daß ich die Ursache davon vermuthen konnte,

sah ich bei solchen Gelegenheiten oft nicht geringen Aerger auf dem Gesicht der alten Diener des Hauses glühen, doch in meinem Leichtsinn achtete ich nicht darauf und antwor­

tete mit losem Gelächter, während ich auf meinem silbernen Jagdhorn meinen Neidern ein Spottliedchen als Gruß ent­ gegenblies. Was kümmerte mich auch die Mißgunst einer ganzen Welt, da ein einziger Sprung mich in meinen Himmel zurückführte, in welchem ein liebreicher Engel meiner harrte?

14 Du weißt, Albrecht, dem Unglücklichen ist die Zeit eine

langsam hinsinkende Alte, demjenigen aber, der die Freude

aus vollen Kelchen trinkt, fliegt sie schnellern Fluges als der Auch ich hatte mein dreizehntes Jahr erreicht, ohne einen Tag zu zählen. Währelid dieser Zeit hatte ich von Aleidis und aus zufällig hingeworfenen Worten der Diener Adler.

einen Blick in die Ursachen der sonderbaren Handlungs­

weise und der unbegreiflich düstern Stimmung meines Be­

schützers werfen können. Höre, was ich darüber vernahm Zwei Jahre vor meiner Ankunft auf dem Laternenhofe bewohnte Graf Arnold von Craenhove dasselbe mit seinem

ältern Bruder Hugo. Obwohl der letztere allein den Grafen­ titel führte und nach dem Rechte der Erstgeburt einziger

Eigner des Schlosses und aller andern Güter des Hauses war, lebte er doch in vollster Gleichheit mit seinem Bruder; ja ihre Zuneigung zu einander ging so weit, daß sie, um nie scheiden zu müssen und die Erziehung ihrer jungen Schwester Aleidis zu sichern, einander gelobten, nie zu heirathen oder selbst auch nur nähere Bekanntschaft mit irgend einer Frau zu

machen.

Während der ersten vier Jahre

nach dem Tode ihrer Aeltern blieben sie auch diesem Ge­ lübde treu; dann aber brachen sie dasselbe mit gegenseitiger

Zustimmung und begaben sich fast tagtäglich nach dem

nahegelegenen Schlosse einer wälschen Edelfrau, welche sich Gräfin de Meramprö nennen ließ. Niemand wußte, welche

Mittel sie gebrauchte, jeden, der ihr nahte, zu berauben;

seiner Sinne

viele glaubten, sie bediene sich dazu der

schwarzen Kunst und starker Liebestränke.

Wie dem aber

auch sei, man sagte sich in die Ohren,.daß schon mehr denn

zwölf Ritter ihretwegen gefallen wären, und daß unmöglich zwei Männer ihr nahen könnten, ohne einander nach dem Leben zu trachten. Es scheint, die zwei Brüder von Craen­ hove ließen sich übrigens nicht durch ihre Listen fangen.

15 denn sie blieben einander nach wie vor herzlich zugethan. Dagegen traf sie ein ander Unglück.

Eines Tages

gegen Abend ritt Arnold aus dem

Schlosse und schlug den Weg ein, der nach dem Schlosse

der Gräfin führte. Einige Zeit nachher folgte ihm sein Bruder Hugo, begleitet von Abulfaragus. Lange, sehr lange blieben die Beiden weg, und schon begann der Schlaf die Wächter zu überfallen, als plötzlich ein schrillendes Pfeifen, dem Schrei eines Raubvogels nicht unähnlich, vor

der Fallbrücke ertönte. Die Wachen erkannten die Stimme des Abulfaragus. Sie ließen die Brücke nieder und öff­ neten das Thor. Ohne Jemand nur eines Blickes zu würdigen, ohne ein Wort zu sprechen, eilte der Alte nach dem Theile der Burg, welchen die beiden Brüder bewohn­ ten; ebenes» rasch war er zurück, beladen mit einem schweren

Reisesacke; die Brücke sank und er verschwand in der Finster­ niß. Wie ängstlich und neugierig die Wachen dem Räthsel­

worte der sonderbaren Handlungsweise entgegensahen, kannst du leicht denken. Noch waren sie in Vermuthungen ver­ loren, als von Neuem der Pfiff von Abulfaragus ertönte. Sie öffneten; nun sprach er, und erzählte in kurzen Worten: die beiden Herren von Craenhove wären durch eine große

Anzahl von Räubern überfallen worden und hätten beide das Leben verloren; noch lägen ihre Leichen blutend am

Wege, und er komme, Hülfe zu holen, um dieselben nach dem Schlosse zu bringen. Die verstummten Diener ge­ horchten mit nassen Augen und folgten schluchzend dem

gefühllosen Alten.

Eine Viertelstunde vom Schlosse ab

gelangten sie an einen Kreuzweg, wo sie Arnold in seinem Blute fanden; wie sie aber auch Hugo's Leiche suchen moch­ ten, die war verschwunden; ebensowenig fanden sie den Ort, wo dieselbe in ihrem Blute gelegen haben mußte.

Arnold's Pferd

grasete neben ihm, Hugo's Pferd aber

16 fand man nicht. — Was der Astrolog ntit dem Reisesacke gemacht hatte, wagte keiner zu fragen.

Arnold's Leiche wurde in das Schloß gebracht und auf ein Bett gelegt; gleich darauf hieß Abulfaragus Alles sich zur Ruhe begeben und schloß sich ein mit der Leiche. Am folgenden Tage sagte er, Arnold wäre nicht todt und könne vielleicht wieder genesen; dann ließ er sich sein Mit­ tagsmahl bringen und schloß die Thüre wieder. Auf diese

Weise machte er es gegen vierzehn Tage; da erschien er eines Morgens mit Herrn Arnold auf dem Vorhofe. Der Letzte war bleich und eingefallen, wie Jemand, der von einer langen Krankheit sich erhebt; über seiner Stirne lag

eine tiefe Narbe, die ich auch noch darauf fand.

Das ist Alles, was ich über das Haus Craenhove erfahren konnte.

Aleidis und ich hatten so unser vierzehntes Jahr er­

reicht. Obgleich nicht mehr so wild und spiellustig, waren

wir doch noch eben so unzertrennlich wie früher. Da erschien eines Morgens Abulfaragus in unserm Zimmer, ein Buch unter dem Arme tragend. Er setzte sich in einen Sessel, schlug das Buch auf den Knieen auf, und sprach sanfter denn gewöhnlich zu Aleidis: „Jungfrau, ihr habet nun euer vierzehntes Jahr er­ reicht, und es ist Zeit, daß ihr zu lernen beginnt, was einem Edelfräulein zu wissen geziemt. Bernhard kann euch nichts lehren, denn er ist unwissend."

Zum erstenmal in meinem Leben jagte ein mir unbe­ kanntes Gefühl Helle Gluth auf meine Stirne. Ergrimmt

schaute ich auf den Alten hin, doch der lächelte und fuhr

gleich ruhig fort:

„Euer Bruder, Aleidis, will, daß ihr euer Gedächtniß schmücket mit hübschen, feinen Sprüchen und mit Erzäh­ lungen von den Heldenthaten der Ritter. Die Zeit zu

17 spielen ist dahin; ihr müsset dereinst am Hofe der Herzogin

erscheinen, und was würde man da sagen, wäre Aleidis von Craenhove einer unwissenden Bäuerin gleich!"

Die Jungfrau las auf meinem Gesichte, wie große Betrübniß mir das Herz beklemmte; sie stand auf, ergriff

in zärtlichem Mitleiden meine Hand und sprach zu Abulfaragus: „Ich will nichts lernen! Wie, du wolltest mich von meinem Bruder trennen? Das soll dir aber nicht gelingen!"

„Euer Bruder? Euer Bruder?" brummte Abulfaragus „Wisset ihr denn flicht, daß er euer Diener ist?" Dieser Hohn entpreßte mir einen Schrei der Ent­ rüstung und des Schmerzes: „Unedler!" rief ich dem Wahrsager zu. „Du bist

unverschämt genug, den Burggrafen von Reedale einen Warum nur muß nicht adlich Blut

Diener zu nennen?

durch deinen verächtlichen Leib strömen? Dann würde ich dich lehren, wie man Lästerungen straft. Doch nein, ich werde dich behandeln, wie man Knechte behandeln muß." Blind vor Zorn, und

gereizt durch das spöttelnde

Lächeln, welches auf Abulfaragus' Zügen schwebte, griff

ich eine Weidenruthe und erhob den Arm, um den Alten damit in's Gesicht zn schlagen, doch in demselben Augen­

blicke schoß sein gelbes Auge einen durchdringenden Blick

auf mich, ein kalter Schauder fuhr mir durch die Glieder und die Ruthe entfiel meiner Hand, ohne daß ich mir Rechenschaft hätte geben können, welche geheime Macht mich so plötzlich zum Feiglinge machte. Wie zerschmettert sank ich zurück in einen Lehnstuhl;

Abulfaragus lachte

laut auf, Aleidis weinte unter tiefem Seufzen. Der Astrolog achtete wenig auf unsere Stimmung

und begann in seinem Buche zu lesen. Zuerst waren wir

fest Willens, ihm nicht zuzuhören.

Aleidis entfernte sich

18 und trat an's Fenster, ich wandte dem Vorleser den Rücken. Kaum hatte er aber eine kurze Weile gelesen, als es wie eine geheimnißvolle Kraft uns zu ihm hinzog; langsam

und fast unfreiwillig wandten wir uns ihm zu, und bald horchten wir gespannten Ohres seinen Worten. O welch' schöne Dinge umschloß dies Buch! Wie ergreifend, wie erschütternd wurde die Stimme des häßlichen Abulfaragus! Ich selbst war gezwungen, mich'an seinem Lesen zu freuen; Aleidis hing an seinen Lippen. Nachdem er uns zwei volle Stunden vorgelesen hatte, schloß er das Buch und verließ das Gemach mit den Worten: „Morgen fahren wir fort"

Noch ganz dem Eindruck der schönen Dinge, welche wir vernommen, hingegeben, blieben wir eine geraume Zeit stumm da sitzen, endlich sprachen wir über das Gehörte. Aleidis konnte nicht aufhören vom Ritter Walewein und König Arthur zu sprechen, deren Geschichte uns Abulfaragus vorgelesen hatte. Den ganzen Tag hörte ich nichts, was

unsern frühern Gesprächen glich,

und wieviel Mühe ich

mir auch gab, Aleidis' Aufmerksamkeit auf etwas Anderes zu lenken, es glückte mir nicht.

Oft sprach sie zu mir:

„O warum kannst du nicht lesen, Bernhard! Wie schön wäre das! Deine Stimme ist so süß und so klar, und dann hätten wir den abscheulichen Abulfaragus auch

nicht mehr nöthig." Ich unterdrückte gewaltsam meine Betrübniß, wie sehr groß sie auch war; sehnte sich Aleidis doch so gar sehr nach einem Vergnügen, welches ihr zu gewähren nicht in meiner Macht stand. Des andern Tages

und jeden der folgenden Tage

kam Abulfaragus zur festgesetzten Stunde zum Vorlesen;

nie erschien er früh genug für Aleidis, und stets ging er

zu früh weg. Obwohl sie mir stets dieselbe Liebe bewahrte,

19 so fühlte ich dennoch sehr wohl, daß ich ihr nicht mehr Alles war, und daß Abulfaragus' Vorlesungen ihr Denken und Gefühl nicht wenig in Anspruch nahmen.

Die Wißbegierde, über welche du dich wunderst, ver­ zehrte mich wie ein schleichend Feuer; Tag und Nacht sann ich über Mittel nach, lesen zu lernen.

Oft trachtete ich

über des Alten Schulter in das Buch zu schauen, doch

dann schloß er es zu, bis ich wieder auf meinen Stuhl

sank.

Mehr denn einmal wollte ich mit Gewalt in sein

Zimmer brechen, um mir ein Buch zu holen, doch jedes­ mal stand Abulfaragus lachend hinter mir. Eines Morgens fiel mir ein, daß auf dem Grabsteine in dem Ulmenwäldchen Buchstaben eingehauen seien, meine

Neugierde siegte bald über meine Angst, und bebend drang ich in das Gebüsch. Vertrocknete Blumen deckten den Bo­ den rings um den Stein, auf dessen Schrift ich bewußt­ los und mit brennender Stirn hiiistarrte. Plötzlich drang

ein fernes Geraschel an mein Ohr, ich wandte mich um und sah Abulfaragus, der auf das Grab zuschritt. Voll Angst und halbtodt vor Schrecken, barg ich mich zwischen

dem dichten Laube, hielt den Athem fest an mir und be­ lauschte so meinen Feind.

Abulfaragus nahte dem Steine langsam, zog dann ein Körbchen mit Blumen gefüllt unter dem Koller hervor,

und streute sie auf den Stein; ihr Balsamduft war so stark, daß er zu mir in mein Versteck drang.

Unterdessen

hörte ich, wie Abulfaragus schluchzend betete: „O Herr Jesus, schenke durch dein theures Blut den Seelen meines Wohlthäters und meiner lieben Schwester den ewigen Frieden. Amen." Und dann senkte er das Haupt nieder auf den Stein

und weinte so sehr, daß auch ich mich des Weinens nicht erwehren konnte: meine Augen schmerzten mich, und ich

so wischte mit der Hand eine Thräne ab.

Diese Bewegung

machte Abulfaragus aufmerksam auf mich — ich sah seine

beiden Augen so flammend auf die meinen gerichtet, daß ein Schrei der Angst mir entfuhr. Der Wahrsager faßte mich bei der Hand, riß mich unter dem Laube hervor und sprach mit einer Stimme, die mich tief erbeben machte: „Du hast gesehen und gehört. Verwegener! So du aber zu sprechen wagst, schließt der Tod deinen Mund für immer!" Während ich auf den Knieen um Verzeihung flehte,

entfernte sich Abulfaragus, indem er mir von Weitem noch

einen drohenden Blick zuwarf.

Ich blieb nicht lange an

dem Orte, denn das Ulmenwäldchen war mir schrecklicher

denn je geworden.

Lange irrte ich umher, ehe ich mich ganz erholen konnte und zu Aleidis zurückkehrte. Wie sehr ich mich auch abmühte, mir Abulfaragus' Worte zu

erklären, wie gern ich auch

im Reinen darüber gewesen

wäre, ob die Mutter meiner Aleidis wirklich die Schwester des

abscheulichen Sternsehers gewesen sei, so wagte ich

doch um keinen Preis von meinem Besuche bei der Grab­

stätte zu sprechen und schwieg, einem Stummen

gleich,

über den Vorfall. Täglich kam Abulfaragus zum Lesen in

unser Zimmer; er schien schon ganz vergessen zu haben, daß ich ihn einst belauschte .... Ich aber magerte ab und

verlor alle Farbe, so brannte in meinem Herzen die unbe­

friedigte Sucht zu lernen und der Neid über Abulfaragus' Kenntnisse. Eines Tages, o ich werde es nie vergessen, hatte der Alte ein neues Buch mitgebracht, da wir Tages zuvor den Schluß der schönen Geschichte von Floris und Blancefloer gehört hatten. Aleidis schaute unverwandt auf ihn, und keine Silbe ließ sie sich entschlüpfen, so sehr gefiel ihr, was

Pötzlich nahmen des Alten Züge einen unbegreiflichen Ausdruck von Milde an, seine Augen glänzten Abulfaragus las.

in höherem Feuer, seine Stimme wurde sanfter. Ganz Aleidis zugewandt, las er die folgenden Worte; ich konnte sie nur zu wohl behalten, so sehr trafen sie mich: Schöne Jungfrau, wohlgebildet, In allen Tugenden vollkommen, Von edlen und bescheidenen Sitten,

Höfisch, keusch und guten Herzens, Nicht genugsam kann ich deine Tugend Preisen, Wohl erhebt sie weit dich über alle Frauen.

An dir auch mag man schauen Große Gütigkeit und Treue, Schönheit viel und Sittigkeit, Liebliche Sprach' und reiches Wissen.

Tempel du, aller Tugend voll, An dir hat Gott ja nichts vergessen*).

Die innigste-Freude strahlte aus Aleidis' Zügen: doch je mehr sie entzückt war, um so herber fühlte ich mich von Schmerz und Neid durchzuckt. Thränen rollten in Fülle über meine Wangen, und ich hörte nicht, mehr auf zu weinen, als bis der Alte sich entfernte. Ich folgte ihm auf dem Fuße bis vor der Thüre seines Zimmers. Da warf ich mich vor ihm auf die Kniee und flehte mit beben­ der Stimme: „O Abulfaragus, gieb mir um Gotteswillen ein Buch!

1) Scone joncfrouwe wel geraect, In allen dogbden volmaect, Edel oetmoedech van manieren, Hovessche, cussche ende goedertieren, ü doghet en can ie niet volprieen; Licht draecht si di vore alle wiven Men mach oec wel ane u scouwen Grote goedertierenheit in trouwen, Goet gkelaet ende hovesscbeide, Scone sprake ende wetenshede; Tempel in alder doghet beseten, Ane u heest God niete vergeten.

22 Lehre mich doch lesen. Ich will dir dienen, wie dein Knecht!

Habe doch Mitleiden mit mir; du siehst ja, wie die Wiß­

begierde mich verzehrt!" Und unter den Worten umfaßte ich seine Kniee und

näßte sie mit meinen Thränen, doch er ließ mich gewähren;

ohne mir ein Wort zu erwiedern, steckte er ruhig und kalt den Schlüssel in seine Thüre und trat, mich mit dem Fuße von sich stoßend, in das Zimmer, aus dem mir ein spöt­

tisches Lachen in die Ohren drang. Mit gebrochenem Herzen und niedergedrückt vor Scham, kehrte ich langsamen Schrittes zu Aleidis zurück.

Da warf

ich mich wie entkräftet in einen Sessel und begann zu seufzen und zu weinen, und geberdete mich wie ein Ver­ rückter. Aleidis wollte mich trösten, doch ich stieß auch sie weg und wollte gar nicht mehr mit ihr sprechen. Ihre Thränen brachen endlich meine Aufregung und ich rief: sein.

„Aleidis, du hast mir gesagt, ich solle stets dein Bruder Das Wort hast du mir gebrochen. Abulfaragus ist

mein Todtfeind; er will mich tobten.

Eben noch stieß er

mich weg von sich, wie man einen Hund wegstößt.

Eine

Schwester kann den nicht lieben, der ihren Bruder so be­ handelt. Sie sehnt sich nicht nach seiner Gegenwart, sie findet seine abscheuliche Stimme nicht schön. Ich bin von

edlem Blute, Aleidis, und ich kann und

will es länger nicht ertragen, daß ein Unedler mich höhne und schmähe — ja deine Freundlichkeit für mich läßt mich den Hohn Morgen verlasse ich den La­ ternenhof und gehe auf Gottes Gnade in die weite Welt; du sollst mich nie Wiedersehen. Ich weiß, daß mein Weg­ selbst nicht mehr vergessen.

gehen dich nicht lange betrüben wird.

Du hast ja Abul­

faragus; der kann dir besser sagen, als ich:

Schöne Jungfrau, wohlgebildct, An dir hat Gott ja nichts vergessen.

23 O ich werde lesen lernen, ich werde es schon lernen, dann aber sollen Andere meine Sprache hören." Bei diesen harten Worten senkte Aleidis das Haupt, wie niedergedrückt von einer unerträglichen Last; Plötzlich

aber sprang sie empor, zweifelsohne, um mir den Mund zu schließen, doch ihre Kräfte verließen sie, und wie leblos stürzte sie zu Boden. Ich wollte um Hülfe rufen, doch Abulfaragus stand da und die Worte erstorben mir auf der Lippe; erschaute

mit vorwurfsvoller Miene und doch lächelnd auf mich hin, faßte Aleidis in den Arm, rief sie durch einen Blick seiner

Augen wieder zurück in's Leben und verließ dann schnell das Zimmer. Nun verwies Aleidis mir meine Härte unter bittern

Thränen; sie sprach in so zärtlichen Worten zu mir, sie gab mir so viele Versicherungen ihrer Zuneigung, daß ich sie bald darauf auf den Knieen um Verzeihung bat. Wir wurden wieder gute Frennde und versprachen einander, das

Geschehene zu vergessen. Am folgenden Tage kam Abulfaragus wie gewöhnlich mit einem Buche und setzte sich nieder, zu lesen. Kaum aber hatte er begonnen, als sich Aleidis' Stirne färbte; schnell sprang sie auf den Alten zu, schlug die Hand auf

sein Buch und riß wohl zehn Blätter heraus; die zerfetzte sie und warf sie auf die Erde, indem sie ruhig sprach:

„So werde ich's immer machen, wenn du noch wagst, mit Büchern hierhin zu kommen. Und nun gehe, Ungläu­ biger!" '

Ein dumpfer Schrei war des Sternsehers Antwort;

mit beiden Händen warf er sich auf den Boden und suchte die Stücke der zerrissenen Blätter zusammen. Ich sah zwei große Thränen seinen Äugen entrollen;

gewiß galten sie der Vernichtung des so kostbaren Buches.

24 Dann erhob er sich rasch «nd floh aus dem Gemache, während er mit klagender Stimme rief: „Wehe! Wehe!"

Von der Zeit ab ließ er uns in Ruhe.

wieder still und vergnügt.

Wir lebten

Die einmal entflammte Wißbe­

gier aber verließ mich nicht, und ich beschloß, was es auch kosten möge, lesen zu lernen. Je mehr sich mein Denk­ vermögen entwickelte, um so größer wurde diese Lernbegier; um so mehr auch wurde ich neugierig, zu wissen, was mein stets unsichtbarer Schutzherr und Abulfaragus so sorgfältig

vor mir verborgen hielten. Eines Morgens, wo ich früher denn gewöhnlich auf­ gestanden war, schlich ich stille an den Thüren der Zimmer

vorbei, welche mir bis dahin immer verschlossen geblieben waren. Eine der Thüren war nur angelehnt; auf den Zehen stehend, schaute ich klopfenden Herzens in das Ge­

mach. Graf Arnold saß da, wie gelähmt, in einem Lehn­ stuhl, das Auge regungslos auf die Mauer geheftet, an der ein schwarzes Bild hing, unter welchem goldene Lettern geschrieben waren, neben ihm saß Abulfaragus in einem großen Buche lesend. In demselben Augenblicke hörte ich,

wie Graf Arnold sprach: „Ihr sagt, Abulfaragus, daß Bernhard das Schloß

verlassen müßte.

Da denket ihr aber wohl nicht der Ver­

zweiflung, die Aleidis ergreifen wird, wenn man ihr den

Freund ihrer Kinderjahre nimmt?" „Es ist eine Schlange, die ihr nährt," sprach der Alte. „Bleibt er länger hier, dann entdeckt er das fürchter­ liche Geheimniß und wird dem Hause eurer Väter einen blutigen Schandflecken ..."

„Rein, nein, sprecht mir davon nicht mehr," fiel Graf Arnold ein. „Es giebt ttut zwei Herzen in der Burg, welche

25 die Freude kennen; ihr würdet mich diese Herzen brechen

lassen." „Es muß sein!" Stimme.

„Höret.

rief Abulfaragus

mit gebietender

Diese Nacht um Zwölfe glänzte der

Himmel von-Sternen; leicht fand ich unser aller Planeten.

Euer Stern glänzte nur schwach, wie ein erlöschend Lämp­

chen neben dem Bernhard's.

Plötzlich entfernte sich der Letzte von Eurem, nahte ihm jedoch von neuem und be­ strahlte ihn mit dem Lichte der Freude und des Trostes. Durch die Kraft meiner Kunst zwang ich alsdann das

Schicksal, sich zu erllären: Entfernt ihr Bernhard nicht, dann bringt ihr eurem Hause zwei erschreckliche Schläge bei, und der Name von Craenhove wird mit ewiger Schande

gebrandmarkt sein. Geht er aber nun von hinnen, dann kehrt er einst zurück und erfüllt euer Leben mit Freude und Glückseligkeit. So sprach das Schicksal mir." „O Abulfaragus, wie grausam seid ihr! Wie unbarm­ herzig gegen meine Schwester Aleidis!

Nein, eher möge

mein Leiden sich verdoppeln, als daß sie leide!"

„Arnold, Arnold!" rief der Alte ungeduldig und mit dem Finger auf die goldnen Lettern des Bildes weisend.

„Hättet ihr dieser meiner Prophezeiung immer geglaubt, euch nicht Ge­ wissensbisse und Reue dem Grabe zu. Wisset ihr wohl noch, was da'steht? „Wenn ein Weib zwischen euch tritt, dann littet ihr nun nicht, dann führten

dann befleckt euer eigen Blut das Haus Craenhove." War es nicht also? Nur öffentliche Schande gebricht eurem Na­ men noch. Wohlan, werft euch selbst den ersten Koth in's Angesicht; beschämt eures Vaters reinen Namen, schreibt auf sein Grab, daß sein Blut ein Blut der Schande ist. Fasset Muth zu der feigen That . . . ." Während dieses Gespräches bebte ich vor Angst und

Schrecken gleich dem Blatte einer Zitterpappel; nun entfloh 2

mir fast die letzte Kraft, und ich mußte mich an der Mauer

festhalten, um nicht hinzusinken. Ich sah, wie Graf Arnold

das Haupt tief auf die Brust sinken ließ, wie gebückt unter der Last der grausamen Worte des Alten.

Nach langen Pause fragte dieser mit strenger Stimme:

einer

„Wohlan denn, Graf Arnold, was ist euer Wille?" „Daß er gehe!" war die Antwort.

„Dank für den Entschluß!" sprach der Alte: „aber das Schicksal will, daß er hinziehe, wie er gekommen ist, arm

und verstoßen, daß er erniedrigt werde!" Ein banger Seufzer erhob sich aus Arnold's Drust; das schreckliche Urtheil begleitete ihn: „Es sei so; thuet mit ihm, wie es euch gefällt." Da sank ich ohnmächtig zusammen an der Schwelle

der Thüre; mein Schluchzen drang in das Zimmer. Abulfaragus trat näher, öffnete die Thüre ganz und grinzte mich

an, wie ein Teufel, der über den Fall einer Seele trium-

phirt. Höhnisch lächelnd schritt er in dem Gange weiter. Auf einen Ruf von ihm, der das ganze Schloß durchhallte, hörte ich viele Thüren öffnen und schließen, und die Diener wie in eiligster Hast rennen und laufen; eine geheime Stimme sagte mir, daß man vielleicht nun schon mich für immer

von Aleidis scheiden wolle, ich sprang auf und lief wei­ nend dem Zimmer zu, wo sie noch wenige Augenblicke zu­

Wie ich auch schrie und rief, wie sehr ich meine Hände blutig klopfte, ich erhielt keine Antwort. Verzweifelt rannte ich in dem vor gewesen, doch — die Thüre war geschlossen.

Schlosse umher, ich ließ keinen Thurm, keine Kammer unbe­ sucht, keine Thüre, bei der ich nicht nach meiner Schwester

rief, doch Alles blieb geschlossen, stumm; o wie unglücklich war ich, Albrecht! Nun weinte ich vor Aleidis' Gemach, dann unter den hohen Bäumen des Hofes, dann wandelte ich

jammernd durch die weiten Gänge des Schlosses; nichts half

27 mir; mein Urtheil war gefällt und schon halb vollzogen: ich hatte Aleidis verloren. Gegen Abend saß ich im Schloßhofe auf dem Grase; die ganze schöne Vergangenheit trat mir in glänzenden

Bildern vor die Seele; wie peinlich waren mir die Erinne­

rungen! Es war, als ob jede dieser Freuden mir ein ewig Lebewohl gesagt hätte, ein so schmerzlich Lebewohl, wie man es einem Freunde zuruft, den man nicht wieder zu sehen hoffen kann. Ich verlor endlich ganz das Bewußt­

sein, ich sah, ich dachte nichts mehr, ich hatte Alles ver­ gessen und schlief mit offnen Augen. In diesem Zustande muß ich lange geblieben sein, denn als ich daraus wieder erwachte, waren all' meine Glieder steif. Mein erster Blick

fiel auf einen alten Diener des Schlosses, der unbeweglich

vor mir stand; es war ein sechzigjähriger Waffenknecht, Roger genannt, der mir immer sehr zugethan gewesen, und

der nun mitleidig auf mich hinzuschauen schien. „Steht.auf, Bernhard," sprach er, „ich muß euch etwas sagen." Ich stand langsam auf,

trat ihm näher und horchte

mit gespannter Angst auf seine Worte:

„Bernhard, es ist etwas Schreckliches gegen euch im Spiele. Es scheint, daß ihr eine große Missethat begangen;

man sagt selbst, ihr hättet unter den Bauern ein Gerücht ausgestreut, welches unser Fräulein in. Schande bringe. Eurer ehrenräuberischcn Worte wegen harret euer eine harte Strafe." Ich? meine Schwester Aleidis? Albrecht, ich war wie niedergedonnert; mit einem Schrei der Verzweiflung griff

ich in meine Locken,

doch der alte Kriegsmann hielt mir

die Hände und fuhr also fort:

„Bernhard, kennt ihr Abulfaragus? Wißt ihr, daß er Gift aus Honig kochen kann? Daß ein Mordstahl ein

28 Spielzeug in seinen Händen ist, und daß höllische Geister

ihm zu Diensten stehen? Wart ihr je in den unterirdischen Kerkern? O Alles wartet eurer, darum fliehet! Ich habe

das Hülfsthor aufgelassen, ihr könnt leicht durch den Graben waten. Eilet, eure Missethat ist groß, doch eure Jugend. In dem Augenblicke funkelte Abulfaragus' gelbes Auge in der Ferne hinter einem Baume; die Worte erstorben auf des Waffenknechtes Lippen, und er entfernte sich schnell

und zitternd. Was dann mit mir vorging, weiß ich nicht; meine Augen begannen zu kreisen, Bäume und Thürme tanzten in schnellem Reigen um mich herum, und ich war gezwungen,

mich einen Augenblick in das Gras niederzusetzen, denn ich fühlte, daß ich fallen würde. Verloren im Gedanken über die Größe meiner Leiden, stand ich eine Zeitlang da, dann traten des treuen Alten

Worte wieder vor meinen Geist; ich fah Giftkelche für £> Albrecht, die Furcht vor dem Tode überlief mich eisig, ich zitterte und ergriff in meiner Angst als letzten Rettungsanker das

mich gefüllt, Dolche auf mein Herz gerichtet.

Mittel, welches der Waffenknecht mir angegeben hatte. Durch die eintretende Nacht begünstigt, schlich ich an den

Bäumen vorbei nach dem Theile der äußern Schloßmauer, wo das Hülfspförtchen sich befand; wenige Schritte noch und ich hatte es erreicht. Diese Aussicht gab mir meine Kraft und meinen Muth zurück. Es war mir ein Trost in meinem Leiden, daß ich nicht mehr den mir so sehr ver­ haßten Abulfaragus sehen sollte. — Doch der Himmel

wollte es anders; der Sternseher saß vor dem Hülfsthörchen. Wie festgebannt an den Boden vor Enffetzen, stand ich, als er auf mich zuschritt, seine Knochenhand meine Hand

ergriff, und er mit ungemein milder Stimme sprach: „Bernhard, mein junger Freund, du bist unglücklich.

39 Auf wessen Schultern schiebst du die Ursache davon? Auf die von Abulfaragus, nicht wahr?" „Ja wohl, und das mit Recht," rief ich aus. „Ihr habt mich stets, gleich einem bösen Geiste verfolgt, und nun kocht vielleicht schon auf einem Feuer das Gift, welches mich tödten soll." Ein bitteres Lächeln war des Alten Antwort. Er schwieg eine Weile und fragte dann: „Bernhard, hast du gehört, was ich diesen Morgen mit Graf Arnold gesprochen?" „Ich habe nur zu wohl gehört," schluchzte ich unter Thränen, „wie ihr mich verläumdet, und wie ihr so grau­ sam um mein Todesurtheil gebettelt habt." „Hast du nichts Anderes gehört?" fragte der Alte weiter. Um meinen Feind in Angst zu jagen, that ich, als wäre das schreckliche Geheimniß nun kein Geheimniß mehr für mich, und antwortete schnell: „Ja wohl habe ich noch mehr gehört; nie aber wage ich zu sagen, was ich weiß, und noch viel weniger, was ich vermuthe. Graf Arnold ist mein Wohlthäter." . Die Sülle, welche auf diese Worte folgte, wunderte mich nicht wenig. Der Alte schien plötzlich trüber gewor­ den, als ich es war; er beugte das Haupt und seufzte un­ gemein peinlich. Nach einer Weile erhob er die Stirne wieder und sprach mit fast flehendem Ausdrucke: „Bernhard, mein Kind, du siehst mich für einen gar bösen Menschen an, nicht wahr? Wüßtest du aber, was ich thue und warum ich so thue! Wüßtest du, warum ich mich verhaßt mache, während ich doch nie irgend einem etwas zu Leide that, du würdest Mitllid mit Abulfaragus haben; du könntest ihn nur lieb gewinnen, denn dein Herz ist edel und rein."

so Wie soll ich dir meine Verwunderung über diese Rede

schildern, Albrecht? Der Mann, den ich einem Teufel gleich

wähnte, stand bittend vor mir und seine Stimme rührte, ergriff mich tief; meine Furcht vor ihm war hin. „Abulfaragus," seufzte ich. „Jhrwundert mich. Sprecht ihr denn wirklich Wahrheit?"

„Folge mir," sprach er, mich zugleich schon bei der Hand fortziehend. „Folge mir, die Zeit ist kostbar." Es muß wohl sein, daß nichts der Stimme von Abulfaragus widerstehen konnte, da seine wenigen Worte nicht nur meinen Haß und meine Angst, sondern selbst all' mein

Mißtrauen vertrieben hatten.

Ich folgte ihm ganz willig

bis zur Thüre seines Zimmers.

Da aber überlief mich ein leichter Schrecken: ich sollte zuerst den Fuß setzen in die geheimnißvollen Räume, die

acht Jahre lang meine Neugier gereizt hatten! Ich bebte, als die Thüre sich öffnete und ich in das Zimmer trat.

Was ich jedoch sah, das erschreckte mich weniger, als ich

erwartet. Alles lag schmutzig und in Unordnung da; eine eiserne Lampe verbreitete nur spärliches Licht und ließ mich

einige Gerippe von Keinen Thieren,

getrocknete Kräuter

und Bücher erkennen, und — worüber ich nicht wenig er­

staunt war — ein großes Liebfrauenbild, von zwei schönen

Blumensträußen umduftet.

Das war Alles.

Abulfaragus hieß mich auf einem Stuhle niedersitzen, setzte sich in einen Sessel neben mich, faßte meine Hand

und sprach: „Bernhard, du meinst, ich hasse dich und ich suche dein Verderben, doch du irrst dich sehr, mein Freund; die vom Blute der Craenhove ausgenommen liebe ich nur einen

Menschen noch und das bist du." „Ich habe dir in der That Ursache gegeben, mich zu

fürchten und mich selbst zu hassen, doch dazu zwang mich

31 das Schicksal, dessen Diener ich bin.

Ich sah dich auf

dem Laternenhofe ankommen und deine Ankunft erfreute mich. Ich ließ dich in Ruhe, bis dich eine unwiderstehliche Neugier antrieb, Dinge zu ergründen, welche du nicht wissen solltest. Da nahm ich die Wage und legte in eine

ihrer Schalen dich und in die andere die Ehre und das Glück des Hauses Craenhove, und du wurdest zu leicht be* funden, du mußtest geopfert werden. — Du mußtest weg

von hier! Ich verfolgte dich also und bereitete dir Leiden,

um dich deines Aufenthaltes hier überdrüssig zu machen, doch Aleidis heilte all' deine Schmerzen, du warst unüber­

Du hast ein Recht mich zu hassen, Bernhard, denn ich überlud dich oft mit Kummer, und Verdruß, und windlich.

um dich immer mehr abzuschrecken, schien ich selbst Behagen an deinem Schmerz zu finden. Noch, mein Sohn, bist du

zu jung, um die Gründe zu verstehen- welche mich zwangen,

mit dir zu handeln, wie ich es gethan. Abulfaragus, mein Sohn, ist gleich einem Sklaven an das Haus der Craen­ hove gebunden, er muß dessen Wohl, all' seine Gefühle, all' seine Neigungen opfern; während er dich glühend liebte, zwangen ihn diese Bande zu scheinbarer Feindschaft

gegen dich. Später sollst du wissen, warum ich dich von Aleidis trenne; es giebt Leidenschaften, die du glücklicher­ weise noch nicht kennst, die aber das Herz entflammen und durchnagen, gleich einem alles verschlingenden Feuer. Was die Sterne gesprochen, weißt du, und morgen vor Sonnen­ aufgang mußt du das Schloß verlassen, und das wirst du

willig, nicht wahr? Du wirst mich nicht zwingen, hart gegen dich zu sein, Waffenknechte zu rufen, dich entkleiden und vor das Thor werfen zu lassen. Das wäre grausam, nicht wahr? Darum auch unterwirfst du dich, thust, warum ich dich bitte und gehorchst deinem Geschick. Versprich mir da?."

32 Gebeugten Hauptes stand ich da;

heiße Thränen

rollten mir über die Wangen, ich konnte nur durch Seufzer

antworten.

„Du weinst, mein Sohn," sprach der Alte. „Du denkst an Aleidis, nicht wahr?

Es schmerzt dich, sie verlassen

zu müssen, deine gute Schwester." „Für ewig, ja wohl!" rief ich schmerzlich. „Die Sterne sagten, du werdest wieder hierhin zu­

rückkehren," sprach

der Astrolog,

„und dann für immer

hier wohnen." Die Worte sanken mild tröstend mir in die Brust;

ich schaute dankbar zu dem Alten auf, er schien mir nicht

häßlich mehr, seine Züge trugen etwas Sanftes, Liebes, er schien mir ein Vater, der zu seinem Sohne spricht. „Bernhard," fuhr er fort,

„versprich mir, meinen

Willen zu thun, und ich will dir in wenig Worten sagen, welch' ein unendlich Glück das Schicksal für dich aufgespart hat."

Ich drückte ihm die Hand und gelobte ihm willige

Unterwerfung.

„Wohlan denn," sprach er, „wenn du das Schloß ver­ lassen, werde ich dafür sorgen, daß nie ein anderer Jüng­

ling Aleidis nahe; was ein Vater für sein Kind nur thun kann,

das werde ich für dich thun; ich werde dir eine

reine treue Braut bewahren. Das Schicksal sprach, daß du einst Aleidis deine Frau nennen und des Laternenhofes und Abulfaragus' Herr sein werdest.

Genügt das deiner

Liebe und deinem Stolze?"

Ich stand stumm ob der glücklichen Zukunft, welche des Alten Worte mir enthüllten; überwältigt von Gefühlen

der verschiedensten Art, riß ich mich aus dem Stuhle em­ por und sank unter Thränen der Freude und des Glückes

yor ihm auf die Kniee; ich konnte nur rufen;

33 „Dank, o Dank, Abulfaragus! Möchtet ihr euch nur

nicht trügen!" „Mich trügen, Kind? Ja ich habe mich oft betrogen, meine Kunst ist nicht ganz unfehlbar, doch tröste dich, ich

bleibe hier, einen Theil dessen zu sichern, was ich dir ver­ kündete. Wird Aleidis nicht die Deine, dann soll sie nie eines Andern werden. Uebrigens haben die Sterne mir nie deutlicher gesprochen; doch nun höre, Bernhard, was du thun mußt, dein Glück zu verdienen. In deinem Schlaf­ zimmer findest du Bauernkleider, die ziehe an und nimm

nichts von dir mit, was dir gehörte. Schlafe, wenn du kannst; vor dem Aufgang der Sonne werde ich dich wecken. Einen Rath dir zu geben, ist mir verboten; du mußt gehen und bleiben, wohin es dich zieht; nie aber thue einen Schritt, um Aleidis oder den Laternenhof wieder zu sehen. Ein wichtiges Ereigniß wird dir sagen, wann du zurückkehren mußt; dies aber geschehe nie, ohne daß du die Versicherung habest, dem Grafen Arnold seine verlorne Ruhe und Lebens­ freude wieder zu geben. Soviel nur kann ich dir sagen,

das Uebrige wirst du schon erfahren." Und er faßte die Lampe, führte mich in mein Schlaf­ zimmer, und verließ mich unter tröstenden Worten. Es wäre schwer, Albrecht, dir zu sagen, welch' sonder­ bare Träume mich während dieser Nacht umgaukelten; hatte

doch der vergangene Tag mir so manche und so verschieden­ artige Gemüthsbewegungen gebracht. Unglücklich konnte ich mich nicht nennen, denn dieZukunst bewahrte mir ein so glück­

liches Loos.

Aleidis zu verdienen, der Gedanke machte

mich bereit zu Allem.

Auch unterwarf ich mich nicht nur

blindlings dem Willen des Abulfaragus, ich freute mich selbst innig, berufen zu sein zur Linderung oder selbst zur

Tilgung des Schmerzes, der so schwer auf dem Grafen Arnold lag.

Und konnte ich nicht noch einmal das Ge♦

34 heimniß durchdringen, welches einem Zauberschleier gleich

über dem Geschicke des Hauses Craenhove ruhte?

Dies

Alles schmeichelte mir und ließ mir meine Verbannung

als etwas Großes und Erhabenes erscheinen.

Als Abulfaragus meine Thüre öffnete und mit einer Lampe eintrat, stand ich bereits da, in mein schlecht Ge­

Noch einen trüben Blick warf ich auf mein silbernes Jagdhorn, und ich folgte meinem Führer. Das wand gehüllt.

Thor öffnete sich, die Brücke sank. Als wir im Felde waren, gab Abulfaragus mir ein Stück Brod und einen gebratenen Vogel. Noch einmal drückte ich seine Hand

und sprach traurig: „Abulfaragus, ihr wißt es: Aleidis wird meine Ent­

fernung nicht ohne tiefen Schmerz vernehmen; vielleicht wird sie den Verlust ihres Bruders betrauern." „Beruhige dich darüber, mein Sohn," erwiederte er gütig; „ich werde Aleidis trösten und sie- zu überzeugen suchen, daß du einst wiederkehrst — und dazu, Bernhard,

werde ich täglich von dir sprechen, denn ich will, daß sie

dich niemals vergesse!" Thränen der Dankbarkeit entquollen meinen Augen, ich schlug meine Arme um des Abulfaragus' Hals und küßte ungestüm den Mann, den ich bis dahin für den bösartigsten aller Menschen gehalten. Er sagte mir noch einige freundliche Worte, und dann sein: „Lebewohl auf Wiedersehen."

Ich

eilte mit schnellen Schritten weiter

und setzte den größten Theil des Tages unermüdet meinen Weg fort. Als ich Santhoven erreicht hatte, näherte ich mich einer Bauernwohnung und bat um ein wenig Milch, um meinen Durst zu löschen.

Nachdem ich einige Worte

mit dem Pachter gewechselt, erfuhr ich durch ihn, daß sein

Schäfer ihn verlassen habe, um als Waffensiiecht in die Dienste eines Edelmannes zu treten; ich bot mich zum

35 Ersätze an,

und wurde angenommen.

Seit zwei Jahren

diene ich den braven Leuten und bin mit meinem Loose

zufrieden;

habe ich doch die Versicherung, Aleidis einst

wiederzusehen. Aber ich möchte nicht gerne nach dem Laternenhofe zurückkehren, ohne lesen zu können; ich weiß, mit welchem

Vergnügen Aleidis Erzählungen von Waffenthaten und Rittern und Helden hört; sie hat mir einst diese Freude

aufgeopfert; ihre Worte jedoch bewiesen mir während zweier Jahre, wie schwer ihr dies Opfer geworden ist. Auch

brennt in meinem Herzen eine unerklärliche Wißbegierde, ich glaube selbst, daß Aleidis nicht so ganz die Ursache

davon ist; ein geheimes Gefühl beherrscht mich, ohne daß ich mir die Ursache davon erklären kann Das ist meine Geschichte, Albrecht. Sie ist traurig und sonderbar, nicht wahr?" Der alte Hirte hatte mit so lebhaftem Interesse und so tiefer Aufmerksamkeit dieser Erzählung zugehört, daß er nicht sogleich antwortete. Er sah seinen jungen Gefährten

mit Bewunderung an und sprach nach einigen Augenblicken:

„Traurig? ja, aber mehr noch wunderbar. Abulfaragus hat mich einigemale zittern gemacht. Weißt du auch sicher, Bernhard, daß er ein Mensch ist?"

„Was sollte er anders sein, Albrecht?" „Du bist jung, Bernhard, und du weißt nicht, was ich weiß. Wenn ich dir aber sage, daß es Menschen giebt, die sich mit dem Teufel verbinden, und dafür einen bösen

Geist zum Sklaven und Diener von ihm empfangen? Wenn ich dir ferner vertraue, daß diese Menschen häufig zu spät diesen fluchwürdigen Bund bereuen, und dann, von Ge­ wissensbissen und der Furcht vor der Hölle verfolgt, sich einschließen und das Sonnenlicht fliehen?"

36 „Nun wohl, Albrecht, was willst du damit sagen?" „Daß eS nicht schwer zu begreifen ist, daß Graf Ar­ nold von Craenhove dem Teufel seine Seele verschrieben

hat, und daß Abulfaragus ein verdammter Geist ist, den ihm Lucifer zum Sllaven und Diener gegeben."

Diese Worte, mit dumpfer Stimme gesprochen, machten dennoch

einen tiefen Eindruck auf Bernhard's Gemüth;

faßte er sich schnell und bemerkte mit ungläubigem Lächeln: „Du betrügst dich, Albrecht. Graf Arnold ging als guter Christ nach Deurne zur Kirche, und was Abulfaragus betrifft, so würde er wohl schwerlich ein Liebfrauenbildchen

auf seinem Zimmer haben, und würde er gewiß nicht Sorge tragen, daß stets stische Blumen vor ihm duften. Rief er

nicht den Herrn Jesus an, als er vor dem Grabmal kniete? Nein, das ist das unentdeckte Geheimniß nicht. Etwas anderes birgt die schreckliche Nacht des Besuches bei der

Gräfin Meramprö.

Er, der weiß, wo die Leiche des

Grafen Hugo von Craenhove sich befindet, wird auch über alle andern Vorfälle Auskunft geben können." „Hat man nie bei der Gräfin Meramprs nachge­ forscht, Bernhard?"

„Wie hätte man sie fragen können, da sie seit jener Nacht nicht wieder in Brabant erschien?"

„Ich verliere mich in Muthmaßungen. Vielleicht sah jene geheimnißvolle Nacht eine um Rache schreiende Misse­

that, einen schrecklichen Mord; — aber, wie es auch sein mag, wir dürfen unsern Nächsten nicht durch unsere Ver­ muthungen verdächtigen.... Es ist spät, Bernhard. Die

Sonne neigt sich hinter den Gebüschen; wir müssen unsere

Schafe heim führen." Mit diesen Worten entfernten die Hirten sich von einander, und jeder ging, die Heerde seines Herm zusammen-

87 zutreiben.

Während Bernhard sich noch damit beschäftigte,

kam der alte Hirte mit leisen Schritten zu ihm geschlichen und sagte ihm mit gedämpfter Stimme m's Ohr: „Bernhard, hast du je den Wärwolf gesehen?" Der Jüngling erschrak und wandte den Kopf nach

allen Seiten der Haide; dann erwiederte er:

„Nein, aber warum richtest du diese Frage an mich?"

„Dann siehe einmal dorthin nach dem Waldrande zu, und du wirst ihn sehen!" Bernhard bemerkte m der That einen dunkeln, mensch­ lichen Schatten, der langsam und vorsichtig an den Büschen hinzugleiten schien. „Ach," sagte er, „das ist also der Wärwolf, von dem

man so viel spricht.

Ich dachte mir ihn wie ein gieriges Raubthier, und er scheint doch von ferne ein Mensch zu

sein.

Was ist denn ein Wärwolf?"

„Weißt du das nicht, Bernhard? Ein Wärwolf ist ein Mensch, der um himmelschreiender Sünden willen von Gott verurtheilt ist, allnächtlich in der Gestalt eines Wolfs ohne Rast und Ruhe umherzulaufen. Solche Wärwölfe

fliehen die Dörfer und Wohnungen der Menschen, aus Furcht, daß man die Thüren und Fenster ihrer Kammer schließe; denn sobald dies geschähe

und die Stunde von

des Wärwolfs Verwandlung käme, so würde er sich den

Kopf an den Wänden einrennen und ohne Zweifel noch in derselben Nacht sterben." „Hast du diesen Menschen in der Gestalt eines Wolfs schon gesehen, Albrecht?" „Ja, oft. Es sind nun schon länger denn zehn Jahre, daß er diesen Wald zu seinem Aufenthalt erwählte; seit dieser Zeit wagt es Niemand mehr, denselben zu betreten, theils vor Angst, theils aus Ehrfurcht vor dem Straf­ gerichte Gottes.

In der Nacht geht der Wärwolf um,

38 oder er sitzt auf dem Kirchhof zwischen Gräbern; dort seufzt

und jammert er schrecklich; Niemand hat je seine Sprache gehört; denn er ist stumm und kann nicht sprechen. Im Uebrigen scheint er sanft wie ein Lamm.; wenn er an uns

vorüberginge, so würde er das Haupt senken und sich mit niedergeschlagenen Augen entfernen.

Keiner erinnert sich,

daß er je einem Menschen oder Thier ein Leids gethan. Einst hat er sogar einer armen Frau, welche vor dem Walde saß und weinte, zwei Goldstücke angeboten; die Frau aber

lief entsetzt weg und wagte es nicht, das Geld anzunehmen. Aber dies ist doch ein Beweis, daß er kein böses Herz hat." Während dieser Erklärung hatte Bernhard kein Auge

von dem Wärwolf verwandt, und da dieser sich mit jedem Schritte den Schäfern mehr näherte, konnten sie bald seine

Formen genauer unterscheiden. Er schien ein Mann von ungewöhnlich hoher Gestalt und war von Kopf bis zu Fuß in ein härenes Gewand gehüllt, das einem Thierfelle nicht wenig ähnlich sah. In der rechten Hand hielt er einen Baumast, worauf er tiefgebeugt sich stützte; der linke Arm war fest am Körper angeschlossen, als ob er etwas darunter trüge.

Dieser Gegenstand erweckte offenbar Bernhard's

Aufmerksamkeit, denn Plötzlich rief er aus:

„Was hält er unter dem Arm? Ist es nicht ein Buch?"

erwiederte Dennoch fügte er gleich darauf hinzu:

„Ich kann's nicht deutlich unterscheiden,"

der alte Albrecht.

„Es ist in der That ein Buch, viermal so groß als das meine!" Bernhard versank in tiefes Nachdenken und seufzte mit

sonderbarem Tone: „Der Wärwolf kann lesen!" Als er wieder aufblickte, sah er, wie der Wärwolf sich am Rande des Waldes bückte und hinter den Brombeer­

büschen verschwand.

Schon zweimal hatte sein Gefährte

39 ihn vergebens erinnert, die Haide zu verlassen, und Albrecht war bereits sehr weit mit seiner Heerde, als Bernhard

immer

noch regungslos auf derselben Stelle stand.

Er

blickte starr nach dem Platze, wo der Wärwolf seinen Blicken entschwunden war. Endlich gab er seinem Hunde das Zeichen zum Aufbruch und verließ die Haide mit auf­ geregtem Gemüth und träumendem Geiste, indem er von

Zeit zu Zeit seinen ersten Ausruf wiederholte:

„Der Wärwolf kann lesen!"

II. Per

MLrwotf.

Alles schläft auf der Haide.

Die Blätter der zarten Pflanzen sind noch zusammengefalten; die Blumen haben ihre Kelche noch nicht geöffnet und erscheinen wie beseelte Wesen, die mit geschlossenem Auge in stilles Selbstvergessen versunken sind.

Die Nacht ist entschwunden, der Tag noch nicht an­ gebrochen. Der Westen ist noch von schwarzem undurchdringlichem

Dunkel verhüllt; der Osten klärt sich leise wie ein durch­ sichtiger See in zweifelhaftem Lichte. Von allen Sternen blinkt nur noch ein einziger am Firmament: es ist Lucifer, der Vorbote der aufgehenden Sonne.

An dem Rande des Waldes hängt ein dichter Nebel­ schleier; aber er erhebt sich, schon hat er die Gipfel der

Bäume erreicht;

bald wird er aufsteigen und droben in

blauer Tiefe verschwinden

39 ihn vergebens erinnert, die Haide zu verlassen, und Albrecht war bereits sehr weit mit seiner Heerde, als Bernhard

immer

noch regungslos auf derselben Stelle stand.

Er

blickte starr nach dem Platze, wo der Wärwolf seinen Blicken entschwunden war. Endlich gab er seinem Hunde das Zeichen zum Aufbruch und verließ die Haide mit auf­ geregtem Gemüth und träumendem Geiste, indem er von

Zeit zu Zeit seinen ersten Ausruf wiederholte:

„Der Wärwolf kann lesen!"

II. Per

MLrwotf.

Alles schläft auf der Haide.

Die Blätter der zarten Pflanzen sind noch zusammengefalten; die Blumen haben ihre Kelche noch nicht geöffnet und erscheinen wie beseelte Wesen, die mit geschlossenem Auge in stilles Selbstvergessen versunken sind.

Die Nacht ist entschwunden, der Tag noch nicht an­ gebrochen. Der Westen ist noch von schwarzem undurchdringlichem

Dunkel verhüllt; der Osten klärt sich leise wie ein durch­ sichtiger See in zweifelhaftem Lichte. Von allen Sternen blinkt nur noch ein einziger am Firmament: es ist Lucifer, der Vorbote der aufgehenden Sonne.

An dem Rande des Waldes hängt ein dichter Nebel­ schleier; aber er erhebt sich, schon hat er die Gipfel der

Bäume erreicht;

bald wird er aufsteigen und droben in

blauer Tiefe verschwinden

40 Gleich einer bescheidenen Magd, die ruhig das Er­ wachen ihrer Herrin erwartet, liegt die Erde in tiefer

Stille, der Ankunft ihres Herrn harrend. Ein rosiger Schimmer färbt nun den Osten, und der Morgenstern erbleicht.

Dort schüttelt ein Goldfinke den

-Thau von den glatten Federn. Er verläßt ten Zweig, worauf er ruhte, erhebt sich in die Luft und läßt sich auf dem höchsten Gipfel des

Waldes nieder.

Er blickt freudig nach Osten, wo die Sonne langsam ihre Bahn beginnt; helle, silberne Töne entsteigen der

Leinen Kehle und begrüßen das Tageslicht. Glücklicher Vogel, der die Himmelsfackel eher sieht, als wir! Das Zeichen ist gegeben!

Tausend befiederte Tonkünstler erwachen, und tausend Lobgesänge verherrlichen zugleich die Schöpfung. Sieh', wie die Lerche sich immer höher und höher schwingt! sie will ihre Dankgesänge dichter vor dem Thron

ihres Gottes erschallen lassen.

Nun erhebt sich die lachende Sonne über dem Tannen­ walde ! Ihre glänzenden Strahlenbüschel gleiten, einer uner­ meßlichen Zauberruthe gleich, über die Haide hin: was sie

erreichen, empfängt Leben und Schimmer! Horch! wie die Heuschrecken und Grillen dem Herrn ihr Morgengebet darbringen! Sieh'! wie die Blumen die Augen auffchlagen, ihre Kronen und Kelche erschließen, als ob sie einen Strahl des

allliebenden Gottes in ihre Herzen aufnehmen wollten!

Sei gegrüßt, gegrüßt du herrliches Meisterstück des großen Arbeiters!

41 Schallte solch' ein Lobgesang auch nicht aus Bernhard's

Munde, so klang doch wenigstens in seiner Seele in noch

reicheren Tönen das Lob des Schöpfers wieder, denn schon seit einer halben Stunde kniete er auf der Haide und schaute mit betendem Herzen dem Erwachen der Natur zu, während seine Schafe die nassen Kräuter verzehrten.

So andächtig auch Bernhard'sGebetgewesensein mochte, so hatte er dennoch unverwandt nach der Stelle geschaut, wo der Wärwolf Tags zuvor verschwunden war. Plötzlich

erbebte er an allen Gliedern:

er sah den Wärwolf auf

Händen und Füßen unter den Brombeerbüschen hervor­ kriechen, sich aufrichten und längs des Waldrandes sich wieder entfernen. Diesmal trug er Nichts unter dem Arme. Das Buch mußte demnach im Walde geblieben sein.

Vielleicht lagen noch andere Bücher in der Höhle des WärAber, o Gott, wie sollte Jemand den Muth haben, sich dieser Behausung zu nahen, oder gar in die Höhle ein­ wolfs.

zudringen? Würde nicht ein schrecklicher Tod seine Strafe sein? Vielleicht würde der Wärwolf ihn zerfleischen und seine zerrissenen Glieder den Raben im. stummen Walde

vorwerfen. Armer Bernhard! da steht er auf der Haide an seinen

Stab gelehnt und blickt wie verwirrt zur Erde nieder; seine Stirne brennt, seine Kniee schwanken, eine unbegreif­

liche Macht zieht ihn nach dem Walde hin. Nun wagt er aber er bebt und ist erschrocken, denn jetzt steht er dicht vor den

einen Schritt; — noch einen — noch mehrere!

Brombeerbüschen, der Grenze von des Wärwolfs Grund­

gebiet. Wird er vermessen genug sein, um sich, wie der Wärwolf, zu bücken und den Fußpfad einzuschlagen, der

nach der fürchterlichen Höhle führt? Eine Stunde vor Mittag stand Bernhard noch immer pox den Brombeerbüschen, mit gesenstem Haupte, starrem

42 Blicke und in fieberhaftem Beben; die Wißbegierde kämpfte in seinem Herzen mit der Furcht vor dem Tode. Gewiß mußte der Streit sich jetzt entscheiden: denn Bernhard bog sich langsam zur Erde nieder und schlüpfte plötzlich auf Händen und Füßen unter den Brombeerbüschen hin. Die Wißbegierde hatte die Todesfurcht überwunden! — Die Brombcerbüsche reichten nicht tief; bald konnte Bernhard sich aufrichten, und umhersehen, wo er sich be­ fand. Nichts Fremdartiges zeigte sich seinem verwilderten Auge, nur eine traurige, öde Natur, die von Todesstille und halber Dämmerung umschlciert war. Mit klopfendem Herzen und steigender Angst schritt Bernhard langsam und vorsichtig wie ein Missethäter voran. Von Zeit zu Zeit traf der heisere Schrei eines Raubvogels sein Ohr und machte ihn an allen Gliedern erbeben; dann blieb er ent­ setzt vor einem verdorrten Baume stehen, der wie ein Mensch ihm seine dürren Arme entgegenstreckte und ihn zurückhalten zu wollen schien. Aber die Wißbegierde zog ihn unwiderstehlich nach jener Höhle, längs des Pfades hin, den des Wärwolfs Füße gebahnt hatten. Endlich erreichte er eine Tiefe, wo der Holzwuchs einem freien Waldplatze wich, der mit einem Teppich von Gras und Blumen überzogen war. Ein kleines, fast unsichtbares Bächlein wand sich durch diese natürliche Weide, wie eine Schlange, die eilig nach dem Gebüsche flieht, um sich vor den brennenden Sonnenstrahlen zu schützen. Hier athmete Alles Leben und Erquickung; die Sonne sandte ihre Strahlen senkrecht auf die fette Weide und entlockte ihr liebend tausend schimmernde Blümchen; die Vögel sangen in Chören auf den benachbarten Bäumen; mit einem Wort, diese kleine Stelle glich einem Lustgarten, von der launenhaften Natur mitten in einer Wüste qngelegt.

43 Ein anderer Wanderer als Bernhard hätte gewiß an

diesem reizenden Orte geruht;

er würde seinen Durst am

klaren Bächlein gelöscht und sein Auge mit Entzücken auf

dem farbigen Blumenteppich haben ruhen lassen, während sein Ohr dem vielstimmigen Gesänge der Vögel gelauscht

hätte. — Bernhard dachte nur: „Wo mögen hier Bücher verborgen liegen?" Nachdem er sich eine Weile umgeschaut hatte, bemerkte

er in der Ferne am entgegengesetzten Ende der Weide einen hohen Sandhügel und zwischen wirren Gesträuchen eine Höhlung in demselben, die vielleicht den Eingang zu

des Wärwolfs Wohnung bildete. Er wandte seine Schritte jener Seite zu; doch je mehr er sich der Höhle näherte, um so langsamer wurde sein Gang; seine Angst wuchs mit jeder Minute, und er blieb zitternd vor dem sonderbaren

Aufenthalte des Wärwolfs stehen, der jedoch an und für sich durchaus nicht schrecklich zu nennen war.

Man konnte

sie auf den ersten Blick als das Werk einer unbeholfenen Menschenhand erkennen. Derjenige, der sie gemacht, hatte zuerst eine weite Grube, wie ein Zimmer, tief in den Sand­ hügel hinein gegräben, über dieser viereckigen Höhlung aus schweren Baumzweigen ein Dach befestigt und dasselbe mit einer dichten Lage von Schling- und Farrenkraut bedeckt;

die erste Seite dieses Daches schützte hinlänglich vor Wind und Regen; in der andern

befand sich

eine Oeffnung,

welche das Fenster ersetzte und das Tageslicht hereinließ.

Klein war die Wohnung des Wärwolfs nicht; und ein Mann von hoher Gestalt konnte gemächlich und ohne sich zu bücken hineintreten.

So wenig schreckhaft sie auch aussah, wagte es Bern­ hard doch nicht, sie zu betreten; eine unendliche Angst mußte ihn ergriffen haben, denn er wich einige Schritte

zurück und blickte bange umher, ob der Wärwolf noch nicht

44 erschiene.

Vielleicht wäre er zur Haide zurückgekehrt; als

er aber wieder vor den Eingang trat, sah er das große Buch auf einem pultähnlichen Gestelle in der Höhle liegen.

Nun war sein Entschluß schnell gefaßt; das Buch zog ihn einem Magnete gleich an, und wie ein Raubthier, das auf

seine Beute stürzt, sprang er mit einem Satze vorwärts und fiel mit beiden Händen auf die aufgeschlagenen Blätter des Buches. Wie glücklich war nun der arme Bernhard! Ein seliges Lächeln glitt über sein Antlitz, seine Augen glänzten im Feuer der Neugier, seine Brust hob sich, sein Herz schlug

ungestüm und seine Finger bebten por Ungeduld.

Er be­

saß ja nun auch ein so großes, so schönes Buch!

Wäre Bernhard nicht in den Anblick der Buchstaben vertieft gewesen, so würde er mehr als einen sonderbaren Gegenstand in der Hütte bemerkt haben.

Das Pult, worauf das Buch lag, war aus Baum­ zweigen geflochten und in der Erde befestigt; in einer Ecke der Hütte befand sich eine Lagerstätte auf dieselbe Weise verfertigt, mit Moos ausgefüllt und halb von einer zer­ rissenen wollenen Decke verhüllt; in der Mitte stand ein

hölzernes Kreuz, an dessen einem Arme ein Ritterkleid oder Koller hing, der mit schwarzbraunen Flecken bedeckt war, welche getrocknetem Blute nicht ungleich sahen. Daneben hing ein Degen, mit großen Rostflecken übersäet, die wahr­

scheinlich von irgend einer darauf gespritzten Feuchtigkeit

herrührten. Am unteren Theile des Lagers befand sich ein

geöffneter Reisesack, und daneben lagen einige, wie es schien, herausgefallene Goldstücke. Ferner waren eine Menge ge­

trockneter Wurzeln von allen Arten an den Wänden auf­

gehängt; außerdem eine Geißel und ein Gürtel mit vielen nach Innen laufenden eisernen Spitzen versehen.

Diese Gegenstände fielen Bernhard gar nicht auf; er

45 war gaUz in dem Anschauen des Buches verloren,

und

wandte zuweilen ein Blatt um, ohne selbst zu wissen, was er that. Ohne diese kleine Bewegung und die tiefen Athem­ züge seiner Brust hätte man ihn leicht für ein lebloses Bild halten können. Aber, o Himmel!.... wer ist die Gestalt dort an der Thüre der Hütte? Ist es ein Mensch? Ja, es ist der

Wärwolf mit seinem schweren Stabe und seinem braunen Kleide! — Aus seinen tiefgesunkenen Augen sprüht es wie Feuer, seine hohlen Wangen erbleichen, seinen Mund verzieht krampfhaft der Zorn -—aber er bleibt still und bewegungs­ los stehen und schaut starr

auf den Hirten hin, dessen Angesicht er nicht ganz sehen kann. Unglücklicher Bernhard, der so freudig und selbstver­

gessen sich an dem Anblicke des Buches weidet. Sähe er die blitzenden Augen, die auf ihn geheftet sind! Eine lange Weile blickte der Wärwolf mit grimmigem Ausdruck in die Hütte; aber allmählich wurden seine Züge milder, und bald schien er wieder ganz ruhig. Wahr­ scheinlich hatte der alte Hirte die Wahrheit gesagt, als er behauptete, der Wärwolf könne nicht sprechen; denn statt Worten entstieg nur ien dumpfer Seufzer seinem Munde,

der wie ein Donnerschlag zu Bernhard's Ohren drang. Alsbald sprang der Jüngling

auf, wandte bebend das

Haupt nach dem Eingang und . sah das hohle Antlitz des Wärwolfs sich zugekehrt und seine funkelnden Augen fest

auf sich gerichtet.

Mit einem lauten Schrei flüchtete er

nach dem andern Ende der Hütte und hob sprachlos und flehend seine Hände zu dem Wärwolf empor. O, wie zitterte der Arme,

wie bleich

waren ihm Stirn

und

Wangen. Der Wärwolf trat ihm einen Schritt näher; aber der entsetzte Hirte, der den Tod vor Augen sah, ließ sich auf

46 die Kniee nieder, kroch bis dicht-vor den Wärwolf, ergriff

eine seiner Hände und rief, sie mit Thränen benetzend: „O, wer ihr auch sein mögt, habt Mitleid mit mir! Gnade, Gnade! thut mir doch kein Leides!" Ein Lächeln voll Liebe und Wohlwollen strahlte auf des Wärwolfs Antlitz; er faßte Bernhard's beide Hände, hob ihn vom Boden auf, legte die knöcherne Hand schmeichelnd auf feine blonden Haare und sprach zum größten Er­ staunen des Jünglings mit sanfter Stimme: „Armes Kind, was fürchtest du von mir? O, ich bin unglücklich und muß auf eine hark Weise meine Sünden büßen; aber ich thue Niemand etwas zu Leide. Beruhige

dich, mein Sohn, und ängstige dich nicht mehr vor mir." Der verwunderte Bernhard sah dem Wärwolf dankbar in die Augen und küßte ihm entzückt die Hände; es stieg

plötzlich in seinem Herzen ein Gefühl von Liebe auf für den unglücklichen Mann, der ihn so freundlich behandelte, während er den Tod von ihm erwartet hatte.

Mit einem noch flehenden Lächeln erwiederte er: „Dank, Dank, Herr! Ich werde ewig eurer Güte gedenken, und wie das Grab über meinen vermessenen Be­ such bei euch schweigen. Vergebt mir, ich will ja schnell

den Wald verlassen." Mit diesen Worten sandte er dem Buche noch einen

trüben Blick zu, als ob er diesem Gegenstände seines bren­ nenden Verlangens ein letztes Lebewohl sagen wollte. Als er sich umwandte, bemerkte er den Wärwolf, der auf dem

Rande des Bettes saß und chn starr betrachtete, während eine Muth stiller Thränen über seine Wangen rollte.

Dieser Anblick hielt Bernhard zurück; er blickte schmerz­ lich den Unglücklichen an, und auch seinen Augen ent­

strömten Thränen von Mitgefühl. „Herr," sprach er mit seiner sanften Stimme, „Herr!

47 Euer Leiden geht mir tief zu Herzen. Ihr wäret so gütig

gegen mich, daß ich viel darum geben würde, euch trösten zu können; aber was vermag ein schwaches Kind, wie ich? Bin ich aber im Stande, euch irgend einen Dienst zu er­ weisen, so verfügt über mich!"

Der Wärwolf erhob sich langsam, nahm Bernhard bei der Hand, führte ihn aus der Hütte und sprach zu ihm: „Komm', mein Sohn, daß ich dein Angesicht in der Sonne beschaue: es wird mir eine Wohlthat sein und ein

Trost in meinem Leiden." Er brachte den Hirten zu dem Bächlein, setzte sich in das hohe Gras nieder und sagte, vor sich hin auf die

Erde weisend: „Sitz hier dicht vor mir hin, mein Sohn, und er­ staune nicht über die Thränen der Freude, die dein Anblick

mir entlockt.

Es sind schon zehn Jahre vergangen, seit

kein Menschenlächeln mehr dem unglücklichen Wärwolf ent­ gegenstrahlte, seit kein freundliches Wort sein Ohr erreichte. Und dann, soll ich dir's vertrauen? Es ist ein Wesen auf der Welt, das mir theurer ist, als mein Augapfel, dessen Bild allein mich noch an's Leben zu fesseln vermag. Dies Wesen hat blaue Augen wie du,

blonde Haare wie du,

frischrothe Wangen wie du, und eine Stimme so süß, wie

die deine." „Dies ist die geheime Macht deines Angesichts auf mein Gemüth.

Vergib einem Unglücklichen diese sonder­

bare und vielleicht lächerliche Leidenschaft."

Bernhard ergriff eine der magern Hände des Wärwolfs und streichelte sie sanft, um ihm seine Zuneigung zu erkennen zu geben, und wenn es möglich wäre, ihn

einigermaßen über sein trauriges Loos zu trösten. So saßen Beide einige Augenblicke stumm nebeneinander. Endlich fragte der Wärwolf:

48 „Aber sage mir, mein Sohn, wie durftest du es wagen,

diesen gefürchteten Wald zu betreten? Gewiß hat die Neu­ gierde dich dazu gestachelt, und du besaßest Muth genug, ihr zu folgen!" Die empfindlichste Saite von Bernhardts Gemüth war

berührt; er sollte von der verzehrenden Wißbegierde sprechen, Auch waren seine

die so feurig in seinem Herzen lebte!

Nerven zitternd erregt, und er drückte noch liebevoller die Hand des Wärwolfs, indem er erwiederte: „O Herr! ich darf es euch kaum offenbaren; doch eure Güte macht mich kühn.

Verwerft meine verwegene Bitte,

wenn ihr sie nicht erhören wollt! aber zürnet mir nicht! — Es brennt in meiner Seele ein unbegreifliches Verlangen, lesen zu lernen; ich kann nicht, noch mag ich euch erklären, wie es entstanden ist; aber es geht so weit, daß der Anblick eines Buches eine unwiderstehliche Macht auf mich ausübt;

ich fühle dann meine Stirn erglühen, mein Herz ungestümer schlagen, und ich zittere vor Begierde, wie ein Kind."

„Ich hab's gesehen," murmelte der Wärwolf. „Wohlan denn," fuhr Bernhard fort, „ich sah euch

gestern mit einem Buche unter dem Arm am Rande des Waldes hingehen. Das war mir genug. Von diesem Augen­ blick an hatte ich keine Ruhe mehr; ich schlief diese Nacht nicht, und fühlte mich durch eine geheime Macht zu euch hingezogen. Verzweifelnd kämpfte ich gegen diese unbekannte

Gewalt, denn ich fürchtete mich vor euch; aber vergebens. Mein Schicksal war beschlossen, und ich würde durch Feuer und Flammen gelaufen sein, um das Buch aufzusuchen. —

Soll ich es euch gestehen, welch' kühne, welch' verwegene Hoffnung meine Brust erfüllte? Ich wagte zu hoffen, daß

der Wärwolf mich lesen lehren würde!" Es entstand eine kurze Pause, in welcher Bernhard ängst­ lich und bebend dem Wärwolf in die hohlen Augen blickte.

49 „Wohlan denn, mein Sohn,"

sprach dieser,

„deine

Hoffnung soll dich nicht betrogen haben: der Wärwolf wird dich lesen lehren." Ein Jubelschrei klang über die Wiese hin. Bemhard

sprang auf, setzte sich neben dem Wärwolf nieder, schlang die Arme um feinen Hals und weinte vor Freude auf seiner Schulter, während Worte des Dankes seinen Lippen

entströmten. Einen Augenblick später flog er wieder in die Höhe, hüpfte wie wahnsinnig um den Wärwolf herum und rief beständig:

„Ha, ha, ich lerne lesen! Dank! Dank! ich werde zu Gott für euch beten, eure Hände wie die meines Wohl­

thäters küssen. Ha, ha, lesen, — wissen! Wie schön!" Der Wärwolf stand auf, und indem er sich Bernhard näherte, sagte er mit ernster Stimme: „Mein Sohn, ich muß die Erfüllung meines Ver­

sprechens durch unverbrüchliche Forderungen bedingen. Merke dir genau, was ich dir jetzt sagen werde, und präge dir meine Worte tief in die Seele ein: denn wenn du ein einziges vergessen solltest, kann ich dich nicht mehr bei mir sehen."

„O sprecht," rief Bernhard aus,

„ich bin zu Allem

bereit. Niemals werde ich etwas thun, was euch mißfällig sein könnte." „So gieb denn wohl Acht! — Du darfst niemals

einen Fuß in den Wald setzen, als früh Morgens, ehe noch die Sonne im Süden steht, — niemals darfst du die

Hütte des Wärwolfs wieder betreten, es möge vorfallen,

was da wolle; — niemals darfst du den Wärwolf etwas über seine Lebensweise und seine Bußübungen fragen; eben­ sowenig ihm von deinen Eltern, deiner Schwester oder deinem Bruder erzählen.

Dieser letzte Name komme vor

Allem nie über deine Lippen.; Hüte dich wohl, des Nachts

3

Sö in den Wald zu dringen!

Du kennst die Strafe, die ich

nach dem Willen Gottes erdulden muß; und gefährlich, Zeuge davon zu sein.

es ist schrecklich

Verschließe die Ge­

heimnisse dieses Waldes treu in deiner Brust: ein unvor­ sichtiges Wort könnte mir den Tod bringen. Dies ist Alles,

was ich dir zu sagen habe.

Und nun, mein Sohn, —

steh', die Sonne hat fast den Süden erreicht: eine meiner

Stunden naht. Verlaß mich nun. Wenn du morgen wieder-

kehrst, so setze dich unter jene Eiche und ahme den Schrei der Waldeule nach. Er wird in meiner Hütte wiederhallen

und ich komme dann mit dem Buche zu dir. Bis morgen, denn, mein Kind." Er drückte bei diesen Worten nochmals die Hand des

jungen Hirten, wandte sich um und ging mit langsamen Schritten seiner Hütte zu. Bernhard hob seinen Stab vom Boden auf und schlug

den Pfad ein, den er gekommen war. Wie schön, wie glänzend schien ihm nun die öde Waldnatur! Wie strah­

lend das Sonnenlicht, das ihm glühend auf die Stirn brannte, sobald er unter den Brombeerbüschen hervorge­ krochen und wieder auf der Haide war! Wie entzückend, wie süß der Gesang der Vögel und das eintönige Zirpen der Heimchen! Mit leichten, hüpfenden Schritten eilte er zu seiner

Heerde, rief seinem treuen Hunde und erzählte ihm, daß er

nun lesen lerne. Dann suchte er seinen geliebten Widder unter den Schafen auf und begann auf's Neue seine frohe Erzählung; er sang alle seine Lieder und tanzte unermüdet

auf der Haide umher, bis die sinkende Sonne ihn nach

Hause rief.

51 Ul.

I>as Anwetter. Sobald Bernhard am andern Tage seine Schafe auf

die Haide geführt hatte, kroch er unter den Brombeer­ büschen hin und eilte der Hütte des Wärwolfs zu. Er setzte sich unter dem bezeichneten Baume nieder und ahmte den Ruf der Waldeule nach: „Uhl, uhl, uhl!" Auf dies Zeichen trat der Wärwolf aus seiner Hütte

und näherte sich dem Jünglinge mit freundlichem Lächeln; er setzte sich neben ihn unter den Baum, und nachdem er

das große Buch aufgeschlagen, begann er, ihm ohne weitere

Erklärung die Buchstaben zu zeigen und zu nennen. Als er diesem Unterricht zwei Stunden gewidmet hatte, erhob

sich der Wärwolf, zog ein anderes Buch unter seinem Ge­ wände hervor und reichte es Bernhard mit den Worten: „Mein Sohn, nimm dies kleinere Buch als ein Ge­ schenk von mir: es diene dir, um das, was ich dich gelehrt, für dich zu. wiederholen. Lesen lernen ist nicht leicht: du mußt alle deine Geisteskräfte zusammennehmen, um wohl

zu behalten,

was ich dir sage,

und wenn du allein bist,

mußt du die Buchstaben wiederzuerkennen suchen. Ich ver­ traue dir hinlänglich, um nicht überzeugt zu sein, daß du dies Buch Niemand zeigen, und im Fall es entdeckt würde, doch über den Wärwolf schweigen wirst." Bernhard brachte das Buch entzückt an seine Lippen

und antwortete: „O fürchtet nichts, Herr, ich werde das Buch in einen Beutel von Schaffell stecken und an einer Schnur auf meiner bloßen Brust tragen. Auf diese Art wird man es sicher nicht entdecken. Ich werde es nur fern von allen Menschen hervorziehen, um ungestört lernen zu können."

52 „Bis morgen denn, mein Sohn," sprach der Wär-

wolf, und entfernte sich. Bernhard verließ den Wald und begab sich zu seiner Heerde zurück. Dort setzte er sich mit seligem Vergnügen auf die Erde nieder, schlug das Buch auf den Knieen auf und wiederholte in tiefem Selbstvergessen das Gehörte. Zuweilen erhellte ein freudiges Lächeln seine Züge: — dann hatte er einen Buchstaben erkannt, und jubelte ihm, wie einem alten Freunde entgegen; zuweilen aber lagerten

sich Trauer und Mißvergnügen auf feine Stirne, welche er

ungeduldig rieb: — dann war sein Gedächtniß ihm untreu geworden und versagte ihm den Namen dieses oder jenen Buchstabens. So verlebte Bernhard den ersten Tag seiner Lehrzeit, und so vergingen auch alle darauf folgenden Tage. Mcht immer konnte er seine Heerde verlassen, um nach dem Walde zu gehen; denn häufig mußte er dieselbe fern von seiner Haide grasen lassen. So vergingen denn

oft fünf bis sechs Tage,

ehe er den Wärwolf besuchen

konnte; aber dann lernte er um so eifriger in seinem

kleinen Buche, welches er stets auf dem Herzen trug.

Seit seiner Bekanntschaft mit dem Wärwolf war Bern­ hard von dem Pachter, dessen Schäfer er war, nicht mehr so gern gesehen. Die Abnahme von Wohlwollen rührte

von Bernhard's Nachlässigkeit her: denn anstatt die Schafe nach der fettesten Weide zu bringen, war er fast immer in der Nähe des Waldes zu finden, obschon dort kein Futter für die Heerde mehr wuchs, und oft hatten die Vorüber­

gehenden sich vergebens nach dem Schäfer umgesehen. Hierüber mußte Bernhard fast täglich Vorwürfe hören, aber wenn er sich auch zu bessern schien, so geschah es nur, um nach wenigen Tagen wieder denselben Weg einzuschlagen.

Mcht wunderbar wird es erscheinen, daß Bernhard in

53 kurzer Zeit bedeutende Fortschritte machte, und noch ehe ein Jahr verging, sein ganzes Buch lesen konnte, ja selbst die schönen Gebete, welche darin standen, auswendig wußte. Von Zeit zu Zeit ließ ihn der Wärwolf in dem großen Buche lesen; dies war eine ungemeine Freude für den Hirten,

da der Band

„Plinius Naturwunder"

enthielt

und die seltsamsten Thiere beschrieb.

Bis dahin hatte Bernhard den Wärwolf noch über nichts gefragt, und dieser hatte noch kein Verlangen gezeigt,

etwas Näheres über seinen jungen Schüler zu vernehmen: er kannte selbst dessen Namen noch nicht. Demungeachtet fühlte Bernhard sich durch ein tiefes Gefühl von Liebe und Dankbarkeit zu seinem Wohlthäter hnigezogen. Schon häufig hatte er bittere Thränen bei dem Gedanken ver­

gossen, wie viel Schmerzen der Wärwolf ertragen müsse, ohne daß es ihm vergönnt sei, Trost und Erleichterung für seine Leiden zu suchen. Sein dankbares Mitgefühl wurde

noch erhöht, als er nach einem Jahre bemerkte, wie der Wärwolf zusehends abmagerte und offenbar allmählich dem Grabe zuwankte. Mit tiefer Betrübniß sah Bernhard, daß der Alte bald nur noch mit Mühe die Hütte verlassen

konnte, um sich nach dem Baume zu begeben, daß seine Augen allen Glanz verloren und seine Stimme dumpf und fast unverständlich wurde.

Einst, als der Wärwolf ihm eine Stelle aus dem großen Buche zu erklären suchte, verlor er plötzlich die Sprache

mitten in der Rede und hauchte einen Seufzer aus, der bewies, daß seine Brust zu schwach war, um noch so an­ haltendes Athemholen ertragen zu können. Das Gefühl überwältigte diesmal Bernhard's Willen und er rief unter einem Strom von Thränen und mit schmerzlichem Tone:

„O Herr, ihr seid krank und ihr thut Nichts, um wieder zu genesen.

So wollt ihr denn sterben?"

54 Statt aller Antwort hob der Wärwolf sein Buch vom

Boden auf, wandte sich langsam der Hütte zu und sagte

-mit trauriger Stimme:

„Bis morgen, mein Sohn." Bernhard sah ihn schwankend dahingehen. Als er noch eine Zeitlang auf derselben Stelle geweint hatte, kehrte er

voll Schmerz und Angst zur Haide zurück.

Während des

ganzen Tages gedachte er ausschließlich der Krankheit seines Wohlthäters und vergoß in der Stille manche Thräne

über sein beklagenswerthes Loos. Als der Tag sich neigte, ttat er den Heimweg an und überzählte, in Gegenwart des Pachters, die Schafe seiner

Heerde, während er sie in den Stall laufen ließ. Es fehlten vier Schafe und ein Widder. Da machte sich der lang zurückgehaltene Zorn des Pachters Luft: er verwies dem Hirten mit harten Reden

seine Nachlässigkeit und überhäufte ihn mit Scheltworten. Zugleich hieß er ihn sein Bündel schnüren, und jagte ihn als ungetreuen Diener vom Pachthofe weg. Als der Abend die Erde in Dunkel gehüllt hatte, lag

Bernhard weinend auf der Haide, nicht fern von den be­

kannten Brombeerbüschen. Der unglückliche Jüngling wußte nicht, wohin er sich wenden sollte, und hatte den Kopf auf

sein Bündel niedergelegt, um den Tag zu erwarten, und

dann dem Wärwolf sein Mißgeschick zu Lagen. Trotz seiner tiefen Betrübniß schlief er doch endlich ein. Kaum hatte er ein paar Stunden geschlafen, als die Luft schwer und gewitterschwül, gleich einer bleiernen Decke auf ihm zu lasten begann.

Das Athemholen wurde ihm

schwer, der Schweiß brach ihm am ganzen Leibe aus, von

Zeit zu Zeit fuhr er halb bewußtlos mit der Hand nach

der Brust, wie um sich Luft zu machen. Alles, selbst die leblose Natur, schien in ängstlicher

55 Erwartung; kein Windchen, kein seufzend Lüftchen bewegte die Blätter — die Haide schien ein unermeßliches Grab.

Nur von Weitem hörte man eben das Gequak der Frösche,

die dem nahenden Regen ihren Gruß entgegensangen. Bald zeigte sich am fernen Horizont ein schwarzer Behang, der langsam höher und höher sich erhob und weiter sich ausbreitete, einem Trauerflore gleich, den Gottes Hand über die angstvolle Erde deckte — hin und wieder flammte hinter dem Horizont eine lichte Gluth auf — noch schauer­

licher wurde die Stille der Natur,

noch drückender die

Luft .... bis endlich der drohende Vulkan einen Boten aussandte, wie zu künden: Ich komme!

Das vorausgeschickte Lüftchen lispelte schmeichelnd durch das Laub, beugte sanft die Spitzen der Pflänzchen: — bald darauf aber entfaltete sich schnell das Unwetter: ein Feuer­ pfeil schoß dahin durch den weiten Raum, ein fürchterlicher

Donnerschlag erschütterte Bernhard's Lagerstätte. Erwachend und noch betäubt von dem festen Schlafe, sprang der Hirte empor und schlug die Augen auf. — Da entfuhren zwanzig Blitze zugleich dem Wolkengebirge; gleich darauf tobte heulend ein Orkan über die Haide hin, beugte oder brach die stärksten Bäume, und führte die ihnen entrissenen Blätter in schnellem Kreise gen Himmel; die Wolken bra­ chen, der Regen stürzte in Strömen nieder, wie eine zweite Sündfluth.... Bang und ängstlich fiel Bernhard auf beide Kniee nieder und begann zu beten; das Wasser lief stromweise

Er stand auf und eilte zu einer großen Buche, um da Schutz vor dem Unwetter zu suchen; aber noch ehe er dieselbe erreichen konnte, lief eine flammende Schlange am Stamm des an ihm herunter, die Kälte beklemmte seine Brust.

Baumes nieder, zerbrach ihn gleich einem Strohhalm und die reiche Krone stürzte mit lautem Krachen zur Erde nieder-

56 Unaufhaltsam zischten die Blitze über die Haide hin: Bern-

hard's Entsetzen wuchs mit jedem Augenblicke und, sei es, daß er allein vom Wärwolf noch Hülfe erwartete, oder daß ihn das Schicksal, welches über ihm waltete, trieb, er

kroch unter den Brombeerbüschen

hin und eilte verwirrt

der Hütte des Wärwolfs zu. Unter dem Eichenbaum an­ gekommen, rief er verzweifelnd: „Uhl, uhl, uhl!" Doch er hörte nichts, und wie grell auch der Blitz die Haide erleuchtete, er sah den Wärwolf nicht kommen.

Erst

jetzt fiel es ihm ein, daß der Wärwolf in jeder Nacht, dem

Strafgerichte Gottes zufolge, als Wolf umherlaufen müsse, und daß er vielleicht in dieser Gestalt zurückkehren werde.

Der Hütte durfte er sich nicht nähern, um nicht sein gegebenes Wort zu brechen. Er kehrte auf demselben Wege,

den er gekommen und den einzelne Blitze vor ihm erhellten

zurück und warf sich weinend, in einiger Entfernung von

den Brombeerbüschen, zur Erde nieder.

Das Gewitter

verzog sich gen Norden hin, und eine schauerliche Sülle sank nieder auf die Erde.

IV. KUfKlär««-.

Am andern Morgen erhob sich die Sonne hell und

glänzend am blauen Horizont, sie sandte ihre freundlichen Strahlen zu Bernhard und trocknete schnell seine durch­ näßten Kleider. Dieser nahm sein Bündel vom Boden, begab sich auf's Neue in den Wald und rief unter der Eiche sein:

„Uhl, uhl, uhl!"

56 Unaufhaltsam zischten die Blitze über die Haide hin: Bern-

hard's Entsetzen wuchs mit jedem Augenblicke und, sei es, daß er allein vom Wärwolf noch Hülfe erwartete, oder daß ihn das Schicksal, welches über ihm waltete, trieb, er

kroch unter den Brombeerbüschen

hin und eilte verwirrt

der Hütte des Wärwolfs zu. Unter dem Eichenbaum an­ gekommen, rief er verzweifelnd: „Uhl, uhl, uhl!" Doch er hörte nichts, und wie grell auch der Blitz die Haide erleuchtete, er sah den Wärwolf nicht kommen.

Erst

jetzt fiel es ihm ein, daß der Wärwolf in jeder Nacht, dem

Strafgerichte Gottes zufolge, als Wolf umherlaufen müsse, und daß er vielleicht in dieser Gestalt zurückkehren werde.

Der Hütte durfte er sich nicht nähern, um nicht sein gegebenes Wort zu brechen. Er kehrte auf demselben Wege,

den er gekommen und den einzelne Blitze vor ihm erhellten

zurück und warf sich weinend, in einiger Entfernung von

den Brombeerbüschen, zur Erde nieder.

Das Gewitter

verzog sich gen Norden hin, und eine schauerliche Sülle sank nieder auf die Erde.

IV. KUfKlär««-.

Am andern Morgen erhob sich die Sonne hell und

glänzend am blauen Horizont, sie sandte ihre freundlichen Strahlen zu Bernhard und trocknete schnell seine durch­ näßten Kleider. Dieser nahm sein Bündel vom Boden, begab sich auf's Neue in den Wald und rief unter der Eiche sein:

„Uhl, uhl, uhl!"

57 Aber sein Ruf blieb wie in der vergangenen Nacht

unbeantwortet, und Niemand trat aus der Hütte. Bemhard wiederholte ihn zu verschiedenen Malen, doch immer vergebens. Da durchfuhr eine bange Ahnung seine Brust: er dachte an den möglichen Tod des Wärwolfs; vielleicht auch war er nur krank — konnte er sich dann selbst helfen, da er kaum mehr einige Schritte zu gehen vermochte? — Diese' Gedanken reiften in Bernhard den Entschluß, nach

der Hütte zu gehen und sich selbst seinem Edelmuthe auf­ zuopfern.

Er schritt auf die Höhle zu; — aber kaum hatte er hineingeblickt,

als ein schmerzlicher Schrei seinen Lippen

entfuhr und er bebend wie festgebannt stehen blieb.

Bor dem Kreuze lag der Wärwolf halb nackt, einer Leiche gleich, ausgestreckt; Blut entquoll in dicken Tropfen seinem entblößten Rücken, und seine matte Hand hielt noch krampfhaft eine Geißel,

mit welcher er sich selbst so un­

barmherzig geschlagen hatte.

Nachdem Bernhard mit stummem Entsetzen dies gräß­ liche Schauspiel angesehen hatte, sprang er in die Hütte, umfaßte den Wärwolf mit beiden Armen und rief weinend aus:

„Herr, Herr, erwacht doch! Ich bin es, euer Schüler, o sterbt doch nicht!" Der Wärwolf öffnete die Augen und sah den jungen

Hirten, der sich bemühte, ihn aufzuheben, unstät und mit

traurigem Lächeln an.

„Mein Sohn," sprach er, „ich vergebe dir, daß du dein Wort gebrochen hast: Du hast nun ein Geheimniß meines bittern Lebens entdeckt. Heute werde ich leider! noch nicht sterben: aber ich hoffe zu Gott, daß er mir bald ein Grab als Ruheplatz gönnen möge." Bei diesen Worten richtete er sich gewalffam auf, zog

58 sein härenes Gewand an und setzte sich auf den Rand des Bettes nieder; er sah ungewöhnlich bleich aus, seine Lippen waren blau und seine Augen starr und glanzlos. Länger konnte Bernhard diesen Anblick nicht ertragen. „O, Herr!" rief er mit schmerzlicher Stimme, „warum peinigt ihr euch so? Das kann Gottes Wille nicht sein! Habt ihr wirllich eine Sünde begangen, so kann sie nicht so groß sein, als die Strafe, die ihr euch auferlegt!" Ein spöttisches Lächeln schwebte über des Wärwolfs Züge. „Nicht groß?" sprach er. „Höre, Jüngling, da der Tod mir nahe bevorsteht und du doch nie deinen Wohl­ thäter verrathen wirst, so will ich dir meine Sünde anver­ trauen. Du hast in dem Buche, das ich dir gab, gelesen, wie Kain seinen Bruder Abel ermordete, und wie er darum von Gott bis in seine Nachkommenschaft verflucht wurde. Wohlan, mein Sohn, der Wärwolf hat auch seinen Bruder ermordet, und Gott hat auch ihn verflucht bis in den Tod! Sieh' dieses Schwert! es ist dasselbe, welches das Haupt meines Bruders spaltete; auf diesem Koller klebt sein un­ schuldig Blut." Eine bange Stille folgte diesen Worten. Bald jedoch blickte der Wärwolf auf's Neue dem er­ schütterten Bernhard in's Auge und fuhr mit gebrochener Stimme in seiner Erzählung also fort: „Mein Sohn, ich will dir in kurzen Worten meine Missethat offenbaren: die Geschichte meines Lebens wird wohl die letzte Lehre sein, die ich dir geben kann. — Ich hatte einen Bruder, wir liebten einander mit der größten Innigkeit. Wir hatten auch eine Schwester, deren Gesichts­ züge den deinen gar ähnlich sind; darum erfreue ich mich an deinem Anblick. Lange lebten wir zufrieden und glück­ lich, bis eine Frau die Eifersucht in unsern Herzen erweckte. Ich liebte diese Frau mit verzehrender Gluth — mein

59 Bruder liebte sie nicht minder; er war aber schöner, als ich, er schien mit Gegenliebe belohnt. Die Eifersucht glühte wie Gift in meinen Adern, doch konnte sie die Bruderliebe nicht besiegen: ich barg meinen

Schmerz und litt im Stillen. Als ich einst mit meinem

Bruder und einem alten Diener von einem Besuche bei jener Frau zurückkehrte, begann er, mich wegen meiner

unglücklichen Liebe zu höhnen und zu verspotten; die lang zurückgehaltene Wuth entbrannte in meiner Brust; — er

fuhr mit seinen Spötteleien fort! — Ich verlor alle Be­

sinnung, und der Zorn machte mich blind; ohne es selbst zu wollen, ergriff ich dieses Schwert, das an l>em Sattel

meines Pferdes hing, und spaltete das Haupt meines Bruders — eine Leiche, stürzte er vor mir zur Erde nieder. Ich sprang schreiend vom Pferde, warf mich über ihn hin und rief unter heftigem Weinen seinen Namen; sein Blut bespritzte meinen Koller, ich riß mir verzweifelnd die Haare

aus; doch er blieb stumm!" ' Hier hielt der Wärwolf ein wenig inne, um Athem zu schöpfen. Bernhard starrte regungslos vor sich hin; er bebte sichtbar, und seine ganze Haltung verrieth eine eigen­ thümliche Ungeduld, die Fortsetzung dieser Geschichte zu vernehmen. Gewiß, die Gemüthsbewegung, die ihn ergriffen, verbarg ebenfalls ein Geheimniß. Der Wärwolf fuhr fort: „Lange war es mir nicht gegönnt, an der Leiche meines unglücklichen Bruders meine Missethat zu bereuen. Bald kam der alte Diener mit einem Reisesacke und band diesen

auf mein Pferd; dann riß er mich von dem Todten weg, zwang mich mit unwiderstehlicher Macht, mein Pferd zu besteigen und drängte mich, zu fliehen, damit unser Haus nicht auf ewig mit Schande befleckt werde."

„Blind und bewußtlos gab ich dem Rosse die Sporen,

60 lind ließ es die ganze Nacht hindurch rennen....

Zwei

Jahre irrte ich in fremden Ländern umher, erst nachdem

sie verflossen, beichtete ich, und meine Strafe war — mein

ganzes Leben in der Einsamkeit und in Bußübungen zu­ Dazu nun wählte ich' diesen Wald. Ein Wärwolf bin ich nicht, mein Sohn; doch um meine Geheimnisse besser bewahren zu .können, ließ ich mir diesen Namen, den

zubringen.

die Bauern mir gegeben, gefallen, und behielt ihn.

Nun

kennst du deinen Wohlthäter."

Bernhard wollte sprechen, doch seine Ueberraschung war so groß, daß er lange nicht zum Worte kommen konnte; endlich doch wurde seine Brust freier und wie sinnlos

rief er: „Abulfaragus! Aleidis! Arnold! O, Herr,

ihr seid

kein Mörder, euer Name ist Hugo Graf von Craenhove!" Wer vermöchte den Ausdruck zu beschreiben, der Hugo's Züge bei diesen Worten überflog! Seine Augen leuchteten plötzlich in neuem Feuer: er neigte das Haupt Bernhard zu, wie wenn er ihn um nähere Erklärung der Worte hätte

flehen wollen. Der Jünglillg aber rief auf's Neue: „Nein, Graf Hugo, ihr seid kein Mörder, euer Bruder

lebt!" Unter einem lauten Schrei und sank Hugo von der Bettstelle nieder sich dann zu Bernhard, faßte seine „Was sagst du? O sprich! Ich

strömenden Thränen zu Boden, schleppte Hände und seufzte: hätte meinen Bruder

nicht ermordet? Ich wäre kein Mörder? Er lebt und du hast ihn lebend gesehen nach jener schrecklichen Nacht?

O Gott, könnte ich das glauben! Doch du irrest, ich habe ihn ermordet, gewiß — da, da hängt ja sein Blut!"

„Nein, nein, Herr!" rief Bernhard, „ich irre nicht: Arnold von Craenhove lebt, ich wiederhole es euch. Er selbst

61 gab mir die süße Aleidis zur Schwester! Ich habe acht Jahre meines Lebens auf dem Laternenhofe zugebracht und kenne das Ereigniß jener Schreckensnacht. Der Schlag, den ihr eurem Bruder versetztet, war nicht tödtlich, und nur ein tiefe Narbe auf der Stirne hatte er davongetragen. Nun wird mir erst klar, warum Abulfaragus mich ver­ bannte ; es geschah, um euch meinem Herrn, dem Grafen Arnold, wieder zuzuführen." Hugo bezweifelte jetzt nicht mehr die Wahrheit von Bernhard's Worten. Er warf sich vor dem Kreuze nieder und sandte mit lauter Stimme ein feuriges Dankgebet zu dem Allmächtigen. Als er sich wieder erhob, erhellte ein seliges Lächeln sein Antlitz, und er wiederholte mit unaus­ sprechlicher Freude: „So bin ich denn kein Mörder! kein Mörder!" Dann setzte er sich matt auf das Lager nieder und Thränen der Freude strömten unaufhaltsam unter bestän­ digem Lächeln über seine Wangen. Bernhard stand eine Weile stumm da und hielt die Hände vor das Gesicht, wie einer tiefen Aufregung hin­ gegeben. Nach einigen Augenblicken näherte er sich Hugo und sprach ernst: „Der allgütige Gott hat mich eine kurze Zeit unglück­ lich gemacht, um mich als Werkzeug seiner unerforschlichen Rathschläge zu gebrauchen; meine Aufgabe ist nun bald vollbracht. — Ich werde nun, wie Abulfaragus es vorher verkündet, schnell nach dem Laternenhofe zurückkehren, um das Leiden eures Bruders durch ein einziges Wort in Freude zu verwandeln." Hugo's Züge überlief verdüsternd ein Ausdruck tiefen Schmerzes. „Mein Bruder," sagte er nachdenkend; „mein Bruder! werde ich vor ihm erscheinen dürfen? Wird er mich nicht,

62 wie einen Mörder, mit Vorwürfen überhäufen? Und den­

noch, o Gott! ich muß ihn sehen, seine Vergebung erflehen,

feinen Bruderkuß auf meiner Wange fühlen, meine Schwe­ an die Brust drücken. — Und dann, dann

ster Aleidis

will ich sterben im Schatten der Thürme des väterlichen Schlosses . . .

„Euer Bruder?" fiel Bernhard ihm in die Rede, „euer

Bruder wird euch wie einen Engel empfangen,

der vom

Herrn gesandt ist, ihm Vergebung zu bringen. Er hat, wie

ihr, viel gelitten; auch eristabgezehrt, und auch er beugt das Haupt unter bitterer Reue. Die Ueberzeugung, daß ihr lebt, und daß er durch seine spöttischen Worte euren Tod nicht verschuldete, wird

ihm neue Lebenskraft und

Freude verleihen; er wird euch, wie seinen Erlöser segnen;

glaubt mir, Herr!" Eine neue Pause folgte diesen Worten;

Graf Hugo

unterbrach zuerst das Schweigen; er richtete sich empor, faßte Bernhard's Hand und sagte in flehendem Tone:

„Mein guter Sohn, du wirst dich vielleicht wundern über die Bitte, welche ich an dich richten werde: es ist wahr­

scheinlich der letzte Dienst, den du mir erweisen kannst." „Alles, Alles," rief Bernhard aus; „ich habe ja noch

nichts für meinen Wohlthäter, der mich lesen lehrte, thun können." „Wohlan, Jüngling, ich will dich nach dem Laternen­ hofe begleiten» Hast du wohl Muth uud Kraft genug, um meine matten Glieder zu unterstützen?" „Ihr seid so schwach, Herr," seufzte Bernhard. „Wir haben zwei gute Stunden zu gehen, von hieraus! Werden eure Kräfte auch ausreichen? Wenn ihr einwilligt, hierzu

bleiben, werde ich noch heute Abend mit einem Wagen

zurückkommen, euch abzuholen." „Meine Ungeduld ist zu groß," erwiederte Hugo, „und

63 begreifst du nicht, mein Sohn, daß Diener und Waffen­ knechte den Wagen begleiten würden? Auf diese Weise aber

will ich nicht wiederkehren." „Ich thue wie ihrwollt," sprach Bernhard, „ich bin bereit!" Dankbar drückte Graf Hugo die Hand des Jünglings,

und sagte, vor sich hinweisend: „Mein Sohn, diese Wohnung des Wärwolfs möge nicht, als ein Blatt seiner unglücklichen Lebensgeschichte, hier fortbestehen. Nimm Moos und Blätter aus dem Lager, reiße die Zweige aus der Erde und lege sie darauf; auch

das Lesepult wirf dazu." Als dies geschehen war, ergriff Hugo den blutbe­ fleckten Koller und legte ihn auf den Scheiterhaufen.

Bernhard folgte,

ohne ein Wort zu wagen, obgleich

sich großes Erstaunen in seinen Zügen aussprach. Er legte

das Kreuz in einer Keinen Entfernung nieder. Hugo war beschäftigt, mit einem Kieselstein dem Schwerte Funken zu entlocken, welche er auf einen Haufen trocknen Grases nieder­ fallen ließ. Jetzt erst verstand Bernhard seine Absicht. Er

lief schnell zurück, ergriff das große Buch, und nahm es unter den Arm, wie einen Freund, den er aus den Flam­ men retten wollte. Auf den Reisesack zeigend, fragte er:

„Aber dies Geld, Herr?" „Willst du davon mitnehmen,"

erwiederte Hugo, „so

thue es." Bernhard nahm zwei der goldenen Münzen und steckte sie zu seinem kleinen Buche in den ledernen Beutel.

Der

Ausdruck seines Gesichts gab deutlich zu verstehen, daß er

das Geld nicht ohne besondere Absicht mitnahm. Plötzlich faßte das Gras Feuer und loderte unter dem Hause Hugo's in hellen Flammen empor. Dieser ergriff Bernhard bei der Hand, führte ihn aus

64 der Hütte, hieß ihn das Kreuz mitnehmen, und ging voran bis zu dem Eichbaum.

Als sie sich umsahen, sahen sie

dicke Rauchwolken aus der Hütte aufsteigen, bald schlugen

züngelnde Flammen über dem Dache zusammen und um­ gaben in einem Augenblicke des Grafen Wohnung. „Nun, mein Kind," seufzte Hugo, „laß uns noch ein­ mal in diesem Walde vereint zu Gott beten."

Mit diesen Worten kniete er langsam nieder und erhob

seine Hände im Gebete. Bernhard folgte seinem Beispiel, und während die Hütte ein Raub der Flammen ward,

sandten beide in der Einsamkeit der wilden Natur ein inniges Gebet zu Gott, und ein freudiges Lebewohl dem stillen Orte, der so lange von den Thränen des Grafen

benetzt gewesen.

Nachdem die Hütte in Asche verwandelt

war, standen sie auf, pflanzten das hölzerne Kreuz zum Andenken an die Eiche und schlugen mit langsamen Schritten den Fußpfad ein. Einen Augenblick später waren sie auf der Haide angelangt. Graf Hugo hatte seinen Kräften zu viel vertraut: kaum waren Beide aus dem Walde, als er eine große Schwäche in allen Gliedern empfand. Er setzte sich erschöpft

nieder und ließ das Haupt traurig auf die Brust nieder­ hängen. Bernhard brach indessen einen Eichenstab aus dem Gebüsche, um sich auf denselben zu stützen, und kehrte dann zu Hugo zurück: „Habt nur guten Muth, Herr," sprach er, „ich werde euch schon unterstützen; euch tragen, wenn es möglich ist.

Wir werden langsamweitergehen; faßt nur guten Muth!" Er half nun dem schwachen Hugo aufstehen; dann brachte er die Schulter unter dessen Arm, und nöthigte ihn, sich darauf zu lehnen.

Mit schwankenden Schritten gingen sie über die Haide hin und unterbrachen ihre Keine Reise durch oft wiederholtes Ruhen.

65 Lange herrschte ein ziemliches Schweigen zwischen den Beiden; aber nach und nach begannen sie tröstende Reden

mit einander zu führen. Bernhard erzählte sonder Zweifel

die Geschichte seines

wechselnden Lebens,

denn

häufig

glänzten seine Augen in ungewöhnlichem Feuer; der Name Aleidis erklang unter den einsamen Bäumen, und gewiß hörten die Felder das schüchterne Bekenntniß der geheimsten

Gefühle feines Herzens.

Obgleich Hugo eine große Er­

müdung empfand, so umschwebte doch zuweilen ein Lächeln

seine Züge, als er die vornehme Herkunft seines jungen Gefährten vernahm und gewahrte, daß gegenseitige Liebe die Herzen von Bernhard und Aleidis einander verbunden

habe. Die Erzählung des Jünglings überzeugte ihn, daß Arnold seine (Spöttereien beweine, und daß er nie aufgehört

ihn zu lieben, nngeachtet der tödtlichen Wunden, die Hugo ihm versetzte. Diese tröstende Versicherung verlieh ihm neue Lebenskraft; er kämpfte muthig gegen die Schwäche

seiner Glieder und erreichte so mit Bernhard gegen zwei Uhr des Nachmittags ein kleines Wäldchen bei

Wyneghem. Da verließen ihn seine Kräfte; er sank an einem Baume nieder und lag matt und einer Leiche gleich am Boden; — dennoch waren seine Züge von einem seligen

Ausdruck verklärt: seine Augen erglänzten,

seine hohlen

Wangen hatten sich durch die große Anstrengung mit leisem Roth gefärbt. —

Der kräftigere Geist siegte über den

erschöpften Körper, und er glaubte mit Zuversicht, daß er nach der wohlthätigen Ruhe wieder im Stande sein werde, seine Reise weiter fortzusetzen. Bewundernswerth war die zarte Sorgfalt von Bern­

hard ; er sah ängstlich umher, und seine Augen suchten nach einem Gegenstände, der ihm als Kissen für Hugo's schwa­ ches Haupt dienen könnte.

Als er dies nicht fand, ließ

66 er sich auf den Boden nieder, zog Hugo's Haupt leise zu

sich und lehnte es an seine Brust; dann blieb er regungs­ los sitzen. Kein Seufzer war unter dem Baum zu vernehmen,

feine Bewegung verrieth Leben in diesen beiden Gestalten, bis endlich Graf Hugo, nachdem er eine halbe Stunde

geruht, zu Bernhard sagte: „Mein Sohn, mich dürstet." Der Jüngling wandte sich vorsichtig los und erwiederte,

indem er aufstand: „Bleibt ruhig hier liegen, Herr, ich will mich nach einem Trünke umsehen.

Werdet ihr wohl den Durst bis

zu meiner Rückkehr ertragen können?" „Ich werde noch so lange ruhen," seufzte Hugo.

Als Bernhard dies hörte, ging er zwischen den Bäu­ men durch; sobald er aber nicht mehr von Hugo gesehen werden konnte, lief er aus allen Kräften dem Dorfe Wy-

neghem zu. Dort wechselte er ein Goldstück gegen einen Krug Bier, ein Stück gesottenen Fleisches, Butter und Brod. Mit diesen Vorräthen beladen,

kehrte er eilig zu Hugo

zurück, welcher aufrecht an dem Baume saß und sich von

der übergroßen Ermüdung ein wenig erholt zu haben schien. Er aß und trank von Allem, was Bernhard ihm reichte,

und erfreute seinen jungen Gefährten mit Beweisen wieder­ erlangter Kraft und frischern Muthes.

Bald ergriff Bernhard auf's Neue das Buch und den

Wanderstab; Hugo stützte sich wieder auf seine Schulter,

und so verließen sie den Ruheplatz, um ihre Reise weiter fortzusetzen.

Zwei Stunden vor Sonnenuntergang erblickten sie in Dasselbe Ge­

der Ferne die Thürme des Laternenhofes.

fühl erfüllte Beide; ihre Herzen schlugen schneller, sie er­

bebten und hefteten die Augen fest auf die fernen Zinnen,

67 ohne durch ein einziges Wort ihre tiefe Aufregung zu ver­ rathen. Man sollte denken, daß sie nun mit verdoppelten Schritten und erhöhter Ungeduld dem Ziele ihrer Wande­ rung zugeeilt wären? Es geschah gerade das Gegentheil: Beide sanken, von ihren Gefühlen überwältigt, zu Boden und waren einige Zeit sprachlos in dem Anblick der Thürme verloren, wäh­ rend die Thränen ihnen in Hellen Perlen über die Wangen rollten. Hugo unterbrach zuerst das Schweigen: „O, mein Sohn, könntest du in mein Herz blicken! Wüßtest du, welche unendliche Freude mich erfüllt und ergreift! — Da sind sie, die Thürme des väterlichen Schlosses! Nach dreizehn Jahren Leiden, nach dreizehn Jahren, in welchen die Reue mir wie einem Mörder am Herzen nagte, sehe ich sie wieder, mit dem beglückenden Gefühle, kein Mörder zu sein! Ach, das Laub der Bäume, das meine Kinderspiele beschattete, wird noch einmal über dem greisen Haupte des schwachen, hinfälligen Hugo rauschen! Ich werde reiche Erinnerungen an meine Vorfahren wieder­ finden, meinen Bruder Arnold, meine Aleidis, meinen treuen Abulfaragus entzückt in die Arme schließen .... ach! der allgütige Gott schenke mir nur noch einige Tage.... und dann — dann will ich dankbar und froh . . . ." Ein sonderbarer Schrei Bernhard's unterbrach ihn in seiner Rede. „Seht! Seht!" rief der Jüngling, während er nach der Ferne zeigte, „seht ihr unter jenen Bäumen einen alten Mann, der Kräuter pflückt? Ja, ja, er ist es!" Ehe noch Hugo mit dem Auge der Richtung folgen konnte, die Bernhard ihm anwies, war dieser schon in un­ gestümer Eile aufgestanden und lief nun, so schnell er konnte,

68 zwischen den Bäumen hin und auf den alten Mann zu.

Hugo sah, ohne den Greis in der Entfernung zu erkennen, wie derselbe Bernhard dreimal an die Brust drückte und Gleich darauf schritten sie schnell der Stelle zu, wo Hugo saß, und erst als sie sich ihm näherten,

ihn feurig küßte.

erkannte dieser seinen treuen Abulfaragus. Er erhob sich mit einem Freudenschrei und sank in die Arme des Astro­ logen. Dieser konnte vor Erschütterung nicht sprechen, und seine Zunge stammelte nur unverständliche Worte.

Er ließ

sich auf das Gras nieder und vergoß einen Strom stiller

Thränen. Hugo setzte sich ihm zur Seite und faßte seine Hand; Bernhard saß auf der andern Seite in derselben Haltung. Nach einigen Augenblicken trocknete Abulfaragus die Thränen von seinen Wangen, betrachtete in Bewunde­

rung und Liebe Hugo's Angesicht, und rief mit zum Him­ mel erhobenen Blicken: „Dank, Dank dir, o Gott, daß ich ihn noch einmal

sehe, bevor ich sterbe." Dann heftete er seine Blicke wieder auf Hugo und sagte: „Ihr seid schwach und krank, Herr, aber fürchtet nicht, daß der Tod euch uns entreiße: mehr denn einmal habe ich ihn besiegt, und außerdem strömt das edle Blut von

Craenhove in eisernen Körpern.

Muth und Hoffnung,

Graf Hugo; Glück und Frieden erwarten uns Alle." „So ist es denn wahr, Abulfaragus, daß mein Bruder Arnold mich nicht haßt?"

„Euch hassen?" erwiederte Abulfaragus erstaunt, „euch

hassen, Graf Hugo? Euer Antlitz verräth,

wie viel ihr

gelitten habt; aber ich darf kaum glauben, daß euer Leben

glücklicher war, als das von Arnold."

„Ihr glaubtet, euren Bruder ermordet zu haben; Ar­ nold hielt sich durch seine höhnenden Worte für die Ursache

69 der Missethat und vielleicht eines Selbstmordes.

er zwei Jahre umhergereist,

Nachdem

zwei Jahre vergebens nach

einem Zeichen eures Lebens geforscht hatte, vergrub er sich

gleich einem Todten in den Mauern des Laternenhofes, mit der Ueberzeugung, daß ihr selbst euch das Leben genommen

hättet. Ihr könnt leicht begreifen, wie diese doppelten Gewissensbisse seine Ruhe, seinen innern Frieden unwieder­ bringlich zerstören mußten. Ihr seid mager und abgehärmt;

er ist es noch viel mehr; — ihr seid glücklich, ihn wieder zu sehen, und er wird vielleicht bei eurem Anblick vor Freude die Sinne verlieren!" „Wohlan, so laßt uns zu ihm eilen!" rief Hugo, sich erhebend, „damit ich chn wiedersehe und seine Vergebung erhalte!"

„Herr Graf!"

erwiederte Abulfaragus schnell, „euer Eure plötzliche Erscheinung könnte leicht tödtliche Folgen für euren Wunsch kann und darf noch nicht erfüllt werden.

Bruder haben. Außerdem, ihr wißt es, ist uns Allen der

größte Theil unseres Lebens in Thränen und in Schmerzen entschwunden, um das schreckliche Geheimniß zu bewahren. Es darf noch nicht entdeckt werden!" „Wenn Graf Hugo von Craenhove den Laternenhof bei Tage in diesem armseligen Gewände beträte, so würden die Diener und Waffenknechte die Lösung des Räthsels suchen — und wer weiß, ob es ihnen nicht gelänge, sie zu finden! Bleibt hier bis gegen Abend; ich werde nach dem

Schloß zurückkehren und dort Befehle ertheilen, daß Nie­ Während dessen sende ich euch

mand sich daraus entferne.

Aleidis und komme selbst bei Zeiten wieder, euch abzuholen. Habt noch so lange Geduld; es sind nur wenige Augen­

blicke den dreizehn langen Jahren hinzuzufügen. Das letzte

Opfer, das ihr der Ehre eures Hauses bringt!" Mt diesen Worten drückte er die Hand des Grafen

70 und schlug mit eiligen Schritten den Weg nach dem La­

ternenhofe ein. Von Hoffnung und Freude erfüllt, begann Hugo ein heiteres Gespräch mit Bernhard, welches ihnen die Zeit

verkürzte. Plötzlich erblickten sie in der Ferne eine Edelfrau, welche sich ihnen zu nähern schien. Sie war von hoher, schlanker Gestalt und trug ein schwarzes Gewand und einen durch­ sichtigen Schleier, der ihr Angesicht halb verhüllte. Ob­ gleich Bernhard sie nicht erkannte, gehorchte er dennoch der Stimme seines Herzens, sprang eilends auf und lief ihr aus allen Kräften entgegen, während er entzückt ausrief: „Schwester! liebe Schwester! Aleidis! Aleidis!" Mit

ausgebreiteten Armen stürzte er auf sie zu; doch in einer Keinen Entfernung blieb er plötzlich, wie vom Schlage ge­ rührt, stehen: er ließ die Arme sinken und vergoß einen

Strom von Thränen, während er verschämt und verlegen die Augen niederschlug.

Armer Bernhard! er hatte ge­

glaubt, seine Schwester, die kleine Aleidis, wiederzufinden,

und statt ihrer sah er nun eine hohe Jungfrau von bezau­ bernder Schönheit vor sich stehen. Ohne den geringsten

Ausdruck selbst einer leichten unbefangenen Freundschaft blickte sie auf ihn hin, im Gegentheil, die Nöthe der Scham bedeckte bei seinem ersten Anblick ihre Alabaster­ stirne. Dann erst fühlte Bernhard, tote grobe, beschmutzte Kleider ihn deckten, wie sein Haar verwirrt und sein An­ gesicht von den Nächten, die er unter freiem Himmel zu­ gebracht, gebleicht war. Verzweiflung erfüllte seine Brust,

und vielleicht entdeckte er in diesem Augenblicke auch zum Erstenmale, daß ein ander Gefühl, als das der Bruderliebe, ihm unbewußt in seinem Herzen wurzelte. Es muß wohl sein, daß der Blick der Liebe bis in

das Innerste des Herzens dringt; denn Aleidis verstand mit

71 einem einzigen Blicke den Schmerz des Jünglings; anstatt

ihn mit dem Brudernamen „Bernhard" zu begrüßen, sagte sie mit ihrer schmelzenden Silberstimme: „Burggraf von Reedale, schmerzt es euch, eure Schwester wiederzusehen?" Der Jüngling erhob das Haupt und lächelte ihr dank­

bar zu ob der tröstenden Worte; — während er schüchtern, aber entzückt das Auge auf ihr ruhen ließ, sprach sie sanft

und wie ängstlich:

„Bernhard, an euch allein habe ich gedacht während der langen, trüben Trennung; aber habet ihr Aleidis auch

nicht vergessen?" Dieses Bekenntniß entpreßte Bernhard's Brust einen wunderbaren Ton, seinen Augen einen Strom von Freuden-

thränen. „Vergessen? o Gott," rief er.

„Euch vergessen, Alei­

dis? Sprechet nicht solche Worte, da mein Herz vor Selig­

keit fast vergeht im Wiedersehen meiner Schwester und Freundin." Und er schloß ihre Hände in die seinen und netzte sie mit Thränen der Liebe und Dankbarkeit.

Hand in Hand und bebend vor Rührung nahten beide dem Grafen Hugo. Hier begann ein rührender Auftritt inniger geschwisterlicher Zuneigung. Aleidis saß sprachlos

neben dem Bruder, die Arme um seinen Hals geschlungen und ihr glänzend blaues Auge fest auf ihn geheftet. Bern­ hard's Blicke streiften nur zuweilen flüchtig und scheu die schöne Aleidis; denn ihre zauberischen Reize erregten zu leb­ haft sein weiches Gemüth und entflammten ein Gefühl in

seinem Herzen, das ihn wunderte und beschämte. Dies Ge­

fühl wurde noch erhöht, wenn Aleidis' Auge dem seinen begegnete und sanft und mild auf ihm ruhte. Unterdeß verschwand die Sonne, einer glühenden Kugel gleich, am

72 Horizont, und die Dämmerung umhüllte die Felder; da kam Abulfaragus zu ihnen zurück.

Sobald Bernhard den alten Mann erblickte, lief er

auf ihn zu und stürzte ihm mit wilder Freude um den Hals. Dann sprach er: „O habet Dank, habet Dank, guter, edler Abulfara­ gus !

Ihr habet für mich gethan, was ein Vater nur für

seinen Sohn thut; ihr habet mir eine schöne und liebreiche Schwester bewahrt. Verlängere der Himmel dafür eure

Tage und verleihe er euch. . . ." Lächelnd Köpfte Abulfaragus dem Jüngling auf die

Schulter und versetzte in fröhlichem Scherze: „Seht ihr Junker, was nun euch Freude schafft, das konnte ehedem das Unglück eines edeln Hauses und euch eine Schande werden. Abulfaragus hat euch nicht , ohne Absicht verfolgt und verbannt. Nun ist alle Gefahr vor­ über, mein überglücklicher Sohn, ich habe euch nicht nur

eine Schwester bewahrt . .. ." Er näherte seinen Mund den Ohren Bernhard's und fuhr geheimnißvoll fort: „Denn der Küster von Deurne hat den Befehl em­ pfangen, die Kirche für eine schöne Hochzeitsfeier zu schmücken.

Kennt ihr den Bräutigam?" Mit diesen Worten verließ er den erstaunten Bern­ hard und ging zu Hugo. Er benachrichtigte ihn von dem Zustande seines Bru­ ders und mahnte zum Aufbruch, sobald er sah, daß ein

tieferes Dunkel ihren Einzug in das Schloß begünstigte. Während dieser kurzen Wanderung beobachteten Alle ein tiefes Schweigen: das bevorstehende Wiedersehen erhielt sie in Spannung und ernstem Nachdenken: Hugo bebte an

allen Gliedern, er athmete kurz und schwer, sein .Herz schlug in schnellen, ungeregelten Schlägen. — Er sollte ja

73 nun vor seinem Bruder erscheinen, den er beinahe ermor­ det hatte.

Endlich überschritten sie die Brücke und traten in den Schloßhof. Hugo konnte sich nicht länger aufrecht erhal­ ten und bat um eine Stütze: Bernhard faßte seinen rech­ ten Arm, Aleidis den linken, und so gingen sie langsam

nach Arnold's Zimmer.

Die Thür öffnete sich, und in ergreifenden Tönen klang es: „Bruder! Bruder! Verge­ bung! Vergebung!"

Und die beiden Brüder sanken einander laut weinend in die Arme.

Ein langer Kuß — einige unverständliche Worte folgten .... und die müden Körper brachen zusam­ men, und stürzten in schwerem Falle zu Boden. Weil beide sich fest umschlungen hielten, glaubten die Anwesenden, daß die übergroße Erschütterung ihnen eine augenblickliche Ohnmacht zugezogen habe.

Abulfaragus

war der Einzige, dessen Lippen ein gellender Schrei ent­

fuhr, der im ganzen Schlosse wiederhallte; schluchzend warf er sich über die Körper der Brüder. Wehe! dreizehnjährige Leiden konnten ihre Lebenskraft nicht brechen — ein einziger Augenblick der Freude that es — sie waren todt .... vereint schwebten ihre Seelen

empor zu Gottes Richterstuhl.

Wer zehn Jahre später einen Blick in die einsame Burg hätte werfen können,

der würde die Gebäude des

Laternenhofes nicht verändert gefunden haben. Wäre es ihm indessen vergönnt gewesen, Abends in den Laubgängen des Hofes zu wandeln, dann hätte bald ein kleines Eichenwäldchen seine Aufmerksamkeit gefesselt, in dessen Mitte ein Grabmal mit folgender Inschrift stand: 4

74 D. 0. M. WALTER VAN CRAENHOVE ENDE SINE GHESELNEDE MARIA ENDE BARE RINDEREN HUGO ENDE ARNOLD.

GODT SY HARE SIELEN GHENADICH. Fünf Personen würde er knieend vor dem Grabmale gefunden haben: einen Greis, der unter der Last von hun­ dert Fahren gleich einem Kinde erbebte; einen Mann mit blondem Haar und blauen Augen; eine gar schöne Frau mit blondem Haar und blauen Augen und zwei Kinder, ein Knäbchen und ein Mägdlein, mit Haar und Auge von derselben Farbe, wie ihr Vater Bernhard und ihre Mut­ ter Aleidis.

Geschichte von Avulfaragvs. An einem Winterabende des Jahres 1374 befanden sich die meisten Bewohner des Laternenhofes im großen Saale

des Schlosses. Der achtzigjährige Abulfaragus saß in einem beque­ men Lehnstuhl am Feuer und blickte stumm in die tanzen­ den Flammen; auf einem Fußbänkchen saß neben ihm ein Knabe von etwa fünf Jahren, der das Köpfchen

Kniee des Alten drückend, ruhig schlief.

an die

Ein wenig wei­

ter sah man an einem schweren Eichentische die schöne

Aleidis von Craenhove, ein Töchterchen auf dem Schooße, und in lebhaftem Gespräche mit dem Burggrafen Bernhard

von Reedale, ihrem Manne. Außerhalb des Schlosses war es zweifelsohne ein gar schlimmes Wetter, denn die Fensterscheiben rasselten schauer­ lich in ihren Bleifassungen, und zuweilen fuhren so heftige Windstöße dagegen, daß die bange Aleidis mehr denn ein­ mal ängstlich das Haupt umwandte. Noch ärger war das Heulen des Sturmes in dem Kamine, wo er die Flammen des

Heerdfeuers mit unwiderstehlichem Hauche zurückblies, sein

durchdringendes Pfeifen um die Thurmspitzen des Schlosses und das Kreischen des wildherumgeworfenen Wetterhahns. Peinliche Gedanken hielten Bernhard's und Abulfarägus' Herzen befangen, nicht etwa, weil beide irgend etwas

fürchteten, oder zu fürchten hatten, es war nur der natür­ liche Einfluß des Unwetters. Aleidis dagegen saß in un-

76 erklärbarer Angst da; die Donnerstimme des Sturmes und

seine klagenden Töne trafen ihre schwächer« Nerven und ließen sie zittern und beben in ihrem Lehnstuhl. Die Blässe ihres Antlitzes erschreckte ihren Gemahl nicht wenig und er gab sich alle nur denkliche Mühe, durch freundliche Worte ihre Aufmerksamkeit von dem Unwetter abzulenken, doch gelang ihm das nicht. Er litt gewiß mit der bangen Frau; dies konnte man in jedem seiner Züge

lesen.

Plötzlich spielte ein Lächeln um seinen Mund, wie wenn ein glücklicher Gedanke in ihm aufgestiegen wäre und er sprach, zu Abulfaragus gewendet: „Abulfaragus, mein alter Freund, ist es denn wohl­ gethan, daß man sich betrübe, so lange man nicht mit dem Unglücke unter einem Dache lebt?" „Nein, Herr," antwortete der Greis ohne aufzublicken;

„die Stunden des Schmerzes und des Unglückes sind ohne­ dies zu zahlreich, aber der Mensch ist ein Theil der Schö­ pfung und fo wundere es auch nicht, wenn sein Geist sich umnebelt, während der Himmel mit Sturmwolken bedeckt ist." Die hohle Stimme des Greises erschreckte Bernhard

nicht wenig und verscheuchte den Gedanken, der ihn hatte

lächeln machen, aus seinem Gedächtniß. Er frug: „Sagt diese Stunde euch etwas Betrübendes, Abul­ faragus, da eure Worte so schmerzlich klingen?" Der Greis wandte das Auge Bernhard zu und sprach in noch schmerzlicherem Tone: „Das Unwetter, Herr, übt eine unbegreifliche Macht aus auf der Menschen Herz; cs zwingt die Seele zur Ein­ kehr in sich und zur Selbstbeschauung, es frischt das Ge­

dächtniß auf, entrollt Bilder aus der fernsten Vergangenheit vor ihm und weist uns hin auf die schrecklichsten Stunden unsres Lebens. Darum sage ich, es umdüstert den Geist."

77 „In der That," versetzte Bernhard, „so ist es. Auch

an mir gingen seit einer halben Stunde die schauerlichsten Augenblicke meines Lebens wieder vorüber.

Ich gedachte,

Aleidis, meine Geliebte, wie unendlich ich litt, als das Schicksal mich so plötzlich und so grausam von deiner Seite

riß; von neuem versenkte ich mich in den alten Schmerz." Wollte die Edelfrau Bernhard für seine Liebesworte lohnen, oder hatte das Gespräch sie bereits taub gemacht

für die beängstigende Gewalt des Wintersturmes, sie lä­

chelte und drückte recht innig Bernhard's Hand.

Dieser

frug den Greis: „Ihr aber, Abulfaragus, woran denket ihr denn? Ihr scheint mir von so tiefem Schmerze überwältigt?"

„Ich?" seufzte der Alte. „Ich denke an meinen Vater und meine Mutter und meine Schwester."

„An euren Vater und eure Mutter?" riefen Bernhard und Aleidis zugleich und verwundert aus.

„Habt ihr uns

doch stets gesagt, daß ihr diese nie gekannt hättet."

„Ich hielt es nicht für rathsam, euch durch die Er­ zählung all der Mißgeschicke und des Unglückes, welches

sie traf, zu betrieben, und auch nun bitte ich euch, fraget mich nichts weiter über sie; euer Herz würde zu sehr mit Trauer und Mitleid erfüllt werden." „Und wäre dies auch," versetzte Bernhard darauf, „können wir den Abend schöner verbringen? Lasset uns immer weinen mit euch über das trübe Loos eurer Eltern; Thränen des Mitleids sind süß und entlasten den Geist.

Nicht wahr Aleidis?" „Ja gewiß, Abulfaragus," sprach die Edelfrau. „Ihr habt unsere Neugier und unsere Theilnahme geweckt, und wie traurig eure Erzählung auch sein, möge, ich bitte euch, theilt sie uns mit. Ich sehne mich unendlich, das Geschick

der Eltern unseres Freundes und Führers zu kennen."

78 „Ihr Loos, edle Frau?" rief Abulfaragus mit beben­ der Stimme. „Das meines Vaters? Von Wölfen zerfleischt! Ist das schrecklich genug?" „O Gott!" seufzte Aleidis. „Welch schreckliche Geheim­ nisse habt ihr vor uns noch bewahrt." „Nicht wahr?" fuhr der Alte fort. „Solche Erinne­ rungen sind zu grausig, als daß man sie mittheilen könnte. Es ist besser, daß ich sie noch in meiner Brust verschlossen halte." „O nein," fiel Aleidis ein. „Erzählt uns eure Ge­ schichte. Ihr habt es uns schon so oft versprochen und nun haben wir just einen langen Abend zum Horchen. Das wird dem Unwetter wehren, uns ferner zu ängstigen." Bernhard verband seine Sitten mit denen seiner Gat­ tin und beide flehten so lange, bis Abulfaragus endlich einwilligte und also begann: „Noch im Jahre 1308 wohnte zu Damaskus ein jü­ discher Arzt Namens Abel Farach, der durch die Araber in mancher Wissenschaft große Kenntnisse erlangt hatte und seiner Gelehrsamkeit halber in ganz Syrien berühmt war. Man kam zu ihm von Aleppo, Jerusalem und Bagdad; ja selbst die Bewohner von Scanderon und Basfora scheu­ ten gefahrvolle Reisen nicht, ihn zu Rathe zu ziehen. Die­ ser Abel Farach war mein Vater." „Ich erinnere mich noch, daß wir ein prächtiges Haus bewohnten, an welches ein breiter Garten stieß; darin spielte ich täglich mit meiner guten Mutter Abigail und meiner Schwester Rebekka; wir besaßen Sklaven und Diener in großer Zahl und jeder, Jude, Christ und Sarazene achtete und liebte uns." „Damals unternahmen die christlichen Edelleute, die man Ritter Sankt Johannis von Jerusalem nannte, einen Kreuzzug gegen die Sarazenen, und lagerten mit ihrer Flotte

79 vor der Insel Rhodus, um diese den Mahomedanern zu Ein allgemeiner Schrecken verbreitete sich über die sarazenischen Länder, denn allgemein fürchtete man einen nehmen.

Einfall der Christen in Syrien und Palästina. Wie es kam, weiß ich nicht, plötzlich aber verbreitete sich das Ge­ rücht, die Christen und Juden ständen in geheimen Be­ ziehungen mit dem europäischen Heere, und seien bereit den Rittern von Sankt Johannis die Städte Syrien's verrä­ terischer Weise in die. Hände zu liefern. Alle Einwohner

Jerusalem's, die nicht an Mahomed glaubten, wurden er­ mordet; in noch größern Strömen rann Christen- und Ju­ denblut in Aleppo, und schon forderte man einander in den Straßen von Damaskus auf, diesem Beispiele zu folgen." „Am Abende dieses Tages saß ich mit meiner Mut­ ter und Schwester auf dem platten Dache unsers Hauses;

ich war eben zehn, meine Schwester sieben Jahre alt, und

wir hatten noch wenig Acht auf die stille Betrübniß un­ serer Mutter, um so weniger, da wir die Ursache derselben nicht kannten. Wir athmeten spielend die Balsamdüfte, welche der Wind uns von der Seite der Wüste zuwehte, und zeigten einander die schönsten Sterne des Himmels,

als wir plötzlich unten am Hause in dem Hofe einen Mann bemerkten, der ein Pferd und ein Kameel heimlich

mit sich fortzog und die Thiere zu verbergen trachtete. Als­ dann wurde die Hausthür wie mit Gewalt geöffnet und

wieder geschlossen. Ein kaum hörbarer Schrei entflog der Brust unserer Mutter, und dadurch auf sie aufmerksam gemacht, sahen wir jetzt erst, wie sehr sie zitterte." „Mit ängstlicher Hast faßte sie uns an der Hand und

zog uns schweigend mit sich fort in den untern Saal, in

den eben auch mein Vater eintrat. Sein Angesicht war bleich und seine Augen standen starr in ihren Höhlen. Ohne meiner Mutter Zeit- zum Sprechen zu lassen, schloß

80 er vorsichtig die Thür und sprach dann mit bebender

Stimme:" „„Abigail, wenn wir hier bleiben, bis die Sonne wie­

derkehrt, dann bescheinen ihre ersten Strahlen unsere Lei­ chen. Wir müssen in größter Eile von hier weg. Togrul

Almahadi sagte mir, daß der Mord der Christen und Ju­ den morgen beginnen werde und daß wir, als die Reich­ sten, bestimmt seien, zuerst als Opfer zu fallen. Frag nun

nichts weiter, nimm diese Kleider'? unserer Sklaven und

ziehe sie an, damit man dich als eine Türkin ansehes auch die Kinder kleide um. Ich gehe, Gold und Perlen einzu­

packen, ein Pferd und ein Kameel stehen im Hofe bereit.

Eile und sage den Sklaven nichts;

sie würden uns ver­

rathen."" „Gegen Mitternacht zogen wir ab. saß auf dem Kameel und wir,

Unsere Mutter jedes in einer Art von

Korb, zu'ihren Seiten; mein Vater ritt wohlbewaffnet zu Pferde voraus, um uns den Weg zu zeigen. Gewiß war

die Angst unserer Eltern groß, denn häufig stießen wir auf sarazenische Kriegerhaufen, doch wichen wir ihnen stets

glücklich aus, oder mein Vater wußte mit arglosen Reden allen Verdacht fern von uns zu halten und sie zu über­ reden, daß wir nach Aleppo reisende Türken seien.- Nachdem wir während einiger Nächte — am Tage hielten wir uns verborgen — unsere Reise fortgesetzt hatten, kamen wir nach Skanderon und van dort nach Simta, unweit Rhodus. Hier glückte es meinem Vater, in der Nacht heimlich auf

die christlichen Schiffe 'zu kommen; da bot er seine Dienste

an, und bewies bald seine Umsicht und Kunde als Arzt so glänzend, daß die Ritter Sankt Johannis mit Freuden in alle Bedingungen willigten, welche er ihnen stellte- In der folgenden Nacht kreuzte eine Keine Galeere an der Küste,

wo wir sie seit einer halben Stunde in einem Bote er-

81 warteten.

Unter dem Schutze der Dunkelheit erreichten wir

das Schiff und befanden uns bald in einer bequemen Kammer." „Die Belagerung von Rhodus dauerte länger als ein

Jahr. Täglich fast gab es blutige Gefechte und eine große Zahl von Rittern wurde verwundet. Mein Vater rettete ihrer so viele vom Tode, daß die Christen sich ihm stets

dankbar verpflichtet fühlten, und ihn als einen Wohlthäter verehrten.

Unser Loos war ganz erträglich, denn unsere

Galeere, zum Aufenthalte der Kranken eingerichtet, kam nie in die Schlacht, und mit der See- und ihrem Ungestüm

waren wir bald vertraut." „Auf der Flotte befand sich ein brabantischer Ritter, ein gar wißbegieriger Mann, der bald mit meinem Vater innige Freundschaft schloß. Ihre gegenseitige Zuneigung wuchs von Tage zu Tage und wurde endlich so innig, daß sie einander fast nie verließen, und zuweilen ganze Nächte hindurch den Lauf der Sterne zusammen beobachteten. Auch auf uns erstreckte sich die Liebe des Ritters; er spielte nicht

selten ganze Tage lang mit Rebekka und mir auf dem Ver­ deck des Schiffes; er wurde wieder Kind, um unsern Aufent­ halt auf dem Meere so angenehm, wie möglich, zu machen."

„Meine Mutter liebte uns auf's Zärtlichste; ihr Herz glühte in Dankbarkeit für den edelmüthigen Christen-Rit­ ter, der sich so freundlich gegen uns arme jüdische Flücht­ linge bewies. Seit unsern frühesten Tagen hatte man uns die Christen als grausam und hassenswürdig geschildert, uns

tausendmal wiederholt, wie sie die Juden verfolgten und daß sie deren ewige Blutfeinde wären.

Das Benehmen des brabantischen Ritters aber erweckte unsere Dankbarkeit in dem Maße, daß wir jeden Abend, wo wir allein mit

dem Vater waren, nur und mit immer neuer Bewunderung von unserm Wohlthäter und Beschützer sprachen. Immer *

82 mehr und mehr erregte die christliche Religion unser Stau­ nen: wir sprachen untereinander von der Tapferkeit, von dem Edelmuthe, welche der Glaube an Christus all die­

sen Rittern einflößte, von der Erhabenheit der christlichen Liebe, welche ja einzig und allein unsern Schirmherrn an­ spornte, uns, die wir ohne allen Schutz und ganz ver­ stoßen waren, das Leben in ein Paradies der Freundschaft und Bruderliebe zu verwandeln. Sicherlich unterhielt sich mein Vater oft über die Religion mit seinem christlichen Freunde, denn wenn er zuweilen von ihm zu uns zurück­ kehrte, dann war er voll Gedanken und sagte, es sei doch

so ganz unmöglich nicht, daß der Gekreuzigte der verhei­ ßene Messias gewesen sei. Bald gab er sich selbst Mühe, uns zu überzeugen, daß kein anderer Messias kommen werde, da der Gottmensch der Christen es gewesen. In Bezug

auf uns waren des Vaters Bemühungen überflüssig; feit lange waren wir im Herzen Christen; seit drei Monaten besaßen wir ein Keines Christusbild und beteten heimlich vor demselben, daß der Gekreuzigte das Leben seines Die­

ners, unsers brabantischen Ritters, erhalten möge." „Eines Morgens kam, während wir noch am Früh­ stück saßen, mein Vater in unser Gemach und setzte sich, ohne ein Wort zu sprechen, in einen Lehnstuhl. Aus sei­

nen Zügen leuchtete ein eigener Ausdruck von Glück und Freude; seine Augen glänzten, um seine Lippen spielte ein Lächeln, sein ganzes Angesicht war wie erleuchtet von einer geheimen Gluth, es war, als ob ein Sonnenstrahl durch das Verdeck bohrend auf seiner Stirn gespielt hätte."

„Nachdem er einen Augenblick schweigend dagesessen, erhob er sich und sprach in feierlichem Tone zu uns:" „„Abigail, du treue Gefährtin meines Schicksals, und ihr, meine Kinder, höret aufmerksam auf das, was ich euch sagen werde; was ich euch aber auch sagen möge,

83 glaubet nicht, daß ich euch verpflichten will, meinem Bei­ spiele zu folgen.

Komm her, Joatham, mein Sohn, und

auch du Rebekka,

daß ich euch noch einmal küsse, bevor

ich weiter rede."" „Wie sehr auch der frohe Ausdruck, der auf meines

Vaters Zügen schwebte, uns hätte beruhigen müssen, so empfanden wir doch eine gewisse Angst. Fast bebend em­

pfingen wir den glühenden Kuß, und meine Mutter weinte bei der Umarmung. Wir konnten uns nicht erklären, was wir zu fürchten oder zu hoffen hatten." „Plötzlich rief mein Vater mit ungemeiner Begeiste­

rung aus:" „,,O meine Kinder! Es ist nur ein Messias und der

Messias ist Jesus und ich bin sein Diener! Seine Stimme

hat zu meinem Herzen gesprochen, seine Gnade mich mit

Licht und Freude erfüllt!"" „Mit ten Worten zog er ein silbernes Kreuzbildchen unter seinen Kleidern hervor, hing es an der Wand auf Und sprach:"

„„Er ist mein Heiland und mein Gott!"" „Mein Vater glaubte gewiß, wir würden jammern und klagen wegen dieser Glaubensveränderung; nur die Furcht davor hatte ihn bestimmt, seine Erllärung so vor­

sichtig einzuleiten, doch zu seiner großen Freude hatte er sich darin betrogen. Meiner Mutter Augen leuchteten plötz­

lich in demselben Feuer; wie es der Christin geziemt, warf sie sich vor dem Gekreuzigten nieder; meine Schwester und ich knieten neben ihr.

Sie hob ihre Hände auf zum

Himmel und betete also zu dem Menschgewordenen:" „„Jesus, Sohn David's, du bist es wahrlich, von dem Jesaias sprach: Darum wird der Herr euch ein Zeichen

geben; sehet, eine Jungfrau wird empfangen und wird einen Sohn gebären und ihn nennen Emmanuel! — Dein

84 Name, o Messias, sei verherrlicht durch Alles, waS nur

Leben hat! Du bist Gottes Sohn und der Welt Heiland,

meines Gatten Gott und der meine!"" „Und wir antworteten freudig: „„Amen, Amen!"" „Thränen der Rührung und Freude entquollen mei­ nes Vaters Augen; er knieete hinter uns nieder, umschloß

uns mit seinen Armen und betete leise während einiger

Augenblicke, wie wenn er zu dem Heiland gefleht hätte, das Opfer unserer gemeinschaftlichen Andacht gnädig auf­ zunehmen. Dann hob er uns Alle von dem Boden auf, umarmte uns zu wiederholten Malen und rief fortwährend mit Entzücken aus:" ,,„O, wir werden Christen!""

„Dieser Tag war der schönste unseres Lebens; wir fühlten eine nie geahnte innige Seelenfreude und zerflos­

sen in Thränen, die uns ein Vorgefühl gaben von der Seligkeit des Himmels. Gegen Mittag kam der brabantische Ritter in unser Zimmer und theilte unsere Freude; ja er war noch viel glücklicher als wir, denn er sah in unse­

rer Bekehrung die größte Wohlthat, welche seine Freund­

schaft uns hätte schenken können." „Es bedurfte nicht langer Zeit, uns mit den Geheim­ nissen unseres neuen Glaubens bekannt zu machen; unsere

Herzen nahmen den Samen der Lehre Jesu so freudig auf, daß wir bald vorbereitet genug waren, um die heilige Taufe zu empfangen. Der brabantische Ritter sollte mein Pathe sein; andere vornehme Herren sollten meiner Mut­ ter. meinem Vater und meiner Schwester als Pathen zur

Seite stehen." „Am festgesetzten Tage kam ein Bischof mit einem gro­ ßen Gefolge von Rittern auf unser Schiff, und wir empfin­

gen nach vielen Ceremonien die heilige Taufe. Alle Herren, welche der Feierlichkeit beiwohnten, wünschten uns Glück,

85 vor allen aber erfüllte den brabantischen Ritter die höchste Freude; er küßte mich wohl hundertmal und nannte mich

seinen Sohn Walter; das war nämlich der neue Name, den ich als Christ empfangen hatte; mein Vater hieß Joseph, meine Mutter Susanne und meine Schwester Ma­ ria; Abel Farach wurde Abulfaragus."

„Während man uns noch von allen Seiten beglück­ wünschte, und die Ritter mit freudigem Jubel unsere Be­

kehrung feierten, sahen wir plötzlich an den Küsten von Rhodus eine große Anzahl türkischer Galeeren in See stechen und unter wüthendem Kriegsgeschrei auf uns zu­ steuern." „Schnell lief der Ruf: „„Zu den Waffen!"" über die ganze christliche Flotte hin, jeder Ritter eilte seinem Schiffe zu, alles bereitete sich zur Schlacht, und unsere Schiffe flogen den Feinden entgegen. Ich sah nichts von dem Ge­

fechte, denn man hieß uns in das Innere des Schiffes gehen und da unsere Galeere nicht dazu diente, in den Kampf mitzuziehen, so hörten wir selbst nichts von dem

Anfalle." „Nachdem das Gefecht etwa eine Stunde gedauert hatte, kam man zu uns mit der Nachricht, daß die Christen

Sieger geblieben seien und vier türkische Galeeren verbrannt hätten; die übrigen waren wieder der Küste zugeflüchtet. Wir freuten uns herzlich der guten Nachricht und dank­ ten Gott in innigen Gebeten. Da hörten wir plötzlich schwere Schritte auf dem Verdeck, in ängstlicher Ahnung stürzten wir die Treppe hinauf, und sahen wie man einen

verwundeten Ritter auf unser Schiff trug." „Die strömenden Thränen meines Vaters sagten uns sogleich, wer es war, den man so blutbedeckt und leblos

daherbrachte. Ein lauter Schrei entrang sich unserer Brust, meine Schwester sank weinend in die Arme meiner Mutter.

86 Ich aber sprang vor und warf mich auf die Kniee nie­ der neben dem bleichen Gesichte des brabantischen Ritters;

ich rief ihn bei seinem Namen, ich küßte seine blauen Lip­

pen und netzte seine blasse Stirn mit meinen Thränen. Ach! mein Pathe, unser edler Wohlthäter hatte eine tödtliche Wunde in der Schlacht erhalten: ein Pfeil hatte ihm quer

den Hals durchbohrt." „Der Verwundete wurde in meiner Mutter Bett ge­ legt, dann bat mein Vater alle Anwesenden, sich zu ent­ fernen und ihn mit dem Ritter allein zu lassen.

Sobald

dies geschehen, sprach er zu uns: „„Lasset uns aufhören zu weinen, denn damit können wir ihn nicht retten. Ihr Frauen, kniet nieder und betet; du, Walter, hole schnell Wasser!"" „Meine Mutter und meine Schwester warfen sich auf ihre Kniee nieder vor dem Kreuze; ich flog die Treppe hin­ auf und kam bald mit einem vollen Wasserkruge zurück." „Ohne ein Wort zu sprechen, begann mein Vater die

Wundert zu waschen, und zu untersuchen, ob etwa ein gro­ ßes Blutgefäß in des Verwundeten Halse zerrissen sei;

seine Stirn glühte fieberhaft bei dieser Untersuchung; ich sah, wie er verzweifelnd in seine Haare griff, wie er ent» muthigt endlich auf den Rand des Bettes niedersank. Von neuem brach ich jetzt in Thränen aus, denn nun konnte ich nicht mehr an dem Tode unseres Wohlthäters zweifeln." „Nach einigen Augenblicken erhob mein Vater das Haupt und begann eine neue Untersuchung. Bald nachher überflog ein Ausdruck von Hoffnung seine Züge, und er sprach mit ruhigerer Stimme zu meiner Mutter und mei­ ner Schwester:" „,,O betet! betet innig, denn mit Gottes Hülfe könnte er genesen!""

„Ein Freudenschrei war ihre Antwort und tiefer senk-

87 ten sie das Haupt in heißere Gebete.

Den ganzen Nach­

mittag half ich meinem Vater bei der Zubereitung von Salben und Tränken; während der Nacht wachten wir bei dem noch stets regungslosen Körper, ängstlich auf jede Be­ wegung achtend, die etwa einen Rest von Leben verrathen

hätte." „Der dritte Tag endlich war ein Tag des Glückes

und der Freude für uns; ein leiser Laut war in der Kehle des Verwundeten hörbar geworden, und mein Vater hatte gesagt: „„Er wird leben.""

„Von dem Augenblicke an besserte sich der Zustand

des Kranken zusehends; am zwölften Tage konnte er schon seine Augen auf uns gerichtet halten und uns für unsere

Sorgfalt mit freundlichen Blicken lohnen. Während vier­ zig Nächten wachten meine Schwester und meine Mutter abwechselnd bei dem Bette.

Seine Wunde hatte sich un­

terdessen geschlossen, und nach einem Monate von Schwäche

seine ehemalige Gesundheit und Kraft wieder. Jetzt kannte seine Liebe zu uns keine Grenzen mehr; erhielt er endlich

mein Vater war ihm ein Bruder geworden und mich nannte

er nie anders, als seinen Sohn Walter." „Im Jahre 1310 am sechszehnten Mai eroberten die

Christen endlich die Insel Rhodus und vertrieben die Tür­ ken von derselben.

Dann zogen viele der Ritter nach ih­

rem Vaterlande zurück, und wir beschlossen, die Flotte gleich­

falls zu verlassen, und irgendwo in Europa einen festen Wohnsitz zu suchen. Unser Freund bot uns an, ihn nach Brabant zu begleiten.

Wir besaßen wenig in der Welt

und bedurften eines Beschützers; dazu wäre es uns kaum So

möglich gewesen, von unserm Wohlthäter zu scheiden.

nahmen wir denn seinen Vorschlag dankbar an, und mach­ ten uns auf den Weg im Geleite unseres Freundes Wal­ ter von Craenhove. . . ."

88 „Gott, mein Vater!"

rief Aleidis erschrocken.

„O

warum habt ihr den Namen so lange verschwiegen, Abul-

faragus?" „Edle Frau," versetzte der Greis halb lächelnd: „Ja, es war euer Vater, mein Pathe, der Busenfreund meiner Eltern.. Ihr könnt es nicht glauben, wie sehr ich ihn liebte, diesen Tapfersten aller Christen-Ritter! O das Blut, welches

durch eure Adern rollt, ist das edelste, welches die Sonne in den drei Welttheilen je beschienen hat. Nannte ich euch nicht früher seinen theuren Namen, dann that ich dies nur

darum nicht, damit ich euch nicht bettübte durch die Be­ schreibung seiner tödtlichen Krankheit; ich wollte euch nicht an den Schmerzen Theil nehmen lassen, die unsere Brust an seinem Todesbette erfüllten." Aleidis schwieg. Ihr glänzendes Auge und ihr eben erschlossener Mund sagten aber genug, welch ungewöhnliche Neugier ihr Herz höher schlagen ließ.

Abulfaragus be­

merkte es und fuhr alsbald in seiner Erzählung fort: „Wir kamen nach einer langen Reise in der Stadt Lütttch an der Maas an. Da fand mein Vater so viele

seiner ehemaligen Glaubensgenossen, welche unsere Mutter­ sprache redeten, daß er den Beschluß faßte, sich daselbst als Arzt niederzulassen. Der gute Graf von Craenhove nöthigte uns, eine ansehnliche Summe Geldes, von ihm

anzunehmen. Wir kauften ein Haus in der Straße, in der die jüdischen Wechsler wohnten, und blieben da wohnen. Walter von Craenhove zog, begleitet von unsern Dank­ sagungen, weiter nach seinem Schlosse, dem Laternenhofe." „In Lüttich wohnten wir während einiger Jahre recht friedlich; mein Vater unterwies mich indeß in den Wissen­ schaften der Araber, vorzüglich in der Heilkunst und der Asttologie oder Sterndeutekunst. Er erlangte bald in dem Lütticher Gebiete dieselbe Berühmtheit, deren er einst in

89 Syrien genossen hatte; täglich fast genasen Edle und Geist­ liche durch seine Hülfe, und dabei sammelte er bedeutende Schätze durch die.Vorhersagung künftiger Ereignisse. Man nannte ihn nur den reichen Astrologen Abulfaragus. Zwei­ felsohne erweckte sein Wohlstand Mißgunst und Neid in manchem Heiden, denn mehr als einmal hörten wir, daß man sich heimlich bestrebte, ihn als einen Zauberer zu ver­ dächtigen. Vor Allem verläumdeten und lästerten die Ju­ den ihn, weil sie sich über seine Bekehrung ärgerten, doch wir hatten zu viele mächtige Freunde,' und zu mancher kranke Ritter und Prälat bedurfte beständig die Hülfe mei­ nes Vaters, als daß wir nicht sicher vor aller Gefahr ge­ wesen wären." „Um die Zeit wurden in allen christlichen Reichen Briefe des Papstes verlesen, welche Ritter und Bürger zum Kampfe gegen die Türken aufriefen; auf allen öffentlichen Plätzen, auf Märkten und Straßen predigten die Boten des Papstes einen allgemeinen Kreuzzug. In ihrer Be­ geisterung schilderten sie in rührenden Bildern und mit Thränen in den Augen, wie das Blut der Christen in Pa­ lästina in Strömen fließe, wie die Sarazenen das Grab Jesu täglich auf's Neue entheiligten durch schändliche Lä­ sterungen. Nicht selten auch sprachen sie von dem Leiden des Heilandes, und erzählten wie er durch das böse und verdammenswerthe Geschlecht, so nannten sie die Juden, gemartert und gekreuzigt worden wäre. Es kann auch nur natürlich scheinen, daß unsere'alten Glaubensgenossen beim Anhören dieser Predigten öffentlich murrten. Langsam ent­ wickelte sich von da ab ein tiefer Haß zwischen dem Volke von Lüttich und den zahlreichen Juden, die dort wohnten, und diese Abneigung wurde mit der Zeit immer größer und allmählich schreckenerregend. Mehr denn einmal be­ hauptete man, daß die Juden sich heimlich allerlei Misse-

90 thaten schuldig machten und, wurde irgend ein Mord be­

gangen, so wälzte das Volk die Schuld gewiß auf die Juden.

Wie ungerecht es auch immer sein mochte, also die Un­ schuldigen mit den Schuldigen zu verfolgen, so muß ich doch bekennen, daß manche Juden, durch Schwärmerei verführt^ Verbrechen begingen, welche den öffentlichen und allgemei­ nen Haß vollständig rechtfertigten." „In dieser Lage der Dinge und noch während der Kreuz­ predigten erschien plötzlich eine gefährliche Krankheit in Eu­

ropa; Lüttich war keine der Städte, in welchen sie die wenig­

sten Opfer hinraffte. Diese Krankheit glich sehr dem morgen­ ländischen Aussatze, oder der Lazarusseuche, doch war sie in ihrer Art und Heftigkeit von ihr verschieden.

Man

nannte sie die Leprosheit. Wer von ihr ergriffen wurde, fühlte plötzlich das Herz ungestümerschlagen, kalter Schweiß brach ihm auf allen Theilen des Körpers aus; dann be­ kamen Gesicht und Hände eine trübe und gelbe Farbe, und zwei Stunden später waren sie wie besäet mit großen,

blauen Flecken. Diese verwandelten sich am folgenden Tage in harte Geschwülste, die bald zu ebensoviel offenen und

unheilbaren Eiterbeulen wurden." „Die meisten, welche von dieser schrecklichen Plage er­ griffen wurden, starben binnen wenigen Tagen; andere hielten sich länger aufrecht, und lebten noch ganze Monate Das

lang zum größten Schrecken ihrer Stadtgenossen.

Fürchterlichste bei-der Krankheit war ihre Ansteckung; wer die Hand eines von ihr befallenen Freundes drückte, der empfing mit diesem Drucke den Tod von ihm; wer in eine angesteckte Wohnung ging, wer Kleider oder Wäsche von Leprosen berührte, der war am folgenden Tage mit blauen

Geschwülsten bedeckt; ja das Geld Seuche."

selbst verbreitete die

„Ein unbeschreiblicher Schrecken ergriff Aller Herzen

01 beim Einbrüche dieser tödtlichen Pest; alle Thüren und Fenster schlossen sich, keine lebende Seele war auf den Stra­

ßen zu sehen. Lüttich glich in den ersten Tagen einer Stadt, in der weder Mensch noch Thier wohnte. Mein Vater war fast den ganzen Tag außer dem Hause: bestrichen mit ihm bekannten Kräutern, trug er Hülse und Trost in die Häuser der Christen, wie der Juden, und es glückte ihm, auf tausend Kranke etwa zehn zu retten. Was er uns er­ zählte, wenn er tief in der Nacht zurückkehrte, um ein wenig zu ruhen, war schrecklich: — er sah Kinder ihren kranken Vater mit langen Stöcken die Treppe hinunterstoßen und

auf die Straße treiben; er sah Mütter ihren angesteckten Kindern mit List von weitem eine Schlinge um den Hals werfen, und sie aus dem Hause schleppen; er sah Brüder

mit drohend erhobenem Beile ihre Schwestern fern von O man kann es kaum glauben; alle Bande des Blutes und der Familie waren zerrissen, jeder haßte den Andern und mißtraute ihm; Alle flüchteten in Höhlen sich halten.

und Keller, bereit, jeden zu tobten, der ihnen nahe, wäre es Vater, Gatte oder Kind.

Und betrat ein Angesteckter

die Straße, um sich Lebensmittel zu suchen, oder hinaus­ gestoßen von den Seinen, dann konnte er kaum einen Schritt thun, ohne daß ein eiserner Pfeil, aus einem nahen Fenster gesandt, ihm den kranken Leib durchbohrte." „Nach sechs bis sieben Tagen dieses schrecklichen Grab­ lebens trat plötzlich Frost ein, und alle Anzeichen verkün­ deten einen sehr strengen Winter. Diese Veränderung des Wetters änderte auch die Seuche; man bemerkte nur wenig neue Ansteckungen, und selbst daß die Leprosen nicht mehr

starben und ihre Eiterbeulen nicht weiter um sich griffen."

„Die Rathsherren und das bischöfliche Kapitel ver­ sammelten sich wieder, und hier und da arbeitete man wie­ der, und so gewann die Stadt während des Frostes wieder

92 einen Schein von Leben. Alsbald wurden nun zwar Harts,

doch nothwendige Gesetze in Bezug auf die Leprosen ver­ kündigt, und andere Maßregeln gegen die Ansteckung ge­ nommen. Jeder, der von der Seuche befallen war, mußte überall eine weiße Ruthe in der Hand tragen; wer einen Leprosen, der diese Ruthe nicht trug, todtschlug, der bekam

eine festgesetzte Belohnung von dem Mombour oder Bür­

germeister. Es war ferner jedem verboten, einem Leprosen auf zehn Schritte zu nahen; wer dies Verbot brach, den durfte man todtschlagen. Ein Angesteckter durfte bei To­ desstrafe weder in Kirchen noch Häuser gehen, und wenn

ein solcher etwas auf die Straße warf, sei es Schmutz oder Tücher, oder einem Hunde, oder einer Katze einen Bissen Brodes gab, dann wurde er zur Stunde getödtet. Kurz, die -armen Leprosen dursten sich nicht sehen lassen,

ohne daß das Schwert der dazu angestellten Todtschläger

ihrem Jammerleben ein bitteres Ende machte." „Da der größte Theil der Angesteckten aus Armen und Nothleidenden bestand, so starben ihrer in der ersten

Zeit eine sehr große Zahl vor Hunger und Kälte; andere brachen, durch den Mangel an Lebensmitteln gezwungen.

Nachts mit Gewalt in die Häuser der Bäcker und Korn­

händler, und machten dadurch den Handel mit den Vorräthen gefährlich." „Theils aus Mitleid, theils auch, um der größern Verbreitung der Seuche hemmend entgegen zu treten, be­

fahl der Bischof, außerhalb der Stadt einige Häuser zu kaufen, und sie als Lazarethe und Pesthäuser einzurichten. Die Bürger, welche hierin ein Mittel sahen, sich von der

schauererregenden Gegenwart der Leprosen zu befreien, brachten gerne Geldopfer, und binnen kurzer Zeit waren in der Nähe der Stadt eine gewisse Anzahl v.on Häusern be­ reit, die Kranken aufzunehmen. Man hatte an diesen Woh-

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nungen nichts verändert, nur die Fenster zugemauert, hin­

ter dem Hause einen großen viereckigen Platz mit einer hohen Mauer umzingelt, die Thüren stärker gemacht und in den Vordergiebel auf Manneshöhe ein großes Loch gebro­ chen, welches mit schweren Eisenstangen, gleich einem Ker­ ker, verwahrt war."

„Alle Leprosen, welche man nach dem ersten Befehle

des Bischofs, sich in jene Häuser zu begeben, noch auf der Straße fand, und die nicht augenblicklich den Todtschägern nach einem der Lazarethe folgten, wurden getödtet. In we­ niger als acht Tagen wurden alle Pesthäuser vollgepfropft mit Unglücklichen, welche durch den Hunger getrieben, ge­

nöthigt gewesen waren, sich auf den Straßen sehen zu Die reichen Leprosen fanden noch für große Sum­ men Geldes Leute, welche ihnen Essen holten und es ihnen von Weitem zuwarfen." lassen.

„Schrecklich, herzzerreißend war das Loos der armen eingesperrten Leprosen; hatte die Thür des Pesthauses sich einmal zum Empfange geöffnet, dann erschloß sie sich

nur, um einen neuen Bewohner und Leidensgenossen zu empfangen. Das Essen wurde ihnen an der Spitze einer langen Stange vor das Eisengitter gereicht; man sah, wie die Unglücklichen sich halb nackt und mit knöchxrnen Händen über die spärliche Nahrung warfen, wie sie jammerten, wie sie weinten, daß es ein steinern Herz hätte erbarmen

mögen. O solch ein Pesthaus war ein gräßliches Grab, von Lebenden bewohnt! Wie viel mußten die zu ihm Verurtheilten jedesmal leiden, wenn einer ihrer Leidensgenossen den Geist aufgab, und sie mit eigenen Händen ihm in dem viereckigen Hofe sein Grab graben mußten!"

Abulfaragus bemerkte, daß seine Erzählung auf Aleidis'

94 Gemüth einen ihr vielleicht schädlichen Eindruck machte.

Darum frug er: „Wäre es nicht besser, edle Frau, daß wir die Fort­ setzung meiner Geschichte auf morgen verschöben? Ihr weinet so bitter, und doch habt ihr^en schrecklichsten Theil meiner Erzählung noch nicht gehört. Der Abend und das

Dunkel machen aber die Nerven empfindlicher; beim hei­ tern Sonnenlichte hört man schauerliche Dinge, ohne sich

allzusehr darüber zu entsetzen."

„Ich hätte den schrecklichsten Theil eurer Geschichte noch nicht gehört?" seufzte die Edelfrau.

„Was kann es denn Schrecklicheres geben, als das Leiden dieser unglück­ lichen Leprosen?" „Das Loos meines Vaters!" rief Abulfaragus, wäh­ rend seinen trockenen Augen eine Thränenfluth entstürzte. „O dürfte ich dies verschweigen!" Alle saßen eine Weile still in peinliche Gedanken ver­ sunken da; endlich sprach Bernhard:

„Ja erzählt uns morgen bei Tage den Reff eurer bit­ tern Leidensgeschichte. Ihr seid zu sehr ergriffen, und auch

wir würden nicht schlafen können, hörten wir eine so schreck­

liche Erzählung." Bald nachher verließen sie den Saal und begaben sich in ihre Schlafgemächer.

II. Festlich und glänzend stieg am folgenden Tage die

Sonne am reinblauen Himmel empor. Sehr frühe fan­ den sich Bernhard und Aleidis in dem Saale ein; sie hoff­ ten von Abülfaragus die Fortsetzung seiner Geschichte zu hören; doch schon nahte der Mittag und immer wollte ihr alter Freund noch nicht erscheinen. Endlich trat ein Diener

ein und meldete ihnen, daß der Greis

sich sehr unwohl

fühle.

Unruhig darüber begaben sich beide Gatten in das Gemach des Alten und fanden ihn zu Bette liegend. Sie

sahen, oder meinten zu sehen, daß er nur au einem leicht

vorübergehenden Unwohlsein leide, und sprachen ihm mit liebevollen Worten Muth ein. „Abulfaragus," sagte Aleidis endlich: „ich muß mir die Schuld davon zuschieben, daß ihr also leidet. Meine

unbesonnene Neugier ließ mich euch um eine Erzählung

bitten, welche all jene schmerzlichen Erinnerungen in eurem Geiste weckte und eure Nerven zu sehr angriff." „In der That, edle Frau," antwortete Abulfaragus, „diese Erzählung hat mich angegriffen, nicht sowohl durch

das, was ich euch schon mittheilte, sondern vielmehr durch das, was mir noch mitzutheilen übrig bleibt. Als ich euch

meine Geschichte versprach, baute ich zu sehr auf meine

ich werde sie nie erzählen können. O, ihr wißt nicht, welch fürchterliche Ereignisse sie umschließt."

Kräfte;

„So sollen wir denn eure Lebensgeschichte nicht ken­ nen? — Meine Neugier ist nicht befriedigt, Abulfaragus. Der Name meines Vaters ist in eure Schicksale verfloch­

ten, und darum betrachte ich mein Verlangen, sie zu ken­ nen, als verzeihlich. Ich will nicht, daß ihr unverzüglich in eurer Erzählung forffahret; daß dies nicht geschehen kann, sehe ich sehr wohl ein, doch werdet ihr uns zu einer

andern Zeit wohl mit eurem ganzen Lebenslaufe bekannt

machen?" „Mein Mund, edle Frau, wird euch nie das gräßliche Loos meiner Eltern melden, ich fühle, daß ich bei der Er­ zählung unterliegen würde

"

Mit diesen Worten fuhr er mit der Hand unter das

96 Kopfkissen, und holte ein geschrieben Buch hervor.

Dies

gab er Alcidis und sprach: „Sehet hier, edle Frau, die ganze Geschichte meines Lebens bis zum Tode eures Vaters, meines Pathen und Wohlthäters. Euer Gemahl kann euch dieselbe vorlesen

und ihr werdet dann mehr wissen, als ich euch erzählen Was in dem ersten Kapitel steht, theilte ich euch

könnte.

gestern mit. Ich hoffe nicht, daß allzugroße Theilnahme euer Auge zu sehr nässe; dagegen hoffe ich mit Zuversicht, daß ihr das Buch niederlegen werdet, sobald ihr eure Brust zu sehr ergriffen fühlt.

Macht euch unterdessen keine

Sorge um meine Gesundheit, ich bin nicht krank und be­ darf nur einiger Ruhe, um mich wieder ganz zu erholen." Bernhard und Aleidis gingen mit der Handschrift in den Saal, und der Burggraf begann dort also zu lesen: „Während des harten Frostes hielt die Wuth der

argen Seuche ein; kaum bemerkte man noch einen Fort­ schritt derselben, und schon fing man an, es mit der Hand­ habung der strengen Maßregeln nicht so genau mehr zu nehmen; kaum aber hatte es eine Nacht gethaut, als die

Plage wieder sich verbreitete, gleich einem alles verschlin­ genden Feuer. Binnen wenigen Tagen zählte man mehrere

Hundert neue Ansteckungen; man floh einander aufs Neue,

noch mehr Todtschläger wurden angestellt, und wer sich auf den ersten Wink dieser gesetzlichen Mörder nicht in das Pesthaus begab, dem schlugen sie den Kopf mit einem Beile ein, oder sie durchstachen Ihn mit ihren langen Lanzen.

Die Bürger selbst hatten das Amt von Todtschlägern frei­ willig übernommen; wo sie einen Leprosen antrafen, da glaubten sie es sich als Verdienst anrechnen zu müssen,

wenn sie ihn wie einen rasenden Hund verfolgten und

tödteten. Mein Vater fuhr fort, jeglichem hülfreich nahe zu

97 bleiben, der der Hülfe bedurfte, und war zuweilen während

ganzer Tage von Hause weg, um die Kranken zu trösten und hier und da einem das Leben zu retten. Wie sehr er uns auch liebte, so konnten unsere Thränen ihn doch nicht abhalten, in die angesteckten Häuser zu gehen; er betrachtete es als eine heilige Pflicht, seinen Beruf als Arzt ganz zu

erfüllen und aller Gefahr Trotz zu bieten, um seinen leidenden Mitmenschen zu helfen. Dabei aber glaubte er sich auch durch seine Kräuter gegen die Ansteckung hin­ länglich gesichert, und so setzte er seine täglichen Ausgänge

und Besuche ungestört fort. Eines Abends war die

gewöhnliche Stunde seiner

Rückkehr schon vorüber, ohne daß wir ihn sahen.

Meine

Mutter wartete mit klopfendem Herzen, und zitternd vor

Angst, daß ihm vielleicht etwas zugestoßen sei; doch sagte

sie uns nichts von ihrer Furcht, um uns nicht vielleicht unnöthig zu ängstigen. Ich war just damit beschäftigt, meine Schwester Maria

in einem Buche lesen zu lehren; so bemertten wir nicht,

wie bleich das Gesicht unserer Mutter war, mit welch'

ängstlicher Aufmerksamkeit sie auf das leiseste Geräusch auf der Straße wie auf einen Boten der Ankunft meines

Vaters horchte. Nach einiger Zeit schloß Maria das Buch, sah erschrocken um sich her und fragte:

„Aber, Mutter, wo ist denn der Vater?"

Unsere arme Mutter antwortete nicht, von ihren Wangen aber rannen stille Thränen; sie bettachtete meine Schwester mit einem trüben Blicke und zog sie, ohne ein Wort zu sprechen, an ihre Brust. Ich für meinen Theil dachte, der Vater verbringe vielleicht die Nacht am Sterbebette irgend

einer vornehmen Person; die Angst meiner Mutter verstand ich nicht, obgleich ihre Thränen auch die meinigen hervor­ preßten. Alle meine Beruhigungen blieben ohne Einwirkung

5

"98 auf ihr Gemüth; eine geheime Ahnung ließ sie ein schreck­ liches Unglück vermuthen, und sie und meine Schwester weinten bis zum Morgen. Da aber drückte auch mich die Angst nieder; o, die Sonne ging auf, sie stieg hoch und höher, und wir sahen unfern Vater nicht wieder I Das

Jammergeschrei meiner Mutter

und

meiner

Schwester erfüllte unser Haus, sie rissen sich die Haare aus, sie zerrissen ihre Kleider vor Schmerz und Trauer.... und ich, der ich mich muthig glaubte, ich stand rathlos neben ihnen und weinte; nicht ein Wort des Trostes kam über meine Lippen. Endlich erwachte ich aus meiner Be­

wußtlosigkeit und sagte meiner Mutter, daß ich ausgehen wolle, um den Vater zu suchen, oder etwas über ihn zu hören. Sie küßte mich mit unbeschreiblicher Herzlichkeit, wie wenn sie gefürchtet hätte, daß auch ich nicht wieder-

kehre, und warf sich mit meiner Schwester vor einem Kreuz­ bilde nieder.

Meiner

jammernden Schwester suchte ich,

indem ich mich selbst belog, einige Hoffnung einzuflößen, und verließ das Gemach mit zerrissenem Herzen. Keiner von unsern Freunden konnte mir sagen, wo mein Vater war; keiner hatte ihn am vorigen Tage ge­ sehen. Vergebens irrte ich, meine Thränen verbergend und gesenkten Hauptes durch die Stadt ; Jeder blieb stumm auf

meine Fragen. Des Nachmittags stand ich an einer Brücke und schaute verzweiflungsvoll in das unter ihr strömende Wasser, den peinlichsten Gefühlen zum Raube. Aus diesem schmerzlichenZustande weckten mich mehrere Männerstimmen,

ich wandte mich um und sah einen Leprosen vor mir, wel­

cher von den Todtschlägern mit den Spitzen ihrer Lanzen fortgetricben wurde. Die ergreifenden Klagen des Unglück­ lichen fanden einen tiefen Widerhall in meinem Herzen, und mitleidig folgte ich ihm einige Zeit mach, ohne selbst zu wissen, wohin ich ging und was ich that. So gelangte

SS ich vor das Thor und in das Feld. Da sah ich die Thüre

des Pesthauses öffnen, den Leprosen hineinstoßen und die Thüre wieder schließen; die traurigste Sülle herrschte wäh­ rend der ganzen Scene. Vom bittersten Schmerze überwältigt, setzte ich mich vor­

dem weiten Grabe in das Gras nieder, und im Geiste

sah ich das ganze Leben der Leprosen an mir vorübergehen.

Ich sah sie dahin wandeln, die lebenden Leichen in der Gesellschaft des Todes, einander fliehen beim Anblicke der gräulichsten Wunden, untergehen vor Schmutz und Fäulniß, ersticken vor Gestank, sich verzehren in gegenseitigem Hasse. O wie schrecklich, wie tödtend quälte mich der Gedanke, daß es in diesen Mauern Menschen gab, die, Raserei in jedem ihrer Züge, niederblickten auf ihre bereits abgestor­ benen Füße, während ihr Herz noch Kraft genug besaß, die ganze Gräßlichkeit ihres Looses zu fühlen! — Ich sah

Menschen, die neben der kalten Leiche ihres Leidensgenossen

liegen blieben, ohne daß sie es für nöthig erachteten, sich nur zu rühren, um sich von dem drohenden Tode zu ent­

fernen. In solchen schrecklichen Gedanken lag ich versunken, als plötzlich mein Name an mein Ohr schlug; ein Freuden­

schrei entfloh meinem Munde, denn ich hatte die Stimme meines Vaters gehört. Ich stand auf und schaute um mich her .... doch, o Himmel, was sah ich! Einem Donner­ schlage gleich traf es mich, ich lachte wie Einer, der spotten

möchte, und sank ohne Gefühl zu Boden .... O, könnte ich es ausdrücken, was ich in dem Augen­ blicke litt! Der Anblick, der mir wurde, war so schrecklich, daß der höchste Ausdruck des grenzenlosen Schmerzes, ein Hohnlachen, meine einzige Klage war. Ich hatte meinen Vater hinter dem Eisengitter erblickt! Er, der mir das Leben gab, lag begraben — für ewig begraben in dem

100 verschlingenden Pestschlundc! O Gott, du standest mir in

dem Augenblicke bei!

Wie hätte ich anders nach diesem

zerschmetternden Schlage noch leben können? Sobald mein Bewußtsein zurückkehrte, sprang ich laut weinend auf, um zu dem Eisengitter hinzustürzen, doch fünf bis sechs Todtschläger hielten mich, indem sie mich zu

tödten drohten, zurück; noch einmal blickte mein verwildertes Auge auf das ehrwürdige Haupt meines Vaters, dann weinte ich, daß die Thränen mir von den Wangen strömten. Etwa fünf Schritte nur von meinem armen Vater entfernt, lehnte ich mich an den Querbaum, den man dort ange­ bracht hatte. Näher durfte ich mich nicht wagen, denn

vier Todtschläger standen mit gespannten Kreuzbogen bereit, mich mit ihren Eisenpfeilen zu durchbohren, sobald ich eine

Hand oder einen Fuß durch jene Schranken steckte.

Nachdem ich meinem gepreßten Herzen durch reiche

Thränen Luft gemacht hatte, erhob ich das Haupt und blieb sprachlos und mit gefallenen Händen dastehen, das Auge fest

auf meinen Vater. geheftet.

Seine geliebte

Stimme drang verständlich zu meinem Ohre;

er sprach

mit so himmlischer Geduld:

„Walter, mein Sohn, fasse Muth! der Herr hat seinen Diener heimgesucht. Mit Ergebung erdulde ich den Schlag,

wie hart er auch sein möge.

Weine nicht also, Walter,

bewahre vielmehr die Kraft deines Gemüthes, um deine Mutter und deine Schwester zu trösten . . . ." „O mein unglücklicher Vater!" rief ich mit dumpfer

Stimme. „Kann ich euch denn nicht retten? Sollte unsere Wissenschaft ohnmächtig sein gegen die. furchtbare Seuche?" „Mein Kind, was würde das denn helfen?" versetzte er darauf. „Genäse ich auch hundertmal in einer Stunde

hier, ich würde hundertmal auf's Neue angesteckt werden.

Ich will dir jetzt die ganze Wahrheit sagen, Walter, damit

101 du deine Mutter und deine Schwester auf den schmerzlichen Schlag vorbereiten kannst, der sie treffen wird. Sei aber stark, mein Sohn;

bei deiner innigen Liebe zu mir be­ schwöre ich dich, daß du deine Mutter langsam und vor­ sichtig darauf vorbereitest, daß ich zu den Todten gehöre

und bald . . .

Er sprach noch fort in diesem herzzerschneidenden Tone, doch der Schmerz hatte mich taub und blind gemacht; ich

verstand seine Worte nicht mehr; Alles kreiste vor meinen Augen und ein betäubendes Brausen erfüllte mein Ohr. Von Zeit zu Zeit unterschied ich noch die Stimme meines Vaters, die rief:

„Walter, Walter!

Mein Sohn!"

Ich weiß nicht, wie lange ich also mit dem Haupte an

den Querbaum gelehnt blieb; als ich aus diesem Zustande

erwachte, standen die Todtschläger noch da, ihre Bogen auf mich gerichtet, und meines Vaters Gesicht lächelte mir noch

hinter dem Eisengitter entgegen. Mit der abgezwungenen Ruhe der Erschöpfung seufzte ich: „Ach, Vater! Welch' ein Unglück brachte euch denn in dies abscheuliche Gefängniß?" Da erzählte er mir in kurzen Worten, wie er am Morgen des vergangenen Tages in einem Boot über die Maas gefahren sei, um einige reiche Leprosen zu besuchen; wie sein Vertrauen auf die unfehlbare Kraft seiner Kräuter ihn getäuscht habe und schon Nachmittags sein Gesicht mit

blauen Flecken bedeckt gewesen. In diesem Zustande hatten ihn einige Todtschläger gesehen und ihn, ohne auf irgend etwas zu hören, mit Gewalt nach dem Pesthause getrieben. — Da nun saß er, bis der schrecklichste aller Tode ihn befreite. Ich schreibe dieses also nieder, weil ich von meines Vaters Erzählung nichts weiter, als abgebrochene Worte

102 verstand. ES schien mir gleichgültig, wie er in das Lazareth

gekommen war; vernichtend genug war der Anblick des Eisengitters für mich, welches meinen Vater auf ewig von den Seinen, von der ganzen Welt trennte. ^Bereits sank die Sonne am Horizont, mehrmals be­

reits hatte mein Vater mich ermahnt, nach Hause zu gehen

und meine Mutter und Schwester zu trösten; ich blieb mit dem Kopfe auf dem Querbaume liegen und hielt die Augen

fest auf das Eisengitter gerichtet. Ohne Zweifel hätte ich also die Nacht verbracht, wenn nicht einer der Todtschläger mich mit Gewalt gezwungen hätte, die Stelle zu verlassen. Er stieß mich auf der Straße nach Lüttich fort und sprach, als er mich verließ, um zu dem Pesthause zurückzukehren: „Soll ich dir sagen, was du zu

thun

hast,

statt

gleich einem Weibe zu weinen über ein unabänderliches Mißgeschick?" Ich blickte ihn mit Hoffnung im Auge an. Er fuhr fort:

„Bringe deinem Vater morgen Essen und Trinken, denn die größte Qual der Leprosen in dem Pesthause ist

Hunger und Durst. Vergiß aber den Speisestock von zehn Fuß Länge nicht, sonst bist du gezwungen, das Essen so weit zu werfen, und das geht nicht wohl an ... . Griten Abend."

Wie sehr erschütterten die Worte mich!

Ich fühlte

sie auf dem Herzen glühen wie feurige Kohlen.

Gott,

ich sollte meinem Vater an der Spitze einer Stange Essen

reichen! Welch' ein Gedanke! So unglücklich, wie nur ein Mensch es sein kann, ging ich trägen, langsamen Schrittes nach der Stadt zurück. Da stieg plötzlich ein trostreicher Gedanke in mir auf — ich hatte ein Mittel gefunden, zu meinem Vater zu kom­ men- In meinem Unglücke lächelte ich freudig, und ich eilte

103 schneller weiter und einem Hause zu, wo ein uns befreun­

deter Leprose wohnte.

In dem Augenblicke aber, wo ich

hineintreten wollte, gedachte ich meiner Mutter und Schwe­

ster. Ich hielt an, weinte auf's Neue und entfernte mich rasch, denn

wältigen.

ich fürchtete, der Gedanke könne mich über­

— Ich hatte für einen Augenblick freudig den

Vorsatz gefaßt, mich zu dem Leprosen zu begeben, ihn um

die Mithcilung der Seuche, wie um eine Wohlthat zu bitten, ihn zu berühren, und mich alsdann durch die Todtschläger in das Pesthaus zu meinem Vater einschließen zu

lassen. Zu unser Aller Glück hatte das Bild meiner Mutter und Schwester sich zwischen mich und die Thüre des angesteckten Hauses gestellt. Was sollte ich den beiden Frauen nun sagen?

Ich

Ivar ein Bote, den der Tod sandte, sein Erscheinen zu ver­

künden, und sollte, einem Mörder gleich, die Herzen meiner noch übrigen Theuren wie zwischen zwei Felsenstücken zer­

malmen! Das war meine schreckliche Botschaft! Das über­ wältigende Gefühl meines ganzen Unglückes warf mich in eine Art von Bewußtlosigkeit, sonst hätte ich es vielleicht nicht gewagt/ mich unserer Wohnung zu nähern; doch war eZ mir, als ob meine Füße mich trieben, und also gelangte ich bis zu unserer Thüre.

Da aber wurde es plötzlich

wieder hell vor mir; ich überdachte auf's Neue und mit folternder Klarheit mein Unglück bis in seine kleinsten Theile und mit ihm meine fürchterliche Sendung. Ich zitterte so sehr, daß meine Kniee unter mir brachen, und ich auf der Schwelle unserer Wohnung niedersank. Trotz dieser tiefen Erschütterung versuchte ich, all' meinen Muth

zusammen zu nehmen, um, wie der Vater mir aufgetragen, unglückliches Loos

meiner Mutter und Schwester sein

mit vorsichtigen Worten zu berichten. Etwas mehr gestärkt, öffnete ich die Thüre und ging

104 mit wankenden Schritten und schrecklich zitternd dem Ge­

mache zu, wo eine nicht zu beschreibende Scene meiner harrte. — Dort, im Hintergründe des Zimmers, saß meine

Mutter, das Kinn auf beide Hände gestützt; ihre Augen waren roth, wie wenn Blutadern sich hinein gegossen hätten; ihr krampfhaft verzogener Mund ließ die festgeschlossenen

Zähne eben sehen. Neben ihr saß meine Schwester in der­

selben Haltung.

Beide schauten scharf,

aber mit starren

Augen auf mich hin, wie auf einen ihnen gleichgültigen Fremdling. Wie unendlich mußte ihre Hoffnungslosigkeit, wie schrecklich ihre Verzweiflung sein! Tief erschüttert von dem Anblicke, stand ich einen Augenblick in derselben Gefühllosigkeit da; dann aber stürzte ich vor meiner Mutter auf die Kniee nieder und küßte sie mit wilder Inbrunst: — jede andere Sprache hatte ich

vergessen ! Ich erhielt keine Antwort; meine Mutter ließ mich ihr Haupt hin und wieder drücken; gleich gefühllos blieb meine Schwester, bis ich endlich mit schneidender Stimme ausrief:

„Mein Herz bricht!

Mutter, Schwester, lasset mich

eure Stimme hören, oder ich sterbe!" „Ach Waller!" seufzte meine Mutter leise.

„Armer Bruder!" murmelte meine Schwester. Diese Lebenszeichen beschwichtigten, in etwas die Ver­ zweiflung, welche bis dahin meine Brust erfüllt hatte; sie gaben mir einige Kraft zurück und ich

erinnerte mich

meiner Sendung. „Welch' neues Unglück hat euch denn während meiner

Abwesenheit getroffen?" fragte ich. „Lasset euch doch nicht so von der Angst beherrschen, seid doch nicht so tödtlich betrübt. Ich habe unsern Vater gesehen, wahrscheinlich wird er uns binnen Kurzem wiedergegeben sein . . , ,"

105 „Du hast ihn gesehen?"

rief meine Mutter in wil­

dem Tone.

„Ich habe ihn gesehen, seid davon versichert," versetzte ich bebend.

„Dann hat dein Schutzengel dich behütet, Walter; denn Gott ließ dir deinen Verstand." Diese Worte waren mir ein Räthsel; meine Schwester aber brach bei ihnen auf's Neue in Thränen aus. Sie jammerte: „Ach, Bruder, lüge nicht, lüge nicht!

Vater sitzt im

Pesthaus, wir wissen es schon. Der Jude Borach hat ihn auch gesehen." Auf's Neue warf ich mich auf die Kniee vor meiner Mutter nieder und umschloß sie und meine Schwester zu­ gleich ; die Thränen entströmten uns auf's Heftigste, doch kein Seufzer, kein Athemzug störte die schauerliche Stille der Nacht, die uin uns herrschte. Klagen mögen die Dol­

metscher gewöhnlichen Schmerzes sein; unserm nie gesühlten Schmerze war die Sprache zu schwach.

Wozu sollte ich es übernehmen, unsern Zustand wäh­

dieser Nacht zu beschreiben? Nur das Bestreben, unsere ohnmächtige Mutter zu laben, brachte einige Ver­

rend

änderung in unsere Lage. Die aufsteigende Sonne fand mich beschäftigt, ein schreckliches Werkzeug zu verfertigen; ich arbeitete an dem Speisestocke, mit welchem ich meinem Vater das Essen

reichen mußte, einer langen Stange, an deren einem Ende

eine eiserne Schüssel befestigt war.

Sobald sie fertig war,

packte ich ein gutes Stück gebratenen Fleisches, eine Flasche

besten Cyperweines, Brod und Salz und einige leinene Tücher zusammen, und ging zu meiner Mutter und Schwester, um Abschied von ihnen zu nehmen; doch wie ich mich auch bemühte, wie ich bat und flehte, sie wollten durchaus mit

106 mir gehen, um unsern unglücklichen Vater zu sehen.

Ich sah wohl ein, daß dieser Anblick all' ihre Schmerzen er­

neuern, sie selbst, wäre es möglich, noch vermehren müßte, darum bot ich Alles auf, was meine Phantasie nur ver­ mochte, um sie zurückzuhalten; doch vergebens, sie bestanden darauf, mir zu folgen.

So gingen wir denn hin durch die Straßen, das Haupt tief j gesenkt, Trauertragenden gleich, welche eine Leiche zu ihrer letzten Ruhestatt geleiten: unsere Betrübniß

und mein schreckliches Werkzeug erregten die Aufmerksamkeit

der uns Begegnenden nur, um jeden fern von uns zu halten. Ein solches Schauspiel war nichts Neues und blieb auch ohne weitere Einwirkung auf den Geist der Zuschauer; es sagte ihnen nur, daß wir zu einer Familie gehörten, in welcher die Seuche ein Opfer gefunden hatte. Außerhalb des Thores wandte ich mich um nach meiner Mutter; aber ich erstaunte nicht wenig, als ich ihre Züge von allen Anzeichen eines getrösteten, ja fast fröhlichen

Gemüthes überstrahlt sah. Ich hielt an, sie zu erwarten,

und sprach wie mit süßer Freude: „Ach, Mutter, ich sehe wohl, dein Herz ist gefaßter,

o bleibe doch so!" Sie blieb im Felde stehen und wir mit ihr; dann sprach sie in einem Tone, der etwas Heiliges, Himmlisches in sich hatte: „Kinder, ich habe unterwegs inbrünstig zu unserm

lieben Herrn Jesu gebetet, und ich fühlte es, wie es gleich einem Strahle des Lichtes in meinen Geist drang, und es durchströmte mich mit neuer Kraft zur Erfüllung unserer Warum gehen wir zu eurem Vater? Um sein Herz zu zerreißen durch den Anblick unserer Leiden? trüben Pflicht.

Seinen Schmerz zu verdoppeln durch unsern Schmerz? —

Nein, nicht wahr? Die Unglücklichsten müssen durch minder

107 Unglückliche

getröstet

werden.

Wohlan denn,

Kinder,

drängen wir unsere bittern Thränen zurück in die gepreßte Brust! Zeigen wir unserm Vater nicht sowohl unsern Schmerz, als unsere Liebe; —

und, sind wir schwächer,

als unser Gefühl, drängen sich dennoch unsere Thränen

hervor — dann lasset durch sie hindurch dem armen Vater

ein sanftes Lächeln entgegenleuchten!" Diese Worte übten einen wunderbaren Einfluß auf unsere Gemüther aus; so wie sie dem Munde unserer Mutter

entflohen, sank Kraft und Muth in unsere Brust, und wir wurden stark zur Erfüllung unserer Pflicht, die uns jetzt als eine heilige Sendung erschien. Einander also ermuthigend,

nahten wir dem Pesthause.

Schon in einiger Entfernung

sahen wir, wie die Todtschläger ihre Bogen spannten, und

hörten, wie sie uns mit drohender Stimme zuriefen: „Vor dem Querbaum geblieben! Vor dem Querbaum! bei Todesstrafe!" Wie sehr wir uns auch gestärkt fühlten, so zitterten wir doch, als wir dem Querbaume nahten;

wir hatten

glücklicher Weise Zeit, uns ein wenig zu erholen, denn wir sahen Niemand hinter dem Eistngitter. Einer der Todt­ schläger trat inzwischen auf uns zu und fragte, wen wir zu sehen verlangten? Nachdem wir den Namen meines

Vaters genannt, schrie er mit starker Stimme:

„Abulfaragus! Abulfaragus!" Da erschien das Haupt meines Vaters hinter dem Eisengitter. Er lächelte liebevoll, der Unglückliche! Stille Thränen entrollten unsern Augen; doch durch sie hindurch glänzte der Ausdruck süßer Liebe, und wir sahen ^deutlich, welch' reichen Trost mein Vater aus unserer ruhigeren Stimmung schöpfte. Während ich mich anschickte, ihm mittelst des Speisestockes das mitgebrachte Essen und Trinken zu reichen, tröstete ihn meine Mutter mit Worten,

108 welche ihr Frauenherz allem kannte. O wunderbare Wir­

kung der Liebe! Wir waren Alle unaussprechlich unglücklich,

und doch fand in diesem Augenblicke ein Gefühl seliger Freude den Weg zu unserm Herzen! Auf's Vollste unter­ warfen wir uns dem Willen des Herrn und dem Schicksale, welches er über uns verhängt hatte. Vielleicht auch war

die Saite des Schmerzes in

unserm Herzen zerrissen.

Hatten wir nicht in der vergangenen Nacht den Leidens­

kelch bis zur Hefe geleert? Als ich den Speisestock dem Eisengitter zuschob und sah, wie der Vater das Fleisch ergriff, überlief mich ein eiskalter Schauer: meine Mutter und Schwester erblaßten

gleich mir; doch bald gaben die tröstenden Worte meines

Vaters uns unsere Ruhe zurück. Was soll ich ferner von diesem Besuche sagen? Wir blieben noch eine geraume Zeit vor dem Querbaume stehen und beriethen uns über die Mittel, durch welche der Vater

etwa hätte geheilt werden können. Diese Berathung konnte natürlich keine weitern Folgen haben, da

an eine Her­

stellung nicht zu denken war, so lange er in dem Pesthause blieb. Auf seine Bitten unh geängstigt durch die Drohungen der Todtschläger entfernten wir uns endlich und kehrten schweigend nach Hause zurück. Weg

An den drei folgenden Tagen machten wir denselben und blieben jedesmal lange vor dem Querbaume

stehen. Unterdeß breitete sich die Seuche, durch das anhaltende Thauwetter begünstigt, wieder mehr und mehr aus; in den beiden letzten Tagen hatte sie völlig ihre alte Kraft wieder

erlangt und man hörte nur von neuen Ansteckungen und Todesfällen.

In dieser schrecklichen Zeit rief plötzlich der Pöbel, die Leprosen vergifteten die Brunnen und Wasserleitungen, in-

109 dem sie ihre Wundtücher in denselben wüschen; auch hieß

es, sie seien dazu durch die Juden erkauft, welche Geld

hergeben, um die Christen zu tobten; damit diese nicht, dem Rufe des Papstes folgend, nach Jerusalem ziehen und dort gegen die Ungläubigen streiten könnten.

In Frank­

reich zogen Banden von vier- bis fünftausend Mann um­

her, welche Pastoureaux genannt wurden, und die alle Juden und Leprosen aufsuchten und ohne Erbarmen hin­ schlachteten.

Sonder Zweifel entsprangen die Gerüchte in

Lüttich aus diesen Vorfällen in Frankreich.

Ob die Be­

schuldigungen so schändlichen Verrathes gegründet waren,

weiß ich nicht; so viel ist aber gewiß, daß der zwischen Juden und Christen herrschende blutige Haß glühend genug war, das unwissende Volk von beiden Seiten zu den ab­ scheulichsten Missethaten anzutreiben. Gegen Abend erzählte uns eine Nachbarsfrau, wie

zahlreiche Haufen Volkes die Stadt durchzögen, ohne daß

man wisse, welches ihr Vorhaben sei; auch sagte sie uns, daß man in der Nähe der Stadtmauer etwa zehn Juden­ wohnungen geplündert habe, und zeigte uns selbst durch's Fenster den Gluthschein der Flammen, welche die Häuser

eben bis zum Gründe vernichteten.

Lange und mit Schrecken dachten wir nach über das Loos unserer ehemaligen Glaubensgenossen, und eben be­ reiteten wir uns vor zum Schlafengehen, als plötzlich geheimnißvoll an unsere Thüre geklopft wurde. Ich erschrak, eilte aber doch schnell zu einem Fenster über der Haus­ thür und öffnete es. In dem Dunkel unterschied ich einen Mann, der sich fest gegen die Thüre drückte und dadurch

fast unsichtbar für mich wurde. „Was wollt ihr, Mann?" fragte ich. „Wohnt hier nicht der Arzt Abulfaragus?" „Ja."

110 „Ich habe euch Dinge zu sagen, von denen sein und seiner Familie Leben abhängt."

„So sprechet denn, Freund, welch' Unglück ihr uns zu verkünden habt." „Ich darf nicht so laut mit euch sprechen. Man könnte mich hören." „Ihr wißt aber doch, daß man in so später Nacht­

stunde sein Haus keinem Unbekannten öffnet."

„Das weiß ich und ich lobe eure Vorsicht. Ihr braucht euer Haus nicht zu öffnen, kommt nur herab und stellt

euch hinter die Thüre, ich spreche dann durch's Schlüssel­ loch mit euch."

Schnell schloß ich das Fenster, um zu thun, wie er wünschte: bevor ich aber hinunter ging, theilte